Platon, Politikos
 3525304072, 9783525304075

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PLATON Politikos

Übersetzung und Kommentar von Friedo Ricken

Vandenhoeck

&

Ruprecht

Gedruckt mit Unterstützung der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-525-30407-5

© 2008 Vandenhoeck

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Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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ÜBERSETZUNG

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Gliederung des Dialogs und der Erläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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KOMMENTAR

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Appendizes

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1. II. III. IV.

Die Entstehungszeit des Dialogs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methoden und Aufbau des Dialogs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Stellung des Dialogs in Platons politischer Philosophie . . . . Der Politikos und die Politik des Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Literaturverzeichnis

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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263

Textausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommentare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Monographien und Aufsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

263 263 263 264 269

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 1. 2. 3. 4.

Stellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachen .................................................... Griechische Wörter . . . .. . .. . . . . . .. . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort

Der Politikos zählt zu den weniger bekannten und oft wenig geschätzten Dialogen Platons. Seit den Tagen der Neuplatoniker, so urteilt ein Kenner wie A.E. Taylor 1, scheine er wenig gelesen worden zu sein und er sei vergleichsweise wenig ediert worden; vielleicht sei kein anderes Werk Platons von gleicher Bedeutung in demselben Ausmaß vernachlässigt worden. Der Politikos, so ist in der Literatur zu lesen, sei langweilig, scholastisch, kompliziert und konfus; seine Einheit wird in Frage gestellt. Das meiste Interesse hat seit den Neuplatonikern der Mythos von den beiden entgegengesetzten Kreisläufen des Weltalls gefunden. Zweifellos zeigt der Politikos nicht den literarischen Glanz der großen Dialoge der mittleren Periode; die langen Begriffsunterteilungen sind ermüdend; der Wechsel zwischen den verschiedenen Methoden, mit denen der Dialog arbeitet, verwirrt. Aber gerade diese vermeintlichen Schwächen sind eine Herausforderung an den Interpreten. Ein wichtiger Anstoß für das Studium des Politikos war das Dritte Symposium Platonicum, das unter der Leitung von Christopher J. Rowe im August 1992 in Bristol stattfand. Der Übersetzung liegt die Edition von E. A. Duke u. a. in der Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis (1995) zugrunde; Abweichungen von diesem Text sind in den Fußnoten der Übersetzung angegeben. Die Übersetzung will den Text nicht glätten und seine Härten nicht beseitigen; sie will eine Übersetzung und keine Paraphrase sein. Sie will nicht vereinfachen und nicht vereinheitlichen; sie muss sich mit den sprachlichen Mitteln des Originals begnügen; was der griechische Text offen lässt, soll auch der deutsche offen lassen. Wer den deutschen Text liest, soll es nicht leichter haben als die Leser des griechischen Originals zu Platons Zeiten; er soll in derselben Weise durch den Text gefordert werden. Der Kommentar folgt dem Gedankengang des Textes; er arbeitet die einzelnen Schritte heraus und erläutert die politischen und kulturgeschichtlichen Anspielungen und Hintergründe. Dadurch besteht bei den verschlungenen Wegen des Dialogs die Gefahr, dass trotz der Glie1

Taylor 1961, 250.

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Vorwort

derung das Ganze aus dem Blick gerät. Dem wollen die beiden Appendizes über Methoden und Aufbau des Dialogs und über die Stellung des Politikos in Platons politischer Philosophie abhelfen; sie arbeiten den roten Faden heraus und können als Einleitung in den Dialog gelesen werden. Ein Kommentar hat die Aufgabe, eine geschlossene und dadurch überzeugende Deutung eines Werkes vorzulegen. Auf andere Interpretationen muss er so hinweisen, dass der Leser, wenn er der Frage nachgehen will, sich anhand der einschlägigen Literatur ein eigenes Urteil bilden kann. Wo es darum geht, das Anliegen der eigenen These klar herauszuarbeiten, kann es notwendig sein, die Position, gegen die sie sich richtet, zu skizzieren. Dennoch ist ein Kommentar kein Forschungsbericht, der alle einmal vertretenen Interpretationen referieren und kritisch beurteilen müsste. Der Preis dafür wäre die Unübersichtlichkeit und dass der Kommentar nicht zuletzt für die Studierenden unbrauchbar würde. Die englische Übersetzung von Christopher J. Rowe (1999) hat mich bei keiner meiner Fragen im Stich gelassen. Herrn Dr. Bernhard Koch danke ich für seine sachkundige, engagierte und immer entgegenkommende Hilfe. München, 19. November 2007

ÜBERSETZUNG

Sokrates. Theodoros. Der Fremde. Sokrates der Jüngere

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SOKRATES: Wirklich vielen Dank schulde ich dir, Theodoros, für die Bekanntschaft mit Theaitet und auch mit diesem Fremden. THEODOROS: Bald wirst du dreifachen Dank schulden, Sokrates, wenn sie den Staatsmann und den Philosoph werden ausgearbeitet haben. SOKRATES: Das mag sein. Sollen wir sagen, lieber Theodoros, wir hätten das so von dem besten Kenner der Rechenkunst und der Geometrie gehört? THEODOR OS: Wie meinst du das, Sokrates? SOKRATES: Dass er jedem dieser Männer den gleichen Wert zuerteilt, die doch in ihrem Rang einen größeren Abstand voneinander haben als es sich in eurer Kunst durch die Analogie ausdrücken lässt. THEODOROS: Bei unserem Gott Ammon: Treffend, mit Recht und mit gutem Gedächtnis hast du mir den Fehler in meinen Berechnungen vorgeworfen, und ich setze mich damit ein andermal auseinander. Du aber, Fremder, werde nicht müde, uns einen Gefallen zu tun, sondern triff eine Entscheidung, ob du zuerst den Staatsmann oder den Philosophen nimmst, und gehe sie dann nacheinander durch. DER FREMDE:Das müssen wir wohl tun, Theodoros; weil wir einmal damit begonnen haben, dürfen wird nicht aufhören, bevor wir mit ihnen zu Ende gekommen sind. Aber was soll ich denn mit diesem Theaitet machen? THE0DOROS: In welcher Hinsicht? DER FREMDE:Sollen wir ihm eine Pause gönnen und ihn durch seinen Mitschüler hier, den Sokrates, ersetzen? Oder was rätst du? THE0DOR0S:Wie du sagtest: ersetze ihn. Denn beide sind noch jung, und sie werden jede Anstrengung leichter ertragen, wenn sie sich ausruhen. SOKRATES: Und beide scheinen doch, Fremder, irgendwoher mit mir eine gewisse Verwandtschaft zu haben. Der eine, so behauptet ihr jedenfalls, scheine in seinen Gesichtszügen mir ähnlich; bei dem anderen schafft der gleichlautende Name und die Anrede eine Zugehörigkeit zu uns. Wir müssen doch immer darauf am, sein, die Verwandten durch das Gespräch wiederzuerkennen. Mit Theaitet habe ich gestern selbst ein Ge-

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Übersetzung

spräch geführt, und jetzt habe ich ihn antworten gehört, bei Sokrates aber keines von beiden. Aber auch er muss in Augenschein genommen werden. Mir soll er ein andermal, dir aber jetzt antworten. DER FREMDE:So sei es. Sokrates, du hörst doch Sokrates? SOKRATES DERJÜNGERE:Ja. DER FREMDE:Bist du einverstanden mit dem, was er sagt? SOKRATES DERJüNGERE:Durchaus. DER FREMDE:Von dir aus scheint nichts im Wege zu stehen, und so darf wohl von mir aus erst recht nichts entgegenstehen. Nach dem Sophisten müssen wir doch nun, wie mir scheint, den Staatsmann suchen. So sage mir, ob wir auch ihn als einen der Wissenden setzen sollen, oder wie? SOKRATES DERJÜNGERE:Ja. DER FREMDE:Wir müssen also die Wissenschaften einteilen, wie damals, als wir den ersten der beiden betrachteten. SOKRATES DERJÜNGERE:Vielleicht. DER FREMDE:Aber nicht, wie mir scheint, Sokrates, nach demselben Schnitt. SOKRATES DERJÜNGERE:Was sonst? DER FREMDE:Nach einem anderen. SOKRATES DERJüNGERE:Anscheinend. DER FREMDE:Wie findet nun einer den Pfad der Staatskunst? Denn wir müssen ihn finden, und wenn wir ihn von den anderen abgesondert haben, ihm eine Gestalt aufprägen. Und den übrigen Wegen müssen wir dann eine andere Art als Kennzeichen geben und so unsere Seele dazu bringen, alle Wissenschaften als zwei Arten zu denken. SOKRATES DERJüNGERE: Das ist, glaube ich, sicherlich deine Aufgabe, Fremder, und nicht meine. DER FREMDE:Sie muss aber auch deine sein, Sokrates, wenn sie uns klar geworden ist. SOKRATES DERJÜNGERE:Das hast du schön gesagt. DER FREMDE:Sind nun nicht die Arithmetik und einige andere ihr verwandte Künste aller Handlungen bar und liefern nur Erkenntnis? SOKRATES DERJÜNGERE:So ist es. DER FREMDE:Die Künste um die des Zimmermanns dagegen und alle anderen Handwerke haben die Wissenschaft gleichsam in den Handlungen drinnen, ihnen eingeboren, d. h. als eine, die mit ihnen zusammen die durch sie entstehenden körperlichen Dinge, die vorher nicht waren, vollendet. SOKRATES DERJÜNGERE:Was sonst? DER FREMDE:Auf diese Weise teile nun sämtliche Wissenschaften, und nenne die eine tätig, die andere aber bloß erkennend.

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SoKRATESDERJüNGERE:Gut. Das sollen die zwei Arten der einen ganzen Wissenschaft sein. DER FREMDE:Sollen wir nun den Staatsmann als König, als Herrn und auch als Hausverwalter setzen und dieses alles als eines ansprechen, oder sollen wir sagen, dass es so viele Künste sind wie Namen gesagt wurden? Doch folge mir lieber hierher. SOKRATES DERJÜNGERE:Wohin? DER FREMDE:Dorthin. Wenn einen von den öffentlich angestellten Ärzten einer zu beraten weiß, der selbst als Privatmann lebt, muss man ihn dann nicht mit demselben Namen der Kunst ansprechen wie den, welchen er berät? SOKRATES DERJÜNGERE:Ja. DER FREMDE:Und weiter. Wer eine~ Mann, der als König ein Land regiert, zurechtzuweisen versteht und selbst ein Privatmann ist, werden wir nicht sagen, dass dieser die Wissenschaft hat, welche der Herrschende besitzen müsste? SOKRATES DERJüNGERE:Das werden wir sagen. DER FREMDE:Aber die Wissenschaft eines wahren Königs ist doch die königliche? SOKRATES DERJüNGERE:Ja. DER FREMDE:Wird, wer sie besitzt, ob er herrscht oder ob er Privatmann ist, entsprechend seiner Kunst mit vollem Recht ein königlicher Mann genannt? SOKRATES DERJüNGERE:Das wäre gerecht. DER FREMDE:Und ein Hausverwalter und ein Herr sind doch dasselbe. SOKRATES DERJüNGERE:Was sonst? DER FREMDE:Und weiter. Unterscheiden ein Hauswesen von ansehnlicher Gestalt und ein Staat von geringer Ausdehnung sich etwa hinsichtlich der Herrschaft? SOKRATES DERJüNGERE:Nein. DER FREMDE:So ist aus dem, was wir jetzt betrachtet haben, klar, dass es für dieses alles eine Wissenschaft gibt. Ob jemand sie die königliche oder die staatsmännische oder die Wissenschaft von der Hausverwaltung nennt, darüber wollen wir mit ihm nicht streiten. SoKRATESDERJÜNGERE:Wozu auch? DER FREMDE:Aber das ist doch wohl klar, dass jeder König mit seinen Händen und mit seinem ganzen Körper wenig vermag, um seine Herrschaft zu behaupten, verglichen mit der Einsicht und der Kraft der Seele. SOKRATES DERJÜNGERE:Klar. DER FREMDE:Willst du, dass wir lieber sagen, der König sei mehr der erkennenden als der handwerklichen und überhaupt der tätigen Wissenschaft zugehörig?

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Übersetzung

SOKRATES DERJÜNGERE:Was sonst? DER FREMDE:Die staatsmännische Kunst und den Staatsmann und die königliche Kunst und den königlichen Mann, dies alles wollen wir in dasselbe als eines zusammenstellen? SOKRATES DERJüNGERE: Klar. DER FREMDE:Würden wir nicht in der richtigen Reihenfolge vorgehen, wenn wir danach die erkennende Wissenschaft unterschieden? SOKRATES DERJüNGERE: Durchaus. DER FREMDE:Gib also genau acht, ob wir in ihr ein Gelenk entdecken. SOKRATES DERJÜNGERE:Sag, was für eins. 259e DER FREMDE: Ein solches. Wir sprachen doch von einer Kunst des Rechnens. SOKRATES DERJüNGERE:Ja. DER FREMDE:Ganz und gar, denke ich, eine der erkennenden Künste. SOKRATES DERJÜNGERE:Wie auch nicht? DER FREMDE:Wenn die Rechenkunst den Unterschied in den Zahlen erkannt hat, stellen wir ihr dann etwa noch eine andere Aufgabe als die, das Erkannte zu beurteilen? SOKRATES DERJÜNGERE:Was sonst? DER FREMDE:Und jeder Baumeister ist doch nicht selbst ein Arbeiter, sondern ein Herrscher über die Arbeiter. SOKRATES DERJÜNGERE:Ja. DER FREMDE:Indem er nämlich Erkenntnis liefert und nicht der Hände Arbeit. SOKRATES DERJüNGERE: So ist es. 260a DER FREMDE:Mit Recht dürfte man also sagen, er habe teil an der erkennenden Wissenschaft. SOKRATES DERJüNGERE: Durchaus. DER FREMDE:Er ist, glaube ich, wenn er sein Urteil gefällt hat, nicht fertig und seiner Aufgabe ledig, so wie der Mathematiker seiner Aufgabe ledig war, sondern er muss jeder einzelnen Gruppe der Arbeiterzweckdienliche Anordnungen geben, bis sie das Angewiesene ausgeführt haben. SOKRATES DERJüNGERE: Richtig. DER FREMDE:So sind also alle derartigen Künste und alle, welche der 260b Rechenkunst folgen, erkennende; durch Urteil und Anordnung unterscheiden diese beiden Gattungen sich jedoch voneinander. SOKRATES DERJüNGERE: Das scheinen sie. DER FREMDE:Wenn wir also von der gesamten erkennenden Kunst, die wir teilen, den einen Teil als den anordnenden, den anderen als den urteilenden bezeichnen würden, dann dürften wir sagen, es sei angemessen geteilt.

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SOKRATES DERJüNGERE:Nach meiner Meinung wenigstens. DER FREMDE:Die etwas gemeinsam tun, müssen aber doch damit zufrieden sein, dass sie übereinstimmen. SOKRATES DERJüNGERE:Wie auch nicht? DER FREMDE:Solange wir uns einig sind, brauchen wir uns um die Meinungen der anderen nicht zu kümmern. SOKRATES DERJÜNGERE:Was sonst? DER FREMDE:Nun denn: In welche dieser beiden Künste ist der königliche Mann zu setzen? Etwa in die urteilende, wie ein Zuschauer, oder sollen wir lieber setzen, dass er zur anordnenden Kunst gehört, da er ja doch Herr ist? SOKRATES DERJüNGERE:Wie denn nicht lieber dieses? DER FREMDE:Jetzt müssen wir die anordnende Kunst betrachten, ob sie irgendwo auseinandertritt. Ich denke mir das ungefähr so: Wie die Kunst der Händler unterschieden ist von der Kunst derer, die ihre eigenen Produkte verkaufen, so scheint die königliche Gattung von der Gattung der Herolde abgegrenzt zu sein. SOKRATES DERJÜNGERE:Wie? DER FREMDE:Fremde Produkte, die zuvor verkauft wurden, übernehmen und verkaufen ein zweites Mal wieder die Händler. SOKRATES DERJüNGERE:Durchaus. DER FREMDE:So übernimmt auch der Stamm der Herolde Anordnungen, die andere ausgedacht haben, und ordnet es ein zweites Mal wieder anderen an. SOKRATES DERJüNGERE:Sehr wahr. DER FREMDE:Was nun? Sollen wir die königliche Kunst in eins vermischen mit der des Dolmetschers, der des Mannes, der den Ruderern den Takt angibt, der des Sehers, des Herolds und vielen anderen mit diesen verwandten Künsten, die alle mit dem Anordnen zu tun haben? Oder willst du, dass wir, so wie wir jetzt verglichen haben, auch den Namen nachbilden, weil das Geschlecht der Selbstanordnenden mehr oder weniger namenlos ist, und in der Weise teilen, dass wir das Geschlecht der Könige in das Selbstanordnende setzen, um das ganze andere uns dagegen nicht kümmern und davon absehen, für sie einen anderen Namen festzusetzen? Denn um des Herrschenden willen war unsere Untersuchung und nicht wegen des Gegenteils. SOKRATES DERJÜNGERE:Durchaus. DER FREMDE:Da nun dieses von jenem den hinreichenden Abstand hat, unterschieden durch fremden Auftrag gegenüber eigener Autorität, so ist es notwendig, dieses selbst wiederum zu teilen, wenn wir in diesem einen Einschnitt haben, der nachgibt. SOKRATES DERJüNGERE:Durchaus.

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Übersetzung

DER FREMDE:Und wir scheinen tatsächlich einen zu haben; aber folge und schneide mit. SOKRATES DERJüNGERE:Wo? DER FREMDE:Alle Herrschenden, von denen wir denken, dass sie von Anordnungen Gebrauch machen: werden wir nicht finden, dass sie um eines Entstehens willen Anordnungen geben? SOKRATES DERJüNGERE:Wie auch nicht? DER FREMDE:Und alles Entstehende in zwei einzuteilen ist doch ganz und gar nicht schwer. SOKRATES DERJüNGERE:Wie denn? DER FREMDE:Das eine des Gesamten ist unbeseelt, das andere beseelt. SOKRATES DERJüNGERE:Ja. DER FREMDE:Durch dieselben Bestimmungen werden wir den anordnenden Teil des Erkennenden, wenn wir ihn zerschneiden wollen, zerschneiden. SOKRATES DERJÜNGERE:Unter welcher Rücksicht? DER FREMDE:Indem wir das eine davon den Entstehungen des Unbeseelten zuordnen, das andere aber denen des Beseelten; und so wird das Ganze sofort in zwei geteilt werden. SOKRATES DERJüNGERE:Allerdings. DER FREMDE:Das eine davon lassen wir nun liegen, das andere dagegen nehmen wir auf, und nachdem wir es aufgenommen haben, teilen wir das Ganze in zwei Teile. SOKRATES DERJüNGERE:Welches von beiden, meinst du, sollen wir aufnehmen? DER FREMDE:Natürlich das, welches Anordnungen für die Lebewesen trifft. Denn es ist doch wohl nie Sache der königlichen Wissenschaft, die Leitung über das Unbeseelte zu haben, wie die Baukunst, sondern sie ist etwas Edleres: Sie besitzt ihre Macht immer unter den Lebewesen und über sie. SOKRATES DERJÜNGERE:Richtig. DER FREMDE:Die Erzeugung und Aufzucht von Lebewesen ist, wie man sieht, teils Einzelzucht, teils gemeinsame Fürsorge für das in Herden lebende Vieh. SOKRATES DERJüNGERE: Richtig. DER FREMDE: Den Staatsmann werden wir jedoch gewiss nicht als Einzelzüchter finden, wie einen Rindertreiber oder einen Pferdeknecht, sondern als einen, der eher einem Pferdehirt oder einem Rinderhirt gleicht. SOKRATESDER JüNGERE: Es scheint jedenfalls so, wie es jetzt gesagt wurde. DER FREMDE:Sollen wir nun von der Aufzucht der Lebewesen die ge-

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meinsame Aufzucht der vielen als Herdenzucht oder als Gemeinschaftszucht bezeichnen? SOKRATES DERJüNGERE:Wie es sich im Gespräch ergibt. DER FREMDE:Sehr schön, Sokrates, und wenn du dich weiterhin davor hütest, es mit den Namen zu genau zu nehmen, dann wirst du dich mit zunehmendem Alter reicher an Einsicht zeigen. Jetzt soll das so gemacht werden, wie du es vorschlägst; was aber die Herdenzucht angeht: Wie, denkst du, könnte jemand, der gezeigt hat, dass sie zweifach ist, es anstellen, das jetzt im Doppelten Gesuchte dann in den Hälften zu suchen? SOKRATES DERJüNGERE: Ich werde mir Mühe geben. Und zwar scheint mir die eine die Aufzucht der Menschen zu sein, die andere dagegen die der Tiere. DER FREMDE:Du hast jedenfalls überaus entschlossen und tapfer geteilt; aber nach Möglichkeit soll uns das nicht noch einmal passieren. SOKRATES DERJüNGERE:Was? DER FREMDE:Dass wir einen kleinen Teil gegenüber großen und vielen wegnehmen, und ohne Rücksicht auf die Art; vielmehr soll der Teil zugleich eine Art bilden. Es ist zwar sehr schön, das Gesuchte sofort von dem anderen zu sondern, wenn es richtig ist, wie du gerade vorhin in der Meinung, die Teilung zu haben, die Rede angetrieben hast, als du sahst, dass sie den Weg zu den Menschen nehme. Dennoch, mein Lieber: zu kleine Stücke abzuschneiden ist kein sicherer Weg; es ist sicherer, beim Schneiden durch die Mitte zu gehen; so trifft man eher auf Gestalten. Darauf aber kommt bei den Untersuchungen alles an. SOKRATES DERJüNGERE:Wie meinst du das, Fremder? DER FREMDE:Ich muss versuchen, es noch klarer zu sagen, aus Wohlwollen gegenüber deiner Natur, Sokrates. Unter den gegenwärtigen Umständen nun die Sache vollständig darzulegen, ist unmöglich; wohl aber muss um der Klarheit willen versucht werden, sie ein wenig weiter voranzubringen. SOKRATES DERJüNGERE:Was also meinst du haben wir eben bei unserer Teilung nicht richtig gemacht? DER FREMDE:Folgendes: Wenn zum Beispiel jemand, der versucht, das menschliche Geschlecht in zwei zu teilen, es teilte, wie es die meisten hier machen, welche die Griechen als eines von allen wegnehmen, aber alle anderen Geschlechter, die zahllos sind, nichts miteinander zu tun haben und gegenseitig ihre Sprache nicht verstehen, mit der einen Benennung als Barbaren bezeichnen und annehmen, sie seien wegen dieser einen Benennung auch ein Geschlecht; oder wenn jemand glaubte, die Zahl in zwei Arten zu teilen, indem er die Zehntausend von allen abschneidet, sie als eine Art absondert und dem übrigen Ganzen einen Namen gibt und dann wegen der Benennung wiederum annimmt, dieses werde, abgeson-

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Übersetzung

dert von jener, eine andere Gattung. Schöner aber und mehr nach Arten und in zwei würde geteilt, wenn man die Zahl durch Gerade und Ungerade zerschnitte, das Geschlecht der Menschen wiederum durch Männlich und Weiblich, die Lyder aber oder die Phryger oder irgendwelche anderen nur dann allen anderen gegenüberstellen und abspalten würde, wenn man keinen Weg sähe, für jede gespaltene Hälfte zugleich Gattung und Teil zu finden. SOKRATES DERJüNGERE: Sehr richtig. Aber das ist es eben, Fremder: Wie kann man klarer erkennen, dass Gattung und Teil nicht dasselbe, sondern voneinander verschieden sind? DER FREMDE:Bester Mann, du verlangst, Sokrates, keine Kleinigkeit. Wir sind bereits jetzt über Gebühr von unserem Thema abgeschweift, und du forderst, dass wir noch weiter abschweifen. Jetzt wollen wir, wie es sich gehört, wieder zurückkehren; deiner Frage aber wollen wir ein andermal in Ruhe wie einer Spur nachgehen. Aber davor musst du dich ganz und gar hüten: jemals zu meinen, du hättest von mir eine klare Bestimmung darüber gehört. SOKRATES DERJüNGERE:Worüber? DER FREMDE:Dass Art und Teil voneinander verschieden sind. SOKRATES DERJÜNGERE:Was sonst? DER FREMDE:Was Art von etwas ist, das ist notwendig auch Teil der Sache, deren Art es genannt wird; ein Teil ist dagegen nicht notwendig eine Art. Behaupte immer, Sokrates, dass ich es eher in dieser als in jener Weise sage. SOKRATES DERJÜNGERE:Das will ich tun. DER FREMDE:Sage mir jetzt das Folgende. SOKRATES DERJÜNGERE:Was? DER FREMDE:Die Stelle, von wo die Abschweifung uns hierher geführt hat. Ich glaube am ehesten, es war von dort, wo du, gefragt wie die Herdenzucht zu teilen sei, sehr entschlossen sagtest, es gebe zwei Gattungen der Lebewesen: die menschliche, die andere aber die eine aller anderen Tiere. SOKRATES DERJüNGERE:Das ist wahr. DER FREMDE:Und damals schien mir jedenfalls, du meintest, wenn du einen Teil wegnimmst, das übrige wiederum als eine Gattung aus allen zurückzulassen, weil du um sie zu benennen für alle denselben Namen hattest, indem du sie Tiere nanntest. SOKRATES DERJÜNGERE:Auch das war so. DER FREMDE:So würde vielleicht, du Tapferster von allen, wenn es irgendwo ein anderes vernünftiges Lebewesen gibt, wie es der Kranich zu sein scheint, oder ein anderes solches, dieses die Namen nach demselben Gesichtspunkt verteilen wie du: die Kraniche als eine Gattung den ande-

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ren Lebewesen gegenüberstellen und sich selbst ehren, die anderen aber mit den Menschen in eins zusammenfassen und sie vermutlich nicht anders denn als Tiere bezeichnen. Versuchen wir also, uns vor allem Derartigen sorgfältig in Acht zu nehmen. SOKRATES DERJüNGERE:Wie? DER FREMDE:Indem wir nicht die ganze Gattung der Lebewesen teilen, damit uns das nicht so leicht passiert. SOKRATES DERJÜNGERE:Das darf es auf keinen Fall. DER FREMDE:Denn sogar schon damals wurde dieser Fehler gemacht. SOKRATES DERJüNGERE:Wieso? DER FREMDE:Der anordnende Teil der erkennenden Wissenschaft bestand für uns in der Gattung der Aufzucht von Lebewesen, und zwar der in Herden lebenden Lebewesen. Oder nicht? SOKRATES DERJüNGERE:Ja. DER FREMDE:Es wurde also schon damals das gesamte Lebewesen durch das Zahme und Wilde geteilt. Denn die eine Natur haben, dass sie sich zähmen lassen, werden als zahm bezeichnet, die es nicht wollen, als wild. SOKRATES DERJüNGERE:Schön. DER FREMDE:Die Wissenschaft aber, auf die wir Jagd machen, hatte und hat es mit den zahmen zu tun, und zwar muss sie bei den Herdentieren gesucht werden. SOKRATES DERJÜNGERE:Ja. DER FREMDE:Wir wollen jetzt nicht teilen wie damals, indem wir auf alle blicken, und nicht, indem wir uns eilen, um nur schnell zur Staatskunst zu kommen. Denn das hat zur Folge gehabt, dass uns auch jetzt das passiert ist, wovon im Sprichwort die Rede ist. SOKRATES DERJÜNGERE:Was? DER FREMDE:Dass wir nicht in Ruhe gut geteilt haben und deshalb langsamer ans Ziel gekommen sind. SOKRATES DERJüNGERE:Und damit ist uns recht geschehen, Fremder. DER FREMDE:Also gut. Von neuem wollen wir nun versuchen, von Anfang an die Gemeinschaftszucht zu teilen; denn vielleicht wird die vollständig durchgeführte Untersuchung selber dir auch das besser zeigen, wonach du so eifrig suchst. Sage mir also. SOKRATES DERJÜNGERE:Was denn? DER FREMDE:Folgendes, ob du es vielleicht von einigen gehört hast. Denn ich weiß, dass du die Zucht von zahmen Fischen im Nil und in den königlichen Teichen nicht aus eigener Erfahrung kennst. In Brunnen aber hast du es vielleicht schon erlebt. SOKRATES DERJüNGERE:Freilich habe ich dieses gesehen und jenes von vielen gehört.

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Übersetzung

DER FREMDE:Und vom Weiden der Gänse und der Kraniche - wenn du auch die thessalischen Ebenen nicht durchstreift hast: du hast davon erfahren und du glaubst, dass es das gibt. SOKRATES DERJÜNGERE:Was sonst? DER FREMDE:Das alles habe ich dich deswegen gefragt, weil es von der Zucht der Herdentiere eine von Tieren im Wasser, aber auch eine von Tieren auf dem Land gibt. SOKRATES DERJüNGERE: Die gibt es freilich. DER FREMDE:Bist nun also nicht auch du der Ansicht, dass man die Wissenschaft von der Gemeinschaftszucht in der Weise zweiteilen muss, dass wir jedem von diesen einen der beiden Teile von ihr zuweisen und den einen Wassertierzucht, den anderen Landtierzucht nennen? SOKRATES DERJÜNGERE:Das bin ich. DER FREMDE:Und so werden wir gewiss nicht fragen, zu welcher der beiden Künste die königliche gehört, denn das ist schon jedem klar. SOKRATES DERJüNGERE: Wie auch nicht? DER FREMDE:Jeder wird nun wohl den Stamm der Landtierzucht innerhalb der Herdenzucht teilen. SOKRATES DERJüNGERE: Wie? DER FREMDE:Indem er ihn durch Geflügeltes und zu Fuß Gehendes unterscheidet. SOKRATES DERJÜNGERE:Sehr wahr. DER FREMDE:Was aber? Ist die Staatskunst nicht im Bereich des zu Fuß Gehenden zu suchen? Oder glaubst du nicht, dass sozusagen auch der größte Dummkopf dieser Ansicht ist? SOKRATES DERJÜNGERE:Doch. DER FREMDE:Die Kunst des Weidens der zu Fuß Gehenden - wir müssen zeigen, dass sie, wie die gerade Zahl, in zwei zerschnitten wird. SOKRATES DERJÜNGERE:Klar. DER FREMDE:Doch zu dem Teil, zu dem unsere Untersuchung aufgebrochen ist, zu dem kommen, wie es scheint, zwei zielgerichtete Wege in den Blick. Der eine ist schneller, wenn man gegen den großen Teil den kleinen teilt. Der andere hat mehr das, was wir oben gesagt haben, dass man möglichst durch die Mitte schneiden muss; er ist freilich länger. Es steht uns frei, den Weg zu gehen, den wir wollen. SOKRATES DERJüNGERE: Was? Beide zu gehen ist unmöglich? DER FREMDE: Zugleich schon, du seltsamer Mensch; dass es nacheinander möglich ist, liegt auf der Hand. SOKRATESDER JÜNGERE:Ich jedenfalls entscheide mich also für beide nacheinander. DER FREMDE:Das ist leicht, denn was noch übrig bleibt, ist kurz; dagegen hätte am Anfang und als wir in der Mitte des Weges waren, deine An-

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ordnung uns Schwierigkeiten bereitet. Jetzt aber wollen wir, nachdem es so beschlossen ist, zuerst den längeren Weg gehen; denn da wir noch ziemlich frisch sind, werden wir ihn leichter gehen. Siehe also die Teilung. SOKRATES DERJÜNGERE:Sprich. DER FREMDE:Die zu Fuß Gehenden von den Zahmen, soweit sie in Herden leben, sind von Natur aus in zwei geteilt. SOKRATES DERJÜNGERE:Wodurch? DER FREMDE:Dadurch, dass die einen von Geburt an ungehörnt, die anderen gehörnt sind. SOKRATES DERJÜNGERE:So scheint es. DER FREMDE:Teile nun die Kunst des Weidens der zu Fuß Gehenden, indem du sie diesen beiden Teilen zuordnest, und bediene dich dabei einer Beschreibung. Denn wenn du sie mit Namen bezeichnen willst, dann wird es für dich verwickelter sein als nötig. SOKRATES DERJüNGERE:Wie soll man es also in Worte fassen? DER FREMDE:So: Wenn die Wissenschaft vom Weiden der zu Fuß Gehenden in zwei geteilt ist, dann ist der eine Teil dem gehörnten Teil der Herde zugeordnet, der andere aber dem ungehörnten. SOKRATESDER JÜNGERE:Das soll so gesagt sein, denn es ist in jeder Weise hinreichend klar. DER FREMDE:Und es ist uns doch ebenso offenkundig, dass der König eine gestutzte Herde weidet, von Ungehörnten. SOKRATES DERJüNGERE:Wie sollte das nicht klar sein? DER FREMDE:Sie wollen wir jetzt zerbrechen und versuchen, ihm zu geben, was ihm zukommt. SOKRATES DERJÜNGERE:Durchaus. DER FREMDE:Willst du sie nun durch den gespaltenen Huf und das sogenannte Einhufige teilen oder durch die gekreuzte und reine Begattung? Du verstehst doch. SOKRATES DERJÜNGERE:Was? DER FREMDE:.Dass es in der Natur der Pferde und Esel liegt, auseinander zu zeugen. SOKRATES DERJüNGERE:Ja. DER FREMDE:Das Übrige der sanften Herde der Zahmen ist dagegen in der Gattung miteinander unvermischt. SOKRATES DERJüNGERE:Wie auch nicht? DER FREMDE:Was aber? Scheint der Staatsmann Fürsorge zu tragen für eine sich gekreuzt oder eine sich rein begattende Natur? SOKRATES DERJÜNGERE:Klar, dass für die unvermischte. DER FREMDE:Diese müssen wir nun, so scheint es, wie das vorige in zwei auseinandernehmen. SoKRATESDERJüNGERE:Das müssen wir wohl.

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DER FREMDE:Und tatsächlich ist das Lebewesen, soweit es zahm ist und in Herden lebt, mit Ausnahme von zwei Gattungen bereits fast ganz in Stücke zerlegt. Denn die Gattung der Hunde unter den Herdentieren aufzuzählen lohnt nicht. SOKRATES DER JüNGERE: Gewiss nicht. Aber wodurch sollen wir jetzt die beiden teilen? DER FREMDE:Wodurch ihr beide, Theaitet und du, teilen müsst, da ihr euch doch mit Geometrie befasst habt. SOKRATES DERJüNGERE:Wodurch? DER FREMDE:Durch die Diagonale und wiederum durch die Diagonale der Diagonale. SOKRATES DERJüNGERE:Wie meinst du das? 266b DER FREMDE:Die Natur, die unser Menschengeschlecht besitzt ist sie in Bezug auf die Gangart etwa anders als die Diagonale, welche dem Vermögen nach zweifüßig ist? SOKRATES DERJÜNGERE:Nicht anders. DER FREMDE:Und die der übrigen Gattung ist doch wiederum dem Vermögen nach die Diagonale unseres Vermögens, weil sie aus zweimal zwei Füßen besteht. SOKRATES DERJüNGERE:Wie kann es anders sein? Ohne Zweifel ist das so. Und jetzt verstehe ich beinahe, was du zeigen willst. DER FREMDE:Übrigens, sehen wir, Sokrates, dass uns bei den Teilun266c gen wieder etwas anderes unterlaufen ist, das man nur als etwas ansehen kann, das zum Lachen reizt? SOKRATES DERJÜNGERE:Was? DER FREMDE:Dass unsere menschliche Gattung dasselbe Los gezogen hat und zusammen läuft mit einer Gattung, die unter den Seienden die edelste und zugleich anspruchsloseste ist. SOKRATES DERJüNGERE:Ich sehe, dass etwas außerordentlich Seltsames herauskommt. DER FREMDE:Ist es aber nicht selbstverständlich, dass die Langsamsten zuletzt ankommen? SOKRATES DERJüNGERE:Ja, das wohl. DER FREMDE:Bemerken wir aber das nicht, dass noch lächerlicher der 266d König erscheint, der mit seiner Herde zusammen läuft und seinen Schritt dem unter den Männern anpasst, der auf ein anspruchsloses Leben am besten eingeübt ist? SOKRATES DERJÜNGERE:Allerdings. DER FREMDE:Denn jetzt, Sokrates, wird das besser klar, was damals in der Untersuchung über den Sophisten gesagt wurde. SOKRATES DERJÜNGERE:Was? DER FREMDE:Dass dieser Methode der Untersuchung an dem, was ehr266a

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würdiger ist, nicht mehr liegt als an dem, das es nicht ist, und dass sie das Kleinere nicht geringer schätzt als das Größere, sondern immer durch sich selbst bis zur letzten Wahrheit vordringt. SOKRATES DERJüNGERE:So scheint es. DER FREMDE:Soll ich nun nach diesem, damit du mir nicht mit der Frage zuvorkommst, welches damals der kürzere Weg zur Definition des Königs war, selbst dir vorangehen? SOKRATES DERJÜNGERE:Sehr wohl. DER FREMDE:Ich meine also, man hätte damals sofort die zu Fuß gehende Gattung nach dem Zweifüßigen und Vierfüßigen einteilen müssen, und wenn man dann gesehen hätte, dass das Menschliche mit dem Gefiederten allein zusammengenommen die zweifüßige Herde bildet, diese wiederum durch das Nackte und das Federnbekommende zerschneiden müssen; wenn man sie zerschnitten hätte und sich dann bereits die menschenweidende Kunst gezeigt hätte, hätte man den Staatsmann und königlichen Mann gebracht, ihn wie einen Wagenlenker in sie eingesetzt und ihm die Zügel des Staates übergeben, weil diese Wissenschaft die ihm eigene wäre. SOKRATES DERJÜNGERE:Schön und gleichsam wie eine Schuld hast du mir die Erklärung gegeben; du hast den Exkurs wie einen Zins hinzugefügt und sie so vervollständigt. DER FREMDE:Komm, lass uns jetzt die Erklärung des Namens der Kunst des Staatsmanns zusammenfassen, indem wir sie vom Anfang bis zum Ende noch einmal durchgehen. SOKRATES DERJüNGERE:Durchaus. DER FREMDE:Bei der erkennenden Wissenschaft hatten wir also am Anfang einen anordnenden Teil; dessen Teil wurde aufgrund eines Vergleichs selbst_anordnend genannt. Die Aufzucht von Lebewesen wiederum wurde als die nicht kleinste der Gattungen von der selbstanordnenden abgespalten; und eine Art der Aufzucht von Lebewesen war die Herdenzucht, von der Herdenzucht aber wieder das Weiden der zu Fuß Gehenden; vom Weiden der zu Fuß Gehenden wurde vor allem die Kunst der Aufzucht der ungehörnten Natur abgeschnitten. Für dessen nicht kleineren Teil wiederum war es notwendig, ein Dreifaches zusammenzuflechten, wenn man es zu einem Namen zusammenführen wollte, ihn als Hirtenwissenschaft unvermischter Zeugung bezeichnend. Der Abschnitt aber von diesem, der bei der zweifüßigen Herde als einziger noch übriggebliebene menschenweidende Teil, genau dieser ist nun das Gesuchte, der als derselbe zugleich königlich und staatsmännisch heißt. SOKRATES DERJÜNGERE:Allerdings. DER FREMDE:Sokrates, ist dies auch tatsächlich so, wie du es eben sagtest, von uns gemacht worden?

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SOKRATES DERJÜNGERE:Was denn? DER FREMDE:Dass unser Thema ganz und gar hinreichend abgehandelt worden ist? Oder lässt es die Untersuchung nicht vor allem daran fehlen, dass die Erklärung zwar irgendwie gegeben, jedoch keineswegs vollkommen ausgearbeitet worden ist? SOKRATES DERJÜNGERE:Wie meinst du das? DER FREMDE:Ich werde versuchen, uns beiden das, woran ich denke, jetzt noch klarer zu machen. SOKRATES DERJüNGERE: Bitte, sprich. DER FREMDE:Von den vielen weidenden Künsten, die sich uns eben gezeigt haben, war eine die staatsmännische und die Fürsorge für eine bestimmte Herde? SOKRATES DERJÜNGERE:Ja. DER FREMDE:Diese aber, so bestimmte die Rede, sei nicht Aufzucht von Pferden oder von anderen Tieren, sondern Wissenschaft von der Gemeinschaftszucht von Menschen. SOKRATES DERJÜNGERE:So war es. DER FREMDE:Lass uns nun den Unterschied zwischen allen Hirten auf der einen und den Königen auf der anderen Seite betrachten. SOKRATES DERJÜNGERE:Welchen? DER FREMDE:Ob einer, welcher den Namen einer anderen Kunst hat, gegenüber einem der anderen Hirten behauptet und vorgibt, er sei zugleich Mitzüchter der Herde. SOKRATES DERJÜNGERE:Wie meinst du das? DER FREMDE:Sämtliche Kaufleute, Bauern und Bäcker, und zu diesen die Gymnasten und das Geschlecht der Ärzte - die könnten doch, wie du weißt, gegenüber den Hirten der menschlichen Dinge, die wir Staatsmänner genannt haben, alle zusammen durchaus mit Gründen verfechten, dass sie für die menschliche Aufzucht sorgen, nicht nur für die der Menschen in der Herde, sondern auch für die ihrer Herrscher. SOKRATES DERJüNGERE: Und würden sie das nicht mit Recht behaupten? DER FREMDE:Vielleicht; und wir werden das untersuchen. Dies aber wissen wir, dass mit einem Rinderhirten niemand über eines von diesen Dingen streiten wird, sondern der Rinderhirt ist selbst Ernährer der Herde, selbst Arzt, selbst gewissermaßen der Brautführer, und bei den Nachkommen, was die Neugeborenen und die Geburt angeht, so versteht er allein sich auf die Hebammenkunst. Überdies soweit seine Tiere von Natur für Spiel und Musik empfänglich sind, so versteht es keiner besser zu trösten und bezaubernd zu besänftigen, indem er mit Instrumenten und bloß mit dem Mund die Musik macht, die seine Herde am besten anspricht. Und mit den übrigen Hirten ist es doch dasselbe. Oder?

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SOKRATES DERJÜNGERE:Sehr richtig. DER FREMDE:Wie kann uns da die Rede über den König richtig und einwandfrei erscheinen, wenn wir ihn allein als Hirten und Züchter der menschlichen Herde setzen und ihn von unzähligen anderen aussondern, die ihm das streitig machen? SOKRATES DERJÜNGERE:Auf keine Weise. DER FREMDE: Unsere Furcht vor Kurzem war also berechtigt, als wir den Verdacht hegten, unsere Erklärung könnte zwar eine Gestalt des Königs treffen, wir hätten jedoch keineswegs den Staatsmann mit Genauigkeit herausgearbeitet, bis wir jene, die sich um ihn herumdrängen und ihm gegenüber auf das Mithüten Anspruch erheben, weggeräumt und, getrennt von jenen, allein ihn rein gezeigt hätten? SOKRATES DERJüNGERE: Doch, vollkommen berechtigt. DER FREMDE:Das, Sokrates, müssen wir jetzt tun, wenn wir nicht am Ende der Rede Schande machen wollen. SoKRATESDERJÜNGERE:Aber das darf auf keinen Fall geschehen. DER FREMDE:Wiederum müssen wir also von einem anderen Anfang aus einen anderen Weg gehen. SOKRATES DERJÜNGERE:Was für einen denn? DER FREMDE:Indem wir so etwas wie ein Spiel einmischen; denn wir müssen einen langen Teil einer großen Geschichte zur Hilfe nehmen, und für den Rest dann, wie im Vorhergehenden, immer einen Teil von einem Teil wegnehmen und so zum eigentlich Gesuchten kommen. Müssen wir das nicht? SOKRATES DERJÜNGERE:Durchaus. DER FREMDE:Aber nun richte deine Aufmerksamkeit ganz auf meine Geschichte, wie die Kinder; du bist ja doch erst seit wenigen Jahren dem Kindesalter entwachsen. SOKRATES DERJüNGERE: Erzähle bitte. DER FREMDE:Es gab nun und es wird geben unter dem seit alters Erzählten vieles andere und so auch die Erscheinung, die erzählt wird im Zusammenhang mit dem Streit des Atreus und Thyestes. Du hast es irgendwo gehört, und du erinnerst dich, was, wie sie sagen, damals geschehen sein soll. SOKRATES DERJÜNGERE:Du meinst vielleicht das Zeichen von dem goldenen Lamm. DER FREMDE:Keineswegs, sondern das mit der Veränderung von Untergang und Auf gang der Sonne und der anderen Gestirne, dass sie nämlich, von wo sie jetzt aufgehen, sie zu diesem Ort damals untergingen, aber von dem entgegengesetzten aufgingen. Damals aber gab der Gott dem Atreus ein Zeugnis und änderte es in die jetzige Stellung. SOKRATES DERJÜNGERE:Auch das wird freilich erzählt.

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DER FREMDE:Und auch von der Königsherrschaft, die Kronos ausübte, haben wir von vielen gehört. SOKRATES DERJüNGERE:Sogar von sehr vielen. DER FREMDE:Was aber? Dass die Früheren als Erdgeborene entstanden sind und nicht auseinander erzeugt wurden? SOKRATES DERJÜNGERE:Auch das ist eine der alten Erzählungen. DER FREMDE:Dieses alles nun geht zurück auf dasselbe Ereignis, und zu diesem Unzähliges anderes, das noch wunderbarer als dieses ist. Aber wegen der Fülle der Zeit ist einiges davon erloschen, das übrige wird zerstreut erzählt, jedes getrennt von dem übrigen. Aber das Ereignis, das Ursache für alles dies ist, hat niemand erzählt; es muss also jetzt erzählt werden, denn wenn es erzählt ist, wird es zur Darstellung des Königs passen. SOKRATES DERJüNGERE:Das hast du sehr schön gesagt. Erzähle und lasse nichts aus. DER FREMDE:Höre denn. Bald hilft der Gott selbst, dieses Weltall auf seiner Bahn zu führen und zu drehen, bald aber lässt er es los, sobald die Kreisläufe das Maß der ihm zukommenden Zeit schon erfüllt haben. Dann dreht es sich wieder von selbst in der entgegengesetzten Richtung, weil es ein Lebewesen ist und Vernunft erhalten hat von dem, der es am Anfang zusammengefügte. Dieses Umgekehrtgehen ist ihm aber aus folgendem Grund notwendig eingeboren. SOKRATES DERJüNGERE:Aus welchem denn? DER FREMDE:Sich immer entsprechend demselben und in derselben Weise zu verhalten und dasselbe zu sein, kommt allein den Göttlichsten von allem zu; die Natur des Körpers aber ist nicht von dieser Ordnung. Den wir Himmel und Welt genannt haben, der hat zwar von seinem Erzeuger her an vielem Glückseligen Anteil erhalten, aber er hat nun eben auch Gemeinschaft mit einem Körper; weshalb es für ihn gänzlich unmöglich ist, von Veränderung frei zu werden; soweit es jedoch möglich ist, wird er, entsprechend seinem Vermögen, in einer Bewegung in demselben entsprechend demselben bewegt. Deshalb hat er die Rückwärtsbewegung erhalten, weil das die geringste Abweichung von der eigenen 1 Bewegung ist. Aber sich selbst immer zu drehen, ist wohl keinem leicht möglich außer dem, der wiederum alles Bewegte führt; aber er darf nicht einmal so, dann aber wieder entgegengesetzt bewegen. Aufgrund alles dessen darf man weder sagen, dass die Welt immer sich selbst dreht, noch auf keinen Fall sagen, dass sie immer von dem Gott in zweifachen, entgegengesetzten Umdrehungen gedreht wird, noch wiederum, dass irgend zwei Götter, die einander Entgegengesetztes denken, sie drehen, sondern

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Ich lese in 269e4 mit den Handschriften

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was eben gesagt wurde und allein übrig bleibt, dass sie bald mit von einer anderen, göttlichen Ursache geführt wird, das Leben aufs neue erwerbend und eine vom Werkmeister ihr zubereitete Unsterblichkeit erhaltend, bald, wenn sie losgelassen wurde, durch sich selbst geht, zu einem solchen Zeitpunkt freigelassen, dass sie viele Zehntausende von Kreisläufen umgekehrt zurücklegt, weil sie das Größte und Gleichgewichtigste ist und auf dem kleinsten Fuß einherschreitend geht. SOKRATES DERJüNGERE:Alles, was du dargelegt hast, scheint jedenfalls sehr wahrscheinlich. DER FREMDE:Wir wollen jetzt auf Grund des bisher Gesagten überlegen und das Ereignis betrachten, das, wie wir sagten, die Ursache dieser wunderbaren Dinge ist. Das ist denn also genau dieses. SOKRATES DERJüNGERE:Welches? DER FREMDE:Dass die Bewegung des Weltalls sich bald in der Richtung bewegt, in der es sich jetzt dreht, bald in die entgegengesetzte. SOKRATES DERJÜNGERE:Wie denn? DER FREMDE:Diese Veränderung muss man als die größte und vollständigste Wende von allen Wenden, die am Himmel geschehen, ansehen. SOKRATES DERJÜNGERE:Wahrscheinlich wohl. DER FREMDE:Es ist also anzunehmen, dass sich dann auch die größten Veränderungen ereignen für uns, die in seinem Inneren wohnen. SOKRATES DERJÜNGERE:Auch das ist wahrscheinlich. DER FREMDE:Aber wissen wir nicht, dass die Natur der Lebewesen es nur schwer aushält, wenn große, viele und mannigfache Veränderungen hereinbrechen? SOKRATES DERJüNGERE:Wie auch nicht? DER FREMDE:Notwendig ereignet sich eine Vernichtung größten Ausmaßes der anderen Lebewesen, und auch vom Menschengeschlecht bleibt nur wenig übrig; über sie aber brechen viele andere neue und wunderbare Erfahrungen herein, das größte aber ist folgendes, das die Umkehr des Weltalls dann begleitet, wenn die der jetzt bestehenden entgegengesetzte Wende erfolgt. SOKRATES DERJüNGERE:Welches? DER FREMDE:Das Alter, das jedes Lebewesen hatte, blieb zuerst stehen, und alles, was sterblich war, hörte auf, in Richtung auf ein älteres Aussehen fortzuschreiten; es veränderte sich vielmehr zurück ins Entgegengesetzte und wurde gleichsam jünger und zarter. Und die weißen Haare der Älteren wurden schwarz, die Wangen der Bärtigen glätteten sich wieder und versetzten jeden wieder in die vergangene Blüte zurück. Die Leiber der heranwachsenden Jugend glätteten sich; sie wurden jeden Tag und jede Nacht kleiner und kehrten wieder zur Natur des neugeborenen Kindes zurück, dem sie an Seele und Leib ähnlich wurden; von da

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an aber welkten sie zusehends dahin und verschwanden dann völlig. Die Leiche der in der damaligen Zeit gewaltsam ums Leben Gekommenen erlitt schnell dasselbe Schicksal; sie wurde in wenigen Tagen zur Unsichtbarkeit vernichtet. SOKRATES DERJüNGERE:Aber wie war damals das Entstehen der Lebewesen, Fremder? Und auf welche Weise wurden sie auseinander erzeugt? DERFREMDE:Es ist klar, Sokrates, dass es auseinander Erzeugtes in der damaligen Natur nicht gab; vielmehr war es das erdgeborene Geschlecht, von dem erzählt wird, dass es einmal existiert hat, das zu jener Zeit wieder aus der Erde zurückkehrte. Es wurde im Gedächtnis bewahrt von unseren ersten Vorfahren, welche der dem Ende des früheren Umschwungs folgenden Zeit benachbart waren und am Anfang des jetzigen geboren wurden. Sie wurden für uns Künder der Erzählungen, die heute, und zwar zu Unrecht, von vielen nicht geglaubt werden. Denn ich meine, man muss bedenken, was sich aus dem Bisherigen ergibt. Denn daraus, dass die Greise zur Natur des Kindes zurückkehren, folgt, dass aus den Verstorbenen, die in der Erde liegen, sich wieder Menschen zusammenfügen und aufleben; sie folgen der Wende, bei der das Entstehen sich in das Entgegengesetzte umdrehte; und da sie nach diesem Argument notwendig als Erdgeborene entstehen, haben so ihren Namen und ihre Erklärung alle die, welche nicht ein Gott für ein anderes Los bestimmte. SoKRATESDERJüNGERE:Allerdings folgt das aus dem Früheren. Aber das Leben, von dem du sagst, es sei unter der Macht des Kronos gewesen: war es in jener Periode oder in dieser? Denn was die Veränderung der Gestirne und der Sonne angeht, so ergibt sich klar, dass sie in beiden Perioden stattfindet. DER FREMDE:Du bist der Rede gut gefolgt. Das aber, wonach du gefragt hast, dass den Menschen alles von selbst geworden ist, so gehört das keineswegs zu der jetzt bestehenden Bewegung, sondern auch das gehörte zur vorhergehenden. Denn damals herrschte erstens über die ganze Kreisbewegung fürsorgend der Gott, wie auch wiederum für die Gegenden dasselbe der Fall war, weil überall die Teile des Weltalls von den herrschenden Göttern verteilt waren; und auch die Lebewesen hatten nach Gattungen und Herden göttliche Dämonen wie Hirten verteilt, jeder allen, die er weidete, selbst in allem genügend, so dass keines wild war und sie einander nicht fraßen; Krieg und Aufstand gab es überhaupt nicht, und man könnte noch Unzähliges andere nennen, das aus dieser Anordnung folgte. Was nun aber gesagt wurde über das Leben der Menschen, in dem ihnen alles von selbst zukam, wird aus folgendem Grund erzählt. Ein Gott weidete sie, selbst die Aufsicht führend, so wie jetzt die Menschen, als ein anderes, göttlicheres Lebewesen, andere Gattungen, die geringer sind als sie, weiden; als aber jener sie weidete, gab es keine Verfas-

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sungen, noch Besitz von Frauen und Kindern; denn alle kamen aus der Erde wieder zum Leben, ohne sich an das Vorhergehende zu erinnern. Vielmehr gab es alles das nicht. Früchte aber hatten sie reichlich von Bäumen und vielem anderen Gesträuch; sie wurden nicht durch Landbau gezogen, sondern die Erde gab sie von selbst. Nackt und ohne Unterlage weideten sie meistens unter freiem Himmel, denn das Klima war für sie angenehm gemischt, und sie hatten weiche Lager, weil aus der Erde reichlich Gras wuchs. Wie also das Leben derer unter Kronos war, Sokrates, das hörst du; wie das ist, von dem man sagt, es sei unter Zeus, das jetzige, nimmst du gegenwärtig selbst wahr; könntest du und wolltest du entscheiden, welches von beiden glücklicher ist? SOKRATES DERJüNGERE:Auf keinen Fall. DER FREMDE: Willst du also, dass ich für dich auf irgendeine Weise die Entscheidung treffe? SOKRATES DERJüNGERE:Durchaus. DER FREMDE:Wenn nun die Pfleglinge des Kronos, die über so viel Muße und über das Vermögen verfügten, nicht nur mit Menschen, sondem auch mit Tieren in vernünftiger Rede zu verkehren, das alles für die Philosophie verwendeten, indem sie sich mit den Tieren und untereinander unterhielten, von jedem Wesen erforschend, ob es, im Besitz irgendeines besonderen Vermögens, etwas von den anderen Verschiedenes wahrgenommen habe, was zur Einsicht beiträgt: dann ist die Entscheidung leicht, dass die damals unendlich viel glücklicher waren als die jetzt. Wenn sie aber, reichlich mit Speise und Trank angefüllt, sich einander und den Tieren Geschichten erzählt haben, wie sie auch jetzt von ihnen erzählt werden, dann ist auch das, um meine Meinung offen zu sagen, sogar sehr leicht zu entscheiden. Dennoch aber wollen wir das nun lassen, bis jemand erscheint, der imstande ist Auskunft zu geben, in welche der beiden Richtungen hinsichtlich der Wissenschaften und des Gebrauchs der Sprache die Begierden der Menschen damals gingen. Weswegen wir aber diese Geschichte geweckt haben, muss gesagt werden, damit wir vorangehen und das Folgende zum Abschluss bringen können. Denn als die Zeit von all diesem zu Ende war und eine Veränderung eintreten musste und nunmehr auch das aus der Erde kommende Geschlecht schon ganz verbraucht war, nachdem jede Seele alle Entstehungen erfüllt hatte, weil sie so oft als Samen in die Erde gefallen war, wie es einer jeden bestimmt war, damals nun ging der Steuermann des Weltalls, gleichsam die Stange der Steuerruder loslassend, weg zu seinem Aussichtspunkt, die Welt aber drehte die zugeteilte und eingeborene Begierde wieder in umgekehrter Richtung. Als nun alle in den verschiedenen Gegenden mit dem größten Dämon mitherrschenden Götter erkannten, was geschehen war, entließen sie ihrerseits die Teile der Welt aus ih-

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rer Fürsorge. Die aber kehrte sich um und erlitt einen Stoß, von einem entgegengesetzten Antrieb des Anfangs und des Endes angetrieben, und verursachte ein großes Beben in sich, das noch einmal die Vernichtung mannigfacher Lebewesen bewirkte. Danach aber, als genügend Zeit vergangen war, wurde sie allmählich von Lärm und Verwirrung befreit und bekam Ruhe von den Beben. Sie ging geordnet zu ihrem gewohnten Lauf, hatte selbst Fürsorge und Gewalt über die Dinge in ihr und über sich selbst und war der Lehre des Werkmeisters und Vaters nach Vermögen eingedenk. Am Anfang führte sie diese genauer aus, am Ende jedoch weniger eifrig; Ursache dafür ist ihr das Körperliche der Mischung, das ihrer alten Natur einst Eigentümliche, weil es an großer Unordnung teilhatte, bevor es in die jetzige Welt kam. Denn von dem, der sie zusammengesetzt hat, besitzt sie alles Schöne. Von dem vorhergehenden Zustand aber: was im Himmel beschwerlich und unrecht ist, das hat sie selbst von jenem, und sie bringt es in den Lebewesen hervor. Als sie nun mit dem Steuermann die Lebewesen in sich aufzog, brachte sie kleine Übel, aber große Güter hervor; von jenem aber getrennt, führt sie während der Zeit, welche dem Loslassen am nächsten ist, immer alles aufs Schönste. Wenn die Zeit jedoch fortschreitet, das Vergessen sich in ihr ausbreitet, gewinnt auch der Zustand der alten Disharmonie an Einfluss, der, wenn die Zeit zu Ende geht, aufblüht, und sie gießt wenig Gutes, aber viel vom Entgegengesetzten in die Mischung hinein. So gerät sie in die Gefahr der Vernichtung ihrer selbst und der Dinge in ihr. Wenn deshalb der Gott, der sie geordnet hat, sie in Not sieht und sich Sorgen macht, sie könne von der Verwirrung heimgesucht sich auflösen und in den grenzenlosen Ort 2 der Unähnlichkeit versinken, dann nimmt er sofort den Platz an seinem Steuerruder wieder ein, dreht das Erkrankte und Auf gelöste in dem ihm selbst entsprechenden früheren Kreislauf, ordnet sie, stellt sie wieder her und macht sie unsterblich und nicht alternd. Dieses ist nun nur als Ende des Ganzen erzählt. Was aber die Darstellung des Königs angeht, so genügt es, an das Vorhergehende der Erzählung anzuknüpfen. Denn als das Weltall sich wieder drehte auf den Weg zum jetzigen Entstehen, stand das Alter wiederum still und brachte Neues, dem Damaligen Entgegengesetztes hervor. Denn die von den Lebewesen, die vor Kleinheit kurz davor standen zu verschwinden, wuchsen, wogegen die aus der Erde wachsenden neugeborenen Leiber, die grau waren, wieder sterbend in die Erde hinabgingen. Und auch alles andere änderte sich, den Zustand des

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Ich lese in 273el mit den Handschriften, Plutarch, Plotin und Eusebios -r6nov und nicht wie die Oxford-Ausgabe (mit Proklos und Simplikios) n6v-rov. -r6nov ist die lectio difficilior; n6v-rov legt sich durch die nautische Metapher nahe.

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Alls nachahmend und ihm folgend, und so schloss sich auch, was zur Schwangerschaft, Geburt und Ernährung gehört, als Nachahmung aus Notwendigkeit dem Ganzen an. Denn es war nicht weiterhin erlaubt, dass ein Lebewesen in der Erde durch andere, die es zusammenfügten, hervorgebracht werde, sondern wie es dem Weltall auferlegt war, eigenmächtig seinen Gang zu bestimmen, so war es folglich auf dieselbe Weise auch seinen Teilen von einem ähnlichen Antrieb auferlegt, soweit es möglich war, selbst durch sich selbst zu wachsen, zu zeugen und zu ernähren. Nun sind wir bereits an dem Punkt, weswegen diese ganze Erzählung in Gang gekommen ist. Von den übrigen Tieren durchzugehen, woraus sich jedes und aus welcher Ursache es sich verwandelt hat, würde viel und lang werden; von den Menschen aber ist es kürzer und mehr zur Sache gehörend. Verlassen von der Fürsorge des Dämon, der uns erworben und geweidet hatte, und da die vielen unter den Tieren, die ihrer Natur nach gefährlich waren, verwilderten, wurden die Menschen, die schwach und schutzlos geworden waren, deren Raub, und außerdem waren sie in den ersten Zeiten ratlos und kunstlos, weil sie, nachdem die von selbst sich darbietende Nahrung ausblieb, es nicht verstanden, sie sich irgendwie zu verschaffen, weil früher keine Not sie gezwungen hatte. Infolgedessen waren sie in großer Not. Weshalb uns denn die von alters berichteten Geschenke von den Göttern geschenkt worden sind, zusammen mit der notwendigen Unterweisung und Erziehung: das Feuer von Prometheus, die Künste von Hephaistos und seiner Kunstgenossin, Samen und Pflanzen wiederum von anderen. Und alles, was zur Ausstattung des menschlichen Lebens beigetragen hat, ist aus diesem entstanden, nachdem einmal das, was an Fürsorge von den Göttern kam, wie eben gesagt, die Menschen verlassen hatte und sie durch sich selbst die Lebensführung und die Fürsorge für sich selbst in die Hand nehmen mussten, ebenso wie die ganze Welt, die wir zu aller Zeit nachahmen und der wir uns anschließen und deshalb jetzt so und dann wieder anders leben und entstehen. Und die Geschichte soll hiermit ihr Ende haben. Zunutze aber wollen wir sie uns machen, um zu sehen, wie groß der Fehler war, den wir gemacht haben, als wir den königlichen Mann und den Staatsmann in der vorhergehenden Untersuchung zeigten. SoKRA ms DERJüNGERE:Wie ist uns der Fehler unterlaufen, von dem du sprichst, und wie groß ist er? DERFREMDE: In einer Hinsicht ist er kleiner, in einer anderen aber ganz beträchtlich und viel größer und mehr als damals. SOKRATES DERJüNGERE:Wie? DER FREMDE:Dass wir, gefragt nach dem König und Staatsmann des jetzigen Umschwungs und Entstehens, aus dem entgegengesetzten Kreislauf den Hirten der damaligen menschlichen Herde genannt haben und zudem einen Gott anstelle eines Sterblichen: in dieser Hinsicht sind wir

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weit abgeirrt. Dass wir ihn aber als den Herrscher des gesamten Staates zeigten, aber nicht klärten, auf welche Weise: in dieser Hinsicht dagegen war das Gesagte zwar wahr, jedoch nicht vollständig und nicht klar ausgeführt, und deshalb war unser Fehler hier kleiner als dort. SOKRATES DERJÜNGERE:Das ist wahr. DER FREMDE:Wie es scheint, ist nun zu erwarten, dass, wenn wir die Weise der Herrschaft des Staates bestimmt haben, dann der Staatsmann uns vollständig erklärt ist. SoKRATESDERJüNGERE:Schön. DER FREMDE:Deshalb haben wir doch auch die Geschichte vorgesetzt, damit im Hinblick auf die Herdenzucht nicht nur gezeigt werde, dass sich jetzt jedenfalls alle um sie streiten mit dem Gesuchten, sondern dass wir auch jenen selbst deutlicher sähen, bei dem, weil er nach dem Beispiel von Hirten und Rinderhirten allein die Fürsorge für die menschliche Aufzucht hat, allein es angebracht ist, ihn dieses Namens für würdig zu halten. SOKRATES DERJüNGERE:Richtig. DER FREMDE:Ich meine aber, Sokrates, dass das zu groß ist für einen König, die Gestalt des göttlichen Hirten, dass vielmehr diejenigen, die hier jetzt Staatsmänner sind, ihren Untergebenen viel mehr ähnlich sind ihrer Natur nach und an ihrer Erziehung und Aufzucht viel enger teilgenommen haben. SOKRATES DERJüNGERE:Allerdings. DER FREMDE:Gesucht werden müssen sie dennoch um nichts weniger oder mehr, ob sie nun diese oder jene Natur haben. SOKRATES DERJüNGERE:Wie denn nicht? DER FREMDE:Lass uns also folgendermaßen wieder zurückgehen. Die Kunst, von der wir sagten, sie sei selbstgebietend über Lebewesen, und zwar nicht für einzelne, sondern für viele gemeinsam die Fürsorge habend, und die wir also damals sofort Herdenzucht nannten - du erinnerst dich doch? SOKRATES DERJÜNGERE:Ja. DER FREMDE:Sie ist es, bei der wir einen Fehler begangen haben. Denn den Staatsmann haben wir dabei nirgends erfasst und benannt, sondern ohne dass wir es merkten, hat er sich der Benennung entzogen. SOKRATES DERJüNGERE:Wie? DER FREMDE:Dass jeder seine Herde aufzieht, das kommt allen anderen Hirten wohl zu, aber obwohl es dem Staatsmann nicht zukommt, haben wir ihm doch den Namen gegeben, während wir einen der Namen hätten geben müssen, die allen gemeinsam sind. SOKRATES DERJÜNGERE:Was du sagst, ist wahr, wenn es einen solchen Namen gab. DER FREMDE:Wie sollte nicht das Pflegen allen gemeinsam gewesen

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sein, wovon weder die Aufzucht noch eine andere Tätigkeit ausgeschlossen ist? Oder wenn wir sie eine herdenwartende oder pflegende oder fürsorgende genannt hätten, weil man mit diesen allen auch den Staatsmann zugleich mit den anderen bedecken konnte, was, wie die Untersuchung zeigte, notwendig ist. SOKRATESDERJÜNGERE:Richtig. Aber auf welche Weise wäre die darauf folgende Teilung geschehen? DER FREMDE:Nach denselben Gesichtspunkten, wie wir vorher die Herdenzucht unterteilt haben für zu Fuß Gehendes und Flügelloses, und für Unvermischtes und Ungehörntes. Wenn wir durch etwa diese selben Dinge auch die Herdenwartung unterteilt hätten, dann hätten wir die jetzige Königsherrschaft und die unter Kronos auf gleiche Weise in dem Begriff umfasst. SoKRATESDERJüNGERE: Es scheint so. Ich frage aber noch einmal, was das darauf Folgende ist. DER FREMDE:Das ist klar: Wenn wir den Namen Herdenwartung so gebraucht hätten, wäre es uns niemals widerfahren, dass man behauptet, es gebe überhaupt keine Fürsorge, so wie damals mit Recht behauptet wurde, es gebe bei uns keine Kunst, die diese Bezeichnung Aufzucht verdient; wenn es nun aber eine gäbe, dann käme sie vielen eher und mehr zu als einem der Könige. SOKRATES DERJüNGERE:Richtig. DER FREMDE:Fürsorge aber der gesamten menschlichen Gemeinschaft und die Kunst der Herrschaft über alle Menschen zu sein, dürfte wohl keine mehr und früher beanspruchen wollen als die königliche. SOKRATES DERJüNGERE:Was du sagst, ist richtig. DER FREMDE:Aber bemerken wir nach diesem nicht, Sokrates, dass genau am Ende ein großer Fehler gemacht wurde? SOKRATES DERJÜNGERE:Was für einer? DER FREMDE:Dieser: Wenn wir auch noch so sehr davon überzeugt gewesen wären, es gebe eine Kunst der Aufzucht der zweifüßigen Herde, hätten wir sie dennoch nicht sofort als königliche und als staatsmännische bezeichnen dürfen, als wäre sie bereits fertig. SOKRATES DERJÜNGERE:Was aber? DER FREMDE:Zunächst hätten wir, wie wir sagen, den Namen ändern und ihn mehr auf die Fürsorge als auf die Aufzucht ausrichten müssen, dann hätten wir sie zerschneiden müssen, denn sie dürfte noch bedeutende Einschnitte haben. SOKRATES DERJüNGERE:Welche? DER FREMDE:Durch den wir irgendwo den göttlichen Hirten und den menschlichen Fürsorger voneinander getrennt hätten. SOKRATES DERJÜNGERE:Richtig.

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DER FREMDE:Wiederum war es notwendig, die abgesonderte fürsorgende Kunst entzweizuschneiden. SOKRATES DERJÜNGERE:Wodurch? DER FREMDE:Durch das Gewaltsame und das Freiwillige. SOKRATES DERJüNGERE:Wieso? DER FREMDE:Auch darin haben wir vorhin einen Fehler gemacht und über Gebühr einfältig den König und den Tyrannen gleichgesetzt, während doch sie selbst und die Art der Herrschaft eines jeden von ihnen höchst unähnlich sind. SOKRATES DERJüNGERE:Das ist wahr. DER FREMDE:Wollen wir jetzt aber nicht auch das wieder richtigstellen und, wie ich sagte, die Menschenfürsorge zweiteilen, durch das Gewaltsame und das Freiwillige? SOKRATES DERJÜNGERE:Durchaus. DER FREMDE:Und sollten wir vielleicht die der Gewaltsamen tyrannische, dagegen die freiwillige Herdenwartung über freiwillige zweifüßige Lebewesen Staatskunst nennen, den aber wiederum, der diese Kunst und Fürsorge hat, zum wahrhaft seienden König und Staatsmann erklären? SOKRATES DER JüNGERE: Und damit, Fremder, dürfte die Darstellung des Staatsmanns für uns vollendet sein. DER FREMDE:Das wäre schön für uns, Sokrates. Es darf das aber nicht allein deine, sondern es muss, gemeinsam mit dir, auch meine Ansicht sein. Nun aber scheint meiner Ansicht nach der König für uns noch keine vollendete Gestalt zu haben, sondern wie die Bildhauer, wo es nicht angebracht ist, bisweilen eilen und die Teile des Werkes zahlreicher und größer machen als nötig und es dadurch verzögern, so haben auch wir jetzt, um nur den Fehler des früheren Durchgangs schnell und dazu großartig zu zeigen, in dem Glauben, man schulde es dem König, große Beispiele zu gebrauchen, eine Erzählung von erstaunlichem Umfang herbeigebracht und wurden so gezwungen, einen größeren Teil von ihr als nötig ist zur Hilfe zu nehmen. Deshalb haben wir die Darstellung zu weitläufig gemacht und der Erzählung überhaupt kein Ende gesetzt, sondern die Rede schien uns, wie ein Gemälde, lediglich den äußeren Umriss hinreichend zu haben, während die Deutlichkeit wie durch die Farben und die Mischung der Farben noch irgendwie fehlte. Aber es ist angemessener, denen, die folgen können, jedes Lebewesen durch Rede und Wort zu zeigen als durch eine Zeichnung und jede andere Tätigkeit der Hand, den anderen aber durch Tätigkeiten der Hand. SOKRATES DERJÜNGERE:Das ist zwar richtig. Wie du das aber meinst, wir hätten die Sache noch nicht hinreichend erklärt, das zeige. DER FREMDE:Es ist schwer, mein Lieber, etwas von den größeren Din-

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gen hinreichend darzulegen, ohne Beispiele zu gebrauchen. Denn es hat den Anschein, als ob jeder von uns wie im Traum alles wisse und wiederum gleichsam im Wachen alles nicht wisse. SOKRATES DERJÜNGERE:Wie meinst du das? DER FREMDE:Auf höchst seltsame Weise scheine ich in diesem Augenblick zu bewegen, was in uns beim Wissen geschieht. SOKRATES DERJÜNGERE:Wieso? DER FREMDE:Eines Beispiels, mein Bester, hat für mich wiederum auch das Beispiel selbst bedurft. SOKRATES DERJüNGERE:Was denn? Sage es und habe meinetwegen keine Bedenken. DER FREMDE:Ich muss es sagen, weil du deinerseits bereit bist, zu folgen. Wir wissen doch von den Kindern, wenn sie gerade mit der Schrift bekannt werden SOKRATES DERJüNGERE:Was? DER FREMDE:Dass sie jeden der Buchstaben in den kürzesten und leichtesten Silben hinreichend unterscheiden und fähig werden, das Wahre über sie anzugeben. SOKRATES DERJüNGERE:Wie denn nicht? DER FREMDE:Dass sie aber dieselben in anderen falsch auffassen und sich in Urteil und Rede täuschen. SOKRATES DERJüNGERE:Durchaus. DER FREMDE:Ist es nun nicht so am leichtesten und am schönsten, sie zu denen hinzuführen, die sie noch nicht kennen? SOKRATES DERJüNGERE:Wie? DER FREMDE:Man führt sie zuerst zu denen zurück, in denen sie dieselben richtig beurteilt haben. Wenn man sie zurückgeführt hat, stellt man diese neben die noch nicht erkannten, und vergleichend zeigt man, dass dieselbe Ähnlichkeit und Natur in beiden Verknüpfungen ist, bis allen unbekannten die richtig beurteilten dadurch gezeigt wurden, dass sie neben sie gestellt wurden, die gezeigten aber, die auf diese Weise Beispiele geworden sind, bewirken, dass jeder einzelne von allen Buchstaben in allen Silben, wenn er verschieden ist, als von den anderen verschieden seiend, wenn er aber derselbe ist, als immer mit sich selbst unter derselben Rücksicht derselbe bezeichnet wird. SOKRATES DERJÜNGERE:Allerdings. DER FREMDE:Haben wir also das hinreichend erfasst, dass ein Beispiel dann entsteht, wenn etwas in einem anderen Getrennten richtig als dasselbe seiend beurteilt und zusammengebracht ein wahres Urteil über jedes von beiden und über beide zusammen zustande bringt? SOKRATES DERJÜNGERE:Es scheint so. DER FREMDE:Sollen wir uns also wundern, wenn unsere Seele von Na-

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tur aus hinsichtlich der Buchstaben von allem dasselbe erfährt und bald durch die Wahrheit über jeden einzelnen in gewissen Fällen Stand gewinnt, bald wieder, in anderen, über alles schwankt, und bestimmte von ihnen in der einen oder anderen Verbindung richtig beurteilt, wenn sie aber in die langen und nicht leichten Silben der Dinge versetzt werden, dieselben wiederum nicht kennt? SOKRATES DERJÜNGERE:Das ist überhaupt nicht zu verwundern. DER FREMDE:Wie denn, mein Freund, könnte jemand, der von einem falschen Urteil ausgeht, auch nur zu einem kleinen Teil der Wahrheit kommen und so Einsicht gewinnen? SOKRATES DERJÜNGERE:Wohl auf keine Weise. DER FREMDE:Wenn sich das so verhält, dann dürften ich und auch du doch nicht fehlgehen, wenn wir zunächst versuchen, die Natur der ganzen Sache in einem kleinen einzelnen anderen Beispiel zu sehen, danach uns aber dem des Königs als dem größten zuwenden und, dieselbe Form irgend woher von geringeren Dingen mitbringend, durch ein Beispiel wiederum versuchen, die Pflege der den Staat betreffenden Dinge kunstgerecht zu erkennen, damit wir es im Wachen statt im Traum vor uns haben? SOKRATES DERJüNGERE:Vollkommen richtig. DER FREMDE:Es ist also das vorher Gesagte wieder aufzugreifen, dass, weil der königlichen Gattung die Fürsorge für die Staaten unzählige streitig machen, es notwendig ist, diese alle abzusondern und allein jenen übrig zu lassen; und dazu, so sagten wir, brauchten wir doch ein Beispiel. SOKRATES DERJüNGERE:Und zwar sehr. DER FREMDE:Welches möglichst kleine Beispiel, das dieselbe Tätigkeit wie die Staatskunst hat, könnte man danebenstellen und so das Gesuchte hinreichend finden? Willst du, beim Zeus, Sokrates - wenn wir nichts anderes zur Hand haben, sollen wir uns dann nicht einfach die Webekunst hernehmen? Und diese, wenn du meinst, nicht als ganze? Denn vielleicht wird uns schon die genügen, die es mit Geweben aus Wolle zu tun hat; denn möglicherweise bezeugt uns bereits dieser Teil von ihr, wenn wir ihn uns hernehmen, was wir wollen. SOKRATES DERJÜNGERE:Warum denn nicht? DER FREMDE:Warum sollten wir nicht, wie wir im Vorhergehenden ein jedes trennten, indem wir Teile von Teilen schnitten, auch jetzt mit der Webekunst dasselbe tun und, soweit wir können, möglichst in aller Kürze und schnell alles durchgehen und wieder zu dem, was jetzt brauchbar ist, kommen? SOKRATES DERJüNGERE:Wie meinst du das? DER FREMDE:Ich werde dir die Ausführung selbst als Antwort geben. SoKRATESDERJüNGERE:Das hast du sehr schön gesagt.

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DERFREMDE: Von allem, was wir herstellen und erwerben, dient das eine dem Zweck, etwas zu tun, das andere als Schutzmittel, um etwas nicht zu erleiden; und von den Schutzmitteln sind die einen teils göttliche teils menschliche Gegenmittel, die anderen aber Verteidigungsmittel; von den Verteidigungsmitteln aber sind die einen Waffenrüstung, die anderen aber Einhegungen; und von den Einhegungen sind die einen Vorhänge, die anderen aber Abwehrmittel gegen Winter und Hitze; von den Abwehrmitteln aber sind die einen Unterkünfte, die anderen aber Bedeckungen; und von den Bedeckungen sind einige Unterlagen, andere aber Umhüllungen; von den Umhüllungen aber sind die einen aus einem Stück, andere aber zusammengesetzt; von den zusammengesetzten aber sind die einen durchlöchert, die anderen aber ohne Löcher zusammengebunden; und von den undurchlöcherten sind die einen aus Sehnen von Pflanzen aus der Erde, die anderen aber aus Haaren; von denen aber aus Haaren sind die einen mit Wasser und Erde zusammengeklebt, die anderen aber mit sich selbst zusammengebunden. Diesen nun aus dem mit sich selbst Zusammengebundenen gearbeiteten Schutzmitteln und Bedeckungen geben wir den Namen KJeider; die aber am meisten für die Kleider sorgende Kunst, sollen wir, wie wir damals die des Staates Staatskunst nannten, so auch jetzt diese von der Sache selbst her als kleidermachende bezeichnen? Sollen wir aber auch sagen, dass die Webekunst, insofern sie bei der Verfertigung der Kleider der größte Teil ist, sich außer durch den Namen in nichts von dieser kleidermachenden unterscheidet, so wie dort damals die königliche von der Staatskunst? SOKRATES DERJüNGERE:Vollkommen richtig. DER FREMDE:Das aber lass uns nun danach bedenken, dass vielleicht jemand annehmen könnte, die so beschriebene Kleiderwebekunst sei hinreichend beschrieben, weil er nicht einzusehen vermag, dass sie von den nahen Mitarbeiterinnen noch nicht unterschieden ist, obwohl sie von vielen anderen verwandten Künsten abgeteilt wurde. SOKRATES DERJüNGERE:Sag mir, von welchen verwandten Künsten? DERFREMDE: Du bist dem Gesagten offenbar nicht gefolgt; wir müssen also, so scheint es, wieder zurückgehen und dabei am Ende beginnen. Denn wenn du die Verwandtschaft siehst, so haben wir doch gerade eben die eine von ihr abgeschnitten, das Zusammenfügen von Matten, indem wir durch Umlegen und Unterlegen trennten. SOKRATES DERJÜNGERE: Ich verstehe. DER FREMDE:Und doch auch die aus Flachs und Hanf und aus allem, was wir gerade eben in analogem Gebrauch Sehnen der Pflanzen genannt haben, diese ganze Herstellung haben wir weggenommen; wiederum haben wir die Filzkunst abgetrennt und die Loch und Faden gebrauchende Verknüpfung, wovon das meiste Lederarbeit ist.

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SOKRATES DERJüNGERE:Durchaus. DER FREMDE:Und ferner die Bearbeitung von Häuten zu Bedeckungen aus einem Stück, und die von den Unterkünften, die in der Hausbaukunst und in der gesamten Baukunst und in anderen Künsten entstehen, um Strömungen abzuwehren, sie alle haben wir weggenommen, und die Künste der Einhegungen, welche Diebstahl und Gewalttat verhindernde Werke anbieten, und die es mit dem Entstehen von Deckeln zu tun haben und der Befestigung von Türflügeln, die sich der Schreinerkunst als Teile zuweisen lassen. Die Waffenschmiedekunst haben wir abgeschnitten, die ein großer und vielfältiger Abschnitt des Verteidigungsmittel herstellenden Vermögens ist. Und auch die magische Kunst, die es mit Gegenmitteln zu tun hat, haben wir bereits am Anfang sofort ganz abgegrenzt, und übriggelassen haben wir, wie wir annehmen dürfen, eben die gesuchte, die Witterung abwehrende, ein wollenes Verteidigungsmittel verfertigende, mit dem Namen Webekunst bezeichnete. SOKRATES DERJÜNGERE:So scheint es allerdings. DER FREMDE:Aber was gesagt wurde, liebes Kind, ist noch nicht vollständig. Denn wer zuerst an die Verfertigung von Kleidern Hand anlegt, scheint das Gegenteil vom Weben zu tun. SOKRATES DERJÜNGERE:Wie? DER FREMDE:Das Werk des Webens ist doch irgendwie eine Verflechtung. SOKRATES DERJüNGERE:Ja. DER FREMDE:Das aber ist Trennung des Zusammenhängenden und Zusammengefilzten. SOKRATES DERJüNGERE:Welches denn? DER FREMDE:Das Werk der Kunst des Kremplers. Oder werden wir es wagen, die Krempelkunst Webekunst und den Krempler, als sei er ein Weber, zu benennen? SOKRATES DERJüNGERE:Keineswegs. DER FREMDE: Und die Kunst der Verfertigung von Kette und Einschlag - wenn jemand sie als Webekunst bezeichnet, dann gebraucht er einen ungewöhnlichen und falschen Namen. SOKRATES DERJÜNGERE:Wie denn nicht? DER FREMDE:Was aber? Die gesamte Walkerkunst und die des Ausbesserns, sollen wir sie gar nicht als eine Fürsorge und Pflege der Kleidung setzen, oder werden wir auch von diesen allen als von Webekünsten sprechen? SOKRATES DERJüNGERE:Keineswegs. DER FREMDE:Aber dennoch werden diese alle die Pflege und das Entstehen der Kleider dem Vermögen der Webekunst streitig machen, wobei sie jener zwar den größten Teil geben, aber auch Großes für sich selbst in Anspruch nehmen.

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SOKRATES DERJüNGERE:Durchaus. DER FREMDE:Außer diesen, so ist anzunehmen, werden nun noch die Künste, die die Werkzeuge herstellen, durch welche die Werke des Webens zustande gebracht werden, beanspruchen, Mitursachen eines jeden Gewebes zu sein. SOKRATES DERJÜNGERE:Sehr richtig. DER FREMDE:Wird nun für uns die Rede über die Webekunst, über den Teil, den wir ausgewählt haben, hinreichend bestimmt sein, wenn wir sie unter den Formen der Fürsorge für die wollene Kleidung als die schönste und größte von allen setzen? Oder dürften wir damit zwar etwas Wahres, aber keineswegs Klares noch Vollständiges sagen, bevor wir nicht diese alle von ihr ringsum weggenommen haben? SOKRATES DERJÜNGERE:Richtig. DER FREMDE:Müssen wir also danach nicht tun, was wir sagen, damit die Rede uns ordnungsgemäß vorangeht? SOKRATES DERJüNGERE:Wie auch nicht? DER FREMDE:Zunächst lass uns nun betrachten, dass es bei allem, was getan wird, zweierlei Künste gibt. SOKRATES DERJÜNGERE:Welche? DER FREMDE:Die eine ist Mitursache des Entstehens, die andere Ursache. SOKRATES DERJÜNGERE:Wie? DER FREMDE:Alle, welche die Sache selbst nicht herstellen, den herstellenden Künsten aber Werkzeuge bereiten, ohne deren Vorhandensein das einer jeden Kunst Aufgegebene niemals verfertigt würde, diese nenne ich Mitursachen, die aber die Sache selbst verfertigen, Ursachen. SOKRATES DERJüNGERE:Das hat jedenfalls Sinn. DER FREMDE:Wollen wir also danach die Künste für Spindeln und Weberschiffchen und welche anderen Werkzeuge sonst noch am Entstehen von Gewändern beteiligt sind, sämtlich Mitursachen nennen, die aber diese pflegen und herstellen, Ursachen? SOKRATES DERJÜNGERE:Sehr richtig. DER FREMDE:Von den Ursachen nunmehr die Waschkunst und die Kunst des Ausbesserns und die gesamte damit befasste Pflegekunst - die Kunst des Schmückens ist vielfältig - : es ist äußerst naheliegend, diesen ihren Teil hier zu umfassen und das Ganze als die Kunst des Walkens zu bezeichnen. SOKRATES DERJÜNGERE:Schön. DER FREMDE:Und die Krempelkunst und die Spinnkunst und wiederum alles, was zu tun hat mit dem Machen der Kleidung selbst, von dessen Teilen wir sprechen, ist eine der von allen anerkannten Künste, die Wollverarbeitungskunst.

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SOKRATES DERJÜNGERE:Allerdings. DER FREMDE:Die Wollverarbeitungskunst soll nun zwei Abschnitte haben, und jeder von diesen soll zugleich ein Teil von zwei Künsten sein. SOKRATES DERJüNGERE:Wie? DER FREMDE:Das Krempeln und die Hälfte der Kunst des Weberschiffchens und was das Zusammenliegende voneinander entfernt, dieses alles kann man irgendwie als eines bezeichnen und als Teil der Wollbearbeitung selbst, und es gibt, wie wir wissen, zwei große alles betreff ende Künste, die verbindende und die trennende. SOKRATES DERJüNGERE:Ja. 282c DER FREMDE:Zur trennenden gehört die Krempelkunst und alles eben Genannte; denn das Trennen bei der Wolle und bei der Kette, das in einem Fall mit dem Weberschiffchen, im anderen mit den Händen geschieht, hat die Namen bekommen, die gerade genannt wurden. SOKRATES DERJÜNGERE:Durchaus. DER FREMDE:Dagegen wollen wir jetzt wiederum den Teil zugleich der verbindenden und der Wollverarbeitung, der sich in ihr findet, erfassen; was aber dort zur trennenden gehörte, wollen wir alles beiseite lassen und die Wollverarbeitung durch einen trennenden und einen verbindenden Abschnitt zweiteilen. SOKRATES DERJüNGERE:Sie soll geteilt sein. 282d DER FREMDE:Den verbindenden und zugleich wollbearbeitenden Teil, Sokrates, musst du jetzt teilen, wenn wir die vorher genannte Webekunst hinreichend ergreifen wollen. SOKRATES DERJÜNGERE:So muss es eben sein. DER FREMDE:Es muss allerdings sein, und wir wollen sagen, dass der eine Teil von ihr der drehende sei, der andere der verflechtende. SOKRATES DERJÜNGERE:Verstehe ich richtig? Du scheinst mir nämlich den, der es mit der Verfertigung der Kette zu tun hat, den drehenden zu nennen. DER FREMDE:Nicht nur, sondern auch des Einschlags; oder werden wir für ihn ein Entstehen ohne Drehen finden? SOKRATES DERJüNGERE:Keineswegs. 282e DER FREMDE:Bestimme nun auch jeden von diesen beiden, denn vielleicht kommt die Bestimmung dir zustatten. SOKRATES DERJÜNGERE:Wie? DER FREMDE:So. Von den Werken, mit denen es die Krempelkunst zu tun hat, nennen wir das, was in die Länge gezogen wurde und Breite hat, einen Wocken. SOKRATES DERJüNGERE:Ja. DER FREMDE:Von diesem nun, was mit der Spindel gedreht wurde und

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ein fester Faden geworden ist, davon sage, der Faden sei Kette, die Kunst aber, die das lenkt, Kettenspinnerei. SOKRATES DERJÜNGERE:Richtig. DER FREMDE:Was dagegen wiederum nur locker zusammengedreht wird, aber durch das Einflechten der Kette die für das Ziehen beim Walken angemessene Weichheit erhält, davon wollen wir sagen, das Gesponnene sei der Einschlag, die damit beauftragte Kunst aber sei die Einschlagspinnerei. SOKRATES DERJüNGERE:Sehr richtig. DER FREMDE:Und so ist denn der Teil der Webekunst, den wir vorgenommen haben, schon jedem klar. Wenn nämlich der in der Wollbearbeitung befindliche Teil der verbindenden Kunst durch geradlinige Verflechtung von Einschlag und Kette ein Geflecht hervorbringt, dann bezeichnen wir das Geflochtene als Ganzes als wollene Kleidung, die Kunst aber, die über diesem ist, als Weberei. SOKRATES DERJüNGERE:Sehr richtig. DER FREMDE:Gut. Warum in aller Welt haben wir aber dann nicht sofort geantwortet, die Webekunst sei die verflechtende Kunst von Einschlag und Kette, sondern sind im Kreis herumgegangen und haben vieles umsonst bestimmt? SOKRATESDER JÜNGERE:Mir jedenfalls, Fremder, schien nichts von dem Gesagten umsonst gesagt worden zu sein. DER FREMDE:Und das ist nicht zu verwundern. Aber vielleicht, mein Bester, könnte es so scheinen. Gegen eine solche Krankheit, falls sie dich später oft befällt - denn das wäre nicht zu verwundern -, höre eine Rede, die zu allen solchen Fälle zu halten angebracht ist. SOKRATES DERJÜNGERE:Sprich nur! DER FREMDE:Zuerst lass uns also einen Blick auf Übermaß und Mangel überhaupt werfen, damit wir jeweils mit gutem Grund loben und tadeln, was jeweils in derartigen Gesprächen länger als notwendig gesagt wird, und das Gegenteil. SOKRATES DERJÜNGERE:Das müssen wir. DER FREMDE:Wenn unsere Rede genau über diese Dinge ginge, würde sie den richtigen Weg einschlagen. SOKRATES DERJüNGERE:Über welche? DER FREMDE:Über Länge und Kürze und jeden Überschuss und Mangel; denn irgendwie hat die Messkunst mit diesem allen zu tun. SOKRATES DERJüNGERE:Ja. DER FREMDE:Lass sie uns nun in zwei Teile teilen; denn das ist doch notwendig für das, was wir jetzt erstreben. SOKRATES DERJüNGERE:Sag bitte, wie die Teilung ist. DER FREMDE:So: der eine nach der gegenseitigen Gemeinschaft von

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Größe und Kleinheit, der andere nach dem notwendigen Wesen des Entstehens. SOKRATES DERJüNGERE:Wie meinst du das? DER FREMDE:Scheint es dir nicht von Natur aus so zu sein, dass man das Größere als nichts sonst größer nennen darf denn nur als das Kleinere, und das Kleinere wiederum kleiner als das Größere und als nichts anderes? SOKRATES DERJüNGERE:Doch. DER FREMDE:Weiter. Was die Natur des Angemessenen überschreitet und von ihr überschritten wird, in Worten und in Werken, werden wir von dem nicht sagen, dass es wirklich geschieht? Ist es doch das, wodurch sich bei uns die Schlechten und die Guten am meisten unterscheiden. SOKRATES DERJÜNGERE:Offensichtlich. DER FREMDE:Es sind also diese zwei Wesensbestimmungen und Beurteilungen des Großen und Kleinen zu setzen, und sie dürfen nicht, wie wir es eben gesagt haben, nur im Verhältnis zueinander sein, sondern, wie jetzt gesagt wurde, muss vielmehr die eine im Verhältnis zueinander ausgesagt werden, die andere aber im Verhältnis zum Angemessenen. Würden wir gerne erfahren, weshalb? SOKRATES DERJÜNGERE:Warum nicht? DER FREMDE:Wenn man die Natur des Größeren 1m Verhältnis zu nichts anderem sein lässt als zum Kleineren, dann wird sie niemals im Verhältnis zum Angemessenen bestehen. Nicht wahr? SOKRATES DERJüNGERE:So ist es. DER FREMDE:Vernichten wir mit dieser Behauptung nicht die Künste selbst und alle ihre Werke und lassen so auch die jetzt gesuchte Staatskunst und die besprochene Webekunst verschwinden? Denn sie alle hüten sich irgendwie vor dem, was mehr oder weniger als das Angemessene ist, nicht wie vor etwas, das nicht ist, sondern das für die Tätigkeiten verderblich ist, und indem sie auf diese Weise das Maß bewahren, bewirken sie alles Gute und Schöne. SOKRATES DERJüNGERE:Freilich. DER FREMDE:Wird, wenn wir jetzt die Staatskunst verschwinden lassen, danach die Suche nach der königlichen Wissenschaft nicht ohne Weg sein? SOKRATES DERJÜNGERE:Durchaus. DER FREMDE:Ist nun, wie wir beim Sophisten das Nichtseiende zwangen zu sein, weil an diesem Punkt die Untersuchung uns entfloh, so auch jetzt wiederum das Mehr und Weniger zu zwingen, messbar zu sein, nicht allein im Verhältnis zueinander, sondern auch zur Entstehung des Angemessenen? Denn es ist nicht möglich, dass ein Staatsmann noch irgendein anderer von denen, die eine Tätigkeit ausüben, in einem unumstrittenen Sinn ein Wissender ist, wenn das nicht zugestanden wird. SOKRATES DERJÜNGERE:Ja, auch jetzt ist möglichst dasselbe zu tun.

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DER FREMDE:Diese Arbeit, Sokrates, ist noch mehr als jene - und wir erinnern uns noch daran, wie groß deren Umfang war-, aber es ist durchaus gerechtfertigt, in dieser Sache Folgendes vorauszusetzen. SOKRATES DERJüNGERE:Was? DER FREMDE:Dass das jetzt Gesagte einmal für die Darlegung über das Genaue selbst erforderlich sein wird. Dass es aber für den gegenwärtigen Zweck richtig und ausreichend gezeigt ist, dafür leistet uns, wie mir scheint, ausgezeichnete Hilfe das Argument, dass man nämlich annehmen muss, dass ebenso wie alle Künste sind, Größer und Kleiner nicht allein im Verhältnis zueinander gemessen werden, sondern auch im Verhältnis zur Entstehung des Angemessenen. Denn wenn dieses ist, sind jene, und wenn jene sind, ist auch dieses, wenn aber eines von ihnen nicht ist, wird keines von ihnen jemals sein. SOKRATES DERJüNGERE:Das ist richtig. Aber was kommt nun danach? DER FREMDE:Es ist klar, dass wir die Messkunst teilen sollten, indem wir sie so, wie es gesagt wurde, entzwei schneiden. Als den einen Teil von ihr setzen wir alle Künste, welche die Zahl und Längen und Tiefen und Breiten und Geschwindigkeiten im Verhältnis zum Gegenteil messen, als den anderen aber die, welche im Verhältnis zum Angemessenen und zum Passenden und zum richtigen Zeitpunkt und zum Gesollten und allem, was seinen Sitz von den Extremen in die Mitte verlegt. SOKRATES DERJüNGERE: Du hast zwei Abschnitte genannt, die beide groß sind und sich viel voneinander unterscheiden. DER FREMDE:Was zuweilen, Sokrates, viele Gescheite sagen und dabei glauben, eine Weisheit von sich zu geben, dass es nämlich die Messkunst mit allem Werdenden zu tun hat, genau das ist es, was jetzt gesagt wurde. Denn an Messung hat auf irgendeine Weise alles, was kunstgerecht ist, teil. Weil sie aber nicht gewohnt sind, nach Arten zu betrachten, wenn sie einteilen, werfen sie diese so sehr verschiedenen Dinge sofort in eins zusammen, weil sie sie für ähnlich halten, und sie machen wiederum von dem das Gegenteil, indem sie Verschiedenes nicht nach Teilen unterscheiden, während es doch notwendig wäre, wenn man zunächst die Gemeinschaft der vielen wahrgenommen hat, nicht eher aufzuhören, bis man in ihr alle die Unterschiede erblickt hat, die in den Arten liegen; bei den vielfältigen Unähnlichkeiten wiederum, wenn sie in den Mengen erblickt wurden, sollte man nicht imstande sein, beschämt aufzuhören, bevor man nicht alles Verwandte in eine einzige Ähnlichkeit eingeschlossen und mit dem Wesen einer Gattung umkleidet hat. Das möge zu diesem und zu den Formen von Mangel und Übermaß genügen; wir wollen nur festhalten, dass dabei zwei Gattungen der Messkunst gefunden worden sind, und uns erinnern, was wir sagten, dass sie sind. SOKRATES DERJÜNGERE:Wir werden uns erinnern.

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DER FREMDE:Nach dieser Überlegung lass uns eine andere aufnehmen über den Gegenstand der Untersuchung selbst und über jede Beschäftigung mit derartigen Fragen. SOKRATES DERJÜNGERE:Welche? DER FREMDE:Wenn uns jemand fragen würde nach dem Zusammensein derer, die die Buchstaben lernen, wenn dort einer für ein beliebiges Wort gefragt wird, aus welchen Buchstaben es besteht - sollen wir ihm dann sagen, die Frage werde mehr um des einen vorgelegten Wortes willen gestellt, oder vielmehr, um für alle vorgelegten Wörter buchstabenkundiger zu werden? SOKRATES DERJüNGERE:Klar, dass um für alle. DER FREMDE:Was aber soll jetzt für uns die Untersuchung über den Staatsmann? Liegt sie uns mehr um seinetwillen vor oder damit wir für alles dialektischer werden? SOKRATES DERJüNGERE:Auch das ist klar, dass für alles. DER FREMDE:Der Definition der Weberei würde freilich niemand, der vernünftig ist, um dieser selbst willen nachjagen wollen. Aber ich glaube, den meisten ist verborgen, dass es für einige der Seienden gewisse leicht zu begreifende wahrnehmbare Ähnlichkeiten gibt, die zu zeigen nicht schwer ist, wenn jemand etwas einem, der eine Erklärung davon fordert, nicht mit Schwierigkeiten, sondern ohne Erklärung leicht verständlich klarmachen will. Für das, was das Größte und Wertvollste ist, gibt es dagegen kein auf die Menschen hin deutlich ausgearbeitetes Bild, das gezeigt werden und das der, welcher die Seele des Fragenden ausfüllen will, an einen der Sinne anpassen und sie hinreichend erfüllen könnte. Daher muss man sich üben, fähig zu sein, für jede Sache eine Erklärung zu geben und entgegenzunehmen; denn das Unkörperliche, welches das Schönste und Größte ist, wird allein durch eine Erklärung und nichts anderes klar gezeigt; um seinetwillen ist aber alles das jetzt Gesagte. Leichter aber ist die Übung für alles im Kleinen als am Großen. SOKRATES DERJÜNGERE:Das hast du sehr schön gesagt. DER FREMDE:Rufen wir uns den Grund in Erinnerung, weshalb das alles über diese Dinge gesagt wurde. SOKRATES DERJüNGERE:Welchen? DER FREMDE:Nicht zuletzt wegen eben jenes Ärgers, mit dem wir die weitschweifigen Ausführungen über die Webekunst verärgert aufgenommen haben und die über die Rückdrehung des Alls und die des Sophisten über das Wesen des Nichtseienden, weil wir bemerkten, dass sie eine zu große Länge hatten. Wegen all dem haben wir uns Vorwürfe gemacht, weil wir fürchteten, was wir sagen, sei nicht nur zu lang, sondern auch überflüssig. Damit uns nun nichts derartiges wieder passiert, aus diesem Grund, so sollst du sagen, ist alles das Vorige von uns gesagt worden.

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SOKRATES DERJüNGERE:Das soll geschehen. Sprich nur weiter. DER FREMDE:Ich sage nun, dass du und ich uns an das jetzt Gesagte erinnern und Tadel und Lob über Kürze sowie Länge, worüber immer wir auch sprechen, so verteilen müssen, dass wir die Längen nicht nach ihrem Verhältnis zueinander beurteilen, sondern entsprechend dem Teil der Messkunst, von dem wir damals sagten, dass wir ihn in Erinnerung behalten müssten, nach dem Passenden. SOKRATES DERJüNGERE:Richtig. DER FREMDE:Aber nicht einmal nach diesem alles. Denn wir werden keineswegs auch einer der Lust entsprechenden Länge bedürfen, es sei denn nebenbei. Was aber das Verhältnis zu der uns aufgegebenen Untersuchung angeht, so befiehlt uns die Vernunft, den Vorzug, dass wir etwas möglichst leicht und schnell finden, an zweiter und nicht an erster Stelle zu lieben, aber weitaus am meisten und zuerst die Methode selbst zu ehren, fähig zu sein, nach Arten zu teilen; wenn die Untersuchung durch eine Überlänge den Hörer fähiger mache, etwas zu finden, dann solle sie in dieser Weise betrieben werden und man solle über die Länge nicht ungehalten sein; wenn sie es durch ihre Kürze erreiche, gelte dasselbe. Außerdem sei zu beachten: Wenn einer bei solchen Zusammenkünften die Länge der Reden tadelt und mit dem Herumgehen im Kreis nicht einverstanden ist, dann dürfe er durchaus nicht schnell und sofort das Gesprochene abtun, denn er tadelt es nur, weil es lang ist; vielmehr habe er auch zu bedenken, er müsse nachweisen, dass es, wäre es kürzer gewesen, die Teilnehmer dialektischer und fähiger gemacht hätte, die Kundgabe des Seienden durch eine Erklärung zu finden; um anderen und auf was sonst immer gerichteten Tadel und anderes Lob solle man sich in keiner Weise kümmern, und man solle sogar jeden Anschein vermeiden, auf solche Reden zu hören. Und davon genug, wenn auch du dieser Ansicht bist. Lass uns nun aber wieder zum Staatsmann gehen und das Beispiel der vorbesprochenen Webekunst auf ihn anwenden. SoKRATESDERJüNGERE: Du hast gut gesprochen, und wir wollen tun, was du sagst. DER FREMDE:Von den vielen Künsten, die es ebenfalls mit dem Weiden, oder vielmehr von allen, die es mit den Herden zu tun haben, ist der König abgetrennt; übrig sind aber, sagen wir, die Künste im Staat selbst, die zu den Mitursachen und Ursachen gehören; sie müssen wir zuerst voneinander trennen. SOKRATES DERJüNGERE:Richtig. DER FREMDE:Weißt du, dass es schwer ist, sie in zwei Teile zu schneiden? Der Grund dafür wird aber, glaube ich, klarer werden, wenn wir weitergehen. SOKRATES DERJÜNGERE:Ja, das müssen wir tun.

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DER FREMDE:Nach ihren Gliedern wollen wir sie wie ein Opfertier teilen, weil wir es in zwei Teile nicht können. Denn man muss immer in die möglichst nächstliegende Zahl schneiden. SOKRATES DERJÜNGERE:Wie sollen wir das jetzt machen? DER FREMDE:Wie früher. Die Künste, welche Werkzeuge für die Webekunst bereitstellten, sie alle haben wir damals als Mitursachen gesetzt. SOKRATES DERJüNGERE:Ja. DER FREMDE:Auch jetzt müssen wir genau dasselbe, aber noch mehr als damals tun. Denn die Künste, die ein kleines oder großes Werkzeug im Staat herstellen, sie alle sind als Mitursachen zu setzen. Denn ohne sie gäbe es niemals einen Staat noch eine Staatskunst; aber andererseits werden wir keines ihrer Werke als das der königlichen Kunst setzen. SOKRATES DERJÜNGERE:Nein. DER FREMDE:Wir versuchen, etwas Schwieriges zu tun, wenn wir diese Gattung von den anderen abtrennen. Denn wer jedes beliebige Seiende als ein Werkzeug für irgendetwas bezeichnet, der scheint etwas Glaubwürdiges gesagt zu haben. Dennoch wollen wir Folgendes als eine andere Gattung des Besitzes im Staat bezeichnen. SOKRATES DERJüNGERE:Was? DER FREMDE:Weil es nicht dasselbe Vermögen hat. Denn es wird nicht, um Ursache eines Entstehens zu sein, zusammengefügt, sondern um der Erhaltung des Hergestellten willen. SOKRATES DERJÜNGERE:Was? DER FREMDE:Diese vielgestaltige Art, hergestellt für Trockenes und Feuchtes, mit und ohne Feuer Bereitetes, die wir mit einem Wort als Gefäß bezeichnen, eine sehr umfangreiche Art, die, wie ich glaube, freilich nicht Sache der gesuchten Wissenschaft ist. SOKRATES DERJüNGERE:Wie sollte sie auch? DER FREMDE:Unter diesem Besitz ist eine dritte, verschiedene zahlreiche Art zu beobachten zu Land und zu Wasser, viel umherschweifend und nicht umherschweifend, wertvoll und wertlos, aber mit einem Namen, weil alles um eines Daraufsitzens willen, immer als Sitz für jemand entstanden ist. SOKRATES DERJÜNGERE:Was meinst du? DER FREMDE:Fahrzeug nennen wir es, durchaus kein Werk der Staatskunst, sondern vielmehr der Zimmermannskunst, der Töpferkunst und der Kupferschmiedekunst. SoKRATESDERJüNGERE:Ich verstehe. DER FREMDE:Was aber ist das vierte? Muss man nicht sagen, dass von diesen Arten die verschieden ist, in die das meiste des früher Besprochenen gehört: die gesamte Bekleidung und das meiste von den Waffen und alle Mauern und Wälle aus Erde und Stein und tausend anderes? Weil al-

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les um des Schutzes willen hergestellt ist, dürfte es als Ganzes am angemessensten als Schutzmittel bezeichnet werden, und viel eher dürfte das meiste richtiger für ein Werk der Hausbaukunst und der Webekunst als der Staatskunst gehalten werden. SOKRATES DERJüNGERE:Durchaus. DER FREMDE:Wollen wir als fünftes den Bereich des Schmucks und der Malerei setzen und alle Nachahmungen, die durch deren Gebrauch und die Musik vollbracht werden, nur zu unserer Lust gewirkt, aber zu Recht mit einem Namen umfasst? SOKRATES DERJüNGERE:Mit welchem? DER FREMDE:Es wird ein Spiel genannt. SOKRATES DERJüNGERE:Warum nicht? DER FREMDE:Dieser eine Name wird für alles dieses als Bezeichnung passen; denn nichts von dem wird um des Ernstes willen, sondern alles um des Spieles willen getan. SOKRATES DERJÜNGERE:Auch das verstehe ich in etwa. DER FREMDE:Was aber allen diesen Körper liefert, aus denen und in denen alle Künste, die jetzt genannt sind, ihre Werke herstellen, eine vielgestaltige Art, Spross vieler anderer Künste, werden wir das nicht als sechstes ansetzen? SOKRATES DERJüNGERE:Was meinst du damit? DER FREMDE:Gold und Silber und alles, was im Bergbau gewonnen wird, und was die Holzfällerei und das gesamte Scheren durch ihr Schneiden der Zimmerei und Flechterei liefert, und ferner die Abschälung der Pflanzen und die Lederbereitung, welche Häute von beseelten Körpern abzieht, und alle Künste, die mit derartigem zu tun haben und Kork und Papyros und Bänder herstellen und es so möglich machen, aus nicht zusammengesetzten Gattungen zusammengesetzte Arten zu verfertigen. Als eines wollen wir dieses Ganze als den ursprünglichen Besitz der Menschen bezeichnen, der unzusammengesetzt und in keiner Weise ein Werk der königlichen Wissenschaft ist. SOKRATES DERJÜNGERE:Schön. DER FREMDE:Der Erwerb der Nahrung und was mit seinen Teilen in den Körper gemischt das Vermögen bekommen hat, Teile des Körpers zu pflegen, ist als siebtes zu erwähnen; sagen wir von dem Ganzen, es sei unsere Ernährerin, wenn wir keine andere bessere Bezeichnung haben. Und wenn wir das alles der Kunst des Landmanns und des Jägers und des Turnlehrers und des Arztes und des Koches unterstellen, dann weisen wir es richtiger zu als der Staatskunst. SOKRATES DERJüNGERE:Wie denn nicht? DER FREMDE:In etwa ist in diesen sieben Gattungen das, was der Besitz umfasst außer den zahmen Tieren -, hinsichtlich seiner Entstehung be-

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sprochen worden. Schau noch einmal: Denn am richtigsten wäre an den Anfang gestellt worden die ursprünglichste Art, nach dieser Werkzeug, Gefäß, Fahrzeug, Schutzmittel, Spiel, Ernährung. Wenn uns aber etwas nicht Großes entgangen ist, so übergehen wir es, weil es sich in eine von diesen einfügen lässt, wie zum Beispiel der Bereich der Münze und der Siegel und jeglicher Prägung, denn dieses enthält in sich keine große gleichnamige Gattung, sondern das eine wird sich, wenn auch mit Gewalt, zum Schmuck, das andere zu den Werkzeugen ziehen lassen und sich dort durchaus einfügen. Das über den Besitz von zahmen Tieren, außer Sklaven, wird die frühere, erschöpf ende Einteilung der Herdenzucht zeigen. SOKRATES DERJÜNGERE:Durchaus. DER FREMDE:Aber übrig ist noch die Klasse der Sklaven und aller Diener; unter ihnen, vermute ich, werden wohl auch die zum Vorschein kommen, die dem König das Geflecht selbst streitig machen, wie den Webern die, welche es mit dem Spinnen und Krempeln und was wir sonst noch nannten zu tun haben. Alle anderen aber sind, als Mitverursachende bezeichnet, zusammen mit ihren jetzt dargestellten Werken ausgeschieden und von der königlichen und staatsmännischen Tätigkeit getrennt worden. SOKRATES DERJÜNGERE:Allem Anschein nach wenigstens. DER FREMDE:Komm, lass uns nahe herangehen und die noch übrigen betrachten, damit wir sie gründlicher kennenlernen. SOKRATES DERJüNGERE:Das ist notwendig. DER FREMDE:Die im höchsten Grad Diener sind, von hier aus gesehen, die finden wir in einer Beschäftigung und einem Zustand, die dem, was wir vermutet haben, entgegengesetzt sind. SOKRATES DERJÜNGERE:Wer sind sie? DER FREMDE:Die gekauften und auf diese Weise erworbenen; sie können wir unbestreitbar Sklaven nennen und sagen, dass sie nicht den geringsten Anspruch auf die königliche Kunst erheben. SOKRATES DERJÜNGERE:Wie auch nicht? DER FREMDE:Was aber ist mit den Freien, die sich freiwillig in den Dienst der eben Beschriebenen stellen, indem sie die Produkte des Landbaus und der anderen Künste vom einen zum anderen befördern und gegeneinander abwägen, die einen auf Marktplätzen, die anderen bringen sie auf dem Meer und zu Fuß von Stadt zu Stadt, sie tauschen Geld gegen das andere und gegen es selbst aus; wir haben ihnen den Namen Geldwechsler und Kaufleute und Schiffsherrn und Krämer gegeben - werden sie der Staatskunst etwas streitig machen? SOKRATES DER JüNGERE: Vielleicht wohl - wenigstens im Bereich des Handels. 3 3

Ich lese in 290a3 mit den Handschriften 1:fj;.

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DER FREMDE:Gewiss aber werden wir es nicht erleben, dass die, welche wir als Tagelöhner und Lohnarbeiter einem jeden bereitwilligst dienen sehen, Anspruch auf die königliche Kunst erheben. SOKRATES DERJÜNGERE:Wie denn? DER FREMDE:Was aber ist mit denen, die uns bei jeder Gelegenheit folgende Dienste leisten? SOKRATES DERJÜNGERE:Welche Dienste meinst du und welche Leute? DER FREMDE:Unter anderen das Volk der Herolde, alle, die durch ihren häufigen Dienst eine große Fähigkeit im Schreiben erlangt haben, und andere, die sehr geschickt sind, viele andere Aufgaben, die mit der Regierung zu tun haben, auszuführen - welche Bezeichnung sollen wir diesen geben? SOKRATES DER JüNGERE: Die du jetzt gebraucht hast - Diener, aber nicht selbst Herrscher in den Staaten. DER FREMDE:Aber ich habe, glaube ich, gewiss kein Traumbild gesehen, als ich sagte, dass sich hier irgendwie die zeigen werden, die ganz besonders Anspruch auf die Staatskunst erheben. Und doch scheint es wohl sehr abwegig zu sein, diese in einem dienenden Teil zu suchen. SOKRATES DERJüNGERE:Gewiss. DER FREMDE:Rücken wir also noch näher heran an die, die noch nicht geprüft worden sind. Da sind die, welche in der Kunst des Sehens einen Teil der dienenden Wissenschaft haben; denn sie werden gewissermaßen als Dolmetscher von Göttern zu Menschen angesehen. SOKRATES DERJÜNGERE:Ja. DER FREMDE:Und freilich auch die Gattung der Priester, die sich, wie die Überlieferung sagt, darauf versteht, von uns durch Opfer den Göttern Geschenke nach ihrem Sinn zu schenken, von ihnen aber für uns den Erwerb von Gütern zu erbitten; das aber sind beides Teile einer dienenden Kunst. SOKRATES DERJÜNGERE:So scheint es jedenfalls. DER FREMDE:Jetzt scheinen wir mir endlich gleichsam auf eine Spur gekommen zu sein, die zu unserem Ziel führt. Denn die Gestalt der Priester und Seher ist sehr von Selbstbewusstsein erfüllt und genießt ein hohes Ansehen wegen der Größe der Unternehmungen. So darf in Ägypten kein König ohne Priestertum herrschen, sondern wenn er zunächst aus einer anderen Klasse mit Gewalt zur Herrschaft gelangt, dann muss er später in diese Klasse geweiht werden. Aber auch bei den Griechen wird man vielerorts finden, dass es den größten Ämtern zukommt, die größten Opfer in Bezug auf diese Dinge darzubringen. Aber nicht zuletzt wird auch bei euch klar, was ich meine, denn man sagt, dass hier dem durch das Los bestimmten König die feierlichsten und am meisten altüberkommenen der alten Opfer anvertraut sind.

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SOKRATES DERJüNGERE:Ganz richtig. DER FREMDE: Diese durch das Los erwählten Könige und zugleich Priester in einer Person und ihre Diener gilt es jetzt ins Auge zu fassen, und einen anderen zahlreichen Haufen, der uns eben in den Blick gekommen ist, nachdem die vorigen abgetrennt waren. SOKRATES DERJÜNGERE:Wen meinst du damit? DER FREMDE:Einige sehr sonderbare Leute. SOKRATES DERJÜNGERE:Was also? DER FREMDE:Aus allen Stämmen besteht ihre Gattung so scheint es wenigstens auf den ersten Blick. Denn viele der Männer gleichen Löwen und Kentauren und anderen Wesen dieser Art, sehr viele aber Satyrn und den schwachen, aber wendigen Tieren. Aber schnell vertauschen sie Aussehen und Fähigkeit untereinander. Und jetzt gerade eben, Sokrates, glaube ich, die Männer erkannt zu haben. SOKRATES DERJüNGERE:Sag' es bitte, denn du scheinst etwas Sonderbares im Blick zu haben. DER FREMDE:Ja, denn das Sonderbare begegnet allen aufgrund der Unwissenheit. Und so habe ich denn jetzt das auch selbst erlebt; plötzlich wurde ich unsicher, als ich den Chor um die Geschäfte der Staaten erblickte. SOKRATES DERJüNGERE:Welchen? DER FREMDE:Den größten Zauberer unter allen Sophisten und den in dieser Kunst erfahrensten. Ihn müssen wir von den Staatsmännern und Königen, die es in Wahrheit sind, abtrennen, obwohl er sehr schwer abzutrennen ist, wenn wir das Gesuchte deutlich sehen wollen. SOKRATES DERJÜNGERE:Aber das dürfen wir wirklich nicht aufgeben. DER FREMDE:Auf keinen Fall, wenn es nach mir geht. Sag' mir nun Folgendes. SOKRATES DERJÜNGERE:Was? DER FREMDE:Die Monarchie ist für uns doch eine der Formen der Herrschaft im Staat? SOKRATES DERJÜNGERE:Ja. DER FREMDE:Und nach der Monarchie würde man, glaube ich, die Machtausübung durch die wenigen nennen. SOKRATES DERJüNGERE:Wie auch nicht? DER FREMDE:Ist die dritte Gestalt der Verfassung nicht die Herrschaft der Menge, bezeichnet mit dem Namen Demokratie? SOKRATES DERJüNGERE:Allerdings. DER FREMDE:Drei sind es - aber werden sie nicht auf eine bestimmte Weise fünf, indem sie aus sich zusätzlich zwei andere Namen hervorbringen? SOKRATES DERJÜNGERE:Welche?

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DER FREMDE: Die Leute schauen jetzt auf Zwang und Freiwilligkeit, und Armut und Reichtum, und Gesetz und Gesetzlosigkeit in ihnen, und sie teilen jede von den zweien in zwei. Weil die Monarchie in zwei Arten auftritt, bezeichnen sie sie mit zwei Namen, die eine mit , Tyrannis', die andere dagegen mit , Königsherrschaft'. SOKRATES DERJÜNGERE:Was sonst? DER FREMDE:Aber jeden Staat, der von wenigen beherrscht wird, mit ,Aristokratie' und , Oligarchie'. SOKRATESDERJüNGERE: Allerdings. DER FREMDE: Bei der Demokratie dagegen - ob die Menge nun mit Zwang oder Freiwilligkeit über die Besitzenden herrscht und ob sie die Gesetze genau einhält oder nicht: unter keinen Umständen pflegt jemand ihren Namen zu ändern. SOKRATES DERJÜNGERE:Das ist wahr. DER FREMDE:Was nun? Glauben wir, dass eine dieser Verfassungen die richtige sei, wenn sie mit diesen Kriterien definiert wird: einer und wenige und viele, und Reichtum und Armut, und Zwang und Freiwilligkeit, und ob sich herausstellt, dass sie nach geschriebenen Regeln oder ohne Gesetze vorgeht? SOKRATES DERJÜNGERE:Was steht dem denn entgegen? DER FREMDE:Schau genauer hin und folge auf diesem Weg. SOKRATES DERJüNGERE: Auf welchem? DER FREMDE:Sollen wir bei dem bleiben, was am Anfang gesagt wurde, oder sind wir damit nicht mehr einverstanden? SOKRATES DERJÜNGERE:Womit meinst du? DER FREMDE:Wir sagten, glaube ich, die königliche Herrschaft sei eine der Wissenschaften. SOKRATES DERJÜNGERE:Ja. DER FREMDE: Und nicht einfach eine von ihnen allen. Sondern wir wählten doch aus den übrigen eine beurteilende und anordnende aus. SOKRATESDERJüNGERE: Ja. DER FREMDE:Und aus der anordnenden die eine über unbeseelte Werke, die andere über Lebewesen; und indem wir auf diese Weise teilten, sind wir immer weiter hierher gegangen, ohne zu vergessen, dass es sich um eine Wissenschaft handelt, aber was für eine es ist, das genau zu bestimmen waren wir noch nicht hinreichend imstande. SOKRATES DERJÜNGERE:Du hast recht. DER FREMDE:Sehen wir also jetzt genau das ein, dass das Kriterium für sie nicht viele oder wenige, nicht das Freiwillige oder Unfreiwillige, nicht Armut oder Reichtum sein kann, sondern eine Wissenschaft sein muss, wenn wir dem Früheren folgen wollen? SOKRATES DERJüNGERE: Aber das nicht zu tun, ist unmöglich.

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DER FREMDE:Notwendigerweise ist die Sache jetzt folgendermaßen zu betrachten: In welcher von ihnen findet sich denn eine Wissenschaft von der Herrschaft über Menschen - mehr oder weniger die schwierigste und größte, die wir erwerben können? Wir müssen sie nämlich in den Blick bekommen, damit wir sehen, wer vom weisen König abzutrennen ist, Leute, die zwar vorgeben, Staatsmänner zu sein und viele davon überreden, es aber keineswegs sind. SOKRATES DERJüNGERE: Ja, das müssen wir tun, wie unser Gespräch bereits gezeigt hat. 292e DER FREMDE:Scheint nun etwa die Menge im Staat fähig zu sein, diese Wissenschaft zu erwerben? SOKRATES DERJÜNGERE:Wie sollte sie? DER FREMDE:Aber ist es möglich, dass in einem Staat von tausend Männern runde hundert oder auch fünfzig sie hinreichend erwerben? SOKRATES DERJüNGERE: Dann wäre sie die leichteste von allen Künsten; denn wir wissen, dass sich unter tausend Männern so viele im Vergleich zu denen bei den übrigen Griechen ausgezeichnete Brettspieler niemals finden würden, geschweige denn Könige. Denn es muss doch wohl, wer die königliche Wissenschaft hat, ungeachtet dessen, ob er nun 293a herrscht oder nicht, nach dem früheren Gespräch dennoch als königlicher Mann bezeichnet werden. DER FREMDE:Du hast dich gut erinnert. Daraus folgt, so glaube ich: Man muss die richtige Herrschaft bei einem und zweien und ganz wenigen suchen, wenn es eine richtige gibt. SOKRATES DERJüNGERE:Was sonst? DER FREMDE:Diese muss man - ob sie über Freiwillige oder Unfreiwillige herrschen, ob nach geschriebenen Regeln oder ohne geschriebene Regeln, und ob als Reiche oder Arme - so wie wir jetzt glauben für die 293b halten, welche jegliche Herrschaft nach einer Kunst ausüben. 4 Mit den Ärzten halten wir es keineswegs anders. Ob sie uns mit oder gegen unseren Willen heilen, indem sie schneiden oder brennen oder uns einen anderen Schmerz zufügen, und ob nach geschriebenen Regeln oder ohne geschriebene Regeln, und ob sie arm sind oder reich, wir nennen sie keineswegs weniger Ärzte, solange sie uns auf der Grundlage der Kunst behandeln. Sie mögen reinigen oder auf andere Weise bewirken, dass wir abnehmen oder auch zunehmen, wenn es nur zum Besten des Körpers ist, den sie aus einem schlechteren in einen besseren Zustand bringen und so 4

Apelt übersetzt:,,Diesemüssenwir [... ] nach denselbenGrundsätzenbeurteilen,wie wires jetzt (gemeinhin)mit denentun, die als wissenschaftliche Kennerin irgendeinemGebiet ihresAmteswalten".RobinsonübernimmtdieseInterpretationund ergänztin 293a9xa,1:a1:exVTJv . Vgl.D. Robinsonin Rowe1995a,38.

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durch ihre Pflege, was ihnen zur Pflege anvertraut ist, bewahren. So wollen wir es festsetzen, glaube ich, und nicht anders; das allein soll das richtige Kriterium der Arztkunst und jeder anderen Herrschaft sein. SOKRATES DERJÜNGERE:Ja, genau so. DER FREMDE:Notwendig ist also von den Verfassungen, wie es scheint, diejenige im Unterschied zu den anderen richtig und allein eine Verfassung, in der die Herrscher sich als wahrhaft Wissende erweisen und es nicht nur zu sein scheinen, ob sie nach Gesetzen oder ohne Gesetze herrsehen, und über Freiwillige oder Unfreiwillige, und arm oder reich; von diesem ist nichts in irgendeiner Weise nach irgendeinem Begriff der Richtigkeit zu berücksichtigen. SOKRATES DERJÜNGERE:Schön. DER FREMDE:Und wenn sie dadurch, dass sie einige töten und verbannen, den Staat zu seinem Besten reinigen, und wenn sie ihn dadurch, dass sie wie Bienenschwärme irgendwohin Kolonien aussenden, kleiner machen, oder dadurch wachsen lassen, dass sie von irgendwoher draußen andere hereinbringen und sie zu Bürgern machen solange sie ihn nur, Wissenschaft und Recht anwendend, erhalten und nach Kräften aus einem schlechteren zu einem besseren machen, müssen wir nach diesen Kriterien sagen, dass diese dann allein die richtige Verfassung ist. Alle anderen, die wir so nennen, sind, so muss man sagen, keine echten und wirklich seienden Verfassungen, sondern sie haben diese nachgeahmt; die, von denen wir sagen, sie hätten gute Gesetze, haben sie besser, die anderen schlechter nachgeahmt. SOKRATES DERJÜNGERE:Alles andere, Fremder, scheint angemessen gesagt zu sein; dass man aber auch ohne Gesetze herrschen solle, diese Rede hört sich schon härter an. DER FREMDE:Du bist mir mit dieser Frage um ein weniges zuvorgekommen, Sokrates. Ich wollte dich nämlich fragen, ob du alles annimmst oder ob du an dem Gesagten auch etwas auszusetzen hast. Jetzt aber ist schon klar, dass das unser Wunsch sein wird: dass wir die Frage nach der Richtigkeit der ohne Gesetze Herrschenden diskutieren. SOKRATES DERJÜNGERE:Wieso denn nicht? DER FREMDE:Nun ist in gewisser Weise klar, dass die Kunst der Gesetzgebung zur Kunst des Königs gehört, aber das Beste ist nicht, dass die Macht bei den Gesetzen liegt, sondern bei dem königlichen Mann, der die Einsicht hat. Weißt du, warum? SOKRATES DERJüNGERE:Warum meinst du das denn? DER FREMDE:Weil ein Gesetz niemals imstande sein dürfte, das für alle zugleich Beste und das Gerechteste genau zu erfassen und so das Nützlichste anzuordnen. Denn die Unähnlichkeiten der Menschen und der Handlungen und dass die menschlichen Angelegenheiten niemals in

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nichts sozusagen Ruhe geben, lassen nicht zu, dass auch nur irgendeine Kunst in irgend etwas ein Einfaches, das für alles und für alle Zeit zutrifft, aufzeigt. Werden wir das nicht zugeben? SOKRATES DERJÜNGERE:Was sonst? DER FREMDE:Das Gesetz aber sehen wir mehr oder weniger genau darauf zielen, wie ein eigenwilliger und ungebildeter Mensch, der niemand etwas gegen seine Anordnung tun lässt und niemanden fragt, auch dann nicht, wenn für jemand etwas Neues eintritt, das besser ist, aber gegen die Anordnung ist, die er getroffen hat. SOKRATESDER JüNGERE: Das ist wahr; denn genau so, wie du gesagt hat, macht es das Gesetz mit uns allen. DER FREMDE:Ist es nun nicht unmöglich, dass, was ewig einfach ist, in einem guten Verhältnis zu dem steht, das niemals einfach ist? SOKRATES DERJÜNGERE:So scheint es. DER FREMDE:Warum ist es dann aber überhaupt notwendig, Gesetze zu geben, wenn das Gesetz nicht das vollkommen Richtige ist? Dafür ist die Ursache zu finden. SOKRATES DERJüNGERE: Was sonst? DER FREMDE:Gibt es nun nicht auch bei euch, wie in anderen Städten, Übungen von Menschen in Gruppen, sei es im Laufen, sei es in etwas anderem, aus sportlichem Ehrgeiz? SOKRATES DERJÜNGERE:Ja, sogar sehr viele. DER FREMDE:Wir wollen uns jetzt wieder an die Anordnungen derer erinnern, die bei solchen Formen der Herrschaft die treffen, welche die Übungen kunstgemäß leiten. SOKRATES DERJÜNGERE:Was genauer? DER FREMDE:Dass sie glauben, es gehe nicht an, bei jedem Einzelnen bis ins Kleinste zu gehen und das für jeden Körper Zukommende anzuordnen; sie meinen vielmehr, man müsse die Anordnung dessen, was den Körpern nützlich ist, gröber machen, für die meisten Fälle und die vielen. SOKRATES DERJüNGERE: Schön. DER FREMDE:Deshalb muten sie denn tatsächlich auch allen zusammen die gleichen Anstrengungen zu; sie lassen sie gleichzeitig beginnen und gleichzeitig aufhören beim Lauf und beim Ringkampf und allen körperlichen Anstrengungen. SOKRATES DERJÜNGERE:So ist es. DER FREMDE:Auch der Gesetzgeber, das lass uns annehmen, der diesen Herden vorsteht hinsichtlich des Gerechten und des gegenseitigen Verkehrs, wird niemals imstande sein, wenn er eine Anordnung für alle zusammen trifft, jedem Einzelnen genau das ihm Zukommende zu geben. SOKRATES DERJüNGERE: Wahrscheinlich nicht.

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DER FREMDE:Vielmehr wird er, glaube ich, im Hinblick auf die vielen und die meisten Fälle und etwa auf diese Weise ziemlich grob für alle und jeden das Gesetz festsetzen, sowohl wenn er es schriftlich gibt als auch wenn in ungeschriebener Form, indem er auf der Grundlage der altüberkommenen Bräuche Gesetze erlässt. SOKRATES DERJÜNGERE:Richtig. DER FREMDE:Gewiss richtig. Denn wie sollte jemand jemals imstande sein, Sokrates, ein Leben lang immer neben jedem Einzelnen zu sitzen und mit Genauigkeit das ihm Zukommende anzuordnen? Ich glaube, wenn einer von denen, welche die königliche Kunst wirklich erlangt haben, dazu fähig wäre, würde er schwerlich jemals sich selbst dadurch Hindernisse in den Weg legen, dass er diese Gesetze, von denen die Rede war, schreibt. SOKRATES DERJüNGERE: Das folgt jedenfalls aus dem jetzt Gesagten, Fremder. DER FREMDE:Aber gewiss noch mehr, Bester, aus dem, was gesagt werden wird. SOKRATES DERJÜNGERE:Aus was denn? DER FREMDE:Aus diesem. Was sollen wir beide zu Folgendem sagen? Ein Arzt oder Gymnastiklehrer verreist und wird, wie er glaubt, lange Zeit fern von den seiner Pflege Anvertrauten sein. Er glaubt, dass die Trainierenden oder die Patienten sich nicht an die Anordnungen erinnern werden. Wird er ihnen dann nicht eine Erinnerungshilfe schreiben wollen, oder wie? SOKRATES DERJÜNGERE:Doch. DER FREMDE:Was aber, wenn er wider Erwarten wiederkommt und nur kürzere Zeit verreist war? Wird er es dann nicht wagen, andere Anweisungen anstelle jener schriftlichen zu geben, falls für die Patienten andere, bessere Umstände eingetreten sind, durch die Winde oder etwas anderes von den Dingen, die gegen die Erwartung von Zeus anders als gewohnt geschehen? Wird er daran festhalten und glauben, er dürfe die alten, früher erlassenen Gesetze nicht übertreten, weder er selbst, indem er anderes anordnet, noch der Patient, indem er es wagt, gegen das Geschriebene zu handeln, weil dieses ärztlich und gesund, was aber anders geschieht ungesund und nicht kunstgerecht sei? Oder würde alles Derartige, wenn es sich in einer Wissenschaft und einer wahren Kunst - auf allen Gebieten - ereignet, ganz und gar zum größten Gelächter über eine solche Art von Gesetzgebung? SOKRATES DERJÜNGERE:Ja, ganz und gar. DER FREMDE:Dem aber, der auf geschrieben hat, was gerecht und ungerecht und schön und hässlich und gut und schlecht ist, oder der ungeschriebene Gesetze erlassen hat für die Herden der Menschen, die von

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Stadt zu Stadt in jeder nach den Gesetzen derer, die sie geschrieben haben, geweidet werden - wenn der, der sie auf der Grundlage der Kunst geschrieben hat, oder ein anderer ähnlicher ankommt, soll es dem nicht erlaubt sein, von diesem Verschiedenes anzuordnen? Oder würde nicht auch dieses Verbot nicht weniger als jenes in Wahrheit lächerlich erscheinen? SOKRATES DERJÜNGERE:Was sonst? DER FREMDE:Kennst du nun zu diesem Punkt die von den Vielen vertretene Auffassung? SOKRATES DERJüNGERE:Im Augenblick fällt sie mir nicht ein. DER FREMDE:Sie hört sich durchaus gut an. Wenn jemand, so sagen sie, Gesetze kennt, die besser seien als die früheren, dann müsse er sie für den Staat in der Weise erlassen, dass er jeden Einzelnen überzeuge, aber nicht anders. SOKRATES DERJÜNGERE:Was nun? Ist das nicht richtig? DER FREMDE:Vielleicht. Wenn nun aber einer, ohne zu überzeugen, das Bessere erzwingt, was wird dann, antworte mir, der Name des Zwangs sein? Aber noch nicht - vorher zum Früheren. SOKRATES DERJüNGERE:Was meinst du denn? DER FREMDE:Wenn also jemand, ohne den Patienten zu überzeugen, aber in voller Beherrschung der Kunst, ein Kind oder einen Mann oder eine Frau zwingt, gegen das Geschriebene das Bessere zu tun, was wird der Name dieses Zwangs sein? Nicht eher alles andere als der eines die Gesundheit schädigenden Verstoßes gegen die Kunst? Und alles, was der Gezwungene über ein solches Vorgehen sagen kann, ist eher richtig, als dass er von den ihn zwingenden Ärzten eine die Gesundheit schädigende und gegen die Kunst verstoßende Behandlung erlitten habe. SOKRATES DERJÜNGERE:Was du sagst, ist sehr wahr. DER FREMDE:Was aber ist das, was von uns als Verstoß gegen die staatsmännische Kunst bezeichnet wird? Doch wohl das Hässliche und Schlechte und Ungerechte? SOKRATES DERJüNGERE:Durchaus. DER FREMDE:Die nun gezwungen wurden, gegen das Geschriebene und Altüberkommene anderes, Gerechteres und Besseres und Schöneres als das Frühere zu tun - sag' mir, was den Tadel solcher Leute über einen solchen Zwang angeht: Wenn er nicht von allen der lächerlichste sein soll, muss er dann nicht jedesmal eher alles sagen, als dass die, die gezwungen wurden, Hässliches und Ungerechtes und Schlechtes von den Zwingenden erlitten haben? SOKRATES DERJÜNGERE:Was du sagst, ist sehr wahr. DER FREMDE:Aber ist etwa, wenn der Zwingende reich ist, das Erzwungene gerecht, wenn aber arm, ungerecht? Oder wenn einer überzeu-

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gend oder nicht überzeugend, reich oder arm, oder entsprechend geschriebenen Regeln oder gegen geschriebene Regeln das Nützliche tut muss nicht dieses und diese Zielsetzung das wahrste Kriterium füt die richtige Verwaltung des Staates sein, nach dem der weise und gute Mann die Angelegenheiten der Beherrschten verwalten wird? Wie ein Steuermann, der immer den Nutzen des Schiffes und der Schiffsleute im Auge hat, seine Mannschaft nicht dadurch rettet, dass er geschriebene Regeln verfasst, sondern seine Kunst als Gesetz erweist, wird nicht so und auf dieselbe Weise durch die, welche so herrschen können, eine Verfassung richtig werden, die, welche die Kraft der Kunst als stärker erweisen als die Gesetze? Und was immer die einsichtigen Herrscher tun, es gibt für sie keine Verfehlung, solange sie das eine Große beachten: dass sie, mit Vernunft und Kunst denen im Staat immer das Gerechte austeilend, imstande sind, sie zu erhalten und nach Möglichkeit aus Schlechteren zu Besseren zu machen. SoKRATESDERJüNGERE:Es ist nicht möglich, dem, was jetzt gesagt worden ist, zu widersprechen. DER FREMDE:Und auch jenem darf man sicher nicht widersprechen. SOKRATES DERJüNGERE:Was meinst du? DER FREMDE:Dass niemals eine Menge von wie immer gearteten Leuten dieses Wissen erwerben und imstande sein dürfte, den Staat mit Vernunft zu verwalten, sondern dass man jene eine richtige Verfassung unter einer geringen Zahl und wenigen oder dem einen zu suchen habe, die anderen aber als Nachahmungen setzen müsse, wie schon kurz vorher gesagt wurde, wobei die einen diese besser, die anderen sie schlechter nachahmen. SOKRATES DERJÜNGERE:Wie hast du das gemeint? Denn auch als sie eben gemacht wurde, habe ich die Bemerkung über die Nachahmungen nicht verstanden. DER FREMDE:Und es ist gewiss keine Kleinigkeit, wenn jemand dieses Thema aufwirft und es dann fallen lässt, ohne es ausführlich zu behandeln und den Fehler aufzuzeigen, der jetzt dabei gemacht wird. SOKRATES DERJÜNGERE:Was für einer denn? DER FREMDE:Einer, den man suchen muss; er ist uns nicht vertraut und nicht leicht zu sehen; dennoch wollen wir versuchen, ihn zu ergreifen. Auf denn. Wenn für uns ausschließlich die Verfassung richtig ist, von der wir gesprochen haben, glaubst du, dass die anderen deren schriftliche Anweisungen gebrauchen müssen, um so erhalten zu werden, indem sie tun, was jetzt gelobt wird, obwohl es nicht vollkommen richtig ist? SOKRATES DERJÜNGERE:Was? DER FREMDE:Dass niemand im Staat es wagen darf, etwas gegen die Gesetze zu tun, wer es aber wagt, mit dem Tod und allem Äußersten be-

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straft wird. Und das ist das Richtigste und Schönste als Zweites, wenn jemand das Erste, von dem gerade jetzt die Rede war, verändert hat. Auf welche Weise aber das entstanden ist, was wir als Zweites bezeichnet haben, das lass uns ausführen. Oder? SOKRATES DERJüNGERE:Doch, auf jeden Fall. DER FREMDE:Kehren wir also wieder zu den Bildern zurück, durch die man die königlichen Herrscher immer abbilden muss. SOKRATES DERJüNGERE:Zu welchen? DER FREMDE:Zum achtbaren Steuermann und zum Arzt, ,,der viele andere wert ist" 5• Denn wir wollen eine Gestalt betrachten, die wir aus diesen formen. SOKRATES DERJüNGERE:Was für eine? DER FREMDE:Folgende. Nehmen wir an, alle würden von ihnen denken, dass wir das Schlimmste von ihnen zu erleiden haben. Denn den von uns, den sie beide retten wollen, den rettet der eine wie der andere. Wen sie aber misshandeln wollen, den misshandeln sie; sie schneiden und brennen und verlangen, dass man ihnen die Kosten erstattet wie einen Tribut, wovon sie nur wenig oder nichts für den Kranken ausgeben, während das andere sie und ihr Haushalt verbrauchen. Und zum Schluss nehmen sie von den Verwandten oder von irgendwelchen Feinden des Kranken Geld als Lohn und töten ihn. Die Steuermänner wiederum machen tausend andere Dinge dieser Art. Sie lassen aufgrund einer Verschwörung Leute auf Reisen einsam zurück, und sie verursachen auf hoher See Schiffbruch und werfen sie ins Meer und begehen andere Untaten. Nehmen wir an, wir dächten das und würden über sie einen Beschluss fassen, keiner von diesen Künsten sei es fortan erlaubt, eigenmächtig weder über Sklaven noch über Freie zu herrschen; vielmehr sei eine Versammlung von uns einzuberufen, entweder das ganze Volk oder nur die Reichen; es solle aber erlaubt sein, dass auch die Laien und die anderen Handwerker ihre Meinung über Seefahrt und Krankheiten äußern, nach welchem Maßstab wir die Medikamente und die Werkzeuge des Arztes bei den Kranken gebrauchen müssen, und die Schiffe selbst und die Werkzeuge des Seemanns zum Gebrauch der Schiffe, und bei den Gefahren für die Seefahrt selbst von Wind und See und gegen die Begegnung mit Seeräubern, und wenn es notwendig sein sollte, eine Seeschlacht zu schlagen mit langen Schiffen gegen andere von diesem Typ. Was aber die Menge darüber beschließt, sei es, dass einige Ärzte und Steuermänner, sei es dass Laien 6 sie beraten, das solle man auf gewissen Kyrbeis und Stelen 5

Ilias XI 514. e\'.,:'äUrov töro,:füv(e6). Zu diesem Gebrauch von äUrn; vgl. Campbell z. St., der auf Gorg. 473d] verweist. 6

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aufzeichnen, anderes aber auch als ungeschriebene altüberkommene Bräuche setzen. Nach diesem solle dann in aller Zukunft Schifffahrt betrieben und die Behandlung der Kranken vorgenommen werden. SOKRATES DERJÜNGERE: Was du da gesagt hast, ist völlig abwegig. DER FREMDE: Jährlich sollen Herrscher über die Menge eingesetzt werden, sei es aus den Reichen, sei es aus dem ganzen Volk, wer aufgrund des Loses das Amt erhält. Die eingesetzten Herrscher sollen aber nach geschriebenen Regeln herrschen: die Schiffe lenken und die Kranken heilen. SOKRATES DERJüNGERE:Das ist noch schlimmer. DER FREMDE:Betrachte nun auch, was nach diesem folgt. Denn nachdem für die jeweiligen Herrscher das Jahr vergangen ist, wird man Gerichtshöfe einsetzen müssen von Männern, entweder aus den Reichen aufgrund einer Vorwahl, oder wieder aus dem ganzen Volk die durch das Los Bestimmten. Vor diese wird man die ehemaligen Herrscher bringen und ihre Amtsführung prüfen. Jeder, der es will, kann Anklage erheben, dass einer während des Jahres die Schiffe nicht nach den geschriebenen Regeln und nach den alten Bräuchen der Vorfahren gesteuert hat; dasselbe gilt auch für die, welche die Kranken heilen; und für die von ihnen, die schuldig befunden wurden, legen sie fest, was sie erdulden und zahlen müssen. SOKRATES DERJÜNGERE:Wer unter solchen Bedingungen gern herrschen will, der wird zu Recht alles Mögliche erdulden und zahlen. DER FREMDE:Und nun wird es auch noch notwendig sein, ein Gesetz für dieses alles zu erlassen. Wenn sich zeigt, dass jemand die Steuermannskunst und das Schiffswesen und das Gesunde und die Wahrheit der Arztkunst über Winde und Wärme und Kälte über die geschriebenen Regeln hinaus erforscht und sich irgendetwas Gescheites über derartige Dinge ausdenkt, dann soll man ihn erstens weder einen Fachmann in der Heilkunst noch einen Fachmann in der Steuermannskunst nennen, sondern einen Sterngucker, einen geschwätzigen Sophisten. Als nächstes soll ihn jeder dazu Berechtigte, der es will, unter der Anklage vor ein bestimmtes Gericht bringen, dass er andere, Jüngere verderbe und sie überrede, die Kunst des Steuermanns und Arztes nicht nach Gesetzen zu betreiben, sondern eigenmächtig über die Kranken zu herrschen; wenn er aber schuldig befunden wird, gegen die Gesetze und das Geschriebene Junge oder Alte zu überreden, dann soll man ihn äußerst hart bestrafen. Denn keineswegs dürfe man weiser sein als die Gesetze; denn niemand kenne sich nicht aus in Sachen Heilkunst und Gesundheit noch in Sachen Steuermannskunst und Schifffahrt; denn jeder, der will, könne lernen, was geschrieben und in den altüberkommenen Bräuchen niedergelegt ist. Wenn das für diese Wissenschaften so einträfe, wie wir sagen, Sokrates,

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und für die Feldherrnkunst und für die gesamte Jagdkunst, welcher Art auch immer, und die Malerei oder jeden beliebigen Teil der gesamten Nachahmungskunst und der Baukunst und der gesamten vielgestaltigen Geräteherstellung oder auch der Landwirtschaft und der gesamten Kunst, die es mit Pflanzen zu tun hat, oder auch, wenn wir wiederum sähen, dass eine Pferdezucht nach geschriebenem Regeln betrieben wird oder die gesamte Herdenhaltung oder Wahrsagekunst oder jeder Teil, den die dienende umfasst, oder das Brettspiel oder die gesamte Wissenschaft der Zahlen, sei sie etwa rein oder auf Flächen oder Tiefen oder Geschwindigkeiten angewandt 7 - was würde sich für alles dieses zeigen, wenn es so getan würde, nach geschriebenen Regeln geschehend und nicht nach der Kunst? SOKRATES DERJüNGERE:Es ist klar, dass uns alle Künste ganz und gar zugrunde gingen und auch niemals wieder entstünden wegen dieses Gesetzes, das verbietet zu forschen, so dass das Leben, das auch jetzt schon schwer ist, in jener Zeit völlig unlebbar würde. DER FREMDE:Was aber ist mit dem Folgenden? Wenn wir erzwängen, dass all das Aufgezählte nach geschriebenen Regeln geschieht und dass ein Gewählter oder vom Zufall durch das Los Bestimmter unsere geschriebenen Regeln zu beaufsichtigen hätte, dieser aber sich überhaupt nicht um das Geschriebene kümmerte und um des Gewinns oder einer persönlichen Begünstigung willen versuchen würde, anders und gegen sie zu handeln, ohne etwas zu verstehen wäre dieses Übel nicht noch größer als das frühere? SOKRATES DERJÜNGERE:Vollkommen wahr. DER FREMDE:Denn gegen die Gesetze, so meine ich, die erlassen worden sind auf Grund vieler Erprobung und mit Ratgebern, die zu allen Einzelheiten mit gutem Urteil ihren Rat gegeben und die Menge überredet haben, sie zu beschließen - wer dagegen zu handeln wagt, beginge einen Fehler, der um ein Vielfaches größer ist als der andere Fehler, und er würde alle Tätigkeit noch mehr umstürzen als die geschriebenen Regeln. SOKRATES DERJÜNGERE:Wie sollte er das nicht? DER FREMDE:Darum ist es für die, welche über irgendetwas Gesetze und geschriebene Regeln festsetzen, der zweitbeste Weg, gegen diese weder einen Einzelnen noch die Menge jemals etwas tun zu lassen, was es auch immer sei. SOKRATES DERJüNGERE:Richtig. DER FREMDE:Wären das nicht Nachahmungen der Wahrheit in jedem

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Vgl. Resp. 522c-53lc.

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Bereich - das, was von den Wissenden stammt und soweit das möglich ist, aufgeschrieben wurde? SOKRATES DERJÜNGERE:Wieso auch nicht? DER FREMDE:Und wir haben doch, wenn wir uns erinnern, gesagt, dass der Wissende, der wirkliche Staatsmann, bei seiner Tätigkeit vieles durch seine Kunst tun wird, ohne sich um geschriebene Regeln zu kümmern, wenn er anderes für besser hält als das, was er geschrieben und an Abwesende geschickt hat. SoKRATESDERJüNGERE:Ja, das haben wir gesagt. DER FREMDE:Wenn nun ein beliebiger einzelner Mann oder irgendeine Menge, für die tatsächlich Gesetze erlassen wurden, was auch immer dagegen zu tun versuchen, weil etwas anderes besser ist, tun sie dann nicht, so gut sie können, dasselbe wie jener wahre Staatsmann? SOKRATES DERJÜNGERE:Durchaus. DER FREMDE:Wenn sie nun, ohne Sachkenntnis zu haben, dieses tun sollten, würden sie dann nicht zwar versuchen, das Wahre nachzuahmen, würden es aber sehr schlecht nachahmen; wenn aber in Besitz der Kunst, dann wäre das keine Nachahmung mehr, sondern jenes vollkommen Wahre selbst? SOKRATES DERJÜNGERE:Allerdings. DER FREMDE:Und es steht doch durch unsere frühere Übereinstimmung fest, dass es nicht möglich ist, dass eine Menge eine Kunst, welche auch immer, erwerben kann. SOKRATES DERJÜNGERE:Ja, das steht fest. DER FREMDE:Wenn es nun eine königliche Kunst gibt, dann kann die Menge der Reichen und das gesamte Volk niemals diese staatsmännische Kunst erwerben. SOKRATES DERJüNGERE:Wie denn auch? DER FREMDE:Die Verfassungen dieser Art dürfen also, wie es scheint, wenn sie jene wahre - die des einen, der mit Kunst herrscht - nach Möglichkeit gut nachahmen wollen, sobald für sie Gesetze erlassen worden sind, niemals etwas gegen das Geschriebene und die altüberkommenen Bräuche tun. SOKRATES DERJÜNGERE:Das hast du sehr schön gesagt. DER FREMDE:Ahmen nun die Reichen diese nach, dann werden wir eine solche Verfassung Aristokratie nennen; wenn sie sich aber nicht um die Gesetze kümmern, Oligarchie. SOKRATES DERJüNGERE:Das mag sein. DER FREMDE:Und wenn wiederum 8 einer nach Gesetzen herrscht, den

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Ich lese in 301bl0 mit den Handschriften aö0u;.

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Wissenden nachahmend, dann werden wir ihn König nennen, ohne durch den Namen den, der mit Wissen, von dem, der mit Meinung gemäß den Gesetzen allein herrscht, zu unterscheiden. SOKRATES DERJÜNGERE:Es mag sein, dass wir das tun. DER FREMDE:Also auch, wenn ein einziger, der wahrhaft wissend ist, herrscht, wird er auf jeden Fall mit demselben Namen ,König' und mit keinem anderen benannt werden. Denn wegen der fünf Namen der jetzt sogenannten Verfassungen ist es nur ein Name. 9 SOKRATES DERJÜNGERE:So scheint es jedenfalls. DER FREMDE:Was aber, wenn ein einzelner Herrscher weder nach den Gesetzen noch nach den Bräuchen handelt, aber wie der Wissende vorgibt, man müsse gegen das Geschriebene das Beste tun, während eine Begierde und Unwissenheit diese Nachahmung bestimmt - muss man dann nicht einen jeden solchen einen Tyrannen nennen? SOKRATES DERJüNGERE:Was sonst? DER FREMDE:Auf diese Weise also, sagen wir, ist der Tyrann geworden und der König und die Oligarchie und die Aristokratie und die Demokratie, weil die Menschen jenen einen als Alleinherrscher ablehnten und nicht glaubten, dass jemals einer einer solchen Herrschaft so würdig werden könnte, dass er willens und fähig wäre, mit Tugend und Wissenschaft zu herrschen und allen, was ihnen Recht und heilig ist, zukommen zu lassen. Vielmehr werde er bei jeder Gelegenheit jeden von uns, den er wolle, misshandeln und töten. Wenn aber einer käme, wie wir ihn beschreiben, würde er geliebt werden und sein Leben damit zubringen, die genau genommen einzig richtige Verfassung glücklich zu lenken. SOKRATES DERJüNGERE:Wie auch nicht? DER FREMDE:Da jetzt aber in den Staaten, wie wir eben gesagt haben, kein König entsteht, wie er in den Bienenstöcken heranwächst, der sich an Leib und Seele sofort als der einzige auszeichnet, muss man zusammentreten, um Schriften zu verfassen, und so, wie es scheint, den Spuren der wahren Verfassung nachgehen. SOKRATES DERJüNGERE:Das mag sein. DER FREMDE:Wundern wir uns also noch, Sokrates, wieviel Schlimmes in solchen Verfassungen geschieht und wieviel geschehen wird, wenn sie auf einer solchen Grundlage ruhen, dass sie nach geschriebenen Regeln und Bräuchen und nicht mit Wissen ihre Handlungen ausführen? Würde eine andere Kunst danach arbeiten, so würde sie, wie jeder sieht, alles,

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Ich folge der Lesart, die Robinson an dieser Stelle (301b7 f.) bringt, sehe jedoch keinen Grund, den Satz an dieser Stelle einzuklammern und ihn, in einer veränderten Lesart, nach 301c7-9 zu verschieben.

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was auf diese Weise 10 entsteht, zugrunde richten. Oder müssen wir uns nicht vielmehr darüber wundern, wie stark doch ein Staat von Natur aus ist? Denn die Staaten erleiden solches jetzt seit undenklicher Zeit; dennoch bestehen einige von ihnen noch immer und erleiden keinen Umsturz. Viele freilich gehen zuweilen wie sinkende Schiffe zugrunde und sind zugrundegegangen und werden zugrundegehen wegen der Unfähigkeit der Steuermänner und Schiffsleute, die über die größten Dinge die größte Unwissenheit besitzen; sie verstehen von der Staatsführung rein gar nichts und glauben, von allen Wissenschaften diese in jeder Hinsicht am sichersten zu besitzen. SOKRATES DERJÜNGERE:Sehr wahr. DER FREMDE:Mit welcher von diesen nicht richtigen Verfassungen lässt sich nun am wenigsten schwer leben - denn schwer ist es mit allen -, und welche ist die unerträglichste? Müssen wir das in den Blick nehmen, obwohl das Gespräch darüber für das, was uns jetzt auf gegeben ist, Nebensache ist? Aber dennoch tun vielleicht aufs Ganze gesehen wir alle alles um eines solchen Zwecks willen. SOKRATES DERJüNGERE:Das müssen wir. Warum auch nicht? DER FREMDE:Sage nun, von den dreien, die es gibt, sei dieselbe außerordentlich schwer und zugleich die leichteste. SOKRATES DERJÜNGERE:Wie meinst du das? DER FREMDE:Nicht anders, als dass ich sage, die Alleinherrschaft und die Herrschaft der Wenigen und die der Vielen seien diese drei, die von uns am Anfang der jetzt dahinströmenden Untersuchung genannt wurden. SOKRATES DERJÜNGERE:Das waren sie auch. DER FREMDE:Aus diesen wollen wir jetzt, indem wir jede einzelne entzwei schneiden, sechs machen und die richtige als siebte von diesen absondern. SOKRATES DERJüNGERE:Wie? DER FREMDE:Aus der Alleinherrschaft die Königs- und Tyrannenherrschaft; aus der der Nichtvielen nannten wir die mit dem guten Ruf Aristokratie, und die Oligarchie; aus der der Vielen wiederum setzten wir damals die Demokratie, der wir nur einen Namen gaben; jetzt aber müssen wir auch diese als zweifach setzen. SOKRATES DERJüNGERE:Wie aber? Und wonach sollen wir diese teilen? DER FREMDE:Nach nichts anderem als die anderen, auch wenn sie zur Zeit nur einen zweifachen 11 Namen hat; aber das nach den Gesetzen Herrschen und widergesetzlich trifft für sie wie für die anderen zu. 10 11

Ich lese in 302a2 mit den Handschriften 1:a1:a1hn. Ich lese mit den Handschriften in 302el StnÄoüv.

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SOKRATES DERJüNGERE:So ist es. DER FREMDE:Als wir damals nach der richtigen suchten, war dieser Einschnitt nicht nützlich, wie wir im Vorigen zeigten; weil wir aber jene herausgenommen und die übrigen als notwendig gesetzt haben, teilt bei diesen nun das Widergesetzliche und das Gesetzmäßige jede von diesen in zwei Teile. SOKRATES DERJüNGERE:Nach dem, was jetzt gesagt wurde, scheint das so. DER FREMDE:Die Alleinherrschaft nun, in gute Schriften, die wir Gesetze nennen, eingespannt, ist die beste von allen sechs; gesetzlos aber ist sie schwer, und mit ihr zu leben am unerträglichsten. SOKRATES DERJüNGERE:Das mag sein. DER FREMDE:Die der Nichtvielen aber wollen wir - so wie das Wenige das Mittlere von einem und vielem ist - für die mittlere nach beiden Seiten hin halten; die der Menge wiederum in jeder Hinsicht für schwach und im Vergleich zu den anderen zu nichts Großem fähig, weder Gutem noch Schlechtem, weil in ihr die Herrschaft in kleinen Stücken an viele verteilt ist. Deshalb ist sie, wenn alle diese Verfassungen gesetzmäßig sind, die schlechteste, wenn aber alle widergesetzlich sind, die beste; und wenn sie alle zügellos sind, so lebt sich in der Demokratie am besten, sind sie aber wohlgeordnet, dann kann man in dieser am wenigsten leben, in der ersten dagegen weitaus am ersten und am besten, außer der siebten: denn jene muss man aus allen anderen Verfassungen, wie einen Gott von den Menschen, aussondern. SOKRATES DERJüNGERE:Das scheint so zu folgen und zu sein, und man muss es machen, wie du es sagst. DER FREMDE:Also müssen wir auch die, welche an allen diesen Verfassungen teilhaben, außer der wissenden, abtrennen, weil sie keine Staatsmänner sind, sondern Parteileute; wir müssen sagen, dass sie Vorsteher der größten Scheingebilde und selbst von dieser Art sind; dass sie aber die größten Nachahmer und Zauberer sind und zu den größten Sophisten unter den Sophisten werden. SOKRATES DERJüNGERE:Sehr richtig scheint dieses Wort gegen die sogenannten Staatsmänner gedreht worden zu sein. DER FREMDE:Gut. Das ist für uns geradezu wie ein Schauspiel - wie vorhin gesagt wurde, es sei ein Schwarm von Kentauren und Satyrn 12 zu sehen, der von der staatsmännischen Kunst getrennt werden müsse; jetzt wurde er auf diesem Weg mit großer Mühe getrennt. SOKRATES DERJüNGERE:So scheint es. DER FREMDE:Es bleibt aber noch etwas anderes übrig, das noch 12

Ich lese mit den Handschriften in 303c9-dl ~UtUQtx6v ,:wu 0(uoov.

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schwieriger ist, weil es der königlichen Gattung mehr verwandt und mehr nahe und schwerer zu verstehen ist; und es scheint mir, dass es uns ähnlich ergangen ist wie denen, die Gold reinigen. SOKRATES DERJüNGERE:Wieso? DER FREMDE:Erde und Steine und viele andere scheiden auch jene Arheiter zuerst aus. Nach diesen bleibt beigemischt das dem Gold Verwandte, kostbar und nur durch Feuer zu entfernen: Kupfer und Silber, manchmal auch Adamas; nachdem diese mit Hilfe von Prüfsteinen durch Schmelzprozesse mühevoll entfernt wurden, lassen sie uns, was wir das ungemischte Gold nennen, selbst an sich allein sehen. SOKRATES DERJüNGERE:Man sagt jedenfalls, dass das so vor sich gehe. DER FREMDE:In derselben Weise scheint jetzt auch für uns das andere und was fremd ist und das nicht Befreundete von der staatsmännischen Wissenschaft getrennt worden zu sein, das Wertvolle und Verwandte dagegen zurückzubleiben. Dazu gehören wohl die Feldherrnkunst und die Kunst des Richters und die Redekunst, soweit sie mit der königlichen Kunst verbunden ist und, indem sie zum Gerechten überredet, die Handlungen in den Staaten mitlenkt. Auf welche Weise nun kann man diese am leichtesten abteilen und jenen von uns Gesuchten nackt und allein an sich aufzeigen? SOKRATES DERJüNGERE:Es ist klar, dass man das auf irgendeine Weise versuchen muss. DER FREMDE:Soweit es vom Versuch abhängt, wird er eindeutig werden; es soll versucht werden, ihn durch die Musik zu zeigen. Sage mir also DERJÜNGERE:Was denn? SOKRATES DER FREMDE:Es gibt doch für uns ein Erlernen der Musik und überhaupt der mit einer Fertigkeit der Hände verbundenen Wissenschaften? SOKRATES DERJüNGERE:Das gibt es. DER FREMDE:Was aber? Das wiederum, ob wir eine von diesen lernen sollen oder nicht: Werden wir sagen, auch das sei eine Wissenschaft über diese Dinge, oder wie? SOKRATES DERJÜNGERE:Ja, wir werden sagen, es sei eine. DER FREMDE:Werden wir nicht zugeben, diese sei eine andere als jene? SOKRATES DERJüNGERE:Ja. DER FREMDE:Soll aber keine von ihnen über die andere herrschen, oder jene über diese, oder soll diese die Aufsicht führen und über alle anderen herrschen? SOKRATES DERJüNGERE:Diese über jene. DER FREMDE:Du erklärst also, dass die, welche entscheidet, ob man lernen soll oder nicht, über die, welche gelernt wird und lehrt, nach unserer Ansicht herrschen müsse. SOKRATES DERJüNGERE:Mit Nachdruck.

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DER FREMDE:Und die, ob man überreden soll oder nicht, über die, welche zu überreden versteht? SOKRATES DERJüNGERE:Wie auch nicht? DER FREMDE:Gut. Welcher Wissenschaft werden wir nun die Fähigkeit zuteilen, die Menge und die Masse zu überreden, durch Erzählen von Geschichten und nicht durch Belehrung? SOKRATES DERJÜNGERE:Auch das halte ich für klar: Sie muss der Rhetorik gegeben werden. DER FREMDE:Ob man aber durch Überredung oder durch Zwang etwas bei dem oder jenem erreichen oder sich überhaupt ruhig verhalten soll welcher Wissenschaft werden wir das zuordnen? SOKRATES DERJÜNGERE:Der, die über die überredende und sprechende herrscht. DER FREMDE:Das dürfte, glaube ich, keine andere sein als die Fähigkeit des Staatsmanns. SOKRATES DERJüNGERE:Sehr schön gesagt. DER FREMDE:Und das scheint schnell von der Staatskunst getrennt worden zu sein, das Rednerische, als eine andere Art, jedoch dieser dienend. SOKRATES DERJüNGERE:Ja. DER FREMDE:Was aber ist wiederum von folgender Fähigkeit zu denken? SOKRATES DERJüNGERE:Von welcher? DER FREMDE:Die, wie Krieg zu führen ist jeweils gegen die, gegen die Krieg zu führen wir entschieden haben - werden wir sagen, dass sie kunstlos oder kunstmäßig ist? SOKRATES DERJÜNGERE:Und wie könnten wir denken, sie sei kunstlos sie, die ausgeübt wird in der Feldherrnkunst und jeder kriegerischen Tätigkeit? DER FREMDE:Die aber, die imstande und wissend ist, zu erwägen, ob man Krieg führen oder sich in Freundschaft verständigen soll - sollen wir annehmen, dass sie von diesen verschieden oder dieselbe wie diese ist? SOKRATES DERJüNGERE:Wenn wir dem Vorigen folgen, notwendig verschieden. DER FREMDE:Werden wir nicht erklären, dass sie über diese herrscht, wenn wir die gleichen Annahmen machen wie vorher? SOKRATES DERJüNGERE:Das meine ich. DER FREMDE:Werden wir versuchen, jemand zur Herrin dieser gesamten gewaltigen und großen Kunst, der des Krieges, zu erklären, außer der wahrhaft königlichen? SOKRATES DERJüNGERE:Keine andere. DER FREMDE:Die Wissenschaft der Feldherrn werden wir also nicht als die staatsmännische setzen, weil sie eine dienende ist.

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SOKRATES DERJüNGERE:Das ist nicht wahrscheinlich. DER FREMDE:Weiter, lass uns auch die Fähigkeit der richtig richtenden Richter betrachten. SOKRATES DERJÜNGERE:Ja, durchaus. DER FREMDE:Kann sie mehr, als dass sie hinsichtlich der Verträge alles, was von einem gesetzgebenden König gesetzlich festgelegt ist, übernimmt, und richtet, indem sie auf jenes schaut, was als gerecht und ungerecht angeordnet wurde, und ihre eigene Tugend dadurch zeigt, weder durch Geschenke noch durch Furcht oder Mitleid noch durch irgendeine andere Feindschaft oder Freundschaft bewogen die gegenseitigen Anklagen gegen die Anordnung des Gesetzgebers entscheiden zu wollen? SOKRATES DER JüNGERE:Nein, sondern ungefähr das, was du gesagt hast, ist die Aufgabe dieser Fähigkeit. DER FREMDE:So haben wir also herausgefunden, dass auch die Macht der Richter nicht die königliche ist, sondern eine Wächterin der Gesetze und eine Dienerin von jener. SOKRATES DERJÜNGERE:So scheint es jedenfalls. DER FREMDE:Das ist also zu sehen, wenn man alle diese Wissenschaften betrachtet, von denen die Rede war, dass keine von ihnen sich als die staatsmännische erwiesen hat. Denn die wahrhaft königliche darf nicht selbst handeln, sondern sie muss über die herrschen, die zu handeln fähig sind, weil sie erkennt, wann die Zeit günstig und wann sie ungünstig ist, um die größten Dinge in den Staaten anzufangen und voranzutreiben 13; die anderen aber müssen die Anordnungen ausführen. SOKRATES DERJüNGERE:Richtig. DER FREMDE:Deshalb herrschen die, welche wir eben durchgegangen sind, weder übereinander noch über sich selbst; vielmehr ist jede für eine ihr eigene Tätigkeit zuständig und hat mit Recht ihre eigenen Namen nach der Eigenart ihrer Tätigkeit erhalten. SOKRATES DERJüNGERE:So scheint es wenigstens. DER FREMDE:Die aber über alle herrscht und für die Gesetze und alles im Staat sorgt und alles vollkommen richtig zussammenwebt, die dürfen wir, mit dem Namen des Gemeinsamen ihre Fähigkeit erfassend, mit vollem Recht, wie es scheint, als staatsmännische bezeichnen. SOKRATES DERJÜNGERE:Allerdings. DER FREMDE:Wollen wir sie jetzt nicht anhand des Beispiels der Webe-

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Zur Syntax von 305d2-4 siehe Campbell 1867 z. St.: ,,Understanding as regards fitness and unfitness of times, the beginning and the first impulse of what is most important in states."

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kunst durchgehen, nachdem uns alle Gattungen, die eine Beziehung zum Staat haben, klar geworden sind? SOKRATES DERJÜNGERE:Unbedingt. DER FREMDE:Also die königliche Verflechtung: Wie es scheint, muss gesagt werden, wie beschaffen sie ist, d. h. auf welche Weise sie verflicht und was für ein Gewebe sie uns liefert. SOKRATES DERJÜNGERE:Klar. DER FREMDE:Ja, eine Sache, die schwer darzulegen ist, ist also notwendig geworden, wie es scheint. SoKRATESDERJÜNGERE:Dennoch ist sie auf jeden Fall zu besprechen. DER FREMDE:Dass ein Teil der Tugend mit einer Art der Tugend auf gewisse Weise im Streit liegt, ist für Leute, die im Wortstreit geübt sind, leicht anzugreifen unter Berufung auf die Meinungen der Vielen. SOKRATES DERJÜNGERE:Das habe ich nicht verstanden. DER FREMDE:Also noch einmal so. Ich nehme nämlich an, dass du der Meinung bist, die Tapferkeit sei für uns ein Teil der Tugend. SOKRATES DERJÜNGERE:Durchaus. DER FREMDE:Und die Besonnenheit sei zwar etwas von der Tapferkeit Verschiedenes, aber auch dieses sei ein Teil von dem, von dem jenes es ist. SOKRATES DERJüNGERE:Ja. DER FREMDE:Über diese muss man nun eine merkwürdige Behauptung aufzustellen wagen. SOKRATES DERJüNGERE:Welche? DER FREMDE:Dass sie, auf gewisse Weise, einander äußerst feind sind und in vielen Seienden die entgegengesetzte Stelle einnehmen. SOKRATES DERJüNGERE:Wie meinst du das? DER FREMDE:Eine keineswegs geläufige Ansicht, denn man sagt doch, alle Teile der Tugend seien irgendwie einander freund. SOKRATES DERJüNGERE:Ja. DER FREMDE:Lass uns also mit großer Aufmerksamkeit schauen, ob das so einfach ist oder ob nicht vielmehr einiges von ihnen mit dem Verwandten in einem Punkt Streit hat. SOKRATES DERJüNGERE:Ja. Sag' bitte, wie man schauen muss. DER FREMDE:Man muss in allem suchen, was wir schön nennen, aber wir setzen das in zwei einander entgegengesetzte Arten. SOKRATES DERJÜNGERE:Sag' es noch deutlicher. DER FREMDE:Schärfe und Schnelligkeit, sei es an Körpern oder in Seelen oder an der Bewegung der Stimme, sei es an diesen selbst oder in den Bildern von Seienden, welche die Musik nachahmend und die Malerei als Nachahmungen darbietet - hast du selbst jemals etwas von diesem gelobt oder dich gefreut, wenn ein anderer es in deiner Gegenwart gelobt hat?

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SOKRATES DERJüNGERE:Was sonst? DER FREMDE:Und hast du auch in Erinnerung, auf welche Weise sie das in allen diesen Fällen tun? SOKRATES DERJüNGERE: Nein. DER FREMDE:Bin ich wohl imstande, es dir, wie ich es denke, mit Worten klar zu machen? SOKRATES DERJÜNGERE:Warum nicht? DER FREMDE:Du scheinst so etwas für leicht zu halten; wir wollen es jetzt in zwei entgegengesetzten Gattungen 14 betrachten. Wenn wir bei Handlungen in vielen Fällen oft jeweils die Schnelligkeit und Heftigkeit und Schärfe des Gedankens und des Körpers, aber auch der Stimme bewundern, dann bringen wir unser Lob dafür durch den Gebrauch einer einzigen Bezeichnung zum Ausdruck, die der Tapferkeit. SOKRATES DERJüNGERE:Wie? DER FREMDE:Wir sagen doch erstens „scharf und tapfer" und „schnell und mannhaft" und ebenso mit ,heftig'; und überhaupt dadurch, dass wir den Namen, den ich meine, allen diesen Naturen gemeinsam beilegen, loben wir sie. SOKRATES DERJüNGERE:Ja. DER FREMDE:Was aber? Haben wir die Art des sanften Werdens nicht auch oft in vielen Handlungen gelobt? SOKRATES DERJüNGERE:Und zwar sehr. DER FREMDE:Äußern wir das nicht dadurch, dass wir das Entgegengesetzte wie von jenem aussagen? SOKRATES DERJÜNGERE:Wie? DER FREMDE:Weil wir etwas ruhig und besonnen jedesmal dann nennen, wenn wir bei dem, was durch Gedanken und durch Handlungen vollbracht wird, das Langsame und das Weiche bewundern, und bei dem, was durch die Stimme geschieht, das Glatte und Tiefe, und jede rhythmische Bewegung und die gesamte Musik, die, wo es angebracht ist, von der Langsamkeit Gebrauch macht. Diesen allen legen wir nicht den Namen der Tapferkeit, sondern der Friedlichkeit bei. SOKRATES DERJÜNGERE:Sehr wahr. DER FREMDE:Wenn uns dagegen dieses beides, wo es nicht angebracht ist, geschieht, dann ändern wir uns und tadeln beides, indem wir es mit den Namen dem Entgegengesetzten zuweisen. SOKRATES DERJüNGERE:Wie? DER FREMDE:Was schärfer wird als angebracht und schneller und härter erscheint, das nennen wir übermütig und wahnsinnig, das zu Schwere

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Ich lese in 306e3 mit den Handschriften yevem.

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und zu Langsame und zu Weiche feige und schlaff. Und fast immer finden wir, dass diese Eigenschaften und die besonnene Natur und die tapfere der entgegengesetzt Gearteten wie zwei Gestalten, die einen feindlichen Standpunkt erlost haben, sich in den entsprechenden Handlungen niemals miteinander vermischen; außerdem werden wir, wenn wir dem nachgehen, sehen, dass die Menschen, welche diese in ihrer Seele tragen, miteinander im Streit liegen. SOKRATES DERJüNGERE:Wo meinst du denn? DER FREMDE:In all dem, wovon wir jetzt sprachen, und, wie es wahrscheinlich ist, in vielem anderen. Denn entsprechend ihrer Verwandtschaft mit einem von beiden loben sie das eine als ihnen vertraut und das Ihrige, das der Gegner tadeln sie jedoch als fremd, und so geraten sie miteinander über vieles in große Feindschaft. SOKRATES DERJüNGERE:Das dürften sie wohl. DER FREMDE:Nun ist dieser Streit dieser Arten noch ein Spiel; wo es aber um die wichtigsten Dinge geht, wird er für die Staaten zur verhasstesten Krankheit von allen. SOKRATES DERJÜNGERE:Um was für Dinge meinst du? DER FREMDE:Wo es, was naheliegt, um die gesamte Gestaltung des Lebens geht. Denn die, welche ausgesprochen friedlich sind, sind immer darauf bedacht, ein ruhiges Leben zu führen. Sie betreiben für sich allein ihre eigenen Angelegenheiten. Zuhause verkehren sie mit allen auf diese Weise, und gegenüber den auswärtigen Staaten sind sie ebenso darauf bedacht, überall auf irgendeine Art Frieden zu halten. Und wegen dieser Neigung, die unangebrachter ist als sie sollte, verhalten sie sich, wenn sie tun, was sie wollen, ohne es zu merken selbst unkriegerisch und erziehen die jungen Menschen ebenso; so sind sie immer den Angreifern ausgesetzt. Infolgedessen werden sie selbst und die Kinder und der gesamte Staat oft, ohne es zu merken, aus Freien zu Sklaven. SOKRATES DERJüNGERE:Du hast einen schlimmen und furchtbaren Vorgang beschrieben. DER FREMDE:Was aber mit denen, die mehr zur Tapferkeit neigen? Treiben sie ihre Staaten nicht immer wieder in einen Krieg wegen ihrer Begierde nach einem solchen Leben, die heftiger ist, als sie sein sollte? Dadurch geraten sie mit vielen Mächtigen in Feindschaft und stürzen so ihr Vaterland in den völligen Untergang oder machen es zum Sklaven und den Feinden untertan. SOKRATES DERJüNGERE:Auch das ist der Fall. DER FREMDE:Wie können wir also nicht sagen, dass hierin diese beiden Gattungen immer die größte Feindschaft und Zwietracht miteinander haben? SOKRATES DERJüNGERE:Das werden wir in keiner Weise leugnen.

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DER FREMDE:Haben wir nun nicht gefunden, wonach wir am Anfang ausschauten, dass nicht unbedeutende Teile der Tugend von Natur aus miteinander im StreitJiegen und auch die Menschen, die sie besitzen, dazu bringen? SOKRATES DERJÜNGERE:Das scheinen sie. DER FREMDE:Lass uns nun wiederum Folgendes hernehmen. SOKRATES DERJüNGERE: Was? DER FREMDE:Ob eine der zusammensetzenden Wissenschaften irgendeine zu ihren Werken gehörende Sache, und wenn es die geringste ist, freiwillig aus Schlechterem und Gutem zusammenstellt, oder ob jede Wissenschaft überall das Schlechte nach Möglichkeit verwirft und dagegen das Geeignete und Gute nimmt, und aus diesem, sei es ähnlich oder unähnlich, indem sie dieses alles zu einem zusammenfügt, ein bestimmtes Vermögen und eine Gestalt herstellt. SOKRATES DERJüNGERE: Was sonst? DER FREMDE:Es wird also, was für uns die von Natur aus wahre Staatskunst ist, niemals freiwillig aus guten und schlechten Menschen einen Staat zusammenstellen, sondern es ist sehr klar, dass sie sie zuerst im Spiel prüfen, nach der Prüfung aber denen, die fähig sind, zu erziehen und zu dienen, zu diesem Zweck übergeben wird. Dabei gibt sie die Anweisungen und führt die Aufsicht, wie die Webekunst die Wollkämmerei und die, welche das andere vorbereiten, was sie für ihr Flechten braucht, begleitet und ihnen Anweisungen gibt und Aufsicht führt und sie anleitet, die Arbeiten auszuführen, welche sie für ihre Verflechtung für geeignet hält. SOKRATES DERJüNGERE: Durchaus. DER FREMDE:In genau derselben Weise, so scheint mir, wird die königliche Kunst allen vom Gesetz bestellten Lehrern und Erziehern - sie selbst hat die Fähigkeit der Aufsicht führenden Kunst - nicht erlauben, zu üben, was man nicht zu einem ihrer Mischung angemessenen Charakter bilden und vollenden wird; allein dieses befiehlt sie zu erziehen. Und die, welche nicht fähig sind, an einem tapferen und besonnenen Charakter, und was sonst zum Bereich der Tugend gehört, teilzuhaben, sondern in Gottlosigkeit und Hybris und Ungerechtigkeit von einer schlechten Natur mit Gewalt hineingestoßen werden, die wirft sie hinaus durch Hinrichtung und Verbannung und straft sie mit dem äußersten Verlust der Ehre. SOKRATES DERJÜNGERE:Das sagt man jedenfalls irgendwie so. DER FREMDE:Die sich aber wiederum in vielfacher Unwissenheit und Niedrigkeit herumwälzen, unterjocht sie in das Sklavengeschlecht. SOKRATES DERJÜNGERE:Sehr richtig. DER FREMDE:Die übrigen nun, deren Naturen geeignet sind, zum Edlen gebildet zu werden, wenn sie eine Erziehung erhalten, und mit Hilfe

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der Kunst eine Mischung untereinander einzugehen - von diesen versucht sie die mehr zur Tapferkeit Hinneigenden in der Überzeugung, deren fester Charakter habe gleichsam die Eigenschaft der Kette, und die, welche mehr zur Friedlichkeit neigen und einen vollen und weichen und, um im Bild zu bleiben, einschlagartigen Faden bilden, die aber 15 einander entgegenstreben, auf folgende Weise miteinander zu verflechten. SOKRATES DERJüNGERE:Auf welche? 309c DER FREMDE:Zuerst fügt sie den ewigen Teil ihrer Seele entsprechend der Verwandtschaft durch ein göttliches Band zusammen, nach dem göttlichen aber wiederum ihren tierischen durch menschliche Bande. SOKRATES DERJÜNGERE:Wie meinst du das wieder? DER FREMDE:Wenn die wirklich wahre, zur Überzeugung gewordene Meinung über das Schöne, Gerechte und Gute und deren Gegenteil in den Seelen entsteht, dann entsteht sie, behaupte ich, als göttliche in einem dämonischen Geschlecht. SOKRATES DERJÜNGERE:So gehört es sich auch. 309d DER FREMDE:Wissen wir nun nicht, dass es allein dem Staatsmann und dem guten Gesetzgeber zukommt, fähig zu sein, durch die Muse der königlichen Kunst genau dieses denen einzuprägen, die richtig an einer Erziehung teilhatten, die, von denen wir eben gesprochen haben? SOKRATES DERJüNGERE:Das ist jedenfalls wahrscheinlich. DER FREMDE:Wer nicht fähig ist, das zu tun, Sokrates, den sollten wir jedenfalls niemals mit den jetzt untersuchten Namen bezeichnen. SOKRATES DERJüNGERE:Sehr richtig. 309e DER FREMDE:Was nun? Wird eine tapfere Seele, wenn sie diese Wahrheit empfängt, nicht gezähmt, und wird sie so nicht vor allem mit dem Gerechten Gemeinschaft haben wollen; bekommt sie aber keinen Anteil daran, neigt sie dann nicht eher zu einer tierischen Natur? SOKRATES DERJüNGERE:Wie auch nicht? DER FREMDE:Was aber ist mit der friedlichen Natur? Wird sie nicht, wenn sie an diesen Meinungen Anteil bekommt, wirklich besonnen und weise, wenigstens soweit es das Leben im Staat erfordert; erhält sie dagegen keine Gemeinschaft mit dem, wovon wir sprechen, kommt sie dann nicht mit vollem Recht in einen schimpflichen Ruf der Gutmütigkeit? SoKRATESDERJüNGERE:Durchaus. DER FREMDE:Müssen wir nun nicht sagen, dass diese Verflechtung und Verbindung bei den Schlechten unter sich selbst und bei den Guten mit den Schlechten niemals von Dauer sein wird und dass keine Wissenschaft jemals im Ernst von ihr für solche Menschen Gebrauch machen wird?

15

Ich lese in 309b6 mit den Handschriften EVU.V'tta81,.

Politikos

73

SOKRATES DERJÜNGERE:Wie denn? 310a DER FREMDE:Den von ihrer Geburt an Guten und von Anfang an zu ihrer Natur gemäßen Charakteren Erzogenen allein kann dies durch Gesetze eingepflanzt werden, und für sie ist dieses durch die Kunst ein Heilmittel, und, wie wir gesagt haben, dies ist das göttlichere Band der Teile der Tugend, die von Natur aus unähnlich sind und in entgegengesetzte Richtungen streben. SOKRATES DERJÜNGERE:Sehr wahr. DER FREMDE:Die übrigen, die menschliche Bande sind, lassen sich, wenn dieses göttliche vorhanden ist, ohne Schwierigkeit erkennen und, wenn man sie erkannt hat, verwirklichen. 310b SOKRATES DERJüNGERE:Wie denn, und welche? DER FREMDE:Die durch Heiraten untereinander und durch die gemeinsamen Kinder und durch Dinge, die zu tun haben mit der Verheiratung und den Ehen der eigenen Töchter. Denn die meisten verbinden dabei nicht richtig im Hinblick auf die Erzeugung der Kinder. SOKRATES DERJÜNGERE:Wieso? DER FREMDE: Die Jagd nach Reichtum und Macht in diesem Zusammenhang - sollte sich auch nur irgendjemand die Mühe machen, das zu tadeln, als wäre es der Rede wert? SOKRATES DERJÜNGERE:Nein. DER FREMDE:Eher berechtigt ist es dagegen, über die zu sprechen, die 16 310c auf die Familien sehen, ob sie nicht einen Fehler machen. SOKRATES DERJüNGERE:Ja, das wäre vernünftig. DER FREMDE:Sie haben für ihr Handeln auch nicht einen richtigen Grund. Sie verfolgen, was im Augenblick am leichtesten ist, und indem sie die ihnen Ähnlichen willkommen heißen, die Unähnlichen aber nicht lieben, geben sie ihrer Abneigung das größte Gewicht. SOKRATES DERJüNGERE:Wie? DER FREMDE:Die Friedlichen suchen ihren eigenen Charakter, und 310d nach Möglichkeit heiraten sie aus diesen und geben ihre Töchter, die sie verheiraten, wiederum an solche. Ebenso handelt die auf Tapferkeit bezogene Gattung und verfolgt ihre eigene Natur, während doch beide Gattungen ganz das Gegenteil hiervon tun müssten. SOKRATES DERJüNGERE:Wie, und weshalb? DER FREMDE:Weil es in der Natur der Tapferkeit liegt, dass sie, wenn sie über viele Generationen unvermischt mit der besonnenen Natur erzeugt wird, am Anfang in Kraft erblüht, schließlich aber völlig in Wahnsinn auswächst.

16

Ich lese in 3l0bl 1 mit den Handschriften yi;vrJ.

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Übersetzung

SOKRATES DERJÜNGERE:Wahrscheinlich. 310e DER FREMDE:Die Seele dagegen, die zu sehr mit Scheu erfüllt und nicht mit dem Wagemut und der Tapferkeit gemischt ist, die wird, durch viele Generationen so erzeugt, von Natur aus träger als angebracht, und schließlich verkrüppelt sie völlig. SOKRATES DERJüNGERE:Auch das tritt wahrscheinlich ein. DER FREMDE:Diese Bande nun, sagte ich, seien nicht schwer zu knüpfen, vorausgesetzt beide Gattungen haben eine Meinung über das Schöne und Gute. Denn das ist die eine und ganze Aufgabe des königlichen Zusammenwebens: niemals zuzulassen, dass die besonnenen sich von den tapferen Charakteren fernhalten, sondern sie durch gleiche Überzeugungen und Ehre und Ehrverlust und Meinungen und gegenseitigen Austausch von Sicherheiten mit dem Schiffchen zu verflechten, aus ihnen ein 17 311a glattes und wie man sagt „gut gearbeitetes" Gewebe zusammenzubringen und die Ämter in den Staaten immer ihnen gemeinsam zu übertragen. SOKRATES DERJüNGERE:Wie? DER FREMDE:Indem es, wo sich die Notwendigkeit nur eines Regierungsbeamten ergibt, den als Leiter wählt, der diese beiden Eigenschaften hat, wo aber mehrerer, es einen Teil aus jeder dieser beiden Gruppen miteinander vermischt. Denn die Charaktere der besonnenen Regierungsbeamten sind zwar äußerst behutsam und gerecht und zuverlässig, lassen es aber an Schärfe und einem gewissen raschen und tatkräftigen Draufgängertum fehlen. SOKRATES DERJÜNGERE:Auch das scheint jedenfalls so. 31 lb DER FREMDE:Die tapferen Charaktere wiederum lassen es im Vergleich zu jenen an Gerechtigkeit und Vorsicht fehlen, haben aber das Draufgängertum im Handeln in einem besonderen Maß. Dass alle Angelegenheiten des Staates privat und öffentlich gut verlaufen, ist unmöglich, wenn nicht diese beiden beteiligt sind. SOKRATES DERJüNGERE:Wie denn nicht? DER FREMDE:Das nun, so wollen wir sagen, sei die Vollendung des Gewebes der politischen Tätigkeit, dass durch geradlinige Verflechtung der Charakter der tapferen und besonnenen Menschen verflochten wird wenn die königliche Kunst durch Eintracht und Freundschaft deren Le18 31 lc ben zu einer Gemeinschaft zusammengeführt und so das herrlichste und beste aller Gewebe vollendet hat und alle anderen in den Staaten,

17

EUTJ't:QtOV.Es handelt sich offensichtlich um ein Zitat. Das Wort ist vor Platon nur überliefert bei Aischylos, Frg. 47 Nauck. 18 Ich lese in 31lb9-cl: q>tAt(f xmvov ouvayayoücm, also ohne die Transposition von Praechter.

Politikos

75

Sklaven und Freie, mit diesem Geflecht umkleidet und zusammenhält, und herrscht und leitet, ohne, soweit es einem Staat zukommt glücklich zu werden, von dem auf irgendeine Weise etwas zu unterlassen. SOKRATES DERÄLTERE:Sehr schön hast du uns nun auch, Fremder, den königlichen Mann und den Staatsmann vollendet.

Gliederung des Dialogs und der Erläuterungen

I Das einleitende Gespräch. Die Personen und das Thema

257a1-258b3

81

II Die Definition der Staatskunst als Wissenschaft von der Gemeinschaftszucht der Menschen 258b3-268d4

91

1. 2. 3. 4.

Einteilung der Wissenschaften Exkurs über die Methode Einteilung der Gemeinschaftszucht Kritik an der Definition

258b3-262a4 262a5-264b6 264b7-267c4 267c5-268d4

92 100 102 106

III Die Geschichte von den zwei Weltperioden

268d5-274e3

109

1. Die Einheit der Mythen 2. Die beiden entgegengesetzten Kreisläufe des Weltalls 3. Die Umkehrung der Lebensprozesse 4. Das Leben unter Kronos 5. Der Zweck der Geschichte Exkurs

268d5-269c3

109

269c4-270b2 270b3-271c2 271c3-272d4 272d4-274e3

112 118 120 127 132

274e4-277a2

136

274e4-275c8 275c9-277a2 277a3-c8

136 138 139

277 d 1-283a9

142

277dl-278e12 279al-283a9

142 147

283bl-287b3

155

283c3-285c3 285c4-287b3

156 163

IV Die Fehler der Definition

1. Die Verwechslung der Perioden 2. Aufzucht oder Fürsorge 3. Zeichnung und Wort V Das Beispiel

1. Notwendigkeit und Wesen des Beispiels 2. Das Beispiel der Webekunst VI Die Messkunst

1. Die zwei Teile der Messkunst 2. Wonach Länge und Kürze sich bemessen

VII Die Anwendung des Beispiels der Webekunst auf den Staatsmann

287b4-3llc10

168

287b4-290d4

287b4-c6 287c7-289c3 289c4-290e9

168 168 170 174

Staatsmännern

29lal-303d3

178

(a) Einleitung

291al-c10 29ldl-293e6 293e7-297b4

179 180

297b5-e7 297e8-299e10

192 195

300al-301c5 301c6-302b4

199 204

302b5-303d3

208

303d4-305e7

210

305e8-31 lcl0

216

305e8-308b9 308b10-309c4 309c5-310a6

216 219 224

310a7-31lcl0

227

1. Die Trennung von den Mitursachen und Ursachen im Staat (a) Einleitung (b) Mitursachen: herstellende Künste (c) Ursachen: dienstleistende Personen

2. Die Trennung von den sogenannten

(b) Die Verfassungsformen (c) Das Gesetz (d) Die Nachahmungen der einen richtigen Verfassung (e) Die Reglementierung der Künste (f) Die Unterscheidung zwischen guten und schlechten Nachahmungen (g) Die Notwendigkeit der Gesetze (h) Welche dieser Nachahmungen ist das geringste Übel? 3. Die Trennung vom Verwandten: Feldherr, Richter und Redner 4. Die königliche Verflechtung (a) Der Widerstreit der natürlichen Tugenden (b) Die Auswahl des Materials (c) Das göttliche Band (d) Die menschlichen Bande

187

KOMMENTAR

257a-258b I. Das einleitende Gespräch. Die Personen und das Thema

Durch die Personen und den zeitlichen Rahmen ist der Politikos mit dem Theaitetos und dem Sophistes zu einer Einheit verbunden. 1 Sokrates beginnt das Gespräch mit dem Dank an Theodoros dafür, dass er ihn mit Theaitetos und dem Fremden bekannt gemacht hat. Theodoros, so erfahren wir, ist der bedeutendste Mathematiker seiner Zeit (257a7 f.), und er stammt aus einer Stadt, in welcher der ägyptische Gott Ammon (257b6) besonders verehrt wird, aus Kyrene in Nordafrika. Als Platon, wie der Siebte Brief (326b) berichtet, etwa im Jahr 390 nach Italien und Sizilien reiste (Ep.VII 326b), soll er ihn dort besucht haben (Diogenes Laertius III 6). Der Anfang des Theaitetos (143dl-144d7) berichtet, wie Theodoros Sokrates mit dem jungen Theaitetos, dessen Begabung und Charakter er in den höchsten Tönen lobt, bekannt macht. Zum nächsten Gespräch, dem Sophistes, bringt Theodoros auch noch einen Gast aus Elea mit (Soph. 216al-4). Sokrates möchte von ihm gern hören, was man in der Heimat des Parmenides über den Sophisten, Staatsmann und Philosophen denkt (Soph.216d3-217a4), und er bittet den Gast, selbst zu entscheiden, in welcher Form er das Thema behandeln will. Wenn er einen geeigneten Partner fände, so der Gast, wäre die Darlegung im Gespräch leichter. Daraufhin schlägt Sokrates den Theaitetos vor (Soph.217cl-d7). Der Jüngere Sokrates ist bereits im Theaitetos (147dl f.) als stummer Zuhörer anwesend. Im Sophistes (218a8-b5) weist der Gast Theaitetos darauf hin, dass das Gespräch lang und anstrengend sein wird. Theaitetos hofft, dass er nicht ermüden wird; sollte das dennoch eintreten, so könne man

1

Ein Einschnitt zwischen dem Theaitetos auf der einen und dem Sophistes und Politikos auf der anderen Seite ist dadurch markiert, dass das Gespräch des Theaitetos viele Jahre danach von Eukleides berichtet wird, während der Leser am Gespräch des Sophistes und Politikos unmittelbar teilnimmt (Lane 1998, 7).

82

Kommentar

seinen Altersgenossen und Mitschüler Sokrates dazunehmen. Jetzt, nach dem Abschluss des Gesprächs über den Sophisten, schlägt der Gast vor, dem Theaitetos eine Pause zu gönnen und ihn durch den Jüngeren Sokrates zu ersetzen (257c8 f.), und sowohl der ältere als der Jüngere Sokrates stimmen dem Vorschlag zu. Wann die drei Dialoge spielen, erfahren wir am Ende des Theaitetos (210d2-4; vgl. 142c6). Sokrates verabschiedet sich mit dem Hinweis, er habe wegen der Anklage des Meletos jetzt einen Gerichtstermin, aber am nächsten Morgen wolle man sich hier wieder treffen. Theodoros erscheint wie verabredet und bringt nun auch den Gast aus Elea mit (Soph. 216al-4). Das Gespräch über den Staatsmann schließt sich unmittelbar an das über den Sophisten an. Der Dank des Theodoros an Sokrates ist eigentlich der Abschluss des ersten Gesprächs. Theaitetos hat keine Gelegenheit, sich zu erholen, und wird deshalb durch den Jüngeren Sokrates ersetzt. Sokrates datiert sein Gespräch mit Theaitetos auf „gestern"; dagegen hat er „jetzt" zugehört, wie Theaitetos dem Gast geantwortet hat. Sokrates möchte von dem Gast erfahren, was man in Elea über den Sophisten, Staatsmann und Philosophen denkt. Anlass zu seiner Bitte ist die Tatsache, dass die wahren Philosophen wegen der Unwissenheit der Menschen schwer zu erkennen sind und deshalb sehr unterschiedlich eingeschätzt werden. Einigen „scheinen sie gar nichts wert zu sein, anderen über alles zu schätzen"; bald werden sie als Staatsmänner, bald als Sophisten angesehen, und bald hält man sie für völlig verrückt. Sokrates will wissen, ob diese drei Wörter ein und dasselbe bezeichnen oder zwei verschiedene Sachen oder ob jedes dieser drei Wörter eine eigene, von den anderen verschiedene Gattung bezeichnet. Theodoros begrüßt den Vorschlag des Sokrates; er und der Gast hätten, bevor sie hierher gegangen seien, über ein ähnliches Thema gesprochen (Soph.217b5-7). Der Gast unterscheidet: Man sei in Elea auf jeden Fall der Ansicht, dass jede der drei Bezeichnungen für eine eigene Sache stehe; aber was diese jeweilige Sache sei, das zu bestimmen sei keine kleine und leichte Aufgabe (Soph.216c2-217b4). Ihr erster Teil wird durch den Sophistes erfüllt; das Gespräch führt zu einem komplizierten Begriff, nach dem der Sophist ein näher bestimmter Nachahmer (µiµr]1:tx6c;;)ist (Soph.268c9-d4), und Sokrates bedankt sich für das Ergebnis. Wie soll das Gespräch weitergehen? Theodoros fordert den Gast auf zu entscheiden, ob zuerst über den Staatsmann oder den Philosophen gesprochen werden soll. Nach dem Sophisten „müssen wir", so behauptet der Gast, den Staatsmann suchen. Worauf beruht diese Notwendigkeit? Warum soll nicht zuerst über den Philosophen gesprochen werden? Der Gast könnte auf die Reihenfolge in der Bitte des Sokrates verweisen, die von Theodoros am Anfang des Politikos wiederholt wird: Er solle berich-

Politikos

83

ten, was sie in Elea über den „Sophisten, Staatsmann und Philosophen" (Soph.217a4) denken. Aber die Abfolge hat auch einen sachlichen Grund. Der Politikos unterscheidet zwischen der einen richtigen Verfassung und deren Nachahmungen (µtµ~µctta 297c2). Wer in diesen Scheingebilden ein Amt ausübt, ist kein Staatsmann; diese Männer sind die größten Nachahmer (µiµrymt) und sie „werden zu den größten Sophisten unter den Sophisten" (303c4f.). Der zeitliche Rahmen ist ein Zeichen für die enge sachliche Verknüpfung zwischen beiden Dialoge. Der wahre Staatsmann muss vom Nachahmungskünstler unterschieden werden; deshalb darf das Gespräch über den Politiker vom Gespräch über den Sophisten nicht durch das Gespräch über den Philosophen getrennt werden. Der Sophistes spricht wiederholt von dem Vorhaben, auch über den Philosophen zu sprechen (217a4; 253e7; 254b3), und Theodoros lässt keinen Zweifel an der Ausführung aufkommen. In der Forschung ist darüber gerätselt worden, weshalb ein Dialog dieses Namens weder überliefert noch erwähnt ist. Hat Platon seinen Plan auf gegeben? Ist mit der Beschreibung des wahren Staatsmanns auch die Frage nach dem Philosophen beantwortet? Im Sophistes finden sich zwei Hinweise, denen jedoch kein zu großes Gewicht gegeben werden darf. Sokrates nennt in seiner Frage an den Gast drei Möglichkeiten, wie Name und Sache sich verhalten können. Die drei Namen können eine einzige Sache bezeichnen, sie können für zwei Sachen stehen, und schließlich kann jedem der drei Namen eine eigene Sache entsprechen (Soph.217a7-9). Die zweite Möglichkeit könnte so verstanden werden, dass die Namen Staatsmann und Philosoph für dieselbe Sache stehen, wir also drei Namen, aber nur zwei Sachen haben. Der Gast hat zwar vor, die Bitte des Sokrates vollständig zu erfüllen, aber das ist nur ein bedingter Vorsatz: Den Philosophen werden wir bald genauer betrachten, ,,wenn wir noch Lust haben" (Soph.254b4). Die Anzahl der Personen spricht eher dafür, dass kein dritter Dialog geplant war. Gesprächspartner des Gastes sind die beiden jungen Studenten Theaitetos und Sokrates; beide, aber auch nur sie, sind von Anfang an anwesend. Ein dritter junger Gesprächspartner für den Gast ist also nicht vorgesehen, und einen der beiden zu einem zweiten Gespräch mit dem Eleaten zu bitten, würde die Ausgewogenheit der Komposition stören. Philosophie ist eine Tätigkeit; was der Philosoph ist, zeigt die Untersuchung des Sophistes und des Politikos; das Gespräch hat die Aufgabe, den Jüngeren Sokrates und den Fremden „dialektischer" (285d7) zu machen. Der Wissende ist wie Sokrates Philosoph und Staatsmann (Gorg.521 d), ob er nun Herrschaft ausübt oder nicht (259b); nur er kann einen berechtigten Anspruch auf die Herrschaft im Staat erheben (Resp.473de). Die Antwort auf die am Anfang des Sophistes (217a) gestellte Frage, ob Sophist, Staatsmann und Philosoph eine, zwei oder drei

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Kommentar

Gattungen seien, muss also lauten: Sie sind zwei2. Zwar antwortet der Fremde auf die entsprechende Frage des Sokrates, die Bürger von Elea meinten, es seien drei (Soph.217b)3, aber er lässt deutlich werden, dass das eben nicht mehr ist als eine gängige Meinung, weil das Wesen des Sophisten, Staatsmanns und Philosophen nicht geklärt sei. Wenn der Gast auch den Begriff des Staatsmanns und den des Philosophen wird geklärt haben, wird Sokrates ihm, so meint Theodoros, dreifachen Dank schulden, und Sokrates wirft dem berühmten Mathematiker einen Fehler in seiner eigenen Kunst vor. Der dreifache Dank bedeute, dass er dem Sophisten, dem Staatsmann und dem Philosophen denselben Wert gebe, wo doch der Unterschied des Wertes so groß sei, dass er sich nicht einmal durch eine Analogie ausdrücken lasse. Wir könnten etwa den Wert des Sophisten in der Weise bestimmten, dass wir die Proportion aufstellen , Philosoph: Staatsmann = Staatsmann: Sophist'. Dem Sophist käme der geringste Wert zu, aber wenn wir den Wert des Philosophen und des Staatsmanns kennen, können wir den des Sophisten ermitteln. Das ist jedoch, so meint Sokrates, nicht möglich; der Abstand des Wertes dieser drei ist größer, als dass sich eine Analogie aufstellen ließe. Theodoros lobt Sokrates dafür, dass er sich an die Bedeutung der Analogie in der Arithmetik und der Geometrie erinnert. Die Mühe und der Aufwand, den Begriff des Sophisten zu bestimmen, waren nicht geringer als beim Staatsmann (vgl. 286b6-c4); von daher verdient beides denselben Dank. Aber das bedeutet nicht, dass die Sache, auf welche die Mühe verwendet wurde, jeweils denselben Wert hat. Sokrates' Kritik weist auf eine Grenze der Methode des Sophistes und des Politikos hin: Sie kann einen Begriff

2

Klein 1977, 200. Ähnlich urteilen Taylor 1961, 251 ; Dorter 1994, 235 f.; Effe 1996, 200 f.; McCabe 1997, 97 f.; Delcomminette 2000, 336; Miller 2004, 10. Anders Friedländer 1960, 261: ,,Dem Platon glauben, dass er je das für später[ ... ) verheißene Gespräch über den Philosophen habe schreiben wollen, hieße seine Ironie verkennen [... Dieser Dialog) müsste von dem handeln, worüber Platon nach dem Geständnis des Vll.ten Briefes niemals zu schreiben vermochte." Kranz 1986, 90: ,,Wenn man inhaltliche Anhaltspunkte sucht, wie die Fortsetzung des ,Sophistes' und ,Politikos' zu denken wäre, ist es einzig angemessen, auf die indirekte Überlieferung und somit auf ,nEPI TOY AfA00Y' zurückzugreifen, womit gleichzeitig die Erklärung dafür erbracht werden kann, warum der ,Philosophos' nie geschrieben worden ist, obwohl er von Platon hätte geschrieben werden können." Auch Szlezak sieht in der nicht eingelösten Ankündigung einen Hinweis auf die Ungeschriebenen Lehren: ,,Das Versprechen dieses Dialogs wird über die zwei vorbereitenden Dialoge konsistent aufrechterhalten. Die Ausführung unterbleibt in konsistenter Anwendung der Prinzipien der Schriftkritik: über die höchsten Gegenstände der Philosophie reden hieße letztlich 1teQti:uyaOoü reden" (2004, 192). Dieselbe These vertritt Migliori 1996,344; 369-371. von Kutschern 2002, 35: Platon hat „das Projekt des Philosophen" für den Timaios aufgegeben. 3 Zu diesem Einwand siehe Griswold 1989, 163 Anm.13; Lane 1998, 7 Anm.19.

Politikos

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bestimmen, aber sie kann keine Aussage über den Wert der durch ihn bezeichneten Sache machen (266d4-10; vgl. Soph.227a7-b7). Durch die Datierung der Gespräche ist die Frage nach dem Sophisten, dem Staatsmann und dem Philosophen mit der Gestalt und dem Prozess des Sokrates verbunden. Der Politikos spielt auf die Anklage gegen Sokrates an, er beschäftige sich mit den Erscheinungen am Himmel, er sei ein Schwätzer und ein „Sophist" und er verderbe die Jugend (299b7-9). Damit ist eine Beziehung zur Apologie hergestellt. Die öffentliche Meinung sieht in Sokrates seit vielen Jahren „einen weisen Mann, der über die Erscheinungen am Himmel nachdenkt, alle Dinge unter der Erde erforscht hat und die schwächere Rede stärker macht" (Apol.18b7f-cl). Die Anklage vor Gericht wirft ihm vor, er verderbe die Jugend (Apol.24b). Sokrates selbst sieht seine Lebensaufgabe in einer anders verstandenen Philosophie. Der Gott habe ihm auf getragen, er „müsse philosophierend leben und sich selbst und die anderen prüfen" (Apol.28e5 f.). Weil diese Lebensprüfung nach der richtigen Wertordnung fragt (Apol.29d-30a), ist sie ein Dienst am Staat; Sokrates will die Athener überzeugen, dass die Tugend für den einzelnen und für den Staat Ursache aller Güter ist (Apol.30b). Aber Sokrates kann seine politische Aufgabe nur erfüllen, wenn er sich nicht politisch betätigt; der wahre Staatsmann kann nur überleben und wirken, wenn er privat und nicht in der Öffentlichkeit wirkt. ,,Denn kein Mensch kann mit dem Leben davonkommen, der euch oder einer anderen Volksmenge echten Widerstand leistet und viel Ungerechtigkeit und Gesetzwidrigkeit im Staat verhindern will. Wer wirklich für die Gerechtigkeit kämpft, der muss, wenn er auch nur eine kurze Zeit überleben will, ein privates Leben und nicht eines in der Öffentlichkeit führen" (Apol.3 le2-32a3). Es ist die Gestalt des Sokrates, so zeigt die Apologie, welche fragen lässt, ob die drei Wörter Sophist, Staatsmann, Philosoph ein und dieselbe oder zwei oder drei verschiedene Sachen bezeichnen, und sie weist auf eine Mehrdeutigkeit des Wortes Staatsmann hin. Theaitetos und der Jüngere Sokrates hätten, so stellt Sokrates fest, eine gewisse Verwandtschaft mit ihm und man müsse sich bemühen, die Verwandten im Gespräch wiederzuerkennen. Theaitetos teilt mit Sokrates die Gesichtszüge - er hat eine breite, platte Nase und heraustretende Augen, nur sind diese Merkmale nicht so ausgeprägt wie bei Sokrates (Theait. 143e8-144al) -, der Jüngere Sokrates den Namen. Aber ein ähnliches Gesicht oder derselbe Name gewährleisten noch keine Verwandtschaft; so nennen z.B. die Griechen alle anderen Völker Barbaren, obwohl sie nichts miteinander zu tun haben und gegenseitig ihre Sprache nicht verstehen (262d3-5). Sokrates muss also prüfen, ob den äußeren Zeichen eine Wesensverwandtschaft entspricht. Um diesen Vorgang zu beschreiben,

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Kommentar

bedient Platon sich des Wortes „wiedererkennen" (avayvcoeisetv 258a2), das seine Leser an einen Bestanteil der Tragödie erinnert: die Anagnorisis, d. h. die Szene, in der Personen zu ihrem Glück oder Unglück einander wiedererkennen, wie etwa die Geschwister Orestes und Elektra in Aischylos' Choephoren 4 • Die Verwandtschaft mit Sokrates wird nicht durch ein äußeres Zeichen, etwa eine Fußspur, ein Kleidungsstück oder eine Locke, sondern durch das Gespräch erkannt. Mit Theaitetos hat Sokrates gestern ein solches Gespräch geführt. Theodoros hatte ihn Sokrates gegenüber gelobt wie noch keinen zuvor; deshalb will Sokrates sich Mühe geben, ihn genau zu betrachten, und Theaitetos soll bereitwillig sich selbst zeigen (Theait.145bl-9). Das Gespräch über den Begriff des Wissens dient dazu, Theaitetos zu prüfen und ihn zu erziehen; er wird in Zukunft nicht zu wissen glauben, was er nicht weiß und dadurch seinen eigenen Gedanken gegenüber kritischer und seinen Gesprächspartnern gegenüber verständnisvoller sein (Theait.210bl l-c4). Für die Beurteilung der literarischen Form des Politikos ist entscheidend, dass Sokrates das Gespräch, das seine Verwandtschaft mit dem Jüngeren Sokrates prüfen soll, auf später verschiebt. Die enge Verbindung des Politikos mit dem Theaitetos durch die Personen und den zeitlichen Rahmen lässt den Unterschied der Form umso deutlicher hervortreten. 5 Der Politikos ist keine Sokratische Anagnorisis. Wie Theaitetos (Theait.145b7), so soll auch der Jüngere Sokrates (258a5) betrachtet werden, aber es ist nicht Sokrates, der seine Verwandtschaft mit dem jungen Mann seines Namens prüft; er wird, wie im Gespräch über den Sophisten, lediglich zuhören. Wenn der Gast aus Elea mit dem Jüngeren Sokrates jetzt über den Staatsmann spricht, dann geht es ihm nicht darum, ob dem gemeinsamen Namen gemeinsame Charakterzüge und Begabungen entsprechen; vielmehr will er Sokrates und Theodoros, der ihn auffordert, das Gespräch fortzusetzen, den erbetenen Gefallen tun (xae1s6µ1,vo~ 257b9; vgl. xaetv Soph.217c2 xaeisw0m Soph.217e5) und nun auch den Begriff des Staatsmanns genau bestimmen (vgl. Soph.217b2-4). Der Gast konnte die Darstellungsform wählen, die er gewohnt ist. Es ist nicht nur Sokrates, der sich der Gesprächsform bedient; der philoso-

4 Im Theaitetos (193c3f-5) spricht Platon von einer „Wiedererkennung" (avayvroQtatc;) durch die Fußspuren. Erler (1992, 160) verweist auf Aischylos, Choeph.195-200; 225-232, wo es zu einer Wiedererinnerung kommt, ,,bei der eine Locke, ein Gewand und eben Fußstapfen eine wichtige Rolle spielen". Zur Anagnorisis als Teil des Mythos der Tragödie siehe Aristoteles, Poetik 11, 452a29-b14. 5 Der Unterschied wird auch dadurch hervorgehoben, dass die Aufzeichnungen des Eukleides trotz des gemeinsamen, engen zeitlichen Rahmens der drei Dialoge nur das Gespräch des Sokrates mit Theaitetos umfassen (Theait.142c5-143a5). Vgl. Lane 1998, 7.

Politikos

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phische Dialog in Frage und Antwort ist vielmehr auch in Elea daheim; Sokrates erinnert im Sophistes daran, dass Parmenides bei seinem Besuch in Athen vor vielen Jahren seine Gedanken in dieser Form dargelegt hat. Wenn der Gast statt des zusammenhängenden Vortrags das Gespräch wählt, so nennt er dafür nur den einen Grund, dass die schwierige Sache sich so leichter darstellen lasse; vorausgesetzt sei jedoch, dass sich ein gefügiger Gesprächspartner finde; wenn nicht, werde er die Sache allein vortragen (Soph.217cl-d3). Der Gast führt das Gespräch, und er erwartet von dem Jüngeren Sokrates, der jetzt die Stelle des Theaitetos, der sich ausruhen darf, einnehmen soll, dass er sich willig führen lässt (Soph.217dl), und dieser erklärt sich bereit, dem Gast zu antworten (258b5-10). Zwischen der Dialogform und der zu entfaltenden Sache besteht also kein innerer Zusammenhang; es sind kontingente Gründe, welche den Gast statt des zusammenhängenden Vortrags das Gespräch mit dem Jüngeren Sokrates wählen lassen. Platon hat einen Dialog und nicht eine Abhandlung geschrieben, weil diese Form ihm die größere Freiheit gibt; sie erlaubt es ihm, zwischen verschiedenen Gattungen - dem Gespräch in Frage und Antwort, der Erzählung, der belehrenden Darlegung zu wechseln und unterschiedliches Material aufzunehmen. 6 Der Gast aus Elea wird am Anfang des Sophistes als begabter Philosoph aus dem Kreis um Parmenides und Zenon vorgestellt. Zenons Namen ist verbunden mit den berühmten Paradoxien, die jede Form der Vielheit und die Phänomene des Raumes und der Bewegung bestreiten (DK 29B2). Sokrates' erste Reaktion ist eine Mischung aus Misstrauen und ironischer Bewunderung; vielleicht sei der Fremde ein höheres Wesen, das Theodoros begleitet, ,,um uns, die schwach sind im Argumentieren, auf die Finger zu sehen und zu widerlegen, ein Gott der Widerlegungskunst". Theodoros verteidigt seinen Gast; für einen, der es nur auf den Streit abgesehen hat, sei er zu vernünftig, gebildet und ausgeglichen (Soph.216al-b8). Die vornehme, zurückhaltende Art des Gastes kommt in der Weise zum Ausdruck, wie er auf die Bitte des Sokrates reagiert, über den Sophisten, Staatsmann und Philosophen zu sprechen. Er ist zum ersten Mal in diesem Kreis und möchte deshalb nicht in einer langen Ausführung sich selbst darstellen, aber dem Wunsch des Sokrates nicht zu entsprechen, wäre unhöflich und ein Verstoß gegen die Gastfreundschaft (Soph.217d8-218al). Der Gast ist ein selbständiger Denker. Er kritisiert das grundlegende philosophische Dogma der Schule von Elea, den Satz des Parmenides, dass das Seiende nicht nicht sein und das Nichtsei-

6 Vgl. Annas/Waterfield 1995, xxiv; Rowe 1996, 156f. Gegen diesen ,,,standard view'" vertritt Miller die „counterthesis": ,,the Statesman is essentially a dialogue" (2004, xxvi).

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ende nicht sein kann. Er will zeigen, dass das Seiende unter einer bestimmten Rücksicht nicht sein und das Nichtseiende unter einer bestimmten Rücksicht sein kann. Der Ausgangspunkt seiner Kritikzeigt sein gesundes Urteil und seinen Blick für die Phänomene. Dass der Satz des Parmenides dieser Differenzierung bedürfe, sehe ein Blinder, denn andernfalls gäbe es keine falsche Aussage und keine falsche Meinung, und es gäbe nicht die Künste, die Bilder, Nachbildungen und Phantasiegebilde schaffen (Soph.241dl-e7). 7 Der Jüngere Sokrates und der am Gespräch nicht mehr beteiligte, aber anwesende Theaitetos stehen für den Diskussionszusammenhang, in dem der Politikos entstanden und von dem her er zu interpretieren ist: beide sind Mitglieder der Schule, die Platon nach seiner Rückkehr von der ersten sizilischen Reise (ca.390) gegründet hatte, der Akademie. Theaitetos wurde 415/13 in Athen geboren; er studierte bei Theodoros in Kyrene, lehrte später in Herakleia am Schwarzen Meer und gehörte zuletzt der Akademie an. Er starb 369 (vgl. Theait.142a6-c3), und Platon widmete ihm den Dialog, der seinen Namen trägt. In die Geschichte der Mathematik ist Theaitet vor allem durch zwei Leistungen eingegangen: Er hat nachgewiesen, dass alle Quadratwurzeln aus nicht quadratischen Zahlen irrational sind, und er ist durch seine Theorie der fünf regelmäßigen Polyeder zum Begründer der Stereometrie geworden. 8 Der Jüngere Sokrates wird als gleichaltriger Mitschüler (257c9; Soph.218b3 f.) des Theaitetos vorgestellt; er hat sich wie Theaitetos mit dem Problem der inkommensurablen Quadratwurzeln befasst (Theait. 147c7-148b3). Aristoteles berichtet von ihm: ,,Und die Vergleichung, welche der Jüngere Sokrates beim Tier anzuwenden pflegte, ist nicht richtig; denn sie führt von der Wahrheit ab und lässt uns als möglich annehmen, dass es einen Menschen gebe ohne seine Teile, wie einen Kreis ohne Erz" (Metaph.VII 11, 1036b24-28 Übers. Bonitz). Die Stelle bezieht sich auf eine Diskussion in der Akademie. Es geht um die Frage, ob nur die Form oder auch der Stoff zum Wesen und zur Definition einer Sache gehört. Aristoteles unterscheidet zwei Fälle. (a) Ein Kreis kann in Erz oder in Stein verwirklicht werden; hier ist es offensichtlich, dass der Stoff, das Erz oder der Stein, nicht zum Wesen gehört. (b) Die Form des Menschen findet sich immer in Fleisch und Knochen. Die Tatsache, dass es sich immer um denselben Stoff handelt, kann zu der Annahme verleiten, der 7

Brumbaugh 1983 untersucht die Sprache des Fremden. ,,Thus I see the Stranger as carrying on the major project of a defense of Platonism in an ,ordinary' language" (273). 8 Fritz, K. v.: Theaitetos, in: Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaften. Neue Bearbeitung, begonnen von G. Wissowa, 2. Reihe, 5. Bd., Stuttgart 1934, 1350-1372; Krämer 2004, IOOf.

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Stoff gehöre zum Wesen, obwohl das (nach der Auffassung des Jüngeren Sokrates) nicht der Fall ist. Wie steht es nun, und das ist der Streitpunkt, bei geometrischen Gebilden, z.B. Linie, Kreis, Dreieck? Eine Richtung in der Akademie, zu welcher der Jüngere Sokrates zählt, behauptet: Hier liegt dasselbe Verhältnis vor wie beim Menschen; der Stoff (das Kontinuum, 1036b9) gehört nicht zum Wesen. Geometrische Gebilde lassen sich ausschließlich durch Zahlen definieren; so ist z.B. der Begriff der Linie der der Zwei (1036b12f.). Aber wie beim Menschen werden wir dadurch, dass die Form sich immer in demselben Stoff findet, zu der falschen Annahme verführt, der Stoff gehöre zum Wesen. Gegen den Jüngeren Sokrates behauptet Aristoteles: Die Annahme, wie das Wesen des Kreises unabhängig ist vom Erz, ebenso sei das Wesen des Menschen unabhängig von seinen stofflichen Teilen, ist falsch. Der Mensch ist ein wahrnehmbares Wesen; er kann nicht ohne Bewegung und folglich nicht ohne seine stofflichen Teile definiert werden. Der Jüngere Sokrates gehörte also zu einer Gruppe in der Akademie, der Aristoteles vorwirft, sie reduzierten die Philosophie auf Mathematik. 9 Der in seiner Echtheit umstrittene Elfte Brie/ 10 (um 360) ist adressiert an einen gewissen Laodamas, der eine Kolonie gegründet hat und Platon darum bittet, er oder der Jüngere Sokrates möge kommen, um Gesetze zu verfassen. Platon antwortet, der Jüngere Sokrates leide an Harnzwang und er selbst könne wegen seines Alters und der Gefahren nicht reisen. Aber auch wenn er reisen könnte, sähe er sich nicht imstande, die Bitte des Laodamas zu erfüllen, denn wenn dieser und seine Kolonisten meinten, ,,dass ein Staat jemals durch den Erlass irgendwelcher Gesetze gut eingerichtet werde, ohne dass eine Gewalt vorhanden ist, die sich im Staat um die tägliche Lebensweise kümmert [... ], so denken sie nicht richtig" (Ep.XI 359a2- 7). Die Stelle erinnert an die Behauptung des Politikos, die Herrschaft des einsichtigen Mannes sei der Herrschaft der Gesetze vorzuziehen (293c5-296a4). Welchen Wert der Elfte Brief als biographisches Zeugnis für den Jüngeren Sokrates hat, ist schwer zu entscheiden. Man könnte argumentieren, eine Fälschung setze voraus, dass der Jüngere Sokrates eine bekannte Persönlichkeit der Akademie war und dass deren Mitglieder als politische Berater gefragt waren. Dem ließe sich entgegnen, die einzige Grundlage der Fälschung sei der Politikos. Der Politikos wurde vermutlich nicht vor 365 geschrieben. Durch die 9

Vgl. Kapp 1924; Taylor 1961, 190f.; Krämer 2004, 99f. „Gegen die Echtheit werden die Verwendung der dorischen Namensform, die Abwesenheit einer Anspielung auf Mathematik und der eher abweisende Ton Platons angeführt. Doch ist keines dieser eher subjektiven Bedenken ausschlaggebend. Die Frage ist nach wie vor unentschieden" (Erler 2007, 312). 10

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beiden Mitschüler Theaitetos und Sokrates verweist Platon ausdrücklich auf den Hintergrund der Akademie. Seit 367 war Aristoteles deren Mitglied. Daraus ergeben sich Folgerungen für die Methode der Interpretation. Wir dürfen von der Selbstverständlichkeit ausgehen, dass Aristoteles durch die Diskussionen in der Akademie entscheidende Anregungen erhalten hat 11, und wir dürfen ebenso annehmen, dass diese Diskussionen ihren Niederschlag in den späten Dialogen Platons gefunden haben 12 • Der historische Hintergrund rechtfertigt es deshalb, in aller gebotenen Vorsicht Aristoteles zur Interpretation des Politikos heranzuziehen. 13 Früh zu datierende Texte können Licht auf die Diskussionen in der Akademie werfen, und unabhängig von der Datierung darf der Interpret fragen, ob Gedanken und Argumente, die bei Aristoteles voll entfaltet sind, oder auch die Kritik des Aristoteles, helfen können, die entsprechenden Andeutungen bei Platon oder dessen kritisierte Thesen besser zu verstehen.

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Taylor 1961, 248 f. gibt einen kurzen Überblick über die Stellen der Politik, wo Aristoteles sich auf den Politikos bezieht. 12 Schofield 1999, 228: ,,Plato had in the Academy younger colleagues. lt seems likely enough that a work such as the Stat. reflects the stimulation he found in their ideas." 13 Das bedeutet nicht, der These von Roggerone (1983, 52-54) zuzustimmen, die Figur des Fremden aus Elea sei mit Aristoteles zu identifizieren oder vom jungen Aristoteles inspiriert.

258b-268d II. Die Definition der Staatskunst als Wissenschaft von der Gemeinschaftszucht der Menschen

Der Staatsmann - so das Ergebnis dieses Abschnitts wird definiert als Hirt der menschlichen Herde, und die menschliche Gattung wird mit der Gattung der Schweine gleichgesetzt (266c4-d3). Wir fragen ärgerlich, was das Ganze soll, das zu einem solchen Ergebnis führt. Die Untersuchung, so antwortet der Fremde, verfolgt nicht nur ein inhaltliches, sondern auch das formale Ziel, dass wir „für alles dialektischer werden" (285d6 f.); sie soll uns „fähiger machen, die Aufklärung des Seienden durch den Begriff zu finden" (287a3 f.). Die Person des Jüngeren Sokrates sagt, dass wir uns in die Akademie versetzen sollen. Wenn er und Theaitetos als zwei junge Männer bezeichnet werden, die „miteinander üben" (ouvyuµvao't~~ 257c9; Soph.218b4), so werden wir an den Tadel des alten Parmenides erinnert, der junge Sokrates habe versucht zu bestimmen, was das Schöne, das Gerechte und das Gute sei, bevor er „geübt" habe (Parm.135c8). Theaitetos wurde von dem in der Dialektik versierten Eleaten anhand der Frage nach dem Sophisten trainiert; Gegenstand der Übung für den Jüngeren Sokrates ist der Staatsmann. Der Komödiendichter Epikrates 14 (Anfang 4. Jh.v.Chr.) verspottet den Unterricht in der Akademie. Was treiben, so fragt der eine der Sprecher, Platon, Speusipp und Menedemos? Sein Gesprächspartner behauptet, er habe den Schulbetrieb dort selbst erlebt und könne deshalb eine klare Antwort geben. ,,Um Definitionen über die Natur aufzustellen, trennten sie die Lebensweise der Tiere, die Natur der Bäume und die Gattungen des Gemüses. Und dann untersuchten sie unter diesem den Kürbis, zu welcher Gattung er gehört." Im Dreizehnten Brief schreibt Platon an Dionysios, er schicke ihm etwas „von den Dihairesen" (360b8).15 Das Ver14

Athenaeus II 59 DIE: Poetae Comici Graeci (PCG), ed. Kassel/ Austin, Bd. 5, Berlin 1986, Frg. 10 (S.161-163); Frg.11 Kock; Gaiser [1963], Testimonia Platonica 6. 15 Zur Diskussion über die Echtheit vgl. TheslefT 1982, 234f. und Erler 2007, 321 f.; beide

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zeichnis der Schriften des Speusipp bei Diogenes Laertius (IV 5) bringt den Titel „Dihairesen und Hypothesen über Ähnlichkeiten". Aristoteles zitiert wiederholt aus akademischen Sammlungen von Dihairesen 16 ; vielleicht greifen der Sophistes und der Politikos bereits auf solche Schriften in der Akademie zurück. 17 Das Gespräch des Fremden mit dem Jüngeren Sokrates gibt jedenfalls einen Einblick in diese philosophische Tätigkeit. In der Literatur über die Begriffsteilungen des Politikos 18 werden vor allem folgende nicht adäquat voneinander unterschiedenen Fragen diskutiert: Wie verhalten sich die Dihairesen zur Ideenlehre der Dialoge der mittleren Periode? Was wird geteilt: eine extensionale oder eine intensionale Entität? 19 Wenn es sich um eine extensionale Entität (eine Klasse) handelt, ergeben sich wiederum zwei Möglichkeiten: Es kann sich um eine Klasse von Ideen, d. h. die Extension eines Prädikats zweiter Ordnung, oder um eine Klasse von Einzeldingen, d. h. die Extension eines Prädikats erster Ordnung, handeln. 20 Wie ist Platons Unterscheidung zwischen „Teil" (µBQO~)und „Art" (stöo~) zu verstehen? Was bedeutet die Teilung durch die Mitte?

258b-262a 1. Einteilung der Wissenschaften Der Staatsmann zählt zu den Wissenden; wir müssen deshalb nach der für ihn charakteristischen Form des Wissens fragen. Es ist zu unterscheiden zwischen dem praktischen und dem bloß erkennenden Wissen. Das Wissen des Staatsmanns fällt unter das erkennende Wissen. Die erkennenden Künste gliedern sich in die urteilenden und die befehlenden. Die befehlende Kunst ist zu unterteilen in die Kunst dessen, der den Befehl sprechen sich gegen die Echtheit aus. Thesleffhält es nicht für wahrscheinlich, dass die Stelle 360b8 sich auf den Sophistes und den Politikos bezieht. ,,But because this letter belongs to those which are weil informed about Plato and his circle [... ], the passage points to the existence in the mid-360s of some kind of dihaeretic tables which were in esoteric use at the Academy" (ebd.195). 16 Vgl. Bonitz, Index 180b52-57. 17 Krämer 2004, 18.-Zur Kritik des Aristoteles vgl. Cherniss 1962, chap.l: Dihairesis, Definition, and Demonstration. 18 Moravcsik 1973; 1973a; Cohen 1973; Wedin 1987; Sayre 2006, Kap.11 und 12. 19 Die Intension ist der Inhalt eines Begriffs, d. h. die durch ihn bezeichnete Eigenschaft; die Extension ist der Umfang eines Begriffs, d. h. die Klasse der diese Eigenschaft aufweisenden Gegenstände. 2 Cohen 1973, 181f.

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selbst erlässt (König), und die Kunst dessen, der den Befehl, den ein anderer erlassen hat, lediglich weitergibt (Herold). Die selbstbefehlende Kunst erlässt Befehle, um etwas hervorzubringen; das kann ein Lebewesen oder ein lebloser Gegenstand sein. Die Lebewesen können entweder als einzelne oder in Herden großgezogen werden. Die Begriffsbestimmung geht davon aus, dass der Staatsmann ebenso wie der Sophist ein Wissender ist. Das ist eine Voraussetzung, die weder im Sophistes noch im Politikos begründet wird. Der Sophistes fragt, ob der Sophist einer sei, der eine „Kunst" (i:exvr])habe (Soph. 221c10; d5; vgl. 219a5); in unserer Stelle verwendet Platon das Wort „Wissender" (bnoi:11µrov258b4). Der Politikos gebraucht i:exvTJund emoi:11µTJ in derselben Bedeutung; in der Apologie (22d2) bezeichnet enfoi:ao0m das Können der Handwerker; erst Aristoteles unterscheidet zwischen emoi:11µTJ als dem deduktiven theoretischen und i:exvTJals dem herstellenden Wissen (Nikom. Ethik VI 3 f.). Auch die Sophistik ist, was zunächst verwundern mag, ein Wissen: Sie ist eine Kunst der Täuschung (Soph.221d5; 264d6). Wie im Sophistes sollen die Wissenschaften eingeteilt werden, aber die Einteilungsrücksicht soll eine andere sein. Der Sophistes ging davon aus, dass eine Kunst ein Gut verschafft, und die erste Zweiteilung unterschied zwischen dem Hervorbringen und dem Erwerb eines Gutes (Soph.219a8-c8). Aber wie finden wir den Weg, den wir einschlagen müssen, um zum Begriff der staatsmännischen Kunst zu gelangen? Wir brauchen eine Rücksicht, unter der wir das Wissen betrachten; diese Rücksicht muss uns eine Zweiteilung von der Art erlauben, dass sich in einer der beiden Teile die Kunst des Staatsmanns findet; dieser Teil ist dann der Weg, der zum Begriff des Staatsmanns führt. Jeden dieser beiden Wege oder Arten (EtoTJ 258c7) müssen wir durch ein charakteristisches Merkmal (iofo 258c5) kennzeichnen. Die Frage nach der Rücksicht der Einteilung wird nicht klar beantwortet; vielmehr wird hier nicht hinreichend zwischen zwei Gesichtspunkten unterschieden: (a) Was liefert eine Kunst (258d5 f.; elf.)? Diese Rücksicht ergibt sich aus dem Begriff der Kunst. Kunst ist Wissen; wer eine Kunst beherrscht, hat ein Wissen; wer etwas weiß, hat etwas erkannt. Sie ist ein Vermögen (Soph.219a6), etwas hervorzubringen. Das Wissen kann sich in der Weise betätigen, dass es, wie in der Arithmetik, wiederum nur Erkenntnis hervorbringt, oder es kann nicht nur Erkenntnis liefern. (b) Wie wird eine Kunst ausgeübt? Die Zweiteilung unter dieser Rücksicht lautet: mit den Händen oder ohne die Hände. Beide Rücksichten überschneiden sich insofern, als eine Kunst, die mit den Händen ausgeübt wird, notwendig eine Kunst ist, die nicht nur Erkenntnis hervorbringt. Aber nicht jede Kunst, die nicht mit den Händen ausgeübt wird, ist eine Kunst, die nur Erkenntnis hervorbringt. Der Text

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unterscheidet jedoch nicht zwischen beiden Rücksichten; er setzt die Kunst, die nicht nur Erkenntnis hervorbringt, mit der Kunst gleich, die mit den Händen ausgeübt wird. Diese Form des Wissens bildet eine wesensmäßige Einheit mit „Handlungen" (nQ\; E1Ö1] EtÖO\;

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