Pariser Vorlesungen über die slavische Literatur und ihre Kontexte [1. ed.] 9783506790996, 9783657790999

117 20 7MB

German Pages 1616 [1603] Year 2023

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Pariser Vorlesungen über die slavische Literatur und ihre Kontexte [1. ed.]
 9783506790996, 9783657790999

Table of contents :
Frontmatter
Cover
Pariser Vorlesungen über dies lavische Literatur und ihre Kontexte
Imprint
Inhalt
Vorrede des Verfassers zur deutschen Ausgabe
Einige Worte des Übersetzers
Teil I (1840–1841)
1. Vorlesung (22. Dezember 1840)
2. Vorlesung (29. Dezember 1840)
3. Vorlesung (5. Januar 1841)
4. Vorlesung (8. Januar 1841)
5. Vorlesung (12. Januar 1841)
6. Vorlesung (15. Januar 1841)
7. Vorlesung (19. Januar 1841)
8. Vorlesung (22. Januar 1841)
9. Vorlesung (26. Januar 1841)
10. Vorlesung (29. Januar 1841)
11. Vorlesung (2. Februar 1841)
12. Vorlesung (5. Februar 1841)
13. Vorlesung (9. Februar 1841)
14. Vorlesung (12. Februar 1841)
15. Vorlesung (16. Februar 1841)
16. Vorlesung (19. Februar 1841)
17. Vorlesung (26. Februar 1841)
18. Vorlesung (2. März 1841)
19. Vorlesung (5. März 1841)
20. Vorlesung (9. März 1841)
21. Vorlesung (12. März 1841)
22. Vorlesung (19. März 1841)
23. Vorlesung (23. März 1841)
24. Vorlesung (26. März 1841)
25. Vorlesung (30. März 1841)
26. Vorlesung (4. Mai 1841)
27. Vorlesung (7. Mai 1841)
28. Vorlesung (11. Mai 1841)
29. Vorlesung (14. Mai 1841)
30. Vorlesung (18. Mai 1841)
31. Vorlesung (21. Mai 1841)
32. Vorlesung (25. Mai 1841)
33. Vorlesung (28. Mai 1841)
34. Vorlesung (1. Juni 1841)
35. Vorlesung (4. Juni 1841)
36. Vorlesung (11. Juni 1841)
37. Vorlesung (15. Juni 1841)
38. Vorlesung (18. Juni 1841)
39. Vorlesung (22. Juni 1841)
40. Vorlesung (25. Juni 1841)
41. Vorlesung (29. Juni 1841)
Teil II (1841–1842)
1. Vorlesung (14. Dezember 1841)
2. Vorlesung (21. Dezember 1841)
3. Vorlesung (28. Dezember 1841)
4. Vorlesung (4. Januar 1842)
5. Vorlesung. (7. Januar 1842)
6. Vorlesung (11. Januar 1842)
7. Vorlesung (18. Januar 1842)
8. Vorlesung (21. Januar 1842)
9. Vorlesung (25. Januar 1841)
10. Vorlesung (28. Januar 1842)
11. Vorlesung (1. Februar 1842)
12. Vorlesung (11. Februar 1842)
13. Vorlesung (15. Februar 1842)
14. Vorlesung (18. Februar 1842)
15. Vorlesung (22. Februar 1842)
16. Vorlesung (8. März 1842)
17. Vorlesung (15. März 1842)
18. Vorlesung (8. April 1842)
19. Vorlesung (12. April 1842)
20. Vorlesung (19. April 1842)
21. Vorlesung (26. April 1842)
22. Vorlesung (29. April 1842)
23. Vorlesung (6. Mai 1842)
24. Vorlesung (10. Mai 1842)
25. Vorlesung (17. Mai 1842)
26. Vorlesung (24. Mai 1842)
27. Vorlesung (31. Mai 1842)
28. Vorlesung (7. Juni 1842)
29. Vorlesung (14. Juni 1842)
30. Vorlesung (17. Juni 1842)
31. Vorlesung (21. Juni 1842)
32. Vorlesung (28. Juni 1842)
33. Vorlesung (1. Juli 1842)
Teil III (1842–1843)
1. Vorlesung (6. Dezember 1842)
2. Vorlesung (13. Dezember 1842)
3. Vorlesung (20. Dezember 1842)
4. Vorlesung (27. Dezember 1842)
5. Vorlesung (10. Januar 1843)
6. Vorlesung (13. Januar 1843)
7. Vorlesung (17. Januar 1843)
8. Vorlesung (24. Januar 1843)
9. Vorlesung (31. Januar 1843)
10. Vorlesung (7. Februar 1843)
11. Vorlesung (21. Februar 1843)
12. Vorlesung (3. März 1843)
13. Vorlesung (7. März 1843)
14. Vorlesung (14. März 1843)
15. Vorlesung (24. März 1843)
16. Vorlesung (4. April 1843)
17. Vorlesung (2. Mai 1843)
18. Vorlesung (9. Mai 1843)
19. Vorlesung (16. Mai 1843)
20. Vorlesung (23. Mai 1843)
21. Vorlesung (2. Juni 1843)
22. Vorlesung (6. Juni 1843)
23. Vorlesung (13. Juni 1843)
24. Vorlesung (20. Juni 1843)
25. Vorlesung (27. Juni 1843)
Teil IV (1843–1844)
1. Vorlesung (22. Dezember 1843)
2. Vorlesung (26. Dezember 1843)
3. Vorlesung (9. Januar 1844)
4. Vorlesung (9. Januar 1844)
5. Vorlesung (23. Januar 1844)
6. Vorlesung (30. Januar 1844)
7. Vorlesung (7. Februar 1844)
8. Vorlesung (5. März 1844)
9. Vorlesung (12. März 1844)
10. Vorlesung (19. März 1844)
11. Vorlesung (23. April 1844)
12. Vorlesung (30. April 1844)
13. Vorlesung (21. März 1844)
14. Vorlesung (28. Mai 1844)
Nachwort
Nachwort zur neuen Redaktion der PariserVorlesungen
1. Die neue Redaktion der deutschen Übersetzung
2. Der F.A. Brockhaus Verlag und Adam Mickiewicz
3. Die Biographien der Übersetzer
4. Darbietungsmodus der Vorlesungen (Improvisation vs. Vorlesung)und Fragen der Verschriftlichung
5. Zur Entstehung der ersten polnischen Übersetzung von FeliksWrotnowski und die Vorlagen der deutschen Übersetzung
Exkurs: Das Fehlen einer editionskritischen französischen Ausgabe der Vorlesungen und die zweite polnische Übersetzung von Leon Płoszewski
6. Gegenstand und Aufbau der Vorlesungen
7. Zur Rezeption der Pariser Vorlesungen
Internetquellen
Danksagung

Citation preview

Pariser Vorlesungen über die slavische Literatur und ihre Kontexte

Polen in Europa Veröffentlichungen des Zentrums für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften

Adam Mickiewicz

Pariser Vorlesungen über die slavische Literatur und ihre Kontexte Teil I (1840–1841) Teil II (1841–1842) Teil III (1842–1843) Teil IV (1843–1844) Nachwort Neue Redaktion der deutschen Übersetzung von Gustav Siegfried, herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Walter Kroll

Umschlagabbildungen: Adam Mickiewicz, daguerreotype, ca. 1842, gemeinfrei; Collège de France, französische Postkarte, Ende des 19. Jahrhunderts, gemeinfrei.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2023 Brill Schöningh, Wollmarktstraße 115, D-33098 Paderborn, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. www.schoeningh.de Einbandgestaltung: Nora Krull, Hamburg Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISBN 978-3-506-79099-6 (hardback) ISBN 978-3-657-79099-9 (e-book)

Inhalt Vorrede des Verfassers zur deutschen Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xxv Einige Worte des Übersetzers  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xxvii

Teil I (1840–1841) 1. Vorlesung (22. Dezember 1840) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Über Schwierigkeiten meiner Tätigkeit – Allgemeiner Abriß des Gegenstandes, Übersetzung und Form der Überlieferung – Anregungen zur Einrichtung des Lehrstuhls – Die slavischen Völker streben einen Platz in der Welt der Literatur an – Erscheinungsformen der Annäherung der Völker – Das christliche Dogma – Frankreich, die ältere Tochter der Kirche – Über Schwierigkeiten der Annäherung zwischen dem Westen und den Slaven – Die immense Fülle ihrer Literatur – Topographie, Regierungen, Dialekte – Was dürfte den Westen zum Kennenlernen des Nordens anspornen? – Tacitus – Einfluß der Russen. Rußland und Polen – Zur Bedeutung der Geschichte – Leerstellen in der Geschichte der Naturwissenschaften – Zalužanský, Vitellio, Kopernikus – Literatur – Das Sinnbild der künftigen Vereinigung der slavischen Völker.

2. Vorlesung (29. Dezember 1840) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Aufgabenziele der Professur – Peter der Große – Die Stämme im Norden – Die Invasion der Barbaren – Merkmale der Slavizität im VI. Jahrhundert – Entstehung slavischer Staatsgebilde – Polen, Tschechen, Mähren, Fürstentümer der Rus’ – Die Goten – Die Mongolen – Dschingis-Khan – Ursachen der mongolischen Invasionen – Das Bild des Tataren – Der Kampf der Rus’ mit den Mongolen und der Polen gegen die Türken.

3. Vorlesung (5. Januar 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Die Vervollständigung des Bildes vom Kampf der slavischen Völker mit den Mongolen und den Türken – Die alte Rus’ und die Merkmale ihrer Literatur; sie neigt sich dem Epos zu – Vergleich der Mongolen mit den Türken – Die Polen; ihr Vaterlandsbegriff und Merkmale ihrer Literatur; sie tendiert zur Lyrik – Die Ukraine – Die Kosaken und ihre Poesie – Malczewskis Versdichtung „Maria“.

4. Vorlesung (8. Januar 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Das Slaventum in Legende und Geschichte – Die Wirkung Roms auf die slavischen Stämme – Erst dem Christentum gelang die Umgestaltung des Slaventums – Die Wiege der slavischen Zivilisation; historische Anfänge; der erste slavische Dialekt, der zur Literatursprache erhoben wurde – Die Serben – Die Schlacht auf dem Amselfeld; ihr Einfluß auf die serbische

vi

Inhalt Poesie – Die Tschechen; ihre Fehler, ihre Literatur der Wiedergeburt – Die Affinität einiger slavischer Völker mit Völkern des Westen als aktive Kraft des Christentums – Polen und Frankreich, die Tschechen und die Deutschen, Rußland und England.

5. Vorlesung (12. Januar 1841)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 [Antwort auf einige Vorwürfe] – Die Unterscheidungsmerkmale der slavischen Literaturen – Die russische, die polnische und die tschechische Literatur – Der Stammcharakter der Slaven, ihre Physiognomie, Wohnsitze und deren Einteilung; Einfluß der Natur auf die slavische Literatur – Das gesellschaftliche und religiöse Dogma der Slaven, in dem jegliche Form der Offenbarung fehlt.

6. Vorlesung (15. Januar 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Die Armut und die Unzuverlässigkeit der Quellen zur slavischen Mythologie – Die Slaven besaßen keine Offenbarung, daher auch keine Philosophie – Die Kriegszüge der Barbaren waren religiös motiviert – Religionskult, Sitten und Gebräuche, slavische Siedlungen und ihre Geschichte – Überlieferungen antiker und neuzeitlicher Autoren über die Slaven – Ihr Geschlechtsname und die Spuren ihres Daseins in verschiedenen Ländern Europas.

7. Vorlesung (19. Januar 1841)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Zur Altertümlichkeit der slavischen Besiedlung in Europa – Der gesellschaftliche Status der Slaven in vor- und nachchristlicher Zeit – Nutzen und Vorteile der Erforschung slavischer Sprache für die Philologie – Volkssage und Fabel in Europa und bei den Slaven.

8. Vorlesung (22. Januar 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Bedeutung der slavischen Volkssagen – Verzweigung der slavischen Sprache in Dialekte – Die russische, die polnische und die tschechische Sprache – Die Franken – Der Stamm der Lechiten und der Tschechen – Das polnische und das tschechische Königreich – Die Normannen begründen das Großherzogtum Rus’ – Die Asen.

71

9. Vorlesung (26. Januar 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Das Staatsgebilde der Lechiten, der Tschechen und der Rus’ – Neue Tradition – Das Königshaus der Popiels und die Dynastie der Piasten – Die normannischen Großfürsten der Rus’ – Verwandtschaftsbeziehungen der Rus’, der Lechiten und der Tschechen mit den Normannen durch gemeinschaftliche Abstammung von den Asen; Unterschiede der Regierungsformen – Ihre Hauptstädte – Christianisierung der slavischen Völker – Spaltung der Kirche – Fragen der slavischen Einheit.

Inhalt

vii

10. Vorlesung (29. Januar 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Der Einfall der Ungarn – Gründung des Königreichs; Verhältnis zu den Slaven – Entstehung slavischer Dialekte – Das älteste literarische Denkmal der Tschechen aus dem IX. Jahrhundert: – „Libussas Gericht“ (Libušin soud), das auch Einblicke in Fragen der Gerichtsbarkeit im alten Slaventum gewährt.

11. Vorlesung (2. Februar 1841)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Die literarische Entdeckung von Václav Hanka: „Die Königinhofer Handschrift“ (Královédvorský Rukopis) – Das Heldengedicht „Záboj, Slavoj, Luděk“ und seine Bedeutung – Der Kampf zwischen dem Christentum und dem Heidentum wird noch heute in der Literatur geführt – Das Christentum bringt den Slaven die Familie, die Regierung, die Bildung; es bereitet auch die Einheit der Slaven vor.

12. Vorlesung (5. Februar 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Die übrigen Dichtungen in der „Königinhofer Handschrift“ – Das Poem über die Tochter Kublai-Khans – Der religiöse Dualismus der Slaven: die katholische und die orthodoxe Kirche – Die Chronikenschreiber: Nestor und Gallus.

13. Vorlesung (9. Februar 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Der dualistische Charakter im slavischen Schrifttum – Zwei christliche Kirchen im Slaventum – Polen im XI. Jahrhundert – Der heilige Wojciech (Adalbert von Prag) als Patron Polens; sein Märtyrertum sein polnisches Nationallied – Die polnischen König haben nicht immer seine Botschaft verstanden – Vergleich der Chronikenschreiber: Nestor, Gallus, Thietmar von Merseburg und Cosmas von Prag; literarische Merkmale dieser vier Chronisten – Ursprung der Dialekte – Slavische Dialekte als besondere Sprachen – Ursachen der Entstehung und des Untergangs von Sprachen.

14. Vorlesung (12. Februar 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Zur Geschichte der Westslaven zwischen Oder und Elbe; ihr Untergang – Otto von Bamberg und seine Mission in Pommern – „Das Lied von der Heerfahrt Igor’s“ (Slovo o polku Igoreve) – Bojan

15. Vorlesung (16. Februar 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Fortsetzung der Betrachtung über das „Lied von der Heerfahrt Igor’s“ – Poetische Qualitäten des Liedes – Der Glaube an das Übernatürliche im Volk – Vampire und Vampirismus bei den Slaven – „Div“ – Die Bulgaren; ihre Eroberungen in Serbien, Belagerung, Einnahme und Vernichtung von Konstantinopel – Die Serben und ihre Herrscher – Die Uroš-Dynastie – Das Haus Nemanja.

16. Vorlesung (19. Februar 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Abriß der serbischen Geschichte – Der serbische Zar Lazar – Die Unterwerfung der Serben durch die Türken – Giovanni Capistro versucht einen Kreuzzug gegen die Türken zu organisieren – Unterschiedliche Auffassung von Geschichte zwischen den byzantinischen Historikern und den serbischen

viii

Inhalt

Dichtern – Die serbische Mythologie – Das Lied von der „Vermählung des Zaren Lazar“ (Ženidba kneza Lazara), die Legende „Die Heiligen im Zorn“ (Sveci blago dijele) – Charakteristik der serbischen Dichtung und ihrer Rhapsoden – Parallelen zu Homer – Vuk Karadžićs Sammlung der serbischen Lieder und Erzählungen.

17. Vorlesung (26. Februar 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Die serbische Poesie – Die Legende von der „Erbauung Ravanicas“ (Zidanje Ravanice) – Beispiele aus anderen Liedern; Beschreibung der Schlacht auf dem Amselfeld – Zur Poetik der serbischen Lieder – Drei Epochen der serbischen Literatur: Heldenlieder, romaneske und romantische Dichtung – Königssohn Marko und König Arthur.

18. Vorlesung (2. März 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Historische Ursachen des Niedergangs der Serben – Slaven und Hellenen – Das byzantinische Reich: Stärke und Niedergang – Die Rolle der Slaven im türkischen Reich – Der Königssohn Marko in der serbischen Poesie – Das Gedicht „Die Vermählung des Maksim Crnojević“ (Ženidba Maksima Crnojevića) – Montenegro und die Montenegriner.

19. Vorlesung (5. März 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Die poetischen Vorstellungen der Serben vom griechischen Kaiserreich und den Ländern der Lateiner (235) – Das Gedicht „Die Vermählung des Maksim Crnojević“ (Ženidba Maksima Crnojevića).

20. Vorlesung (9. März 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 Die Familiengefühle bei den Slaven – Wahlbrüderschaft (pobratimstvo) – Die Präsenz des Christlichen und Muselmannischen – Abenteuer des Stojan Janković – Bajo Pivaljan oder die Herausforderung zum Zweikampf – Die Gedächtniskraft bei den Slaven – Das Edle des Stils ihrer Dichtung – Das Triviale wird in den Städten erzeugt – Phantastische Elemente (Gestalt der Vila) – Vampire (upiory).

21. Vorlesung (12. März 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Bruchstück aus dem Gedicht „Die Hochzeit des Königssohn Marko“ (Ženidba Kraljevića Marka) – Die Frauenlieder (Ženske pjesme) – „Gesang vom Tod der Gattin des Hasan-Aga“ (Hasanagica) – Fürst Miloš Obrenović – Vuks Sänger.

22. Vorlesung (19. März 1841)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 Übersetzungen der serbischen Lieder – Zum Erbrecht bei den Slaven – Die Städte der alten Rus’ – Kiev – Novgorod – Polen, die Rus’ und Tschechien im XII. Jahrhundert – Anfänge Preußens – Der Orden der Kreuzritter; Kämpfe, Macht und Niedergang – Die Litauer – Die Invasion der Tataren – Polen und die Tataren.

Inhalt

ix

23. Vorlesung (23. März 1841)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Zur literarischen, geistigen und politischen Situation der Slaven im Norden nach dem Ende des XII. Jahrhunderts – Gründung des Großfürstentums Moskau; Jurij Dolgorukij, Andrej Bogoljubskij, Mstislav Mstislavič Udatnyj – Niedergang der normannischen Rus’ – Die Finnen; ihre Poesie – Nächste Entwicklungsphase des Großfürstentums Moskau – Die Geschichtsschreiber der Rus’ nach Nestor – Polen im XIII. Jahrhundert – Herausbildung der polnischen Staatsidee – Merkmale der polnischen Geschichtsschreibung im XIII. Jahrhundert – Vladimir Monomach und Wincenty Kadłubek.

24. Vorlesung (26. März 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Charakteristika der polnischen Chroniken und der Chronisten der Rus’ im Vergleich – Wincenty Kadłubek – Gesetzgebende Texte – Polnische Gesetzgebung und die römische Tradition – Veto – Tschechien im XV. Jahrhundert; Feudalwesen und Deutschtum – Die Reimchronik des sog. Dalimil – John Wycliff – Kampf der Tschechen gegen das Deutschtum – Jan Hus – Jan Žižka – Ende des Hussitenkrieges – Aufstieg Moskaus und Litauens – Die Vereinigung Litauens mit Polen.

25. Vorlesung (30. März 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Das Jagellonische Zeitalter – Charakteristik des Großfürsten von Litauen Władysław Jagiełło nach der Besteigung des polnischen Throns – Auswirkungen der Vereinigung der Polen mit den Litauern – Der Krieg mit dem Kreuzritterorden, die Schlacht auf dem Tannenberg – Sieg der Jagellonen über die Türken – Niederlage bei Varna – Politik der Päpste – Das Schisma – Die Eroberung von Konstantinopel durch die Türken – Zusammenfassung der slavischen Geschichte bis auf die Jagellonische Zeit.

26. Vorlesung (4. Mai 1841)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Zum Status des Polnischen in den östlichen Staatsgebieten – Die Rolle der Dominikaner und der Franziskaner bei der Verbreitung des Polnischen – Der Orden der Basilianer – Das Lateinische – Der polnische Geschichtsschreiber Jan Długosz und sein Werk – Blick auf die politischen Verhältnisse zwischen Moskau und den Mongolen (Karamzin) – Commynes und Macchiavelli und ihr politischer Standpunkt.

27. Vorlesung (7. Mai 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Politik und Ethik in dem Geschichtswerk von Jan Długosz – Vergleich mit Philipps von Commynes, Macchiavelli und Livius – Niedergang des Kreuzritterordens – Angliederung Preußens an Polen – Polnische Politik auf der Krim und gegenüber der Türkei – Die Memoiren des polnischen Janitscharen.

x

Inhalt

28. Vorlesung (11. Mai 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 Die polnische Memoiren-Literatur: „Memoiren eines Janitscharen oder Türkische Chronik“ (Auszüge) – Tschechische Sekten – Buonaccorsi (Kallimachus) und sein Einfluß – Sigismund  I. (Zygmunt  I) und seine Siege – Säkularisierung des Ritterordens – Der „Hühnerkrieg“ (Wojna kokosza) – Stanisław Orzechowski (Annales).

29. Vorlesung (14. Mai 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 Anfänge des biographischen Schrifttums in Polen – Das literarische Leben in Tschechien – Zur Buchdruckerkunst – Die Krakauer Akademie – Gregor von Sanok (Grzegorz z Sanoka), Johann von Glogau (Jan z Głogowa), Kopernikus u.a. – Zur polnischen Gesetzgebung – Das russische Volksmärchen „Das Urteil des Schemjaka“ (Šemjakin sud) – Zur Politik der moskovistischen Großfürsten gegenüber der Goldenen Horde, Novgorod und Pskov – Unterjochung von Novgorod und Pskov – Drei politische Richtungen bei den Slaven.

30. Vorlesung (18. Mai 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Das Aufglänzen großer Männer in Polen und Tschechien zu Sigmunds I. Zeiten und das Verschwinden dieses geistigen Aufschwungs – Anfänge polnischer volkstümlicher Dichtung; geistliche Lieder – Die Herrschaft Ivans IV. (Ivan Groznyj) – Der Mönch Sil’vestr – Aleksej Fedorovič Adašev.

31. Vorlesung (21. Mai 1841)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 Sigismund II. August (Zygmunt II August) – Ivan IV. (Fortsetzung) – Ivans Grausamkeiten und Ausmerzungen (opaly) – Der Fürst Andrej Michajlovič Kurbskij; Briefwechsel mit Ivan IV. – Die Deutschen in der moskovitischen Rus’ – Die Ermahnungen des Metropoliten Philipp – Die Zerstörung Novgorods und weitere Grausamkeiten Ivans IV. – Zur polnischen Lachkultur: Die Republik von Babiń (Rzeczpospolita Babińska).

32. Vorlesung (25. Mai 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 Ausbleibende Reaktion der Polen und Tschechen auf den Terror Ivans IV – Erklärung der Ursache – In Polen wird die Begrenzung der Macht des Königs zur nationalen Idee der Epoche – Die Rolle der Reformation – Das Ansehen des Senats sinkt – Der Humanist Stanislau Hosius (Stanisław Hozjusz) und seine politischen Aktivitäten; Einführung des Jesuitenordens in Polen – Ivans des IV. weitere Gräueltaten; seine Angst und sein Vorhaben zur Flucht; Gesandtschaft nach England – Sigismund August warnt die Königin von England: er ahnt vor seinem Ende die Zukunft der Polen.

33. Vorlesung (28. Mai 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 Das Schrifttum in Polen – Mikołaj Rej – Er zeichnet das Bild des damaligen polnischen Adels – Der Vergleich Rejs mit Baldassare Castiglione und Michel de Montaigne – Rejs „Leben eines ehrbaren Mannes“ (Żywot człowieka poczciwego).

Inhalt

xi

34. Vorlesung (1. Juni 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Fortsetzung der Betrachtungen über Rejs Werke – Über die Heirat nach Rej und Montaigne – Rej über Steuern, Ämter der Verwaltung und Schatzführung, den Senat und die Senatoren – Drohende Gefahren für das polnische Reich – Rejs Stil.

35. Vorlesung (4. Juni 1841)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474 Polens Dichtung: Jan Kochanowski – Seine Latinität – Die Zeiten des lateinischen Klassizismus in Europa – Ariost und Tasso – Ronsard und die Plejade – Übersetzung der Psalmen Davids (Psałterz Dawidów) – Kochanowskis „Klagelieder“ (Treny) – Kochanowskis Satire „Satyr oder der wilde Mann“ (Satyr albo dziki mąż).

36. Vorlesung (11. Juni 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 Der Vergleich Kochanowskis mit Horaz – Sein Drama „Die Abfertigung der griechischen Gesandten“ (Odprawa posłów greckich) – Epigramme (Fraszki) – Die Schriften Kochanowskis in Prosa: „Vorhersagungen“ (Wróżki) – Stefan Batory: Polen im neuen Glanz – Die Tyrannei Ivans IV. – Siege Stefan Batorys über Ivan IV.

37. Vorlesung (15. Juni 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 Der Krieg Polens mit den Moskovitern in politischer, religiöser und literarischer Hinsicht – Gründe für die Wahl Stefan Batorys auf den polnischen Thron – Batorys Kriegspläne und der Sejm – Das Verhältnis der Kriegsparteien zu den europäischen Mächten – Batorys Kriegszug – Die Korrespondenz Batorys mit Ivan IV. und Kurbskij – Die Friedensmission des Jesuiten Antonio Possevino – Waffenstillstand und Friedensabkommen – Fortsetzung der Grausamkeiten durch Ivan IV.; seine Beziehungen zur englischen Krone – Der Tod Ivans IV.

38. Vorlesung (18. Juni 1841)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 Zur Innen- und Außenpolitik des Königs Stefan Batory – Stefan Batory als Ideal des polnischen Königs – Die Sendung Polens in der Rede des Bischofs Goślicki – Stefan Batory ist in der Politik das, was Jan Kochanowski in der Literatur – Szymon Szymonowicz und seine Idyllen (Sielanki) – Der moskovitische Großfürst Feodor I. Ioannovič und Boris Godunov.

39. Vorlesung (22. Juni 1841)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551 Die Wahl der Könige in Polen – Jan Zamoyski – Sigismund III. Wasa (Zygmunt III Waza) und seine Politik – Zur Situation im Großfürstentum Moskau; Ermordung des Fürsten Dmitrij, des Sohnes Ivans IV. – Der Großfürst Boris Godunov und seine Politik.

xii

Inhalt

40. Vorlesung (25. Juni 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562 Erwähnung des Epos von Ivan Gundulić – Piotr Skarga. Seine Reden und Predigten – Charakteristik der „Sejm-Predigten“ (Kazania sejmowe) – Die Begriffe Vaterland und Polen nach Skarga – Skargas politische und prophetische Reden – Charakter und Größe seiner Redekunst.

41. Vorlesung (29. Juni 1841)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581 Über die slavischen Völker bis zum Westfälischen Frieden – Zur politischen Lage in Polen und Rußland im 17. Jahrhundert – Beginn des geistigen, moralischen und politischen Niedergangs Polens – Der Westfälische Frieden (1648) und die verhängnisvollen Folgen für Polen – Das Großfürstentum Moskau wird zum russischen Kaiserreich – Die Philosophen Voltaire und Montesquieu über Polen – Die Slaven in den Augen der neuzeitlichen Philosophie: „Hegel, Gott und Preußen“ – Joseph Marie de Maistre – Gegensätzliche Einschätzung der Philosophen über die Rolle Rußlands und Polens – Die Philosophie und die Zukunft der Slaven in Europa.

Teil II (1841–1842) 1. Vorlesung (14. Dezember 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597 Einleitung – Programm der Vorlesungsreihe 1841–1842: die slavische Literatur vom Ende des 17. bis zum 19. Jahrhundert – Ihre Einheitsbestrebungen – Rückblick auf die Geschichte der Slaven – Die vom Slaventum erwartete Idee – Das gemeinsame in dieser Erwartung mit dem europäischen Westen – Die Bedeutung des Wortes für die Slaven – Die Stellung des Professors.

2. Vorlesung (21. Dezember 1841)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607 Scheidepunkt zwischen der alten und der neuen Geschichte des Slaventums – Einfluß der Polen auf die Rus’ – Die Tschechen treten vom literarischen Feld ab – Die Scholastik, die Jesuiten und die Rhetorik in Polen – Sprache der Literatur vs. Umgangssprache – Die „Denkwürdigkeiten“ des Pasek.

3. Vorlesung (28. Dezember 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 618 Bemerkungen über die Umbildung der Volkssage – Das Franzosentum in Polen – Das Theater in Warschau – Bemerkungen über die Wahl der Könige – Der Enthusiasmus als Springfeder des Handelns der Polen.

4. Vorlesung (4. Januar 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 635 Schriftquellen der polnischen Geschichte – Kordeckis Denkschrift – Polen zur Zeit des Jan Kazimierz – Die Kosaken und die Jesuiten – Die Belagerung von Tschenstochau – Der Glaube an das unmittelbare Wirken der unsichtbaren auf die sichtbare Welt ist die moralische und politische Kraft Polens.

Inhalt

xiii

5. Vorlesung. (7. Januar 1842)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 646 Das in Kordecki personifizierte Ideal – Russische Gegenwartsgeschichte – „Mestničestvo“ – Die geheime Kanzlei – Polens Konstitution – Das Veto – Die sozialen Theorien verschiedener philosophischer Schulen.

6. Vorlesung (11. Januar 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 656 Die Politik Polens am Ende des 17. und zu Anfang des 18. Jahrhunderts – Die neuzeitige Politik Rußlands – Peter der Große. Seine Reformen des Reichs.

7. Vorlesung (18. Januar 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 665 Antislavisches Streben der moskovitisch-russischen Politik – Die Armee Peter des Großen. Charakter des Volkes von Großrußland – Dessen Mundart wird Amtssprache – Zivilorganisation des Zarenreichs – Polens Lage zur Zeit der Könige aus dem sächsischen Haus – Die drei Monarchen: Peter der Große, August II. und Karl XII – Das Testament Peters des Großen – Vergleichung seiner Reformen mit dem Streben des französischen Nationalkonvents – Persönlicher Charakter Peters des Großen – Charakter der französischen Terroristen.

8. Vorlesung (21. Januar 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 677 Vernichtender Einfluß Peters des Großen auf Literatur und Kunst in Rußland – Der Geist des 18. Jahrhunderts hat die Bestimmung, die Selbsttätigkeit der Slaven zu wecken – Der Marschall Kinský in Tschechien – Konarski und das Piaristenkollegium – Neue Literatur in Rußland: Lomonosov und sein Kontrahent Trediakovskij.

9. Vorlesung (25. Januar 1841) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 689 Anfänge der neuen russischen Literatur: Kantemir, Lomonosov – Jean Baptiste Rousseau dient den Russen und Polen zum Muster der Lyrik – Lomonosovs Gedichte – Rücksicht der russischen Kritik auf Rang und Orden der Schriftsteller – Der den Tschechen und Polen verderbliche, rationelle Materialismus erwärmt Rußland.

10. Vorlesung (28. Januar 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 698 Kennzeichen der russischen Literatur seit Lomonosov bis zu Karamzin – Die Geschichte Katharinas I. und Menšikovs – Die Kosaken unterliegen der ersten mongolischen Operation des russischen Regierungssystems – Peter II. – Die Familie Dolgorukij – Menšikovs Sturz – Versuch einer konstitutionellen Charte – Die ausländische Partei in Petersburg – Die Zarin Anna – Sturz der Familie Dolgorukij – Ernest Biren. Der minderjährige Ivan – Das an den russischen Thron gebundene Schicksal der deutschen Fürsten: Anton Ulrich von Braunschweig–Lüneburg – Sturz Birens; Münnich – Münnichs Sturz – Lestocq und die Zarin Elisabeth – Widerstand gegen die ausländische Fraktion – Die russische Literatur gelangt in die höfische Sphäre.

xiv

Inhalt

11. Vorlesung (1. Februar 1842)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 710 Die Diplomatie wird das Merkmal des 18. Jahrhunderts – Friedrich der Große und sein Abrundungssystem – Der russische Kanzler Bestužew und seine Politik – Die polnischen Familien der Poniatowskis, Czartoryskis und Potockis – Die Politik der „Familie“ Czartoryski – Rulhières „Geschichte“ – Das Dichterische der damaligen polnischen Geschichte – Was dem Volk den Druck und das Elend am empfindlichsten zu fühlen macht – Bemerkung über die Hauptursache der Kosakenempörung.

12. Vorlesung (11. Februar 1842)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723 Die andere Hälfte des 18. Jahrhunderts ist die Epoche der Wiedergeburt der nordischen Literaturen – Katharina II. und Stanisław August Poniatowski – Geographische Karte der slavischen Literatur – Naruszewicz und Deržavin – Deržavins Gedichte. Die Ode an Gott – Was bei den Slaven „duch“ bedeutet – Erste Spur des Selbstgefühls eigner Würde bei den Slaven – Deržavin als scharfsinniger Dichter zeigt schlechten Geschmack – Das Unedle und Linkische in den slavischen Schriftstellern, woher rührt es? – Was ist Witz?

13. Vorlesung (15. Februar 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 736 Was ist lyrische Dichtung? – Einfluß der Musik auf die Poesie – Unterschiede zwischen Lebendigkeit, rhetorischer Wärme und lyrischer Begeisterung der Eingebung – Die Wärme der Rhetorik und das Feuer der Begeisterung – Geschichte Polens zur Zeit Stanisław Augusts – Die durch die Czartoryskis fortgeführte Reform – Untergang ihrer Bestrebungen – Charakterschwäche des Königs Stanisław August – Mannigfaltiger Einfluß des 18. Jahrhunderts auf die politischen Charaktere der Polen – Eine neue Partei in Polen. Anfang einer neuen Geschichte – Die Barer Konföderation. Die Idee derselben, ausgedrückt im Aufruf des Bischofs Sołtyk – Welchen Vorwurf verdienen die Fürsten Czartoryski und der König Stanisław August?

14. Vorlesung (18. Februar 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 745 Bild des Konföderationskrieges – Charakter seiner großen Männer – Rußland, obgleich in einer mißlichen Lage, triumphiert dennoch – Rußlands triumphierende Flotte – Der Fall der Konföderation macht Epoche in der europäischen Politik – Rußland, Preußen und Österreich verspüren es, daß in Polen eine neue Idee aufgegangen ist – Repräsentant derselben ist der Priester Marek.

15. Vorlesung (22. Februar 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 752 Ein Faden moralischer Kraft zieht sich durch alle Begebenheiten am Petersburger Hofe – Blick auf den Gang derselben seit der Zarin Elisabeth – Panin; seine Versuche, Rußland konstitutionelle Gesetze zu geben – Peter III. zeigt sich reformwillig – Katharina II. – Die Orlovs versuchen die Macht zu ergreifen – Ähnlichkeit der Bestrebungen Panins in Rußland und der Czartoryskis in Polen – Glänzender Schein an Katharinas Hof – Das in den Russen

Inhalt

xv

erwachende Unabhängigkeitsgefühl kann sich mit der Freiheit der Polen nicht vereinen – Zur polnischen Literatur während der Konföderation zu Bar – Anfänge der lyrischen Dichtung; die Vorhersagungen des Wernyhora, die Prophezeiung des Priesters Marek.

16. Vorlesung (8. März 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 765 Zustand der polnischen Literatur nach der ersten Teilung Polens – Es bildet sich eine besondere Klasse von Literaten – Krasicki und seine Satiren – Die Satire entspricht nicht dem Wesen der Slaven – Aus den verschiedenen Richtungen, die der Geist einschlägt, resultiert der Charakter verschiedener Völker – Trembecki – Die Aufklärung Polens. Die Erziehungskommission – Den Grundregeln der polnischen Republik wird zum ersten Male durch die Bestätigung der I. Teilung Polens Gewalt angetan.

17. Vorlesung (15. März 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 774 Die Literatur aus den Zeiten Katharinas und Stanisław Augusts rettet die aufgeklärten Stände in Rußland und Polen – Wie gelangten fremde Sprachen und Sitten in höhere gesellschaftliche Kreise in den slavischen Ländern? – Zivilisation und Barbarentum – Die politische Reform Polens – Der Große Sejm (Sejm Wielki) – Erblichkeit des Thrones; zweites gewaltsames Antasten der angestammten Republikverfassung Polens – Die Verfassung vom 3. Mai 1791 und ihre Idee von der Gleichheit aller Bürger der Republik – Preußen, Rußland und Österreich verbünden sich gegen Polen – Das geheime Band, das Frankreich und Polen verbindet – Kurze Übersicht zur symbolischen Geschichte des alten Polen.

18. Vorlesung (8. April 1842)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 784 Kurzer Abriß der russischen Geschichte. Die allgemeine Idee des russischen Zarismus ist die Selbstherrschaft – Merkmale der finnischen Rasse – Was hat Europa der Zarenmacht entgegenzustellen? – Woher ist die Kraft zu erwarten, den Zarismus zu werfen? – Kann die Idee des erdrückten Polens sich noch verkörpern? – Ein Blick auf das gesamte Slaventum – Übersicht der Veränderungen, welche hier der Fortschritt materialistischer Zivilisation bewirkt hat. – Vergleichung des Geistes mit der Dampfkraft.

19. Vorlesung (12. April 1842)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 793 Merkmale polnischer Schriftsteller am Ende der Herrschaft Stanisław Augusts – Das traurige Ende der Literaten dieser Zeit – Rußlands Triumph – Deržavin, der in der Poesie die russische Idee des Zaren zum Ausdruck bringt; seine Ode „Auf die Einnahme Warschaus“ – Polen besitzt nicht genug Kraft, um sich Rußland zu widersetzen – Kiliński und seine Denkschriften – Was ist Verrat? – Verräterische Schriftsteller in Polen.

20. Vorlesung (19. April 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 806 Karpiński und seine Poesie – Das innere Leben in Polen unter der russischen Gewaltherrschaft – Bei den Polen entstanden die Reformen bisher aus dem

xvi

Inhalt

politischen Gedanken, bei den Russen aus dem religiösen – Die Aktivitäten der Sekten in Rußland – Versuche, die slavische Gemeinde umzuwandeln – Die führenden Reformatoren – Warum sie keinen Erfolg haben.

21. Vorlesung (26. April 1842)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 821 Der Dichter Julian Niemcewicz – Polen in der Heimat und der Pilgerschaft – Die polnischen Legionen; das Lied der Legionen; durch Fakten gelöste Probleme: Patriotismus, Bürgerschaft, Gleichheit.

22. Vorlesung (29. April 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 828 Geschichte Rußlands seit dem Tod Katharinas II. – Paul  I. – Die Französische Revolution regt sein Gemüt auf – Die Legitimisten: Graf Joseph de Maistre – General Suvorov – General Dąbrowski und die polnischen Legionen in Italien – Der Zar Paul verliert den Glauben an das System der Legitimisten; seine Neigung für Napoleon – Verschwörung gegen Paul; sein tragisches Ende – Thronbesteigung Alexanders I. – Das polnische Volk folgt instinktiv Napoleon, der Polens eigene nationale Idee verkörpert – Napoleon und das XVIII. Jahrhundert.

23. Vorlesung (6. Mai 1842)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 839 Die polnisch-sibirische Literatur – Die Beschreibung Sibiriens – Der General Kopeć und sein Reisetagebuch – Bemerkung über das Gefühl der Nationalkraft – Ein geheimnisvolles Band verbindet alle Mitglieder eines Volkes.

24. Vorlesung (10. Mai 1842)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 852 Fortsetzung des Reisetagebuchs des Generals Kopeć – Das Schamanentum. Nordlicht und Sonnenaufgang in Sibirien – Der sittliche Einfluß Sibiriens auf die Polen.

25. Vorlesung (17. Mai 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 864 Erlöschen der Hoffnungen der Polen nach dem Frieden im Westen – Die Politiker wenden sich an den Zar Alexander I. – Charakter des Zaren – Der Fürst Adam Czartoryski – Napoleons Siege in Österreich und Preußen. Rückkehr der Legionen ins Vaterland – Der Vertrag zu Tilsit – Napoleons Absichten über das Schicksal Polens – Das Großherzogtum Warschau – Die Legionisten und Inländer werfen sich gegenseitig Exaltation vor – Was ist unter politischer Exaltation zu verstehen? – Der slavische Stamm und das polnische Volk sind bestimmt, eine neue Gesellschaftsordnung zu schaffen – Welche Menschen haben Neigung für Polen und welche Widerwillen?

26. Vorlesung (24. Mai 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 875 Das Herzogtum Warschau; sein Nationalgeist und der Einfluß Napoleons – Das Murren der Publizisten und der älteren Generation – Der Fürst Józef Poniatowski als Vertreter des neuen Polens –  Die Literatur im Großherzogtum Warschau: Koźmian, Wężyk, Godebski, Reklewski, Gorecki – Der Krieg 1812:

Inhalt

xvii

Napoleons Fall – Volksmeinung im Norden und Urteil der Philosophen über ihn – Seine Bedeutung für das Slaventum – Napoleons Sendung: Beginn einer geistigen und politischen Evolution.

27. Vorlesung (31. Mai 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 889 Die russische Literatur seit Karamzin – Verwandtschaft der Literatur dem Buchstaben und dem Geist nach – Ursache der Verbindung der literarischen und politischen Geschichte – Slavische Reaktion wider den Petersburger Geist; die Moskauer Martinisten – Charakteristik der russischen Schriftsteller: Dmitriev, Deržavin und Karamzin – Der Wiener Kongreß – Die polnische Frage verwirrt alle Verträge – Nur der Haß gegen Napoleon vereint die Monarchen – Die slavischen Völker kann nur das religiöse Gefühl vereinen.

28. Vorlesung (7. Juni 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 902 Der russische Dichter Batjuškov – Das religiöse Gefühl erwacht in den damaligen Dichtern Polens und Rußlands – Gram und Unentschlossenheit des Zaren Alexander  I. nach dem Wiener Kongreß. Madame Krüdner und die Mystiker – Die Martinisten werden zur Regierung berufen; Golicyn – Der allgemeine Unwille. Opposition der Literatur gegen die Regierung in Rußland – Puškin – Die Verschwörung. Das erste Zusammenkommen der Polen mit den Russen auf einem politischen Weg und gegenseitige Verschlossenheit. Schwäche der Verbindung, weil sie auf einen negativen Gedanken, auf den Haß sich stützt – Die russische Literatur, die unfähig ist, einen Schritt vorwärts zu gehen, bleibt bei Puškin stehen.

29. Vorlesung (14. Juni 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 919 Urteil des Fürsten Vjazemskij über die russische Literatur – Ursache des Hinsterbens dieser Literatur – Die Vitalität der polnischen Literatur – Kazimierz Brodziński. Seine wissenschaftliche Erklärung der polnischen Geschichte – Die polnischen Philosophen: Hoene-Wroński und seine philosophischen Schriften – Kritik seiner Ansichten – Bestimmung der Völker in Verbindung mit ihrem religiösen Charakter.

30. Vorlesung (17. Juni 1842)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 931 Dichterschulen. Die litauische und ukrainische Schule – Antoni Malczewski und sein Poem „Maria“ – Die polnische Dichtung und Philosophie haben ein Ziel – Stefan Garczyński und sein philosophisches Poem „Wacława dzieje“ – Hegels Philosophie – Die Anwendung des slavischen Begriffes „duch“ (Geist) – Was ist Genie?

31. Vorlesung (21. Juni 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 957 Weitere Analyse des Poems von Garczyński – Übermäßige Entwicklung des Verstandes hemmt den Flug des Geistes – Die polnische Philosophie tendiert zu dieser Auffassung – Antoni Bukaty und seine philosophische Abhandlung „Polen in der Apostasie und Apotheose“.

xviii

Inhalt

32. Vorlesung (28. Juni 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 970 Die Apostasie in Garczyńskis Poem – Die Aufgabe dieses Dichters ist, den Enthusiasmus mit der Vernunft zu vereinen. Die Lösung dieses Rätsels sieht er in der Tatsache des wiederhergestellten polnischen Volkstums – Garczyńskis letztes Wort – Einteilung der Dichter und Schriftsteller nach dem volkstümlichen Streben verschiedener slavischer Völker. Goszczyński und Zaleski – Was begreift der polnische Messianismus in sich? – Erklärung des Begriffs Opfer nach Franz von Baader – Theorien der polnischen Philosophen – Französische Philosophen: Buchez. Pierre Leroux – Schellings System – Der Kern des polnischen Messianismus: Personifizierung der Idee im Menschen.

33. Vorlesung (1. Juli 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 985 Die Idee des polnischen Messianismus; das slavische Problem ist gleichzeitig ein europäisches – Kern der Geschichte slavischer Völker unter Berücksichtigung des Volksgeistes einer jeden Nation – Der russische Ton – Der polnische Ton, seit dem Mittelalter geschwächt – Der Napoleonische Ton ist höher als der russische – Unterschied zwischen der Hoffnung, welche die Philosophie des Westens zeigt, und der Hoffnung der Polen – Welche Fragen wird der polnische Messianismus lösen? – Weissagungen der Dichter. Prophetische Worte Brodzińskis.

Teil III (1842–1843) 1. Vorlesung (6. Dezember 1842)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 999 Allgemeiner Charakter der gegenwärtigen polnischen Literatur – Sie ist philosophisch und befaßt sich mit sozialen Fragen – Die Grundidee der slavischen Philosophie. Offenbarung.

2. Vorlesung (13. Dezember 1842)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1007 Über den Messianismus – Der Fortschritt als eine Reihe von Offenbarungen – Religion und Volkstümlichkeit sind nur die Weiterentwicklung großer Individualität – Der Unterschied zwischen Weisheit und Philosophie – Äußerungen eines polnischen Dichters über die Poesie.

3. Vorlesung (20. Dezember 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1015 Wie die slavischen Dichter und Literaten ihre Sendung betrachten – Bohdan Zaleski, Aleksandr  S.  Puškin – Über geheime Verbindungen zwischen dem Geist slavischer Dichter der Gegenwart und dem Geist Byrons.

4. Vorlesung (27. Dezember 1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1027 Ziel und Sendungskonzept der Poesie bei den Tschechen – Kollár – Auffassung der österreichischen Diplomatie über die slavische Bewegung bei den Tschechen – Was ist das österreichische Kaiserreich?

Inhalt

xix

5. Vorlesung (10. Januar 1843) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1040 Wie trennt sich die slavische Poesie der Gegenwart von der Poesie der Vergangenheit? – Kollár – Goszczyński – Zaleski – Malczewski – Puškin.

6. Vorlesung (13. Januar 1843) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1051 Historische und philologische Forschungen (I) Die anfängliche Geschichte der Slaven – Die Notwendigkeit, theoretische Ansichten mit Zeugnissen der Gelehrsamkeit zu belegen – Spuren des uralten Bestehens der Slaven in Europa – Wenden in Europa – Wenden am Rhein, Mösien, Etruriern, Pannonien und Kleinasien – Assyrer. Herkunft des Namens – Assyrische Götter und Göttinen – Die große Sünde slavischer Stämme – Nemrod, Bel, Ninus, Nebukadnezar – Die Zeit der Buße für die Slaven gekommen läuft ab. Charakter der Slaven.

7. Vorlesung (17. Januar 1843) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1066 Historische und philologische Forschungen (II) Asiatische Slaven – Identität der altertümlichen Assyrer mit den Serben bzw. Slaven – Slavische Wortetymologien erklären syrische Anfänge – Thrakien. Kappadokien – Figuren auf der Trajanssäule – Die Sage von König Gordius und Piast – Slavische Typen auf altertümlichen Denkmälern – Koloß des Nordens – Statue des Skythen oder Schleifers – Karyatiden – Der sterbende Gladiator.

8. Vorlesung (24. Januar 1843)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1081 Die Poesie verbindet zwei Pole der Geschichte eines Volkes – Falscher Messianismus – Analyse der „Un-göttlichen Komödie“ – Was ist Wirklichkeit? – Das prophetische Drama – Der Kampf der Vergangenheit mit der Zukunft – Graf Henryk, der Held des Dramas.

9. Vorlesung (31. Januar 1843) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1102 Der Adler als Symbol politischer Macht – Einleitung zum dritten Teil des Dramas – Pankracy als Anführer der neuen Epoche – Zwei Gegenspieler: der Held der Vergangenheit und der Held der Zukunft – der falsche Messias – Seine Begegnung mit Grafen – Affinitäten zu Danton und Robespierre – Der amerikanische Philosoph Emerson – Der allgemeine Geist – Der Geist als lebendige Tradition, nach der Polen streben soll.

10. Vorlesung (7. Februar 1843)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1113 Das Treffen beider Anführer – Der Monolog des Grafen vor dem Treffen – Das Gespräch während des Treffens – Origineller und großartiger Einfall, diese beiden sich feindlichen Systeme in die Personen zweier Männer einzuverleiben – Die Macht auf der Seite des Pankracy – Die Wahrheit steht über beiden.

xx

Inhalt

11. Vorlesung (21. Februar 1843)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1126 Letzte Szene des polnischen Dramas. Der Kampf. Beschreibung des Schlachtfeldes. Der Angriff und der Tod des Grafen Henryk. Triumph der neuen Leute. Pankracy und Leonhard im Gespräch. Der Tod des Pankracy – Zur Frage des polnischen Messianismus – Die vom Autor falsch dargestellte Judenfrage in Polen – Der Autor begriff nicht den Charakter des polnischen Bauern – Der slavische Stamm, berufen zur Schaffung einer neuen Ordnung in der Geschichte der Menschheit – Ähnlichkeit der „Un-göttlichen Komödie“ mit den „Denkwürdigkeiten“ von Kordecki – Emersons Ansichten.

12. Vorlesung (3. März 1843)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1140 Historische und philologische Forschungen (III) Slavische Mythologie – Allgemeine Überlegungen über mythologische Forschungen – Das litauisch-slavische mythologische System, das als das vollständigste anerkannt wird – Das Werk Norks über die syrischen Götter – Inspiration als Quelle aller Religionen – Magnetismus – Somnambulismus – Doktrinen und Künstler als Verfälscher aller Mythologien – Wert der rein erhaltenen religiösen Überlieferung der Slaven.

13. Vorlesung (7. März 1843)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1150 Historische und philologische Forschungen (IV) Slavische Mythologie. Fortsetzung – Der Sonnenkult. Norks Theorie – Das Dogma aller alten Religionen – Brahmanismus, hebräischer und christlicher Glaube – Geist und Tradition – Was ist Tradition?

14. Vorlesung (14. März 1843)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1160 Historische und philologische Forschungen (V) Slavische Mythologie. Fortsetzung – Mythologische Konzepte von Hanusch und Dankovský – Slavische Namen griechischer Götter – Das religiöse Empfinden der Slaven – Das Merkmal der Erwartung – Emersons Ansichten – Erkennen und Erfüllen der Verpflichtungen.

15. Vorlesung (24. März 1843)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1172 Historische und philologische Forschungen (VI) Litauische Mythologie. Zur Geschichte der Litauer – Indische Herkunft der Litauer – Charakter dieses Volkes: polonophil vs. russophob – Wirkung im Norden – Ursachen gegenwärtiger Untätigkeit.

16. Vorlesung (4. April 1843)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1182 Das slavische Drama – Über das Drama im Allgemeinen – Das griechische und das christliche Drama – Puškins „Boris Godunov“, Milutinovićs „Tragedia Obilić“ und die „Un-göttliche Komödie“ – Fragen der Auf führbarkeit slavischer Dramen – Über das Wunderbare – Descartes (l’admiration) – Milutinović.

Inhalt

xxi

17. Vorlesung (2. Mai 1843) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1192 Philosophische Fragen – Philosophie und der slavische Geist (duch) – Zur Geschichte der europäischen Philosophie – Descartes, Spinoza, Kant, Fichte, Hegel.

18. Vorlesung (9. Mai 1843)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1206 Widerstand in Deutschland. Herder, Jacobi, Friedrich Schlegel – Einfluß von St. Martin und de Maistre – Schelling und Hegel – Hegelianer – Michelet – Cieszkowski.

19. Vorlesung (16. Mai 1843) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1222 Historische und philologische Forschungen (VII) Der Begriff des Eigentums bei den Griechen, Römern und Slaven – Slavische Gebräuche und Sitten – Anmerkungen zum Saint-Simonismus und Fourierismus.

20. Vorlesung (23. Mai 1843) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1236 Historische und philologische Forschungen (VIII) Eigentum und Erbeigentumsrecht bei den Germanen, Galliern und Slaven – Starosteien in Polen – Eigentumsfragen des polnischen Adels – Czartoryski – Zigeuner – Adam Müller und das Kapital.

21. Vorlesung (2. Juni 1843)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1250 Trentowskis philosophisches Konzept als Versuch, die Systeme von Schelling und Hegel zu verbinden – Schwächen dieses Konzepts – Verweis auf die „Un-göttliche Komödie“ und die Schweiz.

22. Vorlesung (6. Juni 1843) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1262 Philosophische Anarchie – Fragen der Religion – Philosophische Schulen in der Hegelnachfolge – Cieszkowskis Konzeption.

23. Vorlesung (13. Juni 1843)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1277 Kriterien der Gewißheit der Wahrheit nach de Maistre, Lamennais, Leroux, Emerson und Cieszkowski – Was ist Volkstum?

24. Vorlesung (20. Juni 1843) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1286 Ludwig Królikowski und das System der religiösen deutschen Philosophie – Schwächen dieses Systems – Kann ein Philosoph eine Gesellschaft aufbauen?

25. Vorlesung (27. Juni 1843) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1297 Zusammenfassendes über die politische Geschichte slavischer Staaten – Die Beschaffenheit des russischen Reichs – Das Wesen der polnischen Volkseinrichtungen – Das moralische Ende alter slavischer Staaten. Der neue Geist.

xxii

Inhalt

Teil IV (1843–1844) 1. Vorlesung (22. Dezember 1843)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1313 Über den slavischen Geist und über dessen Bündnis mit dem französischen Geist. Eine Warnung für den Westen – Was bringen die Slaven Neues? – Was kann die Basis des Völkerbundes sein?

2. Vorlesung (26. Dezember 1843) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1319 Über das wahre Leben und über das scheinbare Leben – Die Doktrinäre im Allgemeinen – Durch welches Mittel kann sich die slavische Rasse für Frankreich besonders begreiflich machen? – Die Intuition.

3. Vorlesung (9. Januar 1844) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1329 Merkmale einer Epoche, welche zu Ende geht – Unterschiede zwischen den Männern der Vergangenheit und den Männern der Zukunft – Über den Enthusiasmus – Was ist das Volk?

4. Vorlesung (9. Januar 1844)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1338 Die Lage der Kirche – Rom und die Polnische Revolution – Die Ursache, warum der Klerus die moderne Literatur der Polen zurückstößt – Ein apokalyptisches Polen: das Gesicht am Weihnachtsabend – Die Päpste getrennt von der Überlieferung – Worin besteht das Heilmittel für die Schwäche der Kirche?

5. Vorlesung (23. Januar 1844) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1354 Ursachen des Widerwillens der Kirche gegen den neuen Geist Frankreichs und Polens. – Was wird die Poesie in der Zukunft sein? – Die neuen Heiligen, die neuen Reliquien. Warum kennt die Kirche sie nicht? – Die letzte Phase der polnischen Literatur. Ist sie ketzerisch?

6. Vorlesung (30. Januar 1844)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1366 Die Wichtigkeit der slavischen Überlieferung im Hinblick auf Geschichte und Kunsttheorie – Die Schwierigkeit, den Fremden die religiöse und philosophische Sprache der Slaven begreiflich zu machen – Vom Geist und von dem Reich der Geister – Typen der Kunst. Die gegenwärtige Epoche verlangt neue Muster – Napoleon ist das Erzmuster der neuen Kunst.

7. Vorlesung (7. Februar 1844)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1378 Was ist das Wort? Die amtliche Kirche hat die Idee und die Tradition des Wortes verloren. Das Wort faßt den Geist und den Leib des Menschen in sich, es ist der ganze Mensch. Wie wird es erzeugt und wie wirkt es? – Von der Gabe der Sprachen. Diese Gabe ist der amtlichen Kirche entzogen worden; sie ist aber nicht von der Erde verschwunden. Von den Worten, die außerhalb der christlichen Kirche versucht wurden. – Die Warnung, welche die Slaven den Philosophen des Westens über die Gefahren der friedfertigen Träumereien schuldig sind.

Inhalt

xxiii

8. Vorlesung (5. März 1844) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1393 Das Wort als Element der moralischen Kraft betrachtet – Einfluß der Moral auf das Physische – Worin liegt die wahre Quelle des materiellen Elends?

9. Vorlesung (12. März 1844)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1406 Die wesentliche Frage – Die amtliche Kirche und die Doktrin sind unfähig dieselbe zu lösen – Daher kommt es, daß sie keine Autorität mehr haben – Die Meinungen der russischen Schriftsteller über die Gefahren Frankreichs – Von dem kriegerischen Geiste der Franzosen, sein christlicher Charakter – Der Wert. Die Meinungen der Staatsökonomen von dem religiösen Gesichtspunkt aus beurteilt.

10. Vorlesung (19. März 1844)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1421 Der Meister

11. Vorlesung (23. April 1844) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1436 Ein Rückblick auf das Ganze des Vortrages

12. Vorlesung (30. April 1844) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1447 Die Barbaren. Der ewige Mensch

13. Vorlesung (21. März 1844)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1461 Der Schluß – Alle Hoffnungen der modernen Sozialisten konzentrieren sich in der Idee, eine neue Synthesis zu schaffen. Die Unmöglichkeit diese Synthese kraft der alten Verfahrungsarten zu erhalten. Die Unzulänglichkeit der Männer, welche wirken – Der Zweck unseres Vortrages. Der Ruf an Frankreich. Das Ecce Homo der Epoche.

14. Vorlesung (28. Mai 1844)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1474

Nachwort Nachwort zur neuen Redaktion der Pariser Vorlesungen  . . . . . . . . . . . . . 1495 Walter Kroll 1. Die neue Redaktion der deutschen Übersetzung  . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der F.A. Brockhaus Verlag und Adam Mickiewicz  . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Biographien der Übersetzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Darbietungsmodus der Vorlesungen (Improvisation vs. Vorlesung) und Fragen der Verschriftlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zur Entstehung der ersten polnischen Übersetzung von Feliks Wrotnowski und die Vorlagen der deutschen Übersetzung . . . . . . . .

1495 1497 1500 1514 1519

xxiv

Inhalt

Exkurs: Das Fehlen einer editionskritischen französischen Ausgabe der Vorlesungen und die zweite polnische Übersetzung von Leon Płoszewski  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Gegenstand und Aufbau der Vorlesungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Zur Rezeption der Pariser Vorlesungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internetquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Danksagung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1525 1529 1549 1573 1574

Vorrede des Verfassers zur deutschen Ausgabe Die eigentümliche Art, auf welche dies Werk entstanden, dessen Verfasser ich nicht bin, doch aber der Urheber, legt mir die Pflicht auf, einige Erläuterungen dem Publikum zu geben. Als mich die französische Regierung auf den Lehrstuhl der slavischen Literatur und geschichtlichen Zustände berief, verließ ich Lausanne, wo mich alles zurückhielt, was nur irgend im Stande ist, den Verbannten an ein fremdes Land zu fesseln, und begab mich nach Paris, meine Lehrerpflicht in dieser Hauptstadt als einen Dienst in der Sache Polens, Frankreichs und des Slaventums anerkennend. Mittel und Beihilfen für diesen meinen Kursus war ich gezwungen in mir selber zu suchen. Was ich gefühlt und entdeckt während meines Aufenthalts in den slavischen Ländern, was ich noch von meinen frühern Arbeiten über die Geschichte und Literatur der Slaven nicht vergessen und besonders dasjenige, was heute aus dem sich bewegenden Geist dieser Völker in meinen Geist geflossen, das teilte ich den Zuhörern mit. Das Collѐge de France, als Schule betrachtet, bezweckt mehr den Vortrag des Ganzen einer Wissenschaft, als das Erforschen der Einzelheiten, ihre Zuhörer sind keine eigentlichen Studenten; mein Publikum bestand zum großen Teil aus Slaven. Alles dies hatte auf die äußere Form meines Vortrages Einfluß. Immer sprach ich aus dem Gedächtnis und sehr häufig ohne Notizen. Die Zuhörer verfaßten später aus ihren beiläufig nachgeschriebenen Notizen und den Stenographien die Vorlesungen und druckten sie in einer polnischen Übersetzung. Den polnischen Text hat mein Freund Siegfried ins Deutsche übersetzt. Im Texte, welchen zu verbessern ich keine Zeit gehabt, finden sich geringe, aber zahlreiche Irrtümer; Fehler in den Zeit- und Zahlangaben, in Namen, zuweilen sogar in Ausdrucksweisen. Das deutsche Publikum, gewöhnt an Vollständigkeit und Präzision, wird dies nicht angenehm berühren. Den Deutschen rufen wir aber ins Gedächtnis zurück, daß diese Veröffentlichung zum Teil ein Werk von polnischen Emigrierten ist, von Männern, die stets und gänzlich mit einem lebendigen und großen Interesse beschäftigt sind, so daß ihnen die Literatur und Wissenschaft nur als Nebending erscheint. Im Übrigen läßt das Ganze des Werkes ungeachtet der Mängel sich wohl begreifen, und wer in den Geist desselben eingedrungen, der wird auch selbst im Stande sein, die einzelnen Fehler zu berichtigen. Bemerken will ich nur noch, daß die letzten Vorlesungen korrekter abgefaßt sind, als die anderen. Diese sind die wichtigsten,

xxvi

Teil 1

auf diese lenken wir die Aufmerksamkeit der Leser ins Besondere; sie sind es, in welchen wir die Idee des Messianismus darzulegen uns bemüht haben, welche, verbreitet durch die geschichtlichen Bewegungen der slavischen Völker, ausgearbeitet in dem sittlichen Innern des polnischen Volkes, in die Welt tritt, und im Zusammenhang stehend mit den politischen Interessen Frankreichs, die Fragen der deutschen Philosophie mannigfaltig berührend, eine Idee des gesamten Europa wird. Die Werke der Dichtung und der Philosophie, die wir in diesen Vorlesungen erwogen, und sogar dieses Werk selbst muß man als die auflodernden Funken, welche diese sich verwirklichende Idee, von ihrer Höhe herab auf die niedere Atmosphäre, in der wir heute leben, auf die Atmosphäre der jetzigen Politik, Philosophie und Literatur geworfen hat, betrachten. Adam Mickiewicz, Paris 1843.

Einige Worte des Übersetzers Ich bin kein Schriftsteller und wollte auch nie ein solcher werden; da jedoch dieses Werk hohe Wahrheiten enthält, Wahrheiten, die bis jetzt noch verhüllt oder unklar ausgesprochen waren, und die im Schoß der ganzen Menschheit gereift sind, namentlich aber im großen Stamm der Slaven, welcher immer übermächtiger nach zwei Welten hin vorschreitet, schien es mir hohe Zeit, die Deutschen davon in Kenntnis zu setzen. Die Zeit ist dringend, ich mußte eilen und die Hilfe meiner Freunde dazu in Anspruch nehmen; bereitwillig wurde sie mir von Kazimierz Kunaszowski aus Galizien, Jan Nepomucen Rembowski aus Großpolen und Hermann Ewerbeck, Doktor der Medizin aus Danzig, dargebracht, so daß nach kaum verflossenen neun Monaten der Arbeit, die zwei ersten Jahrgänge hiermit beendigt sind, und die Vorlesungen dieses Jahres, mit denen Herr Mickiewicz noch jetzt seine zahlreichen Zuhörer beehrt, d.h. der dritte Jahrgang, an welchem ich nun arbeite, diesen Herbst, so Gott will, erscheinen wird. Die Entfernung vom Orte des Druckes verursachte, daß manche kleine Fehler des Druckes, der Aussprache und Übersetzung nicht gehörig ausgemerzt wurden; jedoch die wahrhaft aufgeklärten und biederen Söhne Deutschlands, in deren Brust die Hoffnung und Gewißheit besserer Zeiten flammt, und welche die Wahrheit, nicht aber geringe Fehler suchen, werden sich bei letzteren nicht aufhalten, sondern mein Verlangen, – sie bei der vorrückenden Wiedergeburt Europas, mit dem Vorschritte der Slaven und des Westens bekannt zu machen – so aufnehmen, wie ich ihnen dieses im Interesse der ganzen Menschheit und durch dankbares Andenken ihrer Gastfreiheit bewogen, von Herzen darbringe. Gott nur allein vermag alles zum Guten zu wenden, wir aber können nur darum bitten und, sobald uns sein Wille offenkundig wird, diesem gemäß unser Tun einrichten. Gustav Siegfried, Paris, im Juni 1843.

Teil I (1840–1841)

1. Vorlesung (22. Dezember 1840) Über Schwierigkeiten meiner Tätigkeit – Allgemeiner Abriß des Gegenstandes, Übersetzung und Form der Überlieferung – Anregungen zur Einrichtung des Lehrstuhls – Die slavischen Völker streben einen Platz in der Welt der Literatur an – Erscheinungsformen der Annäherung der Völker – Das christliche Dogma – Frankreich, die ältere Tochter der Kirche – Über Schwierigkeiten der Annäherung zwischen dem Westen und den Slaven – Die immense Fülle ihrer Literatur – Topographie, Regierungen, Dialekte – Was dürfte den Westen zum Kennenlernen des Nordens anspornen? – Tacitus – Einfluß der Russen. Rußland und Polen – Zur Bedeutung der Geschichte – Leerstellen in der Geschichte der Naturwissenschaften – Zalužanský, Vitellio, Kopernikus – Literatur – Das Sinnbild der künftigen Vereinigung der slavischen Völker. (Beifallsbezeugungen beim Erscheinen des Professors)

Meine Herren! Mit Freuden vernehme ich die Beweise ihrer Gunst, die mir umso teurer sind, als ich eine große Anzahl meiner Landsleute hier vor mir sehe, ja selbst viele, meiner Freunde. Doch ich täusche mich nicht über ihre wahre Bedeutung. Sie zeigen mir, wie nötig es ist, meinen Mut zu unterstützen, denn sie fühlen die Schwierigkeit meiner Lage. In der Tat sie ist bedenklich; denn, wenn sie auch den Eindruck vergessen könnten, welchen das Anhören der berühmten Professoren dieser Hochschule auf sie macht, wenn auch meinerseits ich für die Schwierigkeiten des Gegenstandes meiner Vorlesung kein Auge hätte, so war es mir doch immer unmöglich, mich des Gefühls desjenigen Nachteils zu erwehren, welchen ich hier mit mir bringe, und der mit meiner Person verbunden ist. Ich bin ein Ausländer, muß mich in einer Sprache verständlich machen, die nichts mit derjenigen gemein hat, welche mir für gewöhnlich als Organ meines Denkens dient, nichts gemein, weder in dem, was ihr Herkommen, noch was ihre Gestalt und ihren Gang betrifft. Hier ist es nicht bloß darum zu tun, daß ich in ihrer Gegenwart meine Gedanken und Gefühle in einer fremden Sprache ausdrücke, es ist nötig, dieselben alle insgesamt gänzlich und auf einmal umzuschaffen. Diese innere, so schwere Arbeit ist unerläßlich beim Vortrag der Literatur. In einem solchen befolgt man nicht eine bekannte und im Voraus gewählte Methode, hält sich an keine Formeln, mit deren Hilfe die Gedanken folgen, fast keiner Stütze von dem Organ der Sprache bedürfend. Aus dem Kreis der Grammatik und Philologie einmal herausgetreten, werden wir die Denkmäler der Literatur, die Werke der Kunst zum Begreifen und Beurteilen darstellen müssen; und zum Begreifen geben, heißt ebenso viel, als das Feuer, welches sie geschaffen hat, empfinden machen. Die vorarbeitenden Studien, sollten wir sogar Zeit dazu haben, würden sie uns die Kraft verleihen, aus

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_002

4

Teil I

irgendeinem Meisterwerke jenes geheime Leben, das sich in ihm birgt, und was das wahre Geheimnis der Kunst ist, ans Licht zu fördern? Mit Nichten. Auf daß dieses Leben hervorsprudle aus dem Wort, erschaffen durch den Meister, muß das schaffende Wort über ihn ausgesprochen werden, und dieses auszusprechen ist unmöglich, wofern man nicht alle Geheimnisse der Sprache besitzt. Kann der Ausländer sie so in seine Gewalt bekommen? Wenn er dieses auch vermöchte, so bleibt ihm die zweite Hälfte der Arbeit gleich schwer. Er wird die äußere Gestalt, diesen untrennbaren Teil, der häufig der hauptsächliche eines Kunstgebildes ist, wiedergeben müssen; und zuweilen kann ein ungeschickter Ausdruck, nicht gut angewandt, oder auch nur schlecht ausgesprochen, dieselbe verderben und zerstören. Alle diese Schwierigkeiten sind mir bekannt, nach jeder Bewegung, jedem Wink meines Geistes, fühle ich die Last der Kette, sowie sie ihr Klirren hören. Und zwar darum, würde ich nur die Zuflüsterungen meiner schriftstellerischen Eigenliebe zu Rate ziehen (denn erniedrigend ist es, vors Publikum zu treten, sobald man nicht jene Kraft fühlt, welche Leichtigkeit und Grazie verleiht), würde ich nur um meine Eigenliebe, um meine persönliche Würde besorgt sein, gewiß ich entsagte der gefährlichen Ehre von diesem Katheder herabzusprechen. Aber sehr trifftige Gründe befahlen mir dieselbe anzunehmen. Man hat mich aufgefordert, die Stimme zu erheben im Namen der Literatur der Völker, mit denen mein Volk durch seine Vergangenheit und Zukunft eng verbunden ist, die Stimme zu erheben in einer Zeit, wo das Wort Macht ist, und in der Stadt, welche die Hauptstadt des Wortes ist. Der Trieb der Völker nach gegenseitiger Annäherung ist einer der Charakterzüge unserer Zeit. Bekannt ist’s, wie Paris der Herd, die Springfeder und das Werkzeug jener Verkettung ist. Durch Vermittlung von Paris kommen die europäischen Völker zur wechselseitigen Erkenntnis, zuweilen sogar zum Verständnis ihrer selbst. Rühmlich ist’s für Frankreich, daß es eine solche Gewalt der Anziehung besitzt; diese Gewalt ist immer im geraden Verhältnis zur Kraft der inneren Bewegung, zur Gesamtheit des Lichtes und der Wärme, die von hier ausstrahlt. Der Vorzug Frankreichs als der älteren Tochter der Kirche, als der Erzieherin aller Eingebungen des Wissens, der Kunst, der Literatur, ist so edel, daß die anderen Völker es für keine Erniedrigung ihrer selbst erachten können, in dieser Beziehung ihrer Führung zu folgen. Nirgends aber ist das Sehnen, der Durst nach einer Annäherung an Europa, nach dem Anknüpfen fester Verbindungen mit den Völkern des Westens wohl so allgemein und lebendig, als in dem slavischen Stamm. Diese Völker, welche zweimal an das Kaiserreich der Franken1 grenzten, zu Karls des Großen und 1 Über die Slaven in Franken („Bavaria Slavica“) vgl. Hans Losert: Die slawische Besiedlung Nordostbayerns aus archäologischer Sicht. In: Vorträge des 11. Niederbayerischen

1. Vorlesung (22. Dezember 1840)

5

Napoleons Zeiten, von denen die einen den Kapitularien2 Gehorsam leisteten, die anderen jetzt noch dem französischen Code civil haben, welche von Europa die Religion, die Heeresordnung, Künste und Handwerke entnahmen, welche materiell auf den Westen zurückwirkten, sind jedoch am wenigstens vielleicht bekannt in Betreff ihres Moral- und Geistzustandes. Der europäische Geist scheint sie an seiner Schwelle zu halten und auszuschließen von der christlichen Gemeinschaft. Wie, besitzen sie denn in der Tat kein einziges Element der Zivilisation, das ihnen eigen wäre? Haben sie denn in Nichts zur Vergrößerung der geistigen Reichtümer und sittlichen Güter des Christentums beigetragen? Der Zweifel hierin ist in ihren Augen eine schmerzende Ungerechtigkeit. Trachtend ihr Recht zu erweisen, nach welchem sie zur christlichen Gesellschaft gehören, versuchen sie selbst in eurer Sprache zu reden und zu schreiben, ihre Werke in eure Literatur vorzuschieben. Allein diese Versuche, im persönlichen Interesse unternommen, zuweilen im Interesse einer Meinung, oder eines Bruchstückes derselben, konnten nicht gut ausfallen. Man hat es begriffen, daß, um die Aufmerksamkeit der westlichen Völker, durch so viele Erschütterungen zerstreuet, und mit so vielen wichtigen Dingen beschäftigt, zu gewinnen, es nicht genug sei, ihnen einige glänzende Punkte auf dem Horizonte des Slaventums zu zeigen, daß es nötig ist, seinen ganzen Schild zu enthüllen, daß man näherbringen und hinstellen muß dem Anschauen des Westens die ganze Masse seiner Literaturen. Die französische Regierung hat erfüllt, was die slavischen Völker allgemein wünschten, und es wäre mir schmerzlich, ja sogar unwürdig wäre es, die Wirkung dieses Entschlusses zu verspäten. Ich meinte sogar und gestehe es, daß manche Verhältnisse meines Lebens, in einer gewissen Beziehung wenigstens, mir eher erlauben werden, dem Ruf Genüge zu leisten. Das lange Verweilen in verschiedenen slavischen Ländern, die in ihnen gefundenen Sympathien, die auf immer zurückgebliebenen Rückerinnerungen, haben mich stärker die Einheit unseres Stammes fühlen lassen, als ich im Stande wäre, durch irgend welche Theorie sie einsehen zu lernen. Was der Anfang unserer Zerwürfnisse war, was uns wiedervereinigen kann, diese Frage hat mich nie zu beschäftigen aufgehört. Auf diese Weise fand sich der Plan meines Vortrages bereits vor. Ich glaube daher, daß ich mich leichter als irgendein anderer unter den Slaven des Einflusses aller Leidenschaften werde erwehren können, aller engbrüstigen und ausschließlichen Parteiansichten. Eine solche Einseitigkeit würde sogar entgegen sein dem Archäologentags. Hrsg. Karl Schmotz. Deggendorf 1993, S. 207–270; Joseph Schütz: Frankens mainwendische Namen: Geschichte und Gegenwart. München 1994. 2 Kapitularien waren unter Karl dem Großen königliche Anordnungen im Sinne von Gesetzen, die, in Kapitel eingeteilt, gesetzliche Bestimmungen zu Verwaltung und Rechtsprechung enthielten und auch militärische, kirchliche und kulturelle Angelegenheiten regelten. Vgl. François Louis Ganshof: Was waren die Kapitularien? Darmstadt 1961.

6

Teil I

gut verstandenen Interesse unserer Volkssache, würde schlecht entsprechen der Absicht der Regierung, welche diesen Lehrstuhl gründete. Ich habe gesagt, daß, was in der slavischen Literatur am meisten auffällt, ist ihre ungeheure Masse und Ausdehnung, wenn man sich so ausdrücken darf, in Betreff des Allersichtbarsten, in Hinsicht dessen, was gewöhnlich allein nur zur Überzeugung trifft, das heißt die Zahlenmenge und der geographische Raum, den die Nation einnimmt. Die slavische Sprache umfaßt eine große Bevölkerung und einen ungeheuren Landstrich. Siebzig Millionen Menschen sprechen in den Mundarten dieser Sprache, in Ländern, welche die Hälfte von Europa und den dritten Teil von Asien ausmachen. Hat man eine Linie von dem venezianischen Meerbusen bis zum Ausfluß der Elbe gezogen, so finden wir noch außerhalb dieser Linie, und auf ihrer ganzen Länge die Überbleibsel, die Trümmer, von unfern durch den germanischen und romanischen Stamm nach dem Norden zurückgepreßten Völkern. Das erloschene Dasein jener Stämme gehört schon der Geschichte an; weiter jedoch gegen die Karpaten hin, gegen diese uralte Festung des Slaventums, zeigen sich in zwei Gegenden, auf zwei Endpunkten von Europa, seine Geschlechter im bitteren Kampfe begriffen. Am adriatischen Meere verteidigen sie sich gegen den Islamismus; am baltischen, anfänglich unterjocht durch einen fremden Stamm3, erheben sie sich wieder und gewinnen die Oberhand. In der Mitte zwischen diesen Punkten zeigt sich der slavische Stamm in seiner ganzen Kraft, und schießt von hier Äste aus, den einen gen Amerika hin, den andern durch die mongolischen und kaukasischen Völker tief ins Persische hinein, und bis gegen China zu, auf diese Weise in jenem Weltteil wiedergewinnend, was er von seinem Besitztum in Europa verloren hat. Der Boden des Slaventums faßt in sich jede mögliche Verschiedenheit der religiösen und politischen Formen, wie sie nur irgend die Geschichte des Altertums und die neuere aufzustellen im Stande gewesen ist. Wir haben da zuerst das alte Völkchen der Montenegriner, den Sitten nach ähnlich den schottischen Gebirgsmännern, nur insofern glücklicher, daß es seine Unabhängigkeit vor der Übermacht der Kaisertümer, des griechischen, türkischen, deutschen, französischen und gewiß einst auch des römischen zu erwehren vermochte. Wir haben die Stadt Ragusa (Dubrovnik) – das slavische Venedig, Mitbewerberin jenes mächtigen Venedigs, welches beiläufig gesagt auch von

3 [Durch die Schwert- und Kreuzritter mit ihren Ankömmlingen aus allen deutschen Ländern. Anmerkung des Übersetzers].

1. Vorlesung (22. Dezember 1840)

7

den Slaven seinen Ursprung4 nahm; weiter – das altertümliche Illyrien5, Bosnien, Herzegovina, das Königreich Tschechien, den slavischen Teil des Königreichs Ungarn, alle übrigen Länder, die den größten Teil der österreichischen Staaten ausmachen, endlich das russische Kaisertum und das ganze ehemalige Königreich Polen. Fügen wir zu diesem hinzu die Fürstentümer Serbien und Bulgarien, auch was von Slaven unter dem romanischen Volk der Moldau und Wallachei sich findet, und wir werden das Bild des Landes oder vielmehr des slavischen Volkes haben. Die Sprache eines so zahlreichen Geschlechts teilt sich in viele Mundarten; diese jedoch bewahren ungeachtet ihrer verschiedenen Entwicklung den Charakter der Einheit. Es ist dies eine Sprache, welche sich in verschiedenen Formen und Stufen ihrer Veredlung zeigt. Wir sehen sie als eine abgestorbene, religiöse Sprache im Kirchenslavischen; als die Sprache der Gesetzgebung6 und der Befehle für jetzt im Russischen; als die Sprache der Literatur und des Umganges im Polnischen; als die der Wissenschaften im Tschechischen; geblieben im Urzustand als Sprache der Dichtung und Musik bei den Illyrern7, Montenegrinern 4 Mickiewicz übernimmt hier die Auffassung von Wawrzyniec Surowiecki (1769–1827), dergemäß die Wenden (Weneten) Slaven waren, woraus der Name von Vendig abgeleitet werden könne. Vgl. W. Surowiecki: Śledzenie początków narodów słowiańskich. Warszawa 1820; vgl. auch P.J. Schaffarik: Die Abkunft der Slawen nach Lorenz Surowiecki. Ofen 1828; diese Abhandlung ist keine Übersetzung des Buches von Surowiecki, obwohl darin ausführlich zitiert wird; Schaffarik vertritt hier eine andere Auffassung, vgl. P.J.  Schaffarik: Slawische Alterthümer. Deutsch von Mosig von Aehrenfeld. Hrsg. Heinrich Wuttke. Leipzig 1843, Bd. II, S. 10. 5 Vgl. Włodzimierz Pająkowski, Leszek Mrożewicz, Bolesław Mrożewicz, Lothar Quinkenstein: Die Illyrier: Illirii proprie dicti. Geschichte und Siedlungsgeschichte. Versuch einer Rekonstruktion. Poznań 2000. 6 Die Auffassung, Russisch sei die „Sprache der Gesetzgebung“, entstand im 19. Jahrhundert unter dem Eindruck der Editionen bedeutender russischer Rechtsdenkmäler (siehe unten Speranskij); vgl. Günter Baranowski: Die Russkaja Pravda – ein mittelalterliches Rechtsdenkmal. Frankfurt am Main u.a. 2005 (= Rechtshistorische Reihe, 321); vgl. auch die 5. Vorlesung (Teil I). 7 Illyrer – bezieht sich im 19. Jahrhundert primär auf die Vertreter der „illyrischen Bewegung“ (ilirski pokret) in Kroatien, die alle Südslaven als Illyrer begriff, sie zu vereinen versuchte und die Illyrer als Vorfahren der Slaven erklärte. Die illyrische Idee entstand bei den Südslawen bereits im Zeitalter des Humanismus; vgl. Reinhard Lauer: Genese und Funktion des illyrischen Ideologems in den südslawischen Literaturen (16. bis Anfang des 19. Jahrhunderts). In: Ethnogense und Staatsbildung in Südosteuropa. Hrsg. Klaus-Detlef Grothusen. Göttingen 1974, S.  116–143. „Illyrische Sprache“ (bzw. das Illyrische) als Bezeichnung für die südslavischen Sprachen ist im 18. und 19. Jahrhundert (A. L. von Schlözer, J. Dobrovský, P. J. Šafárik – deutsch: Schaffarik) uneinheitlich. Vgl. auch Davor Dukić: Illyrozentrismus – ein verborgenes Konzept. In: Konzepte des Slawischen. Hrsg. Tomáš Glanc und Christian Voß. Leipzig 2016, S. 251–264. Unter „Sprache der Dichtung und Musik der Illyrer“ versteht

8

Teil I

und Bosniaken.8 Daher kann auch ein russischer Gelehrter9, welcher mit der Gesetzgebung sich beschäftigt, die vermöge ihrer Ausdehnung und Wichtigkeit in Justinians10 Zeiten zu gehören scheint, mit einem Dichter von der Ukraine sich begegnen, den man wiederum für einen Zeitgenossen der griechischen Lyriker nehmen könnte, weil er ihre Begeisterung, ihren Glanz und ihre Kunst besitzt, mit dem Dichter, welcher die ganze Frische einer reichen Phantasie vereinigend mit der am meisten vollendeten Form, im Stande war, die Vergangenheit mit feuerstrahlendem Leben zu beseelen. Jedermann wirds erraten, daß ich von unserem Bohdan Zaleski11 spreche. Nebenbei unternehmen die tschechischen Gelehrten12 und vollbringen Arbeiten, welche sich mit den Arbeiten der alexandrinischen Schule vergleichen ließen, wenn sie nicht einen ihnen eigentümlichen Charakter hätten, wenn sie nicht erwärmt wären durch einen fast religiösen Enthusiasmus, dessen Vorbild man etwa nur in den alten Interpreten der heiligen Schrift finden könnte. In diese Reihe laßt uns den illyrischen oder serbischen Poeten, einen auf seiner Leier Rhapsodien singenden blinden Greis stellen, über welche sich Kritiker wie Grimm und Eckstein

hier Mickiewicz die serbischen Volkslieder, auf die er in den Vorlesungen Nr. 17–22 (Teil I) ausführlich eingeht. 8 Ähnlich äußerte sich Jan Kollár (1836): „Jeder Stamm wird dann ein Planet, der sich um eine gemeinschaftliche Sonne dreht, auf andere wechselseitig einwirkt und seinen eigenen Weg schreitet. Dann wird man erkennen, daß alle slawischen Mundarten ihre besonderen Vorzüge und Schönheiten haben: daß die eine Kraft und Majestät hat, wie die russische; die andere Anmut und Lieblichkeit, wie die polnische; die dritte einen herrlichen klassisch-metrischen Rhythmus, wie die böhmisch-slawische; die vierte Heroismus, Feuer und Glut, wie die illyrische usw., und daß doch alle diese Eigentümlichkeiten und Vorzüge aus einer Quelle fließen und in einem Brennpunkt der nationalen Entwicklung sich vereinigen.“ – Johann [Jan] Kollár: Über die literarische Wechselseitigkeit zwischen den Stämmen und Mundarten der slawischen Nation. Aus dem Slawischen, in der Zeitschrift Hronka [1836] gedruckten, ins Deutsche übertragen und vermehrt vom Verfasser. Pesth 1837 (2. Auflage, Leipzig 1844); Zitat nach der 2. Auflage, Leipzig 1844, § 13, S. 76–77. Über J. Kollár vgl. die 4. und 5. Vorlesung (Teil III). 9 Michail Michajlovič Speranskij (1772–1839); vgl. Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj imperii. Sobranie pervoe. 1649–1825 gg. Pod redakcej M.M. Speranskogo. SPb. 1830. 10 Vgl. das unter dem Kaiser Justinian erstellte Gesetzeswerk: Corpus Iuris Civilis. Die Institutionen. Text und Übersetzung. Hrsg. Okko Behrends, Rolf Knütel, Berthold Kupisch 3. Überarbeitete Auflage. Heidelberg u.a. 2007. 11 Józef Bohdan Zaleski (1802–1886), Vertreter der sog. „ukrainischen Schule“ der polnischen Romantik; vgl. J.B. Zaleski: Wybór poezyj. Wstęp Barbara Stelmaszczyk-Świontek. Wybór, komentarz Cecylia Gajkowska. Wrocław 1985; vgl. die 30. Vorlesung (Teil II). 12 František Ladislav Čelakovský (1799–1852); Josef Dobrovský (1753–1829); Václav Hanka (1791–1861); Josef Jungmann (1773–1847); Ján Kollár (1793–1852); František Palacký (1798– 1876). Vgl. die 10. und 11. Vorlesung (Teil I).

1. Vorlesung (22. Dezember 1840)

9

begeisterten, und welche zu übersetzen Herder und Goethe nicht unter ihrer Würde hielten.13 Wir sehen daher verschiedene Funktionen, verschiedene Bestimmungen, erfüllt durch verschiedene alte und neue Sprachen, z.B. durch die sanskritische, arabische, türkische, persische, hier verteilt zwischen die Mundarten einer Sprache. Es ist dies ein Anblick wunderbar und einzig in seiner Art. Aus der Kenntnis einer solchen Sprache wäre es möglich, ein neues Licht, fähig zur Beleuchtung sehr vieler wichtigen Fragen der höheren Philologie, der Philosophie und Geschichte, Fragen in Hinsicht des Herkommens der Sprachen und Völker, in Betreff des Wesens und der wahren Bedeutung der Mundarten, was das natürliche Entwickeln der Sprache anbelangt, herauszubringen. Würde es denn für den Anatomen nicht eine wunderbar herrliche Entdeckung sein, wenn er ein organisches Wesen fände, welches alle niederen Stufen seines Daseins durchgelaufen, und dennoch in sich zugleich das Pflanzen-, Tier- und Menschenleben aufbewahrt hätte, jedes aber von denselben in vollkommener Entwicklung und in völliger Ganzheit darstellte? – Und deshalb haben wir auch nicht die Absicht, zum Gegenstande unserer Vorträge irgend welch eine von den slavischen Sprachen zu machen, eine Abteilung zur allgemeinen Grammatik zu liefern, das Museum der Sprachen mit einer neuen Individualität zu bereichern, sondern das ganze Geschlecht, die ganze Familie und Art zu erkennen trachten. Ehe wir uns an die eigentliche Literatur machen, möge es mir vergönnt sein, einige Endergebnisse ihnen vorzulegen, welche vielleicht einstens die Wissenschaft im Stande sein wird aus unserer Lehre zu ziehen, Resultate, welche die Geschichte der Völker, den Gang der exakten, als wie auch die Geschichte der moralischen und politischen Wissenschaften betreffen.

13

Vgl. dazu – Johann Wolfgang von Goethe: Serbische Lieder [1825]. In: J.W. von Goethe: Schriften zur Literatur. Zweiter Teil. dtv-Gesamtausgabe, Bd.  32. München 1962, 77–97; S. Ferdinand d’Eckstein (1790–1861) in seinen Aufsätzen: Chants du peuple serbe. In: Le Catholique, 1826, I, Nr.  2, S.  243–269 und II, Nr.  6, S.  373–410; über die Übertragungen und Nachdichtungen von Herder und Goethe vgl. – Milan Ćurčin: Das serbische Volkslied in der deutschen Literatur. Leipzig 1902; Jevto  M.  Milović: Übertragung slavischer Volkslieder aus Goethes Briefnachlaß. Leipzig 1939; Dragoslava Perišić: Goethe bei den Serben. München 1968; Milan Mojašević: Zu Jacob Grimms Deutung serbokroatischer Volkslieder. In: M. Mojašević: Deutsch-jugoslawische Begegnungen. Aufsätze. Wien 1970, S.  58–68; Johann Gottfried von Herder (1744–1803) – „Volkslieder nebst untermischten anderen Stücken“ (1778–79); in der 2. Auflage 1807 unter dem Titel „Stimmen der Völker in Liedern“; vgl. Peter Drews: Herder und die Slaven. Materialien zur Wirkungsgeschichte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. München 1990; Joanna Rapacka: Godzina Herdera. O Serbach, Chorwatach i idei jugosłowiańskiej. Warszawa 1995.

10

Teil I

Ich habe erwähnt, daß schon öfters die slavischen Völker aus Europa zurückwirkten. Der tschechische Dichter Jan Kollár hat irgendwo gesagt: Alle Völker haben schon ihr Wort ausgesprochen; jetzt ist’s an uns Slaven, zu reden.14 Mir scheint es, die Slaven hätten schon manchmal gesprochen, zwar auf ihre Art, mit Lanzenstößen und Kanonendonner, und es wäre wohl der Mühe wert gewesen, den Sinn ihrer Rede zu begreifen. Diese Völker gehen schon als eine Kraft in die politischen Berechnungen ein; und um eine Kraft zu bezwingen, um sie zu lenken, würde die Klugheit schon anbefehlen, ihren Ausgangspunkt zu erkennen, den Weg zu messen, die Anspornung zu schatzen, und das Ziel zu erraten; wenigstens das im Angesicht einer neuen politischen Macht zu tun, was die Astronomen nicht vernachlässigen, wenn sich ein neuer Komet oder ein Meteor zeigt. Die Reihe der Beobachtungen, welche in dieser Beziehung nützlich sein könnten, findet man verzeichnet in der Geschichte; bekannt ist aber, daß man die Geschichte eines Volkes nicht erkennen kann, ohne in die Tiefe seiner Literatur hinabzusteigen. Den aufgeklärten Völkern liegt der Nachkommenschaft wegen eine gewisse Pflicht ob, ihre Leuchte nach den dunkleren Gegenden zu wenden. Alles was wir heut zu Tage über die Völker wissen, die einst Barbaren hießen, haben wir von den Griechen und Römern. Tacitus15 macht eine kurze Erwähnung von 14

15

Die Äußerung bezieht sich sinngemäß auf das Zitat von Jan Kollár: „Nach dem Untergang der Griechen und Römer sind die germanisch-romanischen Sprachen und Völker Träger der Kultur geworden. Die Kulturelemente spalteten sich aber bei ihnen in zwei Prinzipen, und zwar so scharf und schroff, daß man sie mit dem Namen der alten und neuen Welt, der antiken und modernen Zeit unterscheiden mußte. Das Prinzip der Antike in der Kunst, Wissenschaft und Bildung ist vorzugsweise heidnisch-national, von Griechen und Römern ausgehend, und wenn auch an sich vortrefflich, doch immer einseitig; das Moderne, Romantische, Ritterliche, Sentimentale ist germanisch-christlich: beide haben schon in ihren abgesonderten Bestrebungen der Menschheit ausgedient und sich ausgelebt. Eine universale, rein menschliche Tendenz verlangt jetzt die Zeit und die gereifte Menschheit; diese große Aufgabe kann aber auch nur eine große, bildungsjunge, in alten Formen nicht erstarrte Nation lösen, wie eben die Slawische.“ – Johann [Jan] Kollár: Über die literarische Wechselseitigkeit, op. cit,. § 13, S. 50–51. Jan Kollár (1793–1852) war Slovake (slovakisch – Ján Kollár). Ähnlich äußerte sich bereits 1830 der österreichische Orientalist Jakob Philipp Fallmerayer (1790–1861), den Kollár auf Seite 63 zitiert; vgl. Jakob Philipp Fallmerayer: Geschichte der Halbinsel Morea während des Mittelalters. 2 Bände. Stuttgart und Tubingen 1830 (Reprint Olms 1965), Band  1, S.  V: „Die Erkenntnis dieser Dinge ist von großer Bedeutung, jetzt wo die Herrschaft über das menschliche Geschlecht von den latinischen und germanischen Völkern zu weichen und auf die große Nation der Slaven überzugehen scheint.“ Vgl. auch H. Batowski: Przyjaciele Słowianie. Szkice historyczne z życia Mickiewicza. Warszawa 1956, S. 95. Tacitus: Germania. Hrsg. J.  B.  Rives. Oxford 1999. Zur Tacitus-Rezeption in Europa vgl. Christopher B. Krebs: A Most Dangerous Book. Tacitus’s Germania from the Roman Empire to the Third Reich. New York-London 2011; im Hinblick auf Mickiewiczs Vorlesungen vgl.

1. Vorlesung (22. Dezember 1840)

11

den Germanen; seine Worte sind zu unseren Zeiten ein Schatz von köstlichen und reichen Kenntnissen geworden. Aus den Abhandlungen, den Kommentaren über einige Blätter des Tacitus, könnte man heute eine ganze Bibliothek zusammensetzen. Wir, die wir aus den Barbaren heraus die Stelle der Griechen und Römer eingenommen haben, ärgern uns häufig über das Lakonische in der Rede unserer Väter; wir sollten daher bei den Nachkommen nicht einen ähnlichen Vorwurf verdienen. Noch gibt es ein anderes Interesse, welches die Neugier zum Erkennen der vom Herd des westlichen Europas entferntem Gegenden anspornt. Es sagen die Gelehrten und Astrologen, daß die der Sonne am nächsten stehenden Planeten bestimmt seien, einstens ihre Stelle einzunehmen. Die Slaven lasteten immer und lasten nach dem Westen hin. Von dort her kamen jene Haufen, die Rom zerstörten, welches nichts von ihnen wissen wollte, da hingegen sie sich begierig erkundigten, was in Rom vorging. Die neue Geschichte der Slaven ist eng verknüpft mit derjenigen der westlichen Völker Europas. Man sah vor nicht langer Zeit ein slavisches Kriegsheer auf allen Schlachtfeldern, in allen europäischen Hauptstädten. Dies Heer, wohin sich auch wendend, wohin nur irgend seinen Tritt lenkend, war überzeugt, allenthalben einer zweiten slavischen Kriegsmacht zu begegnen, welche gleichsam wie aus der Erde gestiegen einem rächenden Schatten ähnlich ihm in Italien entgegentrat16, später vom Niemen bis hin nach Moskau dasselbe verfolgte, ihm den Weg vor der Berezina und bis unter die Tore von Paris versperrte; dann wieder, als der Held des Jahrhunderts unterlegen, als alles schon beruhigt war, wie eine aus den Wolken gefallene Heerschar über dasselbe herstürzt in ihren Ruhelagern, einen furchtbaren Kampf beginnt, die Welt mit Kriegsgetöse erfüllt, die verbrüderten und fremden Völker aufrüttelt, dieselben im Gefühle des bitteren Hasses und der noch viel heißeren Sympathie entbrennen läßt, zuletzt verschwindet, nach sich einen langen Nachklang des Schmerzes und des Ruhmes hinterlassend. Allenthalben trat dem Adler des russischen Kaiserreichs Polens Adler entgegen, immerfort nach dem russischen Hurra ertönt das Kriegszeichen der Polen; und wenden wir das Ohr nach der Vergangenheit, so hallt uns vielmal das wiederholte Echo des nämlichen Kampfes, des gegenseitigen Anfalls, dieser ewigen Jagd entgegen, welche ein Russe, der Fürst Vjazemskij, eine „Thebaïs ohne Ende“17 genannt hat.

16 17

Maciej Junkert: Nowi Grecy. Historyzm polskich romantyków wobec narodzin Altertumswissenschaft. Poznań 2022, S. 230–242. Die Legion unter Dąbrowski [Anmerkung des Übersetzers]. Diese Äußerung bezieht sich auf die Ausführungen von Petr Andreevič Vjazemskij (1792– 1878) in seinem Aufsatz über Mickiewiczs Sonette („Sonety Mickeviča“ in der Zeitschrift „Moskovskij Telegraf“, 1827, čast’ 14, otdelenie 1, S. 191–222), der, mit Mickiewicz befreundet,

12

Teil I

Was ist der Beweggrund dieser Kämpfe. Wer wird siegen? Die Zukunft wird’s aufhellen. Politische Aussichten können uns hier nicht beschäftigen. Jedoch nicht nur einzig die Waffentaten der Slaven, nicht allein ihre barbarischen Einbrüche in den früheren Jahrhunderten, später die christlichen Verdienste in der Verteidigung von Europa, zuletzt der mächtige Einfluß auf die politischen Dinge, sind im Stande das Interesse zu wecken. Der Westen, der da meint, daß die nordöstlichen Gegenden alle Aufklärung ihm schuldig seien, und welcher in der Tat viele seiner Saaten in der dem Boden angepaßten Verbreitung dort sehen kann, würde jedoch mehrere Entdeckungen finden, die er für die seinigen hält, welche früher in jenen Gegenden gekannt waren. Unser Botaniker Adam Zalužanský18 hat hundert und fünfzig Jahre vor Linné19 das doppelte Geschlecht der Pflanzen bemerkt. Ciołek, Vitellio20 genannt,

18

19 20

im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Polen und Russen, das in der Geschichte als „neues Beispiel der alten thebanischen Feindschaft“ (bzw. Bruderkrieg) dargestellt wird, einen versöhnlichen Ton anschlägt. Er sagt: „Братья, которых история часто представляет новым примером древней фивской вражды, должны бы кажется, предать забвению среднюю эпоху своего бытия, ознаменованную семейными раздорами, и слиться в чертах коренных своего происхождения и нынешнего соединения.“ (Die Brüder, die in der Geschichte oft als ein neues Beispiel der alten thebanischen Feindschaft dargestellt werden, sollten, wie es mir scheint, die mittlere Epoche ihres Zusammenlebens, die von familiären Konflikten geprägt war, vergessen, und sie sollten sich in den Grundzügen ihrer Abstammung und ihrer derzeitigen Verbindung vereinen) – Zitat nach: Pëtr Andreevič Vjazemskij: Sonety Mickeviča. In: P.A. Vjazemskij: Ėstetika i literaturnaja kritika. Moskva 1984, S. 66. Thebaïs (Θηβαΐς; russisch: Fiviada oder Feviada) – Titel verschiedener literarischer Bearbeitungen des Sagenkreises um die griechische Stadt Theben und den Krieg zwischen den Brüdern Eteokles und Polyneikes, beginnend mit der „Thebais“ von Publius Papinius Statius; spätere Bearbeitung in der Tragödie von Jean Racine „La Thébaïde ou les frères ennemis“ (Die Thebais oder die feindlichen Brüder), 1664. Vgl. auch – D.P. Ivinskij: Mickevič i Vjazemskij: zametki k teme. In: Adam Mickevič i pol’skij romantizm v russkoj kul’ture. Red. V.A. Chorev. Moskva 2007, S. 138–145. Adam Zalužanský ze Zalužan (um 1555–1613), tschechischer Botaniker; vgl. – Methodi herbariae libri tres Adami Zaluzanii […]. Pragae 1592 (2. Auflage – Frankfurt am Main 1604; Reprint, herausgegeben von Karel Hejm, Prag 1940); vgl. Abhandlungen über die Pflanzenkunde in Böhmen von Kaspar Graf von Sternberg. Zwei Abteilungen. Prag 1818, S. 158– 162; ferner – Vincenz Maivald: Geschichte der Botanik in Böhmen. Wien-Leipzig 1904, S. 29–34. Carl von Linné (1707–1778), schwedischer Naturforscher. Vitellio [auch Witelo, Vitello, Vitello Thuringopolonis, in polnischen Quellen – Ciołek; Verwechslung mit Stanisław Ciołek (~1382–1457), Bischof von Posen, Vizekanzler der polnischen Königskanzlei unter Władysław Jagiełło und Dichter]; Geburtsdatum und Tod unbestimmt (~1230?/1275–vor 1314). Vgl. Leonore Bazinek: Witelo. In: BiographischBibliographisches Kirchenlexikon. Nordhausen 2005, Bd. 24, Sp. 1553–1560. Hauptwerk – Vitellionis Mathematici doctissimi Peri optikēs, id est de natura, ratione & proiectione radiorum visus, luminum, colorum atque formarum, quam vulgo perspectivam vocant. Libri X. Nürnberg 1535; ferner Vitellonis Thuringopoloni Opticae Libri decem. Basel 1572.

1. Vorlesung (22. Dezember 1840)

13

hat schon im dreizehnten Jahrhundert die Theorie der Strahlenbrechungen des Lichtes gebildet, gestützt auf mathematische Berechnung. Andere übergehend, will ich endlich denjenigen erwähnen, welcher allein nur allgemein bekannt ist, Kopernikus, welcher zuerst die Gesetze der Sonnenwelt begriff. Auf welche Weise haben diese Leute, wenn ihr Volk auf keiner Höhenstufe der Aufklärung stand, sich bis zu dieser Kraftentwicklung der Vernunft erhoben? Wie geht es zu, daß dasjenige, was wo anders gewöhnlich erst das Endergebnis einer langen Arbeit ist, am Ende wissenschaftlicher Forschungen liegt, hier eine Rätsellösung zu sein, daß es hier mit dem ersten Morgenanbruch des Wissens zu tagen scheint? Möglich ist es, daß in ackerbauenden Ländern die Pflanzenkunde ganz natürlich den Geist des Menschen beschäftigen, und mit der Anhäufung von Beobachtungen, welche im allgemeinen Umlauf waren, wachsen mußte. Sagt ja doch selbst Vitellio in der Vorrede zu seinem Werk, daß er in Augenblicken des ländlichen Ausruhens den auf den Wellen des Flusses, welcher vor seinem Hause vorbeiging, spielenden Lichtglanz betrachtend, seine ersten Gedanken erfaßte. Einer der ausgezeichneten französischen Schriftsteller hat ausgesagt, daß Kopernikus die Bibel lesend auf die hohen Gedanken vom Sonnensystem kam, und es kann sein, daß diese Ansicht nicht grundlos ist. Aber unser Landsmann, indem er über Kopernikus spricht, hatte ebenfalls vollkommen Recht zu sagen, daß er das System der physischen Welt entdeckt habe, eben wie das „polnische Volk die wesentliche Bewegung der sittlichen Welt selbst vorgefühlt“ („naród polski sam przeczuł istotny ruch świata moralnego“)21 Kopernikus zerstörte die alten Vorurteile, indem er die Sonne als gemeinsamen Herd den Planeten anweist; das polnische Volk hat sein Vaterland um den Mittelpunkt des großen Weltenalls in Lauf gesetzt, und aus derselben Begeisterung ist Kopernikus ein Philosoph gewesen, aus welchem das polnische Volk ein „Kopernikus in der sittlichen Welt“ („Kopernikiem w świecie moralnym“)22 ist. Alle diese Beziehungen verdienen gewiß die Aufmerksamkeit der Ausländer, und vermögen wohl in ihnen die Neugier zum Kennenlernen der wenig bis jetzt beobachteten Völker erwecken, um so mehr, da in diesen Völkern sich ein immer festerer Glaube offenbart, daß sie bestimmt seien, einen tätigeren Anteil am allgemeinen Streben Europas zu nehmen.

21 22

Vgl. Clemens Bäumker: Witelo. Ein Philosoph und Naturforscher des 13. Jahrhunderts. Münster 1991 [11908]. Kazimierz Brodziński: Posłanie do braci wygnańców i Mowa o narodowości Polaków. Paryż 1850 (1. Aufl. Warszawa 1831), S. 55. Im Internet: [http://reader.digitale-sammlungen. de]. Brodziński, op. cit., S. 55.

14

Teil I

Die Aussichten habe ich berührt, die Fragen, welche die Slaven betreffen, habe ich gestellt, aber ich bin gezwungen, sie ohne Antwort zu lassen, um auf einem anderen Weg, dem geradesten und kürzesten – dem Weg der Literatur zum Ziel zu eilen. Die Literatur ist das Forum, wo alle slavischen Völker die Früchte ihrer moralischen und geistigen Tätigkeit herbeitragen, ohne sich gegenseitig zu verdrängen und zu befeinden, ohne gegenseitigen Widerwillen. Möchte dieses friedliche Zusammentreffen auf jenem schönen Feld das Vorzeichen ihrer Vereinigung auf einer anderen Laufbahn sein.23

23

Dieser Absatz ist in der Übersetzung von Leon Płoszewski etwas länger und wird hier nachübersetzt, weil er wichtige Informationen enthält: „Sprache und Literatur bilden den einzigen Verbindungsknoten zwischen unseren Völkern; durch die Literatur fühlen wir uns wie Brüder und Söhne eines Vaterlandes. Das ist der einzige Bereich, der unser allen Eigentum darstellt, und seinen Wert zu zeigen, liegt uns allen am Herzen. Laßt uns die Vereinigung auf diesem neutralen Feld anstreben, dem einzigen, dessen Neutralität wir alle achten. Dieses geistige Feld versinnbildlichen für mich auf Erden die Mauern dieser Lehranstalt. Nur hier allein können sich ohne gegenseitiges Mißtrauen der Pole und der Russe, der husitische und der katholische Tscheche, der mährische Bruder und der Mönch vom Berge Athos, der glagolitisch schreibende Illyrier und der sich der kyrillischen Schrift bedienende Serbe, der Litauer und der Kosake begegnen. Ja, meine Herren, in den Mauern dieses Raumes sehe ich das Symbol unserer Vereinigung in der Zukunft.“ (Adam Mickiewicz: Dzieła. Tom VIII: Literatura słowiańska. Kurs pierwszy. Opracowanie Julian Maślanka, przekład Leon Płoszewski. Warszawa 1997, Wykład I, S. 23). – Die glagolitische Schrift (Glagolica) wurde 862–863 von dem aus Saloniki stammenden Gelehrten Konstantin (als Mönch Kyrill) für Missionierungszwecke in Pannonien und Mähren entwickelt und gilt als die älteste slavische Schrift; sie wurde dann im 10.–11. Jahrhundert von der kyrillischen Schrift verdrängt. Die glagolitische Schrift war vor allem in Kroatien (Istrien, dalmatinische Inseln) lange verbreitet; das älteste Zeugnis liegt in der „Tafel von Baška“ (Bašćanska ploča) vor, die 1851 auf der Insel Krk gefunden wurde; vgl. Stjepan Damjanović: Tragom jezika hrvatskih glagoljaša. Zagreb 1984; ferner den Sammelband – Glagolitica. Zum Ursprung der slavischen Schriftkultur. Hrsg. Heinz Miklas. Wien 2000. Über die 1. Vorlesung vgl. Jarosław Ławski: Odkrywca „słowiańskiego kontynentu“. O wykładzie inauguracyjnym Mickiewicza w Collège de France. In: Prelekcje paryskie Adama Mickiewicza wobec tradycji kultury polskiej i europejskiej. Próba nowego spojrzenia. Praca zbiorowa pod redakcją Marii Kalinowskiej, Jarosława Ławskiego i Magdaleny Bizior-Dombrowskiej. Warszawa 2011, S. 44–86. Über Editionsprobleme der Pariser Vorlesungen (Teil I) vgl. Alicja Soldatke: Pierwszy kurs prelekcji paryskich Adama Mickiewicza. Problemy krytycznego opracowania tekstu – potrzeba nowego wydania francuskiego. In: W kręgu sztuki edytorskiej. Materiały z III Ogólnopolskich Warsztatów Młodych Edytorów. Kazimierz Dolny, 18–20 listopada 2005, pod redakcją D. Gajc i K. Nepelskiej. Lublin 2007, S. 91–98; ebenso – Joanna Pietrzak-Thébault: Dokumentacja kursu pierwszego Literatury słowiańskiej. Wyzwanie dla edytora czy filologa? In: Prelekcje paryskie Adama Mickiewiczaa wobec tradycji kultury polskiej i europejskiej, op. cit., S. 27–33.

2. Vorlesung (29. Dezember 1840) Aufgabenziele der Professur – Peter der Große – Die Stämme im Norden – Die Invasion der Barbaren – Merkmale der Slavizität im VI. Jahrhundert – Entstehung slavischer Staatsgebilde – Polen, Tschechen, Mähren, Fürstentümer der Rus’ – Die Goten – Die Mongolen – Dschingis-Khan – Ursachen der mongolischen Invasionen – Das Bild des Tataren – Der Kampf der Rus’ mit den Mongolen und der Polen gegen die Türken.

Wir haben einige Endresultate angeführt, welche man aus dem Erkennen der slavischen Zustände erlangen könnte, und welche, wie es scheint, die Aufmerksamkeit des Westens, Frankreichs, auf sie hinzulenken im Stande sind. Vielleicht haben wir auch das Glück, das Interesse für den Hauptgegenstand unseres Vortrages, für die slavische Literatur zu erwecken. Diese Literatur zeigt sich uns noch in der Ferne und undeutlich; es ist nötig, sich einen Schaupunkt ihres Bildes zu wählen, auf daß man sich annähernd die Einzelheiten unterscheide und erkenne. Wir werden uns nicht darüber aufhalten, was in Betreff der Organisation Belehrendes sein könnte in der neuen Geschichte der Slaven. Die Publizisten jedoch, welche sich mit den sozialen Fragen beschäftigen, könnten von hier aus nicht wenig Aufklärung zur Voraussehung der letzten Ergebnisse ihrer Aufgaben entnehmen. Mehrere Ideen, welche bei ihnen erst als verstandesmäßige Auffassungen sich noch nicht bis zu den allerletzten logischen Folgerungen entwickelt haben, geben schon ausgeführt bei den Slaven die Ansicht von dem in der Wirklichkeit erhaltenen Ergebnisse. Würde eine aufmerksame Beobachtung die von den Slaven so eifrig aufgegriffenen Theorien des Westens, und das praktische, so gänzlich dem Westen unbekannte Leben der slavischen Völker, vereinigen, so würde dieses der Menschheit viele vergebliche und schmerzliche Reformversuche vielleicht ersparen. Der französische Nationalkonvent24 griff zu einer kühnen und gewaltsamen Reform; Peter der Große weicht weder in der trotzigen Keckheit der Entschlüsse, noch in der energischen Gewaltmäßigkeit der Ausführung in Nichts den Männern des Konvents. Dieser Reformator war allein ein ganzer Konvent, und darin höher als jener, daß er sein Werk vollbracht hat. Peters des Großen System steht bis auf den heutigen Tag, hat sich gänzlich entwickelt, es trägt Früchte. Genügend wäre darauf hinzublicken, um zu erkennen, was von der Aufdrängung des Willens und Gedankens eines Individuums für den geschichtlichen Fortschritt eines Volkes zu erwarten oder zu befürchten stehet. Es würde dieses das Verhältnis, welches 24

Nationalkonvent (Convention nationale) – während der Französischen Revolution die konstitutionelle und parlamentarische Versammlung (1792–1795).

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_003

16

Teil I

zwischen der Überlieferungs- und der dogmatischen Schule der Geschichtsschreiber obwaltet, aufklären. Wir werden uns auch nicht mit den religiösen Reformen in den slavischen Ländern, noch mit ihrem Einfluß auf Europa beschäftigen. Merkwürdig ist jedoch, daß die Erfahrungen der Slaven in dieser Beziehung so fast unbemerkt vorüberziehen. Martin Luther ist ja Jan Hus25 vorhergegangen, und die zahlreichen und verschiedenen Sekten sind hier zur völligen Reife, zum sozialen Zustande herangereift; sie haben ihre gesetzgebenden Körper und Vollführungsgewalten gehabt, sie haben die allerletzten Endergebnisse geliefert, welche man hätte sehen können, ohne denselben Weg aufs Neue zurücklegen zu brauchen. Näher berührt die Literatur, und sehr wissenswert für Europa und Frankreich ist der Rückblick auf die eigentümliche Geschichte der nördlichen Völker. In der Zeit des Entstehens der europäischen Gesellschaft, und des Beginns des christlichen Königreichs Frankreich, sind die Berührungen des Westens mit den Geschlechtern des Nordens in ein tiefes Dunkel gehüllt. Eine ungeheure Linie scheidet die bekannten von den unbekannten Sachen ab, und die Bekanntschaft damit beginnt gerade am Ende des Barbarentums. Vor dieser Grenze ist alles unbekannt. Was hat die Völkerschaaren von Konstantinopel her gegen Westen nach dem Ausflusse des Rheins und nach Rom getrieben? Wer gab den Horden den Antrieb und wer versperrte ihnen den Weg? Wer verursachte den Zu- und Abfluß dieses Stromes von Barbaren? Dieses alles ist noch wenig aufgeklärt, und dennoch ließen sich wohl viele Erscheinungen an ihrer Quelle begreifen. Erinnern wir uns an die Gestalt des slavischen Grundsitzes. Seine ungeheuren, Asien von Europa abscheidenden Flächen erstrecken sich zwischen Griechenlands Bergen und den Gestaden des baltischen Meeres. Durch diesen Kanal floß alles nach Europa hin, wodurch nur irgend das Meer des Slaventums angeschwellt worden war. Im sechsten Jahrhundert verändert eine allgemeine Revolution die Gestalt der Dinge auf dieser ganzen ungeheuren Oberfläche. Es grenzen sich neue Länder, neue Reiche auf derselben ab: Mähren, Tschechien, Polen, Fürstentümer der Rus’. Es ist die mythische Epoche des Slaventums. Bald trägt die christliche Religion hier das organische Leben der Gemeinschaften hinein, jedoch von Rom und Konstantinopel zu gleicher Zeit kommend, senkt sie nach dem

25

Jan Hus (um 1369–1415); vgl. J.  Hus: Schriften zur Glaubensreform und Briefe der Jahre 1414–1415. Hrsg. Walter Schamschula. Frankfurt am Main 1969.

2. Vorlesung (29. Dezember 1840)

17

Ausdruck eines unserer Geschichtsschreiber26 ihre gegen sich geneigten entgegengesetzten Pole der Zivilisation in die Brüdervölker hinein, um sie mit der Kraft des Zurückschellens auseinander zu reißen. Zuerst leisten die Polen und die Tschechen (Böhmen) Widerstand gegen den Ansturm der Barbaren, später schnellt sie Rußland zurück, oder verschlingt dieselben, und endlich kommt die gänzliche Abgrenzung Asiens von Europa zu Stande. Wie viel auch die Slaven den westlichen Völkern haben Leid antun können, so drohten ihre Einbrüche jedoch nie mit einer dauernden Gefahr. Furchtbarer waren die Überfälle der kriegerischen Völker der Goten und Skandinavier. Dieses alles kann aber nicht in Vergleich kommen mit der Vernichtung, die für Europa der mongolische, tatarische oder uralische Stamm in sich trug. [Die germanischen Krieger überfielen die Länder in der Formation heutiger regulärer Armeen: Sie lebten auf Kosten der Bauern, vernichteten sie aber nicht; anders die Mongolen, sie zerstörten und vernichteten das Land, in das sie einmarschierten, völlig.] Ziehen wir vom baltischen Meer gen Norden zu einem Bogen, dessen Sehne das Ufer des Dnjepr sein möchte, so werden wir fast die Grenze zwischen dem Grundsitze der Slaven und der uralischen Völker haben. Eine andere Vegetation, einen anderen Menschenschlag, gänzlich verschieden vom indogermanischen, findet man hier. Dieses ungeheure Geschlecht, welches mehrere Male die Welt umwälzte, faßt in sich drei Hauptaste: den finnischen, mongolischtatarischen und chinesischen. Der erste und letzte geht uns hier weniger an; wir werden uns daher hauptsachlich mit dem mongolisch-tatarischen beschäftigen. Die Steppen Asiens, welche heute noch den Namen Tatarei27 führen, sind um Vieles größer als ganz Europa. Ihre Bevölkerung beträgt jedoch kaum vier bis sechs Millionen, aber jeder Mann ist Soldat. Hier scheint die griechische Mythologie ihren Tartarus versetzt zu haben, jene Quelle alles Elends und Unheils, von hier entspringt auch nach der Meinung der Gelehrten der fabelhafte Zentaur, das Bild der menschlichen Natur, kaum über die viehische erhoben. Dieses Menschtier, dieser Zentaur, ist der Tatare. Sein Körperbau besser von oben entwickelt, hat keine hinlängliche Stütze: die schwachen und schlecht geformten Füße scheinen bloß zum Umfassen des Pferdes zu dienen, aus welchem er fortwährend lebt und wie ein Ganzes mit ihm ausmacht. Der Kopf unförmlich rund, nimmt sich aus wie eine hinzugetane Last 26

27

Nicht ermittelt. Dieser Verweis fehlt in der französischen Ausgabe (A. Mickiewicz: Les Slaves. […] Tome premier. Paris 1849, S. 18) und in der Übersetzung von L. Płoszewski (Adam Mickiewicz: Dzieła. Tom VIII: Literatura słowiańska. Kurs pierwszy. Warszawa 1997, S. 26). Tatarei (auch Tarterei) vgl. dazu Jürgen Osterhammel: Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert. München 1998.

18

Teil I

zur Erhaltung des Gleichgewichtes im Laufe. Außer der viehischen Leidenschaft läßt sich nichts aus seinem Blicke erschauen; der Glanz seiner schwarzen Augen gleicht der verglimmenden Kohle. Keine einzige Geistesauffassung, nichts von Gefühl oder religiösen Vorstellungen steht man beim Tataren. Nicht die mindeste Spur von einer Mythologie und ursprünglichen Religion haben die Mongolen. Die Alten, welche dieser Völker Erwähnung tun, sagen aus, daß sie das Schwert als Zeichen der materiellen Kraft verehrten. Nach den Sagen und Liedern der Slaven hat der Tatare für jeden Tag eine andere Gottheit: eine Meinung, welche den Kultus, der nur für das Wohlergehen eines jeden Tages berechnet ist, gut ausdrückt. Dieses Geschlecht kann übrigens als das Ideal des blinden Gehorsams gelten, und dieses scheint auch die ganze Grundlage seiner geselligen Organisation zu sein. Der Mongole errät durch angeborenen Instinkt den Vorzug des anderen, und bedingungslos unterwirft er sich demselben. Der Grundsatz einer militärischen Disziplin, entsprossen aus langer Erfahrung, ist bei ihnen das Ergebnis einer natürlichen Neigung. Die Anführer vereinigten in sich alle Fehler und Eigenschaften ihrer Horden. Jeder von ihnen kam als Philosoph zur Welt, er glaubte an Nichts, benutzte jedoch den Glauben, wenn es nötig war, nie war er Fanatiker. Aber dafür wurde auch jeder zum Heerführer geboren, und besaß die strategische Kunst in hohem Grade. Bekannt sind die Taten eines Attila.28 Dschingis-Khan29 teilte in seinem Zelt, unter dem Polarsterne sitzend, zwei Armeen, von denen die eine Indien, die andere Deutschland verheerte, Befehle aus. Öfters sogar errieten die niederen Heerführer den allgemeinen Plan ohne Befehle; das ganze Heer, diesen ganzen Stamm leitete immer der unfehlbare Instinkt der Raubtiere. Dschingis-Khan konnte nicht lesen, kannte nicht die Geschichte seines Stammes, und dennoch war er, wie alle uralischen Heerführer, kein Barbar, er war sogar zivilisiert, wenn die Kunst, Reichtümer und Macht zu erwerben, Zivilisation benannt werden soll. Die Mongolen übertrafen hierin alle heutigen Staatsökonomen. Der Handel und die Industrie erfreuten sich unter ihnen eines ungemeinen Schutzes. Nach der Erstürmung einer Stadt wurden gewöhnlich während der allgemeinen Niedermetzlung die Handwerker verschont und übersiedelt, als zu keinem Volke gehörig. Der Gebrauch der Posten war ihnen bekannt: die Stationen der Kuriere Dschingis-Khans erstreckten sich von China bis nach Polen. Er wollte einerlei Maße und Münzen einführen; und ein englischer

28 29

Attila (~ 406–453); vgl. Timo Stickler: Die Hunnen. München 2007. Dschingis Khan (~ 1162–1227); vgl. Dschingis Khan: Eroberer, Stammesfürst, Vordenker. Hrsg. Hans Leicht. Düsseldorf 2002.

2. Vorlesung (29. Dezember 1840)

19

Geschichtschreiber30 sagt, daß er auch schon auf die Erfindung der Bankscheine gekommen war. Das ganze System des Materialismus hatte daher seine Vollführung unter der Leitung einer hohen, instinktmäßigen Fähigkeit, gestützt auf gewaltige Hilfsmittel. Würden wir jetzt fragen, welchen Zweck alle diese Mongolenzüge in die entferntesten Weltgegenden hatten, so würde die Antwort schwer zu geben sein. Ihre Führer setzten nicht den mindesten Wert auf Reichtümer, die sie zu suchen schienen. Die Vernichtung war ihr einziger, sichtbarer Zweck. Im Rat eines dieser Führer wurde einst kaltblütig beraten, ob es nicht besser wäre, die Bevölkerung von ganz Persien niederzumetzeln und das Land in Weideplätze zu verwandeln. Kaum vermochte man es zu verhüten, daß der Antrag nicht angenommen und ausgeführt wurde. Die mongolischen Gewalthaber sagten jedesmal an, daß sie berufen, seien die Menschheit zu bestrafen, sie zu demütigen und auszurotten. Dieser Glaube ist im Stamme des Dschingis-Khan noch nicht ausgestorben. Leicht ist daher zu begreifen, mit welcher Gefahr diese furchtbaren Horden der Menschheit drohten; und es ist ein Irrtum, und bezeugt nur Unkunde in der Geschichte, zu glauben, daß es leicht war, sie zurückzudrängen als ungeregelte Haufen. Nie ging eine zahlreichere Armee auf Eroberung aus, und sie war wohl eingeübt, befaß auch große Führer. Einige Jahrhunderte hindurch hielten die Slaven diesen furchtbaren Einbruch eines ganzen Stammes auf. Die besiegte Rus’ hörte nicht auf, einen passiven Widerstand zu leisten, indem es die Oberherrschaft der Mongolen anerkannte, bewahrte es seine Dynastie und die Nationalreligion, teure Keime der zukünftigen Einheit. Die Fürsten der alten Rus’ haben nie die Hoffnung und die Sache des Volkes aufgegeben. In den Lagern der Tataren geschändet und gemartert, lernten sie das Geheimnis ihrer Politik auswendig, um dasselbe gegen sie selbst zu kehren. Rußland hat allmählich seine Fesseln abgenutzt, sie unmerklich abgeschüttelt, dergestalt daß man mit Genauigkeit die Epoche seiner Befreiung nicht angeben kann. Das heutige Rußland ist Herr eines großen Teils der Tatarei. Nicht die Mongolen allein hatte das Christentum zu seinen schrecklichen Feinden; von der anderen Seite her drang gewichtig der Islamismus gegen dasselbe vor. Die slavischen Völker verteilen unter sich die Last der Verteidigung. Zur Zeit, als die alte Rus’ mit den Mongolen rang, drängte Polen die Türken zurück. Dieser gleichzeitige Kampf wurde ohne den mindesten Zusammenhang zwischen den Völkern der Rus’ und Polen geführt. Ihre Siege und Niederlagen trafen wechselseitig ein. Die unglückliche Schlacht bei Warna [1444] 30

Quelle nicht ermittelt.

20

Teil I

und der Tod des Königs Władysław mit der Blüte der polnischen Ritter kündete dem Christentum den Verlust von Illyrien und Serbien an. Die türkische Macht wuchs von jener Zeit fortwahrend, bis endlich Jan Sobieski dieselbe im Süden Polens erschütterte, und den letzten Hieb ihr unter den Mauern von Wien [1683] versetzte. Auf diese Weise hat das Land der alten Rus’ von der einen Seite gen Norden die Mongolen zurückgedrängt, auf der anderen Seite Polen die Osmanen in der Mitte von Europa aufgehalten, dieses aber nach langen und fürchterlichen Kämpfen, deren Spur jetzt schon nicht mehr zu sehen. Zu jener Zeit gab es nur wenige Städte, wenige Werke der Kunst, und sogar nicht viele Festungen und Verteidigungswerke. Die ackerbautreibenden Länder erheben sich bald nach Niederlagen, und in Kurzem verwischt sich in ihnen die Spur des Überfalles.31

31

Vorlesung unvollständig; der Abschluß fehlt.

3. Vorlesung (5. Januar 1841) Die Vervollständigung des Bildes vom Kampf der slavischen Völker mit den Mongolen und den Türken – Die alte Rus’ und die Merkmale ihrer Literatur; sie neigt sich dem Epos zu – Vergleich der Mongolen mit den Türken – Die Polen; ihr Vaterlandsbegriff und Merkmale ihrer Literatur; sie tendiert zur Lyrik – Die Ukraine – Die Kosaken und ihre Poesie – Malczewskis Versdichtung „Maria“.

Der Slaven Widerstand gegen die Europa bedrohenden Einbrüche im Mittelalter drückte ihrer Literatur einen eigentümlichen Stempel auf. In diesem langen und erbitterten Kampf haben die slavischen Völker ihre Volkstümlichkeit ausgebildet, ihren eigenen Genius entwickelt; durch ihn traten sie in die Reihe der europäischen Völker. Die Mitte des Schauplatzes der allgemeinen Geschichte des Slaventums sind die Karpaten. Auf dem Gipfel dieser Berge hat, wie der Dichter sich ausdrückt, der slavische Adler sich niedergelassen, und mit einem seiner Fittiche das schwarze, mit dem anderen das baltische Meer berührt.32 Jenseits der karpatischen Bergkette zeigen sich uns auf ihren ausgedehnten Flächen die Völker der Rus’ und der Polen; diesseits in den Tälern der Alpen und des Balkangebirges (Haemus) verschiedene Völker, von welchen die Tschechen bis tief nach Deutschland hinein wie eine gegen Westen vorgerückte Vorhut ragen. Die Rus’, den uralischen Stämmen am nächsten gelegen, am längsten mit ihnen im Kampf, zwei Jahrhunderte lang unter dem Joch der Mongolen schmachtend, bereitete in mannhaftem und geduldigem Ausharren sich seine zukünftige Größe. Ihre alte Literatur hat schon in jener Zeit, gleichsam wie durch ein schreckliches Vorgefühl betroffen, einen ernsten und traurigen Charakter. Späterhin wird die Religion das einzige Band der Bevölkerung, welche unterjocht ist von den Tataren; das Interesse für die volkstümliche Unabhängigkeit gewinnt jedoch die Oberhand, welches aber bald die Gewalthaber sich unterzuordnen wissen. Die Literatur der alten Rus’ ist religiös, mehr jedoch monarchisch. Der Fürst geht im Kampf voran, Alles geschieht durch ihn und in seinem Namen: man sieht nicht die untergeordneten Helden. Jegliche Selbständigkeit verschwindet im Angesicht der Größe der zukünftigen Einheit und 32

Seweryn Goszczyński (1803–1876). Vgl. sein Gedicht „Orzeł Biały“ (Der weiße Adler) in: Seweryn Goszczyński: Pobudka. Warszawa 1831, S. 21–25. [www.pbi.edu.pl]: „[…] A kiedy zleciał za skały / Bujać od Dniepru do Sali, / Na całej ziemi wołali: Co za ptak ten orzeł biały! / Jak polotnem skrzydłem toczy! / Jaki w piórach blask uroczy! / To drugie słońce w podniebia przezroczy. // Wszystko się przed nim spłaszczyło; / Ural zgarbaciał w pagórki, / Bracia orły jak przepiórki, / Padły przed jego szpon siłą, / A gdy, spocząwszy na ziemi, / Strzepnął skrzydły dorosłemi, / Daw wielkie morza plusnęły pod ziemi.“ […].

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_004

22

Teil I

Macht des Staates. Die Person des Fürsten faßt den Ausdruck der ganzen jedesmaligen Epoche in sich, die Eigenschaften und Fehler des Herrschers kümmern so viel den Dichter, als sie Einfluß auf das Schicksal der Rus’ haben können. Die Poesie hat daher schon ihr gestecktes Ziel, sie eilt zum Epos. Das dramatische Element erlischt gänzlich in ihr; das Drama erfordert das Spiel vieler individuellen Charaktere, das sich Aneinanderreiben verschiedener Interessen. Dieser Zug der ursprünglichen Literatur der Rus’ hat sich zum größten Teil durchgelebt bis zu ihrer Umwandelung, bis auf die Zeiten Katharinens. Alsdann wich die Religion gänzlich, das monarchische Interesse überwog: die Literatur wurde autokratisch. Nach der Begründung der nationalen Einheit, nach der Anhäufung aller Macht in der Gewalt blieben jedoch die Folgerungen hieraus zu ziehen. Erst dann nimmt die Literatur den Vortritt, sie treibt die Gewalt vor sich hin. Die russischen Dichter gehen häufig den von den Franzosen betretenen Weg, sie ahmen die Engländer nach; ergreift sie jedoch ein nationales Ereignis, so werden sie sogleich Russen. Anders war der Feind, mit welchem Polen hauptsächlich zu tun hatte, ein anderes Ziel, andere Mittel zum Kampf, daher auch andere Endergebnisse. Die Türken haben sich vor allen uralischen Geschlechtern am meisten dem indogermanischen Stamm genähert. Vermischt mit den schönen Völkern der unterjochten Länder, verloren sie mit der Zeit ihre ursprüngliche Häßlichkeit. Von ausgezeichneter und edler Gestalt, großer Kraft, wenn auch etwas weichlichem Körper, unterscheiden sie sich ebenso sehr von den Mongolen in moralischer Beziehung. Wie jenen die Religionsgefühle gänzlich abgehen, so werden diese im Gegenteil sogar geneigt zum Fanatismus; wie das Gemüt jener kalt ist, so besitzen diese eine lebendige Einbildungskraft, welche wenn auch mehr passiv als tätig nichts Eigentümliches schafft, so doch die Kunst und Dichtungsgebilde anderer sich aneignet und nachbildet. Die Mongolen haben keinen einzigen Dichter, keinen einzigen Künstler. Ja doch eine Erfindung im Bereich der Baukunst gehört ihnen eigen: und dies ist, Türme von lebendigen Menschen mit Kalk zugegossen zu bauen. Timur-Leng (Tamerlan)33 half eigenhändig den Maurern bei dieser Arbeit.34 Die Türken waren nie so grausam; sie kämpften am häufigsten im Geiste der Proselytenmacherei für die Verbreitung 33 Über Tamerlan (1336–1405); vgl. Tilman Nagel: Timur der Eroberer und die islamische Welt im späten Mittelalter. München 1993. 34 Vgl. Instituts politiques et militaires de Tamerlan, proprement appelé Timour, écrits par lui-même en mogol et traduits en françois sur la version persane d’Abou-Taleb-alHosseïni, avec la Vie de ce conquérant, d’après les meilleurs auteurs orienttaux, des notes, & des Tables Historique, Géographique, &c. Par Louis-Mathieu Longlès. Paris 1787. Im Internet zugänglich unter: https://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/ bsb10250777_00005.html.

3. Vorlesung (5. Januar 1841)

23

ihres Glaubens, das Glück setzten sie ins Herrschen und Genießen, nicht aber ins Vernichten. Es wurde einst im Rat der mongolischen Weisen gefragt, welches die höchste Glückseligkeit in der Welt wäre? Der Khan antwortete hierauf: den Gegner zu besiegen, ihm die Gattin in seinen Augen zu schänden, die Kinder zu ermorden und ihn zuletzt selbst zu Tode zu quälen. Der Rat gab dem Monarchen Recht, denn es war dies eine volkstümliche Ansicht. Der Türke, wenn auch nach Reichtum, Plünderung und Raub lechzend, weidet sich jedoch nicht an der Qual seiner Beute, er faßt das Glück anders auf. Er liebt die müßige Ruhe, das süße Träumen: diesen Zustand benennt er mit einem Worte, das man nur unvollständig mit dem italienischen farniente wiedergeben kann. Die türkischen Überfälle, weniger schrecklich als die der Mongolen, waren für die Unabhängigkeit der besiegten Völker desto gefährlicher. Lenormant35 sagte, daß auch kein einziger der mongolischen Gewalthaber einen Organisationsgeist besaß; es ist wahr, sie verstanden bloß die Werkzeuge der Zerstörung zu bereiten. Die Türken hingegen bildeten ein ihnen eignes System der dauernden Unterjochung aus, sie ordneten auf ihre Weise bis zu einem gewissen Grade die bekriegten Länder; wo sie sich einmal niedergelassen hatten, da hielten sie auch hartnäckig Stand, was sie einmal errungen, war ihnen äußerst schwer zu entreißen. Der Chronikenschreiber, allgemein bekannt unter dem Namen der Pole Janczar36, vergleicht sie mit einem Meer37, das alle Wässer fortwährend verschlingt, jedoch nie wiedergibt; jede Überschwemmung der Mongolen floß bald wieder in ihre Steppen zurück. Der Andrang des Sultanats nach Polen hin reizte dieses fortwährend auf, weckte alle seine Kräfte und preßte dieselben in einen Mittelpunkt. Hierdurch entwickelte sich in Polen das Gefühl der Volksmacht und der Gedanke vom europäischen Berufe des Staates. Die Polen begriffen bald, ihre Sendung sei 35

Charles Lenormant (1802–1859), französischer Historiker und Ägyptologe; vgl. Ch. Lenormant: Introduction à l’histoire de l’Asie occidentale. Paris 1838 (Stelle nicht ermittelt). 36 Die Autorschaft wird dem Serben Konstantin Mihailović iz Ostrovice (um 1435 – nach 1501) zugeschrieben; vgl. dazu die Eineitung von Renate Lachmann in: Memoiren eines Janitscharen oder Türkische Chronik. Eingeleitet und übersetzt von Renate Lachmann. Kommentiert von Claus Peter Haase, Renate Lachmann, Günter Prinzing. Graz 1975 (= Slavische Geschichtsschreiber. 8), S. 20–50. 37 „Pogańskie rozmnożenie podobne do morza, którego nigdy nie przybywa ani ubywa i takiego jest rodzaju, że nigdy nie bywa spokojne i zawsze się kołysze.“ In: Pamiętniki Janczara Polaka przed rokiem 1500 napisane. Warszawa 1828 (= Zbiór Pisarzów Polskich cz. 2, t. 5), Kap. XLVII, S.  259; Mickiewicz benutzte diese Ausgabe, die keinen textkritischen Apparat enthält. Textkritische, aber dennoch unvollständige polnische Ausgabe vgl. Pamiętniki Janczara czyli kronika turecka Konstantego z Ostrowicy, napisane między rokiem 1496 a 1501. Hrsg. Jan Łoś. Kraków 1912; die vollständigste Ausgabe ist die oben zitierte Übersetzung von R. Lachmann.

24

Teil I

die Verteidigung des Christentums und der Zivilisation gegen den Islamismus und die Barbaren; zugleich mußten sie ihre Kräfte und Mittel erkennen, messen und abschätzen. Das Gefühl dieser Endzwecke, aller dieser Mittel und Vorräte konzentrierte sich in dem Gefühl der Volkstümlichkeit, und drückte sich mit dem einzigen Namen ojczyzna (das Vaterland) aus. Der Patriotismus, die Vaterlandsliebe, ist das zeugende Dogma der ganzen Bildung des Geistes und des Gemütes der Polen; ihre ganze Literatur entwuchs, entfaltete sich und erblühte aus diesem einzigen Worte ojczyzna, sie ist die verschiedene Deutung und Anwendung dieser einen Idee. Denn zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Umständen offenbarte sich diese Idee den verschiedenen Geistern in verschiedenem Lichte und in vielfachen Gestalten. Der begeisterte Redner Piotr Skarga38 begreift und fühlt das Vaterland als den Staat des auserwählten Stammes, als das Jerusalem mit seiner Arche des Bundes, dem Tempel und der Hauptstadt, mit seiner heiligen Vergangenheit, deren Verteidigung und Bewahrung das Leben des Volkes ausmacht. Nach den Meinungen vieler heutiger Reformatoren besteht das Vaterland in der zukünftigen geselligen Ordnung, welche erst zu erschaffen ist. Die Freiheit, Macht und das Glück gehören notwendig zum Inhalt dieser Vorstellung. Nicht zu verwundern ist, wenn eine ähnliche Idee in die Wirklichkeit weder gänzlich eingeführt wurde, noch eingeführt werden konnte, daß nie der gesellige Zustand Polens alle ihre Bedingungen umfaßte. Darum ist es unmöglich, den polnischen Patriotismus mit Worten zu beschreiben und denselben in eine wissenschaftliche Formel zu fassen. So viel ist jedoch gewiß, daß bei den Dichtern, Rednern und nationalen polnischen Staatsmännern das Vaterland nicht der Ort ist, ubi bene, nicht ein gewisser Zustand des Wohlseins, oder ein Stück Erde mit Grenzen umschrieben, hinter denen das Dasein und volkstümliche Wirken des Polen aufhört. Das Vaterland der Polen lebt und wirkt allenthalben, wo die treuen Herzen seiner Söhne schlagen. Die von Polen abgefallenen Länder haben nie aufgehört in Betracht der Volkstümlichkeit und Literatur zu ihm zu gehören. Hier sogar ist die patriotische Politik wieder aufgelebt im idealen Nationalgeist. Die abgerissenen Provinzen hatten ihre Boten auf im Sejm, Sitze im Senate, Beamte und Richter im Kreis der tätigen Gewalten. Polen allein ist dem Beispiel der allgemeinen Kirche gefolgt, welche für die verschiedenen, seiner moralischen Führerschaft unterworfenen Länder der Erde Bischöfe ernennt, und seine 38

Piotr Skarga: Kazania sejmowe i wzywanie do pokuty obywatelów Korony Polskiej i Wielkiego Księstwa Litewskiego. Wstęp, opracowanie i przypisy Mirosław Korolko. Warszawa 2012, S. 50: „Miłujcie ojczyznę tę swoję i to Hieruzalem swoje, to jest Koronę tę i Rzeczpospolitą […].“ (Liebt euer Vaterland und euer Jerusalem, d.h. die Krone und die Republik).

3. Vorlesung (5. Januar 1841)

25

rechtliche Macht sogar dahin erstreckt, wo sie die zeitliche Gewalt verloren hat. Auf der polnisch-russischen Seite der Karpaten bemerken wir zwei Literaturen. Die eine hat vor allem zum Zwecke die nationale Einheit, später die Gewalt und dann das Hinaustreten dieser Gewalt nach Außen; die wirkende Kraft der andern ist die Vaterlandsliebe. Beide sind in ihrem Bestreben unbegrenzt und unermeßlich. Es gibt nichts Wahreres als die Worte eines berühmten Dichters, die er in der Deputiertenkammer sprach: „Die Macht Rußlands ist geduldig wie die Zeit, ausgedehnt wie der Raum.“39 Nie hat dieselbe sich Grenzen gesteckt, wo sie sich aufhalten soll. Der polnische Patriotismus kennt ebenfalls keine letzten Grenzen für sich. Es ist dieses nicht der eigensüchtige und materielle Begriff der Vaterlandsliebe der allen Griechen und Römer, er ist nicht an ein Kapitol gebunden und bedarf keineswegs durchaus eines Forums, schließt sich auch in keine Personifizierung ein. Der Thron übernimmt hier nicht die Hauptrolle, er macht bloß einen sehr kleinen Teil der Republik aus. Die ganze Gesellschaft ist berufen zum Handeln. Der König wird häufig auf dem Schauplatz der Taten nicht einmal gesehen, die Namen der Heerführer und Staatsmänner nehmen den ersten Rang ein; und zuweilen treten Landschaften und Provinzen wie einzelne Personen auf, sie empfangen den Lohn für die Auszeichnung im Kampf (wie einst eine Woiwodschaft das sonderbare Privilegium erhielt, ihre Akten mit rotem Lack zu siegeln). Diese sittliche Kraft, welche keinen sichtlichen Mittelpunkt besitzt, und dennoch eine große und verschiedenartige Gesellschaft bewegt, scheint den, nach der heutigen Ordnung der Dinge praktisch benannten Geistern zu entgehen. Ein anderer französischer Abgeordneter sagte: „Die polnische Sache bietet darin die größte Schwierigkeit, daß sie untastbar ist, sie ist etwas, was man nicht erfassen kann (quelque chose d’insaisissable).“40 Und der russische Monarch [Nikolaj I.], als er seinen Zorn gegen Polen auslassend sagte: „Die Polen opfern die Wirklichkeit für Träume (pour les rêves) auf“41, hatte in gewisser Beziehung Recht. Wenn wir nämlich, wie es heute an der Tagesordnung ist, jeden Gedanken, welcher noch keine Gewalt auf Erden besitzt, und nur erst der Verwirklichung entgegensieht, einen Traum nennen wollen. 39 40 41

Vgl. Alphonse de Lamartine: Vues, discours et articles sur la question d’Orient. Paris 1840 – im Internet unter [http://gallica.bnf.fr]. Zitat nicht ermittelt. Zitat und Person nicht ermittelt. Die Aussage wird zitiert in: Le Czar Nicolas et la Pologne, ou discours de l’autocrate russe, à la municipalité de Varsovie, suivi d’articles que différents journaux ont publiés à ce sujet. La préface est signée de l’éditeur Ignacy Stanisław Grabowski. Paris 1835; vgl. dazu den Kommentar von J. Maślanka (A. Mickiewicz: Dzieła. Tom VIII: Literatura słowiańska. Kurs pierwszy. Warszawa 1997, S. 631).

26

Teil I

Aus diesem Allem läßt sich leicht begreifen, daß die polnische Poesie ihrem Wesen nach keine Elemente des Epos darbietet, sich aber dem Drama und noch mehr der lyrischen Gefühlsweise zuneigt. Inmitten der Reiche der Mongolen und Türken, der Rus’ und Polens, liegt ein Landstrich mit schwankenden Grenzen, sehr anziehend für die Geschichte und Literatur. Von der untern Donau, beinahe von Belgrad ab, erstrecken sich einerseits rund um den Fuß der Karpaten, herum, andererseits am Schwarzen Meere hinter dem Dnjepr und Don bis nach dem Kaukasus hin, breite Steppen. Dieser unermeßliche Raum ist schwer mit einem Namen zu bezeichnen. Verschiedenen Teilen dieses Landes geben die Alten den Namen KleinSkythien, die Russen Kleinrußland, die Polen suchten bis dorthin die Grenzen von Kleinpolen. Ein großer Teil dieses Gebiets trägt den Namen Ukraina, d.h. das Land, das da angrenzt. Eine menschenleere Wüste, zuweilen besetzt und dann wieder von Einwohnern entblößt, aber immer fruchtbar und mit üppigem Unkraut bedeckt, diente seit Jahrhunderten den durchziehenden Barbaren als Pferdeweide. Es ist dieses die große Ader, welche Europa mit der Fläche Mittelasiens verbindet; hiedurch ergoß sich das asiatische Leben nach Europa, hier berührten sich diese beiden Weltteile. Zugvögel, wandernde Insekten, die Pest und die Raubhorden ziehen durch diesen Erdgürtel. Die Völker, welche eine Schranke gegen die Einbrüche stellen, oder die sich mit einander messen wollten, begegneten sich auf diesem neutralen Boden, auf dieser allgemeinen Walstätte. Hier bekämpften sich die Kriegsheere des Ostens und Westens in den Armeen des Kyros und Dareios, der Rus’ und Polens. Hier entsproß das kriegerische Volk der Kosaken, zusammengeschmolzen aus Slaven, Tataren und Türken. Die Kosaken reden die kleinrussische Sprache42, eine Mittelsprache zwischen der polnischen und russischen; sie gingen abwechselnd unter die Oberherrschaft der Polen und der Fürsten der Rus’ über, zuweilen ergaben sie sich den Türken; ihre Literatur wechselte Sinn und Gestalt, je nachdem der polnische oder der Einfluß der Rus’ überwog. Diese Literatur besingt die Vorzüge der Heerführer, den Ruhm der Ritter und am Ende ihre Liebschaften; ihren Hauptcharakter macht die Lyrik aus. Die Flächen der Ukraine sind der Sitz der lyrischen Poesie. Von hier aus haben Lieder unbekannter Dichter häufig das ganze Slaventum durchzogen. Der Kosak, neben seiner Erd- oder Rohrhütte sitzend, lauscht im Schweigen seinem unfern grasenden Pferde, er läßt seinen Blick in der grünen Steppe herum schweifen, und sinnt nach, träumt über die Kämpfe, die hier stattfanden, die Siege und Niederlagen, die hier noch einst vorkommen werden. Das Lied, das seiner Brust entquillt, wird zum 42

D.h. ukrainisch; vgl. Ulrich Schweier: Ukrainisch. In: Lexikon der Sprachen des europäischen Ostens. Hrsg. Miloš Okuka. Klagenfurt-Wien-Ljubljana 2002, S. 535–549.

27

3. Vorlesung (5. Januar 1841)

Ausdruck des Nationalgefühls, allenthalben mit Feuer aufgefaßt, geht es von Geschlecht zu Geschlecht. Die Donau, dieser heilige Strom der Slaven, übernimmt fast immer eine Rolle in diesen Liedern. Er durchzieht diese geheimnisvollen Ebenen, dies sehnsuchtsvolle Land der unerratenen Verhängnisse, und zuweilen ist er wie Hesiods43 Ozean die allerletzte Grenze der bekannten Welt, zuweilen mit Blut gefärbt, wie der Homerische44 Skamander, wälzt er die Rüstungen, die Leiber der Kämpfer und die Schätze der Könige. Was aber auch dieses Land in der Dichtung besaß, ist alles sehr gering im Vergleich der Begeisterung, die es unlängst erweckt hat. Diese wunderbare und leere Walstätte, wo die Überlieferung keinen Stein45 findet, auf dem sie ausruhen könnte, ja nicht einmal einen Baum zum Anlehnen, wo, wie Bohdan Zaleski sagt, die Poesie […] rozesłana Na kwiecistym pól kobiercu, Uwięziona tęskno dzwoni Jak natchnienie w młodym sercu

43

44 45

[…] ausgebreitet Auf dem blumigen Feldteppiche, Gefangen traurig summt Wie Begeisterung im jungen Herzen,

Vgl. Hesiod: Werke und Tage. Griechisch/Deutsch. Übertragen von Otto Schönberger. Stuttgart 2007, Verse 170–173: „Diese bewohnen daselbst, das Gemüt von Sorgen entlastet, / Nah des Okeanos Wirbeln, den tiefen, der Seligen Inseln, / Glücklich Heroengeschlecht […]“. Vgl. Homer: „Ilias“ (21. Gesang, Verse 236–237; 302–303). Mickiewicz verarbeitet hier die Bilder der ukrainischen Landschaft aus dem I.  Gesang (VIII. Strophe) aus Antoni Malczewskis Versepos „Maria“ (1825): „I ciche, puste pola – znikli już rycerze, / A jak by sercu brakli, żal za nimi bierze. / Włóczy się wzrok w przestrzeni, lecz gdzie tylko zajdzie, / Ni ruchu nie napotka, ni spocząć nie znajdzie. / Na rozciągnięte niwy słońce z kosa świeci – / Czasem kracząc i wrona, i cień jej przeleci, / Czasem w bliskich burianach świerszcz polny zaćwierka, / I głucho – tylko jakaś w powietrzu rozterka. / To jakże? Myśl przeszłości w tej całej krainie / Na żaden pomnik ojców łagodnie nie spłynie, / Gdzie by tęsknych uniesień złożyć mogła brzemię?“ (Und stille, öde ist die Flur, die Ritter schon verschwunden; / Das Herz bangt ihnen nach, als hätt’ es den Verlust empfunden. / Der Blick schweift hin im weiten Raum; doch wo er nur mag weilen, / Er trifft nichts Lebendes, kann keinen Ruhepunkt ereilen, / Die Sonne leuchtet schräge auf die ausgedehnte Flur, / Belebt fast von der Krähe Flug und ihrem Schatten nur: / Zuweilen zipt im nah’n Gestrüppe eine Ackergrille; / Nur in den Lüften herrscht ein Zwiespalt – scheint’s – sonst dumpfe Stille. – / Wie, ist kein Ahnenmonument im Lande weit und breit; / Das, sanft umflossen vom Gedanken der Vergangenheit, / Ihm eine Ruhestätt’ für bangen Fühlens Bürde werde?) – A. Malczewski „Maria“. Powieść ukraińska. Opracował i wstępem poprzedził Wacław Kubacki. Warszawa 1956, S. 117–118; deutsche Übersetzung nach – „Maria“. Ukrainische Erzählung in zwei Gesängen von Anton Malczewski. Aus dem Polnischen metrisch – sammt den Anmerkungen des Dichters – übertragen und mit sprachlichen und sachlichen Zusätzen erläutert von Ernst Schroll. Krakau 1856, S. 18–19.

28

Teil I

und nur zuweilen der Wind ein Teilchen losreißt und hinträgt im leichten Gewölk […] przez limany, […] über Limanen, Przez ostrowy i burzany, Über Inseln und üppige Grasebenen, Gdzie mych przodków błądzą duchy.46 Wo meiner Ahnen Geister irren.

Hier ist nach den Worten eines alten Sängers47, auf dieser von Pferdehufen durchwühlten, von Leibern der Gefallenen gedüngten, mit ihren Gebeinen besäten und feinem Regen warmen Blutes benetzten Ebene, üppig emporgeschossen das Trauergefühl. Sehnsucht und Trauer atmen hauptsachlich die Dichtungen jener Gegenden, welche die neuen russischen und besonders die polnischen Dichter48 mit einer Menge Denkmaler bevölkert haben. [Den Gegenstand der heutigen Vorlesung schließen wir mit der Anführung einiger Verse, in denen unser zeitgenössischer Dichter Malczewski ein bewegtes Bild des bewaffneten Kampfes zwischen den Slaven und den uralischen Stämmen in dieser Gegend zeichnet. Das Thema des Poems bezieht sich auf einen der letzten tatarischen Überfälle. Der Held ist ein polnischer Adliger, der in einem abgelegenen Gutshof in der Steppe lebt. Die Nachricht über 46

47

48

Józef Bohdan Zaleski: „Duma z pieśni ludu ukraińskiego“. In: Poezye B. Zaleskiego. Tom I., Petersburg 1851, S. 168, 170. („liman“ – ein schöner See, und daher die poetische Benennung der Seen mit dem Wort „limany“ im Polnischen; „ostrowy“ – Inselgruppen auf dem Dnjepr und anderen Flüssen, die meist bewachsen sind; „burzany“ – heißen verschiedentlich geformte Ebenen, aber immer mit außerordentlich üppigem und hohem Graswuchs und anderer Vegetation bedeckt. Dasselbe wird in anderen Gegenden auch noch anders genannt. Anmerkung des Übersetzers.). Verweis auf das „Igor-Lied“ (Zeilen  123–129): „То было въ ты рати и въ ты пълкы, а сицеи рати не слышяно! Съ заранiя до вечера, съ вечера до света летять стрелы каленыя, гримлють сабли о шеломы, трещять копiя харалужная въ поле незнаеме среди земли Половецкыя. Чьрна земля подъ копыты костьми была посеяна, а кръвiю польяна, тугою възыдошя по Русьскои земли.“ (Das geschah in jenen Kriegen und und jenen Heerfahrten, aber von solchem Kriege wurde nie gehört: Von der Morgenfrühe bis zum Abend, vom Abend bis zum Licht fliegen gehärtete Pfeile, dröhnen Säbel gegen Helme, krachen stählerne Lanzen im unbekannten Feld inmitten des kumanischen Landes. Schwarz die Erde unter den Hufen, mit Knochen war sie besät und mit Blut begossen, als Kummer ging’s auf im russischen Lande.) – „Slovo o polku Igoreve“. Red. L.A. Dmitriev, D.S Lichačev. Moskva 1985; dt. Übersetzung – „Das Lied von der Heerfahrt Igor’s“. Aus dem altrussischen Urtext übersetzt, eingeleitet und erläutert von Ludolf Müller. München 1989, S. 27–28. Vgl. auch die 5. und die 14. Vorlesung (Teil I). Zum Beispiel – Kondratij Fedorovič Ryleev „Dumy“ (1821–23), „Vojnarovskij“ (1825), „Nalivajko“ (1825); Aleksandr Sergeevič Puškin „Poltava“ (1828); Bohdan Zaleski „Duma o Wacławie“ (1819); Michał Czajkowski „Powieści kozackie“ (1837); vgl. Czesław Zgorzelski: Duma poprzedniczka ballady. Toruń 1949.

3. Vorlesung (5. Januar 1841)

29

das Heranrücken des Feindes bewegt ihn zu einer Versöhnung mit seinem Nachbarn, einem polnischen Magnaten, gegen den er einen berechtigten und unsäglichen Groll hegte. In der Verdrängung des persönlichen Verletztseins zugunsten einer Landesangelegenheit wird das wahre Zeichen des polnischen Patriotismus sichtbar. „Auf ein schnelles Pferd schwang sich der alte Ritter [miecznik]49 und ritt ins Feld hinaus.“ […] Zrywają się rycerze jakby ptaki z ziemi — Hasa szlachecka młodzież na wroga Tatara — Sunie się towarzystwo i w szeregach wiara, Pancerni i usarzy — za nimi kozaki, I z spłoszonymi końmi harcują luzaki. […]50 Tymczasem wieś minąwszy, z bitej schodząc drogi, Coraz się, coraz głębiej, wpędzali w odłogi; — Gdzie wiatr ziarna zasiewa, Czas płody przewraca, Nie zbiera plonu Chciwość, ni schyla się Praca — Samotne — ciche — błogie — dziewicze ich wdzięki Kwitną skrycie, od człeka nieskażone ręki, Niebo je obejmuje — gdy w całym przestworze Rozfarbionej żyzności rozciąga się morze. Tam wódz stary, jak żeglarz, podług biegu słońca Szybował swoim wojskiem w kierunku bez końca; Ani się wwieść dozwolił w fałszywe zapędy, Gdy zszedł tatarskich śladów kręcone obłędy Co wśrzód gęstych zarośli niedościgłe szlaki Tłoczą na wszystkie strony, dla mylnej poznaki — Lecz w poprzek przerzynając ich sztuczne drożyny, Uśmiechnął się — jak strzelec, gdy pewny zwierzyny. Wkrótce — złączone hufce — w umyślnym fortelu Rozdzielił na dwie części — dla jednego celu: Do zostających czapką kiwnął pożegnanie; Z swoimi w bok się rzucił na niezmiernym łanie; A kryjąc się w bodiaków rozkwitłych ogromie, Już rycerze bez koni w czerwonym poziomie Już popiersia wędrują na skrwawionym spodzie — Już kołpaki — proporce — już znikli jak w wodzie. […]51

49 50 51

Miecznik: Abgeleitet von miecz – Schwert; Schwertträger, Liktor; Hofbeamter im alten Polen. Antoni Malczewski: Maria. Powieść ukraińska. Opracował Ryszard Przybylski. Wrocław 1958, Pieśń  I, XIX. Zitiert nach der Internetausgabe: [https://literat.ug.edu.pl/maria/ index.htm]. A. Malczewski: Maria, op. cit., Pieśń II, V.

30

Teil I Der Ritterhauf’ wie Vögel, von der Erde aufgescheucht. Voran des Adels Jugend sprengt — ha, gegen die Tataren! Das Heer es wälzt sich nach: die Reis’gen wohlgereiht, Husaren, Gepanzerte, und ihnen nach Kosaken rasch im Flug; Troßbuben scheue Rosse tummelnd schließen dann den Zug. […] Indessen ging’s am Dorf vorbei fernab gebahnten Wegen, Und immer tiefer jagten sie steppein auf wüsten Stegen, Wo Wind der Sämann ist und Zeit die Garbenwenderin, Nicht Gier die Ernte hält, nicht Fleiß sich bückt zur Erde hin, Die jungfräulichen Reize der Natur in Einsamkeit Glückselig still erblühn, von Menschenhänden unentweiht, Wo nur der Himmel sie umfängt und ringsum weit und breit Ein buntgefärbtes Meer sich dehnt von Fruchtbarkeit. Ein Schiffer drauf, führt hier der greise Held den Heeresbann. Des Weges Richtung, endlos, zeigt der Sonne Lauf ihm an. […] Auch ließ er, als es galt der Tatarn Schliche aufzuspüren, Die irrgewundnen, sich von heißer Kampflust nicht verführen, Wohl wissend, daß im Dickicht hin und her nach allen Seiten, Ein trügerisches Merkmal, unerforschte Wege leiten. Er schnitt vielmehr querdurch ihr künstlich Netz und lächelt schlau, Dem Jäger gleich, der seines Tieres sicher ist im Gau. Dann teilte er die Schaaren in zwei Hälften ab zur Zeit, Mit klüglich vorbedachter List zu gleichem Zweck bereit. Die eine, welche bleibt, grüßt mit der Mütze noch der Held Und mit der andern biegt er ab ins unermeßne Feld. Im Dickicht blühʼnder Disteln sind die Recken schon versteckt Und liegen ohne Roß auf rote Erde hingestreckt; Sie kriechen fort, wie Büsten anzuschaun, auf blutʼgen Bahnen, — Verschwunden wie im Wasser sind die Mützen schon und Fahnen.52

Nach dem herrlichen Gemälde der Landschaft und einer getreuen Wiedergabe der eigentlichen örtlichen und zeitlichen Bewegungen des polnischen Heeres folgt die Beschreibung der Schlachtordnung des Äußeren der Tataren: Tam — za wsią stoją — całe zakrywają pole — Bór w lewo — strumień w prawo — a oni w półkole […]53 Ich księżyce, bunczuki z końskimi ogony, Ich futra wywrócone, ogromne ich łuki, Płeć śniada, wąsy zwisłe a czarne jak kruki, Ich nasępione rysy, przymrużone oczy,

52 53

Maria. Ukrainische Erzählung, op. cit., S. 50–51; 68–70. A. Malczewski: Maria, op. cit., Pieśń II, VIII.

3. Vorlesung (5. Januar 1841)

31

W których śnie srogość zwierząt z ludzką się jednoczy. […]54 Dort hinterm Dorfe stehen sie bedeckend rings das Feld, Links Wald und rechts ein Bach, sie selbst im Halbkreis aufgestellt. […] Halbmonde, Roßschweiffahnen flatternd mit den langen Haaren, Die ries’gen Bogen und die Zottenpelze die verkehrten, Die braunen Wangen mit den rabenschwarzen langen Bärten, Die Züge finster trüb, Schlitzaugen träumerischer Art, In denen tier’sche Grausamkeit mit menschlicher sich paart, […]55

Inmitten des begonnenen Kampfes sucht der polnische Anführer den tatarischen Khan, der ihn auch beobachtet: Lecą obces na siebie — Polacy, Tatarzy, W bezczynnym zachwyceniu patrzą, co się zdarzy Jakiś czas Miecznik zmudził; uderzy — odskoczy I znowu w całym pędzie przeciwnika tłoczy; Aż wybrawszy swą porę, w odwet, silnym razem W kark niewierny święconym utopił żelazem. Spada dzielnym zamachem odmieciona głowa, Drga oczami, bełkoce niepojęte słowa, Toczy się, ziewa, blednie i gaśnie — z tułupa, Co siedzi niewzruszony, krew do góry chlupa! Powstał krzyk przeraźliwy; pierszchają — koń Hana Ucieka między hordy z trupem swego pana. […]56 Sie fliegen spornstreichs auf einander los. In starrer Ruh Sehn Polen und Tatar’n dem nahenden Ereignis zu. Ein Weilchen säumend greift der Alte an, sprengt seitab drauf Und wieder dringt er auf den Gegner ein in vollem Lauf, Bis er, erpassend seine Zeit, mit kräft’gem Gegenhieb Das Eisen, das geweihte, in des Heiden Nacken trieb. Wie abgemähet fliegt das Haupt herab im wucht’gen Schwunge! Es rollt die Augen, Worte unverständlich lallt die Zunge, Es kollert hin und her, es gähnt, erbleicht, erlischt; hoch spritzt Das Blut aus ries’gem Rumpf, der unbewegt im Sattel sitzt. Durchdringendes Geschrei steigt auf; sie fliehn; des Khanes Roß Jagt mit der Leiche seines Herren mitten in den Troß. […]57 54 55 56 57

A. Malczewski: Maria, op. cit., Pieśń II, IX. Maria. Ukrainische Erzählung, op. cit., S. 77–79. A. Malczewski: Maria, op. cit., Pieśń II, XI. Maria. Ukrainische Erzählung, op. cit., S. 84–85.

32

Teil I

Das Versepos von Malczewski ist wahrlich ukrainisch: es veranschaulicht uns ständig das Lokalkolorit und die Natur der Ukraine, wir sehen die Kosaken, die Tataren und eine genaue Darstellung der Kämpfe, die Ukrainer und Polen mit den mongolischen Stämmen führten, und über all dem steht und obsiegt das patriotische Gefühl des Polen. Wir begeben uns nunmehr auf die andere Seite der Karpaten, in Länder, die unter der österreichischen Herrschaft stehen: zu den Serben, den Illyriern und Montenegrinern.]58

58

Dieser Absatz ist nachübersetzt worden, ausgehend von der Übersetzung von F. Wrotnowski (A. Mickiewicz: Literatura słowiańska, wydanie trzecie. Rok pierwszy, 1840–1841, Poznań 1865, S.  21–22). In der Übersetzung von Gustav Siegfried steht nur eine kurze Zusammenfassung in Klammern: „Hier führt der Dichter die Beschreibung eines Ausflugs gegen die Tataren aus der Maria von Malczewski an, und zeigt in diesem Bruchstück wie in einem Spiegel alle oben erwähnten Charaktere.“ – A. Mickiewicz: Vorlesung über slawische Literatur und Zustände. Erster Theil, op. cit., S. 30; in der französischen Ausgabe steht auch nur eine verkürzte Fassung (A. Mickiewicz: Les Slaves, Bd. I, Paris 1849, S. 34–35). Ausführlicher behandelt Mickiewicz das Versepos „Maria“ in der 30. Vorlesung (Teil II).

4. Vorlesung (8. Januar 1841) Das Slaventum in Legende und Geschichte – Die Wirkung Roms auf die slavischen Stämme – Erst dem Christentum gelang die Umgestaltung des Slaventums – Die Wiege der slavischen Zivilisation; historische Anfänge; der erste slavische Dialekt, der zur Literatursprache erhoben wurde – Die Serben – Die Schlacht auf dem Amselfeld; ihr Einfluß auf die serbische Poesie – Die Tschechen; ihre Fehler, ihre Literatur der Wiedergeburt – Die Affinität einiger slavischer Völker mit Völkern des Westen als aktive Kraft des Christentums – Polen und Frankreich, die Tschechen und die Deutschen, Rußland und England.

Nachdem in der letzten Vorlesung der Charakter der russischen und polnischen Literatur skizziert worden war, trug der Professor die Aufmerksamkeit der Zuhörer über die Karpaten hinüber, und vollendete den allgemeinen Umriß mit Bezeichnung der Hauptschicksale der serbischen und tschechischen Literatur. Die untere Donau trennte die unbegrenzten Wohnsitze der fabelhaften Geschichte von den Ländern der Wirklichkeit ab. Die Kriegsscharen der Griechen, Römer und sogar der Kreuzritter schienen, je nachdem sie diesen Fluß überschritten, aus dem Bereich der Geschichte auf die weite Ebene der Poesie, und weiter gegen den Don schon in die Tradition und das Fabelhafte sich zu versenken. Und wiederum traten die Führer der Barbaren, nur aus dem ungewissen Nachhall ihres Ruhmes bekannt, erst auf der südlichen Seite der Donau in der Form geschichtlicher Figuren auf. [Hier reicht es, den Namen Attilla anzuführen.] Nur die slavische Gegend zwischen der unteren Donau und dem nördlichen Griechenland, von den Karpaten bis fast an das adriatische Meer, war den Alten, Griechen und Römern, bekannt. Einige Erwähnungen in griechischen Werken, einige Namen und Zeitangaben auf römischen Inschriften, das sind alle Denkmäler der alten Geschichte der Slaven. Diese Vorräte, mit heiligem Gefühl gesammelt, erörtert und erläutert durch die neuere Wissenschaft, machen den Übergang aus der Geschichte des Slaventums zur Geschichte des Westens, sie sind die geschichtlichen Bande der slavischen Volker mit den Völkern Europas. Die Nachforschungen der heutigen Gelehrten haben es über jeden Zweifel erhoben, daß diese Gegenden von undenkbaren Seiten her durch Slaven bewohnt waren.59 Zur Zeit der makedonischen Könige fanden sich hier einige 59

Mickiewicz meint hier u.a. die Arbeiten von Paul Joseph Schaffarik: Über die Abkunft der Slawen nach Lorenz Surowiecki. Ofen 1828, S.  149–158; ferner P.J.  Schaffarik: Slavische Alterthümer, Bd. I, op, cit., S. 256ff; Bd. II. S. 237ff; vgl. dazu die Übersicht der (bis heute kontroversen) Standpunkte im 19. und 20. Jahrhundert von Heinrich Kunstmann:

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_005

34

Teil I

unabhängige slavische Staaten [wie Illyrien (…). Der Stamm der (Krowyzer) wurde später durch die Römer unterworfen.]60; späterhin verwandelten die Römer einige von denselben in Provinzen [Moesien und Pannonien]61, setzten römische Statthalter ein. Die Grenzen dieser Provinzen wechselten häufig, die Herde der Administration wuchsen zu Städten an, und wurden wie z.B. Wien für spätere Zeiten zu Vereinigungspunkten weitläufiger Staaten. Hierdurch also zuerst ging die Zivilisation nach dem Norden und wirkte auf die Barbaren ein; jedoch weder die mazedonischen Könige, noch die römischen Kaiser vermochten in etwa den Andrang der wandernden Völker aufzuhalten, welche auf diesem Wege tief in Europa eindrangen, weil ihre Macht nichts jenseits der Donau vermochte. Erst nachdem das Christentum auf slavischem Boden gefußt hatte, überschritt es diese Schranke, und seinen Einfluß einerseits gegen den Don, andererseits nach der Weichsel hin ausbreitend, konnte es die ungeheure Bevölkerung jener unbetretbaren und unbekannten Länder unterjochen und organisieren. Hier ist folglich die Wiege der slavischen Geschichte, hier sogar erhob sich zuerst eine ihrer Mundarten zur Würde der Sprache, wurde zuerst schriftlich, und zum Übersetzen der heiligen Schrift angewandt, nahm sie die Stelle der heiligen Sprache62 ein. Dessen ungeachtet ließen sich Staaten, welche zum Hauptsitz der Zivilisation und Kultur der slavischen Völker bestimmt schienen, im weiten Fortschritt nicht nur überflügeln, sondern fielen sogar in die Finsternis zurück. Verschiedene Umstände gaben die Ursache dazu. Die Lage auf der großen Wanderstraße des Barbarentums lähmte schon längst die Kraft jedes Keimes einer bedeutenderen Einheit. Die von den Flächen weggemähte Bevölkerung, häufig mit gänzlicher Vernichtung unter dem Tritt der wilden Die Slaven. Ihr Name, ihre Wanderung nach Europa und die Anfänge der russischen Geschichte in historisch-onomastischer Sicht. Stuttgart 1996, Kapitel 2. „Auf der Suche nach der Urheimat der Slaven“), S. 58–66. 60 Ergänzung nach – Adam Mickiewicz: Dzieła. Tom VIII: Literatura słowiańska. Kurs pierwszy. Warszawa 1997, S.  42; Über Illyrien vgl. Vgl. Włodzimierz Pająkowski, Leszek Mrożewicz, Bolesław Mrożewicz, Lothar Quinkenstein: Die Illyrier: Illirii proprie dicti. Geschichte und Siedlungsgeschichte. Versuch einer Rekonstruktion. Poznań 2000. Krowyzer, thrakischer Stamm, vgl. dazu P.J.  Schaffarik: Slavische Alterthümer, Bd. I, op, cit., S. 471–472. 61 Ergänzung nach – Adam Mickiewicz: Dzieła. Tom VIII: Literatura słowiańska. Kurs pierwszy, op. cit., S. 42. 62 Über das (Alt)Krchenslavische (Altbulgarische, Altslavische) und Varianten – vgl. Jos Schaeken und Henrik Birnbaum: Altkirchenslavische Studien II: Die altkirchenslavische Schriftkultur: Geschichte – Laute und Schriftzeichen – Sprachdenkmäler (mit Textproben, Glossar und Flexionsmustern). München 1999; Georg Holzer: Altkirchenslawisch. In: Lexikon der Sprachen des europäischen Ostens. Hrsg. Miloš Okuka. Klagenfurt 2002, S. 187–202.

4. Vorlesung (8. Januar 1841)

35

Wanderer bedroht, mußte in die Berge flüchten, und in der Tat sind auch hier die Bergbewohner die Vergegenwärtiger des wahren Slaventums; bei ihnen hat sich die slavische Sprache und Überlieferung bewahrt. In den Bergen wachsen, wie bekannt, einige Zweige der Literatur, ihre Blüte aber, wenngleich schön, ist jedoch nie reich. Es gibt Arten und Gattungen, die nur inmitten einer fleißigen und um ihre physischen Bedürfnisse unbesorgten Bevölkerung angebaut werden können. Daher hat man auch hier eine lyrische Poesie und geschichtliche Episoden geschaffen, aber alles, was Wissenschaft, was höhere Literatur ist, konnte weder Wurzel fassen, noch sich entwickeln. Noch ein wichtigerer Grund der Zerrissenheit, der Ohnmacht jener Völker, lag in ihrer Religionsverschiedenheit. Gerade in dem Augenblick bekehrt, als der Osten sich gewaltsam von der allgemeinen Kirche losriß, erlagen auch sie den Einwirkungen zweier verschiedenen, häufig feindseligen Strebungen. Die Führer jener Völker, ihrer Überzeugung oder der Richtung der politischen Verhältnisse folgend, neigten sich auf die Seite Roms oder Konstantinopels, nie jedoch konnten sie die Masse der Getreuen der einen oder der anderen Seite nach sich ziehen. Unmöglich war es daher, weder eine Monarchie, noch irgendein einstimmiges Reich zu bilden, welches einen sittlichen Verband besäße. Die Nachbarschaft der zivilisierten Völker, statt vorteilhaft in ruhigen Zeiten auf sie einzuwirken, drohte ihnen sogar mit Gefahr während der inneren Zwiste. Die in der Kultur höher stehenden Staaten bildeten, indem sie hier ihre Organisationen hineintrugen und einimpften, Keime eines Daseins, welche nicht das Mindeste mit dem Leben der slavischen Völker gemein hatten. Die Häupter der Slaven bemühten sich zuweilen, die römische, griechische, ja die feudale und später sogar die türkische Organisation nachzuahmen; hieraus entspann sich neben dem Kampf zweier Religionsbekenntnisse noch derjenige, welcher die Folge vieler verschiedenartiger Zivil- und politischer Ordnungen war. Während dieses unausgesetzten Krieges verschiedener Ideen und Geschlech­ ter untereinander, schien es jedoch einmal zur Umfassung aller Teile unter ein serbisches Zepter kommen zu wollen. Das Haus Nemanja vermochte gegen Ende des 13. oder Anfang des 14. Jahrhunderts seine Dynastie in Serbien fortzusetzen, und sogar viele umliegende Länder zur Huldigung zu bringen. Seine Oberherrschaft erstreckte sich schon vom adriatischen Meerbusen bis zu den Bergen Griechenlands, und in die Nähe der untern Donau. Bald jedoch fielen die Türken über das kaum erhobene Reich her, und seine Unabhängigkeit wurde zugleich mit dem politischen Dasein in einer erbitterten Schlacht zu Grabe getragen. Die Führer fielen, der Adel, die höhere Geistlichkeit, und was nur irgend von der Blüte des Volkes die entsetzliche Niederlage überlebt hatte, mußte landesflüchtig werden, weit die Schätze, Bücher, ja die ganze Macht und sogar das Andenken an die volkstümliche Überlieferung mit sich forttragend.

36

Teil I

Es blieb nur das Volk, abgeschnitten von seiner Vergangenheit, weil es nicht zu lesen verstand, und nichts von seiner alten Geschichte wußte, schon seiner Zukunft beraubt, weil die unwiderrufliche Niederlage ihm für immer das politische Leben entriß. Dermaßen haben sich alle Rückerinnerungen der Serben in einem Kampfplatze eingeschlossen, ihre ganze nationale Poesie irrt traurig um einen einzigen Grabhügel auf den Feldern von Kosovo (Amselfeld)63 herum. Die Geschichte der hier längst vorgefallenen Schlacht ist für sie wunderbar frisch und gegenwärtig. Nicht zerstreut durch das jetzige Treiben, die Ereignisse der neueren Zeit, haben sie dieselbe fortwährend vor Augen. Heute noch geht der Serbe vor diesem Ort weinend vorüber, als wenn der Kampf vor einigen Tagen vorgefallen wäre, er spricht von ihm, wie von etwas Gegenwärtigem. Kosovo nimmt in der serbischen Poesie dieselbe Stelle ein, welche in der spanischen Xeres de la Frontera64 inne hat; nur zu ihrem Unglück haben die Serben kein Tolosa.65 Dieses betrifft jedoch nur die höhere Poesie, das volkstümliche Epos; die Lyrik hat nicht aufgehört in diesen Ländern zu blühen. Die Illyrier und Montenegriner setzen religiöse Hymnen zusammen, Liebeslieder, sie besingen sogar die berühmten Taten ihrer Väter und eigene; aber eine Dichtung, welche bloß mit dem Ruhm dieses oder jenes Geschlechts, dieser oder jener Familie sich befaßt, verdient nicht die erhabene Benennung einer volkstümlichen Poesie, denn sie berührt weder die Angelegenheiten der ganzen Christenheit, noch auch die des ganzen Stammes der Slaven. Folglich blieb die serbische Literatur nur im Volk, und man kann mit Kollár sagen: daß wenn in anderen Ländern die Schriftsteller für das Volk dichten, so singt im Süden der Donau das Volk für die Dichter.66

63 64

65

66

Die Schlacht auf dem Amselfeld (Kosovo polje) fand am 15. Juni (28. Juni) 1389 statt; vgl. Maximilian Braun: Kosovo. Die Schlacht auf dem Amselfelde in geschichtlicher und epischer Überlieferung. Leipzig 1937. In der Schlacht am Rio Guadelate (Provinz Cádiz) unterlag im Juni 711 das Heer des Westgotenkönigs Roderich der muslimischen Armee des Tāriq ibn Ziyād. Vgl. Dietrich Claude: Untersuchungen zum Untergang des Westgotenreichs (711–725). In: Historisches Jahrbuch, Bd. 108 (1988), S. 329–358. In der Schlacht bei Las Navas de Tolosa (16. Juli 1212) besiegte das christliche Bündnis aus Kastilien, Aragón, Portugal und Navarra unter Alfons VIII. die maurischen Almohaden unter Kalif Muhammad an-Nasir. Der Sieg leitete das Ende der maurischen Herrschaft ein. Vgl. Klaus Herbers: Geschichte Spaniens im Mittelaler. Vom Westgotenreich bis zum Ende des 15. Jahrhunderts. Stuttgart 2006. Bezieht sich auf den Aphorismus von Jan Kollár Národní písně – „Že vzdělnostni nemá náš lid, cizozemci mluvíte! / Jakž? V y musíte lidu zpívati, nám pěje lid.“ (Ihr Ausländer behauptet, unser Volk besitze keine Bildung! / Wie das? Ihr müßt dem Volk singen, für uns singt das Volk), in: J. Kollár: Básně, op. cit., S. 352.

4. Vorlesung (8. Januar 1841)

37

Weiter gen Westen diesseits der Karpaten stellt sich das Land der Tschechen, eingeschlossen in der Gestalt eines fast regelmäßigen Vierecks dar. Es ist dieses ein Tal oder vielmehr ein Kessel zwischen konvergierenden Bergen, die rechts und links ihre Gewässer nach der am tiefsten gelegenen Mitte hinsenden, wo sie von der Elbe aufgenommen und weiter spediert werden, etwa 1000 Quadratmeilen groß, und mit etwas über 4 Millionen Einwohnern. Der schwierige Zutritt zu diesem Land schirmte es sogar schon während der Völkerwanderungen; die Barbaren, welche sich tief nach Europa hinein versenkten, umkreisten es in die Runde. In einer so glücklichen Lage gelegen, vermochten schon zeitig die Tschechen eine gewisse Ordnung in ihre Politik und Literatur zu bringen. Im 11. Jahrhundert gründeten sie schon die Erblichkeit67 des Thrones, und sicherten gesetzlich die Unteilbarkeit des Königreichs; zwei ungeheure Schritte im politischen Leben. Dieses Reich war auch das erste im Slaventum, welches die christliche Religion für die Grundlage der neuen Gesellschaft annahm. Desgleichen war ihre Sprache schon längst ausgebaut und besitzt Denkmäler68 aus dem 10. Jahrhundert, und im 11., 12. und 13. zählte sie schon viele geschriebene Werke; sie war auch an der Herausbildung der polnischen Sprache beteiligt. Nach dem Auslöschen der volkstümlichen Dynastie unterstützte das regierende Haus Luxemburg die Wissenschaften und Künste, später bemühte sich das österreichische nach Möglichkeit den Samen der örtlichen Kultur zu entwickeln. Ungeachtet aller dieser Vorteile jedoch blieb ihre Literatur einigermaßen wie kalt und tot. Es scheint, als hätte eine toddrohende Krankheit im Schoße dieser politischen Gesellschaft geruht, welche zur Erkenntnis ihrer selbst nicht kommen, und seine Bestimmung zwischen den christlichen Völkern nicht erraten konnte. Vielleicht war die glückliche Lage, die ungetrübte Ruhe selbst, die Ursache des Unglückes der Tschechen. Während die Länder der Rus’ unter dem starken Druck der mongolischen Atmosphäre alle Urstoffe ihrer Kräfte entwickelten, während Polen durch die von der Türkei heraneilenden Stürme in einem fort erschüttert wurde, waren die Tschechen gedeckt durch Polen und Ungarn in fortwährender Berührung vermöge Österreichs mit dem kultivierten Teile Europas. Diese Zivilisation wollten sie bei sich häuslich machen, entnahmen dieselbe von Außen, hatten aber im Innern nichts, sie zu nähren. 67

68

Erbfolgeprinzip (Primogenitur), das die monarchische Erbfolge durch das Erstgeburtsrecht regelt. Es wurde nach dem Tod des ersten tschechischen Přemysliden-Königs Vratislav II. (1092) wirksam, dessen Thron – nach internen Auseinandersetzungen – sein ältester Sohn Břestislav II. bestieg. Vgl. Jörg Konrad Hoensch: Geschichte Böhmens. Von der slavischen Landnahme bis zur Gegenwart. München 1997. Vgl. dazu die 10.–12. Vorlesung (Teil I).

38

Teil I

Alle slavischen Völker zusammengenommen haben nicht so viel geschrieben als sie; dessen ungeachtet hat ihre Literatur keine selbstständige Kraft, schuf kein eigenes Erzeugnis, war immer nachahmend. Daher fing man allmählich an, die Muster der Nachahmung vorzuziehen, und die deutsche Sprache nahm den Vorrang vor derjenigen der Väter. Nach einiger Zeit erhoben sie sich zwar zur Verteidigung ihrer Volkstümlichkeit, aber auch dieser Kampf fiel unglücklich aus, weil sie die Volkstümlichkeit bloß von ihrer am meisten materiellen, oberflächlichen Seite begriffen, und bloß auf den Stamm und die eigne Sprache dieselbe stützten. Die Zunge war ihnen nicht eigentlich Sprache, sie betrachteten sie bloß als Werkzeug, als Mittel zur Mitteilung des Gedankens, nicht aber für den Schoß, der denselben schafft. Sie begriffen es nicht, daß die Sprache nur durch ihre innere Macht fortleben kann, daß ihre Anziehungskraft im geraden Verhältnis stehe zum Gesamten der Wahrheit, die sie enthält, ihre Wirkungskraft nach Außen im Verhältnis der Masse des Lichtes und der Wärme, die sie ausgibt. Anstatt also die siegende Kraft ihrer Sprache in der Wahrheit zu suchen, wollten sie den Triumph derselben in der materiellen Kraft finden. Ohne sich zu bemühen, gründlicher und erhabener als die Deutschen zu schreiben, vermeinten sie, mit geschriebenen Urkunden das Deutschtum von der Universität Prag zu vertreiben, ihre Volkstümlichkeit und Sprache trachteten sie mit Gesetzartikeln und dem Schwert zu schirmen. Ein so beengter nationaler Geist hatte nicht wenig Einfluß auf ihre Religionsansichten; diesen Geist als den Vergegenwärtiger der volkstümlichen Kirche unterstützte über alles die Kirche selbst, welche die tschechische Sprache adoptierte und rein tschechische Dogmen hatte. Nachdem sie sich kopfüber mit dem Feuer eines jugendlichen, fast barbarischen Volkes in den Religionskampf geworfen hatten, gebrauchten sie die theologischen Artikel wie die Wilden die Waffen oder den Branntwein, ihnen von der neueren sogenannten Zivilisation dargereicht, zur eigenen Vernichtung, zur eigenen Vertilgung. Österreich, damals der Vertreter des alten Europa, vermochte allmählich dieses Feuer zu dämpfen, die Kraftanstrengung für seine Zwecke zu lenken, die Ermüdeten zu unterjochen und, einmal Herr des erschöpften Volkes, rottete es mit Erbitterung seine Literatur als durchdrungen von gefährlichen Dogmen, als das Zeughaus der Rebellion aus. Zwei Jahrhunderte hindurch wurden mit der größten Emsigkeit alle Denkmäler Böhmens zerstört; bis endlich, als die Feindschaft schon besänftigt, fast in Vergessenheit geraten war, als die Böhmen schon vielemal Beweise der Anhänglichkeit an das österreichische Haus gegeben hatten, diese Regierung in unseren Tagen anfing, sie zu unterstützen, und sogar ihre nationalen literarischen Unternehmungen zu ermuntern. Merkwürdig und auffallend ist jedoch die Erscheinung, daß jener tschechische Geist, welcher so lange umsonst nach

4. Vorlesung (8. Januar 1841)

39

seiner Bahn zur Zukunft gestrebt hatte, gerade jetzt beim Aufwachen nach einem langen Schlaf, auf einmal die ihm gehörige Stellung findet. Fast scheint es, die Tschechen hätten erkannt, was ihr Beruf sei, wenigstens haben sie die ihnen von Niemandem streitig gemachte Stellung inmitten der slavischen Völker eingenommen. Zurückgeführt zur Tiefe ihres Wesens, haben sie sich auf die Vergangenheit gestützt, treten aus ihr heraus, und aus derselben wollen sie das gemeinschaftliche Band für alle Slaven hervorholen. Die tschechischen Gelehrten ähneln nicht im Mindesten den Altertumssammlern anderer Länder; von einem heiligen Feuer werden sie geleitet zur rastlosen Arbeit, wie etwa die Mönche des Mittelalters, welche den Glauben, diese aber Volkstum predigen, und mit geduldigem zugleich poetischem Geiste nachforschende Unternehmungen ausführen, wobei sie häufig Armut und Elend ertragen müssen. Auf dieser Bahn der slavischen Wissenschaft zeigt sich zu allererst der würdige Josef Dobrovský69; [wie Herodot durchwanderte er alle Länder, über die er sich informieren wollte; er war in Petersburg, Moskau und Warschau; er besuchte sogar slavische Siedlungen hinter den Alpen. Seine Nachfolger und Nachahmer folgten ihm mit derselbigen Kraft und Energie.70 Sie benutzen alle möglichen Mittel zur Erreichung des Zieles, sie schreiben in allen Sprachen, in Latein, in Deutsch, in Polnisch, zuweilen auch Französisch. Aus dem Licht der ganzen Zivilisation Vorteil ziehend, bemühen sie sich, das Slaventum vor dem ganzen zivilisierten Europa zu enthüllen. Indem sie die Verortung der Tschechen inmitten der slavischen Völker nutzen, versuchen sie, diese näher zueinander zu bringen und untereinander bekannt zu machen. Sie übersetzen die polnische Dichtung für die Serben, serbische Lieder für die Deutschen71, und indem sie slavische Denkmäler sammeln, veröffentlichen sie diese in 69

70

71

Vgl. Josef Dobrovský: Geschichte der böhmischen Sprache und Literatur. Prag 1792 (Reprint: Halle/Saale 1955); Slovanka: zur Kenntniß der alten und neuen slawischen Literatur, der Sprachkunde nach alten Mundarten, der Geschichte und Alterthümer. 2 Bde., Prag 1814–1815; Institutiones linguae slavicae dialecti veteris. Wien 1822; über Josef Dobrovský (1753–1829) vgl. Markus Wirtz: Josef Dobrovský und die Literatur. Frühe bohemistische Forschung zwischen Wissenschaft und nationalem Auftrag. Dresden 1999. Dazu zählen: Josef Jungmann (1773–1847); František Palacký (1798–1876); der Slovake Pavol Josef Šafárik [tschech. Šafařík; deutsch Schaffarik] (1795–1861); Vaclav Hanka (1791–1861); Jan Kollár (1793–1852); František Ladislav Čelakovský (1799–1852); vgl. Walter Schamschula: Geschichte der tschechischen Literatur. Band I: Von den Anfängen bis zur Aufklärungszeit. Köln-Wien 1990, S. 329–396. Daß die Tschechen polnische Literatur ins Serbische übersetzten, kann, wenn überhaupt, höchstens mit der Tätigkeit von P.J. Šafařík (Schaffarik) in Novi Sad in Jahren 1819–1833 in Verbindung gebracht werden – vgl. Petar Bunjak: Pregled poljsko-srpskich književnih veza (do II svetskog rata). Beograd 1999; serbische Literatur ins Deutsche übersetzte die deutsche Schriftstellerin Therese Albertine Luise von Jacob (pseud. Talvj) – vgl. 17. Vorlesung (Teil I).

40

Teil I

lateinischer Sprache für das aufgeklärte Europa. Im Zwist der feindlichen Literaturen stehen sie da als unparteische Richter, zuvorkommende Vermittler.]72 Die russischen Literaten haben immer die polnischen, diese wiederum die russischen im Verdacht; mit gleichem Vertrauen jedoch nähert sich der Russe wie der Pole dem fleißigen, gewissenhaften Tschechen; was nämlich besonders diese Gelehrten auszeichnet, das ist ihre hohe Unparteilichkeit. Sie haben diesen dauernden Grundsatz, die Wissenschaft über zeitliche Fragen zu erheben, die Geschichte unter der Oberfläche der politischen Umstände zu erforschen. [Sie rufen die verbrüderten Völker zur ursprünglichen Gemeinschaft des Stammes und der Sprache auf; sie erinnern unentwegt an die Kirche der heiligen Apostel, an den heiligen Jacek73 und den heiligen Jan Kanty74; sie erinnern daran, daß der heilige Kyrill in der Sprache der Tschechen, der Russen und der Polen schrieb. Sie möchten die Soldaten des Generals Kościuszko mit den Enkeln ihres Siegers versöhnen;]75 ja sie möchten im Glanz des Ruhmes die Rückerinnerungen ihrer gegenseitigen Kämpfe ersticken. Und wenn es ihnen nicht gelingt, das erwünschte Ziel zu erreichen, so rührt dieses vielleicht daher, daß sie noch nicht gänzlich von den ererbten Vorurteilen der Väter sich frei gemacht, daß sie gar zu viel auf eine oberflächliche, stammesgebundene Volkstümlichkeit geben, den Geist aber, welcher die Zivilisation der verschiedenen Völker belebt und entwickelt, zu wenig schätzen; dem sei jedoch wie es wolle, immer werden die Tschechen als die Patriarchen der slavischen Wissenschaft gelten, sie liefern nicht nur volkstümliche Dichter und Rechtsgelehrte, sondern man kann sagen, es ist dieses ein ganzes Volk von Forschern und Philologen. Da wir nun jetzt das gänzliche Bild des Slaventums vor Augen haben, und dasselbe mit dem westlichen Europa vergleichen können, so fällt uns die merkwürdige Ähnlichkeit der christlichen Länder, diesseits und jenseits der vom venetianischen Meerbusen gen Hamburg gezogenen Linie auf. Der Kampf der ganzen Christenheit gegen die Barbarei oder das Barbarentum gibt schon merkwürdige und belehrende Beobachtungen von einem gewissen Entsprechen, das da zwischen den Teilen der beiden Hälften obwaltet. Und 72

Dieser Absatz wurde nach der Edition von Wrontowski (A.  Mickiewicz: Literatura słowiańska, wydanie trzecie. Rok pierwszy, 1840–1841, Poznań 1865, S.  29) nachübersetzt und mit der französischen Ausgabe (A. Mickiewicz: Les Slaves, op. cit., Bd. I, S. 47) verglichen. 73 Über Hyazinth von Polen (św. Jacek 1183–1257) vgl. Marian Kanior: Jacek. Święty dominikanin. Kraków 2007. 74 Johannes von Krakau – Jan Kanty (1390–1473), Theologieprofessor in Krakau; vgl. [http:// pl.jankanty.net]. 75 Der bei Gustav Siegfried und Wrontowski fehlende Absatz wurde nach der französischen Ausgabe nachübersetzt (A. Mickiewicz: Les Slaves, op. cit., Bd. I, S. 47).

4. Vorlesung (8. Januar 1841)

41

so stellte Spanien, von Bergen umringt, den Muselmännern eine unbezwingliche Kraft des Widerstandes, Frankreich hingegen ließ sich in weite Unternehmungen ein. Spanien scheint sein Dasein zu verteidigen, Frankreich sucht Ruhm. Der deutsche Stamm, in die allgemeine Sache allmählich hineingezogen, verwendet sie zuletzt zu seinem Vorteil. Im heiligen römischen Reiche lag ursprünglich ein hoher Gedanke, die Verteidigung der Christenheit; dieses noch von den Hohenstaufen so ziemlich aufrecht gehalten und befolgt, wurde doch schon hin und wieder und später gänzlich für das Interesse des Kaisertums verwendet. Das Kaisertum oder vielmehr die Markgrafschaft Österreich zum Schutz des Frankenreiches vor den Ungläubigen und Slaven gegründet, erbte zuletzt alle Erfolge des Christenschwertes in ihren Ländern. Die bergigen Länder der Illyrier und Serben entsprechen in vieler Hinsicht dem spanischen Katalonien und Asturien. Ihre kriegerischen Taten, ihre Literaturen tragen mehr als einmal denselben Charakter. Es sind dieses die Gemeinplätze der abenteuerlichen Unternehmungen, der ritterlichen Schauspiele; hier und dort gibt es entführte Prinzessinnen, mit dem Schwerte erbeutete Kronen. Lange Zeit war das Schicksal Polens ähnlich demjenigen Frankreichs. Polen wie Frankreich behielt nichts für sich von der Beute der Ungläubigen, es blieb ihm nichts übrig, als eine große heimatliche Rückerinnerung und eine große Zuneigung bei den Fremden; die Völker sind daran gewöhnt, in Polen den Vergegenwärtiger eines edeln Gedankens im Kampf für das allgemeine Beste zu sehen. Endlich spielen die Tschechen und Russen Deutschland etwas ins Handwerk, man könnte sie die slavischen Deutschen benennen. Gewiß, dieser Vergleich zu weit getrieben, auf alle Einzelheiten erstreckt, könnte zu weit führen und falsch ausfallen; nennt ja aber der Deutsche selbst den Tschechen Ochse, den fleißigen, biederen, gutwilligen Tschechen, und welcher dennoch fähig ist wie der Deutsche, in Feuer für abstrakte Ideen zu erglühen und unter allen Slaven am meisten den deutschen Geist vorstellt. Andererseits scheint Rußland an England, dieses modifizierte Germanien, zu erinnern. In beiden sehen wir dieselbe Ausdauer in den Vorsätzen, dieselbe Kraft in ihrer Ausführung. Die Raschheit, welche das eine wie das andere von der Schwerfälligkeit der Deutschen des festen Landes unterscheidet, kann ebenso gut hier wie da, dem gleichmäßig eingeimpften Geiste der Normannen gehören.

5. Vorlesung (12. Januar 1841) [Antwort auf einige Vorwürfe]76 – Die Unterscheidungsmerkmale der slavischen Literaturen – Die russische, die polnische und die tschechische Literatur – Der Stammcharakter der Slaven, ihre Physiognomie, Wohnsitze und deren Einteilung; Einfluß der Natur auf die slavische Literatur – Das gesellschaftliche und religiöse Dogma der Slaven, in dem jegliche Form der Offenbarung fehlt.

[Seit dem Beginn meiner Vorlesungsreihe erreichen mich täglich Briefe slavischer Wissenschaftler mit Vorwürfen, die teils den Plan der Vorlesungen, teils einige Details meiner Ausführungen kritisieren. Ich gehe auf diese Briefe ein, weil sie nicht unwichtig sind; in ihnen wird der Charakter des literarischen Lebens der Slaven sichtbar. Die Literatur ist bei uns noch nicht wie eine verwelkte Blüte vom Baum des allgemeinen Lebens gefallen. Unsere Literatur steht weder für Vergnügen, noch ist sie Kunst um der Kunst willen. Die Literatur der Slaven besitzt eine enge Bindung an die Religion, an die Geschichte 76

Diesen Abschnitt faßt Gustav Siegfried lediglich zusammen; er wird daher in die Fußnote versetzt. An seine Stelle tritt in den Haupttext die ausführliche Darlegung der Gegenargumente nach der Übersetzung von Felix Wrontowski. – Abschnitt nach Gustav Siegfried: „Nachdem der Professor einige ihm in Briefen zugeschickten Vorwürfe und Fragen beseitigt hatte, nahm er einen derselben heraus, um an ihm als Leitfaden seine Zuhörer durch die literarische Vergangenheit der Slaven zu führen. Es ist nach der Meinung des Herrn Mickiewicz unmöglich, irgendein slavisches Volk als Mittelpunkt festzustellen, und um denselben herum das Ganze des Gegenstandes zu gruppieren, denn keine Sprache und keine Literatur hat ein überwiegendes Recht zum Vorrang, zur Oberhoheit unter den anderen. Daher muß man alle Fragen über die selbststandigen Volkstümlichkeiten bei Seite lassen, und den allgemeinsten, weitesten Gesichtspunkt auffinden, den slavischen Stamm in seiner Ganzheit betrachten, die Stufenfolge seiner Entwicklung aufspüren. In dieser Absicht teilte er den Gang seines Vortrages, wie folgt, ein. – 1. Allgemeine Charakterzüge der Slaven, Kennzeichen ihres Stammes und Beschaffenheit ihres Bodens, zumal durch diese viele historische und literarische Aufgaben gelöst werden. 2. Die ältesten und allen Slaven gemeinschaftlichen Literaturdenkmäler. 3. Die Denkmäler, welche den Übergang vom Heidentum zum Christentum bilden. 4. Das Zeitalter des Heldengedichtes, die serbische Poesie, der Sagenkreis, welcher die Herrschaft des Hauses Nemanja umfaßt. 5. Polen tritt im 15. Jahrhundert an die Spitze, sammelt in sich alle geistigen und sittlichen Kräfte der slavischen Länder, entwickelt seine Literatur und erhebt sie zur Kunst. 6. Endlich von dem Zeitpunkte der Hemmung seines Fortschritts im 17. Jahrhundert fängt die allgemeine Umbildung der slavischen Literaturen an; Rußland und Böhmen kommen wieder auf dem historischen und literarischen Feld zum Vorschein; dieser letzte Zeitabschnitt jedoch wird zum Gegenstand der Vorlesung des künftigen Jahres dienen. – Dieser Anordnung gemäß ist die gegenwärtige Vorlesung eine von den dreien, welche dem ersten Teil des Gegenstandes gewidmet sind.“ – (A. Mickiewicz: Vorlesungen über slawische Literatur und Zustände. Erster Theil. Leipzig-Paris 1843, S. 42–43.)

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_006

5. Vorlesung (12. Januar 1841)

43

und an das politische Leben. Hier reicht es schon zuweilen, einen Dichter nur zu kritisieren, um dadurch schon alle die Slaven unterscheidenden religiösen und politischen Fragen aufbrechen zu lassen, um gleichsam den einen Stamm gegen die Brudervölker aufzustellen, die unter dem Einfluß mannigfacher Interessen und vieler Begehrlichkeiten getrennt sind. Es steht mir nicht an, mich auf eine Polemik einzulassen, zu der ich herausgefordert wurde. Diese Debatte würde ohnehin nur den slavischen Teil meines Publikums interessieren. Dennoch sei mir erlaubt, auf einige Vorwürfe einzugehen, die, wie ich meine, Aufmerksamkeit verdienen. Man warf mir vor, daß ich bei der Beschreibung des Kampfes der Slaven gegen die Barbaren den Anteil Russlands durchaus zu hoch eingeschätzt habe. Man sagt, ich habe die Kämpfe der Polen und der Litauer gegen die Tataren verschwiegen. Zunächst haben die Litauer, nachdem sie die Tataren besiegt hatten, dem tatarischen Trieb folgend, oft die slavischen Länder verwüstet. Lange waren sie Verbündete der Barbaren und Gegner der Zivilisation, und erst später, als sich Litauen mit Polen verbündete, gelang der Weg in die christliche Gemeinschaft.77 Hier kann man also über die Litauer wenig berichten. Die Polen wiederum kämpften zwar zuweilen gegen die Mongolen, es gelang ihnen jedoch nicht, ihnen einen entscheidenden Schlag zu versetzen. Erst der Politik der Rus’ gebührt das Verdienst, die Mongolen mit ihren eigenen Waffen und z.B. durch die Lenkung der Macht des Krim-Khanats gegen andere Tataren besiegt zu haben. Indem die Moskoviter Großfürsten die Tataren untereinander zerstritten und ihnen nicht ermöglichten, ihre Kräfte zu konzentrieren, begannen sie über sie die Oberhand zu gewinnen, ja sogar sie zu erobern und zu unterwerfen. Auf diese Weise wurde die Goldene Horde aufgelöst, Sibirien und das Krim-Khanat wurden Teile des russischen Staates. Rußland erlangte den Sieg über die Tataren; heute stehen sie Rußland zu Diensten. Ich gehe nun zu Fragen der Literatur über. Man hat mir unterstellt, daß ich die slavischen Literaturen willkürlich und sogar unrichtig charakterisierte, indem ich ihre Hauptmerkmale vom Standpunkt der Gegenwart bestimmte. Ich sagte, die russische Sprache sei die Sprache der Gesetzgebung und der Befehle. Hierbei geht es mir nicht darum, dieser Sprache andere Qualitäten abzusprechen, nicht darum, an dieser Stelle zu vergessen über ihre berühmten Dichter zu sprechen, aber ich stütze mich dabei auf ein festes Faktum. Es liegt doch auf der Hand, daß die russische Jurisdiktion heute die Befehlsgewalt über eine große Anzahl der slavischen Bevölkerung besitzt, daß die russische Sprache in den Schulen, amtlich verordnet, die Sprache der Administration ist: 77 Über die Christianisierung Litauens vgl. den Sammelband – Chrystianizacja Litwy. Red. Jerzy Kłoczowski. Kraków 1987.

44

Teil I

das zeichnet seinen heutigen Charakter aus. Unter den Werken des neueren russischen Schrifttums ist das berühmteste und bedeutendste die Sammlung von Gesetzen, herausgegeben durch die Kommission.78 Ich sagte auch, daß die polnische Sprache die Sprache des Gesprächs und der Literatur ist. Kann es denn anders sein? Polen besitzt seit langer Zeit kein eigenes Rednerpodium, von dem aus es die Wünsche des Volkes verkünden könnte; es verfügt nicht einmal über Lehrstuhleinrichtungen. Wodurch kann das Polnische, das aus den Schulen verbannt wird, das keinen Platz im Nationaltheater besitzt, seine Wirksamkeit entfalten, wenn nicht allein über die Literatur und das Gespräch? Nur das lebendige Wort, das Wort, das den Inhalt tiefster und elementarster Kräfte des Volkes verkörpert, das den Inhalt des historischen und bürgerlichen Lebens des Volkes darstellt, hält die polnische Literatur am Leben. Was die tschechische Literatur angeht, so habe ich mich in der vorangegangenen Vorlesung hinreichend geäußert; in dieser Hinsicht sehe ich keine Notwendigkeit neuer Erörterungen. Zu den mir gemachten Vorwürfen gehören obendrein diejenigen, die den Plan meiner Vorlesungsreihe betreffen. Jetzt wird es Zeit, auf diese einzugehen, denn nunmehr ist der Augenblick gekommen, in dem ich mir den Weg vorzeichne. Der Meinung einiger Gelehrten zufolge sollte ich eigentlich eine slavische Literatur als Mittelpunkt, als Basis bestimmen und, indem ich eine Hauptsprache zugrunde lege, um sie verschiedene nationale Dialekte gruppieren. Hierauf antworte ich: keine slavische Sprache verfügt über das notwendige Maß an Überlegenheit gegenüber der anderen, um als primär, elementar und urtümlich zu gelten. Slaven aus Ländern, in denen die Christianisierung zuerst begann, erheben explizit den Anspruch auf dieses Vorrecht. Ihrer Auffassung nach wäre es hinreichend, die kirchenslavische Grammatik als Grundlage unserer Forschungen zu wählen und sich darauf zu beschränken, die in dieser Sprache geschriebenen Werke zu interpretieren. Seit 40 Jahren existiert sogar unter den Slaven eine literarische Sekte79, die sich auf das Kirchenslavische so weit fokussiert hat, daß sie die Existenz der polnischen und russischen 78 79

Vgl. Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj imperii, op. cit. Gemeint ist die Anhängerschaft des Slavenoserbischen in der Vojvodina (Stevan Stratimirović, Milovan Vidaković und Jovan Hadžić), die an der russischen Redaktion des Kirchenslavischen festhielten und gegen die Sprachreform von Vuk Stefanović Karadžić waren; vgl. dazu – Jovan Jerković: Vuk und seine Gegener in der Vojvodina. In: Sprache, Literatur, Folklore bei Vuk Stefanović Karadžić. Beiträge zu einem internationalen Symposium, Göttingen, 8.–13. Februar 1987. Hrsg. Reinhard Lauer. Wiesbaden 1988, S. 89–102; ferner – Anna Kretschmer: Slawenoserbisch. In: Lexikon der Sprachen des europäischen Ostens. Hrsg. Miloš Okuka. Klagenfurt u.a. 2002, S. 473–476.

5. Vorlesung (12. Januar 1841)

45

Literatur leugnet, als nicht zum Urstamm gehörig und als heterodox verurteilt. Sie macht sogar bei den Volksliedern keine Ausnahme, da sie angeblich mit türkischen und deutschen Ausdrücken verderbt sind. Von diesem Standpunkt aus würde die slavische Literatur lediglich fünf oder sechs Bücher umfassen, bestehend aus dem Ritus und dem Evangelium. Damit konnte man nicht einverstanden sein; selbst die Altertumsforscher und unsere Philologen protestierten gegen die kompromisslose Anhängerschaft des Kirchenslavischen. Meiner Meinung nach ist die kirchenslavische Grammatik sehr nützlich und sie wird irgendwann als Grundlage für eine slavische Grammatik dienen, allerdings hat die kirchenslavische Sprache selbst keine Bedeutung; sie besitzt kaum Denkmäler, die man eigentlich als literarisch bezeichnet. Was die polnische, die russische und die tschechische Literatur angeht, so übte jeden von ihnen gewiß einen wechselseitigen Einfluß aus, aber keiner von ihnen gelang es, die Unabhängigkeit der Mitstreitenden aufzuheben. Die tschechische Sprache beeinflusste eher die Form als das Wesen des Polnischen; das Polnische dominierte im 17. Jahrhundert in Süd-Rußland; die russische Sprache machte auch Fortschritte und expandierte; allerdings besitzen alle diese drei Sprachen und Literaturen Elemente des autonomen Seins, das sie immer zu bewahren wussten. Da es schwierig ist vorauszusagen, welche Zukunft sie erwartet, sollten wir, indem wir alle Fragen der jeweiligen Nationalität beiseite lassen, eher darüber nachdenken, worin das umfassend Allgemeine unseres Gegenstandes besteht, und das ist die slavische Rasse. Beginnen wir mit der Bestimmung der physischen Merkmale dieser Rasse, die sie von anderen Stämmen unterscheiden, mit denen sie oft verwechselt wurde. Wir werden dann in der Natur der Erde, die verschiedene literarische Phänomene hervorbrachte, die Erklärung vieler historischer Ereignisse suchen. Anschließend werden wir uns mit der Betrachtung der Altertümer befassen, die Gemeingut aller Slaven sind und den Übergang vom Heidentum zum Christentum markieren. Bereits im 14. Jahrhundert erscheinen literarische Denkmäler der Serben. Wir werden uns mit dem lyrischen Zyklus über das Haus der Nemanjiden befassen. Später, im 15. Jahrhundert betritt Polen die Bühne und konzentriert alle geistigen und moralischen Kräfte des Slaventums in sich. Wir werden dann sehen, wie sich diese Literatur entwickelt und zur Kunst erhebt. Abschließend betreten wir dann die Epoche der Wiedergeburt der slavischen Literaturen; die Tschechen und Russen kommen wieder auf dem historischen und literarischen Feld zum Vorschein. Dieser letzte Zeitabschnitt wird Gegenstand des nächsten Jahres sein.]80 80

A. Mickiewicz: Literatura słowiańska. Rok pierwszy. Tłumaczenie Felixa Wrontowskiego. Wydanie trzecie, nowo poprawione. Poznań 1865, S. 31–34.

46

Teil I

Die Slaven werden von den Gelehrten in die Reihe der bildungsfähigsten Menschen gestellt. Friedrich Blumenbach81 und Georges Cuvier82, welche verschiedentlich das Menschengeschlecht einteilen, stimmen jedoch darin überein, daß sie die Slaven zur ersten kaukasischen oder europäisch-arabischen Familie zählen. Andere, weniger Klang besitzende Namen, wollen die Slaven in eine Reihe mit den Tataren, Mongolen und Chinesen bringen, diese Einteilung aber wird von den slavischen Gelehrten nicht angenommen, da sie übrigens auch nur erweist, daß jene Naturalisten weder den gesellschaftlichen Zustand noch die Sprache und Überlieferungen dieser Völker erwogen haben, und indem sie lediglich aber auch fälschlich die physischen Merkmale in Betracht zogen, das sittlich religiöse Element unbeachtet gelassen haben. Andere wollen ihre Herkunft aus dem semitischen Stamme beweisen. Die ausgezeichneten Ethnographen und Philologen Wilhelm Humboldt83 und Heinrich Julius Klaproth84 stimmen darin überein, daß die Slaven dem indogermanischen, oder vielmehr dem indoeuropäischen Stamme angehören; sie sind folglich mit den Kimbern, Kelten, Hindus, Parsen, Armeniern, Kurden einer und derselben Abkunft. Dieser ungeheure Völkerstamm umfaßt den größten Teil der Erdkugel; seine Bevölkerung beträgt nach Klaproths Berechnung 360 Millionen. Die Slaven zählen hiervon 60–80 Millionen, machen daher den fünften Teil jener ungeheuren Masse aus. Der Slave hat einen hohen Wuchs, starken Körperbau und breite Brust; seine Füße und Hände sind nicht klein, aber wohlgebildet. Er ist augenscheinlich ein zum Landbau bestimmter Mensch. Der tiefdenkende deutsche Philosoph Johann Gottfried Herder85 hat die ganze Bestimmung dieses Stammes 81 82

83 84

85

Friedrich Blumenbach (1752–1840), deutscher Zoologe und Anthropologe; vgl. F. Blumenbach: De generis humani varietate nativa. Göttingen 1775 [Dissertation]; deutsche Übersetzung im Internet unter: [http://www.blumenbach-online.de]. Georges Cuvier (1769–1832), französischer Naturforscher, Begründer der sog. Katastrophentheorie; vgl. G.  Cuvier: Leçons d’anatomie comparée. 5 Bände. Paris 1798–1805 (deutsch: Vorlesungen über vergleichende Anatomie. Band 1–4. Leipzig 1809–1810); vgl. Philippe Taquet: Georges Cuvier. Naissance d’un génie. Paris 2006. Wilhelm von Humboldt: Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java, nebst einer Einleitung über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. Berlin 1836. Heinrich Julius Klaproth (1783–1835), deutscher Orientalist; vgl. H.J. Klaproth: Asia polyglotta. Paris 1823; vgl. Julius Klaproth: Briefwechsel mit Gelehrten, großenteils aus dem Akademiearchiv in St. Petersburg; mit einem Namenregister zu Julius Klapproth: Briefe und Dokumente. Hrsg. Hartmut Walravens. Wiesbaden 2002. „Allenthalben ließen sie sich nieder, um das von andern Völkern verlassene Land zu besitzen, es als Kolonisten, als Hirten oder Ackerleute zu bauen und zu nutzen; mithin war nach allen vorhergegangenen Verheerungen, Durch- und Auszügen ihre geräuschlose, fleißige Gegenwart den Ländern ersprießlich. Sie liebten die Landwirtschaft, einen Vorrat

5. Vorlesung (12. Januar 1841)

47

in eine Formel gefaßt, indem er sagte, sein Ziel wäre den Boden zu besitzen. William-Frédéric Edwards beschreibt in seiner Physiologie der Völker die Slaven folgendermaßen: Das Gesicht eher viereckig als oval, ist fast von gleicher Ausdehnung in die Länge und Breite; die Augen schon, offen, etwas tiefliegend und vielleicht zu klein im Vergleich mit dem ganzen Gesichte; die Nase gradlinig, Adlernasen kommen nicht vor; die Lippen der Nase genähert, oft breitgespalten, doch weder hängend noch aufgeworfen, wenngleich man sie selten so schön gezeichnet findet, wie bei den Persern und Griechen; die Haare kastanienbraun, in den nördlichen Gegenden jedoch gewöhnlich heller, in den südlichen fast schwarz; die Stämme an den Grenzen im allgemeinen üppiger als im Innern. Der Charakter dieses Volkes ist sanft, die Leidenschaften eher rasch und lebhaft als dauernd; der Slave vergißt leicht eine Kränkung, zuweilen auch eine Wohltat, jagt mehr den Vergnügungen als den Lüsten nach.86

86

von Herden und Getreide, auch mancherlei häusliche Künste und eröffneten allenthalben mit den Erzeugnissen ihres Landes und Fleißes einen nützlichen Handel. Längs der Ostsee von Lübeck an hatten sie Seestädte erbaut, unter welchen Vineta auf der Insel Rügen das slawische Amsterdam war; so pflogen sie auch mit den Preußen, Kuren und Letten Gemeinschaft, wie die Sprache dieser Völker zeigt. Am Dnepr hatten sie Kiew, am Wolchow Nowgorod gebaut, welche bald blühende Handelsstädte wurden, indem sie das Schwarze Meer mit der Ostsee vereinigten und die Produkte der Morgenwelt dem nördund westlichen Europa zuführten. In Deutschland trieben sie den Bergbau, verstanden das Schmelzen und Gießen der Metalle, bereiteten das Salz, verfertigten Leinwand, brauten Met, pflanzten Fruchtbäume und führten nach ihrer Art ein fröhliches, musikalisches Leben. Sie waren mildtätig, bis zur Verschwendung gastfrei, Liebhaber der ländlichen Freiheit, aber unterwürfig und gehorsam, des Raubens und Plünderns Feinde.“ – Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 2 Bände. Berlin und Weimar 1965, Bd. 2 (Vierter Teil, 16. Buch, 4. Slawische Völker), S. 279 (zuerst RigaLeipzig 1784–1791). Mickiewicz verwertet hier teilweise die Ausführungen von William-Frédéric Edwards (1777–1842), die auch P.J. Schaffarik (Slawische Alterthümer, op. cit., Bd. I, S. 33–34) zitiert; vgl. W.-F. Edwards – Des caractères physiologiques des races humaines considérés dans leurs rapports avec l’histoire. Paris 1829, S. 81–82: „Le contour de la tête, vue de face, représente assez bien la figure d’un carré, parce que la hauteur dépasse peu la larger, que le sommet est sensiblement aplati, et que la direction de la mâchoire est horizontale. Le ne zest moins long que la distance de se base au menton; il est presque droit à partir de sa depression à la racine, c’est-à-dire sans coubure decide; mais, si elle était appreciable, elle serait légèrement concave, de manière que le bout tendrait à se relever; la partie inférieure est un peu large, et l’extrémité arrondie. Les yeux, un peu enfoncés, sont parfaiment sur la meme ligne, et, lorsqu’il sont un caractère particulier, il sont plus petits que la proportion de la tête ne semblerait l’indiquer. Les sourcils peu fournis en sont trèsrapprochés, surtout à l’angle interne; ils se dirigent de là souvent obliquement en degors. La bouche qui n’est pas saillante, et dont les lévres ne sont pas épaisses, est beaucoup plus prés du nez que du bout du menton. Un caractère singulier qui s’ajoute aux precedents, et qui est très-général, se fait remarquer dans leur peu de barbe, excepté à la

48

Teil I

Nicht gar zu viel darf man der Meinung neuerer Philosophen, was den Einfluß des Klimas auf den Menschen betrifft, folgen. Unmöglich kann man das Menschengeschlecht auf gleiche Linie mit dem Tier- und Pflanzenreich stellen, unbezweifelt ist es jedoch, daß der Mensch ewig solche Luft und Boden gesucht hat, welche am besten seinen angebornen Neigungen, seiner physischen Beschaffenheit entsprachen. Die Stadt ist ein Kerker für den Beduinen, nie läßt vom ewigen Herumziehen der Zigeuner, und nie führt der Slave, wenngleich sich in Steppen niederlassend, ein Nomadenleben; er durchläuft sie immer mit Widerwillen, schleppt nie seine Familie auf Wagen nach sich, sondern sehnt sich nach einem festen Wohnsitz, sei es auch nur in einem Gehege in der Wüste, oder unter dem elenden Dach einer Strohhütte. Landwirtschaft ist sein unerläßliches Bedürfnis. Möglich ist, daß derselbe untrügliche Instinkt, welcher die Vögel und Tiere in die geeigneten Gegenden leitet, auch die slavischen Völker aus den Hochlanden Asiens zu den Landschaften trieb, die sie früher eingenommen hatten, und wo wir sie jetzt sehen. Die Geschichte dieses Hinüberwanderns steht in keiner Verbindung mit der Literaturgeschichte, will man jedoch dasjenige berücksichtigen, was in dieser Hinsicht die Untersuchungen der Tschechen und eines russischen Gelehrten87 erläutert haben, so lassen sich in den ältesten Zeiten Spuren von slavischen Ansiedelungen am Bosporus entdecken. Durch diese Meerenge sind sie gewiß gegangen, oder es war dieselbe noch nicht durchbrochen, als sie schon diesseits sich befanden; sobald sie aber die Karpaten erreicht hatten, zerstreueten sie sich rasch über ganz Europa. Im Westen jedoch von kräftiger organisierten Völkern zurückgedrängt, im Norden von Nomadenhorden aufgehalten, gedrängt daher nach ihrem Mittelpunkt,

87

lèvre supérieure.“ – (Der Umriß des Kopfes von vorne gesehen stellt ziemlich genau die Form eines Quadrats dar, weil die Höhe etwas größer als die Breite ist, die Spitze deutlich abgeflacht ist und die Richtung des Kiefers horizontal verläuft. Die Nase ist kürzer als der Abstand von der Basis bis zum Kinn; sie ist von ihrem Tiefpunkt bis zur Wurzel fast gerade, d.h. ohne erkennbare Krümmung; wenn sie jedoch erkennbar wäre, wäre sie leicht konkav, so daß die Spitze dazu neigt, sich zu erheben; der untere Teil ist etwas breit und die Spitze abgerundet. Die Augen liegen ein wenig tief, sind aber vollkommen auf einer Linie, und wenn sie ein besonderes Merkmal sind, sind sie kleiner, als es die Proportionen des Kopfes vermuten lassen würden. Die spärlich gefüllten Augenbrauen stehen sehr eng zusammen, besonders im Innenwinkel, und verlaufen von dort aus oft schräg nach oben. Der Mund, der nicht vorspringt und dessen Lippen nicht dick sind, liegt viel näher an der Nase als an der Kinnspitze. Ein besonderes Merkmal, das zu den vorhergehenden hinzukommt und sehr allgemein ist, ist ihr geringer Bartwuchs, außer an der Oberlippe.) Vgl. P.J.  Schaffarik: Slawische Alterthümer, op. cit., Bd. II („Ausbreitung der Slawen“), S. 1–48, der auch Arbeiten von Schlözer, Dobrovský und N. M. Karamzin auswertet.

5. Vorlesung (12. Januar 1841)

49

den Karpaten, schlossen sie sich allmählich in die heute bestehenden Grenzen ein. Der unermeßliche Raum ihrer Wohnsitze scheint auch gerade ein Land zu sein, vorzüglich zum Ackerbau bestimmt. Werfen wir einen Blick auf die Länder von den Karpaten bis zu dem Gestade des baltischen Meeres, so sehen wir eine ungeheure Ebene, bedeckt von einer dicken Schicht Pflanzenboden; nirgends sieht man hier nackte Felsen, oder flutdrohende Gewässer; nirgends wird der Mensch gezwungen, durch Kunst die Natur zu besiegen, überall findet er einen fruchtbaren, leicht zu bebauenden Boden. Diese Gegend ist so zu sagen von den Verhältnissen der übrigen Welt wie losgetrennt; die Flüsse, welche anderswo die Einwohner aufs Meer hinziehen, sind hier gleichsam wie gesperrte Wege zu diesem großen Bindungselement der Völker. Der Dnjepr ist vorerst durch Felsenrisse verrammt, ergießt sich dann in die Steppen nomadischer und den Slaven verfeindeter Völker. Der Niemen und die Weichsel treffen vor ihren Mündungen auf eine Kette von Seen und Morästen, hinter welchen das von einem fremden Stamme besetzte Meeresufer immer ein Landungsplatz räuberischer Völker war. Darnach fanden sich die Slaven zwischen ihnen in ihren Wäldern und Fluren gleichsam eingehegt. Dieser Wohnsitz der Slaven ist füglich in drei Querstreifen einzuteilen. Der mittlere Streifen besteht aus Wäldern, und zieht sich der Länge nach durch diesen ganzen Raum. Noch an der Oder sieht man die Überbleibsel waldiger Wüsteneien, welche über die Weichsel und den Niemen hinübersetzen, das Tal der Pripjet bedecken, dann jenseits des Dnjepr an die russischen Wälder stoßen, und durch ihre Vermittlung mit den Wäldern des Ural sich verbinden. Es ist ein besonders waldreiches Land. Es scheint, daß alle wilden Tiere hierdurch aus Asien nach Europa zogen, und heute noch haben sie hier ihre Hauptsitze. Wölfe, Bären, Elche, anderswo selten oder schon unbekannt, vermehren sich hier im Überfluß. Der Wisent, schon seit langer Zeit auf unserem Festland ausgerottet, hält sich noch in den Gegenden von Białowieża unter dem Schutz der Landesgesetze. Diese Wälder werden in verschiedenen Richtungen von weiten Fluren durchschnitten, welche häufig sandig trocken, meistenteils aber aus feuchten Wiesen bestehend, dem Vieh Nahrung liefern, aber nicht als Weideplätze für Herden wandernder Völker dienen können. Im Norden des Waldstreifs zieht sich eine lange Reihe von Seen hin; von dem See Gopło beginnend bis zum Peipus bilden ihrer beinahe fünfhundert an der Zahl gleichsam eine Kette von größeren und kleineren Gewässern, die durch Flüsse, Bäche und Kanäle verbunden sind. Diese Kette trennt die Slaven vom eigentlichen Litauen und den Finnen, die am baltischen Meere angesiedelt sind. Hier herrscht über andere Bäume die weiße Birke mit aufgelöstem Haar und empfängt die Huldigungen der litauischen und finnischen Dichter,

50

Teil I

bis sie, nach der kalten Seite hin sich erstreckend, zu einem Gesträuch verkrüppelt. Hierdurch ziehen unzählige Scharen Wasservögel nach anderen Ländern Europas hin; hierdurch kamen noch manch andere heute nicht mehr zu erblickende Tiere. Das Verweilen des Rentiers in diesen Gegenden gehört noch den Zeiten der Geschichte an, die Erwähnung jedoch von den Wandermäusen hat sich bloß in Volkssagen88 erhalten, und zwar als Sinnbild der Gefräßigkeit finnischer Völker89, von deren Einfällen die Geschichte nichts mehr zu sagen weiß. Im Süden des Waldstrichs erstrecken sich schon diesseits vorzüglich aber jenseits der Karpaten offene Fluren fruchtbaren Bodens. Das jetzige Königreich Polen, Wolhynien, Podolien, ein Teil der Ukraine, haben einen überall bebauungsfähigen und äußerst ergiebigen Boden. Die Fichte fängt hier an immer seltener zu werden, dafür aber beschattet desto dichter die majestätische Eiche lachende Haine, und wird zum Liebling des Liedes. Hierdurch geht die Bahn anderer Besuche aus den Wüsten und Steppen Asiens, es ist dieses der Heuschrecken- und Mongolenweg. Jenes Insekt verschwand den Mongolen ähnlich manchmal auf lange Zeiten, niemand sprach von ihm Jahrhunderte lang, dann erhoben sich wiederum plötzlich seine Wolken, die Sonne verfinsternd und die Erde bedeckend. Immer pflegte es in Polen seine Winterquartiere zu nehmen, die neue Brut drang dann mit dem Frühling zuerst zu Fuß vor, ließ die Felder wie von einer Feuersbrunst geschwärzt hinter sich, verschüttete Flüsse und Engpässe, und flog für den Sommer mit Flügeln versehen bis an die Ufer der Elbe und des Rheins. Erst das Bebauen der polnischen Fluren schnitt ihm den Zugang nach Europa ab. Die Örtlichkeit, die Natur dieser Gegenden, steht in enger Verbindung nicht nur mit der Literatur des gemeinen Mannes, sondern auch mit derjenigen der Gebildeten. Die Sagen des Volkes, seine Lieder, ebenso wie die Meisterwerke der modernen Kunst, sind voll von Schilderungen, Vergleichungen und Andeutungen, welche man weder fühlen noch verstehen kann, sobald nicht fortwährend die Bilder und Erscheinungen der Natur dem Geiste vorschweben. Die Heuschrecke z.B. ist in der Überlieferung und der Poesie des Volkes immer das Sinnbild der Tataren. „Lasset uns die Heuschrecke zertreten“ („Zgniećmy szarańczę“) war lange der Kriegsruf der Polen. Das Volk behauptet, auf den Flügeln dieses Insektes stehe mit Zauberzeichen geschrieben: „Gottes Strafe“, 88 89

Quelle nicht ermittelt. Angaben nicht ermittelt. Über die Gefräßigkeit der einzelnen Völker schreibt allerdings Christoph Meiners: Untersuchungen über die Verschiedenheiten der Menschennaturen. 3 Bände. Tübingen 1811–1815, Bd. 3 (Tübingen 1815), S. 277: „Die gemischten Völker, die zum Theil tatarischen, zum Theil finnischen oder kalmükischen Ursprungs sind, haben mit dem schlechteren Blute ihrer weniger edlen Vorfahren auch ihre Gefräßigkeit geerbt.“

5. Vorlesung (12. Januar 1841)

51

und bemerkenswert ist, daß alle uralischen Hordenführer, von Attila an bis auf Tamerlan (Timur-Leng), jedesmal sich als die „Gottesgeißel“ ankündigten. Ein großer Dichter des Westens, Lord Byron, erriet so trefflich die Natur der Ukraine, die er niemals gesehen, indem er das mongolenartige Verfahren eines russischen Anführers mit folgenden Worten schildert: „Er fiel“, sind seine Worte, „auf dem Boden, der ihn gezeugt, und vergrub sich einer Heuschrecke gleich in die Erde, die er verwüstet.“90 Die altertümlichen Lieder dieser Gegenden scheinen der Widerhall von Vogelstimmen und Insektenschwirren zu sein. Der Sänger von Igor’s Kriegszug fängt die Dichtung mit dem Anrufen des mythischen Sehers Bojan an; er sagt: Боянъ бо вѣщий, аще кому хотяше пѣснь творити, то растѣкашется мыслию по древу, сѣрымъ вълкомъ по земли, шизымъ орломъ подъ облакы […].91 Denn der weise Bojan, wenn er auf einen ein Lied wollte dichten, dann wandelte er sich in Gedanken [zu einer Nachtigall] im Baum, zu einem grauen Wolf auf der Erde, zu einem stahlblauen Adler unter den Wolken […].92

Ferner schildert er das Anschlagen der Finger auf die Saiten seiner Leier wie folgt: „da ließ er zehn Falken steigen gegen eine Schar Schwäne“ („Тогда пущашеть 10 соколовь на стадо лебедêй […]“)93. In der neuen slavischen Poesie spielt desgleichen die Natur eine wichtige Rolle. Jeder Pole weiß auswendig jenes herrliche Bruchstück von Seweryn Goszczyński, wo die Schwätzerin Eiche dem Kosaken Nebaba ins Ohr alte Taten herabsäuselt.94 Liest man

90 91 92 93 94

Freie Wiedergabe der 36. Strophe aus dem 7. Gesang von Byrons „Don Juan“ über den Tod des russischen Feldmarschall Grigorij Aleksandrovič Potemkin (1739–1791): Made his last illness, when, all worn and wan, Da morsch und matt er unter einer Tanne He died beneath a tree, as much unblest on Sein Ende fand, ein ungesegnetes, The soil of the green province he had wasted, Auf grüner Flur, die er verwüstet hatte, As e’er was locust on the land it blasted Wie eine Heuschreck auf verheerter Matte. Slovo o polku Igoreve. In: Biblioteka literatury Drevnej Rusi. Red. D.S. Lichačev, L.A. Dmitriev, A.A. Alekseev, N.V. Ponyrko. Tom 4: XII vek. Sankt-Peterburg 1997, S. 254. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe verkürzt zitiert (Slovo + Seitenzahl). Das Lied von der Heerfahrt Igor’s. Aus dem altrussischen Urtext übersetzt, eingeleitet und erläutert von Ludolf Müller. München1989, S. 21. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe verkürzt zitiert (Lied + Seitenzahl). Slovo o polku Igoreve, op. cit., S. 254. Vgl. Seweryn Goszczyński: „Zamek kaniowski“. In: S. Goszczyński: Dzieła. Bd. II. Lipsk 1870, S. 87 (cz. III, rozdz. 10): „Czy dąb, gaduła, szepce w jego uchu / Smutne powieści o klęskach tej ziemi“ (Ob etwa die Eiche, die Schwätzerin, ihm ins Ohr / Traurige Geschichten von Niederlagen dieses Landes einflößt.)

52

Teil I

die klangvollen Strophen unseres Dichters Zaleski95, so scheint es wirklich, als summten ganze Bienenschwärme, Schmetterlinge und kleine Fliegen mit goldenen Flügelchen über die grünen Steppen der Ukraine einher. Das Bekanntwerden mit der Naturgeschichte des slavischen Bodens ist daher unerläßlich; außer diesem bleibt jedoch noch die organische Unterlage, der schöpferische Keim, das Geschlechtsdogma der slavischen Gesellschaft zu ergründen, einer Gesellschaft, welche gänzlich verschieden ist von der keltischen, germanischen, mongolischen und jeder anderen, die man bei den umliegenden Völkern erblickt. Untersucht man in dieser Absicht die Ereignisse des Altertums, so ist zuvörderst nötig, die religiösen Begriffe aufzuspüren. Die Slaven hatten den Begriff vom alleinigen Gott; ließen auch die Existenz eines bösen Geistes oder des schwarzen Gottes zu, welcher mit dem weißen Gott, dem allerhöchsten Verteiler von Belohnung und Strafe, kämpfte; sie glaubten an die Unsterblichkeit der Seele. Diese drei Hauptdogmen bilden die ganze alte Religion der slavischen Völker.96 Zu bemerken ist hierbei die gänzliche Abwesenheit des Gedankens an eine Offenbarung: nirgends findet sich die Spur eines sichtbaren Bandes zwischen der Gottheit und dem Menschen vor, nie hat Gott zu einem der Slaven gesprochen, ihnen nie seinen Propheten, seinen Sohn geschickt. Schon des Mangels an einer Offenbarung wegen konnte bei ihnen keine Mythologie entstehen, dieselbe war ja immer wie bekannt nichts weiter, als eine Entartung der Offenbarung. Eine Religion, wie wir sie in den ältesten Geschichtsschreibern, Denkmälern, Volkssagen und Überlieferungen der Slaven finden, beurkundet schon selbst das sehr hohe Altertum dieses Volkes. Wahrscheinlich ist es aus Asien noch vor der Offenbarung ausgewandert; der Zeitpunkt dieser Auswanderung ist schwer anzugeben, so viel 95

96

In der Ausgabe (Adam Mickiewicz: Dzieła. Wydanie Rocznicowe 1798–1998. Tom VIII: Literatura słowiańska. Kurs pierwszy, op. cit., S. 63) lautet der ganze Satz: „[Ein Kritiker] verglich die Strophen des polnischen Dichters Zaleski mit einem Insektenschwarm; tatsächlich ähneln diese Strophen, die Poetizität ausstrahlen, den Bienen und Schmetterlingen, die sich über die Steppen der Ukraine erheben.“ – Der Kritiker ist Aleksander Tyszyński (1811–1880), der damit auf Zaleskis Dichtung „Rusałki“ (Nymphen) anspielt. Vgl. A. Tyszyński: Amerykanka w Polsce. Petersburg 1837; auch in – A. Tyszyński: Pisma krytyczne. Red. Piotr Chlebowski. Kraków-Petersburg 1904, Bd. I, S. 37–39, worin er über die „Schulen der polnischen Poesie spricht“ und u.a. Zaleski als die „Nachtigal der ukrainischen Schule“ bezeichnet („Zaleski jest słowikiem ukraińskiej szkoły.“ – S. 37 [https:// archive.org]). Vgl. auch A. Mickiewicz über Zaleski in dem Gedicht (in vierfüßigen und dreifüßigen Jamben) „Do B.Z.“ (1841) – „Słowiczku mój! Leć, a piej! / Na pożegnanie piej / Wylanym łzom, spełnionym snom, / Skończonej piosnce twej!“ […]. Vgl. dazu Henryk Łowmiański: Religia Słowian i jej upadek (w. VI–XII). Warszawa 1986; Tadeusz Linkner: Słowiańskie bogi i demony. Z rękopisu Bronisława Trentowskiego. Gdańsk 2018 (3. Auflage).

5. Vorlesung (12. Januar 1841)

53

jedoch ist gewiß, daß es keine von den Begriffen, welche zu Abrahams Zeiten im Orient allgemein verbreitet waren, mit sich nach Europa gebracht hat. Es ist ein Urglaube, eine patriarchalische Religion, wie diejenige in der Genesis. Gott, Gottes Widersacher, die Unsterblichkeit der Seele und eine Spur der Erinnerung an eine Untat, die man sühnen muß, was aus dem Gebrauch der Opfer hervorleuchtet, das ist alles, was man hier deutlich bemerken kann. Die soziale Einrichtung selbst läßt das Übrige, was noch fehlt, erraten. Ohne Offenbarung gibt es keine Priesterschaft, und bei den alten Slaven fand weder ein erbliches noch ein Wahlpriestertum statt. Da außerdem keine Halbgötter und Heroen zugelassen wurden, so konnte eine Aristokratie ganz und gar nicht entstehen, diese nämlich gründet sich überall auf eine andere Abstammung als die der übrigen Sterblichen, auf einen göttlichen Ursprung. Deshalb mußte das slavische Volk ohne Priester, Geburtsadel und ohne Könige sein.

6. Vorlesung (15. Januar 1841) Die Armut und die Unzuverlässigkeit der Quellen zur slavischen Mythologie – Die Slaven besaßen keine Offenbarung, daher auch keine Philosophie – Die Kriegszüge der Barbaren waren religiös motiviert – Religionskult, Sitten und Gebräuche, slavische Siedlungen und ihre Geschichte – Überlieferungen antiker und neuzeitlicher Autoren über die Slaven – Ihr Geschlechtsname und die Spuren ihres Daseins in verschiedenen Ländern Europas.

[Es ist allgemein bekannt, wie wichtig bei der Erforschung der Herausbildung irgendeiner Nation die genaue Kenntnis ihrer religiösen Begriffe ist.] Die religiösen Begriffe geben den Inhalt des verflossenen Lebens der Völker zu erkennen, erklären ihren gegenwärtigen Zustand und sind der Schlüssel zu ihrer Zukunft. Unglücklicherweise ist jedoch dieser wichtigste Teil der slavischen Geschichte noch sehr im Dunkeln. Es fehlt uns nicht nur an alten Materialien zur Erkenntnis der slavischen Mythologie, sondern man kann sich auch auf das Urteil der neueren Gelehrten in dieser Beziehung wenig verlassen. Die alten Griechen haben in ihren Erwähnungen von den nördlichen Gegenden kaum einige unsichere Namen hinterlassen; die Byzantiner kamen erst im 6. Jahrhundert in nähere Berührung mit den Slaven; ihre Schriftsteller jedoch, meist Würdenträger oder Beherrscher des Kaiserreiches, richteten mehr ihre Aufmerksamkeit auf den sozialen und politischen Zustand dieser Völker, als auf den religiösen; nur die Schriftsteller des Westens allein, welche um diese Zeit ins Innere des Slavenlandes eingedrungen waren, haben über diesen Gegenstand etwas reichere Nachrichten bewahrt. Mönche waren es, Apostel, Bischöfe, welche schon ihrem Beruf nach über die Religionsvorstellungen der zu bekehrenden Heiden nachdenken mußten. Auch diese jedoch, aus falschem Hang, alles auf das ihnen bekannte System der griechischen und römischen Mythologie zu beziehen, haben den slavischen Gottheiten falsche Namen97 beigelegt. Durchaus wollten sie nur einen Jupiter, Merkur, eine Venus in ihnen sehen und haben daher die Eigentümlichkeit der dortigen Religion verwischt. Die heutigen Forscher, Geschichtsschreiber und Mythographen sind fast ohne Ausnahme der Spur der Gelehrten des vorigen Jahrhunderts, den französischen Enzyklopädisten gefolgt. Für sie ist die Mythologie eine Sammlung von 97

Vgl. dazu Leszek Moszyński: Die vorchristliche Religion der Slaven im Lichte der slavischen Sprachwissenschaft. Köln-Weimar-Wien 1992 (Kapitel „Die philologischen Quellen“), S. 1–16; darunter über Jan Długosz, der die Namen selbst erdachte: Jupiter – Jessa, Mars – Lada, Venus – Dzidzilela, Pluto – Nija, Diana – Dziewanna, Ceres – Marzanna (Ioannis Dlugosii Annales seu Cronicae incliti Regni Poloniae. Liber primus, liber secundus. Varsaviae 1964, S. 106–108.)

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_007

6. Vorlesung (15. Januar 1841)

55

willkürlichen, wenn nicht unsinnigen Erdichtungen; nie kam es ihnen in den Sinn, daß man diese Fabeln zu einem geordneten Ganzen zusammenstellen und aus ihnen einen Lichtstrahl zur Beleuchtung der Völkergeschichte gewinnen kann. Sie führen manchmal einige Mythen an, folgern aus ihnen auf den geistigen Zustand und das häusliche Leben des Volkes; versuchen es jedoch nie, seine gesellschaftliche Einrichtung und politischen Denkmäler auf diesem Wege zu enträtseln. Alle diese Gelehrten aber beleuchten ein und dasselbe in Bezug auf die drei Hauptgrundsätze der slavischen Religion. Das dreifache Dogma vom Glauben an einen höchsten Gott, an einen Geist, der ins Böse gefallen, und an die Unsterblichkeit der Seele unterscheidet in sittlicher Hinsicht die Slaven von den viele Götter verehrenden Griechen (Polytheisten), von den eine Menge geistiger Wesen zulassenden Kelten (Pantheisten) und von den religionslosen uralischen Stämmen ab. Dieses Dogma dient auch zum Grundstein ihres sozialen und politischen Lebens. Der Urglaube der Slaven, unberührt gelassen von irgendeinem Einfluß der Offenbarung, konnte seine reine Einfachheit zwar ewig bewahren, mußte aber zugleich unfruchtbar und unfähig, irgend einen Fortschritt aus sich heraus zu erzeugen, bleiben. Immer lassen die Mythologien einen gewissen Zusammenhang zwischen Gott und dem Menschen erraten; alle Philosophien nehmen ihren Ursprung, indem sie diese Verbindung erklären wollen, und müssen daher ihre Quelle in der Mythologie haben. Die indische, griechische und jedwede der ältesten Philosophien hatten nie etwas anderes vor, als das Rätsel zu lösen, welches durch eine wahre oder für wahr gehaltene Offenbarung gegeben war. Die Slaven besaßen kein solches Mysterium; der Geist dieses Volkes war nicht berufen zur Arbeit auf diesem Felde; unmöglich konnte daher bei ihnen eine Philosophie entstehen. Ihre Religion selbst war eher Meinung als Glaube; religiöse Ansichten hatten sie, aber kein religiöses Wort, ein Wort, welches höhere Wahrheiten offenbart und als begeistert durch eine überirdische Macht handelt. Niemals konnte daher dieses Volk sich um eine Stimme sammeln, nie einem einzigen allgemeinen Antrieb folgen, z.B. irgendeine große, gemeinschaftliche Unternehmung beginnen, die ein weitreichendes und geheimnisvolles Ziel hatte. Dies war auch zugleich die Ursache, daß sie nie Eroberer waren, und daß sogar vor ihrer christlichen Zeit keines von diesen Völkern kriegerisch war, keines weder ein zahlreiches Heer stellen, noch in einem weitgreifenden Plan handeln konnte. Die erobernden Barbarenhaufen leitete nämlich immer ein höherer, ein religiöser Gedanke. Die Schreiber der Chroniken des Mittelalters und die neueren Gelehrten erklären diese Tatsachen ganz anders. Die Ersten sehen in den Königen der West- und Ostgoten, ja sogar selbst in Attila und Dschingis-Khan irrende, romanhafte Abenteurer, unternehmende Ritter; die Letzteren schreiben alles persönlichen Interessen,

56

Teil I

materiellen Bedürfnissen, der Eroberungssucht in den Führern, der Armut und dem Hunger in den Völkern zu. Und doch reicht es hin, nur einen Blick auf die Überbleibsel der Poesie der Normannen98 zu werfen, um sich zu überzeugen, daß nicht gewöhnliche Absichten dieselben leiteten, daß ihnen immer eine Prophezeiung, eine Offenbarung Königreiche und Länder, die sie zu erobern hätten, zeigte. Selbst die uralischen Horden, die Horden der Verheerer und der Glaubenslosen, unterlagen diesem Gesetz der großen Völkerbewegung. Dschingis-Khan selbst z.B., jener Khan, den man als das vollkommenste Muster eines solchen Hordenführers betrachten kann, begab sich erst in die Wüste, ehe er einen Teil der Erdkugel zu vernichten unternahm, und erst nach mehrtägiger, gänzlicher Zurückgezogenheit in den Bergen verkündigte er sich als berufen, an der Welt Rache zu üben und die frevelnden Völker zu bestrafen. [Als die 200000 Einwohner zählende Stadt Buchara ihm zu Füssen fiel und rief, warum er sie vernichten wolle, sagte er, daß er es selbst nicht wisse, aber sie müßten eine Sünde begangen haben, sonst hätte Gott Dschingis-Khan nicht nach Buchara geschickt.]99 Da also die Slaven keine übernatürliche Macht anerkannten, so konnten sie auch nicht unter ihrem Einfluß massenweise auftretend handeln. Ihre Religion, ohne unmittelbares Band zwischen der Gottheit und den Menschen gelassen, forderte kein Priestertum, keine Hierarchie. Bei allen griechischen, keltischen, skandinavischen Völkern galten die Könige für Söhne oder absonderlich begünstigte Freunde irgend einer Gottheit, irgend eines mächtigen Geistes; auf diesen Grundsatz stützte sich bei ihnen die Idee der königlichen Macht und der Aristokratie. Die Slaven hatten nicht einmal die nötigen Namen zur Bezeichnung der Kasten in der Gesellschaft; die Namen der privilegierten Stände in ihrer Sprache sind fremden Ursprunges. Ebenso konnte bei ihnen keine Sklaverei aufkommen, denn dazu ist beim Herrn die Überzeugung seiner sittlichen Überlegenheit über den Sklaven unumgänglich notwendig. Sie behandelten ihre Kriegsgefangenen mit Milde, ließen sie gern für ein Lösegeld frei, und selbst ohne dieses erlaubten sie ihnen nach einem kurzen Aufenthalt alle Vorzüge der Mitbürgerschaft zu genießen. Hat man nun gesehen, welche Elemente der slavischen Religion abgingen, so ist es leicht, sich vom Ganzen ihrer geselligen Verfassung einen Begriff zu bilden. Und in der Tat war auch die gesellschaftliche Einrichtung der Slaven eigentümlich, in Nichts weder den keltischen Klans, noch den ausgedehnten 98 99

Vgl. Die „Edda“. Nach der Übersetzung von Karl Simrock neu bearbetet und eingeleitet von Hans Kuhn. 3 Bde., Leipzig 1935–1947, Stuttgart 2004. Ergänzt nach A.  Mickiewicz: Literatura słowiańska. Rok pierwszy. Tłumaczenie Felixa Wrontowskiego. Wydanie trzecie, nowo poprawione. Poznań 1865, S. 42.

6. Vorlesung (15. Januar 1841)

57

Alleinherrschaften des Orients, noch der indischen Kastenverfassung, noch den westlichen Königtümern ähnlich. Man weiß selbst nicht, wie man diese ganz besondere Art sozialer Existenz benennen soll. Ihr Keim und Mittelpunkt ist nicht, wie bei den Griechen und Römern, die Stadt; nicht der Herrschersitz, die Burg, nicht die Kirche endlich, sondern nur das Dorf. Die Gemeinde, das Dorf, der Weiler ist der Urstoff der sozialen Verbindung unter den Slaven; hier sehen wir gleichsam ein Lager, eine Gemeinschaft von Landleuten. Bekannt ist es aus der Geschichte, daß die Slaven zuerst ihre Niederlassungen in Gegenden gründeten, die zum Ackerbau geeignet waren, an Flüssen, in Tälern, zwischen Wäldern, niemals aber auf Bergen. Erst im 12. Jahrhundert begannen sie nach dem Beispiel der Deutschen auf den Gipfeln der Anhöhen sich anzubauen. War eine Ansiedelung bereits übervölkert, so dachte man an eine andere. Dies war also keine bewaffnete Einnahme eines neuen Bodens, sondern nur eine stille Übersiedelung eines Teiles der Bevölkerung in die Gegend, welche einer arbeitsamen Hand bedurfte. Dergestalt breitete sich dieses Volk rings umher auf dem urbaren Boden aus und nahm brauchbare Einöden in Besitz. Bemerkenswert ist die innere Einrichtung der Niederlassungen; viele Ähnlichkeit mit der ursprünglichen Verfassung der alten griechischen und lateinischen Völkerschaften finden wir in ihr. Das Lesen des tiefdurchdachten Werkes des Herrn Pierre-Simon Ballanche100 über die römischen Altertümer liefert manche Erläuterung zu den slavischen Altertümern; vielleicht wird auch einst die gegenseitige Bekanntschaft mit dem Altertum des Nordens zur besseren Erkenntnis der südlichen Denkmäler beitragen. In Ermangelung historischer Materialien kann hier die lebende Überlieferung oder das Volkslied oft vieles Licht auf das Unbekannte werfen. Es scheint, daß die Anlage neuer Niederlassungen immer zuerst im Rat der Alten beschlossen wurde und niemals aus ökonomischen oder administrativen Aussichten stattfand. War der Landsitz von den Alten auserwählt worden, so spannte man ein Joch Ochsen vor den Pflug, von denen der eine weiß, der andere schwarz sein mußte, und umpflügte die Grenzen des Dorfes, welche Umpflügung bei den Slaven zagon hieß. Der zagon bezeichnete das gesetzmäßige Territorium der Niederlassung, außerhalb desselben war alles fremd oder cudo. Jedes freie und unabhängige Dorf führte den Namen swoboda oder słoboda (Freiheit), und hatte seine gewissen und herkömmlichen Plätze, wie in den alten griechischen und römischen Kolonien. Zu solchen Plätzen gehörte der geheiligte Wald, in welchem religiöse Verrichtungen, öffentliche 100 Pierre-Simon Ballanche (1776–1847), französischer Historiker; vgl. P.-S. Ballanche: Essai de palingénésie sociale. Paris 1820.

58

Teil I

Versammlungen und Gerichte abgehalten wurden. Dieser Wald hieß rok, daher sind die Ausdrücke roki, roczki noch bis jetzt in der juristischen Kunstsprache vieler slavischen Völker in Gebrauch. Wenn ein feindlicher Überfall drohte, so schickte man von Bäumen des heiligen Haines abgeschnittene Gerten (wicie) an die nachbarlichen Niederlassungen als ein Zeichen, das sie zur gemeinschaftlichen Verteidigung aufrief, eine Sitte, die ausdrücklich in den polnischen Einrichtungen bewahrt wurde. Neben dem heiligen Hain (uroczysko), dessen Spur man überall sieht, wo nur noch ein altes slavisches Dorf steht oder stand, findet man einen anderen Ort, horodyszcze genannt. Man kann diesen einigermaßen als das capitolium der Niederlassung ansehen. In dieser befestigten Umzäunung suchte man Schutz und sammelte sich zur Abwehr bei einem Überfall. Ein dritter Platz endlich entsprach beinahe dem palatinischen Hügel der Römer; hier verrichtete man Opfer, schickte späterhin die Missetäter zum Tode und verbrannte die Leichen, wovon auch dieser Ort den Namen zgliszcze (Brandstätte) oder żale (Klagestätte) bekam.101 So eine Niederlassung und Gemeinde bildete, getrennt von den übrigen, einen Staat, eine selbstständige Gemeinschaft. Sie stand unter der Regierung, eigentlicher nur unter der Leitung der Älteren; von einer festen und abgesonderten Behörde läßt sich keine Spur entdecken. Die Greise, als Inhaber der Nationalüberlieferungen und Landwirtschafts-Geheimnisse, als Bewahrer der Religionsvorschriften, standen an der Spitze der öffentlichen Verhandlungen, der ländlichen Verrichtungen und feierlichen Gebräuche. Die Gemeinde verwaltete mit ihrem Rat der Alten das gemeinsame, in den Grenzen des Dorfes eingeschlossene Eigentum. Die Erbschaft, wenigstens in der Art, wie sie heut zu Tage verstanden wird, war den Slaven unbekannt; diese merkwürdige und eigentümliche Tatsache hat von unseren Rechtsgelehrten Józef Hube102 erörtert. Nur das Hausgerät und der Erwerb ging als Erbschaft auf die Nachkommen oder Verwandten über; der Boden aber war Eigentum der ganzen Gemeinde. Es scheint, daß jede Familie neben ihrer Hütte einen kleinen Gemüsegarten ausschließlich für sich besaß; die Äcker um das Dorf herum wurden 101 Die Ausführungen und die polnischen Beispiele in diesem Absatz basieren auf dem 1818 publizierten Buch von Zorian Dołęga-Chodakowski [eigentlich Adam Czarnocki 1784– 1825]: O Sławiańszczyźnie przed chrześcijaństwem oraz inne pisma i listy. Opracował Julian Maślanka. Warszawa 1967. Vgl. dazu auch A. Mickiewicz: Pierwsze wieki historii polskiej. Księga pierwsza. In: A. Mickiewicz: Dzieła. Tom VII: Pisma historyczne. Wykłady lozańskie. Red. Julian Maślanka. Warszawa 1996, S. 17. 102 Józef Huby: Wywód spraw spadkowych słowiańskich. Warszawa 1832 (dt. Joseph Hube: Geschichtliche Darstellung der Erbfolgerechte der Slaven. Posen 1836). J.  Huby (1801–1891) war auch Mitglied der Congregatio a Resurrectione Domini Nostri Iesu Christi (Zgromadzenie Zmartwychwstania Pana Naszego Jezusa Chrystusa); zmartwychwstańcy – Resurrektionsten.

6. Vorlesung (15. Januar 1841)

59

gemeinschaftlich bebaut. Die Magazine, Schuttböden, Scharwerke und viele andere Baulichkeiten der Art bei den Landleuten in Polen und Rußland bestätigen noch heute die Entdeckung der frühern Einrichtungen. Was jetzt von der Regierungsbehörde oder vom Herrn abhängt, dessen Ausführung lag in alten Zeiten der Gemeinde selbst ob. Ist man auf diese Weise zu einer Vorstellung des sozialen Zustandes der Slaven gelangt, so kann man sich auch die alte slavische Geschichte erklären. Allmählich rückten sie im Stillen aus Asien nach Europa, in allen Richtungen ihre kleinen Niederlassungen ausbreitend, vor. Dieses zivilisierte Volk breitete sich unter den Pferdehufen der wandernden Horden und kriegerischen Stämme aus, konnte jedoch nicht aus sich heraus einen Staat, ein politisches Ganze bilden. Jede Niederlassung leistete dem Feind Widerstand; jedoch alle einzeln überwunden, vermochten sie nicht, die Unabhängigkeit ihres Geschlechtes zu erhalten. Ein Irrtum ist es zu glauben, daß während der Einführung des Christentums und vorher noch die nördlichen Länder öde und wüste dalagen; im Gegenteil finden sich Beweise vor für ihren Anbau im höchsten Altertum. Die wandernden uralischen, kaukasischen und skandinavischen Völkerschaften ernährten sich auf Kosten dieser ansässigen Ackerleute. Die Slaven, unaufhörlich von Eroberern getreten, mußten den Ausländern unbekannt bleiben: weil ihre Länder der Reihe nach die Namen der sich auf einander folgenden Sieger annahmen; und wenn ihre Religion kein Dogma besaß, welches fähig gewesen wäre, eine große politische Gemeinschaft zu erzeugen, so hatte dieselbe andererseits jedoch alle Grundsätze, welche der Privatgemeinschaft des hauslichen Lebens Ordnung und Kraft sichern. [Seit Urzeiten kannten sie den Getreideanbau. Das Wort zboże (Getreide), das die Griechen sitos (σιτος) nannten, ist slavischer Herkunft.]103 Herder104 sagt von den Slaven, dieses Volk sei der Segen der Erde gewesen; überall habe sich die Erde gefreut, wo es sich auf derselben niederließ. Den übrigen Völkern Europas, namentlich aber seinen Landsleuten, den Deutschen, wirft er alle die durch viele Jahrhunderte an diesem wohltätigen Geschlecht verübten Untaten vor. Aber die slavische Organisation, wenngleich eigentümlich und schön, war doch zur Vernichtung bestimmt, da sie keinen Keim der weiteren Entwicklung in sich trug; sie konnte dem tätigen Organismus anderer Völker nicht widerstehen. Sogar in dem tiefsten Dickicht ihrer morastigen Wälder hätten sie mit der Zeit ihr Geschlecht nicht schützen können, wenn sie nicht vorher in den Schoß ihrer Bevölkerung kriegerische 103 Ergänzung nach F.  Wrotnowski (A.  Mickiewicz: Literatura słowiańska. Rok pierwszy. Poznań 1865, S. 45). 104 Vgl. Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit., op. cit., Bd. 2 (Vierter Teil, 16. Buch, 4. Slawische Völker), S. 279–282; Zitat vgl. Fußnote 85.

60

Teil I

Stämme aufgenommen hätten, die ihnen den Keim künftiger Staaten gebracht haben, und wenn nicht der christliche Glaube sie später aus dem Zustande der Zivilisations-Unbeweglichkeit, einer Folge der längst abgestorbenen Religion, herausgezogen hätte. Mithin fängt die Geschichte der weiten Länder zwischen dem Schwarzen und Baltischen Meer erst mit der christlichen Epoche an; die vorangegangenen Jahrtausende liegen im tiefen Dunkel. Die Slaven selbst haben, streng genommen, keine Geschichte gehabt; denn diese ist doch wohl die Vergangenheit eines zum Ganzen, zum Staat herangebildeten Volkes, sie aber lebten nur in zerstreuten Niederlassungen. Demungeachtet wäre es ein Irrtum, sie deshalb Barbaren zu nennen, wie dieses fremde Schriftsteller, und besonders die deutschen, zu tun nicht ermangeln, und sie etwa mit den wilden Einwohnern von Amerika zu vergleichen, um wo möglich auf diese Weise die an ihnen von den Deutschen verübten Gewalttaten zu entschuldigen. Die Schriftsteller des Altertums und des Mittelalters legen ein ganz anderes Zeugnis von den Slaven ab. Alle erkennen ihnen die löblichsten Eigenschaften des Charakters und der geistigen Anlagen zu. Die Griechen sagen sogar, daß unter den Slaven selbst die Namen der List und des Verrats unbekannt waren, und daß ihre Gastfreiheit so weit ging, daß sie die Sitte hatten, ihre Häuser offen stehen zu lassen, damit der fremde Wanderer immer Schutz und Nahrung finden könnte. Mut sprechen sie ihnen desgleichen nicht ab, fügen jedoch hinzu, daß sie nicht zu gehorchen verstanden und sich leicht hintergehen ließen; demnach bestand auch die griechische Politik darin, sie unter einander zu entzweien und gegen einander zu bewaffnen. Die Mönche des Westens, welche das Werk der Bekehrung bei ihnen ausübten, wenngleich sie viele Fehler an ihnen erblicken, behaupten jedoch ausdrücklich, daß die Slaven mehr als irgend ein ihnen bekanntes Volk am leichtesten im Stande waren, mit der christlichen Religion sich zu durchdringen. Erinnert man sich nun an die religiösen Vorstellungen und den politischen Zustand der Slaven, so ist es leicht zu erraten, daß jenes Volk, welches Herodot ackerbauende Skythen benennt, ein Volk, welches am Dnjepr seine wandernden Herren ernährt, kein anderes, als das slavische105 war. Ebenso jene 105 Die Slaven werden bei Herodot mit keinem Wort erwähnt. Mickiewicz folgt hier der Auffassung von J.P. Šafařík: „Die mit diesen stammverwandten pflügendenSkythen (Σκύθαι ἀροτῆρες) hatten das Binnenland vom unteren Dniepr bis zu den Quellen des Bog und Dniestr inne. Es beschäftigten sich diese Skythen mit Ackerbau und starkem Getreidehandel mit den benachbarten Völkerschaften. Sie waren ohne Zweifel nicht skythischer sondern slawischer Herkunft. […] Leider hat uns Herodot ihren besonderen Namen nicht erhalten.“ – P.J. Schaffarik: Slawische Alterthümer, op. cit., Bd. I, S. 270–271; Stelle bei Herodot: Geschichten und Geschichte. Buch  I–IV. Übersetzt von Walter Marg. Zürich 1973, Buch IV, 17–18, S. 319.

6. Vorlesung (15. Januar 1841)

61

biederen Einwohner des Nordens, in der poetischen Sprache der Griechen die Unsterblichen106 genannt, waren gewiß an die Unsterblichkeit der Seele glaubende Slaven. Was den eigentümlichen Namen anbelangt, welcher das ganze Geschlecht in der alten Geschichte bezeichnet hätte, so bleibt er immer ein unauflöslicher Zweifel für uns, weil die verschiedenen Zweige teils nach ihrem Ursprunge, teils nach ihrem Wohnsitze, oder endlich vom herrschenden Volke verschiedene Benennungen107 annahmen oder bekamen. In den ältesten Zeiten kannte man sowohl in Asien als in Europa die Slaven unter dem Namen der Heneten oder Weneden; später nannte man sie Skythen, Sarmaten usw. Man sagt, daß die Römer sie ganz allgemein mit den Ausdrücken: Selvi, Silvi, Slavi, Sclavi, Servi bezeichneten; möglich ist, daß daher selbst die Benennung des Sklaven bei den Römern kam, welche um so leichter im Mittelalter ihre Etymologie im Worte slavus haben konnte, als die deutschen und romanischen Völkerschaften einen ansehnlichen Teil des Slavenlandes unterjocht hatten. Die Ansiedelungen der Slaven verbreiteten sich über ganz Europa; das Andenken ihrer Anwesenheit findet man noch in Frankreich und England; überall jedoch vernichtet, erhielten sie sich bloß in nördlichen Gegenden, welche fern von der Nachbarschaft eines durch festere Einrichtung und höhere Bildung übermächtigen Gemeinwesens waren.108

106 Bei Herodot sind es der thrakische Stamm der Geten, die die Unsterblichkeit vertraten – vgl. Herodot: Geschichten und Geschichte, op. cit., Buch IV, 93–94, S. 352–353. 107 Vgl. dazu die Übersicht bei Paul Joseph Schaffarik [Šafařík]: Slawische Althertümer. Deutsch von Mosig von Aehrenfeld. Hrsg. Heinrich Wuttke. Leipzig 1843, Bd.  1, Kapitel: 7: Die ursprünglichen Namen der Slawen: Winden und Serben; ferner, aus heutiger Sicht – Heinrich Kunstmann: Die Slaven: ihr Name, ihre Wanderung nach Europa und die Anfänge der russischen Geschichte in historisch-onomastischer Sicht. Stuttgart 1996, S. 19–26, 58–66. 108 In der Übersetzung von L. Płoszewski folgt ein (kurzer) Abschnitt – vgl. Adam Mickiewicz: Dzieła. Wydanie Rocznicowe 1798–1998. Tom VIII: Literatura słowiańska. Kurs pierwszy, op. cit., S. 77, der sich sinngemäß in der 14. Vorlesung (Teil I), vierter Absatz, wiederholt.

7. Vorlesung (19. Januar 1841) Zur Altertümlichkeit der slavischen Besiedlung in Europa – Der gesellschaftliche Status der Slaven in vor- und nachchristlicher Zeit – Nutzen und Vorteile der Erforschung slavischer Sprache für die Philologie – Volkssage und Fabel in Europa und bei den Slaven.

Die Art und Weise, die slavischen Altertümer zu betrachten, wie wir sie oben dargelegt, stimmt nicht mit der Meinung der westlichen Gelehrten überein. Unserem System nach fällt die Einwanderung der Slaven in die entferntesten Zeiten des Altertums; die fremden Geschichtsschreiber dagegen bestimmen sie als die allerletzte Einwanderung der Völker nach Europa. Besonders bemühten sich die Deutschen leidenschaftlich, diese Meinung zu begründen; denn dadurch wurde der Widerwille der Germanen gegen diese vermeintlichen Nachzügler des asiatischen Barbarentums, welche dem europäischen Geschlecht sich auf einmal aufgedrängt hätten, fortwährend genährt. Die slavischen Schriftsteller folgten blindlings den Werken der Griechen und Deutschen und teilten jene Ansicht; Joachim Lelewel109 war der Erste, welcher das Altertum der Slaven zu enthüllen unternahm; die Arbeiten aber der russischen und böhmischen Gelehrten haben es zur unerschütterlichen Wahrheit erhoben. Genügend ist es jetzt in dieser Beziehung, die Werke eines Pavel Jozef Šafařík110 durchzusehen. Was jedoch die Mythologie betrifft, so ist es schwer, sich aus das Urteil irgendeiner schriftlichen Autorität zu berufen. Wollten wir die Auseinandersetzung dieses Gegenstandes auf Bücher stützen, welche von Namen slavischer Götter, Göttinnen und Könige aus den Zeiten des Heidentums wimmeln, so müßte unser System zusammenfallen, weil diesem nach keine Mythologie, Hierarchie, kein Königtum sich mit den Grundsätzen der alten Slaven vereinbaren könnte. Der Widerstreit jedoch zwischen unserer Behauptung und den Zeugnissen ist bloß scheinbar, er verschwindet bei einer tieferen Untersuchung. Sorgfältig ist hier nur zu unterscheiden, was den Slaven wahrhaft eigen, volkstümlich 109 Joachim Lelewel (1786–1861); vgl. J.  Lelewel: Wiadomości o narodach, aż do wieku dziesiątego we wnętrzu Europy będących. In: J. Lelewel: Pisma pomniejsze geograficznohistoryczne. Warszawa 1814; deutsche Übersetzung: Joachim Lelewel’s Kleine Schriften geographisch-historischen Inhalts. Übersetzt von Karl Neu. Leipzig 1836. [SUB Göttingen. Signatur: 8 H UN I, 947]. 110 Pawel Josef Šafařík: Slowanske starožitnosti. Praha 1837; dt. Übersetzung: Paul Josef Schafarik: Slawische Alterthümer. Übersetzt von Mosig von Ahrenfeld. Hrsg. Heinrich Wuttke. I. Band. Leipzig 1843, II. Band Leipzig 1844; ferner P.J. Schaffarik: Die Abkunft der Slawen nach Lorenz Surowiecki. Ofen 1828.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_008

7. Vorlesung (19. Januar 1841)

63

gewesen ist, und was sie von Fremden entlehnt und sich angeeignet haben. Ihre religiösen Vorstellungen blieben rein, aber einige Sachen und Benennungen, entweder durch die später aus Asien einwandernden Völker hineingetragen, oder von den Nachbarn entlehnt, haben die Einheit der slavischen Begriffe verwirrt. Dieser fremde Einfluß reicht bis in die fernsten Zeiten. Die Gottheit Triglov111 entspricht augenscheinlich der indischen Trias, Żywie und Marzanna112, oder das Prinzip des Lebens und des Todes lauten im Sanskrit ganz ebenso; diese Ausdrücke kann man ohne Kenntnis der slavischen Sprache nicht einmal verstehen. Es geht wohl schwerlich an, solche Übereinstimmung von Ausdrücken und Bedeutungen auf Rechnung des bloßen Zufalls zu schieben. Auf welche Weise konnten diese Worte jenen unermeßlichen Flächenraum, welcher den Sitz der Slaven von Mittelasien trennt, durchfliegen? Sind sie aus jenen Gegenden zur Zeit der Blüte des Brahmanentums herausgegangen, oder haben sie diese Worte nur zufällig in ihrer Sprache gehabt? Wie dem auch sei, wir wissen nur, daß die litauische und slavische Sprache dem Sanskrit sehr nahe steht. Wichtig ist es für die Literatur, die Bedeutung solcher Ausdrücke gründlich zu untersuchen, den Einfluß fremder Vorstellungen auf das politische und Kunstleben der Völker zu erforschen. Auf diesem Feld kann man diese Frage leicht entscheiden. Vorstellungen und Ausdrücke der Art sind nie ins slavische Leben eingedrungen; man kann sagen, daß sie nur aus der Oberfläche schwimmen. Es sind dieses keine Dogmen, nicht einmal Sinnbilder von Begriffen, welche die Grundlage einer Gesellschaft ausmachen, sondern nur dichterische Metaphern, frei von jeder Verbindung mit der Wirklichkeit. Eben dasselbe müssen wir von den germanischen Gottheiten halten, deren Namen wir in der slavischen Geschichte antreffen. Die solchen Gottheiten dargebrachte Verehrung kann man nur an den Rändern des Slaventums bemerken, in Kiev, Novgorod, Rethra und Arkona, d.i. in den den wandernden finnischen und skandinavischen Stämmen angrenzenden Ländern. Augenscheinlich hat hier die Nachahmungssucht aus den anliegenden Ländern, wo schon die Mythologie beträchtlich entwickelt war, einige ihrer Erzeugnisse verpflanzt. In Prillwitz im Großherzogtum Mecklenburg hat man neulich eine reichhaltige Sammlung von alten slavischen Götzenbildern113 gefunden; jedoch alle Erklärungen, die 111 Zu Triglovъ vgl. Leszek Moszyński: Die vorchristliche Religion der Slaven im Lichte der slavischen Sprachwissenschaft, op. cit., S. 59ff., 73ff. 112 Vgl. zu diesem Irrtum, der (auch) auf Jan Długosz (Ioannis Dlugossi Annales seu Cronicae incliti Regni Poloniae, Liber primus, Varsoviae 1964) zurückgeht: Leszek Moszyński, op. cit., S. 13. 113 Es handelt sich um die sog. „Prillwitzer Idole“, Bronzeskulpturen und bronzene Reliefplatten, ausgegraben in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Prillwitz (Ortsteil der Gemeinde

64

Teil I

man davon gegeben, haben nichts Wesentliches geliefert. Es scheint, daß diese Götzenbilder von den Skandinaviern und Finnen herübergekommen waren, von den Slaven aber nur durch Inschriften in ihrer Sprache nationalisiert wurden. Die Kunst des Gießens und Bearbeitens der Metalle kannten sie ja nicht; sogar die hölzernen Götzenbilder, obgleich von inländischer Arbeit, tragen den Stempel eines fremden Musters an sich. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Königtum bei den Slaven. Das Register der slavischen Könige fängt schon im dritten Jahrhundert nach Christo an; später wird dasselbe schon ziemlich reichhaltig. Jedoch erscheint die königliche Gewalt auch nur an den Rändern des Slaventums. Die Notwendigkeit einer Abwehr gegen Anfälle von außen vereinte hier die Niederlassungen im gemeinsamen Interesse und unterwarf sie der Regierung eines zeitweiligen Herrschers, weil man nirgends das Beispiel einer slavischen Dynastie antrifft. Und in den Schriftstellern des abendländischen Kaisertums haben wir ein ausdrückliches Zeugnis, daß die Slaven nur auf bestimmte Zeit sich Anführer wählten, und daß sie niemals zum Gehorsam geeignet waren. Die Byzantiner nennen sie ein Volk, welches weder zu regieren, noch zu gehorchen versteht. Die Religion und das Königtum kreisten lange rings um die Sitze der Slaven herum und konnten sich den Eingang ins Innere nicht öffnen. So war der Zustand dieses Volkes beschaffen bis zur Niederlassung der Barbaren unter demselben, welche später unter dem Einfluss des Christentums Königreiche gestiftet haben. Von den Zeiten vor Herodot bis ins sechste Jahrhundert bewahrte der slavische Stamm seine ursprüngliche Verfassung. Stellen wir uns eine unzählige Menge kleiner Niederlassungen ohne irgendein allgemeines Band, eine unendliche Zahl getrennter Ameisenhaufen, mit ihrer häuslichen Arbeit beschäftigt, vor, oder um einen andern Ausdruck zu gebrauchen, ein Land, voll von Phalansterien114, und wir werden einen vollkommenen Hohenzieritz im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte in Mecklenburg-Vorpommern), dokumentiert in der Edition von Andreas Gottlieb Masch (1724–1807) – Die gottesdienstlichen Alterthümer der Obotriten, aus dem Tempel zu Rhetra, am Tollenzer=See. Nach den Originalien auf das genaueste gemahlet, und in Kupferstichen, nebst Hrn. Andreas Gottlieb Maschens Herzogl. Mecklenb. Strelitzischen Hofpredigers, Consistorial=Raths und Superintendentens Erläuterung derselben, herausgegeben von Daniel Wogen, Herzogl. Mecklenb. Strel. Hofmahler. Berlin 1771; [Im Internet unter – http://diglib.hab.de]; später als Fälschungen erkannt; vgl dazu – Rainer Szczesiak: Auf der Suche nach Rethra. Die „Prillwitzer Idole“. Neubrandenburg 2005. 114 Phalanstère (Phalasterium) – Produktions- und Wohngemeinschaften. Vgl. die von Charles Fourier (1772–1837) herausgegebene Zeitschrift und seine Beiträge in: „La Réforme industrielle ou le Phalanstère: journal la fondation d’ne phalange, réunion de 1100 personnes en travaux de culture, fabrique et ménage.“ Paris 1832–1834; vgl. Charles Fourier: Über das weltweite soziale Chaos. Ausgewählte Schriften zur Philosophie und

7. Vorlesung (19. Januar 1841)

65

Begriff von der slavischen Gesellschafts-Verfassung haben. Unmöglich ist das Wort zu finden, welches alle wesentlichen Bedingungen eines solchen Volkslebens wiedergebe. Aus vieler Hinsicht scheint es jedoch, daß hier die Träumereien von Charles Fourier ein wirkliches Bestehen hatten. Eine vollkommene Gleichheit, gemeinsame, verschiedenartige und jedem entsprechende Arbeit machen das slavische Gesamtleben aus. Sehen wir jetzt zu, was die Ursache war, daß bei ihnen so ein Zustand statthaben konnte. Dieses Volk erfreute sich einer gänzlichen Gleichheit, denn alle hatten in ihm gleichartige Anlagen und Mittel, denselben Gegenstand der Beschäftigung. Sie kannten keine andere Lebensweise, als die des Ackerbaues, und der Ackerbau ist weder eine Wissenschaft, noch eine Kunst; jeder besitzt die dazu nötigen Anlagen und Kräfte. Leicht war es mithin für eine ganze Bevölkerung, sich ein gemeinsames Ziel zu setzen, wenngleich die Mannigfaltigkeit der Arbeit unendlich sein konnte. Die Einteilung in Serien und Gruppen wird noch heute in vielen Dörfern dauernd festgehalten. Der slavische Landmann durchgeht alle Stufen der ländlichen Beschäftigung. Zuerst hütet er Gänse, dann das Vieh; später wird er Schnitter, Pflüger, und endlich im vorgerückten Alter bekommt er die fast priesterliche Würde des Sämanns. Auf diese Weise konnte jeder die Art und Weise seiner Beschäftigung verändern und alle Einzelheiten der Landwirtschaft erlernen. Für solch eine Gesellschaft ist das Zusammenleben eine unumgängliche Notwendigkeit; deshalb fanden auch die preußische und die österreichische Regierung und einige polnische Herren, als sie im Interesse der Landwirtschaft selbst die Landleute in gesonderten Gehöften auseinander setzen wollten, in ihnen einen unbesiegbaren Widerwillen, und ein solcher Plan hat nirgends geglückt. Dieses Volk muß in Gemeinden leben und arbeiten. Aber damit so ein Zustand immer dauere, darf in ihm keiner von diesen mächtigen Antrieben entstehen, welche den Menschen erheben. Religion, Wissenschaften, Künste äußerten hier keine Tätigkeit; die Entwicklung einer jeden von diesen Mächten hätte den Organismus der slavischen Welt zertrümmert, hätte ihrer schlichten Glückseligkeit ein Ende gemacht. Und sie waren in der Tat glücklich. Die Schriftsteller der Griechen und des Mittelalters stellen sie dar als das fröhlichste und freudigste Volk auf der Welt. Später konnten die Deutschen, Unterjocher vieler von diesen ihr Leben abwechselnd in Arbeit, Tanz und Gesang zubringenden Stämmen, sich nicht genug über ihre treffliche Laune wundern und nannten sie springlustige Sklaven – Sclavi saltantis.115 Gesellschaftstheorie. Herausgegeben von Hans-Christoph Schmidt am Busch. Berlin 2012; Guenter Behrens: Die soziale Utopie des Charles Fourier. Köln 1977. 115 Diese Bezeichnung taucht auf bei Emernicus monachus Augiensis et abbas Elwangensis [Emmerich von Ellwangen] (†866) auf. Vgl. Monumenta Germaniae Historica. Hrsg.

66

Teil I

Die glücklichen Zeiten der Slaven, ähnlich wie die der Bewohner von St. Domingo, nahmen in dem Augenblicke ein Ende, als die Zivilisation ihren Boden betrat; denn bis jetzt erlaubte ihnen ihr sozialer Zustand keinen Fortschritt und sicherte ihnen den Genuß einer etwas thierischen Glückseligkeit, welche sich zu wünschen eines Menschen, der seine höhere Bestimmung kennt, unwürdig wäre. Diese lange Periode fing etwa 780 vor Christo an, und dauerte bis zum Jahre  600 unserer Zeitrechnung. Es blieb von ihr keine eigentliche historische Spur übrig. Die Tätigkeit der Slaven wandte sich nicht zur Errichtung von Denkmälern aus Erz und Stein; es gibt bei ihnen keine altertümlichen Städte, keine erhabenen Überbleibsel der Baukunst; man findet selbst weder Denkmünzen, Münzen, noch Inschriften. Aus der ganzen Arbeit durch Jahrhunderte können sie nur ein einziges Erzeugnis aufweisen – ihre Sprache. Alle ihre Kräfte, alle ihre Fähigkeiten wurden zur Ausbildung derselben verwandt. Dieser Mangel an allen übrigen Arbeitsfrüchten, diese gemeinschaftliche Richtung der Bemühungen nach einem einzigen Ziel ist ein äußerst charakteristischer Zug. Wenn die frisch ausgeführten Arbeiten der Gebrüder Grimm116 über die deutsche Sprache unschätzbare Entdeckungen für das Germanentum mit sich brachten, wenn die französische Rechtsgeschichte Jules Michelet117 dergleichen mit Hilfe der Philologie zu erläutern verstand: so würde ungleich reichere Schätze die slavische Sprache darbieten, weil, während die anderen Völker nur einen Teil ihrer Mühe auf Bildung der eignen Sprache verbraucht, die Slaven ihr ganzes Geistesvermögen zum Bau dieses einen riesigen Denkmals verwendet haben. Die slavische Sprache, so alt wie die der Inder und Germanen, lebt noch heute im Munde von 80 Millionen Menschen. Will man hier irgendeiner Etymologie nachspüren, so muß man nicht tote Buchstaben vergleichen, sondern man kann die lebende Sprache erforschen, ihr bewegliches Gesicht schauen, einigermaßen in ihren Augen lesen. Vor allem aber ist diese Sprache eigenbürtig; sie duldet nichts Fremdes. Fremde Wörter sind zahlreich in sie gefallen, sind in ihr ertrunken; keines jedoch kann in Gebrauch kommen, ohne seinen fremden Charakter vorher zu verlieren. Nimmt man dagegen Georg Henrich Pertz. Band 2. Hannover 1829, „Scriptores rerum Sangallesium“, XI. „Ekkehardi IV. Casuum S. Galli Continuatio I., S. 101: „Tu psalterium arripe, puto non alicuius mimi ante ianuam stantis, sed neque Sclavi saltantis.“ [http://www.dmgh.de]. 116 Jacob Grimm: Deutsche Grammatik. 4 Bände (Teile). Göttingen 1819–1837; Jacob Grimm: Rechts-Alterthümer. Göttingen 1828. 117 Jules Michelet: Origines du droit français. Paris 1837. Jules Michelet (1798–1874), Professor für Geschichte am Collége de France, war mit Mickiewicz befreundet; über Jules Michelet vgl. Wiktor Weintraub: Profecja i profesura. Mickiewicz, Michelet, Quinet. Warszawa 1975; außerdem Dorothea Scholl: Zwischen Historiographie und Dichtung – Jules Michelet. In: Poeta philologus: eine Schwellenfigur im 19. Jahrhundert. Hrsg. Mark-Georg Dehrmann und Alexander Nebrig. Bern-New York 2010, S. 139–160.

7. Vorlesung (19. Januar 1841)

67

irgendein beliebiges einheimisches Wort und betrachtet es von der Wurzel an bis in die äußersten Verzweigungen, so sieht man es immer in logischer und grammatikalischer Gesamtheit. Jedes dieser Wörter führt durch verschiedene Abänderungen ebenso in die ältesten Zeiten herunter, wie in die neuesten Tage hinauf. Man findet hier zugleich eine staunenswerte Ganzheit und Allgemeinheit. Man könnte sagen, daß diese ganze ungeheure Sprache gleichsam aus selbstbürtigem, von jeder Beimischung freiem Erz gegossen, auf einmal aus einem einzigen Wort hervorgeblüht ist. Denkt man über sie nach, so kommt man auf wichtige philologische Fragen, die von zwei verschiedenen philosophischen Schulen118 auf doppelte Weise gelöst werden. Diejenigen [die Traditionalisten], welche die Überlieferung annehmen, halten die menschliche Sprache für ein Geschenk der Offenbarung; nach der Meinung der Individualisten schuf der Mensch die Sprache sich selbst, indem er zuerst die sinnlichen Bedürfnisse und Gegenstände benannte, später diese Namen auf abstrakte Begriffe übertrug. Die Erforschung der slavischen Sprache söhnt gleichsam diesen Widerspruch aus. Beide Prinzipien findet man in ihr, das göttliche und menschliche; sie ist gleichsam eine Zusammensetzung aus zwei sich gleichzeitig entwickelnden Sprachen, von denen die eine von unsichtbaren Dingen zu sichtbaren herabsteigt, die andere sich von der sinnlichen Welt in den Kreis einer höhern Wirklichkeit emporhebt, und beide auf einer gewissen Stufe der Volksbildung sich begegnen. Diese Einteilung finden wir übrigens in der Genesis, wo Gott einem Teil der Wesen selbst die Namen beilegt, die Benennung der übrigen aber dem Menschen überläßt. Sowie man das Geheimnis der Schöpfung zu ergründen sich bemüht, ebenso möchte man die Gesetze der Sprachbewegungen entdecken. Unter allen Sprachen entspricht die slavische durch ihre Ausdehnung am meisten dem Unermeßlichen der Natur. Die Deutschen haben eine Naturphilosophie erzeugt, den Slaven scheint es vorbehalten zu sein, die Philosophie der Sprache zu geben. In dieser Hinsicht hat unser tiefdenkender Forscher Jan Nepomucen Kamiński119 schon ein System natürlicher und historischer Verhältnisse auf 118 Die Einteilung Traditionalisten und Individualisten entspricht etwa der Gegenüber­ stellung von Sprachphilosophie (Herder, Humboldt) versus Sprachgeschichte (historischvergleichende Sprachwissenschaft), die im 19. Jahrhundert über Grimm zu Franz Bopp und der junggrammatischen Schule führt; vgl. Gerhard Helbig: Geschichte der neueren Sprachwissenschaft. Reinbek bei Hamburg 1974 (Kapitel: „Romantische Sprachwissenschaft“). 119 Jan Nepomucen Kamiński (1777–1855); vgl. die Aufsätze – Czy nasz język jest filozoficzny? In: Haliczanin (Lwów) 1830, tom I, S. 71–108; Wywód filozoficzności naszego języka. In: Haliczanin (Lwów) 1831, tom II, S. 109–164; vgl. auch: Dusza uważana jako myśl, słowo i znak. Psychologiczno-etymologiczne poszukiwania Jana Nep. Kamińskiego. Lwów 1851. [www.pbi.edu.pl]. Es sind Versuche, Hegels Terminologie auf die polnische Sprache zu

68

Teil I

den Bau der slavischen Sprachen gegründet. Wenn die Erkenntnis der Natur zur Erklärung vieler sittlicher Erscheinungen führt, um wie viel mehr wird die Wissenschaft der Sprache, der Vermittlerin zwischen der stummen Welt und dem Geiste, zur Lösung so mancher philosophischen Aufgabe beitragen. Die slavischen Völker stellen vor dem Entstehen selbständiger Reiche unter sich ein großes Ganze dar. Da gibt es unter ihnen noch keine Mundarten und Volksüberlieferungen. Das ist für uns die Zeit, die gemeinsame und allgemeine Tradition zu betrachten. Sie bewahrt sich in den ältesten Volksliedern, Märchen und Sagen.120 Die slavischen Märchen und Sagen sind von der westlichen und östlichen verschieden. Fortwährend ausgebildet, sind sie im Osten schon ein Gegenstand der Kunst geworden; im Westen, durch die Kunst übertäubt, dagegen fast gänzlich verschwunden. Bei den Slaven hingegen dauern sie in ihrem ursprünglichen Zustand, sind weder Gattung der Literatur, noch ein Kinderspielzeug. Alte Überlieferungen werden dort noch heute so ernst erzählt, wie man ehemals bei den Griechen ein Epos sang. Das Hauptmerkmal des traditionellen Märchens ist das Phantastische. Der Ort und die Zeit für die Ereignisse werden in ihm unbezeichnet gelassen. Es geschieht alles ungewiß, wo und wann? Unbekannte, wunderbare Wesen erscheinen auf der Bühne: Tiere, die sich in Bäume verwandeln, Bäume, welche sprechen, Lindwürmer, ungeheure Vögel; nur der Mensch zeigt sich selten. Die Gestalten dieser Untiere sind undeutlich, unausgeführt, das ganze Bild, in ein geheimnisvolles Etwas gehüllt, schwebt gleichsam noch im Chaos der Schöpfung. Und dieses ist es besonders, was die altertümliche von der neuen Sage auszeichnet. Soll man in diesen Wundererscheinungen nur das Erzeugnis einer ausschweifenden Einbildungskraft erkennen, oder auch hoffen, irgendeine Wirklichkeit herauszufinden? Die heutige Wissenschaft ist bis ins Innere der Erde gedrungen, hat dort die Überreste einer Natur entdeckt, die nicht mehr auf der Oberfläche sich findet; unter diesen Überbleibseln zeigen sich Spuren von Wesen, welche wunderbar den durch die Überlieferung aufbewahrten Bildern gleichen. Bei allen Völkern beinahe spricht seit undenklichen Zeiten die Überlieferung von Drachen; unlängst hat man hier in den Gegenden von Paris in einer Sandsteinschicht den Abdruck eines riesigen geflügelten Amphibiums gefunden. Wäre es daher nicht möglich, daß diese Sagen sich auf übertragen; vgl. Adam Bar: Die ersten Einflüsse Hegels in der polnischen Zeitschriftenliteratur. In: Germanoslavica 1 (1931/1932), Nr. 1, S. 76–82. Kamiński übersetzte auch Goethe, Shakespeare und Schiller ins Polnische; vgl. Markus Eberharter: Die translatorischen Biographien von Jan Nepomucen Kamiński, Walenty Chłędowski und Wiktor Baworowski. Zum Leben und Werk von drei Literaturübersetzern im 19. Jahrhundert. Warschau 2018. 120 Gustaw Siegfried übersetzt „baśń“ (französisch „conte“) mit Fabel; gemeint sind allerdings auch das Märchen und die Sage.

7. Vorlesung (19. Januar 1841)

69

allgemeine Rückerinnerungen stützen, die noch aus den Zeiten vor der Sintflut herstammen, die durch die Urväter des Menschengeschlechts bewahrt und bei dem Auseinanderstreuen der asiatischen Bevölkerung durch die ganze Welt getragen wurden. Eine Menge von Beweisen bestärkt das Gemeinsame der ursprünglichen dichterischen Überlieferung. Was Apuleius von Madaura in Afrika, im 2. Jahrhundert nach Christo in seinen „Metamorphosen“ schreibend, geschöpft, was François Rabelais121 zu seinen Erzählungen entnommen, was sich zu den mittelalterlichen Romanen (Roman de Renart) herangebildet hat, das hören die slavischen Kinder noch heute aus dem Munde ihrer Kindermädchen. Genügend ist, ein einziges Beispiel hier anzuführen. In der „Naturalis historia“ (Naturgeschichte) von Plinius dem Älteren treffen wir auf folgende Formulierung: „Die Erde nimmt die Schlange, welche einen Menschen beschädigt hat, nicht mehr auf [..].“ („Illa serpentem homine percusso amplius non recipit poenasque [..].“122 Wenngleich auch sonst die Schreibart des rhetorischen Naturforschers nicht leicht zu verstehen ist, so scheint jedoch diese Stelle besonders unverständlich zu sein; erst der slavische Volksglaube dient ihr zum vollständigen Kommentar. Es behauptet nämlich bei uns das Volk, daß die Schlange, welche einen Menschen gebissen, für den Winter in kein Erdloch schlüpfen kann, und als ein dem Verderben geweihter Flüchtling verkommen muß. Möglich wäre es wohl, in den Sagen viele ähnliche Erlauterungen und merkwürdige Betrachtungen zu finden; was jedoch wichtiger, ist dieses, daß in ihnen wirklich sichtbare Spuren der anfänglichen Geschichte des Volkes sind, ja sogar mythische Erwähnungen seiner zukünftigen Schicksale. Das slavische Volk redet von den Tieren Asiens, die es nie gesehen; ihre Gestalten und Eigenschaften stellt es sich wahrhaft vor; die Namen des Elephanten, Löwen und des Kamels besitzt es in seiner Sprache. Woher ist denn dieses Alles gekommen, wenn die Überlieferung nicht in die Zeiten reicht, welche ihrer Ansiedlung in Europa vorangingen. Diese Überlieferung spricht noch von einem entfernten Land, das unter einem heißen Himmel hinter den Meeren liegt, wo die Flüsse der Unsterblichkeit strömen. Dorthin unternehmen die fabelhaften Helden der

121 Vgl. François Rabelais: Gargantua und Pantagruel. Herausgegeben und übersetzt von Horst und Edith Heintze auf der Grundlage der deutschen Fassung von Ferdinand Adolf Gelbecke. Augsburg 2005; vgl. ferner – Michail M. Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Hrsg. Renate Lachmann. Frankfurt am Main 1987. 122 Caii Plinii Secundi: Naturalis historiae libri XXXVII. Venedig 1559, Bd. 2, Kap. LXIII. S. 27.

70

Teil I

Slaven ihre Züge, um das wundervolle Wasser123 zu holen, kämpfen mit Geistern und finden den Phönix124, wachend über bezauberte Burgen. Diese Erzählungen nehmen sichtbar ihren Anfang im Osten und sind älter als „Tausend und eine Nacht“. Ihr Altertum übertrifft alles, was die geschriebene Literatur bewahrt hat.

123 Vgl. das Märchen „Das Wasser des Lebens“, in: Grimm, Brüder: Kinder- und Hausmärchen. Vollständige Ausgabe. Mit 184 Illustrationen zeitgenössischer Künstler und einem Nachwort von Heinz Rölleke. Düsseldorf und Zürich. 19. Auflage 1999, S.  486–491; vgl. auch – Claude Lecouteux: Lebenswasser. In: Enzyklopädie des Märchens. Band 8. BerlinNew York 1996, S. 838–841. 124 Vgl. Julian Krzyżanowski: Polska bajka ludowa w układzie systematycznym. Wrocław 1962–1963, tom I, S. 176 (Nr. 550).

8. Vorlesung (22. Januar 1841) Zur Bedeutung der slavischen Volkssagen – Verzweigung der slavischen Sprache in Dialekte – Die russische, die polnische und die tschechische Sprache – Die Franken – Der Stamm der Lechiten und der Tschechen – Das polnische und das tschechische Königreich – Die Normannen begründen das Großherzogtum Rus’ – Die Asen.

Wenn auch die slavischen Sagen außer ihrem literarischen Wert keinen anderen Vorzug hätten, so waren sie doch sehr anziehend; aber ihr altertümlicher Charakter ist der Beachtung noch bei weitem würdiger. Leicht wäre es, in dieser Beziehung eine Menge bemerkenswerther Einzelheiten anzuführen. Die indische Überlieferung ist reich an Erzählungen von Weisen und Büßern, welche in Wüsten der Beschaulichkeit lebten; – das Schauspiel „Sakuntala“125 spricht von einem solchen Philosophen, der ganz unbeweglich Jahre lang in frommen Gedanken vertieft war, daß ihn ein Ameisenhaufen rings umlagerte, eine Schlange sich ihm ruhig um den Nacken wand und Vögel auf seinen Schultern nisteten. Ein ähnliches, jedoch noch mehr ausgeführtes Bild finden wir in den slavischen Überlieferungen, nur mit dem Unterschiede, daß der slavische Einsiedler nicht Brahmane, sondern Räuber war.126 Von Reue getroffen, stieß er seine Keule in die Erde und kniete vor ihr nieder. Aus der mit Tränen benetzten Keule wuchs ein ästiger Baum empor, und ehe er den Ablaß seiner Sünden erharrte, verschloß ihm eine Spinne den Mund, und Bienen fingen an, in sein Ohr, wie in einen Bienenstock, Honig zu tragen. Eine andere, beinahe ganz allgemeine Überlieferung erwähnt ein schwangeres Weib, welches schreckliche Untiere verfolgen, um seine Niederkunft zu hindern. Diese Erwähnung finden wir in verschiedenen Mythologien. Die Griechen haben daraus die Geschichte der von einer Gottheit verfolgten Latona127 gebildet; Ovid hat sie in seinen Dichtungen aufbewahrt; die Apokalypse128 aber deckte den geheimen Gedanken des ganzen Mythos auf. Bei den Slaven dauert er in seiner alten Form fort, nur in einzelnen Zügen den Stempel der diesem Volk eigentümlichen Vorstellungen an sich tragend. Das verfolgte Weib129 scheint hier ein Landmädchen, auch in dessen Tracht gekleidet zu sein. Immer näher die verfolgenden Ungeheuer hinter sich erblickend, bemüht sie sich, ihnen den 125 Vgl. das Werk des indischen Dichters – Kalidas: Sakuntula. Drama in sieben Akten. Einleitung, Übersetzung aus dem Sanskrit und Prakrit und Anmerkungen von Albertine Trutmann. Wien 2006. 126 Vgl. „Baśń o Madeju-pokutniku“ in: Julian Krzyżanowski: Polska bajka, op. cit., S. 235–238. 127 Über Latona (griechisch Leto) vgl. Ovid: Metamorphosen (VI. Buch). 128 Vgl. die Offenbarung des Johannes – „Der Kampf des Drachen gegen die Frau“ (12, 13–18). 129 Vgl. J. Krzyżanowski: Polska bajka, op. cit., S. 95–99.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_009

72

Teil I

Weg abzuschneiden, und wirft in dieser Absicht zuerst ihre Bänder, dann ihr Tuch, zerreißt und wirft endlich ihr Haargeflechte hinter sich; die Bänder verwandeln sich in Flüsse, das Tuch wird zu einem See, aus den Haaren entstehen Bäume; – auf diese Weise decken Gewässer und ein dichter Wald ihre Flucht. Der schon früher erwähnte Verfasser der „Metamorphosen“130, Apuleius, ist auch der einzige Schriftsteller, welcher darin die mythischen Abenteuer der Liebe von „Amor und Psyche“ überliefert hat; jedoch ältere Denkmäler zeigen uns die Hauptgestalten und Ereignisse dieses Romans, die später durch die Bildhauerkunst und Malerei vervielfältigt wurden. Die Künstler des Altertums haben ihren Gegenstand nicht aus den Büchern des Apuleius geschöpft; sie fanden ihn in der allgemein verbreiteten Volkssage. Einen Beweis hiervon kann man in den neulich erschienenen slavischen Sagensammlungen131 haben. Dies merkwürdige Zusammentreffen der Überlieferungen hat viele höhere Geister verwundert. Walter Scott verglich schön die Volksüberlieferungen mit leichten, durch die ganze Welt hin getragenen Strohhalmen132, erklärte jedoch dadurch nichts. Man glaubte, daß merkwürdigere Erzählungen, aus einer Sprache in die andere übersetzt, zum Eigentum aller Völker geworden; doch in jenen alten Zeiten beschäftigte man sich weder mit Lesen, noch Übersetzen, und noch heutzutage sind die Slaven von ähnlichen Verbindungen mit den zivilisierten Völkerschaften abgeschnitten. Folglich muß man schließen, daß diese Überlieferungen einer ungemein entfernten, der Schreibkunst vorangehenden Zeit angehören und eine Gattung der gleichsam fossilen Literatur ausmachen. Ihre Überreste gleichen den Knochen vorsintflutlicher Tiere, gehören der ganzen Erde an, finden sich überall unter dem verschiedensten Klima, in den verschiedensten Ländern. Kein Vaterland kann man dem Mammut anweisen, und ebensowenig kann man wissen, welche Gegend der Sitz altertümlicher Mythen gewesen ist; dennoch, wo wir auf die meisten Fossilien-Knochen stoßen, da finden sich auch Volkssagen am reichsten; diese Schatzkammer merkwürdiger Überreste ist die slavische Welt. Lange Zeit lagen sie von der Wissenschaft und der Kunst unberührt; jetzt endlich ist die Zeit gekommen, wo die Kritik sie einer Sichtung unterwerfen soll, wo diese ÜberlieferungsLiteratur, in die schriftliche hineingetragen, verschwinden wird. Sie war, wie unterirdisches Wasser, allen bekannt und dennoch unzugänglich; erst in

130 Die „Metamorphosen“ wurden später auch „Der goldene Esel“ (Asinus aureus) genannt. 131 Vgl. František Ladislav Čelakovský: Slovanské národní písně. 1. dil, Praha 1822; 2. dil, Praha 1825; 3. dil, Praha 1827. Bd. 1 ist – V. Hanka, Bd. 2 – K. Brodziński, Bd. 3, – Vuk S. Karadžić gewidmet. 132 Stelle nicht ermittelt.

8. Vorlesung (22. Januar 1841)

73

unseren Tagen verstand es die Mechanik, zu ihr zu dringen und sie auf die Oberfläche herauszuschöpfen. Die Volkssagen haben schon durch ihre ehemalige Umbildung einige Literaturzweige erzeugt. Der Apolog (απολογος)133 und eine Art tierisches Epos verdanken ihnen ihren Ursprung. Aber die ernste Dichtung und die erhabene Sittlichkeit des alten Apologs verfielen mit der Zeit gänzlich, und das Epos, welches Tiere zu seinen Helden hat, veränderte seinen Charakter unter der Hand der mittelalterlichen Romanschreiber und der heutigen deutschen Schriftsteller. Die Dichter des Westens verliehen ihnen die Färbung ihres skeptischen und höhnenden Geistes; man hat selbst Goethe134 den Vorwurf gemacht, daß er mehr den mittelalterlichen Mustern, als der Volksüberlieferung gefolgt ist. Es besteht also der Unterschied zwischen der fossilen Welt organischer Wesen, und der ihr ähnlichen Literaturwelt darin, daß die erste tot daliegt, die zweite ihr Leben nicht verloren hat. Wenngleich die Volkssage nichts erzeugt, so geht sie doch Jahrhunderte durch und unterliegt der Veränderung. Daher ist es auch so schwer, sie wissenschaftlich zu beurteilen, was in ihr der überlieferte Urstoff, und was eine Beimischung des späteren Einflusses ist. Für die Slaven jedoch ist eine Forschung der Art von großer Wichtigkeit; denn diese Überlieferungm sind das einzige Denkmal ihrer allgemeinen, allen Völkern dieses Stammes gemeinsamen Literatur, welche noch der Zeit vorangeht, wo sich das Geschlecht in Nationen, die Sprache in Dialekte zerbröckelte. Die slavische Sprache beginnt schon im ersten historischen Augenblick sich zu teilen; doch es liegt der Keim dieser Teilung in ihrem Wesen selbst. Dieser eine Baum zeigt gleich von unten zwei getrennte Stämme; jeder von ihnen treibt später doppelte Äste. Die Doppeltheit ist ihr Hauptcharakter. Längst schon haben die Deutschen dies sonderbare Merkmal erblickt und haben ihren Ursprung in der mythischen Bedeutung des weißen und schwarzen Gottes135 gesucht, deren Dualismus sich auf gleiche Weise in der Sprache, 133 Vgl. Friedrich Adolf Krummacher: Apologen und Paramythien. Duisburg-Essen 1810. 134 Johann Wolfgang von Goethe: Reineke Fuchs (1794). 135 Helmold von Bosau (1120–1177): „Est autem Slavorum mirabilis error; nam in conviviis et compatacionibus suis pateram circumferunt, in quiam conferunt, non dicam consecracionis verba sub nomine deorum, boni scilicet atque mali, omnem prosperam fortunam a bono deo, adversam a malo dirigi profitentes. Unde etiam malum deum lingua sua Diabol sive Zcerneboch, id est nigrum deum, appellant.“ (Die Slawen haben aber einen sonderbaren abergläubischen Gebrauch. Bei ihren Schmäusen und Zechgelagen lassen sie nämlich eine Schale herumgehen, auf welche sie im Namen der Götter, nämlich des guten und des bösen, Worte, nicht der Weihe, sondern vielmehr der Entweihung ausschütten. Sie glauben nämlich, alles Glück werde von einem guten, alles Unglück aber von einem bösen Gotte gelenkt. Daher nennen sie auch den bösen Gott in ihrer Sprache Diabol oder Zcerneboch, d.h. den schwarzen Gott.) – Helmoldi Presbyteri

74

Teil I

wie in der ganzen Geschichte der Slaven abspiegelt. Und doch wie soll man diesem Unterschied nach die Völker und Sprachen einteilen? Wem das weiße und wem das schwarze Merkmal zuerkennen? Eine desto schwierigere Aufgabe, weil sie zugleich alle politischen, religiösen und sozialen Fragen berührt. Einige Gelehrten haben ein Gemenge von Mundarten russisch, ein anderes polnisch benannt. Die Polen nahmen diese Benennung nicht an, indem sie mit Recht behaupteten, daß der Name Rossija, und sogar Rus’ noch zu neu ist für das Altertum des Stempels, den er bezeichnen soll; – und obgleich die Tschechen der Eintracht wegen in dieser Hinsicht bereit waren, jede eigene Forderung aufgebend, mit ihrer Mundart unter die Benennung des PolnischTschechischen zu treten, so wurde der Streit doch nicht geschlichtet. Man wollte dann die Mundarten nach der geographischen Lage klassifizieren; es zeigte sich aber, daß beide Gattungen ebenso im Norden wie im Süden, im Osten, wie im Westen sich finden. Vergeblich bemühten sich noch die Tschechen, jede Reizbarkeit zu heben, indem sie die Sprachstämme mit Buchstaben136 oder Ziffern bezeichneten; immer mußte der Streit um das Recht des Vorranges stattfinden. Alle oben erwähnten Mittel konnten den gewünschten Erfolg nicht haben; denn die scheinbar grammatische Frage enthält viele andere wichtigere in sich. Man muß hierbei weder die Einteilung der Länderoberflache, noch der Bevölkerungsmasse, sondern die Hauptideen aufsuchen, welche durch die Form der zwei Sprachen repräsentiert werden, sie zum Standpunkte zu nehmen. Dann erst könnte die ganze slavische Sprache den Namen einer polnisch-russischen oder russisch-polnischen annehmen; denn Polen und Rußland sind keine Länderteile der Erde, sondern zwei Ideen im Slaventum, welche, zur Verwirklichung eilend, nach einer ausschließenden Bozoviensis Cronica Slavorum. Editio tertia. Hrsg. Bernhard Schmeidler. Hannover 1937, S. 102–103; Übersetzung nach: Helmold von Bosau: Die Chronik der Slawen. Hrsg. A. Heine. Stuttgart 1986, S. 160. 136 Die Klassifikation nach Buchstaben nahm J.  Dobrovský vor, indem er die slavischen „Völkerschaften“ in zwei Ordnungen einteilte: „A. Serbisch-östlicher Stamm: 1. Ordnung: a) Russen, b) Servier, c) Kroaten, d) Winden; B. Serbisch-westlicher Stamm: 2. Ordnung: a) Čechen, b) Wenden (1), c) Wenden (2), d) Lechen.“ – J.  Dobrowsky: Über zwei verschiedene Ordnungen der slawischen Sprachen, in: J. Dobrowsky: Slovanka. Zur Kenntniss der alten und neuen slawischen Literatur, der Sprachkunde nach allen Mundarten, der Geschichte und Alterthümer. Prag 1814, S.  165; Šafařík übernahm die Zweiteilung, modifiziert sie jedoch (in Ziffern) in „I. Südwestliche Ordnung. 1. Russische Abtheilung, 2. Bulgarische Abtheilung, 3. Illyrische Abteilung. a) die Serben jenseits der Donau, d) die Chorwaten, c) die Slawen in Kärnten oder die Winden (Slowenzen). II. Westliche Ordnung. 1. Lechische Abteilung. a) Lechen oder Polen, b. Schlesier, c) Pommern. 2. Czechisch-slowakische Abtheilung. a) Czechen, b) Mährer, c) Slowaken.  3. Polabische Abtheilung. Die Slawen in Norddeutschland: Lutizer oder Weleten, Bodrizer, lausitzer Serben, Miltschaner u.a.m.“ – P.J. Schaffarik: Slavische Alterthümer, op. cit., Bd, II, S. 50.

8. Vorlesung (22. Januar 1841)

75

Herrschaft streben und gegenseitig sich herunterstoßen. Je nach dem verschiedenen Schicksale ihres Kampfes lasten die Länder und Völker der Slaven bald nach der einen, bald nach der andern Seite, und die ursprüngliche heidnische Zweiheit des slavischen Geschlechts und seiner Sprache findet ein neues Element seiner Fortentwicklung. Es gibt kein Geschlecht, keine Landschaft, wo man diesen Zwiespalt in verschiedenen und oft einander feindlichen Seiten nicht bemerken könnte; jedoch erst die Aufnahme eines geistigen Elements drückt ihm einen, bestimmten Stempel auf, leitet sie zu einer allgemeinen Mitte und verbindet sie mit der Gesamtbewegung der zwei großen Massen. Auch diese Bewegung geschieht in einer gänzlich entgegengesetzten Richtung; daher zwei Religionen, zwei Mundarten, zwei Alphabete und zwei konkurrierende Regierungsformen. Um diesen Unterschied auf Polens und Rußlands Charakter zu stützen, ist es nötig, in ihrem Keim selbst die schöpferischen Kräfte aufzusuchen, sich demnach in jene Zeit zurückzubegeben, wo die Staaten und Reiche sich im Slaventum zu bilden begannen. Mit dem sechsten Jahrhundert schließt die alte Geschichte der Slaven. Nach dem Durchzuge der Hunnen fanden keine so bedeutenden Überschwemmungen uralischen Stammes mehr statt. Die dem Attila nachziehenden Horden fingen an, sich in den slavischen Ländern anzusiedeln. Die nicht zahlreichen, aber furchtbaren Awaren schließen den Zug der grausamen Einbrüche und setzen sich zwischen dem adriatischen Meer und.den Karpaten fest. Kurz darauf im Jahrhundert erscheint hier das erste Königreich eines gewissen Samo, welchen Fredegar für einen Gallier hält.137 Dieses Königs Geschichte ist äußerst dunkel; gewiß ist nur, daß er Ausländer war und die Slaven zur Abwehr, sei es gegen die Awaren, sei es gegen die Franken, zusammenbrachte. Seine Familie regierte einige Jahre und verschwand gänzlich aus der Geschichte. Dafür erhebt sich sogleich das mährische Herrscherhaus138 und das Reich des Svjatopolk; endlich kommen die Magyaren, welche das mährische Reich vernichten und das ungarische gründen.

137 „Anno 40. regni Chlothariae homo nominen Samo, natione Francos, de pago Senonago […]“ (Im Jahre 40 regierte die Merowinger ein Mann namens Samo, fränkischer Herkunft, aus dem Gau von ‚Senonago‘) – Fredegarii et aliorum chronica. Vitae sanctorum. Hrsg. Bruno Krusch. In: Scriptores rerum Merovingicarum. Bd. II. Hannover 1958, S. 144. (Liber IV, 48). Vgl. dazu: Manfred Eggers: Samo – „Der erste König der Slawen“. Eine kritische Forschungsübersicht. In: Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder. München-Wien. 42 (2001), S. 62–83. 138 Vgl. Martin Eggers: Das „Großmährische Reich“ Realität oder Fiktion? Eine Neuinterpretation der Quellen zur Geschichte des mittleren Donauraumes im 9. Jahrhundert. Stuttgart 1995 (= Monographien zur Geschichte des Mittelalters. Bd 40).

76

Teil I

In dem Zeitraum von Samo an bis zum Entstehen Ungarns fanden jenseits der Karpaten Ereignisse von bei weitem wichtigerem Einfluss auf die künftigen Schicksale der Slaven statt. In der Zeit kamen die Mächte Polens, Böhmens, Rußlands auf. Hier entsteht die Frage, ob das politische und soziale Dogma dieser Mächte aus innerer slavischer Macht hervorgesprossen, oder ob es, durch Fremde hineingetragen wurde. Die Volksüberlieferung spricht von Lechen und Tschechen als Ankömmlingen vom fernen Osten, von den Gestaden des Kaspischen Meeres. Die Chronikenschreiber haben sie aufgenommen und wiederholt; aber eine spätere Kritik verwarf sie als falsch. Besonders griffen die Deutschen die Echtheit der alten polnischen und tschechischen Überlieferungen an. Schmerzlich war dies denen, welche an die Urgeschichte ihres Volkes zu glauben gewohnt waren, und der Fürst Jabłonowski, ein Pole von altem Schrot und Korn, bot, als er erfahren, daß August Ludwig Schlözer139 durch eine gelehrte Abhandlung den Lech vernichten wollte, demselben eine bedeutende Summe als Lösegeld für diesen König; mit der Zeit haben jedoch die slavischen Geschichtsschreiber selbst allgemein das fabelhafte Zeitalter als märchenhaft und unbegründet anerkannt. Erst neu entdeckte Zeugnisse ändern die Lage der Dinge wieder. Die aus den persischen und armenischen Überlieferungen entlehnten Denkmäler der orientalischen Geschichte stimmen wunderbar mit dem Inhalt der lechitischen Überlieferung überein; nur der Schauplatz der Ereignisse ist ein anderer, sie geschehen in den Gegenden des Kaukasus, wohin gerade die mazedonischen Truppen gedrungen sind. Möglich ist, daß das Andenken an diese Ereignisse mit den Weneden nach dem Slavenlande kam. Die tschechische Überlieferung ist von der polnischen nicht verschieden. Lech und Czech sind zwei leibliche Brüder. Während ihre Reiche sich an den Karpaten bildeten, 139 August Ludwig Schlözer (1735–1809): „Lech kam nicht vor dem Jahr 550 nach Polen, er kam nicht nach demselben, er kam niemals, Lech ist blosser Uebersetzungsfehler, ein noch nicht 400 Jahre altes Hirngespinst, ein historisches Unding. Laßt ihn ins Reich der Schatten wandeln.“ – August Ludwig Schlözer: Abhandlung über die Aufgabe aus der polnischen Geschichte ‚Könnte nicht die Ankunft des Lechs in Polen zwischen den Jahren 550 und 560 usw. erfolgt sein‘, welcher von der Naturforschenden Gesellschaft in Danzig 1767 den 19. August der Fürstl. Jablonowskischen Preis zuerkannt worden. Danzig 1767. Etwas „entschärfte“ lateinische Fassung: Augusti Ludovici Schloezeri profess. Goetting. Dissertatio de Lecho praemio Iablonowiano adfecta d. XV. Maii MDCCLXX […]. Lipsiae 1771. [SUB Göttingen. Signatur:  4 H Polon  120/39]. Über die Preisschrift „Lech“ vgl.: Martin Peters: Altes Reich und Europa. Der Historiker, Statistiker und Publizist August Ludwig (v) Schlözer (1735–1809). Münster 2005, S. 96–100. Vgl auch Julian Maślanka: Spór o Lecha. In: J. Maślanka: Literatura a dzieje bajeczne. Warszawa 1984, S. 57–69; Józef Aleksander Jabłonowski (1711–1777).

8. Vorlesung (22. Januar 1841)

77

bemächtigten sich die Normannen einiger Städte im Norden und legten den Grund zum Großherzogtum Rus’. Ihre erobernden Ausfälle fangen noch im 4. Jahrhundert an; im 5. besuchen sie ohne Zweifel die slavischen Gegenden, im 6. und 7. treten sie schon unter dem Namen der Rus’140 auf. Sei es, daß sie ihren Wohnsitz in Schweden oder in Litauen gehabt haben, so ist jedoch immer ausgemacht, daß sie der Abstammung nach von den Slaven gänzlich verschieden waren. Wir haben also, die Spur von zwei fremden Geschlechtern in der Zusammensetzung der neu sich herausbildenden Mächte der Tschechen, Polen und der Rus’; aber die Lechito-Tschechen und die Normannen standen in Verwandtschaft miteinander. Nach den alten Überlieferungen der Normannen stammten ihre Voreltern, die Skandinavier, von Odin ab und waren verwandt mit den Asen und Brüder der nördlichen Skandinavier. Die Asen sind ein in der asiatischen Geschichte bekanntes Volk, von dem ein Zweig nach Skandinavien hinüberging und später den Namen West- und Ostgoten trug. Dieser Stamm nimmt nach der Meinung einiger Altertumsforscher seinen Ursprung aus Indien, wo er die Kriegerkaste bildete und von wo er innerer Unruhen wegen auswanderte. Alle Völker von diesem Stamme scheinen zum Kampf geschaffen zu sein; ihre Körperbildung unterscheidet sie von den Uralen, Semiten und Slaven. Ein hoher Wuchs, eine erhabene und gewölbte Stirne, Falkenaugen, eine Adlernase, Anlage zur Wohlbeleibtheit, lebhafte Leidenschaften, unersättliche Gier nach Sieg und Herrschaft, das sind ihre Hauptzüge in sittlicher und physischer Hinsicht. Dieses Volk war das einzige unter den asiatischen, welches das Geheimnis der Herrsch- und Verwaltungskunst besaß. Die Asen bildeten in Asien die Aristokratie der türkischen und uralischen Stämme, in Europa der germanischen und keltischen Völker. Die Skandinaven besetzten alle europäischen Herrschersitze außer einem einzigen, welcher einen Slaven zum König hatte. Ein Muster der den Asen eigentümlichen Organisation besteht noch im 140 Vgl. die Nestorchronik (Jahr 862): „[…] Und sie fuhren über das Meer zu den Warägern, zu der Rus’. Denn so hießen diese Waräger: die Rus’. Wie nämlich andere [Waräger] Schweden heißen, andere aber Normannen, Angeln, andere Goten, so auch diese.“ – Die Nestorchronik. Die altrussische Chronik, zugeschrieben dem Mönch des Kiever Höhlenklosters Nestor, in der Redaktion des Abtes Sil’vestr aus dem Jahre 1116, rekonstruiert nach den Handschriften Lavrent’evskaja, Radzivilovskaja, Akademičeskaja, Troickaja, Ipat’evskaja und Chlebnikovskaja und ins Deutsche übersetzt von Ludolf Müller. München 2001, S. 19. Zur (umstrittenen) Etymologie des Namens Rus’ aus skandinavischer und nichtskandinavischer Sicht vgl. Hartmut Rüss: Die Warägerfrage. In: Handbuch der Geschichte Russlands. Band 1 – bis 1613. Von der Kiever Reichsbildung bis zum Moskauer Zartum. Hrsg. Manfred Hellmann. I.  Halbband. Stuttgart 1981, S.  267–282 (mit weiterführender Literatur).

78

Teil I

Kaukasus, wo bis jetzt gerade von ihnen abstammende und wenig veränderte Völkerschaften sich finden. Die ziemlich verwickelte Zusammensetzung ihrer sozialen Verfassung enthielt keine Adelsaristokratie, ein unterjochtes Volk und Sklaven in sich. Dabei hatten sie auch Könige; diese jedoch, oft verändert, ohne Einfluß, konnten niemals eine feste Regierung einführen. Ebenso behaupteten bei den West- und Ostgoten die Aristokraten, welche sich von verschiedenen Göttern ableiteten, die erste Stelle, erhoben die Edelsten unter sich auf den Thron, ehrten ihre Könige, erlaubten ihnen aber nicht, sich solch eine Macht, wie wir sie in Rußland oder in andern Reichen heut zu Tage sehen, anzueignen. Mit einem Worte, um den ganzen Charakter dieses Geschlechts zu bezeichnen, genügt es zu sagen, daß es ein erzaristokratisches Geschlecht gewesen ist. Die von den Lechiten und Tschechen um das Karpatengebirge gegründeten Staaten sind von dem im Innern Rußlands durch die Normannen gestifteten wesentlich verschieden. Die ersten dehnten heruntersteigend nach dem baltischen Meer hin ihre Besitzungen aus, hatten aber weder ein dauerndes Ziel in ihren Plänen, noch Herrscher, die ihnen eine feste Verfassung verleihen konnten. Die Normannen hingegen breiteten sich fortwährend in der Richtung nach Süden unter der Leitung von Alleinherrschern aus und umfaßten bald ganz Rußland. Anfangs waren ihre Verhältnisse mit den Slaven eher auf einem Bündnis, als auf Siegesrechten begründet, und der politische Zustand der Länder der Rus’ war fast ganz so, wie der Apuliens und des südlichen Italiens zur Zeit des Einfalles derselben Eroberer; bald jedoch rissen die warägischen Führer vollkommen die Macht an sich, eigneten sich die Gemeinderechte an, unterdrückten die slavische Freiheit und wurden bald Herren aus Vormündern. Kaum verging ein Jahrhundert, so beherrschten schon die Fürsten aus Rjuriks Geschlecht den ungeheuren Flächenraum von Novgorod bis Kiev, von den baltischen Gestaden bis zur Donaumündung, zogen nach Beute gegen Griechenland und versuchten Konstantinopel zu überrumpeln. Übrigens unterscheidet sich die Geschichte dieser Fürsten in Nichts von der Geschichte der normannischen Führer in England. Ein Blut und ein Charakter sind in ihnen, dieselbe Gewalttätigkeit, Ehrsucht und Verschlagenheit, dieselben Familienkriege, derselbe Mord und Verrat. Die Verhältnisse Rußlands mit den Griechen bewirkten, daß die Byzantiner die Namen und Taten seiner Herrscher aus der Vergessenheit gerettet haben, während die Anführer der Lechiten und Tschechen, keine schriftliche Spur hinterlassend, in die Reihe mythischer Figuren getreten sind. Nur dieses wissen wir mit Bestimmtheit, daß das lechitischtschechische Geschlecht bald mit dem slavischen zusammenschmolz und in demselben zu Grunde ging; seine Herrscherfamilien traten bald ihre Stelle den einheimischen Geschlechtern ab. In Polen und im Tschechenland fing man an, Slaven zu Königen zu wählen. Auch die russischen Normannen verstanden in

8. Vorlesung (22. Januar 1841)

79

dritter Abkunft nicht mehr ihre Sprache und und führten den Namen Rus’141; aber ihre Dynastie dauerte noch lange fort. So entstehen also in beiden Gegenden Reiche, die eine entgegengesetzte Richtung einschlagen. Ihr Boden ist das alte Slaventum, die organische Kraft aber, das Band der Masse, ist das neue, aus Skandinavien und vom Kaukasus her eingewanderte Element. Die so gebildeten Körper beseelt später ein von anderswo herwehender Geist und schafft sie zu Staaten in der vollsten Bedeutung des Wortes um. Die christliche Religion verbindet und verschmilzt mit der Zeit, wenigstens in einigen dieser Länder, dermaßen alle Geschlechtsursprünge, daß man Jahrhunderte nachher die Spur der verschiedenen und sich ehemals heftig anfeindenden Rassen nicht erkennen kann. Wenn die moderne Geschichtswissenschaft von der Zusammensetzung dieser politischen Wesen zu disputieren anfängt und verschiedene Bestandteile absondert, so verdankt man dieses keineswegs dem Scharfsinn der Forscher. Daß man z.B. nach den neuesten Beobachtungen die Abstammung der höhern Klassen in England und Frankreich von Franken und Normannen anerkannt hat, wovon weder David Hume, noch die Schriftsteller des l8. Jahrhunderts etwas gewußt haben, diese Entdeckung ist keineswegs dem schärferen Auge unserer Gelehrten zu verdanken, sondern nur dem Umstand, daß jenes Band, welches die stammverschiedenen Elemente zusammenhielt, zerrissen oder geschwächt ist, und aus der zerfallenden Einheit diese selbst sichtbar hervortreten. Als mit dem Verfall und der Unterdrückung oder der Zurückstoßung der christlichen Religion, unter dem Vorwand, als sei sie nicht mehr hinreichend, es an Geist gebrach, da fingen die materiellen Bestandteile an, sich von selbst wie Gasarten aus einer faulenden Leiche auszuscheiden. Leicht war es dann, sie chemisch zu untersuchen. Diese Entdeckung jedoch hat für ein Volk, das zu einer solchen Selbstforschung gelangt, nichts Erfreuliches; anerkennen aber muß man sie, und jenes Volk sollte sich bemühen, das gestörte Gleichgewicht seines Wesens wiederherzustellen und die losgerissenen Urkräfte seiner Volkstümlichkeit in ein neues Leben zusammenzuspannen.

141 Auch „varjagi“ (Waräger); Waräger-Rus’-Skandinavier. „Einmal wird damit einer der warägischen Stämme bezeichnet, ein andermal das Territorium des Kiever Fürstentums im engeren Sinne, dann das gesamte ostslavische Land und seine Bewohner, und schließlich werden Waräger, Rus’ und slavische Stämme unterschieden. Die inzwischen unüberschaubare Literatur, die dem Thema der Herkunft des Rus’Namens gewidmet ist, hat trotz aller wissenschaftlichen Akribie im Detail bisher keine abschließende, allgemein akzeptierte Antwort gebracht.“ – H. Rüss: Die Warägerfrage, op. cit., S. 271.

9. Vorlesung (26. Januar 1841) Das Staatsgebilde der Lechiten, der Tschechen und der Rus’ – Neue Tradition – Das Königshaus der Popiels und die Dynastie der Piasten – Die normannischen Großfürsten der Rus’ – Verwandtschaftsbeziehungen der Rus’, der Lechiten und der Tschechen mit den Normannen durch gemeinschaftliche Abstammung von den Asen; Unterschiede der Regierungsformen – Ihre Hauptstädte – Christianisierung der slavischen Völker – Spaltung der Kirche – Fragen der slavischen Einheit.

In dem Zeitraum vom ersten König Samo bei den Slaven, bis zum Jahre 1000, verändert sich gänzlich die Organisation dieses Stammes und es entstehen Staaten auf der ganzen slavischen Erde. Lechien, Tschechien, und die Rus’ (bei den Eingeborenen und Polen wird immer der Name Rus’ gebraucht) sind Keime hier bis jetzt unbekannter Mächte und bringen neue Interessen auf die Bühne: die Geschichte und Literatur nehmen schon den Charakter der gleichzeitigen Epoche an. Die uralte Überlieferung, jene fossile Literatur, heruntergestoßen auf den Boden des häuslichen Lebens, verbirgt sich unter dem Dach der verräucherten slavischen Hütten, und soll dort fern von jedem Verhältniss mit der Entwicklung der Volkstümlichkeit und mit der politischen Bewegung der slavischen Völker liegen. Es entstehen erst neue Überlieferungen, welche der Geschichte zur Basis dienen und in den literarischen Schöpfungen auftreten sollen. Viele der späteren Dichter wußten aus ihnen ihre Bilder und Metaphern zu holen; wenn man diese Quelle nicht kennt, so ist es selbst unmöglich, die Kriegsrufe (Lach, Rus’) zu verstehen, welche sich Russen und Polen im Kampf mit Verachtung einander entgegen riefen und unter sich als Ehrennamen betrachteten. Die Lechiten waren nach ihrer dichterischen Überlieferung ein Reitervolk; im 6. Jahrhundert eroberten sie für sich den Boden des heutigen Großherzogtums Posen, breiteten sich bis zum Baltischen Meer aus und drangen manchmal bis an die Elbe vor. Ihre Könige wählten sie in einem Hause (Familie), und die Krone war gewöhnlich der Siegespreis im Wettrennen. Die Überlieferung von solchen Wahlen ist allen Völkern asiatischen Ursprungs gemeinsam. Diese fabelhaften Könige der Lechen überwinden manchmal fantastische Ungeheuer, Lindwürmer, führen Kriege mit Alexander dem Großen und mit Cäsar. Alles ist hier zusammengemengt; aus dem Orient gebrachte Überlieferungen schmelzen mit den slavischen Volkssagen zusammen. Endlich verschwindet das Königsgeschlecht der Lechiten (Leszki) und weicht dem Hause der Popiels, welches einen kurzen Übergang zu einer anderen Dynastie bildet. Unter den aus dem ersten Zeitraum durch die Chronikenschreiber aufbewahrten Überlieferungen findet man die Erwähnung von Urkunden zur Besitznahme aller

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_010

9. Vorlesung (26. Januar 1841)

81

nördlichen Länder, welche den Lechen von Alexander dem Großen und Cäsar gegeben wurden. Diese Urkunden sollen in einer Schlacht gegen die Türken verloren gegangen sein und irgendwo in Konstantinopel sich befinden; eine Überlieferung, welche vollkommen die grenzenlose Gier nach Eroberung des ganzen Nordens bezeichnet und eine geheime Hoffnung, in die durch diese Urkunden gesicherten Rechte zu treten, welche übrigens von einem Chronikenschreiber erdichtet wurden. Die lechitischen Überlieferungen sind bis zur Hälfte des 9. Jahrhunderts den Tschechen gemeinsam, die Lechiten nennen sich aber auch Sarmaten, wie später die Polen im dichterischen Tone gewöhnlich ihre Vorfahren benennen. Nach den Popiels nimmt schon die volkstümliche Dynastie der Piasten das Zepter; die Piasten waren Slaven. Der erste König aus diesem Stamm wurde vom Volk erwählt, seine Nachkommen herrschten lange, und der letzte Sprößling, ein kleiner Herzog in Schlesien, starb im 17. Jahrhundert.142 Die Dynastie der Piasten, unter welchen sich Polen ausbildete, hat ihr besonderes Merkmal. Diese Herrscher gelten in der gewöhnlichen Vorstellung immer für gute Familienväter, selbst für etwas zu gutmütig; Einfachheit und Milde bilden die Hauptzüge ihres Charakters; nie glänzen sie als eroberungssüchtige Krieger, aufgefordert oder angefallen bewiesen sich jedoch viele unter ihnen als erprobte und hochherzige Krieger, die dann auch das ihnen durch Waffenrecht Zugefallene wohl zu bewahren verstanden. Die moderne Kritik hat alle diese Überliefrungstatsachen verworfen. Man bewies, daß keine Verbindung zwischen Sarmaten und Slaven bestehe, und daß die Lechiten Slaven waren; über die Dynastie der Piasten lachte man. Und dennoch war diese fabelhafte Geschichte lange Zeit hindurch der Volkskatechismus. Sie allein ist vielleicht wahr, weil sie auf die Meinungen des Volks Einfluß gehabt, weil man bei öffentlichen Beratungen sich auf die Artikel des allgemeinen Glaubens an sie bezog, weil die alten Könige oft nach den mythischen Grenzen der lechitischen Herrschaft strebten, weil sie allein vom Volke nicht vergessen ist. Umsonst bemühen sich die Geschichtsschreiber, den Anfang des Wahlkönigtums in Polen erst m das 15. Jahrhundert zu setzen, wir finden seine Spur schon in der fabelhaften Überlieferung. Umsonst haben sie sich auch bemüht, Könige zu erniedrigen, welche das Volksandenken ehrt und als Muster des alten Slaventums betrachtet; standhaft verwirft das Volk diese Lehren, unter allen polnischen Königen hat es den Beinamen des Großen nur einem einzigen beigelegt, welcher nie Eroberer gewesen, keine glänzenden

142 Georg Wilhem I. (1660–1675), Herzog von Liegnitz, Brieg und Wohlau. Vgl. Eduard Mühle: Die Piasten. Polen im Mittelalter. München 2011.

82

Teil I

Tugenden eines Kriegers gehabt, sondern gut, freigebig und ein Vater dem Landvolke war; er stellte den volkstümlichen Charakter vor. Die Geschichte der normannischen (warägischen) Rus’ ist ganz anders. Die Normannen waren nicht so zahlreich wie die Lechiten. Ihr regierendes Haus hat oft Kriegerscharen aus Norwegen und Schweden zur Schlichtung der Thronstreitigkeiten oder zur Unterjochung ungehorsamer Städte herbeigerufen, aber diese Krieger plünderten in der Rus’ umher und kehrten dann wieder heim ins väterliche Land; was von ihnen auf der Erde der Rus’ blieb, das verlor schon im dritten Geschlecht jegliches Merkmal einer fremden Abstammung. Die Dynastie selbst verwandelte sich in eine slavische, und nichts mehr kam mit ihr ins Land als die neue Idee der Gewaltführung. Zweihundert Jahre hindurch kämpften diese Fürsten auf grausame Weise unter einander, sich Städte und Landschaften gegenseitig entreißend, und in diesem Kampfe erblickt man nicht das mindeste Volksinteresse, keine einzige volkstümliche Angelegenheit, es handelt sich nur darum, wer herrschen oder regieren soll. Ein vollkommen ausgebildetes Muster der normannischen Herrschaft sieht man in der Regierung des Hauses Anju-Plantagenêt143, aber die Eroberer Englands brachten den französischen Feudalismus mit sich, die Waräger-Fürsten der Rus’ dagegen haben nichts vorgefunden, woraus sie dieses System basieren könnten; denn das slavische Volk, in Städten und abgesonderten Weilern zerstreuet, hatte kein politisches Band, und unterlag mit seinem Land zugleich als ein an den Boden gebundenes Eigentum der Teilung der Sieger. Eine solche Teilung diente nicht einmal zur Basis irgendeiner Hierarchie, was hauptsächlich die Rus’ von allen anderen normannischen Staaten in Europa unterscheidet. Die Fürsten der Rus’ waren zugleich politische Oberhäupter und Bodeneigentümer, und der Großfürst stellte eher den ältesten Sohn in der Familie vor als den Thronerben. Die Vorstellung von der herrschenden Person in der Rus’ gestaltete sich von der bei den Polen gänzlich verschieden. Der altrussische Fürst ist der alleinige Herd der Macht, die Gewalt über alle Gewalten, das Volk nennt ihn sein Licht, stellt sich ihn als schrecklichen, übermächtigen, schlausten Staatsmann vor. Für seine Gewaltausübung und für die Rus’ gibt es keine bestimmten Grenzen. Wie die Lechiten und Tschechen sich auf ihre mythischen Urkunden beriefen, so wollten auch die Fürsten der Rus’ ihre Dynastie mit den Nachkommen des Augustus und Cäsar verbinden und in die Rechte der römischen Imperatoren tretend, sich als Herrn des Nordens geltend machen. Auf diese Weise trennte sich das Slaventum in zwei nebenbuhlerische Mächte, und von vorn herein berührt der Kampf eine ungemein weitaus 143 Vgl. Dieter Berg: Die Anjou-Plantagenets. Die englischen Könige im Europa des Mittelalters (1100–1400). Stuttgart 2003.

9. Vorlesung (26. Januar 1841)

83

sehende Frage. Es handelt sich hier nicht darum, einander irgendein Land zu entreißen, sondem um die Herrschaft über den ganzen Norden, über die ganze Welt. Schon die mittelalterlichen Chronikenschreiber haben die Sage so verstanden. Auf der einen Seite also steht das Reich der Normannen, auf der anderen das der Lechen und Tschechen, welche anfangs durch eine gemeinsame Überlieferung, später durch die Geschichte dermaßen verbunden sind, daß sie mehrmals Könige aus einem Geschlecht hatten. Schwer ist es dennoch, die Mittelpunkte der entgegenstehenden Mächte zu befestigen, ihre Hauptstädte scheinen fortwährend zu wandern. Anfänglich haben die Polen ihren Sitz an den Karpaten, später bauen sie ihre Hauptstädte inmitten der Ebene von Großpolen und versetzen dann wiederum den Thron an die Weichsel; die Fürsten der Rus’ rücken mit dem Laufe des Dnjepr nach Kiev vor, und kehren nach einiger Zeit wieder gen Norden hinauf zurück. Nirgends gibt es eine feste und wahre Landeshauptstadt, es gibt nur zwei dauernde feindliche Elemente des politischen Lebens, welche sich in der Masse der Slaven betätigen. Den Hauptsammelpunkt der Aktivitäten der Fürsten der Rus’ könnte man zwischen Novgorod und den Quellen des Dnjepr und der Daugava (Düna) begrenzen, die ideale Hauptstadt der Polen dagegen wahrscheinlich zwischen den Karpaten und der Weichsel festsetzen. Es ist merkwürdig, daß, wo nach der fabelhaften Sage der dreiköpfige Drache die Wiege der lechitischen Könige umlagerte, sich dort gerade die letzte Spur der polnischen Unabhängigkeit erhielt: im Umkreise der freien Stadt Krakau. Der ungeheure Zwischenraum, welcher die beiden Mittelpunkte trennt, umschließt die Länder, welche vom Dnjepr, dem Schwarzen Meer, dem Bug und dem Niemen eingefaßt sind. Diese Länder haben schon seit langer Zeit ihren Gesamtnamen verloren, denn die verschiedenen hier angesiedelten Stämme erkennen schon nicht mehr den Namen der Slaven als ihren Geschlechtsnamen an, und haben nie eine politische Einheit, ein gesondertes Reich gebildet. Normannen und Lechiten drangen mit ihrer Herrschaft in sie hinein, sie unterlagen einmal dem Zepter der Fürsten der Rus’, ein andermal dem polnischen System. Seitdem sie Rjuriks Haus unterjocht hatte, wurden sie in die Zahl der Länder der Rus’ miteinbegriffen; die Litauer haben ihnen den Namen, welcher an die alte Eroberung erinnert, aufbewahrt, und die Polen unterscheiden sie, indem sie ihnen einen neuen Stempel aufgedrückt haben, in ihrer Sprache mit dem Namen „ziemie ruskie“ (Länder der Rus’; franz. terres Russiennes)144 von dem russischen Reich (państwo Rosji; franz. empire Russe). 144 „Die Wendung ‚russisches Land‘ [Русская земля] wird in den Schriftdenkmälern des frühen Mittealters in verschiedener Bedeutung gebraucht. Sie bezeichnet: 1) das Gebiet des Fürstentums Kiew; 2) das Gebiet des Fürstentums Kiew zusammen mit dem der übrigen

84

Teil I

Diese ausgedehnten Ländereien waren der Schauplatz des Kampfes Rußlands mit Polen. Auf diesem Schlachtfeld rang die katholische Religion mit der östlichen Kirche, die Adelsrepublik mit dem Alleinherrschaftssystem. Dies ist der geographische Umfang des Slavenlandes von der Zeit an, wo in ihm Elemente entgegengesetzter Kräfte sich zu betätigen anfingen. Der Einfluß des Christentums entwickelt sich hier anfänglich nur langsam. Schon im 4. und 5. Jahrhundert haben Apostel die Lehre Christi unter den Slaven verbreitet. Es ist schon erwiesen, daß der große Kirchenvater, der heilige Hieronymus145, ein Slave von Geburt war. Die Sage schreibt ihm die Erfindung der slavischen Schrift zu. Etwas später finden wir viele Slaven unter den Patriarchen von Konstantinopel. Erst im 6. Jahrhundert liefert die Bekehrungsarbeit wichtigere Resultate, und gleich scheint das Apostelwesen selbst sich in zwei Äste zu trennen, und nimmt den Charakter des slavischen Dualismus an. Mithin berührt die Geschichte der Einführung des Christentums hier die tiefsten politischen und literarischen Fragen; indem man dieselbe mit Berücksichtigung dieser Fragen untersuchte, hat man sie nicht selten verzerrt und verbogen. Es gibt jedoch Umstände, welche den Streit entscheiden, den falschen Begriff berichtigen, können. Vorerst stimmen alle slavischen Schriftsteller darin überein, daß die Heiligen Kyrill und Method vom römischen Stuhle abgesendet waren, in den Jahren, welche dem östlichen Schisma vorangingen, arbeiteten, von den Päpsten Unterweisungen erhielten, sich immer aufs Oberhaupt der allgemeinen Kirche beriefen und endlich beide in Rom gestorben sind. Es waltet, also kein Zweifel ob in Bezug auf die Quelle der religiösen Aufklärung bei den Slaven; aber später bemühte man sich, aus verschiedenen Gründen diesen Ursprung zu verdecken. Die an ihrer Sprache hängenden Slaven wollten lieber das Übergewicht der griechischen oder vielmehr östlich slavischen Sprache geben, indem sie das Vorurteil hegten, daß die lateinische Sprache ihre Literaturdenkmäler vernichtet habe; es war also in ihrem Interesse zu behaupten, daß die griechische Kirche die Volkssprache rede. Von der anderen Seite gaben sich die nördlichen Schriftsteller besonderer Aussichten wegen die Mühe, auch die geringste Spur des Einflusses der westlichen Kirche zu verwischen. Die ganze Sache haben die modernen slavischen Altertumsforscher noch mehr verwirrt. südrussischen Fürstentümer, vor allem Perejasslawl’, Tschernogow und Nowgorod Ssewerskij; 3) das ganze ‚russische‘, d.h. ostslawische Volk und sein Siedlungs- und Reichsgebiet.“ – Ludolf Müller. In: Das Lied von der Heerfahrt Igor’s. Aus dem altrussischen Urtext übersetzt, eingeleitet und erläutert von Ludolf Müller. München 1989, S. 50. 145 Sophronius Eusebius Hieronymus (347–420); vgl. Alfons Fürst: Hieronymus. Askese und Wissenschaft in der Spätantike. Freiburg 2003.

9. Vorlesung (26. Januar 1841)

85

Es handelte sich darum, die Zeit anzugeben, in welcher die Alphabete146 im Slavenlande von der östlichen und westlichen Kirche angenommen wurden. Die Philosophen des vorigen Jahrhunderts haben oft, ohne selbst zu wissen warum, dennoch eine sichtbare Neigung zur griechischen Kirche gezeigt, weil sie die Negation der römischen war, sie suchten also darzutun, daß die slavische, von der westlichen Kirche angenommene Schrift eine Erfindung der Mönche gewesen sei, ersonnen, um der Tätigkeit der östlichen Kirche den Weg zu versperren. Diese Meinung fand Glauben bei allen Gelehrten; aber die Tschechen haben das Irrige dieser Deutung aufgehellt. Sie entdeckten, daß die ältesten Denkmäler mit den vom römisch-katholischen Ritus gebrauchten Charakteren geschrieben waren. Auf diese Weise scheint das Altertum beider Alphabete wenigstens gleich zu sein, während der Einfluß der katholischen Kirche ohne Zweifel vorangegangen ist. Es genügt endlich in dieser Hinsicht die Zeitangaben zu vergleichen. Die heiligen Kiryll und Method kamen zwischen den Jahren 860–867; das östliche Kirchenschisma fiel ins Jahr 880. Jene Lehrer standen während der Zeit ihres Apostellebens in keinem Verhältnis mit der griechischen Geistlichkeit. Erst nach der Spaltung der Kirche läßt sich die getrennte Richtung im slavischen Christentum bemerken. Um die Tendenz jener beiden religiösen Bewegungen abzuschätzen, muß man wissen, daß der römische Stuhl den Slaven das Vorrecht erteilt hatte, die Messe in ihrer Sprache zu lesen. Dieses Privilegium wurde zurückgenommen und wiederum in Folge einer abgelegten Rechtfertigung restituiert. Übrigens haben die Philosophen und Geschichtsschreiber des vorigen Jahrhunderts ein zu großes Gewicht auf diese Liturgienfrage gelegt; es schien ihnen, daß es für die Zivilisation der Slaven von der höchsten Wichtigkeit sei, daß die Religionsmysterien in der Nationalsprache gefeiert werden. Polnische und russische Schriftsteller haben sich lange mit diesem Gegenstand beschäftigt. Aber hier muß man vorerst die Amtssprache der Kirche, um so zu sagen, die bei den Sakramenten gebrauchte, von derjenigen unterscheiden, in welcher man die Glaubensartikel dem Volk erklärte. Rom hat als Sakramentalsprache die lateinische, griechische und syrische angenommen, empfahl aber überall das Volk in seiner eigenen Sprache zu belehren, und empfahl den Priestern, sie in jedem Land zu lernen. Man hat es unlängst in Frankreich versucht, die Muttersprache zur Liturgie zu nehmen, 146 Kyrillisch (Kyrillica) versus Glagolitisch (Glagolica), die als die ältere Schrift gilt. Vgl. dazu Bartholomeus [Jernej] Kopitar: Glagolita Clozianus id est codicis glagolitici […]. Vindobonae 1836 [www.dlib.si]; Pavel Josef Šafařík: Über den Ursprung und die Heimath des Glagolitismus. Prag 1858; ferner den Sammelband – Glagolitica. Zum Ursprung der slavischen Schriftkultur. Hrsg. Heinz Miklas. Wien 2000.

86

Teil I

und man hat aus dieser Reform große Resultate gehofft; es zeigte sich aber in Kurzem, daß die Sakramentalformeln, sei es lateinisch, sei es französisch gesprochen, dennoch immer gleichermaßen den Gelehrten zugänglich, dem Volk unverständlich geblieben sind. Im Gegenteil hat die Einführung des Lateinischen in die Religionsgebräuche des Slaventums ungemein ausgedehnte und wichtige Folgen gehabt. Die Kenntnis dieser Sprache hat die Tore zum römischen Altertum und zur Literatur des Mittelalters geöffnet. Auf diese Weise befreundeten sich die Priester mit der Aufklärung des Westens, bildeten später durch Sprechen und Schreiben die Nationalsprache aus, und verliehen ihr die Formen einer so alten und durchgebildeten Sprache. Die griechische Sprache von der östlichen Geistlichkeit vernachlässigt, hat den von der allgemeinen Kirche abgefallenen Ländern nicht dieselben Dienste geleistet. In Rußland hat man seit kurzer Zeit erst den griechischen Unterricht in Schulen befohlen. Man hat auch dem Christentum vorgeworfen, daß es den Slaven ihre Vergangenheit entrissen und ihre Denkmäler zerstört habe. Aber was waren denn diese Denkmäler des heidnischen Slaventums? Aus dem, was wir gesagt, kann man leicht schließen, wieviel diese Literatur besitzen konnte. Das Bedauern der Liebhaber, welche ein verlorenes Epos aufsuchen, ist wahrscheinlich vergeblich; das Drama konnte in Ländern, wo die politischen, sittlichen und Kunstbegriffe so wenig entwickelt waren, nicht entstehen. Nur die einzige lyrische Dichtung, welche die aus dem Familienleben geschöpften Gefühle ausdrückte, fand für sich ein geeignetes Feld. Diese Poesie blüht noch heut zu Tage bei den Serben, Illyriern und Kosaken, und was in ihr das Schönste ist, das ist sie späteren christlichen Eingebungen schuldig. Der Verlust der heidnischen Geschichte der Slaven erweckt ebenfalls ungerechte Klagen. Ihre Überbleibsel haben christliche Schriftsteller gesammelt und aufbewahrt, das Volk dagegen hat sie selbst verworfen, oder vielmehr sie ganz in die symbolische Sage von der Ankunft der drei Brüder Lech, Tschech und Rus verschmolzen. Diese drei Namen erinnern es an die Brüderlichkeit und an die Teilung der drei besonderen Reiche; übrigens weiß es nichts von seinem Ursprung, es hat alle Überlieferungen, welche zur gemeinsamen Wiege führen, vergessen. Die Klagen der Slavophilen, daß der Anfang der Staaten die Einheit des Slaventums zerrissen habe, sind ebenfalls unbegründet. Diese Einheit hat nie bestanden. Die Einheit der Völker findet sich nur auf der ersten Seite der religiösen Überlieferungen der Bibel aufgezeichnet, und wird sich, wie wir hoffen, auf der letzten Seite einer wahren Philosophie wiederfinden. Vor dem Anfang der politischen Geschichte hat kein allgemeines Band die Slaven vereinigt gehalten, diese Geschichte aber fortwährend an der Verwischung der Stammgemeinsamkeit gearbeitet, wovon jegliche Spur schon verschwunden

9. Vorlesung (26. Januar 1841)

87

ist. Der Pole sieht heut zu Tage einen Russen als einen Menschen von ganz besonderem Stamm an; der Serbe und der Tscheche bekennt sich gar nicht zur gemeinsamen Abstammung mit den Völkern der nördlichen und westlichen slavischen Länder. Die Idee eines vollständigen Slaventums dämmerte erst im vorigen Jahrhundert auf, es ist die Frucht der wissenschaftlichen und literarischen Arbeit der Gelehrten; aber um diese Einheit in der Tat zu erhalten, hat man wahrscheinlich Wege eingeschlagen, die nicht am besten zum Ziele führen. Die Gelehrten rufen immer im Namen des gemeinsamen Herkommens auf, nicht gedenkend, daß religiöse und politische Einrichtungen Unterschiede gemacht haben, und daß man nicht die ganze Geschichte eines Volkes vernichten kann, um es zum physischen Anfang zurückzubringen. So wollte man im vorigen Jahrhundert die Deutschen um die eine Idee Teutonias147 sammeln, indem man sie an den fabelhaften Patriarchen Teut erinnerte; diese Unternehmung stellte sich als vergeblich dar, und wurde von den wärmsten Verehrern der deutschen Einheit verlassen. Andere beschäftigen sich mit dem Gedanken eines künftigen Wiederaufbaues des Slaventums, und sehen als Mittel dazu diese oder jene Regierungsform an. Aber keine Regierung hat je so viel Kraft gehabt, um verschiedene Volkstümlichkeiten zusammenzufügen. Das römische Kaisertum, ein Ideal von materieller Kraft, hat seine Formen vielen westlichen Völkern aufgedrungen, jedoch beim ersten Barbarenstoß zersprang dieses tote Band auf immer. Desgleichen sollen auch die Slaven nicht hoffen, daß sie die physische Anziehungskraft des gemeinsamen Blutes vereinigen könnte, oder das lockende Versprechen einer gefälligen Staatsform; dieses kann nur ein allgemeiner Gedanke, eine große Idee hervorbringen, fähig ihre ganze Vergangenheit und Zukunft zu umfassen.

147 Vgl.: Teutonia oder Auswahl der vorzüglichsten Stellen aus den Original-Werken deutscher Schriftsteller für gebildete Söhne und Töchter. Hrsg. Maimon Fränkel und Gotthold Salomon. Leipzig 1813.

10. Vorlesung (29. Januar 1841) Der Einfall der Ungarn – Gründung des Königreichs; Verhältnis zu den Slaven – Entstehung slavischer Dialekte – Das älteste literarische Denkmal der Tschechen aus dem IX. Jahrhundert: – „Libussas Gericht“ (Libušin soud), das auch Einblicke in Fragen der Gerichtsbarkeit im alten Slaventum gewährt.

Während die Lechiten und Tschechen ihre Königreiche stifteten, bildete sich nebenbei ein drittes, das eines den Slaven fremden Stammes. Die Geschichte dieses Reiches hat keinen Zusammenhang mit der Literaturgeschichte der slavischen Völker, sein politischer Einfluß war jedoch groß und häufig verderblich für ihre Volkstümlichkeit, die sich hin und wieder zur Abwehr gegen denselben erhob. Wir sprechen vom Königreich der Ungarn. Im Jahre 888 zeigte sich die ungarische Horde aus jenen geheimnisvollen Gegenden, deren Lage sie selbst nicht gehörig zu bestimmen weiß. Vorgedrängt durch die hinterher folgende Flut des Barbarentums, und vom römischdeutschen Kaiser Arnulf von Kärnten148 herbeigerufen, erdrückte sie nach hartnäckigem Kampf das Reich der Mähren, ergoß sich über Deutschland, und erreichte selbst Frankreich und Italien. Von den deutschen Kaisern jedoch gehemmt und später zum Christentum bekehrt, zog sie sich in die jetzt bestehenden Grenzen des Königreichs Ungarn zurück und stiftete hier ihren Staat. Diese Horde ist das einzige Beispiel eines zusammengesetzten Völkerzuges, sie bestand aus drei Stämmen zugleich, was auch die Ursache ist, warum ihre Überlieferung die Überreste von Sagen vieler asiatischen Völker enthält. Ihre Masse bestand aus nördlichen Finnen, geführt durch türkische Reiterei, welche wiederum ihre Führer aus dem Stamm der Asen vom kaukasischen Land her besaß. Der Gesamtname ist Magyaren. In den Angaben der Ungarn wird Attila für den Stammvater der Könige dieses Geschlechts angesehen. Die Ausländer gaben ihnen den Namen Hunnen, Türken und Magyaren, von dem Namen des Landes, welches dem Wohnsitz der türkischen Horden benachbart war. Diese Einzelheiten sind für die Geschichte der Ungarn und anderer nach Europa gekommener Völker, deren Herkommen so schwer zu ermitteln ist, von Wichtigkeit. Wären die Magyaren allein gewesen, so würden sie als ein nicht zahlreicher Haufen sich bald mit der slavischen Bevölkerung vermischt haben; von dieser jedoch durch eine finnische und türkische Schicht geschieden, blieben sie unverändert. Ihre Sprache schwamm immer obenauf und konnte nicht 148 Arnulf von Kärnten (um 850–899). Vgl. den Sammelband: Kaiser Arnolf – das ostfränkische Reich am Ende des 9. Jahrhunderts. Regensburger Kolloquium 9.–11.12. 1999. Hrsg. Franz Fuchs und Peter Schmid. München 2002.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_011

10. Vorlesung (29. Januar 1841)

89

in den Boden eindringen. Mit der Sprache der Finnen gesättigt, bildete sie sich zu einer von der slavischen so verschiedenartigen aus, daß sogar nach der Annahme des Christentums die Eroberer in ihr eine unbezwingliche Schranke zur innigeren Verbindung mit den Inländern fanden. Dieser Unterschied zwischen einer Sprache uralischen Herkommens und den Sprachen der indogermanischen Rassen bezeichnete inmitten christlicher Länder das Königreich Ungarn immer mit einem feindseligen Merkmal. Nie wollte der Magyare etwas Slavisches annehmen, und wiederum erlagen die Slaven auch nur mit Widerstreben und unbemerkt dem Einfluß des Magyarentums.149 Die Ungarn sprachen immer durch Dolmetscher, und heute noch in den Vorkommnissen mit dem regierenden österreichischen Haus bewahren sie diese Sitte. Daher kam es, daß man jetzt in Ungarn, in den Tälern, wo das erobernde Geschlecht sich leichter ausbreiten konnte, man allgemein die ungarische Sprache hört; auf den Bergen, wo die unterjochte Bevölkerung Zuflucht gesucht, erhielt sich die slavische in der Verwaltung als Sprache der Regierungsbehörden, in den kaufmännischen Büros und industriellen Einrichtungen herrscht die deutsche, und außerdem sprechen die Juden und Zigeuner noch ihre eigene. Inzwischen einer solchen Vermischung hat jedoch die slavische Volkstümlichkeit, herabgestoßen in die niedere Hütte, genügende Kraft besessen, den Druck auszuhalten und beginnt sogar auf die Magyaren zurückzuwirken. Schon zeigen sich dort Tageblätter in slavischer Sprache, es entstehen slavische Büchersammlungen. Offenbar verliert die magyarische Sprache ungeachtet der Talente ihrer Schriftsteller an Übergewicht. Ein Beweis ihrer Schwäche könnte schon das sein, daß die Regierung sie in Schutz nimmt, und mit Gewalt den Provinzen, in denen sich ihr das Slaventum widersetzt, aufdringt. Alle Veränderungen des alten Slaventums vollendeten sich um das Jahr 1000. Die Königreiche Lechien, Tschechien, Ungarn, die Länder slavischer Völker an den Karpaten, und das normannische Reich der Rus’ standen deutlich da. Von nun an endet die allgemeine Geschichte der slavischen Sprache und es beginnt die Geschichte besonderer Sprachen. Die früher Eine erscheint nun in zwei Hauptzweige geteilt, deren jeder mit einem zahlreichen Troß von Mundarten umgeben ist. Es wirft sich nun die Frage auf, welchem von diesen sollen wir in unseren Vorträgen den Vorzug geben; bei diesem, wenn auch für den Fremden trockenen Gegenstand müssen wir etwas verweilen. Als die slavischen Gelehrten einsahen, daß weder die Polen, noch die Russen die in dieser Beziehung von den Tschechen gemachten Vorschläge annahmen, 149 Vgl dazu Jan Kollár: „Etwas über die Magyarisierung der Slawen in Ungarn“. In: Überlieferungen zur Geschichte unserer Zeit. Hrsg. Heinrich Zschokke. Jahrgang 1821 (Aarau), S. 552–558.

90

Teil I

so wollten sie den Streit mit Hilfe von Urkunden höheren Alters, welche für die eine oder andere Partei sich vorfänden, schlichten. Ob der Name der Slaven aus dem Ausdruck słowo (das Wort) oder sława (die Ehre, der Ruhm), herrühre, darüber gibt es keine Einigkeit; die einen meinen, Slave bedeutet: ein Mensch, der sich ausdrücken kann, für die anderen ist der Slave ein berühmter Mensch.150 Wie dem auch sei, gewiß ist, daß dem allverbreitetsten Glauben nach die slavische Sprache diejenige bedeutet, welche allen Völkern dieses Stammes gemeinsam war, und daß dieser Stamm sich später in zwei Geschlechter, das russische und polnisch-tschechische geteilt hat. Welche von diesen ist nun die Sprache des Altertums, die gemeinsame? Oder welches von diesen Völkern besitzt die dieser Sprache zunächst kommende Mundart? Und welches hat daher das Recht des Vortrittes? Man meinte, daß, weil die Bücher der Liturgie die ältesten schriftlichen Denkmäler sind, diejenige Sprache die älteste sein müßte, in welcher das Evangelium den Slaven verkündigt worden. Dieses als Norm angenommen, müßte man der Abstammung der Geschlechter von diesem Urbild Stufen nachweisen. Die Serben und die Illyrier behaupteten das Recht der Erstgeburt zu haben; hiernach wäre die russische Sprache Enkelin, die polnische und die tschechische weitere Nachkommen der kirchlichen Sprache. Indessen die Frage so gestellt, konnte nicht lange bestehen. Dobrovský, von Natur ein Skeptiker und darum unparteiisch, bewies, daß die liturgische Sprache nicht die allgemeine slavische, sondern nur eine Mundart derselben gewesen sei.151 Man wußte nicht einmal zu bestimmen, ob diese die serbische, illyrische, oder ob sie eine Zusammensetzung beider sei. Die Tschechen152 sprechen bis heute unentschieden den Namen der serbisch-illyrischen Sprache aus. Der Streit hierüber wurde so hitzig, daß die Gelehrten viele Unannehmlichkeiten zu bestehen hatten, und zuletzt ließ man die Untersuchung auf diesem Wege fallen. Späterhin bemühte man sich, die Schwierigkeiten mit Beihilfe einer statistischen Tafel der slavischen Bevölkerung zu beseitigen.153 Man berechnete, wie viel Volk mit dieser oder jener Sprache rede. Das Übergewicht war natürlich auf 150 Zur Etymologie „Slave(n)“ vgl. die Übersicht bei Heinrich Kunstmann: Die Slaven: ihr Name, ihre Wanderung nach Europa und die Anfänge der russischen Geschichte in historisch-onomastischer Sicht. Stuttgart 1996, S. 23–34. 151 Vgl. Josef Dobrovský: Institutiones linguae slavicae dialecti veteris, quae quum apud Russos, serbos aliosque ritus Graeci, tum apud Dalmatas glagolitas ritis latini slavos in libris sacris obtinet. Vindobonae. 1822; J. Dobrovský: Cyrill und Method der Slawen Apostel. Ein historisch-kritischer Versuch. Prag 1823. 152 Vgl. P.J. Schaffarik: Slawische Alterthümer, op. cit., Bd. II, S. 470–491, darin auch der damalige Forschungsstand. 153 Vgl. Jan Kollár: Über die literarische Wechselseitigkeit zwischen den verschiedenen Stämmen und Mundarten der slawischen Nation. Pesth1837, S. 48, 68 (spricht von 70 Millionen

10. Vorlesung (29. Januar 1841)

91

russischer Seite; doch wollte man nach einem solchen System in Frankreich verfahren, so würden seine südlichen Mundarten vor den übrigen den Vorrang haben müssen, während das eigentlich Französische kaum in die zweite Reihe zu stehen käme. Überdies muß man noch berücksichtigen, daß die Gelehrten bei dieser Untersuchung dem russischen Stamm viele Mundarten beigezählt haben, die nicht dahin gehören. Man stritt endlich, wer zuerst im Slaventum das Christentum gepredigt habe und welcher Dialekt zur ersten Bibelübersetzung diente.154 Die Schriftsteller von russischer Seite führen zu ihrem Vorteil an, daß die ersten Apostel im Slaventum Griechen gewesen, und daß die russische Kirche ja auch eine griechische sei. Die Polen und Tschechen sagen dagegen, daß jene Apostel, wenngleich griechischen Ursprungs, von der westlichen Kirche abgesandt waren, daß sie stets von den Päpsten unterstützt worden und die ersten unter ihnen auch zu Rom verstorben sind.155 Was die Mundart selbst anbelangt, so ist der Streit noch verwickelter. Die Serben schreiben die Übersetzung der Bibel ihrer Sprache zu, die Gelehrten [Dobrovský]156 aber finden eine bulgarischserbisch-mazedonische Sprache in ihr. Die Russen mußten zuletzt eingestehen, daß der heilige Kyrill, weil er in Böhmen die christliche Religion gelehrt, demnach auch wohl tschechisch geschrieben habe.157 Kurz, auf keinem Wege gelangte man zur Entscheidung. Viel einfacher scheint es jedoch zu sein, alle diese ausschließlichen Hypothesen und Systeme bei Seite lassend, nur zu untersuchen, was uns die Schriftdenkmäler darbieten. Es unterliegt aber keinem Zweifel, daß die ältesten Denkmäler dem tschechisch-polnischen Stamm angehören. Die Tschechen besitzen Überbleibsel vom Ende des 9. und Beginn des 10. Jahrhunderts,

154

155 156 157

Slaven); Pavel Jozef Šafařík: Slowanský národopis. Bd. 1, Praha 1849 (dritte Auflage), S. 149 (spricht von 78 691 000 Millionen Slaven). Vgl. dazu die historische Übersicht von Hellmut Keipert: Das „Sprache“-Kapitel in August Ludwig Schlözers „Nestor“ und die Grundlegung der historisch-vergleichenden Methode für die slavische Sprachwissenschaft. Mit einem Anhang: Josef Dobrovskýs „Slavin“Artikel „Über die Altslawonische Sprache nach Schlözer“ und dessen russische Übersetzung von Aleksandr Chr. Vostokov, herausgegeben von Hellmut Keipert und Michail Šmiljevič Fajnštejn. Göttingen 2006. Der erste Apostel Kyrill starb am 14. Ferbruar 869 in Rom. J. Dobrovský: Institutiones linguae slavicae dialecti veteris, op. cit. Vgl. [Evgenij Bolchovitinov]: Slovar’ istoričeskij o byvšich v Rossii pisateljach Duchovnogo čina, Grekorossijkija cerkvii. Čast’ II. Sanktpeterburg 1818, S. 421–431 (Stichwort: Mefodij); A. Ch. Vostokov: Razsuždenie o slavjanskom jazyke, služaščee vvedeniem k Grammatike sego jezaka, sostavljaemoj po drevnejšim onago pis’mennym pamjatnikam. In: Trudy Obščestva ljubitelej rossijskoj slovesnosti pri Imperatorskom Moskovskom Universitete, 17 (1820), S. 5–61.

92

Teil I

während die russischen nicht über das 11. Jahrhundert hinausreichen. Daher wollen wir auch die Geschichte der Literatur nach dem Alter ihrer Denkmale verfolgen. Das älteste hiervon ist erst vor kurzem in Prag auf wunderbare Weise entdeckt worden. Es ist ein Bruchstück eines Gedichtes, geschrieben im 9. Jahrhundert, welches mythische Taten aus den Zeiten der Niederlassung der Lechen und Tschechen erzählt. Dieses sparsame, auf vier Seiten gedruckte Bruchstück beleuchtet manche Frage sowohl in der Geschichte wie auch in der Gesetzgebung und Philologie. Man gab ihm den Titel „Libussas Gericht“ (Libušin soud).158 Der Gegenstand des Gedichtes ist ein Streit zweier Heldenbrüder von einem den Slaven fremden Stamm, geschlichtet durch eine fabelhafte Fürstin, deren gemeinschaftliche Sage die Tschechen und Polen besitzen. Was den größten Vorzug dieses Poems ausmacht, ist seine Schreibart. Es ist ein Zeitgenosse des Schwures von Karl dem Kahlen und des deutschen Ludwig, den ältesten Denkmälern der französischen Sprache.159 Und während diese von Franzosen nicht mehr verstanden werden, liest „Libussas Gericht“ jeder Tscheche und Pole mit Leichtigkeit. Im französischen Überrest sieht man noch kein Französisch, weder das des Südens noch des Nordens, sondern nur Barbarismen eines verdorbenen Lateins; und im Gegenteil findet man in dem Slavischen einen reinen Stil, genau befolgtes Versmaß und Gleichförmigkeit grammatischer Regeln. Ja es gibt hier sogar Verse, die als Muster des Wohlklangs und der Einfalt gelten können. Es zeigt sich schon eine vollkommen gebildete Sprache. Viel wichtigere Bemerkungen aber lassen sich noch hieraus für die Geschichte ziehen. Diese Handschrift bestätigt unsere Hypothese von der Einwanderung der Lechen und Tschechen, was zugleich einen Beweis für ihre Anthentizität abgibt, denn die tschechischen Gelehrten hielten sie stets für Slaven und leiteten ihren Ursprung von der Donau her. Das System der Erblichkeit, die Gemeinschaftlichkeit des Besitzes und die Familienrechte der Slaven sind hier deutlich angegeben. Wir sind hier im Stande, den Deutschen die 158 „Libušin soud“. In: Kralodworsky rukopis. Zbirka staročeskich zpiewo-prawnych basnj, s nekoliko ginymi staročeskimi zpiewy. Nalezen a wydan od Waclawa Hanky […] s diegopisnym uwodem Waclawa Aloysia Swobody. […] Königinhofer Handschrift. Sammlung altböhmischer lyrisch-epischer Gesänge, nebst andern altböhmischen Gedichten. Aufgefunden und herausgegeben von Wenceslaw Hanka […], verteutscht und mit einer historisch-kritischen Einleitung versehen von Wenceslaw Swoboda. 2. Auflage. Praha 1829, S. 196–203. Tschechisch-deutsche Parallelausgabe. Der altschechische Text wird nach der (neuen) orthographischen Fassung unter [www.rukopisy-rkz.cz] zitiert. 159 „Les serments de Strasbourg“ (Straßburger Eide) – in Althochdeutsch und Altfranzösisch; vgl. Siegfried Becker: Untersuchungen zur Redaktion der Straßburger Eide. Frankfurt am Main 1972.

10. Vorlesung (29. Januar 1841)

93

schöne wörtliche Übersetzung dieses Gedichtes von Herrn Hanka zu geben, welches, wie folgt, lautet: Aj, Vletavo, če mútíši vodu? če mútíši vodu striebropěnú? Za tě lútá rozvlajaše búria, sesypavši tuču šíra neba, oplákavši glavy gor zelených, vyplákavši zlatopieskú glinu? Kako bych jáz vody nemútila, kegdy sě vadíta rodná bratry, rodná bratry o dědiny otnie! Vadíta sě kruto mezu sobú lútý Chrudoš na Otavě krivě, na Otavě krivě, zlatonosně, Stiaglav chraber na Radbuzě chladně; oba bratry, oba Klenovica, roda stara Tetvy Popelova, jenže pride s pleky s Čechovými v sieže žírné vlasti prěs tri rěky.

Aj was trübst, Wltawa, du dein Wasser? Was trübst du dein silberschäumig Wasser? Hat dich aufgewühlet wilder Sturmwind, Schüttend her des weiten Himmels Wetter, Spülend ab die Häupter grüner Berge, Spülend aus den Lehmgrund, den goldsand’gen? Wie doch sollt ich nicht die Wasser trüben, Wenn im Hader sind zwei eigne Brüder, Eigne Brüder um des Vaters Erbgut? Grimmen Hader, führen mit einander Chrudos wild am Schlängelfluß Otawa, Am goldströmigen Schlängelfluß Otawa, An der kühlen Radbusa Held Stiaglaw, Beide Brüder, beide Klenavice, Alten Stamms von Tetwa, dem Popelssohn, Der mit Czech’s Geschwadern ist gekommen Durch drei Ströme in diese Segenslande.

Hier ist also deutlich die Einwanderung der Tschechen angegeben, als über drei Ströme kommend; einige behaupten von den Karpaten her über die Weichsel, oder und Elbe, andere wiederum über den Hron (Gran), die Waag und die Morava. Priletieše družná vlastovica, priletieše ot Otavy krivy, sěde na okénce rozložito v Libušině otně zlatě sědlě, sědlě otně světě Vyšegradě, běduje i narícaje mutno. Kdy se slyše jejú rodná sestra, rodná sestra v Lubušině dvorě, sprosi kněžnu utr Vyšegradě: na popravu ustaviti pravdu, i pognati bratry jejá oba, i súditi ima po zákonu.

Flog herbei nun die gesellge Schwalbe, Flog herbei vom Schlängelfluß Otawa, Setzt sich auf das breite Flügelfenster In Lubussas güld’nem Vatersitze, Auf dem heiligen Wyssegrad, dem Ahnsitz, Und sie jammert und sie trauert kläglich. Als dies höret ihre eigne Schwester, Eigne Schwester an Lubussas Hofe, Fleht im Wyssegrad zur Fürstenmaid sie, Zur Entscheidung ein Gericht zu halten, Vorzuladen ihre Brüder beide, Und zu richten sie nach dem Gesetze.

Die Ankunft einer Schwalbe von der Otava her nach Vyšehrad, die ihrer Schwester an Libušas Hofe von dem Streit der Brüder erzählt, ist keine poetische Figur von der Gesandtschaft, sondern in den alten slavischen Ländern und Volkssagen reden oft Vögel und andere Tiere die Menschen als ihre Brüder an.

94

Teil I

Die Fürstin beruft nun: Svatoslav von L’ubica der weißen, Lutobor von Dobroslavs Kulme, Ratibor von dem Riesenbergkamm, Radovan von der steinernen Brücke, Jarožir von den strömigen Bergen, Strežibor von der reinen Sázava, Samorod von dem Silberfluss Mža (Mies), alle Kmeten, Lechen und Vladyken (Herrscher), und zuletzt die entzweiten Brüder Chrudos und Stiaglav. Augenscheinlich sind hier die Lechen ein höherer Stand ebenso wie die Kmeten und Vladyken oder die Regierenden, die Anführer. Kda sě sněchu lěsi i vladyky v Vyšegradě […], prokní stúpi rozenia-dlě svégo: stúpi kněžna v bielestvúcí rízě, stúpi na stól oten v slavně sněmě. Dvě věglasně děvě (vystúpistě), vyučeně věščbám vítězovým: u jednej sú desky pravdodatné, u vtorej meč krivdy kárajúcí, protiv ima plameň pravdozvěsten, i pod nima svatocudná voda.

Als sich einten Lechen und Wladyken Auf dem Wyssegrad […], Stellt nach der Geburt sich auf ein jeder: Tritt in schimmernd weißem Kleid die Fürstin, Tritt zum Vaterthron im hohen Reichsding: Zwei hochsinnige Jungfrauen, Unterrichtet in den Richtersprüchen: Hier bei der sind die Gesetzestafeln, Und bei der das Schwert, der Unbill Rächer, Gegenüber rechtverkündend Feuer, Unter ihnen heiligsühnend Wasser.

Hier geschieht Erwähnung von der Erprobung der Wahrheit durch Feuer und Spiegelwasser. Grundlos haben einige Kritiker aus diesem Umstand ein solches den christlichen Einrichtungen beimessend diese angeführte Poesie späteren Zeiten zuschreiben wollen, und dieses sogar trotz dem, daß sie einen Vers finden, wo sich Libuša ausdrücklich auf die ewigen Gesetze ihrer Götter beruft. Počě kněžna s otnia zlata stola: „Moji kmeté, lěsi i vladyky, Se! bratroma rozrěšite pravdu, jaže vadíta sě o dědiny, o dědiny otnie mezu sobú. Po zákonu věkožizných bogóv budete im oba v jedno vlásti, či sě rozdělíta rovnú mierú. Moji kmeté, lěsi i vladyky! rozrěšite moje výpovědi, budetě-li u vás po rozumu. Nebudetě-l’ u vás po rozumu, ustavíte ima nový nález, ký by smieril rozvaděná bratry!“ Klaněchu sě lěsi i vladyky, i počěchu ticho govoriti govoriti ticho mezu sobú, i chváliti výpovědi jeje.

Drauf von Vaters güld’nem Thron die Fürstin: „Meine Kmeten, Lechen und Wladyken! Recht bestellen sollet ihr zween Brüdern, Die zusammen hadern um ihr Erbgut, Um des Vaters Erbgut mit einander. Nach den Satzungen der ew’gen Götter Walten beide dieses Guts gemeinsam, Oder teilen sich zu gleichen Teilen. Meine Kmeten, Lechen und Wladyken! Ihr bestellt jetzo meinen Ausspruch, Wenn er sonsten ist nach eurem Sinne, Stellt ihr ihnen fest ein andres Urteil, Das versöhne die entzweiten Brüder.“ Neigten sich die Lechen und Wladyken, Fingen an sich leise zu besprechen, Leise sich zusammen zu besprechen, Und der Fürstin Ausspruch zu beloben.

10. Vorlesung (29. Januar 1841) Vsta Lubotor s Dobroslavska chlemca, jě sě tako slovo govoriti: „Slavná kněžno s otna zlata stola! výpovědi tvoje rozmyslechom, seber glasy po národu svému.“ I sebrastě glasy děvě súdně, sbierastě je v osudie svaté, i dastě je lěchóm provolati.

95

Auf stand Lubotor vom Kulm Dobroslaw’s Und begann zu sprechen solche Worte: „Hohe Fürstin auf des Vaters Goldthron! Deinen Ausspruch haben wir erwogen: Sammle denn in deinem Volk die Stimmen.“ Stimmen sammeln drauf die Richterjungfrau’n, Sammeln sie in heiliges Gefäße, Geben sie den Lechen auszurufen. Vsta Radovan ot Kamenna Mosta, Auf stand Radowan von Kameny Most, jě sě glasy číslem prěgliedati, Und begann der Stimmen Zahl zu prüfen, i věčinu provolati v národ, Und die Mehrheit allem Volk zu künden, v národ k rozsúzeniu na sněm Allem Volk zum Rechtsding herberufen: sboren: „Beide eigne Brüder, Klenowice, „Oba rodná bratry Klenovica Alten Stamms von Tetwa, dem roda stará Tetvy Popelova, Popelssohn, jenže pride s pleky s Čechovými Der mit Czechs Geschwadern ist v sieže žírné vlasti prěs tri rěky, gekommen směríta sě tako o dědiny: Durch drei Ström’ in diese Segenslande, Budeta im oba v jedno vlásti!“ Beide eint ihr so euch um das Erbgut, Beide sollt gemeinsam sein ihr walten.“ Vstanu Chrudoš ot Otavy krivy, Auf stand Chrudos von der krummen žleč sě jemu rozli po utrobě, Otaw, trasechu sě lutostiú vsi údi; Gall ergoß sich ihm durch all sein Innres, máchnu rukú, zarve jarým turem: Und vor Wuth erbebten alle Glieder, „Gore ptencem, k nimže zmija Schwingt den Arm, und brüllet gleich dem vnorí! Ure: gore mužem, imže žena vlade! „Weh der Brut, wenn Ottern zu ihr dringen! Mužu vlásti mužem zápodobno, Weh den Männern, wenn ein Weib prevěncu dědinu dáti Pravda.“ gebietet! Männern ziemts zu herrschen über Männer: Erstgebornem ziemt nach Recht das Erbgut.“ Vsta Lubuša s otnia zlata stola, Auf von Vaters Goldthron stand Lubussa, vece: „Kmetě, lěsi i vladyky, Sprach: „Ihr Kmeten, Lechen und slyšeste zdě poganěnie moje; Wladyken! suďte sami po zákonu pravdu. Meine Schmähung habt ihr hier gehöret, U nebudu vám súditi svády. Richtet selbst das Recht nach dem Volte muža mezu sobú rovna, Gesetze, ký by vládl vám po želězu … Nimmer werd’ ich eure Zwiste schlichten. Dievčie ruka na vy k vládě slaba.“ Wählt den Mann euch unter eures Gleichen, Der euch herrsche mit dem Eisen. … Mädchenhand ist schwach, ob euch zu herrschen“

96

Teil I Vsta Ratibor ot gor Krekonoší, jě sě tako slovo govoriti: „Nechvalno nám v Němcěch iskat pravdu, U nás pravda po zákonu svatu, juže prinesechu otci naši v sieže (žírné vlasti prěs tri rěky).“ […] vsiak ot svej čelědi vojevodí: mužie pašú, ženy ruby stroja, i umre-li glava čelědina, děti vsie tu zbožiem v jedno vladú, vladyku si z roda vyberúce, ký plezně-dlě v sněmy slavny chodí, chodí s kmetmi, s lěchy, vladykami. Vstachu kmetě, lěsi i vladyky, pochválichu pravdu po zákonu.160

Auf stand Ratibor vom Riesenbergkamm, Und begann zu sprechen diese Worte: „Recht bei Deutschen suchen wär’ unrühmlich: Recht besteht bei uns nach heiliger Satzung, Die mit hergebracht einst unsre Väter In diese Segenslande durch drei Ströme.“ der Vater führt sein Volk im Heere; Männer ackern, Weiber schaffen Kleider, Aber wenn nun stirbt das Haupt des Hauses, Walten insgesammt des Guts die Kinder, Sich ein Haupt erkiesend aus dem Stamme, Das des Wohles wegen geht zum Hochding, Geht mit Kmeten, Lechen und Wladyken.“ Auf steh’n Kmeten, Lechen und Wladyken, Hießen gut die Bill nach dem Gesetze.

Es ist dieses eine sehr klare Enthüllung des Erbschaftsystems und der Repräsentation in dem tschechisch-lechitischen Slaventum. Nie hat eine literarische Entdeckung mehr Aufsehen erregt, als dieses alte poetische Bruchstück. Es entstanden sehr lebhafte Streitigkeiten unter den Gelehrten über das Alter, das Deuten, und die Authentizität der Handschrift. Selbst der Patriarch der tschechischen Altertumsforscher, Dobrovský, war standhaft auf der Seite der Gegner, und nannte dieses Bruchstück untergeschobenes Geschreibsel.161 Erst als die zur Untersuchung der Schwärze herbeigerufenen Chemiker erklärten, daß der Versuch die Handschrift vernichten 160 Libušin soud, op. cit., S. 196–203. Dieser Abschnitt wird von Mickiewicz als das Ende von „Libussas Gericht“ angesehen, obwohl er bei Hanka am Anfang der „Grünberger Handschrift“ als Fragment unter dem Titel „Sněm“ (Das Gedinge) erscheint. Op. cit., S. 194; dt., S. 195. 161 Dobrovský spricht von „einem offenbar untergeschobenen Geschmiere“ – J.  Dobrovský: Literarischer Betrug. In: Archiv für Geschichte, Statistik, Literatur und Kunst, XV (1824), Nr. 46, S. 260; Fortsetzung der Polemik – J. Dobrovský: Vorläufige Antwort auf des Herrn W.S[voboda]. Ausfälle im „Archiv [für Geschichte, Statistik, Literatur und Kunst]“ Nr.  64 vom 28. May  1824. In: Archiv für Geschichte, Statistik, Literatur und Kunst, XV (1824), Nr. 79 vom 2. Juli 1824, S. 435–436; ferner Dobrovskýs Rezension über die Edition von Ignacy Benedykt Rakowiecki „Prawda ruska“ […].Tom I–II. Warszawa 1820–1822, (wo Rakowiecki in Band I, S. 234–241, Libušin soud veröffentlichte). In: Jahrbücher der Literatur, Bd. XXVII. Wien 1824, S. 88–119; im Internet unter [www.reader.digitale-sammlungen. de]. Tschechische Übersetzung in: Josef Dobrovský: Výbor z dila. Hrsg. Benjamin Jedlička. Praha 1953; vgl. auch Birgit Krehl: Die Fürstentafel von J.G. Herder und die so genannte Handschrift Libušin soud (Libušes Gericht) – ein Textvergleich. In: Prozesse kultureller

10. Vorlesung (29. Januar 1841)

97

könnte, konnte er sich nicht dazu entschließen und dachte bei sich: und wenn es nun doch ein wahres Dokument wäre, so daß die Liebe für die Altertümer bei ihm den Sieg davon trug, er wollte lieber seine Gegengründe ohne letzten Entscheid lassen, als ein Denkmal vernichten. Pavel Josef Šafařík, František Palacký und viele andere bestanden auf der Authentizität.162 Heut zu Tage setzt man es allgemein in das 11. Jahrhundert, den Gegenstand des Gedichtes aber als ein Ereignis des Jahres 721 nach Christo, und die Abfassung auf das Ende des 9. oder Anfang des 10. Jahrhunderts.163

Integration und Desintegration: Deutsche, Tschechen, Böhmen im 19. Jahrhundert. Hrsg. Steffen Höhne, Andreas Ohme. München 2005, S. 135–160. 162 Vgl. – Die ältesten Denkmäler der böhmischen Sprache: Libušas Gericht, Evangelium Johannis, der Leitmeritzer Stiftungsbrief, Glossen der Mater Verborum. Kritisch beleuchtet von Paul Joseph Šafařík und Franz Palacký. Prag 1840, S. 167–186 (§ 23–24), die auch auf Dobrovskýs Einwände eingehen. Vgl. Leokadia Pośpiechowa: Problematyka czeska w wykładach A. Mickiewicza. In: „W ojczyźnie serce me zostało … “ W dwuchsetną rocznicę urodzin Adama Mickiewicza. Redakcja naukowa Jerzy Pośpiech. Opole 1998, S. 321–350. 163 Dieser Abschnitt stimmt mit der französischen Fassung (A. Mickiewicz: Les Slaves, Tome premier, op. cit., S. 132–133) und der Edition von F. Wrotnowski (A. Literatura słowiańska. Tom I. Poznań 1865, S.76–77) überein. In der Übersetzung von L. Płoszewski (A. Mickiewicz: Dzieła. Tom VIII: Literatura słowiańska. Kurs pierwszy. Warszawa 1997, S. 121–122) ist er viel länger, wiederholt allerdings Informationen, die zu Libušas Soud oben angeführt wurden.

11. Vorlesung (2. Februar 1841) Die literarische Entdeckung von Václav Hanka: „Die Königinhofer Handschrift“ (Královédvorský Rukopis) – Das Heldengedicht „Záboj, Slavoj, Luděk“ und seine Bedeutung – Der Kampf zwischen dem Christentum und dem Heidentum wird noch heute in der Literatur geführt – Das Christentum bringt den Slaven die Familie, die Regierung, die Bildung; es bereitet auch die Einheit der Slaven vor.

Václav Hanka164, bekannt in der slavischen Literatur, entdeckte zufällig im Jahre 1817 eine tschechische Handschrift in der Stadt Königinhof165, welche einige alte Gedichte enthielt. Die Handschrift selbst gehört dem 13. Jahrhundert an, jedoch findet man in ihr sehr alte Denkmäler. Ein Gedicht, betitelt „Záboj, Slavoj, Luděk“, scheint den Kampf der Tschechen mit Ludwig dem Deutschen (Ludwig II. „Germanicus“) in der Mitte des 9. Jahrhunderts zu besingen. Einige führen den Gegenstand dieses Heldengedichts bis auf die Zeiten des Königs Samo zurück, als dieser im Jahre  630 an der Spitze der Slaven die Franken zurückwerfend einen Heerführer des Dagobert überwältigte. Der Inhalt der Rhapsodie ist sehr einfach. Der tapfere Záboj, durch den Anblick der allseitigen Vernichtung der Freiheiten und des Väterglaubens von den Ausländern entrüstet, ruft die Landsleute zur Abwehr und Rache auf. Nachdem die bewaffneten Männer im Walddickicht versammelt sind, redet er sie mit einem Lied an, das von der Bedrückung handelt; er sagt, daß die Überrumpler fremde Götter eingeführt, die Vögel aus den heiligen Hainen verscheucht, die Bäume ausgerottet, die Örter für Gebete und Opfer zu besuchen verboten, nur eine Gattin von Jugend auf bis zum Tode zu haben befohlen hätten. Hier rafft sich Slavoj mit funkelnden Augen auf und ruft: Singe, du besitzt die Gabe, die Herzen zu erwärmen. Zábojs Lied greift nun tiefer in die Herzen, 164 Václav Hanka (1791–1861), tschechischer Philologe, Übersetzer und Dichter. Lyrikbände: Václav Hanka: Dwanactero pjsnj. Swazaček I. Praha 1815, swazaček II. Praha 1816; Hankowy pjesně. Praha 1831. Zum Forschungsstand über die Echtheitsfrage vgl. die Arbeiten von – Josef Fajfalik: Über die Königinhofer Handschrift. Wien 1860; Tomáš G. Masaryk: Náčrt sociologického rozboru RZho a RKho. In: Athenaeum, 3. Jg. (1886), Nr. 10, S. 406– 422; Antonín Bělohoubek: O mikroskopickém a mikrochemickém zkoumání Rukopisu Králodvorského. Praha 1887. Jan Gebauer: Unechtheit der Königinhofer und Grünberger Handschrift. In: Archiv für slavische Philologie, 10 (1887), S. 496–569; 11 (1888), S. 1–39; 161–188; František Mareš: Pravda o rukopisech Zelenohorském a Královédvorském. Praha 1931; Julius Dolanský: Záhada Ossiana v Rukopisech královédvorském a zelonohorském. Praha 1975; Julius Enders: Rukopis Zelenohorský a Královédvorský: vznik, styl a básnická hodnota staročeské orální poesie. Praha 1993; Miroslav Ivanov: Tajemství Rukopisů Královédvorského a Zelenohorského. Třebíč 2000. 165 Dvůr Králové nad Labem (Königinhof an der Elbe).

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_012

11. Vorlesung (2. Februar 1841)

99

er erinnert die Genossen an die Ausflüge der Jugend, malt das Bild des Triumphs über die Feinde. Alle umringen ihn und reichen sich zu einer Verabredung die Hände. Die beiden Anführer wenden sich mit ihren Haufen gegen das feindliche Lager, sie entwerfen schnell einen Angriffsplan. Der Christenführer, hier Luděk genannt, tritt mit dem Heere auf; vor Wut schäumend, fordert er während der Schlacht den Záboj zum Zweikampf, und fällt von dessen Hand. Der gebrochene Feind will sich durch die Flucht retten, hierbei trifft er auf einen Fluß, wo ihn der letzte Stoß ereilt. Die Sieger kehren zurück und opfern ihren Göttern. Der Stil, das Anschauliche und die Urkraft der Dichtung dieses Bruchstücks sind bemerkenswert. Z črna lesa vystupuje skála, na skálu vystúpi silný Záboj, obzíra krajiny na vsie strany; zamúti sě ot krajin ote vsěch i zastena pláčem holubiným. Sědě dlúho i dlúho sě mútie, i vzchopi sě vzhóru jako jelen, dolov lesem, lesem dlúhopustým bystro spěcháše, ot muže k mužu, ot silna k silnu, po vsickéj vlasti. Krátká slova ke vsěm skryto řeče, pokloni sě bohóm, otsud k druhu spěcha. I minu deň prvý, i minu deň vterý, i kdaž za třetiem luna v noci bieše, sněchu sě mužie sěmo v les črn. K niem zdě Záboj; otvede je v úval, v ponížený úval hlubokého lesa. Stúpi Záboj najnížeje dolóv, vze varyto zvučno: „Mužie bratských srdec i jiskreních zrakóv, vám pěju najniží z dola. Piesň ide z srdce mého, z srdce najnížeje pohrúžena v hoři.“ „Otčík zaide k otcem, ostavi v dědině dietky svoje i svoje lubice i neřeče nikomu: ,Baťo, ty mluvi k nim oteckými slovy! I přiide cuzí úsilno v dědinu, i cuzími slovy zapovída; i kak sě zdie v cuzej vlasti ot jutra po večer, tako bieše zdieti dietkám i ženám i jedinú družu nám iměti po púti vsiej z Vesny po Moranu. I vyhánie z hájev vsě krahuje,

100

Teil I i kací bozi v cuzej vlasti, takým sě klaněti zdě i jim oběcati oběť. I nesměchu sě bíti v čelo před bohy ni v súmrky jim dávati jiesti. Kamo otčík dáváše krmě bohóm, kamo k niem hlásat chodíváše, posěkachu vsie drva i rozhrušichu vsie bohy.“ „Aj, ty Záboju, ty pěješ srdce k srdcu pěsňú z střěda hořě. Jako Lumír, ký slovy i pěniem bieše pohýbal Vyšehrad i vsie vlasti, tako ty mě i vsiu bratř. Pěvce dobra milujú bozi: pěj, tobě ot nich dáno v srdce proti vrahóm!“ Zřě Záboj na Slavojeva zapolena zraky i pěniem dále srdce jímáše: „Dva syny, jejú hlasy přěcházesta v muská, vycházievasta v les, tamo mečem i mlatem i oščepem učista paži; Tamo pokrysta i vracesta sě rozkosem. Kehdy paže jejú bieše dorostla i jejú umy proti vrahóm, i dorostachu druzí bratřieci: ajta, vsi vyrazichu vz vrahy, i by krutosť jich búřiúce nebe i v dědiny vrátíše sě byvšie blahosť.“ Aj, skočichu vsici v dól k Záboju i tiščechu jej v přěsilná paži, i s prsú na prsy vsi kladechu rucě, věhlasno dáváchu slova k slovóm. I přicházéše noc přěd jutro; aj, vystúpichu z úvala rózno, vezdě ke vsěm dřěvóm, ke vsěm stranám bráchu sě lesem. I minu deň, i minu deň vterý, i po třětiem dni, kehdy sě zatemníše noc, bra sě Záboj v les, lesem za Zábojem sbory; i bra sě Slavoj v les, lesem za Slavojem sbory. Vsiak imě vieru k vojevodě, vsiak srdce úporno králu, vsiak zbraň bystru na král. „Aj, Slavoji bratře, tamo k modru vrchu!

11. Vorlesung (2. Februar 1841) Vrch ten po vsěch po krajinách, tamo zaměřímy chody. Ot vrcha k ranému sluncu, tamo les temen, tamo si podámy rucě. Nynie beř sě lisími skoky, i jáz tako pojdu tudy.“ „Aj, Záboji bratře! čemu náše braň jmá tepruv ot vrcha soptati krutosť? Otsavad búřmy protiv králevým vrahóm!“ „Slavoji bratře! kdaž hada potřieti chceši, na hlavu najjistěje; tamo hlava jeho!“ Rozstúpi sě mustvo lesem, rozstúpi sě v pravo, v levo. Tudy taže Zábojevým slovem, onamo slovem prudka Slavoje, hlubinami lesóv k modru vrchu. I kehdy bieše pět sluncí, podasta si přěsilně rucě, i pozřěsta lysíma zrakoma na královy voje. „Sraziti nám drbí Luděk voje, voje své pod jednu ránu.“ „Aj, Luděče, ty si parob na paroby králie! Ty rci svému ukrutníku, že dýmem jesť nám velenie jeho!“ I rozlúti sě Luděk, rúčiem hlasem svola své voje. Podnebesie bě plno osvěty ot slunce, v osvětě plno blska z králevých vojev. Hotovi vsici nohu v krok i ruku v braň Luděkova dle slova. „Aj, Slavoj bratřě, tudy spěj lysími skoky, jáz pójdu vstřiecu jim v čelo.“ I vyrazi Záboj v přěd jako krupobitie; i vyrazi Slavoj v bok jim jako krupobitie. „Aj, bratřě, ti sie! nám krušichu bohy, ti sie! nám kácechu dřeva, i plašichu krahuje z lesóv. Bozi nám vícestvie dajú.“ Aj, prudkost vyrazi Luděkem z četných vrahóv protiv Záboju; i vyrazí Záboj, hořiúciema očima v Luděk měři: dub protiv dubu zřieti ze vsěho lesa. Záboj hna protiv Luděku nade vsie voje,

101

102

Teil I Luděk udeři silným mečem, přětě třie kóže v ščítě. I udeři Záboj mlatem, otskoči hbitý Luděk, v dřevo vrazi mlat i skoti sě dřěvo na voj; i třiedeseť jich otide k otcem. I zlúti sě Luděk: „Aj, ty zhovadilý, ty veliká potvoro hadóv! mečem sě potýkaj se mnú!“ I máše Záboj mečem, kus ščíta vrahu otrazi. I tasi Luděk, meč sě smeče po koženě ščítě. I zapolesta sě oba k ranám, ranami vsie po sobě stesasta, i vsie kolem zbrocesta krviú, i krviú zbrocechu je mužie kolkol jejú vezdě v přelutej sěči. Slunce přejde poledne, i ot poledne juž na pól k večeru: i váleno ješče, ni sěmo ni tamo ustúpeno, i váleno zdě i váleno tamo ot Slavoje. „Aj ty vraže, běs v tě! Čemu ty nášu krev píješi?“ I chopi Záboj svój mlat, i otskoči Luděk, napřěže mlat Záboj výš vzhóru i vrže po vraze. Letě mlat, rozkoči sě ščít, za ščítem sě rozkočista Luděkova prsi. I uleče sě duše těžka mlata, i mlat i dušu vyrazi, i zanese pět siehóv u vojsku. Strach vrahóm vyrazi z hrdl skřeky: radost vzevzně z úst vojnóv Zábojevých, i zajiskři z radostnú zrakú. „Aj, bratřie! bozi ny vícestviem dařichu. Rozstúpi sě váš jeden hluk v pravo i v levo. Ze vsěch údolí sěmo sveďte koně, koni řěchci vešken ten les!“ „Záboji bratře, ty udatný lve! neupúščej búřit u vrahy!“ Ajta otvrže Záboj ščít, i v rucě mlatem i v druhej mečem, tako i přieč proráže dráhy u vrazěch. I by úpěti vrahóm, i by ustúpati vrahóm.

11. Vorlesung (2. Februar 1841) Třas je hnáše z bojišče, strach z hrdl jich vyráže skřeky, koni řehce vešken les. „Vzhóru na koně, s koni za vrahy přese vsie vlasti! Rúčí koně neste v patách za nimi našu krutosť!“ I vkočichu hluci vz rúčie koně i skok na skok po vrazěch sě hnachu, ránu na ránu soptichu krutú krutosť. I míjechu rovně, i hory i lesi v pravo i v levo; vsie ubiehá v zad. Hučie divá řeka, vlna za vlnú sě vale, hučechu vsi voji, skok na skok vsie sě hnáše přěs búřiúcú řeku. Vody uchvátichu mnostvie cuzích, i přěnesechu své zvěsty na druhý břeh. I po krajinách vezdě v šíř i v šíř lútý ostřiež rozepě svoje křiedle svoje dlúzě, bystro léta za ptactvem; Zábojevi voji rozehnachu sě v šíř, vezdě po vlastech hnachu lúto po vrazěch; vezdě srážechu je i stúpáchu koni. Nocú pod lunú za nimi luto, dnem pod sluncem za nimi luto, i opěty temnú nocú, i po noci šedým jutrem. Hučie divá řeka, vlnu za vlnú sě vale; i hučechu vsi voji, skok na skok vsie sě hnáše přěs búřiúcú řeku. Vody uchvátichu mnostvie cuzích, i přěnesechu své zvěsty na druhý břeh. „Tamo k šedým horám! tamo dobúří naše pomsta!“ „Aj, Záboji bratře! juž nám nedaleko hory, a juž hlúček vrahóv, i ti žalostivo prosie.“ „Vrátno krajinú, tudy ty, jáz tudy, vyhubit vsie králevo!“ Vietr buří přes vlasti, vojsky búřie přes vlasti; v pravo i v levo vezdě širú silú vojsky, v radostné hlucě. „Aj, bratřie, aj šerý vrch! bozi ny tamo vícestvem dařili. Tamo i vele duš těká

103

104

Teil I sěmo tamo po dřevěch. Jich boje sě ptactvo i plachý zvěř, jedno sovy neboja sě. „Tamo k vrchu pohřěbat mrch, i dat pokrm bohovóm, i tamo bohóm spásám dat mnostvie obětí, a jim hlásat milých slov i jim oružie pobitých vrahóv!“166 Aus dem schwarzen Walde ragt ein Felsen, Auf den Felsen steigt der starke Sáboj, Übersieht die Gau’n nach allen Weiten; Gram durchweht ihn von den Gauen allen, Und er seufzet, wie wenn Tauben weinen; Lange sitzt er, brütet lang’ im Grame. Und er rafft sich auf nun gleich dem Hirsche; Nieder durch den Wald, den weithin oben, Eilet rüstig fort von Mann zum Manne Eilt von Held zu Held im ganzen Lande. Spricht zu allen heimlich kurze Worte Neiget sich den Göttern, Eilt dann fort zu andern. Und ein Tag vergehet, Es vergeht der zweite. Und als Luna scheint der Nacht des dritten, Sammelten im Schwarzwald sich die Männer Her zu ihnen Sáboj, Führet sie zum Tale, Führt im weiten Forste Sie zum tiefsten Tale. Tief hinab von ihnen, Tiefab stellt sich Sáboj, Nimmt die helle Zither: „Männer, Brüderherzen, Mit dem Flammenblicke! Euch ein Lied nun sing’ ich,

166 Kralodworsky rukopis. Zbirka staročeskich zpiewo-prawnych basnj, s nekoliko ginymi staročeskimi zpiewy. Nalezen a wydan od Waclawa Hanky […] s diegopisnym uwodem Waclawa Aloysia Swobody. […] Königinhofer Handschrift. Sammlung altböhmischer lyrisch-epischer Gesänge, nebst andern altböhmischen Gedichten. Aufgefunden und herausgegeben von Wenceslaw Hanka […], verteutscht und mit einer historisch-kritischen Einleitung versehen von Wenceslaw Swoboda. Praha 1829 (1. Auflage 1819), S. 71–89. Zitiert nach der neuen orthographischen Fassung – Rukopis Zelenohorský a Královédvorský, vznik, styl a hodnota staročeské orální poesie. Hrsg. Julius Enders. Praha 1993. Im Internet unter [www.rukopisy-rkz.cz].

11. Vorlesung (2. Februar 1841) Sing’ aus tiefstem Talgrund. Wohl von Herzen geht mir’s, Wohl vom tiefsten Herzen, Das in Gram versunken.“– „Ging zum Ahn der Vater, Ließ zurück im Erbland Die verwaisten Kinder, Ließ verwaist die Liebchen. Und zu Niemand sagt’ er: ‚Bruder! sprich zu ihnen, Du mit Vaterworten!‘ „Und da kommt der Fremdling Mit Gewalt ins Erbland; Und mit Fremdlingsworten Hier gebeut der Fremdling. Und was Sitte dort ist, Dort im Fremdlingslande, Morgens bis zum Abend, Gilt zu wahren folgsam Kindern so wie Frauen. Eine Ehgenossin Soll mit uns von Wesna Geh’n bis zur Morana.“ „Aus den Hainen trieben sie die Sperber, Und den Göttern, so die Fremde ehret, Mußten wir uns neigen, Ihnen Opfer bringen. Durften vor den Göttern Nicht die Stirne schlagen, Nicht im Zwielicht ihnen Speisen bringen, Wo der Vater Speisen bracht den Göttern, Wo er hinging, Lobsang anzustimmen. Ja sie fällten alle Bäume, Sie zerschellten alle Götter.“ – „Sáboj, ha du singest, Singst das Herz zum Herzen, Mitten aus dem Grame, Singst dein Lied wie Lumir, Der mit Wort und Sange Rührt den Wyssehrad und alle Lande; So du mich, die Brüder all’. Ja die Götter lieben wack’ren Sänger. Singe, denn dir ward’s gegeben, Gen den Feind ins Herz zu singen.“ –

105

106

Teil I Sáboj blicket auf des Slawoj Glutentbrannte Blicke, Und bestürmt fortsingend ihre Herzen: „Zwei der Söhne, deren Stimme Eben schwoll zum Mannslaut, Gingen aus zum Walde; Dort mit Schwert und Streitaxt Und mit scharfem Speere Übten sie die Arme. Bargen dort sich heimlich Kehrten heim von dort in Freuden. Als ihr Arm zur Mannheit ward gediehen, Und ihr Geist zur Mannheit gen die Feinde, Und die andern Brüder auch erwuchsen; Ha! da brachen alle in die Feinde, Und ihr Grimm war Wettersturm des Himmels; Und zur Heimath wiederkehrte, Wiederkehrte der einst’ge Segen. Ha da sprangen all’ herab zu Sáboj Drückten ihn in ihre starken Arme, Und die Hände legten Sie von Herz zu Herzen; Und es reiht sich klug ein Wort zum andern. Und die Nacht rückt vor zum Morgen, Und sie gingen einzeln aus dem Thale, Fort entlang der Bäume, Fort nach allen Sekten aus dem Walde. Ein Tag war vergangen, Es verging der zweite Nach dem dritten Tage, Als die Nacht heran schon dunkelt, Sáboj zieht zum Walde Hinter Sáboj Kriegerhaufen; Slawoj zieht zum Walde Hinter Slawoj Kriegerhaufen. Alle voll Vertrau’n zum Führer, All’ im Herzen groll dem König, All’ ihm scharfe Waffen. „Auf denn, Bruder Slawoj! Dort zum blauen Berge, Der nach allen Gauen schauet; Dorthin lenken wir die Schritte! Dort vom Berg gen Sonnenaufgang Sieh’, ein dunkler Forst dort;

11. Vorlesung (2. Februar 1841) Reichen wir dort uns die Hände! Ziehe du nun hin mit Fuchsesspringen; Hierhin zieh’ auch ich zum Ziele.“ „Ha, wie Bruder Sáboj! Was doch sollen unsre Waffen Grimm erst von dem Berg’ erschnauben? Laß von hier g’radaus uns stürmen Auf des Königs Würgerschaaren.“ „Höre Bruder Slawoj! Willst den Drachen du vertilgen, Tritt auf’s Haupt ihm, so gelingt es. Und sein Haupt, dort ist es.“ – Drauf das Heer teilt sich im Walde, Teilt zur Rechten sich, zur Linken; Ziehet hierhin nach des Sáboj Worte, Dorthin nach dem Wort des feurigen Slawoj, Hin zum blauen Berg durch Waldes Gründe. Sonne schien zum fünften Male, Und sie reichen sich die Heldenhände, Und sie spähen aus mit Fuchsesaugen Auf des Königs Heere. „All’ sein Heer muß uns zusammenballen, All’ sein Heer zu einem Streiche Ludiek. Ludiek, ha du bist ein Knecht nur, Knecht nur ob des Königs Knechten. Sag’ du deinem stolzen Zwingherrn, Daß nicht mehr denn Rauch uns gilt sein Machtwort.“ Drob ergrimmet Ludiek, Schnellen Rufes sammelt er die Heere, Rings im Wiederschein erglänzt der Himmel, Und ein Blitz im Wiederschein der Sonne Von des Königs Heer. All’ den Fuß zum Austritt fertig, All’ zur Wehr’ die Hand nach Ludiek’s Worte. „Auf nun, Bruder Slawoj! Hierhin eil’ in Fuchsessprüngen; G’rad’ die Stirne biet’ ich ihnen.“ – Und g’rad’aus bricht Sáboj Vorwärts gleich dem Hagelwetter, Und hervorbricht Slawoj In die Flank’ wie Hagelwetter.

107

108

Teil I Bruder, sieh’, ha diese Malmten uns die Götter, Die fällten unsre Bäume, Scheuchten aus dem Hain’ die Sperber. Sieg verleihen uns die Götter!“ – Siehe, wilder Grimm entreißt den Ludiek Den zahllosen Würgern gegen Sáboj. Sáboj gegen Ludiek Bricht hervor mit flammensprüh’nden Augen. Eiche gegen Eiche stürmet, Aus dem Wald hervor sich reißend. Sáboj sprenget gegen Ludiek Weit voraus dem Heere. Siehe, Ludiek haut mit wucht’gem Schwerte, Und durchhaut drei Haut’ im Schilde. Sáboj haut mit seiner Streitaxt; Ludiek springt behend zur Seite. Einen Baum die Axt trifft, Und der Baum fällt auf die Scharen; Dreißig gehen heim zu ihren Vätern. Da ergrimmet Ludiek, „Ha Du reißend Unthier, Ha du grauses Drachenungeheuer, Ficht mit mir du mit dem Schwerte!“ Und das Schwert schwingt Sáboj, Haut ein Stück dem Feind’ vom Schilde. Ludiek greift zum Schwerte, Doch das Schwert glitt von dem häut’nen Schilde. Beid’ entflammen sich zu grimmen Streichen, Sie zerhauen Alles an einander. Netzen Alles rings mit Blute, Und mit Blut die Mannen sprengen Rings sie an in wildem, Grimmigem Gemetzel. Über Mittag schritt die Sonne, Über Mittag näher schon zum Abend; Und noch ward gekämpfet, Und nicht hier, nicht dorthin ward gewichen; So ward hier gekämpft von Sáboj, So ward dort gekämpft von Slawoj. „Fahr zum Bjes du Würger! Was sollst unser Blut du trinken?“

11. Vorlesung (2. Februar 1841) Sáboj faßt die Streitart, Ludiek springt zur Seite. Sáboj schwingt die Streitaxt hoch in Lüften, Wirft sie nach dem Feinde: Fleugt die Axt dem Feinde nach; Und der Schild zerspringet, Hinter’m Schilde auch zerspringet Ludiek’s Brust zerspringet. Vor der wucht’gen Art erschrickt die Seele; Ja die Axt entrafft die Seele, Trägt hinaus ins Heer sie wohl fünf Lachter. Angstruf weckt der Schreck in Feindes Munde; Freude schallt vom Mund’ der Krieger, Schallt vom Mund’ der Krieger Sáboj’s, Strahlt aus freudehellen Blicken. „Brüder, ha, uns haben Götter Sieg verliehen! Eine Schar von euch theilt sich zur Rechten, Eine Schar von euch theilt sich zur Linken. Rosse führt herbei aus allen Thälern, Wieh’re rings von Rossen, Wald!“ – „Ha mein Bruder Sáboj! Ha du tapf’rer Löwe! Laß nicht ab vom Sturm auf Feinde!“ Ha, den Schild fortschleudert Sáboj, In der Hand das Schwert, die Art in jener, So quer ein bricht Bahnen Er sich durch die Feinde. Und die Dränger heulten, Und den Drängern galt’s zu weichen. Tras jagt sie vom Schlachtfeld, Schreck erpreßt den Kehlen lauten Angstruf. Roßgewieher rings im Wald. Auf zu Roß’, zu Roß’! Nach dem Feind zu Roß’, Durch die Länder all’! Schnelle Rosse traget, Auf den Fersen traget Ihnen unsern Grimm nach! Scharen schwingen sich auf schnelle Rosse; Sprung auf Sprung den Drängern nach sie jagen, Schlag auf Schlag, sie schnauben wild im Grimme. Und es schwanden Flächen, Schwanden Berge, Wälder, Rechts und links enteilet Alles rückwärts.

109

110

Teil I Sieh’, ein Wildstrom brauset, Welle wälzet sich auf Welle; Sprung auf Sprung auch brausen alle Heere, Alles sprenget durch des Stromes Tosen. Viel der Fremden rafft die Flut hinunter; Trägt die Heimischen hinüber, Trägt sie hin ans andre Ufer. Durch die Gauen ringsum weit und breit, Weit die breiten Schwingen aus Spannt der wilde Weihe, Jaget dem Geflügel nach. – Sboj’s Kriegerhaufen Sprengen aus ins Weite Durch die Lande rings, Sprengen wild den Drängern nach; Schmettern, stampfen nieder Sie mit ihren Rossen. Wütend ihnen nach bei Lunas Scheine, Wütend nach im Sonnenglanz des Tages, Wieder dann im nächt’gen Dunkel, Nach der Nacht im Morgengrauen. Sieh, ein Wildstrom brauset Welle wälzet sich an Welle; Sprung auf Sprung nach brausen alle Heere, Alles sprenget durch des Stromes Tosen. Viel der Fremden rafft die Flut hinunter; Trägt die Heimischen hinüber, Trägt sie hin ans andre Ufer. „Dort zum grauen Gebirge! Dort vertobe unsre Rache!“ „Siehe, Bruder Sboj!“ Fern nicht mehr sind wir dem Berge, Sieh’ das Häuflein Feinde, Und wie sie so kläglich flehen!“– „Rückwärts durch die Gauen, Hierhin du, ich dorthin, Was des Königs, sei vertilgt!“– Winde brausen durch das Land, Heere brausen durch das Land, Durch die Lande rechts und links hin Stark in breiten Reih’n die Heere, Fort mit Freudenjauchzen. „Bruder, dämmern sieh’ den Berg!

11. Vorlesung (2. Februar 1841)

111

Ha die Götter haben Dort uns Sieg verliehen! Schaaren schwärmen dort von Seelen, Hier und dort von Baum zu Baum. Bange zagt vor ihnen Wild und scheu Geflügel; Nur die Eulen scheuen nimmer. Fort zum Berg, begrabt die Leichen, Bringt den Göttern Opferschmaus, Göttern dort, den Rettern, bringt Reicher Opfer Fülle dar, Stimmet an ihr Lieblingslied, Weiht die Wehr erschlag’ner Feinde ihnen!“167

[Das Werk besteht aus 300 Versen. Die von Hanka gefundene Handschrift enthält neben diesem Erzeugnis der altertümlichen slavischen Poesie noch sieben weitere, ebenfalls in Versen geschriebene Werke. Nach einer gründlichen Untersuchung stellte man fest, daß das Manuskript von irgendeinem Slaven aus dem 13. Jahrhundert geschrieben wurde, der darum bemüht war, es zu bewahren und der Nachwelt als Andenken an die ins Vergessen gleitende Vergangenheit zu überliefern. Diese Sammlung einiger Poeme enthält epische und lyrische Werke. Unter anderem befindet sich dort ein in Versen geschriebenes Werk über den König Václav (Wenzel II.)168; es scheint jedoch, daß an diesem Werk noch vor der Einfügung in die Sammlung große Veränderungen vorgenommen wurden, denn der Stil und die grammatischen Formen, die dort vorkommen, sind für eine genaue Bestimmung durchaus schwierig. Aber gerade dieser Mangel hatte zur Folge, daß der Gelehrte Dobrovský diesen Fragmenten weder ihre Authentizität noch ihre Altertümlichkeit absprach. Indem Dobrovský von den vier großen Zeitaltern der Zivilisation ausging, das Zeitalter des Perikles, des Augustus, Leos X. und Ludwigs XIV., neigte er notgedrungen dazu, alles, was nicht das Gepräge dieser vier Zeitalter in sich trug, als Barbarentum zu erachten. Deswegen weigerte er sich, dem in der vorhergehenden Vorlesung angeführten Poem, einem Poem mit einer Sprache voller Schönheit und korrekter Ausdrucksformen, Altertümlichkeit zu bescheinigen; mit Leichtigkeit dagegen bestätigte er Authentizität einem Werk, über das ich 167 Kralodworsky rukopis, op. cit., 71–89. 168 Milostná píseň krále Václava. In: Starobyla Skladanie. Památka XII.–XV. stoletj. Djl opozděný, wydán od Waclawa Hanky. Praha 1823. S. 220–227. Das Manuskript entdeckte 1819 der Bibliothekar Jan Václav Zimmermann, das er Franz Anton Graf von KolowratLiebsteinsky zuschickte. Vgl. dazu Karel Nesměrák: Milostná píseň krále Václava. Edice, rozbor a historie sporu. In: Zprávy České společnosti rukopisné, roč. VI (2005), čís. 7, S. 161–179.

112

Teil I

gerade spreche, einem Werk, dessen Sprache und Formen bedeutend weniger kunstvoll erscheinen. Dabei gilt es heute als gesichert, daß die altslavische Sprache und ihre literarischen Denkmäler bedeutend höher als die Sprache und die literarischen Denkmäler der Slaven im Spätmittelalter einzuschätzen sind. Mir ist klar, meine Herren, daß diese Ausführungen durchaus keine große Bedeutung besitzen, und ich habe die Befürchtung, daß ich sie langweile; ich fühle mich jedoch verpflichtet, alle Details zu erklären, die die Erinnerungen der altertümlichen Slaven betreffen, Erinnerungen, die in einigen literarischen Fragmenten überliefert sind. Vergegenwärtigen muß man sich vor allem die große Teilung der Slaven in zwei Stämme bzw. in zwei Lager im ständigen Kampf, den ein Gelehrter als einen unterirdischen und überirdischen Kampf bezeichnete, und daß infolge dessen jede Idee, die die beiden Stämme erkannten oder die zu ihnen gelangt ist, einen doppelten Sinn erhielt, eine zweifache Anwendung und einen doppelten Ausdruck, immer gegen sich selbst gerichtet; man ging zuweilen so weit, daß man Ereignisse, Wörter oder Ideen vollends umdeutete, um aus ihnen lediglich ein Argument oder einen Beweis herauszufinden, der zur Unterstützung von Höherwertigkeit von Altertümlichkeit der einen Sprache gegenüber der anderen dienen kann. Mit der Entdeckung der Prager Handschrift [Grünberger Handschrift], deren Fragmente ins 7. Jahrhundert reichen, wurde die aktuelle Frage nach der Höherwertigkeit von Altertümlichkeit zugunsten der tschechischen Sprache entschieden. Sogar die Russen widersetzten sich nicht gleich dieser Lösung, später aber haben einige Verdachtsmomente, die aus der Idee und aus dem immer gegengerichteten System resultieren, den Tschechen die Freude an dem Privileg der anerkannten Erstplazierung verdorben. Die erneut aufgegriffene Disputation gab Anlaß zu einer heftigen literarischen Fehde. Dobrovský starb in dem Schmerz, daß er die Entscheidung über die Frage der Priorität von Altertümlichkeit nicht mehr erleben durfte. Dieser heftige Streit hält unter den slavischen Gelehrten bis heute an. Neben vielen anderen befehden sich Kopitar und Palacký nach wie vor.169 Die Heftigkeit des Streits war so groß, 169 Jernej Kopitar (1780–1844). Slovenischer Sprachwissenschaftler. Vgl. die Edition – Bartholomäus Kopitars „Streitschriften“, eingeleitet, erläutert und im Nachdruck herausgegeben von Wolfgang Kessler. Neuried 1986; František Palacký (1798–1876); vgl. Die ältesten Denkmäler der böhmischen Sprache: Libušas Gericht, Evangelium Johannis, der Leitmeritzer Stiftungsbrief, Glossen der Mater Verborum. Kritisch beleuchtet von Paul Joseph Šafařík und Franz Palacký. Prag 1840, S.  167–186 (§ 23–24). Vgl. auch Ignac Jan Hanusch. Die gefälschten böhmischen Gedichte aus den Jahren 1816–1849. Prag 1868 [https://archive. org/details/diegeflschtenbh01hanugoog]; und den Sammelband von Dalibor Dobiáš,

11. Vorlesung (2. Februar 1841)

113

daß Kopitar einen polnischen Schriftsteller, einen Juristen und hochgebildeten Philologen170, verurteilte wegen seiner Neigung zur russischen Idee. Dobrovský fürchtete sich bis an sein Lebensende, seine definitive Meinung zu sagen, er wollte nicht seinen guten Namen als Kritiker, der ihm vom berühmten Goethe zuerkannt wurde, aufs Spiel setzen. Als Ersten verdächtigte man der Fälschung dieses poetischen Fragments Jungmann171; zu Unrecht, denn er ist ein gelernter Lexikograph, der sich niemals mit Poesie beschäftigte und auch nicht in der Lage ist, Verse zu schreiben. Hanka dichtete in seiner Jugend einige Gedichte, die jedoch keineswegs bezeugen, daß er zu einer solchen Fälschung fähig wäre; dennoch hat man ihn beschuldigt, daß er sich auf diese noble Fälschung einließ, um seinem Vaterland die bestrittene Höherwertigkeit der Altertümer zu sichern. Das war die Überzeugung von Dobrovský und einigen anderen slavischen Gelehrten.172 Um dieser Ansicht zu widersprechen, muß man das Schöne und die naive Feinheit des Stils dieser Werke in Augenschein nehmen, die jene Autoren niemals hätten authentisch nachahmen können, ebenso die historischen Details, die von den Tschechen gewöhnlich ignoriert werden, in den Werken aber genau angegeben werden; ein ähnlich Vorwurf widerspricht in keiner Weise dem Privileg auf die Höherwertigkeit der Altertümer, zugeschrieben auf dieser Grundlage dem westlichen Dialekt, der in den literarischen Erzeugnissen des 7. Jahrhunderts verwendet wurde.] Der Kampf, welcher diesem Gesang den Ursprung gab, der Kampf des Heidentums mit dem Christentum währt durch die slavische Literatur bis auf den heutigen Tag fort. Viele Slavenfreunde sind bemüht, ihn anzufachen. Eingenommen für die Altertümer ihres Landes, und glaubend, die christliche Religion habe ihnen die Vernichtung gebracht, sind sie derselben feind. Es rührt dieser von der irrigen Vorstellung von der Art und Weise, wie sie sich begründete, her: immer betrachten sie dieselbe als ganz neu und mit Gewalt aufgedrungen. Das Christentum darf jedoch nicht als eine Neuheit angesehen werden, denn nicht kam dasselbe, die alten Überlieferungen zu vernichten, sondern sie auszulegen und zu vervollständigen, was gerade den Charakter Kateřina Piorecká, Michal Fránek & Martin Hrdina: Rukopisy královédvorský a zelenohorský a česká věda (1817–1885). Praha 2014. 170 Wacław Aleksander Maciejowski (1792–1883). Vgl. die 19. Vorlesung (Teil II). 171 Josef Jungman (1773–1847), Schriftsteller und Philologe. Werke: Slownik c̆esko-nĕmecký Josefa Jungmanna. Praha 1835–1839 (5 Bände); Josef Jungmann: Historie literatury české aneb Soustavný přehled spisů českých s krátkou historií národu, osvícení a jazyka. Praha 1825. Übersetzte ins Tschechische – François-René de Chateaubriand (Atala), Johann Wolfgang von Goethe (Hermann und Dorothea), John Milton (Paradise Lost), Friedrich Schiller (Die Glocke). Vgl. Alois Jedlička: Josef Jungmann a obrozenská terminologie literárně vědná a linguistická. München 1991. 172 Vgl. dazu die Fußnote 161 in der 10. Vorlesung (Teil I).

114

Teil I

des Fortschritts ausmacht. Allgemein ist bekannt, daß zwischen den Dogmen des Christentums und den heidnischen Überlieferungen ein Zusammenhang besteht. Die christliche Religion hat das Opfer nicht aufgehoben, nur seine Bedeutung enthüllt, sie hat den Begriff des bösen und guten Urwesens nicht ausgelöscht, nur ihr Verhältnis aufgeklärt; sie vereinigte sich folglich mit den wesentlichen Bedingungen des Glaubens der Heiden. Die Slaven der nördlichen Gegenden und der von den Normannen regierten Länder haben das Christentum, indem sie ihre altertümlichen Vorstellungen bewahrten, ohne Widerstand angenommen, und es gibt unter ihnen kein Beispiel von Kriegen aus dieser Ursache. Im Süden und Westen traf die christliche Religion darum auf Widerwillen, weil sie zugleich mit einer politischen Idee auftrat: deutsche Ritter führten sie ein, sich als Eroberer darstellend. In Polen erlosch sehr bald der anfangs angefachte Widerwillen; aber stark entbrannte er in den an Polen und Deutschland angrenzenden slavischen Ländern, wo der deutsche Feudalismus unter dem Vorwande der Verbreitung des Glaubens Christi eindringen wollte. Dieser Kampf hat daher mehr eine politische als religiöse Färbung, und es ist nicht schwer, das Christentum vor den ihm gemachten Vorwürfen zu verteidigen, im Gegenteil, mir Leichtigkeit kann man die großen Verdienste, die es geleistet, beweisen. Wenig hat man bis jetzt seinen Einfluß auf den häuslichen, sozialen und politischen Zustand des Slaventums betrachtet; ihm jedoch gehört die gänzliche Vollendung der Organisation dieser Länder und die Sicherung ihrer Unabhängigkeit. Die christliche Einrichtung der Familie durch das Sakrament der Ehe war schon eine große Reform der Slaven und näherte sie den Völkern des Westens. Ohne den Einfluß des Christentums hätte die innere Gewalt und Einheit der Reiche bei ihnen wohl nie entstehen können. Rußlands Fürsten und Polens Könige wurden erst dazumal wirkliche Vergegenwärtiger des Volkstums, als die ersten von den Bischöfen der östlichen Kirche, die zweiten von den Päpsten anfingen gesalbt zu werden. Dem Christentum ist hier noch das öffentliche, das Kunst- und sittliche Leben zu verdanken. Mit der Verbreitung des christlichen Glaubens wurde das die Slaven vereinigende Band enger. Die auf dem Kirchturm angebrachte Glocke war das erste Zeichen ihrer Vereinigung, zum ersten Mal kündigte sie ihnen durch ihren Laut an, daß sie Mitglieder einer großen Gesellschaft seien. Später diente diese Glocke als politisches Organ, rief die Slaven zu Beratungen (wiecie) herbei, ward das Sinnbild ihrer Unabhängigkeit. Die Seiten der Kirchen sind die erste steinerne Bauart im Slaventum, und das einzige Meisterwerk der Architektur. Die Einführung von Feiertagen, das Volk, wenn auch nur einige Tage der Arbeit und bloß materiellen Beschäftigungen entziehend,

11. Vorlesung (2. Februar 1841)

115

zwang sie unter Nachdenken und Vergnügungen sittlich zu leben. Endlich der Religionsunterricht in Kirchen und von Geistlichen gegründeten Schulen bewirkte eine wahre Revolution im Slaventum, das vorher keine öffentliche Aufklärung kannte. Alle diese christlichen Begründungen der Familie, der Pfarreien, der politischen Einheit der Reiche, die Feiertage, Kanzeln und Schulen vollendeten die große Reform des Slaventums. Von nun an ward dasselbe eine europäische Gesellschaft und trat in Bündnis mit den Völkern des Westens.

12. Vorlesung (5. Februar 1841) Die übrigen Dichtungen in der „Königinhofer Handschrift“ – Das Poem über die Tochter Kublai-Khans – Der religiöse Dualismus der Slaven: die katholische und die orthodoxe Kirche – Die Chronikenschreiber: Nestor und Gallus.

Die Heldengedichte in der „Königinhofer Handschrift“ geben eine Vorstellung von der historischen Poesie der Tschechen. Wir wollen sie nicht einzeln auseinandersetzen, zumal da nicht alle so alt sind und die Authentizität mehrerer sogar verdächtig scheint. Eins von ihnen gehört dem Ende des 13. Jahrhunderts an und erzählt eine Schlacht der Christen gegen die Tartaren. Dies ist das einzige Denkmal einer gleichzeitigen Dichtung, welche diesen Gegenstand besingt. Bemerkenswert ist, wie hier der Dichter die Ursache des Tartareneinfalls auffaßt; sie ist poetisch ersonnen. Die Tochter Kublai Khans, des aus Marco Polos173 Memoiren bekannten Kublai Khan, begehrte Europa zu sehen, nachdem sie von den Schätzen und Wundern der westlichen Länder gehört, und, von einem glänzenden Hofstaate begleitet, unternahm sie die Reise. Die Deutschen, durch ihre Schönheit und ihr Geschmeide angelockt, legten einen Hinterhalt im Wald, nahmen sie gefangen, beraubten und ermordeten sie. Kublai, davon benachrichtigt, wollte kaum der traurigen Botschaft Glauben beimessen, setzte dann ganz Asien in Bewegung, und an der Spitze unzähliger Scharen Rache schnaubend, überzog er die Christen mit Krieg, unterjochte Rußland, plünderte Polen aus und verheerte Ungarn. Hier beschreibt der Dichter den allgemeinen Schrecken und das mörderische Haupttreffen der Tataren mit den christlichen Heeren, wahrscheinlich bei Liegnitz. Die Tataren galten den Slaven als Zauberer, was man sich dadurch erklären kann, daß sie Schießpulver und feurige Wurfspeere gebraucht haben. Vor der Schlacht läßt auch Kublai seine Zauberer und Wahrsager zusammenrufen, um den Ausgang des Kampfes vorherzuwissen. Von allen Seiten eilen Zauberer, Wahrsager und Wundertäter herbei, teilen sich in zwei Parteien, und nachdem sie in der Mitte einen schwarzen Stab aufgestellt, spalten sie denselben in zwei Hälften, geben der einen Kublas Namen, der anderen den der christlichen Könige. Unter dem Zaubergesang geheimnisvoller Worte stellten sich beide Teile des Stabes gegeneinander zum Kampf, rangen miteinander,

173 Marco Polo (ca. 1254–1324); vgl. Marco Polo: Die Beschreibung der Welt: die Reise von Venedig nach China, 1271–1295. Hrsg. Detlef Brennecke. Wiesbaden 2013.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_013

12. Vorlesung (5. Februar 1841)

117

und es überrang Kublais Teil. Wie denn auch wirklich die Tataren den Sieg davontrugen.174 Die lyrischen Dichtungen der „Königinhofer Handschrift“ verdienen nicht soviel Aufmerksamkeit, daß wir uns hier länger aufhalten; wir werden übrigens von ihnen noch bei Erwähnung der Poesie der Serben sprechen, bei denen diese Gattung soviel Schönheit und Ursprünglichkeit bewahrte. Lange vor der Zeitangabe dieser Dichtungen gab es schon in der Rus’ und in Polen Literaturdenkmäler. Den Ursprung dieser bereits vom Christentum durchdrungenen Literatur muß man erforschen. Wir haben gesehen, daß innerhalb des Slaventums zwei Reiche entstanden, welche aus dem Zoophytenleben vorerst ins animalische übergegangen, durch die Annahme des Christentums ein Menschenleben zu atmen begannen. Die Umstände, unter welchen diese Religion eingeimpft wurde, der Charakter und die Organisation der Geistlichkeit, das Verhältnis der geistlichen Gewalt zur weltlichen, alles dieses war in beiden Ländern gänzlich verschieden. Die Polen mußten ebenso, wie die Süd- und Westslaven, aus Politik Christen werden. Denn erstens konnte bei ihnen ohne Christentum sich keine Regierung gestalten, und dann hatten sie kein anderes Mittel, das Volk vor dem drohenden Verderben zu schützen. Schon zu Dagoberts175 Zeiten wurden die DonauSlaven von den Franken unterjocht; bald wurden aber die deutschen Kaiser noch schrecklichere Feinde für sie. Das ungeheure deutsche Reich, gestützt auf den Feudalismus, welcher durch Privilegien der freien Städte modifiziert und durch die Macht der Kirche in Schranken gehalten wurde, entbehrte im 174 Die entsprechende Stelle, ein Fragment aus dem Gedicht „Jaroslav“. In: Kralodworsky rukopis, op. cit., S. 120–121; dt. Übersetzung – S. 121–123, lautet: Kublaj káže vsěm svým čarodějém, Kublay rufet seine Zaub’rer alle, hadačém, hvězdářém, kúzelníkóm, Sternenkundige, Seher und Schwarzkünstler, aby zvěstovali uhodnúce, Zu erforschen, dann ihm zu verkünden, kteraký by konec boj jměl vzieti. Welchen Ausgang dieser Krieg wird nehmen. Sebrachu sě naliť čaroději, Eilig sammelten sich die Zaub’rer alle, hadači, hvězdáři, kúzelníci, Sternenkundige, Seher und Schwarzkünstler, na dvě straně kolo rostúpichu Schritten einen Kreis ab von zwei Seiten, i na dlí trest črnú položichu Einen schwarzen Stab entlang d’rein legend, i ju na dvě pólě rozcepichu. Den zerspellen dann sie in zwei Teile. Prvéj póle „Kublaj“ imě vzděchu, „Kublay“ nannten sie die eine Hälfte, vteréj póle „králi“ imě vzděchu, Und die zweite nannten sie die „Fürsten“; vetchými slovesy nad sim vzpěchu. D’rüber singen sie uralte Sprüche. 175 Vgl. dazu – Scriptores rerum Merovingicarum  2: Fredegarii et  aliorum Chronica. Vitae sanctorum. Hrsg. Bruno Krusch. Hannover 1888, Kap. 68, S. 154–155 (= Monumenta Germaniae Historica); im Internet unter [http://www.dmgh.de]. Deutsche Übersetzung – Die Chronik Fredegars und der Frankenkönige […]. Übersetzt von Otto Abel. 2. Auflage. Leipzig 1888, Kap. 68 (S. 40–41).

118

Teil I

Innern einer großen Festigkeit, war aber übermächtig, sobald es im Geiste des Jahrhunderts sich für die christliche Sache erhob. Es ist bekannt, welche Macht die deutschen Kaiser den Türken entgegengesetzt haben. Auf den Ruf im Namen des Glaubens ging alles samt und sonders, freie Städte, Innungen, Barone. So wuchtete nun diese Masse mit ihrer ganzen Last auf den Slaven. Die Kirche feuerte dazu an, und die Privatleute wurden dazu gelockt, denn sie fanden Gelegenheit, eigne Stiftungen zu gründen. Man muß aber nicht meinen, daß sie ein Handelsinteresse dazu bewog; nichts war ihnen mehr fremd, als der Gedanke an Gewinn. Die Barone, welche auf Brandenburgs oder Großpolens Sand, oder mitten in den Morästen von Preußen sich anzusiedeln eilten, verließen sehr häufig reiche Ländereien, die Ufer des Rheins. In diesen wilden Gegenden erwartete sie ein hartes Leben voller Gefahren und Mühsale. Immer in der Rüstung zu leben gezwungen, sahen sie vielmals ihre Frauen und Kinder gemordet, und selten starb einer von ihnen ruhig auf seinem Lager. Was trieb sie also an, sich in diese Kämpfe und Beschwerden zu wagen? Dasselbe, was heut zu Tage reiche Leute in die Laufbahn politischer Bewegungen treibt – die Idee der Zeit, das Vorgefühl einer großen Zukunft. Der Kampf mit den Deutschen fiel für die Slaven höchst ungleich aus. Die Deutschen brachten die feste und ausgebildete Lehnsverfassung mit; die Slaven dagegen konnten ihnen nur ungeregelte Haufen entgegenstellen. Die Barone waren von keinem Haß gegen das slavische Geschlecht beseelt; überall, wo sie die Eingeborenen bekehrt hatten, gewährten sie ihnen denselben Schutz, wie den Ihrigen. Dessenungeachtet litten die Slaven unaussprechlich und verschwanden unter einer ihrer Natur widrigen Regierung. Im eroberten Land erhob sich sogleich die Burg des Lehnsherrn; neben derselben wurden Schmieden und Gewehr-Werkstätten errichtet. Deutsche Maurer bauten die Kirche, und bei dieser Arbeit entstanden Verbrüderungen, um in der Not den Verbündeten und Gläubigen Hilfe zu leisten; es bildete sich schnell eine Stadt, welche allmählich ihre ausländische Atmosphäre immer weiter verbreitete. Die von diesem Mittelpunkt zurückgedrängte slavische Bevölkerung, gedrückt durch die Elastizität des feudalen Wesens, außer Stande, ihre Sitten, Freiheiten und ihre Sprache zu bewahren, wurde überall, wo nur germanische Einrichtungen eingeschritten waren, verdrängt, obgleich sowohl die Barone, als auch die Päpste es inständig wünschten, ihr eine günstige Lage zu sichern. Welch ein Mittel gab es also, dieser Vernichtung Einhalt zu tun? Kein anderes, sagt ein Geschichtsschreiber176, als das Kreuz auf der Grenze aufzupflan176 Nach J. Maślanka (A. Mickiewicz: Dzieła. Tom VIII: Literatura słowiańska. Kurs pierwszy, op. cit., S. 657): Friedrich von Raumer: Geschichte der Hohenstaufen und ihrer Zeit.

12. Vorlesung (5. Februar 1841)

119

zen, um den deutschen Kaisern das Schwert aus der Hand zu schlagen. Denn aufrichtige Menschen wollten den Christen keinen Krieg bringen, und traten die Slaven durch die Annahme des Glaubens in die Gemeinschaft der Kirche, so konnten die Kaiser nur politische Mißhelligkeiten mit ihnen haben und kaum einen Teil ihrer Macht gegen sie richten. Mit der Zeit wurden sogar die slavischen Fürsten durch Bündnisse mit den Baronen und durch Befestigung ihrer Macht im Innern des Landes den Kaisern selbst furchtbar. Solche Vorteile kamen durch die Annahme der christlichen Religion über Tschechien und Polen. Anders war die Lage in der normannischen Rus’. Es hatte sich gegen niemand weiter zu wehren, als gegen die nomadischen Horden, die manchmal ins Innere des Landes drangen. Die unternehmenden Normannen (Waräger) verfuhren sogar selbst angriffsweise und überfielen oftmals das östliche Kaiserreich. Die Griechen, um sich vor diesen Einbrüchen zu sichern, bemühten sich, die Rus’ zu bekehren. Fürst Vladimir177, ein Zeitgenosse Boleslaus des Großen (Bolesław Chrobry)178, der letzte Beherrscher Rußlands, der noch neue Normannenscharen aus Norwegen und Schweden herbeiführte, wollte dem durch den Einfluß des Christentums schon untergrabenen Heidentum die alte Kraft wiedergeben; doch bald ließ er diese Absicht fahren und heiratete eine griechische Prinzessin. Man erzählt, er habe vor seiner Bekehrung zuerst darüber nachgedacht, welche Religion zu wählen sei. Er ließ also Rabbiner aus einer nahen Judenkolonie zu sich rufen, forderte katholische Priester auf und schickte eine Gesandschaft ab, um die Geheimnisse und Gebräuche der östlichen Kirche kennen zu lernen. Ein griechischer Weise zog ihn der Sage nach auf seine Seite, indem er ihm in lebendigen Farben das jüngste Gericht schilderte.179 Allein die östliche Kirche neigte sich dazumal zur völligen Trennung von der allgemeinen, und dieses Schisma vollendete den Bruch des slavischen Nordens. Der Keim des Schismas lag schon in der ersten Zeit des Christentums. 6 Bände; 2. Auflage. Leipzig 1841, Band  2, Viertes Buch, Fünftes Hauptstück (Kapitel – Heinrich der Löwe und die Slaven). 177 Vladimir  I.  Svjatoslavič (um 960–1015), Großfürst von Kiev. Vgl. A.Ju. Karpov: Vladimir Svjatoj. Moskva 1997. 178 Bolesław Chrobry (um 967–1050), erster König von Polen aus der Piasten-Familie. Vgl. Jerzy Strzelczyk: Bolesław Chrobry. Poznań 1999. 179 Vgl. das Jahr  986 [6494] in: Ludolf Müller (Hrsg.): Handbuch zur Nestorchronik. Band IV: Die Nestorchronik. Die altrussische Chronik, zugeschrieben dem Mönch des Kiever Höhlenklosters Nestor, in der Redaktion des Abtes Sil’verstr aus dem Jahre 1116, rekonstruiert nach den Handschriften Lavrent’evskaja, Radzivilovskaja, Akademičeskaja, Troickaja, Ipat’evskaja und Chlebnikovskaja und ins Deutsche übersetzt von Ludolf Müller. München 2001 (= Forum Slavicum. Bd. 56), S. 103–131.

120

Teil I

Griechenland, von Ewigkeit her das Vaterland der Philosophen, in der Dialektik geübt, an Polemik gewöhnt, konnte sich nicht in die im 6. Jahrhundert organisierte und noch früher durch viele Patriarchen der allgemeinen Kirche anerkannte Macht der römischen Bischöfe fügen. Übrigens suchten die Griechen nur einen Vorwand in der Dogmenlehre, um mit den minder zivilisierten und damals von Barbaren überfallenen Ländern zu brechen. Wenn also irgendein Bischof einen Vorwurf gegen die katholische Kirche erspähte, so war er gewiß, die Geistlichkeit und das Volk für sich zu haben. Um das Schisma zu vollenden, blieb nur übrig, die Unterstützung der Regierung zu erhalten. Nachdem Patriarch von Konstantinopel Photios den Regenten Bardas für sich gewonnen hatte, kündigte er Rom den Gehorsam auf und vollendete das seit langer Zeit sich heranbildende Schisma.180 Wichtige Folgen entsprangen hieraus für die östliche Kirche. Bis jetzt stützte sie sich auf Konzilien; aber mit dem Verfall dieser Grundlage hatte sie keine mehr außer der Regierung; sie ergab sich ihr also auf Gunst und Gnade und konnte ihr nie mehr die Spitze bieten. Von dieser Zeit an hörten folglich die Untersuchungen und Synoden auf; denn man befürchtete, daß aus ihnen irgendeine Meinungsverschiedenheit entstände, in welcher keine Berufung an ein höheres Tribunal mehr stattfand. Ferner mußte die Regierung nach logischer Notwendigkeit das Predigen verbieten; denn als Oberaufseherin ihrer Kirche fand sie kein Mittel, die von der Geistlichkeit verbreiteten Lehren zu kontrollieren, und hielt es für einfacher, die Kanzeln gänzlich abzuschaffen. So verlor also die östliche Kirche, statt jener unbegrenzten Freiheit teilhaftig zu werden, die man durch das Losreißen vom Apostelstuhl zu erlangen gehofft hatte, gänzlich ihre Unabhängigkeit und verstummte. Unter so bewandten Umständen nahm die Rus’ die Religion des griechischen Ritus an. Der ungeheure Unterschied zwischen der östlichen und westlichen Geistlichkeit spiegelte sich in der Bildung und Literatur der nördlichen Länder des Slaventums ab. Die Bischöfe des Ostens waren höchst fromme Männer, den Wissenschaften ergeben, aber fern von irgendeinem Einfluß auf die sozialen und politischen Bewegungen und Zustände. Sie befanden sich in einer ähnlichen Lage, wie heute die katholische Hierarchie; man betrachtete 180 Photios I. (um 820–891); Photius, der sich in der Slavenmission engagierte, sandte Slavenapostel nach Mähren. Dort kam es zum Konflikt zwischen Photius und dem Papst Nikolaus I., der in Mähren fränkische Missionare protegierte, die das Glaubensbekenntnis mit dem 589 in Spanien eingeführten „Filioque“ vertraten, welches Jesus Christus als Filius (Sohn) gegenüber Gott dem Vater gleichberechtigt macht; vgl. Hans-Georg Beck: Geschichte der orthodoxen Kirche im byzantinischen Reich. Göttingen 1980, S. 96–118; Georgi Karpiev: Philosophie in Byzanz. Würzburg 2005, Kap. 4.; Bardas war von 856 bis 866 Regent für den byzantinischen Kaiser Michael III.

12. Vorlesung (5. Februar 1841)

121

sie als einen Teil der Verwaltung, als Staatsbeamten. Ganz anders führten die Bischöfe der westlichen Kirche ein praktisches Leben; sie gaben Werke heraus, schrieben Gesetze, griffen in die öffentlichen Angelegenheiten ein und kämpften sogar in Schlachten. Man sah sie im königlichen Rat, an der Spitze der Provinzial-Versammlungen, in Parlamenten, Gerichtshöfen, kurz überall. Es war die tätigste Klasse im Mittelalter. Die Klöster, welche in den germanischen und romanischen Ländern eine so bedeutende Rolle spielen, sind im Gebiet des griechischen Ritus kaum zu bemerken. Die östliche Kirche hatte nur einen Mönchsorden, den des heiligen Basilius181, wo diejenigen Zuflucht fanden, welche sich der Wissenschaft und dem beschaulichen Leben widmen wollten, während in der westlichen Kirche sich je nach den Zeitbedürfnissen Ordensregeln bildeten und spater Ritterorden entstanden, von denen einer die Verhältnisse der am baltischen Meer liegenden Gegenden veränderte und den Grundstein für das Königreich Preußen legte. Die Nationalfreiheiten der katholisch-slavischen Länder hatten ihre Quelle in der Kirchenverfassung. Der polnische König (Boleslaus der Kühne), welcher einen Erzbischof182 getötet, verlor die Krone, und seitdem fingen die Bischöfe in Polen an, für unverletzlich zu gelten. Sie hatten neben den weltlichen Herren Sitz im Senate und genossen in den Landtagen dieselben Vorrechte. Davon sah man nichts im Reich der Rus’. Was von der alten Freiheit in ihm geblieben war, das schloß sich in den Städten ein und konnte aus denselben schon nicht mehr herauskommen; hingegen nahm die Freiheit der Polen, nachdem sie sich vorerst im Kreise des königlichen Rates, dann der Landtage ausgebildet, endlich öffentlich das Wort. Auch das persönliche Ansehen der Geistlichkeit war in beiden Ländern gänzlich verschieden. Ungeachtet der festem Disziplin und der oft vollkommneren Sittenstrenge, erfuhr die altrussische Geistlichkeit von Seiten des Volkes und der Herrscher eine kränkende und gröbliche Behandlung.183 In Polen findet 181 Vgl. Horst Enzensberger: Basilianer. In: Lexikon des Mittelalters (LexMA). Band  1, München-Zürich 1980, Sp. 1523–1525. 182 Stanisław ze Szczepanowa – Stanislau von Krakau (um 1030–1079), Bischof von Krakau; vgl. Marian Plezia: Dookoła sprawy św. Stanisława. In: Analecta Cracoviensia, 11 (1997), S. 252–413; Agnieszka Rożnowska-Sadraei: Pater Patriae. The cult of Saint Stanislaus and the patronage of Polish kings 1200–1455. Kraków 2008. 183 Hier folgt ein Abschnitt aus der Übersetzung von L. Płoszewski (A. Mickiewicz: Dzieła. Tom VIII: Literatura słowiańska. Kurs pierwszy, op. cit., S. 145, der in der französischen Edition und bei Wrotnowski (1865) fehlt: [In einem serbischen Lied wird berichtet, daß man einst, als es darum ging, wem die Krone gebührt, damit begann, die Meinung eines frommen griechischen Bischofs einzuholen (das Ereignis findet nämlich in einem Land statt, das zur östlichen Kirche gehört); was man beschloß, wurde unverzüglich ausgeführt; man schickte einen Boten, damit er den Heiligen findet. Als der Bote dort ankam und erfuhr, daß der Heilige in der Kirche weilt, geht er in die Kirche und schlägt den Bischof

122

Teil I

man kein ähnliches Beispiel der Verachtung und Grobheit gegen die katholischen Priester. Wenn manchmal polnische Schriftsteller und Dichter Haß gegen die Priester äußern, so ist selbst dieser Haß mit einer gewissen Hochachtung verbunden. Derselben Ursache wegen, aus welcher im östlichen Kaisertum die Lehrund Kanzelfreiheit der Kirche genommen wurde, verboten später schon nicht mehr die die Fürsten der Rus’, sondern russische Zaren den Geistlichen, die Landesgeschichte aufzuzeichnen. Lange waren die Priester hier die einzigen Schriftsteller und beschäftigten sich mit Abfassung von Chroniken, trugen in ihre Jahrbücher gleichzeitige oder frühere Ereignisse ein, und weil dieses zur Beurteilung der Verhältnisse nach subjektiven Ansichten Veranlassung gab, so mußte es in den Augen der Regierung bedenklich und gefährlich erscheinen. Der älteste slavische Chronikenschreiber, einer dieser Geistlichen, war Nestor184, ein Mönch des Kiever Höhlenklosters, gebürtig aus dem Gebiete zwischen dem Bug und Dnjepr, das stets der Zankapfel zweier Nachbarstaaten war und den Namen der Rus’ trägt. Nestor kannte keine Literatur des Westens, verstand nicht Lateinisch; er schöpfte sein ganzes Licht aus den byzantinischen Schriftstellern und hatte sich ganz in ihre Schreibart und Darstellungsweise hineingearbeitet. Allen politischen Ereignissen fremd, fern von den Schlachtfeldern, schrieb er in seiner stillen Klause auf, was er aus der mündlichen Überlieferung der Mönche über Landesgeschichte hörte. Diese Nachrichten reichten nicht über die Zeit des Normannen-Einbruchs. Er wurde in der Mitte des 11. Jahrhunderts geboren, beinahe zweihundert Jahre nach der mit der Peitsche, um ihn zu zwingen, das Anliegen des Volkes sofort zu erledigen.] – Es handelt sich um das Lied „Uroš i Mrnjavčevići“ (Zar Uroš und die Brüder Mrnjavčevići), in dem der Königssohn Uroš [später Zar Stefan Uroš IV. Dušan (1308–1355)] und die Adligen Vukašin Mrnjavčević, Uglješa Mrnjavčević und Gojko Mrnjavčević um die serbische Krone streiten. Sie einigen sich, den Rat beim Protopopen Nedeljko in Prizren zu holen, indem sie eine Gefolgschaft zu ihm entsenden. In der Kirche zu Pferde angekommen, „schwangen sie die gefloctenen Peitschen und schlugen auf den Protopopen Nedeljko ein“ („Потегоше плетене канџије, / Ударају протопоп-Недељка“). Nedeljko erklärt aber, diese Entscheidung könne nur sein Schüler, Kraljević Marko (Königssohn Marko), der Sohn von Vukašin Mrnjavčević, treffen. Kraljević Marko studiert die alten Bücher, konsultiert seine Mutter Jevrosima und eilt auf das Amselfeld (Kosovo polje), wo er den Protaganisten eröffnet, daß die Krone Uroš gebührt. Daraufhin bedroht ihn sein Vater mit dem Messer; Marko gelingt jedoch die Flucht. – vgl. „Uroš i Mrnjavčevići“, in: Vuk S. Karadžić: Srpske narodne pjesme. Knjiga druga u kojoj su pjesme junačke najstarije. Beograd 1958, S. 186ff. 184 Nestor (um 1056–um 1114), Mönch des Kiever Höhlenklosters; wird als Verfasser (oder Redakteur) der Teile der Nestor-Chronik („Povest’ vremennych let“) angenommen. Vgl. D.S.  Lichačev: Russkie letopisi i ich kul’turno-istoričeskoe značenie. MoskvaLeningrag 1947.

12. Vorlesung (5. Februar 1841)

123

Besitznahme der Rus’ durch Rjuriks Geschlecht; die slavische Geschichte dieses Landes kümmert ihn fast nicht mehr, und die normannische beschreibt er ohne Poesie, sehr einfach. Jedoch das, was er geschrieben, ist wichtig, besonders für die Geographie jener Gegenden. Nach dem Muster der Byzantiner beginnt er seine Jahrbücher mit einer Einleitung, welche die allgemeine Geschichte mit der Zeit und dem Gegenstande seiner Erzählung verbindet. Der gänzliche Mangel an Begeisterung und allgemeinem Überblick im Nestor gefiel gerade am meisten den Geschichtsschreibern185 des 18. Jahrhunderts, und diese haben ihn als Vorbild eines Historiographen aufgestellt. Seine einfache Darstellungsart verblendete sie so sehr, daß sie nicht wagten, gegen irgendwelchen chronologischen und geographischen Fehler in ihm sich zu erheben; sie wagten in keiner Hinsicht, die verletzte Wahrheit wiederherzustellen. Nestors Geschichte ist weder mehr noch weniger, und konnte es auch nicht sein, als nur ein Abglanz der byzantinischen Geschichte, der auf einen anderen Gegenstand gefallen war. Die Schriftsteller dieses östlichen Reichs hatten in der Zeit der Untergangsperiode keine poetische Begeisterung, kein höheres Streben, keine geistige Kraft mehr in der geschichtlichen Darstellung. Es sind Erzählungen eines schon abgestorbenen Volkes. Dieses trockene Wesen hat Nestor nur in Etwas durch die Anmut der schlichten, slavischen Frische belebt. Fast gleichzeitig mit Nestor erscheint ein polnischer Chronikenschreiber, mit Namen Gallus Anonymus.186 Man ist darüber nicht einverstanden, ob er ein Gallier oder Pole gewesen; die Forscher führen zwar verschiedene Gründe für und gegen das auf, was er geschrieben, berücksichtigen jedoch nicht im Mindesten den Rhythmus, das Maß seiner Verse, wo unter dem Latein, wie unter einer durchsichtigen Decke, der ganze Gang, die ganze Natur der echt polnischen Sprache durchleuchtet. Gallus war Kaplan bei Boleslaus Schiefmund (Bolesław Krzywousty), führte ein tätiges Leben im Frieden und im Kriege an der Seite des Königs. Er hat auch fremde Lander besucht und eine Reise nach dem heiligen Lande gemacht. Man sieht in ihn, beständig einen höchst beweglichen Mann, mit poetischem Geist begabt. Das Werk, welches 185 Vgl. August Ludwig Schlözer: Nestor. Russische Annalen in ihrer Slavonischen Grundsprache: verglichen, von Schreibfehlern und Interpolationen möglichst gereinigt, erklärt und übersetzt. Bd. 1–5. Göttingen 1802–1809; vgl. dazu – Hellmut Keipert: Das „Sprache“Kapitel in August Ludwig Schlözers „Nestor“ und die Grundlegung der historischvergleichenden Methode für die slavische Sprachwissenschaft, op. cit. 186 Gallus Anonymus (Gal Anonim) – gestorben um 1116; vgl. Eduard Mühle: Cronicae et gesta ducum sive principum Polonorum. Neue Forschungen zum so genannten Gallus Anonymus. In: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters, Bd. 65 (2009), S. 459– 496; Johannes Fried: Kam der Gallus Anonymus aus Bamberg? In: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters, Bd. 65 (2009), S. 497–545.

124

Teil I

er hinterlassen, hält die Mitte zwischen einer Chronik und einem Gedicht. Er erzählt hier die Geburt und die glänzenden Taten seines Monarchen; aber er verfolgt dessen Geschichte nicht bis zum Tode. Fast jedes Kapitel beginnt mit einer poetischen Anrufung, und wird oft durch Gebete unterbrochen und beendigt. Er schiebt dabei Übersetzungen von Kampfliedern der Deutschen und der benachbarten Slaven hinein. Gewöhnlich ist er heiter, scherzhaft, von scharfer Auffassung der Dinge; manchmal vergeht er sich gegen die Wahrheit durch allzu große Übertreibung in der Darstellung der Ereignisse, behält jedoch immer das Ganze vor Augen, und sein Werk macht auch ein geographisches und historisches Ganze aus. Obgleich er sich des Lateins bedient, so scheint ihm doch die polnische Sprache stets im Sinne zu liegen; im Liederbau besonders beobachtet er immer jenen Versfall der nationalen Kirchenlieder, und wie er sich in den polnischen Kirchen-Gesangbüchern noch erhalten hat. Das Wort Vaterland fließt ihm beständig aus der Feder, und er gebraucht dasselbe schon in der ausgedehntesten Bedeutung. Selbst ein polnischer Kritiker187, der selten einmal die Geschichte seines Volkes versteht, hat dieses bemerkt und ausgesprochen, daß das Vaterland bei Gallus nicht bloß die Erdscholle bedeute, sondern daß er etwas anderes darunter verstanden habe. Gallus begreift in der Tat die Gesamtheit der Bestrebungen, der Freiheiten und des Ruhms der Nation unter diesem Worte. Die ruhmvollen Taten Polens, seine fruchtbaren Gefilde, üppigen Wälder, stämmigen Männer, zahlreichen Herden, dies alles faßt er unter dem Worte Vaterland (patria) zusammen; von allem spricht er mit Liebe, Begeisterung und Stolz, wie ein für sein Land glühender Pole.188 Keine Ähnlichkeit ist zwischen ihm und Nestor, der gehörte Dinge kalt erzählt. Eher könnte man ihn vergleichen mit den gleichzeitigen Dichtern des Westens, den Troubadours und Minnesängern.

187 Jan Wincenty Bandtkie (1783–1846) im Vorwort seiner Edition – Martini Galli Chronicon ad fidem codicum qui servantur in Pulaviensi tabulario celsissimi Adami principis Czartoryscii, palatine regni Poloniarum […], adjecit Joannes Vincentius Bandtkie. Varsaviae MDCCCXXIV [1824], S.  XIX und XXII. Im Internet – [http://reader.digitale sammlungen.de]. 188 Die entsprechende Stelle bei Gallus (Martini Galli Chronicon, op. cit., S. 17) lautet: Es ist das Land, wo die Luft gesund ist, der AckerPatria, ubi aër salubris, ager fertilis, boden fruchtbar, der Wald von Honig fließend, silva melliflua, aqua piscosa, das Wasser fischreich, wo die Krieger kriegerisch milites belliciosi, rustici laboriosi, sind, die Bauern arbeitsam, die Pferde ausdauequi durabiles, boves arabiles, ernd, die Stiere zum Pflügen geeignet, die Kühe vaccae lactosae, oves lanosae. reich an Milch, die Schafe reich an Wolle.

13. Vorlesung (9. Februar 1841) Der dualistische Charakter im slavischen Schrifttum – Zwei christliche Kirchen im Slaventum – Polen im XI. Jahrhundert – Der heilige Wojciech (Adalbert von Prag) als Patron Polens; sein Märtyrertum sein polnisches Nationallied – Die polnischen König haben nicht immer seine Botschaft verstanden – Vergleich der Chronikenschreiber: Nestor, Gallus, Thietmar von Merseburg und Cosmas von Prag; literarische Merkmale dieser vier Chronisten – Ursprung der Dialekte – Slavische Dialekte als besondere Sprachen – Ursachen der Entstehung und des Untergangs von Sprachen.

Die unterscheidenden Merkmale der Reiche, in welche sich das slavische Geschlecht gespalten, lassen sich auch aus den geschichtlichen Denkmälern in Geist, Charakter und Form der jedesmaligen Chroniken ersehen. Wichtig wäre es zu ermitteln, was die Ursache zu einer solchen oder andern Form dieser Denkmäler gewesen. Schon haben wir die Umstände gesehen, welche der Einführung des christlichen Glaubens in der normannischen Rus’ und in Polen beigesellt waren. Um diese Geschichte des Christentums zu ergänzen, ist es notwendig, noch einiger Modifikationen, denen das Dogma selbst und die Kirchenregel in diesen Gesellschaften sich unterziehen mußte, zu erwähnen. Die über die Rus’ herrschenden Normannenfürsten hatten, nachdem sie die christliche Religion der östlichen Kirche angenommen und den Untertanen aufgedrungen, einigermaßen die Oberhand über die Kirche sich zugeeignet, und waren fortwährend bemüht, dieses Umstandes zu eignem Vorteil sich zu bedienen. Das Christentum breitete sich hier langsam aus, streute den Samen für eine zukünftige Entfaltung; aber in das gesellige Leben einzudringen vermochte es nicht. In den Ländern Polens, in den Ländern der Lechiten und Tschechen hemmten Hindernisse anderer Art den Fortschritt des Christentums. Die Lechen und Tschechen bildeten eine Art bewaffneter Macht, sie waren ein ritterlicher Stand, machten schon gleichsam eine aristokratische Republik aus. Dieser Republik zeigte sich das Christentum in zwiefacher Rücksicht drohend: erstens heiligte es die königliche Gewalt, gab derselben eine Macht, die mit der überlieferten Ordnung der Lechen und Tschechen im Widerspruch war; zweitens erriet der ritterliche Stand instinktmäßig, daß es für die Massen Versprechungen enthielt. Diese Rasse nahm daher jedesmal die christliche Religion willig auf, sobald sie ihnen ihr Recht angesichts der Könige sicherte, hielt aber deren Entwicklung und Folgerungen immer auf, sobald es sich nur um die Anwendung auf das Volk handelte. Neben diesen beiden politischen Hemmnissen zeigte sich noch ein drittes, aus der Zusammenschmelzung der

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_014

126

Teil I

Stammgesellschaften entspringend. Die lechitische und tschechische Ritterschaft, nach der Beschreibung der Byzantiner, bestand aus tapferen, sorglosen und leichtsinnigen Männern. Mit den Slaven sich vermischend fügten sie ihrer Lebendigkeit noch die slavische Derbheit der Sitten und Sinnlichkeit bei. Die christliche Geistlichkeit von einer so beschaffenen Gesellschaft umringt, nahm allmählich den Nationalcharakter an, verlor Sittenstrenge, Würde und besonders den Enthusiasmus, der die Geistlichen des Mittelalters so auszeichnete. Den damaligen Charakter Polens hat treffend ein Chronikenschreiber jener Zeit geschildert, indem er von der Gesandtschaft spricht, die der polnische Fürst an den Papst, mit dem Verlangen der Königskrone, schickte. Der Papst gab geneigtes Gehör, schon war die Krone verfertigt, inzwischen erschien demselben ein Engel mit den Worten: die Polen seien noch nicht würdig, einen Gesalbten des Herrn zu ihrem König zu haben: Hec, inquit, gens magis diliget calumpniam, quam iusticiam, silvarum densitudinem et ferarum venacionem, quam camporum planiciem et frugum ubertatem, magis diligent canes, quam homines, plus pauperum oppresiones, quam divinas leges […].189 Dieses Volk – sagt er – liebt mehr die Übermacht als die Gerechtigkeit, hängt mehr an seinen Wäldern und Jagden, als an den Beschäftigungen des Ackerbaues und der Gesetzgebung; es hat seine Hunde und Pferde lieber als die Menschen, dazu der Armen Unterrdrückung mehr als göttliche Gesetze.

Die Päpste verweigerten damals lange Zeit den polnischen Fürsten den Königstitel. Die katholischen Bischöfe in Polen stammten am häufigsten aus den Familien der Großen, und zeigten in ihrem Benehmen die Tugenden und die Fehler ihrer ritterlichen Abkunft. Die niedere Geistlichkeit, die Äbte, die Pröbste, vom niederen Adel stammend, besaßen gleichfalls ihren Patriotismus, ihre kriegerische Neigung und gesellige Zuvorkommenheit, kümmerte sich aber wenig um die Sache der Religion. Auf diese Weise hatten die Polen nach ihrer Bekehrung sich nicht gehörig bemüht, dem Christentum auch die benachbarten heidnischen Völkerschaften zu gewinnen, und entsprachen folglich ihrem hauptsächlichsten Beruf nicht; 189 [Wincenty z Kielczy]: Vita S. Stanislai. In: Martini Galli Chronicon ad fidem codicum qui servantur in Pulaviensi tabulario celsissimi Adami principis Czartoryscii, palatine regni Poloniarum […], vitamque S. Stanislai […] adjecit Joannes Vincentius Bandtkie. Varsaviae MDCCCXXIV [1824], S.  379–380; polnische Übersetzung in: Średniowieczne żywoty i cuda patronów Polski. Tłumaczyła J. Pleziowa, opracował Marian Plezia. Warszawa 1987, S. 282–283.

13. Vorlesung (9. Februar 1841)

127

denn den Glauben unter den Heiden zu verbreiten war dazumal der Hauptberuf, und die Nichterfüllung dieser Pflicht wurde später für Polen die Quelle tiefer Leiden. Die Könige rafften zahlreiche Scharen zusammen, unternahmen für diesen Zweck Eroberungszüge; sie fanden aber nur mit Schwierigkeit Apostel und Märtyrer bei sich. Die Apostel kamen aus fremden Ländern, es war notwendig, sie aus Tschechien und Deutschland einzuführen. Ein solcher Ankömmling, war der Heilige Wojciech (Adalbert von Prag)190, welcher kanonisiert, einer der polnischen Schutzheiligen ist und in der Geschichte Epoche macht. Wir müssen daher ausführlicher über ihn sprechen. Der Heilige Wojciech ist im Tschechenlande, in der Nähe der polnischen Grenze in einer ansehnlichen Lechitenfamilie geboren. Sein Vater war ein Graf und die Mutter eine Anverwandte des regierenden Fürstenhauses; diese Familie besaß ausgedehnte Verwandtschafts- und Freundschaftsverbindungen mit den Polen. Schon in der Kindheit für den geistlichen Stand bestimmt, schickte man ihn zur Erziehung nach Deutschland, dann bereiste er Frankreich, Italien und wurde nach seiner Rückkehr in Tschechien zuerst Subdiakon, dann Bischof zu Prag. Das Volk nahm ihn mit Begeisterung auf; es gefiel ihm, daß er gut slavisch sprach und sogar in dieser Sprache dichtete. Die Mächtigeren wie der gemeine Mann schätzten seine Sanftmut und Barmherzigkeit. Bald jedoch brach gegen ihn ein wütender Sturm los. Er führte neue Sitten ein, lud an seinen Tisch jeglichen Christen ohne Ansehen der Person, eiferte gegen den Sklavenhandel, weil die Juden damals in Tschechien und Polen Sklavenhandel trieben, endlich wollte er die Vielweiberei ausrotten. Dies Alles reizte die Prager dermaßen auf, daß sie ihren Bischof fortjagten. Dann wieder zurückgerufen und von Neuem verfolgt, wäre er beinahe das Opfer eines Aufruhrs geworden; seine Wohnung wurde abgebrannt und einige seiner Brüder ermordet. Nachdem sich der Grimm gelegt, suchte man ihn wieder durch Versprechungen zu gewinnen; er aber wollte nicht mehr seiner Diözese vorstehen, sondern dem Beruf nachgehend, den er längst gefühlt, ergriff er den Apostelstab. In dieser Absicht kam er nach Gnesen an den Hof Boleslaus des Großen, und eröffnete seinen Entschluß, die litauisch-preußischen Stämme, Polens gefährliche Nachbarn, bekehren zu wollen. Sehr freundlich von dem polnischen Monarchen empfangen, widmete er sich mehrere Jahre der Erlernung der Sprachen und Sitten dieser Völkerschaften, und fuhr dann auf der Weichsel 190 Tschechisch: Svatý Vojtěch (um 956–997). Vgl. A. Mickiewicz: Święty Wojciech. In: A. Mic­ kie­wicz: Dzieła. Wydanie Rocznicowe 1798–1998. Tom VII: Pisma historyczne. Wykłady lozańskie. Warszawa 1996, S.  149–159; ferner – Heiligenleben zur deutsch-slawischen Geschichte: Adalbert von Prag und Otto von Bamberg. Hrsg. Lorenz Weinrich und Jerzy Strzelczyk. Darmstadt 2005.

128

Teil I

in Begleitung von zwei Geistlichen nach Danzig herunter, von dort ging er nach Ostpreußen. Die Preußen boten ihm anfänglich keinen Widerstand, als er aber in einer Nacht sich erkühnte, in einen den Göttern geweihten Hain zu dringen und dort die Messe abzuhalten, zum Zeichen, daß Christus Besitz von diesem heidnischen Heiligtum nehme, fielen die Priester des Orts über ihn her und ermordeten ihn. Boleslaus der Große löste den Leib des Bischofs aus und setzte ihn in Gnesen bei. Das Gerücht vom Tod des Märtyrers und den Wundern an seiner Gruft erscholl durch die ganze Christenheit, und begann zahlreiche Pilger nach Gnesen zu ziehen. Otto III., ein andächtiger, treuherziger und guter Mann, der den heiligen Wojciech persönlich kannte und liebte, dazumal im Krieg mit dem polnischen Monarchen, schloß absichtlich Frieden, um den Leichnam des alten Freundes besuchen zu können. Mit zahlreichem und glänzendem Gefolge in Posen angelangt, ging er von dort barfuß bis nach Gnesen. Von Boleslau prachtvoll empfangen, nahm er die kaiserliche Krone von seinem Haupt, und sie diesem aufsetzend, rief er ihn zum König aus.191 Bis dahin hatten die polnischen Herrscher nur den fürstlichen Titel getragen, von nun an beginnt die christliche Geschichte des Königreichs Polen. Zugleich mit dem Königstitel erteilte der Kaiser dem Boleslau große politische und religiöse Vorrechte, er gab ihm die volle Gewalt, Bischöfe einzusetzen und die Angelegenheiten der Verwaltung der Kirche in seinem Lande selbst zu ordnen, was die Päpste kaum den Kaisern allein zu tun bewilligten. So wurde der Mittelpunkt des polnischen Reiches, der früher außerhalb der Grenzen in Deutschland, in Magdeburg gewesen, in das Innere des Landes hinübergetragen. Polen hatte mithin schon eine politische Hauptstadt, denn es besaß die religiöse, und zu jener Zeit war die religiöse Residenz zugleich der Mittelpunkt der politischen Einheit. Der Heilige Wojciech hat Polen die Krone gebracht und gezeigt, wohin es eigentlich das Schwert der Eroberung wenden müßte, außerdem hat er ihm ein poetisches Denkmal192 bis auf den heutigen Tag hinterlassen. Weder die Polen noch die Tschechen haben ein älteres, dessen Verfasser kundig wäre. Es ist dies eine Kriegshymne von ihm gedichtet, welche die Polen bis in das 16. Jahrhundert vor jeder Schlacht zu singen gewohnt waren, d.h. bis zu der Zeit, wo Polen zu erobern aufhörte. Einige Verse dieses berühmten Gesanges, der so häufig erwähnt und von den polnischen Historiographen wiederholt ist, wollen wir hier anführen. 191 Vgl. dazu den Sammelband: Polen und Deutschland vor 1000 Jahren. Die Berliner Tagung über den „Akt von Gnesen“. Hrsg. Michael Borgolte und Benjamin Scheller. Berlin 2002. 192 Mickiewicz schreibt hier – wie J.U. Niemcewicz – das Lied „Bogurodzica“ (Gottesmutter) irrtümlich dem Heiligen Wojciech (Adalbert) zu. Vgl. dazu J. Maślanka (A. Mickiewicz: Dzieła. Tom VIII: Literatura słowiańska. Rok pierwszy, op. cit., S. 660–661).

129

13. Vorlesung (9. Februar 1841)

Gewiß wird es wunderlich erscheinen, in ihm nichts Ähnliches mit den heutigen Kriegsgesängen zu erblicken, eigentlich klingt er mehr wie eine einfache und fromme Bitte an die Allerheiligste Jungfrau. Hier ist der Anfang davon: Bogarodzica, dziewica, Bogiem sławiena Maryja, U twego syna, Gospodzina, matko zwolona Maryja! Zyszczy nam, spuści nam. Kiryielejson. Twego syna Krciciela zbozny czas, Usłysz głosy, napełni myśli człowiecze.

O! Mutter Gottes! Jungfrau! von Gott erwählte / Maria, bei deinem Sohne dem Heilande / Du geliebte Mutter / Maria! gewähre uns, gib uns / Kyrie-Eleison / deines Sohnes / Des Täufers heiliges Reich. / Erhöre die Stimmen, erfülle der Menschen Gedanken:

Etwas weiter sagt er: Adamie, ty boży kmieciu, Ty siedzisz u Boga w wiecu.

O! Adam du Gottes Kmiez Du sitzest bei Gott im Rat.

Eine Vergleichung, die aus der alten geselligen Ordnung der Slaven entnommen ist: Domieść nas, swe dzieci, gdzie królują Anieli. Tam radość, tam miłość, tam widzenie Twórca Anielskie, bez końca: Tam się nam zjawiło diable potępienie, Ni srebrem, ni złotem nas z piekła odkupił, Mocą swą zastąpił. Dla ciebie, człowiecze, dał Bóg przekłuć sobie Bok, ręce, nodze obie.…

Bringe du uns deine Kinder da, wo Engel herrschen. / Da ist Freude, da ist Liebe, da sieht man / Ohne Ende das Schaffen der Engel: / Hier hat sich uns des Teufels Spuk gezeigt. /Er hat uns weder mit Silber noch Gold erlöst, / zeigte seine Macht. / Für dich, o Mensch, hat er seine Hüfte, Hände und Füsse durchbohren lassen …

Endlich schließt er das Lied mit der Vorbereitung zum Tod und mit Gebet: Już nam czas, godzina, grzechów się kajaci, Bogu chwałę daci, Ze wszymi siłami Bogu miłowaci. […] Tegoż nam domieści, Jezu Chryste miły, Byśmy z Tobą byli, Gdzie się nam radują już niebieskie siły. Amen, Amen, Amen, Amen, Amen, Amen, tako Bóg daj,

Schon nahet uns die Zeit und Stunde für die Abrechnung der Sünden, / Geben wir Gott die Ehre, / Lieben wir aus allen Kräften Gott. […] Dazu verhelfe uns, du lieber Jesu Christ, Daß wir mit dir sein, Wo sich unser freuen werden die Chöre der Engel.

130

Teil I Byśmy wszyscy poszli w Raj Gdzie królują Anieli.193

Amen, Amen, Amen, Amen, Amen, Amen, Amen, so gebe es Gott, Daß wir alle ins Paradies kommen, Wo die Engel Könige sind.

Die Sehnsucht nach dem Tod leuchtet schon in diesen Worten des Märtyrers durch, der mit seinem Blut den Boden der heidnischen Nachbarn Polens benetzte. Die polnischen Könige konnten jedoch nicht begreifen, was ihnen der Apostelstab anwies. Es gingen Apostel nach Preußen, nach Litauen und Pommern, und die Könige trachteten stets, die Länder der Rus’ und Tschechien zu erobern, die schon getauft waren, oder sie mischten sich in die Angelegenheiten des deutschen Kaiserreichs. Die Eroberungen Boleslaus des Großen, wenngleich noch so glänzend, blieben nutzlos für Polen. Er besaß schon fast ganz Böhmen, einen Teil Ungarns und die ungeheure Strecke der slavischen Länder von der Oder an bis zum Dnjepr, nach seinem Tod verlor jedoch Polen diese Eroberungen; da im Gegenteil die bekehrten preußischen und litauischen Lande später sich mit Polen zu einem einzigen Volkskörper vereinten. Aus dem also, was wir von den Hemmnissen der Ausbreitung des Christentums und von dem verschiedenen Charakter ber Geistlichkeit in den neben einander liegenden Ländern gesagt haben, kann man sich leicht den Unterschied zwischen den Chronikenschreibern der Rus’ und Polens erklären. Der schon erwähnte Nestor, ein einsamer Mönch, schreibt in seiner Klause die Vorfälle ohne irgendein Streben und einen politischen Gedanken, ohne Ziel und Plan auf. Nachdem er sein Buch „Povest’ vremennych let“ (Erzählung der vergangenen Jahre) benannt hat, bemüht er sich in demselben die schwindenden Überlieferungen zu bewahren. Sogar in Betreff der Form, ist er ungebildet, trocken und dunkel; die Abschnitte folgen bei ihm nacheinander, gleichsam wie abgerissene Sätze ohne Zusammenhang zu haben. Spricht er von Klöstern, über die Mönche, die Kirche, so fehlt es ihm nicht an Stoff, er verbreitet sich über die Sache, die er gut kannte, mit Vorliebe und Lust erzählte; muß er aber etwas von einer Schlacht sagen, so erzählt er gewöhnlich nur, wie sie endete, mit Sieg oder Niederlage; er will die Taten der Monarchen nicht beurteilen, lobt sie selten, tadelt nie. Bemerken kann man jedoch, daß er die Großfürsten der Rus’ gern mächtig gesehen, denn sie sind für ihn die Personifizierung des 193 Nach J. Maślanka (A. Mickiewicz: Dzieła. Tom VIII: Literatura słowiańska. Rok pierwszy, op. cit., S. 661) eine Fassung der „Bogurodzica“, die auf Julian Ursyn Niemcewiczs populär gewordenen „Śpiewy historyczne z muzyką i rycinami“ (Geschichtliche Gesänge mit Musik und Illustrationen), Warszawa 1816, zurückgeht, aber ungenau zitiert wird. Textvorlage von Niemcewicz vgl. [http://literat.ug.edu.pl]. Textkritische Ausgabe und Kommentierung der „Bogurodzica“ vgl.: Bogurodzica. Hrsg. Jerzy Woronczak. Wrocław 1962.

13. Vorlesung (9. Februar 1841)

131

Landes Rus’, und er sieht von der Seite der Barbaren die drohenden Gefahren vorher. Um den Stil Nestors zu zeigen, wollen wir hier eine Stelle seiner Chronik anführen. В лѣто 6559.] […] и в них же бѣ прозвутерь, именемь Ларионъ, мужь благъ, и книженъ и постникъ, и хожаше с Берестового на Дьнѣпръ, на холмъ, кде нынѣ ветхый манастырь Печерьскый, и ту молитвы творяше, бѣ бо лѣсъ ту великъ. Иськопа ту печеръку малу, 2-саженю, и приходя с Берестового, отпеваше часы и моляшеся ту Богу втайнѣ. Посем же возложи Богъ князю въ сердце, и постави его митрополитомъ святѣй Софьи, а си печерка тако ста.194 [Im Jahre 1051.] […] unter diesen war ein Presbyter mit Namen Ilarión, ein frommer und bücherkundiger Mann und ein Faster. Und er pflegte von Berestovo zum Dnepr zu gehen, zu dem Hügel, wo jetzt das alte Höhlenkloster ist, und dort sein Gebet zu verrichten; denn es war dort ein großer Wald. Und ergrub eine kleine Höhle, zwei Klafter groß, und kam von Berestovo und sang hier die Stunden und betete im Verborgenen zu Gott. Danach aber legte Gott dem Fürsten ins Herz, und er setzte ihn in der [Kirche der] heiligen Sophia als Metropoliten195 ein, diese Höhle aber blieb so [leer].196 194 Polnoe sobranie russkich letopisej. Tom pervyj: Lavrent’evskaja letopis’. Vyp.  1: Povest’ vremennych let. Izdanie vtoroe. Leningrad 1926, S. 155. 195 Zusatz in Klammern von Mickiewicz: („bis dahin nämlich wählte der Patriarch von Konstantinopel den Metropoliten“). 196 Die Nestorchronik, op. cit., S. 192. In der Płoszewski-Übersetzung (A. Mickiewicz: Dzieła. Tom VIII: Literatura słowiańska. Kurs pierwszy, op. cit., S. 156–157) folgt noch im Anschluß der Absatz: „Und nach nicht vielen Tagen war ein Mensch, mit weltlichem Namen , von der Stadt Ljúbeč. Und dem legte Gott ins Herz, in ein [fremdes] Land zu gehen. Der aber strebte danach, auf den Heiligen Berg zu gehen. Und er sah die Klöster, die dort waren. Und er ging umher und gewann die mönchische Lebensweise lieb. Und er kam in ein Kloster von den dort vorhandenen Klöstern und flehte jenen Abt an, er möge ihm das Mönchgewand anlegen. Der aber erhörte ihn und schor ihn und gab ihm den Namen Antónij. Und er unterwies ihn und belehrte ihn über die mönchische Lebensweise und sagte zu ihm: Gehe zurück in die Rus’, und der Segen vom Heiligen Berge sei . : Von dir werden viele Mönchen herkommen. Und er segnete ihn und entließ ihn, indem er ihm sagte: Gehe hin mit Frieden! Antónij aber kam nach Kiev und erwog, wo er leben könne. Und er ging durch die Klöster und gewann sie nicht lieb, da Gott es nicht wollte. Und er begann, durch die Waldschluchten und über die Berge zu gehen, suchend, wo Gott es ihm zeigen würde. Und er kam auf den Hügel, wo Ilarión die kleine Höhle gegraben hatte. Und er gewann diese Stätte lieb und siedelte sich in ihr an. Und er begann, mit Tränen zu Gott zu beten, indem er sprach: Herr festige mich an dieser Stätte! Und der Segen des Heiligen Berges und meines Abtes, der mich geschoren hat, sei auf dieser Stätte. Und er begann, hier zu leben, zu Gott betend, trockenes Brot essend und auch das nur einen Tag um den anderen, und Wasser mit Maßen trinkend und an der Höhle grabend. Und er gab sich nicht Ruhe weder bei Tag noch in der Nacht und

132

Teil I

Weiter beschreibt der Chronikenschreiber die Gründung des Klosters und das Aufblühen der Stadt Kiev um die Höhle197 herum, welche bis auf den heutigen Tag besteht und die Leichname vieler Märtyrer in sich faßt. Kiev also verdankt seinen Ursprung den Mönchen und die religiösen Andenken an den Ort gefesselt, bewirkten, daß es die Hauptstadt der Rus’ wurde. Das Volk gewohnt, sie als den Hauptsitz der Religion zu betrachten, verlangte nach Entstehen des Großfürstentums diese Stadt mächtig und berühmt zu sehen. Ebenso wie das Grab des heiligen Wojciech eine Zeitlang Gnesen den Vorrang unter den anderen polnischen Städten gab. Jedoch die polnischen Chronikenschreiber, welche, wie Gallus am Hof ihrer Herrscher lebten und die Gefahren mit ihnen teilten, mußten notwendig sich von Nestor in der Art der Erzählung, der Form und Schreibart unterscheiden. Nestor besaß keine anderen geschichtlichen Quellen als die byzantinischen. Die griechische Literatur zur Zeit des Abfalls der östlichen Kirche von der allgemeinen sank sogar schon in der eigenen Hauptstadt. Photius, der gelehrteste Mann seiner Zeit, war auch zugleich der gelehrteste unter den Griechen. Das Volk der Rus’, von Byzantium her zum Christentum bekehrt, konnte auch nichts mehr von dort entlehnen, als jenen geringen Rest der Literatur, der sich

verblieb in Mühen, in Wachen und Gebeten. Danach aber erfuhren [das] gute Menschen, und sie gingen zu ihm und brachten ihm, was nötig war. Und er wurde bekannt, wie der große Antonios. Und die zu ihm kamen, baten ihn um seinen Segen. Dann aber, als der große Fürst Jarosláv verschieden war, übernahm sein Sohn Izjasláv die Macht und setzte sich in Kiev [auf den Thron]. Antónij aber wurde berühmt im Russischen Lande. Izasláv aber erfuhr von seiner Lebensweise und kam mit seiner Gefolgschaft und erbat von ihm Segen und Gebet. Und der große Antónij wurde beinallen bekannt und geehrt. Und es begannen die Brüder zu ihm zu kommen, und er begann, sie aufzunehmen und [zum Mönch] zu scheren. Und es sammelten sich Brüder bei ihm, an Zahl 12. Und sie gruben eine große Höhle und eine Kirche und Zellen, die bis zum heutigen Tage da sind in der Höhle unter dem alten Kloster. Da aber die Brüder sich gesammelt hatten, sagte Antónij zu ihnen: „Siehe Gott hat euch, Brüder, gesammelt, und ihr seid vom Segen des Heiligen Berges. Denn mich hat ein Abt des Heiligen Berges [zum Mönch] geschoren, und ich habe euch geschoren. Und es sei auf euch der Segen zuerst von Gott, aber zu zweit von dem Heiligen Berge.“ Und da er ihnen dieses gesagt hatte, sagte er: „Lebet aber für euch. Und ich setze euch einen Abt. Ich selbst aber will mich auf jenem Berg niederlassen, allein, wie ich es auch zuvor gewohnt war, vereinzelt zu leben.“ Er selbst ging auf den Berg und grub die Höhle aus, die unter dem neuen Kloster ist, in welcher auch sein Leben endete, nachdem er, ohne jemals aus der Höhle herauszugehen, in Tugend gelebt hatte 40 Jahre, nicht herausgehend aus der Höhle, niemals, nirgendwohin, in der auch seine Reliquien liegen bis zum heutigen Tage.“ – Nestorchronik, op. cit., S. 192–194. 197 Kiever Höhlenkloster (Kievopečerskaja Lavra) – vgl. dazu Evgenij [Bolchovitinov]: Opisanie Kievopečerskoj Lavry. Kiev 1826; auch in: Evgenij Bolchovitinov: Vybrani praci z istoriï Kyeva. Kyjïv 1995, S. 271–392.

13. Vorlesung (9. Februar 1841)

133

noch unter der Dynastie der Komnenen198 neu belebt hatte. An den Chronikenschreibern der Rus’ sieht man nicht den mindesten Einfluß der griechischen Klassiker. Im Gegenteil aber blieb das Latein in der Kirche des Westens stets lebendig und angebaut. Die polnischen und tschechischen Autoren kannten Cicero, Virgil, Juvenal und Tacitus, sie strebten aus allen diesen Werken Nutzen zu ziehen, mit der Dichtkunst, der Beredsamkeit und Geschichtskenntnis der Alten sich vertraut zu machen. Anders konnte es sogar nicht kommen. Wie konnten sie in den Zeiten voll Bewegung und großer politischen Unternehmungen die kalten griechischen Chronographen als Muster wählen, oder die römischen Geschichtsschreiber aus der Epoche des Kaisertums nachahmen? – Die Kritiker werfen ihnen mit Unrecht eine Mischung verschiedener Schreibarten vor; diese Mischung entspringt gänzlich aus der Zusammenstellung einer Gesellschaft, die aus dem Zusammenfluss verschiedener Urelemente entstand. Gallus beginnt, wie wir schon gesagt haben, beinahe alle seine Kapitel mit Poesie, dann setzt er in Prosa fort und endet mit Gebet oder einer Elegie. Sein Werk den polnischen Bischöfen, die sich seiner annahmen, widmend, spricht er also: Ni vestra auctoritate suffultus, patres pretitulati, vestraque opitulatione fretus fierem, meis viribus in vanum tanti ponderis onus subirem, et cum fragile cymba periculose tantam equoris immensitatem introirem. Sed secures nauta poterit in navicula residens per undas sevientis freti navigare, qui nauclerum habet peritum, qui scit eam certam ventorum et syderum moderamine gubernare. Nec maluissem quoquomodo taute caribdis naufragium evitare […]. Nec dubitabo lippis luminibus viam incognitam palpitare, cum cognoverim rectorum oculos predencium luce lucidius choruscare.199 Würde ich nicht durch euer Ansehen, vorgenannte Väter, gestützt, und könnte ich mich nicht auf eure Mithilfe verlassen aus eignen Kräften würde ich vergeblich die Last einer solchen Bürde auf mich nehmen und unter Gefahren ein solch unermessliches Meer in einem zerbrechlichen Boot befahren. Sorglos aber wird der Seefahrer, im Schifflein sitzend, über die Wellen der tosenden Meerenge dahinsegeln können, der einen erfahrenen Lotsen hat, einen solchen, der es unter Führung der Winde und Gestirne sicher zu steuern weiß. Und ich hätte unter keinen Umständen dem Schiffbruch der so gefährlichen Charybdis entgehen können […] Und ohne Bedenken werde ich einen

198 Komnenen – Adelsdynastie im Byzantinischen Reich, aus der von 1057 bis 1059 und dann von 1081–1185 die byzantinischen Kaiser hervorgingen. 199 Martini Galli Chronicon ad fidem codicum qui servantur in Pulaviensi tabulario celsissimi Adami principis Czartoryscii, palatine regni Poloniarum […], adjecit Joannes Vincentius Bandtkie. Varsaviae MDCCCXXIV (1824), S. 4–5.

134

Teil I unbekannten Weg mit Triefaugen zitternd betreten, wenn ich weiß, daß die Augen die voranschreitenden Wegführer heller leuchten als das Licht.200

Man hat an den Schriftstellern des Mittelalters bemerkt, daß der lateinische Stil alles in ihnen unterdrückte, was sie Eigenes, Volkstümliches besaßen, und daß immer nur die Muttersprache Volksgefühle ausdrückt. Diesen Vorwurf darf man Gallus nicht machen; häufig verdreht er das Latein, legt ihm sogar Zwang an, um dasjenige in ihm wiedergeben zu können, was er Slavisches in der Seele trug oder in den Volksliedern gehört hatte. Keiner von den mittelalterlichen Schriftstellern hat eine lebhaftere Färbung der Örtlichkeiten. Sorgsam erzählt er die alten Gebräuche, führt er Personen auf die Bühne, so malt er ihr Bild aus, beschreibt die angewöhnten Gebärden, Bewegungen des Kopfes und wiederholt sogar ihre Scherze. Hinreichend ist es, irgendeine Erzählung des Gallus mit Nestors Beschreibung oder eines anderen gleichzeitigen Chronikenschreibers zu vergleichen, um seine Überlegenheit in dieser Hinsicht zu sehen. Betrachten wir z.B., wie er von dem Krieg der Polen mit den Deutschen spricht. Der Kaiser Otto [Heinrich V.] brach in Polen mit einem zahlreichen, geübten und an Mannszucht gewöhntem Heere ein. Die Polen nicht im Stande, ihm eine Hauptschlacht zu bieten, bemühten sich durch Überfälle den Feind zu quälen und zu vernichten. Gallus beschreibt vortrefflich diese zufälligen Treffen: Nam quocunque cesar se vertebat, vel ubicunque castra vel staciones faciebat, Bolezlauus quoque, quamquam posterius, incedebat, semperque vicinus stacioni cesaris persistebat. […] Non erat locus, ubi non putaretur Bolezlauus. Taliter eos assidue fatigabat, quandoque de capite, quandoque de cauda, sicut lupus, aliquos rapiebat, quandoque vero a lateribus insistebat.201 Denn wohin auch immer der Kaiser sich wandte oder auch immer er das Lager oder Wachposten aufstellte, zog auch Bolesaw bald früher, bald später einher, und immer war er dem Standquartier des Kaisers nahe. […] Es gab keinen Platz, wo man nicht Boleslaw vermutete. Auf solche Weise ließ er ihnen pausenlos keine Ruhe, wie ein Wolf packte er welche bald an der Spitze, bald am Ende, bald bedrängte er sie in den Flanken.

Gallus führt hier an dieser Stelle selbst Scherze an, die wir jedoch übergehen müssen, weiter aber spricht er wie folgt: 200 Polens Anfänge: Gallus Anonymus: Chronik und Taten der Herzöge und Fürsten von Polen. Übersetzt, eingeleitet und erklärt von Josef Bujnoch. Graz-Wien-Köln 1978, S. 43–44. Die deutsche Übersetzung wird nach dieser Ausgabe zitiert. 201 Martini Galli Chronicon, op. cit., S. 271, 273.

13. Vorlesung (9. Februar 1841)

135

Cesar vero, exemplis et operibus recognoscens, quia, frustra laborando, populum affligebat, nec divine voluntati resistere velebat, aliud secrecies cogitavit, et aliud se facturum simulavit. […] Equi moriebantur, viri vigilijs, labore, fame, cruciabantur, silve condense, paludes tenaces, musce pungentes, sagitte acute, rustici mordaces, compleri propositum non sinebant. Unde se Cracow simulans ire velle, legatos de pace Bolezlauo misit, et pecuniam, non tantam, nec tam superbe, sicut prius, quesierat, in hec verba.202 Doch der Kaiser, der an den warnenden Beispielen und Geschehnissen erkannte, daß er das Volk durch nutzloses Bemühen leiden ließ, dem göttlichen Willen aber nicht widerstehen konnte, dachte insgeheim an etwas anderes, täuschte aber vor, etwas anderes tun zu wollen. […] Pferde verendeten, die Männer litten unter Nachwachen, Anstrengung und Hunger, dichte Wälder, morastige Sümpfe, stechenden Fliegen, spitze Pfeile, bissige Landleute ließen nicht zu, daß das erfüllt wurde, was man sich vorgenommen hatte. Deshalb gab er vor, nach Krakau gehen zu wollen, er schickte Friedensunterhändler zu Boleslaw und verlangte eine Geldsumme, aber nicht in solcher Höhe und auch nicht so hochmütig, wie er früher gefordert hatte, mit folgenden Worten.

Die sittlichen Tugenden seiner Werke ist Gallus dem in Polen verbreiteten Christentum schuldig. Die Aristokratie hatte schon ihren eigentümlichen Charakter; große, edle Gestalten zeigten sich auf dem Schauplatz der Taten, zuweilen den Königen eine ernste Stirne bietend. Einer von diesen Männern mit Namen Sieciech203, den er mit Jugurtha204 vergleicht, füllt schon mit seinen Taten mehrere Abschnitte. Gallus muß schon seine Meinung über die Verhältnisse der Untertanen und Herrscher abgeben, den Charakter der Könige abwägen. Er verschweigt nicht wie Nestor ihr sittliches Verfahren, sondern er lobt oder verdammt sie je nach seinen religiösen und politischen Vorstellungen. Sein Held Bolesław ließ seinen Stiefbruder töten, der ein ewiger Störfried war, besiegt und aus dem Lande verwiesen, immer wiederkehrte und Krieg anfing. Dennoch sagt Gallus: „Quid ergo? Accusamus Zbigneum et excusamus Bolezlauum? Nequaquam!“205 („Was nun? Klagen wir Zbigniew an und entschuldigen wir Boleslaw? Keineswegs!“). Nebenbei sucht er aber die Schuld zu mildern, indem er an die Vergehen des Getöteten erinnert und hinzufügt:

202 Martini Galli Chronicon, op. cit., S. 277–278. 203 Sieciech (gestorben 1113), Vorname nicht übermittelt; Palatin des polnischen Herzogs Władysław Herman. 204 Vgl. Sallust: Bellum Iugurthinum – Der Krieg mit Jugurtha. Lateinisch-Deutsch. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Josef Lindauer. Düsseldorf 2003. 205 Martini Galli Chronicon, op. cit., S. 307.

136

Teil I Vidimus enim talem virum, tantum principem, tam deliciosum iuvenem, primam karinam ieiunantem, assidue cinere et cilicio humi pervolutum, lacrimosis suspirijs irrigatum […].206 Wir erleben nämlich einen solchen Mann, wie er gleich zu Beginn der Bußzeit fastete, unaufhörlich in Asche und im Bußgewand auf dem Boden hingestreckt, von tränenreichen Seufzern benetzt […].

Dann zählt er seine guten Taten auf, mit denen er das Verbrechen sühnen wollte, die Gründung von Klöstern, die Bußpilgerungen usw. Dies zeigt von einem schon dazumal sehr entfalteten sittlichen Gefühl im polnischen Volke, oder wenigstens in dem damals herrschenden Stande, in dem Stand der Ritter. Ebenso wie der Mord des Bischofs Stanisław der letzte politische Mord gewesen, so hatte auch diese Tat des Bolesław III. Schiefmund (Bolesław Krzywousty) keine Nachahmung unter seinen Nachfolgern. Und überhaupt stellt die polnische Geschichte von nun an kein Beispiel der Ermordung eines Prinzen von Geblüt durch einen König im dynastischen Interesse auf; die öffentliche Meinung war schon gebildet und entfaltet genug. Was jedoch am liebsten unser Geschichtsschreiber erzählt, das sind die Gastmähler, Jagden, Feldlager, Begebenheiten des Krieges, die königliche Großmut, der Reichtum, die Fülle von Gold und Silber, dessen es so viel gab, wie er sagt, daß man es wie Heu auf Haufen warf. Der Unterschied zwischen Gallus und Nestor wird sich noch mehr ausweisen, sobald wir sie neben die gleichzeitigen Geschichtsschreiber, neben Thietmar von Merseburg207, den berühmten deutschen Chronikenschreiber, oder neben Cosmas von Prag208 hinstellen. Thietmar hat früher gelebt als Nestor, er stammte aus einer mächtigen Familie, war der Sohn des Grafen Siegfried zu Walbeck, eines großen Herrn in Sachsen. Nachdem er Bischof zu Merseburg geworden, schrieb er Denkbücher 206 Martini Galli Chronicon, op. cit., S. 308. 207 Thietmar von Merseburg (975–1018). Vgl. – Die Chronik des Bischofs Thietmar von Merseburg und ihre Korveier Überarbeitung. Thietmari Merseburgensis episcopi chronicon. Hrsg. Robert Holtzmann. Unverändeter Nachdruck der Ausgabe Berlin 1935. München 1996 (= Monumenta Germaniae Historica); im Internet: [http://www.mghbibliothek.de]. Deutsche Übersetzung – Die Chronik des Thietmar von Merseburg. Nach der Übersetzung von Johann Christian Moritz Laurent, Johannes Strebitzki und Wilhelm Wattenbach. Neu übertragen und bearbeitet von Robert Holtzmann. Halle (Saale) 2007. 208 Cosmas von Prag (um 1045–1125). Vgl. – Die Chronik der Böhmen des Cosmas von Prag (Cosmae Pragensis Chronica Boemorum). Hrsg. Bertold Bretholz und Wilhelm Weinberger Berlin 1923 [im Internet: [http://www.dmgh.de]. Deutsche Übersetzung: Cosmas von Prag: Die Chronik Böhmens. In Anlehnung an die Übertragung von Georg Grandaur neu übersetzt und eingeleitet von Franz Huf. 2 Bände. Essen 1987.

13. Vorlesung (9. Februar 1841)

137

seiner Zeit, in welchen er die tschechischen und polnischen Angelegenheiten mit umfaßte. Jedoch einem germanischen zur Begeisterung und Religiosität geneigten Stamme entsprossen, behielt er vor allem die Kirche im Auge, er ist der Geschichtsschreiber der katholischen Kirche und seines Bistums. Indessen da er äußerst unparteiisch ist, so tadelt er häufig den Kaiser, wenngleich dieser sein Schutzherr und sogar Anverwandter war; ebenso wie Gallus verzeiht er seinem Herrn, seinem Helden nie, wenn derselbe gegen das Wohl der Kirche gehandelt. Die heutigen Geschichtsschreiber verstanden nicht diese Unparteilichkeit zu würdigen, sie klagen den Thietmar an, er habe die Könige von Tschechien und Polen angeschwärzt, dem Kaiser aber sich undankbar erwiesen; im Grunde ist er jedoch weder ein Verleumder noch ein Undankbarer, sondern nur ein der Religion und Wahrheit ganz ergebener Mann. Jedes Buch seiner acht Bände enthaltenden Chronik beginnt Thiethmar mit einem Gebet, er liebt über alles gute Handlungen aufzuzeichnen, spricht selten von Schlachten und endet fast immer mit der Klage über eigene Unzulänglichkeit, bekennt seine Fehler und Vergehen, und da er nur für die Klöster schreibt, so bittet er zum Lohn um Gebete für seine Seele. In Erhabenheit der Ansichten, Kraft und Begeisterung steht er über Nestor und Gallus. Der Prager Cosmas, der Nachkomme einer polnischen in Tschechien angesiedelten Familie, nähert sich in Ton und Form Gallus; nur hat er nicht dies geschichtliche Talent, verstand seinem Werk nicht die Einheit des Begriffs und den gänzlichen Zusammenhang zu geben. Nachdem Gallus zuerst das geographische Bild entworfen, erzählt er die Kriege, setzt einige Bemerkungen über den politischen und sozialen Zustand hinzu, zur Abwechselung schiebt er einige Dichtungen hinein, beschreibt die Beratungen, und gezwungen, wiederum zu den Kämpfen zurückzukehren, erheitert er seine Erzählung mit Erwähnung der Gastmähler, der Jagden und Scherze; immer behält er die Einheit im Auge, befleißigt sich aber der Mannigfaltigkeit. Cosmas dagegen ist so ohne Ordnung wie Nestor; er gibt geradezu nur alles an, ohne irgendeine Absicht dabei zu haben; im Übrigen, da er kein Tscheche von Geburt ist, hat er auch nicht jenes Feuer der Begeisterung wie Gallus. Diese vier Chronikenschreiber sind die Muster, die sich später bei den deutschen, den tschechischen, den polnischen und den russischen Schriftstellern immerfort wiederholen. Der deutsche Chronikenschreiber ist ein Magnat, ein frommer Mann, gestrenger Richter für andere und sich selbst, ernst und gelehrt. Der tschechische ist den Wissenschaften ergeben, er brüstet sich mit den Kenntnissen und will für einen großen Gelehrten gelten. Der polnische ist vor allen übrigen Patriot, er gesteht’s von sich selbst, nicht gar zu genaue Bekanntschaft mit dem Evangelium zu haben, und er kann sich einer gewissen Freude beim

138

Teil I

Beschreiben der Gewalttaten und Unbilden seiner Könige nicht enthalten, wenn diese nur für das Land von Nutzen waren. Sagt er, daß der Vater seines Helden beim Sterben den polnischen Herren befohlen habe, denjenigen seiner Söhne sich zum Könige zu wählen, der die Ehre und das Wohl des Volks am besten fördern würde, so setzt er schon die Ehre vor den Nutzen und beginnt zugleich, die Rechte eines jeden um das Zepter sich Bewerbenden abzuwägen. Dies kann man weder bei Nestor noch bei irgendeinem anderen von den Zeitgenossen sehen. Nestor als einfacher Mönch unternimmt nichts weiter als bloß die Überlieferungen der Vorfahren zu bewahren, er wiederholt sie treu und leutselig, ohne einen Gedanken oder politische Berechnung dabei zu haben. Was die verschiedenen Mundarten in den slavischen Chroniken anbelangt, so sind diese schon mit ihrem eigentümlichen Charakter bezeichnet. Die Gelehrten werfen die Frage auf, ob die Dialekte bloß die Aufeinanderfolge der Fortschritte der Sprache sind, die sich stets aus einer Mundart in die andere umwandeln muß, oder aber, ob man sie als besondere Äste eines Baums betrachten soll, die selbst sich entfaltend zu gleicher Zeit mit dem gemeinsamen Stamm wachsen? Einige behaupten diese letztere Ansicht, sie beweisen, daß mit der Geschichte einer jeden Sprache die Geschichte ihrer Dialekte entspringt, daß diese ganz an der Quelle der Sprache sichtbar sind und ihren Reichtum ausmachen. Darum hat man die griechische Sprache bewundert, weil sie drei Mundarten erzeugte. Jedoch vielen neueren Gelehrten zufolge, steht der Sprache notwendig eine Reihe verschiedener Umänderungen bevor, und sogar schon im Voraus kann man sagen, sie wird eine solche und solche Mundart bekommen, mit diesem und jenem abgeschlossenen Charakter. Die slavische Sprachlehre überzeugt uns jedoch, daß sie von ältester Zeit her in eine Mundartengruppe geteilt gewesen, die weder zusammenfließen noch sich vermischen können. Es gibt Altertumsforscher, welche die Vermutung aufstellen, daß die slavische Sprache zuvörderst in die tschechische sich umwandelte und später zur polnischen sich ausbildete, und diese müsse der Reihe nach eine andere Gestalt annehmen. Gegen diese Meinung zeugen die Denkmäler, die Prager Pergamente, das Lied209 des heiligen Wojciech (Adalbert) und die Nestor-Chronik. Die Mundarten haben hier ihre ganz ausgeprägte Form, sie zeigen sich als fähig zur fernem Entwicklung, nicht aber zur gänzlichen Umwandlung. Freilich kann der gegenseitige Einfluß der zu einem Stamm gehörigen, verbrüderten Sprachen dieselben modifizieren; die tschechische scheint in dem Hymnus „Bogurodzica“ durch, die polnische in den neueren Dichtungen der Serben, die serbische läßt sich in der altertümlichen 209 Gemeint ist das Lied „Bogurodzica“, das irrtümlich dem heiligen Wojciech zugeschrieben wird.

13. Vorlesung (9. Februar 1841)

139

Literatur der Rus’ entdecken, immer jedoch ist der Hauptcharakter der Schriften in jedweder dieser Sprachen selbstständig und abgeschlossen. Man kann sagen, daß die ganze slavische Sprache sich jetzt nicht in Mundarten teilt, sondern in Sprachen; sie ist wahrscheinlich die einzige Sprache, welche mehrere in sich faßt. Was gibt’s also für einen Unterschied zwischen Mundart und Sprache? In Frankreich hat man die Definition der Mundart gemacht, daß sie die Sprache einer Provinz oder einer Stadt, oder daß sie nicht die Sprache des Reichs sei, seine ganze Geschichte nicht vergegenwärtigen und auch nicht allen geistigen Bedürfnissen Genüge leisten könne. Diese Definition umfaßt eine bei weitem wesentlichere Bedingung nicht. Die Sprache muß notwendig das Erbteil der vorhergegangenen Zivilisation aufgenommen haben und fähig sein, die zukünftige sich anzueignen. Warum sind einige sehr entfaltete, reichhaltige Mundarten verschwunden oder im Verschwinden? Wohl nur darum, weil sie erstarrten. So sind z.B.  in  Frankreich die südlichen Dialekte, die viel reichhaltiger in der Ausdrucksweise, wohltönender und lieblicher ausfallen, zur Umgangssprache zurückgesunken, weil sie die Zivilisation des Altertums in sich nicht aufgefaßt, weil sie den Einfluß des Latein von sich gewiesen haben: indem sie hierdurch die Unverletzlichkeit ihrer Überlieferungen zu bewahren hofften, erstarrten sie durch ihre willkürliche Entfernung von dem Lauf der Geschichte und sind zum Tode verurteilt. Da im Gegenteil die nördliche Mundart, durchgearbeitet von der scholastischen Philosophie, und später durchgebildet durch die Nachahmung des Lateins, jetzt nicht nur die französische Zivilisation vorstellt, sondern zugleich alles, was in die Sprache von der lateinischen eingedrungen ist. Derselben Ursache wegen konnte der alte slavische Dialekt, unrichtigerweise als das Slavische schlechthin, d.h. das Kirchenslavische, bezeichnet wird, nicht die Zeit der ersten Übersetzung der heiligen Schrift und einiger liturgischen Bücher überleben, weil er dem fernem Fortschritt des Christentums nicht folgte, weil er unfähig, die werdenden Bedürfnisse inmitten der slavischen Völker auszudrücken, durchaus nur von der Vergangenheit sprechen mußte, und aus der lebenden Gesellschaft der Slaven verstoßen wurde. Unter den drei großen Sprachen, die heute die slavische umfassen, hat die russische nur die byzantinische Literatur beerbt, und wäre schon längst verdorrt, hätte sie sich nicht im späteren Verlauf an die neuere Zivilisation festgeklammert, hätte sie nicht zuerst das Polnische nachgeahmt und dann aus dem Lateinischen210 einen neuen Quell geschöpft. 210 Zu ergänzen wäre noch das Französische, das im 18. Jahrhundert auf die russische Gesellschaft und auf die russische Literatur stark einwirkt; vgl. Pavel  N.  Berkov:

140

Teil I

Die tschechische Literatur hat sich durch den Einfluß der deutschen ersticken lassen; sie verstand es nicht, wie schon gesagt, sich das fremde Element anzueignen, und sie entfremdete sich selbst ihrem Volkstum. Die polnische Literatur, wenngleich weniger urtümlich als andere, wie z.B. die serbische, erwuchs dennoch am mächtigsten und weitesten. Da sie der lateinischen Überschwemmung nicht erlag, dann die französische Literatur sich aneignete, öfters die deutsche nachahmte, verlor sie nicht im Mindesten ihren wesentlichen Charakter.

Literarische Wechselbeziehungen zwischen Russland und Westeuropa im 18. Jahrhundert. Berlin 1968; ferner – Russko-evropejskie literaturnye svjazi. Ėnciklopedičeskij slovar’. Sankt-Peterburg 2008, S. 236–240 mit weiterführender Literatur.

14. Vorlesung (12. Februar 1841) Zur Geschichte der Westslaven zwischen Oder und Elbe; ihr Untergang – Otto von Bamberg und seine Mission in Pommern – „Das Lied von der Heerfahrt Igor’s“ (Slovo o polku Igoreve) – Bojan

Wir haben die ältesten Denkmäler, der von einigen Autoren wendischen oder sorbischen, von uns aber polnischen oder polnisch-tschechischen benannten Sprache, welche alle Mundarten der nördlichen und nordwestlichen slavischen Völker umfaßt, betrachtet. Diese bis jetzt in Polen und in Tschechien übliche Sprache hat ungeheure Verluste erlitten; denn die zahlreichen slavischen Stämme, welche im ganzen Westen sie geredet haben, sind verschwunden, ohne schriftliche Denkmäler zu hinterlassen, und heute bemühen sich die Polen und Tschechen, ihre Erben im Gebiete der Literatur, ihre Geschichte wieder aufzubauen, um wenigstens so vielen hingestorbenen und in der Vergessenheit begrabenen Völkern ein Grabmal zu errichten. Wir haben schon angedeutet, daß die Slaven in sehr alten Zeiten den Westen Europas bewohnten. Ohne uns, was die Sache der Altertumsforscher ist, in die Ergründung ihrer Urgeschichte einzulassen, werden wir jedoch einige Worte über die dem Mittelalter nähere Geschichte sagen. Ihr historischer Faden beginnt, schon an Denkmäler geknüpft, mit dem 8. Jahrhundert. Gelehrte Polen und Tschechen haben Diplome, Schenkungsurkunden, Privilegien, Briefe von Bischöfen, Fürsten, Königen und Kaisern entdeckt und erklärt, welche nicht nur die Existenz slavischer Kolonien im Westen bekräftigen, sondern auch ihr Verhältnis zu dem germanischen Stamme, welcher von allen Seiten diese kleinen Völker umgab und vernichtete, zu erkennen geben. Und so fragte im Jahre 751 der Bischof Bonifatius211 den Papst, ob es erlaubt sei, von den in der Mitte Deutschlands ansässigen slavischen Völkerschaften Abgaben zu fordern.212 Wir finden eine Spur ihres Daseins in Holland und sogar in England, wo die slavischen Benennungen Wilzenburg, Walzburg und Valzborg (Stadt der Weleten, Wilken oder Milzen) im Mittelalter sehr verbreitet, sich bis jetzt noch an vielen Stellen erhalten haben. Wir begegnen desgleichen diesem Laut in den Namen: Wiltun, Wiltsäten oder Wilts heut zu Tage Wiltshire, und vieler anderen englischen Städte. Übrigens ist das Vorhandensein der slavischen

211 Bonifatius (um 673–755), Missionar und Bischof von Mainz und Utrecht; vgl. Heinrich Wagner: Bonifatiusstudien. Würzburg 2003. 212 Vgl. dazu Jerzy Strzelczyk: Szkice średniowieczne. Poznań 1987, S. 267–268.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_015

142

Teil I

Weleten unter dem Namen der Wiltunisci213 in England durch die damaligen Chronikenschreiber begründet. Aber in allen diesen Ländern haben die Slaven keine politische Existenz genossen. Jedoch im Norden zwischen der Elbe und Oder, nach der Auswanderung der germanischen Stämme der Goten, Wandalen, Burgunder, Lepider, Scyren, Heruler, Turzilinger und anderer, haben die slavischen Völker einigermaßen Unabhängigkeit errungen, hatten wenigstens keine Fremden in ihrer Mitte. Die kriegerischen Goten, Vandalen und Scyrer strebten niemals sich in diesem Lande festzusetzen; vom germanischen Stamm banden sich allein die Saxonen oder Sachsen an den Boden, begannen Ackerbau zu treiben und wurden hier furchtbare Nachbarn der Slaven. Auf diese Weise war der Sitz der unabhängigen slavischen Völkerschaften, von denen wir zu reden vorhaben, zwischen der Mündung der Elbe und Oder, welche sie von Polen trennte, und dem tschechischen Krkonoše (Riesengebirge) eingeschlossen. Es ist ein sehr ausgedehntes Land, welches einen Teil von Sachsen, die alte Markgrafschaft Brandenburg, das Herzogtum Mecklenburg, das Gebiet der freien Städte Hamburg und Lübeck, dabei viele kleine deutsche Herzogtümer einnimmt. In diesem Land waren verschiedene kleine slavische Stämme, unter den Namen der Lutizen oder Weleten, der Milzen auch Wilzen, der Bodrizen oder Obotriten (Abotriten), der Milzaner oder Milzer, der Serben, Lusizer usw. bekannt.214 In der Tat aber hießen sie Weliki, d.h. die Großen oder Wilki, d.h. die Furchtbaren, die Kühnen. Alle trugen kriegerische Namen, unter denen sie am meisten im Mittelalter bekannt waren. In eine Unmasse getrennter Kolonien geteilt, hatten sie den Hauptsitz ihrer Macht und Regierung zwischen der Elbe und Oder. Die Abotriten waren in Mecklenburg 213 Mickiewicz stützt sich hier auf die Ausführungen von P.J. Schaffarik: „Dagegen werden die Weleten in den Niederlanden schon früher bei Venantius Fortunatus, falls meine Erklärung seiner Worte stichhaltig ist, und bei Beda genannt. Wahrscheinlich haben sich damals auch die einzelnen Geschlechter von Weleten nach England übergesiedelt, wo später die Stadt Wiltun, die Landschaft Wiltsäten oder Wilts (jetzt Wiltshire) und die Wiltunisci genannt werden. Beide, die niederländischen und die englischen Weleten, sind wenig bekannt, da sie sehr bald unserem Gesichtskreis entschwunden.“ – P.J. Schaffarik: Slawische Altertümer, op. cit., Bd. II, S. 552–553; dort auch die Quellenangaben zu Beda Venerabilis, Venantius Fortunatus und Johann Martin Lappenberg (Geschichte von England. Hamburg 1834, Bd. I, S. 122, 243). 214 Vgl. dazu – Die Slawen in Deutschland. Geschichte und Kultur der slawischen Stämme westlich von Oder und Neiße vom 6. bis 12. Jahrhundert. Hrsg. Joachim Herrmann. Berlin 1985; Sebastian Brather, Christian Lübke: Lutizen. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde (RGA). 2. Auflage. Band 19. Berlin-New York, S. 51–56; Wolfgang H. Fritze: Probleme der abodritischen Stammes- und Reichsverfassung und ihrer Entwicklung vom Stammesstaat zum Herrschaftsstaat. In: Siedlung und Verfassung der Slawen zwischen Elbe, Saale und Oder. Hrsg. Herbert Ludat. Gießen 1960, S. 141–219.

14. Vorlesung (12. Februar 1841)

143

ansässig; die Lusizer bewohnten die heutige Lausitz und die sächsischen Lande. Jede dieser Völkerschaften zerfiel in Stämme, deren Aufzählung heute unmöglich ist, denn außer den Völkernamen führten sie Kriegsbeinamen von Tieren, Falken, Krähen, Raben usw., und deshalb erscheinen unter ihnen Wilken, Wraner, Rarożaner von Rarog – der Habicht usw.215 Diese tapferen und kriegerischen Völker, nach der Entfernung der Goten, Heruler und anderer Fremdlinge unabhängig geworden, zogen die Aufmerksamkeit der fränkischen Könige und Kaiser auf sich. Pipin der Kurze rief den zahlreichen Stamm der Abotriten zu Hilfe, und diese sandten 100 000 Krieger gegen die Sachsen. Nachher bemühte sich Karl der Große, um den ganzen Norden zu beherrschen, auch die slavischen Länder, die ihn von Polen trennten, unter sein Zepter zu bringen. Jedoch waren die Versuche Karls des Großen besonders gegen die Tschechen und die sächsischen Besitzungen gerichtet; er schloß demnach mit den Häuptlingen der Abotriten ein Bündnis, von denen einer, Namens Drasco216, ihm 60–80 000 bewaffnete Krieger als Hilfstruppen zur Eroberung von Sachsen brachte. Alle diese Einzelheiten sind wenig bekannt. Das Andenken dieser Kämpfe ist in den damaligen Denkmälern aufbewahrt, aber im Allgemeinen haben sich die Schriftsteller des Westens wenig mit diesen Völkern abgegeben. Gewiß ist aber, daß sie in den Riesenkämpfen Karls des Großen mit den Sachsen durch ihre Angriffe von der Elbe her beträchtlich mitgewirkt haben. Karl der Große hat selbst den Drasco mit einiger unabhängigen Gewalt zur Belohnung seiner Dienste ausgestattet.217 Die Ursache des Unglücks dieser Völker war die innere Uneinigkeit und politische Unmündigkeit, wie es die Schriftsteller Griechenlands, das mit den Slaven im Osten grenzte, und die gotischen und fränkischen Chronikenschreiber218, ihre westlichen Nachbarn, bezeugen. Jene kleinen Stämme, gezwungen gleich allen übrigen slavischen zum Kampf gegen zivilisiertere und besser 215 Vgl. dazu Karol Potkański: Lechici, Polanie, Polska. Wybór pism. Warszawa 1965, S. 136. 216 Drasco [Drażko, Thrasuco, Thrasucho, Thrasico, Drosuc, Drogo] (vor 789–810) – Heerführer und König („Samtherrscher“) der Abodriten; vgl. Bernhard Friedmann: Untersuchungen zur Geschichte des abodritischen Fürstentums bis zum Ende des 10. Jahrhunderts. Berlin 1986. 217 Im Jahre  804 Ernennung zum rex Abotritorum durch Karl den Großen; vgl. Richard Wagner: Das Bündnis Karls des Großen mit den Abodriten In: Verein für Mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde: Jahrbücher des Vereins für Mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde, Bd. 63 (1898), S. 89–129. 218 Vgl. Jordanes: Die Gotengeschichte. Übersetzt, eingeleitet und erläutert von Lenelotte Möller. Wiesbaden 2012; Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi 6: Annales regni Francorum inde ab a. 741 usque ad a. 829, qui dicuntur Annales Laurissenses maiores et Einhardi. Hrsg. Georg Heinrich Pertz. Hannover 1826.

144

Teil I

konstituierte Völker, halten ihre Häuptlinge, diese traten aber an die Spitze und verschwanden wieder einer nach dem anderen, ohne irgendeinen Keim einer politischen Organisation zu hinterlassen, und dabei stritten und haderten sie noch beständig unter einander. Deshalb sagt ein griechischer Kaiser219 im Testament, wo er seinem Sohn Rat erteilt, wie er auftreten soll, daß die Slaven immer von vielen Häuptlingen beherrscht, am leichtesten zu unterjochen seien, und daß es dazu schon hinreiche, den Samen der Zwietracht unter diese Häuptlinge zu streuen. Die westlichen Kaiser befolgten dieselbe Politik. Die Abodriten führten ununterbrochen Krieg mit den Lusizern, sobald nur die Deutschen sie einen Augenblick in Frieden ließen, benutzten sie dies sogleich, um sich gegenseitig zu raufen und zu vernichten. Ludwig der Deutsche und Ludwig der Fromme220 mischten sich oft in ihre Angelegenheiten und schlichteten ihre Streitigkeiten. Sie belohnten auch oft die Häuptlinge, und die von den Fremden verliehenen Titel standen in großem Ansehen bei den slavischen Völkern. Jene hier mit einigen Worten geschilderten Kämpfe und Kriege dauerten 200 Jahre. Oftmals begegneten sich Heere von 50 bis 60 000 Mann. Jedes von ihnen errang herrliche Siege und erlitt furchtbare Niederlagen. Aber unterdessen dehnte sich das deutsche Kaiserreich fortwährend allmählich nach Norden aus, besonders seit der Thronbesteigung der sächsischen Familie mit Heinrich I.221 Seit der Zeit konnten die slavischen Länder dem Andrang der Deutschen nicht mehr widerstehen: denn die fränkischen Kaiser zu sehr von jenen Gegenden entfernt, und ohne Hoffnung, sie auf immer mit ihrem Reich verbinden zu können, wirken auf den Norden meist nur durch politischen Einfluß; die sächsischen Kaiser aber gezwungen, im Interesse ihres Hauses sich mit den Angelegenheiten des Nordens zu beschäftigen, benutzten jede Gelegenheit, um neue Festungen zu errichten und immer weiter ins Innere der slavischen Länder einzudringen. Heinrich I. und Otto I. der Große222, zwei gewandte Staatsmänner und Krieger, vernichteten die Unabhängigkeit vieler selbstständiger slavischer Völker, und zwangen selbst die Slaven zur Annahme 219 Maurikios (539–602), Kaiser des Oströmischen Reiches von 582–602; Stelle nicht ermittelt; vgl. Ján Bakyta: Testament des Kaisers Maurikios. In: Byzantinoslavica, 68 (2010), S. 86–100. 220 Ludwig der Fromme (778–840); vgl. Egon Goshof: Ludwig der Fromme. Darmstadt 2005; Ludwig der Deutsche (um 806–876); vgl. Wilfried Hartmann. Ludwig der Deutsche. Darmstadt 2002. 221 Heinrich  I. (um 876–936); auch Heinrich der Vogler, der Finkler; vgl. Wolfgang Giese: Heinrich I. Begründer der ottonischen Herrschaft. Darmstadt 2008. 222 Otto  I. (912–973); vgl. Gerd Althoff: Otto  I., der Große. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 19. Berlin 1999, S. 656–660.

14. Vorlesung (12. Februar 1841)

145

der christlichen Religion. Aber das Christentum verbreitete sich unter ihnen unter vielen Hindernissen und langsam, denn es kam mit den Deutschen, und brachte deutsche, feindliche und der slavischen Volkstümlichkeit verderbliche Einrichtungen mit sich. Das Christentum war damals in den Augen der Slaven nichts weiter als Deutschtum und Sklaverei. Die Fürsten, die Wojewoden und verschiedentlich anders benannten slavischen Häuptlinge wußten es wohl, daß sie keine Stütze im Volk hatten, und auf keine Weise das Eindringen der Fremden hemmen konnten; sie ließen sich also oft deshalb nur taufen, um Schutz in der Kirche oder Verbündete in den europäischen Völkern zu finden. Aber das Volk wollte nicht einmal etwas vom Christentum hören und mordete oft seine Häuptlinge, die sich bekehrt hatten. So befanden sich also jene unglücklichen Herrscher in einer mißlichen Lage, einerseits zwischen der Zivilisation und der unaufhaltbaren Macht des Christentums, und andererseits zwischen der Barbarei und der störrigen Hartnäckigkeit. Jeden Augenblick erschienen in diesen slavischen Ländern zwiefache Herren: neben dem christlichen Fürsten erhob sich ein heidnischer Führer, und wenn nichts mit den Deutschen zu schaffen war, so verdrängten sie sich gegenseitig. Um den Anfang des 11. Jahrhunderts ließ sich einer der mächtigsten Häuptlinge, der Anführer der Abodriten223 taufen, nahm den Titel eines Herzogs an und schuf ein unabhängiges Herzogtum; bald aber wurde er durch einen heidnischen Fürsten verdrängt. Mitten unter diesen schrecklichen Kriegen drangen die Deutschen immer weiter ein, bauten eine Festung nach der anderen und errichteten Bistümer. So errichtete Ludwig der Fromme das Erzbistum Hamburg, später aber gründete Otto  I.  die  Erzbistümer in Magdeburg und Merseburg. Die damaligen Erzbischöfe nahmen ihren Sitz gewöhnlich allein, oder in Begleitung weniger Getreuen ein; es waren dies Erzbischöfe in partibus, und oft vergingen hundert Jahre, ehe ihre Nachfolger von diesen Stellen wirklichen Besitz nahmen. Aber so groß war damals der Glaube, so mächtig die Begeisterung für das vorwärts dringende Christentum, daß man niemals an der künftigen Feststellung dieser Erzbistümer zweifelte, welche nur in Gedanken in noch zu erobernden Ländern abgegrenzt waren, wo sie am Ende in der Tat ihre Grenzen und die Erfüllung aller ihrer Hoffnungen fanden. Das Bistum Hamburg, zu wiederholten Malen zerstört und verbrannt, erhielt sich dennoch, und das Magdeburger wurde später ein Herd und Hauptsitz für die slavischen Länder, bis zur Errichtung des Erzbistums Gnesen, welches Hauptstadt von Polen wurde.

223 Godescalcus – Gottschalk der Wende (um 1000–1066), Godescalcus; abodritischer Fürst und Märtyrer.

146

Teil I

In das Ende des 11. Jahrhunderts fällt der letzte große Kampf zwischen den polabischen Slaven und den Deutschen. Die Abodriten hatten damals zwei Häuptlinge, einen Christen und einen Heiden. Der erste suchte Schutz bei den Deutschen, der zweite rief die Dänen zur Hilfe. Einige Zeit hindurch behielt der heidnische Anführer die Oberhand und wurde zum König aller dortigen slavischen Länder ausgerufen. Er hieß Cruto224, und die Hauptstadt seines Landes errichtete er auf der Insel Rana, Rügen. Seine Herrschaft dehnte sich bis zur Oder aus, und selbst einige pommersche Städte bis an die Weichsel erkannten seine Gewalt an. Aber bald verdrängte den alten König Cruto sein Nebenbuhler, Heinrich von Alt-Lübeck225, der Sohn von Gottschalk, welcher mit deutscher Hilfe ihm zuerst einige Gebiete entriß, dann, nachdem er sein junges Weib, die Fürstin Slavina, verführt, ihn selbst ermordete226 und sich des ganzen Reichs bemächtigte. Die Söhne Crutos gingen alle in gegenseitigen Kämpfen zu Grunde, und so erlosch dies Geschlecht, das eine Zeitlang glänzend an der Spitze gestanden. Einer von Gottschalks Söhnen in Lübeck zum Herrscher erhoben, nahm den allgemeinen Titel eines Königs der Slaven an, denn die Milzener, Abodriten und Lusizer wollten aus gegenseitigem Hass nicht, daß er sich König der einen oder der andern nenne. Jedoch dauerte auch dieses slavische Königreich nicht lange. Die letzten zwei Könige waren Przybysław (Pribislav) und Niklot.227 Im Kriege gegen die Deutschen führten sie die Heere der Heiden und fielen unter der Übermacht des Markgrafen von Brandenburg. Niklot ist gefallen und Przybysław wurde Christ. Dieser nahm den Titel eines sächsischen Fürsten an und ist der Ahne des mecklenburgischen Hauses, der einzigen Familie von rein slavischem Blute, die bis jetzt herrscht. In dieser Zeit, im 12. Jahrhundert, haben drei Herrscher: Heinrich der Löwe, Herzog von Sachsen, Albrecht der Bär, Herzog von Magdeburg und Bolesław Schiefmund (Krzywousty), König von Polen, der Unabhängigkeit der Elbslaven 224 Auch Kruto (Lebensdaten unbekannt – 11. Jahrhundert); Mickiewicz nennt ihn „Kruk“ (Rabe). Vgl. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi 32: Helmolds Slavenchronik (Helmoldi presbyteri Bozoviensis Cronica Slavorum). Hrsg. Bernhard Schmeidler. Hannover 1937 (= Monumenta Germaniae Historica), Lib I, Cap. XXV: De Crutone, S. 47 ff. Deutsche Übersetzung – Helmold von Bosau: Slawenchronik. Neu übertragen und erläutert von Volker Stoob. Darmstadt (7. Aufl.) 2008. 225 Heinrich von Alt-Lübeck (vor 1066–1127), abodritischer Fürst. 226 Vgl. Helmoldi presbyteri Bozoviensis Cronica Slavorum, op. cit., liber I, Cap. XXXXIV: De morte Crutonis, S. 66ff. 227 Przybysław [Pribislav] – (um 1070–1156), Sohn des Abodriten-Fürsten Budivoj; Niklot (1100–1160), Abodriten-Fürst, Herkunft unbekannt; vgl. Nils Rühberg: Niklot. In: Biographisches Lexikon für Mecklenburg (2001), S.  176–181; ferner – Wolfgang  H.  Fritze: Probleme der abodritischen Stammes- und Reichsverfassung. In: Siedlung und Verfassung der Slawen zwischen Elbe, Saale und Oder, op. cit., S. 141–219.

14. Vorlesung (12. Februar 1841)

147

den letzten Stoß gegeben. Besonders waren der Sachse, dessen Charakter durch den Beinamen Löwe wohl bezeichnet ist, und Albrecht der Bär die wütendsten Verfolger des Slaventums.228 Von allen diesen Völkern, welche 100–200 000 Kämpfer auf den Kampfplatz stellten, die durch zwei Jahrhunderte hindurch der Macht des ganzen deutschen Kaiserreichs widerstanden, bleibt jetzt kaum eine Bevölkerung von 200000 Seelen übrig, wenn diese Zahl nicht noch übertrieben ist. Die deutschen Einrichtungen verzehrten allmählich ihre nationalen Elemente, die Slaven verloren nicht nur ihren Charakter und die Sprache ihrer Vorfahren, sondern starben selbst immer mehr aus. Dieses langsame und schmerzliche Hinscheiden zog sich vom 12. bis zum 15. selbst bis zum 16. Jahrhundert. Endlich brachte die religiöse Reform der slavischen Volkstümlichkeit den Todesstoß bei; und zwar auf folgende Weise: Die katholischen Bischöfe und Priester standen oft in der Mitte zwischen Volk und Regierung. Viele Bischöfe, wie im 10. Jahrhundert Brun von Querfurt229, wie selbst Thietmar von Merseburg230, wie Otto von Bamberg231, von dem wir später sprechen wollen, verliehen den slavischen Völkern Schutz. Sie schonten selbst ihre Sprache, denn der Katholizismus, welcher eine Amtssprache hatte, nämlich das Latein, hatte keine Ursache, Feind und Verfolger der einheimischen Sprachen zu sein. Alle Reformen hingegen, alle Sekten, die ihren Ursprung in irgendeinem Volk nehmen, werden so zu sagen national, und bemühen sich nachher, ihre Nationalität zu verbreiten. Luthers Reform, in Deutschland entstanden, war gänzlich deutsch und rottete vollends die Volkstümlichkeit der von Deutschen rings umlagerten Slaven aus. Unlängst, denn es sind kaum 30 Jahre her, wollte ein protestantischer Pastor aus Lübeck mit Namen Hennig232 ein Wörterbuch der Sprache der Weleten, 228 Vgl. Hans-Otto Gaethke: Herzog Heinrich der Löwe und die Slawen nordöstlich der unteren Elbe. Frankfurt am Main u.a. 1999; Jan-Christoph Herrmann: Der Wendenkreuzzug von 1147. Frankfurt am Main u.a. 2011. 229 Brun von Querfurt (974–1009); Erzbischof und Missionar; vgl. – Brun von Querfurt. Lebenswelt, Tätigkeit, Wirkung. Hrsg. A. Sames. Querfurt 2010. 230 Thietmar von Merseburg (975–1018), Bischof von Merseburg und Geschichtsschreiber; vgl. Die Chronik des Bischofs Thietmar von Merseburg und ihre Korveier Überarbeitung. Thietmari Merseburgensis episcopi chronicon. Hrsg. von Robert Holtzmann. Berlin 1935. (= Monumenta Germaniae Historica. Scriptores.  6, Scriptores rerum Germanicarum, Nova Series; 9); Helmut Lippelt: Thietmar von Merseburg – Reichsbischof und Chronist. Köln 1973. 231 Otto von Bamberg (1060–1136); vgl. Heiligenleben zur deutsch-slawischen Geschichte: Adalbert von Prag und Otto von Bamberg. Hrsg. Lorenz Weinrich und Jerzy Strzelczyk. Darmstadt 2005. 232 Christian Hennig von Jessen (1649–1719) erforschte das Drävnopolabische; vgl. Christian Hennig von Jessen: Vocabularium Venedicum. Nachdruck besorgt von Reinhold Olesch.

148

Teil I

Wilzen oder Lutizer zusammenstellen; doch es wurde ihm schwer, selbst ein kurzes Wortverzeichnis zu sammeln. Kaum redeten noch einige Greise diese Sprache, und selbst diese schämten sich derselben in Gegenwart ihrer Kinder. Von ihnen hat Hennig die Überbleibsel dieser Sprache eines ehemals berühmten Volks erhalten und aufbewahrt, welche in Vergessenheit geriet und heute, man kann es sagen, nicht mehr lebt. Dies erinnert an die traurige Erzählung eines Reisenden, welcher in Amerika Zeuge der Vernichtung eines in jenen Gegenden berühmten Stammes von Eingeborenen gewesen ist. Er sagt, daß nur ein Individuum noch einige Wörter von der Sprache dieses Stammes kannte: es war ein alter Papagei, welcher im Walde herumfliegend die ehemals gehörten Ausdrücke manchmal wiederholte. So war das Schicksal der slavischen Völker, welche im Westen vom Rhein bis zur Elbe und Oder ausgedehnt wohnten. Nur ein Teil dieses weiten Landes, das Gebiet, welches Pommern heißt, entging der allgemeinen Vernichtung, indem es durch den König von Polen Bolesław Schiefmund bekehrt wurde. Die polnischen Könige drangen oft in den Kämpfen mit dem deutschen Reich unter die Milzener und Lusitzer, konnten aber niemals ihre Herrschaft weder auf religiöser noch politischer Grundlage befestigen. Bolesław rief von allen Seiten polnische Bischöfe und Priester auf, um das Evangelium diesen Heiden zu predigen, es fand sich aber Niemand willig zu den Verdiensten des Märtyrertums. Die Bischöfe lehnten die Aufforderung ab, die Priester entschuldigten sich mit mannigfachen Hindernissen, bis endlich nach drei Jahren vergeblicher Bemühungen in Polen der König sich an einen Deutschen, den Bischof Otto von Bamberg, wenden mußte. Dieser ehrwürdige und heilige Mann begann sogleich die polnische Sprache zu lernen, und nachdem er seine Güter und sein reiches Bistum verlassen, ging er als Apostel nach Pommern. Durch die ausdauernde Arbeit vieler Jahre vermochte er belehrend und durch Gaben aller Art sowohl die Anführer als auch das Volk lockend, den christlichen Glauben in diesem Lande, wovon ein Teil bei Polen blieb, zu begründen. Der letzte Zufluchtsort des Heidentums war die Insel Rana, Rügen, der alte Sitz des Königs Cruto. Dieser hatte dort einen prächtigen Tempel des Svantovid233 erbaut, und in ihm alle Götterbilder, die bei den Slaven zu finden und Köln 1959; ferner – Ewa Rzetelska-Feleszko: Polabisch. In: Lexikon der Sprachen des europäischen Ostens. Hrsg. Miloš Okuka. Klagenfurt 2002, S. 363–365. 233 Svantovit (Svętovitъ, Svantevit, Sveti Vid, Swantewit, Svetovit, Svatovit, Świętowit oder Святовит) – slavische Gottheit; zur Etymologie vgl. die Übersicht bei Leszek Moszyński: Die vorchristliche Religion der Slaven im Lichte der slavischen Sprachwissenschaft. KölnWeimar-Wien 1992, S.  60, 71–72; bei den Südslaven – Veselin Čajkanović: O vrhovnom bogu u staroj srpskoj religii. Beograd 1994; ferner – Norbert Reiter: Das Glaubensgut der Slawen im europäischen Verbund. Wiesbaden 2009.

14. Vorlesung (12. Februar 1841)

149

einige selbst aus Deutschland hergebrachte, gesammelt. Die Dänen überfielen diese Insel, bemächtigten sich ihrer, und machten dem selbstständigen Dasein der Elbvölker und besonders der Weleten oder Lusizer, d.h. der Slaven, welche zum großen Sprachstamm der Polen und Tschechen gehörten, ein Ende. Wir wollen jetzt in chronologischer Ordnung fortfahrend zum Norden des Slaventums übergehen, und von dem ältesten und bedeutendsten literarischen Denkmal reden, welches am Ende des vorigen Jahrhunderts entdeckt wurde, und aus dem 12. Jahrhundert, aus der Zeit, bei der wir eben stehen geblieben, stammt. Es ist ein Gedicht eines unbekannten Verfassers, zur Ehre des Fürsten Igor’. Der Graf Musin-Puškin234 bekam es im Jahre 1795 in der nach dem Tode eines Archimandriten von Kiev angekauften Handschriftensammlung, und wußte es, wie es scheint, anfangs nicht gehörig zu schätzen, denn er veröffentlichte es erst im Jahre 1800. Fünf Jahre später übertrug der Admiral Šiškov235 dieses Denkmal in die neuere Sprache und gab die Übersetzung samt dem Text heraus. Doch legte das Publikum ebenso wie der erste Herausgeber und die Erklärer kein großes Gewicht dieser Entdeckung und den poetischen Vorzügen des Werkes bei; daher kam es, daß Niemand die Echtheit der Handschrift bezweifelte, und jetzt könnte in dieser Hinsicht nur ein unentscheidbarer Streit entstehen, denn das Original ging während des Brandes von Moskau verloren.236 Igor’ Svjatoslavič, der Fürst von Novgorod-Seversk, lebte zwischen 1151 und 1202. Das Land der Rus’ damals in eine große Anzahl getrennter Fürstentümer geteilt, fortwährend durch Bürgerkriege der Nachkommen Rjuriks zerrissen, litt viel durch die Einbrüche der nordöstlichen Nachbarvölker, namentlich der Polovcer (Kumanen), welche besonders die südlichen Länder bedrängten. Die Fürsten der Rus’ unternahmen auch manchmal Angriffskriege gegen selbige. Einer dieser Angriffe ist der Gegenstand des Gesanges oder vielmehr dieser poetischen Erzählung vom Zuge Igor’s. Der Verfasser scheint Zeitgenosse seines 234 Aleksej Ivanovič Musin-Puškin (1744–1817) – Iroičeskaja pesen’ o pochode na polovcev udel’nogo knjazja Novagoroda-Severskago Igorja Svjatoslaviča, pisannaja starinnym russkim jazykom v ischode XII stoletija s pereloženien na upotrebljaemoe nyne narečie. Moskva 1800. Reproduktion dieser Ausgabe siehe unter: [www.slovoyar.ru]; vgl. auch L. S. Dmitriev: Istorija pervogo izdanija „Slova o polku Igoreve“. Moskva-Leningrad 1960. 235 Aleksandr Semenovič Šiškov (1754–1841); vgl. A.S.  Šiškov: Primečanija na drevnee sočinenie, nazyvaemoe Iroičeskaja pesn’ o pochode polovcev ili Slovo o polku Igorevom. In: Sočinenija i perevody, izdavaemye Rossijkoju Akademiju SPb., 1805. č. 1. S. 23–234. 236 Zur „Echtheitsfrage“ vgl. die Arbeiten von: Andre Mazon, Le Slovo d’Igor. In: The Slavonic and East European Review, XXVII (1949), S. 515–535; Edward L. Keenan: Josef Dobrovský and the Origins of the „Igor’ Tale“. Cambridge (Massachusetts) 2003, der Dobrovský als Verfasser des Igor’-Liedes hält; A.A. Zimin: Slovo o polku Igereve. Sankt-Peterburg 2006; A.A. Zaliznjak: „Slovo o polku Igoreve“. Vzgljad lingvista. Мoskva 32008.

150

Teil I

Helden gewesen zu sein; er spricht von ihm wie von einem gegenwärtig herrschenden Fürsten. Wenn man diesen Schriftsteller mit Nestor vergleicht, so sieht man, daß er ein Laie war, der jedoch die Bibel kannte, denn er gebraucht einmal einen biblischen Ausdruck. Man kann auch an zwei oder drei Stellen die Nachahmung normannischer Dichtungen, welche auf uns gekommen sind, bemerken. Das ist alles, was wir vom Verfasser wissen: sein Leben, sein Name sind gänzlich unbekannt, die Form und den Geist der Dichtung wollen wir später betrachten; die Zusammenstellung derselben aber ist höchst einfach. Der Dichter kündigt zuerst an, daß er die Sache so besingen wolle, wie sie stattgefunden, ohne sich nach der Weise des alten Bojan Erdichtungen zu erlauben. Не лѣпо ли ны бяшетъ, братие, начяти cтарыми словесы трудныхъ повѣстий о пълку Игоревѣ, Игоря Святъславлича? Начати же ся тъй пѣсни по былинамь сего времени, а не по замышлению Бояню!237 Nicht ziemte es sich für uns, Brüder, mit alten Worten zu beginnen den mühsalvollen Bericht von der Heerfahrt Igor’s, Igor’s, des Svjatoslav-Sohnes. Nein – beginnen soll dieses Lied nach den wahren Geschehnissen dieser Zeit und nicht nach dem Erfinden Bojans.238

Der hier erwähnte alte Schriftsteller Bojan ist uns unbekannt; in diesem Denkmal allein finden wir seinen Namen, sein oft wiederholtes Lob aber zeigt, daß er bei den Slaven in hoher Gunst gestanden. Darauf folgt die Erzählung der Unternehmung selbst. Igor’ macht einen Angriff gegen die Polovcer, um die in der Rus’ verübten Untaten zu rächen. Im Einverständnis mit drei Verwandten, ohne Mitwissen der Eltern und Mächtigeren beginnt er den Zug: die vereinigte Macht bricht auf, Unglück verkündende Geistererscheinungen vermögen die Krieger nicht aufzuhalten. Die in der ersten Schlacht zerstreuten Polovcer sammeln sich wieder und umringen von allen Seiten Igor’s Schar. Die Schlacht dauert zwei Tage, endigt am dritten mit einer gänzlichen Niederlage; Igor gerät in Gefangenschaft. Da erblickt der Vater der besiegten Fürsten, damals in Kiev weilend, das unglückliche Ereignis im Traum; bricht in lange Klagelieder über das Schicksal der Rus’ aus und besingt fast die ganze Geschichte seines Hauses. Igor’ entflieht endlich aus dem Gefängnis, kehrt nach Kiev zurück und 237 Slovo o polku Igoreve. In: Biblioteka literatury Drevnej Rusi. Tom  4: XII vek. Red. D.S. Lichačev, L.A. Dmitriev, A.A. Alekseev, N.V. Ponyrko. Sankt-Peterburg 1997, S. 254. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe verkürzt zitiert: Slovo + Seitenzahl. 238 Das Lied von der Heerfahrt Igor’s. Aus dem altrussischen Urtext übersetzt, eingeleitet und erläutert von Ludolf Müller. München 1989, S. 21. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe verkürzt zitiert: Lied + Seitenzahl.

14. Vorlesung (12. Februar 1841)

151

wird mit einem Triumpfgesang bewillkommt. Hier einige Abschnitte aus dem Anfang des „Lieds von der Heerfahrt Igor’s“239: Боянъ бо вѣщий, аще кому хотяше пѣснь творити, то растѣкашется мыслию по древу, сѣрымъ вълкомъ по земли, шизымъ орломъ подъ облакы, помняшеть бо, рече, първыхъ временъ усобицѣ. Тогда пущашеть 10 соколовь на стадо лебедѣй, которыи дотечаше, та преди пѣснь пояше старому Ярославу храброму Мстиславу, иже зарѣза Редедю предъ пълкы касожьскыми, красному Романови Святъславличю. Боянъ же, братие, не 10 соколовь на стадо лебедѣй пущаше, нъ своя вѣщиа пръсты на живая струны въскладаше, они же сами княземъ славу рокотаху. Почнемъ же, братие, повѣсть сию отъ стараго Владимера до нынѣшняго Игоря, иже истягну умь крѣпостию своею и поостри сердца своего мужествомъ, наплънився ратнаго духа, наведе своя храбрыя плъкы на землю Половѣцькую за землю Руськую. […] Тогда Игорь възрѣ на свѣтлое солнце и видѣ отъ него тьмою вся своя воя прикрыты, И рече Игорь къ дружинѣ своей: „Братие и дружино! Луце жъ бы потяту быти, неже полонену быти, а всядемъ, братие, на свои бръзыя комони да позримъ синего Дону“. […] Тогда въступи Игорь князь въ златъ стремень и поѣха по чистому полю. Солнце ему тъмою путь заступаше, нощь стонущи ему грозою птичь убуди, свистъ звѣринъ въста, збися Дивъ, кличетъ връху древа, велитъ послушати земли незнаемѣ, Влъзѣ, и Поморию, и Посулию, и Сурожу, и Корсуню, и тебѣ, Тьмутороканьскый блъванъ. […] (Slovo, op. cit., S. 254–256). Denn der weise Bojan, wenn er auf jemanden ein Lied wollte dichten, dann wandelte er sich in Gedanken [zu einer Nachtigall] im Baum, zu einem grauen Wolf auf der Erde, zu einem stahlblauen Adler unter den Wolken. Denn er gedachte, so sprach er, der Fehden der ersten Zeiten; da ließ er zehn Falken steigen gegen eine Schar Schwäne: Welchen einer erjagte, der sang zuvor ein Lied auf den alten Jaroslav; auf den tapferen Mstislav, der den Rededja schlachtete vor den Heerhaufen der Kassogen, auf den schönen Roman Svjatoslavič. Nein, Brüder: Nicht zehn Falken ließ Bojan steigen gegen eine Schar Schwäne, sondern er legte seine weisen Finger auf die lebendigen Saiten; die aber rauschten von selbst den Fürsten Ruhm. Beginnen wir aber, Brüder, diesen Bericht, der anhebt beim alten Wolodimer und reicht bis zum heute lebenden Igor’, welcher den Geist schmiedete mit seiner Festigkeit und ihn schärfte mit der Mannhaftigkeit seines Herzens. Erfüllt von 239 Gustaw Siegfried vermerkt an dieser Stelle: „Es ist schon ins Deutsche übersetzt, und wir geben daher diese Übersetzung, welche jedoch unserer individuellen Ansicht gemäß im Vergleich mit der Schönheit des Originals nüchtern erscheint.“ (A. Mickiewicz: Vorlesungen über slawische Literatur und Zustände, op. cit., Teil 1, S. 155). Es handelt sich um die Übersetzung von Joseph Müller – Heldengesang vom Zuge gegen die Polowzer, des Fürsten vom sewerischen Nowgorod Igor Swätslawitsch, geschrieben in altrussischer Sprache gegen Ende des zwölften Jahrhunderts. In die deutsche Sprache treu übertragen, mit einer Vorrede und kurzen philologischen und historischen Noten begleitet von Joseph Müller, der Philosophie Doctor und ehemals Professor am Gymnasium zu Heiligenstadt. Prag 1811. In dieser Edition wurde die neue Übersetzung von Ludolf Müller vorgezogen.

152

Teil I kriegerischem Mut, führte er seine tapferen Heerscharen gegen das kumanische Land für das russische Land. […] Da schaute Igor’ auf zur lichten Sonne und sah von ihr mit Dunkel bedeckt alle seine Krieger. Und es sprach Igor’ zu seiner Gefolgschaft: „Brüder und Gefolgschaft! Es ist besser, erschlagen zu sein als gefangen zu sein! So lasst uns aufsitzen, Brüder, auf unsere schnellen Rosse, auf daß wir erblicken den blauen Don!“ […] Da trat Fürst Igor’ in den goldenen Steigbügel und ritt über das freie Feld. Die Sonne vertrat ihm mit Dunkel den Weg; die Nacht, stöhnend, erweckte ihm durch Gewitter die Vögel. Tierpfiff stand auf. Diw schwang sich empor, schreit auf den Wipfel des Baumes, lässt aufhorchen das unbekannte Land: Wolga und Meeresküste und das Land an der Sula und Sruroš und Korssun und dich, Ölgötze von Tmutorokan! (Lied, op. cit., S. 22–24)

Die Erscheinung, das Phantom, das Gespenst ist hier wie der hundertstimmige Ruf, welcher die Mär vom Kampf in ferne Länder trägt, an die Volga und Sula, ans Meer, nach Surož, Korsun, nach Tmutorakan und die Polovcer (Kumanen) schreckt. А половци неготовами дорогами побѣгоша къ Дону Великому: крычатъ телѣгы полунощы, рци, лебеди роспущени. Игорь къ Дону вои ведетъ. Уже бо бѣды его пасетъ птиць по дубию […]. Длъго ночь мрькнетъ. Заря свѣтъ запала, мъгла поля покрыла, щекотъ славий успе, говоръ галичь убудися. Русичи великая поля чрьлеными щиты прегородиша, ищучи себѣ чти, а князю – славы. (Slovo, op. cit, S. 256) Und die Kumanen flohen auf unbereiteten Wegen zum großen Don. Es kreischen die Wagen um Mitternacht wie aufgescheuchte Schwäne. Igor’ führt die Krieger zum Don. Doch schon lauert auf sein Unheil Gevögel im Eichengehölz. […] Lange dämmert die Nacht. Der Morgenschein entzündete das Licht: Nebel hat die Felder bedeckt. Das Schlagen der Nachtigallen schlief ein, das Geschwätz der Dohlen erwachte. Die Russensöhne umzäunten große Felder mit ihren roten Schilden, suchend Ehre für sich und Ruhm für den Fürsten. (Lied, op. cit., S. 24)

Jetzt erst findet das erste Zusammentreffen mit dem Feinde statt. Die Kämpfer der Rus’ tragen den Sieg davon: Съ зарания въ пятъкъ потопташа поганыя плъкы половецкыя и, рассушясь стрѣлами по полю, помчаша красныя дѣвкы половецкыя, а съ ними злато, и паволокы, и драгыя оксамиты. (Slovo, op. cit., S. 256) Vom späten Morgen des Freitags an zertraten sie die heidnischen Heerhaufen der Kumanen und zerstreuten sich wie Pfeile über das Feld, griffen sich die schönen kumanischen Mädchen und mit ihnen Gold und Brokate und teuren Seidesamt. (Lied, op. cit., S. 24)

14. Vorlesung (12. Februar 1841)

153

Diese schöne Beschreibung endet mit der Schilderung, wie das tapfere Geschlecht Olegs sicher in den Steppen einschlummert, vertrauend, daß Не было онъ обидѣ порождено ни соколу, ни кречету, ни тебѣ, чръный воронъ, поганый половчине! (Slovo, op. cit., S. 256) es nicht geboren war, daß der Falke es kränke, noch der Gierfalke, noch du schwarzer Rabe, heidnischer Kumane! (Lied, op. cit., S. 25)

Dies Vertrauen jedoch war verderblich, die Anführer der Polovcer, Gzak und Končak eilen mit frischen Kräften herbei und stürmen am folgenden Tage auf Igor’s Heer los. Другаго дни велми рано кровавыя зори свѣтъ повѣдаютъ, чръныя тучя съ моря идутъ, хотятъ прикрыти 4 солнца, а въ нихъ трепещуть синии млънии. Быти грому великому, итти дождю стрѣлами съ Дону Великаго! […] (Slovo, op. cit., S. 256) Anderen Tags sehr früh verkündet blutige Morgenröte das Licht. Schwarze Wolken kommen vom Meer, wollen bedecken die vier Sonnen, und in ihnen zucken blaue Blitze: Das wird großen Donner geben! Regen von Pfeilen wird kommen vom großen Don! […] (Lied, op. sit., S. 25)

Nachdem er den Anfang des Kampfes geschildert, unterbricht der Dichter seine Erzählung und wirft einen traurigen Blick auf das Land der Rus’ und seine Vergangenheit, erwähnt die Zeiten Olegs, und klagt, daß unter seiner Regierung jene Zwietracht, welche später alles Unglück brachte, reichlich ausgesät ward. Dann kehrt er wieder zu seiner Erzählung zurück, und die traurigen Bilder der inneren Zwietracht mit der Schilderung von Igors Niederlage verbindend, sagt er: То было въ ты рати, и въ ты плъкы, а сицей рати не слышано! Съ зараниа до вечера, съ вечера до свѣта летятъ стрѣлы каленыя, гримлютъ сабли о шеломы, трещатъ копиа харалужныя въ полѣ незнаемѣ среди земли Половецкыи. Чръна земля подъ копыты костьми была посѣяна, а кровию польяна; тугою взыдоша по Руской земли! Что ми шумить, что ми звенить давечя рано предъ зорями? Игорь плъкы заворочаетъ; жаль бо ему мила брата Всеволода. Бишася день, бишася другый, третьяго дни къ полуднию падоша стязи Игоревы. Ту ся брата разлучиста на брезѣ быстрой Каялы; ту кроваваго вина не доста, ту пиръ докончаша храбрии русичи: сваты попоиша, а сами полегоша за землю Рускую. Ничить трава жалощами, а древо с тугою къ земли преклонилось. Уже бо, братие, невеселая година въстала, уже пустыни силу прикрыла. Въстала Обида въ силахъ Дажь-Божа внука, вступила дѣвою на землю

154

Teil I Трояню, въсплескала лебедиными крылы на синѣмъ море у Дону, плещучи, убуди жирня времена. (Slovo, op. cit., S. 258) Das geschah in jenen Kriegen und bei jenen Heerfahrten, aber von solchem Krieg wurde nie gehört! Von der Morgenfrühe bis zum Abend, vom Abend bis zum Licht fliegen gehärtete Pfeile, dröhnen Säbel gegen Helme, krachen stählerne Lanzen im unbekannten Feld inmitten des kumanischen Landes. Schwarz die Erde unter den Hufen, mit Knochen war sie besät und mit Blut begossen, als Kummer ging’s auf im russischen Lande. „Was lärmt mir, was klingt mir am Morgen, früh, vor der Morgenröte!“ Igor’ versucht, die Heerscharen zurückzubringen; denn es war ihm leid um den lieben Bruder Vsevolod. Sie hatten sich geschlagen einen Tag, sie hatten sich geschlagen den zweiten; am dritten Tagen gegen Mittag sanken die Feldzeichen Igor’s. Da wurden die Brüder getrennt am Ufer der schnellen Kajala. Da ging der blutige Wein aus, da beendeten das Gastmahl die tapferen Russensöhne: Sie hatten den Schwägern zu trinken gegeben und sich selbst hingelegt für das russische Land. Es neigt sich das Gras in Trauer, und der Baum hat sich mit Kummer zur Erde gebeugt. Schon ist, Brüder, unfrohe Zeit aufgestanden, schon hat Einöde die Kraft bedeckt. Auf stand Kränkung unter den Kräften des DashbogEnkels, betrat als Jungfrau das Land Trojans, plätscherte mit Schwanenflügeln auf dem blauen Meere am Don; verscheuchte plätschernd die fetten Zeiten. (Lied, op. cit., S. 27–28)

Dieses Unheil in Gestalt einer Jungfrau ist eine Erscheinung, welche oft in den slavischen Dichtungen auftritt und immer schreckliche Unglücksfälle ankündigt. Einige Stellen dieses Gedichts sind sehr dunkel. Die neuesten Ausgaben240 mit neuen Erklärungen sind nicht zu uns gelangt, aber die alten Kommentare deuten viele Stellen nicht gut. Jetzt, da man Volkslieder und Volkserzählungen241 eifrig zu sammeln und zu veröffentlichen anfängt, wird man in ihnen gewiß die beste Lösung der bis jetzt unerklärten Namen und unverständlichen Ausdrücke finden. Was z.B. jenen erwähnten Bojan242 betrifft, so mutmaßte man, daß dieser Sänger einer von den Rittern, von den Kriegern eines Fürsten der Rus’ gewesen 240 Vgl. Ivan Petrovič Sacharov (1807–1863) – Slovo o polku Igoreve, Igorja, syna Svjatoslava, vnuka Ol’gova. In: I.P.  Sacharov: Pesni russkago naroda. Čast’ 5. Sankt-Peterburg 1839, S. 154–304; darin auch die Durchsicht bisheriger Forschungen. 241 Vgl. Ivan Petrovič Sacharov: Pesni russkogo naroda. Čast’ I.  Sankt-Peterburg 1838 [http://e-heritage.ru]; Skazanija russkago naroda. Tom  I.  Sankt-Peterburg 1841 [http:// bibliotekar.ru]. 242 Nach  L.S.  Dmitriev stammt der Name „Bojan“ von dem Verb „баю“ – ich spreche, und bedeutet soviel wie „Erzähler, Dichter, Redner“ („разскащик, словесник, вития“) – L.A. Dmitriev: Istorija pervogo ozdanija „Slova o polku Igoreve“. Moskva-Leningrad 1960, S.  326. Vgl. auch – Heinrich Kunstmann: Bojan und Trojan. Einige dunkle Stellen des Igorliedes in neuer Sicht. In: Die Welt der Slaven, 35 (1990), 1, S. 162–187. Zur Etymologie

14. Vorlesung (12. Februar 1841)

155

ist; denn das Wort Boj bedeutet dasselbe, was „wojna“, der Krieg, der Kampf, deshalb bezeichnet Bojan einen „bojownik“ oder „wojownik“, d.h. Krieger. Man argwöhnte später, daß jener Bojan nichts weiter als ein ersonnenes Symbol der Volkssage ist, denn der slavische Ausdruck Baj bedeutet auch eine „bajka“, d.h. ein Märchen, eine Fabel. Beim Erzählen solcher Fabeln ist es selbst slavische Sitte, diesen fantastischen Gott anzurufen. Er soll einen Bauerkittel und Schuhe aus Lindenrinde tragen. Wenn der slavische Bauer Märchen zu erzählen beginnt, so fängt er damit an, daß er nach oben und rings um sich blickend, spricht: „Baj geht auf den Balken, Baj geht auf der Wand“, und dann, als wenn er ihn wirklich sehe, fragt er ihn: „Baj oder nicht Baj?“ d.h., soll ich reden oder nicht reden? Nur dieses ist von dieser Gottheit im Andenken des Volkes geblieben, und wohl möglich, daß der Name Bojan, welcher auch Bajan ausgesprochen werden könnte, der Name dieser erdichteten Person ist, welche die slavische Volkspoesie darstellt.

von Bojan vgl. Max Vasmer: Russisches etymolgisches Wörterbuch. Heidelberg 1976. Bd. 1; „Baj“ als slavische Gottheit konnte nicht ermittelt werden.

15. Vorlesung (16. Februar 1841) Fortsetzung der Betrachtung über das „Lied von der Heerfahrt Igor’s“ – Poetische Qualitäten des Liedes – Der Glaube an das Übernatürliche im Volk – Vampire und Vampirismus bei den Slaven – „Div“ – Die Bulgaren; ihre Eroberungen in Serbien, Belagerung, Einnahme und Vernichtung von Konstantinopel – Die Serben und ihre Herrscher – Die Uroš-Dynastie – Das Haus Nemanja.

Nach dieser Schlacht, in welcher, wie wir gesehen, die Polovcer den Kämpfern der Rus’ eine gänzliche Niederlage beibrachten und den Fürsten Igor’ gefangen nahmen, hatte sein Vater Svjatoslav einen vorhersagenden Traum, den er seinen Bojaren erzählt, wie folgt: А Святъславь мутенъ сонъ видѣ въ Киевѣ на горахъ. «Синочи съ вечера одѣвахуть мя, – рече – чръною паполомою на кровати тисовѣ; чръпахуть ми синее вино съ трудомь смѣшено, сыпахуть ми тъщими тулы поганыхъ тльковинъ великый женчюгь на лоно, и нѣгуютъ мя. Уже дьскы безъ кнѣса в моемъ теремѣ златовръсѣмъ. Всю нощь съ вечера бусови врани възграяху у Плѣсньска на болоньи, бѣша дебрь Кисаню и не сошлю къ синему морю». Und Svjatoslav sah einen dunklen Traum in Kiew auf den Bergen. „Heute Nacht, von Abend an, hüllte man mich“ so sprach er, „in ein schwarzes Leichentuch auf dem Bette aus Eibenholz. Man schöpfte mir blauen Wein, mit Bitternis gemischt. Man schüttete mir mit den leeren Köchern der heidnischen Dolmetscher eine große Perle auf den Schoß und liebkost mich. Schon sind die Sparren ohne Firstbalken an meinem goldgedeckten Palast. Die ganze Nacht von Abend an krächzten graublaue Raben. Bei Plesensk auf der Uferwiese waren Schlangen aus der Waldschlucht, und man trug mich zum blauen Meer.“

Die Bojaren hierauf erwidernd, verkünden ihm wie folgt, das Unglück. «Уже, княже, туга умь полонила. Се бо два сокола слѣтѣста съ отня стола злата поискати града Тьмутороканя, а любо испити шеломомь Дону. Уже соколома крильца припѣшали поганыхъ саблями, а самою опуташа въ путины желѣзны. Темно бо бѣ въ 3 день: два солнца помѣркоста, оба багряная стлъпа погасоста, и въ морѣ погрузиста, и съ нима молодая мѣсяца, Олегъ и Святъславъ, тъмою ся поволокоста. На рѣцѣ на Каялѣ тьма свѣтъ покрыла: по Руской земли прострошася половци, аки пардуже гнѣздо, и великое буйство подасть Хинови. „Schon, o Fürst, hat Kummer den Geist gefangen. Denn siehe, zwei Falken sind fortgeflogen vom goldenen Thron des Vaters, zu suchen die Stadt Tmutorokan’. Schon hat man den Falken die Flügel gestützt mit den Säbeln der Heiden und sie selbst gefesselt in eiserne Fesseln. Denn dunkel war es am

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_016

15. Vorlesung (16. Februar 1841)

157

dritten Tage. Die zwei Sonnen verdunkelten sich, beide Purpursäulen erloschen, und mit ihnen hüllten sich zwei junge Monde, Oleg und Svjatoslav, in Finsternis und versanken im Meer.“ Am Kajala-Flusse hat Dunkel das Licht bedeckt. Über das russische Land hin haben die Kumanen sich ausgebreitet wie Gepardenbrut, und große Kühnheit ward den Hunnen gegeben.“

Hier beginnt der schönste Abschnitt des Gedichts, in welchem der alte Fürst alle seine Gedanken und alle seine Wünsche der Rus’ zuwendet und den verwandten Fürsten Vorwürfe macht, daß sie das Vaterland verlassen haben. Diese Stelle ist in eine jede Sprache schwer zu übersetzen: Тогда великий Святъславъ изрони злато слово, слезами смѣшено, и рече: «О, моя сыновчя, Игорю и Всеволоде! Рано еста начала Половецкую землю мечи цвѣлити, а себѣ славы искати. Нъ нечестно одолѣсте, нечестно бо кровь поганую пролиясте. Ваю храбрая сердца въ жестоцемъ харалузѣ скована, а въ буести закалена. Се ли створисте моей сребреней сѣдинѣ! А уже не вижду власти сильнаго, и богатаго, и многовоя брата моего Ярослава, съ черниговьскими былями, съ могуты, и съ татраны, и съ шельбиры, и съ топчакы, и съ ревугы, и съ ольберы. Тии бо бес щитовь, съ засапожникы, кликомъ плъкы побѣждаютъ, звонячи въ прадѣднюю славу. Нъ рекосте: „Мужаемѣся сами: преднюю славу сами похитимъ, а заднюю си сами подѣлимъ“. А чи диво ся, братие, стару помолодити? Коли соколъ въ мытехъ бываетъ, высоко птацъ възбиваетъ, не дастъ гнѣзда своего въ обиду. Нъ се зло – княже ми непособие; наниче ся годины обратиша. Се у Римъ кричатъ подъ саблями половецкыми, а Володимиръ подъ ранами. Туга и тоска сыну Глѣбову!» Da ließ der große Svjatoslv ein goldenes Wort fallen, mit Tränen vermischt, und sprach: „O meine Brudersöhne Igor und Vsevolod! Früh habt ihr begonnen, das kumanische Land mit Schwertern zu reizen und euch Ruhm zu suchen. Aber nicht ehrenhaft habt ihr überwunden, nicht ehrenhaft heidnisches Blut vergossen. Eure tapferen Herzen sind in starkem Stahl geschmiedet und in Kühnheit gehärtet. Was habt ihr da angetan meinem silbrigen Grauhaar! Und schon sehe ich nicht mehr die Macht meines Bruders Jaroslav, des starken und reichen, mit seinen vielen Kriegern, mit den Vornehmen von Černigov: mit den Moguten und mit den Tatranen und mit den Šel’biren und mit den Topčaken und mit den Revugen und mit den Ol’beren. Denn die trage keine Schilde, nur ein Messer im Stiefelschaft, und so besiegten sie mit Geschrei die Heerscharen, läutend den Ruhm ihrer Ahnen. Aber ihr sprachet: ‚Wir wollen uns ermannen, den früheren Ruhm wollen wir uns rauben, den künftigen wollen wir uns teilen.‘ Aber ist es denn ein Wunderding, Brüder, daß ein Alter jung wird? Wenn der Falke in Mausern ist, treibt er Vögel in die Höhe. Er gibt sein Nest nicht der Kränkung preis. Aber dies ist das Übel: Mir fehlt der Beistand der Fürsten.“ Zum Schlimmen haben sich die Zeiten gewandt. Siehe, in Rimov schreit man unter den Säbeln der Kumanen, und Volodimir unter seinen Wunden. Kummer und Trübsal dem Sohn des Gleb!

158

Teil I

Ferner ruft Svjatoslav alle Fürsten der Rus’ der Reihe nach auf: Vsevolod den Großen, Rjurik den Starken mit seinem Bruder David, den Jaroslav von Galič, den er achtsinnig nennt, den Roman und Mstislav, und nachdem er an Igor’ gelangt ist, sagt er: Нъ уже, княже, Игорю утръпѣ солнцю свѣтъ, а древо не бологомъ листвие срони: по Роси и по Сули гради подѣлиша. А Игорева храбраго плъку не крѣсити! Aber schon schwand, o Fürst, für Igor’ der Sonne Licht, und nicht zum Heile verlor der Baum sein Laub. An der Ros’ und an der Sula hat man die Städte verteilt. Und Igor’s tapfere Heerschar kann man nicht auferwecken.

Dann die anderen zur Rache aufmunternd, zählt er sie bei Namen: Инъгварь и Всеволодъ, и вси три Мстиславичи, не худа гнѣзда шестокрилци! Не побѣдными жребии собѣ власти расхытисте! Кое ваши златыи шеломы и сулицы ляцкии и щиты? Загородите Полю ворота своими острыми стрѣлами, за землю Русскую, за раны Игоревы, буего Святъславлича! Ingvar’ und Vsevolod, und ihr, alle drei Mstislav-Söhne, Sechsflügler aus nicht geringem Nest! Nicht durch Siegelose habt ihr eure Herrschaftsgebiete euch gerissen! Wo sind eure goldenen Helme und eure polnischen Speere und eure Schilde? Versperrt der Steppe das Tor durch eure scharfen Pfeile – für das russische Land, für die Wunden Igor’s, des kühnen Svjatoslav-Sohnes.

Dieses ganze Bruchstück ist übrigens zugleich ein Lobgesang für die Nachkommen Jaroslav des Großen, und mit dem Namen eines Jeden kommen dem alten Fürsten glänzende oder traurige Erinnerungen ins Gedächtnis. So z.B. beweint er die bösen Vorfälle: Уже бо Сула не течетъ сребреными струями къ граду Переяславлю, и Двина болотомъ течетъ онымъ грознымъ полочаномъ подъ кликомъ поганыхъ. Единъ же Изяславъ, сынъ Васильковъ, позвони своими острыми мечи о шеломы литовския, притрепа славу дѣду своему Всеславу, а самъ подъ чрълеными щиты на кровавѣ травѣ притрепанъ литовскыми мечи. Исхыти юна кров, а тьи рекъ: «Дружину твою, княже, птиць крилы приодѣ, а звѣри кровь полизаша». Не бысть ту брата Брячяслава, ни другаго – Всеволода, единъ же изрони жемчюжну душу изъ храбра тѣла чресъ злато ожерелие. Уныли голоси, пониче веселие. Трубы трубятъ городеньскии. Ярославе и вси внуце Всеславли! Уже понизите стязи свои, вонзите свои мечи вережени, уже бо выскочисте изъ дѣдней славѣ. Вы бо своими крамолами начясте наводити поганыя на землю Рускую, на жизнь Всеславлю: которою бо бѣше насилие отъ земли Половецкыи!

15. Vorlesung (16. Februar 1841)

159

Schon fließt die Sula nicht mehr mit silbernen Wogen zur Stadt Perejaslavl’, und die Düna fließt als Sumpf jenen gewaltigen Polockern unter dem Geschrei der Heiden. Allein aber ließ Izjaslav Vasil’kos Sohn, seine scharfen Schwerter klingen gegen lithauische Helme, verdarb den Ruhm seines Ahnherrn Vseslav, er selbst aber verdarb durch lithauische Schwerter, gefallen unter roten Schilden auf blutigem Grase, wie mit der Geliebten auf dem Brautbett. Und er sprach: „Deine Gefolgschaft, o Fürst, haben die Vögel mit ihren Flügeln bedeckt, und die wilden Tiere haben das Blut geleckt.“ Nicht war da der Bruder Brjačjaslav noch der andere Vsevolod. Nein: Allein war er, als seine Perlenseele ihm aus dem tapferen Leib entwich durch den goldenen Halsschmuck. Die Städte sind verzagt, dahin sank das Frohsein, Trompetenton ertönt in Gorodno. Jaroslav, und alle anderen Vseslav-Enkel! Nun lasst schon sinken eure Feldzeichen, steckt ein eure schartigen Schwerter! Denn schon seid ihr herausgefallen aus dem Ruhm eures Ahnherrn! Denn ihr habt mit eurem Aufruf begonnen, die Heiden gegen russisches Land zu führen, gegen den Reichtum Vseslavs. Durch Zwist nämlich geschah Gewalt vom kumanischen Lande.

Endlich die Taten und den Tod Vseslav erzählend, fügt er hinzu: Тому въ Полотскѣ позвониша заутренюю рано у святыя Софеи въ колоколы, а онъ въ Киевѣ звонъ слыша. Аще и вѣща душа въ дръзѣ тѣлѣ, нъ часто бѣды страдаше. Тому вѣщей Боянъ и пръвое припѣвку, смысленый, рече: «Ни хытру, ни горазду, ни птицю горазду суда Божиа не минути!» О, стонати Руской земли, помянувше пръвую годину и пръвыхъ князей! Dem läutet man zu Polock die Morgenmesse in der Frühe in der heiligen Sophia, mit den Glocken, er aber hörte in Kiev den Klang. Hatte er auch eine weise Seele in einem verwegenen Leibe, so litt er doch oft Unglück. Über ihn sang der weise Bojan schon vor alters den Vers, der kluge, und sprach: „Weder der Listige noch der Starke noch der geschickte Zauberer kann dem Gericht Gottes entgehen.“ Oh – stöhnen muß das russische Land, denkt es der ersten Zeiten und der ersten Fürsten!

Nach dieser Elegie folgt ein anderes Klagelied, das der Dichter der Fürstin Jaroslavna und Gattin Igor’s in den Mund legt. На Дунаи Ярославнынъ гласъ слышитъ, зегзицею незнаема рано кычеть. «Полечю, – рече, – зегзицею по Дунаеви, омочю бебрянъ рукавъ въ Каялѣ рѣцѣ, утру князю кровавыя его раны на жестоцѣмъ его тѣлѣ». Ярославна рано плачетъ въ Путивлѣ на забралѣ, аркучи: «О вѣтре вѣтрило! Чему, господине, насильно вѣеши? Чему мычеши хиновьскыя стрѣлкы на своею нетрудною крилцю на моея лады вои? Мало ли ти бяшетъ горѣ подъ облакы вѣяти, лелѣючи корабли на синѣ морѣ? Чему, господине, мое веселие по ковылию развѣя?»

160

Teil I Ярославна рано плачеть Путивлю городу на заборолѣ, аркучи: «О Днепре Словутицю! Ты пробилъ еси каменныя горы сквозѣ землю Половецкую. Ты лелѣялъ еси на себѣ Святославли носады до плъку Кобякова. Възлелѣй, господине, мою ладу къ мнѣ, а быхъ не слала къ нему слезъ на море рано». Ярославна рано плачетъ въ Путивлѣ на забралѣ, аркучи: «Свѣтлое и тресвѣтлое слънце! Всѣмъ тепло и красно еси! Чему, господине, простре горячюю свою лучю на ладѣ вои? Въ полѣ безводнѣ жаждею имь лучи съпря-же, тугою имъ тули затче». An der Donau ist Jaroslavnas Stimme zu vernehmen. Als Kuckuck ruft sie in der Frühe zum unbekannten Lande: „Ich will fliegen“, spricht sie, „als Kukuck die Donau entlang, will benetzen den seidenen Ärmel im Kajala-Flusse, will dem Fürsten abwischen seine blutigen Wunden an seinem starken Körper.“ Jaroslavna weint in der Frühe zu Putivil’ auf dem Wehrgang und spricht: „O Wind, lieber Wind! Warum, o Herr, wehst du so stark? Warum trägst du die kleinen hunnischen Pfeile auf deinen leichten Flügeln gegen die Krieger meines Liebsten? War es dir denn zu wenig, oben, unter den Wolken, zu wehen, die Schiffe wiegend auf blauem Meer? Warum, Herr, hast du meine Freude zerweht über das Steppengras hin?“ Jaroslavna weint in der Frühe auf dem Wehrgang der Stadt Putivil’ und spricht: „O Dnjepr Slovutič! Du hast steinerne Berge durchbrochen durch das kumanische Land. Du hast gewiegt auf dir die Schiffe Svjatoslavs bis zum Heerhaufen Kobjaks. Wiege, Herr, meinen Liebsten zu mir, so brauchte ich nicht Tränen zu ihm senden zum Meer in der Frühe.“ Jaroslavna weint in der Frühe zu Putivil’ auf dem Wehrgang und spricht: „Lichte und dreimal lichte Sonne! Allen bist du warm und schön. Warum, Herr, bist du deinen brennenden Strahl auf die Krieger meines Liebsten gesendet, hast ihnen im wasserlosen Feld durch Durst die Bogen verkrümmt, durch Kummer ihnen die Köcher verschlossen?“

Hier erst beginnt die Erzählung von Igor’s Flucht aus der Gefangenschaft, dem ein geneigter Polovcer Ovlur ein Pferd zuführt. Diese ganze Beschreibung ist sehr poetisch: Прысну море полунощи; идутъ сморци мьглами. Игореви князю Богъ путь кажетъ изъ земли Половецкой на землю Рускую, къ отню злату столу. Погасоша вечеру зари. Игорь спитъ, Игорь бдитъ, Игорь мыслию поля мѣритъ отъ Великаго Дону до Малаго Донца. Комонь въ полуночи Овлуръ свисну за рѣкою – велить князю разумѣти: князю Игорю не быть! Кликну, стукну земля, въшумѣ трава, вежи ся половецкии подвизаша. А Игорь князь поскочи горнастаемъ къ тростию, и бѣлымъ гоголемъ на воду, възвръжеся на бръзъ комонь, и скочи съ него босымъ влъкомъ, и потече къ лугу Донца, и полетѣ соколомъ подъ мьглами, избивая гуси и лебеди завтроку, и обѣду, и ужинѣ. Коли Игорь соколомъ полетѣ, тогда Влуръ влъкомъ потече, труся собою студеную росу: претръгоста бо своя бръзая комоня. Донецъ рече: «Княже Игорю! Не мало ти величия, а Кончаку нелюбия, а Руской земли веселиа!» Игорь рече: «О, Донче! Не мало ти величия, лелѣявшу князя на влънахъ, стлавшу ему зелѣну траву на своихъ сребреныхъ брезѣхъ,

15. Vorlesung (16. Februar 1841)

161

одѣвавшу его теплыми мъглами подъ сѣнию зелену древу. Стрежаше его гоголемъ на водѣ, чайцами на струяхъ, чрьнядьми на ветрѣхъ». Не тако ли, рече, рѣка Стугна: худу струя имѣя, пожръши чужи ручьи и стругы, рострена к усту, уношу князя Ростислава затвори днѣ при темнѣ березѣ. Плачется мати Ростиславля по уноши князи Ростиславѣ. Уныша цвѣты жалобою, и древо с тугою къ земли прѣклонилося. […] – на слѣду Игоревѣ ѣздитъ Гзакъ съ Кончакомъ. Тогда врани не граахуть, галици помлъкоша, сорокы не троскоташа, полозие ползоша только. Дятлове тектомъ путь къ рѣцѣ кажутъ, соловии веселыми пѣсньми свѣтъ повѣдаютъ. Млъвитъ Гзакъ Кончакови: „Аже соколъ къ гнѣзду летитъ, – соколича рострѣляевѣ своими злачеными стрѣлами». Рече Кончакъ ко Гзѣ: «Аже соколъ къ гнѣзду летитъ, а вѣ соколца опутаевѣ красною дивицею». И рече Гзакъ къ Кончакови: «Аще его опутаевѣ красною дѣвицею, ни нама будетъ сокольца, ни нама красны дѣвице, то почнутъ наю птици бити въ полѣ Половецкомъ». Hoch spritze das Meer. Gen Mitternacht ziehen Wirbelstürme in Wolken: Dem Fürsten Igor’ zeigt Gott den Weg aus dem kumanischen Lande ins russische Land, zum goldenen Thron seines Vaters. Es erlosch die Dämmerung des Abends. Igor’ schläft. Igor’ wacht. Igor’ misst in Gedanken die Felder vom großen Don bis zum kleinen Donec. Das Pferd steht um Mitternacht bereit. Ovlur pfiff jenseits des Flusses. Er heißt den Fürsten aufmerken: Fürst Igor’ soll fort sein! Er rief, die Erde erdröhnte, das Gras rauschte auf. Die Zelte der Kumanen gerieten in Bewegung. Fürst Igor’ aber sprang als Hermelin zum Schilf und als weiße Schellente aufs Wasser. Er warf sich auf sein schnelles Roß und sprang von ihm herab als grauer Wolf. Und er lief zur Wiese des Donec und flog als Falke dahin unter den Wolken, schlug sich Gänse und Schwäne zur Speise am Morgen und zu Mittag und am Abend. Wenn Igor’ als Falke flog, dann lief Ovlur als Wolf, schüttelte im Laufen den kalten Tau von den Gräsern. Dann zuschanden geritten hatten sie ihre schnellen Rosse. Der Donec sprach: „Fürst Igor’! Nicht gering ist deine Größe und Končaks Haß und des russischen Landes Freude.“ Igor’ sprach: „O Donec! Nicht gering ist deine Größe, der du den Fürsten auf den Wellen gewiegt, ihm das grüne Gras hingebreitet an deinen silbernen Ufern, mich bekleidet hast mit warmen Nebeln unter dem Schatten des grünen Baumes, der du ihn behütet hast durch die Schellente auf dem Wasser, durch die Möwen auf den Wellen, durch die Reiherenten auf den Winden.“ Nicht also, heißt es, ist der Fluß Stugna. Kärglich strömt er dahin; doch da er fremde Bäche und Gießbäche verschlungen, breitete er sich bis zum Buschwerk und hielt den jungen Fürsten Rostislav fest auf dem Grunde beim dunklen Ufer. Es weint die Mutter Rostislavs um den Jüngling, den Fürsten Rostislav. Die Blumen verzagten vor Trauer, und der Baum hat sich mit Kummer zur Erde geneigt. […] Auf Igor’s Spuren reitet Gzak mit Končak. Da krächzten nicht die Raben, die Dohlen verstummten, die Elstern schwatzten nicht, Kleiber kletterten nur. Spechte zeigen durch Klopfen den Weg zum Fluß, Nachtigallen verkünden mit fröhlichen Liedern das Licht. Es sagt Gzak zu Končak: „Wenn der Falke zum Neste fliegt, werden wir den Falkensohn mit unseren vergoldeten Pfeilen erschießen.“ Sprach Končak zu Gzak: „Wenn der Falke zum Neste fliegt, so werden wir den jungen Falken fesseln durch ein schönes Mädchen.“ Und es sprach Gzak zu Končak: „Wenn wir

162

Teil I ihn fesseln durch ein schönes Mädchen, werden wir weder den jungen Falken haben noch das schöne Mädchen. Dann werden uns die Vögel schlagen in der kumanischen Steppe.“

Dieses Zwiegespräch vom jungen Falken betrifft Volodimir, Igor’s Sohn, der in den Händen der Polovcer geblieben. Er verliebte sich in die Tochter ihres Fürsten Kryczak243 [Končak], und nachdem er sich aus der Gefangenschaft befreit, nahm er sie zur Gattin und gab ihr bei der Taufe den Namen Svoboda.244 Das Gedicht endet mit der Beschreibung der Freude über die Rückkehr Igor’s; es ertönen für ihn Lieder bis an die Donau, d.h. sehr weit; er besucht den heiligen Ort in Kiev, genannt Boričev-Hügel, wo, wie man glaubte, das Bild der heiligen Mutter Gottes aus Konstantinopel durch einen gewissen Pirogost’245 gebracht, sich befand; die Ehre des Fürsten erschallt wie im Chor durchs ganze Land. Солнце свѣтится на небесѣ – Игорь князь въ Руской земли. Дѣвици поютъ на Дунаи – вьются голоси чрезъ море до Киева. Игорь ѣдетъ по Боричеву къ святѣй Богородици Пирогощей. Страны ради, гради весели. Пѣвше пѣснь старымъ княземъ, а потомъ молодымъ пѣти! Слава Игорю Святъславличю, Буй Туру Всеволоду, Владимиру Игоревичу! Здрави, князи и дружина, побарая за христьяны на поганыя плъки! Княземъ слава а дружинѣ! Аминь. (Slovo, op. cit., S. 260–266) Die Sonne leuchtet am Himmel – Fürst Igor’ im russischen Lande. Die Mädchen singen an der Donau, die Stimmen wehen übers Meer hin bis nach Kiev. Igor’ reitet den Boritschew-Hügel hinab zur heiligen Gottesmutter Pirogoschtschaja. Die Länder sind froh, die Städte fröhlich. Haben wir den alten Fürsten das Lied gesungen, so müssen wir danach den jungen singen. Ruhm 243 Den Namen Kryczak anstelle von Končak übernimmt Gustav Siegried aus der Übersetzung von Joseph Müller – Heldengesang vom Zuge gegen die Polowzer, op. cit., S. 81 (dort Kritschak). 244 Daß die getaufte Gattin von Vladimir (Volodimir) Igorevič Svoboda hieß, ist bei Vasilij Nikitič Tatiščev (1686–1750) überliefert; vgl. V.N.  Tatiščev: Istorija Rossijskaja v semi tomach. Moskva-Leningrad 1964, tom 3, S.  283 (1. Ausgabe – Moskva 1768–1843); vgl. dazu – Ėnciklopedija „Slova o polku Igoreve“ v pjati tomach. Hrsg. O.V.  Tvorogov (L.A.  Dmitriev, D.S.  Lichačev, S.A.  Semjačko). Sankt-Peterburg 1995, tom I, Stichwort: Владимир Игоревич. 245 Die Herkunft des Namens der Ikone „Gottesmutter Pirogoščaja“ und der Kirche „Церковь Успения Богорoдицы Пирогощи“ ist nicht ganz geklärt. A.I.  Sobolevskij führt den Namen auf den Bojaren Pirogost’ zurück, der sie aus Konstantinopel gebracht haben sollte; andere Forscher sagen: „Пирогощую наиболее вероятно следует производить от греческого слова πυργωτις башенная.“ (Pirogoščaja muß man wahrscheinlich aus dem griechischen Wort πυργωτις, turmartig, ableiten) – D.S.  Lichačev: Prigoščaja v „Slove o polku Igoreve. In: D.S. Lichačev: „Slovo o polku Igoreve i kul’tura ego vremeni. Leningrad 1978, S. 281; vgl. dazu das Stichwort „Пирогощая“ in: Ėncyklopedija „Slova o polku Igoreve“, op. cit.

15. Vorlesung (16. Februar 1841)

163

Igor’, dem Svjatoslav-Sohne, dem wilden Stier Vsevolod, Volodimir, dem Sohn Igor’s! Heil den Fürsten und der Gefolgschaft, die streiten für die Christen wider die heidnischen Heerscharen! Den Fürsten Ruhm und der Gefolgschaft. (Lied, op. cit., S. 31–42)

In diesem Gedicht sehen wir etwas ganz Entgegengesetztes dem, was uns in den übrigen slavischen Dichtungen der früheren Jahrhunderte vorkommt; wir sehen hier allgemein verbreiteten Schmerz und Trauer sehr abweichend von jener heiteren Lebendigkeit, mit der die polnischen Dichter und Chronikenschreiber beseelt sind. Nicht solche Gefühle finden wir z. B bei Gallus, wenn er die Stimme erhebt zur Ehre des Königs Bolesław, Eroberers von Pommern, wenn er das Soldatenlied anführt, in welchem die Nachkommen sich ihrer Taten brüstend sagen, sie hätten die Vorfahren übertroffen, weil jene gesalzenen und schon anrüchigen Fische herbeischafften, die Söhne aber sie frisch und lebendig nehmen, weil jene auf Hirsche, Rehe und Eber gejagt, diese aber die Untiere des Meeres erbeuten: Pisces salsos et fetentes apportabant alij, Palpitanes et recentes nunc apportant filij, Civitates invadebant patres nostri primitus, Hii procellas non verentur neque maris sonitus, Agitabant patres nostri cervos, apros, capreas, Hii venantur monstra maris et opes equoreas.246 Fisch in Salz und oft schon riechend, brachten andre einst heran, / Zuckende, noch lebendfrisch bringen ihre Söhne jetzt. / Unsre Väter, sie bestürmten Städte einst in früher Zeit, / Diese fürchten nicht die Stürme und des Meeres Brausen nicht. / Unsre Väter jagten Hirschen, Rehen und dem Wildschwein nach, / Diesen Meeresungetümen und den Schätzen aus der See.247

Dieses Lied drückt Freude und Triumph aus, weil Polen dazumal groß und zur Freiheit aufwuchs, da hingegen eine traurige Ahnung sich im Land der Rus’ kundgab. Schon an Nestor ist bemerkbar, daß dies Land in die Schwäche verfiel, sich nicht regieren und seinen Fürsten den kräftigen Willen zu großen Unternehmungen nicht geben zu können. Das slavische Epos hat diese Eigentümlichkeit an sich, daß ihm, so zu sagen, das Springfederelement (machine) fehlt, welches wir in allen poetischen 246 Martini Galli Chronicon ad fidem codicum qui servantur in Pulaviensi tabulario celsissimi Adami principis Czartoryscii, palatine regni Poloniarum […], adjecit Joannes Vincentius Bandtkie. Varsaviae MDCCCXXIV [1824], S. 193. 247 Polens Anfänge – Gallus Anonymus. Chronik und Taten der Herzöge und Füsten von Polen. Übersetzt, eingeleitet und erklärt von Josef Bujnoch. Graz u.a. 1978. S. 135.

164

Teil I

Schöpfungen anderer Völker finden, d.h. es fehlt ihm am Wunderbaren (le merveilleux). Die Poesie der Normannen fliegt hoch auf, immer von Wolken umgeben; ihre Helden sind immer unter dem Einfluss irgendeiner Gottheit; jeder von ihnen muß ein furchtbarer Sieger sein. Die griechischen Dichter schufen einen Himmel, gelegen auf dem Berge Olymp, und die ihm entgegenliegende Seite stellten sie unter der Gestalt der Hölle (Τάρταρος) dar. Die griechische Poesie ist menschlich. Der Mensch handelt dort aus eigenem Antrieb, er ist der Urheber seiner Taten, obwohl er sich zwischen zwei entgegensetzten Polen befindet, zwischen den Gottheiten des Himmels und den Gottheiten der Hölle. Diese zwei Pole der unsichtbaren Welt geben die Triebkraft für alle ihre Begriffe. Die Slaven entbehren dieses Element: der Gesichtskreis ihrer Dichtung, wenigstens der altertümlichen, ist zwischen der Donau, den Wohnsitzen der Litauer und der Deutschen eingeschlossen. Was in derselben besondere Aufmerksamkeit verdient, das ist die Vervollkommnung der äußeren Form, der Plastik. Die normannischen Gedichte sind in dieser Hinsicht einförmig: der Dichter bewegt sich in dem Reich der Lüfte, er drückt sich jedoch klar und bestimmt aus; der griechische Stil ist glänzend und ausgebildet; die Slaven halten die Mitte zwischen der gelehrten Freiheit der Griechen und der ernsten Einfalt der Normannen; ihre Dumy (Romanzen) und Lieder könnte man mit den lyrischen Dichtungen der Skandinavier vergleichen, welche Bahn zu betreten den neueren Deutschen noch nicht gelungen ist. Die slavische Dichtung ist leicht und einfach, sie hat weder die skandinavischen noch griechischen Maße, nähert sich vielmehr der Prosa der lateinischen Kirche, dieser so musikalischen und harmoniereichen, zuweilen gereimten, zuweilen auch maßhaltenden Prosa. Ihre Form leuchtet in den alten Hymnen248 des Heiligen Wojciech und den schönsten Andachtsliedern durch. Wir haben alles angedeutet, was eine Vorstellung von der Schönheit dieser Poesie geben kann, und welche Gefühle sie in jedem Slaven weckt; um jedoch alle ihre Vorzüge und Redeschönheit abzuschätzen, ist es nötig, die Geschichte des slavischen Volkes genau zu durchschauen, denn jeder Ausdruck dieser Dichtung findet sich später bei allen polnischen und tschechischen Dichtern wieder, man kann sogar sagen, daß jeder Vers davon als Text den neuen Dichtern gedient hat, wenngleich sie selbst nichts davon wußten. In Rußland haben wenige Schriftsteller „Das Lied von der Heerfahrt Igor’s“ gelesen, noch wenigere über denselben nachgedacht, denn dort gerät das Altslavische in Verfall und niemand wollte in die Schönheit des Stils dieses Denkmals eindringen.

248 Gemeint ist die „Bogurodzica“, die fälschlicherweise dem heiligen Wojciech (Adalbert) zugeschrieben wird.

15. Vorlesung (16. Februar 1841)

165

Die Polen249 haben fast nie von ihm gehört. [Die Tschechen250 veröffentlichten und untersuchten das Lied], allerdings geschah dies mehr der philologischen Forschung als seines poetischen Wertes wegen. Und doch ist dies eines der ältesten slavischen Dichtungsdenkmale und außergewöhnlich schön. Alle Bilder sind hier aus der Natur entnommen und ihr gemäß dargestellt. Der Slave kann dies Gedicht nicht ohne Freude und Rührung lesen; die bekannten Bilder erinnern ihn an alles und stellen ihm die Begebenheiten in so örtlichem Lichte dar, daß es ihm scheint, als wären sie von heute. Was ist z.B. wahrhafter als die Beschreibung der Flucht Igor’s? Um jedoch zu wissen, wie viel Leben in diesen Einzelheiten atmet, ist es nötig zu hören, wie ein entronnener Soldat oder politischer Gefangene, dem es gelungen, der Wache auf dem Wege nach Sibirien zu entschlüpfen, seine Wanderung durch die Steppen, seine Ängste und Hoffnungen erzählt. Auch er wird von Raben, Krähen und Elstern wie von Unheil verkündenden Vögeln sprechen, die dem Menschen in die Wüste nacheilen, seine Spuren entdecken, die Verstecke verraten, indem sie krächzend den Flüchtling verfolgen wie die Jagdhunde einen Fuchs. [Er wird auch sicherlich den Specht erwähnen, denn das ist kein unwichtiger Hinweis. In dieser waldarmen Steppengegend kündigt der Specht eine wichtige Botschaft an. Wenn die Wanderer ihn bemerkt, kann er hoffen, daß er in der Nähe Bäume findet, dann einen Hain, dann einen Bach und entlang des Baches einen Fluß, also einen Wegweiser in dieser Wildnis.] Diese Einzelheiten wird der Bewohner bevölkerter Länder, so verschieden in Sitten und Gebräuchen von jenen fernen Gegenden, wo die Begebenheit vor sich ging, nicht begreifen. Doch auch der französische Soldat, welcher in Rußland Kriegsgefangener gewesen, vernachlässigt nicht diese Waldvögel zu erwähnen, [was wir in den unlängst veröffentlichten Memoiren eines dieser Soldaten gelesen haben.251 Die patriotischen Empfindungen, die der Dichter Igor’ in den Mund legt, sind eine dichterische Fiktion. Er wollte eine Epoche, in der er selbst lebte, idealisieren und und Wünsche und Bedürfnisse des slavischen Volkes zum Ausdruck bringen. Er führt sogar die Worte des mythischen Dichters Bojan an, der sagt: «Тяжко ти головы кромѣ плечю, зло ти тѣлу кромѣ головы» (Zwar schwer ist es dir, Kopf, ohne Schultern, (aber) böse ist es dir, Leib, ohne Kopf!)252. Hier dominiert der Wille zur Macht und vor allem 249 Vgl. dazu Antonina Obrębska-Jabłońska: „Słowo o wyprawie Igora“ w przekładach polskich. In: Pamiętnik Literacki, 43 (1952), S. 408–441. 250 Vgl. Slovo o pluku Igorevě. Ruski text v transkripci, český překlad a výklady Josefa Jungmanna z R. 1810. Praha 1932 [http://nevmenandr.net]; Slovo o pluku Igorově. Přeložil Václav Hanka. Praha 1821. 251 Quelle nicht ermittelt. 252 Das Lied von der Heerfahrt Igor’s, op. cit., S. 42.

166

Teil I

zur staatlichen Einheit. Die Waräger-Fürsten kümmerten sich jedoch wenig um nationale Angelegenheiten. Indem sie sich ausschließlich mit persönlichen Fragen von Einfluß und Macht beschäftigten, bekämpften sie sich ständig gegenseitig. Die Rus’ war ihnen so gleichgültig, daß sie bereit waren, sie zu verlassen, sich irgendwohin zu begeben, nur um zu herrschen. Der Urenkel253 Igor’s ging sogar bis an die Donau, um die Herrschaft über das Land der Bulgaren zu erlangen, und er hätte die russische Erde verlassen und sich an der Donau angesiedelt, wenn er nicht vom griechischen Kaiser vertrieben worden wäre.]254 Ferner finden wir in den alten slavischen Dichtern Erwähnungen, die jenem Volksglauben angehören, den man später in den serbischen Dichtungen [und in den polnischen Chroniken] bemerken kann. Dieser Glaube verbindet sich nicht streng mit dem Hauptdogma, er hält sich jedoch an dasselbe und hat mit ihm eine gemeinsame Quelle. Die Perser z.B. glauben, es gebe gewisse Geister, die den Elementen vorgesetzt sind; diese bei den Indern gewöhnliche Vorstellung ist auch bei den Slaven einheimisch. Die keltischen Völker lassen vornehmlich die Macht des Doppelsehens zu und die Fähigkeit die Zukunft vorherzuschauen. Unter den Deutschen, unter den am meisten entfalteten Geistern, zeigen sich die meisten hellsehenden Männer und Frauen; das Hellsehen (gewöhnlich das Sehen genannt) ist eine Eigenschaft des deutschen Geschlechts. Den Slaven gehört hauptsächlich der Glaube an upiory, 253 Mit „Urenkel Igor’s“ (l’arrière petit-fils) ist allerdings Igor’s Sohn Svjatoslav Igorevič (um 942–972) gemeint; über Svjatoslav  I. vgl. Andrej  N.  Sacharov: Diplomatija Svjatoslava. Moskva 1991. 254 Dieser Absatz fehlt bei G. Siegfried und ist nach F. Wrotnowski (A. Mickiewicz: Literatura słowiańska, op. cit., Bd. I, Poznań 1865, S. 125) im Vergleich mit der französischen Ausgabe (A.  Mickiewicz: Les Slaves, op. cit., Bd. I, 1849, S.  201–202) nachübersetzt worden. Der bei G. Siefried darauf folgende Absatz lautet: „Ein polnischer Dichter der Neuzeit, Antoni Malczewski, gebraucht häufig Worte und Ausdrucksweisen dieses Gedichts, obgleich man sieht, daß er es nicht in den Händen gehabt. Was das in ihm vorherrschende poetische Gefühl betrifft, so ist es folgendes: Der Dichter hat in seiner Schöpfung das Jahrhundert, in welchem er gelebt, idealisiert; er hat die damals allgemeinen Wünsche und Bestrebungen des slavischen Volkes ausgesprochen. Es ist hier vorherrschend das Verlangen nach einer Einheit, um die Fremden zurückzudrängen; das volkstümliche Gefühl, den Begriff des Vaterlandes, treffen wir in dieser Dichtung nicht, ebenso wie in der Geschichte der jemaligen Epoche keine Spur hiervon vorhanden ist, weil es noch nicht erzeugt war.“ kommt in der erwähnten Edition von F.  Wrotnowski nicht vor. In der französischen Ausgabe beginnt der Satz mit: „Les poëtes modernes polonais et russes […].“ – (A. Mickiewicz: Les Slaves, Bd. I, Paris 1849, S. 201); L. Płoszewski fügt hinzu „Puszkin i Zaleski“ (A. Mickiewicz: Dzieła. Tom VIII: Literatura słowiańska. Kurs pierwszy, op. cit., S. 187). Um die Reihenfolge der Absätze in der Wrotnowski-Edition (1863) einzuhalten, ist dieser Absatz in die Fußnote verlegt worden.

15. Vorlesung (16. Februar 1841)

167

Gespenster, Vampire, er ist von ihnen den Deutschen und Kelten mitgeteilt und sogar bei den alten Griechen und Römern bemerkbar. Daß sein Ursprung an das slavische Geschlecht geknüpft ist, davon hat man ohne weitere Untersuchung selbst in dem Namen des Gespenstes den Beweis. Der Name κατακαναςτα ist bei den Griechen nur die wörtliche Übersetzung des serbischen Ausdrucks [крвопилац]255, der „Blutsauger“ bedeutet, der lateinische Name strix aber stammt offenbar von dem slavischen strzyga, upiór – der Vampir. Der Begriff der upiory ist bei den Slaven so vollstandig ausgebildet, und gilt für so wahr, daß die Gelehrten, namentlich aber Dalibor256 ihn zu systematisieren und vollkommen zu erklären vermochten. Die upiory nach diesem Verständnisse sind weder Besessene, noch böse Geister, sondern vielmehr Mißgeburten. Ein upiór soll mit zwei Herzen geboren werden, und er weiß hievon anfänglich selbst nichts, nur erst mit der Zeit beginnt in ihm das böse Herz zu wirken. Im gewöhnlichen Leben kennen sich die upiory gegenseitig nicht, aber sie begegnen einander in heimlichen Zusammenkünften, wo sie gemeinschaftlich über die Mittel der Ausrottung oder Vernichtung der Bevölkerung beratschlagen; denn alle ihre Bestrebungen gehen nämlich nach diesem Ziele hin, und daher meint auch das slavische Volk, daß Hungersnot und Pestlust von ihnen verursacht werden. Dieser Glaube ist so verbreitet und lebendig in Serbien, der Krajina und der Herzegovina. Vor einigen Jahren, als in diesen Gegenden die Cholera wütete, hat das Volk diese Krankheit dem vernichtenden Einfluß der Vampire zugeschrieben; viele Männer und Frauen wurden vom Pöbel hingerichtet, weil man annahm, daß sie Vampire sind oder mit ihnen in Verbindung stehen. Die Dichtungen und sogar die Chroniken257 bezeugen oftmals ihr Dasein, und die Volksüberlieferungen lehren, wie man sich derselben entledigen soll. Das Mittel ist folgendes: Nachdem man einen Vampir ergriffen, muß man ihm Kopf und Beine abhauen, ihn dann selbst sorgfältig an den Boden des Sarges festnageln, denn sonst würde er beim ersten Schein 255 Vgl. Vuk Stefanovič Karadžić: Srpski rječnik istumačen njemačkijem i latinskijem riječima (Lexikon serbico-germanico-latinum). Beograd 41935, S. 311. 256 Pseudonym des ukrainischen Historikers und Etnographen Іван Миколайович Вагилевич (Ivan M. Vahylevyč – 1811–1866); polnisch Jan Wagilewicz. Autor der Abhandlung: „O upjrech i wid’mách“. In: Časopis Českého Musem, 14. Jg. (1840), Bd.. III, S. 231–261; Übersetzer des Igor’-Liedes ins Ukrainische; im Internet unter [http://litopys.org.ua]. 257 Vgl. Václav Hájek z Libočan: Kronyka czeská. Prag 1541; digitalisierte (lateinische) Ausgabe von 1819 unter [www.alep.muni.cze]. Deutsche Übersetzung: Wenceslai Hagecii von Libotschan, Böhmische Chronik […]. Übersetzt von Johannes Sandel. Leipzig 1718. Internet: [http://digital.ub.uni-duesseldorf.de]. Neue tschechische Ausgabe – Václav Hájek z Libočan: Kronika česká. Hrsg. Jan Linka. Praha 2013. Vgl. Zdeněk Beneš: Hájkova Kronika česká a české historické myšlení. In: Studia Comeniana et historica, Bd. 29 (1999), Nr. 62, S. 46–60.

168

Teil I

des Mondlichts auf seine Gruft wiederaufleben und aufstehen. Aus diesen in der Türkei und Griechenland ausgebreiteten Meinungen hat Lord Byron, wie bekannt, ein schönes Gedicht gemacht.258 Daß der Vampirglaube von den Slaven ausging, ersieht man auch daraus, daß dieser Glaube sich bei den Griechen und Römern nicht im Geringsten mit dem religiösen System der Vielgötterei vereint, und die upiory dort nur als Schatten oder Mahren, welche das Land zur Verteidigung gegen Fremde aufriefen, dargestellt werden.259 [Neben Vampirgestalten begegnen wir noch anderen phantastischen Wesen, welche die Slaven vile260 nennen. Diese Wesen stammen aus dem Osten, ähnlich wie die Genien (genii), die über die Elemente herrschen. Selbst die Bezeichnung dieser östlichen Genien in den slavischen Sprachen, Div, stammt aus dem Sanskrit, und dieser wird bei den Persern bis heute verwendet und trägt dieselbe Bedeutung.261 Im Islam wurde später der Begriff Div mit „Teufel“ vermengt. In der neueren Poesie des Ostens erscheint der Div bereits als verfluchter Geist. Früher war das der Genius; in dieser Eigenschaft erscheint er in der slavischen und serbischen Poesie. Mit diesem einzigen Denkmal, das den Titel Igor’-Lied trägt und die Heerfahrt des Fürsten gegen die Polovcer besingt, endet die Geschichte der Poesie der mittelalterlichen Rus’. Bald erfüllten sich die düsteren Vorahnungen und Befürchtungen herannahender Katastrophen, die Nestor ängstigten und in diesem Poem zum Ausdruck gelangen. Der Mongolensturm überflutet die Rus’, entreißt ihr die Unabhängigkeit, zertritt die Zivilisation und ließ die Poesie verstummen.

258 George Gordon Byron: „The Giaour“. A fragment of a turkish tale. London 1813; dort tauchen die Namen Ghul und Afrit auf. Vgl. auch Mickiewiczs Übersetzung in: A. Mickiewicz: Dzieła. Tom  2: Powieści poetyckie. Warszawa 1949; ferner: Christopher Frayling: Vampyeres – Lord Byron to Count Dracula. London-Boston 1992. 259 In der Übersetzung von L.  Płoszewski (A.  Mickiewicz: Dzieła. Tom VIII: Literatura słowiańska. Kurs pierwszy, op. cit., S.  190) lautet der Satz: „Im [Igor’-Lied] erscheinen Vampir-Gestalten nur als Gespenster, Schatten oder Mahren auf, welche das Land zur Verteidigung gegen Fremde aufrufen und Flüssen, Bergen und dem Meer die Heerfahrt Igor’s ankündigen. “ 260 Vila (Plural Vile) – Bergfee, Nymphe. Sie leben in hohen felsigen Bergen am Wasser; es sind junge, schöne, weißgekleidete Frauen mit langem Haar; – vgl. Vuk Stefanović Karadžić: Lexikon serbico-germanico-latinum. Srpski rječnik istumačen njemačkijem i latinskijem riječima. Beograd 1935 (4. Auflage), S. 64. 261 „Div(s)“ – Fabelwesen aus der iranischen Mythologie. Zu „div“ vgl. Max Vasmer: Russisches etymologisches Wörterbuch. Heidelberg 1976, Bd. 1, S. 350: „Unglücksvogel, Wiedehopf“; ferner – Vesta Sarkhosh Curtis: Persische Mythen. Stuttgart 1996; Norbert Reiter: Das Glaubensgut der Slawen im europäischen Verbund. Wiesbaden 2009.

15. Vorlesung (16. Februar 1841)

169

Begeben wir uns nun auf die andere Seite der Karpaten, indem wir einen Blick auf die Literatur der Bulgaren, vor allem aber die der Serben werfen.]262 Die unter dem allgemeinen Namen der Provinzen Illyrien und Mösien von der römischen Herrschaft umfaßten Länder waren von undenklichen Zeiten her durch die Slaven bevölkert. Der Einbruch der Barbaren vertrieb sie häufig aus den Tälern in die Berge und verwischte an vielen Orten die Spur ihres Namens. Dennoch, obgleich vermischt mit den Ankömmlingen und von ihnen unterdrückt, waren sie häufig im Stande das Joch derselben abzuschütteln. So rotteten zuerst zwischen den Jahren 637 und 640 die Kroaten ihre Unterjocher, die Avaren, aus, so wurden später nach dem Sturz der bulgarischen Übermacht die Serben berühmt. Das Nomadenvolk der Bulgaren263 kam im 4. Jahrhundert vom Don, sie hatten ihre eigene Regierung, verbreiteten sich später an der Donau, eroberten Moldavien, die Walachei und Siebenbürgen. Die slavischen Völker vermischten sich dermaßen mit ihnen, daß nach der Einführung des Christentums die ursprünglichen Bulgaren gar nicht mehr zu finden sind, die mit ihnen zusammengeschlossenen Slaven wurden aber unter diesem Namen dem östlichen Kaisertum furchtbar, sie belagerten im 9. Jahrhundert Konstantinopel. Bald jedoch trat der Kaiser Basileios II., genannt der Bulgaren-Mörder, auf, und nach einem dreißigjährigen, mit ungeheurer Grausamkeit geführten Krieg von 981–1019 vernichtete er das bulgarische Kaiserreich.264 Nur ein kleines Stück dieses Landes bewahrte eine gewisse Unabhängigkeit. Die Schriftsteller jener Zeit und beinahe alle späteren Forschungen behaupten, daß die ersten Kirchenbücher für die Slaven im Land der Bulgaren, in Mösien, Makedonien und Thrakien verfaßt worden sind. Die früheste Erwähnung der Slaven, als eines unabhängigen Volkes, geschieht zu Justinians265 Zeiten. Der Lehrer dieses Kaisers, Theophilos266, gesteht sogar, daß sein Zögling aus slavischem Geschlecht stamme. Es bestätigen dies die Namen des Justinian selbst, wie auch die seines Vaters und seiner Mutter. Dieser Kaiser führte unter den Seinigen den Namen Upravda, was auf Justinian herauskommt, denn die lateinischen Wörter jus, justitia, entsprechen 262 Der fehlende Absatz wurde nach F. Wrotnowski (A. Mickiewicz: Literatura słowiańska, op. cit., Bd. I, Poznań 1865, S. 127) im Vergleich mit der französischen Ausgabe (A. Mickiewicz: Les Slaves, Bd. I, Paris 1849, S. 204–205) nachübersetzt. 263 Vgl. Daniel Ziemann: Vom Wandervolk zur Grossmacht: die Entstehung Bulgariens im frühen Mittelalter (7.–9. Jahrhundert). Köln-Weimar 2007. 264 Basileios II. – Βασίλειος ὁ Βουλγαροκτόνος (958–1025); vgl. Paul Meinrad Strässle: Krieg und Kriegführung in Byzanz. Die Kriege Kaiser Basileios’ II. gegen die Bulgaren (976–1019). Köln-Weimar 2006. 265 Justinian – Flavius Petrus Sabbatius Iustinianus (um 482–565); vgl. Mischa Meier: Justinian. Herrschaft, Reich und Religion. München 2004. 266 Theophilos (813–842), byzantinischer Kaiser von 829–842.

170

Teil I

dem slavischen pravda, der Laut „v“ ist aber nur der in vielen Sprachen gewöhnliche Beilaut. Der Vater Justinians wurde in der thrako-phrygischen Sprache Sabbatius, Sabbatios oder Sabbazios genannt, in der vaterländischen hieß er „Istok“, russisch vostok, polnisch wschód; die Mutter hatte einen offenbar slavischen Namen Biglenica oder Viglenica (lat. Vigilantia).267 Die an den Ufern der Donau ansässigen Serben verblieben in stetem Zusammenhang mit den Griechen und wurden durch sogenannte Župane268 regiert. Die Griechen verstanden es, ihre Oberhoheit über sie auszudehnen und ernannten selber die Groß-Župane, welche von den anderen Županen selten anerkannt wurden. Um das Jahr 1120 sehen wir Uroš269, den Urahnen 267 Mickiewicz übernimmt hier die Deutung des Namens von P.J.  Schaffarik: Slawische Alterthümer, op. cit., Bd. II, S. 160–161: „ Der Vater des Justinianus, den Prokop und Theophanes Sabbatios nennen, heuißt bei Theophiles mit seinem einheimischen Namen Istok (sol oriens), ein Name, welcher die slawische Übersetzung des thrakisch-phyrgischen Namens Sabbatios, Sabbazios ist; die Mutter und die Schwerster desselben hießen Bigleniza oder Wigleniza […]. Justinian selbst hieß unter seinen Landsleuten Uprawda oder Wprawda […], ein Name der mit dem lateinischen Justinanus übereinkommt; prawda heißt nämlich im Altslawischen soviel wie jus, justitia, w ist ein Hauch, der sehr häufig vor slawischen Wörtern gefunden wird.“ Schaffarik verweist hier auch auf Jacob Grimm, der eine ähnliche Deutung vornimmt – vgl. Jacob Grimm: Vorrede. In: Wuk’s Stephanovitsch kleine Serbische Grammatik, verdeutscht von Jacob Grimm. Leipzig und Berlin 1824, S. IV (Fußnote). An der Legendenbildung von der slavischen Abstammung des bazantischen Kaisers Justinian beteiligten sich schon früher andere Forscher – Giacomo di Pietro Luccari [Jakob Lukarević]: Copioso Ristretto degli Abbali di Rausa [Ragusa]. Venedig 1605, Libro primo, S. 3: „Selimir dopò questo (come si vede nell’Efemeridi di Dolcea) prese per moglie la sorella d’Istok Barone Slauo, il quale haueua per moglie Biglenza sorella di Giustiniano, e madre di Giustino Imperatori Romani, i quali, com’hò veduto in un Diadario in Bulgaria, in lingua Slaua sono chiamati Vprauda, che significa Giustiniano, ò Giustino.“; auf Lucarri bezieht sich auch Józef Aleksander Jabłonowski: Leci et Czechi adversus scriptorem recentissimum vindiciae. Pars II. Lipsiae 1771, S. 229; das Werk kannte Mickiewicz. Ferner – Mavro Orbini: Il Regno degli Slavi. Pesaro 1601; vgl. dazu – vgl. Giovanna Brogi Bercoff: Il „Regno degli Slavi“ di Mavro Orbii et il „Copioso ristretto degli Annali di Rausa“ di Giaccomo Luccari. In: Studi slavistici in ricordo di Carlo Verdiani. Pisa 1979, S. 41–54; schließlich Niccolo Alamanni (1583–1626) als Herausgeber und Kommentator der „Geheimgeschichten“ von Prokopius von Cäsarea (= Procopius Caesariensis: Anecdota. Arcana historia, qui est liber nonus historiarum. Ex Bibliotheca Vaticana Nicolaus Alemannus protulit, latinè reddidit. Lyon 1623). 268 Županja – Gespanschaften; kleinräumige Territorial- und Verwaltungseinheiten in Serbien und Kroatien; župan – Gespan (Anführer, comes). 269 Das Datum 1120 übernimmt Mickiewicz von P.J.  Schaffarik: Slawische Alterthümer, op. cit., S. 253; dort auch die falsche Behauptung, daß Uroš der Urahne des Hauses Nemanja ist; Uroš I. (um 1118–1140) – serbischer Groß-Župan von Raszien (Raška in Serbien) aus dem Geschlecht der Vukanovići; ihm folgte Uroš II. (um 1140–1161), der Groß-Župan von Serbien; vgl. Tibor Živković: Jedna hipoteza u poreklu velikog župana Uroša I. In: Istorijski časopis, 2005, broj 52, S. 9–22.

15. Vorlesung (16. Februar 1841)

171

des in diesen Gegenden einst glänzenden Hauses Nemanja. Nach ihm sehen wir Stefan Nemanja270, welcher mit Hilfe des morgenländischen Kaisers zum Groß-Župan ernannt wurde. Dieser Stefan Nemanja hatte drei Söhne.271 Der jüngste von ihnen, Sava, widmete sich dem klösterlichen Leben, war der erste serbische Erzbischof und ist berühmt in der Überlieferung des Reichs als der Apostel seines Vaterlandes. Der mittlere, auch Stefan Prvovenčani genannt, d.h. der zuerst gekrönte, übernahm die Regierung nach dem Vater; der älteste, Vukan, erhielt einen besonderen Teil des Landes.272 Später vermehrte sich das Geschlecht der Nemanjići (Nemanjiden) in viele Nebenäste und führte unter sich fortwährende Kämpfe. Die Geschichte dieser Zwiste ist sehr ähnlich der der Hauskriege im nördlichen Slaventum. Die Groß-Župane oder die hiesigen Fürsten gehören oftmals der entgegengesetzten Religion an; kein heidnisches Element ist jedoch sichtbar, nur zwei unterschiedliche Bekenntnisse treten auf die Bühne, das griechische und römische, die ganze Sache dreht sich aber um die Gewalt, um das Übergewicht. Die einen von ihnen suchen daher die Stütze in Konstantinopel, die anderen in Rom, und zuweilen bemühen sie sich, sowohl vom Papst als vom Patriarchen gesalbt zu werden, um sich von beiden Seiten her zu kräftigen oder die Entzweiung zu heben. Nebenbei besteht fortwährend Überfall, Verrat und Mord. Der Sohn stößt den Vater vom Thron, der Vater läßt dem Sohn die Augen ausstechen, oder verschließt denselben in ein Kloster; ein Bruder mordet den anderen oder seine unmündigen Kinder. Mit einem Worte, es wiederholt sich hier die politische Sitte Konstantinopels, und diese ganze Geschichte ist, man kann es sagen, eine treue Abschrift der Geschichte 270 Stefan Nemanja (1113–1199), Groß-Župan von Raška (Serbien); sein Vater hieß Zavida aus dem Hause Vukanović; Begründer der Dynastie der Nemanjiden (Nemjanići); vgl. Željko Fajfrič: Sveta loza Stefana Nemanje. Beograd 1998. 271 1. Sava (1175–1236), Sveti Sava; vgl. Sveti Sava: Sabrani spisi. Hrsg. Dmitrije Bogdanović. Beograd 1986; ferner – Milutin S. Tasić: Der heilige Sava. Beograd-Zemun 1994; 2. Stefan Nemanjić (Stefan Prvovenčani)  –  gestorben 1227; serbischer Groß-Župan (1196–1217) und serbischer König (1217–1227); vgl. Stefan Provenčani: Sabrani spisi. Beograd 1988; 3. Vukan (Lebensdaten unklar), König von Zeta (1196–1208), Fürst von Raszien (Raška) von 1202–1204. 272 Dieser Absatz wurde gleich korrigiert, weil Mickiewicz hier (und bei der Darstellung der serbischen Geschichte überhaupt) falsche Angaben aus der Einleitung von Therese Albertine Luise von Jakob fast wörtlich übernimmt; vgl. – Talvj: „Kurzer Abriß einer Geschichte des untergegangenen serbischen Reiches als Einleitung“. In: Volkslieder der Serben. Metrisch übersetzt und historisch eingeleitet von Talvj. Erster Band. Halle und Leipzig 1835, S. XII–XIII). Vgl. dazu Krešimir Georgijević: Srpskohrvatska narodna pesma u poljskoj književnosti. Beograd 1936, S. 99–100, der darauf verweist, daß Talvj als Grundlage ihres Abrisses u.a. die Darstellung von Johann Christian von Engel benutzte – Geschichte des Ungarischen Reichs und seiner Nebenländer. III. Band: Geschichte von Serwien und Bosnien […]. Halle 1801.

172

Teil I

des stürzenden griechischen Kaiserreichs. Endlich im l4. Jahrhundert erhob sich einer der Nachkommen der Nemanjiden, Stefan Dušan273, gewaltig über die anderen empor, raffte alle Županien zusammen: er besaß Bosnien, Bulgarien, Makedonien, Albanien, Siebenbürgen, Dalmatien, ließ sich von der Stadt Ragusa huldigen, nannte sich Zar und gedachte sogar, den Titel des Kaisers der Serben und Triballier274 annehmend, Konstantinopel zu erobern. Der Zar Stefan Dušan aber, der Mörder seines Vaters, vermochte nicht die Regierung seinem Nachkommen zu sichern. Sein Sohn wurde von einem Mächtigen des Reichs verdrängt275 und das serbische Zarentum vernichteten bald die Türken. Die Taten des Hauses Nemanja, beginnend mit Stefan Uroš I., der wirklich ein großer Mann ist und sehr an jenen auf der Insel Rügen herrschenden Cruto erinnert, bis auf den Tod des letzten Nachkommen276 desselben, bilden einen poetischen Zyklus, den alle serbischen Volkssänger besingen. Es ist daher nötig, sich mit diesen Taten bekannt zu machen und einen Blick auf die Geschichte des Kampfes der Serben wider die Türken zu werfen, namentlich mit Murad I., der eine besondere Rolle in dieser Poesie spielt.

273 Stefan Dušan (1308–1355), auch Stefan Uroš IV. (Dušan Silni); er tötete seinen Vater Stefan Uroš III. Dečanski (1321–1331); hinterließ ein Gesetzbuch mit 135 Paragraphen – „Dušanov zakonik“; vgl. Božidar Ferjančić, Sima Ćirković: Stefan Dušan, kralj i car 1331–1355. Beograd 2005. 274 Im Jahre 1346 Krönung Stefan Dušans zum „Kaiser der Serben und Griechen“ (Zar Srba i Grka); Mickiewicz übernimmt den Ausdruck „Triballier“ von Talvj: Volkslieder der Serben, op. cit., Erster Teile, S. 22; über die „verschwommene“ Geschichte dieses (einst thrakischen) Stammes (illyrische Serben) vgl. P.J. Schaffarik: Slawische Alterthümer, op. cit., Bd. II, S. 204; ferner – W. Felczak, T. Wasilewski: Historia Jugosławii. Wrocław 1985, S. 13, für die mit Triballiern seit dem 11. Jahrhundert die Serben gemeint sind. 275 Stefan Dušans Sohn, Stefan Uroš  V. (1337–171), auch Uroš Nejaki (Uroš der Schwache) genannt, mußte 1359 die Macht an Simeon Uroš Palaiologos abgeben, der bis 1370 herrschte. 276 Stefan Uroš V. (1337–1371) war der letzte Nemanjide.

16. Vorlesung (19. Februar 1841) Abriß der serbischen Geschichte277 – Der serbische Zar Lazar – Die Unterwerfung der Serben durch die Türken – Giovanni Capistro versucht einen Kreuzzug gegen die Türken zu organisieren – Unterschiedliche Auffassung von Geschichte zwischen den byzantinischen Historikern und den serbischen Dichtern – Die serbische Mythologie – Das Lied von der „Vermählung des Zaren Lazar“ (Ženidba kneza Lazara), die Legende „Die Heiligen im Zorn“ (Sveci blago dijele) – Charakteristik der serbischen Dichtung und ihrer Rhapsoden – Parallelen zu Homer – Vuk Karadžićs Sammlung der serbischen Lieder und Erzählungen.

Das Anziehendste in der Geschichte der Slaven an der Donau hängt, wie wir schon erwähnt haben, mit dem Haus Nemanja zusammen, welches seit dem Ende des 11. Jahrhunderts durch das ganze 12., 13. und sogar das 14. hindurch das einzige in dieser Gegend unabhängige slavische Reich aufrecht erhalten hat. Denn die Bulgaren sind schon im 11. Jahrhundert gesunken, die Magyaren haben ihre uralische Volkstümlichkeit behalten, ohne sich mit den Slaven zu vermischen; die Geschlechter des Montenegro dagegen, und die Seestädte, obgleich der Beachtung sonst würdig, hatten in politischer Hinsicht keine Bedeutung: Serbien allein repräsentierte die Donau-Slaven. Der mächtigste unter seinen Beherrschern, der Zar Stefan Uroš IV. Dušan, zu Konstantinopel erzogen, wollte sein Reich auf byzantinische Art einrichten. Er bemühte sich, eine Hierarchie in der Regierung und eine strenge Hofetikette einzuführen. Er nahm dabei einige Institutionen des Westens an, und so gründete er z.B. den Orden des heiligen Stephan, schirmte den Handel und erteilte der Stadt Ragusa große Vorrechte. Nachdem er den Titel des Kaisers der Serben und Griechen angenommen, dachte er an die Eroberung Konstantinopels, aber der Tod hinderte ihn, dieses Vorhaben auszuführen. Er starb im Jahre 1355 und hinterließ einen unmündigen Sohn [Stefan Uroš  V.] und ein umfangreiches, in viele Teile gespaltenes Reich, denn er hatte den Häuptlingen der Länder die Königswürde gegeben. Die Statthalter, zum Tragen der roten Stiefel einmal berechtigt, welche die Auszeichnung der Herrscher waren, wollten nicht mehr, wie sie sich ausdrückten, barfuß gehen, und hörten auf, dem Zaren zu gehorchen.

277 Auch hier stützt sich Mickiewicz auf den oben zitierten „Abriß“ von Talvj, wobei er einige Fakten aus dem letzten Abschnitt der 15. Vorlesung wiederholt und historische Fakten falsch wiedergibt. Vgl. dazu K. Georgijević, op. cit., S. 99ff.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_017

174

Teil I

Die mächtigsten der Wojewoden, Jug Bogdan278, der Statthalter von Makedonien, Vukašin279 von dem nördlichen und Lazar Hrebeljanović280 vom nordwestlichen Serbien, kündigten der Zarin Jelena, der Witwe des Stefan Dušan, welche in der Hauptstadt Vukašins wohnte, den Gehorsam auf, und waren in beständigem Hader miteinander, bis endlich Vukašin den jungen Stefan Uroš V. ermordete;281 so erlosch das Geschlecht des Nemanja. Während dies geschah, brachen die Türken in Europa ein. Die griechischen Kaiser, schon gewohnt die Barbaren zur Hilfe aufzurufen, wendeten sich zuerst an die Bulgaren, und begingen später die Unbesonnenheit, die Tore ihres Reiches den Türken zu öffnen. Mit einer solchen Kriegsflotte, wie sie damals allein in Europa hatten, konnte man leicht diesen Einfall verhindern, aber sie setzten ein allzu großes Vertrauen auf die Mauern Konstantinopels. Es schien ein Ding der Unmöglichkeit, daß wilde Reiterscharen eine so vorzüglich befestigte, eine so große, so bevölkerte und mit wohlgeübten Truppen besetzte Stadt erobern könnten. Bald zeigte sich indessen dieses Vertrauen verderblich; die nach Rettung suchenden Griechen wendeten sich an die Serben. Jug, Lazar und Vukašin eilten mit einem bedeutenden Heer zu Hilfe, unverhofft trat ihnen aber Murad I. an der Spitze eines besseren bei [Černomen an der Marica] entgegen und vernichtete sie gänzlich. Jug und Vukašin fielen, Lazar rettete sich diesmal und wurde bald darauf zum König von Serbien ernannt.282 Aber 18 Jahre später, als sich Murad  I.  in  Asien eingerichtet, landete er wieder an 278 In der Volksüberlieferung als Jug Bogdan bekannt (eigentlich Vratko Nemjanić); historische Daten kaum überliefert; seine Tochter Milica heiratete Lazar Hrebeljanović. 279 Vukašin Mrnjačević; serbischer König von 1365–1371; gestorben in der Schlacht an der Marica. 280 Fürst Lazar Hrebeljanović (1329–1389); nach dem Zerfall der Nemnajiden-Dynastie führende Persönlichkeit in Serbien; fiel in der Schlacht am Amselfeld 1389. Vgl. Slavica Stefanović: Zur Genese eines Herrscher-Mythos am Beispiel des serbischen Fürsten Lazar. In: „Texte zum Sprechen bringen“. Philologie und Interpretation. Festschrift für Paul Sappler. Hrsg. Christiane Ackermann, Ulrich Barton. Tübingen 2009, S. 155–170. 281 Diese Information übernimmt Mickiewicz von Talvj, op. cit., S. 29: „Vukašin […] erschlug ihn eigenhändig mit seinem Streitkolben.“ Daß Vukašin Mrnjačević Stefan Uroš V. ermorderte, ist umstritten und unbewiesen; vgl. Željko Fajfrič: Sveta loza Stefana Nemanje. Beograd 1998, Abschnitt  50: „Legenda o smrti cara Uroša“; dort auch die Hinweise auf die Legendenbidung bei Mavro Orbini: Il Regno degli Slavi. Pesaro 1601 (serbische Übersetzung – Kraljevstvo Slovena. Beograd 1968). 282 Dieser Absatz vermengt Dichtung und Wahrheit. Gemeint ist die Schlacht an der Marica 1371 in Bulgarien, in der Vukašin Mrnjačević und sein Bruder Uglješa fielen; daß noch andere Woiwoden und Fürsten wie Jug Bogdan und Fürst Lazar an dieser Schlacht beteiligt waren, ist unklar; vgl. Vladimir Ćorović: Istorija srpskog naroda. Beograd 2001, Kapitel: „Marička pogibija“. Daß Jug Bogdan an der Schlacht an der Marica teilnahm, behautet Stojan Novaković: Srbi i Turci XIV i XV veka. Beograd 1893.

16. Vorlesung (19. Februar 1841)

175

Europas Gestaden und verlangte Tribut von den Serben. Lazar schickte nach allen Seiten um Hilfe, aber nirgends ward sie ihm. Der König von Ungarn, selber nach Serbien gelüstend, blieb ein ruhiger Zuschauer des Kampfes. Die deutschen Kaiser gaben weder Truppen noch Geldmittel her. Polen stand damals von diesen Angelegenheiten noch entfernt und trat erst 20 Jahre später in dieser Gegend auf die Bühne. Lazar indessen, nachdem er so viel Albaner, Bulgaren und Serben als er vermochte, zusammengebracht, stellte sich zum Kampfe. Die Tapferkeit des Königs, die Begeisterung seiner Reihen, wären vielleicht sieggekrönt worden, zum Unglück aber schlich sich eine Entzweiung unter die Führer ein. Zwei Schwiegersöhne Lazars, die mächtigsten Ritter und Herrn von Serbien, Miloš Obilić und Vuk Branković283, gerieten in bitteren Streit aus Veranlassung ihrer Frauen. Vuk ersann aus Haß und Rache Verrat, und indem er schon mit dem Sultan einverstanden war, verbreitete er Verleumdungen gegen Miloš und wollte ihn, den Unschuldigen, dieses Verbrechens verdächtig machen. Miloš erwiderte nichts auf diese Vorwürfe, nur in der Nacht vor dem Kampf entfernte er sich mit zwei Begleitern in aller Stille aus dem Lager, kündigte sich den türkischen Wachposten als Überläufer an, und in das Zelt des Sultans geführt, stieß er dem mit Freude ihn empfangenden Murad den Dolch in den Leib. In einer tapferen Wehr erlegte er hierauf viele Feinde, bevor er selbst in Stücken gehauen wurde. Diese heroische Tat brachte jedoch keinen Nutzen. Im Gegenteile war das Heer des Miloš, das vorher die wider ihn ausgestreuten Gerüchte vernommen, und jetzt nicht wußte, was mit ihm geschehen, wankend geworden und verlor den Mut. Vuk ging auf dem Wahlplatz in dem wichtigsten Augenblicke mit seinen Kriegsscharen über; Lazar verlor nach einem langen und wackern Widerstande an der Spitze der ihm Übriggebliebenen, sein Roß und geriet in Feindes Hand. Seinen Tod beschreiben verschiedentlich die Historiker, den meisten Glauben verdient jedoch ein polnischer Chronikenschreiber, bekannt unter dem Namen Janczar der Pole284, der als Janitschare von dem, was vorfiel, Augenzeuge sein konnte. Er sagt, der Sultan Bayezid I., Sohn des von den Serben getöteten Murad I., habe den König Lazar zu den Leichen seines Vaters und seines in der Schlacht gefallenen Bruders führen lassen, ihn alsdann mit drohender Stimme gefragt: „Wie konntest du dich erdreisten, solch ein Verbrechen zu begehen?“ („jakoś się śmiał o to pokusić?“) Hierauf erwiderte der König Lazar: 283 Miloš Obilić (um 1350–1389); vgl. P. Mihajlović: Junaci kosovske bitke. Beograd 2001; Vuk Branković (um 1345–1397) – vgl. Željko Fajfarić: Sveta loza Brankovića. Novi Sad 1999. 284 Pamiętniki Janczara Polaka przed 1500 rokiem napisane. Warszawa 1828; als Autor der Chronik wird der Serbe Konstantin Mihailović iz Ostrovice angenommen.

176

Teil I

„Wie konnte Dein Vater so verwegen sein, das serbische Königreich anzufallen?“ („Jak ojciec śmiał kusić się o królestwo serbskie?“). Ein treuer Diener des Königs, in der Schlacht und Gefangenschaft sein unzertrennlicher Genosse, beschwor ihn, auf sanftere Weise zu antworten. „Liebster Fürst“, sprach er, „dein Kopf ist nicht wie ein Weidenstamm, der zweimal wächst.“ („Książę miły, głowa nie jest jako pień wierzbowy, aby dwakroć rosła.“ Dies bändigte indessen Lazar nicht, er fügte sogar hinzu, daß, würde er an seiner Seite jenes haben, was ihm fehle, so lege er den Sultan neben seinen Vater und Bruder. Der Sultan befahl den König zu köpfen. Da kniete dessen Begleiter nieder, breitete seinen Mantel aus, um das Haupt seines Herrn hierauf zu empfangen; und als dies fiel, sagte er: „Geschworen habe ich, mein Haupt neben das Haupt meines Herrn zu legen“ („Przysięgałem Panu Bogu, że gdziekolwiek głowa Księcia Łazarza padnie, i tam i moja leżeć ma“285, und neigte seinen Nacken unter den Jatagan, der seinem Entschluss willfahrte. So starb der letzte König der Serben. Sultan Bajazet verlieh später Lazars Sohn Stefan ein Stück von den väterlichen Besitzungen, mit dem Titel eines Despoten, den Verräter Vuk Branković belohnte er aber mit einem anderen kleinen Teil, ganz wider dessen Erwartung, da er das ganze Königreich zu erlangen hoffte. Diese zwei Dynastien waren in beständigem Streit miteinander, denn die Nachkommen Lazars versuchten zuweilen die Unabhängigkeit wieder zu erlangen; die Brankowići hielten sich dagegen stets auf türkischer Seite. Der Kampf währte 150 Jahre. Die Serbien mußten außerdem an den inneren Streitigkeiten der Türkei teilnehmen und zu deren asiatischen Kriegen Hilfstruppen stellen. Wir sehen ihr Heer in der schrecklichen Schlacht bei Ankara, wo Sultan Bajazet völlig geschlagen und von den Tartaren in die Gefangenschaft geschleppt wurde. Nach dieser Niederlage unterstützten sie den Sultan Süleyman I. gegen seinen Bruder Mussa. Die christlichen Monarchen, statt aus dieser Schwächung der Türken Nutzen zu ziehen und ihnen den entscheidenden Schlag zu versetzen, bestrebten sich nur, jeder zu seinem Vorteil die politischen Verhältnisse zu wenden, und halfen bald Süleyman, bald Mussa, bald anderen Thronbewerbern, ohne im Geringsten daran zu denken, die Christen aus den Händen der Ungläubigen zu 285 Pamiętniki Janczara Polaka przed 1500 rokiem napisane, op. cit., S. 65; 67. Die von Mickiewicz benutze Ausgabe ist unvollständig und enthält viele Fehler. Über Fragen der (umstrittenen) Autorschaft, der Textgenese und Textvarianten vgl. Renate Lachmann: „Einleitung“, in: „Memoiren eines Janitscharen oder Türkische Chronik“. Eingeleitet und übersetzt von Renate Lachmann. Kommentiert von Claus Peter Haase, Renate Lachmann, Günter Prinzing. Graz 1975, S. 20–50. Die deutsche Übersetzung wird nach dieser Ausgabe verkürzt zitiert. Über den Tod des Fürsten Lazar gibt es mehrere Versionen; vgl. dazu Željko Fajfarić: Sveta loza kneza Lazara. Beograd 2000, Kap. 8: Smrt kneza Lazara.

16. Vorlesung (19. Februar 1841)

177

befreien. Erst um die Mitte des 15. Jahrhunderts dachte man das letzte Mal an die Befreiung der Serben. Der Papst Sylvester sandte den berühmten Johannes Capistranus286, um einen Kreuzzug gegen die Türken zu Stande zu bringen. Capistranus durchreiste Deutschland, Ungarn und die slavischen Länder, im Namen Gottes um Hilfe für das Christentum flehend. Aber die Hussiten im Tschechenland, und die schismatischen Fürsten in anderen Ländern lähmten seine Unternehmungen. Der tschechische König vertrieb ihn sogar aus den Grenzen seines Reichs. Dieser große Mann sammelte jedoch Häuflein polnischen, ungarischen und tschechischen Volks, zog mit ihnen nach Belgrad und schlug die Türken zurück. Aber einige Jahre darauf machte sein Tod die Serben alles ferneren Beistandes verlustig. Die Witwe des letzten serbischen Despoten, Jerina Branković287, schickte eine Gesandtschaft nach Rom, ihr Reich dem Schutz des Papstes anvertrauend. Das Volk, indessen von der Geistlichkeit des morgenländischen Kultus aufgeregt, empörte sich deshalb, und rief wie jene griechischen Patriarchen: „Lieber die Türken als die Katholiken“; die Mächtigeren des Landes und die Einwohner der vorzüglichen Städte unterwarfen sich freiwillig dem Sultan (1459). Mahomet II. rückte in Serbien ein, und die festgesetzten Bedingungen verletzend, ließ er Städte und Dörfer niederbrennen, und schleppte 200 000 Gefangene nach der Türkei, wo sie sämtlich vor Hunger und Elend umkamen. Das ganze serbische Reich, außer einem kleinen Überbleibsel, welches später zu einem Fürstentum desselben Namens wurde, verwandelte sich in eine Wüste. So ist die Geschichte Serbiens aus den Quellen der byzantinischen und anderen Chroniken geschöpft; zwischen dieser Geschichte und den Volksüberlieferungen treten aber im 13. Jahrhundert, ja sogar schon am Ende des 12. Widersprüche ein. Das Volk und die Dichter begreifen anders die Vergangenheit und Zukunft ihres Landes. Die Könige, welche wir angeführt, die Feldherrn, deren Taten wir berührt, haben andere Namen bei den Griechen, andere bei den Serben. Zuweilen ist es schwierig, diese zwiefachen Tatenberichte in Einklang zu bringen, und welcher von ihnen mehr Glauben verdient, läßt sich gleichfalls nicht so leicht bestimmen. Hier und dort wird die Sache nach eigner Art erzählt, und hat ihre wahre Seite. Die Chroniken entwerfen, so zu sagen, die bloßen Umrisse des Bildes, die Dichter überziehen es mit lebendigen Farben. Die fremden Historiker verwischen den eigentümlichen Charakter, indem 286 Johannes Capistranus – Giovanni da Capistrano (1386–1456), italienischer Franziskaner, Wanderprediger, Heerführer und Judenverfolger. 287 Jerina (Irina) Kantakuzin (gestorben 1457), Frau des serbischen Despoten Đurađ Branković (um 1377–1456); in der Volksüberlieferung als „prekleta Jerina“ (verfluchte Jerina) bekannt; vgl. dazu Momčilo Spremić: Despot Đurađ Branković i njegova doba. Beograd 1994.

178

Teil I

sie allgemeine Ansichten von der inneren nationalen Regung trennen; das Volk dagegen hatte nur die Hauptzüge des Charakters seiner Helden behalten, erhob sie zu idealer Größe, und drückte in ihren Personen die nationalen Gefühle aus: die Dichter sondern die Vaterlandsgeschichte von jeder Seitenbetrachtung ab, verengen dadurch den Gesichtskreis, dies aber um ihn desto leichter mit dem Blicke ihrer Einbildungskraft zu umfassen. Füglich könnte man die fremden Schriftsteller der serbischen Geschichte mit jenen Geographen vergleichen, die auf der Karte vorzugsweise Flüsse und Berge des Landes aufzeichnen; die Volksdichter dagegen mit den Malern, die uns den lebhaften Anblick der Gegend, und die Färbung ihres Himmelgewölbes darstellen. Auf diese Weise fiel die Geschichte gänzlich der Poesie anheim, als es nach dem Untergang des Reichs in Serbien weder Könige noch politische Parteien und Bücher gab. Die christliche Religion nahm zuerst ein gewisses mythologisches Gepräge an. Aus ihren Legenden, ihren Wundern und ihren Heiligen bildeten die Dichter etwas dem Olymp Ähnliches. Die der Geschichte entnommenen Personen wuchsen alsdann in erdichtetem Glanz empor. Der Zar Stefan Dušan z.B., jener Vatermörder, ein stolzer, grausamer Mensch, gilt als Muster der Herrlichkeit und Macht. Die Dichtung erwähnt nichts von seinen Familienverbrechen, so wie Homer die Familienlaster der Atriden verschwieg, diesen Stoff den nachfolgenden Tragikern überlassend. Der in der Geschichte wenig gekannte Fürst Jug Bogdan ist bei den serbischen Dichtern ein ehrwürdiger Patriarch, umringt von tüchtigen Söhnen288, gleichsam ein zweiter Aymon von Savoyen289, der Vater vieler berühmter Ritter. Der Fürst Vukašin zeigt sich als ein schlauer Politiker und Krieger, etwa wie ein slavischer Odysseus. Der König Lazar stellt das vollendete Bild eines Ritters und echten Helden dar; wir sehen in ihm das Ideal der damaligen christlichen Gefühle. An Sittenreinheit, Gottesfurcht und Tapferkeit Godfried von Bouillon290 gleichend, besitzt er nebenbei noch den slavischen Charakter und liebt Gastmähler, Gesang und Pracht, hierin stimmt er mit den Neigungen seines Volkes überein. Alles wird in seiner poetischen Geschichte geheimnisvoll: sowohl seine Geburt, als seine

288 Über Jug Bogdan und seine 9 Söhne vgl. die Heldenlieder: „Banović Strahinja“; „Ženidba kneza Lazara“ (Die Hochzeit des Fürsten Lazar); „Car Lazar i carica Milica“; „Kneževa večera“ (Das Abendmahl des Fürsten); „Smrt majke Jugovića“ (Tod der Mutter der Jugovići). 289 Aymon von Savoyen (1273–1343). Erzählungen von den Abenteuern der vier Haimonskinder des Grafen Haimon (Aymon) von Dordogne aus dem Umfeld der Geschichten um Karl den Großen; altfranzösische Heldenlieder (Renaut de Montauban), La Chanson de Quatre Fils Aymons. 290 Godfried von Bouillon (um 1060–1100), Heerführer beim I. Kreuzzug.

16. Vorlesung (19. Februar 1841)

179

Erhebung und sein Tod. Nach der Meinung des Volkes war er ein Nebensohn291 des Zaren Dušan, von einem Weib aus hohem Geschlecht, der als Edelknabe am königlichen Hofe seine Erziehung genoß, und sich mit der Tochter [Milica] des berühmten Jug Bogdan vermählte, welche ihm dieser Patriarch deshalb gab, weil er im Prophetenbuch diese Bestimmung gefunden. Lazar hat später als Märtyrer für sein Volk die allgemeine Hochachtung gewonnen. Die Dichter wissen nichts von seiner Gefangennehmung durch die Türken, sie glauben immer, er sei auf dem Kampfplatz gefallen, und erzählen Wunder von seiner Tapferkeit. Diesem Zyklus der Heldenepik folgt der Zyklus der romanesken Poesie.292 Zu seinem Gegenstand hat er abenteuerliche Taten und Ereignisse, welche in keinem Zusammenhang mit der allgemeinen Volksangelegenheit stehen. Einzelne Ritter, jedoch immer vom König Lazar abstammend, sind im Kampf mit

291 Der Vater des Fürsten Lazar war Pribac Hrebeljanović; vgl. Željko Fajfarić: Sveta loza kneza Lazara. Beograd 2000. 292 Im französischen Original lautet der Satz: „Après ce premier cycle de la poésie épique, commence un cycle romanesque.“ (A.  Mickiewicz – Les Slaves, op. cit., Bd. I, S.  218). Vuk  S.  Karadžić unterteilt seine Sammlung in „Heldenlieder“ (junačke pjesme) und „Frauenlieder“ (ženske pjesme). Das entspricht der Zweiteilung Epik – Lyrik, wobei er im Vorwort einräumt: „Manche Lieder stehen so an der Grenze zwischen den Frauenliedern und Heldenliedern, daß man nicht weiß, wo man sie einordnen soll.  … Solche Lieder sind den Heldenliedern ähnlicher als den Frauenliedern; doch wird man kaum jemals hören, daß sie von Männern zur Gusle gesungen werden (es sei denn von Frauen), und sie werden wegen ihrer Länge auch nicht nach Art der Frauenlieder gesungen, sondern lediglich rezitiert“ – Narodne srpske pjesme, skupio i na svijet izdao Vuk Stef. Karadžić. Knjiga prva, u kojoj su različite ženske pjesme. Leipzig 1824, S.  XIX. Karadžić spricht somit von einer „Zwischengattung“, ohne ihr einen eindeutigen gattungsstrukturellen Rahmen zu geben. Mickiewiczs Unterteilung in „cycle de la poésie epique“ und „cycle romanesque“ entspricht nach K. Georgijević: Srpskohrvatska narodna pesma u poljskoj književnost, op. cit., S. 116–117, eher der Gegenüberstellung von „chanson de geste“ (französische Heldenepik des XI.–Mitte XII. Jahrhundert) vs. „roman courtoise“ (höfischer Roman, höfische Epik – ab Mitte des XII. Jahrhundert in der französischen Literatur), zumal Mickiewicz vor einem französischen Publikum sprach; vgl. auch Henryk Batowski: Mickiewicz a serbska pieśń ludowa. In: Pamiętnik Literacki, XXXI (1934), zeszyt 1–2, S. 49, der feststellt, daß Mickiewicz – insgesamt gesehen – die serbischen Volkslieder einteilt in: (1) epische Heldenlieder, (2) romaneske Lieder (episch-lyrische Lieder – Liebesabenteuer der Helden, die in der Tradition des „roman courtoise“ stehen und sich der Romanze oder Ballade nähern), (3) phantastische Lieder, (4) lyrische Lieder (Frauenlieder), schließlich (5) „le cycle de poésie civile et domestique“ (Zyklus der häuslichen und ländlichen Lieder), die Batowski übersehen hat. Vgl. ferner die Einteilung der Volkslieder von Maximilian Braun: Zum Problem der serbokroatischen Volksballade. In: Slawistische Studien zum V.  Internationalen  Slawistenkongreß in Sofia 1963. Hrsg. Maximilian Braun und Erwin Koschmieder. Göttingen 1963, S. 151–174.

180

Teil I

den Türken, oder gehen selbst zu den Türken über; sie unternehmen Züge von Liebe, Rachsucht oder Ehrgeiz und dergleichen getrieben. Betrachten wir zu allererst eine Dichtung der ersten Art, welche die Vermählung des Lazar („Ženidba kneza Lazara“) schildert. Die Handlung geschieht am Hof des Zaren Stefan, bei welchem Lazar Knappe ist und dem er auf dem Thron folgen soll. Sie beginnt wie folgt: Вино пије силан цар Стјепане У Призрену граду бијеломе, Вино служи вјеран слуга Лазо, Па све цару чашу преслужује, А на цара криво погледује Царе пита вјерна слугу Лаза:

Trinket Wein der mächtige Zar Stefan, Sitzt in Prisren, in der weißen Feste; Schenkt ihm ein der treue Diener Laso, Überschenkt dem Zaren stets den Becher, Siehet scheel ihn an und von der Seite. Ihn befragt der Zar und spricht zum Diener:

„Ој Бога ти, вјеран слуго Лазо! Што те питам, право да ми кажеш: Што ти мене чашу преслужујеш? Што л’ на мене криво погледујеш? Али ти је коњиц олошао? Али ти је рухо остарило? Ал’ т’ је мало голијемна блага? Шта т’ је мало у двору мојему?“

„Soll dir Gott! mein treuer Diener Laso! Was ich frage, offenherzig sage; Was doch überschenkst du mir den Becher? Was sahst du mich scheel an, von der Seite? Ist dein Rößlein etwa dir verdorben? Oder ist dir dein Gewand veraltet? Oder hast des Geldes du zu wenig? Sprich, was mangelt dir an meinem Hofe?“

Њему вели вјеран слуга Лазо: „Вољан буди, царе, на бесједи! Кад ме питаш, право да ти кажем: Није мене коњиц олошао, Нити ми је рухо остарило, Нит’ је мало голијемна блага; Свега доста у двору твојему; Вољан буди, царе, на бесједи! Кад ме питаш, право да ти кажем. Које слуге послије дођоше, Све се тебе слуге удворише, Све си слуге, царе, иженио, А ја ти се удворит’ не могох, Мене, царе, не кће оженити За младости и љепоте моје.“

Ihm erwiderte der Diener Laso: „Nicht ungnädig, Zar! nimm meine Worte, Wenn ich, was du fragst, dir offen sage. Nicht mein gutes Rößlein ist verdorben, Noch sind meine Kleider mir veraltet, Auch des Geldes Hab’ ich nicht zu wenig. Alles ist vollauf an deinem Hofe.“ „Nicht ungnädig, Zar! nimm meine Worte, Wenn ich, was du fragst, dir offen sage! Alle Diener, auch die nach mir kamen, Alle haben Lieb und Gunst erworben, Alle, mächtiger Zar, sich vermählet, Ich allein darf mir nicht Gunst erwerben, Noch mit einer lieben Frau vermählen, Jetzt in meiner Jugendblüt und Schöne.“

Бесједи му силан цар Стјепане: „Ој Бога ми, вјеран слуго Лазо! Ја не могу тебе оженити Свињарицом ни говедарицом, За те тражим госпођу ђевојку, И за мене добра пријатеља,

Ihm versetzt der mächtige Zar Stephan, „Soll mir Gott! mein treuer Diener Laso, Kann dich doch des Rinderhirten Tochter, Dich der Sauhirtin nicht anvermählen? Suche ja für dich ein adlich Mädchen, Und für mich anständig wackre Freunde,

16. Vorlesung (19. Februar 1841) Који ће ми сјести уз кољено, Са којим ћу ладно пити вино. По чу ли ме, вјеран слуго Лазо! Ја сам за те нашао ђевојку, И за мене добра пријатеља, У онога стара Југ-Богдана, Милу сеју девет Југовића, Баш Милицу милу мљезиницу: Но се Југу поменут’ не смије, Није ласно њему поменути, Јер је Богдан рода господскога, Не ће дати за слугу ђевојку; Но чу ли ме, вјеран слуго Лазо! Данас петак, а сјутра субота, Преко сјутра свијетла неђеља, Поћи ћемо у лов у планину, Позваћемо стара Југ-Богдана, Шњим ће поћи девет Југовића, Ти не иди у планину, Лазо, Но остани код бијела двора, Те готови господску вечеру; Кад дођемо из лова планине, Ја ћу свраћат’ Југа на вечеру, А ти свраћај девет Југовића. Кад сједемо за столове златне, Ти навали шећер и ракију, Па донеси црвенику вино. Кад се ладна напијемо вина, О свачем ће Јуже бесједити, Како који добар јунак јесте, Изнијеће књиге старославне, Да казује пошљедње вријеме;“

181 So die Nächsten mir am Thron sein können, Und Genossen mir beim kühlen Weine! Aber höre, treuer Diener Laso! Hab dir da ein Mädchen ausgefunden, Und für mich auch eine wackre Freundschaft, Es ist die Milicaa, die liebe Tochter, Jüngstes Kind des Greises, des Jug Bogdan, Und der Jugowitschen schöne Schwester. Doch für wahr, es ist keine leichte Sache! Leicht ist’s nicht, mit Jug davon zu reden. Denn hochadligen Geschlechts ist Bogdan, Wird sein Kind nicht einem Diener geben. Aber höre, treuer Diener Laso! Heute ist Freitag, morgen Samstag, Und der heitre Sonntag übermorgen. Auf die Jagd will ich ins Waldgebirge, Mit dem alten Bogdan jagen gehen, Ihn begleiten die neun Jugowitschen, Aber begleiten die neun Jugowitschen, Aber du, geh auf die Jagd nicht, Laso! Sondern bleib daheim an unserm Hofe, Und bereit ein herrlich Abendessen; Kommen wir nun aus dem Waldgebirge, Will den alten Jug zum Mahl ich nötigen, Nötige du die neun Jugowjtschen; Sitzen wir dann an den goldnen Tischen, Sorge du für Zucker und für Branntwein, Und von rotem Wein auch gib uns reichlich. Wenn wir kühlen Weins uns vollgetrunken, Wird ein Jegliches der Greis besprechen, Was für Helden der und jener waren; Wird die altberühmten Bücher nehmen, Wird daraus die letzten Zeiten deuten.“

Es geschieht keine Erwähnung, was dies für ein Buch gewesen, die Dichter sprechen nur häufig davon, und zwar einstimmig mit der Volksmeinung, welche glaubt, es seien altertümliche Bücher, die alles vorhersagen, was da kommen soll, sogar bis auf die Veränderungen des Wetters. „Ти кад чујеш, вјерна слуго Лазо, А ти трчи на танану кулу, Те донеси ону чашу златну, Штоно сам је скоро куповао У бијелу Варадину граду Од ђевојке младе кујунџинке,

„Dann, sobald du dieses hörest, Laso! Eile hurtig nach dem schlanken Turme, Hole dir von dort den goldnen Becher Den ich neulich mir erhandelt habe, In der weißen Waradiner Feste, Und dafür dem jungen

182

Teil I За њу дао товар и по блага; Наслужи је црвенијем вином, Поклони је стару Југ-Богдану, Таде ће се Богдан замислити, Чим ће тебе, Лазо, даривати, Те ћу њему онда поменути За Милицу ћерцу мљезиницу.“ Прође петак и прође субота, […]

Goldschmiedmädchen Anderthalb Saumlasten Gold bezahlte. Füll den Becher schnell mit rotem Weine, Bring dem Alten ihn als Ehrengabe; Sinnen wird der greise Jug, bedenkend, Was er wohl dafür dir schenke, Laso, Dann ist’s Zeit! Von Milica dann rede ich, Von der Tochter, von der letztgebornen!“ – Ging vorbei der Freitag und der Samstag, […]

Hier wiederholt sich alles, wie verabredet war, zuletzt langt der greise Jug Bogdan, am Tische sitzend, nach dem Buch, öffnet es und fängt an, wie folgt: „Видите ли, моја браћо красна! Видите ли, како књига каже: Настануће пошљедње вријеме, Нестануће овце и пшенице И у пољу челе и цвијета; Кум ће кума по суду ћерати, А брат брата звати по мегдану.“ Кад то зачу вјеран слуга Лазо, Он отрча на танану кулу, Те донесе ону чашу златну, […]

„Seht ihr hier, o meine edlen Brüder! Seht ihr hier wohl, was das Buch uns kündet! In den Zeiten, die nun kommen werden, Erzeugt der Boden weder Hafer noch Waizen, Auf der Flur nicht Bienen mehr, noch Blumen, Vor Gericht wird Pate und Pate streiten Und im Zweikampf Bruder sich und Bruder.“ Als der Knappe Laso dies vernommen, Eilt alsbald er nach dem schlanken Turme, Holte sich von dort den goldnen Becher, […]

Hier folgt wieder die ganze Erzählung von dem Becher, nach Art der Homerischen Gesänge; weiter kommt: Богдан прими златну купу вина, Купу прими а пити је не ће, Мисли Богдан, шта је и како је, Чиме ли ће даривати Лаза. Југу вели девет Југовића: „О наш бабо, стари Југ-Богдане! Што не пијеш златну купу вина, Штоно ти је поклонио Лазо?“

Bogdan nahm den goldnen Becher Weines Nahm ihn an, doch zögert er zu trinken. Sinnend sitzt der Alte, still bedenkend, Was dafür er wohl dem Laso schenke. Und es sprechen die neun Jugowitschen: „Lieber Vater, greiser Held Jug Bogdan! Warum trinkest du nicht aus dem Becher, Den soeben Laso dir verehret?“

Вели њима стари Југ Богдане: „Ђецо моја, девет Југовића! Ја ћу ласно пити купу вина, Него мислим, моја ђецо драга, Чиме ћу ја даривати Лаза.

Da erwiderte der alte Bogdan: „Meine Kinder, ihr neun Jugowitschen. Leicht ist mir’s zu trinken aus dem Becher, Doch ich sinne, meine lieben Söhne, Was dafür ich wohl dem Laso schenke!“

16. Vorlesung (19. Februar 1841)

183

Југу вели девет Југовића: Ласно ћеш га даривати, бабо: У нас доста коња и сокола, У нас доста пера и калпака.“

Und es sprachen die neun Jugowitschen: „Leicht kannst du ihn ja beschenken, Vater! Haben ja genug der Rosse und Falken, Mützen auch und Federn eine Menge.“

Тад’ говори силан цар Стјепане: Има Лазо коња и сокола, Лазо има пера и калпака; Лазо тога не ће ни једнога, Лазо хоће Милицу ђевојку, Баш Милицу милу мљезиницу, Милу сеју девет Југовића.“ Кад зачуше девет Југовића, Поскочише на ноге лагане, Потегоше маче коврдине, Да погубе цара у столици. Моли им се стари Југ Богдане:

Da begann der mächtige Zar Stephan: „Rosse und Falken hat der Laso selber, Laso hat auch Federn viel und Mützen, Laso will nur eines von euch haben, Laso will die Milicaa, die Jungfrau, Deine liebe Jüngstgeborne, Bogdan, Eure schöne Schwester, Jugowitschen!“ Als die Jugowitschen dies vernommen, Leichten Fußes sprangen auf die Brüder, Und die Schwerter aus der Scheide reißend, Stürzten sie dem Sessel zu des Zaren. Doch es bittet sie der alte Bogdan:

„Нете, синци, ако Бога знате! Ако данас цара погубите, На вама ће останути клетва; Док извадим књиге старославне, Да ја гледам, синци, у књигама, Јел’ Милица Лазу суђеница.“

„Halt ihr Söhne! wenn ihr Gott erkennet! Wenn den Zaren ihr mir heute tötet, Ewiglich wird Fluch euch dann verfolgen. Halt, bis ich die Bücher nachgeschlagen, Bis die Bücher ich befragt, ihr Söhne! Ob dem Laso Milica bestimmt sei!“

Књиге учи стари Југ Богдане, Књиге учи, грозне сузе рони: „Нете, синци, ако Бога знате! Милица је Лазу суђеница, На њему ће останути царство, Са њоме ће царовати Лазо У Крушевцу код воде Мораве.“

In den altberühmten Büchern liest er, Liest darin, und bittre Tränen weint er: „Halt! Ihr Kinder, wenn Ihr Gott erkennet! Wohl bestimmt ist Milicaa dem Laso, Und das Zarenreich wird ihm verbleiben, Wird mit Milica einst Laso herrschen, Einst in Kruschewaz an der Morawa.“

Кад то зачу силан цар Стјепане, Он се маши руком у џепове, Те извади хиљаду дуката, И извади од злата јабуку, У јабуци три камена драга, Обиљежје Милици ђевојци.293

Als der mächtige Zar dies vernommen, In den Gürtel griff er mit den Händen, Tausend Goldstück gab er her, zur Stelle; Aber einen schönen goldnen Apfel, Ausgezieret mit drei Edelsteinen, Gab der Braut er zum Verlobungspfande.294

293 Vuk Stefanović Karadžić: Srpske narodne pjesme. Knjiga druga u kojoj su pjesme junačke najstarije. Beograd 1958, S.  177–182. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe verkürzt zitiert: Vuk + Band + Seite. 294 Die deutsche Übersetzung, die auch Mickiewicz zur Verfügung stand, stammt von Therese Albertine Luise von Jacob (1797–1870); Pseudonym – Talvj: Volkslieder der Serben. Metrisch übersetzt und historisch eingeleitet von Talvj. Neue umgearbeitete und vermehrte Auflage. Erster Teil. (Zweite Auflage). Leipzig 1853, S. 109–114. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe verkürzt zitiert: Talvj + Teil + Seite.

184

Teil I

Durch dieses historische Lied tritt Lazar zum ersten Male in den Bereich der Dichtung. Vom Zaren Stefan ist in der serbischen Lieder- und Gedichtsammlung, die wir besitzen, wenig die Rede. Diese Sammlung aber, welche schon alle möglichen Ideale, von denen wir gesprochen, enthält, vermehrt sich alltäglich und leicht ist es möglich, daß sich noch neue Sachen zur Ausfüllung dieser hellfarbigen Bilder finden werden. Was die dichterische Umwandlung der christlichen Begriffe in die Mythologie betrifft, so wollen wir das Beispiel dieser Verkrüppelung der religiösen Vorstellungen in den sinnlichen und tastbaren Kreis, sogleich in einer kleinen Legende, bekannt unter dem Titel „Sveci blago dijele“295, aufführen. Die Heiligen haben in der serbischen Poesie viel Ähnlichkeit mit den Göttern Griechenlands, und deshalb könnte auch ein tieferes Eindringen in jene über die wichtige Aufgabe der poetischen Geschichte der Griechen entscheiden. Glaubte man doch schon, daß z.B. die griechische Mythologie von Homer anfängt, daß die Dichter die griechische Mythologie geschaffen. Und doch sieht man schon in der ältesten griechischen Poesie die religiösen Vorstellungen bereits vollendet, ihr System bei weitem genauer ausgeprägt, und das Ganze vollständiger als in den Homeriden. In letzteren die Quelle der Mythologie suchen, heißt ebensoviel, als nach dem serbischen Volkslied die anfängliche Geschichte des Christentums zeichnen. Wie flach würde das Christentum erscheinen, und wie häufig würden wir seine Vorstellungen für lächerlich und unvernünftig halten! Und dennoch sind diese Vorstellungen der christlichen Religion entnommen; nur hat das Volk nach dem Verschwinden der Zivilisation des Landes, die Überreste der Sagen bewahrend, sie selbst umgearbeitet. Ein gleiches Verhältnis kann zwischen Homers Epoche und den Zeiten des Orpheus und Musaios296 obwalten. Das serbische Lied, das wir erwähnten, stellt die Heiligen im Himmel um die Teilung der Patronschaft über verschiedene Dinge im Streit dar. Die Mutter Gottes nähert sich in diesem Augenblick und erzählt ihnen die Unglücksfälle, die sich in Indien, d.h. in sehr weiter Ferne zugetragen haben. Der heilige Elias, über den Donner gebietend, hat hier große Ähnlichkeit mit Jupiter:

295 Wörtlich: Die Heiligen teilen den Schatz; bei Talvj „Die Heiligen im Zorn“ (Talvj, I, S. 55). 296 Musaios (um 490–530); spätantiker Dichter; vgl. Musaios: Hero und Leander. Einleitung, Text, Übersetzung und Kommentar von Karlheinz Kost. Bonn 1971.

16. Vorlesung (19. Februar 1841)

185

Мили Боже! чуда великога! Или грми, ил’ се земља тресе! Ил’ удара море у брегове? Нити грми, нит’ се земља тресе, Нит’ удара море у брегове, Већ дијеле благо светитељи: Свети Петар и свети Никола, Свети Јован и свети Илија, И са њима свети Пантелија; Њим’ долази Блажена Марија, Рони сузе низ бијело лице. Њу ми пита Громовник Илија:

„Lieber Gott! o übergroßes Wunder! Rollt der Donner? oder bebt die Erde? Schlagen Meereswogen ans Gestade? Nicht der Donner ist es, noch die Erde, Noch das Meer, das ans Gestade schlaget. Teilen sich die Heiligen in die Segen: Teilen sich St. Petrus und St. Niklas, St. Johannes auch und St. Elias, Außerdem der heilige Pantalemon. Und es nahet die selige Maria, Tränen netzen ihr das weiße Antlitz, Und sie fragt der Donnerer Elias:

„Сестро наша, Блажена Марија! Каква ти је голема невоља, Те ти рониш сузе од образа?“ Ал’ говори Блажена Марија: „А мој брате, Громовник Илија! Како не ћу сузе прољевати, Кад ја идем из земље Инђије, Из Инђије из земље проклете? У Инђији тешко безакоње: Не поштује млађи старијега, Не слушају ђеца родитеља; Родитељи пород погазили, Црн им био образ на дивану Пред самијем Богом истинијем! Кум свог кума на судове ћера, И доведе лажљиве свједоке И без вјере и без чисте душе, И оглоби кума вјенчанога, Вјенчанога или крштенога; А брат брата на мејдан зазива; Ђевер снаси о срамоти ради, А брат сестру сестром не дозива.“

„Unsre Schwester, selige Marija! Welches große Leid hat Dich befallen, Daß Dir Thränen von den Wangen strömen?“ Ihm versetzt die selige Maria: „Ach, mein Bruder! Donnerer Elias! Wie sollt ich nicht heiße Thrillen weinen, Da ich komme aus dem Lande Indien, Aus dem gottverfluchten Inderlande? Lastet schwer Gottlosigkeit auf Indien! Nicht den Eltern ehret mehr der Jüngre, Folgt das Kind nicht Vater mehr noch Mutter, Ihre Frucht verderbten die Erzeuger. Mög ihr Antlitz schwarz sein vor dem Rate, Vor dem wahrhaftigen Gott! Vor Gericht erscheinen Pat und Pate, Vor Gericht mit lügnerischen Zeugen, Ohne Glauben, mit befleckten Seelen, Gold erpressend von dem Trauungspaten. Zweikampf kämpfen leibliche Gebrüder, Sicher ist die Braut nicht beim Brautführer, Und die Schwester ehrt nicht mehr der Bruder!“

Њој говори Громовник Илија: Сејо наша, Блажена Марија! Утри сузе од бијела лица, Док ми овђе благо под’јелимо, Отић’ ћемо Богу на диване, Молићемо Бога истинога, Нек нам даде кључе од небеса, Да затворим’ седмера небеса, Да ударим’ печат на облаке, Да не падне дажда из облака, Плаха дажда, нити роса тиха,

Sprach darauf der Donnerer Elias: „Unsre Schwester! selige Maria! Trockne deine Tränen von den Wangen. Sieh, wenn wir geteilt uns in die Segen, Wolln wir gehen in den Rat des Herrn, Wollen den wahrhaftigen Gott anflehen, Daß er uns die Himmelsschlüssel gebe; Daß die sieben Himmel wir verschließen, Unser Siegel auf die Wolken drücken, Daß sie Nachts nicht mehr der Mond durchleuchte,

186

Teil I Нити ноћу сјајна мјесечина, Und nicht Regen falle aus den Wolken, Да не падне за три годинице; Weder stromweis, noch im sanften Taue Да не роди вино ни шеница, Daß er nicht drei volle Jahre falle, Ни за цркву часна летурђија.“ Weder Wein noch Waizenkorn gedeihe, Кад то чула Блажена Марија, Noch die heiligen Brote für die Kirche!“ Утр сузе од бијела лица. Als dies hört die selige Maria, Када свеци благо под’јелише: Wischt vom weißen Antlitz sie die Tränen. Петар узе винце и шеницу, Und die Heiligen teilten jetzt die Segen: И кључеве од небеског царства; Wein und Waizen nahm der heilige Petrus, А Илија муње и громове; Und die Schlüssel von dem Himmelreiche; Пантелија велике врућине; Nahm Elias Donnerkeil und Blitze; Свети Јован кумство и братимство. Pantalemon nahm die große Hitze; И крстове од часнога древа; Bruderbund und Patenschaft Johannes, А Никола воде и бродове; Und die Kreuze von dem heiligen Holze; Па одоше Богу на диване, Aber Flüß und Weiden nahm St. Niklas. Молише се три бијела дана Und sie gingen nach dem Rat des Herrn, И три тавне ноћи без престанка, Und sie beteten drei weiße Tage, Молише се, и умолише се: Ohne Unterlaß drei dunkle Nächte Бог им даде од небеса кључе, Beteten, bis endlich sies erbaten. Затворише седмера небеса, Gab der Herr des Himmelreiches Schlüssel, Ударише печат на облаке, Und sie schlossen zu die sieben Himmel, Те не паде дажда из облака, Drückten ihre Siegel auf die Wolken, Плаха дажда, нити роса тиха, Daß der Mond sie nicht durchleuchten Нит’ обасја сјајна мјесечина: konnte, И не роди вино ни шеница, Noch der Regen aus den Wolken konnte, Ни за цркву часна летурђија. Weder stromweis, noch im sanften Taue; Daß nicht Wein noch Waizen mehr gediehe, Пуно време за три годинице: Noch zum Abendmahl die heiligen Brote. Црна земља испуца од суше, У њу живи пропадоше људи; Dauert volle Zeit drei langer Jahre. А Бог пусти тешку болезању, Von der Trockniß borst die schwarze Erde, Болезању страшну срдобољу, Offnen Mundes Lebende verschlingend; Те помори и старо и младо, Und es schickte Gott die schwere И растави и мило и драго. Krankheit, Herzensweh! entsetzenvolle Krankheit! Цио остало, то се покајало, Alt und Jung rafft hin sie ohn Erbarmen, Господина Бога вјеровало. Aus einander reißt sie Lieb und Teure. И осташе Божји благосови, Да не падне леда ни снијега Was da übrig blieb, ging reuig in sich, До један пут у години дана; Betete und glaubte an Gott den Herrn. Како онда, тако и данаске. Und es blieben Segnungen von oben, Боже мили, на свем тебе вала! Daß nur einmal in dem langen Jahre Што је било, више да не буде!297 Schnee und Eis vom Himmel niederfalle. Sowie damals, also ist es heute! Lieber Gott, für Alles, Preis und Dank dir! Nimmer mehr geschehe, was geschehen!298

297 „Sveci blago dijele“,Vuk, II, S. 9–11. 298 Talvj I, S. 55–58.

16. Vorlesung (19. Februar 1841)

187

Betrachten wir die Form und Gestaltung der serbischen Dichtungen, so finden wir in ihnen auch große Ähnlichkeit mit der Homerischen. Die Poesie der alten Skandinavier und der Deutschen der Neuzeit hat vor allem einen lyrischen Charakter; dieser entspringt aus dem germanischen Trieb zu den unbezeichneten und unbekannten Reichen der Ideenwelt. Die Dichtung der Slaven trägt besonders den Charakter des Epos; sie hält sich an ein Volk, das von der Vorstellung der Reichsmacht durchdrungen ist, an ein Volk, welches sein politisches Dasein verloren, aber das Andenken seiner Macht bewahrt hat und seine Taten erzählt. Selbst jene erhabene Unparteilichkeit, die wir in Homer bewundern, zeichnet auch die slavische Poesie aus: ungeachtet der starken Bindung an die volkstümlichen Begriffe, findet man in ihr dennoch eine gewisse religiöse Unparteilichkeit. Vergleichen wir, was uns von dieser Dichtung inmitten eines heute lebenden Volks bekannt ist, mit den Überlieferungen der Homerischen Lieder, so bieten sich uns merkwürdige Bemerkungen. Im Allgemeinen besteht diese Dichtung aus abgeschlossenen Bruchstücken, aus Schilderungen von Begebenheiten, die keinen gehörigen Zusammenhang, noch unmittelbare Verbindung haben, sich jedoch immer an ein Hauptereignis knüpfen. In diesen Bruchstücken, in diesen abgesonderten Erzählungen wiederholen sich häufig einige Verse, einige Meinungen, ein für allemal gegeben und allgemein angenommen. Das Volk weiß sie auswendig und bemüht sich, sie überall anzubringen; verändert wiederum allmählich den Text der Schilderungen, vermehrt oder verkürzt ihn, so daß unmöglich zu unterscheiden, was sich hierin Altertümliches, und was später Hinzugekommenes befindet. Dieses fortwährende Umarbeiten läutert das Wesen der Erzählung, verwischt alles, was die Spur der Individualität des Dichters trägt, was an Manier grenzt; es ist dies fürwahr die einzige Dichtung, frei von Regeln und Formeln. Bei den Alten hatte diese Eigenschaft die Homerische Dichtung, bei den Neueren die serbische. Denn da die erhabensten Schöpfungen das Erzeugnis eines einzelnen Genius sind, so tragen sie immer dessen individuelles Gepräge, was gewöhnlich in das übergeht, was wir Manier nennen. Auf diese Weise bewahrt die serbische Poesie ihr inneres Wesen, verändert aber stets die Form, und ist zugleich altertümlich und immer neu. Allgemein gepflegt, in den Liedern des Volkes tönend, durch Rhapsoden herumgetragen, lebt sie mit dem Leben des ganzen Volkes. Diese Rhapsoden, diese Sänger, häufig auch Schöpfer volkstümlicher Gedichte, sind noch zur Vollendung der Ähnlichkeit mit Homer arm und blind. Nicht nur auf den Bergen, auch auf dem platten Land Serbiens bedeutet ein Blinder und Dichter dasselbe; das Almosennehmen gibt ihm jedoch nicht den niedrigen Charakter der Bettler, setzt sie nicht im Mindesten herab. Geachtet und gastfrei aufgenommen, gehen sie von Dorf zu Dorf, Gebete und Lieder absingend, häufig auch dichterische Erzählungen wiederholend.

188

Teil I

Der Hauptherd der Dichtung dieser Gattung ist in den Berglanden, in den Gegenden von Montenegro, in Bosnien und Herzegovina. Hier bilden sich Heldengedichte299 und gehen von hier aus in die Ebenen, wo das Volk sie in ihren Mundarten wiederholt, nur zuweilen einige Worte ändernd. Jedoch faßt in den Ebenen das Heldengedicht nicht leicht festen Fuß: selten singt man dort große Rhapsodien, vielmehr liebt man die Lieder und Erzählungen oder Sagen von Raubmördern, von Gespenstern und Erscheinungen. Erst zu Anfang dieses Jahrhunderts ist diese Poesie Gegenstand der Beachtung für die Ausländer geworden, und der erste unter den Serben, Vuk Stefanović Karadžić300, unternahm die Aufschreibung derselben, er veröffentlichte seine Sammlung in den Jahren 1814–1815.301 Er erzählt, welche Schwierigkeiten er hierbei erfuhr. Die Armen, die Bettler wollten nicht singen vor einem Mann, der das Aussehen eines Fremden hatte. Überdies, wenn einer von ihnen eine schöne Stimme besitzt, vernachlässigt er gewöhnlich die Gedichte, und zieht vor, musikalische Lieder zu singen. Die schönsten Stücke kann man von denjenigen hören, die ohne Gesang Erzählungen, begleitet von ihrer Laute mit einer einzigen Saite [Gusla], vortragen, und zuweilen nur gefühlvollere Stellen oder wichtigere Begebenheiten absingen. Karadžić erwähnt besonders einen Greis302, der alle Landeslieder wußte, und von welchem er das Meiste zu seiner Sammlung entlehnte. Es war dies ein ernster Mann, einst ein wandernder Kaufmann, der später, da er einen Türken erschlagen, gezwungen ward, in den Bergen sich aufzuhalten, wo er sein Gedächtnis mit dem ungeheuren Schatz der Volksdichtungen bereicherte.

299 Vgl. Maximilian Braun: Das serbokroatische Heldenlied. Göttingen 1961. 300 Vuk Stefanović Karadžić (1787–1864); vgl. dazu den Sammelband – Sprache, Literatur, Folklore bei Vuk Stefanović Karadžić. Beiträge zu einem Internationalen Symposium, Göttingen, 8.–13. Februar 1987. Hrsg. Reinhard Lauer. Wiesbaden 1988. 301 Mala prostonarodnja slaveno-serbska pesnarica. Wien 1814 (Reprint: Beograd 1958); Narodna srbska pěsnarica. Wien 1815; es folgte dann die vierbändige Ausgabe – Narodne srpske pjesme. Skupio i na svijet izdao Vuk Stef. Karadžić (Jadranin in Tršića, a od starine Drobnjak iz Petnice), filosofije doktor; Sanktpeterburgskoga voljnoga opštestva ljubitelja Ruske slovesnosti, i Krakovskoga učenoga društva člen korespondent. Knjiga prva, u kojoj su različne ženske pjesme. Leipzig 1824; Knjiga druga, u kojoj su pjesme junačke najstarije. Leipzig 1823; Knjiga treća, u kojoj su pjesme junačke poznije. Leipzig 1823; Knjiga četvrta, u kojoj su različite junačke pjesme. [Wien] 1833. 302 Tešan Podrugović (1783?–1820?); vgl. Vladan Nedić: Vukovi pjevači. Beograd 1990.

17. Vorlesung (26. Februar 1841) Die serbische Poesie – Die Legende von der „Erbauung Ravanicas“ (Zidanje Ravanice) – Beispiele aus anderen Liedern; Beschreibung der Schlacht auf dem Amselfeld – Zur Poetik der serbischen Lieder – Drei Epochen der serbischen Literatur: Heldenlieder, romaneske und romantische Dichtung – Königssohn Marko und König Arthur.

Um in die einzelnen poetischen Bruchstücke, die das slavische Nationalepos bilden, eine feste Ordnung zu bringen, müßte man mit der frommen Legende von der Erhebung des Tempels in Ravanica [„Zidanje Ravanice“] beginnen. Der Zar Lazar, jener Edelknabe, der eine Fürstin heiratete und den Thron Serbiens bestieg, zeigt sich hier aus dem Höhepunkte seines Glanzes und seiner Macht. Prachtvoll begeht er hier den Jahrestag seiner Taufe, einen bei den Slaven feierlichen Tag. Die zusammengebetenen Herren des ganzen Landes sitzen schmausend am kaiserlichen Tische. Wahrend des Mahls nähert sich ihm seine Gemahlin, die Zarin Milica, dazumal auch die schönste der Frauen, in herrliche Gewänder gehüllt, die der Dichter vom Haupt bis zu den Schuhen detaillierend beschreibt. Wenngleich die Sitte verbot, sich zu einer solchen Stunde zu nähern, und noch viel mehr den Mann anzusprechen, so erklärt sie dennoch, nicht länger verschweigen zu können, was ihr in den Sinn gekommen; und indem sie nun anführt, wie alle seine Vorfahren aus dem Geschlecht Nemanja nicht nutzlos Schätze gesammelt, sondern für das Heil ihrer Seelen Kirchen und Klöster gegründet, zählt sie deren Stiftungen auf. Für die slavische Geschichte ist diese Stelle schätzenswert, ebenso wie die Erwähnungen in der „Ilias“ über den Ursprung einiger Städte, worauf sich später die griechischen Historiographen vielmals berufen. Der Zar Lazar, von den Worten seiner Frau betroffen, erklärt, daß er in Resava an der Ravana eine Kirche aufführen will, wie es noch keine gegeben: […] „Хоћу градит’ цркву Раваницу У Ресави крај воде Равана; Имам блага, колико ми драго, Ударићу темељ од олова, Па ћу цркви саградити платна, Саградићу од сребра бијела, Покрићу је жеженијем златом, Поднизати дробнијем бисером, Попуњати драгијем камењем.“

[…] „Bau’n will ich Rawaniza, die Kirche, In Ressawa, an dem Strome Rawan; Geld hab’ ich soviel ich nur begehre. Blei soll sein das Fundament der Kirche, Und mit Mauern will ich sie umgeben, Auferbaut von glänzend weißem Silber, Will sie mit aufgereihten Perlen Und mit Edelsteinen sie verzieren.“

Alle Herren standen auf, verneigten sich und belobten das Vorhaben des Zaren; nur der einzige Miloš Obilić, derselbe, welcher später den Murad tötete, blieb © Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_018

190

Teil I

unverrückt sitzen, und sah in das Buch, d.h. in jenes der Schicksale, welches in der slavischen Dichtung den Kalchas303 der Griechen vertritt, und der befragte Wahrsager vor jedem wichtigen Entschluß, vor jeder Hauptschlacht ist. Lazar, den sinnenden Miloš wahrnehmend, füllte den Becher und sprach: „Здрав да си ми, војвода Милошу! Па ми и ти штогођ проговори, Јера хоћу задужбину градит’.“

„Auf dein Wohlsein, o Wojwode Milosch! Aber wolle auch ein Wort mir sagen, Ob ich eine Stiftung bauen solle!“

Скочи Милош од земље на ноге, Скиде с главе самур и челенке, Па је часно кнеза подворио; Додаше му златну купу вина, Прими Милош златну купу вина, Не пије је, почне бесједити: „Вала кнеже, на бесједи твојој! Што ти хоћеш задужбину градит’, Време није, нити може бити; Узми, кнеже, књиге цароставне, Те ти гледај, што нам књиге кажу:

Milosch sprang vom Boden auf die Füße, Nahm vom Haupte Zobel und Tschelenken, Neigte tief sich vor dem heil’gen Fürsten, Reicht ihm Jener einen goldnen Becher. Milosch nahem den goldnen Becher Weines, Doch nicht trank er, und begann zu sprechen: „Preis und Dank dir, Fürst, für deine Worte! Wie du bauen willst die fromme Stiftung, Dazu ist und kann es jetzt nicht Zeit sein! Nimm, o Fürst, die alten Zarenbücher, Siehe selbst, was uns die Bücher sagen:

Настало је пошљедње вријеме, Хоће Турци царство преузети, Хоће Турци брзо царовати, Обориће наше задужбине, Обориће наше намастире, Обориће цркву Раваницу, Ископаће темељ од олова, Слијеваће у топе ђулове, Те ће наше разбијат’ градове; И цркви ће растурити платна, Слијеваће на ате ратове; Хоће цркви покров растурити, Кадунама ковати ђердане; а цркве ће бисер разнизати, Кадунама поднизат’ ђердане; Повадиће то драго камење, Ударат’ га сабљом’ у балчаке И кадама у златно прстење; Већ ме чу ли, славни кнез-Лазаре!

Ist die letzte Zeit herangekommen, Überwält’gen wird das Reich der Türke, Bald als Herrscher walten wird der Türke; Niederreißen wird er unsre Klöster, Niederreißen unsre heil’gen Stifte, Dein Rawaniza auch niederreißen. Aus dem Grunde wird das Blei er graben, Es zerschmelzen zu Kanonenkugeln, Unsre festen Burgen zu zerschmettern; Wird zertrümmern deiner Kirche Wände, Schmuck für seine Rosse draus zu schmieden; Wird der Kirche goldnes Dach zertrümmern. Ihren Frau’n zu feinen Halsschmuckketten; Wird die Kirch’ entkleiden ihrer Perlen, Ihrer Frauen Brust damit zu zieren; Wird heraus die Edelsteine brechen,

303 Kalchas (Κάλχας) – Seher der Griechen; vgl. Thomas  A.  Schmitz: Vorhersagen als narratives Mittel in der griechischen Epik von Homer bis Quintus von Smyrna. In: Mantik: Profile prognostischen Wissens in Wissenschaft und Kultur. Hrsg. Wolfgang Hogrebe. Würzburg 2005, S. 111–132.

17. Vorlesung (26. Februar 1841) Да копамо мермера камена, Да градимо цркву од камена, И Турци ће царство преузети И наше ће задужбине служит’ Од вијека до суда Божјега: Од камена ником ни камена!“304 […]

191 In des Säbels Griff sie einzufügen, In die goldnen Ringe ihrer Frauen. Darum höre mich, glorreicher Herrscher! Laß vom Fels uns Marmorsteine brechen, Uns von festem Stein die Kirch’ erbauen. Mag der Türke das Reich bewält’gen, Gott zum Dienste stehen unsre Kirchen Ewiglich bis zum Gerichtstag Gottes, Denn vom Stein holt Keiner einen Stein nur!“305 […]

Lazar befolgte den Rat, der auch wirklich in Erfüllung ging, denn bis auf den heutigen Tag soll das in der serbischen Dichtung hochberühmte Ravanica irgendwo bestehen. Nach diesem Bruchstück, welches das traurige Vorgefühl der künftigen Unglücksfälle ausdrückt, könnte man eine andere Stelle erwähnen, wo schon der Sultan Murad mit Heeresmacht anrückt und dem Lazar die Herausforderung zuschickt: Цар Мурат у Косово паде, Како паде, ситну књигу пише, Те је шаље ка Крушевцу граду, На кољено Српском кнез-Лазару: „Ој Лазаре, од Србије главо! Нит’ је било, нити може бити: Једна земља, а два господара; Једна раја, два харача даје; Царовати оба не можемо, Већ ми пошљи кључе и хараче, Златне кључе од свијех градова, И хараче од седам година; Ако ли ми то послати не ћеш, А ти хајде у поље Косово, Да сабљама земљу дијелимо.“306 […].

Es zog Zar Murat auf das Kosovo-Feld, Schrieb dort einen feingeschriebenen Brief, Sandte ihn nach der Burg Kruševac, Zu Händen Lazars, des Fürsten der Serben: „O Lazar, Haupt des serbischen Landes! Solches gab es nie, noch kann es das geben: Ein Land nur und der Herrscher zwei, Eine Raja zahlt doppelte Steuer. Wir beide können nicht Herrscher sein, So schicke mir die Schlüssel von allen Burgen, Und die Steuer von sieben Jahren. Wirst du mir aber dieses nicht schicken, So komm denn nach dem Kosovo-Feld, Daß wir das Land mit den Säbeln teilen. […]

304 „Zidanje Ravanice“, Vuk 1958, II, S. 196–197. 305 Talvj I, S. 116–118. 306 „Komadi od različnijeh kosovskijeh pjesama“[I] (Fragmente aus verschiedenen KosovoLiedern), in: Vuk 1958, II, S.  301; bei Talvj fehlen die Fragmente  I–III; vgl. dazu K.  Georgijević: Srpskohrvatska narodna pesma, op. cit., S.  175–176. Übersetzung nach Maximilian Braun, op. cit., S. 230.

192

Teil I

Nachdem Lazar das Schreiben des Sultans gelesen, weinte er bitterlich, verschickte an die Untertanen den Befehl, daß man sich umgehend sammeln solle, und sprach fluchend: […] „Ко не дође на бој на Косово, Од руке му ништа не родило: Ни у пољу бјелица пшеница, Ни у брду винова лозица!“307

[…] „Wer nicht zur Kosovo-Schlacht komme, Dem möge nichts mehr glücken: Weder die Erde weißen Waizen geben, Noch die Weinberge die Trauben!“

Hier muß man das Weitere, was der Schauplatz der Ereignisse darbietet, hinzufügen. Das ist die Sendung eines Falken von der Allerheiligsten Jungfrau zu Jerusalem, mit der Anfrage bei Lazar, was er wohl wähle, das irdische oder das himmlische Reich? Полетио соко тица сива Од Светиње од Јерусалима, И он носи тицу ластавицу. То не био соко тица сива, Веће био светитељ Илија; Он не носи тице ластавице, Веће књигу од Богородице, Однесе је цару на Косово, Спушта књигу цару на колено, Сама књига цару беседила:

Kam ein grauer Edelfalke geflogen, Weither von Jerusalem, dem heiligen, Und er trägt ein kleines Schwalbenvöglein; Doch es war kein grauer Edelfalke, Nein, es war der heilige Elias; Und er trug kein kleines Schwalbenvöglein, Trug ein Schreiben von der Mutter Gottes, Trug es auf das Amselfeld zum Zaren. Fällt dem Zaren auf das Knie das Schreiben, Und das Schreiben spricht zum Zaren als:

„Царе Лазо, честито колено! Коме ћеш се приволети царству? Или волиш царству небескоме, Или волиш царству земаљскоме? Ако волиш царству земаљскоме, Седлај коње, притежи колане, Витезови сабље припасујте, Па у Турке јуриш учините, Сва ће Турска изгинути војска; Ако л’ волиш царству небескоме, А ти сакрој на Косову цркву, Не води јој темељ од мермера, Већ од чисте свиле и скерлета, Па причести и нареди војску; Сва ће твоја изгинути војска, Ти ћеш, кнеже, шњоме погинути.“

„Zar Lazar! Du von erlauchtem Stamme! Sage, welches Reich du dir erwählest; Willst das Himmelreich du lieber haben, Oder willst das irdische Reich du lieber? Wenn das irdische Reich du dir erwählest, Sattle Rosse, zieh die Gurte fester, Laß die Helden ihre Säbel schnallen, Greife an mit Sturm das Heer der Türken, Und das ganze Heer wird Dir erliegen; Aber willst das Himmelreich Du lieber, Wohl! errichte auf dem Amselfelde Eine Kirche, nicht auf Marmorgrunde, Nein, gefertiget aus Seid’ und Scharlach, Daß das Heer zum Abendmahle gehend, Und entsündigt sich zum Tod bereite! Alle Deine Krieger werden fallen, Du, o Fürst, mit ihnen untergehen!“

307 „Komadi od različnijeh kosovskijeh pjesama“[II], in: Vuk 1958, II, S. 301.

17. Vorlesung (26. Februar 1841) А кад царе саслушао речи, Мисли царе мисли свакојаке: „Мили Боже, што ћу и како ћу? Коме ћу се приволети царству? Да или ћу царству небескоме? Да или ћу царству земаљскоме? Ако ћу се приволети царству, Приволети царству земаљскоме, Земаљско је за малено царство, А небеско у век и до века.“ Цар воледе царству небескоме, А него ли царству земаљскоме, […].“308

193 Als der Zar Lazar dies Wort vernommen, Dacht’ er nach, ein Jegliches bedenkend: „Herr, mein Gott! was soll und welches soll ich? Welches wähl’ ich mir von beiden Reichen? Soll ich mir das Himmelreich erwählen? Oder mir das irdische Reich erwählen? Wenn das irdische Reich ich mir erwähle: Irdisches ist kurz nur und vergänglich, Himmlisches für Zeit und Ewigkeiten!“ Und der Zar will vor dem irdischen Reiche Lieber sich das Himmelreich erwählen. […].“309

Nirgends tritt der christliche Gedanke, eine neue Bahn der Dichtung anhebend, so klar und deutlich ausgeprägt hervor, wie in diesem slavischen Gedicht. Wie bekannt, waren die Heroen des Altertums glückliche Menschen, reich, gesund und voll physischer Kraft. Homer nennt die Reichen und Gewaltigen immer Söhne und Lieblinge der Götter, und betrachtet dagegen das Elend und Unglück als Beweis der Ungnade und des Zorns der Himmlischen. Dieser Begriff ist die Grundlage der Epopöe, und das Heldengedicht endet dort, wo die Unglücksfälle des Helden beginnen. Bei den Dichtern des Christentums, bei den Minnesängern und Troubadouren, die in moralischer Hinsicht höher, und in literarischer vollkommner als die Slaven sind, ist jedoch diese dem Evangelium gemäße Erhebung der Armut und des Leidens nicht so ausgeprägt. Namentlich zeigen sich die späten Dichter, die literarisch gebildet waren und unter dem Einfluß der Alten, zuweilen der Griechen selbst, schrieben, häufig fortgerissen von den Überlieferungen der nördlichen und der germanischen Völker. Die Vorstellung des völligen Aufopferns seines Selbst gehört der serbischen Epopöe; sie ist nichts anderes, als eine durchgehende Erzählung großer Niederlagen und Unglücksfälle. Den Triumph bestimmt sie im Himmel, und fordert auf der Erde nur Ruhm für seine Helden; da im Gegenteil in der Poesie der Neuzeit, und in der Dichtung der wieder zu Heiden gewordenen Völker am häufigsten die Kraft gepriesen wird. Diese Verehrung der Kraft und des Wohlergehens, die am Beginn der Staatengeschichte des Altertums aufging, beschließt hier die Taten der Völker. Nachdem Lazar die Herausforderung Murads erhalten, und sich für das Los der Schlacht entschieden, bereitet er ein prachtvolles Gastmahl; denn alle wichtigen Begebenheiten in den slavischen Dichtungen müssen mit einem 308 „Propast carstva srpskoga“ (Der Untergang des serbischen Reichs), Vuk 1958, II, S. 288–290. 309 Bei Talvj „Fromme Vorbereitung“, in: Talvj II, S. 121–122.

194

Teil I

Schmaus anfangen und enden. Die zwei Woiwoden Miloš Obilić und Vuk Branković sind schon in Streit geraten. Vuk schmiedet Verrat und sucht den Verdacht desselben auf Miloš zu werfen; Lazar verfährt mit ihnen offen und edel. Zar Lazar gibt auf seiner Festung Kruševac ein Gastmahl. Alle Großen und die vornehmsten Frauen310 sitzen am Tisch. Ihm zur Rechten sitzt der greise Jug Bogdan; neben ihm seine Söhne, die neun Jugovići, zur Linken Vuk Branković und ganz am Ende der Woiwode Miloš Obilić (der Platz ganz am Ende des Tisches ist der ehrenvollste bei den Slaven). Den güldenen Becher nimmt Zar Lazar zur Hand, und spricht zu seinen serbischen Herren: […] „Коме ћ’ ову чашу наздравити? Ако ћу је напит’ по старјешству, Напићу је старом Југ-Богдану; Ако ћу је напит’ по господству, Напићу је Вуку Бранковићу; Ако ћу је напит’ по милости, Напићу је мојим девет шура, Девет шура, девет Југовића; Ако ћу је напит’ по љепоти, Напићу је Косанчић-Ивану; Ако ћу је напит’ по висини, Напићу је Топлици Милану; Ако ћу је напит’ по јунаштву, Напићу је војводи Милошу.

[…] „Wem verehr’ ich dieses Becher Weines? Brächte ich ihn dar gemäß dem Range, Müßte ich ihn Alt-Jug-Bogdan bringen; Brächte ich ihn dar gemäß dem Adel, Müßte ich ihn Vuk Branković bringen; Brächte ich ihn dar gemäß der Liebe, Müßt’ ich ihn meinen neun Schwägern bringen; Meinen Schwägern, den neun Jugovićen; Brächte ich ihn dar gemäß der Schönheit, Müßt’ ich ihn Ivan Kosančić bringen; Brächte ich ihn dar gemäß der Größe, Müßt’ ich ihn Milan Toplica bringen; Brächte ich ihn dar gemäß der Kühnheit, Müßt’ ich ihn Miloš Obilić bringen.

Та ником је другом напит’ нећу, Већ у здравље Милош-Обилића! Здрав, Милошу, вјеро и невјеро! Прва вјеро, потоња невјеро! Сјутра ћеш ме издат’ на Косову, И одбјећи турском цар-Мурату!“ […]“311

Doch nichts anderm soll mein Zutrunk gelten Als dem Wohle von Miloš Obilić. Heil dir, Miloš, Treuer und Verräter! Einst Getreuer, späterhin Verräter! Du wirst mich im Amselfeld verraten Und zum Kaiser Murad überlaufen! […]“312

310 Im Original „господичиће“ (junge Herren) – vgl. Vuk Stefanović Karadžić: Lexikon serbico-germanico-latinum. Srpski rječnik istumačen njemačkim i latinskijem riječima. Beograd 1935 (4. Auflage), S. 100. 311 „Komadi od različnijeh kosovskijeh pjesama“[III], Vuk II, S. 302–303. 312 Unter dem Titel „Das Nachtmahl des Fürsten“ übersetzt von Stefan Schlotzer, in: Serbische Heldenlieder. Übersetzt von Stefan Schlotzer. Mit einem Kommentar von Erika Beermann. München 1996, S. 107–108; bei Talvj fehlt dieser Text.

17. Vorlesung (26. Februar 1841)

195

Miloš stand auf, leerte den Becher und sagte ruhig: „Auf dem Amselfeld werden wir sehen, wer der Treue und wer der Verräter ist!“ („Виђећемо у пољу Косову, / kо је вјера, ко ли је невјера!“).313 Im folgenden Lied (IV) nahm Miloš in der Nacht vor dem Kampf zwei Freunde, von denen der eine als der Schönste, der andere als der am besten Gewachsene oben angeführt sind, und ging ins türkische Lager, um Murad zu töten. Unterwegs beratschlagte er mit den Gefährten, sie Brüder heißend. Bei den Serben, und im Allgemeinen bei den Slaven, bedeuten ein Gefährte und ein Bruder fast das Nämliche; es gab ritterliche Genossenschaften oder Verbrüderungen, worüber wir im Verlaufe unserer Vorträge mehr sprechen werden. Miloš sagt: „Побратиме, Косанчић-Иване, Јеси л’ турску уводио војску? Је ли много војске у Турака? Можемо ли с Турци бојак бити? Можемо ли Турке придобити?“ Вели њему Косанчић-Иване: „О мој брате, Милош Обилићу, Ја сам турску војску уводио, Јесте силна војска у Турака: Сви ми да се у со преметнемо, Не би Турком ручка осолили!“ […].

„O Schwurbruder Ivan, Kosančiće, Hast du denn das Türkenheer erkundet? Hat der Türke eine große Streitmacht? Können wir uns mit den Türken schlagen? Können wir die Türken niederringen?“ Zu ihn spricht der Kosančiće Ivan: O mein Bruder Miloš, Obiliće, Habe wohl das Türkenheer erkundet, Ein gewalt’ges Heer gehört den Türken: Wenn wir alle uns in Salz verwandeln, Würzen wir den Türken nicht die Mahlzeit!“ […]

Dieser Vergleich erinnert an einen ähnlichen, von Homer gebrauchten, wo Agamemnon314 die Griechen anfeuernd, sagt: sie wären so zahlreich, daß, wenn ein Trojaner für zehn Griechen den Wein einschenkte, so würden noch viele Zehner ohne Mundschenken bleiben. Dies ist fast dieselbe Weise, den Gedanken auszudrücken. „Ево пуно петнаест данака Ја све ходах по турској ордији, И не нађох краја ни хесапа: […]“

„Sieh, es sind jetzt volle fünfzehn Tage, Die ich in der Türkenmacht umherzog, Und ich fand kein Ende, keinen Abschluß: […]“

Hier folgen Beschreibungen von Einzelheiten der Örtlichkeit, sehr schätzbar für die Geschichte, weiter fährt Kosančić fort:

313 Vuk II, S. 303. 314 Vgl. „Ilias“, II. Gesang, Verse 123–129.

196

Teil I „Све је турска војска притиснула, Коњ до коња, јунак до јунака, Бојна копља као чарна гора, Све барјаци као и облаци, А чадори као и сњегови; Да из неба плаха киша падне, Ниђе не би на земљицу пала, Већ на добре коње и јунаке.“ […]

Überall dort liegt die Türkenstreitmacht: Pferd an Pferd und Recke neben Recke, All die Speere wie ein schwarzer Bergwald All die Fahnen wie des Himmels Wolken, Und die Zelte wie ein weites Schneefeld. Wenn vom Himmel jäher Regen fiele, Nirgend fiele dieser auf die Erde, Sondern auf die Pferde und die Recken. […]

Hier fragt wiederum Miloš: „Ја Иване, мио побратиме, Ђе је чадор силног цар-Мурата? Ја сам ти се кнезу затекао Да закољем турског цар-Мурата.“ […] Ал’ говори Косанчић Иване: „Да луд ти си, мио побратиме! Ђе је чадор силног цар-Мурата, Усред турског силна таобора, Да ти имаш крила соколова, Пак да паднеш из неба ведрога, Перје меса не би изнијело.“315 […]

„Lieber Ivan, o du mein Schwurbruder, Sag, wo steht das Zelt des Kaisers Murad? Ich versprach dem ehrenreichen Fürsten, Türkenkaiser Murad zu erstechen.“ […] Doch da spricht der Kosančiće Ivan: „Töricht bist du, o du mein Schwurbruder! Wo des mächt’gen Kaisers Murad Zelt steht, Mittelpunkt im mächtigen Türkenlager – Selbst wenn du des Falken Flügel hättest Und du dort aus heiterm Himmel einfielst, Trügen dir kein Fleisch heraus die Federn.“316 […]

Endlich bittet ihn Miloš, er möchte dem Zaren nichts sagen, und mit seiner Erzählung die christlichen Heerscharen nicht entmutigen. Was die Beschreibung der Schlacht selbst betrifft, so wird diese verschiedentlich in mannigfaltigen Bruchstücken, die nicht ganz mit einander übereinstimmen, erzählt. Vom Tode Jug-Bogdans und seiner Familie, ja selbst Lazars, gibt es viele sich widersprechende Sagen. Bekannt ist aus der Geschichte, daß JugBogdan mit den Gebrüdern zehn Jahre vor der Niederlage auf dem Amselfeld gefallen ist, die Dichter jedoch besingen den Tod des Vaters und seiner neun Söhne immer als hier geschehen. Die schönste Beschreibung dieser Schlacht („Car Lazar i carica Milica“) findet sich in folgenden Stellen, von denen die erste das Bild des sich in Marsch setzenden Heeres gibt.

315 „Komadi od različnijeh kosovskijeh pjesama“[IV], Vuk, II, S. 304–305. 316 Übersetzt von Stefan Schlotzer, in: Serbische Heldenlieder, op. cit., S. 109–110.

17. Vorlesung (26. Februar 1841)

197

Цар Лазаре сједе за вечеру, Покрај њега царица Милица; Вели њему царица Милица: „Цар-Лазаре, Српска круно златна! Ти полазиш сјутра у Косово, С’ собом водиш слуге ‚и војводе, А код двора ни ког‘ не остављаш, Царе Лазо, од мушкијех глава, Да ти може књигу однијети У Косово и натраг вратити; Одводиш ми девет миле браће, Девет браће, девет Југовића: Остави ми брата бар једнога, Једног брата сестри од заклетве.

Saß der Zar Lazar beim Abendmahle, Neben ihm Frau Miliza, die Zarin. Und es sprach Frau Miliza, die Zarin: „Zar Lasar, du Serbiens goldene Krone! Morgen ziehst du nach dem Amselfelde, Führest mit dir Diener und Woiwoden, Lässest keinen mir an meinem Hofe, Und mir bleibt kein männlich Haupt zurücke, Daß ich einen Brief dir schicken könnte, Nach dem Schlachtfeld und zurück erwarten; Führest ja mit dir neun liebe Brüder, Meine Brüder, die neun Jugowitschen; Laß mir einen einzigen der Brüder, Einen Bruder nur zum Schwur der Schwester!“

Њој говори Српски кнез Лазаре: „Госпо моја, царице Милице! Кога би ти брата највољела Да т’ оставим у бијелу двору?“ – „Остави ми Бошка Југовића.“ Тада рече Српски кнез Лазаре: „Госпо моја, царице Милице! Када сјутра бијел дан осване, Дан осване и огране сунце, И врата се отворе на граду, Ти ишетај граду на капију, Туд’ ће поћи војска на алаје: Све коњици под бојним копљима, Пред њима је Бошко Југовићу, И он носи крсташа барјака; Кажи њему од мене благосов, Нек да барјак, коме њему драго, Па нек с тобом код двора остане.“

Ihr antwortete der Fürst der Serben: „Sage, liebe Miliza, Frau Zarin, Welchen wünschest du von deinen Brüdern, Daß er dir im weißen Hofe bleibe?“ – „Laß mir hier den Jugowitschen Boschko!“ Und es sprach Lazar, der Fürst der Serben: „Also sei es, Miliza, Frau Zarin! Morgen bei des weißen Tages Anbruch, Tages Anbruch und der Sonne Aufgang, Wenn die Pforten sich der Feste öffnen, Geh hinaus du vor das Tor der Feste. Dorten zieht das Heer in Reih und Glied hin, All zu Rosse und mir Kampfeslanzen. Vor ihm her der Jugowitsche Boschko, Der die Kreuzesfahne ihm voranträgt. Ihm vermelde meinen Gruß und Segen, Mag er, wem er will, die Fahne geben Und bei dir in deinem Hofe bleiben!“

Кад у јутру јутро освануло И градска се отворише врата, Тад’ ишета царица Милица, Она стаде граду код капије, Ал’ ето ти војске на алаје: Све коњици под бојним копљима, Пред њима је Бошко Југовићу На алату вас у чистом злату, Крсташ га је барјак поклопио, Побратиме! до коња алата;

Als am Morgen nun der Morgen anbrach, Und sich öffneten der Feste Pforten, Ging Miliza früh hinaus, die Zarin, Und blieb stehen in dem Tor der Feste. Sieh, da zog das Heer in Reih und Glied hin, All zu Rosse und mit Kampfeslanzen; Vor ihm her der Jugowitsche Boschko, Ganz von echtem Golde glänzt sein Rotroß;

198

Teil I На барјаку од злата јабука, Из јабуке од злата крстови, Од крстова златне ките висе, Те куцкају Бошка по плећима; Примаче се царица Милица, Па увати за узду алата, Руке склопи брату око врата, Пак му поче тихо говорити: „О мој брате, Бошко Југовићу! Цар је тебе мене поклонио, Да не идеш на бој на Косово, И тебе је благосов казао, Да даш барјак, коме тебе драго, Да останеш са мном у Крушевцу Да имадем брата од заклетве.“

Ал’ говори Бошко Југовићу: „Иди, сестро, на бијелу кулу; А ја ти се не бих повратио, Ни из руке крсташ барјак дао, Да ми царе поклони Крушевац; Да ми рече дружина остала: Гле страшивца, Бошка Југовића! Он не смједе поћи у Косово За крст часни крвцу прољевати И за своју вјеру умријети.“

Пак проћера коња на капију. Ал’ ето ти старог Југ-Богдана И за њиме седам Југовића, Све је седам устављала редом, Ал’ ниједан ни гледати не ће. Мало време за тим постајало, Ал’ ето ти Југовић-Воина, И он води цареве једеке Покривене са сувијем златом, Она под њим увати кулаша, И склопи му руке око врата, Па и њему стаде говорити: „О мој брате, Југовић-Воине! Цар је тебе мене поклонио, И тебе је благосов казао, Да даш једек’, коме тебе драго, Да останеш са мном у Крушевцу, Да имадем брата од заклетве.“

Aber bis zum goldgelbrotem Rosse Hängt und decket ihn die Kreuzesfahne; Auf der Fahne ragt ein goldner Apfel, Goldne Kreuze aber aus dem Apfel, Von den goldnen Kreuzen hängen Quasten, Hängen tief und schlagen Boschkos Schultern. Näher trat Frau Miliza, die Zarin Faßte das goldgelbe Roß am Zügel, Schlang die Arme um den Hals des Bruders, Und ins Ohr ihm sprach sie flüsternd also: „Lieber Bruder, Jugowitsche Boschko! Dich geschenket hat der Zar der Schwester; Sollst nicht ziehen nach dem Amselfelde, Seinen Segen läßt er dir entbieten; Geben sollst du, wem du willst, die Fahne, Und bei mir hier in Kruschewaz bleiben, Daß zum Schwure mir ein Bruder bliebe.“ Ihr entgegnete der Jugowitsche: „Gehe, Schwester, nach dem weißen Turme; Aber ich geh nicht mit dir zurücke, Noch die Fahne geb ich aus den Händen, Wenn ganz Kruschewaz der Zar mir böte! Daß das Heer mit Fingern auf mich wiese: Seht die Memme, seht den feigen Boschko! Der sich nach dem Amselfeld nicht waget, Für das Kreuz nicht will sein Blut vergießen, Für den heiligen Glauben nicht will sterben!“ Und so sprechend, sprengt er aus dem Tore. Sieh, da kommt der greise Jug Bogdane! Ihm zur Seite sieben Jugowitschen. Alle sieben ruft sie nach der Reihe, Doch kein einziger will die Zarin sehen. Und ein Weilchen steht sie so noch harrend. Sieh, da kommt der Jugowitsche Wojno, Der des Zaren prächtige Rosse führet, Ganz bedeckt sind sie mit trocknem Golde; Und sie faßt das Grauroß, das er reitet, Schlingt die Arme um den Hals des Bruders, Und beginnet so zu ihm zu reden: „Lieber Bruder, Jugowitsche Wojno! Dich geschenket hat der Zar der Schwester,

17. Vorlesung (26. Februar 1841)

199 Seinen Segen läßt er dir entbieten, Wem du willst, sollst du die Rosse geben, Sollst bei mir hier bleiben in Kruschewaz, Daß zum Schwure mir ein Bruder bliebe.“

Вели њојзи Југовић Воине: „Иди, сестро, на бијелу кулу; Не би ти се јунак повратио, Ни цареве једеке пустио, Да бих знао, да бих погинуо; Идем, сејо, у Косово равно За крст часни крвцу прољевати И за вјеру с браћом умријети.“

Ihr entgegnete der Jugowitsche: „Gehe, Schwester, nach dem weißen Turme, Doch zurücke kehrt kein wackrer Krieger, Und verläßt des Zaren Rosse nimmer; Wüßt er auch, daß in der Schlacht er fiele! Laß mich, Schwester, auf dem Amselfelde Für das heilige Kreuz mein Blut verspritzen, Mit den Brüdern für den Glauben sterben!“

Пак проћера коња на капију. Кад то виђе царица Милица, Она паде на камен студени, Она паде, пак се обезнани; Ал’ ето ти славнога Лазара, Када виђе госпођу Милицу, Уд’рише му сузе низ образе; Он с’ обзире с десна на лијево, Те дозивље слугу Голубана: „Голубане, моја вјерна слуго! Ти одјаши од коња лабуда, Узми госпу на бијеле руке, Пак је носи на танану кулу; Од мене ти Богом просто било! Немој ићи на бој на Косово, Већ остани у бијелу двору.“

Dieses sprechend, sprengt er aus dem Tore. Als Milica dieses sah, die Zarin, Auf dem kalten Steine sank sie nieder, Sank sie nieder und in tiefe Ohnmacht. Sieh, da kam der Zar Lazar geritten. Als der Frau Miliza so erblickte, Rannen Tränen über seine Wangen, Von der Rechten schaut er nach der Linken Und Goluban rief er, seinen Diener: „Hör, Goluban, du mein treuer Diener! Steig hinunter von dem Schwanenrosse, Nimm die Herrin bei den weißen Armen, Trag zurück sie nach dem schlanken Turme. Ich erlaub es dir, zurückzubleiben, Folg uns nicht, Goluban, auf das Schlachtfeld, Sondern bleibe du im weißen Hofe!“

Кад то зачу слуга Голубане, Проли сузе низ бијело лице, Па одсједе од коња лабуда, Узе госпу на бијеле руке, Однесе је на танану кулу; Ал’ свом срцу одољет’ не може, Да не иде на бој на Косово, Већ се врати до коња лабуда, Посједе га, оде у Косово.

Als Goluban dies, der Diener, hörte, Flossen Tränen über seine Wangen; Doch herab stieg er vom Schwanenrosse, Nahm die Herrin bei den weißen Armen, Trug zurück sie nach dem schlanken Turme; Doch dem Herzen kann er’s nicht verwehren, Daß er nach dem Amselfeld nicht ritte; Und er sucht sein Schwanenroß von neuem, Sitzet auf, zum Amselfeld es lenkend.

200

Teil I

Hier erst folgen die Erzählungen von der Schlacht; die erste Nachricht von derselben bringen zwei Raben, dann kommt Lazars Stallmeister, bedeckt mit Wunden. Кад је сјутра јутро освануло, Долећеше два врана гаврана Од Косова поља широкога, И падоше на бијелу кулу, Баш на кулу славнога Лазара, Један гракће, други проговара: „Да л’ је кула славног кнез-Лазара? Ил’ у кули нигђе никог нема?“ То из куле нитко не чујаше, Већ то чула царица Милица, Па излази пред бијелу кулу, Она пита два врана гаврана:

Als am Morgen nun der Morgen anbrach, Sieh, da flatterten zwei schwarze Raben Weit daher vom breiten Amselfelde, Ließen auf dem weißen Turm sich nieder, Auf dem Turme des erlauchten Fürsten, Einer krächzend und der andre sprechend: „Ist der Turm dies des ruhmvollen Fürsten? Und ist niemand drinnen in dem Turme?“ Aus dem Turme tönte keine Stimme; Aber drinnen hörte sie die Zarin, Trat heraus drauf aus dem weißen Turme, Also die zwei schwarzen Raben fragend:

„Ој Бога вам, два врана гаврана! Откуда сте јутрос полећели? Нијесте ли од поља Косова? Виђесте ли двије силне војске? Јесу ли се војске удариле? Чија ли је војска задобила?“ Ал’ говоре два врана гаврана: „Ој Бога нам, царице Милице! Ми смо јутрос од Косова равна, Виђели смо двије силне војске; Војске су се јуче удариле, Обадва су цара погинула; Од Турака нешто и остало, А од Срба и што је остало, Све рањено и искрвављено.“

„Grüß euch Gott, ihr beiden schwarzen Raben! Sagt, wo kommt ihr her so früh am Morgen? Wart ihr etwa auf dem Amselfelde? Saht ihr dorten wohl zwei mächtige Heere? Schlugen sich die beiden mächtigen Heere? Aber welches, sprecht, ist Sieger blieben?“ Ihr entgegneten die beiden Raben: „Schönen Dank, Frau Miliza, die Zarin! Kommen von dem Amselfeld so frühe, Haben dort gesehn zwei mächtige Heere, Welche gestern eine Schlacht geschlagen, Wo die Fürsten beider Heere blieben. Von den Türken blieben wenige übrig; Aber was von Serben blieb am Leben, Alles ist verwundet und verblutet!“

Истом они тако бесјеђаху, Ал’ ето ти слуге Милутина, Носи десну у лијевој руку, На њему је рана седамнаест, Вас му коњиц у крв огрезнуо; Вели њему госпођа Милица: „Што је, болан, слуго Милутине? Зар издаде цара на Косову?“

Während daß die Raben also sprachen, Sieh, da nahet Milutin, der Diener; In der linken Hand trägt er die rechte, Seinen Leib bedecken siebzehn Wunden, Und sein gutes Roß schwimmt ganz im Blute, Ihm entgegen rufet Frau Miliza: „Ach! was ist das, Milutin, du Armer! Hat Verrat etwa den Zar vernichtet?“

17. Vorlesung (26. Februar 1841)

201

Ал’ говори слуга Милутине: „Скин’ ме, госпо, са коња витеза, Умиј мене студеном водицом, И залиј ме црвенијем вином; Тешке су ме ране освојиле.“

Ihr erwidert Milutin, der Diener: „Hilf mir, Herrin, von dem Heldenrosse, Wasche mir die Stirn mit kaltem Wasser Und besprenge mich mit rotem Weine! Schwere Wunden rauben alle Kraft mir!“

Скиде њега госпођа Милица, И уми га студеном водицом, И зали га црвенијем вином. Кад се слуга мало повратио, Пита њега госпођа Милица:

Und die Herrin half ihm von dem Rosse, Wusch die Stirne ihm mit kaltem Wasser, Und erquickt ihn dann mit rotem Weine. Aber als er sich gestärkt ein wenig, Fragt Frau Milica dann ihren Diener:

„Што би, слуго, у пољу Косову? Ђе погибе славни кнеже Лазо? Ђе погибе стари Југ Богдане? Ђе погибе девет Југовића? Ђе погибе Милош војевода? Ђе погибе Вуче Бранковићу? Ђе погибе Бановић Страхиња?

„Sprich, wie war es auf dem Amselfelde? Wie ist der ruhmvolle Fürst gefallen? Sage, wie der greise Jug, mein Vater? Und wie fielen die neun Jugowitschen? Und wie fiel Herr Milosch, der Woiwode? Aber wie Herr Wuk, mein andrer Eidam? Und wie fiel des Banes Sohn, Strahinja?“

Тада слуга поче казивати: „Сви осташе, госпо, у Косову. Ђе погибе славни кнез Лазаре, Ту су многа копља изломљена, Изломљена и Турска и Српска, Али више Српска, него Турска, Бранећ’, госпо, свога господара, Господара, славног кнез:Лазара. А Југ ти је, госпо, погинуо У почетку, у боју првоме. Погибе ти осам Југовића, Ђе брат брата издати не шћеде, Докле гође један тецијаше; Још остаде Бошко Југовићу, Крсташ му се по Косову вија; Још разгони Турке на буљуке, Као соко тице голубове. Ђе огрезну крвца до кољена, Ту погибе Бановић Страхиња. Милош ти је, госпо, погинуо Код Ситнице код воде студене, Ђено млого Турци изгинули; Милош згуби Турског цар-Mурата И Турака дванаест хиљада; Бог да прости, ко га је родио! Он остави спомен роду Српском,

Drauf beginnt der Diener zu erzählen: „Alle blieben, Herrin, auf dem Schlachtfeld. Wo der hochberühmte Fürst gefallen, Liegt gar mancher Kampfspeer, ganz zertrümmert, Ganz zersplittert, türkische und serbische; Aber Serbenspeere sind die meisten, All zum Schutz des Fürsten abgesendet, Unsres Herrn, des hochberühmten Zaren. Aber Jug – schon in den Vorgefechten Fiel er, Frau, im Anbeginn des Kampfes! Und es fielen acht der Jugowitschen, Nicht verlassen wollten sich die Brüder Bis sich immer einer regen konnte. Noch war Boschko da, der Jugowitsche, Auf dem Schlachtfeld wogte seine Fahne, Scharenweise jagt er noch die Türken, Wie der Falk die Tauben vor sich her treibt. Wo das Blut hoch wogte bis zum Kniee, Dorten sank des Banes Sohn Strahinja; Milosch aber, Herrin, ist gefallen An dem kalten Wasser der Sitniza, Wo erschlagen viele Türken liegen. Milosch tötete den Sultan Murat, Und mit eigner Hand zwölftausend Türken. Segn ihn Gott dafür, und all die Seinen!

202

Teil I Да се прича и приповиједа Док је људи и док је Косова. А што питаш за проклетог Вука, Проклет био и ко га родио! Проклето му племе и кољено! Он издаде цара на Косову И одведе дванаест хиљада, Госпо моја! љутог оклопника.“317

Leben wird er in der Serben Herzen, Leben stets in Sage und Erzählung, Bis die Welt und Amselfeld vernichtet! Aber fragst du mich nach Wuk, dem Buben? Treffe Fluch ihn und die Seinen alle! Fluch, Fluch ihm samt seinem ganzen Stamme! Er, er war es, der den Zar verraten Über ging er mit zwölftausend Kriegern, Mit zwölftausend bösgesinnten Reitern!“318

Alle diese Erzählungen erinnern häufig an die „Ilias“. Während des Ausfalls der Trojaner ins Lager der Griechen kommt der verwundete Antilochos319 von dem Kampfplatz und Patrokles wäscht seine Wunden, reicht ihm Wein wie die Zarin Milica dem Stallmeister Milutin. Im Charakter der Helden könnte man mehrmals dieselben Züge entdecken: die Homerische Poesie ist allen bekannt, wir werden uns daher nicht weiter auf die Zeichnung der Sitten und Menschen des Heldenzeitalters einlassen. Dieses Zeitalter ist sich allenthalben ähnlich. Ebenso wie die Homerischen, sind auch die slavischen Helden einfache Männer, leidenschaftlich, geneigt zum Zorn, und, über alles den Krieg liebend. Die Tapferkeit betrachten sie als die größte Tugend, ehren die Religion, lieben Überfluß und Pracht, häufig sind sie gewalttätig, aber nicht roh. Der Krieg ist für sie nicht wie bei den wilden Amerikanern eine Jagd auf Menschen; im Gegenteil, sie achten die Völkerrechte, halten den Eid heilig, das Ehrenwort, sie kämpfen mit ehrbarem Schwert. Ihr Charakter wird durch das Christentum noch erhoben: wir sehen in der serbischen Poesie weder die furchtbare Rache der Griechen, noch die Grausamkeit der Trojaner; es herrscht hier eine größere Menschlichkeit, die Sieger verschonen die Kriegsgefangenen, weiden sich nicht an den Leibern der gefallenen Feinde. Das andere Geschlecht zeigt sich desgleichen in einer milderen Stimmung. Die Slavin jener Zeit ist noch im Kreise des häuslichen Lebens eingeschlossen, selten tritt sie auf einen 317 „Car Lazar i carica Milica“, Vuk, II, S. 281–287. 318 Bei Talvj „Auszug und Schlacht“ – Talvj, II, S. 125–131. 319 Eigentlich ist es Eurypylos, den Patroklos verarztet („Ilias“, XI. Gesang, Verse 842–847); im XV. Gesang, Verse 392–394, heißt es über Patroklos: „Saß noch stets in des edlen Eurypylos schönem Gezelte, / Ihn mit den Worten erfreuend, und fügt’ auf die schmerzende Wund’ ihm / Lindernde Heilungssäfte, die dunkele Qual zu bezähmen.“ – Homer: „Ilias“. Übertragen von Johann Heinrich Voß. In: Griechische Klassiker. Ausgewählt und mit einem Vorwort versehen von Walter Jens. München 1959, S. 234.

17. Vorlesung (26. Februar 1841)

203

ausgedehnten Schauplatz, noch wirkt sie nicht politisch mit, genießt kein Ansehen einer sittlich freien, unabhängigen Person, ihre Sitten und Gewohnheiten sind noch morgenländisch; daher rührt auch ihre Bescheidenheit und Ängstlichkeit, welche man in der sogenannten weiblichen Poesie antrifft. Der Mann ehrt jedoch das Weib als seine Gefährtin, seine Mutter und die Mutter seiner Kinder. Nirgends trifft man in der serbischen Poesie Beispiele von jener Verachtung des weiblichen Geschlechts, welche in den dichterischen Schöpfungen der mehr ausgebildeten, aber auch mehr verdorbenen Gesellschaften zu finden sind. Allgemein wird das Weib in jener Zeit, d.h. am Ende des 14. Jahrhunderts, als die ritterliche Dichtung in Europa erlischt und der Roman beginnt, nur ein Gegenstand der Betrachtung in Hinsicht der Körperschönheit; sie nimmt nur ein durch Gefühle der Leidenschaft. Einen bei weitem mannigfaltigeren Beruf hat sie in der Poesie des Altertums, und besonders in der serbischen Dichtung, wo sie keine Sklavin mehr ist, wenngleich sie noch nicht von jener Heiligkeit, welche ihr das germanische Geschlecht zuerkannte, von diesem strahlenden Kranz der Ehre, mit welchem das Christentum das Ideal eines Weibes krönt, umringt wird. Das epische Bruchstück der Schlacht auf dem Amselfeld schließt mit dem Bild eines Weibes in einem Mädchen, das einen bekannten Ritter unter den Gefallenen aufsucht. Hier können wir sehen, wie die Slaven in ihrer Dichtung das Weib vorstellen: Уранила Косовка девојка, Уранила рано у недељу, У недељу прије јарка сунца, Засукала бијеле рукаве, Засукала до бели лаката, На плећима носи леба бела, У рукама два кондира златна, У једноме лађане водице, У другоме руменога вина; Она иде на Косово равно.

In der Früh, das Amselfelder Mädchen, In der Frühe geht hinaus sie, sonntags, Sonntag morgens vor der lichten Sonne. Aufgestreift sind ihre weißen Ärmel, Aufgestreift bis zu den Ellenbogen; Auf den Schultern trägt sie weiße Brote, Und zwei goldne Becher in den Händen. Einen Becher füllet frisches Wasser; Aber roten Wein enthält der andre: Also geht sie nach dem Amselfelde.

Па се шеће по разбоју млада, По разбоју честитога кнеза, Те преврће по крви јунаке; Ког јунака у животу нађе, Умива га лађаном водицом, Причешћује вином црвенијем И залаже лебом бијелијем.

Auf der Wahlstatt wandelt jetzt die Jungfrau, Auf der Wahlstatt des erlauchten Fürsten, Kehrt die Helden um, im Blute schwimmend; Aber wo sie Einen lebend findet, Wäscht sie ihn mit ihrem frischen Wasser Träufelt in den Mund den roten Wein ihm, Speiset ihn mit ihrem weißen Brote.

204

Teil I Намера је намерила била На јунака Орловића Павла, На кнежева млада барјактара, И њега је нашла у животу, Десна му је рука осечена И лијева нога до колена, Вита су му ребра изломљена, Виде му се џигерице беле; Измиче га из те млоге крвце, Умива га лађаном водицом, Причешћује вином црвенијем И залаже лебом бијелијем; Кад јунаку срце заиграло, Проговара Орловићу Павле:

Also wandelnd, führte sie der Zufall Zu Paul Orlowitsch, dem Heldenjüngling, Zu des Fürsten jungem Fahnenträger. Und sie fand den Armen noch am Leben: Abgehauen war die rechte Hand ihm, Und der linke Fuß bis an die Kniee, Ganz zerbrochen hing die eine Rippe, Und man sah die weiße Lunge liegen. Und sie zog ihn aus den Strömen Blutes, Wusch ihn ab mit ihrem frischen Wasser, Träufelt’ in den Mund den roten Wein ihm, Speiset’ ihn mit ihrem weißen Brote, Als von neuem sich sein Herz nun regte, Also sprach Paul Orlowitsch, der Jüngling:

„Сестро драга, Косовко девојко! Која ти је голема невоља, Те преврћеш по крви јунаке? Кога тражиш по разбоју млада? Или брата, или братучеда? Ал’ по греку стара родитеља“320

„Liebe Schwester, Amselfelder Mädchen! Welches große Leid hat dich befallen, Daß du hier im Heldenblute wühlest? Wen doch sucht die Jungfrau auf der Wahlstatt? Einen Bruder, einen Sohn des Bruders? Oder suchst den Greis du, den Erzeuger?“

Проговара Косовка девојка: „Драги брато, делијо незнана! Ја од рода никога не тражим: Нити брата нити братучеда, Ни по греку стара родитеља; Мож’ ли знати, делијо незнана, Кад кнез Лаза причешћива војску Код прекрасне Самодреже цркве Три недеље тридест калуђера? Сва се Српска причестила војска, Најпослије три војводе бојне: Једно јесте Милошу војвода, А друго је Косанчић Иване, А треће је Топлица Милане;

Sprach das Mädchen drauf vom Amselfelde: „Lieber Bruder, unbekannter Krieger! Keinen such ich von den Anverwandten, Nicht den Bruder, noch den Sohn des Bruders, Noch such ich den Greis hier, den Erzeuger. Weißt du wohl, du unbekannter Krieger! Wie der Fürst Lazar dem Kriegesheere Jüngst drei Wochen durch von dreißig Mönchen, In der prächtigen Kirche Samodresha, Noch die Sakramente reichen lassen? All das Herr der Serben ging zum Nachtmahl, Ganz zuletzt drei kriegrische Woiwoden. Milosch, der Woiwode, war der eine, Und der zweite war Kossantschitsch Iwan, Doch der dritte hieß Milan Topliza.“

320 In der Fußnote erklärt Vuk Karadžić: „Po greku (po grijehu) roditelj znači pravi otac. Ovdje se pokazuje znak narodnoga mišljenja, da je grijeh i ženiti se. Ja sam slušao od oca jednoga velikog gospodara gde govori za svoga sina: ‚On je moj po grijehu sin, ali ga meni sad valja slušati.‘ (Erzeuger durch Sünde bedeutet richtiger Vater. Hier gelangt das volkstümliche

17. Vorlesung (26. Februar 1841) Ја се онде деси на вратима, Кад се шета војвода Милошу, Красан јунак па овоме свету, Сабља му се по калдрми вуче, Свилен калпак, оковано перје, На јунаку коласта аздија, Око врата свилена марама, Обазре се и погледа на ме, С’ себе скиде коласту аздију, С’ себе скиде, па је мени даде: ‚На, Девојко, коласту аздију, По чему ћеш мене споменути, По аздији по имену моме: Ево т’ идем погинути, душо, У табору честитога кнеза; Моли Бога, драга душо моја, Да ти с’ здраво из табора вратим А и тебе добра срећа нађе, Узећу те за Милана мога, За Милана Богом побратима, кој’ је мене Богом побратио, Вишњим Богом и светим Јованом; Ја ћу теби кум венчани бити.‘

За њим иде Косанчић Иване, Красан јунак на овоме свету, Сабља му се по калдрми вуче, Свилен калпак, оковано перје, На јунаку коласта аздија, Око врата свилена марама, На руци му бурма позлаћена, Обазре се и погледа на ме, С руке скиде бурму позлаћену, С руке скиде, па је мени даде: ‚На, девојко, бурму позлаћену, По чему ћеш мене споменути, А по бурми по имену моме: Ево т’ идем погинути, душо, У табору честитога кнеза; Моли Бога, моја душо драга, Да ти с’ здраво из табора вратим,

205 Aber ich stand dort an der Türe, Als vorbei ging Milosch, der Woiwode, Herrlich war der Held in diesem Leben! Auf dem Pflaster schleppte nach sein Säbel, Federn schmückten seine seidne Mütze; Einen rundgefleckten Mantel trug er, Aber um den Hals ein seidenes Tüchlein, Sich umschauend, fiel auf mich sein Auge: Da den rundgefleckten Mantel löst er, Nahm ihn ab, und mir ihn reichend sprach er: ‚Mädchen, nimm den rundgefleckten Mantel, Wolle meiner du dabei gedenken, Bei dem Mantel meines Namens denken! Sieh, ich gehe, Kind, um dort zu fallen, In das Lager des erlauchten Fürsten. Bete du zu Gott, du liebe Seele! Daß ich unverletzt zurück dir kehre, Und auch dir die Gunst des Glückes werde: Dann will ich dich meinem Milan geben, Meinem Milan, meinem lieben Freunde, Dem ich Brüderschaft einst zugeschworen, Bei dem höchsten Gott und Sankt Johannes. Pate bin ich dann dir bei der Trauung.‘ Und es folgte ihm Kossantschitsch Iwan. Herrlich war der Held in diesem Leben! Auf dem Pflaster schleppte nach der Säbel, Federn schmückten seine seidne Mütze; Einen rundgefleckten Mantel trug er, Aber um den Hals ein seidenes Tuch Und am Finger ein vergoldet Reiflein. Sich umschauend, fiel auf mich sein Auge. Von dem Finger zog er ab das Reiflein Zog es ab, und mir es reichend, sprach er: ‚Mädchen, nimm den Fingerreif, vergoldet, Wolle meiner du dabei gedenken, Bei dem Ringe meines Namens denken! Sieh, ich gehe, Kind, um dort zu fallen, In das Lager des erlauchten Fürsten. Bete du zu Gott, du liebe Seele,

Denken zum Ausdruck, demgemäß auch heiraten eine Sünde sei. Ich hörte von einem stattlichen Herren über seinen Sohn sagen: ‚Er ist mein Sohn durch die Sünde, aber nun muß ich auf ihn hören.‘) – vgl. Vuk, II, S. 310; ferner – Jevto M. Milović: Talvj erste Übertragung für Goethe und ihre Briefe an Kopitar. Leipzig 1941, S. XVIII–XIX.

206

Teil I А и тебе добра срећа нађе, Узећу те за Милана мога, За Милана Богом побратима, кој’ је мене Богом побратио, Вишњим Богом и светим Јованом, Ја ћу теби ручни девер бити.‘

Daß ich unverletzt zurück dir kehre, Und auch dir die Gunst des Glückes werde: Dann will ich dich meinem Milan geben, Meinem Milan, meinem lieben Freunde, Dem ich Brüderschaft einst zugeschworen, Bei dem höchsten Gott und Sankt Johannes. За њим иде Топлица Милане, Aber ich will dir Brautführer werden.‘ Красан јунак на овоме свету, Und es folgte ihm Milan Topliza. Сабља му се по калдрми вуче, Herrlich war der Held in diesem Leben! Свилен калпак, оковано перје, Auf dem Pflaster schleppte nach der Säbel, На јунаку коласта аздија, Federn schmückten seine seidne Mütze: Око врата свилена марама, Einen rundgefleckten Mantel trug er, На руци му копрена од злата, Aber um den Hals ein seidenes Tuch Обазре се и погледа на ме, Und am Arme eine goldne Spange. С руке скиде копрену од злата, Sich umschauend, fiel auf mich sein Auge. С руке скиде, па је мени даде. Von dem Arme nahm er die goldne Spange, ‚На, девојко, копрену од злата, Nahm sie ab, und mir sie reichend, sprach По чему ћеш мене споменути, er: По копрени по имену моме: ‚Mädchen, nimm du hin die goldne Spange! Ево т’ идем погинути, душо, Wolle meiner du dabei gedenken, У табору честитога таста; Bei der Spange meines Namens denken! Моли Бога, моја душо драга, Sieh, ich gehe, Kind, um dort zu fallen, Да ти с’ здраво из табора вратим, In das Lager des erlauchten Fürsten. Тебе, душо, добра срећа нађе, Bitte du zu Gott, du liebe Seele, Узећу те за верну љубовцу.‘ Daß ich unverletzt zurück dir kehre, Liebste, dir des Glückes Gunst auch werde: Dann erwähl ich dich zur treuen Gattin.‘ И одоше три војводе бојне. Њи ја данас по разбоју тражим.“

Und sie gingen hin die Woiwoden. Siehe, diese such’ ich auf der Wahlstatt!“

Ал’ беседи Орловићу Павле: „Сестро драга, Косовко девојко! Видиш, душо, она копља бојна Понајвиша а и понајгушћа, Онде ј’ пала крвца од Јунака Та доброме коњу до стремена, До стремена и до узенђије, А јунаку до свилена паса, Онде су ти сва три погинула, Већ ти иди двору бијеломе, Не крвави скута ни рукава.“

Und der Heldenjüngling spricht entgegnend: „Liebe Schwester, Amselfelder Mädchen! Siehst du, Liebe, jene Kampfeslanzen, Wo am allerhöchsten sie und dicht’sten? Dorten strömte aus das Blut der Helden, Stieg dem guten Ross bis an den Bügel, Bis an Bügel und an Steigeriemen, Und dem Helden bis zum seidnen Gürtel, Dorten sind sie alle drei gefallen! Aber du geh nach dem weißen Hause, Nicht mit Blut beflecke Saum und Ärmel!“

Кад девојка саслушала речи, Проли сузе низ бијело лице, Она оде свом бијелу двору

Als das Mädchen diese Worte hörte, Flossen Tränen über ihre Wangen, Und sie ging nach ihrem weißen Hause,

17. Vorlesung (26. Februar 1841) Кукајући из бијела грла: „Јао јадна! уде ти сам среће! Да се, јадна, за зелен бор ватим, И он би се зелен осушио.“321

207 Jammerte aus ihrem weißen Halse: „Weh, Unselge, welch Geschick verfolgt dich! Griffst du, Arme, nach der grünen Föhre, Schnell vertrocknen würden ihre Blätter!“322

Diese Erzählung sollte eigentlich, wie wir schon erwähnten, das Heldenzeitalter, welches viele Bruchstücke oder abgesonderte Dichtungen in sich faßt, beschließen. Ihr Rhythmus ist äußerst einfach: trochäischer Zehnsilber [deseterac] mit Zäsur nach der vierten Silbe (4+6). Diese Einfachheit macht den Vers sehr leicht, und daher rührt wohl die Menge der Dichtungen in diesen Gegenden; denn bei den anderen Slaven, wo der Rhythmus schwieriger ist, liebt das Volk vielmehr in Prosa zu erzählen. Dieser Tonfall, außerdem der Musik untergeordnet, kann auch die Ursache gewesen sein, daß die hiesige Dichtung sich nicht vervollkommnete. Denn indem er sie zu eintönig gemacht, nahm er ihr das Freie der Erzählung, und besonders auch die Möglichkeit, diese Erzählung zu verschönern. Wenn wir den griechischen Hexameter betrachten, so kann man sehen, daß er ebenfalls aus zwei Versen, geteilt durch die Zäsur besteht, die man später vereint hat, aber diese Reform erfolgte erst, als man aufgehört hatte, die Dichtungen mit Begleitung der Musik abzusingen und sie zu sprechen begann. Bei den slavischen Völkern hingegen bleibt die Dichtung immer unter Leitung der Musik, daher auch das Festhalten an einigen lyrischen Formeln, das Wiederholen derselben Worte, das Beginnen der Zeilen auf einerlei Weise, was alles die freie Beweglichkeit des Rhythmus der Epopöe fesselt. Der serbische Dialekt ist von allen slavischen Mundarten am meisten harmoniereich und musikalisch, er mildert und erweicht die Härte der Konsonanten und ist gleichsam die italienische Sprache der Slaven.323 Schon hat man dies bemerkt, und wir selbst haben aufmerksam gemacht, daß der Ton der Konsonanten das Gewebe des Körpers einer Sprache bildet, und alle ihre Mundarten sind, was dies betrifft, sich ähnlich, alle ihre Worte bestehen aus denselben Konsonanten, nur anders umgestellt, die Vokalen aber geben ihnen den Atem, den Geist. Die serbische Mundart besitzt ein sehr vollstandig entwickeltes System der Konsonanten, aber das der Vokale ist arm und gering. Das System der Vokale ist im Vergleich zu den übrigen slavischen 321 „Kosovska djevojka“ (Das Mädchen vom Amselfeld), Vuk, II, S. 306–310. 322 Talvj II, S. 134–138. 323 Eine ähnliche Auffassung vertritt auch P.  J.  Schaffarik in seiner „Geschichte der slawischen Sprache und Literatur nach allen Mundarten“. Ofen 1826, S. 204: „Unstreitig ist die serb. Mundart im türkischen Serbien u. österr. Dalmatien die vocalreichste unter den Slawinen, und kommt in dieser Hinsicht der italienischen Sprache am nächsten.“

208

Teil I

Sprachen, am vollkommensten in der polnischen und tschechischen, erstere schon an reinen Vokalen reich, besitzt noch außerdem einige, die durch die Nase ausgesprochen werden (Nasalvokale).324 Dem sei nun wie ihm wolle, bei so vielen Vorteilen, bei der Liebe des Volks für die Dichtung und seinem angeborenen Talent für den Gesang, neben den großen Volksüberlieferungen und einer außerordentlich schönen poetischen Sprache, wie geht es zu, daß sich bis dahin keine vollständige Epopöe gebildet hat? Daß man die Bruchstücke derselben in kein organisches Ganze zu vereinen vermochte? Einige Gelehrte haben die Hoffnung, dieses werde noch erfolgen, und sogar ausländische Gelehrte, wie Johann Severin Vater und Jacob Grimm, erwarten ein slavisches Epos.325 In Wahrheit aber betrachtet man die Geschichte der Literatur dieser Länder, so kann man Gründe zum Zweifeln finden, daß je eine solche Schöpfung erfolgen werde. Bis dahin hat das Volk nichts der Art geschaffen, und die Gelehrten werden wahrscheinlich nicht glücklicher hierin sein. Wir haben gesagt, daß der serbischen Poesie gänzlich eine Mythologie326 mangelt, eine solche gab es nie bei den Slaven. Als sie später den christlichen Glauben annahmen, erschufen sie aus den von einander abweichenden Vorstellungen desselben etwas der griechischen Mythologie Ähnliches, diese jedoch konnte sich nicht entfalten. In dem alten Griechenland war die Religion zu Homers Zeiten in den Tempeln bei den Priestern eingeschlossen, und das Volk war geradezu abergläubisch. Der Aberglaube machte sogar die Außenseite der Religion. Leute von größeren Geistesfähigkeiten, die Dichter, 324 Mickiewicz stützt sich hier (offensichtlich) auf Jakob Grimm: Vorrede. In: Wuk’s Stephanowitsch kleine serbische Grammatik verdeutscht und mit einer Vorrede von Jacob Grimm. Nebst Bemerkungen über die neueste Auffassung langer Heldenlieder aus dem Munde des Serbischen Volks, und der Uebersicht der merkwürdigsten jener Lieder von Johann Severin Vater. Leipzig und Berlin 1824, S. XXXI: „Die südslavischen Sprachen scheinen mir mehr Feinheit der Consonanten, die nordslavischen mehr Feinheit der Vocale kundzugeben.“ 325 Diese Einschätzung stammt von J.S.  Vater: „In einer, so weit es möglich ist, chronologischen Zusammenordnung würden sie eine Art von Leben des braven, redlichen und frommen Helden werden. Aber sie sind weder im Munde der Nationen dazu zusammengewachsen, noch ursprünglich darauf angelegt; obwohl mehrere dieser Lieder genug Stoff zu einem größeren epischen Ganzen, genug Verwickelungen und Abwechselungen der Ereignisse enthalten.“ In: Wuk’s Staphanowitsch kleine serbische Grammatik, op. cit., S. LIX. 326 Vgl. Natko Nodilo: Stara vjera Srba i Hrvata. Split 1981 (Arbeiten aus den Jahren 1885– 1889); Franjo Ledić: Mitologija Slavena – tragom kultova i vjerovanja starih Slavena.  2 Bde., Zagreb 1969–1970; Veselin Čajkanović: Mit i religija kod Srba. Hrsg. Vojislav Ðurić. Beograd 1973; Zdeněk Váňa: Mythologie und Götterwelt der slawischen Völker. Stuttgart 1992; Aleksander Gieysztor: Mitologia Słowian. (3. Auflage) Warszawa 2006.

17. Vorlesung (26. Februar 1841)

209

die Künstler, bildeten im Volk die Vorstellungen der Mythologie, sie entwickelten ihr System durch Belehrung oder Werke der Kunst. Und so waren die Sänger der Homerischen Lieder zur Zeit ihrer schönsten Blüte, zu den Zeiten des Peisistratos327, als man es unternahm, die Bruchstücke der Epopöe zu sammeln, schon keine Bettler mehr, sondern Künstler, angesehene Männer, Lehrer der geselligen Bildung. Diese Klasse konnte sich nie bei den Serben ausbilden; die christliche Mythologie, durch welche sie den griechischen Olymp ersetzten, konnte von niemandem lieber, als vom gemeinen Mann angenommen werden. Denn einerseits konnte die christliche, bei den benachbarten Völkern herrschende Religion, welche auf dem Wege des Wissens und der Kunst weiter geschritten, sich mit den groben Begriffen der serbischen Poeten nicht befreunden; andererseits vernichtete der Einfluß des Islam diese Poesie, und verursachte, daß das Volk immer mehr die religiösen Vorstellungen verunstaltete. So ward das Wunderbare, also das, was der Grund, der Stamm des Epos ist, den Slaven gleich zu Anfang entzogen. Nach Verlust der politischen Unabhängigkeit veränderte sich sogar die Sprache der Serben merklich, indem sie viele türkische Worte in sich aufnahm.328 Die Nachbarschaft der uralischen Völker verschlechterte schon von jeher die slavische Sprache; bemerkt hat man jedoch, daß sie fremde Worte ausnehmend, nie Zeitwörter annimmt, bloß Hauptwörter. Es ist dies eine wichtige Bemerkung. Denn eine vollkommne, und aus einem Guß hervorgebildete Sprache, hat ihren Anfang im Zeitwort; letzteres ist ihr wesentlicher Teil, man kann sagen, der göttliche, die Substantiva aber bilden ihre Fülle, ihren materiellen Teil. Es gibt Sprachen, die fremde Zeitwörter annehmen und dadurch sich zu Grunde richten. Eine solche war die bretonische329 im jetzigen England, die in sich den geistigen Teil der normannischen Sprache aufnehmend, deutlicher, klarer und vollständiger wurde, aber ihren eignen, lebendigen, so zu sagen, göttlichen Urstoff ertötete. Ähnlich erging es vielen keltischen Sprachen. In diesen kann man eine Menge höherer Gedanken und Gefühle nicht ausdrücken, ebenso wie man mit dem Stift nicht die Färbung und den Lichtglanz wiedergeben kann. Darum wird man nicht in keltische Sprachen Stellen der morgenländischen Dichtungen, ja nicht einmal einige Schöpfungen der germanischen 327 Peisitratos (um 600 v. Ch. .– 527–528 v. Ch.) – Begründer der Peisistratiden-Tyrannis in Athen. 328 Vgl. Abdulah Škaljić: Turcizmi u srpskohrvatskom jeziku. Sarajevo 1965; György Hazai und Matthias Kappler: Der Einfluß des Türkischen in Südosteuropa. In: Handbuch der Südosteuropa-Linguistik. Hrsg. Uwe Hinrichs. Wiesbaden 1999, S. 649–675. 329 Vgl. Johannes Heinecke: Bretonisch. In: Variationstypologie – Variation Typology. Ein sprachtypologisches Handbuch der europäischen Sprachen – A Typological Handbook of European Languages. Hrsg. Thorsten Roelcke. Berlin 2003, S. 308–323.

210

Teil I

Poesie übertragen können. Die slavische Sprache, wenn sie gleich eine Menge fremder Substantive bei sich einheimisch gemacht, unterwirft dieselben ihren Deklinationsformen nicht, führt sie auch nicht in ihren inneren Organismus ein und bildet aus ihnen keine Zeitwörter, auf diese Weise aber bewahrt sie ihren wesentlichen Urstoff unbefleckt, das Zeitwort nämlich, das ihr Mark ist. Bei dem Allen jedoch werden weder die Slaven, noch die übrigen Völker je im Stande sein, eine zweite „Ilias“ oder „Odyssee“ zu schaffen. Die Bruchstücke von Dichtungen, über welche wir eben gesprochen, haben eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Nachlaß des Homerischen Zeitalters, sie entstanden auf dieselbe Weise, und wichtig ist’s ihnen nachzuforschen, sogar zur Aufhellung der Geschichte der griechischen Literatur selbst; man darf sich aber nicht täuschen und etwa meinen, daß die Sammlung dieser Gedichte mit der ungeheuren und wunderbar schönen Schöpfung der Griechen in Vergleich kommen, oder daß irgend je aus ihnen ein so herrliches Ganze entstehen könne. Nach dem Verfall der Unabhängigkeit Serbiens, und gegen Ende des Heldenkreises beginnt ein zweiter Zyklus, den man den romanesken Zyklus [cycle romanesque] nennen könnte. Die Volksbegebenheiten hören auf Hauptgegenstand der Dichtung zu sein, der Volksgedanke wählt sich irgendeinen vereinzelten Mann, häuft in ihm seine Vorstellungen zusammen und macht ihn zum Vertreter des Zeitalters. So ist unter den auf die Bühne kommenden Gestalten aus dem Zyklus der Heldenlieder besonders Vukašins Sohn, Marko der Königssohn330, bemerkbar. Alle glänzenden Taten der serbischen Ritter hat man ihm zugedacht; er ist der Held auf allen Schlachtfeldern, er trägt in sich alle Züge des gesamten serbischen Volkstums. Hierdurch hat er Ähnlichkeit mit Artur, dem Könige der Bretonen, der auch den Zeitabschnit der ritterlichen Dichtung seines Landes einnimmt. Wie nach den Volkssagen Artur bis auf den heutigen Tag lebt, so gilt auch Marko in der Volksdichtung für unsterblich. Man hat ihn drei Jahrhunderte lang am Leben gesehen, gekriegt hat er durch ganz Europa, in den slavischen Ländern, d.h. im Westen, nachher ist er weder gestorben, noch gefallen, sondern als die Anwendung des Pulvers allgemein wurde, hat er, erschrocken darüber, daß auch die schwächste Hand den wackersten Ritter umwerfen könne, sich in die Berge begeben und verweilt dort irgendwo. 330 Marko Kraljević (um 1335–1394); vgl. Gabriella Schubert: Marko Kraljević – eine Identifikationsfigur der Südslawen. In: Bilder vom Eigenen und Fremden aus dem Donau-BalkanRaum. Analysen literarischer und anderer Texte. Hrsg. Gabriella Schubert, Wolfgang Dahmen. München 2003, S. 101–120; Barbara Beyer: Marko über allen. Anmerkungen zum südslawischen Universalhelden und seinen Funktionalisierungen. In: Erinnerungskultur in Südosteuropa. Bericht über die Konferenzen der Kommission für interdisziplinäre Südosteuropa-Forschungen im Januar 2004, Februar 2005 und März 2006 in Göttingen. Hrsg. Reinhard Lauer. Berlin-Boston 2011, S. 149–187.

17. Vorlesung (26. Februar 1841)

211

Die Gedichte, welche die Taten des Königsohnes Marko besingen, bilden den Zyklus der romanesken Lieder; nach diesem erst folgt ein dritter Zyklus [cycle poesie civile et domestique], der sich mit dem Besingen der Privatereignisse, der alltäglichen Begebenheiten des Lebens, mit einem Worte, des häuslichen und ländlichen Treibens beschäftigt.331 Ehe wir uns zur Betrachtung der romanesken Poesie wenden, ist es nötig, hier eine Bemerkung zu machen, welche die Stellung der Serben zu den Türken und Griechen betrifft. Die Niederlage auf dem Amselfeld war nicht die hauptsächlichste Ursache von Serbiens Fall: die geheimen Triebfedern, welche die dortigen Slaven für lange Zeit unter die Herrschaft der Türken brachten, und ihre Sache nicht nur mit dem Geschicke des griechischen Kaisertums, sondern auch mit demjenigen anderer Völker des Morgenlandes verflochten, liegen in etwas anderem. Weiter unten werden wir diese erörtern.

331 In der französischen Edition lautet der Satz: „La poëme qui raconte les hauts faits du prince Marco forme le cycle romanesque, après lequel vient le cycle de poésie civile et domestique.“ (A. Mickiewicz: Les Slaves, op. cit., Bd. I, S. 249); Mickiewicz unterteilt die serbischen Volkslieder in (1) Heldenepik – (2) romaneske Lieder – (3) Lieder über das häusliche und ländliche Treiben – (4) phantastische Lieder – (5) Frauenlieder; vgl. auch Henryk Batowski: Mickiewicz a serbska pieśń ludowa. In: Pamiętnik Literacki, XXXI (1934), zeszyt 1–2, S. 49; vgl. ferner Maximilian Braun: Zum Problem der serbokroatischen Volksballade. In: Slawistische Studien zum V.  Internationalen  Slawistenkongreß in Sofia 1963. Hrsg. Maximilian Braun und Erwin Koschmieder. Göttingen 1963, S. 151–174, der die Einteilung der „Zwischengattung“ in „episch-lyrische Lieder“, „Romanzen“ und „Balladen“ in Frage stellt und eine neue Einteilung vornimmt, die von den jeweiligen Liedern ausgeht (vgl. Narodne srpske pjesme, skupio i na svijet izdao Vuk Stef. Karadžić. Knjiga prva, u kojoj su različite ženske pjesme, op. cit., Nr. 342–345, 646, 731–733, 735–738, 741, 745, 746).

18. Vorlesung (2. März 1841) Historische Ursachen des Niedergangs der Serben – Slaven und Hellenen – Das byzantinische Reich: Stärke und Niedergang – Die Rolle der Slaven im türkischen Reich – Der Königssohn Marko in der serbischen Poesie – Das Gedicht „Die Vermählung des Maksim Crnojević“ (Ženidba Maksima Crnojevića) – Montenegro und die Montenegriner.

Serbiens Verderben schreibt die Dichtung dem Verrat einiger ihrer Anführer und der türkischen Tücke zu; aber die wahrhaften Ursachen der Unglücksfälle, der Unterjochung der Slaven liegen in ihrer Zukunft verborgen. Die ganz besondere Einrichtung dieser Völker, ebenso wie ihre Lage zwischen der Türkei, dem Westen Europas und Griechenland führte ihre politische Vernichtung herbei. Diese Wahrheit fängt jetzt an, erkannt zu werden. In der Geschichte des Mittelalters und des griechischen Kaiserreichs hat man dunkle Stellen angetroffen, die man aufzuhellen begonnen, indem man slavische Denkmäler befragt; und man bemerkt, daß sogar die Geschichte des türkischen Reichs nur auf diese Weise gänzlich verstanden werden kann. Erst neulich, als die orientalische Frage alle Gemüter bewegte, haben Schriftsteller verschiedener Länder, und unter ihnen viele Franzosen, Europas Meinung aufzuklären gesucht, sie haben verständlich gemacht, daß diese Frage weder eine türkische noch arabische, sondern nur eine christliche und vor allem eine slavische sei, daß es unmöglich sei, etwas über die Zukunft dieser Gegenden auszusagen, ohne in ihre Vergangenheit eingegangen zu sein. Welches war nun die Vergangenheit der türkischen und griechischen Slaven? Wir sagten schon, daß man sogar im 6. Jahrhundert von ihnen nichts wußte, und daß weiter hinauf ihre Geschichte ordentlich zu entwickeln sehr schwierig ist; die neuere Kritik ist jedoch auf scharfsinnige Vermutungen gekommen, welche die geschichtliche Wahrscheinlichkeit für sich haben. Die Untersuchung über die Anfänge Griechenlands hat zu der Entdeckung seiner Ureinwohner geführt. Noch zu Homers Zeiten kannte man die Pelasger, und zwar als ein sehr altes aber verfallenes, durch die Hellenen, Achäer und Dorer überwältigtes Volk. Diese Pelasger verschwinden später in der Geschichte, es scheint jedoch, daß ihr Geschlecht nicht umgekommen, nur daß es unter anderem Namen die dem hellenischen, einem aus kriegerischen in Städten lebenden, Völkern zusammengesetzten Bund unterworfene Bevölkerung ausmachte. Unter dieser Bevölkerung fesseln am meisten die Aufmerksamkeit die Lakonen, durch die Spartaner in ihrer berühmten Republik bezwungen, die aber ihre Herren überlebt haben, und in den Jahrhunderten des Mittelalters sich noch auf derselben Stelle befanden, dieselben Gegenden am Eurotas einnahmen. Dort

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_019

18. Vorlesung (2. März 1841)

213

treten auch die Mainoten in ähnlicher Weise und am selbigen Ort angesiedelt auf, man sieht aber nicht mehr die Spartaner zwischen Nauplia und Monembasia, inmitten einer Bevölkerung, welche die Sprache der Zakonen redet, und welche die Deutschen, man weiß nicht warum, Tzekonen332 nannten. Diese Bevölkerung erregte schon im Mittelalter die Verwunderung der mit der Geschichte des alten Griechenlands unbekannten griechischen Kaiser. Und doch behaupten die damaligen Schriftsteller, z.B.  Nikephorus  Gregoras333 und andere, daß die Zakonen Nachkommen der Lakonen oder Lakonier seien. Die neueren Gelehrten, wie Villoison334, ein Franzose, und Thiersch335, einer der vorzüglichsten deutschen Philologen, bemühten sich die Geschichte dieser Zakonen, mit derjenigen der Pelasgier zusammenzustellen, indem sie bewiesen, daß die Überreste der Lakonier ein Geschlecht der Ureinwohner des alten Griechenlands und pelasgischen Stammes gewesen. Der jene Gegenden besuchende Engländer Leake336 ist in seinen veröffentlichten Forschungen über diesen Gegenstand derselben Meinung. Daß aber eine Verbindung zwischen den Slaven und Lakoniern, oder der ackerbauenden Bevölkerung von Griechenland und Pelasgern besteht, davon überzeugen uns offenbar die seit 332 „Konstantin Porhyrogeneta erwähnt Tzekonen, vielleicht nicht verschieden von Zakonen, so auch schon früher Nikephoros Gregoras und Pachymeres, welche dieselben für Nachkommen der Lakonier ausgeben.“ – Paul Joseph Schaffarik: Slawische Alterthümer, op. cit., Bd. 2, S. 230. Im Folgenden stützt sich Mickiewicz auf Schaffariks Darstellung, in der Quellen von Gregoras, Villoison, Thiersch, Leake und Jakob Philipp Fallmerayer (Geschichte der Halbinsel Morea während des Mittealters. Stuttgart-Tübingen 1836, Teil II, S. 442ff.) auswertet werden. Über diese Forschungen vgl. – Regina Quack-Manoussakis: Das Griechenbild der Deutschen zur Zeit der griechischen Revolution bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. In: Das Bild Griechenlands im Spiegel der Völker (17. bis 20. Jahrhundert). Hrsg. Evangelos Konstantinu. Frankfurt am Main-New York 2008, S. 183–202. 333 Nikephorus Gregoras (um 1295–1359/61), byzantinischer Geschichtsschreiber; vgl. sein Werk: Rhomäische Geschichte. Historia Rhomaike. Übersetzt und erläutert von Jan Louis van Dieten. In Fortsetzung der Arbeit von Jan Louis van Dieten übersetzt und erläutert von Franz Tinnefeld. 6 Bände in 7 Teilen. Stuttgart 1973–2007. 334 Jean-Baptiste Gaspard d’Ansse de Villoison (1750–1805), französischer Gräzist; Entdecker des Codex „Venetus A“ der „Ilias“ Homers; auf seiner Reise durch Griechenland entdeckte er den zakonischen Dialekt; vgl. – Jean-Baptiste Gaspard d’Ansse de Villoison: De l’Hellade à la Grèce: voyage en Grèce et au Levant (1784–1786). Hrsg. Étienne Famerie. Hildesheim, New York, 2006 (=Altertumswissenschaftliche Texte und Studien. Bd. 40); vgl. auch Joseph Michael Deffner: Zakonische Grammatik, Bd. 1. Berlin 1881; Michael Deffner: Λεξικόν τής Τσακωνικής διάλεκτου. Athen 1923. 335 Friedrich Wilhelm Thiersch (1784–1860), deutscher Altphilologe; vgl. seine Abhandlung – Die Sprache der Zakonen. In: Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Philologische und Historische Klasse, Bd. 1. München 1835, S. 511–582. 336 William Martin Leake (1777–1860), englischer Archeologe; vgl. sein Werk – Researches in Greece. London 1814.

214

Teil I

den Urzeiten her noch bestehenden Namen der Städte und Ortschaften, wie z.B. Warsowa, Polonitza337 und viele andere. Es genüge, einen dieser Namen auf der Karte der pelasgischen oder mainotischen Ansiedlungen zu lesen, um nicht mehr hieran zu zweifeln. Es vermeinten zwar die Byzantiner, diese Völker seien im 6. oder 7. Jahrhundert nach Griechenland gekommen, die Nachforschungen der heutigen Ethnologen entkräften aber ganz und gar ihre Angaben. Wir sehen daher, daß die Slaven nicht bloß das nördliche Griechenland, wo sie sich bis jetzt befinden, also nicht bloß Makedonien und Thrakien, sondern den ganzen Peloponnes einst eingenommen haben. Sie lebten dort als von Achäern und Hellenen Unterjochte; später aber, als der griechische Bund schwach zu werden begann, zu den Zeiten des Aufblühens der makedonischen Übermacht, waren sie es gewiß, die mit den Arnauten, Albanesen zusammen Alexander des Großen Kriegsheere ausmachten. Doch bald nachher, als das römische Reich nach Griechenland seine künstliche, vollendete, zugleich militärische Organisation verpflanzte, wurden sie wieder unterjocht. Nach Roms Verfall erbte das byzantinische Kaiserreich das Werk und entwickelte es weiter. Die wenig gekannte, aber viel verleumdete Geschichte dieses Kaiserreichs hat großen Wert für die Geschichte der nördlichen Länder, denn es gibt slavische Völker, die nicht nur einzelne Regierungsformen, sondern sogar den Geist von Byzanz her entnahmen. Das byzantinische Kaisertum stellt unleugbar die künstlichste und prachtvollste Maschine dar, die je Menschen nach den Grundsätzen der Verstandesberechnung allein regiert hat. Es war dies die bis aufs äußerste getriebene Aufopferung des Volks für den Staat. Eine Aristokratie hat dort nicht geherrscht, denn sogar die Kaiser hatten durch sich selbst nur äußerst wenig Gewalt, Alles nur lenkte und bewegte die Regierungsmaschine, ihren Mittelpunkt in der Person des Kaisers besitzend. Als Herd der Regierung stellte er das Reich vor, er befahl, verwaltete, strafte; als Mensch bedeutet er fast gar nichts; weder liebte 337 Diese Beispiele stammen von dem österreichischen Orientalisten Jakob Philipp Fallmerayer (1790–1861); vgl. J.Ph. Fallmerayer: Welchen Einfluß hatte die Besetzung Griechenlands durch die Slaven auf das Schicksal der Stadt Athen und der Landschaft Attika? Oder nähere Begründung der im ersten Bande der „Geschichte von Morea während des Mittelalters“ aufgestellten Lehre über die Entstehung der heutigen Griechen. Stuttgart und Tübingen 1835, S. 74–75; dort auch – „Ein zweites Varsova findet sich im Gebirge zwischen Arkadien und Achaja, in welchem auch Krakova oder Krokova (Krakau) heute noch bewohnt wird.“ (S.  75). Vgl. auch Jakob Philipp Fallmerayer: Geschichte der Halbinsel Morea während des Mittelalters. Erster Theil: Untergang der peloponnesischen Hellenen und Wiederbevölkerung des leeren Bodens durch slavische Volksstämme. Stuttgart und Tübingen 1830. Zweiter Theil: Morea, durch innere Kriege zwischen Franken und Byzantiner verwüstet und von albanesischen Colonisten überschwemmt, wird endlich von den Türken erobert. Von 1250–1500 nach Christus. Stuttgart und Tübingen 1836.

18. Vorlesung (2. März 1841)

215

noch haßte man ihn, er hatte auch keine persönlichen Parteigänger. Hatte man ihn vom Thron gestürzt, so endete auch alle Freundschaft und Feindschaft für und gegen ihn. Man schnitt ihm Nase oder Ohren ab, verschloß ihn in ein Kloster, und niemand erinnerte sich seiner mehr. Vom Kaiser nach unten zu verbreitete sich die Verwaltungsbehörde, eine graduierte Bürokratie, welche Regierung und Gerichtsbarkeit des Landes ausmachte. Sie war aus gebildeten Männern zusammengesetzt, die durch Erfahrung gereift, zum Amt erst nach vollendeten vorgeschriebenen Studien, abgelegtem Staatsexamen und langer, praktischer Übung zugelassen wurden. Ein streng diszipliniertes, blind gehorsames Heer stand der Obergewalt zu Befehl. Zur Grundlage aller dieser Kunstgerüste diente der römische Kodex, dessen Tiefe und Vollkommenheit bekannt ist. Die Bedeutung der einzelnen Menschen schwindet hier gänzlich, alle sind gleich im Angesicht des Gesetzes, oder vielmehr der Regierung; alles wird hingeopfert, damit nur diese künstliche und seelenlose Maschine weitergeht. In einem in der Art gebildeten und zusammengefügten Reiche fehlte es jedoch am Besten, nämlich am Leben; und die Untertanen, bei allem möglichen Gehorsam für die Regierung, fühlten dennoch keinen Beweggrund, dieselbe aus eigenem Antriebe zu unterstützen und zu schonen. Darum, wenn nur irgendwo das kaiserliche Heer verdrängt wurde, so wollte das Volk sich lieber unter der Herrschaft der Barbaren befinden, die, wenn auch gewaltsam, doch in ihren Leidenschaften wenigstens etwas Menschliches zeigten, als die Lasten tragen, welche ihnen durch eine unsichtbare und unerbittliche Ordnung der Dinge auferlegt wurden. Im Übrigen waren die Barbaren nicht so geübt in der Finanzverwaltung, und sie beruhigten sich mit irgendwelcher Abgabe, da hingegen das griechische Kaiserreich bei Vervollkommnung des Katasters die Steuern immer höher hinauftrieb, und die stets wachsenden Bedürfnisse des Staates dem Volke mit äußerster Bedrückung drohten. Im Westen konnte ein solcher Stand der Dinge nicht festen Fuß fassen; der keltische Geist widersetzte sich ihm hartnäckig; aber die Griechen, die noch zur Zeit der römischen Republik in langen Bürgerkriegen ihre Elementarverfassung vernichtet hatten, bahnten dem Despotismus den Weg. Da sie schon jegliches Vertrauen in sich selbst verloren hatten, wurden sie die unterwürfigsten Sklaven des römischen Kaisertums; sie vernünftelten hierüber, bemühten sich auf logischen Gesetzen es zu begründen und mit ihren Theorien zu bekräftigen. Schon zur Zeit Scipios war es Polybios338, ein Grieche, welcher zuerst die künftige Einheit der Römer vorhersagte, und später haben die griechischen Rechtsgelehrten jeden Schritt der römischen Kaiser gerechtfertigt. 338 Vgl. Polybios: Geschichte. Übersetzt von Hans Drexler. 2 Bde., Zürich 1961–1963.

216

Teil I

So also fanden sich die slavischen Völker Griechenlands und der Donauländer inmitten zweier Extreme, nämlich dem morgen- und abendländischen Kaisertum, und konnten es nicht über sich gewinnen, weder für das eine Neigung zu fassen, noch in das andere einzugehen. Der Feudalismus vernichtete, wie wir dies schon gezeigt, hier ihre geselligen Einrichtungen, und dort im byzantinischen Reich war für sie auch nicht der geeignete Ort. Es kam vor, daß einige von ihnen Bischöfe, Heerführer und sogar Kaiser wurden, aber das Regierungssystem und selbst der militärische Stand, langen Dienst und strenge Mannszucht erfordernd, war geradezu der slavischen Natur zuwider. Daher konnten sie die Sklaven des Reichs sein, nie aber seine Bürger werden. Als nun dieses Reich im 11. und 12. Jahrhundert zu wanken begann, treten mit einmal diese unbekannten Slaven überall und auf allen Punkten Griechenlands und des Morgenlandes auf. Im 8. Jahrhundert erheben sie sich gegen die griechischen Kaiser. Geschlagen und von Neuem unterjocht, werden sie massenweise nach Kleinasien zum Zurückdrängen der Türken geschickt, sie gehen aber auf ihre Seite über und siedeln sich in jenen Gegenden an. So geschieht Erwähnung von solch einer Ansiedlung, wobei ein Heer von 120–150 000 Mann nach Asien überging, und ein slavischer Anführer, mit Namen Thomas [der Slave]339, vereinte sich mit den Türken und brachte den Griechen viele Niederlagen bei. Leicht wird es nun sein, den Verfall des byzantinischen Kaiserreichs sich zu erklären. Dieses ungeheure Reich, welches nicht nur ganz Griechenland, sondern auch Syrien und Ägypten umfaßte, vermochte nicht einer Handvoll Araber zu widerstehen, weil die Bevölkerung es verlassen hatte. Moralisch war es schon früher durch die Sektierer zerrissen. Die Arianer, Manichäer, Kopten, neigten sich dem Islam zu; aber die physische Ursache seiner Zerstörung lag in den Slaven. Als die Slaven in Kleinasien und später in Griechenland die Türken aufnahmen, oder sie wenigstens duldeten, da war das Kaiserreich schon unrettbar verloren. Bekannt ist, daß Murad, nachdem er die Janitscharen gestiftet, den Christen befahl, ihm einen Sohn von je fünfen aus jeder Familie zu geben. Die Griechen verwandte er zur Flotte, die Slaven machte man zu Janitscharen. Diese allererste regelmäßige Infanterie in Europa, 40 000, später 50–60 000 Mann zählend, war die Auswahl, die Hauptkraft der türkischen 339 Über Thomas den Slaven berichten (unterschiedlich) die byzantischen Geschichtsschreiber Genesios, Skylitzes und Theophanes; vgl. den Artikel – Thomas „der Slave“. In: Prosographie der mittelbyzantinischen Zeit. Erste Abteilung (641–867). 5. Band. Hrsg. Ralph-Johannes Lilie u.a., Berlin-New York 2001, S.  33–37; ferner – Joseph Genesios: Byzanz am Vorabend neuer Größe. Byzantinische Geschichtsschreiber. Übersetzt, eingeleitet und erklärt von Anni Lesmüller-Werner. Wien 1989; Johannes Skylitzes: Byzanz wieder ein Weltreich. Das Zeitalter der Makedonischen Dynastie. Übersetzt, eingeleitet und erklärt von Hans Thurn. Graz u.a. 1983.

18. Vorlesung (2. März 1841)

217

Heere. Die fünfzehn- oder sechzehnjährigen Knaben zum Dienste ausgehoben, beschnitten und fortwährend in den Waffen geübt, bildeten die Leibgarde und zugleich die furchtbarste Schar der Sultane auf den Schlachtfeldern gegen die Heere Europas, die lange Zeit noch undiszipliniert und ungeregelt waren. Es ist nicht lange her, daß dieser Übelstand unter den Griechen und Slaven noch bestand. Die Ersteren erwiesen ihre Dienste den Türken auf der Flotte und in der Diplomatie, die Letzteren im Militär. Endlich verdarben die Türken durch sich selbst, und diese uralten Völker stehen sich wieder Auge in Auge gegenüber. Dies alles ist wenig bekannt, und im Allgemeinen hat die europäische Politik, sogar zu der Zeit, als sie hauptsächlich nur auf die Vertreibung der Türken bedacht war, sich nie beflissen zu erkennen, wodurch ihre Macht gewachsen ist, und wodurch sie sich erhält. Heute erst beginnen weiterschauende Geister diesen Gegenstand zu untersuchen. Ein Franzose340 unternahm eine Zeitschrift herauszugeben, um sich der Sache des Morgenlandes zu widmen. Wir finden in selbigem einen kurzen Hinblick auf die Sache von demselben Gesichtspunkt aus, den wir angegeben. Die Geschichte der dortigen Völker kurz zusammenfassend, sagt der Autor: Die Griechen und Slaven sind die ältesten Besitzer der Türkei. Auch heute noch besitzen sie fast das gesamte Land, wenn auch zu einem geringen Teil unterjocht. Die armen Slaven bewohnen die trockenen Berge im Landesinnern. Die reichen Griechen beherrschen die fruchtbaren Ebenen. Die Griechen haben den Handel, die Künste, die schönen Städte und die Freude; die Slaven haben den Ackerbau, das Land, die harte Arbeit und die Mühen. Da die Slaven ihren hellenischen Brüdern zahlenmäßig weit überlegen waren, versuchen sie natürlich, diese zu verdrängen, um ihren Reichtum zu zu erben. Daher rührt die Antipathie zwischen beiden Völkern, die auf das Mittelalter zurückgeht, Die Türken kamen, wie später die Deutschen nach Ungarn, als Beschützer und nicht als Herren. Die Griechen freuten sich auf ihre Verbündeten, die Türken, die wie immer ihre Kräfte mißbrauchten, wurden zu Eroberern. Les Grecs et les Slaves sont les plus anciens maîtres de la Turquie. Encore aujourd’hui, ils posèdent, quoique peoples subjugués, la presque totalité du sol. Les Slaves pauvres occunent les arides montagnes d l’intérieur du pays. Les Grecs riches sont maîtres des plaines fertiles. Aux Grecs le commerce, les 340 Cyprien Robert (1807–?1865); Lehrstuhl-Nachfolger von A.  Mickiewicz am Collège de France von 1845–1857; Begründer der französischen Slavistik; Herausgeber der Zeitschrift „L’Orient européen, social, religieux, littéraire. Revue mensuelle […]“ (Paris 1840), die nur in zwei Heften erschien; vgl. auch – Cyprian Robert: Die Slawen der Türkei, oder die Montenegriner, Serbier, Bosniaken, Albanesen und Bulgaren, ihre Kräfte und Mittel, ihr Streben und ihr politischer Fortschritt. Aus dem Französischen von Marko Fedorowitsch. Dresden und Leipzig. 1844. Über C. Robert vgl. Leszek Kuk: Wielka Emigracja a powstanie słowianofilstwa francuskiego. W kręgu działalności Cypriana Roberta. Toruń 1991.

218

Teil I arts, les belles villes, la joie; aux Slaves l’agriculture, les campagnes, les rudes travaux et les peines. Or, ces derniers, se trouvant beaucoup plus nombreux que leurs frères heleniques, cherchaient naturellement à refouler ceux-ci pour hériter de leurs richesses. De là cette antipathie entre les deux peoples, qui date do moyen âge. Les Turcs vinrent, comme plus tard les Allemands sont venus en Hongrie, en qualité de protecteurs et non de maîtres. Les Grecs recurent avec joie leurs allies, les Turcs, qui abusèrent, comme toujours, de leurs forces, et plus tard devinrent conquérants.341

Der Autor schließt schließt seine Auseinandersetzung mit der Behauptung, daß die morgenländische Frage vor allem eine slavische sei, ihre Lösung aber nicht ohne tiefe Erschütterungen erfolgen würde, welche von Grund aus das Morgenland umändern und sogar stark in Europa widerhallen müssen. Nach diesen Bemerkungen ist nicht schwer vorherzusehen, wo dies alles hinauswill, und womit es wohl enden könnte. Die Griechen sind gezwungen, sich an die Hilfe der Slaven zu wenden; wenn also die Bevölkerung Griechenlands, der slavischen Länder und Syriens, welche katholisch ist, keinen gehörigen Herd der Unterstützung für sich findet, so wird die ganze Angelegenheit in die Hände des russischen Kaiserreichs kommen. Das Schicksal und die Lage der die Griechen hassenden, die Lateiner fürchtenden und durch die Türken unterjochten Slaven sind in der serbischen Poesie unter der fabelhaften Person jenes Königsohns Marko342 dargestellt, welchen wir früher schon erwähnt. Marko wird Türke, und in der Tat hat er der Geschichte nach den Türken sich ganz genähert, ist sogar in einer Schlacht gegen die Christen geblieben. Wir sehen ihn daher als einen slavomuselmannischen Helden; es ist dies die Geschichte der türkisch gewordenen slavischen Provinzen, wie Albaniens, des türkischen Bosnien usw., welche, wenngleich den Koran achtend, die Türken nicht leiden können, und bei jeder Gelegenheit sich gegen den Padischah erheben. Marko hat einen harten und übermütigen Charakter. Die Dichtung singt, daß er einst auf der Jagd mit Wesir Murad, als dieser seinem Falken geflissentlich den Flügel gebrochen, zuerst über seine Verwaisung unter den Türken eine Träne geweint, nach seinen 341 Cyprien Roberts: La Question d’Orient ramanée à ses principes de philosophie sociale. In: L’Orient Européen, social, religieux et littérature. Revue mensuelle. 1 (1840), S. 26–27. Die Publikation war mir nicht zugänglich. Das (unvollständige) Zitat wurde aus der französischen Edition übernommen (A. Mickiewicz: Les Slaves, op. cit., Bd. I, S. 258–259). 342 Bei der folgenden Charakteristik der Figur des Kraljević Marko stützt sich Mickiewicz auf die Ausführungen von Talvj (Volkslieder der Serben. Metrisch übersetzt und historisch eingeleitet von Talvj. Neue umgearbeitete und vermehrte Auflage. Erster Teil. Leipzig 1853, S. 29–31); vgl. dazu K. Georgijević: Srpskohrvatska narodna pesma u poljskoj književnosti, op. cit., S.  132–134; ferner Henryk Batowski: Mickiewicz a polska pieśń ludowa. In: Pamiętnik Literacki, XXXI (1934), zeszyt 1–2, S. 29–57.

18. Vorlesung (2. März 1841)

219

serbischen Brüdern aufgeseufzt, und dann den Wesir erschlagen habe. Der Sultan, statt ihn zu bestrafen, beschenkte ihn mit tausend Goldstücken, und sagte ihm lachend insgeheim: „Бе аферим, мој посинко Марко! Да нијеси тако учинио, ја те не бих више сином звао: свако Туре може везир бити, а јунака нема као Марко.“ […] „Нај то тебе, мој посинко Марко, пак ти иди те се напиј вина.“343

„Mögest du dafür leben leben, Söhnchen Marko! Hättest du dich also nicht betragen, Möchte ich meinen Sohn dich nicht mehr nennen. Jedes Türklein kann Wesir ja werden. Doch wie Marko lebt kein andrer Held mehr!“ […] „Nimm dies Geld, mein Sohn, von deinem Herren, Trinke auf mein Wohlsein, tapfrer Marko!“344

Der Dichter fügt jedoch hinzu, daß der Sultan dem Marko nicht deshalb zum Weintrinken gab, weil ihn etwa seine Tat erfreute, sondern er wollte ihn nur sobald als möglich loswerden, denn furchtbar war Marko im Zorn. Es ist dies das Bild der Janitscharen und der Politik des Padischah gegen sie. Marko segelte später ins Morgenland, er kämpfte in Ägypten, wanderte in den Ländern Asiens herum. Dies sind die Taten der slavischen, nach Kleinasien gesandten Heere, und der Mamelucken, unter denen es sehr viele Slaven gab. Das poetische und fabelhafte Ende dieses Helden kann ebenfalls dem Hergang der Geschichte und der Zukunft der in ihm personifizierten Völker angepaßt werden. Den Dichtern zufolge lebte Marko 300 Jahre, also fast bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts. Gerade in dieser Zeit aber verschwindet auch der letzte Überrest der Unabhängigkeit der Donau-Slaven, sogar der Titel des serbischen Despoten wird aufgehoben. Marko jedoch fiel nicht durch Türkenhand, er starb den ihm von Gott bestimmten Tod, welchen die Serben „den alten Blutvergießer“345 nennen. Eines Morgens, als er vom Gestade des Meeres in die Berge ritt, fing sein Roß an stetisch zu werden, und wollte nicht von der Stelle: „Давор’, Шаро, давор’, добро моје! Ево има сто и шесет љета Како сам се с тобом састануо, Још ми нигда посрнуо ниси; А данас ми поче посртати, Посртати и сузе ронити:“

„Ei, was ist Šarac, mein Bester! sind es doch schon 160 Jahre, als wir uns begegneten, und noch nie bist du gestolpert, heute aber beginnst du zu wanken, zu schwanken und Tränen zu vergießen.“

343 „Lov Markov s Turcima“ (Markos Jagd mit den Türken), Vuk 1958, II, S. 416. 344 Bei Talvj „Marko und die Türken“, Talvj, I, S. 238. 345 „Stari krvnik“ – Siehe „Smrt Marka Kraljevića“ (Vuk 1958, II, S. 427); vgl. auch hier unten.

220

Teil I

Hierauf redete die Vila (ein phantastisches Wesen, etwa eine Nymphe, Bergfee) schreiend vom Urvina-Berg herab: „Побратиме, Краљевићу Марко, Знадеш, брате, што ти коњ посрће? – Жали Шарац тебе господара, Јер ћете се брзо растанути.“

„Höre Bruder, Königssprosse Marko! Weißt du, Freund, warum dein Roß gestolpert? – Höre, um seinen Herren trauert Šarac, Denn ihr werdet bald euch trennen müssen!“

Marko erwiderte im Zorn: „Б’јела вило, грло те бољело! Како бих се са Шарцем растао, Кад сам прош’о земљу и градове, И обиш’о исток до запада, Та од Шарца бољег коња нема, Нит’ нада мном бољега јунака!“

„Weiße Wila! soll der Hals dir weh tun! Wie könnt’ ich mich von dem Šarac trennen, Der durch Land und Städte mich getragen? Weit vom Aufgang bis zum Niedergange Gibt es doch kein besser Roß auf Erden, Wie als ich kein bessrer Held auf Erden!“

Nun antwortet wieder die Vila: „Побратиме, Краљевићу Марко, Тебе нитко Шарца отет’ неће, Нит’ ти можеш умријети, Марко, Од јунака, ни од оштре сабље, Од топуза, ни од бојна копља: - Ти с’ не бојиш на земљи јунака; Већ ћеш, болан, умријети, Марко, Ја од Бога, од старог крвника! Ако л’ ми се вјеровати нећеш, Када будеш вису на планину, Погледаћеш з десна на лијево, Опазићеш двије танке јеле, Сву су гору врхом надвисиле, Зеленијем листом зачиниле, Међу њима бунар вода има: Онђе хоћеш Шарца окренути, С коња сјаши, за јелу га свежи, Наднеси се над бунар над воду, Ту ћеш своје огледати лице, Па ћеш виђет’ кад ћеш умријети.“346

„Bundesbruder, o Kraljević Marko! Nicht Gewalt wird Šarac dir entreißen, Noch vermag, Freund Marko, dich zu töten Heldenarm und nicht der scharfe Säbel, Nicht der Kolben, nicht die Kampfeslanze. Keinen Helden fürchte du auf Erden! Aber streben wirst du, armer Marko, Durch Gott selbst, den alten Blutvergießer. So du nicht willst meinen Worten glauben, Reit hinan zu des Gebirges Gipfel, Schaue von der Rechten zu der Linken. Sehen wirst du dort zwei schlanke Tannen, Die des Waldes Bäum all überragen, Schön geschmückt sind sie mit grünen Blättern. Aber zwischen ihnen ist ein Brunnen, Dorten kehre rückwärts deinen Šarac, Sitze ab und bin ihn an die Tanne. Neige dich hinab aufs Brunnenwasser, Daß dein Antlitz du im Spiegel schauest, Siehest dorten, wann du sterben werdest.“347

346 „Smrt Marka Kraljevića“ (Der Tod des Königssohns Marko) – Vuk 1958, II, S. 426–428. 347 Talvj, I; S. 255.

18. Vorlesung (2. März 1841)

221

Da tat Marko, wie ihm befohlen, und überzeugte sich, daß er wirklich dem Tod nahe sei. Seinem Šarac hieb er nun den Kopf ab, auf daß ihn die Türken nicht bekämen, zerbrach den Säbel in vier Stücken, schleuderte den Kolben bis ins Meer hinein, und schrieb sein Testament über die drei Beutel Goldes, die er immer bei sich führte, so verfügend: den einen Beutel bestimmte er für den, der ihn begraben würde, den zweiten für Kirchen und Klöster, den dritten für die blinden Sänger, daß sie seine Taten besängen. Dann legte er sich unter einer Tanne nieder und verschied. Die Vorübergehenden glaubten, er schlafe, bis der Mönch Basilius herankam, welcher, nachdem er das Schreiben gelesen, das Geld nahm, und den Leichnam im Kloster Hilandar auf dem Berge Athos bestattete. Nebenbei behaupten andere Sagen, Marko lebe bis auf den heutigen Tag, und werde sich noch einst zeigen. Ganz und gar so verhält es sich mit der Nationalität der Serben, sie ist erstorben oder vielmehr eingeschlummert in den Bergen. Nach der Vernichtung des serbischen Reichs in den Ebenen haben sich die geschichtlichen und poetischen Überlieferungen jener slavischen Gegenden zu den Montenegrinern und den Einwohnern einiger Länder am Meer geflüchtet.348 Zu den Zeiten des Kampfes der Serben mit den Türken beginnt eine Art Poesie, welche Privatbegebenheiten, Liebschaften, Abenteuer und die Taten einzelner berühmter Männer besingt.349 Da diese Schöpfungen aber nicht wie das Epos die ganze, sondern nur die niedrige, durch enge Schranken begrenzte Welt umfassen und das Wunderbare hier nicht durchaus notwendig ist, so haben auch die serbischen Dichter, da sie diesen Hebel entbehren konnten, die höchste Stufe der Vollkommenheit hierin erlangt. Das schönste und zugleich das längste350 in diese Reihe gehörende Gedicht – denn es hat die Ausdehnung eines ganzen Gesanges der „Ilias“ – ist das von der „Vermählung des Maksim Crnojević“ („Ženidba Maksima Crnojevića“). Ohne Zweifel besitzt

348 Zu den (vielen) Legenden über den Tod von Marko Kraljević vgl. Vuk Stefanović Karadžić: Lexikon serbico-germanico-latinum. Srpski rječnik istumačen njemačkim i latinskijem riječima. Beograd 1935 (4. Auflage), S. 358; ferner – Jovan R. Deretić: Zagonetka Marka Kraljevića. O prirodi istoričnosti u srpskoj narodnoj epici. Beograd 1995; Ivan Zlatković: Epska biografija Marka Kraljevića. Beograd 2006. 349 In der französischen Ausgabe lautet der Satz: „Une nouvelle poésie commence après l’époque de la lutte contre les Turcs. Ce nouveau cycle littéraire est composé de romans, contenant le récit des aventures, des exploits guerriers ou amoureux de quelques individus importants de l’histoire serbienne.“ – A. Mickiewicz: Les Slaves, op. cit., Bd. I, S. 262. Im Gegensatz zur „poésie epique“, dem Zyklus der Heldenepik, handelt es sich hier – nach der bisherigen Typologie – um den Zyklus der höfischen Epik („cycle romanesque“), die lyrisch-epischen romanesken Gedichte. Vgl. auch 16. Vorlesung (Teil I). 350 Es umfaßt 1227 Verse (Zehnsilber – deseterac).

222

Teil I

keine einzige Literatur etwas Ähnliches, was in jeder Hinsicht so vollständig, so gut durchgeführt und zugleich in den Einzelheiten so vollendet wäre. Ivan351, der Vater Maksims, einer von den Beherrschern Bosniens, zurückgedrängt von den Türken in die Gegenden der Crnogora (Montenegro), stammte, seiner Herkunft nach, von den serbischen Zaren ab. Sein Vorhaben, den Sohn mit der Tochter des Dogen von Venedig zu vermählen und die hieraus erfolgenden Unglücksfälle sind der Gegenstand der poetischen Erzählung. Ehe wir sie jedoch vornehmen, geziemt es sich wohl etwas von dem gesellschaftlichen Leben und den Familiensitten der Montenegriner352 zu sagen, einesteils weil das Gedicht von ihnen entlehnt ist, andernteils, weil sie mit der Zeit die Serben in politischer und literarischer Hinsicht vertreten haben. Diese Gegend, am meisten den aufgeklärten Ländern Europas genähert, ist dennoch wenig bekannt. Im Übrigen pflegt das dort einheimische slavische Element eine allgemein so wenig gekannte Sache zu sein, daß der Statistiker Dominique Dufour de Pradt353 in seinem Werk über die Türkei und Griechenland die Grenzen des Letzteren bis an die Donau setzt, ganz und gar vergessend, daß zwischen Griechenland und der Donau die Bevölkerung der Slaven um Vieles mehr beträgt, als die Zahl aller Griechen zusammen genommen. Ein französischer Schriftsteller, der Oberst Vialla, welcher vor etwa 20 Jahren die Gegenden von Montenegro bereiste, und ein Werk unter dem Titel: „Voyage historique et politique au Monténégro“354 herausgab, behauptet, daß die Montenegriner eine griechische355 Mundart reden; was aber noch viel drolliger: er sagt, daß er diesen Dialekt ganz genau inne gehabt. Das montenegrinische Land liegt zwischen Dubrovnik und Bosnien, welches es von den türkischen Provinzen scheidet. Es besteht fast nur aus einem 351 Ivan Crnojević herrschte in Montenegro von 1465–1490; er hatte drei Söhne: Đurađ, Stjepan und Staniša, der in den Volksliedern Maksim genannt wird. 352 Mickiewicz stützt sich hier auch auf die anonym erschienene Abhandlung von Vuk Stefanović Karadžić: Montenegro und die Montenegriner. Ein Beitrag zur Kenntnis der europäischen Türkei und des serbischen Volkes. Stuttgart-Tübingen 1837. 353 Dominique Dafour de Pradt: L’Europe par rapport à la Gréce et à la reformation de la Turquie. Paris 1826. Im Internet unter: [http://reader.digitale-sammlungen.de]. 354 L.C.  Vialla de Sommières: Voyage historique et politique au Monténégro. 2 Bände. Paris 1820; deutsche Übersetzung in Auszügen: Reise nach Montenegro. Aus dem Franz. des Obristen Vialla de Sommiere. Jena 1821 [http://zs.thulb.uni-jena.de]; L.C.  Vialla de Sommières (Lebensdaten unbekannt) war französischer Gouverneur der Illyrischen Grenzprovinz Cattaro [Kotor] und Chef des Generalstabes der Illyrischen Armee zu Ragusa (Dubrovnik). Vgl. auch – Heinrich Stieglitz: Besuch auf Montenegro. StuttgartTübingen 1841 (Neudruck: Hannover 2008), der auf Vialla de Sommières kritisch eingeht. 355 „Diese Illyrische Sprache ist ein Dialect des Griechischen, obgleich Einige behaupten, daß sie das Slavonische oder Altsarmatische sei. Sie ist zugleich reich und laconisch, energisch und wohlklingend.“ – Vialla de Sommières: Reise nach Montenegro, op. cit., S. 151.

18. Vorlesung (2. März 1841)

223

Felsengebirge, das sich bis an das Meer zu dem schmalen Ufer des österreichischen Albanien erstreckt. Die Geologie ihrer Wohnsitze erklären sich die Einwohner wie folgt. Sie sagen: der Herr Gott habe bei der Erschaffung der Welt die Steine in einem Sack auseinander getragen, als er aber an diesen Ort gekommen, sei der Sack zerrissen und die Steine zahllos verschüttet worden. Der Flächeninhalt dieses Landes ist nicht genau bekannt; kein Geograph hat sich je dahin verirrt. Man glaubt, daß es 50 Quadratmeilen enthält. Ebensowenig ist man in Betreff der Seelenzahl einig. Einige Statistiker geben die Zahl 50 000 andere 100 000 an. Die Montenegriner selbst rechnen sich auf 20 000 Flinten, d.h. 20 000 waffenfähige Männer. Dies kleine Völklein war jedoch im Stande, seine Unabhängigkeit bis jetzt zu bewahren. Geschützt durch undurchdringliche Gegenden und eigne Tapferkeit, trieb es immer die Überfälle der Türken, der Österreicher und in der letzten Zeit des französischen Kaiserreichs zurück. Sehr interessant für die Slaven ist seine Geschichte, im Besonderen verdient aber sein gesellschaftlicher Zustand Berücksichtigung, denn in ihm kann man das vollkommenste Bild der slavischen Gesellschaft sehen. Völlige Freiheit herrscht hier; es ist vielleicht das einzige freie Land auf Erden, das Land der Freiheit und der Gleichheit. Die Montenegriner kennen unter einander weder die Unterschiede der Geburt, noch des Vermögens, noch wollen sie irgendwelche Stufen einer Hierarchie anerkennen, so daß das Volk fast gar keine Art von Regierung kennt. Vier Kreise sind mit 24 Geschlechtern oder Familien bevölkert, von denen eine jegliche unter einem angeerbten Hauptmann verbleibt, aber dieser Häuptling besitzt keine Gewalt. Auch besteht ein erbliches Amt des Fahnenträgers, der im Kriege die große Fahne schwingt, und dieses bringt ihm einige Ehre und Achtung, gibt aber nicht im Mindesten das Recht, über die Streitkräfte zu verfügen, dem Heer zu befehlen. Nach dem Erlöschen der hier einst herrschenden serbischen Dynastie nahm der Bischof oder vladika die Stelle des Fürsten ein. Er hat jetzt eigentlich die Oberleitung des Landes, wenngleich ohne wirkliche Gewalt. Er ruft das Volk zu den Waffen, wenn die Türken einzudringen drohen, nimmt den ersten Sitz im Rat, im Grunde aber befiehlt er nur der Geistlichkeit. Das Slaventum hat aber hier dermaßen die Religion und die christlichen Einrichtungen verschlungen, daß auch die Geistlichen ihren abgesonderten Charakter verloren haben. Häufig ist der Pope zugleich Gastwirt, er schenkt Wein, singt Poesien, die Laute dazu schlagend, und unterscheidet sich weder in Sitten noch sogar in seiner Kleidung von den übrigen gewöhnlichen Inländern. Die Montenegriner scheren den Kopf, tragen Schnurrbärte und gehen immer bewaffnet mit Flinte und Säbel. Diese Gesellschaft, ohne irgendeine Obergewalt und ohne Regierung, hat ihre allgemein geachteten Gesetze und Gewohnheiten, welche die Bürger in

224

Teil I

Sicherheit leben lassen und ihre gegenseitigen Berührungen in Schranken halten. Die Blutrache ist hier zu einem so eingewurzelten und entwickelten Gesetz geworden, daß die Rechtsgelehrten in dieser Hinsicht bei den Montenegrinern lernen könnten. Hat einer von ihnen einen Landsmann erschlagen, so hat die ganze Familie, das ganze Geschlecht die Pflicht, für ihn Rache zu nehmen, d.h. nicht gerade den Schuldigen selbst zu erschlagen, sondern nur einen aus seiner Familie oder aus seinem Geschlechte, ja häufig sogar wählen die Rächer geflissentlich, um desto glänzendere Genugtuung zu nehmen, das angesehenste Haupt der Gegenpartei. Zuweilen jedoch, besonders wenn die beklagte Familie sehr mächtig und der Rache nicht leicht zugänglich ist, kommt es zu Verträgen, und dann erfolgen die Forderung und das Auszahlen eines Kopfgeldes. Gewöhnlich beträgt das Kopfgeld etwa 100 Goldstücke. Ereignet sich ein Diebstahl, so übernehmen die gewandteren Einwohner freiwillig, da es keine Polizei gibt, das Ausspürungsgeschäft. Für ein Geringes suchen sie den Dieb auf, klagen ihn öffentlich an, zwingen zur Rückgabe des gestohlenen Gutes, oder rächen sich, indem sie nach ihm schießen, und nun beginnt die Reihe der blutigen Genugtuungen. Der Diebstahl ist dort jedoch äußerst selten. Zur Zeit der Kriege Österreichs und Rußlands mit den Türken hatten die Montenegriner sehr tätigen Anteil. Österreich hat sie viele Male gegen die ottomanische Pforte aufgewiegelt, nie aber beim Friedensschluß sich darum bekümmert, was aus diesen Verbündeten werden würde, nie stellte es deshalb eine Bedingung. Ebenso schickt Rußland, wie oft es auch gegen die Türkei loszuschlagen vornimmt, immer seine Agenten, die Montenegriner auf die Beine zu bringen, und einen Überfall von ihrer Seite her zu machen, dann aber überläßt es dieselben dem eignen Schicksale, ohne Schirm und Schutz gegen die Rache der Türken. Noch im Jahre 1834 drang aus dieser Veranlassung ein starkes türkisches Heer in das Land der Montenegriner ein, konnte sich aber nicht lange darin halten. Der im Jahre 1830 einen Monat nach der Juli-Revolution verstorbene Petar I. Petrović-Njegoš356, ein seltener Mann, sehr achtungswert und außerordentlich im Lande beliebt, genoß sogar außerhalb der Grenzen großes Ansehen, und war von vielen europäischen Monarchen gekannt, die mit ihm Verträge abschlossen. Bei den Slaven hat sein Name einen großen Ruf, er gilt für einen Heiligen. Die Einzelheiten seines Hinscheidens verdienen eine Erwähnung, denn in ihnen kann man die treuen Abrisse der volkstümlichen Sitten sehen. Als er sich dem Tod nahe fühlte, berief er die Ältesten seines Volkes, und da es sehr kalt, im ganzen Haus aber kein Ofen war, so ließ er sich in 356 Petar I. Petrović Njegoš (1748–1830); auch Sveti Petar Cetinjski – Fürstbischof (vladika) von Montenegro; vgl. Desanka Milošević: Die Heiligen Serbiens. Recklinghausen 1963.

18. Vorlesung (2. März 1841)

225

die Küche tragen, legte sich vor den Feuerherd hin und empfing dort die versammelten Häuptlinge. Zuerst verkündete er ihnen, daß seine letzte Stunde nahe, ermahnte sie zur Friedfertigkeit, prägte ihnen ein, keine Ausländer und deren Einfluß ins Land zu lassen, und verlangte als Zeichen der Trauer um ihn eine eidliche Versicherung, daß sie einige Monate hindurch Waffenstillstand unter sich halten würden. Als er diesen Eid erhalten, kehrte er ins Bett zurück und verschied ohne Leiden, ohne Zeichen des Krankseins. Sein Nachfolger357, ein tätiger und gewandter Mann, genießt dies Ansehen bei den Seinigen nicht. Er reiste auf Verlangen des russischen Kaisers nach Petersburg, und von diesem mit einem Jahresgehalt ausgestattet, suchte er nach seiner Rückkehr, Geld umherwerfend, Polizei, Gerichtsbarkeit und Senat einzuführen. Alle diese Reformen sind bis jetzt jedoch nicht angenommen worden, und es steht zu hoffen, daß sie auch nichts ausrichten werden. Die Senatoren versammeln sich zu den Sitzungen in einem geräumigen Haus, dessen Hälfte ein Stall ist, sie kommen mit Flinten, denn sie müssen auch selbst ihre Erkenntnisse vollziehen, und zum Lohne für die Mühsal bekommt jeder von ihnen Mehl zu Brot und 200 Franken. Da dies nun das einzige besoldete Amt ist, so verlangte jeder Montenegriner, Senator zu sein, und der Fürstbischof konnte sich wirklich nicht anders helfen, als indem er ein Gesetz gab, kraft dessen alle Montenegriner der Reihe nach zur Senatorwürde zugelassen werden. Die Verordnungen der Verwaltung und der Gerichtsbarkeit gehen nicht besser von statten. Wie will man da den Schuldigen richten, der sich in den Schoß der Familie verbirgt, diese es aber für ihren höchsten Schimpf hält, ihn irgendjemandem auszuliefern. Im Falle eines Streites wählen gewöhnlich die Parteien einen Schiedsrichter. Der Aufgeforderte bespricht sich zu allererst, was er dafür bekommen würde, hernach verpflichtet er sich das, was er ausspricht, auch durchzuführen. Darum sieht man immer darauf, daß der Richter kräftig ist, gut zu schießen versteht und zahlreiche Freunde besitzt; denn nach gefälltem Urteil betrachtet die verlierende Partei es durchaus nicht für ihre Schuldigkeit, sich demselben zu unterwerfen. Die abgeschlossene Lage des Landes und die eigentümlichen Sitten haben diesem Volk die Unabhängigkeit gesichert, das im übrigen gutmütig, zuvorkommend und gastfrei ist, nie aber auswärts zu einem Ansehen kommen konnte. Es scheint, als ob alle slavischen Völker solch einen Zustand durchgelebt hätten, wenn sie ebenfalls befestigte Sitze in den Gebirgen gehabt. Außer 357 Petar II. Petrović Njegoš (1813–1851). Sein bedeutendes episches Hauptwerk „Gorski vijenac“, Wien 1847, war Mickiewicz nicht bekannt. Deutsche Übersetzung: „Der Bergkranz“. Einleitung, Übersetzung und Kommentar von Alois Schmaus. München 1963.

226

Teil I

diesem natürlichen Schutz war den Montenegrinern noch der gegenseitige Neid der Nachbarn, der Venetianer, Österreicher und Türken nützlich, die einander von diesem Punkt als von der Vormauer ihrer Grenzen zurückstießen. Die ganze Dichtung dieser bergigen Gegenden webt sich um die Geschichte kleiner Kämpfe mit dem Feind, und um die Angelegenheiten des häuslichen Lebens. Da jedes Geschlecht das Recht hat, Krieg zu führen, und zuweilen in Verabredungen einzugehen, ohne die anderen zu befragen, so liefert eine Masse von Streitigkeiten und Gefechten mit den Türken Stoff genug für die Dichter. Im Kreis der häuslichen Begebenheiten feiern sie die denkwürdigen Feste, Gastmähler und besonders Hochzeiten. Die Hochzeit ist bei den dortigen Slaven die wichtigste Zeremonie; in vielen Liedern sind die geringfügigsten Einzelheiten des Freiens und der Trauung weitläufig erzählt. Die Weiber sind nicht von sich selber abhängig; verpflichtet die Wirtschaft zu führen, arbeiten sie zu Hause und aus dem Felde; die Männer aber, stets mit Angelegenheiten des Krieges beschäftigt, denken selbst nicht an die Wahl der Gattin. Die Ehen der Jugend verabreden die Häupter der Familien, zuweilen schon auf 20 Jahre vor dem Tag der Trauung. Wenn nun dieser Augenblick naht, ist der Bräutigam verpflichtet, alle seine Verwandten und Freunde einzuladen, um ein desto glänzenderes Gefolge zu haben. Es trifft sich dann, daß später das Volk noch hundert Jahre nachher der glänzenden Hochzeit gedenkt, und von derselben wie von einem Wunder spricht. Der nächste Verwandte des Verlobten führt die Jungfrau zur Trauung; ihm ist sie anvertraut, bis er sie in die Hände des Gatten abgibt. Noch sind dabei andere hochzeitliche Ämter; ein Werber, Brautführer, Ältester des Zuges, Platzmacher, ebenso von dem anderen Geschlecht, und außerdem ein Possenreißer, der amtlich Narrheiten aufführen und alle erheitern muß. Im Übrigen hat die ganze Verrichtung ein kriegerisches Ansehen; die Männer treten geschmückt und gewaffnet auf, wenngleich sie auch ohnedies nie vom Säbel und der Flinte sich trennen, sei es bei der Arbeit im Felde, sei es ruhig unterm Dach sitzend.

19. Vorlesung (5. März 1841) Die poetischen Vorstellungen der Serben vom griechischen Kaiserreich und den Ländern der Lateiner (235) – Das Gedicht „Die Vermählung des Maksim Crnojević“ (Ženidba Maksima Crnojevića).

Um das Bild des häuslichen Lebens, der Sitten und des Charakters der DonauSlaven, besonders aber der Bergbewohner zu vollenden, wird es genügen, eins von den ritterlichen Gedichten durchzugehen, welches voll lebhafter Farben und vollkommener Skizzen ist. Die Erzählungen dieser Art sind immer getreu, eben wie das Homerische Epos selbst. Nirgends hat der Geist des Dichters weniger Spielraum als bei einem Epos; die Einbildungskraft ist hier von der Wahrheit selbst gefesselt. Das Wundersame sogar, was wir im Heldengedicht antreffen, ist keine neue Schöpfung, sondern vielmehr eine Auseinandersetzung, hin und wieder eine Parodie der alten religiösen Überlieferung. Der Dichter erfindet nichts, er entnimmt der Geschichte den Gegenstand, und in diesem selbst liegt schon der Plan des Gedichts. Betrachten wir die „Ilias“, diesen Kampf zwischen einer sich hinter den Mauern verteidigenden Stadt, und dem Lager, das an eine Flotte gelehnt ist. Die ganze Verschiedenheit des Schauspiels entspringt hieraus; zwei verschiedene Regierungen, zwei besondere Endzwecke und zwei verschiedene Verfahrungsweisen. Alles dies ist geschichtlich, der Dichter malte nur die Wirklichkeit, und darum tragen seine Beschreibungen überall das Zeichen der Wahrheit. Dieselbe Wahrheit ist auch das Hauptverdienst der ritterlichen Erzählungen der Slaven. Es gebührt der Lage des Landes und den kriegerischen Anlagen der Einwohner. Schon haben wir ihre Berührungen mit dem Morgen- und Abendland auseinandergesetzt. Die Dichtung verfährt anders hierin. Für die Dichter gibt es kein griechisches Kaiserreich, sie kennen nur den Kaiser, der sich ihnen als eine ehrbare, weise Person darstellt. Von den Rittern Griechenlands sprechen sie nicht, befassen sich nur mit seiner Religion. Griechenland als Kirche tritt häufig auf die Bühne. Der Berg Athos, eingeschlossen inmitten der türkischen Besitzungen, ist ein geheiligter Ort, etwa ein Delphi oder Lesbos des slavischen Griechenlands. Diese von Mönchen bevölkerte Gegend (man zählt ihrer dort auf 6000) hat sich mit einer Menge Kirchen und Klöster bedeckt. Viele von diesen haben die Herrscher Serbiens aufgebaut, sie betrachteten sich als Schutz- und Schirmherren dieses heiligen Berges, und nahmen häufig im Alter das Mönchsgewand, ihr Leben in klösterlicher Stille hier zu beschließen. Diese Vormundschaft ist jetzt auf die russischen Kaiser übergegangen, die ihre religiöse Oberherrschaft über alle von der ionischen Kirche

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_020

228

Teil I

abhängigen Länder ausdehnen. Was ihre Begriffe von dem Westen betrifft, so stellen die Serben ihn sich als den Tummelplatz der romantischen Begebenheiten und des Rittertums vor; denn der christliche Heldengeist, den sie in der eignen Geschichte so vorherrschend finden, erinnert sie unwillkürlich an die Lateiner. Unstreitig gab sich der Einfluß des Westens auf die Slaven während ihrer Kämpfe mit den Türken kund; sie wurden damals durch das Treiben der durch ihre Länder ziehenden Kreuzzüge erregt. Der erste Kreuzzug ging durch Serbien, und die deutschen Anführer nahmen unterwegs zum Krieg gegen die Ungläubigen slavische Bevölkerung mit. Die Slaven zeigten für die Kreuzfahrer Mitgefühl, ungeachtet der einzelnen Gefechte, in welche ihre Bergbewohner mit den ungeregelten Haufen der europäischen Streitkräfte gerieten. In der Zeit aber, von der wir nun reden, sah man in diesen Gegenden keinen von jenen bewaffneten Durchzügen und die Vorstellungen der Serben hatten sich gänzlich geändert. Früher stellte sich ihnen das Abendland in den Kaisern und Rittern der Franken dar; jetzt ward für die Slaven Venedig die Vergegenwärtigerin des Reichtums, der Künste und der Macht des Westens. Es ist für sie ein kriegerischer Staat; ein Doge beherrscht ihn. Die Söhne, Brüder und alle seine Verwandten sind ihnen die größten Persönlichkeiten. Der Doge besitzt immer unermeßliche Schätze, er unterhält eine Flotte und zahlreiche Heere in seinem Sold, es dienen ihm sogar Regimenter aus Slaven angeworben. Mit der Tochter eines solchen Dogen beschließt der serbische Fürst Ivan Crnojević, der seine Residenz in Žabljak am Skutari-See hat, seinen Sohn zu verheiraten. Der Dichter erzählt zuerst die Reise nach Venedig: Подиже се Црнојевић Иво, те отиде преко мора сиња, и понесе три товара блага да он проси лијепу ђевојку за Максима, за сина својега, милу шћерцу дужда од Млетака Иво проси, дужде се поноси; но се Иво оканити неће, снаху проси три пуне године, снаху проси, а просипље благо. Ја кад Иван благо похарчио, Латини му дадоше ђевојку, ђевојачки прстен прифатише. […]

Es erhebt sich Zernojevitsch Iwan, Übers blaue Meer hin will er ziehen, Drei Saumlasten Schätze mit sich führend; Werben will er um ein schönes Mädchen, Um des Dogen von Venedig Tochter, Werben sie zur Braut Maxim, dem Sohne. Iwan wirbt; es brüstet sich der Doge; Doch nicht lassen will er von dem Mädchen, Freiet um die Schnur drei volle Jahre, Freiet und verschwendet viel des Gutes, Aber als er all sein Gut verschenket, Sagen die Lateiner ihm die Braut zu, Und empfang’n den Ring aus seinen Händen.“ […]

Nun folgen die Verabredungen. Man wurde einig, daß künftigen Herbst der Bräutigam die Verlobte abzuholen kommen solle. Der Doge führt mit seinen Söhnen, in Begleitung von 100 lateinischen Rittern, Ivan auf das Schiff zurück.

19. Vorlesung (5. März 1841)

229

Bei der Abfahrt aber beging Letzterer einen Fehler. Immer war er besonnen, verständig, nun aber entwichen ihm übereilte Worte. Vor Freude und Stolz erglühend sprach er: „Пријатељу, дужде од Млетака, чекај мене с хиљаду сватова, од хиљаде мање бити неће, чини ми се хоће бити више; кад пријеђем море у то поље, ти истури хиљаду Латина, нек ми срету у пољу сватово: неће бити љепшега јунака у мојијех хиљаду сватова ни у твојих хиљаду Латина од Максима, од мојега сина, сина мога, мила зета твога!“

„Freund und Schwager, Doge von Venedig! Harre mein mit tausend Hochzeitleuten! Minder sollen es nicht sein, als tausend; Möglich immer, daß es mehr noch werden! Komm ich übers Meer auf dies Gesilde, Schütte auch Venedig tausend Mann aus, Daß sie meinen Hochzeitszug empfangen! Siehe, unter allen tausend meinen, So wie unter deinen tausend Mannen, Wird es keinen schönern Helden geben, Schoner als Maxim, als es mein Sohn ist, Als mein Sohn und bald dein lieber Eidam!“

А то слуша дужде од Млетака, два сокола, два дуждева сина, и слушаше стотина Латина. Мило било дужду од Млетака, руке шири, те г’ у лице љуби: „Фала, пријо, на бесједи такој! Кад ја стекох мила зета свога, ком љепоте у хиљади нема, вољећу га него око једно, вољећу га нег’ једнога сина; ја ћу њему даре приправљати, приправљати коње и соколе, и ковати чекркли челенке, и резати коласте аздије, нека носи, нека се поноси; ако л’ тако то не буде, пријо, хоћеш доћи, ал’ ћеш грдно проћи“.

Dies vernahm der Doge von Venedig/ Und die beiden Falken, seine Söhne, Dies vernahmen hundert der Lateiner. Herzlich freute dessen sich der Doge, Arm ausbreitend, küßt er ihn ins Antlitz: „Lob und Dank dir, Freund, um solche Worte! Wird ein solcher Schwiegersohn zuteil mir, Dessen Schönheit Tausend’ überstrahlet, Werter will ich, als ein einzig Auge, Wert, wie einen einzigen Sohn ihn halten, Reichlich ihn mit Gaben auch bedenken, Roß’ und Falken will ich ihm verehren, Und Tschelenken, die im Wind sich drehen. Rundgefleckte Oberkleider, Alles Soll er tragen, stolz damit einhergehn. Aber schwer, wenn dein Wort nicht eintrifft, Wird dein Kommen dir zu stehen kommen!“

Bemerkenswert ist, daß diese Volkspoesie mit solchem Anstand sich hier ausdrückt; indem der Doge Ivan ohne beleidigende Worte droht, sagt er in diplomatischer Redeweise, daß, wenn er ihn täusche, er hieraus Unannehmlichkeiten haben könnte. Alle Kritiker erblicken in diesem Gedicht einen auffallenden Charakter des ruhigen Stils, der Mäßigung und Überlegung. In den Stellen selbst, wo die Helden heftig ausbrechen, ihre Worte zuweilen herb sind, haben doch die ganzen Anreden Sinn und Ordnung der Gedanken. Dagegen herrscht in der heutigen Dichtung allgemein leidenschaftliche Wallung; unter

230

Teil I

der angeblichen Ruhe, den kalten Sätzen bricht eine gewisse innere Unordnung hervor. Dies Merkmal des Ernstes, der Ruhe, zeichnet die slavische Dichtung vor allen übrigen aus, sie entspringt aus dem Charakter des Volkes. Die Reisenden haben schon bemerkt, daß die Serben, und namentlich die unabhängigen Bergbewohner, bei ihren Beratungen den Ernst und die Geduld bewahren, die sich etwa nur in James Fenimore Coopers Romanen358, wenn er von den Helden der Wilden spricht, wiederfinden. Es trifft sich häufig, daß der Sprechende die Zuhörer aufreizt, die Gegner auffordert, seine Einwürfe zu widerlegen, daß er dieses bis zu Beleidigungen treibt, und dennoch kann nichts ihr Schweigen brechen, sie hören unverändert bis ans Ende, zuweilen lassen nur die größeren Rauchwolken aus ihren Pfeifenröhren die inneren Gefühle erraten, wenngleich jedes Mitglied seine Waffe unter den Händen hat, und jede Bewegung seiner Gefährten scharf im Auge behält. Da nun Ivan das Meer hinter sich hatte, ritt er mit sich selbst zufrieden und fröhlich nach Hause. Als ihm die Türme von Žabljak sichtbar wurden, spornte er vor Ungeduld sein Pferd, verließ das Gefolge und eilte der Festung zu. Die Gemahlin, am Fenster des Palastes stehend, erkennt den Mann von weitem, sendet die Diener zu seinem Empfang, eilt selbst vor das Tor, küßt ihm Hände und Saum des Kleides, ruft Maksim herbei, daß er den Vater bewillkommne. Maksim reicht Ivan den silbernen Sessel, zieht ihm die Oberstiefel von den Füßen. Der Fürst erkennt den Sohn nicht, er sieht sich nach ihm um, und endlich mit dem Blick sein Angesicht treffend, schaut er ihn lange schweigend an. Welch schmerzhafter Anblick! Die Blattern haben ihn bis zum nicht Wiedererkennen verunstaltet. Das rosige Gesicht ist gelb und höckrig geworden, die weiße Stirn schwarz und von Pockennarben gefurcht. Kurz, dereinst so schöne Maksim ist jetzt häßlich. Die furchtbare Seuche hat sich zum ersten Male an ihm im Land gezeigt. Dem Ivan standen nun plötzlich die Worte vor dem Geiste, mit denen er sich unbedachtsam vor dem Dogen hören gelassen. Er zog die Augenbrauen zusammen, ließ den schwarzen Schnurrbart tief herabhängen und, niemandem ein Wort sagend, saß er da mit zur Erde gesenktem Antlitz. Das sah seine Gemahlin, sie näherte sich ihm, küßte ihm die Knie und fragte:

358 James Fenimore Cooper (1789–1851); vgl. Sirinya Pakditawan: Das Bild des Indianers in den Werken von James Fenimore Cooper. Stereotypisierung und Individualisierung. Saarbrücken 2007.

231

19. Vorlesung (5. März 1841) […] „Господару, ја се молим тебе, што с’ у образ сјетно невесело? Ал’ нијеси снаху испросио? Ал’ ти није по ћуди ђевојка? Али жалиш три товара блага’“

[…] „Ich beschwöre dich, mein Herr und Gatte! Was so trübe blickst du, und so finster? Hast die Schnur vielleicht du nicht erhalten? Ist das Mädchen nicht nach deinem Sinne? Oder ist’s dir leid um deine Schätze?“

Ал’ је Иво љуби бесједио: „Ну одаље, да те бог убије! Ја сам нама снаху испросио; а по ђуди Латиика ђевојка: што је земље на четири стране љепоте јој у сву земљу нема, онакога ока у ђевојке, […] Ја не жалим три товара блага. у Жабљаку пуна кула блага, на благу се ни познало није;

Ihr entgegent Iwan Zernojewitsch: „Laß mich gehen! – Daß dich Gott erschlage! Wohl hab ich erhalten die Lateinerin, Und nach meinem Sinne ist das Mädchen. Weit dehnt sich die Erde nach vier Seiten, Doch du findest drauf nicht solche Schönheit, Solch ein Auge nicht wie bei dem Mädchen, […] Auch nicht leid ist’s mir um meine Schätze, Ist mir voll der Schätze doch der Turm hier, Kaum daß man bemerkt, daß etwas fehlet!“

Hier erzählt der Fürst die ganze Sache und sagt: но сам дужду ријеч оставио: да доведем хиљаду сватова, да љепшега од Максима нема; јутрос, љубо, нема грднијега! Ја се бојим кавге преко мора, кад Максима сагледају мога.“

„Doch vernimm! mein Wort gab ich dem Dogen, Mitzubringen tausend Hochzeitsleute, Die Maxim an Schönheit überträfe. Und nun ist er häßlicher als alle! Hader fürcht ich nun von den Lateinern, Wenn sie solchen Bräutigam erblicken!“

Als die Fürstin alles gehört, sagte sie im Zorne, ihn ermahnend: […] „Господаре, да од бога нађеш! Куд те сила сломи преко мора на далеко четр’ест конака, преко мора – да не видиш дома, ни без јада доведеш ђевојку! – а код твоје земље државине, земље твоје, Бара и Улћиња, Црне Горе и Бјелопавлића, ломна Куча и Братоножића, и лијепе варош-Подгорице, и Жабљака твоје постојбине, и Жабљака и око Жабљака; да ожениш јединога сина, и да наћеш за сина ђевојку,

[…] „Siehst du, Herr! das ist des Himmels Strafe, Daß der Übermut dich übers Meer trieb, Übers Meer, fern, vierzig Tagereisen! Nichts als Herzleid hast du von der Braut nun, Siehst vielleicht dein Haus zum letzten Male! Hättest du nicht in deinem Reich und Landen, Deinem Antivari und Dulcigno In Bjelopaulitsch und Montenegro In dem felsigen Kutsch und Bratonoshitsch, In der schönen Stadt, in Podgoriza, Oder hier in Shabljak, deiner Heimat

232

Teil I проћу себе главна пријатеља; но те сила сломи преко мора?!“

Hier in Schabljak, oder in der Gegend Auch ein wackres Mädchen finden können, Sie dem einzigen Sohne zu vermählen, Hier auch eine angeseh’ne Freundschaft? Doch der Übermut trieb übers Meer dich!“

Ivan brauste auf diese Worte wie lebendig Feuer: […] „Ни сам био, ни сам је просио: ко ми дође да ми је честита, живу ћу му очи извадити!“

[…] „Fort! ich war nicht dort! Hab’ nicht gefreiet! Wer kommt, um mir Glück zu wünschen, Auf der Stelle stech ich ihm sein Aug aus!“

Diese Drohung, im Stillen von Mund zu Mund gehend, gelangt an alle, groß und klein. Niemand kommt, Ivan zu bewillkommnen, die Zeit vergeht langsam. Das eine Jahr wird zu dreien, sechsen und zuletzt zu neun Jahren. Erst im zweiten Jahre bekommt Ivan einen Brief vom neuen Anverwandten, der schon anfing ein alter zu werden, denn, dem sei wie ihm wolle, neun Jahre sind keine Kleinigkeit! Der Doge warf ihm Unredlichkeit vor, und verlangte, daß er den Bräutigam schicke oder die Verlobte von dem Versprechen entbinde. Heftiger Schmerz ergriff den Crnojević und da er keinen Ritter bei sich hatte, um sich Rat zu holen, schaute er trüben Auges und verwirrt seine Gattin an: […] „Љубо моја, ну ме сјетуј саде: Ал’ ћу снаси књигу оправити, да се наша снаха преудаје; ал’ ћу слати, али слати нећу?“

[…] „Gib mir einen Rat jetzt, meine Gattin! Soll der Schnur ich solch ein Schreiben senden, Daß sie einem andern sich vermähle? Soll ich’s senden, oder soll ich’s lassen?“

Weise erwiderte seine Ehehälfte: „Господару, Црнојевић-Иво, ког су љубе досле сјетовале, кога досле, кога ли ћ’ одселе, с дугом косом, а памећу кратког Ал’ ти хоћу ријеч проговорит: од бога је велика гриота, а од људи зазор и срамота, ђевојачку срећу затомити и у њену роду узаптити. Послушај ме, драги господаре! Од шта си се данас препануо? Ако су га красте иштетиле, ако бидну главни пријатељи, за то ријеч проговорит неће: свак се боји муке и невоље.

„Mein Gebieter, Zernojewitsch Iwan! Wann doch war’s die Gattin, welche Rat gab? Wann bisher? Und soll es nun geschehen? Frauen sind langhaarig, doch kurzsinnig. Aber gern will ich mein Wort dir sagen: Vor dem höchsten Gott ist’s große Sünde, Aber Schimpf und Schand ist’s vor den Leuten, Dieses Mädchens Glück zu unterdrücken, Und im Vaterhaus sie einzuschließen. Nun vernimm mich, lieber Herr und Gatte! Nimm dir dies nicht allzu sehr zu Herzen! Haben ihn auch arg entstellt die Blattern, Sind es wackre Leute und Verwandte: Werden sie darum kein Wort verlieren.

19. Vorlesung (5. März 1841) Господару, још бесједим тебе: ако с’ кавге преко мора бојиш, имаш данас пуну кулу блага, у подруме трољетнога вина, у амбаре бијеле вшенице: имаш на што свате покупити. Рекао си хиљаду сватова, данас купи и хиљаде двије, по избору коње и јунаке. Ја кад виде тамо у Латина, прегледају силу и сватове, да је Максим слијепо дијете, не смију ти кавгу заметнути. Купи свате те води ђевојку, господаре, више не премишљај!“

233 Jeder scheut sich ja vor Not und Kummer! Laß, o Herr, jetzt dieses mich noch sagen! Wenn du überm Meere Streit befürchtest, Hast du doch den ganzen Turm voll Schätze, In den Kellern Wein auch von drei Jahren, In den Speichern hast du weißen Weizen, Kannst in Menge Hochzeitsgäste laden! Tausend sprachst du – sammle du zweitausend! Lauter auserwählte Ross’ und Helden! Sehn nun die Lateiner so dich kommen Mit dem mächtigen Heere der Hochzeitgäste: Wär auch der Maxim ein blinder Knabe, Dürften sie dir keinen Streit beginnen. Grüble nicht mehr drüber, Herr! Die deinen Sammle du und hole du die Braut ein!“

Ivan, erfreut durch den guten Rat der Gattin, schickte einen Tataren mit der Antwort nach Venedig, dem Dogen verkündend, daß er seiner Ankunft gewärtig sein könne; dann nahm er einen großen Bogen weißen Papiers, schnitt ihn in Stücke und befahl seinem Schreiber, Einladungsbriefe zur Hochzeit an die Herren zu schreiben. Den Miloš Obrenović machte er zum Ältesten des Zuges, seinen Neffen Ivan, den Hauptmann der Montenegriner, zum Brautführer, die anderen forderte er zuvorkommend auf, alle ermahnend, nicht allein zu kommen, sondern mit einem möglichst zahlreichen und nach den einzelnen Anweisungen geschmückten Gefolge. Hier ruft der Dichter aus: Ја да можеш оком погледати н ушима јеку послушати, кад се ситне књиге растурише од тог мора до зелена Лима, те пођоше српске поглавице и војводе, што су за сватове, и делије све главни јунаци! Кад виђеше старци и тежаци, потурише рала и волове, све се на јад сломи у сватове у широко поље под Жабљака; а чобани стада оставише, девет стада оста на једноме, све се сломи у широко поље господару јутрос на весеље; од Жабљака до воде Цетиње све широко поље притискоше:

Hättet ihr’s mit Augen sehen können, Hättet ihr’s mit Ohren hören können, Als die Schreiben auseinandergingen Von dem Meer bis zum grünen Lim hin, Wie sich rüsteten die Serbenhäupter Und die zu dem Fest geladnen Edlen, Alle vornehm angesehne Helden! Als die Greis und Ackersleut es sahen Ließen sie den Pflug stehn und die Stiere, Drängten alle sich zum Hochzeitzuge, Nach der breiten Ebene unter Shabljak. Von den Herden eilten fort die Hirten, Daß auf einen Hirten neune kamen. Alles stürzte nach der breiten Ebne, Zu des Herren großem Hochzeitfeste. Weit von Shabljak bis zum Strom Zetinja Deckten sie das ebene Gefilde:

234

Teil I коњ до коња, јунак до јунака, бојна копља како чарна гора, а барјаци како и облаци, разапе се чадор до чадора, под чадоре красне поглавице.“

Roß an Roß und Held an Held gedränget, Kampfeslanzen, wie ein schwarzer Bergwald, Fahn an Fahne, wie ein Meer von Wolken Zelt an Zelte stehen, aufgeschlagen, Wo die wackren Oberhäupter rasten.

Fürwahr kein Scherz und Kleinigkeit ist dies Alles! Das  18. Jahrhundert war so rücksichtslos, daß es Autoren gab, welche die Gesänge der „Ilias“, die die Macht Priams, wie auch die Reichtümer der Trojaner feiern, in ein lächerliches Licht stellten. Namentlich Voltaire359 spottete über ihre Reichtümer. Freilich, wenn wir sie mit den Kapitalien der heutigen Bankiers vergleichen, so müssen sie uns armselig erscheinen. Allein man darf nicht die Poesie den zeitlichen, engherzigen Ansichten unterziehen wollen; man muß sich in Gedanken in die Zeit und an den Ort versetzen, wo die Tatsachen sich zugetragen. Der Dichter hielt sich dort nicht bei dem Wert der Kapitalien auf, er schätzte nicht die Kräfte, er erforschte das Gefühl des Volks, das Maß der Dinge war für ihn die Bewunderung, welche er in seiner Erzählung aufbewahrt und die uns noch jetzt ergreift, wenn wir sie lesen. Die zur Hochzeitsfeier Gebetenen rasteten einen ganzen Tag im Lager. In der Nacht vor Tagesanbruch erhob sich ein Führer, trat aus seinem Zelte und nahte der Festung. Es war Jovan, der Hauptmann, jetzt zum Brautführer ernannt. Er hatte niemanden bei sich, nur zwei Diener folgten ihm von weitem, so daß er sie kaum gewahr werden konnte, seine ernste Stirn hatte sich schrecklich durch Gedanken gefaltet, tief hing ihm der schwarze Bart herab. Düsterernst trat er auf die Schanzen, besichtigte die Kanonen, blickte lange nach der Gegend von Montenegro, dann nach den Ländern des Sultans hin, aber sein unruhiger Blick wendete sich oft auf die mit Kriegsvölkern bedeckte Ebene. Ivan Crnojević, seinen Neffen auf einem so seltsamen Gange erblickend, näherte sich, grüßte ihn und fragte: Warum zu dieser Unzeit, warum in dieser Trauer? Der Hauptmann antwortete:

359 Voltaire äußerte sich über Homer kritisch in seinem „Essai sur la poésie épique“ (1727), der in England entstanden ist; in der überarbeiteten Fassung von 1732 fiel sein Urteil allerdings wesentlich positiver aus, wobei er auch La Motte kritisiert; vgl. dazu – Georg Finsler: Homer in der Neuzeit: Von Dante bis Goethe. Italien, Frankreich, England, Deutschland. Leipzig und Berlin 1912, S.  238. Im Streit um Homer im 18. Jahrhundert („Querelle des Anciens et des Modernes“) waren federführend beteiligt: Charles Perrault (1628–1703) und Antoine Houdar de La Motte (1672–1731) – Discours sur Homère (1714), die Homer u.a. der Unwahrscheinlichkeit bezichtigten; vgl. – Antike und Moderne in der Literaturdiskussion des 18. Jahrhunderts. Hrsg. Werner Krauss und Hans Kortum. Berlin 1966.

19. Vorlesung (5. März 1841) […] „Прођи ме се, мој ујаче Иво! Коју бих ти ријеч бесједио, ти ми ријеч послушати нећеш: а кад би ме, ујо, послушао, да отвориш те подруме твоје, да даш доста изобила вина, да напојиш у пољу сватове, па да пустиш те хитре телале, нек телали кроз сватове викну, нек сватови сваки дому иде. Ну растури то весеље твоје, мој ујаче, Црнојевић-Иво! Е смо нашу земљу опустили, сломила се земља у сватове, оста земља пуста на крајини. зешља наша страшна од Турака. од Турака преко воде сиње. Мој ујаче, Црнојевић-Иво, и прије су вођене ђевојке. И прије су момци ожењени, и прије су весеља бивала у свој земљи у свој краљевини; твога јада ниђе није било. да подигнеш земљу у сватове! А далеко кости занијети браћи нашој преко мора сиња. преко мора четр’ест конака, ђе нам тамо своје вјере нема. нит’ имамо красна пријатеља, но је нама, белћи, земља жедна. па кад виде преко мора сиља, када виде све српске јунаке, ја се бојим кавге међу браћом, може јада бити на весељу. Мој ујаче, Црнојевић-Иво, да ја тебе једне јаде кажем: синоћ пољу легох под чадором, допадоше двије моје слуге, на перо ме ћурком покриваше и господско лице завијаше; очи склопих, грдан санак виђех, грдан санак, да га бог убије! Ђе у сану гледам на небеса, на небу се, ујо, наоблачи, па се облак небом окреташе, облак дође баш више Жабљака, више твога поносита града,

235 […] „Laß in Ruh mich, werter Oheim Iwan! Welches Wort ich dir auch sagen möchte: Wirst du meinem Worte doch nicht folgen. Aber willst du es beachten, höre! Öffne du, so viel du hast der Keller, Gib im Überflusse roten Wein her, Und bewirte deine Gäste reichlich; Dann erlasse einen schnellen Herold, Laß den Hochzeitscharen laut verkünden, Daß sie wieder heimwärts kehren sollen, Und zerstöre selbst die Hochzeitsfeier! Werter Oheim Zernojevitsch Iwan! Denn wir haben unser Land verödet, Alles drängt gewaltsam sich zum Zuge, Und die Grenzen bleiben leer und öde! Von den Türken droht Gefahr dem Lande, Von den Türken überm blauen Wasser. Werter Oheim, Zerrnojevitsch Iwan! Eh schon hat man Bräute eingeholet, Eher haben Jünglinge gefreiet, Eh’r hat man Vermählungen gefeiert, In dem ganzen Land und Königreiche; Hattst du doch nicht Not zum Hochzeitszuge Das gesamte Volk hier zu versammeln! Sollen unsre Brüder die Gebeine Weithin tragen, übers blaue Meer fort, Vierzig Tagereisen, in die Fremde, Wo wir Keinen haben unsres Glaubens, Keine guten Freunde nirgends treffen, Wo vielleicht nach unserm Blute man dürstet? Sind nun alle unsre Serbenhelden, Alle drüben überm blauen Meere; Leicht kann unter ihnen Streit entstehen! Schmerz und Not fürcht ich von dieser Hochzeit! Werter Oheim, Zerrnojevitsch Iwan! Laß mich meinen Kummer dir vertrauen! Gestern Abend leg ich mich zur Ruhe, Fliegen gleich herbei die beiden Diener, Decken mich der Quere mit dem Pelzrock, Sorglich des Gebieters Haupt einwickelnd. Doch die Augen schließ ich kaum, als furchtbar Mich ein böser Traum zusammenschüttelt. Wie im Traume ich gen Himmel blicke,

236

Teil I од облака пукоше громови, гром удари тебе у Жабљака, баш у твоју красну краљевину, у дворове твоју постојбину; Жабљака ти огаљ оборио и најдоњи камен растурио; што бијаше један ћошак бијел, ћошак паде на Максима твога, под ћошком му ништа не бијаше, испод ћошка здраво изишао. – Мој ујаче, Црнојевић-Иво, не смијем ти санак исказати, тек ако је сану вјеровати, вјеровати сану и биљези, да ти, ујо, хоћу погинути, погинути у твоје сватове, јал’ погинут, јали рана допаст. Мој ујаче, да од бога нађеш! Ако мене штогод биде тамо, каква мука у весељу твоме, јал’ погинем, јал’ допаднем рана, чекај, ујо, онда јаде грдне! Ел’ ја водим ђеце под барјаке породице љута Црногорца, под барјаке ђеце пет стотина: ђе јаокнем, сви ће јаокнути, ђе погинем, сви ће погинути. Но ти с’ молим јутрос на подранку молим ти се, а љубим ти руку, да растуриш у пољу сватове, нек сватови сваки дому иде. Прођ’ с’ ђевојке, да је бог убије!“

Trübt und schwärzt der Himmel sich urplötzlich, Und die Wolken ziehn und treiben rastlos, Sammeln sich gewaltig über Shabljak, Über deiner stolzen Burg, mein Oheim! Aus den Wolken brüllet jetzt ein Donner, Schlägt der Donnerkeil ein in dein Shabljak, Grad in deinen Königssitz, den schönen, In die Höfe deines Vaterhauses! Drauf ganz Shabljak greift die Wut der Flamme, Daß es nieder bis zum tiefsten Grund brennt! Dort, wo sich erhebt das weiße Lusthaus, Stürzt’s herab auf deines Sohnes Schultern; Unverletzt zwar bleibt Maxim darunter, Aber andre tötet er im Fallen! Werter Oheim, Zerrnojevitsch Iwan! Nicht zu deuten wag ich diesen Traum dir; Nur soviel: Darf einem Traum man trauen, Einem Traume traun und seinen Zeichen: Höchst verderblich wird mir deine Hochzeit, Sei es nun, daß ich des Todes sterbe, Oder niederlieg an schlimmen Wunden! Oheim Ivan, daß dir’s Gott vergelte, Wenn auf deinem Feste mich ein Leid trifft, Sei’s nun, daß ich falle oder Wunden Mich auf dieser Hochzeit niederwerfen: Schreck und Wehe würde deiner harren, Denn du weißt, die Knaben, die ich führe, Montenegros wilde Söhne sind sie, Eines Stammes, all für einen stehend, Und fünfhundert folgen meinen Fahnen! Wo ich weh ruf, rufen alle wehe! Wo ich falle, werden alle fallen! Darum küß ich dir die Hand, und bitte, Jetzt, wo wir in aller Früh uns treffen! Lasse auseinander gehn die Scharen, Daß ein jeder wieder heimwärts kehre! Laß die Braut! – daß sie der Herr erschlüge!“

Auf diese Worte des Neffen entgegnete Ivan heftig, zur Unzeit wäre er ihm seinen Traum zu erzählen gekommen, da alles zur Reise bereit; und fügte hinzu: […] „Зао санак, сестрићу Јоване, Бог годио и бог догодио, на тебе се таки санак збио!

[…] „Einen schlechten Traum hast du da geträumt! Gott soll richten, Gott soll es entscheiden,

19. Vorlesung (5. März 1841) Кад га виђе, рашта оповиђе, оповиђе јутрос на подранку, кад сватови мисле да полазе? – Мој сестрићу Јован-капетане, сан је лажа, а бог је истина; ружно си се главом наслонио, а мучно си нешто помислио. – Знаш, сестрићу, не знали те људи доста ми је и муке и руге: насмија се сва господа наша, а шапатом збори сиротиња, ђе ми сједи снаха испрошена и код баба и код старе мајке, а ђе сједи за девет година. – Знаш, сестрићу. не знали те људи да ћу тамо јунак погинути. нећу моју снаху оставити ни весеље јутрос растурити! Но како си мене старјешина и пошао ђевер уз ђевојку, ну набрекни на камену граду, ну набрекни, призови тобџије, нека топе пуне и напуне, нек напуне тридесет топова: па призови старца Недијељка, што му б’јела прошла појас брада који чува топе баљемезе, чува топе Крња и Зеленка, а којијех у свој земљи није у влашкијех седам краљевина, у турскога Отмановић-цара – ну призови старца Недијељка. нека топе пуни па препуни, нека прида праха и олова, нек подигне небу под облаке. нека пукну стари баљемези; хабер подај пољу у сватове, нек се наша браћа ослободе, нек одмакну коње од обале од студене од воде Цетиње, е се могу коњи покидати, у Цетињу воду поскакати, браћу нашу кићене сватове изубаха ватити грозница: ну објави и свој браћи кажи да ће пући тридесет топова, хоће пући Крњо и Зеленко. Па закажи, мој мили сестрићу, нек чауши у то поље викну,

237 Ob an dir es in Erfüllung gehe! Träumtest du ihn, warum ihn verkünden? Jetzt wo wir in aller früh uns treffen, Wo zum Aufbruch sich die Freunde rüsten? Höre, Neffe, Kapetan Johannes! Träume lügen, Gott nur ist die Wahrheit! Hast wohl mit dem Kopfe falsch gelegen, Oder hattest Widriges im Sinne! Wisse Neffe! daß mir Gott verzeihe! Schon genug hab ich an Schimpf und Schande! Alle Edeln haben mein gespottet, Und das niedre Volk von mir geflüstert, Daß verlobt des Sohnes Braut geblieben Bei dem Vater und der alten Mutter, Und bereits neun Jahre sitzt und harret! Wisse Neffe, daß mir Gott verzeihe! Wenn ich auch den Heldentod dort falle, Länger will ich nicht die Schnur verlassen, Und die Hochzeitsleute heut zerstreuen! Aber du, der du ein Haupt der Scharen, Und Brautführer bist bei unsrer Hochzeit, Deine Stimme erschall auf diesem Felsschloß! Rufe laut, daß das Geschütz sie laden, Dreißig an der Zahl, Kanonen laden! Ruf herbei den greisen Nedijelko, Dem der weiße Bart bis übern Gurt hängt, Der des mächtigsten Geschützes Hüter, Des gewaltgen Kernjo und Selenko, Wie im ganzen Land es nicht zu finden, In den sieben Christenkönigreichen, Noch beim türkischen Ottomanensultan! Rufe nun den greisen Nedijelko, Daß er lad, im Überflusse lade! Geben soll in Meng er Blei und Pulver! Von dem Donner soll der Himmel beben, Wenn er aus dem mächtigen Geschütz kracht! Laß die Kund erschallen bei den Freunden, Daß sich unsre Brüder mutig fassen, Und vom Strande sie die Ross’ entfernen, Von dem kalten Wasser der Zetinja, Denn es könnten wild die Rosse werden, Könnten sich hinein ins Wasser werfen, Und die Brüder würd, unvorbereitet, Kalten Fiebers Frost zusammenschütteln! Doch du meld und sag es allen Brüdern, Daß nun die Kanonen donnern werden,

238

Teil I нека крену из поља сватове, ево ћемо преко мора сиња“.

Donnern auch der Kernjo und Selenko! Gib Befehl darauf, mein lieber Neffe, Daß die Herolde es laut verkünden: Rüsten sollen sich die Hochzeitsgäste, Zeit ist’s, übers blaue Meer zu ziehen!“

Die Beschreibung dieser mächtigen Kanonen, deren Wiederhall von Albanien bis Venedig hörbar sein sollte, entspricht der allgemeinen Vorstellung der slavischen Völker von der wunderbaren Wirkung dieser Kriegswerkzeuge. Vor dem Arsenal in Moskau liegt eine große schwedische Kanone360, welche nie von den Russen gebraucht worden ist; der Pöbel versammelt sich jedoch alltäglich um sie herum, und erzählt mit Grausen, welch schreckliche Verheerungen sie in den französischen Reihen verursacht habe. Kaum gab Nedijelko das Zeichen mit dem so fürchterlichen Donner, daß die Pferde auf die Knie fielen und viele Ritter den Taumel bekamen, so bewegte sich auch das ganze Heer unter lärmender Musik in geordnetem Zuge. Bei der Ankunft am Meere, ehe die Schüsse sie aufnahmen, belustigte sich die fröhliche Ritterschar auf dem anmutigen Ufer. Diese ritten junge Pferde zu, jene übten sich im Speerwerfen; wer gerne trank, lag neben den Krügen goldfarbigen Weines. Ivan ritt auf seinem prachtvollen Roß Žurav [Kranich] umher, an seiner Seite tummelten sich der starke und schlanke Maksim, nur verunstaltet von den Blattern, und Miloš, der schönste von allen Jünglingen. Ivan, tief in Gedanken versunken, blickte bald den einen, bald den anderen an, dann wandte er sich dem Kreis der Heerführer zu und erklärte ihnen den Beweggrund seines Unfriedens und seiner Trauer. Endlich sagte er: „кад бисте ме, браћо. послушали, да скинемо перје и челенку са Максима, мила сина мога, на Милоша Обренбеговића, да Милоша зетом учинимо, док ђевојку отуд изведемо“.

„Wollt Ihr meinem Rate folgen, Brüder! Laßt Maxim uns, meinen lieben Sohn, Von Tschelenk und Federn uns entkleiden, Und damit den schönen Milosch schmücken, Daß er für den Bräutigam dort gelte, Bis wir die Lateinerin heimgeführet!“

Niemand wagte es, diesem Rat (eigenmächtig) beizustimmen, denn alle fürchteten den Maksim zu beleidigen, weil sie wußten, daß er, der Abkömmling eines blutgierigen Geschlechts, sich blutig rächen könne. Nur Miloš allein trug kein Bedenken.

360 Die Zarenkanone – Царь-пушка. Im Jahre 1586 vom Gießermeister Andrej Čochov gegossen: 5, 34 Meter lang, 39,312 Tonnen schwer.

19. Vorlesung (5. März 1841) […] „О Иване, наша поглавице, што дозвиљеш и браћу сазивљеш Но ми пружи десну твоју руку и задај ми божу вјеру тврду за Максима, за твојега сина, да Максиму жао не учиниш. на весељу ђе га сад потураш. од мене ти божја вјера тврда: лревешћу ти снаху преко мора и без кавге и без муке какве: тек, Иване, нећу тевећели: што год биде дара зетовскога, да ми дара нитко не дијели“.

239 […] „Warum, Iwan, edler Serbenhäuptling! Warum rufst und sammelst du die Brüder? Mir nur strecke deine Recht’ entgegen! Schwöre mir bei Gottes fester Treue, Daß Maxim, daß deinem lieben Sohne, Wenn du so ihn von der Hochzeit wegdrängst, Du durch solches nicht Beleidigung anfügst! Aber ich, bei Gottes fester Treue, Übers Meer will ich die Braut dir führen, Ohne Hindernis und ohne Hader. Doch so leicht nicht tu ich dieses, Iwan! Was dem Bräutigam man auch verehre: Keiner teile mit mir die Geschenke!“

Es ist dies auch einer von den charakteristischen Heldenzügen, und erinnert an den Streit Agamemnons mit Achill wegen der Teilung der Beute.361 Ivan Crnojević lachte laut und rief aus: „О Милошу, српска поглавице. шта помињеш дара зетовскога? Тврђа вјера, брате, од камена, нитко т’ дара дијелити неће; преведи ми снаху преко мора, доведи је у бијели Жабљак, и ја ћу те, брате, даривати: даћу тебе двије чизме блага, и даћу ти моју купу златну, која бере девет литар’ вина, што ј’ од сува саливена злата: и још ћу те, брате, даривати: даћу тебе суру бедевију, бедевију што ждријеби ждрале, што ждријеби коње огњевите, објесићу т’ сабљу о појасу. која ваља тридест ћеса блага“.

„Serbenhäuptling, o Woiwode Milosch! Was erwähnst du doch der Brautgeschenke? Fester ist als Stein der Schwur der Treue: Keiner soll mit dir die Gaben teilen! Führe du die Schnur mir übers Meer nur, Nach dem weißen Shabljak, meinem Sitze, Außerdem harrt dein noch dort Belohnung! Zwei der Stiefeln geb ich dir, voll Goldes, Einen Becher auch von lautrem Golde, Groß und hoch, neun Liter Wein enthält er. Ferner noch verehr ich dir, mein Bruder, Eine Stut, arabischen Geschlechtes, Weiß und glänzend; aber graue Füllen Wirft sie, Kranichfüllen schnell und feurig. Und zum letzten, einen prächtgen Säbel Schnall ich dir um deine Heldenhüften: Der an dreißig Beutel Goldes wert ist.“

Nach gemachtem Vertrag nahm man die Mütze mit dem Zierrat des Bräutigams vom Haupt Maksims und setzte sie Miloš [Obrenović] auf. Maksim sagte nichts; nur schaute er düster drein. Jetzt folgt die Beschreibung der Überfahrt nach Venedig, der Ankunft und Aufnahme der Serben. Der Doge faßte sich kaum vor Freuden, da er sah, daß in der Tat sein Schwiegersohn der schönste aller lateinischen und serbischen Ritter war. Drei Tage ruhten die Gäste, den 361 Vgl. „Ilias“, I. Gesang, Verse 121ff.

240

Teil I

vierten in der Frühe begannen die Feierlichkeiten. Es kamen der Reihe nach die Geschenke. Einer von den Söhnen des Dogen ließ einen weißen fleckenlosen Hengst in den Marmorhof führen. Schwer beladen ist das Roß mit Silber und Gold, und auf ihm sitzt die schöne Venezianerin mit einem Falken auf dem Arm. Der Sohn des Dogen redete Miloš an: „На поклон ти коњиц и ђевојка, и на коњу и сребро и злато, и на поклон сива тица соко, кад си тако виђен међу браћом“.

„Zum Geschenk empfange Roß und Jungfrau Und des Rosses Schmuck, so Gold als Silber, Zum Geschenk auch diesen grauen Falken, Weil der schönste du von allen Brüdern!“

Der zweite Bruder der Verlobten brachte einen Säbel, dessen Scheide von gediegenem Gold solchen Wertes war, daß man eine ganze Stadt dafür hätte kaufen können; ihn dem Miloš umschnallend, sprach er: „Trage, Schwager, diesen Säbel, möge er Deinen Ruhm vermehren!“ („Носи, зете, те ми се поноси!“; S. 533). Der alte Doge gab ihm einen Hut mit Federn kostbar eingefaßt. Inmitten der Einfassung glänzte, der Sonne gleich, ein edler Stein und blendete die Augen der Anwesenden. Nachher kam die Mutter und schenkte dem Eidam eine Tunica von lauterm Gold und wunderbarer Arbeit, denn es war weder gewebt noch gesponnen, sondern mit den Fingern geflochten. Den Halsverschluß vertrat eine in den Kragen eingesetzte Schlange, so täuschend nachgebildet, daß sie lebendig schien und gifterfüllt beißen wollte. In ihrem Kopf brannte ein großer Diamant, leuchtend von selbst am Tage und in der Nacht, damit das neue Ehepaar im Brautgemach ohne Lampe sein könne. Staunend sahen die Serben zu, als nun noch der Oheim der Verlobten, ein kinderloser Greis, der sie erzogen und wie sein eigen Kind geliebt, sich näherte. Er ging gestützt auf einen Stab und trug unterm Arme eine kleine Rolle. Aber welch Wunder! Als er sie entfaltend dem Miloš über die Schultern warf, zeigte sich dieselbe als ein Mantel von unschätzbarem Wert, der den Ritter und sein Roß ganz bedeckte. Maksim sah alles scheel von der Seite; schier verzehrte ihn der Neid; er sah, daß ein anderer nahm, was ihm gehörte! Nach beendigten Feierlichkeiten und Gastgelagen stießen die Serben wieder von Venedig ab, landeten am anderen Ufer und gelangten auf dieselbe Ebene, wo sie früher so fröhlich versammelt, jetzt aber traurig von einander scheiden sollten. Maksim wollte zuerst die Mutter begrüßen, und eilte mit zehn Gefährten dem Zuge voran. – Kaum ward dieses Miloš gewahr, als er auch sein Roß anspornte, es kurz in den Zügeln faßte und in zierlichen Sprüngen der Verlobten sich nähernd, berührte er sie sanft mit der Hand. Der nicht undurchsichtige Schleier verhinderte ihr das Sehen nicht; als sie nun den Ritter an ihrer Seite gewahr wurde, ergriff eine

19. Vorlesung (5. März 1841)

241

Verwirrung der Armen Sinne, sie schlug den Schleier ganz zurück, gab Miloš ihr schönes Antlitz frei zu schauen und streckte beide Hände ihm entgegen. Diejenigen, die dies sahen, stellten sich, als hätten sie nichts gesehen; aber Ivan Crnojević bemerkte es und konnte sich vor Verärgerung nicht halten, erzählte ihr die ganze Sache und auf Maksim weisend, sprach er entrüstet: „Dieser ist Maxim, dein wahrer Gatte.“362 Die Venezianerin, nicht gewöhnt an die Ergebenheit der serbischen Frauen, hielt zu Ivans großer Verwunderung das Roß auf, erhob die freie Stirn und erwiderte: […] „Мио свекре, Црнојевић-Иво, Максиму су срећу изгубио, како с’ другог зетом учинио. Рашта, свекре, да од бога нађеш? Ако су га красте иштетиле, ко је мудар и ко је паметан, томе, свекре, ваља разумјети, и свак може муке допанути; ако су га красте нашарале, здраве су му очи обадвије, срце му је баш које је било; ако л’ си се, свекре, препануо, ђе је Максим још танко дијете, њега чеках за девет година, њега чеках у бабову двору, и још бих га за девет чекала у Жабљаку, у вашему граду, ником не бих образ застидила, ни ја роду, ни ја дому моме. Но ти, свекре, – богом ти се кунем ја ти враћај благо са јабане, са вашега војводе Милоша, те удари на Максима твога, јал’ напријед ни крочити нећу, баш да ћеш ми очи извадити“.

[…] „Warum, Schwäher, Zernojewitsch Iwan, Hast du selbst das Glück Maxims zerstöret, Deines Sohns, um eines Fremden willen, Fälschlich ihn zum Bräutigam ernennend? Schwäher! möge dir dies Gott vergelten! Wie ihn immer auch entstellt die Blattern, Wer vernünftig ist und weißt, Vater, Sieht wohl ein, daß heute oder morgen Jeden Not und Unglück kann befallen. Ist sein Antlitz schwarzbunt von den Blattern: Seine Augen sind gesund und sehend, Und das Herz ist, wie es war, geblieben. Warum also bist du so erschrocken? Halt ich doch neun Jahr auf ihn gewartet, Still und sittig in des Vaters Hofe; Würde noch neun Jahre auf ihn warten, Dort in eurer weißen Feste Schabljak, Keiner sollt erröten meinetwillen, Weder ihr, Verwandte, noch die Meinen. Jetzo laß mich dich bei Gott beschwören: Nimm vom fremden Mann zurück die Schätze! Fordre sie zurück von dem Woiwoden, Gib sie dem Maxim, dem sie gebühren! Tus! sonst tu ich keinen Schritt mehr vorwärts, Sollt es mir auch beide Augen kosten!“

Der bestürzte Ivan, nicht wissend was anzufangen, ruft die Woiwoden zusammen, fragt sie um Rat und bittet um ihre Vermittlung, in der Sache zwischen 362 G. Siegfried übernimmt hier die Übersetzung von Talvj. Im Original lautet die Stelle: „Оно ти је дијете Максиме.“ (Jener ist der Junge Maxims) – Vuk II, S. 537.

242

Teil I

ihm und Miloš. Eingedenk jedoch, daß er geschworen, alle Geschenke ihm zu lassen und noch mehrere seinerseits beizufügen, wollen die Woiwoden nichts sagen. Da sprengt Miloš mit seinem goldgelben Araber herbei, und läßt sich so vernehmen: […] „О Иване, наша поглавице, камо вјера? – Стигла те невјера! Нијесмо ли вјеру учинили: да ми дара нитко не дијели? А сад сте се томе присјетили! Кад си мучан и кад си невјеран, море ћу ти дара поклонити рад’ хатара наше браће красне: прва ћу ти дара поклонити – на поклон ти вранац и ђевојка; да је пута и правога суда, ђевојка је мене поклоњена, поклонио и отац и мајка, поклонила оба брата њена; ал’ о томе нећу говорити, већ ти хоћу дара поклонити, и на коњу и сребро и злато, и поклонит сивога сокола, и на поклон сабља од појаса; свега ћу ти дара поклонити, већ ја не дам цигле до три марве; не дам с главе тастове челенке, са рамена коласте аздије, и ја недам од злата кошуље, хоћу носит мојој земљи дивној нек пофала мојој браћи буде; кунем ви се и богом и вјером, не дам тако три комата дара!“

[…] „Iwan Zernojewitsch! Haupt der Serben! Sprich, wo bleibt die fest beschworne Treue? Also mög dich selbst Verrat einst treffen! Habt ihr mir nicht angelobt die Gaben? Und ihr steht verwirrt jetzt und bedenkt euch? Nun, so hör! wenn treu sein dir so schwer fällt: Überlassen will ich dir das Meiste, Wills aus Achtung für die wackern Freunde, Erst nun geb ich dir von den Geschenken Die Lateinerin und ihren Rappen, Denn, soll strenges Recht darob entscheiden, Mein ist dieses Mädchen, mir geschenket, Mir geschenkt von Vater und von Mutter, Mir geschenkt von ihren beiden Brüdern. Doch darob will ich kein Wort verlieren. Zum Geschenk empfange sie von mir nun, Auch des Rosses Gold und Silber, alles, Auch der graue Falke sei der deine, Und der Säbel selbst von meinen Hüften. Alles dies will ich dir willig lassen; Dreierlei nur will ich selbst behalten: Dieses rundgefleckte Oberkleid hier, Auf dem Haupt die prächtige Tschelenka, Und das wundersame Hemd von Golde. In die schöne Heimat will ichs tragen, Daß ich Lob von meinen Brüdern ernte. Bei dem Herrn und unserm Christenglauben! Von den dreien werd ich nimmer lassen!“

Der ganze Kreis der Ältesten lobt einmütig seinen guten Willen und Edelmut; aber die Tochter des Dogen beruhigt sich nicht, sie weint um ihre teuren Hochzeitsgeschenke und ruft Maksim herbei. Der entsetzte Ivan stellt ihr umsonst die Streitsucht seines Sohnes vor, und fleht sie um Alles in der Welt, nicht die Freude in blutige Schlacht zu verwandeln. Maksim vernahm den Ruf, eilte herbei, fragte, was es gäbe, und mußte diese unglückseligen Worte hören:

19. Vorlesung (5. März 1841) […] „О Максиме, немала те мајка! Мајка нема до тебе једнога, а по данас ни тебе не било! Од копља ти градили носила, а од штита гробу поклопнице! Црн ти образ на божем дивану, како ти је данас на мегдану са вашијем војводом Милошем; зашто благо дадосте другоме! А није ми ни тог жао блага, нека носи, вода г’ однијела! Но ми жао од злата кошуље, коју но сам плела три године а са моје до три другарице, док су моје очи искапале све плетући од злата кошуљу; мислила сам да љубим јунака у кошуљи од самога злата а ви данас дадосте другоме! Но ме чу ли, ђувеглија Максо, брже враћај са јабане благо! Ако л’ благо повратити нећеш кунем ти се богом истинијем напријед ти ни крочити нећу но ћу добра коња окренути, догнаћу га мору до обале, па ћу ватит листак шемишљиков, а моје ћу лице нагрдити, док покапље крвца од образа, по листу ћу писати јазију, додаћу је сивоме соколу, нека носи стару бабу моме, нека купи сву латинску силу нек ти хара бијела Жабљака нек ти враћа жалост за срамоту“

243 […] „O Maxim, du deiner Mutter Einzger! Nie mehr möge sie dich wiedersehen, Nimmer dich lebendig mehr umarmen, Kampfeslanzen seien deine Bahre, Schilder mögen Leichenstein dir werden, Schwarz vor Gottes Richtstuhl sei dein Antlitz, Schwarz, also wie heut es ist, beim Zweikampf, Den du sollst mit dem Woiwoden kämpfen! Warum einem andern meine Schätze? Doch nicht leid tut mir’s um alle Schätze! Hab er sie! So hab ihn das Verderben! Aber leid ist mir’s ums goldne Hemde, Welches ich drei Jahr geflochten habe, Tag und Nacht mit meinen drei Gespielen, Daß mir fast die Augen ausgeträufelt, Immer an dem goldnen Hemde flechtend. Meinen Bräutigam wollt ich drin küssen, Schön geschmückt im Hemd von lautrem Golde. Und ihr gebt es einem fremden Manne! Doch, mein Bräutigam Maxim, vernimm mich! Fordre du sogleich zurück die Schätze, Aber wagst du dieses nicht, und willst nicht: Nun, so schwör ich, beim wahrhaftigen Gotte, Keinen Schritt tu ich mehr vorwärts – höre! Schnell mein gutes Roß wend ich zurücke, Treib es fort bis an das Meergestade Pflücke dort ein Blatt von Schemischlik, Und das eigne Antlitz mir zerreißend, Daß das Blut mir von den Wangen träufelt, Schreib ich einen Brief an meinen Vater, Geb ihn meinem grauen Edelfalken, Daß er schnell ihn nach Venedig trage. Sammeln wird mein Vater die Lateiner, Wird zerstören euer weißes Schabljak, Euch die Schmach mit Angst und Not bezahlen!“

244

Teil I Кад то зачу дијете Максиме, то Максиму врло зајад било, врана коња натраг приповрну опаса га троструком канџијом пуче кожа коњу по сапима, а покапа крвца по копити, но му љуто пусник поскочио, по три копља у небо скочио, по четири земље прескочио. Не деси се доброга јунака, да увати грдна злосретника, но му сокак пољем учинише, а нико се јаду не досјети, порашта је коња повратио.

Als Maxim, der Knabe, dies vernommen: Wut ergreift ihn – seinen Rappen wendend, Schlügt er ihn mit dreigeflochtner Peitsche, Daß umgürtend sie sich um das Roß schlingt, Daß die Haut zerspringet auf dem Rücken, Und das Blut bis auf die Hüften träufelt. Rasend springt der wilde Hengst und bäumt sich; Hoch springt er, drei Lanzen hoch gen Himmel, Weit springt er vier Lanzen auf der Erde. Und kein wackrer Held ist gegenwärtig, Aufzuhalten den unseligen Wütrich! Eine Straße bahnt sich im Gedränge, Alle stehn erstarrt, doch keiner ahnet, Warum er den Rappen umgewendet.

А кад виђе војвода Милоше, грохотом се јунак насмијао: „Фала богу, фала истиноме, куд се оно Максим затрчао?“ А не види јаде изненада. Кад допаде дијете Максиме, на Милоша бојно копље пушти, бојнијем га копљем ударио по челенку међу очи црне; на затиљак очи искочише, мртав паде под коња дората;

Auch Woiwode Milosch steht und sieht es, Und er ruft lautlachend ihm entgegen: „Nun, Gott sei gepriesen, der Wahrhaftge! Wohin stürzet denn Maxim so eilig?“ Unversehens trifft ihn das Verderben, Denn als rasend nun Maxim daher stürmt, Schleudert er nach Milosch seinen Kampfspeer, Trifft ihn grade unter der Tschelenka, Trifft ihn zwischen beiden schwarzen Augen, Daß die Augen aus der Stirn ihm springen, Und er tot herabstürzt von dem Braunen.

Милош паде, а Максим допаде, колико му крвце жедан бјеше, ману сабљом, одс’јече му главу, пак је вранцу баци у зобницу, а ђевојку оте у ђевера, пак побјеже на муштулук мајци.

Milosch fällt, Maxim sich auf ihn werfend, Wutentbrannt nach seinem Blute dürstend, Schwingt den Säbel, hauet ihm das Haupt ab, Wirft es in den Hafersack dem Rappen, Dann entreißt die Jungfrau er dem Führer, Jagt zur Mutter nach dem Botenlohne.“

Hier erst entbrennt der allgemeine Kampf zwischen den Stammverwandten und dann den weiteren Freunden des Erschlagenen und des Mörders. Der Dichter sagt, die Ritter hätten, von Grausen ergriffen, sich zuerst furchtbar angeschaut, dann kochte plötzlich das Blut in ihnen, und sie fingen an sich blutige Geschenke von Blei und Eisen zuzuteilen. Danach beschreibt er die Schlacht in riesigen Abrissen, macht aus ihr etwas dem Kampf der Ureinwohner mit den Kentauren Ähnliches. Der Rauch des Geschützes und der Dampf

19. Vorlesung (5. März 1841)

245

des warmen Blutes hüllte das Feld in Nebel, die Kugeln und Säbelhiebe verteilten in der Dunkelheit die Trauer den unglückseligen Müttern, Schwestern und lieben Frauen. Der Blutstrom bedeckte den Boden bis an die Knie der Pferde. Ivan Crnojević watete nun langsam in demselben mit ewig schmerzerfüllter Seele und bat den Herr Gott wenigstens um einen Windstoß, daß er sehen könne, wer gefallen und wer noch lebe. Der Wind vom Waldgebirge kam heran und erhellte ein wenig das Feld. Nun fängt er an die blutigen Leichname umzuwenden, die toten Häupter zu betrachten, ob vielleicht seinen Sohn er nicht finde. Dieses verrichtend, stieß er auf seinen Schwestersohn, den Hauptmann Jovan (Johannes), der Brautführer gewesen und vor dem Aufbruche von Žabljak den bösen Traum gehabt, jetzt aber in Blut und Wunden unkenntlich dalag. Schon schritt düster der Greis weiter, als dieser ihn anrief: […] „Мој ујаче, Црнојевић-Иво, чим си ми се тако понесао: или снахом, или сватовима, ил’ господским даром пријатељским, те не питаш несретна сестрића, јесу ли му ране досадиле?’“

[…] „Sprich doch, Oheim! Zernojewitsch Iwan! Was ist’s, worauf Du so stolz geworden? Ist’s die Schnur? sind es die Hochzeitgäste? Oder sind’s die prächtgen Brautgeschenke? Daß du deinen unglückseligen Neffen Nicht befragst, ob ihn die Wunden schmerzen?“

Ivan weinte hierauf bittere Tränen, er wollte den Neffen retten; der hinscheidende Ritter entgegnete ihm aber mit schwacher Stimme: […] „Прођи ме се, мој ујаче Иво! Камо очи? – Њима негледао! Овакве се ране не видају: лијева је нога саломљена, саломљена надвоје, натроје, а десна је рука одсјечена, одсјечена рука по рамену, а по срцу сабље доватиле, испале су црне џигарице’“.

[…] „Laß in Ruh mich sterben, Oheim Iwan! Wo hast du die Augen? siehst nicht dieses, Daß man solche Wunden nicht mehr heile? Furchtbar ist der linke Fuß zerschmettert, Dreimal, viermal wohl entzweigebrochen, Abgehauen ist der rechte Arm mir, Abgehauen ganz bis an die Achsel! Tief herausgefallen hängt die Leber, Und das Herz hat hart gestreift der Säbel!“

Da bat ihn Ivan, so lange er noch zu sprechen vermöge, ihm zu sagen, was aus Maxim geworden. Der Hauptmann entgegnete, Maxim sei nicht gefallen, sondern er habe die Verlobte fortgerissen und sei gen Žabljak geflohen; nach diesen Worten verschied er. Der Ohm legte seinen Leichnam bei Seite, schwang sich aufs Roß und sprengte nach seiner Hauptstadt davon. Vor dem Tor der Festung findet er eine Kampflanze in die Erde gestoßen, einen Rappen daran gebunden, Maxim sitzt und beschreibt auf dem Knie ein weißes Stück Papier,

246

Teil I

die Venezianerin steht neben ihm, demütig und schweigend auf den Scheidebrief wartend. Maxim schrieb an den Dogen: […] „О мој тасте, дужде од Млетака, купи војску, сву латинску земљу, те ми харај бијела Жабљака, и ти води милу твоју шћеру ни љубљену, ни омиловану – мене прође моја госпоштина, и држава моја краљевина; хоћу бјежат преко земље дуге, хоћу бјежат цару у Стамбола, како дођем, хоћу с’ потурчити!“

[…] „O mein Schwäher! Doge von Venedig! Rufe alle deine Macht zusammen, Alle Krieger des Lateinerlandes Und verheere unser weißes Schabljak! Nimm zurücke deine liebe Tochter, Ungeküßt zurück und unumarmet! Aus auf ewig ist’s mit meiner Herrschaft, Aus mit meinem Reich und Fürstentume! Fliehen will ich durch die weite Erde, Fliehn nach Stambul zu dem Türkensultan, Fliehn zu ihm und auch ein Türke werden!“

Die Kunde davon erscholl schnell im ganzen Land, und so kam sie auch zu Ohren der Obrenovići. Johann (Jovan) Obrenović, der Bruder des erschlagenen Miloš, nahm hurtig, ohne ein Wort zu sagen, sein Pferd, sattelte es mit dem besten Zeug, schlug ein Kreuz und schwang sich in den Sattel, mit folgenden Worten von den Seinigen Abschied nehmend: […] „Хоћу, браћо, и ја у Стамбола, одох, браћо, браћу да сачувам, ко дорасте у тој земљи нашој. Тамо оде крвничко кољено, он ће дворит цара у Стамболу, издвориће какву војску силну, те ће земљу нашу погазити. Браћо моја и пак породице, док чујете мене у животу, у животу, у Стамболу билу, немојте се, ђецо, препанути; он не смије војску подигнути: он ће на вас, а ја ћу на њега“.

[…] „Ich auch will nach Stambul gehen, Brüder! Euch zu schützen, und die Enkel alle, Die in unsrem Land erwachsen werden; Denn blutdürstigen Geschlechts ist jener, Der nun höfisch wird dem Sultan dienen, Daß er ihm ein nötig Heer ausrüste, Unser Land verheerend unterjoche. Aber hört, ihr Brüder, Stammverwandte! Nicht, so lange ihr mich noch wißt am Leben, Mich am Leben und im weißen Stambul, Sollt Gefahr ihr fürchten, meine Kinder! Nicht wag er ein Heer mir aufzuheben! Hat mit euch er es: mit ihm hab ich es!“

Die beiden Gegner trafen an den Toren Istambuls zusammen und stellten sich gleichzeitig dem Sultan vor. Der Türke wußte schon von allem, nahm die beiden Helden auf, machte sie zu Türken und nannte den Jovan Mahmudbeg, den Maxim Skanderbeg. Nach neunjährigem Dienst bekam jeder weiße Roßschweife und ein Paschalik. Nur bekam Mahmudbeg die fruchtbaren und reichgesegneten Ebenen Dukadjin-Gebietes; Skanderbeg aber die dumpfen, morastigen Ländereien der Bojana und des Skutari-Sees. Das ganze Leben

19. Vorlesung (5. März 1841)

247

hindurch, sagt der Dichter, haßten sich die beiden feindlichen Häupter, und ihre Nachkommen vergießen bis zum heutigen Tage Blut unter einander. […] Како таде, тако и данаске, нијесу се нигда умирили, нити могу крвцу да умире но и данас ту просипљу крвцу.363

[…] „Sowie damals, also ist es heute! Noch nicht abgebüßet ist die Blutschuld, Nimmer noch versöhnten sich die beiden, Blut vergießend bis zum heutigen Tage.“364

Auf diese Weise drückt die Poesie den Kampf der christlichen mit den muselmannischen Serben aus.365

363 „Ženidba Maksima Crnojevića“ (Heirat des Maksim Crnojević), Vuk, II, S. 508–549. 364 Talvj II, S. 229–270. 365 Vgl. auch die Darstellung von Johann Severin Vater: Die Hochzeit des Maxim Cernojewitsch. In: Wuk’s Stephanowitsch kleine serbische Grammatik verdeutsch und mit einer Vorrede von Jacob Grimm. Leipzig und Berlin 1824, S. LXI–LXXII; ferner – S. Ferdinand d’Eckstein: Chants du peuple serbe. In: Le Catholique, 1826, I, Nr. 2 (Februar), S. 243–269 und II, Nr. 6 (Juni), S. 373–410.

20. Vorlesung (9. März 1841) Die Familiengefühle bei den Slaven – Wahlbrüderschaft (pobratimstvo) – Die Präsenz des Christlichen und Muselmannischen – Abenteuer des Stojan Janković – Bajo Pivaljan oder die Herausforderung zum Zweikampf – Die Gedächtniskraft bei den Slaven – Das Edle des Stils ihrer Dichtung – Das Triviale wird in den Städten erzeugt – Phantastische Elemente (Gestalt der Vila) – Vampire (upiory).

Die im oben angeführten Gedichte besungenen Begebenheiten haben eine große geschichtliche Bedeutung für das Land der Montenegriner. Die Slaven, welche sich dem abtrünnigen Maksim [Crnojević] angeschlossen, wurden Muselmannen, erhoben die Hand gegen ihre Brüder, die Christen, und führten die Türken ins Land. Endlich unternahm der dortige Bischof366 im vorigen Jahrhundert etwas der Bartholomäus-Nacht Ähnliches gegen sie. Auf ein gegebenes Zeichen warfen sich die Montenegriner über ihre verrückten Landsleute, machten alle ohne Barmherzigkeit nieder und befreiten das Land gänzlich von der muselmännischen Bevölkerung. Die Sammlung der montenegrinischen Lieder ist noch nicht beendet, unbekannt ist, ob diese Begebenheit den Anfang zu einer epischen Dichtung [poésie épique] gegeben; jedoch kann man hieran zweifeln, denn seit dem 15. Jahrhundert zersplittert sich das Epos, ebenso bei den Montenegrinern wie bei den Donau-Slaven, in kleine romaneske Gedichte [petits romans]. Das in diesen romanesken Gedichten besonders Charakteristische ist das Gefühl der Familie, was auch die Haupttriebfeder für das Tun der Einzelnen ausmacht. Die Verwandtschaft und der freiwillig angenommene Bruderbund ist das Heiligste bei den Slaven, in die Familie schließt sich ihre ganze Welt. Die Dichter kennen kein größeres Unglück, als das Verwaistsein. Der Vater, den die Slaven jener Gegenden mit dem ehrbaren Namen baba367, von den Türken entlehnt, benennen, empfängt von seinen Kindern die größten Beweise der Achtung und des Gehorsams, sein Greisenalter verleiht ihm aber einen Heiligenschein. 366 Danilo I. Petrović Njegoš (um 1670–1735); vgl. Rastislav V. Petrović: Vladika Danilo i vladika Sava (1697–1781). Beograd 1997. Das Thema des Kampfes gegen die Türken thematisiert Petar II. Petrović Njegoš (1813–1851) in seinem Nationalepos „Gorski vijenac“, Wien 1847, das Mickiewicz nicht bekannt war; deutsche Übersetzung: „Der Bergkranz“. Einleitung, Übersetzung und Kommentar von Alois Schmaus. München 1963. Dort wird im dritten Kapitel über die blutige Vernichtung der Türken aus der Perspektive der jeweiligen Heeresanführer berichtet. Dieses Ereignis wird auch als „Bartolomejska noć u Crnoj Gori“ bezeichnet. 367 Auch „babo“ – vgl. Vuk Stefanovič Karadžić: Lexikon serbico-germanico-latinum. Srpski rječnik istumačen njemačkijem i latinskijem riječima. Beograd 41935, S. 10.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_021

20. Vorlesung (9. März 1841)

249

Bei den Türken fußt diese Hochachtung auf religiösem Glauben und auf der Furcht, bei den Slaven aber, wo die zärtlichen Familienregungen nicht durch Vielweiberei vernichtet sind, auf der Liebe. Nach dem Vater und der Mutter, die auch in den wichtigsten Vorfällen miträt, folgen die Brüder. Nichts Rührenderes als die brüderliche Liebe bei diesen Völkern. Der jüngere Bruder, nachdem er erfahren, daß der ältere ein Räuber geworden, geht ihn suchen, fällt von seiner Hand, und im Verscheiden erst von dem Unglücklichen erkannt, stirbt er freudig, daß er wenigstens des Bruders teures Antlitz noch einmal gesehen, des Bruders liebe Stimme gehört.368 Häufig weinen in der Dichtung Brüder und Schwestern, daß sie niemanden haben, bei dessen liebem Haupt sie schwören könnten. Mit solchem Gefolge tritt also die Familie in den durch die romanesken Gedichte besungenen Ereignissen auf, d.h. in Hochzeiten und Schlachten. Außerdem treffen wir noch einen besonders slavischen Charakter, den Charakter der Wahlbrüderschaft (pobratimstvo).369 Dieser ist bei den Slaven von den urältesten Zeiten her bekannt. Was auch der Anfang dieser Genossenschaft sei, so sehen wir doch ihre Spuren schon in den Geschichtschreibern; so viel ist gewiß, daß sie in Mazedonien sich vorfand, und sich lange in Theben erhielt. Das Christentum hat diese Sitte geheiligt, die bis auf den heutigen Tag in ganzer Kraft bei den Serben, Bulgaren und sogar den Albanern fortdauert. Junge Leute, die unter einander den Gefährtenbund schließen, sich im Geiste verwandt machen wollen, gehen in die Kirche und nehmen die Weihe der Brüderschaft. In der morgenländischen Kirche gibt es sogar einen Ritus für das Einsegnen dieser sittlichen Verbindungen. Die Gefährten übernehmen die Schuldigkeit, sich gegenseitig in Allem zu unterstützen; Vermögen und Leben werden zum gemeinsamen Gute. Nicht aus der Gefangenschaft lösen, oder im Kampf den Gefährten nicht verteidigen, wäre die größte Schande. Heiratet der eine, so ist der andere Hochzeitsführer, während des Krieges dient der jüngere dem älteren gewöhnlich als Stallmeister. Die Einförmigkeit in der Beschreibung der Hochzeitsfeier vermannigfacht sich durch die verschiedene Lage der zwei Familien, der christlichen und der türkischen, auch durch die verschiedene Erziehungsweise der Kinder bei den Serben und bei den Türken. Das türkische Mädchen erwächst eingesperrt und unsichtbar, bis zu dem Augenblick der Vermählung kennt sie ihren Verlobten nicht. Häufig jedoch erschallt die Kunde, daß dieser oder jener Pascha eine 368 Vgl. „Predrag i Nenad“, Vuk 1958, II, S. 76–82. 369 Vgl. dazu: Stanisław Ciszewski: Künstliche Verwandtschaft bei den Südslaven. Leipzig 1897; Walter Puchner: Studien zur Volkskunde Südosteuropas und des mediterranen Raumes. Wien-Köln-Weimar 2009 (Kap. 13: Adoptio in fratrem).

250

Teil I

Tochter von wunderbarer Schönheit besitze, aber niemandem ist es möglich, sie zu sehen, denn sogar die Sonne hat sie noch nicht gesehen, weil der Strahl der Sonne, wie der Dichter sagt, nicht zu ihr dringen kann. Dann erst läßt sich der slavische Ritter auf Abenteuer ein, die Schöne zu erobern. Gewöhnlich tritt er in die Dienste des Pascha, wird Janitschare und, jetzt näher, sucht er durch alle möglichen Mittel dessen Tochter kennen zu lernen. Zuweilen gelingt es ihm, ihr Herz und ihre Hand zu erlangen; zuweilen aber am Ziele seiner Wünsche, nach langjährigen und gefahrvollen Mühsalen, entdeckt er nun plötzlich ein physisches oder moralisches Gebrechen, und hieraus entspinnen sich auch neue Verwicklungen und weitere Folgen der Romanze. Zu der Reihe solcher romanesken Gedichte gehört folgendes, das die Abenteuer des Stojan Janković besingt: Још од зоре нема ни помена, Удбињска се отворише врата, И изие једна чета мала, За тридесет и четири друга, Пред њоме је Лички Мустај-беже,; Оде беже у Кунар планину, Да он лови лова по планини. Хода беже три-четири дана, Ништа бего уловит’ не може, Поврати се Лики и Удбињи,

Noch vom Morgenrot war kein Gedanke, Als das Tor von Udbinja sich auftat, Und ’ne kleine Kriegerschar herauskam, Vierunddreißig türkische Gefährten; Vor der Schar der Mustaj-Beg von Lika. Geht der Weg nach dem Kunar-Gebirge, Um im grünen Bergwald Jagd zu jagen; Schweift umher drei Tag und vier vergebens, Nichts erjagen kann der Beg und fangen, Kehrt zurück nach Lika und Udbinja.

Када сиђе под гору јелову, Уврати се на воду чатрњу, Да почине и да воде пије; Баци очи под јелу зелену, Ал’ с’ од јеле разасјале гране;; Када дође Мустај-беже Лички, Пјан катана под јеликом спава Сав у срми и у чистом злату: На глави му калпак и челенке, Један калпак, девет челенака,; Покрај њих је крило оковано, Ваља крило хиљаду дуката; На плећима зелена долама, На долами тридесет путаца, Свако пуце по од литру злата,; Под гр’оцем од три литре злата, И оно се на бурму отвара, У њем’ носи за јутра ракију; По долами троје токе златне, Златне токе по од двије оке,; Двоје вите, а треће салите; На ногама ковче и чакшире,

Jetzt kommt er hinab zum Tannenwalde, Wendet sich nach dem Cisternenwasser, Um sich, Wasser trinkend, zu erfrischen. Sieh, da blitzt es schimmernd durch die Zweige, Und er naht sich einer grünen Tanne, Sieht darunter, Mustaj-Beg von Lika, Einen trunknen Krieger eingeschlafen, Ganz in Silber und in lautrem Golde. Auf dem Haupte Mütze und Tschelenken Auf der einen Mütze neun Tschelenken, Neben diesen ein beschlagner Flügel, (Tausend Goldstück war er wert, der Flügel) Auf den Schultern einen grünen Dolman, Auf dem Dolman dreißig prächtge Knöpfe, Jeder Knopf zu einer Litra Goldes! Unterm Halse einen von drei Litren, Der mit Schrauben sich läßt ab- und andrehn; (Morgens früh wird Branntwein drin getragen); Auf dem Dolman ferner drei Beschläge,

20. Vorlesung (9. März 1841) Жуте му се ноге до кољена, Побратиме, како у сокола, Из ковчи су синчири од злата,; На синчирим’ ситне титреике, Што ђевојке носе у гр’оцу; Опасао мукадем појаса, За појасом девет Даницкиња, Све у чисто заљеване злато;; О бедри му сабља окована, На сабљи су три балчака златна И у њима ри камена драга, Ваља сабља три царева града; У крилу му лежи павталија,; На њојзи је тридесет карика, Свака павта од десет дуката, Код нишана од тридесет дуката, Више злата, него љута гвожђа;

251 Goldbeschläge, an Gewicht zwei Oka, Zwei gedrehet und gegossen einer; An den Füßen Unterkleid mit Hefteln, Goldgelb sind die Füße bis zum Knie, Daß es wie beim Falken anzusehen; Aus den Hefteln laufen goldne Ketten, Feines Schmuckwerk an den langen Ketten, Wie die Mädchen sie am Halse tragen. Köstlich ist der Gurt, der ihn umgürtet, Hinterm Gurt neun danziger Pistolen, Alle neun mit lautrem Gold umgossen; An der Hüfte ein beschlagner Säbel, An dem Säbel sind drei goldne Griffe, Blitzen draus hervor drei Edelsteine. Wohl drei Zarenstädte wiegt das Schwert auf! Ihm im Schoß liegt eine Ringelflinte, Dreißig Reife sind daran befestigt, Jeder Ring zehn Goldstück wohl an Werte! Am Visir von dreißig Goldstück einer! Ist mehr Gold daran, als grimmes Eisen.

Die Türken hocherfreut über die unerwartete und leichte Beute, werfen sich über den schlafenden Ritter, binden ihm die Arme rückwärts und treiben ihn vor sich hin in die Festung. Erst, als sie im offnen Felde waren, begann Mustaj-Beg: […] „Ој Бога ти, незнана катано! Откле ли си, од које л’ крајине? Како л’ тебе по имену вичу? Куда ли си био намислио?; Камо твоја дружина остала?“

[…] „O um Gott! du unbekannter Krieger! Woher bist du, und von welcher Gegend? Wie bist du genannt, mit welchem Namen? Und wohin hast du gedacht zu gehen? Wo sind deine übrigen Geführten?“

А катана њему проговара: „Што ме питаш, Мустај-беже Лички? Јеси л’ чуо Латинско приморје, Код приморја ришћанске Котаре; И у њима Јанковић-Стојана? Ја сам главом Јанковић Стојане; Нисам више ни имао друга, Осим Бога и себе једнога, А нијет сам био учинио,; Да се спустим до под твоју кулу, Да измамим Хајкуну ђевојку, Да одведем себе у Котаре, Па ми не би од Бога суђено: Проклето ми пиће преварило.“

Ihm entgegnete der fremde Krieger: „Warum fragst du, Mustaj-Beg von Lika? Hast du je von der latein’schen Küste, Von des christlichen Kotari Küste, Und dem Stojan Jankowitsch vernommen? Dieser Stojan bin ich und kein andrer! Nicht Begleiter noch Gefährten hatt ich, Gott alleinzig und ich selbst war mit mir! Und der Vorsatz, der mich hergeführet? Nah zu deinem Turme wollt ich gehen, Locken dorten Haikuna, das Madchen, Daß ich sie entführe nach Kotari. Doch es war von Gott mir nicht beschieden, Ein verwünscht Getränk hat mich verraten!“

252

Teil I Тада рече Мустај-беже Лички: „Бе аферим, Јанковић-Стојане! Баш си дошȏ у онога руке, Који ће те, море, оженити!“

Drauf versetzte Mustaj-Beg von Lika: „Bravo! Bravo! Stojan Jankowitsche! Bist da in die rechte Hand gefallen, Die dich nun vermählen kann, mein Bürschchen!“

So sprechend, erreichten sie die Festung und hielten vor dem Turm MustajBegs an. […] Испод куле Мустај бега Личког, Гледа чету мало и велико, И Хајкуна са бијеле куле Мила сестра Мустај-бега Личког, Пред њоме је ђерђеф од марџана, У рукама игла од биљура, Пуни злато по бијелу платну; Када виђе чету из планине, Они воде свезана јунака Код његова свијетла оружја,; Испред себе ђерђеф отурила, Двије му је ноге подломила, Па је собо била говорила: „Боже мили! чуда великога! Зла погледа у добра јунака! Како ли га Турци преварише, И без ране и без мртве главе Свезаше му руке наопако?“ Кад дружину на рачун узела, Ал’ не има друга седморице.

[…] Klein und Groß ersieht die Schar der Krieger, Haikuna auch aus dem weißen Turme, Liebe Schwester Mustaj-Begs von Lika. An dem Stickrahm sitzt sie, von Korallen, In den Händen Nadeln von Kristallen, Deckt mit rotem Gold das weiße Linnen. Als zurück sie sah die Jäger kehren, Einen Helden schwer in Banden führen, Trotz des Glanzes seiner mächtigen Waffen: Stieß voll Neugier sie den Rahmen von sich, Heftig, daß zwei Füße ihm zerbrachen, Sprach verwundert zu sich selbst die Worte: „Lieber Gott! welch wunderbar Ereignis! Wie so böse schaut der Held und tapfer! Wie wars möglich doch, ihn zu betrügen? Ohne totes Haupt und ohne Wunde, Sind die Händ ihm rückenangebunden!“ Aber als sie nun die Krieger zählte, Sieh, da fehlten sieben der Gefährten.“

Der Beg nahm nun die Waffen Stojans, gab sie der Hajkuna in die Schatzkammer zu tragen, und ließ ihn selbst in den 400 Ellen tiefen brunnenförmigen Kerker werfen, wo Wasser bis an die Knie und Menschenknochen bis an den Hals waren. – Alsdann ging Mustaj in die neue Schenke mit den Gefährten zu zechen, und vor Udbinjas Türken zu prahlen. […] Подиже се лијепа ђевојка, Она иде на тавничка врта, И донесе једну кову вина, На узицу спушта у тавницу, Са тавнице грлом довикује:

[…] Da erhebt sich schnell das schöne Mädchen, Schleicht sich leise nach des Kerkers Türe, Eine Kanne Weines trägt sie mit sich, Läßt mit Stricken nieder sie in Kerker, Ruft aus vollem Halse ins Gefängnis:

20. Vorlesung (9. März 1841)

253

„О јуначе, Бог те не убио! Откле ли си, од које л’ крајине? Како ли те Турци преварише, Те свезаше код оружја руке?“

„Fremder Held! dich möge Gott bewahren! Woher bist du und von welcher Gegend? Wie bist du genannt, mit welchem Namen? Wie bist du betrogen von den Türken, Daß sie dich trotz deiner Waffen banden?“

Узе Стојан, те он попи вино, Па ђевојци бјеше бесједио: „Ко ме виче са тавнице б’јеле? Пиво ми је грло преузело, Пусти мене на чекрк узицу, Извуци ме до пола тавнице, Па ћу тебе онда казивати.“

Stojan nahm die Kanne Wein und trank ihn; Dann erwiderte er dem Mädchen also: „Wer ists, der mich ruft aus meinem Kerker? Schnürte mir der Trunk den Hals zusammen, Laß mir den gedrehten Strick hinunter, Zieh mich bis zur Hälfte meines Kerkers, Was du fragst, will ich dir alles sagen!“

Als dies nun geschah, wiederholte der Ritter noch einmal seine Frage, und da er erfuhr, daß die Schwester des Beg mit ihm redete, rief er aus: […] „О Хајкуна, да те Бог убије! Ја сам главом Јанковић Стојане,; Ја сам с тебе допао тавнице; Пјана су ме Турци преварили, Те свезали наопако руке.“

[…] „Haikuna! O dich soll Gott erschlagen! Bin der Stojan Jankowitsch, kein andrer! Deinetwegen kam ich ins Gefängnis, Trunken hat der Türke mich betrogen, Und die Hände rückenangebunden!“

Nach diesen Erläuterungen sagte die Türkin dem Ritter, daß man ihn morgen töten würde, wenn er nicht zum Islam sich bekehren wolle, und fügte hinzu: […] Потурчи се, Јанковић Стојане, А ја ћу ти бити вјерна љуба. У мог брата Мустај-бега Личког Та имају двије куле блага: Једна моја, а друга његова; Ако буде мријети по реду, Хоће нама обје останути.“

[…] ,,Werd ein Türke, werd es, wackrer Stojan! Und ich will dir treue Gattin werden. Sieh, mein Bruder Mustaj-Beg von Lika, Hat zwei Türme voller Gold und Schätze, Sein ist einer, aber mein der andre; Wird der Tod die Folgenreihe halten, Werden wir einst beide Türme haben!“

Ihr erwidert Stojan Janković: […] „А не лудуј, Хајкуна ђевојко! Бога ми се не бих потурчио, Да ми даду Лику и Удбињу. Ја имадем у Котарим’ блага; Више, Богме, него у Турака, А бољи сам јунак од Турака. Ако Бог да, лијепа ђевојко!

[…] „Mädchen Haikuna, sprich nicht so töricht! Da sei Gott vor, daß ich Türke würde, Und erhielt ich Lika und Udbinja! Hab genug des Gutes in Kotari, Beim Allmächtigen, mehr wohl als die Türken. Bin ein bessrer Held auch, als die Türken!

254

Teil I Сјутра прије половине дана Окренуће скакат’ Котарани; По Удбињи и око Удбиње, Извадиће Стојка из тавнице.“

Wenn es Gott vergönnet, schönes Mädchen! Morgen, eh des Tages Hälft entflohen. Kommen die Kotarer angeflogen Kommen her nach Udbinja im Sturme, Und befreien mich aus dem Gefängnis.“

Одговара Туркиња ђевојка: „Бе не лудуј, Јанковић-Стојане! Докле твоји Котарани дођу,; Хоће тебе Турци погубити; Већ јеси ли, болан, вјере тврде, Да ћеш мене узет’ за љубовцу, Да избавим тебе из тавнице?“

Ihm entgegnete das Türkenmädchen: „Stojan Jankowitsch, sprich du nicht töricht! Eh sie nahn, die Krieger aus Kotari, Haben dich die Türken schon getötet! Aber bist du, Christ, getreuen Wortes, Willst du mich zu deiner Gattin nehmen, Selbst befrei ich dich aus dem Gefängnis.“

Stojan versicherte sie von seiner Redlichkeit und versprach sie zu ehelichen. Die Türkin ließ ihn wieder auf den Boden des Kerkers hinunter und eilte nach ihrer Wohnung. Mustaj aus dem Kaffeehause wiederkehrend, fand die Schwester sterbenskrank, besorgt fragte er, was ihr fehle? Das listige Mädchen antwortete: „Не питај ме, брате Мустај-беже! Забоље ме и срце и глава, Сву је мене зима обузела: Богме, брате, мријети ваљаде:; Већ ти сједи на меке душеке, Да ти паднем у криоце главом, Да ја пустим моју гр’јешну душу.“

„Frage mich nicht, Mustaj-Beg, mein Bruder! Schmerzt das Herz mich und der Kopf mich heftig, Fieberfrost hat gänzlich mich ergriffen; Gott, mein Bruder, sterben werd ich müssen! Setz dich auf dies weiche Polsterbette! Laß den Kopf in deinen Schoß mich legen, Daß ich aushauch meine sündige Seele!“

Der liebende Bruder weinte und drückte die sterbende Schwester an die Brust, sie aber steckte unterdessen die Hand in seinen Busen, und entwendete ihm drei Schlüssel von Kerker, Schatzkammer und Stall. Nachher beruhigte sie sich ein wenig. Mustaj verließ sie in der Hoffnung, daß sie etwas einschlummre, und ging selbst mit den Türken zu beratschlagen, welche Todesart der Gefangene zu erdulden habe. Kaum war er fort, als Haikuna vom Divan aufsprang, nach der Schatz- und Waffenkammer eilte, einen Hafersack mit Dukaten füllte, Stojans Waffen wegtrug und ihn aus dem Kerker in den Stall führte. Hier nahmen sie Mustajs weiße Kampfstute und seiner Gattin schwarzes Reitpferd, und beide entkamen glücklich. Jedoch hiermit endet die Romanze noch nicht. Als es wieder Abend wurde, wollte der Ritter unweit der Grenzen von Kotor, auf dem grünen Anger übernachten; Haikunas Bitten und guter Rat, unaufhaltsam weiter zu eilen, blieben fruchtlos. Das Haupt an die Knie des schönen Türkenmädchens gestützt, schlief er ruhig, sie aber konnte kein Auge zutun, die ganze Nacht besorgt dasitzend, blickte sie nach der Gegend von Udbinja.

20. Vorlesung (9. März 1841)

255

Da sah sie in der Ferne einen Staubwirbel in der Morgendämmerung sich erheben, und zugleich inmitten dieser Dampfwolke die Reiter, an ihrer Spitze den Mustaj. Stojan zu wecken, wagte sie nicht, und weinte nur; erst ihre heißen Tränen, die auf sein Gesicht und seine Stirn herabfielen, unterbrachen seinen Schlaf. Verwundert fragte er: […] „Што је тебе, Туркињо ђевојко! Те прољеваш сузе од очију? Ил’ ти жалиш брата Мустај-бега? Ил’ његова блага големога?; Ил’ ти није у вољу Стојане?“

[…] „Sprich, was fehlt dir, schönes Türkenmädchen! Daß dir Tränen aus den Augen strömen? Ist dir’s leid um deinen Bruder Mustaj? Ist dir’s leid um seine großen Schätze? Oder bin ich nicht nach deinem Sinne?“

Dies ist es nicht, antwortet Haikuna, sondern weist nach der nahenden Reiterschar, und beschwört ihn zu fliehen. Ganz ruhig erwidert aber Stojan: […] „Не ћу Богме, Хајкуна ђевојко, Жао су ми Турци учинили, У трави ме пјна притиснули, Сад се хоћу дариват’ са шуром; Већ ти јаши вранца од мејдана, А дај мене твојега ђогата, Побољи је мало од вранчића, Да ја идем шури у сретање.“370

[…] „Nimmer, schöne Türkin, tu ich dieses! Mich beleidigt haben schwer die Türken, Wie sie trunken mich im Grase banden. Jetzt will ich den Schwager schön beschenken! Steige du nun auf den Kampfesrappen; Aber mich laß jenes Roß besteigen, Das ein wenig besser, als der Rappe, Daß dem Schwager ich entgegen reite!“371

Nun folgte der Kampf; es versteht sich, daß der slavische Held siegte. Dreißig Türken hieb er zusammen, den Mustaj aber nahm er lebendig gefangen und ihm Gleiches mit Gleichem vergeltend, trieb er ihn mit auf den Rücken gebundenen Händen vor sich her. So zu Haikuna gelangend, wollte er ihn vor ihren Augen niederhauen, die Schwester rettete jedoch den Bruder durch Bitten. Stojan schenkte ihm das Leben zum Hochzeitsangebinde, und schickte ihn nach Udbinja zurück, mit der Mahnung, daß, wenn er wieder mit den Udbinjanern Wein trinke, er in allem die Wahrheit rede und nimmer lüge, taufte dann die schöne Türkin, heiratete sie und lebte sehr glücklich. Ähnliche romaneske Lieder gibt es an 20 in der Sammlung des Karadžić. Eine von ihnen beschreibt einen Zweikampf („Bajo Pivljanin i Beg Ljubović“), 370 „Ženidba Stojana Jankovića“ (Die Hochzeit des Stojan Janković). In: Vuk Stefanović Karadžić: Srpske narodne pjesme. Knjiga treća u kojoj su pjesme junačke srednijeh vremena. Beograd 1954, S. 123–134. 371 Bei Talvj „Stojan Jankowitsch“, Talvj II, S. 296–307.

256

Teil I

ein in den Ritterromanen erschöpfter Stoff: da er hier aber zwischen Türken und Slaven stattfindet, so wollen wir die Stellen anführen, welche die Weise des Verfahrens der beiden Parteien zeigen. Ein türkischer Beg fordert einen der slavischen Hauptmänner, der ihm früher seinen Bruder getötet, zum Zweikampf heraus. Der Geforderte bittet, er möge ihm die in der Jugend begangene Schuld verzeihen, und sagt, er wolle nicht wieder von Neuem Blut vergießen, wenn ihn das Glück begünstige. Er erbietet sich, das Kopfgeld für den Erschlagenen zu zahlen. Der Türke verwirft es, er schreibt einen zweiten Brief mit Beleidigungen, und stellt erniedrigende Bedingungen: […] „Ао Бајо, пивљанско копиле, ја се с тобом помирити нећу да ми дадеш хиљаду дуката док не дођеш мом бијелу двору, не пољубиш хрта међу очи, и кр’ата коња у копито, онда мене у скут и у руку, и преда мном у земљицу црну.“

[…] „Bajo! Schrieb er, du Pivaner Bastard! Nicht will ich mit dir mich je versöhnen, Gäbst du mir auch tausend Stück Dukaten, Bis du kommst nach meinem weißen Hofe, Meinen Windhund auf die Augen küssest, Mein arabisch Roß auf seine Hufe; Dann mir selbst demütig Saum und Hände, Mir zu Füßen drauf die schwarze Erde!“

Der Slave knirscht mit den Zähnen, und antwortet den Kampfplatz bezeichnend; dann ruft er seinen Bundesbruder, kleidet sich in Seide und Samt, nimmt zwei Schwerter und geht nach der besprochenen Stelle. Der Beg war schon angekommen, hatte sein Zelt aufgeschlagen und saß im Schatten, sich am kühlen Weine labend, den ihm sein Gefährte Šaban-Aga reichte. Der Pivaner Bajo trat ins Zelt, setzte sich zur Erde und sprach: […] „Добро јутро, беже Љубовићу, у зао час по ме или по те!“

[…] „Guten Tag, Beg Ljubowitsch, Sei nun mir, sei dir die Stunde unheilsam!“

Hierauf warf er ihm die beiden Schwerter quer über den Schoß, und setzte hinzu: […] „Ето, беже, два мача зелена, оба мача од једног ковача; ти избери кога теби драго, узми бољег, остави горега да не речеш да је пријевара“372.

[…] „Siehe, Beg, die beiden grünen Schwerter! Alle zwei von Einem Waffenschmiede, Wähl dir, welches Dir beliebt von beiden, Nimm das bessre, lasse mir das schlechtere. Daß du nicht, Du seist betrogen, sagest!“373

372 „Bajo Pivljanin i beg Ljubović“, Vuk 1954, III, S. 472, 474. 373 Bei Talvj „Verrat im Zweikampf“, Talvj II, S. 290, 292.

20. Vorlesung (9. März 1841)

257

Dies Anerbieten der Waffenwahl gehört zu derselben Sitte der Slaven, die sich überall zeigt, wo es auf eine Teilung ankommt. Bei der Erbschaftsteilung nach dem Tod der Eltern, bei einer sonst streitigen Sache, oder bei der Wahl der Verteidigungsmittel vor Gericht hat immer der jüngste Bruder, die angeklagte Partei, der vorgeladene Gegner das Recht der Wahl. Die von uns angeführten Gedichte haben mehrere hundert, auch bis tausend und einige hundert Zeilen, wie z.B. die Hochzeit des Crnojević. Es scheint wunderbar, daß so große dichterische Schöpfungen, nur von Munde zu Munde gehend, 300 Jahre bestehen konnten. In den Abhandlungen über die Homeriden haben diejenigen, welche Vicos und Wolfs System374 bekämpften, die Frage gestellt, wie es möglich gewesen, daß der Barbar jener Zeit die ungeheure Masse von Versen im Gedächtnis behalten? Dies scheint noch begreiflicher in Betreff der lyrischen Dichtung, insbesondere der Stellen, die lebhafteres Gefühl atmen. Indem der Dichter sich hier den Stoff wählte, konnte er in die Stimmung des Originals sich versetzen und war im Übrigen ganz frei; er spann weiter nach Belieben. Aber im Heldengedicht ist ein Thema gegeben, von dem nicht abzuweichen ist; es gibt wesentliche Teile desselben, man könnte sie die materiellen nennen, die man nicht umstellen noch umändern kann. Wie soll man z.B. die Aufzählung der häufig sehr zahlreichen Heere, wie die Ortsnamen, die Eigennamen, oder andere Geschlechtsableitungen und genaue Situationen verzieren und vervielfältigen; – und doch sind dies sehr anziehende Dinge in jedem Epos. Diesen Teil desselben vermochten die Kunstdichter nie nachzuahmen. Der sogenannte Katalog in Torquato Tassos „Das befreite Jerusalem“ [1. Gesang] ist ohne Geschmack; selbst Walter Scotts Beschreibungen langweilen häufig, weil es keine Gewißheit gibt für ihre Wahrheit, da hingegen die Geschichte mit Vertrauen auf die Angaben der Homerischen und auch slavischen Dichtungen sich stützt. Um sich dieses außerordentliche Beispiel der Gedächtniskräfte zu erklären, muß man die Geschichte und alle Einzelheiten des Zustands jener Völker kennen. Die Übung bewirkt viel, das ist gewiß, aber dies löst das Rätsel noch nicht. Die Slaven scheinen eine ausschließliche Gabe, das Gedächtnis der Vergangenheit zu besitzen, sie sind derselben ganz besonders ergeben, erträumen dieselbe nicht, schaffen sie auch nicht in Gedanken, sondern man kann sagen, sie sehen dieselbe vor Augen. Ihre Einbildung ist wie angesiedelt in den 374 G. Vico und F.A. Wolf tragen Zweifel an der Existenz des Dichters Homer vor. Vgl. Giambattista Vico: Principj di una scienza nuova d’intorno alla commune natura delle nazioni. Neapel 1725 (3. Ausgabe Neapel 1744); deutsche Übersetzung: Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der völker. Übersetzt von Erich Auerbach. Berlin 2000; Friedrich August Wolf: Prolegomena ad Homerum […]. Halle (Saale) 1795 (3. Auflage: Halle 1884; Reprint – Hildesheim 1963); deutsche Übersetzung: Prolegomena zu Homer. Übersetzt von Hermann Muchau. Leipzig 1908.

258

Teil I

vergangenen Zeiten, stets schaut sie dieselben, und ist immer bereit, nicht nur von den poetischen Überlieferungen, sondern auch von den am meisten prosaischen, alltäglichen und gleichgültigen Sachen geheime Worte zu lispeln. Im gewöhnlichen Treiben, beim Gerichtsverfahren, rufen sie die Vergangenheit zum Ratgeber und Zeugen auf, an das Gedächtnis der Greise wenden sie sich wie an ein Archiv. In der neulich durch Widenmann und Hauff in Stuttgart veröffentlichten Sammlung375 trifft man merkwürdige Beispiele dieser Art. Ein reisender Deutscher376 war unlängst Zeuge folgender Begebenheit. Etwa vor einigen fünfzig Jahren ging ein Mädchen, einer mächtigen slavischen Familie angehörig, in die Ansiedlung eines anderen Geschlechts. Unterwegs begegnete ihr ein Venezianer und beleidigte sie mit unanständigen Worten; und als sie bei ihrer Ankunft es den Nachbarn klagte, vernachlässigten diese ihre Beleidigung zu rächen. Hieraus entstanden Streitigkeiten zwischen den Ansiedlungen dieser beiden Geschlechter, und erst jetzt stellten sich die beiden Parteien vor ein Friedensgericht. Als nun die angeklagte Partei die erste Ursache des Streites leugnete, bezeugten die herbeigerufenen Greise, daß sie in der Tat in ihrer Kindheit von dem Vorfall des Mädchens mit dem Venezianer gehört hätten. Ivan Crnojević, dessen Abenteuer in dem Gedicht von der Hochzeit seines Sohnes erzählt sind, ist eine dermaßen bekannte Person, daß die Inländer ihn ihren alten Ivan nennen, als wenn er in ihrer Mitte noch lebte; dies führt öfters den Fremden in Irrtum, denn er ist am Anfang des 13. Jahrhunderts gestorben. Alles dies sind Elemente, die in den Inhalt des Heldengedichts eingehen, aus ihnen haben sich die Bruchstücke der slavischen Dichtung dieser Gattung gebildet; und je mehr jemand den Reichtum der Materialien erforschen wird, desto mehr wird ihn das glückliche Zusammentreffen von Umständen verwundern, das aus ähnlichen Stoffen eine „Ilias“ und „Odyssee“ geliefert hat. Das Schicksal der durch die Christen geraubten, getauften und geehelichten Türkinnen bietet desgleichen vielen Stoff für die slavische Poesie. So will z.B. ein junges Türkenmädchen, das von einem Ritter entführt worden, lieber sterben als ihren Glauben ändern; sie tritt auf den obersten Söller, und nach dem väterlichen Hause hinüberschauend, ruft sie:

375 Reisen und Reisebeschreibungen der älteren und neuesten Zeit, eine Sammlung der interessantesten Werke über Länder- und Staatenkunde, Geographie und Statistik. Hrsg. Eduard Widenmann und Hermann Hauff. Stuttgart-Tübingen. In dieser Reihe erschien dann anonym die Darstellung von Vuk Stefanović Karadžić – Montenegro und die Montenegriner. Ein Beitrag zur Kenntnis der europäischen Türkei und des serbischen Volkes. Stuttgart-Tübingen 1837. 376 Der Verfasser ist [Vuk Stefanović Karadžić]: Montenegro und die Montenegriner, op. cit; Begebenheit nicht gefunden.

20. Vorlesung (9. März 1841) „Бабин дворе, мој велики јаде! Мој мејтефе, мој велики страху, доста ти сам страха поднијела док сам ситну књигу научила!“377

259 „Vaterhaus, o du mein großes Herzleid! Meine Schule, einst mein großer Schrecken! Hast genug des Schreckens mir geschaffen, Als ich seine Schrift noch lernen mußte.“378

Hierauf nahm sie ihr Kleid zusammen und stürzte sich vom Turm: doch vergaß die Unglückliche, ihr langes Haargeflecht zusammenzurollen, und so blieb sie mit den Haaren am Haken eines Fensters hängen. Das arme Mädchen blieb in diesem Zustand, bis die Haare eins nach dem anderen zerrissen waren; alsdann stürzte sie tot zur Erde. Der Ritter baute ihr ein prächtiges Grabmahl. Die Begebenheiten, mögen sie von Wichtigkeit sein oder auch nur alltäglich und geringfügig, sind in diesen Dichtungen immer mit edlem Anstand erzählt. Nicht nur ehrbar ernst, sondern sogar edel ist ihr Charakter. Als in Frankreich die ersten Übersetzungen von der Sammlung des Vuk Stefanović Karadžić379 erschienen, haben die Kritiker dies bemerkt, und untersuchten nun, woher es komme, daß in dieser Poesie, die ganz und gar dem gemeinen Mann angehört, nichts „Pöbelhaftes“ sich vorfinde. Der Baron Ferdinand d’Eckstein380 bemerkt ganz mit Recht, daß die Grobheit in den Städten sich ausbrütet, das Landvolk aber, der ackerbauende Mann sich immer edel ausdrückt. Man könnte hinzufügen, daß die Römer auf diesen Unterschied immer Acht gaben. Die Poesie des Pöbels nannten sie trivial, d.h. marktschreierisch. Frei stand es bei ihnen den Bürgern Volksszenen aufzuführen, in welchen man Landleute und Soldaten auf die Bühne brachte; nie aber durfte eine Stadtposse gespielt werden, sie war streng verboten, und wer in derselben eine Rolle übernahm, der verlor die Bürgerwürde. Die eigentliche Posse und alle mit ihr verwandten Gattungen sind in den Städten ausgemistet worden. Ihr Anfang in Europa gehört den Deutschen zu den Zeiten der Reformation und des Verfalls der ritterlichen Poesie. Einer von Luthers Zeitgenossen, Hans Sachs381, veröffentlichte Spottverse, und schuf diese Gattung von Poesie und das satyrische Lustspiel. Diese Gattung konnte im Slaventum, wo es keine Städte gab, nie aufkommen. Die Satire ist den Slaven nicht im Geringsten eigen, sie besitzen sogar nicht einmal 377 „Opet tvrđa u vjeri“ (wörtlich: „Nochmals standhaft im Glauben“), in: Vuk 1953, I, S. 500. 378 Bei Talvj „Christ und Türkin“, Talvj II, S. 211–212. 379 Elise Voïart (1786–1866): Chants populaires des Serviens, recueillis par Wuk Stéphanowitsch, et traduits d’après Talvj, par Mme Elise Voïart. Bde. 1–2. Paris 1834. 380 Ferdinand d’Eckstein in seinen Aufsätzen: Chants du peuple serbe. In: Le Catholique, 1826, I, Nr. 2, S. 243–269 und II, Nr. 6, S. 373–410. 381 Hans Sachs (1494–1576); verfaßte mehr als 4000 Meistergesänge, ferner Schwänke und Fastnachttsspiele, Komödien und Tragödien; Hans Sachs ist eine der Hauptfiguren in Richard Wagners Oper „Die Meistersinger von Nürnberg“; vgl. Wilhelm Richard Berger: Hans Sachs. Schuhmacher und Poet. Frankfurt am Main 1994.

260

Teil I

jenen Urstoss derselben, den man bei den Völkern des Westens Witz nennt, und welcher immer etwas Gehässiges und Beißendes in sich enthält. In seiner Entwicklung erzeugt dieser Witz die Satire und das Lustspiel, beim Verfall aber die Verzerrung, die Karikatur. Im Gegensatz dazu strebt die wahrhafte Volkspoesie, die sogenannte gemeine, nach Erhabenheit; und wenn sie etwa abweicht von diesem Ziel, wenn sie fällt, sich durch Übertreibung versündigt, wird sie zuweilen sinnwidrig, niemals aber lächerlich. Diese Feststellung ist für die slavischen Poesie von grundsätzlicher Bedeutung. Sogar in den fröhlichen Liedern und noch mehr in den politischen Gesängen der Tschechen kann man kein einziges frivoles Stichwort finden. Die herzliche Fröhlichkeit könnte wohl ein anmutiges Lustspiel erzeugen, nie aber sich ins Satirische verirren. Die Satire bezeichnet übrigens immer das Zeitalter des Verfalls der Dichtung, zum Glück für die slavischen Länder ist sie in ihnen noch nicht ausgebrütet.382 Zwischen den romanesken Gedichten, der Liederpoesie oder den sogenannten Frauenliedern [ženske pjesme], über die uns noch zu sprechen übrigbleibt, befindet sich eine vermittelnde Gattung, die man phantastisch nennen könnte, weil derselben ein gewisses wunderbares Element zum Grunde liegt. Dieses Wunderbare tritt hier unter der Gestalt eines phantastischen Wesens, der Vila, auf. Anfänglich kam diese Ausgeburt allem Anschein nach von den Fremden. Die Vila ist etwas den Genien, Gnomen, Sylphen Ähnliches, sie vereint in sich die Eigenschaften aller dieser Phantasiegeschöpfe. Die Dichter stellen sie immer als eine außerordentlich schöne Jungfrau dar. Sie erhebt sich in den Lüften, jagt den Wolken nach. Gefahrlich ist’s, ihr zu begegnen, und besonders ihre Spiele zu stören. Zuweilen gibt sie dem Reisenden guten Rat, häufiger jedoch täuscht sie ihn lieber. Wie die ganze Mythologie der Slaven weder Anfang noch Ende hat, so ist es auch unbekannt, woher dieses Wesen gekommen, und welchen Zweck es gehabt. In der poetischen Maschinerie wirkt diese Springfeder sehr einfach und kann die Kräfte nicht vertreten, welche die Mythologie der germanischen und keltischen Völker darbietet. Wir erblicken sie in sehr alten, noch dem Heldenzeitalter der Nemanjiden angehörenden Dichtungen, in der Legende von der Gründung der Stadt Skadar („Zidanje Skadra“). Der König Vukašin beschloß mit seinen Brüdern eine Feste zu bauen, aber die herbeigeführten Handwerker arbeiteten drei Jahre vergeblich, denn immer 382 Mickiewicz kannte offensichtlicht nicht die Komödien des kroatischen Dichters Marin Držić (1508–1567) – vgl.: Leksikon Marina Držića. Hrsg. Sonja Martinović. Zagreb 2009; ferner die Komödien des serbischen Dichters Jovan Sterija Popović (1806–1856); schließlich die Werke von Nikolaj V. Gogol’ (1809–1852), mit dem er 1836 in Paris Kontakt hatte; vgl. dazu H.  Batowski: Przyjaciele Słowianie. Szkice historyczne z życia Mickiewicza. Warszawa 1956, S. 48.

20. Vorlesung (9. März 1841)

261

wichen die erhobenen Mauern auseinander, oder versanken in die Tiefe. Endlich zeigt sich dem König die Vila und kündigt an, daß die Festung niemals fertig würde, wenn er nicht zwei Geschwister, genannt Stoja und Stojana, fände. Als die Nachsuchungen in dieser Hinsicht zu Nichts geführt, erklärt wiederum die Vila des Waldes dem Vukašin, daß er umsonst Arbeit und Geld verschwende, wenn er ihr nicht willfahrend, in die Wand der Feste ein Weib seiner Familie lebendig vermaure. Die Gattinnen der drei herrschenden Brüder trugen, nach der Sitte Homerischer Zeiten, den Männern das Essen an den Fluß Bojana, wo diese die Arbeiter beaufsichtigten. Die Vila gebot diejenige zu opfern, welche morgen zuerst mit dem Frühstück käme. Vukašin benachrichtigt hiervon die Brüder, er beratschlagt mit ihnen, und alle drei stimmen dafür, sich dem Schicksal zu unterwerfen, und geloben einander, davon zu schweigen. Aber der König selbst verrät das Geheimnis zuerst, er warnt die Frau, nicht aus dem Hause zu gehen. Der zweite Bruder macht es ebenso; nur der Jüngste hielt Wort und sagte der seinigen nichts. Den anderen Tag stand die Sonne schon hoch, die beiden älteren Schwägerinnen beschäftigten sich mit etwas Anderem und trafen keine Anstalt, mit dem Essen an den Fluß zu gehen; die dritte hatte desgleichen Ursache zum Bleiben, denn sie wartete ein Kindlein in der Wiege, das nicht längst geboren. Ihre alte Mutter wollte für sie gehen, aber die in ihrer Pflichterfüllung eifrige Gattin sprach: […] „Седи, вели, наша стара мајко, те ти њијај чедо у колевци! Да ја носим господскога ручка; од бога је велика греота, а од људи зазор и срамота, код три снае да ти носиш ручак.“

[…] „Ruhig bleibe sitzen, meine Mutter! Schaukle mir das Kindlein in der Wiege, Daß ich selbst das Mahl den Herren bringe; War es doch vor Gott gar große Sünde, Und vor allen Leuten Schimpf und Schande, Wenn statt unsrer Dreie du es brächtest.“

Als der jüngste Bruder seine Frau ankommen sah, stürzte er ihr weinend entgegen, umarmte und küßte sie wehmütig klagend. Doch Vukašin ließ ihn nicht lange trauen, sondern nahm die Schwägerin bei der Hand, führte sie dem Maurermeister zu und bedeutete ihm, was er zu tun habe. Der Meister rief sogleich die Handwerker herbei, die sich frisch an die Arbeit machten. Lächelnd sah die Unglückliche dem Treiben zu, nicht wissend, was der Scherz zu bedeuten habe: doch bald ergriff sie Grauen. Die Mauer ging schon bis an ihre Knie; entsetzt rief sie den Mann zur Hilfe, dieser aber lief davon, ohne sich umzusehen. Man mauerte weiter, und die Steine umschlossen sie schon bis über die Hüften; in Verzweiflung flehte sie um Mitleid zum König, doch dieser und alle liefen fort, sich die Ohren zuhaltend. Da wandte sie sich an den Meister:

262

Teil I […] „Богом брате, Раде неимаре, остави ми прозор на дојкама, истури ми моје б’јеле дојке, каде дође мој нејаки Јово,: каде дође, да подоји дојке!“

[…] „Du, in Gott mein Bruder, lieber Meister! Laß ein Fensterlein an meiner Brust mir, Laß hinaus die weiße Brust mich halten, Wenn mein Säugling kommt, das Kind Johannes, Wenn er kommt, daß ich ihm Nahrung reiche!“

Der Meister erbarmte sich, und ließ ihr ein Fensterchen an der Brust: […] Опет, тужна, Рада дозивала: „Богом брате, Раде неимаре, остави ми прозор на очима: да ја гледам ка бијелу двору кад ће мене Јова доносити и ка двору опет односити.“383

[…] Und noch einmal flehte sie zum Meister: „Ich beschwöre dich, in Gott mein Bruder; Laß ein Fensterlein mir an den Augen, Daß ich schau nach meinem weißen Hofe, Wenn sie mir das Kind Johannes bringen, Und wenn man nach Haus ihn wieder träget!“384

Auch diese Bitte erfüllte der Meister. Nach der Sage lebte sie ein ganzes Jahr, durch ein Wunder erhalten, und verwandelte sich nachher in einen Stein, aus dem noch heute zwei Quellen, die eine von Tränen, die andere von Milch, sickern. Es ist dies die slavische Niobe. Die Erzählung scheint jedoch tatarischen Ursprungs zu sein, denn der Gedanke, Leute einzumauern, ist im Widerspruch mit den Sitten der Slaven, und erinnert an den gewöhnlichen Brauch der Mongolen. Ein zweites phantastisches Gedicht voller Anmut erzählt die Erscheinung eines Knaben nach dem Tod. Eine Mutter hatte neun hübsche Knaben, das zehnte Kind war eine Tochter, die schönste unter den Geschwistern, mit Namen Jelica. Die Mutter war Witwe, und erzog ihre Kinder bis zu der Zeit, wo die Söhne heiraten und die Tochter sich vermählen konnte. Drei Freier kamen und warben um ihre Hand: der eine war ein Ban, der andere Woiwode, und der dritte ein naher Nachbar. Die Mutter hätte den Letzten am liebsten zum Eidam gehabt, Jelica neigte sich dem Woiwoden zu, die Brüder aber waren für den überseeischen Aga gestimmt.

383 „Zidanje Skadra“ (Die Erbauung Skadars [Skutari, heute Shkodër in Albanien]), Vuk, II, S. 119, 122–123. 384 Bei Talvj „Erbauung Skadar’s“, Talvj I, S. 78–86.

263

20. Vorlesung (9. März 1841) […] „Ја ти пођи, наша мила сејо, Ја ти пођи с преко мора бану, Ми ћемо те често походити: У години свакога мјесеца, У мјесецу сваке неђељице.“

[…] „Gehe nur, du unsre liebe Schwester, Geh nur mit dem Bane überm Meere! Geh nur, oft besuchen dich die Brüder, Kommen zu dir jeden Mond im Jahre, Kommen zu dir jede Woch im Monde!“

Das Mädchen gab den Bitten und Versprechungen nach, sie ging mit dem Aga übers Meer. Doch es verstrich ein Jahr, ein zweites und ein drittes, keiner von den Brüdern ließ sich blicken; alle waren an der Pest gestorben, die einzige Mutter blieb verschont als arme verwaiste Greisin. Jelica weinte Tag und Nacht betend und stöhnend: […] „Мили Боже, чуда великога! Што сам врло браћи згријешила, Те ме браћа походити не ће?“ Њу ми коре млоге јетрвице: Кучко једна, наша јетрвице! „Ти си врло браћи омрзнула, Те те браћа походити не ће.“

[…] „Lieber Himmel, welch ein großes Wunder! Wie hab ich an ihnen mich versündigt, Daß die Brüder nimmer zu mir kommen!“ Und es höhnten sie die Schwägerinnen: „Du Verworfene! Deine Brüder müssen Dich verachten, daß sie nimmer kommen!“

Gott im Himmel erbarmte sich ihrer und befahl zweien Engeln: […] „Ид’те доље, два моја анђела, До бијела гроба Јованова, Јованова, брата најмлађега, Вашијем га духом заданите, Од гроба му коња начините, Од земљице мијес’те колаче, Од покрова режите дарове; Спремите га сестри у походе.“

[…] „Geht hinunter, meine beiden Engel! Zu dem weißen Grabe des Johannes, Des Johannes, ihres jüngsten Bruders. Haucht den Knaben an mit eurem Geiste: Aus dem weißen Grabstein macht ein Roß ihm, Und ein Brot bereitet ihm aus Erde, Aber aus dem Leichentuch Geschenke; Rüstet ihn, daß er zur Schwester gehe!“

Die Engel vollführen den Befehl, der Jüngling wird durch ein Wunder erweckt, und nachdem er den Befehl erhalten, nicht über einige Tage zu weilen, setzt er sich zu Roß und reist nach der Wohnung des Aga. Die Schwester, ihn von weitem erblickend, eilt heraus, den Bruder zu bewillkommnen, sie weint vor Freuden, hält ihm die lange Vergessenheit vor, und inmitten des Schluchzens und der Umarmungen fragt sie ihn mit einem Mal: „Што си тако, брате, потавњео Баш кан’ да си под земљицом био?“

„Sag, warum bist du so grau geworden, Grad als wär’st im Grabe du gewesen?“

264

Teil I

Der Knabe entgegnet ihr: „Шути, сејо, ако Бога знадеш! Мене јесте голема невоља: Док сам осам брата оженио, И дворио осам милих снаха; А како се браћа иженише, Девет б’јелих кућа начинисмо; За то сам ти поцрњео, сејо.“

„Schweige, Schwester, wenn du Gott erkennest, Denn gar großes Leid hat mich befallen; Hab ich die acht Brüder doch vermählet, Aufgewartet den acht Schwägerinnen; Aber als sie all vermählet waren, Da erbauten wir neun weiße Häuser. Sieh, davon bin ich so schwarz geworden!“

Drei Tage blieb der Bruder bei der Schwester, sie freuten sich, und weinten; als er dann abreisen wollte, bestand Jelica durchaus darauf, ihn bis zur Mutter zurückzubegleiten. Umsonst suchte er sie auf alle Weise davon abzubringen. Sie machten sich also zusammen auf die Reise und gelangten in das heimatliche Dorf. Vor diesem stand eine Kirche; Jovan hielt an und sprach zu Jelica: […] „Ти почекај, моја мила сејо, Док ја одем за бијелу цркву: Кад смо средњег брата оженили, Ја сам златан прстен изгубио, Да потражим, моја мила сејо.“385

[…] „Warte hier ein wenig, liebe Schwester, Bis ich nach der weißen Kirche gehe; Als den mittlern Bruder wir vermählten, Hab ich dort den goldnen Ring verloren, Laß mich suchen, laß mich, meine Schwester!“386

Er entfernte sich und verschwand. Jelica konnte ihn nicht zurück erwarten, sie ging seiner Spur nach, und erblickte auf dem Friedhof neun Gräber; an einem derselben war die Erde frisch umgewühlt, und aus dem Grabe ließ sich ein schneidender Wehton vernehmen. Sie eilt nun ins Dorf, kommt an die Wohnung der Mutter und hört in derselben den traurigen Ruf des Kuckucks. Nicht der graue Kuckuck war’s, fügt der Dichter hinzu, sondern die verwirrte greise Mutter, die ihre Kinder beweinte. Sie erkannte die Tochter nicht, und meinte, die Pest sei wieder an der Schwelle. Die Slaven stellten sich nämlich die Pest als eine weibliche Gestalt vor, die unter verschiedenem Vorwand sich in die Häuser einlädt, und, einmal hineingeschlüpft, alles tötet. Endlich reißt Jelica die Mutter aus dem Irrtum, sie stürzen sich in die Arme und sinken tot zur Erde. Es sollte uns hier auffallen, daß die Slaven der christlichen Religion entnommene Vorstellungen in ihre Poesie einführen und den eigenen Aberglauben an die Vampire ganz vermeiden; ebenso wie die Dichtung der Kelten nicht häufig den Glauben an das doppelte Gesicht berührt, welches doch bei ihnen in den 385 „Braća i sestra“ (Die Brüder und die Schwester), Vuk, II, S. 41. 386 Bei Talvj „Jeliza und ihre Brüder“, Talvj I, S. 295–299.

20. Vorlesung (9. März 1841)

265

Erzählungen des gemeinen Mannes eine große Rolle spielt. Möglich, daß jenes Grausen, welches solche Dinge verursachen, die Dichter abschreckt, sich damit zu befassen, und daß übrigens diese Art des Wunderbaren zu der sehr plastischen Form der slavischen Dichtung nicht paßt. Sie ist daher hier auch gänzlich ausgeschlossen; mit Ausnahme der Vila, die nichts Grausenhaftes, nichts weder etwa sehr Erhabenes, noch Tiefes an sich hat, tritt keine übernatürliche Erscheinung hier auf; die upiory gehören ganz zu den Fabeln oder den Sagen des Volks. Unlängst, wie schon erwähnt, hat ein tschechischer Schriftsteller387 etliche von diesen Fabeln veröffentlicht, wir werden einige Worte hierüber sprechen, um eine nähere Kenntnis jener abergläubischen Meinungen, die im Slaventum ausgebrütet, und von vielen älteren und neueren Völkerschaften angenommen sind, zu erleichtern. Wir sagten früher, daß der upiór (von den Italienern Vampir genannt, Strix bei den Klassikern) eine zwiefache Seele, ein doppeltes Herz, ein gutes und schlechtes haben soll; dieses satanische Herz wirkt allein nach dem Tode, zuweilen jedoch auch schon im Leben, es ist die Ursache des Unglücks. Der Mensch, der ein satanisches Herz besitzt, soll im 18. oder 20. Lebensjahre schon von seinen Brüdern, den upiory, angefallen werden; er versteht ihre Sprache, die keinem anderen verständlich ist, lernt die Bedeutung ihrer Winke usw. Nun stiehlt er sich aus dem Haus, und vom Mondlicht geführt, trifft er den Ort, wo sie ihren Sabbath halten, nämlich die Beratungen, auf welche Weise die Bevölkerung zu vernichten sei. Den upiór erkennt man an der gelben Gesichtsfarbe und an jenem Augenglanz, welchen der englische Dichter Charles Robert Maturin in „Melmoth the Wanderer“388 im Sinne der Volkserzählungen und Lord Byron389 beschrieben haben. Dem Gedicht zufolge geht ein Bettler durch ein slavisches, von der Pestlust betroffenes Dorf; er spricht in einer Hütte um Almosen an, und bemerkt eine Katze, welche schnurrend alle Winkel des Hauses durchstöbert. Als er sie genau betrachtet, däucht ihm, als hätten ihre Augen Ähnlichkeit mit denen einer ihm bekannten Frau. Er greift daher nach dem Messer, und haut dem Kätzchen eine Pfote ab. Die Katze verschwand sogleich, und die Pest hörte im Dorfe auf; der Bettler aber begegnete nach einiger Zeit der Frau des dortigen

387 Gemeint ist der ukrainische Forscher Ivan M. Vahylevyč (1811–1866); Pseudonym Dalibor; Autor der Abhandlung: „O upjrech i wid’mách“. In: Časopis Českého Musem, 14. Jg. (1840), Bd.. III, S. 231–261; darin befinden sich auch ukrainische Erzählungen über Vampire. Vgl. die 15. Vorlesung (Teil I). 388 Charles Robert Maturin (1782–1824); deutsche Übersetzung: Malmoth der Wanderer. Übersetzt von Friedrich Polakovics. München 1969. 389 Vgl. 15. Vorlesung (Teil I).

266

Teil I

Popen mit verbundener Hand, und überzeugte sich so, daß sie es gewesen, die sich in eine Katze verwandelt hatte. Eine Menge ähnlicher Fabeln kreist in den slavischen Ländern umher. Es gibt in denselben weitläufigen Erzählungen, wie die upiory sich unter einander verständigen, wie sie sich gegenseitig helfen, auch zuweilen harten Kampf führen. Gewöhnlich umgeben sie einen Menschen, welcher bestimmt ist, ihr Gefährte zu werden, ziehen ihn zu ihrem Haufen, und führen nicht geheure, grauenhafte Spiele auf, die erst mit dem Hahnschrei enden. Man hat an 50 wunderliche Worte, die vorzugsweise in der Sprache der upioren vorkommen sollen, gesammelt, deren Entstehen übrigens unbekannt ist.390 An eines wollen wir hiebei erinnern, daß die griechischen Dichter neben den Namen der Örter zuweilen die Namen derselben beifügen, wie sie in der Sprache der Götter gebraucht werden; sie berufen sich auf das himmlische Wörterverzeichnis. Man ist nicht darüber einig, was den Anfang zu einer solchen Sage gegeben; nur so viel ist gewiß, daß, wie gesagt, der Glaube an upiory, wenngleich er allgemein in den slavischen Ländern sich erhalten, und vielen Fabeln, die sogar in die Dichtungen des Abendlandes übergingen, den Ursprung gegeben hat, dennoch nicht im Mindesten auf die slavische Dichtung Einfluß äußert; denn dieser Aberglaube erweckt das Gefühl des Entsetzens, und der slavische Stil könnte dabei nicht Herr seiner selbst bleiben. Es bleibt uns einiges Besondere in der idyllischen, oder weil sie fast ausschließlich von Frauen und der Jugend gesungen und gedichtet wird, in den sogenannten Frauenliedern zu erwähnen übrig. Auf keine Weise ist es möglich, sie einer der bekannten Gattungen zuzuteilen. Nach den Einteilungen der Schule wollen einige Schriftsteller die lyrische und lyrisch-epische Dichtung in ihr erkennen.391

390 Quelle nicht ermittelt. 391 Vgl. J.W. Goethe: Serbische Lieder [1825]. In: J.W. Goethe: Schriften zur Literatur. Zweiter Teil. dtv Gesamtausgabe. Bd. 32. München 1962, S. 77–87; Jacob Grimm: Vorrede. In: Wuk’s Stephanovitsch kleine Serbische Grammatik, verdeutscht von Jacob Grimm. Leipzig und Berlin 1824; Krešimir Georgijević: Srpskohrvatska narodna pesma u poljskoj književnosti, op. cit., S. 149–156.

21. Vorlesung (12. März 1841) Bruchstück aus dem Gedicht „Die Hochzeit des Königssohn Marko“ (Ženidba Kraljevića Marka) – Die Frauenlieder (Ženske pjesme) – „Gesang vom Tod der Gattin des HasanAga“ (Hasanagica) – Fürst Miloš Obrenović – Vuks Sänger.

Als wir die Bemerkung machten, daß der slavischen Dichtung das komische und satirische Element392 ganz und gar fremd ist, sagten wir, daß diese Poesie dennoch die herzliche und aufheiternde Fröhlichkeit nicht ausschließt. Zum Beweis kann man eine unterhaltende Szene aus dem Gedicht von der Heirat des Königsohnes Marko anführen. Nachdem Marko die Hand der bulgarischen Prinzessin erhalten, kehrte er mit der Verlobten, wie gewöhnlich unter zahlreichem Gefolge von Freunden und weither zusammen gebetenen Gästen, zurück. Der Pate oder Trauungsvater war der Doge von Venedig; der Brautführer ein Verwandter des Königsohns. Unterwegs hob der Wind zufällig den Schleier der Fürstin; der in der Nähe weilende Doge erblickte ein wunderbar schönes Antlitz, und entbrannte vor Begierde. Aber um die Braut zu verführen, war es zuerst nötig, den Brautführer zu gewinnen. Der Venezianer bietet ihm einen Stiefel voll Dukaten, er bietet ihm einen zweiten und dritten, bis endlich der Erkaufte die ihm anvertraute Jungfrau ins Zelt des Dogen bringt. Der Doge nähert sich, nötigt sie zum Sitzen, und erklärt ihr seine Liebe; die entsetzte Prinzessin stößt ihn zurück, und ruft: […] „Болан куме, дужде од Млетака! Под нам’ ће се земља провалити, А више нас небо проломити […].“

[…] „Armer Pate, Doge von Venedig! Schnell verschlingen würde uns die Erde, Über uns zusamm’ der Himmel stürzen!“

Hierauf antwortet der Doge, der dem Don Juan ähnelt, daß er schon viele Traurings- und sogar Tauftöchter geküßt, und doch stehe die Erde fest unter seinen Füßen, auch sei der Himmel Gott sei Dank noch unversehrt. Die Fürstin sucht sich nun mit Ausflüchten zu helfen, sie gibt vor, die Mutter habe ihr verboten, irgend jemals einen bärtigen Mann zu küssen. Der Doge läßt sogleich den Bader rufen, und den Bart abscheren. Die Verlobte sammelt unbemerkt die Haare in ihr Taschentuch; und um zu erfahren, wo das Zelt ihres Verlobten sei, stellt sie sich besorgt, daß Marko in der Nähe das Gespräch hören könnte. Der Doge beruhigt sie und setzt hinzu: 392 Vgl. die 20. Vorlesung (Teil I).

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_022

268

Teil I […] „Ено Марка на среди сватова, Ђе је бијел чадор разапео, На чадору јабука од злата, У јабуци два камена драга, Те се види до полу сватова; Већ ти сједи, да се милујемо.“393

[…] In der Gäste Mitte ist der Marko, Wo das weiße Zelt dort aufgeschlagen, Das geziert ist mit dem goldnen Apfel Und der Apfel mit zwei Edelsteinen. Dort siehst du’s auf des Feldes Mitte! Aber setze dich, daß ich dich küsse!“394

Dies brauchte sie nur zu wissen: unter einem Vorwand geht sie für einen Augenblick aus dem Zelt, eilt aber sogleich in ihres Gatten Schutz. Marko nimmt anfänglich diesen unzeitigen Besuch übel auf, doch, nachdem er alles erfahren, begibt er sich zu den treubrüchigen Freunden und fragt nach der Verlobten. Der Venezianer will die ganze Sache in Scherz verwandeln; sagt, er begreife es nicht, daß das Volk, unter welchem er sich befinde, keinen Scherz verstehe. Marko läßt ihn nicht länger reden, er zeigt den Bart vor als Beweis des bösen Plans. Hier schon wird die Sache tragisch, es erfolgt der Tod des Dogen und des Brautführers. Dieses Bruchstück ist eine komische Szene. Die Griechen leiten den Beginn ihres Lustspiels auch von Homer ab, bei welchem sich jener Thersites395 vorfindet, der später für Aristophanes das Muster wurde. Aber diese Szene wird ruhig und ernsthaft erzählt; nie dürfen wir vergessen, daß dies durch den Mund blinder Greise geschieht, die es sich als eine Verletzung ihrer Würde anrechneten, wenn sie einen leichtsinnigen Scherz oder ein zweideutiges Wörtchen wiederholten. Was die Frauenlieder [„ženske pjesme“] betrifft, so sind diese äußerst schwer zu sammeln, weil man sie nur in den Häusern oder während der Spiele der versammelten Jugend singt. In die Öffentlichkeit treten sie nur durch Vermittlung der blinden Frauen, welche diese „weiblichen Lieder“ herumtragen, wie die Greise die Heldengedichte; jedoch ist hierbei zu bemerken, daß, wenn die Greise das Original häufig verbessern, die alten Weiber im Gegenteil meist die serbische Poesie verderben; sie nehmen ihr jenes Aroma, jenes Musikalische des Stils, das ihre Hauptvorzüge ausmacht. Nichts Anmutigeres gibt es, als den Stil dieser Lieder: er ist sogar besser und genauer als derjenige der Heldenlieder. Es ist die höchste Vollkommenheit, zu welcher der slavische Stil sich erheben konnte. Diese Anmut rührt gewiß von der Reinheit der Sitten, von der streng bewahrten Bescheidenheit im Leben dieses Volkes her. Darum wird 393 „Ženidba Marka Kraljevića“ (Die Hochzeit des Königssohns Marko), Vuk, II, S. 327–328. 394 Bei Talvj „Heirat des Königssohnes Marko“ – Talvj I, S. 154–163. 395 Über Thersites, den häßlichen, geschwätzigen, feigen und ungeliebten Helden im Kampf um Troja vgl. „Ilias“ (Zweites Buch, Verse 212–277); vgl. die Komödien von Aristophanes „Die Ritter“, „Die Wolken“.

21. Vorlesung (12. März 1841)

269

die Kunst auch nie dazu gelangen, die jungfräuliche Unschuld der slavischen Volkslieder nachzuahmen, gerade so wie es unmöglich ist, die naiven Bewegungen eines Kindes nachzubilden. Diese Liedchen lassen sich in keine schulgemäße Einteilung bringen. Es ist dies weder eine lyrische noch dramatische Dichtung; es gab keine solche bei den Griechen, kaum findet sich davon eine Spur in einigen Bruchstücken der „Griechischen Anthologie“ (Anthologia Graeca). Es sind dies kleine Gefühlsbilder, und zwar von Gefühlen, die öfters ohne Ursache und Zweck zu sein scheinen. Die Griechen auf Sizilien haben in Folge der Betrachtung ihrer Volkslieder, einen Schritt weiter getan, und eine neue Gattung, bekannt unter dem Namen der Idyllen, geschaffen. Theokrit verlieh ihr den dramatischen Charakter; aber öfters verdarb er sie durch Einführung gar zu künstlicher Zusammenstellungen. Andere große Dichter, wie Moschos und Bion396, hielten sich in derselben vielmehr an die lyrische Form; der reinste Urstoff dieser Gattung blieb jedoch bei den Slaven. Am meisten fesselt die Aufmerksamkeit die Harmonie, d.h. die vollkommene Wahl der Form, die genaue Übereinstimmung des Gefühls mit der Sprache. Denn das Gefühl, durch den gehörigen Ton nicht wiedergegeben, wird zum Nachäffen, gerade wie die verfehlte Bewegung zur Grimasse. Alle Augenblicke widerfährt dieses den germanischen Dichtern des Mittelalters, da im Gegenteil die slavischen von diesem Fehler gänzlich frei sind. Wir wollen hier einige der in Rede stehenden Liedchen anführen, um davon eine Vorstellung zu geben. Zuerst ein Liedchen „Das serbische Mädchen“ betitelt, welches von allen Schriftstellern, die in dieser Poesie sich umgesehen, zu den schönsten gerechnet wird. У Милице дуге трепавице, прекриле јој румен’ јагодице, јагодице и бијело лице. Ја је гледах три године дана; не могох јој очи сагледати, црне очи, ни бијело лице, већ сакупих коло ђевојака, и у колу Милицу ђевојку, — не бих ли јој очи сагледао.

Hat schön Miliza gar lange Brauen, Sie bedecken ihr die roten Wänglein, Roten Wänglein und das weiße Antlitz. Habe sie gesehn drei lange Jahre, Konnt ihr nicht ins schöne Auge schauen, Nicht ins Auge, noch ins weiße Antlitz. Da zum Ringeltanze lud ich Mädchen, Lud zum Tanz Miliza auch, die Jungfrau, Ob ich nicht ins Aug ihr schauen könne?

396 Moschos (2. Jh. v. Chr.) – altgriechischer Grammatiker und bukolischer Dichter. Vgl. August Meineke: Theocriti, Bionis et Moschi carmina. Accedit brevis annotatio critica. Leipzig 1825; Eduard Mörike, Friedrich Notter: Theokritos, Bion und Moschos: Deutsch im Versmaße der Urschrift. Stuttgart 1855; Bion von Smyrna (lebte um das Jahr 100 v. Chr.) – schrieb bukolische Gedichte nach dem Vorbild von Theokrit.

270

Teil I Als sie Ringeltänz’ im Grase tanzten, Када коло на трави играше, War es heiter – Plötzlich überzog sichs, бјеше ведро, пак се наоблачи. Daß der Blitz erglänzte durch die Wolken, По облаку зас’јеваше муње, све ђевојке к небу погледаше, Und die Mädchen all gen Himmel schauten. ал’ не гледа Милица ђевојка, Nur Miliza tat es nicht, die Jungfrau, већ преда се у зелену траву. Sah ins grüne Gras, sowie sie pflegte. Ђевојке јој тихо говорише: Flüsternd redeten die andern Mädchen: „Ој Милице, наша другарице, „O Miliza! Freundin und Gespielin! ил’ си луда, ил’ одвише мудра, Bist du überklug, wie? Oder albern? те све гледаш у зелену траву, Daß du stets das grüne Gras bestehest, а не гледаш с нама у облаке, Nicht mit uns auf nach den Wolken blickest, ђе се муње вију по облаку?“ Nach den Wolken, die der Blitz durchАл’ говори Милица ђевојка: schlängelt?“ Ihnen drauf erwiderte Milica: „Нит’ сам луда, нит’ одвише мудра, „Weder bin ich überklug, noch albern; нит’ сам вила — да збијам облаке, Auch die Wila nicht, die Wolken sammelt, већ ђевојка — да гледам преда Bin ein Mädchen, darum seh ich vor се.“397 mich.“398

Man kann einige Bruchstücke ähnlicher Art bei den griechischen Dichtern finden. Hier ist ein zweites Lied: Ђул дјевојка под ђулом заспала, ђул се круни, те дјевојку буди. Дјевојка је ђулу говорила: „А мој ђуле, не круни се на ме! Није мени до штано је теби, већ је мени до моје невоље: млад ме проси, за стара ме дају. Стар је војно трула јаворина; вјетар дува, јаворину љуља; киша иде, јаворина труне. Млад је војно ружа напупила, вјетар дува, ружа се развија; а од кише бива веселија; сунце сија, она руменија“.399

Unter Rosen schläft das Mädchen Rose, Eine Rose fällt und weckt die Rose. Spricht das Mädchen da zur Blume Rose: „Falle nicht auf mich, ach meine Rose! Nicht ist mir der Sinn wie Dir gestellet, Habe nur mein großes Leid im Herzen. Freit ein Jüngling mich – ein Greis erhält mich! Ist ein alter Gatt’ ein fauler Ahorn: Weht der Wind – erschüttert schwankt der Ahorn; Regen fällt, und mehr und mehr verfault er. Junger Gatte, eine Rosenknospe: Weht der Wind – es öffnet sich die Rose; Regen fällt – sie glänzt in freudiger Schöne; Scheint die Sonne – rot und röter strahlt sie.“400

Dieses Lied gehört schon einer anderen Gattung an; es gibt wenige der Art. Die einfachen sind die häufigsten, ähnlich den griechischen, besonders den uralten, wie wir sie in der Anthologia Graeca finden. Zum Beispiel: 397 „Srpska đevojka“ (Serbisches Mädchen) – Vuk, I, S. 453–454. 398 Talvj „Serbische Mädchensitte“, Talvj II, S. 23. 399 „Đevojka se tuži đulu“ (Das Mädchen beklagt sich bei der Rose), Vuk, I, S. 307. 400 Bei Talvj „Alt und jung“ – Talvj II, S. 118.

271

21. Vorlesung (12. März 1841) С вечера је киша ударила, у по ноћи поледица пала. Ја се диго да потражим драга, и ја нађо зелену ливаду; на ливади мог драга долама, на долами свилена марама, на марами сребрна тамбура, код тамбуре зелена јабука. Ја размишља мисли свакојаке: ако би му доламу узела, млад је зелен, бојим се озепшће; ако би му мараму узела, мараму сам у милости дала; ако би му тамбуру узела, тамбуру су моја браћа дала. А ја мисли све на једно смисли: загришћу му зелену јабуку, — нека знаде, да сам долазила, да сам моје драго облазила.401

Gestern Abend strömte Regen nieder, In der Nacht war Glatteis drauf gefallen. Und ich ging den Liebsten aufzusuchen. Sieh, da fand ich auf der grünen Wiese, Auf der Wiese meines Liebsten Dolman; Auf dem Dolman lag sein seiden Tüchlein, Drauf von Silber seine Tamburine, Bei der Tamburin ein grüner Apfel. Und ich sann, ein jedes übersinnend: Wenn ich weg des Liebsten Dolman nähme, Fürcht ich, daß der zarte Jung erfröre; Wenn ich weg das seidne Tüchlein nähme, War das Tuch einst meiner Liebe Gabe; Wenn ich weg die Tamburine nähme, Ist sie ein Geschenk von meinen Brüdern. Sann und sann, bis ich das Ein ersonnen: In den grünen Apfel will ich beißen, Will ich beißen, aber nicht ihn essen, Daß er wisse, ich sei da gewesen, Da gewesen, meinen Freund zu suchen.402

Nun noch ein Lied in griechischer Weise: Седи мома у градини, бразду бразди, воду мами — да намами у градину, да залива рано цвеће, рано цвеће: бел босиљак, бел босиљак, жут каранфил. Где браздила, ту заспала: вргла главу у босиљак, вргла руке у каранфил, вргла ноге у водицу, покрила се танком крпом; избила је ситна роса, као летњу препелицу, к’о јесењу лубеницу. Отуд иде лудо младо, лудо младо нежењено, увати се за два коца, па прескочи у градину, па говори лудо младо: „Да л’ да берем киту цвећа?

In dem Garten saß das Mädchen, Grub die Furche für das Wasser, Daß sie’s in den Garten leite, Frühe Blumen zu begießen, Frühe Blumen, gelbe Nelken, Und Basilikum, das weiße. Wo sie grub, sank sie in Schlummer, Legt den Kopf in das Basilikum, Steckt die Hände in die Nelken, Setzt die Füße in das Bächlein, Deckt sich zu mit dünnen Tüchern. Senkt der Tau sich darauf nieder, Wie auf eine Sommerwachtel, Wie auf eine Herbstarbuse. Sieh, da kommt ein junges Fäntchen, Junggeselle war das Fäntchen, Schwingt, sich auf zwei Pfähle stützend, Sich hinüber in den Garten. Und es spricht das junge Fäntchen: „Soll ich einen Strauß mir pflücken?

401 „Žalostiva draga“ (Die fürsorgliche Geliebte), in: Vuk I, S. 372. 402 Bei Talvj „Des Mädchens Zweifel“, Talvj II, S. 138.

272

Teil I Да л’ да љубим младу мому? Кита цвећа мал до подне, — млада мома мал до века!“403

Soll das schöne Kind ich küssen? Hab am Strauß ’nen Schatz bis Mittag, An der Jungfrau ewig einen.“404

Wählen wir endlich noch „Liebende Besorgnis“: „Пјевала бих, ал’ не могу сама, драгог ми је забољела глава, пак ће чути, те ће зажалити, и рећи ће да не хајем зањга. А ја хајем, и душицу дајем; куд гођ ходим, на срцу га носим — као мати чедо премалено.“405

„Singen möcht ich, doch ich darfs nicht heute, Denn es schmerzt das liebe Haupt dem Freunde. Hören würd er’s, und im Herzen trauern, Sagen, daß ich nicht um ihn besorgt sei. Doch ich sorg um ihn, und gäb die Seele; Trag ihn auf dem Herzen, wo ich weile, Wie die Mutter ihren kleinsten Liebling.“406

„Nachtigal, sing nicht so frühe“: Славуј-пиле, мори, не пој рано, — еј Недељо, мори, дилберо! — не буди ми господара: сама сам га успавала, сама ћу га и будити: отићи ћу у градину, узабраћу струк босиљка, уд’рићу га по образу: „Устај, аго, устај, драго!“ И он ће се пробудити.407

Nachtigall, sing nicht so frühe! Wecke mir nicht meinen Herren! Selbst hab ich ihn eingeschläfert, Selbst will ich ihn auch erwecken! Will ins Gärtchen draußen gehen, Und Basilienstauden pflücken, Will damit die Wang ihm streicheln, Und der Liebste wird erwachen!408

Das Denkmal: Под Будимом овце пландовале; отисла се ст’јена од Будима, те побила свилоруне овце, и убила два млада овчара: Шећер-Марка и Андрију Злато. Марка жали и отац и мајка,

Dicht bei Buda ruhten Schaf im Schatten, Stürzt ein Stein von Budas Wällen nieder, Tötete viel seidenwoll’ge Schafe, Und erschlug zwei junge Schäferknaben: Mark, den Süßen, und den goldnen Andres. Vater, Mutter um den Marko trauern;

403 „Djevojka je imanje do vijeka“ (Ein Mädchen ist ein ewiges Gut), in: Vuk I, S. 350. 404 Bei Talvj „Zweifel“ – Talvj II, S. 33. 405 „Pjevala bih, al’ ne mogu sama“ (Ich möchte singen, kann es aber nicht allein), in: Vuk I, S. 398. 406 Bei Talvj „Liebende Besorgnis“ – Talvj II, S. 64. 407 „Slavuju, da ne pjeva rano“ (Nachtigal, sing nicht so früh), in: Vuk I, S. 430. 408 Bei Talvj „Nachtigal, sing nicht so frühe“, Talvj II, S. 57.

273

21. Vorlesung (12. März 1841) а Андрију ни отац ни мајка, него једна из села дјевојка; жалила га, па је говорила: „Јаој, Андро, моје чисто злато! Ако бих те у пјесму пјевала, пјесма иде од уста до уста, па ће доћи у погана уста. Ако бих те у рукаве везла, рукав ће се одмах издерати, па ће твоје име погинути. Ако бих те у књигу писала, књига иде од руке до руке, па ће доћи у погане руке.“409

Ach, um Andres Vater nicht noch Mutter! Nur allein ein Mädchen aus dem Dorfe Trauerte um ihn, und sprach die Worte: „Weh, Andreas, o mein reines Gold du! Soll ich dich in einem Lied besingen? Ach, von Mund zu Munde geht das Lied ja, Bis es kommt auf ungeweihte Lippen! Soll dein Bild ich in den Ärmel sticken? Ach, der Ärmel wird in Stücken reißen, Und dein Name mit ihm untergehen! Soll ich dich in einem Buch beschreiben? Gehen wird von Hand zu Hand das Büchlein, Bis es kommt in ungeweihte Hände! Darum grab ich in mein Herz dich ein, Dort soll Lieber dir’s am wohlsten sein!“410

Selbstgespräch: Девојка је лице умивала, умивајућ’ лицу беседила: „Да знам, лице, да ће те стар љубит’, ја би ишла у гору зелену, сав би пелен по гори побрала, из њега би воду исцедила, и њом би те свако јутро прала; кад стар љуби, нека му је горко! А да знадем да ће млад љубити, ја би ишла у зелену башчу, сву би ружу по башчи побрала, пак би воду из ње исцедила, и њом би те свако јутро прала; кад млад љуби, нека му мирише, нек мирише, и нек му је драго! Волим с младим по гори одити, нег’ са старим по бијелу двору; волим с младим на камену спати нег’ са старим у меканој свили.“411

Wäscht ihr schönes Angesicht das Mädchen, Und sie spricht, die holden Wangen netzend: „Wüßt ich, daß ein Greis dich küssen würde, Antlitz, ging ich nach dem grünen Walde, Sammelte dort alle Wermutskräuter, Brühte sie und machte draus ein Wasser, Wüsche dich damit jedweden Morgen, Daß der Kuß dem Alten bitter schmecke. Aber wüßt ich, daß ein Jüngling käme, Gehn würd ich in den grünen Garten, Alle Rosen mir im Garten pflücken, Und daraus ein Wasser mir bereiten, Dich damit jedweden Morgen waschen, Daß der Kuß dem Jünglinge wohl dufte, Wohl ihm dufte, und sein Herz erquicke. Lieber ging mit ihm ich ins Gebirge, Als beim Alten ich im Hofe bliebe, Lieber auf dem Felsen mit ihm schlafen, Als auf weicher Seide mit dem Alten.“412

409 „Kako žali djevojka“ (Wie das Mädchen klagt), in: Vuk I, S. 425. 410 Bei Talvj „Irdische Denkmäler“ – Talvj II, S. 77. 411 „Opet djevojka i lice“ (Nochmals das Mädchen und das Antlitz), in: Vuk I, S. 310. 412 Bei Talvj „Selbstgespräch“ – Talvj II, S. 29.

274

Teil I

„Des Mädchens Fluch“: Везир Зејна по бостану везла, по бостану и по ђулистану. Мајка Зејну на вечеру звала: „Оди, Зејно, вечер’ вечерати, вечерати шећерли-баклаву!“ Зејна мајци тијо одговара: „Вечерајте, мене не чекајте! Није мени до ваше вечере, већ је мени до моје невоље: данас ми је драги долазио, и велики зулум починио: по башчи ми цвеће почупао, на ђерђефу свилу замрсио. Кун’ га, мајко, обе да кунемо! Тавница му моја недра била! Руке моје – синџир око врата! Уста моја очи му испила!“413

Im Melonengarten stickt schön Smilja, Im Melonengarten unter Nelken, Mutter rief zur Abendmahlzeit Smilja: „Komm, schön Smilja, komm zur Abendmahlzeit!“ Aber sie erwiderte der Mutter: „Speiset immer, harret mein nicht heute! Nicht das Abendmahl liegt mir am Herzen, Habe nur mein großes Leid im Sinne. Heute ist der Liebste mir gekommen, Hat gar großen Schaden angerichtet, Im Geheg die Blumen mir zertreten, An der Arbeit mir verwirrt die Seide. Fluch ihm, Mutter, daß wir Beid’ ihm fluchen: Ein Gefängnis sei dem Freund mein Busen! Meine Arme Ketten seinem Halse! Und mein Mund soll ihm das Aug’ aussaugen!“414

Aus diesen wenigen Liedern kann man sich einen Begriff von der ganzen Gattung machen. Die meisten unter ihnen sind aber höchst einfach; nur das letzte der oben angeführten hat gewissermaßen eine Art komischer Wendung. Zur Reihe der erstem gehört folgendes: Умре Конда једини у мајке. Жао мајци Конду закопати, закопати далеко од двора, већ га носи у зелену башчу, те га копа под жуту неранчу. Свако га је јутро облазила: „Сине Конда, јел’ ти земља тешка, ил’ су тешке даске јаворове?“ Проговара Конда из земљице: „Није мени, мајко, земља тешка, нит’ су тешке даске јаворове, већ су тешке клетве девојачке: кад уздишу, до бога се чује;

Konda starb – er, seiner Mutter Einz’ger! Weint die Mutter; will ihn fern vom Hofe, Fern von ihrem Hofe nicht bestatten, Trägt ihn in des Hauses grünen Garten, Begräbt ihn unter goldne Pomeranzenbäume; Und sie schleicht zu ihm jedweden Morgen. „Sprich Sohn Konda, drückt dich wohl die Erde? Stöhnst du um den Druck der Ahornbretter?“ Horch, da haucht es aus der Tiefe leise: „Nicht die Erd’ ist’s, die mich drückt, o Mutter,

413 „Zejnina kletva“ (Zejnas Fluch), in: Vuk I, S. 404. 414 Bei Talvj „Des Mädchens Fluch“, Talvj II, S.  51. Den Namen des Mädchen „Vezir Zejna“ ersetzt hier Therese A.L. von Jacob durch Smilja.

275

21. Vorlesung (12. März 1841) кад закуну, сва се земља тресе; кад заплачу, и богу је жао!“415

Nicht die Ahornbretter meiner Wohnung – Was mich quält, der Schmerz ist’s der Geliebten! Grämen sie sich, so dringts bis zum Himmel; Seufzen sie, so dröhnt die ganze Erde, Weinen sie, so muß es Gott erbarmen.“416

Der Einklang der Darstellung mit dem Inhalt rührt in diesen Liedern daher, daß sie Erzeugnisse der augenblicklichen Begeisterung sind. Diese ganze Poesie ist eine Blüte, die sich auf einmal und in ihrer vollen Kraft entfaltet. Man muß es wissen, auf welche Weise gewöhnlich die Strophen der Art entstehen. Die Burschen und Mädchen sprechen bei gemeinsamen Spaziergängen und Belustigungen in einigen Versen alles aus, was sich bei dem einen oder dem anderen stärker im Gedanken und im Herzen regt. Beim Anblick der schönen Natur, in diesem Augenblick poetischer Rührung, wenn der zivilisierte Mensch einen Bleistift sucht, um die Landschaft abzubilden, oder andere zum Betrachten einlädt; singt sich der Serbe ein Liedchen, und hat er die wahre Dichtung getroffen, da braucht er sie nicht zu wiederholen, denn nach den Gesetzen, welche in der sittlichen Welt ebenso gewiß sind, wie die physischen in der materiellen, wird die wahre Form zu einer ewigen; man behält sie leicht, sie drückt sich in der Seele ab, und es vergißt sie weder derjenige, der sie selbst gebildet, noch die, welche sie gehört. Ebenso wie z.B. in Frankreich ein treffendes Wort, ein witziger Einfall sogleich das ganze Land durchfliegt und überall wiederholt wird, so gelangt in Serbien jedes poetische Bildchen, jeder musikalische Gesang zur Kenntnis aller Menschen, wird zum Gemeingut. Es gibt keinen Menschen, dem nicht im Leben ein Augenblick schöpferischer Begeisterung zu Teil geworden, und aus den Denkmälern solcher Augenblicke, aus den so geschaffenen Strophen entstehen Lieder. Aber diese Gesänge sind nur eine Sammlung und keine Entwicklung von Motiven, etwas, was für die Kunst nicht passen würde. Der Künstler kann und muß oft die Motive entfalten, um nicht in Wiederholung oder handwerksmäßiges Aneinanderleimen zu geraten; hier im Gegenteil sammelt das Volk die ursprunglichen Keime der Dichtung selbst, die Anfangsgründe der Kunst, so zu sagen. Wie uns das slavische Epos darstellt, was die Rhapsoden vor Homer waren, so sehen wir auch in den Liedern der Serben die Geschichte der griechischen idyllischen Dichtung. Die Idee und die Form in dieser Dichtung sind aus einem Guß, eng mit einander verschmolzen. Erst die Kunst beginnt sie später zu trennen und zu entwickeln, und dann erscheint Verschiedenheit des Stils; dieser Stil endlich, 415 „Kletve djevojačke“ (Der Mädchen Flüche), In: Vuk I, S. 291. 416 Bei Talvj „Der Mädchen Flüche“, Talvj II, S. 84.

276

Teil I

immer mehr in Gattungen eingeteilt, zersetzt sich gänzlich und geht in Prosa über. Wenn die Rhetorik edle Ausdrücke von unedlen, rhetorische Wendungen von gewöhnlichen, einen erhabenen Stil von einem blumenreichen zu unterscheiden anfängt, dann kann man schon den Beginn der Prosa erkennen. In der slavischen Poesie berühren sich alle Stilarten, es herrscht in ihnen ein Unterschied nach den Gefühlen und Gedanken, die sie ausdrücken, aber es findet sich in der Form selbst kein stark hervortretender Gegensatz. Was würde man z.B. in Frankreich sagen, wenn jemand einem berühmten Tragiker neben den Versen von Racine und Corneille417 eine Strophe von Clément Marot, Marc Antoine Désaugier oder Pierre-Jean Béranger418 in den Mund legte? Ließe sich solche Mischung begreifen? Und bei den Slaven geht dieses an. Ein Bruchstück eines Frauenliedes läßt sich bei ihnen trefflich mit einem Heldengedicht verschmelzen, wenn der Rhythmus derselbe ist. Das Heldengedicht seinerseits verwandelt sich sehr leicht ins Drama. Es reicht hin, Gespräche zu formieren, Abschnitte unter Personen zu verteilen, um aus einem Epos ein gutes Bühnenstück zu bilden. Einer von den jetzigen talentvollen Schriftstellern, Sima Milutinović, hat unlängst ein Trauerspiel419 herausgegeben, das von den Slaven mit Beifall aufgenommen wurde. Dieses Trauerspiel enthält eine Menge Bruchstücke (die natürlich je ein kleines Ganzes bilden) aus dem Gedicht von der Schlacht auf Kosovo. Lazars Worte, die Antworten seiner Frau sind wörtlich angeführt. Der Dichter stimmte selbst sein tragisches Gebilde nach dem Kammerton eines Volksliedes und wußte dem ganzen Stücke neben der Färbung des Altertums einen Hauch von Einfachheit der Volksdichtung zu verleihen. Der Rhythmus der Lieder ist von dem des Epos sehr verschieden. Fast alle griechischen Formen, mit einigen der Sprache wegen nötigen Abänderungen, vom gewöhnlichsten Versmaß an bis zum künstlichen Bau der alkäischen und sapphischen Strophe, findet man in den weiblichen Liedern wieder. Dies Lied erhebt sich auch leicht zum ernsten Ton des Trauerspiels, und das schönste 417 Jean Baptiste Racine (1639–1699); vgl. John Sayer: Jean Racine. Life and legend. Oxford 2006; Pierre Corneille (1606–1684); vgl. Georges Couton: Corneille et la tragédie politique. Paris 1985. 418 Clément Marot (1497–1544) – C.  Marot: Œuvres poétiques completes. Paris 1990–1993, 2 Bde.; Marc-Antoine-Madeleine Désaugiers (1772–1827) – M.A.  Désaugiers: Chansons et poesies diverses. Paris 1855; Pierre-Jean de Béranger (1780–1857) – Die Nachtigall mit der Adlersklaue: Bérangers Lieder in deutschen Übersetzungen (1822–1904) von Dietmar Rieger. Tübingen 1993; Französische Chansons: von Béranger bis Barbara; französisch/ deutsch, ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Dietmar Rieger. Stuttgart 1988. 419 Simeon Milutinović (1791–1848) – ТРАГЕДІА ОБИЛИЋЪ матично сочинѣниіе Симеона Милутиновиђа Сарайліе. Leipzig 1837. Vgl. auch Mickiewiczs  16. Vorlesung (Teil III).

21. Vorlesung (12. März 1841)

277

Beispiel dieser Gattung ist der Gesang vom Tode der Gattin des Hasan-Aga („Hasanagica“), der erste, den man in Europa kennen gelernt und veröffentlicht hat. Der Abbé Alberto Fortis420 hörte und schrieb ihn französisch nieder, später aber erschienen andere Übersetzungen. Goethe, von der reizenden Einfachheit dieses Gedichtes eingenommen, hat es ins Deutsche übertragen. Merkwürdig, daß Goethe, welcher das Slavische nicht verstand, und den Text nur aus drei Übersetzungen erriet, überall das Falsche derselben erkannte, und von allen die treueste Übersetzung lieferte.421 Es ist ein türkisches Lied; die slavischen Türken, d.h. die Slaven, welche den Islam bekennen, haben ihre Volkssprache nicht vergessen und nicht verlassen, sie singen slavisch: Шта се б’јели у гори зеленој? Ал’ је снијег, ал’ су лабудови? Да је снијег, већ би окопнио; лабудови већ би полетјели. Нит’ је снијег, нит’ су лабудови, него шатор аге Хасан-аге; он болује од љутијех рана. Облази га мати и сестрица, а љубовца од стида не могла.

Was ist Weißes dort am grünen Bergwald? Ist es Schnee wohl, oder sind es Schwäne? Wär es Schnee, er wäre weggeschmolzen, Wären’s Schwäne, wären weggeflogen, Weder ist es Schnee, noch sind es Schwäne, ’s ist das Zelt des Aga Hassan-Aga, Wo er niederliegt an schlimmen Wunden. Ihn besucht die Mutter und die Schwester, Doch vor Scham vermag es nicht die Gattin.

Кад ли му је ранам’ боље било, он поручи вјерној љуби својој: „Не чекај ме у двору б’јелому, ни у двору, ни у роду мому!“ Кад кадуна р’јечи разумјела, још је јадна у тој мисли стала јека стаде коња око двора. Тад побјеже Хасанагиница да врат ломи куле низ пенџере; за њом трче дв’је ћере дјевојке: „Врати нам се, мила мајко наша; није ово бабо Хасан-ага,

Als er nun genas von seiner Wunde, Da entbot er seiner treuen Gattin: „Harre meiner nicht am weißen Hofe, Nicht am Hofe und nicht bei den Meinen.“ Als die edle Frau dies Wort vernommen, Blieb erstarrt sie stehn vor großem Leide. Als sie Rosseshufschlag hört am Hofe, Da entflieht des Hassan-Agas Gattin, Will sich aus des Turmes Fenster stürzen; Folgen eilend ihr zwei liebe Töchter. „Kehr zu uns zurück, liebe Mutter, Nicht der Vater ist es, Hassan-Aga,

420 Abate Alberto Fortis: Viaggio in Dalmazia. 2 Bde., Venedig 1774. (Reprint: München 1974). 421 Johann Wolfgang Goethe: KLAGGESANG von der edlen Frauen des Asan Aga, aus dem Morlackischen. In: Johan Wolfgang Goethe: Sämtliche Gedichte. Erster Teil. dtv Gesamtausgabe. Band  1. München 1961, S.  267–269; vgl. auch J.W.  Goethe: Serbische Lieder [1825]. In: J.W. Goethe: Schriften zur Literatur. Zweiter Teil. dtv Gesamtausgabe. Bd. 32. München 1962, S. 77–87. Analyse und Kommentare zu „Hasanagica“ vgl. Milan Ćurčin: Das serbische Volkslied in der deutschen Literatur. Leipzig 1905 (= Diss. Wien). Serbische Übersetzung von Branimir Živojinović: Milan Ćurčin: Srpska narodna pesma u nemačkoj književnosti. Beograd-Pančevo 1987, S. 46–88; ferner Jevto M. Milović: Übertragung slavischer Volkslieder aus Goethes Briefnachlaß. Leipzig 1939, der J. Kopitars, P. Šafaříks und Vuk S. Karadžićs Übersetzungen für Goethe dokumentiert und analysiert.

278

Teil I већ даиџа Пинтеровић беже“. И врати се Хасанагиница, тер се вјеша брату око врата: „Да мој брате, велике срамоте — гдје ме шаље од петеро дјеце!“ Беже мучи, ништа не говори, већ се маша у џепе свионе, и вади јој књигу опрошћења да узимље потпуно вјенчање, да гре с њиме мајци унатраге.

Ist der Beg Pinterowitsch, der Oheim!“ Und es kehret Hassan-Agas Gattin, Hängt sich jammernd um den Hals dem Bruder: „O mein Bruder, o der großen Schande! Von fünf Kindern will er mich vertreiben!“ Schweigt der Beg und redet keine Silbe. Und er greift in seine seidne Tasche, Zieht darauf heraus den Brief der Scheidung, Daß sie frei zur greisen Mutter kehre, Einem anderen sich zu vermählen.

Кад кадуна књигу проучила, два је сина у чело љубила, а дв’је ћере у румена лица; а с малахним у бешици синком од’јелит се никако не могла, већ је братац за руке узео и једва је с синком раставио, тер је меће к себи на коњица; с њоме греде двору бијелому.

Als die edle Frau den Brief durchlesen, Küßt sie auf die Stirn die beiden Söhne, Auf die roten Wangen beide Töchter; Aber von dem Kleinsten in der Wiege, Nicht vermag sie’s, sich von ihm zu trennen. Bei der Hand nimmt sie der Bruder endlich, Reißt sie mühsam los vom zarten Knaben, Reitet mit ihr nach dem weißen Hofe.

У роду је мало вр’јеме стала, мало вр’јеме, ни недјељу дана; добра када и од рода добра, добру каду просе са свих страна, а највише имоски кадија. Кадуна се брату своме моли: „Ај тако те не желила, брацо, немој мене дават ни за кога, да не пуца јадно срце моје гледајући сиротице своје“. Али беже ништа не хајаше, већ њу даје имоском кадији.

Kurze Zeit nur weilt sie bei den ihren, Kurze Zeit, noch keiner Woche Tage, Ward die edle Frau von edlem Stamme, Ward die Frau begehrt von allen Seiten, Auch vom großen Kadi von Imoschki. Bittet sehr die edle Frau den Bruder: „Ich beschwöre dich bei deinem Leben, Wolle keinem andern mich vermählen, Daß mir nicht das Herz, das arme, breche, Wenn ich meine Waisen wiedersehe!“ Doch der Bruder achtet nicht ihr Flehen, Sagt sie zu dem Kadi von Imoschki.

Још кадуна брату се мољаше да напише листак б’јеле књиге, да је шаље имоском кадији: „Дјевојка те л’јепо поздрављаше а у књизи л’јепо те мољаше: кад покупиш господу сватове и кад пођеш њеном б’јелу двору, дуг покривач носи на дјевојку — када буде аги мимо двора да не види сиротице своје“.

Und noch einmal bat die Frau den Bruder, Daß ein weißes Briefblatt er beschreibe Und es senden solle an den Kadi: „Es begrüßt die junge Frau dich freundlich, Bittet dich mit diesem Briefe bestens, Wenn du edle Hochzeitsgäste ladest Und nach ihrem weißen Hofe ziehest, Woll ihr einen langen Schleier bringen, Daß sie drin ihr Angesicht verhülle, Wenn sie vor des Aga Hof vorbeikommt, Daß sie ihre Waisen nicht mehr schaue!“

279

21. Vorlesung (12. März 1841) Кад кадији б’јела књига дође, господу је свате покупио; свате купи, греде по дјевојку. Добро свати дошли до дјевојке, и здраво се повратили с њоме;

Als das weiße Schreiben kam zu Kadi, Sammelte er edle Hochzeitsleute, Zog mit ihnen, heim die Braut zu führen. Glücklich kamen sie zu ihrer Wohnung, Glücklich kehrten sie mit ihr zurücke.

а кад били аги мимо двора, дв’је је ћерце с пенџера гледаху, а два сина пред њу исхођаху, тере својој мајци говораху:

Aber als sie vor des Aga Hofe Sahn die beiden Töchter aus dem Fenster, Vor der Türe traten beide Söhne, Und sie riefen an die Liebe Mutter:

„Сврати нам се, мила мајко наша, да ми тебе ужинати дамо“. Кад то чула Хасанагиница, старјешини свата говорила: „Богом брате, свата старјешина, устави ми коње уза двора, да дарујем сиротице моје“.

„Kehr zu uns zurück, liebe Mutter, Daß das Mittagsmahl wir mit dir teilen!“ Als dies hörte Hassan-Agas Gattin, Sprach zum Ältesten sie des Hochzeitszuges: „Ältester, o du in Gott mein Bruder! Laß die Rosse hier am Hofe halten, Daß ich meine Waisen noch beschenke!“

Уставише коње уза двора. Своју дјецу л’јепо даровала: сваком сину ноже позлаћене, свакој ћери чоху до пољане; а малому у бешици синку, њему шаље убошке хаљине.

Und die Rosse hielten vor dem Hofe, Schön beschenkte sie die lieben Kinder, Gab den Söhnen goldne Lederstrümpchen, Gab den Töchtern ungeschnittnes Laken, Und dem kleinsten Knäblein in der Wiege Sendet sie auch ein seidnes Kleidchen.

А то гледа јунак Хасан-ага, пак дозивље до два сина своја: „Ход’те амо, сиротице моје, кад се неће смиловати на вас мајка ваша срца каменога“. Кад то чула Хасанагиница, б’јелим лицем у земљу удрила; упут се је с душом раставила од жалости, гледајућ сироте.422

Als der Held da sah dies, Hassan-Aga, Rief er zu sich seine beiden Söhne: „Kommt zu mir, ihr, meine armen Waisen, Nicht Erbarmen wird sie mit euch fühlen, Denn von Stein ein Herz hat eure Mutter!“ Als dies Hassan-Agas Gattin hörte, Schlug zu Boden sie mit weißem Antlitz, Und erplötzlich riß sich los die Seele Bei dem Schmerzensanblick ihrer Waisen.423

Man findet viele ähnliche Gedichte unter den Schöpfungen der moslimischen Dichter, aber sie sind im Allgemeinen der Form nach nicht so vollkommen, wenn sie auch mehr Kraft und mehr tragischen Geist besitzen. Obgleich die Moslime die Sprache und alle Formen des slavischen Stils gebrauchen, so 422 „Hasanagica“, Vuk III, S. 538–543. 423 Bei Talvj „Hasan-Agas Gattin“, Talvj II, S. 271–274.

280

Teil I

lassen sie sich in der Poesie immer von der Neigung zum Übertreiben hinreißen, welche den orientalischen Völkern eigentümlich, und den albanesischen und bosnischen Slaven durch den Koran, wie es scheint, mitgeteilt worden ist. Hier unterdrückt gewöhnlich die Form den Gedanken, und die Gedanken dringen oft mit Gewalt durch die Form hindurch. So z.B. schaut der Dichter, indem er die Macht der Augen einer berühmten Schönheit beschreiben will, auf die Stadt Travnik und ruft: Што се оно Травник замаглио?! Или гори, ил’ га куга мори? Ил’ га Јања очим’ запалила? — Нити гори, нит’ га куга мори, већ га Јања очим’ запалила, изгореше два нова дућана, два дућана, и нова механа, и мешћема, гдје кадија суди.424

„Was so schwarz umhüllet stehet Trawnik? Brennt es drinnen? Rast die Pest in Trawnik? Oder ist’s von Janja’s Aug entzündet? Nein es brennt nicht, nicht die Pest rast drinnen; Doch entzündet ist’s von Janjas Augen. Abgebrannt sind schon zwei neue Läden, Ja, zwei Läden und die neue Schenke, Das Gericht auch, wo der Kadi Recht spricht.“425

Man möchte fast glauben, daß es ein Scherzgedicht ist, und doch hat es der moslimische Dichter ganz ernstlich gemeint. An einer anderen Stelle klagt die Mutter über ein Mädchen, welches die Ruhe ihrer Söhne vernichtet, und droht dieselbe in einem Turm einzuschließen. Das Mädchen antwortet kaltblütig, daß es mit seinem Blick die Mauern durchbohren, die eisernen Türen durchbrechen und den Turm umstürzen würde.426 Deutlich sieht man hier den orientalischen Charakter. Alle diese Gedichte sind der Sammlung von Vuk Stefanowić Karadžić entnommen, welcher schon vier Bände herausgegeben hat, und wenigstens noch einen fünften und sechsten verspricht. Unlängst erst hat man begonnen, an solche Sammlungen zu denken. Am schwersten ist es, die Frauenlieder zu sammeln, denn wie gesagt, die alten Weiber verderben ihren Text und die jüngern wollen nicht singen; wenn man sie darum bittet, antworten sie zornig, sie seien keine blinden alten Weiber. Das einzige Mittel ist, sich deshalb an die Kinder zu wenden; das herangelockte Kind singt, und die Mädchen verbessern dann jeden Fehler; so erhält man zuweilen das vollständige Lied. Die romanesken Lieder fahren noch fort bei den Slaven zu blühen und sich zu verzweigen; der Geist, welcher diese Dichtungsart geschaffen, lebt noch in 424 „Travnik zapaljen očima“ (Travnik durch Augen entzündet), in: Vuk I, S. 507. 425 Bei Talvj „ Travnik von Augen entzündet“, Talvj II, S. 217. 426 „Oči sokolove i đavolove“, Vuk  I, S.  391; bei Talvj „Fakenaugen, Teufelsaugen“, Talvj II, S. 218.

21. Vorlesung (12. März 1841)

281

seiner ganzen Kraft, der Geist des Epos hingegen scheint sehr geschwächt zu sein. Vuk Stefanović, wie wir angedeutet, verdankt das Erworbene meistenteils einem Rhapsoden427, den er im Elend fand. Dieser sonderbare Mensch, zuerst reisender Kaufmann, später Räuber im Gebirge, und dennoch – nach der Aussage von Vuk selbst – bieder und ehrlich, fristete endlich sein Leben dadurch, daß er auf dem Rücken Holz in die Stadt trug. Herr Karadžić nahm ihn zu sich, gab ihm zu essen und zu trinken und später ein bequemes Obdach in einem Kloster, wo er etwa hundert Bruchstücke von Heldengedichten und romanesken Liedern diktierte, und viele Lieder verbesserte, denn er sang nicht minder gut als er vortrug. Unglücklicherweise jedoch zerstörte die Revolution, welche eben ausbrach, diese Quelle, der Rhapsode verließ das Kloster, ergriff die Waffen und fiel im Kampfe gegen die Türken. Später bemühte sich derselbe Vuk Stefanović, als er am Hofe des unlängst vom Throne gestürzten Fürsten Miloš Obrenović weilte, alle im Lande befindlichen Rhapsodiensänger zu versammeln. Miloš, der kaum seinen Namen zu unterschreiben versteht, war ein großer Liebhaber der Dichtkunst. Vuk Stefanović hörte von einem solchen Sänger mit Namen Milija428, besonders berühmt wegen seines Vortrages des oben angeführten Gedichtes von der „Hochzeit des Maksim Crnojević“; er bat den Fürsten ihn ausfindig zu machen. Der Fürst befahl, den Dichter lebendig oder tot zu bringen. Man fand und brachte ihn, aber die von ihm gehegten Hoffnungen wurden getäuscht. Der Sänger war erstens sehr alt, fürs Zweite ganz zerfetzt von Jatagan- und Säbelhieben während seines langen Dienstes in einer Räuberbande; er wollte nicht singen, man mußte ihn erst mit Branntwein betrunken machen; dann trug er nicht vor, sondern sang, und wenn er ein Gedicht anfing, durfte man ihn nicht unterbrechen, weil er sonst durch keine Bitten mehr sich bewegen ließ, es zu beendigen. Die Stenographie war dort nicht bekannt, deshalb mußte man, um alle Verse in dem Maße aufzufassen, wie sie aus dem Munde des Sängers kamen, ihn mit mehreren Schreibern umringen. Die zivilisierten Leute aus der Umgebung des Fürsten, solche, die im russischen Heere gedient, und besonders alle, welche auf deutschen Schulen gewesen, betrachteten dieses mit Verwunderung; sie konnten nicht begreifen, wozu das mühevolle Sammeln dienen sollte, und verlachten daher den Sammler und seinen Dichter. Zuletzt überredete man den Greis, Herr Vuk habe ihn zum Besten, und tue alles bloß des Spaßes halber. Der beleidigte Milija verließ den fürstlichen Hof, und entlief, so daß man ihn nicht mehr finden konnte. 427 Tešan Podrugović; vgl. das Ende der 16. Vorlesung (Teil I). 428 Starac Milija, der alte Milija (gestorben um 1822); vgl. die Edition – Starac Milija: Pjesme. Hrsg. Adnan Čirgić, Ljubomir Đurković, Aleksandar Radoman. Podgorica 2012.

282

Teil I

Ein dritter sehr angesehener Sänger, welcher mit vielen trefflichen Gesängen die Sammlung bereichert hat, war ein Räuber von Handwerk, und wurde von Herrn Vuk im Kerker gefunden, wo er wegen des Mordes eines Weibes gefangen saß. – Die Tat beging er deshalb, weil die Frau, wie er sagte, eine Hexe gewesen, die ihm sein Kind bezaubert habe. Dies geschah im Jahre 1820.429 Die Sammlung Vuks wird wenigstens das Andenken des poetischen Zustandes jener Länder bewahren, denn wer kann wissen, was mit ihnen selbst geschehen wird. Zum Glück für sie haben die Türken das Familienleben nicht angetastet, die österreichische Regierung unternimmt auch keine systematischen Maßregeln um ihnen die Nationalität zu entreißen. Österreich bekümmert sich selbst so wenig um die dortigen Slaven, daß in einem Buche, welches zum Schulgebrauche vor einigen Jahren in Wien erschien, die Montenegriner, d.h. die Crnogorci, wie sie sich selbst nennen, zum tatarischen Stamme gerechnet werden. Aber als zur Zeit Napoleons diese Gegenden durch französische Truppen eingenommen wurden, drohte schon ein schwerer Schlag dem Dasein jener Völker, welche friedlich nach ihrer alten Sitte und Poesie lebten. Die französischen Behörden wollten dort gleich nach eignem Muster Gendarmerie, Präfekturen und Bistümer einfuhren, ohne zu berücksichtigen, ob dieses mit dem sittlichen und geistigen Zustande des Volkes zusammenstimmte. Man reizte dadurch die Einwohner, besonders die verständigeren Leute, welche die Folgen einer so raschen Reform befürchteten. Daher kam es, daß, während die Türken und Österreicher aus den angeworbenen Montenegrinern ganze Regimenter bilden konnten, die Franzosen nur einen unbeugsamen Trotz unter ihnen fanden. Endlich tat der Marschall Auguste Fréderic Louis Viesse de Marmont430, welcher dort die Heere befehligte, den Vorschlag, überall Wege zu bauen, und selbst durchs Gebiet von Montenegro eine Heerstraße zu führen. Die Montenegriner zeigten jedoch soviel Verstand, daß sie dieses nicht zu erlauben, und bis heute gibt’s in ihrem Land weder Wege noch Stege. Es ist gewiß niemand der Meinung, daß es auf ewig so bleiben solle, und daß dort nicht manches sich ändern müsse. Allein selbst die reisenden Deutschen, welche jene Gegenden besticht und lange über ihren sittlichen, literarischen und politischen Auftand nachgedacht haben, tragen kein Bedenken anzuerkennen, daß hier der fremde Einfluß durchaus zu verhüten sei. Sie sagen, daß, wenn die Montenegriner und die Serben fremden Spekulanten Eingang gewährten, dasselbe mit ihnen geschehen würde, was mit den 429 Gemeint ist Stojan, ein Hajduke aus der Herzegovina; Lebensdaten unbekannt; vgl. Vladan Nedić: Vukovi pjevači. Beograd 1990. 430 Auguste Fréderic Louis Viesse de Marmont (1774–1852); von 1809–1811 Generalgouverneur der „Illyrischen Provinzen“ (Hauptstadt Laibach – Ljubljana).

21. Vorlesung (12. März 1841)

283

Galliern geschah, welche durch die Römer aus ihrem eignen Land verstoßen wurden, und daß diese Völker vielmehr aus ihrer Religion, aus ihrem Glauben ihre weitere Bildung entwickeln und zugleich begreifen lernen sollten, daß man dem Vaterland manchmal ohne Sold, den sie stets fordern, dienen, den Lastern der Habsucht und des Neides entsagen, bei sich irgendeine feste Regierung einführen, jedoch gar nicht mit der Einladung und Aufnahme fremder Lehrer sich beeilen müsse, welche mit den Wissenschaften und Künsten auch den Untergang bringen könnten. So ist die Meinung der Deutschen, welche im Allgemeinen nicht sehr freundschaftlich für den slavischen Stamm gesinnt sind. Der Schriftsteller, aus dem wir dies Urteil geschöpft, fügt noch hinzu, daß kein Volk sich auf andere Weise zu einer höheren Stufe der Macht erheben kann, als durch die Vermehrung der Kraft in sich selbst.431

431 Geimeint ist Vuk Stefanović Karadžićs anonym erschienener Reisebricht „Montenegro und die Montenegriner“. Stuttgart-Tübingen 1837.

22. Vorlesung (19. März 1841) Übersetzungen der serbischen Lieder – Zum Erbrecht bei den Slaven – Die Städte der alten Rus’ – Kiev – Novgorod – Polen, die Rus’ und Tschechien im XII. Jahrhundert – Anfänge Preußens – Der Orden der Kreuzritter; Kämpfe, Macht und Niedergang – Die Litauer – Die Invasion der Tataren – Polen und die Tataren.

Wer die slavischen Sprachen nicht versteht und begierig wäre, die Dichtungen, aus denen wir Auszüge gegeben haben, im Ganzen kennen zu lernen, kann sie in einer englischen Übersetzung432 lesen, und besser noch in einer deutschen, herausgegeben durch Fräulein Therese Albertine Luise von Jakob unter dem Namen Talvj.433 Diese Übersetzung begreift nicht die ganze Sammlung; ist aber sehr treu. In Frankreich hat ein allgemein gekannter Schriftsteller434 in den Jahren 1825 und 1827 eine anonyme Sammlung slavischer Gedichte veröffentlicht, welche in den nördlichen Ländern großes Aufsehen erregte. Der Verfasser behauptete, daß er das Illyrische vollkommen verstehe, er gab vor, daß er jene Gegenden besucht habe und in seiner Arbeit von einem berühmten slavischen Rhapsoden435 unterstützt worden sei, er fügte sogar dessen in Kupfer gestockene Abbildung seinem Werke hinzu. Diese Sammlung schien außer der Ballade: 432 Narodne Srpske Pjesme. Serbian Popular Poetry. Translated by Sir John Browring. London 1827. Vgl. Celia Hawkesworth: Der Widerhall des Werkes von Vuk Karadžić und der südslawischen Volksdichtung in Britannien im 19. Jahrhundert. In: Sprache, Literatur, Folklore bei Vuk Stefanović Karadžić. Beiträge zu einem Internationalen Symposium, Göttingen, 8.–13. Februar 1987. Hrsg. Reinhard Lauer. Wiesbaden 1988, S. 333–345. 433 Volkslieder der Serben. Metrisch übersetzt und historisch eingeleitet von Talvj. Erster Theil, Halle 1825, zweiter Theil, Halle 1826; neu umgearbeitete und vermehrte Auflage, Leipzig 1853; Nachdruck in der Reihe: Die EU und ihre Ahnen im Spiegel historischer Quellen. Sechste Reihe. Band  11. Hrsg. Louis Krompotić. Hannover 2007. Über Therese A.L. von Jacob vgl.: Jevto M. Milović: Talvjs erste Übertragungen für Goethe und ihre Briefe an Kopitar. Leipzig 1941; ferner den Sammelband: TALVJ – Therese Albertine Luise von Jacob-Robinson (1797–1870). Aus Liebe zu Goethe. Mittlerin der Balkanslaven. Hrsg. Gabriella Schubert und Friedhilde Krause. Weimar 2001. Neuere Übersetzung – vgl. die Auswahl: Serbische Heldenlieder. Übersetzt von Stefan Schlotzer, mit einem Kommentar von Erika Beermann. München 1996 (= Marburger Abhandlungen zur Geschichte und Kultur Osteuropas, Bd. 37). 434 Prosper Mérimée: La Guzla ou Choix de poesies illyriques recueillies dans la Dalmatie, la Bosnie, la Croatie et l’Herzégovine. Paris-Strassboug 1827. Vgl. dazu Voyslav M. Yovanovitch: La Guzla de Prosper Mérimée. Étude d’histoire romantique. Paris 1911. 435 [Maglanovich]: Die Figur des Guslaren Hyacinthe Maglanovich ist eine Erfindung von Prosper Mérimée; vgl. „Notice sur Hyacinthe Maglanovich“ (P. Mérimée: La Guzla, op. cit., S. 29–35).

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_023

22. Vorlesung (19. März 1841)

285

„Der Tod der Gattin Hassan-Agas“ („Hasanagica“), welche schon früher von Alberto Fortis436 herausgegeben wurde, sonst nirgends Gedrucktes zu enthalten. Als die slavischen Dichter das Original nicht finden konnten, begannen sie den französischen Text zu übersetzen, oder vielmehr zurückzuübersetzen. Es ließ sich aber hierbei sogleich etwas der slavischen Poesie Fremdartiges erkennen, z.B. ohne weiter zu suchen, sehr lange Erzählungen von Gespenstern und Vampiren, was alles, wie wir schon gesagt haben, in der Dichtung nicht stattfindet und nur zu den Volksmärchen gehört. Der Verdacht wurde also rege, und der berühmte russische Dichter Aleksandr Sergeevič Puškin437 schrieb an den französischen Entdecker, und befragte ihn über die näheren Umstände seines Fundes. Der vermeintliche Übersetzer gestand ohne Umschweife die List; er sagte, daß er in der Tat den Plan, die slavischen Länder zu besuchen, gehabt, dann aber sich besonnen und gefunden habe, daß es weit sicherer sei, vorerst eine Beschreibung der Reise zu machen, dem Buchhändler zu verkaufen und nachher für dieses Geld zu reisen, um sich zu überzeugen, wie weit die Einbildungskraft von der Wirklichkeit sich entfernt. Er wollte dabei, wie er hinzufügt, sich auf Kosten der damals für die Volksdichtung und örtliche Färbung sich verbreitenden Begeisterung belustigen. Dies war in der Zeit des Kampfes der Klassiker und Romantiker; alle sprachen von den Dichtungen dieser Art und das Werk des Herrn Claude Charles Fauriel438 wurde mit allgemeinem Beifall aufgenommen. Eine Menge Nachahmer stürzte in die geöffnete Bahn, und es kam zu einem solchen Mißbrauch, daß keiner mehr an das wirkliche Dasein der slavischen Poesie glauben wollte; man betrachtete sie nur als Erfindung des witzigen französischen Schriftstellers. Dies kann die Ursache sein, warum die wahre Übersetzung, welche später im Jahre 1834 Elise Voïart439 herausgegeben, getreu und wörtlich nach der deutschen Übersetzung von Therese A. L. Jakob, schlecht aufgenommen wurde. An dieser Stelle wollen wir die Geschichte der serbischen Literatur verlassen, die wir bis zum 14. Jahrhundert geführt haben. Dieses Volk, eingeschlossen in den Bereich seiner Vergangenheit, war wie es scheint bestimmt, der 436 Alberto Fortis: Viaggio in Dalmazia. Bd. 1, Venedig 1774. 437 Puškin übersetzte einige Gedichte aus Mérimées „La Guzla“ vgl. A.  S.  Puškin: Pesni zapadnych slavjan. In: Biblioteka dlja Čtenija, 1835, tom 9, otd. I, S.  5–32. Vgl. dazu Boris V. Tomaševskij: Genezis „Pesni zapadnych slavjan“. In: Atenej. Trudy Puškinskogo Doma, vyp. III, Leningrad 1926, S. 34–45; Mickiewicz übersetze das Gedicht „La Morlaque à Venise“ („Morlach w Wenecji“); Merimée übersetzten in Polen auch A. Chodźko, E. Odyniec und S. Garczyński. 438 Charles Fouriel: Chants popilaires de la Grèce moderne. 1824–1825; deutsche Übersetzung – Neueste Lieder der Griechen von Wilhelm Müller. 2 Bde., Leipzig 1825. 439 Chants populaires des Serviens recueillis Wuk Stéphanowitsch et traduits d’après Talvj par Mme Elise Voïart. Paris 1834.

286

Teil I

Tonkünstler und Dichter des ganzen slavischen Stammes zu werden, ohne selbst zu wissen, daß es ihm einst so hohen literarischen Ruhm bringen würde. Lassen sie, meine Herren, uns jetzt unsere Blicke auf die Länder der Rus’, Polen und Tschechien wenden, die eine andere Bestimmung zu erfüllen hatten. In der Mitte des 11. Jahrhunderts haben wir die weiten Gebiete der Rus’ unter die zahlreiche Nachkommenschaft Jaroslavs verteilt gesehen. Etwa vom Jahre 1150 an vermehrt sich das Haus Rjurik ungemein rasch, und schon in der dritten Generation zeigen sich mehr als 60 Fürsten, welche eigene und fast unabhängige Besitzungen haben. Die Hauptstadt der Kiever Rus’ (Kievskaja Rus’)440 war dem Scheine nach Kiev, und das Oberhaupt der Großfürst; die Idee der Einheit hatte jedoch nirgends eine Grundlage. Die Fürsten vergaßen Skandinavien und ihre göttliche Abstammung von Odin, sie wurden Slaven. Durch den Anblick der byzantinischen Kaiser fühlten sie sich zum Despotismus und zur Alleinherrschaft hingezogen, verlangten fußfällige Verehrung; aber damit bei ihnen solche Gewalt entstehen könnte, war es zunächst unentbehrlich, das Erbfolgerecht einzuführen, welches in Konstantinopel unbekannt war, denn die Erbfolge nach dem Recht der Erstgeburt ist eine abendländische Einrichtung. Von der anderen Seite konnten die Slaven, so fremd jeder politischen Einheit, so unfähig einen Staat zu bilden, den Fürsten keine ihren Zwecken dienliche Kraft verleihen. Es scheint jedoch, daß diese allgemein-slavische Sitte nur unmerklich auf die Organisation oder vielmehr Desorganisation des Staates gewirkt hat. Seit undenklichen Zeiten bewahrte man bei den Slaven die Sitte, daß bei vorkommender Erbschaftsteilung das jüngste Kind den besten Teil nahm, weil es mehr als andere der Unterstützung bedürfe. Allmählich also begannen auch die slavisierten Nachkommen Rjuriks das Land der Rus’ als eine große slavische Gemeinde zu betrachten, und weil in der Gemeinde nach dem Tode des Familienvaters, seine Besitzung ohne Rücksicht auf die Verwandtschaftsgrade demjenigen Verwandten übergeben wurde, welcher dessen am meisten bedurfte, so erkannten auch die Fürsten, wenn einer unter ihnen gestorben, seinen Teil irgendeinem aus ihrer Mitte zu, der keinen Besitz hatte oder herabgekommen war. Daraus entsprangen Verwirrungen ohne Ende. Die Großfürsten verteilten Länder, die Verwandten wollten ihren Aussprüchen nicht Gehorsam leisten, und so oft der jüngere Zweig mit dem älteren in Streit kam, war er gewiß, die slavische Vorstellungsweise für sich zu haben.

440 Vgl. Jan Kusber: Kiever Rus̕. Teilfürstentümer und Mongolenherrschaft. In: Studienhandbuch Östliches Europa. Band  2: Geschichte des Russischen Reiches und der Sowjetunion. Hrsg. Thomas M. Bohn und Dietmar Neutatz. Köln-Weimar-Wien 2002, S. 153–161; Manfred Hildermeier: Geschichte Russlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution. München 2013 (3. Auflage 2016), Erster Teil: Die Kiever Rus’ (9. Jh. bis 1240).

22. Vorlesung (19. März 1841)

287

Nichts Traurigeres, nichts Langweiligeres als die Geschichte der Rus’ während der anderthalb Jahrhunderte der inneren Zwiste. Durchaus kein allgemeines Streben, keinen Hauptgedanken kann man hier auffinden. Jedoch beginnen in diesem Wirrwarr allmählich vier Hauptbruchteile des erschütterten Ganzen sich zu unterscheiden, von denen jeder eine besondere Gestalt annimmt. Zuerst im Norden auf der Grenze der normannischen Länder, an den Ufern und Quellen der großen Flüße, nach deren Lauf die Normannen ins Slaventum vorschritten, erwachsen die Gemeinden zu Städten wie Novgorod, Pskov, Smolensk, Polock. Diese freien Städte richten sich nach Art der Republiken ein, unter Oberleitung kriegerischer Führer und Fürsten, welche die bewaffnete Macht befehligen. Ihre Einrichtung ist weder der Organisation italienischer Republiken noch der Städte des deutschen Kaiserreichs ähnlich. Die italienische Einrichtung und auch die der französischen Städte fußte ganz und gar auf römischen Institutionen, es waren municipia mit ihren Kurien, Magistraturen usw. Die kaiserlichen Städte stützten sich auf Korporationen. Diese Körperschaften, aus Handwerkern und Künstlern bestehend, hatten Zusammenhang mit der Kirche; ihre geheime Pflicht war, Kirchen zu bauen. Es ist bekannt, daß diejenigen Handwerke, die nur zur Befriedigung der alltäglichen menschlichen Bedürfnisse dienten, in den Kreis dieser großen Vergesellschaftungen nicht eingingen. Bei den Slaven fand nichts Ähnliches statt; die Körperschaften konnten bei ihnen kein Band im religiösen Gedanken haben, Kaufleute allein machten die echte Klasse der städtischen Bürger aus, die übrigen Bewohner der Städte bestanden größtenteils aus Besitzern des Bodens. Die Kaufleute, wenngleich große Vorrechte genießend, standen doch immer unter den Grundbesitzern und den Fürsten oder kriegerischen Führern. Die Landleute aber, um die Städte herum auf den Ländereien der Bojaren und Fürsten ansäßig, ihren Herren gänzlich untertan, ohne Einfluß auf den Zustand der öffentlichen Angelegenheiten, waren nur ruhige Zuschauer der Regierungen und der inneren Zwiste. Die kaiserlichen Städte wurden bei dem deutschen Reich mit vertreten, sie hatten ihre Abgesandten, gaben ihre Stimmen auf den Reichstagen; aber die slavischen Städte waren als Körperschaften nur durch die Fürsten repräsentiert. Leicht war es daher vorherzusehen, daß ihre zweifelhafte Unabhängigkeit nicht lange dauern konnte. Im Süden war Kiev die reichste und bevölkertste Stadt der Kiever Rus’, dazumal auch eine der größten Europas; sie zählte gegen 150 000 Einwohner. Sie blieb immer die Hauptstadt der Rus’. Diese Stadt, stets unter dem Auge des Großfürsten, empörte sich von Zeit zu Zeit, konnte jedoch nie ihre Selbstständigkeit erringen; im Übrigen war sie als Sitz der Regierung häufig den Sanktionen und Überfällen von Seiten der Prätendenten bloßgestellt, und erfuhr so die Unglücksfälle innerer Unruhen, wie auch die Niederlagen des Krieges.

288

Teil I

In der Mitte des Landstriches zwischen Novgorod und Kiev wohnte ein Geschlecht, das dem slavischen fremd war, nämlich das finnische, durch Wüsteneien abgeschieden, die, bekannt unter dem Namen des Muromskischen Waldes441, sich bis jetzt erhalten haben. Dies besiegte Geschlecht trat seine Wohnsitze den Slaven ab, oder ergab sich ihrer Übermacht. Die Fürsten der Rus’ dehnten ihre Eroberungen immer mehr gegen die Volga aus, führten die Slaven daselbst ein und unterjochten die Finnen. Bald erhob sich in diesen östlichen Gegenden die Stadt Vladimir an der Kljaz’ma und es entstanden Fürstentümer, gegründet auf ganz anderen Grundsätzen, ohne Ähnlichkeit mit dem Slaventum, nur durch ihre Fürsten mit demselben vereint. Die slavischen inmitten der Finnen zerstreuten Ansiedler, bildeten kein politisches Ganze, sie konnten dem Gemeinwesen die ihnen eigentümliche Organisation weder einimpfen noch erhalten; mit einem fremden Stamm sich vermischend, verloren sie die Reinheit ihrer Sprache und des Blutes, vergaßen ihre Sitten. Über diesen Zusammenfluß verbreitete sich die kriegerische Gewalt der Fürsten ohne Widerstand, hier entsproß der Keim des späteren moskovitischen Zarenreichs. Als die Herrscher in den Gegenden von Zales’e442, die Fürsten von Suzdal’, auch den Thron zu Kiev bestiegen, begannen sie daran zu denken, die Oberleitung zu sich herüberzuziehen. Einer von ihnen, Andrej Bogoljubskij443, überfiel Kiev wie ein Feind, plünderte es rein aus, verheerte es und verlegte die Residenz nach Vladimir an der Kljaz’ma. Von nun beginnt eine neue Epoche; die Kiever Rus’ hat schon in ihrem Schoß eine feindliche Macht, welche sich auf fremdartigen Elementen zu erheben und den Rest zu unterjochen strebt. Bis dahin führten die Fürsten nur als Führer feindlich gesinnter Heere unter einander Kriege; das Volk wurde verschont, und wartete ruhig ab, wem der Sieg es zuteilen würde. Jetzt zeigt sich eine andere Staatskunst, die Fürsten von Suzdal’ führen nun gegen die slavischen Bewohner der Rus’ Haufen eines anderen Geschlechts, sie verheeren das Land ohne Barmherzigkeit, schleifen die Widerstand leistenden Städte, nehmen die Bevölkerung mit sich, und treiben sie in die Gegenden von Zales’e (Zalesskaja Rus’). Auf diese Weise konnte das zu Grunde gerichtete Kiev sich nie wieder erheben. Es blieb noch der vierte Teil des Landes, von dem unteren Dnjepr bis an die Karpaten und die Walachei, bekannt unter dem Namen Rot-Ruthenien (Ruthenia rubra), Halitsch (Halicz) oder Roth-Reußen, Galizien. Die Fürsten 441 „Muromskij les“: liegt auf dem Gebiet der Vladimirer Rus’ – zwischen Vladimir, Rjazan’ und Murom. 442 Das zales’e-Gebiet („Land hinter dem Wald“) – Waldland zwischen oberer Volga und Oka; polnisch: Zalesie. 443 Andrej Jur’evič Bogoljubskij (um 1111–1174). Fürst von Vladimir und Suzdal’, ab 1157 Großfürst von Kiev; vgl. N.N. Voronin: Andrej Bogoljubskij. Moskva 2007.

22. Vorlesung (19. März 1841)

289

dieser südlichen Marken fanden in Kiev schon weder Stütze noch Ursache, es zu fürchten, und rissen sich von ihm ab; da ihre Länder aber häufig durch die Heere aus dem Norden der Rus’, der Polen und Ungarn überzogen wurden, so konnten sie kein abgesondertes Ganzes erschaffen. Die Herrscher derselben, die Bündnisse und Familienverträge mit den Königen von Polen und Ungarn schloßen, neigten sich immer mehr dem Westen zu, ihre Untertanen aber sahen das politische Leben in Polen schon bedeutend entwickelt, bekamen Lust dafür und sehnten sich nach ähnlichen Freiheiten. Einige Zeit hindurch überwog hier der Einfluß Ungarns und der Königssohn dieses Hauses (Andreas II.) bestieg sogar den Thron zu Halitsch, mit dem Königstitel. Später erhielt diesen Titel vom römischen Stuhl der Fürst von Kiev (Vladimir Jaroslavič, knjaz’ galickij) und dem ganzen südlichen Teil der Rus’, indem er alle diese Länder zur Einheit mit der allgemeinen Kirche zu bringen versprach. Es war jedoch vorauszusehen, daß diese Gegenden von Polen und der Kiever Rus’ würden auseinander gerissen werden. Nach dem Tod Bolesław Schiefmunds (Bolesław Krzywousty), das heißt vom Jahre 1139 an, war auch Polen fast 200 Jahre lang ein Raub fortwährender Wirren und Teilungen; nur die Tschechen allein entgingen einer ähnlichen Schwächung, indem sie frühzeitig die Bande ihrer Einheit fester knüpften, und die Erbschaft des Thrones, zuerst für den ältesten Bruder des Königs, dann für den Erstgeborenen desselben bestimmten. Dieses Reich schien bestimmt zur Verteidigung des Slaventums vor den Gefahren, die Polen und die Rus’ von allen Seiten bedrohten. Letzteres indeß, zerstückelt und am meisten verwirrt, hatte doch wenigstens einen Gedanken, der inmitten dieses allgemeinen Wirrwars durchleuchtete, es brachte endlich aus diesen fortwährenden Erschütterungen ein Endergebnis. Diesen Gedanken kann man im Seufzen der russischen Dichter über die Uneinigkeit der Fürsten, und in der Stimme der Chronikenschreiber, welche tief das Bedürfnis der Einheit fühlen, bemerken. Wenn wir uns des Charakters der Serben, der Montenegriner und aller unabhängigen Slaven erinnern, wenn wir ihre eigenen Meinungen über sich in Betracht ziehen, die uns Reisende444 anführen, daß sie nämlich gar zu unbändig sind, als daß irgend jemand sie regieren könnte, so ist leicht zu ersehen, welche schreckliche Erfahrungen der slavische Volksstamm, bestimmt, einst ein mächtiges Volk zu werden, zuvor durchmachen mußte, wie viele der fremden Überfälle, der Kriege, Verheerungen und harter Bedrückungen es bedurfte, um in ihm die alten Urstoffe zu ersticken, um ein neues ihm Leben einzuimpfen. Die Überfälle und Unterjochungen begannen zuerst die nördlichen Gegenden zu berühren, indem sie 444 Vgl. Vuk S. Karadžić: Montenegro und die Montenegriner, op. cit.

290

Teil I

aus dem nicht slavischen, jedoch vor kurzem den Slaven unterwürfigen Land ausgingen. Die Küstenländer des baltischen Meeres vom Peipus-See bis zur Mündung der Weichsel, waren bereits besetzt vom lettischen Stamme, welcher die Liven, Kuren, Semgallen, Litauer und Prußen (Prūsai) umfaßte; letztere darf man jedoch nicht mit den deutschen Preußen verwechseln. Dieser nicht zahlreiche Stamm betrug im Ganzen einige Millionen. Sein Anfang ist in Dunkel gehüllt; er gehört dem indo-germanischen Stamme an, hat jedoch eine Sprache445, verschieden von der deutschen, slavischen und der aller übrigen Nachbarvölker; diese Sprache steht dem Sanskrit sehr nahe. Er besaß eine reiche, entfaltete Götterlehre, in vieler Hinsicht der gallischen ähnlich. In derselben gab es kein so abgerundetes Ganzes wie in der germanischen, aber sie war ein vielfarbiges Gewebe von Begriffen und Sagen. Die ganze Schöpfung stellt sich dem Bewußtsein dieser Völker als die Welt einer zahllosen Menge Geister dar. In der Erde, im Wasser, in den Bäumen, in der Luft, sogar im Klang und Ton sieht es geistige Wesen von eigentümlicher Natur. Ihre Regierung war eine religiöse, sie lag in den Händen der Priester, die sehr ähnlich den Druiden waren, große Gewalt sogar über die Fürsten hatten, und einem Oberpriester, einem heidnischen Papst, Kriwe Kriwejto446 genannt, gehorchten, welcher in Preußen wohnte, und seine Befehle nach Pommern, Litauen und bis hinter die Düna sandte. Die den Preußen benachbarten Polen unterließen, ungeachtet der Ermahnungen des römischen Stuhles, dieses Land zu bekehren; sie besuchten es, wie der Chronikenschreiber447 sagt, mit dem Schwert des Aposteltums und dem der Eroberung, zogen jedoch häufig das letztere vor; sie wollten lieber die reichen Landschaften in Besitz nehmen, als ihnen die Leuchte der Zivilisation 445 Vgl. Rainer Eckert: Altpreußisch. In: Lexikon der europäischen Sprachen. Hrsg. Miloš Okuka und Gerald Krenn. Klagenfurt (Celovec) 2002, S. 589–596. 446 Kriwe Kriwejto: „Das Wort Kryw ist ein recht altpreußisches Wort und bedeutet einen der Obermacht hat, so in Geistlichen als Weltlichen Sachen zu sprechen und anzuordnen, ist soviel wie Oberrichter oder Pontifex.“ – Matthäus Prätorius: Deliciae prussicae oder preussische Schaubühne im wörtlichen Auszuge aus Manuscript hrsg. von William Piersson. Berlin 1871, S. 38. Matthäus Prätorius (um 1635–1704), Historiker und Ethnograph; vgl. Ingė Lukšaitė: Matthäus Prätorius – Geschichtsschreiber der Preussischen Kultur. Leben, Werk und Wissenschaftliches Schaffen, In: Matthaeus Praetorius. Prūsijos įdomybės, arba Prūsijos regykla. Deliciae Prussicae oder Preussische Schaubühne. Herausgegeben von Ingė Lukšaitė und Vilija Gerulaitienė. Vilnius. Bd.  1 (1999), S.  85–140; vgl. auch – Cromeri Martini Polonia sive de originibus et rebus gestis Polonorum libri XXX. Coloniae Agrippinae 1584, lib. III, S. 42. 447 Vgl. – Galli anonymi cronicae et gesta ducum sive principium Polonorum. Hrsg. Karol Maleczyński. Kraków1952; Vorwort zum I. Buch; deutsche Übersetzung: Polens Anfänge – Gallus Anonymus. Chronik und Taten der Herzöge und Füsten von Polen. Übersetzt, eingeleitet und erklärt von Josef Bujnoch. Graz u.a. 1978.

22. Vorlesung (19. März 1841)

291

und des Glaubens bringen. Die Deutschen kamen daher den Slaven hier zuvor und begannen das Christentum zu verbreiten. In der Mitte des 12. Jahrhunderts landete zufällig der Mönch Meinhard448 mit bremischen Kaufleuten an dem Gestade, wo jetzt Riga steht, und verkündete zuerst den Einwohnern (Liven) das Evangelium. Es gelang ihm, einige der angeseheneren Einwohner zu bekehren; er setzte sich in der Gegend fest, und die Kaufleute erwirkten ihm, nachdem sie hier eine Niederlassung gegründet, den Schutz des dänischen Königs gegen die Überfälle. Der Papst (Celestine III.) ernannte ihn später zum Bischof. Die Nachfolger Meinhards verließen sich nicht auf die schwache Stütze der Kaufleute und der entfernten Monarchen, sie beschlossen, den Orden der Schwertritter zu stiften. Bewaffnete Mönche, in einer gut versehenen Feste angesiedelt, begannen nun Angriffskriege, eroberten im Verlaufe von 50 Jahren eine bedeutende Landesfläche, und wurden sogar den großen Städten der angrenzenden Novgoroder Rus’ gefährlich.449 Von der anderen Seite kam ein Apostelmönch450 nach Preußen, erwarb einige Schüler und gründete mit Hilfe des Fürsten von Masowien (Konrad Mazowiecki) in Polen einen Ritterorden, die Brüder von Dobrzyn (Fratres milites Christi de Dobrin).451 Alle diese Orden waren den Templern nachgebildet; nur hatte die polnische Geistlichkeit, abgeneigt der strengeren Disziplin und sogar dem Papst Gregor VII. feindlich, als er das Zölibat einführte, nicht religiöse Kraft genug, den Geist im Lande zu erheben, welcher eine so gewaltige Einrichtung hätte erhalten können, wie die des Schwertritterordens war. Daher wuchs die Zahl der Dobrzynskischen Brüder nicht, und als sie einst eine schwere Niederlage erlitten, verloren sie den Mut. Alsdann versetzte sie der Fürst Konrad von Masowien452 nach Drohiczyn453, wo sie ausstarben. Die Überbleibsel des deutschen Kreuzritterordens, welche aus Palästina von den Türken verjagt, in Europa

448 Meinhard von Segeberg (um 1130–1196); vgl. Manfred Hellmann: Meinhard. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band  16, S.  665; ferner – Livländische Reimchronik. Mit Anmerkungen, Namenverzeichnis und Glossar. Hrsg. von Leo Meyer. Paderborn 1876 (Reprint: Hildesheim 1963). 449 Vgl. dazu – Anti Selart: Livland und die im 13. Jahrhundert. Köln-Weimar 2007, S. 55–122 (= Quellen und Studien zur baltischen Geschichte. Bd. 21). 450 Christian von Preußen (um 1180–1245), der erste Bischof von Preußen. Vgl. Johannes Voigt: Geschichte Preussens: von den ältesten Zeiten bis zum Untergange der Herrschaft des deutschen Ordens. Band 1. Königsberg 1827, S. 428–433. 451 Vgl. Friedrich Benninghoven: Der Orden der Schwertbrüder – Fratres milicie Christi de Livonia. Köln–Graz 1965. 452 Konrad  I Mazowiecki (1187/88–1247); vgl. Jürgen Sarnowski: Der Deutsche Ritterorden. München 2007. 453 Drohiczyn – polnische Kleinstadt in der Woiwodschaft Podlachien.

292

Teil I

Zufluchtsstätten fanden, aber nirgends mehr eine selbstständige Macht bildeten, führte er in das Kulmer Land an der preußischen Grenze. Die Anfänge aller Reiche sind gewöhnlich in Dunkel gehüllt und doch ist es gewiß anziehend zu sehen, wie sie entstehen. In der Geschichte dieser bewaffneten Mönche finden wir den Keim eines späteren Königreichs. Was hier aber am meisten zu verwundern, ist, daß sie inmitten feindlicher Völkerschaften, unter einem ganz fremden Geschlechte, das nicht ein deutsches Wort verstand, sich ansiedelten und im Stande waren, ein deutsches Reich zu gründen, welches später die Gestalt des Nordens von Europa umänderte. Die Besitzung der Kreuzritter wurde im Laufe der Zeit, nach vielfachen Schicksalen, zum Königreich Preußen; welche wichtige Rolle dieses spielt, ist bekannt. Hermann von Salza454, der Reihe nach der vierte Großmeister des Kreuzritterordens, ein äußerst genialer Mann, sah von vorne herein alle Folgen, welche dies Werk des Christentums haben könne, und beauftragte einige Ritter mit Ausforschung und Besitznahme des Landes. Einer von ihnen, Hermann von Balk455, genannt der Eiserne, erbaute eine kleine Feste in der Gegend von Danzig, von welcher aus die Ritter, nach vieljährigen fortwährenden Kämpfen, eine bedeutende Besitzung errangen, sodaß sie, von Deutschland häufig mit Freiwilligen unterstützt, zu einer bedeutenden Macht sich emporschwangen. War die feudale Hierarchie den Slaven verderblich, indem sie dieselben systematisch und mit Berechnung angriff, so kommt doch nichts der Vernichtung gleich, welche das Festsetzen dieser bewaffneten Mönche den Preußen gebracht. Der Orden war nicht das Lager eines vorübergehenden Feindes, sondern ein beständiges und ordentliches Kriegsheer, ja das am meisten Manneszucht haltende und regelmäßigste, was irgend je gekannt ward; es überragte hierin die römischen Legionen, denn diese empörten sich zuweilen, da hingegen der Gehorsam und die Geduld der Kriegermönche ohne Grenzen war. Alles Notdürftigen beraubt, fasteten sie vier Tage in der Woche, schliefen auf bloßer Erde, kannten keine andere Bedeckung als ihre Mäntel, brachten die Abende mit Gebet, die Nächte in Wachen und die Tage im Kampfe zu. Diese Scharen bestanden aus dem ansehnlichsten deutschen Adel, d.h. aus Männern, die von Kindheit auf in den Waffen sich geübt. Fast alle fielen durch Feindeshand, aber gleich kamen neue an ihrer Stelle. Geriet einer in Gefangenschaft, so ging er im Panzer und zu Pferde auf den Scheiterhaufen. Nie ließen ihnen die Preußen 454 Hermann von Salza (um 1162–1239); vgl. Johannes Voigt: Geschichte Preussens: von den ältesten Zeiten bis zum Untergange der Herrschaft des deutschen Ordens, Bd. 2: Die Zeit von der Ankunft des Ordens bis zum Frieden 1249. Königsberg 1827, Kapitel IV. 455 Hermann von Balk (gestorben 1239) – Landmeister von Preußen; vgl. Johannes Voigt: Geschichte Preussens, op. cit., Kapitel VI.

22. Vorlesung (19. März 1841)

293

und Litauer das Leben und häufig mußten sie auf eine grausame Art sterben. Ihrerseits verschonten auch die Deutschen nur äußerst selten die Preußen und Litauer, wüteten aber besonders gegen diejenigen, die einmal getauft wieder dem Heidentum sich zuwandten; die bekehrten und friedfertigen Heiden aber genossen alle Bürgerrechte, sogar die Rechte des deutschen Adels, nur durften sie nicht in den Orden aufgenommen werden. Der Widerwille der nördlichen Slaven und Pommern gegen die Deutschen entsprang aus der gänzlichen Verschiedenheit ihres Wesens und ihrer sozialen Einrichtung; dagegen hatten die Preußen und Litauer in ihren Neigungen und Institutionen etwas Gemeinsames mit den Deutschen; auch war ihr Gemüt ebenso religiös und tief, der Charakter ernst und tüchtig. Die Häupter hielten ihre Klane in Ordnung und Unterwürfigkeit, auch wenn sie Untertanen der Kreuzritter wurden. Der Widerstand hatte seinen Grund hauptsächlich in der heidnischen Religion; es war dies der Kampf des letzten Überrestes von Heidentum gegen das Christentum in Europa. Fünfzig Jahre hindurch ohne Barmherzigkeit mit Feuer und Schwert verheerend, eroberte der Orden fast das ganze Land der Preußen. Erst dann verwandelten sich die einst armen Ritter in feudale Herren. Ihre Großmeister nahmen Sitz auf den Reichstagen des deutschen Bundes mit dem Charakter selbstständiger Fürsten, und fingen an, sich weder um die Befehle der Päpste und ihre Ermahnungen, noch um die Drohungen der deutschen Kaiser zu kümmern. Weichlichkeit und Völlerei schlichen sich in den Orden ein, sodaß im Augenblick seiner höchsten äußern Blüte, wo er nämlich eine bis dahin im Norden Europas unerhörte Kriegsmacht von 40 000 Mann regelmäßiger Truppen ins Feld stellen konnte, und dazu über ungeheure Schätze verfügte, ihm das innere Verderben den Todesstoß versetzte. Von da an war der Fall unfehlbar, denn der Leichnam, seines Geistes bar und ledig, ging von selbst in Verwesung über. Als die Kreuzritter den eigentlichen Zweck ihres Ordens verlassen hatten, so fingen sie an auf Eroberungen auszugehen, sie wandten ihre Schwerter gegen christliche Länder und fielen in Polen ein. Bald darauf, nach der Vereinigung mit den Schwertrittern, vernichteten sie einen bedeutenden Teil der preußischen und lettischen Bevölkerun in ihren Sitzen aber gründeten sie die Fürstentümer Preußen, Livland und Kurland, und führten ein neues Element inmitten des Slaventums ein. Ein Teil dieser Bevölkerung, mehr von der See entfernt und den Überfällen der Normannen weniger ausgesetzt, aber jetzt durch die Kriege der Mönche mit verbrüderten Geschlechtern aufgereizt, trat plötzlich aus seinen Wäldern und Sümpfen sie nannten diese Heimat Litwa (Litauen) hervor, und erwarb bald den Namen eines Volkes, welches später den Streit des nördlichen Slaventums mit dem südlichen schlichten sollte, indem es die unter sich wogenden

294

Teil I

Teile in ein Ganzes zusammenfaßte und zusammenfließen ließ. Ehe jedoch dies geschah, waren die Litauer furchtbare Feinde der Slaven; sie unterwarfen fast alle benachbarten Länder der Rus’, plünderten häufig die reichen Gegenden von Polock, Smolensk, Pskov, Novgorod, drangen später bis nach Kiev und Rot-Reußen, und fielen alljährlich in Polen ein, wo sie alles niedermetzelten und verbrannten. Unterdessen nahten von der andern Seite weit furchtbarere Niederlagen mit dem Geschrei der Mongolen, von welchen wir schon früher eine allgemeine Ansicht gegeben. Diese rückten unter Führung Batu-Khans, DschingisKhans Neffen, von der Volga gen Süden vor, fielen zuerst über die Polovcer her, und wollten ihrer hinterlistigen Politik gemäß den Russinen [Ruthenen] weiß machen, daß sie es nur mit den Völkern der Steppen zu tun hätten. Die Fürsten der Rus’ jedoch, die Gefahr vorhersehend, versammelten ihre Kräfte und vertraten den Tataren an der Kalka456 den Weg, wo sie eine entsetzliche Schlacht verloren und alle auf der Walstätte blieben. Die Kljaz’mency, d.h. die Fürsten an der Kljaz’ma (Vladimirer Rus’), in dem hinter den Wäldern gelegenen finnischen Russland (Zalesskaja Rus’), hatten allein keinen Anteil an dieser Schlacht. Die Mongolen rückten dieses Mal nur bis Novgorod-Severskij; dann aber wandten sie sich mit dem Lauf des Dnjepr nach dem Schwarzen Meer, und ihrer großen strategischen Berechnung getreu, vernichteten sie, nachdem auf diese Weise die in den Steppen lebenden Geschlechter abgeschnitten und umringt waren, dieselben auf ihrem Rückweg nach Asien. Bald darauf kam jedoch Batu-Khan mit den Horden wieder, und ging nun gerade auf die Sitze der Kljaz’mencen in Zales’e zu, nahm die Städte nach einander ein und vernichtete sie; Rjazan’, Kostroma, Suzdal’, Vladimir, Moskva, Toržok fielen auf diese Weise, er selbst zog sich erst aus den Gegenden des Groß-Novgorod (Velikij Novgorod) zurück. Der dritte Mongolenzug hatte schon die Richtung nach Kiev und Halicz, von dort aber nach Polen und Ungarn. Der König von Ungarn, aus seinem verödeten Lande fliehend, suchte auf einer der Inseln des adriatischen Meeres Zuflucht, gerade zur Zeit, als ein anderer Monarch, Chorasans457 mächtiger Sultan, welcher aus dem durch die Heere desselben mongolischen Führers geplünderten Asien entflohen war, auf dem Kaspischen Meer umherirren mußte. Die allenthalben überwältigten Fürsten der Rus’ erlagen der Übermacht der Tataren. Die Fürsten der Vladimirer Rus’ dachten zuerst an Rettung, indem sie unterhandelten und sich ergaben, sie reisten von nun an nach der goldenen 456 Die Schlacht an der Kalka: 28.–31. Mai 1223. 457 Historische Region im Gebiet des heutigen Afghanistan, Iran, Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan.

22. Vorlesung (19. März 1841)

295

Horde, vor dem Khan mit ihrem Antlitz den Staub der Erde zu berühren, und von ihm die Belehnung mit ihren Fürstentümern zu erlangen. Von nun an regierten sie im Namen des tatarischen Khans, und ihre Gewalt stützte sich auf die seinige. Eine wichtige Aufgabe war gelöst, der Keim der Einheit, erzeugt im finnischen Russland (Vladimirer Rus’), fand jetzt seine Grundlage in der mongolischen Gewalt, von ihr aus sollte er Leben und Kraft gewinnen; um zu regieren, war es nun nicht mehr nötig, auf die Meinung des Volks, oder auf die Beratungen der Städte zu achten, es reichte hin, die Gunst des Khans zu besitzen. Das tatarische Zelt wurde nun erst zu einem politischen Kabinett, wo die wichtigsten Angelegenheiten des nördlichen Europa und ganz Asiens entschieden wurden. Die Fürsten der Rus’, anfänglich demütig und gehorsam, fingen mit der Zeit an, auf die Abschüttelung des Jochs zu denken; 150 Jahre hindurch ersannen sie geduldig und geschickt alle Mittel, um die innere Eintracht der Horde zu zerreißen und ihre Macht zu schwächen, und vernachlässigten nie, aus jedem Unfall der Mongolen Nutzen zu ziehen. Lange jedoch schien es, als gäbe es kein einziges selbstständiges Reich im Slaventum. Die Tschechen bewahrten ihre Einheit, aber das tschechische Volk, bestimmt, wie früher zu erwarten stand, die Hauptrolle zu spielen, den übrigen voranzugehen, verließ den eignen Weg, indem es in seinen Institutionen und in politischer Richtung das deutsche Wesen nachzuahmen begann. Dasjenige, was es erlösen sollte, wurde sein Verderben. Die Herrscherfamilie und die Aristokratie, fortgerissen durch die europäische Zivilisation, entsagte ihrem Volkstum. Die Monarchen verschmähten die Volkssprache und redeten deutsch, der Adel verdeutschte gänzlich und das Volk hatte kein einziges, rechtliches Mittel zur Zurückweisung des Ausländischen, welches durch die Obergewalt und die höhern Klassen verbreitet wurde. Polen, damals in Teile zerspalten, außerdem von Deutschen, Mongolen und selbst Tschechen angefallen, schien zur unfehlbaren Vernichtung bestimmt. Indessen waren es gerade diese Teilungen in Fürstentümer, welche seine Zukunft gerettet haben. Denn der hohe Adel, stets in Berührung mit den Fürsten, deren natürlichen, immerwährenden Rat er ausmachte, vereinte sich immer inniger mit der Nationalsache; oftmals berufen, die Streitigkeiten unter den Fürsten zu schlichten oder zu entscheiden, war er gezwungen, sich auf die Meinung des Volkes zu stützen und Hilfe bei dem niedern Adel zu suchen; der Adel kam dadurch immer mehr ins öffentliche Leben, und so bildete sich ein zahlreicher Ritterstand, welcher das Reich als Eigentum betrachtend, dasselbe zu verteidigen und zu retten für sein Interesse hielt. Oftmals sehen wir daher die Woiwoden an der Spitze des Adels gegen Mongolen und Deutsche streiten, sie ergreifen die Waffen aus eignem Antrieb, ohne Geheiß, sogar ohne Erlaubnis der Fürsten.

296

Teil I

Dieses sehr ausgebreitete und rührige politische Leben rettete Polen, denn es erweckte in der großen Masse des Volks die Liebe für die öffentliche Angelegenheit, und erleichterte die Verbreitung der wahren Zivilisation in derselben. Dadurch erhob sich auch Polen, wenngleich in geschmälerten Grenzen, am höchsten unter den nördlichen Völkern in der Freiheit und Aufklärung; später aber, mit Litauen vereint, bekam es die Geschicke des größten Teiles des Slaventums in seine Hände.

23. Vorlesung (23. März 1841) Zur literarischen, geistigen und politischen Situation der Slaven im Norden nach dem Ende des XII. Jahrhunderts – Gründung des Großfürstentums Moskau; Jurij Dolgorukij, Andrej Bogoljubskij, Mstislav Mstislavič Udatnyj – Niedergang der normannischen Rus’ – Die Finnen; ihre Poesie – Nächste Entwicklungsphase des Großfürstentums Moskau – Die Geschichtsschreiber der Rus’ nach Nestor – Polen im XIII. Jahrhundert – Herausbildung der polnischen Staatsidee – Merkmale der polnischen Geschichtsschreibung im XIII. Jahrhundert – Vladimir Monomach und Wincenty Kadłubek.

Als wir die nördlichen Länder betrachteten, gingen wir schon auf das 12. Jahrhundert über. Drei große Begebenheiten ragen in der Epoche, die wir vor uns haben, hervor. Die Dichtung verschwindet in ihnen; sogar das Schreiben der Chroniken hört auf; politisches Leben erfaßt die Gemüter. Leicht wird es, diesen Verfall der Dichtung und slavischen Beredsamkeit zu erklären, sobald wir uns an die Verwirrung erinnern, in welche diese Länder von Beginn des 12. Jahrhunderts geraten. Die Ereignisse treten nach einander ohne sichtbaren Zusammenhang auf, die ganze Geschichte stellt ein Bild, ähnlich dem Kampf jener Geschöpfe im Tropfen Wasser, dar, die man nur mit Hilfe des Mikroskops sieht und welche sich verschlingen und im Nu wieder gebären. Dieses Gewirr nimmt in der Mitte des 12. Jahrhunderts eine stetigere Richtung. Der Fürst Jurij Dolgorukij (Langhand)458 ist der wirkliche Gründer des neuen Rußlands, oder vielmehr des Großfürstentums Moskva. Nachdem er sich von den Slaven losgerissen, begann er von seinem Sitze aus auf dem gar nicht slavischen Boden mit der Kraft der finnischen Stämme sich nach Süden und Norden auszudehnen. Von nun an wird die Geschichte erst klar; wir sehen zuvörderst den Kampf dieses fürstlichen Hauses mit seinen nächsten Angehörigen; dann den Kampf desselben mit allen übrigen Herrscherfamilien in der südlichen und nördlichen Gegend. Dieser Krieg, begonnen mit der Plünderung Kievs in der Mitte des 12. Jahrhunderts, endete mit der Niedermetzelung von Novgorods Bevölkerung und der gänzlichen Vernichtung der nördlichen Republiken im 15. Jahrhundert, wo dies neue moskovitische Reich sich vollends aus den Trümmern der slavischen Elemente festsetzte. Der Sohn und Nachfolger Jurijs, Andrej Bogoljubskij, ein wackerer Krieger und immer bereit, mit Verrat zu erreichen, was er mit Gewalt nicht vermochte, bestärkte die Politik der russo-finnischen Fürsten. Seine Nachfolger verlegten den Hauptsitz nach Moskau und führten unter dem Schutz der Mongolen 458 Jurij Dolgorukij (1090–1157).

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_024

298

Teil I

das Werk der Vorfahren weiter. Aber das Streben der moskovitischen Fürsten fand ungeheure Hindernisse in der Religion, den Sitten und Verfassungen der Städte, zuweilen auch in der Charakterfestigkeit einzelner Männer. Schwierig ist es jetzt zu erklären, warum die Patriarchen und Bischöfe sich der in der Gegend von Zales’e an der Kljaz’ma entstandenen Richtung widersetzten, die wir von nun an den moskovitischen Lebenstrieb nennen werden; die Spuren dieses Widerstandes sind jedoch in den Jahrbüchern sichtbar. Die östliche Kirche war schon durch die normannischen Fürsten gänzlich unterjocht, sie achteten aber die Person und das Leben der Geistlichen; erst die Herrscher der Vladimirer Rus’ begannen die Bischöfe wegen irgend einer Widersetzlichkeit gegen ihren Willen der Ketzerei anzuklagen, und schickten sie in die Verbannung. So wurde z.B. ein gewisser Leon459, welcher sich der Willkür des Fürsten Andrej widersetzte, als Ketzer, den man überführt habe, daß er in den Weihnachtstagen und zu Ostern Fleisch gegessen, vertrieben.460 Bis dahin versorgte man auch die jüngeren Söhne des fürstlichen Geschlechts mit Landesteilen; die Brüder und Anverwandten des Großfürsten schlossen mit ihm Verträge, sie empfingen von ihm ein Stück Land oder gewisse Zahlungen. Jetzt ergriffen die Fürsten von Zales’e (Zalesskaja Rus’) und von Moskau ein anderes Mittel: sie verfolgten die Geschwister, vertrieben sie aus Rußland, und von Teilungen wollten sie nichts mehr hören. Die uralte Sitte der slavischen Länder erforderte, daß, so oft die Ältesten des Ritterstandes aufgerufen wurden, um nach dem Tod des Fürsten über die Wahl seines Nachfolgers zu beraten, die Meinung der Gemeinden, der slobody, die aus alter Zeit herstammten, einzuholen war. Diese Sitte, bloß im Slaventum bekannt, erhielt sich auch in der Rus’. Das Alter der Städte, ihr ehrenwertes Greisentum, wurde geachtet. Sogar im Herrschaftsbereich der Moskauer Fürsten mußte man dies Vorrecht des Altertums bewahren, sich auf die Meinung der oft kleinen Städte berufen; und die Slaven wollten sogar die Erkenntnisse der neu emporgeblüten Städte, wie Vladimir, Suzdal’, Kostroma und später Moskva, deren Namen sie nicht einmal kannten, nicht für rechtskräftig anerkennen. Mit der Zeit jedoch 459 Leon (Leontij II, Bischof von Rostov), gestorben 1171. 460 Mickiewicz unterlief hier ein Fehler. In der Nestor-Chronik (Jahr 1164) lautet die Stelle: „Леонъ епископъ […] поча Суждали учити не ѣсти мясъ въ Господьскыя празникы, в среды и в пяткяы […].“ – (Der Bischof Leon begann die Suzdal’er zu lehren, daß man während der kirchlichen Feiertage, die auf einen Mittwoch oder einen Freitag fallen, kein Fleisch essen dürfe); vgl. Povest’ vremennych let. In: Polnoe sobranie russkich letopisej. Letopis’ po Lavrent’evskomu spisku. Izdanie Archeografičeskoj kommissii. Sankt-Peterburg 1872, S.  334. Diese Äußerung übernimmt auch Karamzin; vgl. Nikolaj Michajlovič Karamzin: Istorija Gosudarstva Rossijskogo. Reprintnoe vosproizvedenie izdanija 1842–1844 gg. V trech knigach s priloženiem. Red. V.I.  Sinjukov. Moskva 1989, kniga pervaja, tom III, glava I („Velikij knjaz’ Andrej. G. 1169–1174“).

23. Vorlesung (23. März 1841)

299

brach die feine List der herrschenden Fürsten, vereint mit Übermacht, diesen Widerstand. Es waren jedoch auch Verteidiger der örtlichen Vorrechte unter Rjuriks Nachkommen, welche den slavischen Gedanken begünstigten und sich an die Spitze der volkstümlichen Bewegung stellten. Der ruhmwürdigste unter ihnen, der wackerste Ritter in der Sache der altertümlichen normannischen Rus’ war Mstislav Mstislavič Udatnyj (Udaloj)461, dessen Laufbahn einige Jahrzehnte vor dem Tatareneinbruch beginnt, und in der Schlacht an der Kalka endet. Dieser Fürst, ein wahrer fahrender Ritter, Eigentümer nicht gar zu großer Besitzungen in den Gegenden von Polock und Smolensk, wo man die alten Gebräuche und Vorstellungen langer bewahrte, ging mit einer besoldeten Kriegsschar von einem Ende der ganzen Rus’ zur anderen; er entschied die Streitigkeiten der Fürsten, wies die Übergriffe der Herrscher zurück, hob die Freiheiten der Städte wieder und beruhigte die Empörungen derselben. Sein Ruhm wurde weit verbreitet, allenthalben fand er Vertrauen und Unterstützung, weil er nirgends seinen eigenen Vorteil suchte. Bald sehen wir ihn in Novgorod die Ordnung einführen, bald wieder in Kiev einen Fürsten stürzen und den Thron einem anderen geben, und dann wieder nach Novgorod eilen, um die innern Unruhen beizulegen und die Bevölkerung vor der Übermacht der Fürsten von Zales’e retten, den besiegten Friedensstörern die Bedingungen des Friedens in Vladimir an der Kljaz’ma vorschreiben; einige Monate später ist er schon im Süden an Polens Grenze, wo er den unmündigen Thronfolger von Halicz schirmt. Endlich, als er von der Annäherung der Tataren gehört, eilt er dem Don zu und fällt dort in der Schlacht. Die Geschichte beschuldigt jedoch Mstislav, daß er aus zu großem Selbstvertrauen oder aus Stolz, ohne das Eintreffen aller Streitkräfte aus der Rus’ abzuwarten, die Schlacht an der Kalka angenommen und die Ursache der Unglücksfälle, welche diese Niederlage herbeiführte, geworden sei. Es scheint aber gewiß, daß die Moskauer Fürsten, welche frühzeitig die ihnen günstigen Folgen aus dem mongolischen Überfall berechnet, gar nicht daran dachten, gegen Batu-Khan vorzurücken. Mit diesem Überfall endet die Geschichte der normannischen Rus’, und es tritt allmählich die finnische Rus’ auf die Bühne. Das Geschlecht der finnischen Fußgänger, welches vom Weißen Meer bis an die uralischen Berge sich erstreckte, wo es das Geschlecht der finnischen Reiter berührte, wurde in der vorgeschichtlichen Zeit, vielleicht im 4. oder 5. Jahrhundert von den Slaven unterdrückt und zerstreut. Als später im 9. Jahrhundert die Normannen sich zu Herren der slavischen Länder gemacht, gründeten sie ihre normannische Rus’. Jetzt, da der Geist der Normannen sinkt, entsteht ein neues Reich, in 461 Mstislav Mstislavič Udatnyj (~ 1170–1228).

300

Teil I

welchem die Slaven, einst Herren der Finnen, dann ihre Gefährten unter der Herrschaft der Normannen, endlich zugleich mit den Normannen der Übermacht nicht irgend eines neuen Stammes, sondern dem neuen Geiste, dem Zepter eines Fürstentums erliegen, das den finnischen und slavischen Geist in Eins zusammengeflossen vorstellt. Es geziemt sich nicht, die moskovitischen Fürsten alles Unheils, das von nun an die Rus’ betrifft, anzuklagen, wie dies einige Geschichtschreiber tun. Die Ursache dieser ungeheuren Umwandlung hing nicht von ihrer Neigung oder persönlichen Untauglichkeit ab; ihre selbstsüchtige und beutegierige Politik war nicht das Ergebnis ihres Willens allein. Nach dem Auseinandersprengen des finnischen Geschlechts dauerte sein Geist fort, und zog jetzt in den neuen Körper ein. In der Geschichte kann man mehr als ein Beispiel ähnlichen Überganges sehen. Häufig wird ein Volk, politisch verschwindend, in das folgende eingesogen, und es entsteht hieraus eine neue Gesellschaft. So hat der Geist des Volkes der Bretonen einen großen Einfluß auf die Sachsen, und später auf die Normannen, welche den Sachsen folgten, ausgeübt. So vereinte sich auch in den Gegenden der Kostroma, des Suzdal’ und der Moskva, in jenem Stammsitz der neuen Macht das finnische Geschlecht innig mit dem slavischen, und wenn wir uns an den Charakter jenes Volkes erinnern wollen, so wird leicht die Zukunft des Reichs, in welchem er einen wichtigen Urstoff ausmacht, zu erraten sein. Der finstere, elende, für Joch oder Vernichtung geschaffene Finne, begegnete im Slaven einem höheren Wesen, als er selbst; aber er hat dasselbe durch seine Berührung besudelt. Der Finne, einzeln genommen, ist immer Sklave; benutzt ihn eine höhere Gewalt als Werkzeug, so wird er ein Vernichter. Großer Schaden für die Geschichte ist es, daß die Lieder der nördlichen Finnen verloren gegangen sind, weil sie die einzigen ihres ganzen Stammes waren, welche zuweilen sangen. Der Mongole, d.h. der reitende Finne, kennt keine Poesie. Nur die Überbleibsel der finnisch-nördlichen Dichtung, durch Überlieferung beim russischen Volk aufbewahrt, geben uns eine Vorstellung, was dies Geschlecht einst war. Unter den Liedern Groß-Rußlands tragen einige geradezu den finnischen Charakter. Eins von ihnen z.B. ist in Gestalt eines Rätsels, welches die verratene und verlassene Geliebte ihren Freundinnen in folgenden Worten aufgibt: Der Liebste hat mich verraten, der Liebste hat mich verlassen; ich jedoch habe ein Mittel gefunden, auf meinem Liebsten zu schlafen, mich mit ihm zu bedecken, in meinen Liebsten mich zu kleiden, und mir sogar zu leuchten mit ihm.462 462 Mickiewicz paraphrasiert hier ein großrussisches Rätsel-Lied, das in der kannibalistischen Tradition der Volkslieder steht: „Я из рук, из ног коровать смощу, / Из буйной головы ендову скую, / Из глаз его я чару солью, / Из мяса его пирогов напеку, / А из

23. Vorlesung (23. März 1841)

301

Um zu verstehen, was dies bedeutet, muß man wissen, welchen Nutzen die nördlichen Finnen, die Lappländer, aus dem Rentier ziehen. Das Rentier gibt ihnen Fleisch zur Nahrung, Haut zur Bedeckung und Kleidung, Talg zur Versorgung der Lampen. Diese Finnin ist also, nachdem sie ihren ungetreuen Liebhaber getötet, mit seinem Leichnam, wie mit einem abgeschlachteten Rentier verfahren mit seinem Fett hat sie sogar ihre Lampe gefüllt. Ein solcher Sinn liegt in jenem kannibalischen Rätsel. Wollen wir die an Amerikas Menschenfresser erinnernde Dichtung neben die Zartgefühl und Anmut atmenden, serbischen Liedern stellen, von der wir einige Proben gesehen, so wird uns der ganze Unterschied zwischen dem gelben, finnischen Geschlecht und dem Stamm der Slaven mit einem Male klar. Dieses nordische Geschlecht in dem Land überwiegend, wo sich der Keim des moskovitischen Reichs entfaltete, wurde die Basis der neuen Macht. Die Fürsten Jurij und Andrej haben nichts mehr getan, als nur den niedergehaltenen finnischen Geist auf die Oberfläche gezogen und die Zügel seines Ungestüms in ihre Hand genommen. Hierbei fanden sie im allgemeinen Ruf nach Einheit eine ihnen zustimmende Neigung der slavischen Rus’, nur mit dem Unterschied, daß, was bei dem Volk das Verlangen der Einheit war, sich bei den Fürsten in Begierde nach Raub und Alleinherrschaft umwandelte. Nach den ersten Fürsten, deren Politik häufig wankt und auch Widerstand in den Landessitten, in den Städten und einzelnen Männern, wie wir gesehen, erfährt, folgt eine andere schon den Mongolen untertänige Herrscherreihe. Diese bilden Ivan I., genannt Kalita463, sein Sohn und seine übrigen Nachkommen. Sie versetzen die Residenz nach Moskau, und bringen ihr Leben meistenteils im Lager der Horde zu, dort erlernen sie unbemerkt die mongolische Politik, und helfen zugleich dem Khan eifrig, das Joch über die Rus’

сала его я свечей налью. / Созову на беседу подружек своих, / Я подружек своих и сестрицу его, / Загадаю загадку неотгадливую: / Ой, и что таково: / На милом я сижу, / На милова гляжу, / Я милым подношу, / Милым подчиваю. / А и мил предо мной, / Что свечою горит? / Никто той загадки не отгадывает; / Отгадала загадку подружка одна, / Подружка одна, то сестрица его. / – „А я тебе, братец, говаривала: / Не ходи, братец, поздным-поздно, / Поздным-поздно, поздно вечера“. Quelle: Nadežda Stepanova Kochanovskaja [Sochanskaja]: Neskol’ko russkich pesen. In: Russkaja beseda 1860, № 1, S. 99; auch in: Aleksej Ivanovič Sobolevskij: Великорусские народные песни. Sankt-Peterburg 1895, t. 1, S. 223, Nr. 162. [https://archive.org/details/velikorusskiiana01sobouoft/page/222/mode/2up]. Über den europäischen-russischen Kontext vgl. Leopol’d Franzovič Voevodskij: Kanibalizm v grečeskich mifach. Opyt po istorii razvitija nravstvennosti. Moskva 2016, S. 85ff. (1. Ausgabe: Санкт-Петербург 1874). Für diesen Hinweis danke ich meiner Kollegin und Privatdozentin Frau Dr. habil. Marianna Leonova (GeorgAugust-Universität Göttingen). 463 Ivan I. Danilovič (1288–1341).

302

Teil I

auszudehnen. Der Sohn jenes Ivan Kalita464, ein gewandter, listiger Mann, wirkt wie ein Vermittler zwischen dem slavischen Volk und den Mongolen; er übernimmt es, die Abgaben vom ganzen Land zu erheben, und im Namen der Rus’ sie den Mongolen zu überliefern. Es ist dies der erste Schritt der moskovitischen Fürsten zur Selbstherrschaft und Despotie. Zuerst bemächtigen sie sich der Schatzführung des Landes, sie verrichten das Amt der Zolleinnehmer für die Khane; später strafen sie die Empörer, sie erhalten von der Horde die richterliche Gewalt, werden zu Vollstreckern der tatarischen Gerechtigkeit; am Ende werden sie als rechtliche Eigentümer des Zepters anerkannt. Nach 300 Jahren geheimen und öffentlichen Kampfes erklart sich Ivan III., der moskovitische Fürst, für den Zaren, er nimmt den Titel an, welchen die Slaven dem tatarischen Khan gaben; und von da an beginnt wieder eine neue Geschichte der Rus’. In dieser Umwandlung bilden die wichtigsten Zeitpunkte folgende Reihe. Im Jahre 1150 errichtet Jurij Dolgorkij sein Fürstentum und reißt sich von den slavischen Ländern los; 100 Jahre später (wenn wir die runde Zahl nehmen), also 1250 fallen die Tataren über die Rus’ her, es beginnt die neue Laufbahn der Dynastie des Jurij, die von der einen Seite die Tataren zu hintergehen, von der anderen die Rus’ zu unterjochen trachtet. Wiederum nach hundert Jahren, also 1350 versucht die in Moskau befestigte Dynastie die tatarische Oberherrschaft abzuwerfen; in 30 Jahren nach dieser Zeit trägt schon Dmitrij Donskoj465, einen großen Sieg über den Khan Mamaj davon, wenngleich er noch nicht den Sieg zu benutzen wagt, sondern zu der Unterwürfigkeit unter die früheren Herren zurückkehrt, und ihnen Tribut zahlt. Erst 100 Jahre nachher, also 1450 bekleiden sich die moskovitischen Fürsten mit der früher unbekannten Würde des Zaren. Das moskovitische Zarentum zeigt sich völlig befestigt. Von nun an ändert sich alles. Dieser neue Herd in der früheren Rus’ breitet sich einerseits nach dem Ural aus, bekommt das Übergewicht über die Tataren, bemüht sich, sie zu ruinieren und zu vernichten; andererseits verfährt er mit grimmiger Tücke gegen die südlichen Länder, gegen Kiev und Halicz; auch überfällt er gewaltsam Novgorod und die nördlichen Republiken, um aus diesen Eroberungen einen neuen Staat zu errichten. Dieses lange Gewebe von Taten gänzlich zu entwirren, ist heut zu Tage aus Mangel an Urkunden sehr schwierig. Die Schreiber der Chroniken hören, wie erwähnt, zu Anfang des 13. Jahrhunderts auf. Schon können sie nicht mehr den 464 Simeon Ivanovič Gordyj (1316–1353). 465 Dmitrij Ivanovič Donskoj (1350–1389). Im Jahre 1380 besiegte Donskoj in einer blutigen Schlacht auf dem sog. Schnepfenfeld (russ. Kulikovo oder Kulikovskoe Pole) am oberen Don den Khan Mamaj, den faktischen Herrscher der „Goldenen Horde“.

23. Vorlesung (23. März 1841)

303

Lauf der verwickelten und geräuschvollen Begebenheiten verstehen, sie erfassen nur einige Zeitangaben und besondere Ereignisse, ohne im Mindesten eignes Urteil noch genauere Aufklärung über dieselben zu geben. Einzig als Beispiel ihres Stils und ihrer Schreibart liefern wir einige Zeilen aus einem von Nestors Fortsetzern; alle übrigen sind ihm gleich: Въ лѣто 6653 [1145]. Принесе благовѣрная княгыни Елена князя Ярополка изъ гробници въ церковь святаго Аньдрѣя и положи и у Янъкы, и митрополитъ Михаилъ иде Царюгороду. Въ то же лѣто иде Игорь с братьею своею на Лахы, а другымъ в помочь Того же лѣта Кыевъ погорѣ, половина Подолья. Въ лѣто 6654 (1146). Приде Володимеръ и взя Прилукъ; и совокупи Всеволодъ братью свою на Радосыни. […] и везоша и Вышегороду, и тамо скончася мѣясца іюля въ 30 день.466 Im Jahre 6654 [1145] setzte die fromme Fürstin Helena den Leichnam des Fürsten Jaropolk in der Kirche des heiligen Andreas, unfern von dem Grabe Ivans, und der Metropolite Michael nach reiste nach Konstantinopel. In diesem Jahr zog Igor’ mit seinen Brüdern in den Krieg gegen die Lachen und die anderen [Lachen] zur Hilfe. In diesem Jahr gab es eine Feuersbrunst in der Kiever Rus’, halb Podolien verbrannte. Im Jahre 6654 [1146]. Volodimir machte einen Zug gegen Priluk und eroberte die Stadt. Vsevolod vereinigte sich mit den Brüdern in dem Dorf Radosynja […] und fuhr nach Vyšegorod und verstarb am 30 Juli.

Und so weiter. Es ist unbekannt, warum die Polen miteinander kriegten, welche Partei die Fürsten unterstützten, warum der eine Fürst mit dem anderen sich vereint, und ein Jahr später auf Tod und Leben ihn bekämpft. Der Chronikenschreiber zeichnet alles ohne Ordnung auf, und nachdem er ebenso gleichgültig die abscheulichsten Untaten irgendeines Fürsten erzählt hat, setzt er nachher hinzu, daß im selbigen Jahre dieser so gute, großherzige und fromme Fürst gestorben sei. Einige Geschichtsschreiber waren jedoch im Stande in diesen Zeitangaben die Keime weit ausgebreiteter Wirkungen politischer Taten, und vieles die Kultur Betreffende, aufzufinden. So ist z.B. in den wenigen Worten des oben angeführten Fortsetzers die ganze moskovitische Geschichte eingeschlossen. 6670 [1162]. Томъ же лѣтѣ выгна Андрей епископа Леона изъ Суждала, и братью свою погна Мьстислава и Василка и два Ростиславича сыновца

466 Povest’ vremennych let. In: Polnoe sobranie russkich letopisej. Izdannoe po vysočajšemu poveleniju archegrafičeskoju kommissieju. Tom pervyj. I. II. Lavrentievskaja i troickaja letopisi. Sanktpeterburg 1846, S. 136.

304

Teil I своя мужи, отца своего передніи. Се же створи хотя самовластець быти всей Суждальскои земли.467 Im Jahre 6670 [1162] hat der Fürst Andreas [Bogoljubskij], den Bischof Leon aus Suzdal’ verjagt und seine Brüder Mstislav, Vasil’ko und zwei RostislavNeffen, die unter seinem Vater gedient, um Selbstherrscher von Suzdal’ zu werden.

Diese Worte erregten die Aufmerksamkeit aller, denn sie enthalten unerhörte Sachen: die Verjagung eines Bischofs, die Verjagung der Verwandten des Fürsten und sogar ihrer Parteigänger. Diese an sich selbst so einfache Erzählung haben die russischen Historiographen verschiedentlich ausgelegt, jeder nach seiner Weise. Unter anderen setzte sich Karamzin468, der gewöhnlich nur die Überlieferungen der Chroniken zusammenstellt, hier durchaus eine Verschwörung dieser Fürsten gegen den Staat in den Sinn. Allein dieser Begriff vom Staat, welchen Karamzin zur Grundlage seiner ganzen Geschichte genommen, war damals noch unbekannt. Allenthalben sieht er einen Staat, allenthalben stellen sich ihm die Regierungen der Monarchen, die Empörungen der Untertanen, und zuletzt die Hinrichtungen der Verschworenen vor Augen. Um daher etwas aus jenen Worten ziehen zu können, konnte er sich auch hier nicht ohne Verschwörung und Untersuchung behelfen. Die polnischen Geschichtschreiber treffen, wie es scheint, besser den Sinn der im Text angezeigten politischen Umwälzung durch die einfachen aber klar bezeichnenden Worte: „Der Fürst Andrej […], um Suzdal’s Selbstherrscher zu werden […]“, tat dies und jenes; Worte, welche das erste und letzte Mal in den russischen Jahrbüchern gesagt worden. Nirgends findet sich eine Erwähnung der Selbstherrschaft mehr. Mit Ausnahme der geschriebenen Gesetzgebung besteht die ganze Literatur der damaligen Rus’ in Chroniken und Schriften mit Jahresangaben. Diese Fortsetzer Nestors verlieren aber immer mehr den persönlichen Charakter, und werden so abgeschmackt trocken, daß man sie kaum nur wie uralte Münzen und Medaillen brauchen kann, die in der Erde gefunden, zur Berichtigung des Zeitpunkts für dieses oder jenes Ereignis dienen; das ist ihr ganzer Wert. Wie nun das moskovitische Großfürstentum schnell in seiner neuen Bahn fortschreitet, sehen wir in Polen desgleichen eine lebendige Bewegung, die das 467 Povest’ vremennych let. In: Polnoe sobranie russkich letopisej. Izdannoe po vysočajšemu poveleniju archegrafičeskoju kommissieju. Tom vtoroj. III. Ipat’evskaja letopis’. Sanktpeterburg 1845, S. 91. 468 Vgl. N. M. Karamzin: Istorija Gosudarstva Rossijskogo. Reprintnoe vosproizvedenie izdanija 1842–1844 gg. V trech knigach s priloženiem. Red. V.I. Sinjukov. Moskva 1989, kniga pervaja, tom III, glava I („Velikij knjaz’ Andrej. G. 1169–1174“).

23. Vorlesung (23. März 1841)

305

Volk in ganz entgegengesetzter Richtung fortträgt. Aus der Teilung des Landes nach dem Tode Bolesław des Schiefmunds (Bolesław III Krzywousty)469 unter seine Söhne ersteht ein neues Polen, noch einige Zeit durch das alte mit Hilfe der Kirche zurückgehalten, die den vorigen Zustand der Dinge bewahren will, und mit Hilfe einzelner Großen, welche ihrem Vaterlande die Richtung des europäischen Strebens geben wollen. Die Kirche war anfänglich, nach dem dazumal durch das ganze Christentum angenommenen Bräuche, für den ältesten der Söhne [Władysław II.]470; dieser aber, verwandt mit dem österrechischen Haus und mit dem römischen Kaiser, strebte darnach, die feudale Ordnung bei sich einzuführen, d.h. Polen für den Zweck „der Bedeutung und Macht“ zu regeln. Seine Gattin, eine hochmütige Deutsche471, welche die slavische Unordnung nicht zu tragen vermochte, beschwor ihren Mann, den Verwirrungen einmal ein Ende zu machen und stellte ihm fortwährend die Ordnung der Dinge vor Augen, wie sie dieselbe am kaiserlichen Hofe zur Genüge gesehen. Władysław II., durch dieses Zureden geneigt gemacht, nahm sich vor, seine Brüder zu vertreiben; er erklärte diesen Schritt als notwendig für das Wohl des Reichs, und hoffte in den Bischöfen eine Stütze zu finden. Diese Gewalttat empörte aber die Geistlichkeit und das Volk, besonders die mächtigeren Herren, die schon eine größere Bedeutsamkeit besaßen. Statt also das ganze Land zu gewinnen, verlor er selbst sein Fürstentum und mußte mit seiner Frau nach Deutschland fliehen. Etwas später wollte sein Bruder Mieczysław472, genannt der Alte, ein Mann von großen Fähigkeiten, dieselbe Politik ergreifen, wagte jedoch nicht, Gewalt zu brauchen, sondern bemühte sich, die Herzen durch Beredsamkeit zu gewinnen, indem er den Großen, wie man schon damals sich ausdrückte, die Notwendigkeit eines Oberhauptes für das Land vorstellte. Viermal gelangte er zur Gewalt, aber immer wieder durch die vereinten Brüder aus seiner Hauptstadt vertrieben, war er nicht im Stande, in Polen die Alleinherrschaft einzuführen. Die Herren, die Woiwoden und Bischöfe beriefen sich immer auf das Testament des verstorbenen Königs, sie betrachteten dies Vermächtnis als Polens Kardinalgesetz, und wie oft auch der älteste unter den Fürsten an die Wiederherstellung der Einheit dachte, bestanden sie immer kräftig auf der Teilung. Es leitete sie ein gewisses Vorgefühl, daß aus diesen Teilungen eine vermittelnde Gewalt zwischen dem Herrscher und dem Volk entstehen dürfte, eine Oligarchie, ein Senat. Darum haben auch die geistlichen und weltlichen Herren 469 Bolesław III. Krzywousty (1086–1138). 470 Władysław II. (1105–1163). 471 Agnes von Österreich (1111–1157), Tochter von Leopold III. von Babenberg. 472 Mieczysław Stary – [Mieszko III.] (1126/27–1202).

306

Teil I

die ältere Linie der Piasten verlassen und sich an die jüngere gewandt, welche endlich auch der Papst bestätigte. Wir sehen also in Polen, ebenso wie früher in der Rus’, die jüngere Linie das Zepter ergreifen. Nur reißt in der Rus’ die jüngere Linie immer mehr die Gewalt an sich, dahingegen treten die polnischen Fürsten, um Zuneigung zu gewinnen, immer mehr Gewalt ab, erteilen zuerst den großen Herren, dann dem höheren und zuletzt auch dem niederen Adel große Vorrechte. In der neuen Rus’ geschieht anfänglich alles im Namen der Fürsten, später im Namen der Mongolen auf Befehl des Khans; in Polen werden die Staatsangelegenheiten im Rat der um den Fürsten versammelten Großen verhandelt, und dies Reich bedeutet nicht nur das Fürstentum, sondern es beginnt schon der Begriff des Vaterlandes zu tagen. Die Chronikenschreiber der Rus’ zeichnen bloß Ortsereignisse auf, kaum tun sie nebenbei dessen Erwähnung, was in den benachbarten Fürstentümern sich zugetragen, und diese würden sie nicht interessiren, wenn nicht Rjuriks Nachfolger in ihnen herrschten; kein anderes Band vereint die Länder der Rus’. Nicht also ist es mit Polen. Viele Fürsten fallen vom Königshaus ab, diese Fürsten sind mit ihm durch keine Feudalordnung verbunden, nicht seine Lehnsträger, erkennen die Pflicht des Gehorsams nicht an, schwören ihm sogar keine Treue, schließen oft als selbstständige Herrscher mit fremden Monarchen Bündnisse; und dessenungeachtet betrachtet die öffentliche Meinung ihre Fürstentümer immer als zu Polen gehörig. Die Vorstellung der Einheit, scheinbar so einfach und doch mit so großer Mühe sich bildend, ist Polen der Kirche schuldig. Indem die Kirche den polnischen Monarchen krönte, stellte sie schon in seiner Person den Begriff des Reichs dar. Der König eingeführt in die Familie der christlichen Fürsten, erblickte sich als den Vertreter des Landes, er fing an, dessen Einheit zu begreifen. Diese bewahrten und erhielten später zur Zeit der Teilungen die Bischöfe, sie unterließen nicht, sich zu versammeln und Synoden zu bilden. Während der Streitigkeiten unter den Fürsten, ja selbst während der Kämpfe und Zerwürfnisse versammelten sich dennoch fortwährend die Prälaten, die weltlichen Herren, die Woiwoden, Kastellane und andere Große, ja sie zwangen sogar die Fürsten, selbst die Synoden zu berufen. Diese stellten die moralische Vertretung Polens dar, als es ohne Regierungsrepräsentanten sich befand, obgleich dasselbe vor den Augen der Welt immer seine selbstständige Persönlichkeit befaß. So haben die Bischöfe von Pommern, nachdem die pommeranischen Fürsten sich von Polen losgerissen, nie vernachlässigt, im Kreise der Beratungen über die öffentlichen Angelegenheiten Polens unter Vorsitz des Primas von Polen zu erscheinen; so haben später die Bischöfe Schlesiens und sogar vieler preußischen Provinzen ohne Unterbrechung im Rat gesessen;

23. Vorlesung (23. März 1841)

307

diesem präsidierte der Erzbischof von Gnesen. Auf diese Weise entstand und befestigte sich die Vorstellung von einem polnischen Reiche. Auf diesen Synoden473 wurden auch Gesetze gegeben. Die organischen Gesetze der Rus’ befassen sich nur mit der Festsetzung der Unterwürfigkeit des Sklaven unter seinen Herrn, des Herrn unter den Fürsten; die polnischen Gesetze bestimmen die Rechte der Stände im Volke, sie sind schon politisch. Die alte Rus’ besaß nur eine Zivil- und Kriminalgesetzgebung, die Polen aber außerdem schon dazumal eine politische. Die Synode schützte den Landmann, sie wehrte den Hofleuten, d.h. den fürstlichen Dienern, nach Willkür Abgaben oder Schenkungen irgend einer Art zu erheben, begründete eine geregelte Gerichtsbarkeit; jede dieser Anordnungen aber endete mit der religiösen Formel: „Verflucht sei, wer dies Gesetz bricht“ (Ktokolwiek zgwałci to prawo, niech będzie przeklęty.“). Diese Gesetze waren für ganz Polen gültig, ja man betrachtete sie sogar als verpflichtend für die unabhängigen Fürsten von Pommern, später für die Fürsten von Schlesien und endlich für den ganzen Adel von Halicz, welches Land immer mehr mit Polen verschmolz. Die Gerichtsbarkeit in der alten Rus’ ging von den Gemeinden in die Hände der von den Fürsten ernannten Landesverweser über; in Polen aber verblieb sie immer bei den Versammlungen des Ritterstandes, welche sowohl in Kriminalals in Zivilsachen entschieden; der auf einer solchen Zusammenkunft vorsitzende Beamte leitete sie nur, hatte jedoch nicht einmal eine entscheidende Stimme. Alles eilte daher in Polen der Freiheit, in der alten Rus’ der Alleinherrschaft zu. Von zwei Seiten drohten diesen Reichen verschiedene Gefahren: Polen neigte zur Anarchie, die alte Rus’ zum Despotismus. Die damaligen polnischen Geschichtsschreiber, so vielmals von den Deutschen kritisiert, erregen ein bei weitem lebendigeres Interesse, als die altrussischen Chronisten des 13. Jahrhunderts. Wie diese trocken und langweilig sind, so haben jene, jeder in seiner Art, einen ausgeprägten Charakter. Nach den frommen, religiösen Chronikern, 473 Die erste Versammlung war in Łęczyca (Woiwodschaft Łódź): „Auf einem Tag zu Leczyca (fälschlich „Synode“ genannt) 1180 ließ sich Kasimir („der Gerechte“) von den Großen seines Teilgebiets und des Senioratsgebietes sowie von sämtlichen Bischöfen die Aufhebung des Senioratsprinzips und die erbliche Zugehörigkeit Krakaus und des Senioratsgebietes […] zu seiner engeren Familie bestätigen. Der Preis für diese Sanktionierung einer Usurpation war der Verzicht auf das ius spolii des Fürsten gegenüber den Bischöfen, die Einziehung der persönlichen Hinnterlassenschaft eines verstorbenen Bischofs. Eine Bulle Papst Alexanders III. bestätigte Kasimir 1181 seinen Besitz und die Aufhebung des Senioratsprinzips.“ – Gotthold Rhode: Kleine Geschichte Polens. Darmstadt 1965, S. 43–45; vgl. auch A. Mickiewicz: Pierwsze wieki historii polskiej. Księga trzecia. In: A. Mickiewicz: Dzieła. Tom VII: Pisma historyczne. Wykłady lozańskie. Red. Julian Maślanka. Warszawa 1996.

308

Teil I

nach der Epoche Thietmars von Merseburg474 und Gallus, folgt die der polnischen Chronikenschreiber, welche schon pragmatische Geschichte schreiben; sie sind sogar die ersten pragmatischen Historiographen Europas. Ihr wenn auch lateinischer Stil ist dennoch echt polnisch; das Polnische leuchtet hier bei jedem Federzuge unter der leichten Hülle lateinischer Worte hindurch. Sein allgemeiner Fluß ähnelt sehr dem Stil gleichzeitiger Schriften aus der alten Rus’, die sich in den Archiven vorfinden, und von dem der Chroniken unendlich verschieden sind. In diesen Denkmälern finden wir Einfalt und Ehrbarkeit wie sie das „Lied von der Heerfahrt Igor’s“ auszeichnet. Unter ihnen ist schätzbar die „Belehrung des Fürsten Vladimir Monomach“. Wir wollen hier einige Stellen desselben anführen, wo er seinem Sohn Rat und Ermahnungen erteilt, und zugleich erzählt, was ihn am meisten beschäftigte. И мировъ есмъ створилъ с половечьскыми князи безъ одиного 20, и при отци и кромѣ отца, а дая скота много и многы порты своѣ. И пустилъ есмъ половечскых князь лѣпших изъ оковъ толико: Шаруканя 2 брата, Багубарсовы 3, Осеня братьѣ 4, а всѣх лѣпших князий инѣхъ 100. […] и инѣхъ кметий молодых 15, то тѣхъ живы ведъ, исѣкъ, вметах в ту рѣчку въ Салню. Und Friedenschlüsse habe ich gemacht mit den Kumanenfürsten neunzehn, zu Zeiten meines Vaters und ohne den Vater, und gab ihnen dabei viel Vieh und viele meiner Kleidungsstücke. Und von höheren Kumamenfürsten ließ ich soviel aus den Fesseln frei: 2 Brüder des Šarukan, 3 des Bagubars, 4 Brüder des Osen’ und aller anderen ihrer besten Fürsten 100. […] und von anderen jungen Recken 15. Diese führte ich lebend weg und erschlug sie und warf sie in das Flüsschen, die Salnja.

Nachher beschreibt er weitläufig seine Jagdherrlichkeiten: Тура мя 2 метала на розѣх и с конемъ, олень мя одинъ болъ, а 2 лоси, одинъ ногами топталъ, а другый рогома болъ, вепрь ми на бедрѣ мечь оттялъ, медвѣдь ми у колѣна подъклада укусилъ, лютый звѣрь скочилъ ко мнѣ на бедры и конь со мною поверже. И Богъ неврежена мя съблюде. И с коня много падах, голову си розбих дважды, и руцѣ и нозѣ свои вередих […]. Весь нарядъ, и в дому своемь то творилъ есмь. И в ловчих ловчий нарядъ сам есмь держалъ, в конюсѣх, и о соколѣхъ и о ястребѣх.475

474 Vgl. Thietmari Merseburgensis episcopi chronicon. Hrsg. Robert Holtzmann. Berlin 1980. 475 Poučenie Vladimira Monomacha. In: Biblioteka literatury Drevnej Rusi. Tom  1: XI–XII veka. Red. D.S. Lichačev, L.A. Dmitriev, A.A. Alekseev, N.V. Ponyrko. Sankt-Peterburg 1997, S. 469–470. Vladmir Vsevolodič Monomach (1053–1125), von 1113–1125 Kiever Großfürst; Schriftsteller.

23. Vorlesung (23. März 1841)

309

Zwei Auerochsen haben mich mit dem Pferd auf den Hörnern geworfen. Ein Hirsch stieß mich, und zwei Elche: einer trat mich mit den Füßen, der andere stieß mich mit den Hörnern. Ein Eber riß mir das Schwert an der Hüfteweg. Ein Bär zerbiß mir am Knie die Satteldecke. Ein grimmes Tier sprang mir an die Hüfte und warf das Pferd mit mir um, und Gott bewahrte mich unbeschadet. Und vom Pferd fiel ich oft, zweimal schlug ich mir den Kopf auf und verletzte meine Hände und Füße. […]. Die ganze Ordnung auch im eigenen Haus habe ich selbst geschaffen. Und bei der Jägerei habe ich selbst die Jagdordnung festgesetzt, und im Pferdestall und in der Falknerei und bei der Habichtjagd.476

Dessenungeachtet rät er dem Sohn, in allen den Stücken ihm nachzuahmen, und weder die Bären, noch die Polovcer zu scheuen. Welch ungeheurer Unterschied zwischen den damaligen Chroniken und dieser Erzählung! Denn letztere atmet wenigstens Leben, sei es auch nur das häusliche, private, welches noch slavisch war, da hingegen die Chroniken sich schon mit dem neuen Zustande befassen, sie reden vom Reich, das nichts Slavisches in sich hat. Die polnischen Chronikenschreiber scheinen treue Brüderschaft mit dem Verfasser jenes Testaments zu halten; man findet denselben Stil bei ihnen, besonders aber dasselbe tiefe Gefühl der Natur. Alle Augenblicke nehmen sie in ihren Metaphern Bilder aus der Schöpfung, erzählen die Geschichte der Tiere; zuweilen fassen sie ganze politische Reden aus Fabeln und Apologen ab. Wir haben früher des Kriegs erwähnt, der zu Bolesław des Schiefmunds Zeiten durch dessen natürlichen Bruder Zbigniew477 entstanden war. Dieser Zbigniew wurde einst in einer Schlacht gefangen und vor das Gericht des fürstlichen Rates gestellt. Der Chroniker führt nun die Herren auf, wie einer für, der andere gegen den Beklagten spricht. Der öffentliche Ankläger beginnt: Non enim facile planta conualescit, cuius radicem uermis in ipso plantationis exordio cauteriat. Immo qui salici surculus inseritur, salicti sequitur saporem […]. Fama est, leenam quandoque conmisceri cum pardo, unde linciam nasci dicunt. Qua deprehensa leo in inuidiam eius cum lupa conmiscetur; hinc nascitur leoxippus, qui uulgo lupus rabidus dicitur […]. Est enim eadem istius natura que basilisci, que cicute, que olophagi, que cerastis. Nam et basiliscus serenitate uisus enecat et exstinguit. Cicuta quo dulcior, eo nocendi efficacior. Olophagus nunquam crudelior, quam simplicitate blanditur columbina. Cerastes uero quandam in cornibus putans maiestatem regem sese gerit reptilium.478 476 Belehrung des Vladimir Monomach. In: Handbuch zur Nestorchronik. Band IV: Die Nestorchronik. Herausgegeben und ins Deutsche übersetzt von Ludolf Müller. München 2001, S. 356–358. 477 Zbigniew (1070–1112), Herzog von Polen, Großpolen, Kujawien und Masowien. 478 Magistri Vincentii dicti Kadłubek Chronica Polonorum – Mistrza Wincentego zwanego Kadłubkiem Kronika Polska. Hrsg. Marian Plezia. Kraków 1994, S. 76–77.

310

Teil I Denn nicht leicht kann eine Pflanze gesund wachsen, deren Wurzel von Anfang an vom Wurm angefressen wird. Und selbst wenn man den Ast mit Pfropfreis veredelt, nimmt er bitteren Geschmack an. […]. Man erzählt, daß die Löwin sich manchmal mit dem Leoparden paart, woraus, wie man sagt, ein Panther (Panthera uncia) entsteht: wenn der Löwe sie dabei ertappt, paart der sich aus Eifersucht mit der Wölfin […]. Seine Natur ist nämlich der des Basilisten (Leguan), des Drachens, der gehörnten Schlange ähnlich. Denn der Basilisk tötet und vernichtet durch die Schärfe des Blickes; je süßer der Schierling umso giftiger ist er. Der Drachen ist umso grausamer, wenn er sich mit der Unschuld einer Taube einschmeichelt. Die gehörnte Schlange wiederum zeigt mit ihren Hörnern eine gewisse Herrlichkeit an, sie verhält sich wie ein König der Reptilien.

Um nun zu verstehen, wohin dies zielt, muß man die Naturgeschichte nach den damaligen Vorstellungen des Volkes kennen, mit den damals üblichen Meinungen bekannt sein, welche bis auf den heutigen Tag im slavischen Volke in Betreff des Panthers, des Wolfslöwen und der gehörnten Schlange sich erhalten haben. Diese Schlange galt im Altertum für den König der Tiere. Nachdem der Redner auf solche Weise seine Gedanken in Hinsicht der Geburt Zbigniews ausgedrückt, richtet er die Aufmerksamkeit auf dessen Erziehung und sagt: Accedit ad hec et egregiorum educatrix disciplina, cuius perfectionem nunc apud Teutones, nunc aput Bohemorum perfectissimos continuis sudoribus uix tandem hic est assecutus.479 Hinzukommt hier noch die Tugend- und Sittenlehre, die sowohl bei den Deutschen als auch bei den vortrefflichen Böhmern in schweißtreibender Arbeit stets perfektioniert wurde.

Hieraus sieht man, daß diese Gelehrten nicht die allerbeste Meinung in Polen für sich hatten. „Wer weiß nicht, was die sittlichen Grundsätze der Prager sind?“ („Aut quis ignorat, que Pragane sit ethice preceptio?“).480 Hier folgt eine lange Reihe Sprichwörter, als diesen Gelehrten und Tschechen angehörig. Unter anderem: „Reiche die Hand hin, mein Sohn, achte aber zugleich darauf, was du greifst!“ „Willst du jemanden sicher töten, trachte sein Arzt zu werden.“ [Das Publikum lacht] 479 Magistri Vincentii dicti Kadłubek Chronica polonorum, op. cit., S. 77. 480 Magistri Vincentii dicti Kadłubek Chronica polonorum, op. cit., S.  77. Ebenda folgt der Vers: „Sis blandus, fili, pariter et insidiosus […]“ (Sei gleichzeitig ein Schmeichler und ein hinterlistiger Mensch, mein Sohn).

23. Vorlesung (23. März 1841)

311

„Ein Mensch, von dem kein Vorteil zu ziehen, gleicht einem Baum ohne Frucht.“ „Spare nie die Versprechungen: dies verpflichtet dich zu Nichts, kann dir aber Viele verbinden.“ Und dergleichen mehr. Derselbe Chroniker beginnt sein [III.] Buch, wo er von dem unbegrenzten Ehrgeiz des durch die Mutter aufgereizten Fürsten spricht, wie folgt: Est quoddam uolucrum genus, quas nonnulli uranites, alii vero seponas vocant. Earum est ea natura ut omnium oscinum, etiam sue nature, nisi tempore conceptus, dedignentur consortia et quot pullos quelibet educatura est, tot nidos in diuersarum cedrorum cacumunibus edificat et in singulis singula oua ponit Vnde sepona quasi seorsum ponens dicitur; alias uolucres ad cubandum cogit sicut cuculus currucam. Porro pulli simul nascuntur et euolant, immo stupendum, peruicacitatis uolatu montium et arborum superant suprema et celsis emensis nubibus, quia in humili aspernantur quiescere, sub ipsius etheris puritate, alto nature consilio soporantur, unde uranites id est celestes dicuntur; uranos enim Grece, celum Latine. Sepe uento prohibente ad ima descendere non possunt et sic instar fulicarum in aëre fame depereunt.481 Es gibt eine besondere Art Vögel, die einige „uranidae“, andere aber „seponae“ nennen. Ihre Eigenart ist die, daß sie die Gesellschaft aller Vögel meiden, sogar die eigener Artgenossen, ausgenommen während der Paarungszeit. Je nachdem, wie viele Junge ein Paar aufziehen will, so viele Einzelnester baut es in den Zedernwipfeln und legt in jedem Nest ein Ei: daher rührt der Name Sepona her, d.h. einzeln (separat) gelegt. Zum Ausbrüten werden andere Vögel genötigt, so z.B. der Kuckuck. Alsdann kriechen die Jungen gleichzeitig aus dem Ei und fliegen fort; mehr noch, indem sie sich im Flug mit frappierender Geschwindigkeit über Berg- und Baumwipfel erheben und dank der angeborenen Fähigkeiten, schlafen sie im blauen Himmel, weil sie das Ausruhen auf der Erde verachten: daher nennt man sie die Uraniden, d.h. die himmlischen Vögel: griechisch ούρανός, lateinisch caelum. Zuweilen, wenn der Wind sie daran hindert, können sie nicht herunterfliegen, und dann sterben sie wie die Blässhühner vor Hunger in der Luft.482

Dies bedeutet, daß die Mutter483 des Fürsten, weil sie hochmütig wie eine Uranide war, dem Sohn den Kopf mit hochfahrenden Gedanken vollgepfropft hat, die ihn so hoch aufgetrieben, daß er, nicht vermögend in den Kreis der 481 Magistri Vincentii dicti Kadłubek Chronica polonorum, op. cit., S. 122. 482 uranidae, seponae – Neologismen, (Phantasie-Namen) von Kadłubek, vgl. den Kommentar von Brygida Kürbis in: Mistrz Wincenty (tzw. Kadłubek): Kronika polska. Hrsg. B. Kürbis. Wr.-W.-Kr. 1992, S. 165–166. 483 J. Maślanka verweist darauf, daß es sich hier nicht um die Mutter, sondern um die Frau des Herzogs Władysław II. Wygnaniec (1105–1159 handelt (A.  Mickiewicz: Dzieła. Tom VIII: Literatura słowiańska. Kurs pierwszy. Warszawa 1997, S. 694).

312

Teil I

wirklichen Bedürfnisse des praktischen Lebens zurückzukehren, seinen Untergang fand. Die Kritiker haben diesen Stil484 sehr verlacht; doch gibt es nichts, was mehr volkstümlich, mehr slavisch wäre, als diese Art sich deutlich zu machen. Wir werden ihn später noch in den ernstesten Auseinandersetzungen im Sejm finden, und es lassen sich sogar bis auf die letzten Zeiten Spuren desselben in Polen und Tschechien wahrnehmen.

484 Vgl. dazu die Einleitung von B.  Kürbis, in: Mistrz Wincenty (tzw. Kadłubek): Kronika polska, op. cit., S. CXVI.

24. Vorlesung (26. März 1841) Charakteristika der polnischen Chroniken und der Chronisten der Rus’ im Vergleich – Wincenty Kadłubek – Gesetzgebende Texte – Polnische Gesetzgebung und die römische Tradition – Veto – Tschechien im XV. Jahrhundert; Feudalwesen und Deutschtum – Die Reimchronik des sog. Dalimil – John Wycliff – Kampf der Tschechen gegen das Deutschtum – Jan Hus – Jan Žižka – Ende des Hussitenkrieges – Aufstieg Moskaus und Litauens – Die Vereinigung Litauens mit Polen.

Der eigentümliche Stil der polnischen Chronisten des 13. Jahrhunderts und ihrer Zeitgenossen, der für die Slaven so vielen Reiz hat, wurde von den Fremden scharf kritisiert. Insbesondere die Deutschen, welche vor allem die mythische Geschichte Polens ganz und gar verwarfen, weil sie in derselben weder die Zeitangaben noch die geographischen Bestimmungen fanden, die Deutschen sage ich, welche etwas Unmögliches verlangten, nämlich daß die Sagen ihren registerartigen und auf der Karte bezeichneten Anfang hätten, mußten über die Form dieser Chroniken um so mehr die Achseln zucken. Diese Herrn Gelehrten, ihr ganzes Leben in Bibliotheken eingeschlossen, wie z.B.  Gottfried Lengnich485, August Ludwig Schlözer486 und unlängst Johannes Voigt487, waren durchaus nicht im Stande, diese Weise der Slaven, sich unter einander zu verständigen, wie wir es in den angeführten kleinen Bruchstücken gesehen, zu begreifen, wo nämlich immerwährend Vögel, Amphibien und Tiere auftreten, und der Stil der abgelauschten Sprache des Tierreichs entnommen scheint. So jedoch haben die Slaven geredet, und so war die Sprache jener Zeiten, wo die Könige ihre Tage auf Jagden verlebten, wo die Großen, der Adel und sogar die Geistlichen mit Leidenschaft der Jagd oblagen. Den einzigen Stoff für die Sagen gaben die Erzählungen des Volkes; daher treffen wir überall eine Berufung auf letztere. Die Chroniker wiederholen ohne Unterlaß: „wie bekannt“, und erzählen Sachen, die jetzt niemand weiß, ja die unter dem Volk vergessen zu sein scheinen. So sagen sie z.B., indem sie von Beginn des Tierreichs erzählen: „Allgemein bekannt ist, daß, wenn die Löwin den Löwen verrät, dieser sich

485 Gottfried Lengnich (1689–1774), Danziger Historiker; vgl. G.  Lengnich: Polnische Geschichte von Lechii bis August. Danzig 1740–1741; ferner: Włodzimierz Zientara: Gottfried Lengnich. Ein Danziger Historiker in der Zeit der Aufklärung. 2 Bde., Toruń 1995–1996. 486 Vgl. die 8. Vorlesung (Teil I), Fußnote 139. 487 Johannes Voigt (1786–1863); deutscher Historiker; vgl. J. Voigt: Geschichte Preußens von den ältesten Zeiten bis zum Untergange der Herrschaft des Deutschen Ordens. 9 Bände., Königsberg 1827–1839.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_025

314

Teil I

unter die Wölfe begibt und eine Wölfin zum Weibchen nimmt“, und tausend andere ähnliche Einzelheiten.488 Die Chroniker der alten Rus’, gewöhnlich trocken in ihren Geschichten, erzählen zuweilen Ereignisse, die den Anekdoten angehören, mit größerer Lebendigkeit, was ihnen jedoch äußerst selten begegnet. In den vier Fortsetzern Nestors finden wir nur eine dieser Art, die Heirat der Fürstin von Polock mit Vladimir dem Großen. Der Chroniker hat diesen Abschnitt in seine Jahrbücher aus den alten Überlieferungen, die er im Gedächtnis trug, eingeschoben. Als Vladimir von der Schönheit der Rogneda, Tochter des Rogvolod, Fürsten von Polock gehört, schickte er zu ihm Gesandte mit der Bitte um ihre Hand. Der Vater benachrichtigte hiervon die Tochter, diese aber antwortete: „Не хочю розути робичича“.489 (Ich will dem Sohn der Sklavin nicht die Schuhe ausziehen). Eine Pflicht der slavischen Gattinnen war nämlich, den Männern die Fußbekleidung zu lösen. Der darob erzürnte Vladimir, überfiel Polock, ließ die ganze Familie des Fürsten Rogvolod hinrichten und führte Rogneda mit Gewalt fort. Später, als Vladimir nebenbei noch andere Frauen hatte, was Rogneda mißfiel, nahm sie sich vor, ihn zu töten. So kam sie einst mit dem Dolche zum schlafenden Fürsten, er erwachte zufällig und hielt ihre Hand auf. Da begann sie unter Tränen zu klagen: Сжалиласи бяхъ, зане отца моего уби и землю его полони мене дѣля, и се нынѣ не любиши съ младенцем симъ. Sie klagte, den Vater hast du mir gemordet, mein Land mir entrissen, und jetzt liebst du weder mich noch dein Kind.

Vladimir jedoch befahl ihr, sich wie zur Trauung zu kleiden, den fürstlichen Schmuck anzubringen und sich dann auf die Totenbahre in der Mitte des Zimmers hinzulegen, worauf er sie töten wollte. Rogneda erfüllte den Befehl, gab jedoch, zuvor ihrem Sohne Izaslav ein entblößtes Schwert in die Hände und sagte:

488 Paraphrasierung des bereits angeführten Zitats aus der 23. Vorlesung: „Fama est, leenam quandoque conmisceri cum pardo, unde linciam nasci dicunt. Qua deprehensa leo in inuidiam eius cum lupa conmiscetur; hinc nascitur leoxippus, qui uulgo lupus rabidus dicitur.“ (Magistri Vincentii dicti Kadłubek Chronica polonorum, op. cit., S. 77). 489 Povest’ vremennych let. In: Polnoe sobranie russkich letopisej. Letopis’ po Lavrent’evskomu spisku. Izdanie Archeografičeskoj kommissii. Sankt-Peterburg 1872, S.  284. Im Internet zugänglich unter: [https://www.prlib.ru/item/692556].

24. Vorlesung (26. März 1841)

315

И давши же мечь сынови своему Изяславу в руку нагъ, и рече: „Яко внидетьти отець, рци, выступя“: „Отче, еда единъ мнишися ходя.“490 Und indem sie ihrem Sohn Izjaslav das Schwert in die Hand gab, sagte sie: „Wenn aber der Vater kommt, so zeige dich zur Hälfte und sprich“: „Vater willst du allein leben?’“

In dieser Fabel sind schätzbare Einzelheiten von den alten Gebräuchen der Rus’; der amtliche Stil der Chroniker ist ein ganz anderer, es scheint, als mangele es ihnen an Einbildung, an Kraft, zwei Zeilen zu schreiben, wenn sie dieselben nicht aus Zeitangaben und Fakten zusammenstoppeln können. Diese Fabel hat man später wunderbar umgeändert. Jeder hat sie nach eigenem Belieben gemodelt. Viele französische Schriftsteller, ähnlich verfahrend wie der witzige Erfinder einer Sammlung der nie bekannt gewesenen illyrischen Dichtung491, worüber wir schon gesprochen, haben im vorigen Jahrhundert sich auf das Zusammenleimen einer slavischen Geschichte gelegt. Die Herrn Levesque und Le Clerc492, von denen der erste lange in Rußland sich aufhielt, der zweite aber von sich aussagte, daß er die slavischen Sprachen beherrsche, haben auf einige Angaben der Chroniken sich stützend, und das übrige aus ihrem eignen Kopfe zufügend, unerhörte Dinge zusammengeschrieben. Wenn man ihre Werke liest ist es unmöglich zu erraten, was sie denn eigentlich darstellen; zuweilen scheint es ein Roman, zuweilen eine Idylle von Florian493, und dann wieder ein philosophisches System des vergangenen Jahrhunderts in slavische Form gekleidet. Louis Paris494, der letzte Übersetzer Nestors, welchen die Einförmigkeit dieses Chronikers langweilte, führt öfters, um den trockenen Text zu vermannigfaltigen und den Leser zu erheitern, an, was Levesque und Le Clerc in ihren Geschichten sagen. Es gibt in der Tat nichts, was lächerlicher ist, als diese Rhetorik der Akademiker und Philosophen. Nur ein Beispiel. 490 Povest’ vremennych let. In: Polnoe sobranie russkich letopisej. Letopis’ po Lavrent’evskomu spisku. Izdanie Archeografičeskoj kommissii. Sankt-Peterburg 1872, S.  285, bezogen auf das Jahr 6636 (1128). 491 Anspielung auf P. Mérimée; vgl. 22. Vorlesung (Teil I). 492 Pierre-Charles Levesque (1736–1812) – Histoire de Russie.  5 Bde., Paris 1785; NicholasGabriel Le Clerc (1726–1789) – Histoire physique, morale, civile et politique de la Russie ancienne et moderne. 6 Bde., Paris 1783–1794. 493 Jean-Pierre Claris Florian (1755–1794) – Fables de M. de Florian: de l’académie françoise, de celles de Madrid, Florence, etc., Paris 1792; deutsche Ausgabe: Fabeln. Hrsg. Anna Nußbaum. Wien 1924. 494 Louis Paris (1802–1887) – Übersetzer die Nestor-Chronik ins Französische: La chronique de Nestor. Paris 1834–1835.

316

Teil I

An der Stelle, welche vom Überfall der Rus’ durch die Normannen handelt, sprechen sich die slavischen Chroniker sehr karg aus, sie sagen nur, daß die Slaven nicht vermögend, selbst zur Ordnung zu kommen, die Waräger herbeigerufen hätten; der französische Autor aber, um diese Erzählung zu erweitern, bemühet sich, selbige zu idealisieren und zu verschönern, er sagt: Es gab unter den Slaven einen von seinen Landsleuten sehr geachteten Greis. Sein weißes Haar (dem Autor scheint der Mann bis auf die Haare bekannt gewesen zu sein), seine ausgedehnten Besitzungen, sein guter Wille, gaben mehr noch, als die anerkannte Einsicht, seinen Worten Gewicht. Dieser versammelte nun an einem Feiertage die Mitbürger um sich herum, und redete sie also an: „Meine Freunde, wir machen kein Volk aus, und indem wir alle Lasten des geselligen Lebens tragen, genießen wir doch keinen seiner Vorteile. Wir haben Könige gehabt; ihr wisset, wie unwürdig sie uns getäuscht, vielleicht auch darum, weil das Schicksal uns dieselben gegeben. Versuchen wir nun, uns selbst einen Monarchen zu wählen.“495

Weiterhin verbreitet sich der französische Geschichtschreiber mit Lobeserhebungen gegen den warägischen Fürsten Rjurik, welcher ihm zufolge, um durchaus etwas zu bedeuten und sich einen berühmten Namen zu machen, fortwährend besondere Emissaire ausgeschickt haben soll, um Parteigänger 495 Das Zitat ist nacherzählt; vollständig lautet es: »Un vieillard (de vieilles chroniques se sont domué la peine de nous transmettre son nom), Gostomy[s]l, jouissat de beauscoup de considération parmi les Russes ses compatriotes. Ses cheveux blancs, ses grands biens, et de bonnes intentions, plus ques es lumières, donnsient du poids à ses avis. Voyant avec peine ques on pays s’épuisait d’hommes et […] pour leur dire: „Mes amis, n’êtes-vous pas las, autant que moi, de la vie que nous menons? Nous ne formons pas meme un people, et nous en supportons toutes les charges, sans goûter les douceurs d’une nombreuse association. Nous avons eu des rois qui nous ont indignement trompés, peut-être parce que nous les avons reçus de la main du hazard ou de la force. Essayons d’un monarque de notre choix […].“« – Louis Paris: La Chronique de Nestor. Paris 1834–1835, Bd. 1, S. 25; Fußnote 10. Gostomysl (Гостомысл) war der legendäre Herrscher von Novgorod im 9. Jahrhundert. Zur Verbreitung der (umstrittenen) Gostomysl-Legende trug vor allem V.N. Tatiščev bei, der sich auf die von ihm publizierte Joachims-Chronik (Ioakimovskaja letopis’) beruft: „И въ то время [859–862] въ Новѣградѣ нѣкый бѣ старѣйшина именемъ Гостомыслъ, скончаваеть житіе, и созва владалца сущая съ нимъ Новаграда, и рече: »совѣтъ даю вамъ, да послете въ Прускую землю мудрыя мужи и призовете князя отъ тамо сущих родовъ.“« (In dieser Zeit lebte in Novgorod ein alter Greis namens Gostomysl, als er im Sterben lag, rief er die mit ihm lebenden Herrscher von Novgorod zu sich und sprach „Ich gebe euch den Rat, in das Land der Pruzzen kluge Männer zu schicken, um dort aus den bestehenden Geschlechtern einen Fürsten zu wählen.“) – Polnoe sobranie russkich letopisej. Tom VII: Letopis po Voskresenskomu spisku. Sanktpeterburg 1856, S. 268. Vgl. dazu S.N. Azbelev: Gostomysl. In: Varjago-russkij vopros v istoriografii. Hrsg. V.V. Fomin. Moskva 2010, S. 598–618.

24. Vorlesung (26. März 1841)

317

unter den Slaven zu gewinnen.496 Die ganze Geschichte ist in dieser Weise geschrieben. Indessen wissen die polnischen Chroniker, wenn sie gleich in der damaligen Weise sich auszudrücken nicht aufhören, dennoch ehr treffend die Charaktere der handelnden Personen zu unterscheiden, und weisen sogar die Springfedern der politischen Bewegungen ihrer Zeit nach. Schon haben wir gesagt, daß hierin Wincenty Kadłubek für den ersten pragmatischen Geschichtschreiber in der Christenheit gelten kann. Er zeichnete den Charakter des Fürsten Władysław II., legte seine Politik dar und hat uns hauptsächlich ein klares Bild jenes Kampfes gegeben, der zwischen dem das Feudalwesen einzuführen trachtenden Herrscher oder der rein monarchischen Gewalt, und dem Adel und der Geistlichkeit stattfand, welche an der lebendigen Volksüberlieferung festhielten und für die Verteidigung der Freiheit ihre ganze Kraft einstellten. Was in dieser Geschichte besonders auffällt, das ist der Abglanz einer schon westlichen Kultur, die sichtbare Spur der Belesenheit in den Lateinern, deren Einfluß wir bald sogar in den politischen Begebenheiten wiederfinden werden. Später als die Chroniken zeigt sich die gesetzgebende Literatur; die Gesetze, die Statuten vorerst lateinisch, fing man bald an polnisch zu schreiben. Um diese Zeit, in der Mitte des 14. Jahrhunderts, erschien in Deutschland die berühmte Goldene Bulle497 als Grundlage des öffentlichen, deutschen Rechts. Die slavischen Schriftsteller vergleichen diese beiden Gesetzgebungen, und erkennen den polnischen Statuten den Vorrang zu. Und in der Tat, schon der Form nach sind sie mehr vollendet; ihr Stil nähert sich schon sogar sehr dem jetzigen; es weht bereits ein Geist der neueren Zeit in ihnen. Der Gesetzgeber fühlt hier immer lebhaft die Notwendigkeit des Gesetzes, welches er schreibt, und prägt dasselbe mit Ordnung und Klarheit vollständig aus. Man sieht deutlich, was er bezweckt. Es scheint, als wenn ihm nur noch ein Schritt zu tun übrig bliebe, um die Vollkommenheit des Stils der römischen Gesetze Justinians, oder sogar des heutigen Napoleonischen Kodex zu erreichen. Da hingegen die Bulle Karls IV., des deutschen Kaisers und tschechischen Königs, mit mystischen, religiösen und astronomischen Auseinandersetzungen anhebt, am Anfang von der hierarchischen Konstellation des kaiserlichen Himmels redet, den Kaiser zur Sonne, die Kurfürsten zu Planeten, die um ihn kreisen, macht. 496 Louis Paris, op. cit., S. 26. 497 Die Goldene Bulle von 1356 war das wichtigste Verfassungsdokument des Heiligen Römischen Reiches; es regelte die Modalitäten der Wahl und der Krönung der römischdeutschen Könige durch die Kurfürsten bis 1806; im Internet in lateinischer und deutscher Fassung unter [http://www.hs-augsburg.de]; vgl. auch: Die Goldene Bulle. Politik – Wahrnehmung – Rezeption. Hrsg. Ulrike Hohensee, Mathias Lawo, Michael Lindner u.a., 2 Bde., Berlin 2009.

318

Teil I

Die ganze äußere Gestalt dieser Bulle ist ein hochtrabendes, aufgespreiztes Wesen, mit einem Wort, sie stimmt ganz und gar nicht zu der jetzt üblichen Form. Gestehen muß man jedoch, daß sich in der deutschen Gesetzgebung mehr inneres Leben und Triebkraft findet. Derselbe Unterschied, den wir zwischen der slavischen und der serbischen Poesie, und einigen Bruchstücken der Deutschen, dem Epos der „Nibelungen“ gesehen haben, waltet auch hier ob. Der germanische Dichter schwebt fortwährend in Wolken, ihn trägt ein unbegreiflicher Geist; da hingegen die serbischen Dichter sich immer klar ausdrücken, und alle Teile ihrer Form ausfüllen. Daher konnte auch das deutsche Epos ein bei weitem auffallenderes Ganzes bilden, als die Schöpfung der serbischen Dichter. Gerade in diesem geheimnisvollen, unerforschten Wesen liegt die Kraft der fortschreitenden Entfaltung der Gesetzgebung. Erinnern wir uns, daß die alten römischen Gesetze, die Gesetze der Republik, ebenso dunkel, symbolisch und einer sorgfältigen Auslegung bedürftig waren. Die Justinianische Gesetzgebung wurde klarer, endete aber auch das Fortschreiten der gesetzgebenden Zivilisation Roms. Diese Klarheit, so bewundert im Stil der polnischen Statuten, ist das Zeichen eines vorzeitigen Alters, sie zeigt, daß das Königreich Polen eine neue Kraft zur Erhebung brauchen wird. Der allgemeine Gedanke dieser Gesetze ist leicht zu erfassen; er entspringt aus wenigen Hauptpunkten. Sie sind: In erster Linie erkennt man die königliche Gewalt dem volkstümlichen Hause der Piasten zu; der Adel jedoch und die Geistlichkeit können unter den zahlreichen Mitgliedern dieses Hauses eine Wahl treffen. Der Ritter- und Adelstand hat von den Königen zugesicherte Vorrechte; er erhebt sich gegen die monarchische Gewalt in der Verteidigung dieser Vorrechte. Die Geistlichkeit ist in den gegenseitigen Berührungen zwischen Thron, Adel und Volk als Vermittlerin aufzurufen. In diesem Allen ruht noch in der Tiefe eine geheime Triebkraft; denn es entsteht die Frage, woher die königliche Gewalt den Anfang genommen, wer den Adel geschaffen, auf welche Weise die Vorrechte errungen? Alle diese Fragen sind unberührt geblieben; nirgends beschäftigt sich der Gesetzgeber mit ihnen; es sind allgemein angenommene Dinge, ihnen entfließt der Monarchie Leben und Einheit, die Freiheit aber entfaltet sich aus der Feststellung der Verhältnisse zwischen den Ständen. Auf der Bahn des freien Beratens gehen die Polen im 13. Jahrhundert rasch vorwärts. Die Zusammenkünfte des Adels und der Geistlichen werden immer häufiger, es erfolgen immer mehr Gesetze, welche die Verhältnisse der Stände mit der königlichen Gewalt regeln; diese monarchische Gewalt scheint in Kurzem fast umgestoßen zu sein. Nach dem Tode des Königs Kasimir III.498 beruft 498 Kazimierz III Wielki (1310–1370).

24. Vorlesung (26. März 1841)

319

der Adel den ungarischen Ludwig den Großen499 zum Thron, und erpreßt von ihm und seinen Nachkommen viele Bedingungen, die von nun an zu unumstößlichen werden. Das monarchische Streben und der Widerstand gegen dasselbe in Polen rührten nicht bloß von den örtlichen Neigungen her, es hatte dabei fremder Einfluß viel zu sagen, einerseits der deutsche, andererseits der altrömische, aus den lateinischen Schriftstellern geschöpft. Das Feudalwesen war gebrochen und auf immer mit der älteren Linie der Piasten verworfen worden; die Vorstellungen des heidnischen Roms hörten aber nicht auf, sich zu verbreiten und immer mehr die Elemente des slavischen Lebens zu übertäuben. Es ist seltsam, daß, während sich im Abendlande die Rückkehr zum Heidentum erst im 16. Jahrhundert zeigt, dieselbe schon in Polen vor der Mitte des 13. Jahrhunderts nachweisbar ist. Dies rührt daher, daß die westlichen Länder, von dem starken und gewaltigen Antrieb der Jahrhunderte des Mittelalters fortgetragen, keine Zeit hatten, auf die heidnische Vergangenheit zurückzublicken. Die christlichen Helden achteten sich höher als Cäsar und Alexander, und dachten nicht daran, sie nachzuahmen; die großen Barone besaßen weder Lust noch hatten sie es nötig, im Cicero und Livius die Auseinandersetzungen ihrer Pflichten und Rechte zu suchen. Das Leben des Westens, das germanische, das christliche Leben entfaltete sich in aller Kraft der jugendlichen Stärke; die Slaven hatten aber in ihren Tatenberichten der Vergangenheit nichts so wunderbar Schönes, wie die Geschichte der Kreuzzüge war. Das Latein lernten sie auch nicht aus volkstümlichen Chroniken oder Kirchenbüchern, sondern aus den römischen Geschichtschreibern und Rednern selbst. Kadłubek und seine Zeitgenossen beginnen zwar schon allmählich die polnische Geschichte nach dem lateinischen Zuschnitt umzuändern, sie finden Ähnlichkeit in den Sachlagen, ordnen dieselben unter unpassende Namen; so nennen sie den Senat ordo senatorius, den Adel ordo equestris. Der Ritterstand scheint ihnen den Patriziern zu entsprechen, den Würden erteilen sie sogar wörtlich übersetzte Titel: der erste Senator, Kastellan von Krakau, heißt princeps senatus, weil man gelesen, daß Augustus princeps senatus gewesen. Die polnischen Abgeordneten finden schon keinen polnischen Titel mehr, der ihre Sendung bezeichnete, sie nennen sich Tribunen, tribuni, und wählen als Muster Marius und die Gracchen, wie sie Livius dargestellt; sie beginnen, nach Grundsätzen aus der Geschichte Roms zu handeln. Noch währte das Andenken an die slavischen Gemeindeversammlungen500 fort, auf welchen zuweilen, wenn man 499 Ludwig der Große – Ludwik Węgierski (1326–1382); von 1370–1382 König von Polen. 500 Wiece auch Wieca. „Seit den ältesten Zeiten bestand bei den Slaven die Vorschrift, welche durch Gewohnheit, wie es scheint, geheiligt war, daß Alles, was das Gemeinwesen betrifft, dem Volke auf den Versammlungen kund gemacht werden sollte. […] Die Wiece

320

Teil I

Wichtiges beriet, die Minderheit gezwungen wurde, nach der Mehrheit sich zu richten; man überwältigte bisweilen die sich Widersetzenden mit Gewalt. In diesem alten Brauch des Slaventums fanden nun die Geschichtschreiber die Anwendung des Vorrechts der Tribunen, welche das Recht hatten, den Beschlüssen des Senats durch ihr Veto sich zu widersetzen. So verstand man die polnische Verfassung und erkannte den Abgesandten die gesetzliche Kraft zu, den Sejm zu sprengen und die Ausübung aller Rechte aufzuschieben. Was im 13. und 14. Jahrhundert nur in der Theorie bestand, das kam im 16. Jahrhundert zur Praxis, und brachte spater der Republik viel Unheil. Sogar das Wort Republik, respublica, „Rzeczpospolita“, verursacht eine unendliche Verwirrung der Begriffe. Die Jahrhunderte des Mittelalters hatten keinen anderen Ausdruck für das, was wir heute Staat, Reich nennen; man nannte jedes Reich eine Republik, das deutsche sowie auch das türkische Kaiserreich. Indem aber die Polen viele Ähnlichkeit zwischen den Institutionen ihres Landes und den Republiken des Altertums sahen, so wandten sie sich bis zur Aristotelischen501 Theorie zurück, um ihre volkstümliche Verfassung nach den griechischen und römischen Begriffen umzugestalten. Während dieses inneren Wirrwarrs erblickte sich das damals kleine Polen (denn es besaß etwa nur die Länder des Großherzogtums Warschau) von allen Seiten her furchtbar bedroht, durch die Deutschen, durch die Kriegermönche im Lande der Preußen, durch die Tataren und Litauer. Es schien, als müßte es untergehen oder sich vereinen und in ein Reich mit den Tschechen zusammenfließen. Die Notwendigkeit, sich auf irgendeine äußere Macht zu stützen, war sogar Ursache, daß man schon den tschechischen König auf den polnischen Thron berief. Unterdessen erfreueten sich die Tschechen, wie wir schon gesehen, des Friedens und eines guten materiellen Wohlergehens, welches zu jener Zeit den anderen slavischen Völkern unbekannt war. Der König Ottokar502, ein Piast, d.h. von volkstümlicher Herkunft, hatte, nachdem er seine Eroberungen nach Ungarn und Polen ausgedehnt, erst in Preußen Halt gemacht und seinen Nachkommen ein weites Königreich, das einen großen Teil Österreichs, das ganze waren ein Punkt, welcher die einzelnen Einwohner und slavische Völker vereinigte. Zum Ort solcher Versammlungen nahm man die Tempel der Götter, wie uns die Chronisten ausdrücklich von der Insel Rügen berichten.“ – Wenzel Alexander Macieiowski: Slavische Rechtsgeschichte. Aus dem Polnischen übersetzt von F.J. Buss und M. Nawrocki. Erster Theil. Stuttgart 1835, S. 206–208. (Polnisch – Wacław Aleksander Maciejowski: Historia prawodawstwa słowiańskiego, t. 1–4. Warszawa-Lipsk 1832–1883). 501 Vgl. Aristoteles: Politik. Reinbek 1994. 502 Ottokar II. Přemysl (um 1232–1278); vgl. Jörg K. Hoensch: Přemysl Otakar II. von Böhmen: der goldene König. Graz-Wien-Köln 1989.

24. Vorlesung (26. März 1841)

321

Schlesien und einen Teil vom Land der Preußen umfaßte, hinterlassen. Diese seine Nachkommen verloren nichts von dieser Macht. Nach ihrem Erlöschen fiel der Thron dem Hause Luxemburg zu, unter welchem die Tschechen zum höchsten Glanze sich erhoben. Der König Johann von Luxemburg503 weilte wenig im Lande, sondern brachte die meiste Zeit außerhalb der Grenzen zu, er fiel in der Schlacht bei Crécy, wo er im französischen Heer gegen die Engländer kämpfte. Sein Sohn Karl IV.,504 welcher später die Goldene Bulle herausgab, übernahm zugleich die deutsche Kaiser- und die tschechische Königskrone. Dieser Mann, gut, ordnungsliebend, großmütig, gelehrt, wurde von den Untertanen geliebt, von den Fremden geachtet, von allen europäischen Schriftstellern bewundert. Er gründete die Prager Universität505, d.h. die älteste und berühmteste nach der Pariser, rief Lehrer aus Frankreich und England, bezahlte sie glänzend, stiftete auf derselben eine große medizinische Schule und den ersten Lehrstuhl für das Völkerrecht. Bis an 8000 Studierende besuchten Jahr für Jahr diese Universität, und außerdem war der Hof des Kaisers und Königs ein Sammelplatz aller Gelehrten und Künstler. Karl liebte die Wissenschaften und Künste, schätzte die Dichter; er bemühte sich, Petrarka an sich zu ziehen. Das Museum im Palast zu Prag wurde eines der reichhaltigsten; seine Überbleibsel sind noch heute in Wien zu sehen. Das kleine Land Tschechien überragte an Industrie, Reichtum und Bevölkerung alle Länder des Abendlandes. Man zählte in selbigem 100 große, befestigte, Städte, 300 kleine Städte, 16000 Dörfer und 1500 Pfarrkirchen. Aber das Feudalwesen und mit ihm das Deutschtum lasteten schwer auf dem slavischen Geiste und lähmten ihn fast gänzlich. Der Adel unterhielt sich mit dem Herrscher in ausländischer Sprache, und wie hätte er auch über Dinge, die dem slavischen Leben fremd waren, tschechisch sprechen können? Wie sollte er über feudale Gesetzgebung in dieser Sprache sich ausdrücken, wenn in derselben sogar die Worte fehlten, um die Verhältnisse zwischen Lehnsherrn und Lehnsmann zu bezeichnen? Ungeachtet aller Bemühungen einiger ihrem Volkstum zugetanen Adligen, ungeachtet aller Heftigkeit, mit welcher man in Schriften gegen die Deutschen ausfiel, gewann die deutsche Zunge dennoch rasch ein stets größeres Übergewicht. Die Tschechen zeigten die allen Slaven eigentümliche Neigung für das Fremde so sehr, daß die Deutschen selbst über ihre Nachäffung der fremden Kleidung, der Sitten und Gesetzgebung sich lustig machten, als besäßen sie 503 Johann von Luxemburg (1296–1346); vgl. Marek Kazimierz Barański: König Johann von Böhmen und die schlesischen Herzöge. Luxemburg 1997. 504 Karl IV. (1316–1378); vgl. Kaiser Karl IV. 1316–1378. Forschungen über Kaiser und Reich. Hrsg. Hans Patze. Göttingen 1978. 505 Gegründet 1348; vgl. Die Prager Universität Karls IV. Von der europäischen Gründung bis zur nationalen Spaltung. Hrsg. Blanka Mouralová. Potsdam 2010.

322

Teil I

nichts, was ihnen eigen wäre. In dieser Zeit zeigte sich auch ein Anfang der Reaktion, die mit furchtbarer Umwälzung enden sollte. Dies rührte daher, daß der tschechische Adel kein solches Vertrauen in sich fühlte wie der polnische, weil er nicht wie dieser mit Tataren und Litauern zu tun gehabt, das Land nicht mit eigner Hand verteidigt, den gesetzgebenden Beratungen nicht beigewohnt hatte. Ohne Mühe wollte er mit einer eiteln Bedeutsamkeit sich brüsten, die Titel der westlichen Barone annehmen und sich mit ihnen gleich stellen. Die Literaten, unterstützt von einigen Adligen, stellten sich an der Spitze dieser Opposition und hinterließen in den Chroniken und damaligen Denkbüchern die Spuren des Hasses gegen das Übergewicht der Deutschen. Der berühmteste unter diesen Chronikern ist Dalimil506, welcher eine Geschichte schrieb, die mit dem Mythenzeitalter beginnt und bis auf das 14. Jahrhundert fortgeführt ist. Allenthalben, wo er die tschechischen Fürsten und Könige auf die Bühne bringt, legt er ihnen seine eigenen Gedanken in den Mund. So z.B. läßt sich bei ihm ein König dergestalt vernehmen: Die Sprache kann nicht leben, wenn sie nicht ausschließlich im Lande herrscht. Würde ich vorhersehen, daß die Tschechen je einer fremde Sprache reden werden, wahrlich ich ließe mich in einen Sack nähen und im Fluß ertränken.

Und fügt hinzu: O, meine Söhne! ich hinterlasse euch ein großes Königreich, und, was noch viel mehr als Königreiche ist, eine volkstümliche Sprache. Bewacht Beides. Die fremde Sprache schleicht sich im Stillen ein, anfänglich treibt sie sich im Lande herum, einen Sitz suchend; aber einmal auf dem Boden angesiedelt, wirft sie sich auf die Volkssprache und will diese vernichten.507

506 Name des Verfassers unbekannt. Die gereimte Chronik besteht aus 106 Kapiteln. Sie beginnt mit dem Turmbau zu Babel und erzählt dann die Geschichte Böhmens von den ersten legendären Herrschern bis zum Jahr 1314. Kritische Ausgabe: Staročeská kronika tak řečeného Dalimila.  3 Bände. Hrsg. Jiří Daňhelka, Karel Hádek, Bohislav Havránek, Naděžda Kvítková. Praha 1988. 507 Verkürzte Inhaltsangabe, die sich auf folgende Stelle im 70. Kapitel bezieht: „Otec sě jě jima mluviti, / řka: „Chci vy učiti. / Nemáť nikte nic věrnějšieho / než matku a otcě svého. / Protož věrně chci vy učiti, / jímž móžěta cti dojíti. / Zemi váma ostavuji, / jazyk váma vaji porúčěji, / abysta jej vzdy plodila, / v zemi Němcóv nepustila. / Když němečský jazyk v Čechách vstane, / tehdy našeho rodu všě čes stane; / neb zradie zemi i kniežata, / pro ně bude nášě koruna do Němec vzata. / Němciť sě najprvé krotie, / ale, jakž sě rozplodie, / tehdy o svéj hospodě netbají, / z své země pána sobě hledajú. / Bych mohl i po ptáčku vzvěděti, / že budeta k Němcóm držěti, / kázal bych vaji v kožený měch vložiti, /a u měšě u Vltavě utopiti.“ – Staročeská kronika tak řečeného Dalimila, op. cit., Bd. 2, S. 182–183.

24. Vorlesung (26. März 1841)

323

Weiterhin sagt er vorher, daß die Tschechen mit der Sprache der Ausländer auch zugleich ihr Joch sich gefallen lassen werden, und daß die größte Gefahr von dieser Seite her droht.508 Nur diese Abneigung des Volks gegen das Deutschtum, die alle slavischen Geister erfaßte, weil sie sich durch die Könige und den Adel niedergehalten sah, macht den Kampf der Hussiten gegen die Kirche, oder vielmehr gegen die deutsche Geistlichkeit erklärlich. Auf der Prager Universität hatten die Ausländer das Übergewicht, die Mehrheit der Stimmen. Diese Universität, wie fast alle andern, begriff viele Zungen in sich, wie die deutsche, französische, italienische und tschechische Zunge: alle fremden Sprachen stimmten gegen die tschechische, wollten diese sogar aus dem akademischen Rat verdrängen und würden dies auch durchgesetzt haben, hätten nicht die Vorrechte und die Regierung die letztere geschützt. Mittlerweile kamen zufällig John Wycliffs509 Schriften nach Tschechien. Die Tschechen, welche mit dem König Johann Frankreich besucht, und die tschechische Prinzessin nach England geleitet hatten, machten in Oxford die Bekanntschaft Wycliffs und brachten bei ihrer Rückkehr seine Schriften mit. Wycliff schmähte auf die katholische Kirche. Späterhin verfolgt und als Ketzer gerichtet, fand er Parteigänger in den slavischen Ländern. Jan Hus510, ein Mann bekannt durch Gelehrsamkeit und Gottesfurcht, von den neuen Ansichten Wycliffs überrascht, begann gleicher Weise in der Kapelle des Königs gegen die Übergriffe der Kirche zu predigen. Er behauptete, daß die Kirche kein Recht habe, Länder zu verteilen, daß ein Bischof, sobald er auf einer Sünde ergriffen sei, seinem Amt nicht vorstehen dürfe; daß der Priester, von einer Sünde befleckt, aufhöre ein solcher zu sein und die Macht, Sakramente zu erteilen, verliere; daß das Sakrament des Fleisches und Blutes des Herrn unter zwei Gestalten gegeben werden müsse, und noch viele andere weniger wichtige Sachen. Man antwortete ihm einerseits widerlegend, daß auf diese Weise auch jeder Beamte, welcher in etwas fehle oder sich irre, seines Amtes entsetzt werden müsse, andererseits mit Beweisen aus der heiligen Schrift, daß die Kirche die Macht habe, einzelne Punkte der Lehre zu erläutern und auszulegen. Hus wies jedoch alle kirchlichen Überlieferungen zurück, und behauptete, daß man nicht erlöst sein könne, ohne das 508 Vgl. das 4. Kapitel der Dalimil-Chronik („Libušas Prophezeihung“), in: Staročeská kronika česká tak řečeného Dalimila, op. cit., Bd. 1. 509 John Wycliffe [auch Wicliffe, Wiclef, Wyclif] (um 1330–1384), englischer Theologe; vgl. Johann Loserth: Huß und Wicliff. Zur Genesis der hussitischen Lehre. München 1925. 510 Jan Hus (um 1369–1415); vgl. Jan Hus: Schriften zur Glaubensreform und Briefe der Jahre 1414–1415. Hrsg. Walter Schamschula. Frankfurt am Main 1969; Jiří Kejř: Die Causa Johannes Hus und das Prozessrecht der Kirche. Übersetzt von Walter Annuß. Regensburg 2005.

324

Teil I

Abendmahl unter zwei Gestalten zu nehmen. Diese theologische Streitigkeit vermischte sich aber mit dem volkstümlichen Widerstand und stützte sich auf den Geist des tschechischen Volks. Die Kirche bedeutete hier nichts Anderes als Deutschtum. Die Bischöfe, durch einen deutschen Erzbischof geweiht, wurden als Ausländer betrachtet. Die deutsch redenden Herren waren in die Zahl der durch die Reform bedrohten mit eingeschlossen. Ein großer Teil des Adels begünstigte jedoch anfänglich Husens Sache, und der König verlieh ihr stillschweigend seinen Schutz, weil er die Besitznahme der in Tschechien ungeheuren Kirchengüter beabsichtigte. Hus zum Konzil in Konstanz gerufen, wurde verurteilt und verbrannt. Sogleich aber brach der Hussitenkrieg los. Ihr Anführer war Jan Žižka511, ein gewandter und grausamer Krieger, gebildet in den Kämpfen der Polen mit den deutschen Mönchsrittern in Preußen. Zwanzig Jahre hindurch widerstand er der Macht des Papstes und aller deutschen Fürsten. Er trug große Siege über die kaiserlichen Heere davon, und während er in Deutschland kriegte, verwüsteten Hussitenscharen Schlesien und die benachbarten Lande, Alles mit Feuer und Schwert vernichtend. Žižka, ein grimmiger Feind der Geistlichkeit und des Adels, zertrümmerte die Schlösser und Burgen, ließ ihre Bewohner über die Klinge springen, und verzieh am wenigsten den Priestern. Alle alten Denkmäler gingen verloren. Das entsetzte Europa wußte nicht mehr, wie der schreckliche Mann aufzuhalten sei, welcher sich nicht mir der Verteidigung in seinen Bergen begnügte, sondern rings herum alle Nachbarn beunruhigte. Neben den Kämpfen außerhalb wüteten noch immer Umtriebe inmitten der Hussiten. Die Bekenner entfalteten die Lehre des Gründers weiter, es bildeten sich neue Sekten, welche nicht nur dem Rationalismus, dem Heidentum, sondern sogar der Wildheit sich zuneigten. Es gab z.B. eine Sekte der Adamiten512, gegen welche sogar Žižka Strenge brauchte, und den Katholiken gleich zur blutigen Vertilgung verdammte. Nach dem Tode Žižkas führten seine Nachfolger das Werk der Vernichtung weiter; aber die Überbleibsel des Adels und die Bürger in den Städten zitterten um ihr Leben und Eigentum, als sie sahen, daß dieser theologische Streit das Land dem Verderben zuführte, und suchten mit den Katholiken Frieden zu schließen. Die Städte traten zuerst den Verträgen bei; man schloß einen Waffenstillstand und gab beiderseits einige minder wichtige Streitpunkte auf. Die Hussiten befriedigten sich damit, daß ihnen nun frei stand, das Allerheiligste in den beiden Gestalten des Brotes und Weines zu empfangen, was, weil es in der Kirche nie als Dogmensache betrachtet ward, 511 Jan Žižka (1360–1424); vgl. Josef Pekař: Josef Žižka a jeho doba. Praha 1992. 512 Vgl. Svatopluk Čech: Die Adamiten. Ins Deutsche übersetzt von Josef Weinberger. Dresden- Leipzig 1912.

24. Vorlesung (26. März 1841)

325

ihnen zugestanden wurde, und endlich kam der Friede zu Stande. Die mit den Katholiken vereinten Hussiten rotteten die vom Hauptprinzip ihrer Lehre abgefallenen Sekten aus, und stellten für einige Zeit die Ordnung im Lande wieder her. Aber die Größe des Tschechenlandes, sein ungeheurer Einfluß auf das Slaventum, gingen auf immer verloren. Zwar hatte in der ersten Zeit die religiöse Diskussion die Gemüter geweckt und sehr zur Ausbildung der Sprache beigetragen; jedoch wahrte dies künstliche Leben nicht lange, und kaum war ein Jahrhundert verflossen, so neigte sich auch die tschechische Literatur gänzlich dem Verfall. Die Religionskriege machten dem volkstümlichen Chronikenschreiben ein Ende, alle Gemüter versenkten sich in die Theologie, die Sprache, in der Schule entwickelt und ohne Gemeinsamkeit mit der Sprache des Volkes, mußte in Kurzem ihr Ziel erreichen und aussterben. Alle Hoffnungen des Slaventums von dieser Seite her wurden getäuscht. Neben dem in die Enge zusammengedrängten und von allen Seiten bedrohten Polen gerieten die Tschechen in Unordnung und Verwirrung. Unterdessen dehnten Moskau und Litauen ihre Eroberungen im Norden aus. Die Handelstädte der Rus’, von den moskovitischen Fürsten angefeindet, suchten Verteidiger ihrer Rechte unter den litauischen Fürsten. Diese traten an die Spitze der Städte, bewahrten deren Freiheiten und Einrichtungen, waren nur die wirklichen Führer ihrer Kriegsmacht und begnügten sich mit den ihnen übertragenen Schenkungen, da hingegen die moskovitische Dynastie die uralte Organisation der Städte zu vernichten, zu unterjochen und in ihrer Alleinherrschaft zu verschlingen trachtete. Auf diese Weise kam es, daß Litauens Einfluß, anfänglich so furchtbar durch seine augenblicklichen Überfälle und Plünderungen, späterhin durch die ritterliche Verteidigung der slavischen Freiheiten sich in Polock, Vitebsk, Pskov und Novgorod sehr befestigte. Die litauischen Eroberer, die ihre Herrschaft nach dem Süden ausdehnten, kamen bis nach Kiev und bald in Berührung mit den tatarischen Horden, die von der großen asiatischen Horde abhingen. Die Große Horde hatte bedeutende Verluste in Asien erlitten, von China zurückgetrieben, verlor sie auch Persien; aber ein Teil derselben, bekannt unter dem Namen der Goldenen Horde513, die am Kaspischen Meer lagerte, drückte schwer auf die slavischen Länder. Eine Abteilung dieser Horde, die kleine oder die Perokopische genannt, besaß die Halbinsel Krim oder Taurien, und richtete von dort aus ihre Verheerungen über die südliche Rus’, Polen und Ungarn hin. Die unternehmenden litauischen Fürsten, wie das ganze Geschlecht der Normannen, begnügten sich nicht mit der Verteidigung ihrer Besitzungen gegen 513 Vgl. Bertold Spuler: Die Goldene Horde. Die Mongolen in Rußland; 1223–1502. Wiesbaden 1965.

326

Teil I

die Tataren, sondern sie wollten ihnen einen Schlag im eignen Neste versetzen. Der Großfürst Olgierd514, der sich fast ganz allein vom baltischen Meere aufmachte, sammelte unterwegs die Scharen seiner Verwandten und Lehnsleute, und mit diesen Streitkräften drang er in die Steppen und in die Halbinsel ein, und demütigte dermaßen die Perekoper, daß sie von nun an Litauen unterthänig wurden und ihre Chane von den litauischen Großfürsten eingesetzt erhielten. Schon Olgierds Vater, Giedymin515, ließ die Schwertritter die Schärfe seines Schwertes dermaßen fühlen, daß der Bischof zu Riga ihn als seinen Oberlehnsherrn anerkannte und Lehnsträger von Litauen wurde. Gedymins Politik bestand darin, daß er allenthalben die Fürstentümer mit seinen Söhnen und Verwandten besetzte, für sich die Oberherrschaft behielt, und so eine feudale, sehr einfache und kräftige Organisation ausbreitete. Litauens Übergewicht lastete schon längst bei abwechselnden Überfällen empfindlich auf Polen; jetzt aber beginnt es ununterbrochen auf dasselbe in Masowien (Masuren) und Rotrußland zu drücken. Die masowischen Fürsten, wenngleich durch die litauischen nicht zu Lehnsträgern umgewandelt, standen gänzlich unter ihrem Einfluss; die langen Kämpfe um die galizischen Besitzungen endeten meist mit dem Übergang des größten Teils derselben in die Hände der Litauer. Gedymin und seine Söhne bildeten die größte Macht im Norden. Ihr Reich ging vom baltischen bis ans schwarze Meer, breitete sich von der einen Seite noch hinter der Düna und dem Dnjepr weitaus, auf der anderen lehnte es am Bug und Dnjestr. Die Großfürsten von Litauen, wenn auch selbst Heiden, erlaubten dennoch den Verwandten die Taufe und den lateinischen oder griechischen Ritus; dies geschah aber aus dem Grund, um desto leichter in den Ländern der Rus’ und masowischen Ländern zu herrschen. So standen die Sachen nach dem Erlöschen des königlichen Hauses der Piasten; der zum polnischen Throne berufene ungarische Ludwig segnete das Zeitliche, und hinterließ nur zwei Töchter. Einer von ihnen gaben die Polen die Krone. Die vierzehnjährige, wunderschöne Jadwiga (Hedwig)516 langte in Krakau an, und die Stände begannen auf die Wahl eines Gatten für sie zu denken. Als Jagiełło517, der Großfurst von Litauen, von der Schönheit der jungen Königin hörte, so schickte er Gesandte zu ihr, um ihr seine Hand anzubieten. 514 Algirdas, polnisch Olgierd (1296–1377), Sohn des Gediminas war ab 1345 Großfürst von Litauen; vgl. Jan Tęgowski: Pierwsze pokolenia Giedyminowiczów. Poznań–Wrocław 1999. 515 Gediminas, polnisch Giedymin, Gedymin (1275–1341), war ab 1316 Großfürst von Litauen. 516 Hedwig von Anjou – Jadwiga Andegewańska (um 1373–1399), Tochter von Ludwig I. von Anjou, dem König von Polen, Ungarn und Kroatien. 517 Władysław II Jagiełło (um 1362–1434); vgl. Jadwiga Krzyżaniakowa, Jerzy Ochmański: Władysław II Jagiełło. Wrocław 2006.

24. Vorlesung (26. März 1841)

327

Dies erschreckte die Jadwiga; denn nicht nur liebte sie einen deutschen Fürsten, welcher mit ihr zugleich erzogen, ihr in der Kindheit anverlobt war und in Jugendfrische, Schönheit und Tapferkeit prangte, sondern auch weil sie außerdem in Jagiełło, der schon vierzig Jahre zählte, einen rohen Barbaren vermutete. Lange mußten die großen Herren gegen ihre Abneigung kämpfen; endlich gelang es den Geistlichen sie geneigt zu machen, indem sie ihr vorstellten, welch große Vorteile hieraus für die Christenheit und Polen erwachsen würden. Die Kirche gewann hierdurch den letzten und furchtbarsten heidnischen Gewalthaber, mit demselben fast den ganzen ihm untertänigen Norden; Polen aber durfte außer der Ausdehnung der Grenzen und Vergrößerung der Macht, auch noch die Rückkehr vieler Tausende seiner Einwohner, welche durch die Litauer in die Wälder verschleppt worden, erwarten. Die durch solche Gründe bewogene Jadwiga willigte ein, Opfer zu bringen und Jagiełłos Hand anzunehmen, mit dem sie glücklich lebte. Dies war die wichtigste, ja die entscheidendste Begebenheit in der Geschichte des Nordens. Die litauischen Fürsten mußten, indem sie moskovitisch oder polnisch wurden, dem Heidentum entsagen. Sie waren gewaltiger als die von Moskau, hätten daher gewiß ihre Stelle eingenommen und deren Politik sich angeeignet. Alsdann wäre Polen ihr Raub geworden, und dem ganzen Europa hätte Gefahr gedroht. Denn sie besaßen mehr Eroberungsgeist als die moskovitischen Fürsten, und einmal mit den Tataren in Berührung gekommen, wäre es ihnen ein Leichtes gewesen, die mongolische Politik anzunehmen. Jetzt aber gewann Polens Einfluß die Oberhand über Moskau. Die polnische Bildung, auf die Kraft der litauischen Fürsten gestützt, durchdrang den ganzen Landstrich zwischen Polen und Moskau, und vereinte so hier die beiden geteilten slavischen Elemente. Es schien, als waren die litauischen Fürsten bestimmt gewesen, den Norden zu erobern. Eigentlich waren sie bloß Eroberer. Polen war es nie; sogar die moskovitischen Fürsten entrissen nur ihren Verwandten die Besitzungen, bedrückten die Länder der Rus’, aber auf Eroberungen fremder Länder ließen sie sich nicht ein. Der Gedanke an Eroberungen bewegte den Geist des Mittelalters fast gar nicht; die Christenheit im Allgemeinen hatte keinen solchen Begriff von der Einnahme der Länder, den die Heiden oder unsere Zeitgenossen damit verbinden. Man nahm Lander, auf welche man wirkliche oder angebliche Rechte besaß. Die Fürsten der Rus’ strebten die dem Zepter des Großfürsten untertänigen Völker in einen Körper zu verschmelzen; sie traten daher, versehen mit irgendeinem Recht aus den Verhältnissen der herrschenden Familie hergeleitet, auf. Die Könige von Polen betrachteten sich nach uralten Überlieferungen für die rechtlichen Besitzer des Ländergebiets von Pommern bis zu den Gegenden des Bug; wie oft sie daher auch die hinter diesem Fluß gelegenen

328

Teil I

Länder der Rus’ erobert hatten, so verließen sie dieselben doch immer, weil sie niemals zugeben konnten, daß man ein Land, ohne ein Recht darauf zu haben, erobern und behalten dürfe. Diese Vorstellungen erklären uns jene Menge von Einfällen der Heere der Rus’ in Polen, der Polen in die Länder der alten Rus’, die ohne bleibende Veränderung endeten. Beide Parteien kehren, nachdem sie mit dem Schwert sich gemessen, wieder heim, und die Grenzen sind in Kurzem wieder die alten. Die Mongolen wurden durch ihre Vernichtungsnatur zu Eroberungen getrieben, die Normannen durch ihre Einrichtungen und Religionsbegriffe. Die Gründer des Reichs der Rus’ brachten in wenigen Jahren jene Ländermasse zusammen, die das Besitztum ihrer Nachkommen blieb; die litauischen Fürsten schienen nun bereit, die Geschichte der Rjuriken zu wiederholen, sie bedrohten schon nicht nur Polen und die Rus’, sondern auch Tschechien und Ungarn.

25. Vorlesung (30. März 1841) Das Jagellonische Zeitalter – Charakteristik des Großfürsten von Litauen Władysław Jagiełło nach der Besteigung des polnischen Throns – Auswirkungen der Vereinigung der Polen mit den Litauern – Der Krieg mit dem Kreuzritterorden, die Schlacht auf dem Tannenberg – Sieg der Jagellonen über die Türken – Niederlage bei Varna – Politik der Päpste – Das Schisma – Die Eroberung von Konstantinopel durch die Türken – Zusammenfassung der slavischen Geschichte bis auf die Jagellonische Zeit.

Wir treten nun in einen Zeitabschnitt, der nicht nur für Polen, sondern auch für die anderen slavischen Länder das Jagellonische Zeitalter genannt werden kann. Die politische Geschichte von Tschechien, der Rus’ und Ungarn als der über slavische Völker waltenden Reiche, verdienen zwar jede für sich große Aufmerksamkeit; aber im Laufe von zwei Jahrhunderten hat Polen allein hinlängliche Kraft gezeigt, aus sich heraus die Literatur zu entfalten, ganz allein auf diese Länder einen sittlichen Einfluß ausgeübt. Daher wollen wir das 15. und 16. Jahrhundert das Jagellonische nennen. Das Hauptmerkmal der Geschichte dieser Epoche ist der christliche Geist, ein Geist der Rechtlichkeit, welcher die Taten Polens von der Geschichte Österreichs und der germanischen Völker klar und deutlich unterscheidet. Mit dem Besteigen des polnischen Throns zeigt sich eine ungemeine Veränderung im Charakter und den Sitten des Władysław Jagiełło.518 Dieser tapfere, grausame Fürst übertraf, wie alle seines Hauses, an Hinterlist die normannischen Fürsten, und galt als der schlaueste in seiner Familie; nachdem er aber die Königin von Polen geheiratet, scheint er sein früheres Wesen abgelegt zu haben; von nun an gewinnt er die Herzen der Polen meist durch Güte, Milde und durch Verzeihen der Beleidigungen; er wird ein Muster eines christlichen Monarchen, hinterläßt es seinen Nachfolgern, und findet in ihnen vollkommene Nacheiferer. Zweihundert Jahre hindurch hörte man keine Klage führen über die Jagellonen, daß sie eine unedle Tat begangen oder sich eines Verbrechens in persönlichem oder dynastischem Interesse schuldig gemacht hätten. Das Werk der Vereinigung des Königreichs Polen und des Fürstentums Litauen war eine äußerst wichtige, zugleich aber auch äußerst schwierige Sache. Diese beiden Völker redeten verschiedene Sprachen, sie gehörten zu gänzlich verschiedenen Volksstämmen, die nichts Gemeinsames weder in Überlieferungen noch religiösem Kultus hatten. Überdies bestand noch in politischer Hinsicht eine Scheidewand unter ihnen. In dem feudalistisch geordneten Litauen dehnte sich die Alleinherrschaft der Fürsten grenzenlos 518 Władysław II Jagiełło (vor 1362–1434).

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_026

330

Teil I

aus; in Polen teilte der höhere Adel die Gewalt mit dem König. In solchen Verhältnissen mußte der Herrscher durch sein Ansehen den gegenseitigen Unmut besänftigen, einerseits den Litauern Gehorsam gebieten, andererseits das Mißtrauen der Polen entwaffnen. In der langen Zeit der Jagellonenherrschaft vermochten die unaufhörlichen Bemühungen nach diesem Endzweck hin endlich beide Völker zu vereinen. Wahrscheinlich ist dies das einzige Beispiel in der Weltgeschichte von einem vollkommenen Verschmelzen zweier Geschlechter, das keinen Tropfen Blut gekostet. Denn wenn auch die Litauer sich lange widersetzten, und die Polen auch öfters die Union aufheben wollten, so kam es doch nie zur Anwendung gewaltsamer Mittel. Die tiefe Politik der Jagellonen beruhte auf Geduld und Milde. Die in derselben Zeit unter einem Zepter vereinten drei skandinavischen Königreiche, Schweden, Dänemark und Norwegen, verblieben ungeachtet aller Mühe der Herrscher, diesen Bund zu erhalten, nicht ein Jahrhundert beisammen, während die slavische Union bis auf den heutigen Tag dauert. Die Nachbarn sahen diese Vereinigung jedoch als eine ihnen drohende Gefahr an. Das Haus Luxemburg reizte durch alle möglichen Mittel die Litauer gegen Polen auf. Die bewaffneten Mönche des deutschen Ordens sahen sogleich vorher, was ihrer harrte. Schon die Bekehrung Litauens machte den Orden überflüssig. Deshalb dämpften sie auch nach Möglichkeit die über ganz Europa erschallende, glückliche Kunde von diesem wunderbaren Ereignis, sendeten Boten an den Papst mit Nachrichten, die denen des polnischen Königs widersprachen. Offenbar fiel der Beweggrund ihres Daseins von nun an weg; denn wozu sollte ein bewaffneter Orden von Aposteln dienen, da es jetzt nichts zu bekehren gab? Derselbe war nicht nur unnötig geworden, sondern war nun sogar gezwungen, seine innere, ursprüngliche Tendenz offen zu zeigen, daß er die schon bekehrten Völker unterjochen wollte. Und in der Tat haben auch die Hochmeister, nachdem sie in wirkliche Monarchen sich umgewandelt, die Basis ihrer Macht in der Politik gesucht, und den Krieg unternommen, auf den Ausfall einer Schlacht alles stellend. Hätten sie dieselbe gewonnen, so hätten sie schon damals Polen zerrissen, und es dann mit dem österreichischen Kaiser und den schlesischen Fürsten geteilt, wozu schon geheime Verträge vorhanden waren. Ebenso glaubten sie auch, Litauen mit Hilfe ihrer Bundesbrüder, der Schwertritter, bald zu überwältigen. Beide Parteien also trafen ihre Vorkehrung für den Entscheidungstag. Der König von Polen berief die Litauer und die dem litauischen Großfürsten damals huldigenden Tataren, die Kreuzritter aber alle Fürsten, mit denen sie Bündnisse oder Verwandtschaftsverhältnisse hatten. Es kam zum Treffen im Jahre 1410 zwischen Tannenberg und Grünwalden in Preußen. Nie hatte

25. Vorlesung (30. März 1841)

331

man bis dahin im Norden so wohlgeordnete, ungeheure Streitmächte gesehen. Die Deutschen waren nach den polnischen Chronikern l50 000 nach den deutschen aber nur 80 000 Mann stark, für jene Zeiten eine ungeheure Kraft, besonders weil sie aus vollkommen geregelten und eingeübten Truppen bestand und Kanonen hatte, welche die Gegner sehr in Schrecken setzten. Die Polen hatten kaum einige Tausend reguläre Kriegstruppen, aber der ganze polnische Adel betrat im allgemeinen Aufgebot zugleich mit den Litauern und Tataren die Walstätte. Anfänglich vertrieb die schwere deutsche Reiterei die Litauer und Tataren, doch die leichten Fähnlein der adeligen Reiterei Polens vermochten nach langem Kampf endlich die deutschen Reiterhaufen zu werfen, und dann das Fußvolk aufrollend, errangen sie einen vollkommnen Sieg. Das Feld war mit Leichen bedeckt, 50000 Deutsche fielen. Der Hochmeister, der Ordens-Marschall, die Großkomturen und beinahe alle Ritter des Ordens, mit Ausnahme der in den Festungen als Besatzung stehenden, blieben auf dem Kampfplatz. Man brachte dem König die Kette und das Reliquienbuch des Hochmeisters. Der Todesstoß war dem Orden versetzt; der König jedoch wollte das Glück nicht mißbrauchen und ging in Verträge ein, gab allen Gefangenen die Freiheit, und zeigte sich so billig in den Verhandlungen, daß die Schriftsteller, sowohl die Zeitgenossen als auch die späten polnischen Geschichtschreiber ihn beschuldigen, er habe den Sieg nicht zu benutzen verstanden. Aber diese Milde des Jagiełło gewann ihm die Gemüter der Deutschen, welche später selbst die Kreuzritter verjagten, sich unter den Schutz der polnischen Könige begaben und sich mit Polen vereinten. Demnach waren also die slavischen Länder diesseits für immer von dem Übergewicht der Deutschen befreit; dahingegen die Deutschen im Falle der Besiegung Jagiełłos das ganze Slaventum überströmt hätten. Schon drängte sich, dieses Geschlecht, nachdem es Tschechien bezwungen, von der andern Seite her gerade in die Mitte hinein, und jetzt hätten die Kreuzherren, in Vereinigung mit den Schwertrittern, von der Weichsel bis nach Riga und sogar bis in die Gegenden von Petersburg sich ausgebreitet. Unterdessen riefen noch wichtigere Begebenheiten den polnischen König hinter die Karpaten. Nach der Beendigung der Hussitenkriege und dem Tod des Kaisers baten die Tschechen die Jagellonische Familie, ihren Thron anzunehmen. Der König wollte nicht, auch riet ihm der Senat, sich mit dem polnischen zu begnügen. Die Großen sahen die Gefahren dieser Vereinigung der beiden Staaten vorher, sie fürchteten den Sektengeist der Hussiten. Der König entschuldigte sich damit, daß es ihm schwer fallen würde, zwei ausgedehnte Reiche zu regieren, außerdem aber stand seine Meinung fest, daß die tschechische Krone Sigismund gehörte; daher hielt er es für seiner unwürdig, darnach

332

Teil I

zu langen, wenngleich Sigismund sein heftigster Feind war. Als sogar ein Verwandter und litauischer Fürst (Korybutowicz)519 sich nach Tschechien begab und zum König ausrufen ließ, verbot er ihm, diesen Titel zu tragen und befahl ihm heimzukehren. Auch die Ungarn schickten ihre Gesandten, um dem Jagellonischen Hause die Krone anzubieten. Der alte Jagiełło lebte nicht mehr. Sein jugendlicher Sohn, zum Könige von Polen ausgerufen, sträubte sich lange die Krone Ungarns anzunehmen, endlich ging er nach Ungarn, erklarte aber feierlich, daß er sie nur in der Absicht annehme, die Christenheit vor den Türken zu schützen; denn gerade zu der Zeit hatten diese das Königreich der Bulgaren zertrümmert, in der Schlacht auf dem Amselfeld die Serben vernichtet, und bedrohten schon Ungarn, Tschechien und alle übrigen slavischen Länder. Der König von Polen520 zog mit einem Kriegsheer, aus lauter Freiwilligen bestehend, gegen die Türken, trug einen großen Sieg, über dies bis dahin für unbesiegbar gehaltene Volk davon, und zwang den Sultan zu einem für die Christen sehr günstigen Frieden. Der Sultan bewilligte alles, ging aus Serbien zurück, verließ die eroberten Festungen und befreite sogar die Gefangenen, was damals unerhört war. Die damalige Lage des Reichs nötigte den polnischen König, den Vertrag zu unterschreiben; weshalb der Sultan sich aber so bereit zeigte, blieb unbekannt. Einerseits traf ihn die Nachricht von einem Aufstand in Asien, und andererseits hörte er von dem Herannahen der den Christen zu Hilfe eilenden Streitkräfte. Denn nachdem der Papst unter vielen Fürsten des Abendlandes einen Frieden zu Stande zu bringen vermocht hatte, schickte er eine Flotte, welche schon am Eingang des Schwarzen Meeres sich befand. Als nun diese Beweggründe der Bereitwilligkeit allgemein bekannt wurden, bereute der König seine eigene Eilfertigkeit in Annahme der Bedingungen. Die Ungarn und sogar der Despot von Serbien521, früher eifriger Parteigänger des Friedens, bedauerten es zugleich mit dem König. Alle wollten den Krieg erneuern. Der Kardinal Giuliano Cesarini522 entband den König von dem eidlich geschlossenen Vertrage und man griff zu den Waffen. Die Polen und Ungarn setzten über die Donau, überschritten Bulgarien und machten unter Warna Halt. Am ersten Tage war der Sieg auf der Seite der Christen. Nachdem sie die türkische Reiterei geworfen, drangen sie bis zum Lager vor, wo ihnen nur noch die 519 Zygmunt Korybutowicz [auch Korybut] (um 1395–1435). 520 Władysław III (1424–1444). Vgl. Mieczysław Bielski: Władysław Warneńczyk na Bałkanach (1443–1444). Dwie wyprawy. Toruń 2009. 521 Đorđe Branković (1461–1516). 522 Giuliano Cesarini (1338–1444).

25. Vorlesung (30. März 1841)

333

Janitscharen Widerstand leisteten. Alsdann rieten die Ungarn dem König, die Scharen zurückzurufen, den Kampf einzustellen und den folgenden Tag die Türken mit allen Kräften zu erdrücken. Der polnische König aber, sei es, daß er das erste Glück benutzen zu müssen glaubte, oder vielleicht den Ruhm des Sieges allein davontragen wollte, griff das türkische Fußvolk an, und fiel selbst inmitten des heißesten Kampfes. Das durch den Tod des Königs erschreckte Heer nahm die Flucht, die Türken blieben Herren der Wahlstatt. Seitdem wagte keiner von den christlichen Fürsten gegen die Türken über die Donau zu gehen. Diese Schlacht entschied das Geschick des morgenländischen Reiches. Als der griechische Kaiser die Nachricht von dem Tode des Königs von Polen hörte, sagte er zu seinen Hofleuten: „Nun sehe ich schon die Türken in Konstantinopel.“ Die Wirkungen davon ließen sich auch empfindlich im Westen fühlen; sie vernichteten die Bemühungen des Papstes, welche die Vereinigung der griechischen mit der römischen Kirche bezweckten. Diese Angelegenheit war eine der wichtigsten für die slavischen Länder; wir wollen sie in Kürze erzählen. Seit Innozenz III.523 bestrebten sich stets die Päpste, alle christlichen Herrscher gegen die Türken zu vereinigen. Diese erhabene Aussicht lenkte die Politik Innozenz III. und aller seiner Nachfolger, von Gregor IX. bis auf Martin V. und Eugenius IV. Die deutschen Kaiser, wenn auch selbst den Überfällen der Türkei ausgesetzt, wollten dennoch an diese Unternehmungen, welche die Christenheit betrafen, nie Hand anlegen; nur die Könige Frankreichs waren immer bereit, in Angelegenheiten der Kirche zu kämpfen. Der Apostolische Stuhl bemühte sich auch, um sein Ziel zu erreichen, Polen mit der Rus’ und dem griechischen Reich zu verbinden; fortwährend wurden Legaten an verschiedene Höfe abgeschickt, und er hörte während der Kriege und Empörungen im Abendland nicht auf, zur öffentlichen Kunde zu bringen, daß eine bei weitem wichtigere Sache in Asien vorgehe, daß von dem Übergewicht in Konstantinopel und in dem Morgenland die Zukunft von Europa abhänge. Wir haben schon gesagt, wie das erste Schisma524 in Konstantinopel entstand, was dessen hauptsächliche Triebfeder war. Erinnern müssen wir noch, daß der Streit des Dogmas bloß zum Scheine diente, und den Kaisern bloß darum zu tun war, die Kirche unter ihre Gewalt zu bringen. Anfänglich unterstützten die Patriarchen die Bemühungen der Kaiser; als sie aber sahen, daß sie deren Sklaven werden sollten, wollten sie die weltliche Gewalt mir denselben Mitteln abschütteln, und ersannen neue Aufwiegelungen. Erst dann erkannten die Kaiser die ihnen drohende Gefahr und waren gern in den Schoß der 523 Innozenz III. (um 1160/61–1216). 524 Vgl. die 12. Vorlesung (Teil I).

334

Teil I

Kirche zurückgekehrt, besaßen jedoch weder Kraft genug, die Patriarchen zu diesem Schritte zu zwingen, noch das Volk nach sich zu ziehen. Sie ergriffen daher eine andere Politik, nämlich in Konstantinopel eine volkstümlich griechische Kirche zu gründen, und alle abgefallenen Zweige der römischen Kirche um die Person des Kaisers zu neutralisieren. Dies gelang ihnen aber noch viel weniger, denn aus der morgenländischen Kirche entstanden einige Sekten, wie die Taboriten525 und Bilderzerstörer (Ikonoklasten)526, welche die Kaiser noch mehr als die Türken haßten. Endlich erkannte man in Konstantinopel allgemein die unbedingte Notwendigkeit, sich wieder mit Rom zu vereinigen. Nachdem die Palaiologen nach der Beendigung der Kreuzzüge auf den Thron erhoben waren, schickten sie Gesandtschaften und reisten selbst, um mit dem Papst und den Königen des Westens zu unterhandeln. Johann V. Palaiologos527 entsagte im Jahre 1369 der Ketzerei und legte öffentlich das Glaubensbekenntnis ab; weil ihn jedoch hierzu politische Berechnungen geführt hatten, gewann er auch dadurch nichts, und kaum nach Konstantinopel zurückgekehrt, dachte er nicht mehr an Religionsangelegenheiten. Später, im Jahre l400, kam sein Sohn Manuel II.528 nach Paris, wo er ein ganzes Jahr mit dem französischen König unterhandelte, aber auch nicht die mindeste Hilfe von Karl IV., einem an Leib und Seele schwachen Könige, erlangen konnte. Der griechische Kaiser schrieb Briefe gegen die katholische Kirche nach Hause, im Geheimen aber feilschte er mit dem Papst, versprach unter der Bedingung, daß er Hilfstruppen gegen die Türken bekäme, zur Kirche überzutreten. Der Papst konnte diese Hilfe von den unter einander politisch uneinigen Monarchen nicht ermitteln, und unterdessen trat ein Schisma wegen zweier miteinander kämpfenden Päpste in der katholischen Kirche selbst ein. Endlich begab sich Paläologos noch einmal nach Rom. Nach langen Verhandlungen kam man über die Berufung einer allgemeinen Synode überein; denn bis dahin erkannten die Griechen den Versammlungen den allgemeinen Charakter nicht zu, und verweigerten deshalb ihren Beschlüssen den Gehorsam, weil ihre Gesandten nicht im Rat gesessen. Das Konzil von Basel529, welches nach Ferrara verlegt war, sollte nun den ganzen Streit entscheiden; auch der Kaiser mit dem Patriarchen und einer 525 Taboriten, militante Fraktion der Hussiten, benannt nach ihrem ab 1420 befestigten Lager in Südböhmen, der Burg Tábor, die ihren Namen von dem biblischen Berg Tabor hatte; vgl. Reinhard Schwarz: Die apokalyptische Theologie Thomas Müntzers und der Taboriten. Tübingen 1977. 526 Vgl. dazu Leslie Brubaker: Inventing Byzantine Iconoclasm. London 2012. 527 Johann V. Palaiologos (1332–1391). 528 Manuel II. Palaiologos (1350–1425). 529 Vgl. Johannes Helmrath: Das Basler Konzil, 1431–1449. Forschungsstand und Probleme. Köln 1987.

25. Vorlesung (30. März 1841)

335

zahlreichen Schar morgenländischer Kirchenväter besuchte dasselbe. Seit langer Zeit war ein so zahlreiches Konzil nicht gesehen worden. Die Bevollmächtigten der Patriarchen von Jerusalem, Konstantinopel, Antiochien und Alexandrien, außerdem viele Metropopoliten aus Asien nahmen neben dem Papst und den Bischöfen des Westens Platz. Man stellte in gutem Glauben Betrachtungen darüber an, worin die Bekenntnisse der beiden Kirchen sich unterschieden. Der Patriarch hoffte, die abendländische Kirche auf seine Seite zu bringen, erklärte sich jedoch nach langen Beratungen für besiegt; man überzeugte sich, daß keine Verschiedenheit in den Dogmen bestand, sondern daß die Entzweiung bloß wegen einiger Gebräuche stattgefunden, und jetzt blieb nur noch die genauere Abfassung der streitigen Artikel übrig. Die von Ferrara nach Florenz verlegte Synode beendete das Vereinigungswerk der Kirche. Das Glaubensbekenntnis wurde abgefaßt, welches die Bischöfe und Metropoliten einmütig unterschrieben. Joseph, der Patriarch von Konstantinopel, die Abgesandten aller Metropoliten des Morgenlandes, der Metropolit von Kiev als Haupt der slavischen Kirche, traten der Union bei, später aber auch der Patriarch von Armenien, der Patriarch der Kopten und der Kaiser von Abyssinien, sodaß es einige Zeit schien, als hätte die ganze Christenheit sich in Einer Kirche und unter Einem Hirten vereinigt. In Florenz wurde das Te Deum in lateinischer und griechischer Sprache gesungen, der Papst und der Patriarch hielten die Messe. Der griechische Kaiser, durch die Beendigung dieser Sache erfreut, beschwor die Union, ohne vorherzusehen, welchen Widerstand dieselbe bei den Griechen und den Slawen finden würde; denn diese Völker und die niedere Geistlichkeit, lange durch die höhern Geistlichen bearbeitet und aufgewiegelt, widersetzten sich hartnackig jeder Vereinigung mit Rom. Ein gewisser Bischof Markus aus Ephesus530, der einzige, welcher den Beschlüssen der Kirchenversammlung nicht beigetreten, wiegelte bei seiner Heimkehr in Konstantinopel die Menge auf, und klagte vor seinen Parteigängern die Versammlung der Anwendung von Gewaltmitteln und der Bestechlichkeit an. Das Volk war gegen die Lateiner so erbittert, daß es schwor, die Kathedrale der heiligen Sophie nicht zu besuchen, und betrachtete diese Kirche als ketzerisch und verflucht. Der Kaiser, durch diesen Widerstand abgeschreckt, wagte nicht gegen Markus offen aufzutreten und konnte dies auch nicht, sondern ließ die Sache gänzlich fallen. Der slavische Bischof, der Metropolit von Kiev531, fand zwar in Polen und den dem Großfürstentum Litauen angehörigen Ländern eine sehr gute 530 Markus aus Ephesus – Markos Eugenikos (1391/92–1444). 531 Isidor von Kiew – Izidor Kijevski (1380/90?–1463).

336

Teil I

Stimmung für die Union, aber der moskovitische Fürst sah die Gefahr, welche hieraus für ihn hervorgehen konnte, vorher, und dachte deshalb auf Organisation seiner Kirche, er rief den Synod zusammen und befahl ihm, den Metropoliten zu richten, ja er würde ihn für sein ganzes Leben in ein Kloster eingekerkert haben, wenn derselbe nicht eilig nach Konstantinopel entflohen wäre. So war also in Polen die slavische Kirche katholisch, in den Ländern der Rus’ spaltete sie sich aber in zwei Teile; der eine unter der Oberleitung des Bischofs von Kiev hielt an den Beschlüssen von Florenz, der zweite verblieb bei der Lehre des Photius aus dem 9. Jahrhundert. Nun mußte der griechische Kaiser, jedweder Hoffnung auf Hilfe beraubt, den Türken allein die Spitze bieten, die nach der Einahme von Adrianopel von allen Seiten Konstantinopel bestürmten. Der letzte Paläolog verbesserte die Fehler seiner Vorfahren durch Mut und Größe des Charakters. Jenen mangelte es zwar auch nicht an Mut und Gewandtheit in der Politik, aber nur er allein zeigte jene Selbstaufopferung und Großherzigkeit, die bei den Griechen nicht zu finden war. Die gewandten aber zugleich niederträchtigen Griechen schlossen die nichtswürdigsten Verträge, gaben ihre Töchter für die Harems der Sultane hin, stachen den Söhnen auf Verlangen die Augen aus, und zahlten willig den Tribut. Der letzte Paläolog wies alle diese erniedrigenden Bedingungen von sich und wollte lieber in der einzigen Stadt, die ihm vom ganzen Reich übrig geblieben, mit der Waffe in der Hand fallen. Schon konnte er auch hier keine, weder moralische noch materielle Kraft für sich gewinnen. Konstantinopel war im ganzen Kaiserreich die größte, schönste und am meisten gewerbefleißigste Stadt, aber ihre reichen Bewohner vergruben das Geld so gut, daß in den Kirchen das Gold und Silber gesammelt werden mußte, um einige Münze prägen zu können. Die Handelsleute schlichen heimlich aus der Stadt, um ihre Ware und ihre Entdeckungen dem Feind anzubieten, die Kaufleute vermieteten ihre Schiffe zum Überfahren der türkischen Streitkräfte aus Asien. Der Kaiser schützte mit einer Handvoll Genueser, Venezianer, französischer und deutscher Ritter und mit einigen tausend Slaven diese ungeheure in Spekulationen versunkene Stadt. Nach einem langen und wackeren Widerstand fiel er kämpfend und Konstantinopel kam zehn Jahre nach der Schlacht bei Warna, welche schon das Schicksal des Kaiserreichs entschieden hatte, in die Hände der Türken. Die Religionsgeschichte des griechischen Kaisertums und der slavischen Länder steht in genauem Zusammenhang mit den politischen Schicksalen dieses Reichs. Man kann dreist sagen, daß die griechischen Kaiser allen politischen Scharfsinn angestrengt haben, um das Kaiserreich ins Verderben zu stürzen. Sie lockerten das Band, das die slavischen Lander vereinigte, taten alles Mögliche, um dieselben von dem Einfluß Roms, des Apostolischen Stuhls,

25. Vorlesung (30. März 1841)

337

loszureißen, vertrieben die katholischen Bischöfe aus Bulgarien, brachten es dahin, daß auch in Serbien der östliche Ritus sich festsetzte, flößten den Griechen in Kleinasien grimmigen Haß gegen die Katholiken ein. Als sie dies später wieder gut machen wollten, waren sie es selbst nicht mehr im Stande. Die Griechen des Morgenlandes ahmten das erste Kriegsgeschrei der ersten byzantinischen Abtrünnigen nach, und riefen aus: „Lieber den Türken als den Papst.“ Die Serben, ähnlich schreiend, begehrten keine Hilfe von den Lateinern, sondern befreundeten sich mit den Türken. Ihrem Beispiel folgten die Bulgaren. Das östliche Kaiserreich, von allen verlassen, fiel als ein Opfer der tiefen Berechnung seiner Monarchen. Noch muß man hinzufügen, daß ihre Vorkehrungen am meisten zum mißlichen Ausgang der Kreuzzüge beitrugen. Sie waren nicht im Stande, den guten Glauben und die Selbstaufopferung dieser Streiter zu begreifen, sie fürchteten stets deren Eroberungsgeist, bestrebten sich daher, ihre Kräfte zu vernichten, und machten sich dadurch nicht nur den Kreuzrittern verhaßt, sondern trugen auch zur Befestigung der türkischen Macht wesentlich bei. Nach dem Tode des Władysław Warneńczyk stritten eine Zeit lang mehrere Fürsten um das Zepter von Ungarn und von Tschechien, indem sie mehr oder weniger begründete Rechte in Anspruch nahmen. Später aber wird wiederum ein Jagellone532 berufen; er vereint diese beiden Königreiche, und [sein Sohn]533 fällt in einer Schlacht gegen die Türken. Dies war der letzte von den jenseits der Karpaten regierenden Jagellonen. Fassen wir nun mit einem einzigen Blicke den ganzen Fortgang der Geschichte des slavischen Geschlechts zusammen, dessen Entwicklung mehr als einmal verwirrt erscheinen konnte. Die Ursache dieser Verwirrung war keineswegs die große Menge der Denkmäler, sondern der ungeheure Raum, den wir zu durchmessen hatten. Bis dahin hat noch niemand versucht, die Tatengeschichte aller Zweige dieses Stammes klar in einem Gemälde darzustellen; wir fanden deshalb für unsere Untersuchungen einen ungebahnten Weg. Nachdem wir unseren Standpunkt in der Gegenwart genommen, gaben wir zuerst den Abriß der Sitze des Slaventums. Aus der Sprache, dem Glauben, den Überlieferungen und Gebräuchen der Slaven entnahmen wir die Beweise ihres hohen Altertums. Kaum hier und da noch aufgefundene Spuren, mehr oder weniger deutliche Denkmäler zeugen von ihrem ehemaligen Dasein in den westlichen Ländern, in Frankreich, Italien und England; aber von der ältesten Zeit an nehmen sie die Länder von der Bucht von Kotor in Montenegro und der Mündung der Elbe bis Finnland und die asiatischen Steppen ein. 532 Władysław II Jagiellończyk – Vladislav II. von Böhmen und Ungarn (1456–1516). 533 Ludwik II Jagiellończyk (1506–1526).

338

Teil I

Später werden sie von den Finnen und Kelten gedrückt; nachdem die finnischen Völker ihrer Gewohnheit gemäß alle vernichtet hatten, zogen sie sich wieder zurück; die keltischen aber, die sich anfänglich an den Gestaden der Ostsee weit ausgedehnt hatten, drängten sich später in nur geringe Ansiedlungen zusammen. Die Slaven verharrten abwehrend in ihren Wäldern und Sümpfen. Zwei über das Slaventum hervorragende Punkte übten auf dasselbe einen steten und kräftigen Einfluß; von der einen Seite der Kaukasus durch Steppen abgeschieden; von der anderen Seite Skandinavien, durchs Meer getrennt. So oft die Finnen, Mongolen, Skythen, – man möge sie nach Belieben nennen – die slavischen Länder verließen, und die Kelten ruhig sitzen blieben, ließen sich die Kaukasier und Skandinavier auf diesen Ebenen nieder, gründeten Fürstentümer und gaben den Anfang zu Reichen. Beide Völker stammen aus dem uralten Geschlechte der Asen, unter diesem Namen noch aus dem Kaukasus, bei Herodot aber und in den ältesten Zeiten Griechenlands unter dem Namen Leken, Hasigen oder Jazygen bekannt; in Skandinavien nennen sie sich jedoch Waräger oder Normannen. In den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung begegnen sich beide im Slaventum unter der Benennung: Sarmaten und Goten, im Verfolge aber, besonders unter dem Einfluß der christlichen Religion, schmelzen sie desto leichter mit der slavischen Bevölkerung zusammen, und gründen Reiche vom 6. bis zum 9. Jahrhundert. Zuerst entsteht das Reich Tschechien und Lechien, in der alten Geschichte als ein Reich, dann das der warägischen, endlich das ungarische. Die Lechen und die Völker der normannischen Rus’ gehen in der Masse der eroberten Völker auf, sie verlieren ihre Sprachen und ihre Sitten, wandeln sich in Slaven um; nur die Magyaren, welche zahlreiche Haufen Finnen mit einführten, machen noch immer eine besondere Bevölkerung unter den Inländern aus, obgleich sie sich in einem slavischen Land festgesetzt haben. Diese Reiche schieden ein für allemal Europa von Asien und legten den asiatischen Überschwemmungen einen Riegel vor. Der Geist des Christentums, von zwei verschiedenen Herden, von Rom und Konstantinopel kommend, ruft sogleich eine verschiedene religiöse und politische Richtung, auf der einen Seite in den Königreichen Tschechien und Polen, auf der anderen in dem zusammengerafften ungeheuren Ganzen hervor, das unter dem Namen Rus’ bekannt ist. Die Ungarn wuchten in der Mitte, indem sie häufig auf die Rus’ einwirken, doch öfter selbst den polnischen Einflusse unterworfen sind. Unterdessen wird das slavische Geschlecht von allen Seiten her angefallen und bedrängt. Die Deutschen, geführt durch die Politik ihrer Kaiser und das Schwert der ritterlichen Orden, rotten dasselbe an der Elbe aus und dringen bis zum Niemen; die Tataren verbreiten sich furchtbar von der Volga her, die Türken dehnen ihre Unterjochungen hinter der Donau aus.

25. Vorlesung (30. März 1841)

339

Das 13. und 14. Jahrhundert scheint dem Slaventum mit gänzlichem Verderben zu drohen; als nämlich seine Grenzländer das germanische, finnische und uralische Geschlecht verschlingt, erschallt noch plötzlich in der Mitte von Polen und der Rus’ die erobernde Macht der Litauer. Unterdessen nimmt das Haus der Jagellonen, um es zu erlösen, das Zepter Polens. Die Jagellonische Dynastie erhebt und kräftigt vor allem das Königreich, welches nicht nur äußeren Gefahren ausgesetzt, sondern auch im Innern durch gar zu schnelle Entfaltung der politischen Freiheiten erschöpft war. Die Jagellonen führen ihm ein neues Element, eine neue Bewahrungskraft zu; indem sie im Hinterhalt ein weites Erbreich besitzen, verleihen sie der Regierung mehr Schwungkraft. Die polnischen Großen, welche sich unter einander über den Besitz des Landes stritten, es geteilt und erschöpft hatten, blicken jetzt mit Furcht nach der Gewalt der Großfürsten von Litauen, sie tragen Sorge, sie nicht zu beleidigen, damit Litauen nicht von der Krone abfalle. Nebenbei gewinnt die Milde, die Güte und Freigebigkeit der Könige die polnischen Herren für sich, indem sie aber den Litauern die Freiheiten, welche die Polen genossen, nach und nach erteilen, werden die Herzen derselben immer mehr und mehr an Polen gefesselt, und es entsteht hieraus zuletzt die ewige Vereinigung dieser beiden Völker. Die auf den tschechischen und ungarischen Thron berufenen Jagellonen behalten dieselbe Staatskunst; sie besänftigen die Streitenden und vereinen die Hussiten mit den Katholiken. Erst als eine neue Verwirrung dieser Art, die Lutherische Reformation, sich zeigte, mangelte ihnen die Kraft, dieselbe zu hemmen. Das Königreich Tschechien ging dann in die Hände des österreichischen Hauses über. Der slavische Boden und seine ungeheure Bevölkerung schien öfter, um Europa zu verschonen, viele Jahrhunderte hindurch auseinandergerissen und bedrückt zu werden. Geschichtliche Vermutungen darf man allerdings nur sehr vorsichtig aufstellen; aber es ist erlaubt und geziemt sich auch, die Wege aufzudecken, durch welche die Vorsehung die Geschichte geleitet, die Springfedern der vorgefallenen Ereignisse aufzusuchen, um die Schickungen derselben, wenn man sich so ausdrücken darf, zu rechtfertigen. Der slavische Stamm würde unfehlbar verkommen sein, wenn er in seinem Naturzustande verblieben wäre; dahingegen wäre er den Finnen gänzlich untertan, die durch sich selbst schon furchtbar für Asien und Europa waren, zum unaufhaltsamen Werkzeuge der Vernichtung geworden. Hätten die moskovitischen Fürsten später volle Gewalt über denselben bekommen, so würde Europa noch mehr zu befürchten gehabt haben; denn eine Einheit wäre entstanden, welche der slavischen Verfassung mit der ordnenden Kraft zugleich auch die Dauerhaftigkeit der normännischen Politik und die Gewalt der Vernichtung im finnischen Elemente zugeführt. Hätten die Polen aber, gegen das Ende des 12.

340

Teil I

Jahrhunderts, in den glänzenden Zeiten ihrer Geschichte, die Rus’ überwältigt, so würde jene Bewegung, welche sich bei ihnen unter den Piasten entfaltete, das Slaventum in Verwirrung und zwar sehr wahrscheinlich in den Zustand mit fortgerissen haben, in welchen sich heut zu Tage die bosnischen Länder befinden, wo wir eine glänzende Aristokratie des türkischen Adels erblicken, die aber für die Untertanen beschwerlich und unfähig ist, eine selbstständiges Ganze zusammenzusetzen, einen volkstümltchen Körper zu bilden, und irgend einem, sei es einem religiösen oder einem politischen Gedanken zu folgen. Von der anderen Seite drohten die Serben mit einer noch verderblicheren Richtung; nachdem sie die Oberleitung der verbrüderten Völker übernommen, hätten sie dieselben zum Barbarentum zurückgeführt, wären diese zur Epoche des Einfalles der Normannen und Lechen zurückgekehrt, nämlich in den Zustand, welchen uns heut zu Tage die Republik der Montenegriner darstellt. Wir haben also gegenwärtig auf dem Raum, welcher den ganzen Boden des Slaventums umfaßt, alle Stufen der Zivilisation und alle Abschnitte der Geschichte ihres Stammes. Die Vorsehung stand diesem Geschlecht zur Seite. Es blieb nicht im Zustand der Montenegriner; es widersetzte sich den polnischen Herren der Piasten-Epoche, welche dasselbe in den Zustand, in dem sich Bosnien befindet, gestürzt hätten; es verwarf die Politik jener Fürsten, welche ein feudales Reich, ein erbärmliches Abbild von Deutschland aus demselben machen wollten; es ergab sich nicht den moskovitischen Fürsten, welche viele Jahrhunderte hindurch mit großer Kraft nach einer Richtung hinstrebten, bis es endlich in den Jagellonen eine Dynastie fand, welche im Lauf zweier Jahrhunderte die Ordnung sicherte, zugleich der Freiheit sich zu entfalten gestattete, die moskovitischen Selbstherrscher im Zaume hielt, und nachdem sie der türkischen Macht Schranken gesetzt hatte, das deutsche Übergewicht zurückstieß. Die Könige stehen unter der Herrschaft der Piasten ausschließlich dem Slaventum vor, sie sind für alles verantwortlich. Die polnischen Herren kamen am Ende ihrer Dynastie zur Gewalt und Verantwortlichkeit der Könige. Unter den Jagellonen wird schon eine große Menge, eine Million Bürger, zu Wählern und wählbar, übernimmt die Leitung der Staatsangelegenheiten und hiermit einen Anteil an den Verdiensten und Fehlern der Könige und Herren. Von nun an gereicht das, was nur irgend Großes und Schönes im Slaventum sich ereignet, zum Lobe des polnischen Adels, sowie alle Fehler und Unglücksfälle der slavischen Völker ihm zugerechnet werden können.

26. Vorlesung (4. Mai 1841) Zum Status des Polnischen in den östlichen Staatsgebieten – Die Rolle der Dominikaner und der Franziskaner bei der Verbreitung des Polnischen – Der Orden der Basilianer – Das Lateinische – Der polnische Geschichtsschreiber Jan Długosz und sein Werk – Blick auf die politischen Verhältnisse zwischen Moskau und den Mongolen (Karamzin) – Commynes und Macchiavelli und ihr politischer Standpunkt.

Als wir oben die Geschichte der Slaven in einen Überblick zusammenfaßten, bewiesen wir, mit welcher Gefahr ihnen die fremden Geschlechter gedroht, und wie sie im 15. Jahrhundert daraus siegreich hervorgegangen. Jetzt stellt sich uns ein anderer Anblick dar. Die herumziehenden Horden beginnen sich nach den Steppen zurückzuziehen, und die moskovitischen Fürsten verfolgen sie mit aller Heftigkeit lange niedergehaltenen Ingrimms bis tief in die asiatischen Wüsten hinein. Das deutsche Geschlecht, besiegt in einer entscheidenden Schlacht, fällt vor den polnischen Königen auf die Knie, fleht um Frieden und Fortentwickelung seiner Gewerbtätigkeit unter ihrem Schutze; zugleich mit diesem empfängt es den Keim der Freiheit für zukünftige Zeiten. Die litauischen Eroberer schmelzen wie einst die Normannen mit den besiegten Völkern zusammen, sie werden Slaven. Diese große politische Umwälzung verändert auch den Standpunkt der Sprachen und ihre Grenzen. Die russinische Mundart534, dieselbe, welche unter der Herrschaft der normannischen Fürsten zwischen den Flüssen Bug und Dniepr gesprochen wurde, die wir in den Denkmälern des 11., 12. und 534 Gemeint ist das Ruthenische. Die Begriffe Russinisch und Ruthenisch (lingua ruthenica) wurden im 19. Jahrhundet oft synonym verwendet und sorgen bis heute für Verwirrung. Das Ruthenische, dessen Geschichte im 14. Jahrhundert beginnt, enstand aus dem Altostslavischen und wird als Vorläufer des heutigen Weißrussischen und Ukrainischen angesehen; das Ruthenische besitzt verschiedene (nationale) Bezeichnungen: руский языкъ, auch русский языкъ, простая мова (einfache Sprache, Umgangssprache als Abgrenzung vom Altkirchenslavischen), „старабеларуская мова“ (Altweißrussisch), „староукраїнська мова“ (Altukrainisch) oder (in der russischen Forschung) „западнорусский язык“ (Westrussisch). Zur begrifflichen Differenzierung vgl. Daniel Bunčić: Die ruthenische Schriftsprache bei Ivan Uževyč unter besonderer Berücksichtigung der Lexik seines Gesprächsbuchs Rozmova/Beseda. München 2006: Kapitel: Status des Ruthenischen, S.  21–84. Das Russinische wird heute als Sammelbegriff für die sog. karpato-russinischen Dialekte im Südosten Polens, im Nordosten der Slovakei, in der Südwestukraine, in der Vojvodina, im Norden Rumäniens und Ungarns verwendet; vgl. A.D. Duličenko: Das Russinische. In: Einführung in die slavischen Sprachen. Hrsg. Peter Rehder. Darmstadt 1998 (3. Auflage), S. 126–140; Marc Stegherr: Das Russinische. Kulturhistorische und soziolinguistische Aspekte. München 2003. Der Begriff Russinisch wird daher im Folgenden mit Ruthenisch ersetzt.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_027

342

Teil I

13. Jahrhunderts besitzen, wird von den litauischen Eroberern angenommen, zur Sprache des Hofes, der Gesetzgebung und Heeresordnung gemacht. Indem sie auf die liturgischen und Kanzelbücher sich stützt, schöpft sie Hilfe aus dem Altostslavischen und aus dem durch die Geistlichkeit entwickelten Altkirchenslavischen. Die polnische Mundart, wenn auch vom Bug bis Schlesien verbreitet, genoß noch kein amtliches, gesetzliches Dasein. Die Kirche stieß sie zurück, die Gesetzgebung nahm sie nicht an; einige Länderteile schrieben zwar ihre Statuten polnisch, im Allgemeinen aber wurden die kanonischen, die Zivil- und Kriminalrechte lateinisch verfaßt. Daraus könnte man schließen, daß die ruthenische Mundart, da sie die einer festen Regierung, einer ausgedehnten Gewalt, zugleich aber auch die Umgangssprache der Jagellonischen Familie war, das Übergewicht im Norden gewinnen und sogar in allen slavischen Ländern herrschend werden würde. Jedoch es geschah anders. Die ruthenische Mundart neigte sich bald unter der Einwirkung zweier verschiedenen Kräfte dem Verfall zu. Von der einen Seite wurde es materiell durch den aus dem Finnischen und Slavischen neugebildeten Dialekt535, welcher mit dem moskovitischen Joch vorschritt, verdrängt, von der anderen Seite durch den geistigen Einfluß der polnischen Sprache vernichtet. Nichts Merkwürdigeres für den Slaven als die Erforschung der Schicksale, durch welche die polnische Sprache sich ausbreitete, und in den Ländern der Rus’ das Übergewicht gewann! Es scheint, als wäre die Herrschaft der Sprache denselben Gesetzen, wie das Emporkommen der politischen Macht unterworfen. Die Anfänge beider sind immer in Dunkel gehüllt, beide haben ihren Keim in der sittlichen Idee, entfalten sich ursprünglich unbemerkbar, je dauerhafter ihre Zukunft, desto langsamer schreiten sie, und erst ganz ausgebildet, kommen sie zu ihrer Zeit zum Vorschein. Gerade in solcher Reihenfolge gewann das Polnische in Teilen der Rus’ die Oberhand. Das Volkstum der Rus’ und Litauens hat sich durch sich selbst aufgezehrt. Die Laufbahn eines Großfursten von Litauen war beendigt. Die zahlreichen Chroniker und damaligen Geschichtschreiber wissen schon nichts mehr zu sagen; sie haben weder Stoff für die Gegenwart, noch Aussichten für die Zukunft, sie schließen sich gänzlich in die Vergangenheit ein, erzählen mit Begeisterung die ruhmvollen Kriegszüge Mendogs, Giedymins und Olgierds, aber sie verstehen dieselben nicht mehr. Diese abenteuerlichen Kriegszüge 535 Gemeint ist der „mittelrussische Dialekt“ (среднерусский говор), der sich bis zum 15. Jahrhundert im Großfürstentum Moskau herausgebildet hatte und dann u.a. ausschlaggebend war für die Entwicklung und Kodifizierung der russischen Literatursprache im 18. Jahrhundert. Vgl. Helmut Keipert: Geschichte der russischen Literatursprache. In: Handbuch der sprachwissenschaftlichen Russistik und ihrer Grenzdisziplinen. Hrsg. Helmut Jachnow. Wiesbaden 1999, S.726–779.

26. Vorlesung (4. Mai 1841)

343

reichen von Preußen bis in die Krim; die Politik der Großfürsten betrifft gleichzeitig Europa wie Asien, alles das ist für die ruthenischen Mönche, welche die Taten dieser Züge berichten, zu weit ausgedehnt. Sie haben uns aber dennoch, da die moskovitischen Chronisten in jenen Zeiten unter dem Terror gänzlich erstarren und verstummen, wenigstens eine Quelle für die Geschichte jener nördlichen Gegenden in dieser Epoche hinterlassen. Unlängst hat man veröffentlicht, was von ihnen auf uns gekommen.536 Welche Gewalt rüttelte aber die polnische Volkstümlichkeit auf und trieb sie nach den Ländern der Rus’? Welche Kraft drängte die Sprache der Rus’ und ihr Volkstum bis hinter den Dnjepr zurück? Diese Kraft war nicht in Polen entstanden, sie kam weit her und war das Endergebnis des Zusammentreffens vieler Umstände, die dem Anschein nach nicht den mindesten Zusammenhang mit Polens Geschichte hatten. Die Kirche übernahm das Geschäft der Aussaat der polnischen Sprache in weiten Fernen. Noch im 12. Jahrhundert, während der großen Religionskriege im Abendland, in jener Zeit, die wir am richtigsten mit dem Namen Innozenz III. bezeichnen, entstanden in Italien zwei berühmte Orden und zerstreuten sich bald über ganz Europa, die Orden des Heiligen Franziskus und des Heiligen Dominikus, die den Beruf hatten, die Kirche im Innern zu verbessern und nach Außen gegen Abtrünnigkeit und Ketzerei zu verteidigen. Zahlreiche Schüler des Heiligen Franziskus kamen bis in den Norden und tief ins heidnische Litauen hinein. Einige dieser Mönche wirkten bei den litauischen Großfürsten die Erlaubnis aus, sich in Wilna niederzulassen. Sie legten dort zuerst ein kleines Kloster an, und benetzten jene Erde mit Apostelblut. Ihre Namen sind unbekannt, nur ist die Überlieferung geblieben, daß sie Polen waren. Drei Kreuze, die sich auf dem Berg in Wilno gegenüber den Trümmern des fürstlichen Schlosses erheben, bezeichnen heute den Ort, bis zu welchem die polnische Sprache, durch die Religion Christi geführt, gekommen ist. Zu derselben Zeit gelangten die Dominikaner nach Mähren und Krakau. Der heilige Dominikus nahm einige Jahre nach der Gründung seines Klosters drei Slaven von Adel in dasselbe auf, einen Tschechen, und zwei Polen aus dem mächtigen Hause 536 Vgl. die Edition von Ignacy Daniłowicz: Latopisiec Litwy i kronika Ruska: z rękopisu sławiańskiego przepisane, wypisami z Wremiennika Sofiyskiego pomnożone, przypisami i objaśnieniami, dla czytelników polskich potrzebnemi opatrzone, staraniem i pracą Ignacego Daniłowicza, profesora zwyczaynego w cesarskim uniwersytecie charkowskim, naprzód w Dzienniku Wileńskim roku 1824 częściami ogłaszane, a teraz w jedno zebrane, dokończone i przedrukowane. Wilno 1827 – [http://reader.digitale-sammlungen.de]. In den 1830–er Jahren begann außerdem in Rußland die Arbeit an der Edition der russischen Chroniken (Polnoe sobranie russkich letopisej). Zuerst erscheinen im Jahre 1841 als Band III die Novgoroder Chroniken (Novgorodskie letopisi) – [http://psrl.csu.ru].

344

Teil I

Odrowąż, den heiligen Jacek537 und den gottseligen Czesław.538 Diese jungen Männer nach Polen heimkehrend, gründeten unterwegs in Deutschland und Mähren Klöster. Der gottselige Czesław stiftete solche in Breslau und Danzig. Von der anderen Seite kamen noch zu Lebzeiten des Dominikus seine Schüler fast an die Ostgrenze des künftigen Polens; sie ließen sich in Kiev nieder. Also viel früher, als der politische Einfluß der Polen bis dahin geraten, waren schon die Grenzpunkte seines moralischen Einflusses gesteckt. Wie ihnen einst der heilige Wojciech (Adalbert von Prag) auf dem Wege nach Preußen vorgeleuchtet, so bahnten auf ähnliche Weise die Franziskaner und Dominikaner jetzt den Weg nach Litauen und in die Rus’. Die polnische Sprache nahm zuerst ihren Stand am Altar, sie wurde die Sprache des Gebetes, und später die des häuslichen Umgangs. Drei Jahrhunderte nachher fanden die Jesuiten diese Aussaat, und begannen dieselbe mit der Gewandtheit ihrer Politik und Tiefe ihrer Aussichten ordentlich anzubauen und zu benutzen. Gegen obige Triebkraft voller Leben und Glauben hatte die Volkstümlichkeit der Rus’ nichts aufzustellen. Zwar hielt sie an der alten Sprache und Sitte, aber sie verstand dieselbe nicht mehr weiter zu entwickeln, und konnte es auch nicht. Nur ein Orden bestand in diesen Gegenden, der griechisch unierte Orden des Heiligen Basilius, und selbst dieser trug seit seinem Entstehen schon etwas Abgestorbenes, Unbewegliches in sich. Der Heilige Basilius, mit den Arianen kämpfend, gründete denselben, um gleichsam den katholischen Glauben mit der Arianischen Apostasie wieder zu vereinen. Die Kirche beschuldigte schon dazumal den Stifter, er gründe ein juste milieu, nämlich etwas, das weder kalt noch warm ist. Es gelang ihm zwar, in seinem Orden das Dogma unangetastet zu erhalten, aber weder durfte, noch konnte er demselben den apostolischen Geist einpflanzen. Die Basilianer539 in den Ländern der Rus’, obgleich sie in der Liturgie fortwährend die slavische Sprache führten, erlagen dem sich verbreitenden Einflusse der polnischen, und begannen unter sich polnisch zu reden. Inzwischen war im eigentlichen Königreich, in der Krone Polen, jenem Lande, das seine sittlichen Eroberungen so weit ausdehnte, die Volkssprache bei den Chronikern und lokalen Geschichtschreibern in Vernachlässigung, fast in Verachtung geraten. Das Chronikenwesen beschäftige damals besonders die Gemüter. Nach dem Bischof Wincenty Kadłubek, welcher seine Erzählung der mythischen Geschichte mit der Schlußfolgerung eines Politikers beendigt, nähert sich ein anderer Schriftsteller, Jan Długosz (lateinisch Ioannes 537 Jacek Odrowąż – Hyazinth von Polen (1183–1257). 538 Czesław Odrowąż – Ceslaus von Breslau (1184–1242). 539 Vgl. Nikolaj Ivanovič Petrov: Očerk istorii Bazilianskogo ordena v byvšej Pol’še. In: Trudy Kievskoj Duchovnoj Akademii, 1872, t. 1 (janvar’), S. 3–85, (fevral’), S. 161–272.

26. Vorlesung (4. Mai 1841)

345

Longinus)540 schon mehr der eigentümlichen geschichtlichen Schreibart; er erhebt die Chronik zur Würde der Geschichte. Er war von adlicher Geburt, stand lange Zeit den Geschäften des Krakauer Domkapitels vor, und wurde später Kanonikus. Häufig zu politischen Gesandtschaften gebraucht, dem königlichen Rat beigesellt, schrieb er die Geschichte dieses Rates, die Geschichte des polnischen Senats. Długosz ist kein Biograph wie Gallus, er verirrt sich nicht in das Mythenzeitalter, ergeht sich auch nicht in Auseinandersetzungen wie Kadłubek. Vielmehr ist er ein Annalenschreiber, der sich bemüht, den Schlüssel aller Begebenheiten als einen allgemeinen Gedanken zu fassen. Herkunft und Stellung in der Gesellschaft sind zugleich die Standpunkte seines Urteils als Geschichtschreiber. Vor allem betrachtet er die Sachen mit dem Auge eines Geistlichen, eines gesalbten Priesters; erforscht er eine Tat, so bemüht er sich zu allererst den sittlichen Wert derselben zu ergründen. Umsonst stellte man ihm öfters vor, er möge doch zuerst auf die politische Notwendigkeit, auf den Vorteil des Reichs achten; nie ließ er sich aus seiner Bahn bringen, verwarf alle weltlichen Rücksichten, billigte nicht ein einziges Unternehmen, bis er sich überzeugt hatte, daß es gerecht gewesen. Dem König zugetan, weil er in ihm das Vaterland personifiziert sah, hatte er dennoch nicht jene feudale Anhänglichkeit an ihn, welche alle zeitgenössischen Schriftsteller des westlichen Europas atmen; er bewahrt hierin das Ansehen eines polnischen Senators. Nirgends gab es zu jener Zeit eine so majestätische, weise und gewaltige Versammlung541, als der polnische Senat war, zusammengesetzt aus den Großen, Bischöfen und hohen Würdenträgern der Krone. Weil dieser Senat das Ansehen der frühern Synoden geerbt, so erbte er auch zugleich deren Grundsätze, und befolgte lange die Bahn der Überlieferung, geebnet durch seine Vorgänger zur Zeit der Piasten. Sein Hauptsatz war, die katholische Religion als eine feste 540 Jan Długosz (1415–1480). Vgl. Michał Bobrzyński, Stanisław Smolka: Jan Długosz, jego życie i stanowisko w piśmiennictwie. Kraków 1893; Brygida Kürbis: Johannes Długosz als Geschichtsschreiber. In: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten Mittelalter. Hrsg. Hans Patze. Sigmaringen 1987, S. 483–496; Hans-Jürgen Bömelburg: Frühneuzeitliche Nationen im östlichen Europa: das polnische Geschichtsdenken und die Reichweite einer humanistischen Nationalgeschichte (1500–1700). Wiesbaden 2006, S. 35–40. 541 [Nicht nur damals, auch heute noch gibt es keine solche in der Welt. Diejenigen, welche mit der Aburteilung sogleich fertig sind, die Ausdrücke polnische Wirtschaft usw. gebrauchend, kennen dies nicht, sonst würden sie vorsichtiger sprechen. Gewiß ist nur, daß, wer in den Geist jener Beratungen des polnischen Senats, besonders aus jener Zeit nich eingedrungen ist, weder Polen, noch das Wichtigste und Merkwürdigste, was in dieser Beziehung auf der Welt bestanden hat, kennt. Aber auch das Eindringen in diesen Geist ist nicht so leicht abgetan, wie etwa Walter Scott beim Eröffnen der tiefsten Herzensgedanken seiner Helden in seinen Romanen verfährt. Anmerkung – Gustaw Siegfried].

346

Teil I

Grundlage der polnischen Volkstümlichkeit zu achten, dann den Thron, als ein die Einheit des Reiches erhaltendes Band zu unterstützen; er hört jedoch auf, sich selbst als einen Ausfluß der königlichen Gewalt zu betrachten, im Gegenteil, er waltet mit dem Zepter, verleiht die Krone der Dynastie, welche er als die für das Wohl des Glaubens und des Vaterlandes nützlichste ansieht, eilt sogar zur Änderung des Königtums, will dasselbe nach dem in sich selbst erblickten Muster umbilden; es leuchtet schon von weitem der Gedanke an das lebenslängliche Regieren der Könige durch, sowie alles bei den Slaven nur lebenslänglich war, der Grundbesitz und das Amt. Der Senat beruft sich hierbei in außerordentlichen Fällen auf die Ansicht, auf den Rat der jüngeren Brüder, d.h. des Adels. Alle diese Grundsätze des polnischen Senats sind in dem Werk des Długosz, nur immer mit dem überwiegenden religiösen Geist des Autors, welcher unter seinen Zeitgenossen in Reinheit des Lebens und tiefer Andacht glänzte, angewandt und dargelegt. Vom König mit Wohltaten überhäuft, streut er ihm in seinen Werken nie Weihrauch; später in Ungnade gefallen, aus dem Lande verwiesen, verfolgt, gedenkt er nie der Beleidigung, er richtet ihn wie ein Beichtvater seinen Bußfertigen, zwar streng, aber mit herzlicher Teilnahme. Ebenso verfolgt er seine persönlichen Feinde mit keiner Silbe. Dieselbe Rechtlichkeit bewahrt er als unabänderlichen Grundsatz seines Verfahrens auch in den politischen Angelegenheiten. Als man darüber beratschlagte, welche Antwort den Städten Preußens zu geben sei, die feierlich den König um ihre Vereinigung mit Polen baten, neigte sich Długosz erst spät zur Annahme dieses Anerbietens. Wohl wußte er, daß diese Länder der polnischen Kirche angehört, daß die polnische Kirche einst in ihnen die Bistümer gestiftet; aber ungewiß war er, ob die Könige von Polen ein Recht auf sie hatten. Ohne daher auf die Auseinandersetzungen der Senatoren und Geographen sich zu verlassen, wollte er sich selbst von der Wahrheit überzeugen, suchte lange in den Archiven, fragte die alten Urkunden, belehrte sich durch alle möglichen Mittel, und erst als man ihm die Akten und Diplome wies, welche unwidersprechlich bezeugten, daß diese Provinzen Polen angehörten, wankte er nicht mehr, im Gewissen beruhigt, sich der Führung der schwierigen Verhandlungen während des preußischen Krieges zu unterziehen. Ihm allein verdanken wir die Beschreibung des endlichen Ausgangs jenes Krieges, in welcher er seine patriotischen Gefühle und Gedanken über die Länder, welche Polen wieder erhalten sollte, so ausdrückt: Cepit & me scribentem praæsentia annalia, non mediocris, super bello Prutenico finito, & restitutis terris abstractis, dudum: Prussia quoque Regno unita, voluptas utpote, qui molestius tuleram Polonicum Regnum à variis nationibus & populis laceratum in eam diem fuisse, fortunatum me, & cæteros coætaneos

26. Vorlesung (4. Mai 1841)

347

meos, ratus, quibus reintergrationem ipsam, post tot secula videre contingit: crediturus fortunatiorem, si Slesia, Slupsensem, & Stolpensem oras, in quibus tres Episcopatus, à Boleslao magno, Polonorum primo Rege, & patre suo Myeczslao fundati, Wratislaviensis videlicet, Lubuncensis & Camenensis consistunt, reddi quoque & reuniri Regno Poloniæ per clementiam divinam, me inspectante contingeret. Lætior enim ex hinc discederem, & in somno meo suavius, molliusque quiescendo accumberem.542 Nicht geringe Freude ergiff mich, den Verfasser dieser Annalen, über das Ende des Preußischen Krieges, die Rückerstattung so lange von Fremden beherrschten Gebiets und die Vereinigung Preußens mit dem Reich, denn es war besonders schmerzlich gewesen, daß das polnische Reich unter viele Völker und Nationen aufgeteilt war, und deshalb schätze ich mich und meine Zeitgenossen glücklich, denen es vergönnt war, die Wiedervereinigung nach so vielen Jahrhunderten zu erleben. Noch glücklicher aber schätze ich uns, würde die göttliche Gnade mich Zeuge werden lassen, daß die Gebiete Schlesien, Lebus und Stolp, wo Bolesław der Große, der erste polnische König und sein Vater Mieszko drei Bistümer gegründet hatten, das Bistum Breslau, Lebus und Kammin, zurückgegeben und mit dem polnischen Reich wieder vereinigt würden: dann könnte ich froher von hinnen gehen und mich ruhiger zum ewigen Schlaf legen.543

Ungeachtet dieser Liebe zum Vaterland und zu seinem Volk, die wir hier sehen, steht Długosz keinen Augenblick an, die Irrtümer in den damaligen Gesetzen nachzuweisen, und hauptsächlich dem Adel seinen unruhigen Geist, seinen Leichtsinn und Stolz vorzuwerfen. Man sehe, mit welcher vollkommnen Kenntnis er uns den Volkscharakter zeichnet: Ein jedes Volk hat seine guten und bösen Eigenschaften, die man volkstümlich nennen könnte. Die Polen sind besonders geneigt zum Beneiden, Verspötteln und zu übler Nachrede. Ob diese Fehler uns als Erbe von den Ahnen zugekommen, oder ob sich etwas Unenträtseltes in der Erde, der Luft, im Einwirken der Sterne und der Scharfe des Klimas befindet, was sie so stimmt; ob sie vielleicht endlich deshalb gerne das wirkliche Verdienst schmälern, um den Glanz der Abstammung und des Vermögens auf gleiche Höhe zu stellen, ist unbestimmt, und nur so viel gewiß, daß ihre Gemüther neidischer sind als alle übrigen. Nach der Ansicht einiger Schriftsteller ist der Protoplaste der Polen und aller Slaven Ham gewesen, und der väterliche Fluch, den er sich zugezogen, seinen Vater Noa verlachend, traf sein ganzes Geschlecht.544 542 Ioannis Długossi seu Longini canonici quondam Cracoviensis Historiae Polonicae libri XIII et ultimius […]. Lipsiae 1712; Tomus secundus, S. 399 [Das Jahr 1467]. 543 Jan Długosz: Annalen. In: Polnisches Mittelalter. Ein literarisches Lesebuch. Hrsg. Antonina Jelicz. Frankfurt am Main 1987, S. 127–128. Übersetzt von Christiane Reitz. 544 Die (paraphrasierte) Stelle lautet bei J.  Długosz: „quoniam etsi singule naciones singularibus ut ingeniis sic et viciis abundent, Polonorum tamen genus ad invidiam et

348

Teil I

Später fügt er hinzu: „Wenige Männer erhabenen Geistes hat unser Volk gezeugt, und auch diese verstand es nicht zu würdigen.“545 Weiter beschreibt er den Charakter des Adels und der Landleute in folgender Weise: Der polnische Adel jagt vor allem dem Ruhm und Reichtum nach; er ist plünderungssüchtig und achtet die Gefahren und den Tod nicht; im Versprechen leicht, vergißt er ebenso bald die Verheißungen; gegen die Ebenbürtigen ist er neidisch, für die Niedrigem und Untergebenen beschwerlich; in der Rede hochtrabend, verschwenderisch in den Ausgaben, gibt er über Möglichkeit aus; seinen Königen treu, für die Ausländer außerordentlich zuvorkommend, von allen christlichen Völkern am meisten gastfrei. Die Landleute haben eine große Neigung zum Trunk, Zank und zur Schlägerei, dies aber in dem Grade, daß selten in einem Volk so viele häusliche Todschlägereien vorkommen; in Arbeiten und Strapazen ausdauernd, ertragen sie geduldig Hunger und Kälte; um das Ihrige tragen sie wenig Sorge, aus das Fremde sind sie begierig; sie sind abergläubisch und glauben die Märchen; sind außerordentlich gastfrei, kühn bis zur Verwegenheit, von listigem Gemüt, lassen sich nicht betrügen; lieben das Neue, kleiden sich ordentlich; ihre Gestalt ist schön, der Wuchs schlank, der Körperbau kräftig, die Gesichtsfarbe weiß oder braunlich.546 obtrectacionem plus quam ad cetera (sive id successio a priscis traducta, sive situs et inclemencia celi, sive occulta siderum vis, sive quod genus et fortunam suam cum aliorum virtute exequare estuet, causet) censetur magis […] procliwm, et ingenia Polonorum ad invidie facinus plus quam ad aliqua proniora extimantur. Quo fit, ut nonnulli Polonorum et omnium Slaworum parentem Cham affirment, quod is, Noe patris femora irridens, eciam in suam posteritatem id facinus invexerit.“ – Ioannis Dlugossi Annales seu cronicae incliti regni Poloniae. Editionem curavit et introductionem scripsit I. Dąbrowski. Liber primus. Varsoviae 1964, S. 54–55 (Litterae dedicatoriae). 545 Zitat-Paraphrase. Długosz erläutert hier die Ursachen dafür, warum Polen nur wenige Geschichtsschreiber besitzt. Die zweite Ursache lautet: „alteram, quod paucis germinibus suis preclara et solitum atque wlgarem modum excedencia et hec ipsa parum iusti precii habitura provenerunt ingenia. (Die zweite Ursache sehe ich darin, daß sich nur aus wenigen Knospen herausragende, das Alltägliche und Gewöhnliche überschreitenden Intellekte entwickelten.) – Ioannis Dlugossi Annales seu cronicae incliti regni Poloniae, op. cit., Liber primus, S. 55. 546 Bei J. Długosz lautet die Stelle: „Polonorum nobilitas glorie appetens et in rapinas prona, pericolorum et mortis contemptrix, promissi parum tenax, subditis et inferioribus gravis, lingua preceps, ultra facultatum modum expendere solita, principi suo fida, agrorum sacioni et armentorum nutrimento dedita, in advenas et hospites humana et beningna, et hospitalitatis supra ceteras gentes amatrix. Plebs rusticana in ebrietatem, rixas, calumpnias, cedes procliva: nec facile aliam gentem reperies tot domesticis homicidiis et cladibus contaminatam. Nullius laboris aut oneris fugax, frigoris iuxta atque inedie paciens, supersticionum et figmentorum sequax, in rapinas et ipsa prona et hostilitatis sectatrix et avida novitatum, rapax et alieni appetens; in construendis edibus parum operosa, casaliis vilibus contenta; audax et temeraria, ingenio callida et parum facilis, gestu et habitu decora, viribus prepollens, statura ardua et procera, corpora valida, membris apta, colore

26. Vorlesung (4. Mai 1841)

349

An einer anderen Stelle klagt er über die Verderbnis seiner Zeit und sagt: [1466] Tempus apud Polonos, non in anni tantummodo præsentis, sed & transactorum, omni genere maliciæ, quodammodo fœcundum erat: sive ex diuturnitate vigentium assidue bellorum, sive ex Cœlestium inclementia proveniens. Cappilum enim adversantem frangere, & in circinos cogere, ad muliebres blanditias amictum expolire. Cæsariem peplis, foris & domi, nocte & interdiu obvolvere, mollicie corporis cum feminis certare, capillo ex Cæsarie permisso illas vincere, pectoris loca fasciis splendoris, quod alias vix feminis permittebatur, obvolvere, illorum temporum grande extabat specimen, & perversorum nequicia, per dissolutam impunitatis licentiam, supra solitum excrescente. Sic in annis illis scelerum diluvium inundavit, ut omnes facinorum terminos, & metas transcendisse videretur. Plerique nullam habendo patrimoniorum æstimationem, effuso censu, in furta dilabebantur & rapinas. In nonnullis enim Polonis notabatur avarus, tener & degener animus, iustissimis obluctans imperiis, & de ordine religionis Christianæ, & quod omnia superat facinora, de legibus Divinis, & Ecclesiasticis male existimans, non se malebat, & prævaricationes suas emendare, sed superiores. Ex superiorum suorum factis, virtutibus, aut imaginibus superbiens, loquebatur grandia, totus tumebat, quasi alta & heroica ipsemet fecisset, & sine cultu virtuosæ actionis, semper se in anteriora, rediculus Thrasonis imitator extendebat. Itaque ut non de singularibus personis, sed de universis iustius scribam. Leges Divinas, & scita, contemnendo irridemus, & floccifacimus, nec satis scripturarum comminationibus credimus, nec Divina imperia aperto pectore haurimus, levissimæque venturæ vitæ, & salvationi perpetuæ, iuxta ac semper hic victuri, insistimus, neque ad mortem, & rerum omnium consumationem aspicimus, portum, ut nunquam recusandum, ita aliquando ingrediendum insuper nos, & iustos, nostro, vel assentatorum, infatuati iudicio, rati existere, mutari & corrigi, dum tempus negligimus.547 [1466] Nicht nur die Zeit des jetzt beschriebenen Jahres, sondern auch die schon vergangene war reich an jeglicher Art von Schlechtigkeit, sei es, weil Verbrechen ungesühnt blieben, sei es, weil die Kriege so lange dauerten, sei es weil die göttliche Gnade fern blieb. Widerspenstige Haare zu glätten und zu kräuseln, sich auf weibische Art in feine Gewänder zu hüllen, den Kopf draußen und drinnen, Tag und Nacht mit Tüchern zu bedecken, mit den Frauen zu wetteifern, wessen Körper zarter sei, die Frauen bei der Länge der Haupthaare gar zu übertreffen, die Brust mit Binden zu schmücken, wie es früher kaum den Frauen gestattet war, wurde zur Mode dieser Zeit, und die Nichtsnützligkeit dieser abartigen Leute wuchs, weil sie ungestraft blieb, über das übliche Maß hinaus. So wogte in diesen Jahren die Flut der Verbrechen, weil alle Grenzen des Schicklichen überschritten waren. Die meisten hatten keine Ehrfurcht vor ihrem ererbten Eigentum, sondern verschluderten ihr Vermögen und warfen sich dann auf Raub und Diebstahl; einige Polen albo et nigro permiscua.“ – Ioannis Dlugossi Annales seu cronicae incliti regni Poloniae, op. cit., Liber primus, S. 108. 547 Ioannis Długossi seu Longini canonici quondam Cracoviensis Historiae Polonicae libri XIII et ultimius […]. Lipsiae 1712; Tomus secundus, S. 397–398.

350

Teil I wiesen aber eine so habgierige, stolze, verzärtelte und verkommene Gesinnung auf, daß sie sich gegen die gerechte Herrschaft auflehnten, die Gebräuche der christlichen Religion und, was am schwersten wiegt, die göttlichen und kirchlichen Gesetze missachteten. Sie wollen nicht ihre eigenen Sünden ausmerzen, sondern die ihrer Oberhäupter. Diese Art Gesinnung prahlte mit Taten, Tugenden und Ansehen ihrer Oberhäupter, war großsprecherisch und aufgeblasen, als ob sie die großen Heldentaten selbst vollbracht hätte, und ohne die Zier eigener Tugend wurde sie zum lächerlichen Nachahmer nach der Art des Thraso.548 So kann ich nicht nur über einzelne Leute, sondern über alle das gerechte Urteil fällen: Die göttlichen Gesetze und Beschlüsse verachten wir, den Mahnungen der Hl. Schrift glauben wir nicht, göttliche Weisungen nehmen wir nicht mit offenem Herzen an, leichtfertig missachten wir das zukünftige Leben und die Erlösung, als ob wir immer hier auf Erden leben würden, wir schauen nicht auf den Tod und die Vergänglichkeit als einen Hafen, in den wir unweigerlich einmal einlaufen müssen, wir halten uns für gut und gerecht und trauen dabei unserem Urteil oder dem unserer Anhänger und versäumen, uns zu ändern und zu bessern, solange noch Zeit ist.549

Wie traurig auch dies alles, so ist es dennoch nichts, im Vergleich mit dem, was damals in Moskau vorging. Welche Sitten dort Fürsten, Adel und Volk hatten, sehen wir z.B. aus dem, was der Geschichtsschreiber des Kaisertums, nach den mit Długosz zeitgenössischen Annalisten, spricht: Кроме междоусобия, Государствование Темного ознаменовалось разными злодействами, доказывающими свирепость тогдашних нравов. Два Князя ослеплены, два Князя отравлены ядом. Не только чернь в остервенении своем без всякого суда топила и жгла людей, обвиняемых в преступлениях; не только Россияне гнусным образом терзали военнопленных: даже законые казни изъявляли жестокость варварскую. […] Москва в первый раз увидела так называемую торговую казнь, неизвестную нашим благородным предкам: самых именитых людей, обвиняемых в Государственных преступлениях, начали всенародно бить кнутом. Сие унизительное для человечества обыкновение заимствовали мы от Монголов.550 […] самые купцы, самые бродяги Могольские обходились с нами как с слугами презрительными. Что долженствовало быть следствием? Нравственное уничижение людей. Забыв гордость народную, мы выучились низким хитростям рабства, заменяющим силу в слабых; обманывая Татар, более обманывали и друг друга; […] чувство угнетения, страх, ненависть, 548 Thraso – großsprecherischer Soldat in der Komödie von Terenz „Eunuchus“. 549 Jan Długosz: Annalen. In: Polnisches Mittelalter, op. cit., S.  125–126. Übersetzt von Christiane Reitz. 550 Nikolaj Michajlovič Karamzin: Istorija Gosudarstva Rossijskogo. Reprintnoe vosproizvedenie izdanija 1842–1844 gg. V trech knigach s priloženiem. Red. V.I. Sinjukov. Moskva 1989, kniga vtoraja, tom 5, glava III, S. 208–209. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe verkürzt zitiert: Karamzin, Band + Kapitel + Seite.

26. Vorlesung (4. Mai 1841)

351

господствуя в душах, обыкновенно производят мрачную суровость во нравах. Свойства народа изъясняются всегда обстоятельствами; однако ж действие часто бывает долговременее причины: […] Может быть, самый нынешний характер Россиян еще являет пятна, возложенные на него варварством Моголов.551 Außer den häuslichen Streitigkeiten sind zahlreiche Verbrechen, welche die Rohheit der damaligen Sitten beweisen, das Merkmal der Regierung Vasilij II. Vasil’evič des Blinden. Zwei Fürsten wurden geblendet, zwei vergiftet. Nicht genug, daß der Pöbel Leute, die eines Vergehens nur angeschuldigt waren, ohne vorhergehendes Urteil ertränkte oder verbrannte, nicht genug, daß die Russen die Kriegsgefangenen auf die gräulichste Weise marterten; auch die Strafen, welche gesetzlich eingeführt waren, sind voll der grausamsten Barbarei. […] Moskwa sah zum dritten Male erst die verkäufliche Todesstrafe, die unseren edelen Vorfahren unbekannt war. Seitdem begann man sogar vermögende Leute, des Staatsverbrechens angeschuldigt, öffentlich mit der Knute zu schlagen. Diesen die Menschheit schändenden Gebrauch sind wir den Mongolen schuldig. […] Selbst mongolische Kaufleute, Verbrecher und Schufte behandelten uns als verachtungswürdige Sklaven. Dies war die Folge der sittlichen Erniedrigung des Menschen; nachdem wir die volkstümliche Würde verloren, lernten wir die niederträchtige List des Sklaven, die bei Elenden die Stelle der Kraft vertritt; indem wir die Tataren hintergingen, eigneten wir uns das Laster an, auch uns gegenseitig zu betrügen. Sobald das Gefühl des Druckes, die Angst, der Haß die Seelen bewegt, erzeugen sich finstere, grausame Sitten. Die Umstände erklären immer die Stimmung des Volks, und häufig dauert die Wirkung länger als die Ursache. […] Es ist daher möglich, daß sogar der heutige Charakter der Russen einige Merkmale zeigt, welche die mongolische Barbarei ihm aufgeprägt hat.“

Es gibt nichts Niedrigeres, als die damals übliche Sprache in den öffentlichen Angelegenheiten der moskovitischen Fürsten mit den Mongolen. Nehmen wir z.B. eine Rede, die ein Sendling an die Horde gehalten, der um den Titel des Großfürsten für seinen Herrn sich bewarb, dessen Mitbewerber denselben Titel, kraft alter, durch die Mongolen selbst beschworener Gesetze und Landesgebräuche, in Anspruch nahm. Dieser Agent läßt sich folgendermaßen vor dem an der Spitze seines Rats sitzenden Khan hören: Царь верховный! Молю, да позволишь мне, смиренному холопу, говорить за моего юного Князя. Юрий ищет Великого Княжения по древним правам Российским, а Государь наш по твоей милости, ведая, что оно есть твой Улус: отдашь его, кому хочешь. Один требует, другой молит. Что значат летописи и мертвые грамоты, где все зависит от воли Царской? Не она ли утвердила завещание Василия Димитриевича, отдавшего Московское

551 Karamzin, op. cit., Bd. 5, Kap. IV, S. 216–217.

352

Teil I Княжение сыну? Шесть лет Василий Василиевич на престоле: ты не свергнул его, следственно, сам признавал Государем законным.552 Allerhöchster König! ich flehe zu dir, auf daß du mir, deinem elenden Sklaven erlaubst, für meinen Fürsten ein Wort zu reden. Jurij will das Großfürstentum kraft der alten Gesetze der Rus’ erhalten, mein Herr will es bloß von deiner Gnade haben, wissend, daß das Großfürstentum dein Reichsgebiet553 ist: gib es, wem du willst. Jener nimmt in Anspruch, dieser fleht. Was bedeuten Chroniken und abgestorbene Vorrechte, wo Alles vom Willen des Königs abhängt? Hat denn etwa dieser Wille nicht Vasilij Dimitrievičs Testament bestätigt, welcher das moskovitische Fürstentum seinem Sohn vermachte? Vasilij Vasil’evič ist sechs Jahre auf dem Thron; du, König, hast ihn nicht gestürzt, folglich machtest du ihn selbst zum wahren Monarchen.

Dem sei nun wie ihm wolle; wie einerseits im polnischen Adel der Geist der Großmut, ritterlicher Kühnheit und Freiheitsliebe sich vorfand, welcher der Republik eine glänzende Zukunft versprach; so kann man auch andererseits den Moskovitern eine patriotische Selbstverleugnung nicht absprechen, welche zuweilen große Dinge bewirkte. Die moskovitischen Großfürsten, von den Khanen aufgefordert, sich vor ihnen zu stellen, konnten leicht den Gefahren entgehen, indem sie das Land verließen, dennoch wollten sie sich lieber denselben aussetzen. Kam ein solcher Befehl vom Khan nach Moskau, so machte der Großfürst sein Testament, nahm Abschied von seiner Familie, fuhr unter Geläute der Trauerglocken aus der Stadt wie zum Tod; denn häufig beriefen die Khane bloß deshalb die Großfürsten, um sie vor ihren Augen hinrichten zu lassen. Der Fürst Michail Tverskij554 hatte noch Gelegenheit, sich durch Flucht zu retten, als schon das Verdammungsurteil über ihn gefällt war, wollte sie aber nicht benutzen; er sagte, das Land könne er doch nicht mit sich nehmen; wenn er sein Haupt rette, so würde er tausend Christenhäupter der tatarischen Rache Preis geben, und seine Schuldigkeit wäre, für seine Untertanen den Nacken hinzustrecken. Der Wert des polnischen Geschichtsschreibers kann nicht besser hervorleuchten, als wenn wir ihn an die Seite der gleichzeitigen, berühmten Historiographen stellen. Das 15. Jahrhundert war ein geschichtsschreibendes. Einige

552 Karamzin, op. cit., Bd. 5, Kap. III, S. 149–150. 553 Mongolisch: Ulus – Reichsgebiet, Volk, Stamm, Staat, aber auch etwa Eigentum oder Apanage, die sich aus Menschen und ihren Herden zusammensetzt und Mitgliedern türkischmongolischer Herrscherfamilien zugeteilt wurde. 554 Michail Jaroslavič (1271–1318); Großfürst von Tver’ und Vladimir; über den Konflikt und seinen Tod vgl. Karamzin, op. cit., tom 4, glava 7.

26. Vorlesung (4. Mai 1841)

353

Jahre nach Długosz schrieb Philippe de Commynes555 seine „Mémoires“, und zehn Jahre später wurde Macchiavelli in Florenz geboren. Commynes gibt ebenfalls eine treffliche Schilderung des damaligen französischen Adels, wie Długosz eine des polnischen. Zuerst ein Diener der Fürsten von Burgund, später zu Dienstleistungen bei den französischen Königen erzogen, zeigt er noch Neigung für das alte Feudalwesen; er braucht durchaus einen „Souverain“: vergeblich jedoch würden wir in seiner Vasallenanhänglichkeit die Aufrichtigkeit eines Jean de Joinville556 oder Geoffroi Villeharduin557 suchen. Es hat bereits den Glauben an die feudale Ordnung nicht mehr, traut den kirchlichen Überlieferungen wenig, scheidet die Politik von der Moral, und während seine Vorgänger jedes Ereignis dem unmittelbaren Walten der Vorsehung zuschreiben, sucht er die Hauptursache aller Begebenheiten in den Leidenschaften oder persönlichen Absichten eines Einzelnen. Der Gewandtheit streut er den meisten Weihrauch, dieser Gewandtheit wegen liebt er auch Ludwig XI. so sehr. Man hat von ihm gesagt, er sei der Vater der Ketzer in der Politik gewesen: und in der Tat hat er große Abtrünnigkeit verursacht, er gab das Beispiel der Entzweiung der Politik mit der Moral. Was Macchiavelli558 betrifft, so ist dessen System allbekannt. Ungeachtet der Ausflüchte einiger Gelehrten der Neuzeit, die seinen guten Namen zu verteidigen suchen, ist und bleibt Macchiavelli ein Mann verkehrten Sinns, voll Leidenschaft; wenn er einen Gedanken gehabt, so war dies etwa, Italien in ein Ganzes umzuschaffen; worauf gründete er aber dieses Ganze? Nicht auf einen Begriff oder eine unbedingte Notwendigkeit, nein, nur auf uralte Erinnerungen, auf eine durch ihn ausgeheckte Zusammenstellung, auf Utopien eigner Schöpfung. Nachdem er sich später überzeugt, es führe zu nichts, verzweifelte er an der italischen Republik und der ganzen Menschheit; er wurde ein

555 Philippe de Commynes (1447–1511); französischer Diplomat und Historiker; vgl. seine Memoiren Les mémoires de messire Philippe de Commines. Paris 1552; deutsche Übersetzung – Philippe de Commynes: Memoiren: Europa in der Krise zwischen Mittelalter und Neuzeit. Hrsg. Fritz Ernst. 2. Auflage. Stuttgart 1972. 556 Jean de Joinville (um 1224–1317), Vertrauter Ludwigs IX; vgl seine Biographie – Vie de Saint Louis. Übersetzung aus dem Altfranzösischen. Hrsg. Jacques Monfrin. Paris 1995. 557 Geoffroi de Villehardouin (um 1160–1213); französischer Ritter und Chronist; vgl. – Chroniken des vierten Kreuzzugs: die Augenzeugenberichte von Geoffroy de Villehardouin und Robert de Clari. Ins Neuhochdeutsche übersetzt eingeleitet und erläutert von Gerhard E. Sollbach. Pfaffenweiler 1998 (= Bibliothek der historischen Forschung. Bd. 9). 558 Niccolò Machiavelli (1469–1527); italienischer Diplomat, Historiker und Schriftsteller; vgl. sein Werk: Der Fürst. Aus dem Italienischen von August Wilhelm Rehberg. Frankfurt am Main 2010; ferner – Volker Reinhardt: Machiavelli oder die Kunst der Macht: eine Biographie. München 2012.

354

Teil I

Verteidiger des Despotismus und wollte sein wahrhaft mongolisches System, sein System der Gewalt und Vernichtung durch Vernünfteleien begründen. Macchiavelli geht Polen aus dem Grund viel an, weil ein Schüler von ihm, und zwar ein sehr begabter, hier gerade noch zu Lebzeiten des Długosz eingewandert, dem königlichen Rat die Lehre seines Meisters einimpfen wollte. Man glaubte sogar, daß dieser Macchiavellist, Buonaccorsi559, die Biographie unseres Historikers geschrieben, was jedoch irrtümlich; denn fürs erste war er nicht im Stande, den sittlichen Wert im Charakter dieses Mannes zu würdigen, und dann ist auch sein Stil aus anderen Schriften bekannt, und durchaus von dem Stil der Biographie abweichend.560

559 Filippo Buonaccorsi alias Filip Kallimach (1437–1596); italienischer Humanist, Dichter und Historiker, der aus Italien floh und seit 1470 in Polen wirkte. Vgl. Harold  B.  Segel: Renaissance culture in Poland. The rise of humanism, 1470–1543. Ithaca-London 1989, S. 36–82. 560 Vgl. Vita Joannis Dlugossi senioris canonici Cracoviensis. Hrsg. Mieczysław Brożek. Warszawa 1961; vgl. Maria Jadwiga Koczerska: Kto jest autorem „Żywotu Długosza“? In: Venerabiles, nobiles et honesti. Studia z dziejów społeczeństwa Polski średniowiecznej. Prace ofiarowane Profesorowi Januszowi Bieniakowi w siedemdziesiątą rocznicę urodzin i czterdziestolecie pracy naukowej. Red. Andrzej Radzimiński, Anna Supruniuk, Jan Wroniszewski. Toruń 1997, S. 507–520; Brigitte Kürbis: Johannes Długosz als Geschichtsschreiber. In: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten Mittelalter. Red. Hans Patze. Sigmaringen 1987, S. 483–496 (= Vorträge und Forschungen. Konstanzer Arbeitskreis für Mittelalterliche Geschichte; 31).

27. Vorlesung (7. Mai 1841) Politik und Ethik in dem Geschichtswerk von Jan Długosz – Vergleich mit Philipps von Commynes, Macchiavelli und Livius – Niedergang des Kreuzritterordens – Angliederung Preußens an Polen – Polnische Politik auf der Krim und gegenüber der Türkei – Die Memoiren des polnischen Janitscharen.

Noch einige Worte über Długosz, den großen Geschichtsschreiber, der zu Anfang des Jagellonischen Zeitalters auftrat. Seine Werke enthalten ein ganzes sittlich-politisches System, das man das Jagellonische nennen könnte, denn alle späteren Geschichtsschreiber unter den Jagellonen nehmen seine Ideen an und bilden sie weiter aus. Den allgemeinen Begriff dieses Systems haben wir schon gegeben, will man es jedoch genauer und in möglichster Kürze bezeichnen, so ist es genügend zu sagen, dasselbe entspringe aus einem sittlichen oder besser aus dem christlichen Gedanken. Nach Długosz liegt die wirkliche Kraft nur in der Wahrheit, und unter Wahrheit werden hier die Grundsätze des Evangeliums, wie dieselben die Kirche angenommen, verstanden. Diese Wahrheit braucht zuweilen die Leidenschaften und menschlichen Hoffnungen als Werkzeuge, aber fast immer so, daß die Menschen selbst es nicht wissen. Hieraus folgt, daß die wahre Kraft, die wirkliche, ergiebige, die weltlichen, d.h. die nur scheinbaren Interessen und Kräfte niederhält. Wir wollen dies sogleich deutlicher darlegen. Nach der Ansicht des Jagellonischen Geschichtsschreibers ist keine Voraussicht im Stande, den Gang der Begebenheiten oder den Fortgang der Wahrheit vorherzusehen. Hiervon im Innersten überzeugt, läßt er sich nicht in Beschreibungen von Schlachten und Verträgen ein; denn für ihn hängt der Sieg gar nicht von den Talenten des Anführers, noch von der Tapferkeit der Soldaten ab. Er spricht dies mit Worten aus den Büchern der Weisheit aus. Eine fruchtbare Begebenheit, eine große Sache entspringt nach ihm aus einer geheimen Quelle, d.h. aus dem sittlichen Wert eben dieser Sache. Wenn Długosz erfährt, daß die Polen Niederlagen im Kampf erlitten, so fragt er, anstatt die Befehle des Feldherrn und die Bewegungen einer jeden Heeresabteilung zu beurteilen, zuvörderst nur, wie das Heer sich auf dem Marsch verhalten, ob es das Land nicht bedrückt, den Befehlen der Führer gehorsam gewesen, ob es alles, was die Kirche vorschreibt, befolgt hat, und erforscht auf diese Weise die Ursachen des schlechten oder guten Erfolges im Kriege. Es ist nicht nötig hinzuzufügen, daß er in der Politik denselben Grundsatz festhält. Wir sahen schon ein Beispiel hiervon, als es darauf ankam, mit den Preußen zu verhandeln. Er freut sich außerordentlich, wenn sich ihm die Gelegenheit darbietet, klar an den Tag zu legen, wie der geschichtliche Hergang die menschlichen

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_028

356

Teil I

Berechnungen und Vermutungen vereitelt habe. Seiner Meinung nach wurde Preußen deshalb Polen wiedergegeben, weil es früher rechtmäßig dem Körper des polnischen Volks angehört hat. Die Vorsehung war Richter; wenngleich die Advokaten Unsinn redeten, so erkannte sie doch die Billigkeit der polnischen Sache; er sagt: „Preußen ist euch wiedergegeben trotz eurer Fehler und Erbärmlichkeiten.“561 Denn allenthalben verfolgt er den Hochmut. Dieses System, welchen philosophischen Wert es auch haben mag, bleibt doch immer erhaben und hierbei originell (urtümlich). Es ist gänzlich vom System Philipps von Commynes verschieden, welcher der menschlichen Gewandtheit zu viel zutraut, und dem System des Macchiavelli geradezu entgegensteht. Schade, daß wir hier das Leben unseres Autors nicht erzählen können, weil wir alsdann zugleich viele Einzelheiten, die das öffentliche, private und häusliche Leben des polnischen Adels betreffen, berühren müßten. Diese Biographie würde die Vorstellung von seinem System vollenden; denn gibt uns ein System, als die Frucht des Geistes von einem Menschen, das Maß für die Beurteilung desselben, so kann uns wiederum das Leben dieses Menschen, wie ein Baum, zur selbstständigem Erkenntnis der Frucht führen. Die philosophischen und politischen Systeme haben öfters dasselbe Schicksal wie ihre Schöpfer. Philipp von Commynes, welcher in der sittlichen Sphäre nichts über die „Gewandtheit“ stellte, der das ganze Leben im Dienste der augenblicklichen Interessen zubrachte, starb, über seine Zeiten herbe Klage führend, verstoßen von seinem König. Macchiavelli, anfangs Verschworener für die Freiheit von Florenz, oder eigentlich für seine eigenen Zwecke, späterhin eifriger Diener der Despotie, beschloß seine Tage vom Volk verachtet, vom Fürsten gehaßt. Długosz wurde im Gegenteil beweint von seinem König, dessen Verfahren er mehr als einmal tadelte, dem er sich öfters im Rat widersetzte; nicht weniger bedauerten ihn die Großen, deren Willkür er zu beschränken sich bemühte. Der französische Schriftsteller und der italienische Publizist haben auf ihre Schriften alle Kräfte ihrer ganzen Zeit verwendet; der polnische Schriftsteller war mehr ein Praktiker, als ein Theoretiker, er war Prälat und Staatsmann, baute Kirchen, gründete Klöster, beschäftigte sich mit den Angelegenheiten des Reichs, unterstützte die Wissenschaften, bereicherte die Krakauer Akademie, wo seine Stiftungen bis auf den heutigen Tag fortdauern. Das Werk, dem er manche Stunde tiefen Nachdenkens gewidmet, ist vielleicht eins seiner weniger wichtigen, nimmt den geringsten Teil seines Lebens ein, obschon es dem Umfang nach den Büchern des Livius gleich kommt. Zwischen Długosz und Livius findet sich auch die Ähnlichkeit, daß beide an der Grenzscheide großer Veränderungen ihrer Reiche stehen; beide bemühten sich, aus der 561 Zitat konnte nicht nachgewiesen werden.

27. Vorlesung (7. Mai 1841)

357

Vergangenheit den Inhalt herauszuziehen und daraus ein Licht für die Zukunft zu gewinnen; beide waren überzeugt, daß ohne den Hergang der vergangenen Jahrhunderte zu verstehen, es unmöglich sei, die folgenden Begebenheiten zu lenken; sie ließen in ihren Werken herrliche Denkmäler der früheren Jahrhunderte, erhabene Fingerzeige für die späteren zurück. Die größte geschichtliche Begebenheit bei Lebzeiten des Długosz war die Vereinigung Preußens mit Polen, deren wir schon erwähnt haben. Die Schlacht bei Tannenberg erschütterte die Macht der Kreuzritter bis in die Grundfesten; der Orden bestand jedoch fort; Polen dachte nicht einmal daran, daß es möglich wäre, ihn aufzulösen, und er hörte nicht auf, sich zu der Reihe der damals größten und gewaltigsten Reiche Europas zu zählen. In jener Zeit war der mächtigste und gewandteste Monarch, Ludwig XI., kaum im Stande  25 000 Mann regelmäßiger Truppen zu unterhalten: der polnische König hatte nicht über 5 bis 6 000 und diese waren zugleich seine Leibwachen: die Kreuzritter aber hielten 12 bis 15 000 in ihrem Sold, außer den Rittern, die zugleich Mönche waren, und den Besatzungen auf den festen Schlössern. Diese Schlösser dienten als Muster für die damaligen Festungen; um sie herum lag schönes, fruchtbares Land, reich an allem und musterhaft eingerichtet. Der Orden konnte daher leicht die erlittenen Verluste ergänzen; aber es ließ sich jetzt erst unter seinen Füßen jener Abgrund sehen, den er längst selbst gegraben hatte. Denn fünfzig Jahre etwa vor der Zeit, von der wir eben reden, sehnte sich der Orden, nachdem er die höchste Stufe der Macht errungen, nach dem Genuß der Früchte des Bluts und der Anstrengungen seiner Vorgänger, ohne weiter arbeiten und dulden zu wollen. Die Armut der Hochmeister des 12. Jahrhunderts, die auf nackter Erde schliefen, und die Tage in Fasten und Mühseligkeiten zubrachten, wurde nun dem Orden zum Gelächter. Im Vertrauen auf seine Schätze, die ihn in den Stand setzten, Söldlinge zu bezahlen, beachtete er nicht, daß die Begeisterung ihm keine Freiwilligen mehr zuführte. Nachdem er dem Papst mehrmals frech die Stirne geboten, und öfter die päpstlichen Bullen zerrissen und die Legaten des römischen Stuhls eingekerkert hatte, verwandelte er die preußischen Bischöfe geradezu in seine Almoseniere, erlaubte ihnen ohne Wissen des Hochmeisters nicht die mindeste Anordnung in ihren Diözesen zu treffen. Die Komturen saßen in den bevölkerten, reichen Städten und übten über dieselben die Gewalt des Ordens aus; die ganze Institution der bewaffneten Mönche veränderte sich in etwas der Einrichtung der Mameluken Ägyptens Ähnliches. Aber endlich erwachten die reichen städtischen Bürger und die Bodeneigentümer in Preußen und fragten plötzlich: „Kraft wessen herrscht der Hochmeister? Weswegen sind wir verurteilt, ewig diesen Mönchen zu gehorchen? Etwa weil wir katholisch sind? Haben sie denn nicht häufig genug dem Papst den Gehorsam gekündigt? Vielleicht weil wir dem deutschen

358

Teil I

Kaiserreich angehören? Haben sie ja doch öfters den Kaiser bekriegt. Oder sollen wir ihnen etwa gehorchen als unsem Lehnsherren? Warum aber gehorchen sie ihrem Oberherrn, dem polnischen Könige, nicht?“562 So, und fast mit diesen Worten, die in den damaligen preußischen Chroniken563 aufbewahrt sind, sprachen sie unter einander; man begann allgemein darüber zu reden, und kaum war diese Frage entstanden, so wurde auch schon das Dasein des Ordens zweifelhaft. Die Hochmeister flüchteten sich erst dann, Hilfe suchend, unter den Schutz des Papstes zurück, der Apostolische Stuhl jedoch, durch ihre Untreue oft gekränkt, überließ diese Angelegenheit einem Tribunal von Schiedsrichtern; sie wollten sich noch mit dem Ansehen des deutschen Kaiserreichs schirmen, doch wenn die Kaiser ihnen auch zu Zeiten Hilfstruppen sendeten, so war dies immer nur in eigennützigen Absichten, wobei sie die Wegnahme irgend eines Teiles der Ordensbesitzungen bezweckten. Die Politik der brandenburgischen Markgrafen war die nämliche. Da erkannten die Kreuzritter, wie gefährlich es sei, den eigentlichen Grundsatz ihres Daseins zu verleugnen; sie sahen das unvermeidliche Verderben vor sich. Die Bischöfe und die Großen in Preußen blickten mit Neid auf die Stellung der Bischöfe in Polen, die im Senat Sitz und Stimme hatten und die Republik regierten. Die preußischen Städte sahen das glückliche, freie Bestehen der polnischen, welche unter dem königlichen Schutz standen, und das deutsche oder magdeburgische Städterecht genossen. Diese Zuneigung wurde durch vielfache, kräftige Interessen geweckt, und brach so, außerdem durch kein religiöses Band mehr gehalten, die Ketten der mönchischen Gewalt, und zertrümmerte mit einem Male die durch drei Jahrhunderte erhobene Macht. Es schickten fünfzig Städte Legaten an den polnischen König, um sich ihm zu ergeben und um Hilfe gegen die Kreuzritter zu bitten. Nach langem Schwanken im Senat und im Rat der geistlichen und weltlichen Herren beschloß man, darauf einzugehen und ein Hilfsheer nach Preußen zu schicken. Der Krieg dauerte 13 562 Zitat konnte nicht nachgewiesen werden; in der französischen Ausgabe (A. Mickiewicz: Les Slaves, Bd. 2, op. cit., S. 21) und bei Wrontowski (A. Mickiewicz: Literatura słowiańska, Bd. I, op. cit., S. 272) nicht als Zitat markiert. In der Edition von J. Maślanka (A. Mickiewicz: Dzieła. Tom VIII: Literatura słowiańska. Kurs pierwszy. Warszawa 1997, S. 378) – als Zitat markiert. 563 Vgl. die Edition preußischer Chroniken – Scriptores rerum Prussicarum: die Geschichtsquellen der Preussischen Vorzeit bis zum Untergange der Ordensherrschaft. Hrsg. Theodor Hirsch, Max Töppen, Ernst Gottfried Wilhelm Strehlke. Bände 1–5, Leipzig 1861– 1874 (Reprint: Frankfurt am Main 1965); Band 6, Hrsg. Walther Hubatsch, Frankfurt am Main 1968; ferner – Max Töppen: Geschichte der preussischen Historiographie von P.v. Dusburg bis auf K.  Schütz: oder Nachweisung und Kritik gedruckten und ungedruckten Chroniken zur Geschichte Preussens unter der Herrschaft des deutschen Ordens. Berlin 1853.

27. Vorlesung (7. Mai 1841)

359

Jahre mit abwechselndem Glück; endlich fiel der Hochmeister564, zum Äußersten gebracht und von allen Bundesgenossen verlassen, vor dem König von Polen auf die Knie. Der König, von dieser Demut gerührt, behandelte ihn sehr freundlich, überhäufte ihn mit Geschenken und befahl ihm sogar eine bedeutende Summe auszuzahlen.565 Was hier die Aufmerksamkeit besonders fesselt, ist die Politik, welche die Jagellonen im Laufe dieser preußischen Kriege stets befolgten. Ihre Milde wurde sprichwörtlich. Die Geschichtschreiber sagen, daß der König öfters nach der Einnahme einer wieder auf die Seite der Kreuzritter übergetretenen Stadt, oder wenn die Anführer und der Senat die Bestrafung der wieder eingeholten Ausreißer und Abtrünnigen verlangten, ihnen dennoch jedesmal verzieh, wodurch er sich dermaßen die Herzen der Preußen gewann, daß der Hochmeister, als er ihm einmal Treue geschworen, dieselbe auch nie brach, ungeachtet der unaufhörlichen Zureden des deutschen Kaisers, wie auch der Könige von Tschechien und Ungarn, welche ihn zur Erneuerung des Krieges aufreizten. Auf diese Weise wurde ein weites Land mit einer aus verschiedenen Stämmen zusammengeflossenen Bevölkerung an Polen wiedergegeben. Diese Bevölkerung bestand zum Teil aus den uralten Preußen und den unter dieselben eingewanderten Deutschen. Die Volkstümlichkeit der Preußen vom lettischen Stamme schien, da sie vom Verband mit ihren Brudervölkern völlig abgeschnitten und von den Unterjochern bedrückt und überwältigt waren, schon zum allmählichen Aussterben bestimmt zu sein. Das parasitenartige deutsche Volkstum hätte, da es jetzt unter den Einfluß Polens kam, wahrscheinlich dasselbe Schicksal erfahren, wenn es sich nicht später an die Reformation fest angeschlossen hätte. Die Wiedererlangung Preußens führte Polen noch wichtige Erwerbungen in literarischer Hinsicht zu, denn diese Länder 564 Ludwig von Erlichshausen (um 1415–1467), Hochmeister des Deutschen Ordens (1450–1467). 565 Jan Długosz beschreibt die Szene etwas anders; vgl. dazu das Jahr 1466 über den Thorner Frieden am 19. 10. 1467 in: Ioannis Długossi seu Longini canonici quondam Cracoviensis Historiae Polonicae libri XIII et ultimius […]. Lipsiae 1712; Tomus secundus, S. 385: „[…] primum Casimirus Poloniae Rex, deinde Ludovicus Magister Prussiae, flexis genibus, in Rudolphi Legati Apostolici manibus, super lignum Crucis vinificae, iureiurando se astrinxit, pacem conclusam in omnibus clausulis, conditionibus, atque punctis, custoditurem. […] Magister cum omnibus suis honore mensae a Rege exceptus, & splendide tractatus, diesque illa in magno gaudio, iucunditate, & exultatione absumpta est.“ Ähnlich wie Mickiewicz beschreibt diese Szene Johannes Voigt: Geschichte Preussens: von den ältesten Zeiten bis zum Untergange der Herrschaft des deutschen Ordens. Band 8: Die Zeit vom Hochmeister Konrad von Erlichshausen 1441 bis zum Tode des Hochmeisters Ludwig von Erlichshausen 1467. Königsberg 1838, S. 702–703.

360

Teil I

haben uns bedeutende gelehrte Männer, Geschichtschreiber, Biographen und Geographen geliefert. Während das in dieser Gegend mit Kriegführen und Verhandlungen beschäftigte Polen den Norden etwas aus dem Auge verlor, hatten mittlerweile die moskovitischen Fürsten gute Zeit, ihre Herrschaft auszudehnen; sie vernichteten die Freiheiten und alten Sitten der nördlichen Republiken, die sie schon etwas früher überrumpelt hatten, gänzlich; aber die bis dahin selbstständig gebliebenen Fürsten der Rus’ an der Grenze Litauens fürchteten die Übermacht, und ergaben sich, da sie auf keinen Schutz von Polen rechnen konnten, denselben freiwillig. Dann wirkte die mongolisch-moskovitische Staatskunst noch durchgreifend auf die Steppenländer, und begegnete dem Einfluss der polnischen Könige in der Krim, wo sich eine neue Horde erhoben hatte. Polen und Moskoviter bemühten sich, dieselbe auf ihre Seite zu bringen, die Ersten, um Moskaus Übergewicht zurückzudrängen, die Letzten, um Litauen zu bedrohen. Die Horde in der Krim bekam auch besonders durch die Nachbarschaft der Türkei große Bedeutsamkeit; denn das Emporwachsen der türkischen Übermacht bedrohte allzumal den Norden: Die preußische Sache war, so zu sagen, nur eine innere Angelegenheit Polens; seine äußere Politik mußte ihr ganzes Augenmerk der Türkei zuwenden. Das übrige Europa dachte fast nicht mehr an das Morgenland; die europäischen Höfe behielten zwar noch die Sitte bei, ihre diplomatischen Verhandlungen mit den Worten zu beginnen: „Bedacht nehmend auf die Verteidigung der Christenheit“ usw. – es war dies jedoch nur eine eitle Formel, ein nichts sagendes Schema. Die Päpste wandten sich nach vergeblichen Versuchen, den Geist der Kreuzzüge zu wecken, endlich zu dieser Zeit an Polen; die Kommunikation zwischen dem heiligen Stuhl und Polen wurde häufiger und hatte keinen geringen Einfluß auf die politische Richtung der Republik. Dieser Verwicklung der Interessen Polens mit denen des Morgenlandes verdanken wir ein bemerkenswertes Buch, das erste, welches polnisch erschienen ist: „Die Memoiren des polnischen Janitscharen, vor 1500 geschrieben“566, – eines Polen (dessen Namen und Lebensgeschichte verloren gegangen), der von den Türken zum Gefangenen gemacht und in den Dienst des Sultans als Janitschar eintrat, mit dem türkischen Kriegshaufen viele Länder durchwanderte, 566 Pamiętniki Janczara Polaka przed 1500 rokiem napisane. Warszawa 1828; Nach dieser Ausgabe wird zitiert. Die von Mickiewicz benutze Ausgabe, die auch den alttschechischen Text enthält, ist unvollständig. Als Verfasser wird der Serbe Konstantin Mihailović iz Ostrovice angenommen. Über Fragen der Autorschaft, der Textgenese und Textvarianten vgl. Renate Lachmann: „Einleitung“, in: Memoiren eines Janitscharen oder Türkische Chronik. Eingeleitet und übersetzt von Renate Lachmann. Kommentiert von Claus Peter Haase, Renate Lachmann, Günter Prinzing. Graz 1975, S. 20–50.

27. Vorlesung (7. Mai 1841)

361

nämlich Griechenland, Syrien, Mesopotamien, der in allen Schlachten, die Mahomed II. geliefert, auch Zeuge der Einnahme Konstantinopels war. Da er nun die Europa bedrohende Macht in der Nähe sah, sann er auf Mittel, wie solcher Gefahr vorzubeugen sei, und schrieb in dieser Absicht sein Buch in der Muttersprache. Dieses Werk, das wir nur in Bruchstücken besitzen, verdiente wohl eine größere Verbreitung durch Übersetzungen. Denn obgleich der Koran und das System der mahomedanischen Religion bekannt sind, so findet man dennoch nirgends diese Einzelheiten von den religiösen Überlieferungen, von dem, was man die Kirchendisziplin der Türken benennen könnte, von ihrem kriegerischen Brauch und ihrem häuslichen Leben. Unser Janitschare führt öfters an, was er selbst aus dem Munde der Ulemas und Imanen (Religions- und Gesetzeskundige) gehört; erzählt die häuslichen Vorfälle der Sultane Mahomeds  I.  und  Murads, kennt vollständig die Vorurteile der Türken, was alles weder in den Werken, die über das Morgenland berichten, noch in den damaligen Reisebeschreibungen jener Länder zu finden ist. In dieser Beziehung hat dies Werk sogar einen großen wissenschaftlichen Wert. Zwar ist der schriftstellernde Janitschare kein Gelehrter, nach ihm entspringt der Euphrat im Paradies und fließt ins Schwarze Meer, Ägypten aber und China (Kitaj) sind ihm Städte; man darf von ihm weder geschichtliche noch geographische Kenntnisse verlangen, er befaßte sich mit anderen Sachen, vor allem war er Christ und Patriot. Wenn er von der Einnahme von Konstantinopel spricht, bei welcher er zu der Abteilung gehörte, welche das nach Adrianopel führende Tor stürmte, sagt er: […] a tak musieliśmy przedsię ku Stambułowi jechać, i pomagać Turkom miasta dobywać. Ale za naszą pomocą nikdyby miasto dobyte nie było.567 […] und so mussten wir nach Konstantinopel gehen und den Türken bei der Eroberung der Stadt helfen. Aber mit unserer Hilfe wäre die Stadt niemals erobert worden.

Später wagte er sogar die christlichen Gesandten zu warnen, und ihnen die geheimen Absichten der türkischen Politik, welche er gut kannte, zu eröffnen, denn die Sultane pflegten damals häufig unter freiem Himmel öffentliche Gespräche mit den Paschas über die Reichsangelegenheiten und holten sich öfters Rat bei den gemeinen Janitscharen. Einen Fall, wobei er die Gesandten

567 Pamiętniki Janczara (1828), XXVI, S. 129. Bei der deutschen Übersetzung wurde die Übersetzung von Renate Lachmann (Memoiren eines Janitscharen oder Türkische Chronik, op. cit.) herangezogen.

362

Teil I

des (bosnischen) Fürsten warnte, den Worten des Sultans zu trauen, beschreibt er so: Odpowiedzieli mi tak: „dzięki Bogu wszystkośmy ułożyli, jakeśmy sami chcieli sami“. Ja rzekłem im: „Wierzcie mi, żadnego przymierza nie macie“. Młodszy chciał ze mnie to wyrozumiewać, nie dozwolił mu tego starszy, mniemając, jakobym tylko żartował. Potem rzekł do nich: „Kiedy stąd wyjeżdżacie?“ Oni odpowiedzieli: „W sobotę“. A jam odezwał się na to: „A my za wami we środę. I to wam powiadam rzetelnie, pamiętajcie o tym.“ Oni się na to roześmiali, jam też od nich poszedł.568 Sie sagten mir: „Gott sei Dank, wir haben alles beendet, wie wir es selbst nur gewünscht.“ Ich antwortete ihnen: „Glaubet mir, ihr habt keinen Vertrag!“ Der Jüngere wollte mich hierüber ausfragen, was jedoch der Ältere nicht zuließ, vermeinend, ich scherze nur. Späterhin sprach ich zu ihnen: „Wann reist ihr von hier ab?“ Sie antworteten: „Auf den Sonnabend.“ Da bemerkte ich: „Wir aber, wir werden euch Mittwoch nachfolgen. Und dieses sage ich euch aufrichtig, gedenket daran.“ Sie lachten darüber, da verließ ich sie auch.

Hier beschreibt er den Kriegszug der Türken trotz des verabredeten Vertrags, zählt die Länder und Städte auf, die durch sie besetzt wurden, und nachdem er die Einnahme von Rakowiec569 erwähnt hat, fügt hinzu: Posłowie ci którzy jeździli po przymierze do Adryanopola, i ze mną mówili, tam się znajdowali w owym zamku; za późno niebożęta poznali prawdę.570 Jene Gesandten, welche des Friedens wegen nach Adrianopel gereist waren und mit mir gesprochen hatten, befanden sich in jener Feste; zu spät haben die Armen die Wahrheit erkannt.

Dieser Janitschare faßte in seiner Lage einen für jene Zeiten schönen und großartigen Gedanken, er nahm sich vor aus seinem Schicksal Vorteile für die Christenheit zu ziehen, die Politik der Türken von Grund aus zu erforschen, die schwache Seite dieser Macht aufzusuchen und die Europäer zu belehren, wie dieselbe am leichtesten zu brechen wäre. Nur deswegen schrieb er sein Werk. Er verfährt hierin ganz systematisch. Er spricht zuerst über die Religion, die Vorstellungen und den Aberglauben der Türken, führt an, was er aus ihrer Geschichte weiß; läßt sich jedoch hierauf weniger ein, sondern richtet sein Augenmerk besonders auf die militärische und politische Einrichtung; hier 568 Pamiętniki Janczara (1828), XXIV, S. 195–197. 569 Schloß Rakowiec, (heute) Ukraine; vgl. Słownik geograficzny Królestwa Polskiego i innych krajów słowiańskich. Red. Filip Sulimierski u.a., tom IX. Warszawa 1888, S. 515–516. 570 Pamiętniki Janczara (1828), XXIV, S. 197.

27. Vorlesung (7. Mai 1841)

363

findet er das ganze Geheimnis ihrer Macht. Seiner Ansicht gemäß haben die Türken den Zustand der Zukunft erraten, und sind den Europäern auf dem Wege zu derselben zuvorgekommen. Die Einführung der Janitscharen ist ihm das weiseste und kräftigste Mittel. Diese Leute, ohne Vaterland, nicht an die Scholle gebunden, vom Sultan versorgt und belohnt, hängen ganz und gar von seiner Person ab. Sie rekrutieren sich aus den slavischen, griechischen und armenischen Gefangenen, die als Kinder zusammengebracht und erst lange für den Dienst vorbereitet werden. Und da die Türken nebenbei beinahe alle Erblichkeitsrechte fast gänzlich aufhoben, so haben sie dadurch erlangt, daß sogar die reichsten und größten Beamten, da sie nie ihres Besitzes sicher sind und ihrer Nachkommenschaft nichts hinterlassen können, sich gezwungen sehen, ihr ganzes Geschick in dem Willen ihres Herrn zu erblicken. Das durch die Türken allen auferlegte Kopfgeld hält er ebenfalls für die beste Art der Abgabeneinnahme; denn da die Regierung die Zahl der Untertanen weiß, kann sie somit am leichtesten die Einnahme des Schatzes berechnen, und über seine Anwendung bestimmen. Endlich gibt er interessante Einzelheiten über die Zusammensetzung des Heeres, über die verschiedenen Arten der Leibgarden, der Bewachung und Bedienung des Sultans, beschreibt ihre Waffen, ihre Kleidung und Beschäftigung, deckt die schwache Seite dieser Macht auf, und lehrt die Weise, wie man gegen dieselbe kämpfen solle. Lesen wir den Eingang seines Werkes, wo er sich mit seiner Rede an den Papst und die christlichen Monarchen wendet: Grecy tak mówią o Cesarzu Konstantynie, jakoby on miał być jednym pasterzem jednej owczarni, wedle onego pisma: Albowiem będzie jeden pasterz a jedna owczarnia. Gdyż on był oswobodził i podniósł chrześcijaństwo, a modlarstwo pogańskie skaził. Drudzy mówią, że ma być sądny dzień jeden pasterz i jedna owczarnia; a to jest rozumienie, że w sądny dzień ma przyjść Syn Boży, który będzie sądził żywycj i umarłych; ale będą dwie owczarnie, jedna w królestwie niebieskim, której pasterz będzie Syn Boży, a druga owczarnia będzie Lucyperowa. Wszakoż według powieści Greków, snadź k’temu ma przyjść, aby w sądny dzień miał być jeden pasterz i jedna owczarnia: albowiem się pogaństwo bardzo rozmnaża i wzmacnia, a kacerstwa i wiary rozmaite nastają, a zaś chrześcijaństwo bardzo schodzi; a to z tej przyczyny, iż nie masz takich, którzy by wiary bronili: albowiem króle chrześcijańscy śpią i nie masz, który by zastawiał, okrom jednego chrześcijańskiego króla Olbrachta: który tych czasów znamienita szkodę poniósł w ludziach i sprzętach obozowych, pracując, a broniąc chrześcijan od pogan. Ojciec Święty w Rzymie, papież, z duchownymi i z innymi poddanymi swymi spokojnie siedzi: a cesarz też i królowie chrześcijańscy w niemieckich stanach i w innych ziemiach z swym rycerstwem godują i krotofile mają, prze szpary patrzą i dziwują się; a ono chrześcijan wiodą w srogą niewolę, i mało albo nic wcale o ich sławie nie słychać. Albowiem jak ma być słuchać, kiedy wcale nic nie dbają, ażeby chrześcijaństwa bronili; a jeśli się ten to Święty Ojciec, papież, sprawca wiary chrześcijańskiej, z N. cesarzem i z innymi królami tak się dziwować

364

Teil I będą temu wielkiemu uciskowi, gwałtom i rozlaniu krwi chrześcijańskiej, uchowaj Boże, aby ten gwałt pogański i na samych królów nie przeszedł. Albowiem ta rzecz od ich wielmożności zależy, ażeby bronili wiary chrześcijańskiej i starali się o to, aby chrześcijaństwo podwyższali, a pogan tępili; co by za pomocą Bożą snadnie uczynić mogli, gdyby sforność a dobra zgoda i miłość pomiędzy nimi była. Skąd by cesarska wielmożność z Ojcem Świętym, papieżem, i z innymi królami chrześcijańskimi wielką sławę od wszego chrześcijaństwa i odpłatę od P. Boga Wszechmogącego otrzymali; a jakoby chwalebna rzecz była, gdyby jego cesarska jasność wspólnie z Ojcem Świętym, papieżem, przenieśli stolicę swą z Rzymu do Konstantynopola, które greckim imieniem zowią Bizancjum, a tureckim Stambuł: i będzie o tym szerzej powiedziano, jako a którym obyczajem to zwycięstwo za pomocą Bożą nad pogany mogło być otrzymane.571 Die Griechen sprechen vom Kaiser Konstantin, als wäre er der Hirte jener einen Herde der Heiligen Schrift gewesen, nach welcher es nur einen Hirten und eine Herde geben soll: weil er die Christenheit befreit und erhoben, das heidnische Wesen aber erniedrigt hat. Andere sagen: es soll am Jüngsten Tage nur ein Hirte und eine Heerde sein, und verstehen dies so: am Jüngsten Tag würde Gottes Sohn kommen, zu richten die Toten und die Lebenden; zwei Herden aber soll es dennoch geben, die eine im Himmelreich, deren Hirte der Sohn Gottes sein wird, und die zweite Herde wird diejenige des Luzifer sein. Es scheint nun fast, daß die Sache nach der Erzählungsweise der Griechen kommen wird, nämlich nach der von dem einen Hirten und der einen Herde; denn das Heidentum vermehrt und kräftigt sich außerordentlich, die Ketzereien und die verschiedenen Glaubensformen werden immer häufiger, das Christentum aber geht sehr zu Grunde. Hiervon ist aber die Ursache, daß es keine solchen gibt, welche den Glauben verteidigen wollen? Denn die christlichen Könige schlafen, und es ist keiner vorhanden, der abwehren möchte, ausgenommen den einzigen polnischen König Albrecht, welcher aber zu dieser Zeit einen ansehnlichen Verlust an Leuten und Kriegsgerät erlitten hat, indem er die Christen vor den Heiden schützte und für sie arbeitete. Der heilige Vater in Rom, der Papst mit seinen Geistlichen und andern Untertanen sitzt ruhig; der Kaiser aber und die christlichen Könige in den deutschen Staaten und in den übrigen Ländern halten mit ihrer Ritterschaft Gelage und treiben Kurzweil, sie sehen durch die Sparren und verwundern sich sehr, wenn die Christen in grausame Gefangenschaft geschleppt werden, und von ihrem Ruhm ist wenig oder gar nichts zu hören. Denn wie soll man hiervon hören, wenn sie nicht im Mindesten auf die Verteidigung der Christenheit bedacht sind; wenn aber dieser heilige Vater, der Papst, der Arbeiter für den christlichen Glauben mit dem Allerdurchlauchtigsten Kaiser und den übrigen Königen sich so sehr verwundern werden wegen der ungeheuren Bedrückung, der Gewalttaten und der Vergießung des christlichen Bluts, so möge Gott dafür sein, auf daß nicht dieselbe heidnische Gewalttat auch über die Könige selbst komme. Denn es hängt von ihrer Macht ab, den christlichen Glauben zu verteidigen, und Sorge dafür zu tragen, das Christentum zu erhöhen und das Heidentum zu vernichten; was sie mit Gottes Beistand leicht

571 Pamiętniki Janczara (1822), XVIII, S. 75–79.

27. Vorlesung (7. Mai 1841)

365

bewirken könnten, wenn Mannszucht, gutes Betragen und dann auch die brüderliche Liebe unter ihnen wäre. Wofür die kaiserliche Hoheit mit dem heiligen Vater, dem Papst, und den übrigen christlichen Königen hohes Lob bei der ganzen Christenheit und Lohn von Gott dem Allmächtigen erhalten würde. Auch würde es gewiß zu loben sein, wenn die kaiserliche Erlauchtheit gemeinsam mit dem heiligen Vater, dem Papst, ihre Residenz von Rom nach Konstantinopel, das man griechisch Byzanz, türkisch aber Stambul nennt, verlegen wollten. Noch wird ausführlicher gesagt werden, wie und auf welche Weise dieser Sieg mit Gottes Hilfe über die Heiden zu erringen ist.“

Dieser unbekannte Mann, ein gemeiner Soldat, durch Zufall in das ungeheure Reich der Türkei hineingeworfen, forscht den Ursachen von dessen Macht nach, er ersinnt und sucht Mittel, wie diese Macht zu stürzen sei, und schreibt in dieser Absicht ein Werk. Es ist dies eine auffallende, sowohl politische als literarische Erscheinung. Der Edelmut unsers Janitscharen erscheint noch deutlicher, sobald wir seine Denkbücher neben die gleichzeitigen Schriften des Marko Polo und des berühmten Sekretärs bei Tamerlan, Johannes Schiltberger572, stellen. Hier erst kann man den Unterschied zwischen dem venezianischen Kaufmann, dem deutschen Kosmopoliten und dem polnischen Ritter erblicken. Man schrieb zu jener Zeit gar sehr viel über die Mittel, die Türken zu bewältigen; schwer ist es jedoch, einfachere und anwendbarere als die zu finden, welche der Janitschare in folgenden Bemerkungen und Ratschlägen erteilt: Przetoż strzec się ma każdy obciążenia zbroją; albowiem gdy się trafi zsiąść z konia albo z niego być zrzuconym, wtedy bez pomocy nie wsiądzie; a w takowych okolocznościach, nie zawsze pan przy sobie może mieć służbników; a tak kto by z cesarzem tureckim bój miał prowadzić, staroświecki obyczaj wszelki musiałby zaniechać i takowych sposobów trzymać się, jak i poganie. […] Wszystkie te rzeczy zależą od wielmożności królewskiej; przeto Król ma być opatrzony wojewnikiem i wszystko wojsko swe do tego ma wprawiać, sposobić w dobrje sprawie i utrzymać je rządnie, zwłaszcza przy walnych bitwach przeciwko poganom. Słuszną też rzeczą dla królewskiej wielmożności, albo hetmana chrześcijańskiego, ażeby osobą swą był pomiędzy ludźmi pieszymi, przy sobie mając kilkaset koni wybornej jazdy. Nie powinien zjeżdżać z tego miejsca ani życia swego wystawiać na niebezpieczeństwa, chyba gdyby słuszna i wielka jaka była potrzeba. Król także za Bożą pomocą ma się pilnie wystrzegać przygody, w której mógł być raniony; gdyż i mała rana, albo niemoc królewska wielki smutek całemu wojsku sprawuje. Jakoż głowa nie jest zdrową, i wszystkie członki bywają niezdrowe. Wszyscy więc panowie i rycerstwo całe ma to mieć w pilnym 572 Johannes Schiltberger (1380–1427); vgl. – Hans Schiltbergers Reisebuch nach der Nürnberger Handschrift. Herausgegeben von Valentin Langmantel. Tübingen 1885; Johann Schilberger: Als Sklave im Osmanischen Reich und bei den Tataren: 1394–1427. Hrsg. Ulrich Schlemmer. Wiesbaden 2008.

366

Teil I baczeniu, ażeby Króla swojego tak strzegli jako zrzenicy w oku, nie dozwalając mu samemu wojować ręką bez przyczyny słusznej. Potrzeba także Królowi czyli hetmanowi chrześcijańskiemu, mieć przy sobie kilkadziesiąt mężów dobornych na koniach, którzy by od niego wysyłani pomiędzy wojskiem jeździli, okazując się wśród hufców całemu rycerstwu, upominając, ażeby mężnie przeciwko poganom wojowali, ażeby wszyscy mniemali, że tu sam Król albo hetman jeździ; […].573 Jeder möge sich hüten vor Beschwerung mit Waffen; denn sobald es sich einmal trifft, daß er vom Pferd steigen muß, oder mit demselben stürzt, kann er es ohne Hilfe nicht wieder besteigen; in jenen Verhältnissen aber kann der Herr die Dienerschaft nicht immer um sich haben, daher muß derjenige, welcher mit dem türkischen Kaiser einen Kampf beginnt, den alten Brauch bei Seite lassen, und solche Mittel in Anwendung bringen wie die Heiden. […] Alles dies hängt von der königlichen Macht ab; der König aber soll reichlich mit Kriegern versehen sein, und sein ganzes Heer dazu einüben, sie zum guten Waffengebrauch anleiten und Mannszucht unter ihnen erhalten, besonders aber bei Gelegenheit der Entscheidungsschlachten gegen die Heiden. Es ist auch billig, daß sich der König oder der christliche Anführer persönlich unter dem Fußvolk befinde, aber daneben einige hundert vorzügliche Reiter zur Hand habe. Diese Stelle darf er nicht verlassen, auch sein Leben nicht in Gefahr setzen, es sei denn, daß dies eine wirklich große Notwendigkeit erheischte. Der König müßte sich auch sehr vor einem Unfalle oder, wo er verwundet werden könnte, in Acht nehmen; denn selbst eine kleine Wunde, oder geringe Schwäche des Königs versetzt das ganze Heer in große Trauer. Denn, wenn das Haupt schwach ist, so befinden sich alle Glieder unwohl. Daher mögen alle Herren und die ganze Ritterschaft sorgfältig darauf bedacht sein, ihren König wie das Schwarze im Auge zu hüten und ihm ohne wichtige Veranlassung nicht erlauben, mit eigner Faust zu kämpfen. Es ist auch nötig, daß der König oder der christliche Feldherr einige 50 Männer auf auserwählten Pferden an seiner Seite habe, die von ihm ausgeschickt werden und unter dem Heer herumreiten können, sich inmitten der Schaaren der ganzen Ritterschaft zeigen, sie anspornen, tapfer gegen die Heiden zu schlagen, auf daß Jedermann glaube, daß hier der König oder der Feldherr selbst herumreite […].

Im Allgemeinen tadelt der Janitschare bei den Christen die falsche Anwendung des Geschützes und die Unfähigkeit, Festungen einzunehmen. Zu ihrer Belehrung beschreibt er, wie der türkische Sultan das Heer und die Kanonen zum Sturm einrichtet; er sagt, daß die Türken keine Zeit umsonst bei der Belagerung von Festungen verlieren, sie bemühen sich bloß die wichtigen Orte und Residenzstädte einzunehmen, die Schlösser aber lassen sie zurück, da sie sich nach Eroberung des Landes von selbst ergeben müssen. Endlich wiederholt

573 Pamiętniki Janczara (1822), XL, S. 231–235.

27. Vorlesung (7. Mai 1841)

367

er, daß man die türkische Macht nicht gar zu sehr fürchten und von derselben keine übertriebene Vorstellung hegen soll. Gdyby raz jeden cesarskie Janczary bywały porażone na głowę, cesarz turecki nigdyby już powstać nie mógł przeciwko chrześcijaństwu: albowiem te ziemie chrześcijańskie, które on pod moc swoją podbił, wszystkie by się jemu sprzeciwiły, i musiałby uciekać za morze.574 Würden die Janitscharen nur einmal aufs Haupt geschlagen, so könnte der türkische Kaiser sie nie mehr gegen die Christenheit erheben, denn jene christlichen Länder, die er unter seine Macht bekommen hat, würden sich ihm alle widersetzen, und er müßte übers Meer fliehen.

Alle diese Bemerkungen und Berichte waren im 15. Jahrhundert neu, wenn wir sie mit dem damaligen Zustand der Kriegskunst vergleichen; die Stimme des armen Janitscharen war aber eine Stimme in der Wüste, nicht nur in Europa, sondern selbst auch in Polen, welches in der Nähe gewiß anderswoher eine hinreichende Kunde über die Strategie und Taktik der Türken besaß, allein nie etwas von diesen Barbaren annehmen wollte, wenngleich dieselben die Europäer in der Kriegsführung in vieler Hinsicht übertrafen.

574 Pamiętniki Janczara (1822), XLVI, S. 257, 259.

28. Vorlesung (11. Mai 1841) Die polnische Memoiren-Literatur: „Memoiren eines Janitscharen oder Türkische Chronik“ (Auszüge) – Tschechische Sekten – Buonaccorsi (Kallimachus) und sein Einfluß – Sigismund I. (Zygmunt I) und seine Siege – Säkularisierung des Ritterordens – Der „Hühnerkrieg“ (Wojna kokosza) – Stanisław Orzechowski (Annales).

Von allen slavischen Völkern besitzen die Polen allein geschichtliche Denkwürdigkeiten (Memoiren). Die Moskoviter haben kein einziges Werk dieser Art. Die Tschechen schrieben lieber Jahrbücher als eine Geschichte. Denn um auf diese Weise die Ereignisse zu beschreiben, muß man wohl eine unabhängige politische Stellung in der Gesellschaft und Freiheit der Meinung haben. Die Vasallen in Frankreich, wie sehr auch durch die königliche Gewalt eingeengt, nahmen dennoch einen höheren Rang ein, wo sie schon den Hergang der Dinge beobachten und beurteilen konnten; sie begannen daher schon in jenen Zeiten Memoiren zu schreiben, welche einen so bedeutenden Zweig der französischen Literatur ansmachen. In Polen beginnt der niedere Adel zuerst diese Laufbahn, und die Memoiren des Janitscharen, über welche wir gesprochen, sind ihr vollkommenstes Muster. Dieser Edelmann, dem Glauben seiner Vorfahren aufrichtig ergeben, ist jedoch kein enthusiastischer Bekenner desselben. Er preist die Apostel, die Märtyrer, welche die christliche Religion inmitten der Türken sich zu verbreiten bemühten; er hat aber durchaus keine Lust, in ihre Fußtapfen zu treten, und beschäftigt sich ausschließlich mit politischen Gegenständen. Die Bewaffnungsweise, die Versorgungsmittel des Heeres gehen ihn bei weitem mehr an, als alle Grundsätze und Systeme der Religion oder Politik. Er hält sich an die eigentlich so genannte Politik, und übertritt nie ihre Grenzen. In dieser Beziehung scheint er in gerader Linie der Nachkomme des Gallus zu sein, und fast keine Berührung mit den großen Geschichtschreibern zu haben. Diese bemühen sich, die Weltereignisse in einen Zusammenhang zu verketten, und dieselben auf eine höhere Wahrheit beziehend, darzustellen; die Schreiber der Chroniken und Memoiren verengen immer ihren Gesichtskreis, sie sind klar, bestimmt, führen eine Sprache voller Wahrheit: ihr Stil hat sehr viel Verwandtschaft mit dem der serbischen Dichter. Letztere haben für das gemeine Volk geschrieben, die Verfasser der Memoiren in Polen für den niederen Adel. Ihre in den Privathäusern viel gelesenen und häufig abgeschriebenen Werke kamen nur selten in die Bibliotheken; die Herrn Gelehrten verachteten sie. Jetzt gerade, da die Tschechen den Druck ihrer Volkslieder begonnen, haben sich die Polen an das Aufsuchen ihrer Memoiren gemacht; bis dahin hat man nur einen kleinen Teil derselben veröffentlicht. © Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_029

28. Vorlesung (11. Mai 1841)

369

Als Beispiel des Stils in dieser Art nehmen wir eine Stelle, wo der Janitschare die Schlacht bei Varna beschreibt. Ruszył z tamtąd Król Władysław, i ciągnął na dół Dunajem, ku pewnemu miastu, które zowią Vidin. To miasto Król Władysław kazał zrabować i spalić. Z tamtąd ciągnął daleko bardzo przez kraj pogaństwa tureckiego, i przyciągnął na jedno pole nazwane Warno, blisko czarnego morza. Cesarz turecki Morat pospieszył tam równie, i zeszły się oba wojska. Poczęła się bitwa w poniedziałek. Chrześcijanom z początku szczęśliwie i dobrze się powodziło, pierwszy, drugi i trzeci dzień, aż jazda pogańska cała, na głowę porażona, tak że cesarz z Janczarami swemi tylko na placu pozostał. Widząc Janiczary, że tak źle koło nich, upatrzyli sobie jedno miejsce pod górami, pomiędzy wąwozami głębokimi i zaroślinami wrzosu; a nasi widząc tego nie mogli, że przed nieprzyjacielem były jak gdyby przekopy jakie. Udali Janczarowie jakoby ku górom uciekać chcieli, pomiędzy sobą Cesarza Murata trzymając, ażeby ich nie odjechał, rozłożyli się pomiędzy onymi wodnistymi wąwozy, przykrywszy je wrzosem i trawami: a to było o nieszporach. Ujrzawszy to Jankuł wojewoda namówił Króla Władysława, ażeby z swym hufcem na nich ciągnął, i sławę otrzymał: albowiem ci ludzie już pokonani. Jakoż Król wnet uszykował wojska i prosto na nieprzyjaciół ciągnął, zapuściwszy kopaliny a drzewca w górę podniosłszy. Przyskoczyli ochoczo, końmi nieprzyjaciół chcąc potłoczyć i porazić: wiedzieli bowiem, że to samo piechota była. A tak jedni za drugimi kwapiąc się, tłoczyli się ażeby tym prędzej na nich uderzyli, przyszli nad owe przekopy i jedni za drugimi w nie wpadli; aż się napełniły owe przekopy ludźmi i końmi. Wtem poskoczyli na nich janczarowie, siekli ich i mordowali, jak sami chcieli; tak że i Król Władysław sławnej pamięci poległ na owych przekopach: a Jankuł wojewoda ciągnął wstecz bez żadnej przeszkody z swemi Ussarzami; albowiem nie było komu ich gonić: bo jazda pogańska na głowę porażona była. O Królu Władysławie nie wiedzieli chrześcijanie, gdzie się podział, a poganie także nie wiedzieli, że w przekopie został. Wielu panów i służebników jego w tym miejscu zginęło, a janczarowie, którzy do przekopów owych przypadli, rozwlekali poległych, jednych tam, drugich ówdzie, zdzierając z nich szaty i szukają pieniędzy. Tedy pewien janczar, którego imię było Kukry, jakoby kto powiedział mąż garbaty, doszedł z kolei do zwłok Władysława Króla, nie wiedząc ażeby to martwe ciało królewskim być miało. Ujrzawszy przecież tak piękną zbroję i na kopalinie pióra, i zaponę ozdobną i wspaniałą, uciął mu głowę i z owym szyszakiem strojnym w pióra przyniósł do Cesarza, i złożył u nóg jego, mówiąc te słowa: „Szczęśliwy panie, oto jest głowa jakiegoś znakomitego nieprzyjaciela twojego“.575 Der König Władysław brach auf, und zog längs der Donau herunter, bis nach einer Stadt, die man Vidin nennt. Diese Stadt ließ der König Władysław plündern und niederbrennen. Von da zog er sehr weit durch das Land des türkischen Heidentums hin, und kam auf ein Feld, Warna genannt, in der Nähe des Schwarzen Meeres. Der türkische Kaiser Murad eilte ebenfalls dorthin, und beide Heere trafen zusammen. Die Schlacht begann am Montag. Den Christen ging es anfangs in den ersten drei Tagen glücklich und gut, so daß 575 Pamiętniki Janczara (1828), XXIII, S. 105–111.

370

Teil I die heidnische Reiterei aufs Haupt geschlagen wurde, so daß nur der Sultan selbst mit seinen Janitscharen auf dem Felde blieb. Als die Janitscharen nun sahen, daß es so übel um sie stand, nahmen sie ihre Stellung am Fuße des Berges, zwischen tiefen, mit Gestrüpp verwachsenen Schluchten; die Unsrigen konnten aber nicht sehen, daß vor dem Feinde sich gleichsam Graben und Schanzen befanden. Die Janitscharen stellten sich, als wollten sie in die Berge flüchten, unter sich den Kaiser Murat festhaltend, damit er sie nicht verließe. Sie legten sich nun zwischen jenen wasserreichen Schluchten auseinander und deckten die Abgründe mit Gras und Gestrüpp zu: dies war aber gegen die Vesperzeit. Als der Woiwode Jankul dies sah, beredete er den König Władysław, mit seiner Heerschaar gegen sie zu ziehen, und den Ruhm einzuernten: denn diese Leute da sind geschlagen, sagte er. Als der König bald darauf sein Heer geordnet hatte, brach er gerade gegen den Feind los, nachdem er das Visier zuschließen und die Lanzen einzulegen befohlen. Lustig gingen sie drauf los, indem sie die Feinde mit den Rossen zu zertreten und zu vernichten im Sinne hatten; denn sie wußten, daß es bloß Fußvolk war. Da sie aber hastig auf einander folgten, so drängten sie sich, um nur desto schneller auf den Feind loszuschlagen; sie kamen auf jene Schlünde und fielen Einer nach dem Andern hinein, bis sie mit Leuten und Pferden voll wurden. Hier sprangen aber die Janitscharen auf sie zu, hieben und mordeten sie nach Herzenslust, so daß auch der König Władysław rühmlichen Andenkens in jene Abgründe fiel: der Woiwode Jankul aber, zog sich mit seinen Husaren ohne Schaden zurück, denn es gab Niemanden, der ihn verfolgen konnte, weil die heidnische Reiterei aufs Haupt geschlagen war. Vom Könige Władysław wußten die Christen nicht, wo er geblieben, und die Heiden wußten es auch nicht, daß er in der Tiefe gestorben. Viele große Herren und mehrere von seinen Dienern kamen ebenfalls an dieser Stelle um. Die Janitscharen, welche zu diesen Schlünden herbeigelaufen waren, schleppten die Gebliebenen hierhin und dorthin, um ihnen die Kleider auszuziehen und nach Geld zu suchen. So kam denn ein Janitschare, dessen Name Kukry, als wenn Jemand sagen möchte, ein buckligter Mann, der Reihe nach zum Leichname des Königs Władysław, ohne zu wissen, daß dieser tote Körper der König wäre. Als er jedoch eine so schöne Rüstung, auf dem Helme Federn und ein so stattliches und herrliches Gewand sah, hieb er ihm den Kopf ab, brachte denselben und jenen mit Federn geschmückten Helm zum Kaiser, und legte ihn zu seinen Füßen, mit den Worten: „Glücklicher Herr! Siehe, da ist das Haupt irgendeines angesehenen Feindes von Dir.“

Sogleich schickte der Kaiser nach den Gefangenen, auf daß sie aussagten, wessen Kopf dies sei. Es waren aber auch einige Hofleute des Königs Władysław unter diesen Gefangenen, und der Kaiser fragte sie mit großer Freude, wessen Kopf dies wäre. Sie antworteten ihm: „Zaiste, głowa to Króla Władysława, pana naszego“. Niektórzy służebnicy, ujrzawszy głowę królewską, z wielką żałością jęczeli i płakali. Cesarz z wielkiej radości wszystkim więzniom głowy ścinać rozkazał. Królewską głowę wyjąwszy z szyszaka, rozkazał ją obedrzeć i rozlicznymi zioły pachniącymi z bawełną skórę

28. Vorlesung (11. Mai 1841)

371

napełnić, ażeby nie popadła zepsuciu, i włosy rozczesać kazał i przystojnie utrefić: tak że się zdawało, jak gdyby żywa była, i kazał tę głowę na drzewcu osadzić i po wszystkich miejscach nosić, a obwoływać: „że Bóg oddał mu w ręce jego nieprzyjaciela.“ Ci którzy tę głowę nosili obficie byli obdarzani od wielkich panów i mieszczan, że każdemu z nich po kilkaset złotych dostało. Sławnej pamięci Król Władysław miał na dworze swym barwę jedną czarną, a drugą czerwoną, którą dworzanie Cesarza tureckiego przez kilka lat nosili na pamiątkę otrzymanego zwycięstwa. Tak się dokonał ten bój nieszczęsny. Potem Cesarz Morat przyjechawszy do Adryanopola, tę głowę Sołtanowi posłał; a Janczara, który głowę od ciała królewskiego uciął, i przed Cesarza przyniósł, uczynił wojewodą znakomitym, dał mu wiele pieniędzy, koni i szat, że wielkim panem został. I innych wielu obdarzono, i tak się powiodło szczęśliwie Cesarzowi tureckiemu, a przedtem zakonnikowi pogańskiemu.576 „In der Tat, dieses Haupt ist das des Königs Władysław, unseres Herren“. Einige Diener, als sie das königliche Haupt erblickten, fingen mit großem Schmerze an zu weinen und zu stöhnen. Der Kaiser befahl vor großer Freude, allen Gefangenen die Köpfe abzuschlagen. Dem königlichen Haupte, aus dem Helme genommen, ließ er die Haut abziehen und mit verschiedenen riechenden Kräutern und mit Baumwolle die Haut ausstopfen, auf daß sie nicht in Verwesung übergehe, und die Haare ließ er schön kämmen und kräuseln, sodaß es schien, als wäre Leben darin. Dann befahl er, dies Haupt auf eine Stange zu stecken, um an allen Orten herumzutragen und dabei auszurufen: – daß Gott ihm seinen Feind in die Hände gegeben! Diejenigen, welche dies Haupt herumtrugen, wurden von den großen Herren und Stadtbürgern reichlichst beschenkt, sodaß jeder von ihnen einige hundert Gulden sammelte. Der König Władysław, ruhmwürdigen Andenkens, hatte an seinem Hofe einen schwarzen und einen roten Dieneranzug, diesen trugen die Hofleute des türkischen Kaisers einige Jahre zur Erinnerung des erlangten Sieges. So endete dieser unglückliche Kampf. Als sich später der Kaiser Murad nach Adrianopel begeben hatte, schickte er dies Haupt dem Sultan; den Janitscharen aber, der es vom königlichen Leichname abgehauen und vor den Kaiser gebracht, machte er zu einem ansehnlichen Woiwoden, gab ihm viel Geld, Rosse und Gewänder, sodaß er ein großer Herr wurde. Auch viele Andere wurden beschenkt, und so erging es glücklich dem türkischen Kaiser, der früher ein heidnischer Mönch gewesen.

Bald darauf waren jedoch die Wünsche und Pläne des Janitscharen beinahe in Erfüllung gegangen. Der König Johann I. Albrecht577, dessen Eifer für den Glauben er rühmt, unternahm es, im Besitze ungeheurer Reichtümer, den Tod des Oheims zu rächen. Er regierte in Polen, und war noch dazu alleiniger Herr von Litauen. Nachdem er die Moskoviter zurückgedrängt, und die Kreuzritter so weit gedemütigt hatte, daß sie ihm bewaffnete Hilfe stellen mußten, fühlte 576 Pamiętniki Janczara (1828), XXIII, S. 109–113. 577 Johann I. Albrecht – Jan I Olbracht (1459–1501). Polnischer König von 1492–1501.

372

Teil I

er sich stark genug, die Türken zu vertilgen. Um dabei noch alle Hindernisse zu heben, suchte er mit dem deutschen Kaiser ein Bündnis zu schließen, und trat in genauere Verbindung mit seinem Bruder, dem tschechischen und ungarischen König Władysław II. (Jagiellończyk). Es traten ihm aber unvorhergesehene Hindernisse in den Weg. Erstens war der in Ungarn und Tschechien regierende Jagellone Władysław nur so lange seiner Gewalt sicher, als er mit Hilfe der verschiedenen, sich gegenseitig anfeindenden Sekten den Kampf im Gleichgewicht erhielt; den schweren Zügel der Regierung konnte er nur, die einen gegen die anderen verwendend, handhaben, und dem zu genügen überstieg fast seine Kräfte. Um uns eine Vorstellung machen zu können, wie die Gemüter in Tschechien erbittert waren, werden wir einige Worte eines damaligen tschechischen Chronikers578 anführen, welcher von den Sekten, die nur Prag, die Hauptstadt des Königreichs, allein erschütterten, spricht. Die Einwohner der Altstadt kommunizierten unter beiden Gestalten. Ihre Geistlichen kleideten sich wie die katholischen, sie ließen die Gegenwart des allerheiligsten Leibes und Blutes im Sakramente zu, waren aber gegen die Bilder. In der Neustadt hatten die Geistlichen die Stola und den Ornat, verwarfen aber die Dalmatika und Tonsur. Die Taboriten wollten aber auch nicht einmal von Geistlichen reden hören. Von allen christlichen Gebeten behielten sie bloß das Gebet des Herrn, begingen den Gottesdienst die Säbel in die Höhe haltend, häufig mit Blut bespritzt, und Bruchstücke aus den Büchern der Moral oder Religion hersagend. Dieser Chroniker erwähnt noch nicht der Adamiten und anderer kleinen Sekten, welche gemeinsam durch alle Äste der christlichen Abtrünnigkeit sich verbreiteten.579

Obgleich der König von Tschechien und Ungarn in seinen Landen zahlreiche Heere unterhielt, und die Tapferkeit der Tschechen dazumal allgemein gerühmt wurde, war er doch stets gezwungen, wachsam zu sein und die innern Streitigkeiten beizulegen; nach außen konnte er nichts unternehmen. Ein anderer Umstand, dem Schein nach sehr unbedeutend, machte dem König Johann  I.  Albrecht seine eignen Untertanen abwendig. Die Ursache hievon war jener Welsche Buonaccorsi580, den wir schon früher erwähnten. 578 Gemeint ist allerdings der Wiener Universitätsprofessor und Geschichtsschreiber Thomas Ebendorfer (1388–1464), Autor der „Chronica Austriae“, der auch in Prag tätig war. 579 Mickiewicz paraphrasiert das Zitat von Thomas Ebendorfer aus der tschechischen Literaturgeschichte von Josef Jungmann: „Historie literatury české“. Praha 1825, S. 66 (Zweite Auflage – Praha 1849, S.  47–48). Vgl. die entsprechende Stelle bei Thomas Ebendorfer: „Chronica Austriae“. Hrsg. Alphons Lhotsky. Berlin-Zürich 1967, S. 362. 580 Vgl. die 26. Vorlesung in diesem Teil. Es handelt sich um das Kallimach (Buonaccorsi) zugeschriebene Werk „Consilia Callimachi“, dem machiavellistische Intentionen in

28. Vorlesung (11. Mai 1841)

373

Dieser in den königlichen Rat zugelassene Macchiavellist wollte dem Senat die Grundsätze seiner Schule einpflanzen. Gewöhnt, mit den despotischen Fürsten Italiens zu tun zu haben, und die Politik bloß als Mittel zum Hintergehen und Überwältigen der Gegner oder Feinde anzusehen, konnte er durchaus nicht begreifen, was in Polen vorging. Es ärgerte ihn die Unabhängigkeit der Senatoren, er sah mit Ingrimm das Aufbrausen des Adels, und beredete unaufhörlich den König, diesem ein Ende zu machen, ehe er gegen die Türken ziehe, dann jeden inneren Widerstand zu brechen, sich die unumschränkte Gewalt zu sichern. Einige unvorsichtig gesprochenen Worte kamen irgendwie zur Öffentlichkeit, sie entdeckten das Geheimnis des Hofes; dies erbitterte die Gemüter gegen den Italiener und bald darauf auch gegen den König selbst. Die öffentliche Meinung hatte schon dazumal eine große Gewalt in Polen. Es gab keine großen Städte, keine Tageblätter; der ganze Adel aber, nur mit den Angelegenheiten des Landes beschäftigt, und stets auf der Reise zu den Gerichten, Beamtenwahlen und Beratungen, verständigte sich mündlich äußerst schnell, teilte sich die gehörten Neuigkeiten und Ideen mit. Ein Gerücht, das von Krakau ausging, verbreitete sich in einigen Wochen über die ganze Republik. Es entstand ein allgemeiner Lärm gegen den Macchiavellismus und gegen Buonaccorsi. Als aber wie zu guter letzt noch in dieser Zeit der walachische Feldzug mit der Niederlage in der Bukowina endete, entstand unwiderlegbarer Verdacht gegen den König und seinen Ratgeber. Ein zeitgenössischer Chroniker sagt: „Die Sache ist so hell wie die Sonne, daß der König diesen Krieg nur unternommen hat, um den Adel zu verderben.“581 Auf diese Weise entstand nun die erste Entzweiung zwischen der Republik und dem Thron; man begann die Regierung und das Volk als zwei entgegengesetzte Mächte zu betrachten, die verurteilt wären, sich ewig zu bekämpfen. Johann  I.  Albrecht, durch die allgemeine Stimme gezwungen, entfernte die Welschen aus seiner Nähe; konnte aber keine Unterstützung seiner Pläne mehr erlangen und starb aus Verdruß. Sein Nachfolger, Aleksander Jagiellończyk582, regierte kurze Zeit und war durch innere Unruhen in Litauen gehindert, wo während der tatarischen Überfälle die Sachen zum letzten Male den Anschein bekamen, als sollte das Großfürstentum von der Krone Polen losgerissen und eine eigne, volkstümliche seinen Ratschlägen vorgeworfen werden; vgl. – F. Buonaccorsi: Rady Kallimachowe. Hrsg. Romuald Wšetečka. In: Pamiętnik Słuchaczy Uniwersytetu Jagiellońskiego 1887, S.  111– 169; Krzysztof Baczkowski: Rady Kallimacha. Kraków 1989. 581 Nach J. Maślanka (A. Mickiewicz: Dzieła. Tom VIII: Literatura słowiańska. Warszawa 1997, S. 708) als Einschätzung eventuell aus M. Kromer: „De origine et rebus gestis Polonorum“ (1555); in poln. Übersetzung – Marcin Kromer: Kronika. Sanok 1857 (ks. XXX, S. 1327–28). 582 Aleksander Jagiellończyk (1461–1506).

374

Teil I

Dynastie auf dessen Hauptsitz erhoben werden. Es schien, daß es erst dem dritten Bruder der beiden entschlafenen Könige bestimmt gewesen, die Pläne seiner Vorfahren zu verwirklichen und das Jagellonische Werk auszuführen. Sigismund  I.583, später der Alte und Ruhmreiche genannt, begann seine lange und glänzende Regierung in den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts. Zuerst eilte er im Jahre 1507 nach Litauen und übernahm daselbst die Regierung, vereitelte die bösen Anschläge der russisch-litauischen Fürsten, und nachdem er sich auf seinem erblichen Fürstentum befestigt hatte, kehrte er nach Polen zurück, wo man ihn einstimmig zum Könige ausrief. Gleich nach der Thronbesteigung begann er, sich fleißig mit den inneren Angelegenheiten der Republik zu beschäftigen; er sah, welche Bewandtnis es mit den Einkünften des Reichs hatte, ließ die gesetzlichen Bestimmungen sammeln und ordnen, und trug um alles Sorge, was die Staatswirtschaft betraf. Die neu eingeführte Ordnung im Schatze erlaubte ihm bald die bei Privatleuten und fremden Fürsten verpfändeten Ländereien einzulösen. Das allgemeine Wohlsein blühte auf; unterdessen große Feldherrn entscheidende Siege über die Moskoviter, die Tataren und Walachen davon trugen. [Der Großfürst von Moskau, der die Wirren in Litauen zu nutzen glaubte, entsandte dorthin ein 80 000 Mann starkes Heer. Dieses Heer besiegte bei Orsza der Fürst Konstanty Ostrogski. Die entscheidenden Siege gegen die Krim-Tataren trugen zur Sicherung der südpolnischen Gebiete bei.].584 Das walachische oder moldauische Volk in den zu Polen gehörigen Gegenden von Rotrußland hatte seine eignen Herrscher oder Woiwoden. Diese Herrscher huldigten der Republik, unterstützten aber in den Kriegen der Ungarn mit den Türken bald die eine bald die andere Partei; sie erlangten hierdurch nicht geringes Ansehen, und suchten sich zu selbstständigen Fürsten zu machen. In schwierigen Fällen begaben sie sich unter den Schutz ihrer Oberherren, der Könige von Polen; wie oft sie aber Polen in ungünstigen Verhaltnissen erblickten, überfielen sie dessen südliche Länder. Sigismund, der nun stets das Morgenland im Auge behielt, sah ein, daß er nichts Wirksames in dieser Hinsicht unternehmen könne, ehe er nicht die Walachen gänzlich zur Ruhe gebracht. Der moladauische Fürst585 war damals gerade in Pokucie [ukr. Pokuttja] eingefallen; die gegen ihn ausgesandten Truppen von Jan 583 Zygmunt I (1467–1548); vgl. Henryk Rutkowski: Poczet królów i książąt polskich: Zygmunt I Stary. Warszawa 1978. 584 Nachtrag aus der Edition von F. Wrontowski (A. Mickiewicz: Literatura słowiańsla, Bd. 1, op. cit., S.  286). Großfürst von Moskau – Vasilij III. Ivanovič (1479–1533); Konstanty Ostrogski, Hetman von Litauen (um 1460–1530); Schlacht bei Orsza 1514. 585 Petru Rareş (1483–1546).

28. Vorlesung (11. Mai 1841)

375

Tarnowski586 versetzten ihm eine schwere Niederlage bei Obertyn (1531). Dieser Sieg wurde durch viele damalige Geschichtsschreiber und Dichter gefeiert.587 Das erste französische Buch, welches Erwähnung von Polen tut und in selbigem Jahre erschien, erzählt diese Schlacht.588 Um die errungenen Vorteile zu benutzen und um zugleich die Türken zu demütigen, hatte der König einen entscheidenden Feldzug im Sinne; unterdessen eilte er aber nach Preußen, es ein für allemal in Ordnung zu bringen. Die Kreuzritter, welche noch fortwährend dies Land verwalteten, hatten, um sich dem König von Polen beliebt zu machen, seinen Neffen Albrecht von Brandenburg589, zum Hochmeister erwählt. Der Orden war schon unter dem Einfluss der religiösen Sektierungen, die sich von Deutschland her verbreiteten. Albrecht sah voraus, wie dienlich ihm dieses zur Losreißung Preußens von Polen und zur Umwandlung in ein selbstständiges Fürstentum sein könnte. Wenn die preußischen Bischöfe, die von ihm nichts erlangen konnten, den König Sigismund um Schutz des Glaubens gegen Proselytenmacherei590 angingen, so besänftigte er seinen Oheim damit, daß diese Sekten nicht im Mindesten im Sinne hätten, sich von der allgemeinen Kirche zu trennen, daß sie bloß einige Mißbräuche derselben abschaffen wollten. Viele Herren im königlichen Rat, welche Luthers Meinungen teilten, und sich dadurch nebenbei die Gunst des Königs zu erlangen hofften, stimmten seinem Verwandten bei. Nach langem Widerstand erlaubte der König Albrecht von Brandenburg den katholischen Glauben und das Ordensgelübde abzuschwören, das Amt des Hochmeisters niederzulegen, den Orden aufzulösen und den Fürstentitel anzunehmen. Der Papst (Clemens VII) tadelte deswegen Sigismund, und machte ihn aufmerksam auf die Gefahren, welche hieraus für Polen erwachsen könnten. Die Komturen und Ritter, welche der Kirche treu geblieben waren, baten den König, sie unter seinen Schutz zu nehmen; sie wollten sich 586 Jan Amor Tarnowski (1488–1561); vgl. Włodzimierz Dworzaczek: Hetman Jan Tarnowski. Z dziejów możnowładztwa małopolskiego.Warszawa 1985; Marek Plewczyński: Obertyn 1531. Warszawa 1994. 587 Vgl. Stanisław Orzechowski: Żywot i śmierć Jana Tarnowskiego. Wrocław-WarszawaKraków-Gdańsk 1972. 588 Vgl. „La très grande et triumphante victoire du très excellent roi de Pologne“. Antverpiae 1531; andere Ausgabe Paris 1531. Französische Übersetzung des lateinischen Textes von Jan Dantyszek (Ioannes Dantiscus): „Victoria Sereniss. Poloniae Regis contra voyevodam Muldaviae Turcae tributarium et subditum parta 22 Augusti 1531.“ Lovanium (Leuven) 1531; vgl. dazu: Aleksander Czołowski: Bitwa pod Obertynem 22 sierpnia 1531. Lwόw 1931, S. 4. [www.pbc.rzeszow.pl]. 589 Albrecht von Brandenburg (1490–1568). 590 Proselytenmacherei: zudringliches Bestreben, Gläubige einer anderen Religion in die eigene herüberzuziehen.

376

Teil I

für immer mit der polnischen Geistlichkeit vereinen, in Preußen bloß die Bischofs- und Priesterämter der polnischen Kirche bekleiden. Aber der König antwortete dem römischen Stuhl, daß es nicht mehr in seiner Macht stände, Preußen der Kirche zu bewahren, und in nachgiebiger Schwäche gegen seinen Neffen wollte er ihm lieber dies Land als Lehen geben, als es selbst in unmittelbaren Besitz nehmen. Albrecht von Brandenburg, durch seine hinterlistige Politik bekannt, redete dem Könige ein, da er schon im vorgerückten Alter sich befände, so würde er wahrscheinlich kinderlos sterben, alsdann aber käme Preußen schon nach dem Erbfolgerecht ihm, nämlich dem Albrecht, zu, ohne daß es nötig wäre, die päpstliche Bestätigung nachzusuchen, oder irgend welche Verabredungen mit dem Kaiser, dem Schutzherrn des Ordens, zu treffen. Alle damaligen Staatsmänner unterstützten Albrechts Absichten, und die Schriftsteller ergossen sich in Lobeserhebungen über den König, daß er so geschickt die preußischen Angelegenheiten beendigt hätte. Jedoch gab es einige Bischöfe und Schriftsteller, welche diese Verhandlungen tadelten, und als es zum Schluß gekommen, legten sie es dem König sehr übel aus. Spätere Zeiten haben gezeigt, welche Partei die Wahrheit für sich hatte. Ein vorzugsweise politischer Schriftsteller spricht in folgenden Worten von Preußens Säkularisation: 1525 […] Lutheri doctrina tantopere utilis fuerit, quantopere regi Poloniæ Sigismundo fuit, qui eam est abominatus. Nam si ordo ille monasticus Cruciferorum in Prussia perdurasset, potuissent adhuc, ut pili barba abrasa, iterum atque iterum illa bella funesta & diuturna renasci. At ubi ducalis Prussia Augustanam confesionem amplexa est, & propte rea Dux eorum, exuta veste Cruciferica, uxorem duxit, iam bella illa & femina bellorum a radicibus imis abscissa funditus corruerunt atque extincta sunt.591 1525 […] Die lutherische Lehre ist niemandem so zu Statten gekommen als dem polnischen König, wenngleich er sie verwarf. Hätte nämlich der Kreuzritterorden länger bestanden, so konnte er wie abgemähtes Gras wiederwachsen und ergrünen. Sobald aber Preußen die Augsburgische Konfession angenommen, sein Fürst dem Mönchtum entsagt und geheiratet hatte, war der Orden an seiner Wurzel untergraben, und man kann sagen, daß bereits jeglicher Keim zu Kriegen oder Streitigkeiten von dieser Seite her für immer vernichtet wurde.

591 Stanislai Sarnicii Annales, seu de origine et rebus gestis polonorum et litvanorum libri VIII. In: Ioannis Długossi seu Longini canonici quondam Cracoviensis Historiae Polonicae libri XIII et ultimius […]. Tomus secundus. Lipsiae 1712, S. 1209; Erstausgabe: Annales, sive de origine et rebus gestis Polonorum et Lituanorum libri VIII […]. Cracoviae 1587. – Stanisław Sarnicki (um 1532–1597).

28. Vorlesung (11. Mai 1841)

377

Dies sind die Worte des Geschichtsschreibers Stanisław Sarnicki. Der große Kardinal Hosius592 warnte hingegen den König, indem er sagte, daß gerade von hieraus Böses für Polen entspringen würde, daß die Reformation die Deutschen gänzlich von den Polen trennen, alle politischen Bande zwischen diesen beiden Stämmen zerreißen, und Polen mit Gewalt in die Politik des deutschen Kaisertums und Frankreichs hineingezogen werden würde. Der König Sigismund mit der Arbeit beschäftigt, welche den Grundstein des künftigen Königreichs Preußen gelegt hatte, vernachlässigte immer mehr die kriegerischen Pläne gegen die Türkei; er bemühte sich um einen dauernden Frieden mit derselben und trat in Verträge mit Süleyman. Die Geschichtschreiber priesen ihn deshalb, sowie man späterhin auch die Politik Venedigs gerühmt hat, welches strenge Neutralität zwischen dem ottomanischen und deutschen Kaisertum aufrecht zu erhalten strebte, was ihm in der Folge jeden Einfluß völlig raubte und seine ganze Macht zu Grunde richtete. So machte mit einem Male das Jagellonische System Halt, und sogar zwei Schritte rückwärts. Sigismund entsagte einerseits der Pflicht eines Verteidigers und Verbreiters des Glaubens und übernahm die traurige Rolle eines Bewahrers desselben; er hatte keinen Mut, den frechen Sektierungen einen Damm entgegenzusetzen, welche jedesmal Duldung ausriefen, dabei aber den volkstümlichen Glauben Polens zu Grunde richteten; andererseits unterhandelte er, indem er den in seinem Hause erblichen Gedanken, die Türken zu bezwingen, fahren ließ, mit dem Sultan auf freundschaftlichem Fuße, ging Bündnisse ein, wie ein Monarch mit einem andern ihm gleichen. Polen, das aus so vielen Gefahren siegreich hervorgegangen, welches weder Türken, noch Tataren, noch Deutsche hatten zertreten können, wurde nun moralisch verwundet, und empfing den Schlag in der Tiefe seines innersten Wesens. Die Lebhaftigkeit der Republik, geweckt durch die Anstrengung nach Außen, kehrte sich nun erst nach ihrer Mitte und verursacht innere Verwirrung; statt religiöse und politische Dogmen zu verbreiten, begann man nun über dieselben zu disputieren. Gegen das Ende der Regierung Sigismund des Alten fand noch eine zweite große Umwälzung in Polen statt. Wie früher der Senat an die Spitze der volkstümlichen Angelegenheiten gestellt war, so drängte sich nun der ganze kleine Adel haufenweise in die Regierung ein. Die Gewalt des Senats hatte sich allmählich, regelmäßig und ohne das mindeste Eindrängen entwickelt; der Adel dagegen beging im Anfang schon Ungerechtigkeiten und Gewalttaten. Der König Sigismund wollte die Walachen zur Ordnung bringen, und da er jedesmal auf den 592 Stanisław Hozjusz – Stanislau Hosius (1504–1579). Vgl. Józef Umiński: Kardynał Stanisław Hozjusz 1504–1579. Opole 1948, S. 41, der auf einen entsprechenden Brief von Hosius an M. Kromer verweist. Ausführlicher über über Hosius vgl. die 32. Vorlesung (Teil I).

378

Teil I

Ratsversammlungen eine Ungeneigtheit zu Kriegsunternehmungen vorfand, so erließ er die wici593 zum allgemeinen Aufruf, und bestimmte einen Ort in Rot-Reußen zur Versammlung. Alle Woiwodschaften kamen mit ihren Fahnen in die Gegend von Lemberg gezogen. Nie sah man eine so zahlreiche, drohende Zusammenkunft; 150 000 Edelleute zu Roß stellten sich im Lager auf. Europa blickte mit Verwunderung und Schrecken dahin. Der Sultan schickte Eilboten und ließ fragen, was dies Heer zu bedeuten habe; der deutsche Kaiser bekam seinetwegen Angst, und schickte eine Gesandtschaft zum König, welche ihn an die gemeinsamen Verträge mit dem ungarischen und tschechischen Könige erinnern sollten; der preußische Fürst beeilte sich mit der Sendung der bewaffneten Hilfsstruppen, um sich in der Gunst seines Oheims zu befestigen. Alle zitterten vor einer so ungeheuren Macht; Sigismund, befriedigt von dem glücklichen Erfolg, wollte schon die versammelten Scharen dem Feind entgegenführen, als plötzlich alle Keime der religiösen, politischen und sozialen Zwiste, die seit Langem unter dem Adel im Stillen glimmten, auf einmal einem Vulkan gleich empor loderten. Die Senatoren selbst gaben zuerst das Zeichen hierzu. Entzweit schon im Rat, von persönlichen Interessen bewegt, traten sie nun als Führer der Parteien auf, und indem ein jeder für sich eine Stütze in den „jüngeren Brüdern“ (den Edelleuten) suchte, führten sie dieselben auf die Bahn der Beratungen. Der Adel, angefeuert durch die Stimmen der mächtigsten und angesehensten Herren, begann die öffentlichen Angelegenheiten und die Verfassung der Republik durchzusehen. Statt der kriegerischen Reihen bilden sich Beratungskreise, die durcheinander tobenden Haufen greifen zur Feder statt zum Säbel, sie schreiben ihre Klagen und Forderungen nieder, entsenden Deputationen an den König. Alle Fragen der sozialen Stellung, alle Verhältnisse der Stände, der Gesetzgebung und Finanzverwaltung, die nur irgend berührt werden konnten, treten jetzt auf einmal vor den König, damit er sie sogleich entscheide. „Wir wollen zuerst die Republik in Ordnung bringen“, spricht der Adel. „Es ist jedoch nicht die Zeit dazu, – antwortet der König – dies erfordert ja lange und reife Überlegung, und hier ist der Feind auf dem Nacken, die Walachen überfallen

593 „wici“ – Weidenruten, Ästchen. Durch das Vorzeigen der vom polnischen König an die Woiwoden und Regionalbeamten verschickten Weidenruten wurde im alten Polen das allgemeine Aufgebot (pospolite ruszenie) aufgerufen; später erfolgte die Mobilmachung schriftlich. Vgl. die Sammlung von Gesetzen, Verfassungen und Privilegien – Prawa, konstytucye y przywileie Krolestwa Polskiego, y Wielkiego Xięstwa Litewskiego, y wszystkich prowincyi należących: Na walnych Seymach koronnych od Seymu Wiślickiego Roku Pańskiego 1347. Aż do ostatniego Seymu uchwalone. Warszawa 1732–1782.

28. Vorlesung (11. Mai 1841)

379

unsere Länder, sie verbrennen uns Städte und Dörfer.“594 Dies half nichts, der auf seinem Plan hartnäckig bestehende Adel wiederholte fortwährend, seine Schuldigkeit sei lediglich auf heimatlichem Boden zu kämpfen, und wenn er die Könige in den Kriegszügen außerhalb der Grenzen begleitet hätte, so wäre dieses nur aus Zuneigung zu ihnen, aus Gnade geschehen; die Könige seien verpflichtet in solchen Fällen, ihm Sold zu zahlen. Jene einst eingepflanzte Entzweiung zwischen dem Interesse des Monarchen und dem des Volks trug nun so ihre Früchte. Gleichzeitig erhebt sich ein gefährlicher Anschlag gegen die Kirche, die Städte und Landleute. In den Punkten, die von nun an die Grundlage der neuen polnischen gesetzgebenden Verfassung sein sollen, wird beabsichtigt, die Geistlichkeit nicht nur zu erniedrigen, sondern selbst allmählich zu vernichten; man verbot den Bischöfen, jeden der nicht adlig, zu weihen; man wollte die Kirche „adlig“ machen, und verlangte vom König, daß er beim Papst die Bestätigung eines so unvernünftigen, ja selbst lächerlichen Gesetzes auswirken möchte. Der Adel, welcher selbst durch die Kirche zur Regierung gelangte, will nun diesen Weg den niedrigeren Ständen versperren; zugleich befiehlt er den Städtern, ihre Landgrundstücke zu verkaufen, und solche nie mehr an sich zu bringen; über die Landleute maßt er sich das Recht auf Tod und Leben an. Auf seine Menge pochend, und sehend, daß im Land nichts sein Übergewicht zurückdrängen kann, strebt er nach der ausschließlichen Herrschaft über alles; er will dem König das Recht nehmen, über den Schatz zu verfügen, trachtet sogar die Kronmetrik595 zu verbrennen, weil in denselben sich Beweise vorfanden, daß viele Ländereien, die in den Händen des Adels waren, der Republik angehören, und der König kraft dieser Urkunden dieselben hätte wieder verlangen können. Der Senat, oder vielmehr jene Senatoren, welche diesen Sturm hervorgerufen, erschraken selbst darüber und bemühten sich, ihn zu stillen; der König 594 Als Zitat nicht belegt. Eher als Dialogisierungverfahren der erzählten Geschichte über die Ereignisse von 1537 aus der Chronik von Stanisław Orzechowski – Annales Polonici ab excessu Sigismundii primii. Hrsg. Jan Szczęsny Herburt. Dobromil 1611; auch in der Ausgabe – Ioannis Długossi seu Longini canonici quondam Cracoviensis Historiae Polonicae libri XIII et ultimius […]. Hrsg. Heinrich Freiherr von Huyssen. Tomus secundus. Lipsiae 1712, S. 1562–1608. 595 Metrica Regni Poloniae, Metryka Królestwa Polskiego (Metryka Koronna) – Polnische Kronmatrikel. Die Matrikel umfasst verschiedene Dokumente (Privilegien, Sejmprotokolle, Rechtsakte wie Gerichtsentscheidungen, Korrespondenz, Grundbucheintragungen usw.) aus der Kanzlei des Königs; überliefert seit 1447 bis 1795. Vgl. Marticularum Regni Poloniae summaria, excussis codicibus, qui in Chartophylacio Maximo Varsoviensi asservantur. Hrsg. Teodor Wierzbowski. 5 Bde., Warszawa 1905–1919. Im Internet unter [https:// archive.org].

380

Teil I

versprach Vieles, das Übrige ließ er verjähren, und wartete, bis der Adel müde würde; es gab aber Aufwiegler, die nicht abließen, den Adel gegen Senat und König aufzureizen. Der päpstliche Nuntius und die Gesandten der fremden Höfe sahen mit Verwunderung diesem außerordentlichen Schauspiel zu, welches früher in der Christenheit noch nie erblickt worden war. Die Sarmaten596 in ihren altertümlichen asiatischen Gewändern, mit ihren Haufen von Hofleuten, Dienern und bewaffnetem Troß lagerten in elenden Bauernhütten ringsum; der bewaffnete Adel stand in Haufen bei seinen Fahnen auf dem Feld, und sobald es tagte, versammelten sich alle in dem Ratsversammlungen unter freiem Himmel. Die während dieser Beratungen gehaltenen Reden bewahrten uns die Geschichtschreiber597 getreu auf. Das erste Mal sah hier die Christenheit das Muster der parlamentarischen Beredsamkeit. Bis dahin untersuchte nämlich das englische Parlament bloß die Rechtsfrage und schrieb die Artikel der Verordnungen nieder; die Generalstände Frankreichs legten ihre ganze Beredsamkeit auf das Begrüßen des Königs bei der Eröffnung, und auf das Abschiednehmen, sobald er die Beratungen schloß; im Allgemeinen sprach man einfach und nur von Sachen, die zu erledigen waren. Die Polen hingegen traten hier mit Auseinandersetzungen nach allen Regeln der altertümlichen Beredsamkeit und allen Formen der jetzigen Diskussionen auf. Die Reden der Senatoren gleichen sehr denen bei Livius, die leider gar zu häufig durch die europäischen Schriftsteller nachgeahmt werden, und deshalb nur sehr geringen politischen Wert haben. Während dieser tobenden Beratungen, als der Streit eben am heftigsten entbrannte, kam plötzlich ein schreckliches Gewitter mit Blitz und Sturm. Es entstand Verwirrung; der Adel fiel in den durch dies Getümmel und den Donner betäubten Kreis der Senatoren; Regen und Blitz vertrieb endlich alles, jeder eilte so schnell als möglich in die Stadt. Einige Tage später versammelte man sich noch, um die Klagen und Forderungen aufzuschreiben, welche als das 596 „Sarmaten“ – Bezeichnung für den polnischen Adel, der seit dem 15. Jahrhundert seine (mythische) Herkunft von dem antiken Stamm der Sarmaten ableitete; vgl. [Maciej z Miechowa] Mathiae de Mechovia Tractatus de duabus Sarmatis Europiana et Asiana et de contentis in eis. Cracoviae 1517 [http://www.hs-augsburg.de]; aus diesem Selbstverständnis entwickelte sich im 16. und 17. Jahrhundert die sarmatische Ideologie (Sarmatismus). Vgl. Jan Błoński: Sarmatismus. Zur polnischen Adelskultur. In: Deutsche und Polen.  100 Schlüsselbegriffe. Hrsg. Ewa Kobylińska, Andreas Lawaty, Rüdiger Stephan. München 1992, S. 127–133; ferner den Sammelband – Sarmatismus versus Orientalismus in Mitteleuropa. Hrsg. Magdalena Długosz, Piotr O. Scholz. Berlin 2013. 597 Die Reden überlieferte St. Orzechowski in seinen Annales polonici, op. cit., (Annalis sextus seu potius concilia et conciones anno 1537), Leipzig 1712, S. 1562–1608; pol. Übersetzung von Zygmunt Aleksander Nałęcz Włyński in: Kroniki Stanisława Orzechowskiego. Hrsg. Kazimierz Turowski. Sanok 1856, 6. Jahrbuch.

28. Vorlesung (11. Mai 1841)

381

einzige Denkmal dieser Zusammenkunft uns übrig geblieben sind. Der König nahm sie an, legte sie für den künftigen Sejm bei Seite, und entließ das allgemeine Aufgebot. Der niedere Adel, für einen Augenblick betört, immer aber ehrlich und leutselig, kehrte traurig und beschämt nach Hause zurück; denn allenthalben hörte er die Klagen, daß er einen guten König gekränkt, ihn bis zu Tränen gebracht habe. Diese geräuschvolle und zugleich eitle und unbedeutende Begebenheit nannte man zum Spott den „Hühnerkrieg“.598 Die Republik schien schon in den Abgrund der Verwirrung gestürzt; doch kam sie diesmal noch aus dem augenblicklichen Wirrwarr heraus. Alles kehrte in Kurzem in die Fugen der Ordnung zurück, der Senat vermochte noch für lange Zeit die Reichstage (Sejmy) zu lenken und die Gewalt der Abgeordneten in gehörigen Grenzen zu erhalten. Dennoch entdeckte dies Symptom die Keime des Übels in der Republik. Es war das erste Zeichen der Krankheit, an welcher das alte Polen sterben sollte. Was man besonders in diesem beweinenswerten Ereignis bewundert, ist das hierin sich kundgebende, grenzenlose Durchdrungensein von der Geschichte des Altertums. Kein Einziger beruft sich auf die vaterländische Geschichte, die alten Gebräuche und polnischen Gesetze; Alle haben das heidnische Rom, seine Einrichtungen und Gesetze vor Augen. Der Ritterstand vergleicht sich mit den römischen Plebejern, nennt sich amtlich Plebs, und erinnert daran, daß in Rom das beleidigte Volk die Stadt verlassen hat; dies Beispiel ahmt er nach, trennt sich vom Senat, schließt einen besondern beratenden Kreis. Es werden sogar Plebiscita angeführt, welche die damaligen Gesetzeskundigen unvernünftig genug als für die Patrizier verpflichtend betrachten; der Adel will kraft dieser allein Gesetze geben, dieselben dem Senat und König aufdringen. Zur selbigen Zeit geschieht eine ähnliche Umwälzung auch in der Literatur. Vorher folgten die polnischen Geschichtschreiber einer dem anderen, sich an dieselben Vorstellungen haltend, die Begebenheiten nach denselben Grundsätzen ordnend und beurteilend; von nun an geht jeder seine besondere Bahn, dieser schreibt eine Königsgeschichte, jener eine Kirchengeschichte, und ein anderer die des Adels; es gibt aber keine allgemeine Geschichte des Volks, der Republik, mehr. Wir wollen hier einige ernste Ansichten eines der größten damaligen Geschichtsschreiber anführen, welcher vorzüglich das Böse in dem, was 598 „Wojna kokosza“ (auch Hahnenkrieg) – 1537. Gegen die Politik des polnischen Königs und gegen die Königin Bona Sforza gerichtetes Aufbegehren des polnischen Adels, der mehr Rechte und Privilegien forderte; insgesamt gab es 35 Forderungen. Im Ergebnis endete die Rebellion („rokosz“) lediglich mit der Beinahe-Ausrottung der für die Verpflegung requirierten Hühner; die pejorative Bedeutung entsteht aus dem Wortspiel, in dem eine Beziehung zwischen „rokosz“ (Rebellion, Krieg) und „kokosz“ (Legehenne) hergestellt wird.

382

Teil I

geschah, erkannte, und seine Epoche gut zu beurteilen verstand. Er spricht mit Verachtung von der glänzenden Beredsamkeit der Senatoren und des Adels auf der Zusammenkunft bei Lwów (Lemberg): Diese Stimmen und Anreden hat Orzechowski sorgfältig gesammelt, ein unruhiger und leichtfertiger Mensch, welcher voller Bewunderung für diese törichten Deklamationen uns dieselben als etwas Wichtiges und Merkwürdiges aufbewahrt hat. Diese leidenschaftlichen Redner, diese verbrecherischen Bürger haben die Freiheit auf die schimpflichste Art erniedrigt. Man erging sich in Klagen über Gewalttaten und Tyrannei. […] Aus allem, was wir zuvor gesagt, leuchtet aber ein, daß diese Klagen ungegründet und lächerlich waren. Der König mußte dennoch auf dieselben antworten, sich entschuldigen, als wäre er in der Tat schuldig, der König, welcher den ehrenvollen Namen des Wiederherstellers der Republik und eines Vaters des Vaterlandes verdient! In der Wirklichkeit ist nie ein Königreich weiser, gerechter und milder regiert worden, nie bestand der Senat aus besser gewählten Männern.599

Dann gibt der Verfasser das Bild der Regierung Sigismund des Alten. Der Krieg und die Verträge mit den Fremden wurden ebenso wacker, ebenso gewandt geführt; von Außen glänzende Siege, nützliche Bündnisse, Heiraten, welche das königliche Haus mit den mächtigsten Monarchen Europas verbanden; im Innern eine Ordnung, wie sie bis dahin noch nicht gesehen, völliger Friede, eine ungestörte Glückseligkeit; das sind die Toren der allermildesten und ruhmwürdigsten Regierung; dennoch verstand unser dummes Volk es nicht anzuerkennen. Der Kaiser Karl V., der ungarische König und sogar der Sultan selbst boten dem Könige ihre Hilfe zur Zurechtweisung der aufrührerischen Untertanen; der König wollte jedoch gegen sie eine unerschöpfliche Güte gebrauchen, als könnte Milde die politische Ehrlosigkeit überwinden! Der göttlichen Vorsehung gefiel es, den großmütigsten und mildesten Monarchen durch seine eignen 599 Zitat-Paraphrase aus Stanisław Orzechowskis Annalen. Die Stelle lautet: „Extant conscriptæ hæ ipsæ furentium hominum conciones in ipsis castris ad Leopolin habitae, ita ut dictæ sunt, per hominem turbulentum & seditiosum Stanislaum Orzechowski, Petri Kmithæ servitorem, qui declamatoribus illis, & eorum insanis concionibus veluti belle ac sapienter perorantibus multum tribuere videtur. Quæ quidem querelæ & conciones, tum de cæteris rebus, tum de jure publico violato ac opressa communi omnium libertate his verbis extensæ, quibus dictæ & conscriptæ sunt, videntur rerum ignaris ingentia gravamina & veluti Tyrannis fuisse. […] Ex his paucis, quæ videntur esse præcipua, facile est judicare, quod reliqua omnia per Equestrem ordinem postulata minuta sint, & prope inania, ut pigeat, quid ad ea a Rege responsum sit commemorare, & quod injuste ob ea is Rex sit accusatus, qui Regni hujus Poloni sub prioribus Regibus afflicti ac dilacerati restaurator ac pater patriae erat.“ – Stanislai Orichovii, Okszi, Annales Polonici ab excessu Sigismundii cum vita Petri Kmithæ. In: Ioannis Długossi seu Longini canonici quondam Cracoviensis Historiae Polonicae libri XIII et ultimius […]. Tomus secundus. Lipsiae 1712, S. 1623–1624.

28. Vorlesung (11. Mai 1841)

383

Untertanen zu betrüben, um zu zeigen, daß in diesem Leben es keine vollständige Glückseligkeit gäbe.600

Die letzten Worte sind der Antwort des Königs Sigismund selbst entnommen, die er den Gesandten Karls und Süleymans erteilte.

600 Im Original: „Etenim sub nullo priorum Regum Poloniæ Regnum ipsum majore religione, fide, justicia, cultu, fama, gloria, Senatus Majestate, consilio, splendore, pace, victoriis, legationibus, Regum fœderibus, matrimoniis, congressu, amore, benevolentiae cæsarum, libertate & divitiis domesticis, libertate subditorum adeo floruit, atque sub hoc uno Monarcha omnium maximo; qui lætis successibus ac felicitate divinitus ei data, illud adeo illustravit, ut par cæteris amplissimis Regnis existimaretur. Sed hæc tanta bona sua populus stultus intelligere non potuit. Sic visum fuit DEO Regem bonum ac sanctum, ne felicitas ejus omni ex parte beata ac perfecta esset, malitia subditorum suorum exerceri. Cui Cæsar CAROLUS Quintus, Rex Fernandus, Rex Joannes Ungariæ, Principes Germaniæ, Turcus etiam per literas & nuncios condolentes & eum consolantes, adesse venireque cum potentia sua ad coërcendam hanc tantam subditorum malitiam promittebant. Sed maluit Rex clementia ac lenitate subditos suos ad cor ac ad officium reducere. Verum improbitas vinci nullo benificio potest. “ – Stanislai Orichovii, Okszi, Annales Polonici, op. cit., S. 1624.

29. Vorlesung (14. Mai 1841) Anfänge des biographischen Schrifttums in Polen – Das literarische Leben in Tschechien – Zur Buchdruckerkunst – Die Krakauer Akademie – Gregor von Sanok (Grzegorz z Sanoka), Johann von Glogau (Jan z Głogowa), Kopernikus u.a. – Zur polnischen Gesetzgebung – Das russische Volksmärchen „Das Urteil des Schemjaka“ (Šemjakin sud) – Zur Politik der moskovistischen Großfürsten gegenüber der Goldenen Horde, Novgorod und Pskov – Unterjochung von Novgorod und Pskov – Drei politische Richtungen bei den Slaven.

Da nun das sittliche und politische System Polens, welches wir das Jagellonische genannt haben, in seiner Entwicklung nach Außen aufgehalten wurde, so nahm die innere Arbeit des Volkes, unaufhörlich fortwirkend, alle seine Kräfte in Anspruch und verzehrte sie. Von nun an wird ein synthetischer Vortrag der Taten und der Literatur der Republik immer schwieriger. Die volkstümliche Einheit zerfällt in besondere Stände und Körperschaften, welche, wenn sie sich auch nicht immer widerstreiten, doch wenigstens in ihren Interessen verschieden sind; der Boden des Geistes füllt sich mit einer Menge neuer Theorien, Wissenschaften und Doktrinen, die eine eigene Weise des Aufkommens und des Wachstums haben. Es kann von einem einzigen Mann unmöglich verlangt werden, daß er alles dies umfasse, konzentriere und in geschichtlicher Einheit darstelle. Die Geschichte, statt nur den Ausdruck ihres Bildes zu verändern, zerstreut und verzwergt sich. Die Zeit für das Aufzeichnen inhaltsvoller Blicke in die Vergangenheit war noch nicht gekommen, das Volk aber hatte keine Geduld mehr für Erzählungen und Einzelheiten, denn der unruhige, schweifende Geist führt die Gemüter immer den allgemeinen Begriffen zu. Die Geschichtsschreiber halten sich noch an den durch ihre Vorgänger gesponnenen, weitgreifenden und vielumfassenden Faden, es gebricht ihnen aber schon an Kräften zur Ausfüllung der ganzen Form. Mittlerweile finden die Senatoren, die Würdenträger, die Mächtigen und Angesehenen, weil sie die Leitung des Reichs mit dem König teilen, Schreiber für ihre eigne Geschichte, ihren Lebenslauf. Die Biographie beginnt die Stelle der Geschichte einzunehmen, und stellt sich anfanglich mit derselben auf eine erhabene Stufe, sie umfaßt alle allgemeinen Aussichten, die wir angedeutet haben, als wir von Kadłubek und Długosz redeten. Die älteste dieser Biographien in Polen ist von unbekannter Feder.601 Dieser anonyme Verfasser beschreibt das Leben eines mächtigen Herrn aus den 601 Die „Vita“ des Krakauer Woiwoden Piotr Kmita (1477–1553) wird (mit einigen Vorbehalten) Stanisław Orzechowski zugeschrieben. Sie befindet sich in der von Heinrich von

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_030

29. Vorlesung (14. Mai 1841)

385

Zeiten Kasimirs und Sigismunds und verfährt mit ihm wie Długosz mit dem ganzen Volk, er beurteilt ihn unparteiisch, scharf und wohlmeinend; und legt ihm, weil er sich nicht vorgenommen, irgend etwas zu loben oder zu tadeln, das Maß der Pflichten, die aus seiner Stellung hervorgehen, an; jede Handlung deutet er ihm gut oder übel, je nach dem er glaubt, daß sie seinen Pflichten entspricht oder zuwiderläuft. Er spendet alles Lob der Gerechtigkeit, Großmut, dem Edelmut und der Charaktertüchtigkeit seines Mäzenas, tadelt freimütig seinen Hochmut, seine politische Untauglichkeit und die in der Amtsführung begangenen Fehler. Über seinen Patriotismus spricht er, wie folgt: Er galt für einen Mann, der für das Wohl der Republik eifrig besorgt war, allein er galt dies nur bei seines Gleichen, die ebenso wie er keinen Begriff von unserer Republik hatten. In den frühem Zeiten, als noch wahrhaft ehrbare Männer im Senate an der Spitze standen, und die alten Kanzler Piotr Tomicki602, der Bischof, und Szydłowiecki603, der Kastellan von Krakau, noch lebten, wenngleich die Bande der Ordnung sich lockerten und das Übergewicht des Adels heranwuchs, war doch noch eine Regierung in Polen vorhanden, denn es bestand die Liebe für das allgemeine Beste. Diese großen Männer lenkten den königlichen Rat weise. Sie ließen zum senatorischen Sessel nur einen im öffentlichen Dienst ergrauten, gereisten, weisen Mann zu; sie verstanden auch das Übergreifen der jüngeren Brüder des Adels im Zaum zu halten. Aber nach dem Tod dieser tugendhaften Männer riefen die sich gegenseitig beneidenden Senatoren, um sich Parteigänger zu machen, den niederen, aufbrausenden, unwissenden und frechen Adel zu Hilfe. Sie haben unter sich die Republik zerrissen, nachdem sie alle ihre Grundfesten zerstört haben. Es gibt schon heut zu Tage kein einziges Mittel mehr zur Einführung einer anständigen Ordnung in Polen; heut zu Tage ist schon jede

Huyssen (1666–1739) edierten Ausgabe – Ioannis Długossi seu Longini canonici quondam Cracoviensis Historiae Polonicae libri XIII et ultimius […]. Tomus secundus. Lipsiae 1712, die nach den Annalen von Jan Długosz die Chroniken von W. Kadłubek, St. Sarnicki, St. Orzechowski und St. Karnkowski enthält. Mickiewicz benutzte diese Ausgabe. Daß er von einem unbekannten Autor spricht, hängt sicherlich damit zusammen, daß vor der „Vita Petri Kmithae“ die Anmerkung steht: „Haec vita Kmithae ab Orichovio scripta non est […].“ – S. 1608. In der Forschung wird das Werk auch Stanisław Górski (um 1497–1572) zugeschrieben (durch Wojciech Kętrzyński). Vgl. dazu Jerzy Starnawski: Wstęp. In: St. Orzechowski: Wybór pism. Hrsg. J. Starnawski. Wrocław-Warszawa-Kraków-Gdański 1972, S. XXXIII–XXXV. 602 Piotr Tomicki (1464–1535); veranlaßte die Sammlung wichtiger historischer Dokumente, die Stanisław Górski herausgab: Acta Tomiciana. Epistole, legationes, responsa, actiones, res gestae […] Sigismundi […] Primi […] per Stanislaum Gorski […] collecte et in tomos XXVII digestae. T.  1–17. Posnaniae 1852–1966, T.  18, Kórnik 1999. vgl. auch Anna Odrzywolska-Kidawa: Biskup Piotr Tomicki (1464–1535). Kariera polityczna i kościelna. Warszawa 2004. 603 Krzysztof Szydłowiecki (1467–1532); vgl. Jerzy Kieszkowski: Kanclerz Krzysztof Szydłowiecki. Z dziejów kultury i sztuki zygmuntowskich czasów. Poznań 1912.

386

Teil I Gerechtigkeit unmöglich geworden, es läßt sich sogar kein Reichstag mehr zu Ende führen.604

Man könnte dieser Biographie eine Stelle neben den besten Schriften der Art anwiesen. Vergleichen wir sie mit der von Macchiavelli geschriebenen „Vita di Castruccio Castracani“605, so scheint der polnische Biograph den italienischen Verfasser an Erhabenheit der Gedanken und Kraft des Stils zu übertreffen, ist aber hierbei ebenso klar und vollständig. Lassen wir nun das weitere Fortschreiten der Geschichte und Biographie in Polen bei Seite, und wenden wir unsem Blick auf die wissenschaftliche Fortbildung in den benachbarten Ländern, namentlich in Tschechien. Die dort unter der Regierung des Jagellonen Władysław tobenden religiösen Streitigkeiten mußten als natürliche Folge den Geist beschränken, und dem Gedanken eine andere Richtung geben. Die alte Literatur, die epischen Heldengesänge und der roman courtois, alles dies wird plötzlich verworfen, fällt dem Bereich der Denkmäler anheim und tritt seine Stelle der Theologie ab, welche die Schlösser wie die Klöster in Besitz nimmt. Nach dem zu urteilen, was in den Bibliotheken erhalten ist, muß die Zahl dieser Schöpfung unerhört groß gewesen sein. Bei der allgemeinen Ausrottung der Altertümer der tschechischen Literatur hat die uralte Poesie, welche, abgeschnitten durch das 604 Im Original: „Creditus quidem est publicae rei amator esse, sed ab his, qui turbulento, ut & Kmitha, ingenio fuerunt, & quicquid Respub. sit penitus nescierunt. Et sub priscis illis Senatoribus Petro Tomicio Episc. Cracov. & Christophoro Szydlovieco Castellano Cracov. qui ambo erant cancelarii, duo lumina Regni ad Reipub. gubernacula sedentibus, status ejusdem Reip. si non optimus, in illa plebis inobedentia, tolerabilis tamen erat. Hi enim duo sapientissimi consiliarii Regi assidentes, tranquillitatem Regni custodierunt, homines quietos in Senatum elegerunt, Plebem vero furere & publicam rem turbare non permiserunt. Verum his Rectoribus vita defunctis maxima mutatio facta est. Nam ut Tarnovius, Kmitha ipso turbulentior, nunc omittatur, Kmitha ad amplissimos regni magistratus per reginam evectus Ducem se omnibus factiosis praebuit, equestremque ordinem uti levissimum ac stultum, ita in Repub. inquietum ad se traduxit, & per ejus temeritatem, quae voluit, tum privatim, tum publice in omnibus comitiis Regni fecit, & rem eo deduxit, ut ex Repub. non mala pessimam reddiderit. Ipsi vero equestri ordini tantam potentiam quaesivit ad omnia publica negotia turbanda & confundenda, ut his obstantibus nec Rex, nec lex, nec fas, nec publica honestas aliquid etiam nunc valeat; nec Regnum ordinari, nec defensio certa constabiliri, nec judicia exerceri, nec comitia concludi possint.“ – Stanislai Orichovii, Okszi, Annales Polonici ab excessu Sigismundii cum vita Petri Kmithæ. In: Ioannis Długossi seu Longini canonici quondam Cracoviensis Historiae Polonicae libri XIII et ultimius […]. Tomus secundus. Lipsiae 1712, S. 1614. (Caput  V – „De Turbis in Repub. contra Regem“). 605 Niccolό Machiavelli: La vita di Castruccio Castracani – Das Leben des Castruccio Castracanis aus Lucca. Italienisch-Deutsch. Übersetzt mit einem Essay „Zur Ästhetik der Macht“, herausgegeben von Dirk Hoeges. München 1997.

29. Vorlesung (14. Mai 1841)

387

christliche Leben, die heidnischen Vorfahren besang, am meisten gelitten. Die sehr beliebten, in den Häusern des niederen Adels häufig abgeschriebenen höfischen Versromane (roman courtois) sind glücklicher davongekommen. Dies sind Erzählungen von Tristan, von der schönen Isolde, dem bretonischen Arthur und auch Fabeln von Alexander dem Großen (roman d’Alexandre).606 Bemerkenswert ist, daß die bretonischen und englischen Dichtungen, die mehr oder weniger wahrhafte Helden dieser entfernten Länder zum Gegenstand hatten, dem Geschmack und Begriff der Tschechen besser zusagten, als die schönen Werke der benachbarten Deutschen. Dieses zeigt, daß ungeachtet der nahen religiösen und politischen Berührungen der Slaven mit dem germanischen Geschlecht, ein bei weitem tieferes Gefühl sie mit dem keltischen Stamm verbindet; was wir noch öfters zu bemerken Gelegenheit haben werden. Die vielfach in Tschechien entbrannten Flammen religiöser Erschütterungen fachten die Gemüter im Lande an, und warfen mehrmals ihre Funken sehr weit in die Ferne. Das übrige Slaventum, Polen und sogar die Länder des westlichen Europa sind ihnen viel schuldig. Ist die Erfindung der Buchdruckerkunst nicht tschechischen Ursprungs, was noch ein Gegenstand des Streites sein könnte, so bleibt wenigstens gewiß, daß die Tschechen am meisten den menschlichen Geist zur Aussuchung dieses Mittels angespornt haben; denn nicht die Begierde nach Vorteil, sondern die des Lesens der Heiligen Schrift hat diesmal den Erfindungsgeist geweckt. Die Bibel war schon öfters in die altslavische, tschechische und polnische Sprache übersetzt; sie wurde von den Geistlichen und von aufgeklärten Männern gelesen, aber nur in verschiedentlichen, teilweisen, seltenen, schwer zugänglichen Handschriften. Jetzt also, da man der Kirche die gesetzgebende Kraft abzusprechen begann, sehnten sich alle durch sich selbst mit der Heiligen Schrift näher bekannt zu werden, die Katholiken, um die Kirche zu verteidigen, die Sektierer, um sie zu bekämpfen. Man machte sich an die Verbreitung und Vermehrung der Exemplare. Diese Arbeit beschäftigte die Tschechen dermaßen, daß Aeneas Piccolomini607, später Papst unter dem Namen Pius II., diesen Eifer bewunderte, und denselben der Christenheit des Abendlandes als ein nachzuahmendes Beispiel darstellte. Denn auch der ganze Adel und die Stadtbürger beschaftigten sich zu der Zeit, als die großen Herren in Frankreich und Italien kaum ihren Namen zu unterschreiben verstanden, mit Lesen und Schreiben. 606 Vgl. Der altfranzösische höfische Roman. Hrsg. Erich Köhler. Darmstadt 1978. 607 Aeneas Piccolomini (1405–1464); vgl. Aeneas Piccolomini: Historia Bohemica. Gesamtwerk. Hrsg. Joseph Hejnic und Hans Rothe.  3 Bände. Köln-Weimar-Wien 2005 (= Bausteine zur Slavischen Philologie und Kulturgeschichte. Reihe B: Editionen, Bd. 20, 1–3).

388

Teil I

Kořínek, ein tschechischer Jesuit, behauptet in seiner Predigt Lingua trium saeculorum, qua innovatus est literatus orbis terrarum, et scientia divinarum rerumque humanarum, ad summum evecta est fastigium, ars artium typographia […]“608, daß der Erfinder der Buchdruckerkunst, Gutenberg, eine Tscheche von Geburt war und aus der Stadt Kutná Hora, deutsch Kuttenberg genannt, herstammte. Dieser Jesuit ist der Hinneigung zu den Hussiten nicht verdächtig; er sammelte viele bedeutende Beweise für die Bekräftigung dieser Vermutung, welche auch in anderen Quellen zu finden sind. Die Deutschen bestreiten dies aufs Heftigste. Es lohnte sich wohl, daß die Slaven hierin etwas tiefer hineinblickten. Was jedoch weniger dem Zweifel unterliegt, ist, daß die ersten Druckereien von Tschechen und Polen gegründet wurden. Der Pole Adam (Adam Polak) druckte im Jahre 1478 zu Neapel, der Pole Stanislau (Stanisław Polak)609 in Spanien, Rafał Skrzetuski-Hoffhalter610 in Wien gegen das Ende des 15. Jahrhunderts. Als Anekdote kann man hinzufügen, daß das erste, und nach einigen eines der ersten gedruckten Bücher in der Welt, „Ars moriendi“, von dem Polen Mateusz z Krakowa (Matthäus von Krakau)611 geschrieben ist. Man hat dasselbe mit in Holz ausgeschnittenen Buchstaben, oder nach xylographischer Weise im Jahre 1440 gedruckt, früher noch als Johannes Fust und Johannes Gutenberg den Gebrauch der beweglichen Lettern eingeführt hatten. Dieses Werk, einige zwanzig Seiten umfassend und im Verlag von Laurens Janszoon Coster (Koster) in Haarlem erschienen, wird zu den seltensten Altertümern gezählt und mit Tausenden bezahlt. 608 Die latenisch-tschechische Predigt stammt allerdings von Benedict Josef Pretlik (1704– 1757), gedruckt in Prag 1740. Gemeint ist das wegen der Terminologie des Bergbaus sehr geschätzte Werk von Jan Kořínek (1626–1680); vgl. Jan Kořínek: Staré Paměti Kuttnohorské. Praha 1675 [SUB Göttingen. Signatur:  8  MET 8310]; Neuauflage – Praha 2000. Darin behauptet Kořínek in der Zueignung an den Kuttenberger Magistrat, Johannes Gutenberg, der Erfinder der Buchkunst, sei ein geborener Tscheche und habe eigentlich J. Štiastny oder Faustus geheißen, den Namen Gutenberg aber von seiner Vaterstadt Kuttenberg geführt; vgl. die Ausgabe – J. Kořínek: Staré Paměti Kuttnohorské. Hrsg. Jozef Fr. Dewotý. Praha 1831, S. II–III. 609 Vgl. Aloys Ruppel: Stanislaus Polonus. Ein polnischer Frühdrucker in Spanien. München 1946. 610 Rafał Skrzetuski-Hoffhalter (gest. 1568); vgl. Halina Kowalska: Skrzetuski (SkrzetuskiHoffhalter, Hofhalter) Rafał. In: Polski Słownik Biograficzny (PSB), tom 38. WarszawaKraków 1997–1998, S. 433–435. 611 Georg Wilhelm Zapf: Von einer höchstseltenen und noch unbekannten Ausgabe der ARS MORIENDI. An Herrn Hofrath und Bibliothekar Ernst Theodor Langer in Wolfenbüttel. Augsburg 1806. Neben zahlreichen Ausgaben anderer Autoren vermerkt Zapf auch Matthäus von Krakau (Nr. 17, S. 20; gedruckt bei Ulrich Zell in Köln 1471; S. 26, Nr. 27 ohne Ort und Jahr). Vgl. auch Matthias Nuding: Matthäus von Krakau. Tübingen 2007; ferner Maciej Włodarski: Ars moriendi w literaturze polskiej XVI i XVII wieku. Kraków 1987.

29. Vorlesung (14. Mai 1841)

389

Es ist schwer zu erklären, was die Polen so in Bewegung setzte, sobald man nicht die Ursachen davon bei ihren Nachbarn, den Tschechen, sucht. Der Antrieb ging von Tschechien aus und konzentrierte sich in Krakau, der damaligen Hauptstadt Polens. Die Krakauer Akademie wetteiferte mit den ersten Universitäten Italiens und Frankreichs. In allen ihren wissenschaftlichen Bemühungen der damaligen Epoche blickt Großartigkeit, Synthesis und Kraft durch. Die Gelehrten, die Literaten und polnischen Geschichtschreiber aus dem Jagellonischen Zeitalter haben etwas Sigismund dem Alten (Zygmunt Stary) Ähnliches; in ihren Zügen scheinen sich die eines majestätischen Antlitzes, welches in der Epoche der Jagellonen alles überragt, abzuspiegeln. Von den Gelehrten jener Zeit wollen wir Gregor aus Sanok612 erwähnen, welcher nach langjährigen Studien in Deutschland, in Bologna zum Geistlichen geweiht, auf der Akademie zu Krakau Professor ward, und zuerst den Lehrstuhl der uralten Literatur in Krakau einführte und später an der Seite des Königs Władysław sich bei Warna befand; nach der Rückkehr aus Ungarn genoß er großes Ansehen bei Kasimir, dem Jagellonen (Kazimierz Jagiellończyk), und starb als Erzbischof von Lemberg. Dieser Mann, von seltenem Genius, durchschaute die Leerheit der scholastischen Philosophie, welche zu jener Zeit alle Köpfe verwirrte; die Dialektik, die Redefechtkunst mit Hilfe der Syllogismen, all diese große Weisheit, zusammengestoppelt aus schön gestellten Worten, nannte er öffentlich „Träumerei im Wachen“ (vigilantium somnia)613. Ebenso kämpfte er gegen die gerichtliche Astrologie, er riet an, das wahrhafte Wissen aus den natürlichen Quellen zu schöpfen; hundert und einige zehn Jahre vor Bacon614 betrat er schon die Bahn der kritischen Analyse, welche das Merkmal der kommenden Jahrhunderte werden sollte. Von seinen philosophischen Schriften ist jedoch nichts auf uns gekommen. Was wir von seinem System und von ihm selber wissen, das verdanken wir dem Italiener, Filippo Buonaccorsi genannt Kallimach. Letzterer, durchdrungen von Bewunderung für diesen Mann, schrieb seine Lebensgeschichte615, und bewahrte uns in dieser 612 Grzegorz z Sanoka (gest. 1477). 613 Vgl. Felix Bentkowski: Historya literatury polskiey, wystawiona w spisie dzieł drukiem ogłoszonych. Bd. 2. Warszawa-Wilno 1814, S. 7: „Zabuiałości i subtelności dyjalektyki scholastyczney nazywał nasz Grzegorz marzeniami czuwaiących (vigilantium somnia) […].“ 614 Francis Bacon (1561–1626); auf Bacon verwies in diesem Zusammenhang bereits Stanisław Kostka Potocki – Pochwała Józefa Szymanowskiego, miana w Zgromadzeniu Przyjaciół Nauk dnia 9 maia 1801 roku przez Stanisława Kostkę Potockiego, tegoż zgromadzenia członka. Warszawa 1801, S.  40: „W Logice GRZEGORZ z Sanoka wiekiem i więcej uprzedził Bakona […].“ Der Hinweis steht bei F.  Bentkowski: Historia literatury polskiej, op. cit., S. 7 (Fußnote). 615 Vgl. Philippi Callimachi vita et mores Gregorii Sanocei. Ed. commentariis illustravit in linguam Polonam vertit Irmina Lichońska. Varsoviae 1963 (= Bibliotheca Latina medii et

390

Teil I

viele ­seiner Gedanken, Meinungen und Beobachtungen auf. Er kann sich nicht genug verwundern, daß im Norden sich ein so tiefdenkender Philosoph gefunden; er staunt über die Schärfe seines Geistes und die Kühnheit seiner Auffassungen. Die Zierde der Akademie zu Krakau war der berühmte Gelehrte Johann von Glogau (Jan z Głogowa)616, dessen Werke vielfach im Ausland, in Metz und Strassburg, abgedruckt worden sind. Johann war zu Glogau in Schlesien geboren; in der Jugend nach Krakau gekommen, wurde er dort Professor und beschäftigte sich nach damaliger Sitte besonders mit der Aristotelischen Philosophie; zu bemerken ist jedoch, daß er neue Bahnen gesucht, um aus dem trockenen, scholastischen Wirrwarr herauszukommen. Was man kaum erwarten möchte, ist, daß wir in den Schriften des Johann von Glogau schon bedeutende Schritte zum System der Kraniologie (Schädellehre) und Physiognomik finden. In seinem Werk, welches das Buch des Johannes Versor von der Seele: „Quaestiones librorum de anima“, zuerst in Metz (1501) und dann in Krakau (1514) erschienen, beleuchtet, sehen wir sogar einen Schädel abgebildet und auf dem Gehirn die Bezeichnung einiger, sowohl sittlichen als physischen Vermögen und Eigenschaften entsprechender Organe. Hier folgt das, was er in dem „der Forschung“ geweihten Abschnitt sagt, wie man nach äußeren Zeichen die Neigungen des Menschen erkennen könne: Es ist zu bemerken, daß im Gehirn sich drei Kammern befinden: die erste vorne, die zweite in der Mitte, die dritte im Hinterteile des Schädels. In dem oberen Teil der ersten Kammer hat das Begriffsvermögen (sensus communis) seinen Sitz, welches die durch die Sinne oder besondere Gefühle zugeleiteten Eindrücke sammelt und abschätzt. Der hintere Teil dieser Kammer dient als Sammlungsort dieser Eindrücke, ist die Schatzkammer der Begriffe. In dem Vorderteil der zweiten Kammer hat die Einbildungskraft ihren Sitz, welche das ganze Leben hindurch nicht ruht, weder im Wachen noch im Schlafen. Ein Mensch ohne Einbildungskraft ist nicht denkbar; es ist ihre Sache, zu verbinden, zu ordnen, denn alle oben erwähnten Vermögen sind nicht aktiv, sondern nur passiv tätig […]. Sobald diese schöpferische Kraft die Gesetze der gegenseitigen Verhältnisse zwischen den Dingen beobachtet, wird sie Denkkraft genannt; verläßt sie jedoch die Bahnen der Vernunft, so wird sie zur Imagination, Einbildungskraft im eigentlichen Sinne, und kann Erdichtetes oder Unmögliches schaffen. Der Verstand liegt in dem hinteren Teil der mittleren Kammer. Zwischen dem Verstand und dem Erkennen liegt mitten inne der tierische Instinkt, mit dessen Hilfe das Tier auf einmal seinen Feind fühlt. Auch der Mensch besitzt dies Vermögen, es ist jedoch recentioris aevi, vol. 12); ferner – Juliusz Domański: Grzegorz z Sanoka i poglądy filozoficzne Filipa Kallimacha. In: Filozofia polska XV wieku. Praca zbiorowa pod redakcją Ryszarda Palacza. Warszawa 1972, S. 369–434. 616 Jan z Głogowa, Johannes Glogoviensis (1445–1507). Vgl. Gerard Labuda: Johannes von Glogau. In: Lexikon des Mittelalters (LexMA). Band 5. München-Zürich 1991, Sp. 578–579.

29. Vorlesung (14. Mai 1841)

391

gänzlich tierisch. Die letzte Kammer nimmt das Gedächtnis ein, das allgemeine Magazin der Einbildungskraft und des Urteils. Außer aller hier erwähnten Vermögen besteht jedoch im Menschen noch eine immaterielle Kraft, an keines der obigen Organe gebunden, und diese erhabene, göttliche, wohltuende Kraft wird Geist (intellectus) genannt. Jedes der untergeordneten Vermögen, von denen wir gesprochen, kann sich vermindern und verschwinden ohne Nachteil der andern. So z.B. kann man den Verstand verlieren, ohne daß die Einbildungskraft geschwächt wird.617

Es ist wohl interessant, diese Beobachtungen und Lehren618, die in unseren Zeiten für neue gelten, schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts gemacht zu sehen; 617 Im Original: „Intelligendum est quod in cerebro tres sunt cellulae. Prima quae est in parte anteriori. Secunda quae est in medio. Tertia quae est in postremo. In anteriori ergo parte primae cellulae jacet sensus communis, cuius operatio est comprehendere omnes formas receptas in particularibus sensibus et judicare de eis. In postremo parte primae cellulae jacet fantasia cujus operatio et conservare species receptas in sensu communi, unde fantasia est thesaurus sensus communis. In prima parte secundae cellulae jacet imaginativa quod in tota vita non quiescit nec tempore somni nec tempore vigiliarum, homo enim sine imaginatione esse non potest, cujus operatio est componere, praecedentes enim virtutes, que nihil componunt sed tantum recipiunt […]. Unde haec virtus habet duo nomina: si enim haec virtus obediens fuerit rationi et imaginativa sit vera sensibilibus conveniens tunc dicitur cogitativa. Si autem non conveniat sensibilibus et obediat aestimativae, dictur proprie imaginativa, quia tunc imaginata sunt falsa et forte de impossibilibus. In postremo autem mediae cellulae jacet aestimativa, cujus operatio est judicare de formis sensu non perceptis: sicut amicitia et inimicitia. Per hanc agnus judicat quem ante non vidit esse inimicum et pastorem amicum. Unde sicut aestimativa est in brutis per quam reguntur, sic etiam homines reguntur per rationem, unde homines qui se regunt per aestimativam contingit eos peccare in operationibus et tales homines sunt bestiales, qui autem diriguntur ratione non deficiunt. In posteriori autem cellula est memoria, cujus operatio est conservari universaliter species omnium rerum et potentiarum precedentium. Et subjungit. In homine autem supra has virtutes est quaedam virtus immaterialis, quae non est in organo cui virtutes praedictae administrant et haec virtus divina, alta et felix intellectus dicitur. Omnes autem virtutes praedictae interiores, corporales sunt et virtutes in organo. Unde contigit eas aliquando errare et deficere propter defectum instrumenti. Aliquando enim deficit imaginativa et aliae sunt salvae. Aliquando autem imaginativa est salva et  aliae sunt laesae.“ – In: Quaestiones librorum de anima Mag. Joannis Versoris ad impensas honesti viri et civis Cracoviensis Dni Joh. Haller per Mag. Johannem Glogoviensem etc. resolute. Metis (Metz) 1501 [http://reader. digitale-sammlungen.de]. Die Schädelabbildung und das Zitat befinden sich auf dem 8. Bogen der unpaginierten Ausgabe. Zitiert nach Felix Bentkowski: Historya literatury polskiey, op. cit., Bd. 2, S. 11–12; auch in – Michał Wiszniewski: Historia literatury polskiej. Tom III. Kraków 1841, S. 268–270. 618 Phrenologie – die von Franz Joseph Gall (1758–1828) und Johann Gaspar Spurzheim (1776–1832) aufgestellte, inzwischen als wissenschaftlich nicht haltbar erwiesene Lehre, nach der man aus der Beschaffenheit der Kopfoberfläche auf die geistigen Eigenschaften und den Charakter eines Menschen schließen kann; vgl. Franz Joseph Gall:

392

Teil I

und dennoch waren es bei weitem mehr noch die mathematischen Wissenschaften, durch welche damals die Krakauer Akademie am meisten glänzte. Wir wollen uns nicht lange bei Vitellio, jenem Entdecker der Optik, aufhalten, welcher, wie schon früher gesagt [I. Vorlesung], den auf dem Wasser spielenden Lichtstrahl beobachtend, den ersten Gedanken einer Theorie des Lichts erfaßte. Michał Wiszniewski, welcher jetzt eine Geschichte der polnischen Literatur619 schreibt, ist der Meinung, daß Vitellio seine Theorie aus dem arabischen Schriftsteller Alhazen übersetzte; spricht jedoch dem Vitellio den Namen, wenn auch nicht des Erfinders, so doch des ersten Verbreiters dieser Lehre, nicht ab. Vor allen macht Wojciech aus Brudzewo620 (Albertus de Brudzewo) Epoche in den mathematischen Wissenschaften, ein auch in fremden Ländern berühmter Mann, der zu Mailand die Theorie des Planetenumlaufs veröffentlichte, welche vielemal abgedruckt wurde. Seine Schüler waren der Astronom Marcin z Olkusza621 und der ewig denkwürdige Kopernikus.622 Martin kam zuerst auf den Gedanken, den Kalender umzuarbeiten und legte seinen Plan dem Papst vor, zugleich mit den Mitteln, diese wichtige Reform durchzuführen, was aber damals nicht vollbracht werden konnte und erst vom Papst Gregor XIII. bewerkstelligt wurde. Was Kopernikus betrifft, so ist sein System aller Welt bekannt. Er stammte aus einer polnischen, in Krakau wohnhaften Familie, hatte eine Deutsche zur Mutter. Zuerst von der Landesregierung zur Einrichtung der Münze gebraucht, schrieb er sogar über diesen Gegenstand ein Werk623; als er nachher die Stelle eines Kanonikus in Thorn erhielt, ließ er sich in dieser Stadt nieder, wo er auch sein Leben beschloß und beerdigt worden ist. Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien 1791; Peter Christian Wegner: Franz Joseph Gall (1758–1828). Studien zu Leben, Werk und Wirkung. Hildesheim 1991. 619 Michał Wiszniewski: Historia literatury polskiej. 10 Bände. Kraków 1840–1857. 620 Wojciech Brudzewski (1446–1495); Albertus de Brudzewo: Commentaria ultissima in theoricis planetarum. Mediolani 1495 (Kommentar zu dem Werk von Georg von Peuerbach Theoreticae novae planetarum. Paris 1515). 621 Eigentlich – Marcin Biem (um 1470–1540), Marcin z Olkusza Młodszy; vgl. sein Werk: Martini Biem de Ilkusz Poloni Nova calendarii Romani reformatio: opusculum ad requisitionem V-ti Concilii Lateranensis A.D. 1516 compositum, nunc primum ed. Ludovicus Birkenmajer. Cracoviae 1918. 622 Mikołaj Kopernik – Nikolaus Kopernikus (1473–1543); Hauptwerk: De revolutionibus orbium coelestium. Nürnberg 1543; deutsche Übersetzung – „Nicolas Kopernikus aus Thorn: Über die Kreisbewegungen der Weltkörper“. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Carl Ludwig Menzzer. Thorn 1879 (Neuauflage: Leipzig 1939); vgl. auch Jürgen Hamel: Nicolaus Copernicus. Leben, Werk und Wirkung. Heidelberg-Berlin-Oxford 1994; Karol Górski: Mikołaj Kopernik: środowisko społeczne i samotność. Toruń 2012. 623 Vgl. – Die Geldlehre des Nicolaus Copernicus. Hrsg. Erich Sommerfeld. Berlin 1978.

29. Vorlesung (14. Mai 1841)

393

Unter den Jagellonen suchte die polnische Gesetzgebung ein geordnetes, herrliches Ganzes zu bilden. Noch zur Zeit der Regierung des Königs Alexander (Aleksander Jagiellończyk) sammelte der Kanzler Jan Łaski624 alle frühern königlichen Verordnungen und druckte sie auf allgemeines Verlangen des Volkes. Sigismund der Alte gab Litauen ein Statut, aus den damals gültigen Gesetzen zusammengestellt, und da er zugleich wünschte, die Sammlung der unter seinem Zepter sehr vervielfachten Sejmbeschlüsse zu vervollständigen, um das ganze Reich mit einem einzigen verpflichtenden Gesetzbuche zu beschenken, überwies er diese Arbeit ausgezeichneten Männern, welche jedoch der Hindernisse wegen nicht zum gehofften Ende kam, weil der Sejm schon von dem Einfluß der die Republik erschütternden Umwälzung mit ergriffen, den durch den Kanzler dargebotenen Kodex nicht bestätigte, späterhin aber der Adel inmitten der religiösen und politischen Streitigkeiten denselben stets verwarf. Die geistige Bewegung, welche Polen und Tschechien belebte, erreichte nicht im Mindesten die moskovitische Rus’; sogar Bücher in altkirchenslavischer Sprache625 zu Krakau gedruckt, drangen nur mit äußerster Schwierigkeit über die nordöstliche Grenze der Republik. Während jedoch die Polen die Gegenwart genossen, die Tschechen selbige aufzehrten, arbeitete das lautlose und taube Fürstentum Moskva sehr für seine Zukunft. Eine Fügung glücklicher Umstände begünstigte außerordentlich die Großfürsten, welche Litauen und die von den Mongolen besetzten Länder nicht aus dem gierigen Auge ließen. Nachdem sie durch Hinterlist und Übermacht ihren Verwandten viele Landesteile entrissen, hörten sie nicht auf, an jener betrügerischen, ausdauernden Staatskunst festzuhalten, welche unter Ivan dem Schrecklichen (Ivan Groznyj) schon offen gewaltsam hervortrat. Diese Zeiten „der Fallstricke und Verrätereien“, die uns die Erzählung des Volkes vollkommen schildert, sind allgemein in ganz Rußland unter dem Namen „Šemjakin sud“ („Das Urteil des

624 Jan Łaski (um 1455–1531). Herausgeber der Sammlung von Statuten und Gesetzen – Commune incliti Polonie Regni privilegium constitutionum et indultuum publicitus decretorum, approbatorumque cum nonnullis iuribus tam divinis quam humanis per serenissimum principem et dominum dominum Alexandrum, Dei gratia Regem Poloniae, magnum ducem Lithwanie, Russie, Prussieque dominum et haeredem etc. Non tamen in illud privilegium sed motu proprio regio serenitatis sue p[er] adhortationem p[ro] instructione Regnicolarum, proque regni eiusdem, ac iusticie statu feliciter dirigendis eidem privilegio annexis et ascriptis. Cracovia. 1505; vgl. auch Piotr Tafiłowski: Jan Łaski (1456–1531), kanclerz koronny, prymas Polski. Warszawa 2007. 625 Schwajpolt Fiol – eigentlich Sebald Vehl oder Veyl (um 1479–1525/26) – druckte die altkirchslavischen Bücher „Oktoich“ (1491), „Časoslov“ (1491), „Triod’ postnaja“ und „Triod’ cvetnaja“ (1492–1493); vgl. Opisanie staropečatnyh izdanij kirillovskogo šrifta. 1. Opisanie izdanij tipografii Švajpol’ta Fiolâ. Sostavitel’ E.L. Nemirovskij. Moskva 1979.

394

Teil I

Schemjaka“)626 gekannt. Dmitrij Jur’evič Šemjaka hieß ein Fürst unter der Herrschaft der Mongolen, berüchtigt durch seine Verkehrtheit. Das Volk hat aus ihm das Ideal eines nichtswürdigen Richters gemacht; alle Erwähnungen ungerechter Erkenntnisse hat es unter dessen Namen geordnet. Die Erzählung ist folgenden Inhalts: Ein durchtriebener Verbrecher, auf der Tat ertappt, wurde vor den Richterstuhl des Großfürsten Šemjaka gebracht. Der Schurke wickelte in sein Tuch einen ziemlich großen Stein und gedachte mit demselben den Richter vor den Kopf zu schlagen, sobald dieser ihn verdammen würde. Šemjaka glaubte, als er jene Last in der Hand des Angeschuldigten erblickte, es wäre ein Beutel voll Geld, den er ihm zum Geschenke brächte; er fing daher an, eine lange Reihe der wunderlichsten Erkenntnisse zu geben, sprach am Ende den Verbrecher frei, und verurteilte den Unschuldigen zum Tode. Unmöglich läßt sich hier die ganze, fast ziemlich drollige Erzählung anführen; denn es würde schwer sein, die Scherze, Stich- und Schlagworte, die häufig nicht anständig sind, zu wiederholen. Man kann sie in der deutschen Übersetzung627 kennen lernen. Das moskovitische Volk charakterisierte also auf seine Weise diese Periode der volkstümlichen Geschichte; jedoch zurückgestoßen von der politischen Bewegung, sogar zur allergeringsten Teilnahme an den inneren Angelegenheiten des Landes nicht zugelassen, sah es ihnen von weitem zu; auf die Ungerechtigkeit, auf die Grausamkeit der Beherrscher blickte es mit bitterem Lächeln, weder sich gegen die Tyrannei empörend, noch die Opfer bemitleidend. Nach der in der Person des Šemjaka dargestellten Epoche folgt eine neue, deren Repräsentant Ivan III. (Ioann III Vasil’evič)628 ist, welchen die Ausländer den Großen genannt haben, ein Zeitgenosse der polnischen Könige Alexander und Kasimir, der Jagellonen; dieser treue Nachahmer seiner Vorfahren Vasilij II. (Vasilij Temnyj), Dmitrij Donskojs, selbst Šemjakas und der Übrigen, entfaltete ihr System weiter, erhob es sogar um eine Stufe höher. Ivan III. galt für einen schwachen, schwankenden und furchtsamen Menschen. Niemand jedoch war im Stande, so hartnäckig und erfolgreich den einmal gefaßten politischen Gedanken zu verfolgen. Die moskovitische Alleinherrschaft, von den Tataren sich loswindend, und begierig, den Rest der freien Rus’ zu verschlingen, ist ihm in diesen beiden Richtungen einen ungeheuren Fortschritt schuldig. 626 Russkie narodyne skazki Afanas’eva. Red. A. Gruzinskij. Moskva 1897, tom II, S. 276–279. 627 Russische Volksmärchen. In den Urschriften gesammelt und ins Deutsche übersetzt von Anton Dietrich. Mit einem Nachwort von Jacob Grimm. Leipzig 1831; S. 187–191. 628 Ivan III – Ioann III Vasil’evič (1440–1505); vgl. R.G. Skrynnikov: Ivan III. Moskva 2006.

29. Vorlesung (14. Mai 1841)

395

Die Goldene Horde, wenngleich geschwächt durch die Entzweiung in das Khanat Kazan’ und das Khanat der Krim, und wenn auch durch innere Unruhen gestört, hing immer noch wie eine Wolke über Moskau, und war jeden Augenblick bereit, wie der Blitz in dasselbe einzuschlagen. Ivan III., welcher genau ihre schwache und drohende Seite kannte, wagte nie, offen gegen dieselbe aufzutreten; er bemühte sich nur im Geheimen, sie innerlich zu verwirren. Wird ein Khan gestürzt, so gibt ihm der Großfürst bei sich Gastfreiheit, nimmt ihn als seinen Herrn auf, zahlt ihm Tribut, ohne zugleich aufzuhören, dem gerade in der Horde regierenden Khan den Tribut zu senden. Zuweilen erkühnt er sich sogar, mit bewaffneter Macht gegen die Tataren zu ziehen, jedoch nicht anders als im Namen eines vertriebenen Khans. Die moskovitischen Heere haben immer einen der tatarischen Fürsten an ihrer Spitze; diese werden Zaren genannt und bedeuten mehr als die moskovitischen Fürsten. Sehr oft war Kazan’ schon in den Händen der Moskoviten; sie konnten in demselben ihre Regierung einführen, jedoch aus Furcht, dadurch den Mongolen über die Gefahr ihrer inneren Zwiste die Augen zu öffnen, setzten sie lieber in Kazan’ diesen oder jenen tatarischen Fürsten ein, reizten gegen denselben sogleich einen anderen auf und vernichteten auf solche Weise die Feinde mit deren eigenen Waffen. Der Großfürst, welcher fortwährend diese Politik gegen die Tataren befolgte, drängte mächtig die deutsche Herrschaft zurück, welche nach dem Fall der Kreuzritter nur noch schwach durch die Ritter des Schwertordens aufrecht gehalten wurde; und während damals Litauen seine Aufmerksamkeit auf Preußen richtete, benutzte er die Gelegenheit und unterjochte die nördlichen Republiken der Rus’. Novgorod erkannte seit etwa fünfzig Jahren die moskovitischen Fürsten als seine Oberherren an, ohne ihnen jedoch das Recht der Alleinherrschaft als Herrscher (gosudar’) zuzugestehen; es schien sogar, als hätten die Großfürsten keinen Einfluß mehr, sie unterließen es, die Beamten in Novgorod zu ernennen. Da ereignete sich aber, daß die Novgoroder einen neuen Erzbischof erwählten, und eine Gesandtschaft nach Moskau schickten, auf daß der dort wohnende Metropolit ihm die Weihe gäbe. Ivan rief die Gesandten vor sich und sprach sie wie der erbliche Herr der Republik an. Nach ihrer Rückkehr, als die Worte des Großfürsten in der Stadt bekannt wurden, entstand allgemeine Bewegung. Die zu jener Zeit überwiegende Partei suchte in Polen Hilfe und stellte Novgorod unter den Schutz des Königs Kasimir. Übrigens vertraute die Republik auf ihre eignen Kräfte. Die Stadt Novgorod, mit etwa 200 000 Einwohnern, handelsreich und wohlhabend, herrschte über ein fast ebenso großes Land wie das Großfürstentum Moskau; in den weiten Besitzungen am Baltischen Meer hatte sie eine unterjochte finnische Bevölkerung in ihrer Gewalt. Als es jedoch zum

396

Teil I

Kriege kam und die Novgoroder in verschiedenen Treffen geschlagen wurden, fingen sie unter einander zu streiten an; es entstanden Parteien, welche auf Verträge drangen, und die Geistlichkeit übernahm es, den Frieden herzustellen. Ivan fürchtete immer noch, die benachbarte und bis dahin ungebeugte Republik Pskov629 aufzureizen, denn das von dieser Seite sich vernachlässigende Litauen und die bis jetzt nicht enterbten Fürsten der Rus’ deckten die Grenze; daher zeigte er sich diesmal äußerst gnädig. Er nahm die demütigen Bedingungen an, setzte den Tribut fest, bestätigte die örtlichen Freiheiten, und erklärte, daß er nur die inneren Unruhen stillen wolle, im Übrigen aber „Verzeihung“ (proščenie)630 gewähre. Aus dem Worte „Verzeihung“ entspann er späterhin eine ganze Reihe von Anmaßungen. Nikolaj Michajlovič Karamzin, der russiche Reichshistoriograph, beschreibt Ivans Politik gegenüber Novogorod in folgender Weise: Иоанн простил Новогородцев, обогатив казну свою их серебром, утвердив верховную власть Княжескую в делах судных и в Политике; но, так сказать, не спускал глаз с сей народной Державы, старался умножать в ней число преданных ему людей, питал несогласие между Боярами и народом, являлся в правосудии защитником невинности, делал много добра и обещал более. Если Наместники его не удовлетворяли всем справедливым жалобам истцов, то он винил недостаток древних законов Новогородских, хотел сам быть там […].631 Ivan verzieh den Novgorodern, indem er seine Strafe in Silber ummünzte und seine fürstliche Obergewalt in der Gerichtsbarkeit und Politik stärkte; er behielt diese Staatsgemeinschaft im Auge, bemühte sich, die Zahl der ihm ergebenen Personen zu vermehren, pflegte die Zwietracht zwischen den Bojaren und dem Volk, stellte sich bei der Rechtsprechung auf die Seite der Unschuldigen, tat Gutes und versprach mehr. Wenn seine Stellvertreter die berechtigten Beschwerden der Kläger unangemessen beurteilten, gab er die Schuld den alten Gesetzen von Novgorod; er wollte dort selbst anwesend sein […].

Die Sache verhielt sich so: Ein durch den Großfürsten erkaufter Gesandte Novgorods nannte ihn „Gosudar’“ (d.h. Herr und Herrscher) Novgorods, welchen Titel die Republik den moskovitischen Großfürsten nie zuerkannt hatte. Ivan befahl sogleich, seinen herzlichen Dank den Novgorodern zu sagen, weil sie endlich die Billigkeit seiner Rechte eingesehen. Diese verwundert, witterten Verrat und riefen ihren Gesandten vor Gericht; kaum hatte er seine Schuld 629 Vgl. E.A. Bolchovitinov: Istorija knjažestva Pskovskogo. Moskva 2012. 630 Karamzin, op. cit., Bd. 6, Kap. I, S. 30. 631 Karamzin, op. cit., Bd. 6, Kap. III, S. 62–63.

29. Vorlesung (14. Mai 1841)

397

gestanden, so warf sich das Volk über ihn her und erschlug ihn. Da sammelte der Großfürst ein Heer und zog heran, die Empörung zu dämpfen. Unter den Toren von Novgorod angelangt, schloß er die Stadt ein und schickte zu den Pskovianern, Hilfstruppen verlangend. Die Pskover Republik wußte selbst nicht, was anzufangen; sie sah, wie es mit Novgorod enden wird, und wußte schon im Voraus, daß einst die Reihe an sie kommen muß; wohl mochte sie lieber die Belagerten verteidigen; jedoch im Innern gleichfalls beunruhigt, vom Einfluß der zahlreichen Sendlinge Ivans bewegt, schickte sie ihm, ohne selbst recht zu wollen, bewaffnete Hilfsscharen. Das von allen Seiten eingeengte Novgorod erblickte sich ohne Rettung; der Großfürst drohte jedoch nicht im Mindesten der Stadt, er verlangt nur eine Aufklärung „über die Sachen“. Unterdessen gewann er die höhere Geistlichkeit, erregte die Kaufleute gegen die Bojaren, und das Volk gegen die Kaufleute. Die Geistlichen stellten den Bürgern vor, wie es umsonst wäre, auf Litauens Hilfe zu warten, und daß es besser sei, den Großfürsten um Gnade zu bitten. Das Volk beging Gewalttätigkeiten; täglich eilte eine Menge unzufriedener Parteigänger und Freunde des Friedens ins moskovitische Lager. Endlich stimmten alle Novgoroder für einen Vertrag, sie schickten eine Botschaft ab mit der Frage, was der Großfürst verlange. Ivan antwortete, er wolle bloß das Verhältnis seiner Gewalt zur Republik klarer bezeichnen. Man öffnete ihm das Tor, bewillkommte ihn als Rjuriks Sprößling, stellte von allen Seiten vor, daß Novgorod nicht im Mindesten daran gedacht, sich seiner zu entledigen, daß es immer bereit sei, ihm die Abgaben zu zahlen, daß es einzig trachte, seine Institutionen zu bewahren, und nicht aufgedrungene Herren zu haben. Der Großfürst schwieg zu diesem Allem; er fuhr in die Stadt, setzte sich im Palast fest, gab reiche Gastmahle, empfing und verteilte Geschenke, nahm Besuche an; endlich nach einigen Tagen voll Ungewißheit, womit dies enden würde, trat er plötzlich inmitten der versammelten Bojaren auf, brach gegen sie in Zorn aus, als wären sie ihm untreu geworden, sagte, daß er selbst die Beweise der gegen ihn geschmiedeten Verschwörungen in den Händen habe, und ließ einige Zehn von ihnen verhaften. Schrecken überfiel die Stadt, zugleich aber hörte man, daß der fürstliche Zorn schon vorüber sei. Selbst die Hofleute des Großfürsten, nicht wissend, was seine Seele barg, trösteten aufrichtigen Sinnes die armen Novogroder. Die verhafteten Bojaren wurden nach Moskau geführt, und es trat wieder auf eine Zeit Ruhe ein; die Kaufleute und der Pöbel freuten sich sogar über die Unterdrückung der Mächtigen. Die Reihe war noch nicht an sie gekommen; nach der berechneten unerbittlichen Weise der mongolischen Politik sollte die Republik ein halbes Jahrhundert durch langsame und abgestufte Martern dahinsterben. Wie denn auch kaum wenige Jahre verflossen waren, als die Beamten des Großfürsten ihn benachrichtigen, die Einwohner

398

Teil I

von Novgorod seien ihm abgeneigt, sie hätten böse Absichten gegen ihn. Der Großfürst gab nun Befehl, nicht nur Bojaren, sondern auch Kaufleute gefangen zu nehmen. Mehr als dreißig Familien wurden in das moskovitische Land geführt und ihr Vermögen konfisziert. Der Erzbischof, welcher aus Eifer für den orthodoxen Glauben (der Glaube, der Gott die wahre Ehre gibt) den Einfluß der katholischen Polen fürchtete, und dem Ivan am dienstbarsten war, welcher von ihm immer „Vater“ genannt worden, wurde jetzt mit den Übrigen ergriffen und fortgeschleppt. Einige Jahre nachher fiel wiederum Verdacht wegen Abgeneigtheit und Verschwörung auf Novgorod. Nun erst wurde die Sache eifriger betrieben; die Bürger würden auf die Folter gespannt, mußten sich gegenseitig anklagen, nur Galgen und Beil endeten ihre Qualen; 300 Familien wurden in die Verbannung geführt, ihr Vermögen den Moskovitern gegeben; ungeheure öffentliche und private Reichtümer wurden auf Wagen geladen, Tag und Nacht nach Moskau gefahren. Erst jetzt, als es zu spät war, fühlten die Kaufleute Gewissensbisse, daß sie einst die Bojaren dem Schicksal überlassen hatten, das ihnen selbst bereitet ward. Die geringeren Bürger und das gemeine Volk, ihrer Obern beraubt, von Schrecken ergriffen, verstanden und wagten nicht sich zur Wehr zu setzen. Auf solche Weise – sagt Karamzin – ist Novgorod „ein Körper ohne Seele geworden: andere Bewohner, andere Gebräuche und Sitten, die für eine Alleinherrschaft eigentümlich sind.“ („Душа изчезла: иные жители, иные обычаи и нравы, свойственные Самодержавию.“)632 Ivan III. jedoch hat bloß den Adel, die wohlhabenden Kaufleute und Bürger ausgerottet: das Übrige, nebst dem noch unangetasteten Pskov, überließ er seinem Nachfolger zur Bearbeitung, besonders seinem Enkel, Ivan dem Schrecklichen (Ivan Groznyj). Sein Sohn Vasilij III., wenngleich völlig dem Charakter nach von ihm verschieden, lebhaft, gewaltsam, hat dennoch nicht im geringsten die ererbte Staatskunst der moskovitischen Fürsten verlassen; allenthalben wo es das Interesse seines Reiches galt, verfuhr er ebenso hinterlistig, behutsam und mit kalter und unerbittlicher Grausamkeit. Nie hat er gedroht, denn dies ist der feststehende Grundsatz jenes Systems; im Gegenteil versprach er immer viel, sogar unter dem Martern führte er süße Worte im Munde. Er wandte zuerst das Auge auf die Pskover Republik, welche ihre ältere Schwester verratend, der verschuldeten Strafe zu entgehen glaubte. Die Pskover schmeichelten sich, daß, weil Ivan sie in Frieden ließ, sie es vermögen würden, sich auch bei Vasilij auszureden; schickten ihm Geschenke, und durch die niederträchtigsten Demütigungen, hofften sie ihn zu entwaffnen. Vasilij antwortete gnädig und freundlich, er nannte sie seine allergeliebtesten Kinder; dennoch trauten beide Teile dem Frieden nicht und sahen sich von der 632 Karamzin, op. cit., Bd. 6, Kap. III, S. 87.

29. Vorlesung (14. Mai 1841)

399

Seite an. Der Großfürst führte die Sache auf gewöhnliche Art, er setzte in Pskov seinen Stellvertreter, dieser säte Unfrieden zwischen den Bürgern aus, und die gehäuften Zwiste immer auf ein späteres Gericht verschiebend, kündigte er endlich an, daß der Großfürst selbst „ein Einsehen“ in die Angelegenheiten haben würde; denn er wolle namentlich die Wucherer, die Volksbedrücker und die ihre Bauern pressenden Bodeneigentümer exemplarisch bestrafen. Es häuften sich nun von allen Seiten Bitten und Klagen; der Großfürst, in Novgorod angelangt, ließ sich diese vortragen. Eine Menge gemeinen Volks und Stadtbürger zog von Pskov aus, es waren sogar unter ihnen viele Kaufleute und Bojaren mit Klagen gegen den fürstlichen Stellvertreter selbst. Vasilij hielt alle in Novgorod fest und schickte nach den Angeschuldigten. Die Mächtigen, die Häupter und Anführer der Republik sahen wohl voraus, was ihrer harrte, da sie jedoch viele Mitbürger gegen sich hatten, konnten sie keinen Widerstand leisten. Der Großfürst sprach seinen Stellvertreter frei, fuhr die angesehensten Pskover heftig an, daß sie Bedrücker „seines lieben Volkes“ seien, und ließ sie in Ketten schmieden und nach Moskau bringen. Nachdem er also auf diese Weise die Republik ihrer Ältesten beraubt und die Gegenpartei in die Hände bekommen, erklärte er Pskov nehmen zu müssen, um die Herrschaft der Ordnung daselbst wiederherzustellen. Nachdem er die Stadt einmal genommen, begann er offen zu wirken. Sogleich schickte er einige fünfzig der ersten Familien in die Verbannung, vertrieb aus einem ganzen Stadtteile die Einwohner und setzte an ihrer Stelle Moskoviter, und richtete nachher ohne Unterlaß die geringeren Bürger zu Grunde. An 300 Familien wurden in einer Nacht in den Häusern aufgegriffen und in den Gegenden von Zales’e (Zalesskaja Rus’) geschleppt. Endlich verwandelte sich die Republik gänzlich in eine Provinz des Großfürstentums Moskau. Einer der zeitgenössischen Chroniker klagt über das traurige Geschick dieser einst freien und blühenden Gegend in folgenden Worten: […] исчезла слава Пскова, плененного не иноверными, но своими братьями Христианами. О град, некогда великий! ты сетуешь в опустении. Прилетел на тебя орел многокрыльный с когтями львиными, вырвал из недр твоих три кедра ливанские: похитил красоту, богатство и граждан; […] увлек наших братьев и сестер в места дальние, где не бывали ни отцы их, ни деды, ни прадеды!633 […] erloschen ist der Ruhm von Pskov, gefangen genommen nicht durch Ungläubige, sondern durch christliche Brüder. O du einst herrliche Stadt! Ein flügelmächtiger Adler mit Löwenkrallen fiel über dich her, entriß deinem Schoß drei Libanon-Zedern: raubte Schönheit, Reichtum und Bürger; […] 633 Karamzin, op. cit., Bd. 7, Kap. I, S. 28.

400

Teil I vertrieb unsere Brüder und Schwestern in weite Fernen, wo weder ihre Väter, ihre Großväter noch Urväter lebten.

Wie schwer auch schon der Großfürst Vasilij die Pskover gedrückt hatte, so harrte ihrer dennoch eine gänzliche Vernichtung unter seinem Nachfolger. Aus allem, was wir gesagt, ist die Zerstückung des Slaventums nach drei verschiedenen Richtungen hin bemerkbar. In Tschechien nimmt das Habsburgische Haus die Krone durch eine eheliche Verbindung mit der letzten Erbin der dort regierenden Jagellonen und entfaltet in diesen Gegenden eine neue Tendenz. Das Stabilitätssystem dieses Hauses fällt seine Gegner nie angreifend an, jedoch herausgefordert läßt es ihnen keinen Frieden, bis es siegt; hat es aber einmal gesiegt, so bringt es alles unter seine Gewalt und zerdrückt ohne Barmherzigkeit. Im Fortschritt langsam, jedoch unermüdet, mußte es endlich die Parteien, die sich unter einander stritten, aber einzeln unfähig waren, ihm mit Bedacht und Ausdauer die Stirn zu bieten, eine nach der anderen auflösen. Hinter den Karpaten also beginnt das Übergewicht des legalen Despotismus. In Polen eilt der Adel sich in eine Körperschaft zu vereinen, welche ausschließlich das Recht besitzen soll, dem Volk zu gebieten; auf den Trümmern der Gewalt des Königs, des Senats und der Geistlichkeit will er gleichfalls willkürlich herrschen und den Despotismus der Kaste erheben. In Moskau erstarkt und wächst eine in der älteren Geschichte beispiellose Alleinherrschaft, welche durch Hinterlist, Verrat und Grausamkeit jeden Widerstand zu Boden wirft; sie sucht alle Kräfte, das ganze Leben des Volkes in sich aufzunehmen und zu verschlingen, in der Tat will sie nach dem über die Mongolen in den Akten hinterlassenen Ausdruck ihre Gegner auffressen, allgemein den mongolischen Despotismus verbreitend.

30. Vorlesung (18. Mai 1841) Das Aufglänzen großer Männer in Polen und Tschechien zu Sigmunds I. Zeiten und das Verschwinden dieses geistigen Aufschwungs – Anfänge polnischer volkstümlicher Dichtung; geistliche Lieder – Die Herrschaft Ivans IV. (Ivan Groznyj) – Der Mönch Sil’vestr – Aleksej Fedorovič Adašev.

Die Zeitgenossen Sigismund des Alten, sowohl Polen als Ausländer, staunen über die große Zahl Männer von erhabenem Geist, welche den Glanz seiner Regierung ausmachten. Oben haben wir gesagt, daß dieselben in den Begriffen dem Bacon zuvorgekommen, in den physischen Wissenschaften neue Bahnen gefunden, Entdeckungen von unermeßlichem Wert gemacht haben. Was aber noch mehr verwundert, ist, daß diese genialen Männer auf einen Augenblick aufflackernd, fast ohne Spuren zurückzulassen, wieder verschwinden. Kaum kann man in den Chroniken über ihr Leben und ihre Arbeiten etwas auffinden. Die Früchte dieser Arbeiten sind zum größten Teil vielmehr augenblickliche Auffassungen von Gedanken und Beobachtungen; die Wahrheiten lassen sich in ihnen erraten, aber nicht sehen; allenthalben fällt ein Mangel des Systems und der Methode auf, ausgenommen vielleicht die gänzlich vollendeten Systeme des Vitellio und Kopernikus. Aber auch diese Systeme fanden unter den Polen keine Gelehrten, die fähig waren, sie zu verstehen und auszulegen: Kopernikus wurde erst in Rom begriffen und wissenschaftlich verteidigt. Wenn die Polen sich seiner annahmen, so geschah dies mehr deshalb, weil die Kühnheit seiner Meinungen ihnen gefiel, aber nicht im Mindesten verstanden sie irgendetwas aus ihnen zu ziehen. Ebenso ging es in Tschechien. Tycho Brahe und Johannes Keppler634, wenn auch lange in Prag lebend, wo sie ein Observatorium, Werkzeuge und schatzenswerte Sammlungen hinterließen, vermochten doch keinen einzigen Schüler zu bilden. Fast könnte man sagen, daß der slavische Boden plötzlich unfruchtbar geworden, und daß die üppigen, teils eigenen teils fremden Samenkörner auf demselben verkümmern und untergehen mußten. Was verursachte jedoch diese Entzweiung der Genien mit dem Volke, und jenes Abweichen derselben vom vaterländischen Gesichtskreise? Es scheint, daß die unbedingte Notwendigkeit des Gelingens und des Gedeihens der 634 Tycho de Brahe (1546–1601); vgl. Tycho Brahe and Prague: Crossroads of European science. Hrsg. John Robert Christianson, Alena Hadravová, Petr Hadrava, Martin Šolc. Frankfurt am Main 2002; Johannes Kepler (1571–1630); vgl. Kitty Ferguson: Tycho & Kepler: the unlikely partnership that forever changed our understanding of the heavens. New York 2002.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_031

402

Teil I

Wissenschaften auf der Möglichkeit beruht, sie anzuwenden. Hinterläßt der Gelehrte einen Lehrstuhl, wo seine Lehre in Vorträgen fortlebt, bildet der Erfinder eine wirkende Maschine, so hat sein System und seine Erfindung eine lebendige Überlieferung, die auf die Nachkommen übergeht und Veranlassung zu neuen Auffassungen und Folgerungen gibt. Die Möglichkeit der Anwendung hängt aber nicht von einem einzelnen Menschen ab; dazu ist ein Monarch, eine Körperschaft, eine Schule, kurz etwas, das vereinte Kräfte und Mittel besitzt, und in diesem irgend ein Interesse, sei es der Regierung oder der Industrie, sieht, unerläßlich. Auf diesem Wege erhoben sich überall die Wissenschaften. Die Kaiser in Deutschland, ihre Gewalt auf die römischen Gesetze stützend, halfen so viel sie nur immer konnten, der Rechtskunde empor. In Italien beförderten Kirche und Republiken sehr die Kenntnis des kanonischen Rechts. Die Könige in Frankreich, welche sich besonders bemühten, zu einer tüchtigen militärischen Macht zu gelangen, wodurch sie das Feudalwesen ersticken könnten, ermunterten auf alle mögliche Weise die Kriegswissenschaften. In den slavischen Ländern, wenigstens in den beiden Hauptreichen, die den Westen berührten, hatten die Fürsten keinen einzigen dieser Beweggründe zur Pflege der Wissenschaften und Künste. In Tschechien, wo es besonders galt, die Parteien im Zaum zu halten, sie zu schwächen, welches Interesse konnten da wohl die Herrscher an der Vervollkommnung des Kriegssystems von Žižka haben, der nur durch die mit Sensen und Knüppeln bewaffneten Bauern an Wunder grenzende Siege davonzutragen verstand? Wozu sollte dort die Rechtslehre dienen, wo die Könige sich nur bemühten, das Feudalwesen zu brechen und die verschiedenen Absichten der Parteien zu vereiteln, ohne sich darum zu bekümmern, etwas an diese Stelle zu setzen? Wer wollte doch während der religiösen Streitigkeiten an Schulen und astronomische Observatorien denken? In Polen schien es, als hielten die Könige noch das Steuerruder der Regierung, die wirkliche Gewalt jedoch war schon beim Adel; der adlige Pöbel, der grundbesitzende Pöbel hatte Polen unter seine Herrschaft gebracht. Und was konnte dieser neue Herr bezwecken? Er mußte doch wohl wie jede aus der Opposition hervorgegangene Gewalt sich auf Unterdrückung alles Übrigen beschränken. Er drängte das königliche Ansehen zurück, verengte die Macht der Kirche, legte eine Schranke zwischen sich und die niederen Stände. Da er jedesmal das für das ganze Land vorbereitete Gesetzbuch verwarf und Gefahr für sich in demselben erblickte, war er der Rechtsgelehrsamkeit abhold; das volkstümliche Heer machte er selbst aus; wohl wissend, daß die Einführung regelmäßigen Militärs den Thron befestigen und dem höheren Adel sehr dienlich sein könnte, wollte er von militärischen Wissenschaften nichts hören, und trieb dieses so weit, daß (was nicht genug zu bedauern) manche Werke über

30. Vorlesung (18. Mai 1841)

403

Kriegführung, von den wahrscheinlich größten damaligen Taktikern in ganz Europa – jenen Feldherrn, welche bei Obertyn und Orsza gesiegt, geschrieben, verloren gegangen sind.635 In Moskau jedoch, welches in dieser Epoche den größten Teil der Rus’ umfaßte, gingen die Sachen einen anderen Gang. Die geistige Bewegung des Volkes erstarb dort gänzlich, es trat kein einziger Erfinder, kein einziger Schöpfer einer Wissenschaft oder Kunst unter den Eingeborenen auf, aber die Regierung bediente sich fremder Talente aufs Eifrigste, dem mongolischen Systeme getreu; drängte zurück, zertrat alles, was nur irgend den Keim eines sittlichen Wirkens in sich trug, benutzte und gebrauchte aber jedes Mittel, welches die materielle Kraft erheben half; sie baute Festungen nach den damals vollkommensten Systemen der Fortifikation, und organisierte ein regelmäßiges Heer. Die moskovitischen Großfürsten ebenso wie einst Dschingis-Khan, Batu Khan, Ögedei Khan riefen zu sich und schätzten die Architekten, Ärzte, Handwerker, am meisten aber die in der Welt nach Glück herumschweifenden Kenner der Kriegskunst, welche sich ihnen als Kriegslehrer anboten. Wenn nun auf diese Weise die theoretischen und die praktischen Wissenschaften in einem Teil des Slaventums nicht festen Fuß fassen, und in dem anderen Teil für den Dienst der materiellen Kraft verwandt werden, so zeigt sich um diese Zeit in Polen das erste Aufkeimen einer volkstümlichen Poesie. Wir sprechen hier nicht von den Volksliedern; diese dauerten für sich immerfort in der Tiefe des häuslichen Lebens, sie konnten sich nur nicht auf die Oberfläche emporschwingen, unter der groben Schicht des lastenden Lateins; den Weg der eigentlichen Literatur weiter verfolgend, wollen wir an ihnen vorbeigehen. Es gab noch eine andere, ebenfalls gesungene und allgemein gekannte Dichtung, die mit ihrer einen Seite die Volks-, mit der anderen die Schriftstellerpoesie berührte, nämlich die religiöse Dichtung. Die Polen haben, wie schon erwähnt636, in den ältesten Zeiten den Brauch gehabt, in die Schlacht gehend, das Lied der „Allerheiligsten Jungfrau Mutter Gottes“ („Bogurodzica“) zu singen. Dies im 16. Jahrhundert zum ersten Mal gedruckte Lied beginnt ihre dichterische Literatur. In dem von Religionskämpfen erschütterten Tschechien hatte sich eine ungeheure Zahl Denkmäler dieser Art gehäuft, ihre eigentliche Natur war jedoch entartet. Was in der katholischen Poesie ihre eigentümlichste Eigenschaft ausmacht, was am höchsten emporsteigt und am tiefsten hinabreicht, das konnte hier nicht erzeugt werden. Die religiöse volkstümliche Dichtung 635 Vgl. Jan Tarnowski: Consilium rationis bellicae. Tarnów 1558; Neuausgaben: Kórnik 1897, Warszawa 1987. 636 Vgl. 13. Vorlesung (Teil I).

404

Teil I

der Tschechen, von weltlichen Leidenschaften zu Hilfe gerufen, fiel in den Kreis der Beredsamkeit; die frommen Gesänge vertraten die Stelle politischer Reden und Aufrufe, und wenn sie auch auf den Schlachtfeldern die Herzen heißer schlagen machten, so waren sie doch einige Jahre nach Beendigung der Hussitenkriege vergessen; da hingegen die ältesten Kirchenlieder bis auf den heutigen Tag fortwähren, eine innere Kraft besitzend, die sie erhält und verjüngt. Denn fast alles, was aus Interessen und Erschütterungen, die nur zeitlich sind, entspringt, hat nur ein Kunstleben, ein zweifelhaftes, vergängliches Dasein. Die parteisüchtige Sektiererpoesie vermag nie die ihres Jahrhunderts und ihres Volks zu werden. Damit die großen Werke der Kunst sich entfalten können, ist in der geistigen Atmosphäre Ruhe und heitere Muße nötig; während der Verwirrungen in Tschechien hatte die wahrhaft volkstümliche Dichtung nicht das freie Atmen, es fehlte für sie an Luft. Polen im Gegenteil erfreute sich noch dazumal jener heiteren Ruhe, und gewiß stammt eine Menge in den Kantiken befindlicher Lieder aus jener Epoche. Wahrscheinlich kann sich kein einziges Volk einer solchen Liedersammlung, wie die polnischen Kantiken637 (Gesangbücher) sind, rühmen. Diese von den Theoretikern wenig gekannte, von den Dichtern wenig benutzte Sammlung ist äußerst wichtig für Geschichte und volkstümliche Dichtung. Die Verfasser der in ihr enthaltenen frommen Gesänge sind unbekannt, und waren, wie es scheint, niedere Geistliche und Dorfschulmeister. Nur Spuren finden sich, daß auch große Schriftsteller hier später etliche Hymnen hinzugefügt haben. Die Kantiken umfassen das ganze Kirchenjahr und teilen sich nach ihm in Gesänge für den Advent (d.h. die Ankunft), für die Geburt, das Leiden und die Auferstehung des Herrn. Die in ihnen ausgesprochenen Gefühle, namentlich die der Liebe und Verehrung der Mutter Maria für den göttlichen Sohn, sind so zart, so rein und himmlisch, daß dieselbe in Prosa zu übertragen, dasselbe wäre, als die Heiligkeit verletzen. Da jedoch diese Dichter, einfache Leute, hin und wieder Volksausdrücke hineinmischen, so dienten die Lieder denen zum Gelächter, welche nicht im Stande waren, sie zu schätzen. In anderen Sprachen könnte man höchstens bei den Italienern Verse finden, die mit dieser altertümlichen polnischen Dichtung in Vergleich stehen. In neuerer Zeit versuchte unter den Deutschen Novalis638 die Gattung der „Geistlichen Lieder“ nachzuahmen, und es gelang ihm zuweilen, die echte Stimmung 637 Kantyczki – Kircheliederbuch (livre de cantiques). vgl. dazu Maria Bokszczanin: Kolęda. In: Słownik literatury staropolskiej. Średniowiecze – Renesans – Barok. Red. Teresa Michałowska. 2. Auflage. Wrocław-Warszawa-Kraków 1998, S. 371–373. 638 Novalis – Friedrich Freiherr von Hardenberg (1772–1801); vgl. Novalis: Geistliche Lieder, in: Novalis Werke. Hrsg. Gerhard Schulz. 5. Auflage. München 2013, S. 55–74.

30. Vorlesung (18. Mai 1841)

405

der Volksandacht zu treffen. Auch in einigen Gedichten von Viktor Hugo639 könnte man desgleichen Ähnlichkeit mit dem anmutigen Gesang auf „die Geburt des Herrn“ finden, namentlich in jenem, wo das Kind im Traum sich mit dem Engel unterhält; wenngleich die Schöpfung Viktor Hugos in Rücksicht der Kunst besser zusammengestellt und vollendeter ist. Schwer ist es auch in einer fremden Literatur etwas den Liedern von der Kreuzigung und Auferstehung des Herrn Entsprechendes zu finden. Unter ihnen gibt es Gesänge, Hymnen, welche die erste Stelle in der volkstümlichen Poesie verdienten. Der Aufmerksamkeit der Theoretiker entgingen sie jedoch; diese Gattung ist durch ihre Erhabenheit der Kritik unzugänglich. Schwer ist es, nach irgend welchen Grundsätzen Verse zu beurteilen, wo der Dichter sich an keinen Maßstab hält, den Reim als etwas Unerhebliches, Außerwesentliches, ans Epigramm Grenzendes verwirft, nur dem inneren Rhythmus, dem Musikalischen folgt, und auf die Mittelzäsur reimt. In einem die Auferstehung besingenden Hymnus haben wir ein Gespräch zwischen Christus und der Allerheiligsten Jungfrau; hierzu hat sogar ein Dante sich nicht erkühnt, und doch hat ein unbekannter Dichter des polnischen Volkes seinen Worten solche Kraft und geziemende Form zu geben vermocht, daß es niemandem auffällt. Mit wunderbar erhabener Einfalt erzählt er: A gdy Chrystus Pan zmartwychstał, Miłośnikom się pokazał, Anioły do Matki posłał. Alleluja. O Anieli najmilejsi! Idźcie do Panny Najświętszej, Do Matki mojej najmilszej. Alleluja. Ode mnie Ją pozdrawiajcie i wesoło zaśpiewajcie: Królowo Rajska, wesel się. Alleluja. Potem swą wielką światłością do Matki swej przystąpiwszy, Pocieszył Ją pozdrowiwszy. Alleluja. Und als Christus der Herr auferstanden war, zeigte er sich seinen Lieben, schickte Engel zur Mutter, Hallelujah. O allerliebste Engel, geht zur Allerheiligsten Jungfrau, meiner geliebtesten Mutter, Hallelujah. Grüßet sie von mir und stimmt freudigen Gesang an: himmlische Konigin freue Dich, Hallelujah. Dann trat er in großem Lichtstrahl vor seine Mutter, begrüßte und tröstete sie. Hallelujah.

Jetzt antwortet die Allerheiligste Jungfrau:

639 Victor Hugo (1802–1885); vgl. V.  Hugo: Les Feuilles d’automne (1831). Bruxelles 1832 (= Œuvres de Victor Hugo. Bd. 12).

406

Teil I Witajże, Jezu najsłodszy, Synaczku mój najmilejszy, Pocieszenie wszelkiej duszy. Alleluja. Jestem już bardzo wesoła, gdybym cię żywego ujrzała, jakobym się narodziła. Willkommen! Jesus Du allerholdester, mein allerliebster Sohn, Freude jeglicher Seele, Hallelujah.

Was kann es Schöneres geben, als diese Worte der Mutter, die in ihrem Sohne Gott erkennt, und zugleich von dem Gedanken an seine Güte durchdrungen, wie ein gewöhnliches Weib, wie eine Sünderin ihn – „die Freude jeglicher Seele“ – nennt. Der Dichter beendet das Gedicht mit den Worten: Łaskawie z nim rozmawiała, usta jego całowała, w radości się z nim rozstała. Alleluja.640 Gnädig sprach sie mit ihm, küßte ihn auf den Mund, schied von ihm in Freuden, Hallelujah.

Dies ist nicht minder wunderschön. Das erste Mal hören wir von dem Scheiden der Mutter vom Sohn „in Freuden“, denn die Mutter hatte völlige Gewißheit, den Sohn im Himmel wiederzusehen. Wir haben hier nur Bruchstellen dieses Liedes angeführt, welches sich vielleicht in die lateinische Sprache übertragen ließe; keine der lebenden Zungen ist im Stande, es ohne Mängel wiederzugeben. Das Übersetzen in gereimte Verse nach jetzigem Stil würde es der Erhabenheit berauben. An die feierlichen Gesänge fügte man allmählich andere, bestimmt zum Singen bei der „Kolęda“641 oder dem Sternsingen zu Neujahr. Es sind dies fast kleine Dramen, die Geburt des Herrn vorstellend. Neben der Allerheiligsten Familie treten hier Engel, die drei Könige und Hirten auf. Der Verfasser, gewöhnlich ein Dorfschulmeister als der gelehrteste Mann der Umgegend, fängt zuerst an, dem Volk die Prophezeiungen vorzutragen, erzählt nachher die Ereignisse, besingt endlich in rauschendem Redefluß die Hoffnung des Glückes im künftigen Leben. Die Bilder aufzeichnend, bekümmert er sich nicht im Mindesten um die Ortsfärbung des heiligen Landes; er sieht einen eben solchen Stall, solchen Schnee und Frost wie in Polen, und führt die Hirten masurisch redend ein. Diese für das Volk geschriebenen Dramen werden bis auf den heutigen Tag 640 Quelle nicht ermittelt. 641 Kolęda – Weihnachtslied; vgl. dazu Maria Bokszczanin: Kolęda. In: Słownik literatury staropolskiej. Średniowiecze – Renesans – Barok. Red. Teresa Michałowska. 2. Auflage. Wrocław-Warszawa-Kraków 1998, S. 371–373.

30. Vorlesung (18. Mai 1841)

407

in vielen Gegenden Polens gesungen. Es wird sich noch Gelegenheit darbieten, sie näher zu betrachten; jetzt aber kehren wir zur geschichtlichen Darstellung der slavischen Länder zurück. Wir haben die Geschichte der moskovitischen Rus’ am Ende der Regierung Vasilijs III. gelassen, wie die Despotie dort schon schnell aufkommt, und jede geistige Bewegung von der politischen Tendenz niedergehalten wird. Es folgt die Regierung Ivans IV., genannt der Schreckliche (Ivan Groznyj). Dies ist die Epoche, vor welcher die Geschichte, die den alltäglichen Hergang der Ereignisse leicht darstellt, entsetzt innehält, sowie zuweilen das Wissen vor dem Anblick einer schrecklichen Naturerscheinung in starrem Staunen stehen bleibt. Die damaligen „Chronisten […] bezeichnen die Tyrannei Ivans IV. als fremdartiges Gewitter, das gleichsam aus dem Schoß der Hölle gesendet wurde, um Russland aufzuwühlen und zu quälen.“ („Летописы […] назывют тиранство Иоанново чуждою бурею, как бы из недр Ада посланную возмутить, истерзaть Россию.“).642 Doch haben uns die späteren Jahre zum Teil das Geheimnis dieser Katastrophe deutlich gemacht und einige für Geschichte und Literatur unermeßliche Wert besitzende Denkmäler enthüllt. Denn unter Ivan dem Schrecklichen hat die alte Rus’ der Rjuriks, der warägischen Fürsten, die christliche Rus’ mit dem letzten Schmerzgestöhne sich vernehmen lassen, es hat ernste, erhabene Worte gesprochen. Die Stimmen einiger Mönche, einiger verfolgten Fürsten der Rus’ können der ganzen Beredsamkeit ihrer Zeitgenossen in Polen und Tschechien die Waage halten; denn diese waren, wenngleich aufgeklärter und mit der Kunst besser bekannt, dennoch durch keine so schreckliche und feierliche Lage gezwungen, ihren innersten Lebenslaut ertönen zu lassen. Schon Vasilij III. hinterließ das moskovitische Reich durch weite Eroberungen vergrößert, eine energische Verwaltung und eine große Kriegsmacht unter Waffen. Außer den 300 000 Bojaren oder Söhnen derselben, d.h. Leuten von Adel und aller Übrigen, die ins Feld gestellt werden konnten, besaß Moskau schon allein 60 000 regelmäßige Truppen aus dem Bauernstand. Nirgends in Europa unternahm man bis dahin die Landleute zu bewaffnen; die Großfürsten folgten hierin dem Beispiel der Mongolen. Letztere hatten bei ihren Eroberungen die Sitte, das Volk zusammenzutreiben und eine Zwangsrekrutierung [rekrutskij nabor] vorzunehmen. Dieses zusammengeraffte Heer machte den Großfürsten wie den Mongolen keine Unkosten, im Gegenteil diente es zur Bereicherung des Schatzes. Vom Sold hörte man hier nie etwas. Darum können auch häufig die ausländischen Schriftsteller sich nicht erklären, auf welche Weise im Norden, in diesen armen Ländern, die nicht geregelt sind nach 642 Karamzin, op. cit., Bd. 9, Kap. I, S. 10–11.

408

Teil I

der Finanzkunst der westlichen Reiche, so ungeheure Heere geworben und unterhalten werden können. Ebenso kostete die Regierungsverwaltung nichts. Der Großfürst gab die Länder und Kreise seinen Beamten zur Verwaltung und zahlte ihnen nicht nur nichts, sondern empfing von ihnen Geschenke und Tribut. Dieses System wollte den europäischen Staatsmännern und Publizisten nicht in den Kopf; sie sahen erstaunt die Gewalt und Macht der Selbstherrscher. Der Baron Herberstein, welcher zu jener Zeit Moskau besuchte und am Hof Vasilijs verweilte, berichtet so von dessen Gewalt: Authoritate sua tam in spirituales quam seculares utitur, libere ac ex voluntate sua de omnium & vita & bonis constituit: consiliariorum quos habet, nullus est tantae authoritatis, qui dissentire, aut sibi in re aliqua resistere audeat. Fatentur publice, voluntatem Principis, Dei esse voluntatem: & quicquid Princeps egerit, ex voluntate Dei agere. ob id etiam clavigerum & cubicularium Dei appellant, exequutorem denique voluntatis divinae credunt.643 Der Herrscher übt seine Macht gleicherweise über weltliche und geistliche Personen und verfügt nach Lust und Laune über Hab und Gut eines jeden seiner Untertanen. Kein einziger seiner Räte genießt soviel Ansehen, daß er sich ihm widersetzen oder auch nur anderer Meinung sein dürfte. Alle bekennen, daß des Fürsten und Gottes Wille ein und dasselbe seien. Sie nennen ihn deshalb auch des Allerhöchsten Beschließer oder Kämmerer und sehen in ihm den Vollstrecker göttlichen Ratschlusses.644

Weiter führt er Beispiele von dieser ihm unbegreiflichen Gewalt an, nachher fügt er hinzu: Incertum est, an tanta immanitas gentis tyrannum principem exigat: an tyrannide Principis, gens ipsa tam immanis, tamque dura crudelisque reddatur.645 Ich bin mir nicht klar darüber, ob dieses unbarmherzige Volk einen solchen Tyrannen als Fürsten braucht, oder ob es durch die fürstliche Tyrannei erst so hart und grausam wurde.646

Diese und ähnliche allgemeinen Bemerkungen klären die Sache nicht im Mindesten auf; besser belehren uns die Volkssagen, auf welche Weise sich solche 643 Sigismud von Herberstein: Rerum Moscoviticarum Commentarii. Synoptische Edition der lateinischen und der deutschen Fassung letzter Hand Basel 1556 und Wien 1557. Unter der Leitung von Frank Kämpfer erstellt von Eva Maurer und Andreas Fülberth. Redigiert und herausgegeben von Hermann Beyer-Thoma. München 2007, S. 73. 644 Sigismund zu Herberstein: Reise zu den Moskovitern 1526. Hrsg. Traudl Seifert. München 1966, S. 80. 645 Sigismud von Herberstein: Rerum Moscoviticarum Commentarii, op. cit., S. 73–74. 646 Sigismund zu Herberstein: Reise zu den Moskovitern 1526, op. cit., S. 80.

30. Vorlesung (18. Mai 1841)

409

gräßliche Gewalt befestigt hat, nachdem sie viele Volkstümlichkeiten und verschiedene Bestrebungen verschlungen. Die Volkserzählung von Dracula betrifft die Zeiten Vasilijs und bezeichnet ebenso wie die früher von Šemjaka angeführte eine geschichtliche Epoche. Šemjaka ist das Ideal der moskovitischen Gerechtigkeit, Dracula der moskovitischen Zwingherrschaft. Dieser Letztere als walachischer Woiwode aufgeführt (obgleich es in der Walachei Woiwoden dieses Namens gab, so ist dieser Held dennoch eine ganzlich erdichtete Person), stellt den Fürsten dar, welcher den damaligen Begriffen, Wünschen und Hoffnungen des Volkes entsprach. Er sollte gewaltig, geachtet, gerecht und mit der Verbesserung und Beglückung seiner Untertanen beschäftigt sein. In dieser Absicht reist er unter fremdem Namen und verkleidet im Lande umher, kommt allenthalben hin, geht unerwartet in die Häuser, horcht hinter den Türen, sieht insgeheim durch die Fenster und sobald er nur etwas Böses gewahrt, gleich beugt er vor. Das einzige Mittel für alles ist ihm der Tod. Trifft er auf einen schlechten Richter, so läßt er ihm die Haut abziehen; begegnet er einem unreinlichen Weib, so befiehlt er, sie in den Fluß zu werfen; findet er eine nachlässige Hauswirtin, so läßt er ihr die Augen ausstechen und sie an den Mahlstein schmieden, damit sie Zeitlebens den Stein drehe. Alle diese Mittel erscheinen dem Verfasser der Erzählung ganz gerecht und sehr witzig. Ferner ersinnt Dracula als musterhafter Staatsökonom ein Mittel, das Land von der Armut zu befreien; er versammelt alle Greise, Krüppel, Kränkliche und sogar alle armen und traurigen Leute, verschließt sie in eine ungeheure Scheune und befiehlt Feuer anzulegen. – Denn in der Tat – fügt der Erzähler dieser weisen Handlungen hinzu – „wozu Leute ernähren, die weder für sich noch für andere zu etwas taugen.“ („На что жить людям, живущим в тягость себе и другим?“).647 So verstand dazumal das moskovitische Volk die Pflichten des Monarchen. Bald bekam es auch einen Fürsten, der ganz und gar wie jener erdichtete Dracula herrschte, nur hat er ihn an Grausamkeit bei weitem übertroffen, und seine Mittel nicht bei Einzelnen, sondern bei ganzen Volksmassen angewandt. Vasilij III. hinterließ sterbend den unmündigen Sohn Ivan.648 Die Chronik sagt, daß er in einer Stunde zur Welt gekommen, als gerade ein furchtbarer Sturm Moskau erschüttete, und seine Geburt wurde während des rollenden 647 Karamzin, op. cit., Bd.  7, Kap.  4, S.  139 („Skazka o drakule, mut’janskom Voevode“ – S. 138–139); vgl. Skazanie o Drakule. In: Biblioteka Drevnej Rusi. Hrsg. D.S. Lichačev u.a., Sanktpeterburg 1999 [http://lib.pushkinskijdom.ru]; ferner – Jakov S. Lur’e: Povest’ o Drakule. Leningrad 1964. 648 Ivan Groznyj – Ivan der Schreckliche (1530–1584); vgl. Ruslan  G.  Skrynnikow: Iwan der Schreckliche und seine Zeit. Mit einem Nachwort von Hans-Joachim-Torke. München 1992; Manfred Hildermeier: Geschichte Rußlands. Vom Mittelalter bis zur

410

Teil I

Donners verkündet. Das Kind hatte in den Adern mongolisches Blut durch seine Mutter Elena Glinskaja649, Nichte der Fürsten Glinskij, welche nach dem letzten Willen Vasilijs zur Reichsverweserin ausgerufen wurde. Elena, ein hochmütiges stolzes Weib, sehr „aufgeklärt“, in Polen und Deutschland erzogen, hielt kräftig die Zügel der Regierung; bald jedoch wurde ihr Hof der Tummelplatz der sich aufs Heftigste bekämpfenden Fraktionen. Es bildeten sich Parteien der Fürsten Glinskij, Šujskij und Bel’skij.650 Alle wirkten anfänglich gegen den Günstling der Regentin, den Fürsten Obolenskij651, nachher verdrängten sie sich gegenseitig. Dies war schon eine neue Epoche. Früher kämpften die Fürsten-Sprößlinge Rjuriks um ihre Selbstständigkeit und um ihre Ländergebiete; jetzt ringen sie nach der Gunst des Thrones, schmeicheln entweder der Witwe des Großfürsten oder seinem unmündigen Nachfolger, damit sie, unter deren Namen das Land beherrschend, die entgegengesetzte Partei bedrücken können. Unaufhörlich ereigneten sich daher Palast-Revolutionen, welche immer mit der Hinrichtung der besiegten Günstlinge enden. Ivan hatte in seiner Kindheit fortwährend blutige Szenen vor Augen. Öfters riß man ihm seine Lieblinge von seiner Seite, ohne auf sein Weinen und Schreien zu hören, und überlieferte sie dem Beil des Henkers. Häufig in der Nacht geweckt, mußte er zitternd inmitten der streitenden Bojaren stehen. So wurde er einige Jahre in fortwährendem Schrecken und zu grimmigster Erbitterung gegen alles, was ihn umringte, erzogen. Endlich endete seine Mutter ihr Leben durch Gift, und nach langen Verwirrungen bekam die Fraktion der Šujskijs652 vollständig das Übergewicht. Die Šujskijs stammten in gerader Linie von den ersten Gründern des moskovitischen Reiches her. Ihrer Fürstentümer in den Gegenden von Zales’e (Zalesskaja Rus’) beraubt, ließen sie sich in Moskau nieder, wo ihre Familie fortwährend eine tragische Rolle spielte; immer bildete sie eine Fraktion im Lande und später gelangte sie sogar eine Zeitlang auf den Thron. Fast alle ihre Mitglieder Endeten blutig oder in Verbannung. Ivan war seiner Natur nach gewalttätig und durchgreifenden, scharfen Geistes. Die den Šujskjs feindliche Partei, sie zu stürzen beabsichtigend, redete ihm ein, da er 13 Jahre zähle, könne er schon dem Gesetz nach die Regierung

649 650 651 652

Oktoberrevolution. 2. Auflage. München 2013. Kapitel XV: Reform und Terror: Ivan der Schreckliche (1533/47–1584, S. 239–302. Elena Vasil’evna Glinskaja (um 1508–1538); vgl. Dmitrij S. Dmitriev: Knjaginja Elena Glinskaja. Moskva 1899. Vgl. dazu Kondratij Birkin [Petr P. Karatygin]: Vremenščiki i favoritki XVI, XVII i XVIII stoletij. 3 Bde., Moskva 1992 (1. Auflage: Sanktpeterburg 1870–1871). Ivan Fedorovič Obolenskij-Telepnev-Ovčina (gestorben 1539). Vgl. Gleb V. Abramovič: Knjaz’ja Šujskie i Rossijskij tron. Leningrad 1991.

30. Vorlesung (18. Mai 1841)

411

des Reichs übernehmen, und wenngleich noch nicht volljährig, sei er dennoch fähig, das Heer anzuführen und die Politik zu lenken; für einen Großfürsten sei es eine Schande, der Despotie einiger Großen zu unterliegen, und die Zeit sei gekommen, seine eignen Kräfte zu versuchen. Ihre Bestrebungen hatten Erfolg. Der dreizehnjährige Fürst verstand listig seinen Zorn und sein Vorhaben zu verhehlen. Dem Brauch seines Vaters und Großvaters gemäß, lädt er die Großen und Bojaren zu einem herrlichen Gastmahl, überschüttet sie bei Tisch mit Geschenken und unterhält sich mit ihnen recht zutraulich. Doch plötzlich в первый раз явился повелительным, грозным; объявил с твердостию, что они, употребляя во зло юность его, беззаконствуют, самовольно убивают людей, грабят землю; что многие из них виновны, но что он казнит только виновнейшего: Князя Андрея Шуйского, главного советника тиранства. Его взяли и предали в жертву Псарям, которые на улице истерзали, умертвили сего знатнейшего Вельможу.653 zeigte er sich zum ersten Mal herrisch und grausam; entschlossen erklärte er, daß sie, indem sie seine Jugend missbrauchen, gegen das Recht verstoßen, willkürlich Menschen töten, Land stehlen; viele von ihnen sind schuldig, doch wolle er nur den Schuldigsten von allen bestrafen, den Füsten Andrej Šujskij654, den Hauptbefürworter der Tyrannei. Man fasste ihn und übergab ihn den Hundehaltern; die Hunde zerfleischsten und töteten auf der Straße diesen bedeutenden Großherren.

Von nunan erfährt sogar die Fraktion, welche ihrer Rache Genüge getan, in dem erbosten Knaben einen furchtbaren Selbstherrscher. Einige Jahre später, sagt der russische Geschichtschreiber, kamen die Abgeordneten der Stadt Pskov mit einem Anliegen zu ihm; dies arme Volk, erst seit kurzem Moskau untertan, wußte noch nicht vollkommen, was die „Gewalt der Alleinherrscher“ zu bedeuten hat, und war keck genug, sich von Zeit zu Zeit zu beklagen. Der über eine solche Frechheit erzürnte Ivan mordete die Gesandten, indem er ihnen Köpfe und Bärte mit Branntwein begießen ließ, und sie eigenhändig anzündete.655 Der zur Grausamkeit geneigte und durch schlechte Erziehung noch mehr verdorbene Charakter entwickelte sich gewaltsam in dem jungen Fürsten; plötzlich jedoch kam noch für ihn ein Augenblick des Insichgehens und der Besserung; – wie bekannt war Nero anfänglich sehr gnädig und wurde später 653 Karamzin, op. cit., Bd. 8, Kap. II, S. 50. 654 Andrej Michajlovič Šujskij (am 29.12. 1543). 655 Vgl. Karamzin, op. cit., Bd.  8, Kap.  3, S.  60: „Государь не выслушал: закипел гневом; кричал, топал; лил на них горящее вино; палил им бороды и волосы; велел их раздеть и положить на землю. Они ждали смерти.“

412

Teil I

Tyrann; Ivan, nachdem er mit der Tyrannei begonnen, kehrte auf den Weg der Tugend zurück und hielt auf demselben einige Jahre aus. Diese Veränderung entstand auf folgende Weise. Die Partei der Bojaren, welche sich nicht mehr getrauete, am Hof Ränke zu schmieden, wiegelte das Volk auf und zwar während eines ungeheuren Brandes656, der fast ganz Moskau ergriff und verzehrte. Der Pöbel, von dem Gerücht betört, dieses Unglück sei die Folge von den Zaubererkünsten der Fürsten Glinskij, bedrohte deren Haus, die Kirchen und sogar den Palast des Großfürsten. Diese Unordnung erschreckte Ivan dermaßen, daß er in tiefe Traurigkeit verfiel, und einige Tage sich nicht öffentlich zeigte. Da unternahm es ein frommer Mönch, Namens Sil’vester657, die günstige Gelegenheit zu benutzen; und nachdem er zu ihm gedrungen, fing er an, ihn scharf zu ermahnen, ihm vorstellend, daß nicht Zaubereien die Ursache des Brandes und Auflaufs gewesen, sondern seine eignen Vergehen, seine Grausamkeiten und Verbrechen, für welche er Buße zu tun habe, um den Zorn des Himmels abzuwenden. Der Großfürst nahm den Mönch gut auf und schloß sich mit ihm ein; nach vollbrachtem Insichgehen zeigte er sich den Hofleuten und Herren mit Tränen in den Augen, bat alle um Verzeihung, versprach, von jetzt an ein völlig anderer zu werden, die Gesetze zu achten und dem Wohle der Untertanen sich gänzlich zu weihen. Unaussprechliche Freude ergriff die Anwesenden und bald auch die ganze Stadt. Die vorher verfeindeten Bojaren umarmten sich gerührt, das Volk versammelte sich unter den Fenstern des Palastes und segnete mit freudigem Ruf den Fürsten; jeder erzählte, wo er einem anderen begegnete, die glückliche Kunde. Ivan wollte Sil’vester zum Erzbischof machen und an die Spitze der Angelegenheiten des Reichs stellen; der gottesfürchtige Mönch wollte dies jedoch nicht, und alle zeitlichen Würden von sich weisend, versprach er, nur der geistige Ratgeber des Fürsten zu sein, dem er zum Freund und Helfer den von ihm geliebten Jüngling Aleksej Fedorovič Adašev658 gab. In der Geschichte und den Sagen des Volks gilt dieser Adašev als ein später nicht mehr wiedervorgekommenes Muster der Tugend; die Chroniker nennen ihn einen „irdischen 656 Brand von Moskau am 21.6. 1547. 657 Der Protopope Sil’vestr führte zusammen mit A.F.  Adašev den „Auserwählten Rat“ (Izbrannaja rada) an, der als einflußreiches Beratungsgremium unter Ivan dem Schrecklichen bis 1560 bestand; er wirkte an der Redaktion des „Domostroj“ (russ. etwa: „Hausordnung“ – russicher Gesetzeskodex, der Verhaltensregeln vorgibt); vgl. Domostroj. Hrsg. D.V. Kolesov. Sanktpeterburg 1998; er starb um 1566 im Kirillo-Belozerskij-Kloster am Weißen See (Siverskoe ozero). 658 Aleksej Fedorovič Adašev (verstorben 1561). Berater Ivan des Schrecklichen; fiel dann in Ungnade und wurde nach Dorpat (Tartu) verbannt.

30. Vorlesung (18. Mai 1841)

413

Engel“.659 Der Großfürst bot ihm desgleichen die Stelle des ersten Bojaren an, und überwies ihm die Regierung des Landes; aber auch er hatte, wie Sil’vestr, Abneigung vor Titeln, Würden und Belohnungen. Er wollte den Dienst tun, nicht aber ein Amt führen. Unter dem Einfluß des frommen Mönchs und des jungen großfürstlichen Freundes nahm alles eine andere Wendung im Reich. Die staatsgefangenen Fürsten aus dem Geschlecht der Rjuriks, seit 40 Jahren und länger in Kasematten verschlossen, erfuhren Erleichterung; man setzte sie in weniger dunkle Gefängnisse, und erlaubte ihnen zuweilen einen Spaziergang; einige Verbannte wurden zurückgerufen. Sogar wichtige Veränderungen in der Landesverfassung sollten eingeführt werden; man begründete eine gewisse Art von Geschworenengerichten zur Schlichtung der Streitigkeiten zwischen den Untertanen und dem Schatz. Die äußere Politik wurde ebenfalls kräftig und geschickt versehen. Das moskovitische Großfürstentum erfreute sich 13 Jahre lang eines glänzenden, glücklichen Zustandes, wie später niemals wieder. Jedoch eine schwere Krankheit des Ivan selbst und der Tod seiner Gattin, verursachten wiederum plötzlich eine furchtbare Veränderung in seinem Gemüt, und folglich auch in seiner Regierung.

659 Karamzin, op. cit., Bd. 8, Kap. III, S. 63: „[…] коего описывают земным Ангелом“.

31. Vorlesung (21. Mai 1841) Sigismund II. August (Zygmunt II August) – Ivan IV. (Fortsetzung) – Ivans Grausamkeiten und Ausmerzungen (opaly) – Der Fürst Andrej Michajlovič Kurbskij; Briefwechsel mit Ivan IV. – Die Deutschen in der moskovitischen Rus’ – Die Ermahnungen des Metropoliten Philipp – Die Zerstörung Novgorods und weitere Grausamkeiten Ivans IV. – Zur polnischen Lachkultur: Die Republik von Babiń (Rzeczpospolita Babińska).

Ein ausgezeichneter Schriftsteller des 16. Jahrhunderts, Paolo Giovio660, macht die Bemerkung, daß in der Mitte dieses Jahrhunderts die europäischen Monarchien noch einmal mit dem erlöschenden Glanz aufleuchteten. Es waren dies die Zeiten Leons X. [1475–1521], Franz I. [1494–1547], Henry VIII. [1491–1647] und der Jagellonischen Sigismunde. Sigismund II. August (Zygmunt II August [1520–1572]), der letzte Sproß der edelsten und christlichsten Dynastie, hat das Königtum des Mittelalters, nachdem er diese großen Männer überlebte, zu Grabe getragen. In seinen Tagen vollendete sich in Polen die große Umwälzung. Der von uns zuvor erwähnte Biograph der „Vita Petri Kmithae“, macht darauf aufmerksam, daß im Todesjahre Sigismund des Alten [1548] eine Menge der angesehensten Familien der Republik ausstarben. Zehn der selbstständigen Fürstenhäuser in Litauen und Masurenland und etliche zehn Familien der Großen der Krone erloschen um diese Zeit. Der neue Rat, zusammengesetzt aus groß gewordenen Edelleuten, umringte den jungen König; Sigismund II. August selbst wurde fast ein Edelmann. Noch besaß er die Großmut seiner Vorfahren; aber schon hatte er ihren Ernst nicht mehr, er war von leichterem Charakter und strebte dem Neuen nach. In fremden Sitten erzogen, kannte er, der erste von den polnischen Königen, ausländische Sprachen, und redete gern die italienische und spanische; er las deutsche Bücher, sammelte deutsche Sektierer (Neuerer) um sich, liebte die Kunst und schützte den Künstler. Dieselben Ursachen, welche den Wissenschaften in Polen nicht festen Fuß zu fassen erlaubten, begünstigten sehr die Künste, namentlich die Redekunst. Die Beredsamkeit wurde etwas Wesentliches, eine Triebfeder der Regierung. Der König ward gezwungen, durch Beredsamkeit die Senatoren und Abgeordneten zu gewinnen; der Adel kam durch dieselbe zu Ämtern und Würden. In derselben Zeit wendeten sich die Schriftsteller und Dichter, angefeuert durch 660 Paolo Giovo, lat. Paulus Jovius (1483–1552); italienischer Geschichtsschreiber. Äußerung nicht ermittelt. Bedeutendes Werk: Vitae virorum illustrium. Florenz 1549–47 (7 Bände). Englische Auswahl – Paolo Giovio: Notable Man and Women of Our Time. Edited and translated by Kennet Gouwens. Cambridge 2013.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_032

31. Vorlesung (21. Mai 1841)

415

das Lesen der klassischen Werke Italiens und Frankreichs, zur Ausbildung der Volkssprache, nach den Mustern, die sie in jenen aufgestellt fanden. Hier beginnt das Goldene Zeitalter der polnischen Literatur. Jedoch inmitten dieses Glanzes, der von allen Seiten den Thron Sigismund Augusts umringte, zeigten sich die furchtbaren Symptome des Unterganges der königlichen Gewalt, neben dem plötzlichen Aufkommen der Vielherrschaft des Adels. Die Stände wollten seine mit Barbara Radziwiłłówna661 ohne ihre Erlaubnis geschlossene Heirat nicht bestätigen. Diese Ehe mit der Tochter einer angesehenen, jedoch nicht herrschenden Familie, nur der Herzensneigung, nicht aber den politischen Aussichten entsprechend, der Sitte der europäischen Höfe, mit denen Polen in Berührung stand, zuwider, nannten sie romantisch, ungesetzlich und der Republik schädlich; man erhob Geschrei über die Willkür des Königs und über Gewaltübergriffe. Als dies in Polen geschah, schien der wohltuende Regierungszeitraum Ivans IV. eine dem Volk bis dahin ungekannte Bahn des Glückes und der Bildung zu eröffnen. Die Ausländer priesen den Norden glücklich wegen dieser beiden jungen und doch so großmütigen und milden Monarchen. Wir halten es hier für notwendig, einzelne Punkte aus der Regierung Ivans IV. anzuführen, weil er das ganze Wesen des moskovitischen Reichs in sich zusammengefaßt hatte; und wenn die Geschichte den Zustand dieses Landes erzählen will, so muß sie mit aller Sorgsalt den inneren Seelenzustand des Selbstherrschers beobachten. Seine Gedanken, seine Gesinnungen, seine Winke entschieden das Schicksal vieler Geschlechter; er selbst gab der Gesetzgebung und den kriegerischen Bewegungen die Richtung; was nur irgend Merkwürdiges sich in Moskau begab, das war weder im Senat, noch im Rat des Großfürsten gereift, sondern in den Tiefen seiner Seele. Als Ivan noch den Rat seines gottesfürchtigen Beichtvaters und seines berühmten Freundes Adašev befolgte, erweiterte er die moskovitischen Grenzen mit der Unterjochung der Khanate von Kazan’ und Astrachan. Es wird erwähnt, daß gerade zur Zeit der Eroberung Kazan’s in den Worten und Handlungen des Großfürsten die ersten Zeichen der schauerlichen Veränderung, die in seiner Seele vorging, hervorzutreten begannen: „Im Zorn auf einen Woiwoden sagte er den Bojaren: Jetzt fürchte ich mich vor euch nicht mehr!“ („в гневе на одного воеводу, сказал он Вельможам: теперь уже не боюсь вас!“).662 Diese Veränderung beginnt jedoch hauptsächlich mit einer schweren 661 Barbara Radziwiłłówna (1520–1551); vgl. Alojzy Feliński: Barbara Radziwiłłówna. Tragedia w 5 aktach. Kraków 1820; deutsche Übersetzung von Julius Orion – A. Feliński: Fürstin Radziwill. Berlin 1831; ferner – Zbigniew Kuchowicz: Barabara Radziwiłłówna. Łódź 1976. 662 Karamzin, op. cit., Bd. 9, Kap. I, S. 4.

416

Teil I

Krankheit, die man für tödlich hielt. Schwach und kraftlos daliegend, hatte er Gelegenheit, die Stimmung der Bojaren kennen zu lernen, und die böse Seite der menschlichen Natur auf frischer Tat zu ertappen. Diese Leute, welche keine Worte finden konnten, um ihre Verehrung und Liebe gegen ihn auszudrücken, die ihn Rußlands Erlöser, den verkörperten heiligen Geist nannten, vergaßen nun, da sie ihn dem Tod nahe sahen, sein kleines Kind, und beratschlagten, welchem von den eingekerkerten oder unter Regierungsaufsicht gehaltenen Verwandten des Fürsten der Thron zukommen müßte. Sogar der Beichtvater und der Günstling des Fürsten soll aus Angst vor den inneren Unruhen, welche die lange Minderjährigkeit seines Nachfolgers verursachen könnte, sich zu einem der Thronbewerber hingeneigt haben. Als der Großfürst die früher so zuvorkommenden und demütigen Bojaren zu sich geladen hatte, konnte er auf dem Schmerzenslager sie nicht erbitten, ja sogar nicht einmal durch Flehen bewegen, seinen Sohn zum Herrn von Moskau auszurufen. Bald stand er zur höchsten Verwunderung aller gesund auf. Nicht sogleich kamen jedoch seine grimmigen Gefühle zum Vorschein. Berechnend und tückisch wie immer verstand er sie zu verheimlichen und zu zügeln. Fast schien es, als hätte er vergessen, was er im Verlauf seiner Krankheit gesehen und gehört. Er verteilte Almosen, überhäufte die Hofleute mit neuen Gnaden und ging zuvorkommend mit den Ältesten um. Nur zuweilen konnte ein Wörtchen, wie durch Zufall gesprochen, eine Bemerkung, wie unbewußt ins Gespräch eingeschaltet, zu erkennen geben, daß er nicht den mindesten Umstand vergessen, daß er jeden vollkommen kenne, der sich seinem Willen widersetzt hatte. Allmählich begann er dem Geräusch des Hofes sich zu entziehen, immer mehr und mehr einsam zu leben. Die ersten Vorboten seines Zorns zeigten sich in der Schärfe, mit welcher er schon die Meinungen seines Beichtvaters und Lieblings verwarf. Bald bemerkten beide, daß ihre Anwesenheit am Hof überflüssig war. Der Mönch Sil’vestr kehrte in das Kloster zurück, und Adašev erhielt eine von der Hauptstadt entfernte Gouverneurstelle. Die Entfernung dieser beiden tugendhaften Männer war die Losung für die neue Ordnung der Dinge. Der Neid und die Verleumdung krochen aus ihren Winkeln gegen die Abwesenden hervor; Ränkeschmiede und Schmeichler kamen zum Großfürsten, ihm vorstellend, welcher lächerlichen Bevormundung er bisher unterlegen; man sagte ihm: Kто сии люди, дерзающие предписывать законы Царю великому и мудрому, не только в делах государственных, но и в домашних, семейственных, в самом образе жизни; дерзающие указывать ему, как обходиться с супругою, сколько пить и есть в меру?663 663 Karamzin, op. cit., Kniga III, Bd. 9, Kap. I, S. 4.

31. Vorlesung (21. Mai 1841)

417

Wer sind diese Männer, welche einem großen und weisen Zaren, nicht nur in Staats- sondern auch in häuslichen und Familienangelegenheiten, ja sogar in seiner Lebensart Gesetze zu geben wagen; die sich erkühnen, ihm vorzuschreiben, wie er sich gegen seine Gemahlin zu betragen habe, – ihm zuzumessen, wie viel er trinken und essen wolle?

Der fürstliche Palast gewann sogleich ein anderes Ansehen. Das moskovitische Volk näherte sich immer mit Scheu und Ehrfurcht dem Sitz seiner Herrscher, nie jedoch erweckte in ihm der Kreml so viel Verehrung, als während des 13jährigen gottesfürchtigen Lebens des Ivan. Als man hier stets die frommen Geistlichen, die hochgeachteten Beamten sich versammeln, und nebenbei die Eintracht und das Glück der Familie des Monarchen sah, da wurde dieser Ort fast für heilig gehalten, indem man auf der Schwelle des Palastes Kniebeugungen machte. Jetzt wurde alles anders. Der Hof füllte sich mit einer Menge Possenreißer, Narren, Tänzer und Sänger; Tag und Nacht hörte das Geräusch der Belustigungen und Gastmähler nicht auf. Nebendem wurde die Sache des Mönchs Sil’vester und des edlen Adašev verhandelt; sie wurden beschuldigt, durch Zauberei den Großfürsten beherrscht zu haben. Ivan ließ sie, dem hergebrachten Landesbrauch zuwider, nicht vor ein kompetentes Gericht stellen, sondern sprach selbst das Urteil. Mit diesem Schritte beginnt die Zeit der „opaly“664, die Zeit der Ausmerzungen. Der Erste, welcher als Opfer fiel, war der Bruder des Adašev, und mit ihm zugleich unterlag sein ganzes Haus der Strafe, was bisher weder in der Rus’ noch in Moskau gesehen worden war. Die durch Schönheit und Tugend berühmte Maria Adašev, welche ins Gefängnis geworfen wurde, mußte vor ihrem qualvollen Ende noch die Hinrichtung aller ihrer Kinder mit ansehen. Ebenso fielen die sämtlichen Verwandten und Freunde dieses Hauses unter dem Beil. Nach Ausrottung der Adaševs machte sich Ivan über andere Herren und Bojaren her. Dmitrij Ovčinin-Telepnev-Obolenskij665 wurde von ihm selbst erstochen. Der alte Fürst Michajlo Repnin666 verlor darum sein Leben, 664 „oпáла“ (opala), Plural „oпáлы“ (opaly), den auch Karamzin (op. cit., Bd. 6–9) verwendet, bedeutet unter Ivan III. und Ivan IV. den Zorn des Zaren gegenüber den in seine Ungnade geratenen Personen, die verfolgt, eingekerkert, gemartet und grausam getötet werden: Verfolgung, Marter, Ausmerzung, blutiger Terror. Zur wörtlichen Bedeutung von „opala“ vgl. Max Vasmer: Russisches etymologisches Wörterbuch. Heidelberg 1979, Bd. 2. 665 Dmitrij Ovčinin-Telepnev-Obolenskij (getötet 1564). 666 Vgl. Karamzin, op. cit., Kniga III, Bd. 9, Kap. I, S. 4–5: „Der Bojar, Fürst Michail Repnin, ward ebenfalls das Opfer einer hochherzigen Kühnheit, als er im Palast ein unanständiges Narrenspiel sah, wobei der Zar, trunken von starkem Met, mit seinen Lieblingen in Masken tanzte, fing dieser Herr vor Kummer an zu weinen. Johann wollte ihm eine Maske vorbinden; Repnin riß sie weg, trat sie mit Füssen und sprach: ’Geziemt es sich für den Zaren, einen Possenreißer abzugeben? Ich wenigstens, als Bojar und Mitglied des Reichsrats kann nicht Torheiten treiben.’ Der Zar jagte ihn hinaus und ließ ihn einige

418

Teil I

weil er auf dem Ball nicht tanzen wollte, und es für sündhaft hielt, eine Maske zu tragen. Die angesehensten Familien kamen fast alle auf eine grausame Art um.667 Viele flüchteten damals aus dem Land und suchten im Gebiet Polens Schutz. So retteten sich Petr Andreevič Kurakin668 und Michail Ivanovič Vorotynskij.669 Letzterer war das Haupt der litauischen Partei. Denn lange bekämpften sich in Moskau zwei Hauptparteien. Die eine, genannt die litauische, wollte Ordnung und Gesetze im Reich befestigen, dieses aber nur durch sanfte Mittel, die andere, geleitet von den Šujskijs, empfahl das Schreckenssystem (Terrorismus). Aber nach der eben erwähnten Veränderung und dem Falle der Šujskijs verschwand schon jede Spur der Parteien; nur einzelne Personen trachteten noch in selbstsüchtigen Absichten die Gunst des Monarchen zu erschleichen. Unter den Flüchtlingen war der Fürst Andrej Michajlovič Kurbskij670 der ausgezeichnetste, berühmt in der moskovitischen Geschichte, ein Krieger, gekrönt mit dem Lorbeer vieler Schlachten, noch in frischem Andenken bei der Einnahme Kazan’s mit Ruhm und Wunden bedeckt. Dieser Mann, obgleich dem Großfürsten aufrichtig ergeben und für das Wohl des Reichs beseelt, mußte doch Frau und Kind verlassen und sein Haupt unter dem Schutz des polnischen Königs bergen. Es schien ihm jedoch, die plötzlich entstandene Grausamkeit des Großfürsten rühre nur von irgendeiner augenblicklichen Aufregung her; er hatte Hoffnung, ihn wieder zu sich selber zu bringen, und beschloß, ihm ein Ermahnungsschreiben zu übersenden. Es war jedoch schwer, einen Boten zu finden, der solch einen Brief einhändigen wollte. Ein treuer Diener [Vasilij Šibanov] fand sich bereit; nachdem er in Moskau angelangt, drängte er sich in das Schloß und Ivan inmitten der Hofleute erblickend, gab er ihm den Brief mit der Meldung, von wem er komme. Ivan konnte nicht vertragen, daß jemand in seiner Gegenwart den Namen Kurbskij erwähne, er näherte sich dem Diener und stieß ihm seinen Stab [жезл] in den Fuß. Dieser Stock von Elfenbein, am unteren Ende scharf beschlagen, ist geschichtlich, und wird bis auf den heutigen Tag aufbewahrt. Der Großfürst hatte die Gewohnheit, sich mit demselben auf die Füße der Bojaren und Herren, mit denen er sprach, zu stützen. Auf diese Weise nagelte er häufig das unglückliche

667 668 669 670

Tage nachher ermorden, als er im Gebet begriffen, im heiligen Tempel stand; das Blut des frommen Mannes rötete den Fußboden der Kirche.“ Geschichte des Russischen Reiches von Karamsin. Achter Band. Riga 1826, S. 17. Vgl. das Namensverzeichnis der Terror-Opfer (Sinodik opal’nych carja Ivana Groznogo) – in: Ruslan G. Skrynnikov: Ivan Groznyj. Moskva 2001 (priloženie). Petr Andreevič Kurakin (gestorben 1575). Michail Ivanovič Vorotynskij (um 1510–1573). Andrej Michajlovič Kurbskij (1528–1583).

31. Vorlesung (21. Mai 1841)

419

Opfer an den Fußboden und sah den Bewegungen des Gesichts zu, wehe dem aber, der das geringste Zeichen des Schmerzes blicken ließ. Kurbskijs Diener ertrug dies mutig. Ivan ihn so festhaltend, las den ganzen Brief laut ab. Hier ist ein kleines Bruchstück desselben: Царю, некогда светлому, от Бога прославленному – ныне же, по грехам нашим, омраченному адскою злобою в сердце, прокаженному в совести, тирану беспримерному между самыми неверными владыками земли. Внимай! […] Вымышляя клевету, ты верных называешь изменниками, Христиан чародеями […]. Разве ты сам бессмертен? Разве нет Бога и правосудия Вышнего для Царя? […]. Мы расстались с тобою навеки: не увидишь лица моего до дни Суда Страшного. Но слезы невинных жертв готовят казнь мучителю. Бойся и мертвых: убитые тобою живы для Всевышнего: они у престола Его требуют мести! Не спасут тебя воинства; не сделают бессмертным ласкатели, Бояре недостойные, товарищи пиров и неги, губители души твоей, которые приносят тебе детей своих в жертву!671 An den einst herrlichen, durch Gott hochberühmten Zaren – jetzt aber, für unsere Sünden von höllischer Bosheit im Herzen verfinsterten, im Gewissen aussätzigen Tyrannen, dessen Gleichen selbst unter den Herrschern der Ungläubigen. Vernimm! […] Verleumdungen erdichtend, nennst du die Treuen Verräter, Christen Zauberer […]. Bist du denn selbst unsterblich? Gibt es den keinen Gott und keinen höchsten Richter für den Zaren? […]. Wir sind auf ewig geschieden: Du wirst mein Gesicht nicht wieder sehen, bis zum Tag des Jüngsten Gerichts. Allein die Tränen der unschuldigen Opfer bereiten dem Tyrannen seine Strafe. Fürchte auch die Toten: Die von dir Erschlagenen stehen lebend vor dem allerhöchsten; an seinem Thron fordern sie Rache. Deine Kriegshaufen retten dich nicht; deine Schmeichler, die unwürdigen Bojaren, die Gesellen deiner Schmauserein und deiner Wollust, die Verderber deiner Seele, die dir ihre Kinder zum Opfer bringen, machen dich nicht unsterblich!

Der Großfürst war zu seiner Zeit ein Literat, und machte Ansprüche auf Beredsamkeit und einen leichten Stil; sogleich setzte er sich zur Antwort hin, und 671 „Pervoe poslanie Kurbskogo Ivany Groznomu“ (Der erste Brief Kurbskijs an Ivan Groznyj) – zitiert nach Karamzin, op. cit., Bd. 9, Kap. 2, S. 34–35. Karamzin zitiert aus älteren Quellen, wobei er in der Fußnote 108 (S.  35) vermerkt: „Я не прибавил ничего, но сократиль, выражая смысл, удерживая самые обороты и важнейшия слова подлинника.“ (Ich habe nichts hinzugefügt, allerdings gekürzt, um den Sinn auszudrücken und um die Wendungen und die wichtigsten Wörter aus der Quelle beizubehalten). Es existieren zwei Redaktionen dieser Briefe; vgl. die textkritische und kommentierte Ausgabe: Perepiska Ivana Groznogo s Andreem Kurbskim. Hrsg. Ja.S. Lur’e i Ju.D. Rykov. Leningrad 1979, S. 8–12; vgl. auch – Der Briefwechsel Iwans des Schrecklichen mit dem Fürsten Kurbskij (1564–1579). Eingeleitet und aus dem Altrussischen übertragen unter Mitwirkung von Karl H. Meyer von Karl Stählin. Leipzig 1921.

420

Teil I

trat sogar mit Kurbskij in einen steten Briefwechsel. Seine Briefe gesammelt, machen einen dicken Band aus und sind eine sehr interessante Hinterlassenschaft, ebenso wie die Briefe und Denkwürdigkeiten Kurbskijs. Hier eine Probe vom Stil Ivans. Во имя Бога всемогущего (пишет Иоанн), Того, Кем живем и движемся, Кем Цари Царствуют и Сильные глаголют, смиренный Христианский ответ бывшему Российскому Боярину, нашему советнику и Воеводе, Князю Андрею Михайловичу Курбскому […]. Почто, несчастный, губишь свою душу изменою, спасая бренное тело бегством? Если ты праведен и добродетелен, то для чего же не хотел умереть от меня, строптивого Владыки, и наследовать венец Мученика? Что жизнь, что богатство и слава мира сего? Суета и тень: блажен, кто смертию приобретает душевное спасение! Устыдися раба своего, Шибанова: он сохранил благочестие пред Царем и народом; дав господину обет верности, не изменил ему при вратах смерти. […] Казним одних изменников – и где же щадят их? Константин Великий не пощадил и сына своего, а предок ваш, святый Князь Феодор Ростиславич, сколько убил Христиан в Смоленске? Много опал, горестных для моего сердца; но еще более измен гнусных, везде и всем известных. […] Имею нужду в милости Божией, Пречистыя Девы Марии и Святых Угодников: наставления человеческого не требую. […] Угрожаешь мне судом Христовым на том свете: а разве в сем мире нет власти Божией? Вот ересь Манихейская! Вы думаете, что Господь Царствует только на небесах, Диавол во аде, на земле же властвуют люди: нет, нет! везде Господня Держава, и в сей и в будущей жизни. – Ты пишешь, что я не узрю здесь лица твоего Ефиопского: горе мне! Какое бедствие! – Престол Всевышнего окружаешь ты убиенными мною: вот новая ересь! Никто, по слову Апостола, не может видеть Бога.672 Im Namen Gottes des Allmächtigen (schreibt Ivan), dessen, durch den wir leben und uns bewegen, dessen, durch den die Könige herrschen und die Gewaltigen reden, demütige, christliche Antwort, dem ehemaligen, russischen Bojaren, unserem Rat und Woiwoden, Fürsten Andrej Michajlovič Kurbskij […]. Warum, Unglücklicher, stürzt du deine Seele ins Verderben, indem du deinen vergänglichen Leib durch die Flucht rettest? Wenn du rechtschaffen und tugenhaft bist, warum willst du nicht von mir, dem störrischen Herrscher den Tod leiden und dir die Märtyrerkrone verdienen? Was ist Leben, was Reichtum und Ruhm dieser Welt? Eitelkeit und Schatten; selig ist, wer durch den Tod das Heil der Seele erwirbt! Laß dich durch deinen Knecht, Šibanov, beschämen: er hat seine Frömmigkeit vor dem Zaren und dem Volk bewährt; da er seienm Herren Treue gelobt hatte, verriet er ihn nicht an den 672 Zitiert nach Karamzin, op. cit., Bd. 9, Kap. 2, S. 36–38; auch hier unterscheidet sich der Text von den heute existierenden textkritischen Ausgaben (vgl. Perepiska Ivana Groznogo s Andreem Kurbskim, op. cit., S. 214–224). Über Stilfragen vgl. auch Dmitrij S. Lichačev: Stil’ proizvedenij Groznogo i stil’ proizvedenij Kurbskogo. (Zar’ i „gosudarev izmennik“). In: Perepiska Ivana Groznogo s Andreem Kurbskim, op. cit., S. 183–213.

31. Vorlesung (21. Mai 1841)

421

Pforten des Todes. […] Wir strafen nur Verräter – und wo verschont man sie? Konstantin der Große schonte ja seines eigenen Sohnes nicht; euer Vorfahr aber, der heilige Fürst Fedor Rostislavič, wieviele Christen erschlug er in Smolensk? Viel sind der mein Herz betrübenden Achtserklärungen, aber mehr noch der abscheulichen, überall und allen bekannten Verrätereien. […] Der Gnade Gottes, der heiligen Jungfrau Maria und der heiligen Gerechten bedarf ich: menschliche Zurechtweisungen verlange ich nicht. […] Du drohst mir mit dem Gericht Christi in jener Welt; ist denn in dieser Welt nicht auch Gottes Macht? Das ist eine Ketzerei der Manichäer! Ihr meint, daß Gott nur im Himmel, der Teufel in der Hölle regiere, auf der Erde aber die Menschen herrschen, nein! nein! Überall ist das Reich des Herren, in diesem Leben sowohl, als in jenem. – Du schreibst, daß ich hier dein äthiopisches Gesicht nicht wieder erblicken werde! Wehe mir! Was für ein Unglück. – Den Thron des Allerhöchsten umgibst du mit meinen Erschlagenen. Das ist eine neue Ketzerei! Niemand kann – nach den Worten des Apostels – Gott sehen.

Und hier zitiert er sogleich die Worte des Heiligen Paulus aus einem Brief.673 In dem ganzen Schreiben herrscht, wie wir sehen, ein gleichmäßiger Ton der Ironie, fortwährend bricht die gedämpfte Galle hindurch. In literarischer Hinsicht kann sogar gesagt werden, der Fürst Ivan habe zuerst das Muster gegeben, sich ironisch auszudrücken, dieser Stil mangelt sonst gänzlich in der slavischen Literatur. Während der ersten Säuberungen fielen über 300 Bojaren, Häupter von den Verwandten oder Freunden Adaševs, des Beichtvaters Sil’vester und des Fürsten Kurbskij, als der Verschwörung und Verabredung mit Polen verdächtig. Ivan aber hörte nicht auf zu klagen, daß ihn alles verrate; daß er Keinen habe, der ihm geneigt wäre, und daß niemand seine Feinde ihm ausliefern wolle. Der ganze Hof bebte vor Entsetzen; man getraute sich nicht mehr Anzeigen zu machen, denn es war schwer zu erraten, wen er angeklagt sehen wollte. Im Grunde aber bezweckte er die Vernichtung seiner ganzen Umgebung. Während solcher Klagen faßte der Großfürst plötzlich den sonderbaren Vorsatz, die Regierung niederzulegen und die Hauptstadt zu verlassen. Er befahl, sein Gepäck zu laden, den Hofleuten und Kriegsobern sich reisefertig zu halten; er ging aus Moskau fort und ließ sich an einem menschenleeren Ort in der Waldwüste674 nieder. Von dort erst benachrichtigte er die Metropoliten und 673 Vgl. Paulus – 1. Korintherbrief, Kap. 6, 16: „Ich gebiete dir vor Gott, […] daß du das Gebot unbefleckt, unsträflich bewahrst bis zur Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus welche zu seiner Zeit zeigen wird der selige und alleinige Machthaber, der König der Könige und Herr der Herren, der allein Unsterblichkeit hat, der ein unzugängliches Licht bewohnt, den keiner der Menschen gesehen hat noch sehen kann […].“ 674 Aleksandrovskaja sloboda (auch – Aleksandrovskij kreml’; heute Aleksandrov, etwa 111 Kilometer nord-östlich von Moskau entfernt), als Fürstenhof errichtet vom Fürsten Vasilij III.; von 1564–1581 Residenz Ivans des Schrecklichen.

422

Teil I

die Bojaren, daß sie ihn aneckeln; weil sie ihn hassen und gegen ihn Ränke schmieden, wollte er nichts mehr mit ihnen zu tun haben; er gäbe ihnen das Reich zurück, und sie möchten sich selber raten. Auf diese Nachricht entsteht ein allgemeiner Klageruf, der Metropolit und die Bojaren verzweifeln, das Volk stöhnt vor Traurigkeit. Alle schreien, Moskau sei verloren, denn es besitze keinen Herrn mehr; man müsse den Fürsten anflehen, Erbarmen mit seinem Volke zu haben, daß er zurückkehren und wieder die Last der Regierung, die Verteidigung der Kirche gegen die Ungläubigen übernehmen möge. Die Ältesten machen sich also in feierlichem Auge auf den Weg, sie werfen sich ihm zu Füßen, weinen, beschwören und flehen ihn an, indem sie rufen: „Пусть Царь казнит своих лиходеев: в животе и в смерти воля его, но Царство да не останется без Главы!“ (Mag der Zar die gegen ihn Übelgesinnten richten, er hat Macht über Leben und Tod; aber möge das Reich nicht ohne Haupt bleiben!).675 Diese sonderbare Anhänglichkeit läßt sich durch keine sittliche Ursache erklären. Die russischen Historiographen schreiben sie den religiösen Vorstellungen zu; sie meinen, daß das Volk, in seinen Monarchen die Gesalbten des Herrn sehend, sich von ihnen nicht losreißen konnte. Ungerecht ist es jedoch, die russische Kirche zu beschuldigen, daß sie dem Volk diese Gefühle eingeflößt. Wir werden sogleich sehen, daß die Geistlichkeit des griechischen Ritus, wenngleich erniedrigt und gänzlich von der weltlichen Macht unterjocht, sich dennoch gegen die Tyrannei erhob und einen Widerstand zum Schutz des Volks aufzustellen sich bemühte. Diese instinktmäßige tierische Zuneigung, gänzlich ohne Zusammenhang mit irgend einem von den Europäern gekannten Gefühl, ging auf die Moskoviter von den Mongolen über, die sich um ihre Führer scharen, wie eine Tabune wilder Rosse um den Führer-Hengst. Bekanntlich folgt diesem „Patriarchen“ blindlings die ganze Horde, und sobald er fällt, weiß sie nicht, wie und wohin sich zu wenden, und zerstreut sich bewußtlos. Gerade während der Regierung Ivans bei der Einnahme Kazan’s sehen wir ein schlagendes Beispiel von dieser mongolischen Art und Weise; 5000 in der Hauptstadt belagerte Tataren schickten, da sie schon jede Hoffnung die Stadt zu halten vorloren, einen Herold mit dem Verlangen ab, nur das Leben ihres Herrn in Sicherheit zu stellen, für sich begehrten sie nichts. Sie ließen dem Anführer der moskovitischen Truppen sagen:

675 Karamzin, op. cit., Bd. 9, Kap. 2, S. 44.

31. Vorlesung (21. Mai 1841)

423

доколе у нас было Царство, мы умирали за Царя и отечество. Теперь Казань ваша: отдаем вам и Царя, живого, неуязвленного: ведите его к Иоанну, а мы идем на широкое поле испить с вами последнюю чашу.676 Solange wir ein Reich besaßen, starben wir für den Khan und das Vaterland. Jetzt gehört Kazan’ euch: wir übergeben euch auch den Khan lebend und unversehrt, führen sie ihn zu Ivan, und wir gehen ins weite Feld, um mit euch den Kelch des Todes zu trinken.

Als man nun jenen einzigen Gegenstand ihrer Besorgnis in Empfang nahm, gingen sie auch in die Ebene und machten sich alle gegenseitig nieder. Dieses mongolische Gefühl floß allmählich in das moskovitische Volk der Rus’ über, welches in sich kein genügend kräftiges Element besaß, diesem Einfluß zu widerstehen, und viele Jahre hindurch unterm Joch der Mongolen immer mehr von der öffentlichen Sache zurückgedrängt, endlich jeden Überrest der Selbstständigkeit verloren hatte und nicht mehr begriff, wie man ohne einen alleinherrschenden Gebieter bestehen und das Reich erhalten könne. Ivan also, mit der Stimme der Verzweiflung aufgefordert, ließ sich endlich erbitten und versprach nach Moskau zurückzukehren; als wäre ihm aber noch die Anerkennung der Gewalt nötig, setzte er als Bedingung fest, daß von nun an ihm das Recht zustehe, die Untertanen zu bestrafen, mit ihrem Leben und Vermögen zu schalten; er verbot der Geistlichkeit, für irgend wen sich zu verwenden und zu bitten. Man tat dem Verlangen des Großfürsten Genüge, und auf diese Weise erhielt der Despotismus schon seine legale Grundlage, er wurde durch die Volksrepräsentanten befestigt. Diese Übereinkunft erinnert an das Dekret des niederträchtig gewordenen römischen Senats, welcher ein gleiches Recht den Imperatoren gab.677 Als nun Ivan die ganze moskovitische Rus’ in seiner Hand hatte, zog er von seiner Leibwache umringt, in die Hauptstadt ein und zeigte sich dem Volk, das ihn kaum erkannte; so war er verändert. Er hatte einen kahlen Kopf bekommen, der Bart ging ihm aus, die Augen waren eingesunken, kurz das ganze Gesicht bot einen schrecklichen Anblick dar. Sogleich begann die zweite Phase der Verfolgungen und Hinrichtungen. Man ergriff allenthalben die ausgezeichnetsten Leute und brachte sie um – den Woiwoden Petr Petrovič Golovin, die Fürsten Petr Chovrin, Ivan Suchoj-Kašin, Petr Ivanovič Gorenskij; andere 676 Karamzin, op. cit., Bd. 8, Kap. 4, S. 111. 677 Vgl. dazu – Tacitus: Annalen, der Dekrete (patrum consulta) des römischen Senats kritisiert, die u.a. die Verbrechen der Cäsaren (Nero) sanktionieren; Tacitus: Annalen. Lateinisch-Deutsch. Hrsg. von Erich Heller. Mit einer Einführung von Manfred Fuhrmann. 3. Auflage. Düsseldorf und Zürich 1997 (vgl. 12. Buch und 14. Buch).

424

Teil I

wurden auf den Pfahl gespießt.678 Unterdessen verkündete der Großfürst eine neue, unerhörte Einrichtung des Landes. Er teilte das ganze Reich in zwei Teile („Опричнина“ und „Земщина“)679. Für sich erwählte er etliche zehn Städte um Moskau herum, und erklärte nur diese Abteilung für sein eigen zu betrachten, nur in dieser herrschen zu wollen, von dem Übrigen wolle er nichts wissen, und gäbe es den Bojaren preis. Als nun aber die Bojaren das gefährliche Geschenk ausschlugen, berief er einen in Kazan’ gefangen genommenen und später getauften tatarischen Fürsten, ließ ihn krönen und machte ihn 1575 zum Zaren von Moskau680; er selbst aber ging wieder in seine Residenz in den Wäldern, Aleksandrovskaja sloboda genannt. Der unglückliche Zar bebte auf seinem Thron, die Bojaren wußten nicht mehr, was sie tun sollten, um den Zorn nicht auf sich zu laden; der Großfürst aber ruhte unter Lustbarkeiten aus, und bildete jene in der moskovitischen Geschichte denkwürdige Legion der Palastgarde, der „Opričniki“, auch „Jäger“ (lovcy) genannt, weil das Volk das zu jagende Wild sein sollte. Dieser grausige Haufen, anfänglich aus 1000 Mann bestehend, wuchs nachher zu 6000 an. Ivan befahl in dem für sich behaltenem Landesteil das Privateigentum des Adels und der Städter wegzunehmen, verschenkte die Grundstücke und Häuser unter die Legionisten („Opričniki“), verbot ihnen aufs Strengste, Umgang mit den Einwohnern681 zu haben, im Gegenteil sollten sie selbige hassen und verachten. Unmöglich ist es, die Drangsale zu schildern, welche die Städte erfuhren, die für diese grausame fürstliche Garde bestimmt waren. 12000 von der Bevölkerung Moskaus verschiedenen Standes irrten verjagt im harten Winter umher und starben Hungers. Nachdem die „Opričniki“ einige Quartiere der Stadt in Besitz genommen, trieben sie alles ohne Barmherzigkeit heraus. Ivan gab

678 Vgl. dazu Karamzin, op. cit., Bd. 9, Kap. II, S. 48. 679 „Opričnina“ (Außerwähltes, Abgesondertes), Teil des Staatsterritoriums Ivans IV.; „Zemščina“ (Landschaftliches), Teil des Landes, das Ivan IV. aus seinem Stattsterritorium ausschloß. Vgl. Karamzin, op. cit., Bd. 9, Kap. II, S. 47; vgl. den Ukaz-Text über die Gründung der Opričnina (1565) – „Učreždenie Opričniny“, in: Polnoe sobranie ruskich letopisej. Sanktpeterburg 1916, Bd. 13, S. 391–396; ferner auch die Aufzeichnungen von Heinrich von Staden (1545 – nach 1579), der als deutscher Abenteurer und Diplomat Angehöriger der Opričnina war – Heinrich von Staden: Von Westfalen nach Moskau. Mein Dienst in der Schreckenstruppe des Zaren. Hrsg. Peter Albert. Hamburg 1989; Ruslan G. Skrynnikow: Iwan der Schreckliche und seine Zeit. München 1992, II. Kapitel: Die Zeit des Terrors. 680 Khan Sain-Bulat, der nach der Gefangennahme und Taufe Simeon Bekbulatovič hieß. Ivan IV. ernannte ihn zum „Velikij Knjaz’ vseja Rusi“; er regierte etwa ein Jahr. 681 Gemeint sind die „zemskie“, d.h. alle, die nicht in die „opričnina“ eingeschrieben waren (Karamzin, op. cit., Bd. 9, Kap. II, S. 49).

31. Vorlesung (21. Mai 1841)

425

ihnen einen Hundskopf und Besen zum Sinnbild682, womit er andeuten wollte, daß sie seine Feinde zu beißen und auszufegen hätten. Selbst der Fürst nahm es an und befahl es als Zeichen vor sich her zu tragen. Anfänglich glaubte das Volk, die Verfolgung würde sich auf hohe Herren und den Adel beschränken, bald jedoch ließ sich auch ihm das Unglück fühlen. Die entvölkerten Städtchen und Dörfer verzehrte das Feuer, Moskaus Umgegend verwandelte sich in eine wirkliche Wüste. Während man dieses Werk der Vernichtung vollführte, saß der Großfürst in seinem von Pallisaden umgebenem Schlupfwinkel Aleksandrovskaja sloboda, wo niemand hineingelassen wurde, von wo aber fortwährend Blutbefehle ausgingen. Plötzlich fährt ihm ein sonderbarer Einfall durch den Kopf. Er beschließt, gleichsam um seine Sünden abzubüßen, diesen Ort in ein Kloster zu verwandeln, macht sich selbst zum Abt, wählt 300 der berüchtigtsten Schurken unter seinen Mordknechten, kleidet sie in Sutanen und führt die Mönchsregeln nach seiner Laune ein. Nach der Beschreibung der Zeitgenossen verflossen dieser sauberen Gesellschaft die Tage in folgender Weise: Um 3 Uhr morgens ging der Großfürst mit den Kindern und dem ganzen Hof zur Morgenandacht zu läuten. Er läutete eine ganze Stunde. Nachher folgte die Andacht. Ivan selbst stimmte die Psalmen an, und alle Mönche mußten 3–4 Stunden ihm nachsingen. Dies war eine saure Pflicht für dies Gesindel. Vom Schlaf übermannt, fielen sie zur Erde, und nach einiger Zeit tönte nur die einzige Stimme des Großfürsten ohne Unterlaß bis ans Ende. Aus der Kirche begab man sich zum Frühstück. Der Großfürst stand dort noch lange bei Tische und sprach weitläufig über die Eitelkeiten der Welt, über die so vergänglichen Augenblicke des Lebens, und über die Wonne der Enthaltsamkeit; wonach sich alle setzten und entsetzlich fraßen und soffen. Öfters raffte sich Ivan plötzlich vom Tisch auf und lief ins Gefängnis, die befohlenen Martern anzusehen. Die Chroniker sagen, daß namentlich, wenn er sich nicht ganz gesund fühlte und keinen Appetit hatte, er sich dieses Mittels bediente, um die Galle zu erregen und die Verdauung zu erleichtern, wie er denn auch zurückgekehrt sich von Neuem setzte und mit Appetit aß. Nach dem Essen begann der zweite Gottesdienst, während dieses verrichtete er seine gewöhnlichen Beschäftigungen, sendete Boten ab mit Befehlen, und man hat sogar bemerkt, daß er die blutigsten Befehle in der Kirche unterschrieb. Gegen 9 Uhr des Abends gebot die Glocke allgemeines Stillschweigen, und die Klosterbrüder gingen zur Ruhe. Der Großfürst aber konnte nicht schlafen, er ging die ganze Nacht in seiner Kammer umher, man hörte ihn zuweilen mit sich selbst reden und schreien. 682 Karamzin, op. cit., Bd. 9, Kap. II, S. 50: „они всегда ездили с собачими головами и с метлами […]“.

426

Teil I

Hin und wieder rief er auch singende Dichter, Fabelerzähler, blinde Greise zu sich, damit sie ihn einschläferten. Unter Ivans Speichelleckern gab es viele Deutsche. Dies ist das erste Mal, daß die Deutschen mit ihrer Bedeutsamkeit im moskovitischen Reiche auftreten. Sie stammten aus den in Livland eroberten deutschen Städten, die, mit Sturm genommen, bis auf den Grund niedergerissen wurden; wenn sich auch einige durch Kapitulationen ergaben, so fand die Politik der Fürsten doch früher oder später immer Vorwände sie zu vernichten. Die Überreste der Bevölkerung trieb man tief ins Innere des Reichs und verpflanzte sie in verschiedene Gegenden. Diese Gefangenen klagten jedoch, wie es scheint, nicht sehr über ihr Schicksal, gewöhnten sich bald an das neue Vaterland, liebten den Großfürsten und scharten sich um seine Person. Ivan hatte deutsche Theologen bei sich, diskutierte mit ihnen die Dogmen, entdeckte ihnen frei seine Gedanken, vertraute ihnen sogar die Art und Weise, wie er das Land wieder einrichten wolle; er sagte, daß er zu allererst die Bojaren, deren es an 400 000 gab, ausrotten, hernach die Städter vornehmen und zuletzt auch das gemeine Volk ausmerzen würde, dann aber wollte er machen, was ihm gut schiene. Die wegen des Schicksals des Volkes gleichgültigen Deutschen, statt den Fürsten von seinem Vorhaben abzulenken, schmeichelten im Gegenteil seiner grausamen Neigung. Ihnen verdanken wir die Kunde von den Einzelheiten des Lebens dieses Monarchen, und wohl kann man annehmen, daß sie treulich beschrieben, denn es bewegte sie kein Unwille gegen den freigebigen Herrn, der sie streichelte und mit Geschenken überhäufte.683 Wie oft sich in der Hauptstadt ein ausgezeichneter Fremder zeigte, besonders wenn die Gesandschaft vom polnischen König oder vom Kaiser anlangte, änderte Ivan augenblicklich sein Verfahren, und trachtete alles von der glänzenden Seite her darzustellen. Den Einwohnern Moskaus befahl er die Sonntagskleider anzulegen, sich in Haufen an den Orten zu versammeln, wo er durchfahren würde, sprach gnädiglich die Massen an, und vermied aufs Sorgfältigste, in Gegenwart der Fremden irgendjemandem ein unangenehmes 683 Gemeint sind u.a. die Livländer Johann von Taube und Eilert Kruse, die nach der Schlacht bei Ermes am 2.8. 1560 in russische Gefangenschaft gerieten und 1567 in russische Dienste traten. Vgl. „Zar’ Iwan der Grausame. Sendschreiben an Gotthard Kettler, Herzog zu Kurland und Semgallen, von Johann Taube und Elert Kruse“. 1572. In: Beiträge zur Kenntnis Russlands und seiner Geschichte, herausgegeben von Gustaw Ewers und Moritz von Engelhardt. Dorpat 1816. Bd. I, S.  185–238; vgl. auch Friedrich von Adelung: Kritischliterärische Übersicht der Reisenden in Russland bis 1700, deren Berichte bekannt sind. St. Petersburg 1846. Bd. I, S. 260–270; vgl auch – Lexikon der deutschsprachigen Literatur des Baltikums und St. Petersburgs: Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. Carola L. Gottzmann, Petra Hörner. Berlin-New York 2007.

31. Vorlesung (21. Mai 1841)

427

Wort zu sagen. Die von ihm zuvorkommend und artig behandelten Gesandten meinten in der Tat, es sei Verläumdung, was von ihm außerhalb der Grenzen gesprochen wurde, sie stellten ihn ihren Höfen als einen sehr gut erzogenen Monarchen dar, der schön spräche, viel Aufklärung besäße, und allenthalben, wo er sich hinwende, die Beweise der Liebe seiner Untertanen empfinge. Unterdessen herrschte Bangigkeit und Sorge im ganzen Land. Man sah kein Ende des furchtbaren Druckes, und keiner war dreist genug, den Ruf des Schmerzes hören zu lassen. Doch ließ sich, was nur noch Christliches in der Geistlichkeit und Edles in den Gefühlen des Volks war, endlich durch die Stimme eines Einsiedlermönchs vernehmen. Der Großfürst begann, man weiß nicht weshalb, einen gottesfürchtigen Geistlichen für das Erzbistum Moskau zu suchen. Als er nun gehört, daß auf einer kleinen Insel an den Ufern des weißen Meeres ein sehr andächtiger, gelehrter Mönch mit Namen Filipp684 lebte, befahl er ihn herzubringen, empfing ihn mit großen Ehren, setzte ihn an seinen Tisch, entfaltete vor ihm seine Pläne der Bildung und Beglückung des Reichs, erklärte, daß er ihn zu seinem Ratgeber haben und zum moskovitischen Metropoliten machen wollte. Der arme Mönch suchte sich „von diesen Würden loszureden“ und bat mit Tränen in den Augen um die Freiheit, nach seiner stillen Zuflucht zurückkehren zu dürfen; da aber dies alles umsonst war, stellte er seinerseits als Bedingung die Aufhebung der unerhörten Einrichtungen, und die Auflösung jener grausamen Legion der Strelitzen. Повинуюся твоей воле; но умири же совесть мою: да не будет опричнины! да будет только единая Россия! ибо всякое разделенное Царство, по глаголу Всевышнего, запустеет. Не могу благословлять тебя искренно, видя скорбь отечества.685 Ich unterwerfe mich deinem Willen, allein beruhige mein Gewissen, laß keine Opričnina mehr sein! Es sei nur ein einiziges Russland! Denn jedes geteilte Land verödet, nach dem Wort des Höchsten. Ich kann dich nicht aufrichtig segnen, indem ich die Bekümmernis des Vaterlandes sehe.

Diese Sprache gefiel Ivan nicht; man sagt, daß sich hierauf sein Gesicht furchtbar verfinstert habe, obgleich er seinen Ingrimm zu verbergen suchte. Im Inneren Rache brütend, entließ er Filipp sehr zuvorkommend, mit dem Befehle, ihn in Moskau zum Metropoliten zu weihen. 684 Filipp II [Fedor Stepanovič Kolyčev] (1507–1569); vgl. I.A.  Lobakova: Žitie metropolita Filippa. Issledovanija i materialy. Sanktpeterburg 2006. 685 Karamzin, op. cit., Bd. 9, Kap. 2, S. 55.

428

Teil I

Sogleich begann die dritte Epoche des Terrors. Die Verfolgung betraf zuerst die Verwandten und Freunde des neuen Metropoliten. Auch blieb keiner ungestraft, der eine Freude über dessen Ankunft gezeigt hatte. Schwer ist es, die Opfer und die Arten der ihnen zuerkannten Qualen aufzuzählen. Mehr als zwanzig Leute wurden alltäglich gemordet, in Stücke zerrissen, ersäuft, verbrannt, ihnen Eisen hinter die Fingernägel getrieben u.ä. Eines Tages trat der Großfürst unversehens im Gefolge seiner Henkershelfer, in Sutanen gekleidet und Mönchskappen auf dem Kopf, in die Kathedrale. Der Metropolit, dem Brauch der griechischen Kirche gemäß verpflichtet, dem Monarchen entgegenzugehen und ihm den Segen zu geben, rührte sich nicht von der Stelle; als man ihm nun zurief, daß der Großfürst seiner harre, stellte er sich am Altare hin, erhob die Hand und sprach, indem er Ivan fest ins Auge sah: В сем виде, в сем одеянии странном не узнаю Царя Православного; не узнаю и в делах Царства… О Государь! Мы здесь приносим жертвы Богу, а за олтарем льется невинная кровь Христианская. Отколе солнце сияет на небе, не видано, не слыхано, чтобы Цари благочестивые возмущали собственную Державу столь ужасно! В самых неверных, языческих Царствах есть закон и правда, есть милосердие к людям – а в России нет их! Достояние и жизнь граждан не имеют защиты. Везде грабежи, везде убийства и совершаются именем Царским! Ты высок на троне; но есть Всевышний, Судия наш и твой. Как предстанешь на суд Его? обагренный кровию невинных, оглушаемый воплем их муки? ибо самые камни под ногами твоими вопиют о мести!.. Государь! вещаю яко пастырь душ. Боюся Господа единого!686 In dieser Gestalt, in diesem fremden Aufzug erkenne ich den rechtgläubigen Zaren nicht; ich erkenne ihn nicht auch in den Angelegenheiten des Reiches … O Herr! Wir bringen hier Gott unsere Opfer, und jenseits des Altars fließt unschuldiges Christenblut. Seitdem die Sonne am Himmel glänzt, ist es nicht gesehen, noch gehört worden, daß gottesfürchtige Zaren ihre eigenen Staaten so furchtbar zerrütteln! Selbst in ungläubigen, heidnischen Reichen gibt es Gesetze und Rechte, gibt es Barmherzigkeit gegen die Menschen – aber in Russland nicht! Vermögen und Leben der Bürger sind ohne Schutz. Überall Raub! Überall Mord! Und im Namen des Zaren wird es verübt! Hoch stehst du auf dem Thron; aber es ist ein Höchster, dein und unser Richter. Wie wirst du vor seinen Richterstuhl treten, befleckt mit mit dem Blut der Unschuldigen, betäubt von dem Geheul ihrer Qual? Denn selbst die Steine unter deinen Füssen schreien um Rache! Herr! Ich spreche als Hirt der Seelen. Ich fürchte nur den einzigen Gott.

686 Karamzin, op. cit., Bd. 9, Kap. 2, S. 60.

31. Vorlesung (21. Mai 1841)

429

Der Großfürst hörte ruhig diese Ermahnung an und ging aus der Kirche. Gleich darauf ließ er den ganzen Klerus des Metropoliten ergreifen und auf die Folter spannen, die Besitzungen aller seiner Verwandten aber mit Feuer und Schwert verheeren. Filipp wollte alsdann die Mitra niederlegen. Ivan aber machte ihm klar, daß er kein Recht habe, über seine Person zu verfügen, daß er nach dem heiligen Kanon ohne Gericht der Würde nicht entsetzt werden könne, und indem er ihn so in banger Erwartung eines grausamen Erkenntnisses hinhielt, plünderte er mit seinen blutgierigen Begleitern in der Gegend von Moskau herum. Die Deutschen, treue Gesellen dieser Raubzüge, sagen aus, daß er nicht nur die Menschen, sondern auch das Vieh, Pferde, Katzen, kurz alles Lebendige, was ihm begegnete, totschlug. Die tierischen Legionisten verfuhren ganz nach ihrer Lust. Eine Abteilung von ihnen überfiel in Moskau die Wohnungen der Bojaren und Kaufleute, nahm die schönsten Frauen fort und führte sie nach dem Lager. Ivan wählte einige für sich, die übrigen überließ er dem Gesindel. Man schickte sie später zurück, sterbend vor Scham und Schmerz. Endlich befahl der Großfürst den Metropoliten Filipp zu richten. Gerade als er den Gottesdienst versah, stürzten die Mordknechte in die Kirche, umringten ihn mit Besen in den Händen, trieben ihn vor sich her und verschloßen ihn in einem engen Verließ, wo er der unfehlbaren Strafe warten sollte, denn die Rache des Tyrannen vergaß nie eines seiner Opfer. Auf die Zerstörung der Umgegenden von Moskva folgte nach der Rechnung russischer Geschichtschreiber, die vierte und gräßlichste Periode der Verfolgungen und Ausmerzungen. Bis dahin hatte der Großfürst die Menschen einzeln gemordet, jetzt machte er sich an. die Vertilgung ganzer Massen des Volks und ganzer Städte. Seit Langem eiferte in ihm die Bosheit gegen die Novgoroder und Pskover. Schon viele Jahre vorher, wie wir gesehen, der Macht und Freiheiten beraubt, duldeten sie ruhig die moskovitische Herrschaft; aber immer zeigte man dem Fürsten an, daß sich unter ihnen noch Leute befänden, die einst im Rat gesessen und sich an die verlorene Selbstständigkeit erinnerten, vom vergangenen Glanz der Republik redeten und die Moskoviter haßten. Die Stimmung Ivans kennend, klagte ein Elender die Novgoroder wegen Verschwörungen und Verabredungen untereinander, sich dem König von Polen zu unterwerfen, bei ihm an; er sagte aus, daß sich von ihm Briefe in der Kirche, hinter dem Altare versteckt, vorfänden. Dies als Beweggrund ergreifend, begab sich der Großfürst sogleich mit dem Heer auf den Weg, um die Empörer zu bestrafen. Seltsam gräßlich war es jedoch, daß er schon unterwegs Städte, die nichts mit Novgorod gemein hatten, zerstörte und dem Boden gleich machte. Des Abends vor die Stadt Klin angelangt, ließ er die Bevölkerung niederhauen, ertränken und alles niederbrennen.

430

Teil I

Als er nun Tver’ sich näherte, verbargen sich die erschrockenen Bewohner und schlossen sich in den Häusern ein. Ivan sprach ihr Todesurteil wegen „dieses ihres Mißtrauens gegen den Monarchen“. Ähnliches Schicksal erfuhr Toržok. Mit einem Worte, der ganze von diesem grausamen Haufen durchmessene Raum war zugerichtet, wie nach einem Durchzug der Mongolen. Es war dies in der Tat die Anwendung der mongolischen Sitte. Fragte man die Mörder, warum sie ruhige und ihrem Herrn treuergebene Untertanen vertilgten, so gaben sie zur Antwort: das Geheimnis seines Zuges verlange es, vorzubeugen, daß niemand es zu verraten im Stande sei. Ebenso hatten nach dem Tod Dschingis Khans einst die Mongolen, welche seine Leiche tief aus dem Inneren Chinas in ihre Wohnsitze begleiteten, während des ganzen Wegs, fast auf dem vierten Teil der Erdkugel, alles niedergemacht, was ihnen begegnete, als Ursache anführend: „Es sei ihnen befohlen, im Geheimen zu gehen.“ Nach der Ankunft unter Novgorods Mauern befahl der Großfürst die Stadt mit Schlagbäumen zu umzingeln, damit ihm niemand entfliehe, worauf er mit den Truppen seinen Einzug hielt. Der Metropolit von Novgorod hoffte, ihn durch demütige Bitten zu rühren, und kam mit dem Kreuz und den Heiligenbildern ihm entgegen. Ivan empfing ihn mit der Ermahnung: Злочестивец! В руке твоей не крес животворящи, но оружие убийственное, которое ты хочешь вонзить нам в сердце.687 Verruchter! Nicht das lebenschaffende Kreuz ist in deiner Hand, sondern die mörderische Waffe, die du uns in das Herz stoßen willst.

Nachdem er ihn so gekränkt, lud er ihn dennoch samt allen Ältesten der Stadt zum Mittagsmahl bei sich ein. Erst während des Gastmahls raffte er sich mit einemmale auf und „schrie plötzlich mit fürchterlicher Stimme auf  …“ („и вдруг завопил страшным голосом…“).688 Auf diese Losung warfen sich die unzertrennlichen Begleiter und Vollstrecker seiner Mordpläne über alles her, banden den Metropoliten und mordeten die Bojaren; hierauf eilten sie nach der Stadt und, weder Alter noch Geschlecht schonend, verbreiteten sie die Schlächterei erst in den reichsten Häusern, dann inmitten der Bürger und endlich unter dem gemeinen Volk. Unterdessen setzte Ivan ein Tribunal fest, um die Untersuchung und Bestrafung des Verrats der Novgoroder zu leiten. Alltäglich verurteilte man 400–500 Personen. Um desto eher mit ihnen fertig zu werden, stürzte man sie haufenweise ins Wasser, und die Soldaten, auf Kähnen fahrend, versenkten mit 687 Karamzin, op. cit., Bd. 9, Kap. 3, S. 87. 688 Karamzin, op. cit., Bd. 9, Kap. 3, S. 88.

31. Vorlesung (21. Mai 1841)

431

Gabeln und Stangen diejenigen, welche sich noch zu retten versuchten. Ivan selbst war immer mit seinem Sohn bei diesem Schauspiel zugegen. Während der fünf Wochen dieser Henkersgerichte kamen über 100 000 Menschen um. Novgorod wurde, wie bekannt, von den Vorgängern Ivans zum Teil durch Moskoviter bevölkert. Diese Familien bemerkten nun, indem sie nichts mit den Ortseinwohnern gemein hätten, daß sie zur Zahl der stets treuen Untertanen des Großfürsten gehörten; dies half jedoch nichts, man vertilgte sie wie die anderen. Die Stadt wurde gänzlich entvölkert. Wer dem Tod entgangen, irrte bewußtlos in den Straßen umher. Es zeigte sich eine allgemeine unerhörte Gemütskrankheit, wie die Deutschen, welche Augenzeugen dieses Unheils waren, berichtet haben. Die von dieser Krankheit Befallenen dachten und sprachen in Elend, Hunger und Kälte von nichts anderem, als von Mordtaten und Leichen; sie wühlten fortwährend in der Erde, nach Toten suchend. Während dies geschah, wurde mitten in der Verödung und des Schuttes ein Palast für den Großfürsten auf dem Platz, der einst von reichen Läden umgeben war, erbaut. Nach der Zerstörung Novgorods zog Ivan nach Pskov und machte Halt auf einem nahe vor der Stadt liegenden Hügel. Die Chroniken689 sagen, daß er von hier aus die Stadt unverwandt anblickte, und die untere Kinnlade rührte, als „fräße er sie auf“. Schrecken ergriff die Pskover, und jeder ohne Ausnahme bereitete sich zum Tod. Der dortige Bischof ließ alle Glocken läuten. Man sagt, daß dieser Laut den Tyrannen durchdrungen, ihn an einen Umstand aus seinen frühern Jahren erinnerte, und daß ihn dies von seinem Vorhaben abwandte. Auch soll ihm, berichten die Chroniker ferner, unweit Pskov ein

689 Diese Ereignisse werden in einigen Berichten und Aufzeichnungen sehr unterschiedlich beschrieben. Vgl. Karamzin, op. cit., Bd. 9, Kap. 3, S. 91 (Fußnote 298), der – neben der Pskover Chronik (Pskovskaja letopis’ I) – auf folgende (deutsche und englische) Quellen verweist: Johann Taube und Eilert Kruse (op. cit.), Heinrich von Staden (op. cit.), Giles Fletcher: Of the Russe Common Wealth. London 1591; (Reprint 1966); russische Übersetzung – D.  Fletčer: O gosudarstve russkom. Moskva 2002; Jerome Horsey – vgl. Giles Fletcher, Jerome Horsey: Russia at the close of the sixteenth century. Hrsg. Edward Augustus Bond. New York 1856; russische Übersetzung von J. Horsey – Džerom Gorsej: Zapiski o Rossii XVI-načalo XVII veka. Moskva 1991; Georg von Hoff: Erschreckliche, greuliche und unerhorte Tyranney Iwan Wasilowitz, itzo regierenden Großfürsten in Muscow, so er vorruckter Jar an seinen Blutsverwanten Freunden, Underfürsten, Baioaren und gemeinem Landtvolck unmenschlicher weise, wider Gott und Recht erbermlich geübet. [sine loco] 1582.

432

Teil I

Einsiedlermönch690 begegnet sein, der ihn auf dieselbe Weise beim Namen691 rief, wie ihn sein Vater in der Kindheit genannt hatte, was, weil dies niemandem bekannt sein konnte, den Fürsten verwunderte und erschreckte. Nachdem er den Einsiedler angehört, der ihn mit ewiger Verdammnis drohte, änderte er seinen Vorsatz, ließ die Pskover in Ruhe und kehrte nach Moskau zurück, um die fünfte Phase der Tyrannei zu beginnen. Der scheinbare Beweggrund dieser neuen Metzelei war des Großfürsten eigene Erfindung. Er ließ eine Menge Briefe verfertigen mit Aufforderungen zum Verrat als wie vom König Sigismund [August] ausgegangen, und dieselben an verschiedene Bojaren seines Hofes verteilen. Diese, die Fallgrube witternd, legten die erhaltenen Schreiben bald in seine Hände, bemühten sich, jeden Verdacht von sich zu wälzen, und wiederholten ihm die Versicherung ihrer Treue; dies rettete jedoch nicht die in seinem Sinne dem Verderben Geweihten. Die ganzen Familien der Fürsten Kolyčev, Jaroslavskij, Prozorov, Ušatyj, Buturlin, Zabolockij und vieler anderen fielen als Opfer. Endlich beschloß er, seinem eigenen Neffen, den er schon längst umzubringen gedachte und nur der günstigen Zeit harrte, den Schlag zu versetzen. Dieser Fürst, Vladimir Andreevič692, erhielt zuletzt die Befehlshaberstelle der gegen die Tataren ausgesendeten Truppen; denn Ivan wollte seine Opfer gern unversehens ergreifen, und wenn er jemanden zu morden beabsichtigte, so überhäufte er ihn zuvor mit Gunstbezeugungen. Dann gibt er plötzlich Befehl, Vladimir zu verhaften und nach Moskau zu bringen; hier angekommen, wirft er ihm vor, daß er ihn habe vergiften wollen, und verdammt ihn darauf zum Giftbecher. Der junge Fürst wankte; da rief aber seine Gattin: besser sei es einmal zu enden, als stets in Todesängsten zu schweben, denn ein solcher Tod sei kein Selbstmord, sondern ein Märtyrertod; hierauf, nachdem sie zuerst getrunken, reichte sie den Becher ihrem Mann und nachher allen ihren Kindern. Auf diese Weise starb die gesammte Familie vor den Augen Ivans aus, der lüstern und neugierig die Gesichtszüge der Sterbenden beschaute. Nachdem er sich an diesem Anblick geweidet, rief er den Hof des Neffen herbei und befahl die Leichname fortzuschaffen. Die Frauen der verstorbenen Fürstin, voll Zorn und Schmerz, sprangen auf den Tyrannen zu, ihn verwünschend und 690 Nikola Salos (gestorben 1576) – verkörpert die russische Variante des Narren in Christo – юро́ дивый, griechisch: σαλος. Vgl. Aleksandr M. Pančenko: Jurodivye na Rusi. In: A.M. Pančenko: Russkaja istorija i kul’tura. Rabory raznych let. Sankt-Peterburg 1999, S. 392–407. 691 Nach Taube und Kruse (op. cit., S.  223) und Fletcher (op. cit., S.  91) soll Nikola zu Ivan IV. gesagt haben: „Ивашко! Ивашко! долго ли тебе лить неповинную кровь Христианскую?“ – Angabe nach Karamzin, op. cit., Bd. 9, Kap. 3, S. 91 (Fußnote 298). 692 Vladimir Andreevič Starickij (1533–1569).

31. Vorlesung (21. Mai 1841)

433

verfluchend. Einige von ihnen wurden sogleich erschossen, die anderen den Hunden und Bären zum Fraß hingeworfen.693 Wenn man in den Chroniken und Memoiren der Zeitgenossen die Beschreibungen dieser Grausamkeiten liest, so kann man sich des Schauderns nicht erwehren. Die Geister scheinen sich mit Erfindungen höllischer Todesmartern anzustrengen. Einzig dazu bestimmte Schmiede verfertigten fortwährend Zangen, Hacken, Spitzen u. dgl. Henkerswerkzeuge verschiedener Gestalt. Man baute besondere Öfen zum langsamen Rösten der Unglücklichen, man schindete sie lebendig, sägte sie mittelst einer Schnur auseinander und brachte sie, alle Glieder einzeln abhackend, auf eine qualvolle Art um. Während das Volk vor Schrecken zitterte, ertönte der fürstliche Palast fortwährend von dem Jauchzen der Lustgelage. Bei der Schilderung dieses gräulichen Bildes haben wir uns lange aufgehalten, und zwar darum, weil es uns eine außerst wichtige Epoche in der Geschichte des Nordens zeigt, nämlich das Ende der altertümlichen slavischen Rus’, und den Anfang des mongolischen Rußlands.694 Der Bojarenstand, der Stand des alten Adels der Rus’, hatte seinen letzten Vergegenwärtiger in Kurbskij; die russische Kirche ließ sich zum letzten Mal feierlich und ernst in der Stimme Philipps vernehmen. Von nun an gab es nichts mehr im Inneren des Reichs, was dem moskovitischen Selbstherrscher einen Widerstand zu leisten im Stande gewesen wäre. Bemerkenswert ist es, daß gerade in der Zeit, als Ivan sein schreckliches Kloster einrichtete, einige aufgeweckte Köpfe in Polen die berühmte „Rzeczpospolita Babińska“ (Republik von Babiń)695 bildeten. Babins Bürger machten sich 693 Vgl. Karamzin, op. cit., Bd. 9, Kap. 3, S. 82–83. 694 Dieser Absatz lautet in der französischen Ausgabe: „Je vous raconte longuement cette épouvantable histoire, parce que c’est une époque très importante dans les annales russes. C’est icu que finit la vielle Russie, la Russie de Rurik, la Russie normandoslave.“ – A. Mickiewicz: Les Slaves, op. cit., Bd. II, Paris 1849, S. 114; „mongolisches Rußland“ fehlt; ebenso in der Edition von F.  Wrotnowski (A.  Mickiewicz: Literatura słowiańska. Tom I. Poznań 1865, S. 334. 695 Eine Vereinigung polnischer Adliger, die, von Stanisław Pszonka und Piotr Kaszowski aus dem Dorf Babiń bei Lublin begründet, (etwa) zwischen 1548–1567 literarische Gesellschaftssatire pflegte und als facettenreiches Zeugnis der polnischen Lachkultur der Renaissance und des Barock gilt. Vgl. K. Bartoszewicz: Rzeczpospolita Babińska. Lwów 1902; zur Wirkungsgeschichte vgl. B.  Nadolski, C.  Mielczarski, D.  Platt: Towarzystwa literackie i naukowe. In: Słownik literatury staropolskiej. Średniowiecze – Renesans – Barok. Hrsg. T.  Michałowska, B.  Otwinowska, E.  Temeriusz-Sarnowska. Wrocław-Warszawa-Kraków. (2. Aufl.) 2002, S. 977–982. Noch im 19. Jahrhundert lebt diese Tradition in der polnischen Emigration in Frankreich auf; vgl. den Almanach „Album Pszonki“ von Leon Zienkowicz. Paryż 1845; dort die „Komedya nieludzka“ (Die unmenschliche Komödie), in der Mickiewicz als „Professor für slavische Literaturen“ fast pittoresk verspottet wird (S. 150–176);

434

Teil I

lustig, indem sie über die Fehler ihrer Landsleute lachten. Betrank sich jemand gern, gleich ernannten sie ihn zu ihrem Mundschenken; konnte einer der großen Herren nicht schreiben, so schickten sie ihm das Diplom als Kanzler; allen Müssiggängern, Unwissenden und Lügnern gaben sie das Bürgerrecht bei sich. Eines Tages fragte Sigismund August, wer denn der König dieses Reiches sei, worauf der Großkanzler antwortete: Seine Königliche Majestät besitze alle Tugenden, die ihn dem Babiner Thron empfehlen können. Dieser Spaß erregte ein herzliches Lachen bei dem König. Ein paar Jahrhunderte später, als sich Polen schon in den Zeiten der Unordnung befand, gründete ein Edelmann696 eine dem Kloster Ivans etwas ähnlichere Gesellschaft, indem man hier zuweilen das Leben verlor, jedoch nur durch Übermaß im Trinken. Auch hieraus kann man den Unterschied sehen, der zwischen diesen beiden nebeneinander liegenden Ländern obwaltete.

auch in „Tedeum z powodu odkrycia filozofii słowiańskiej przez profesora Adama Mickiewicza“ (S. 232ff.). 696 Karol Stanisław Onufry Jan Nepomucen Radziwiłł „Panie Kochanku“ (1734–1790) – einer der reichsten polnischen Magnaten, Repräsentant des Sarmatismus; den Namensnachsatz „Panie Kochanku“ (Mein lieber Herr) pflegte er selbst zu sagen, um sich von seinem Namensvetter Karol St. Radziwiłł (1669–1719) zu unterscheiden. Vgl. Dionizy Sidorski: „Panie kochanku“. Karol Radziwiłł. Katowice 1987. Er gründete auf dem Gut Alba bei Nieśwież (heute Нясвiж im Südwesten Weißrußlands) einen geheimen Verbund seiner treuen Freunde und Diener, die vornehmlich feuchtfröhliche und exzessive Feste feierten; vgl. dazu Henryk Rzewuski: Denkwürdigkeiten des Herrn Soplica. Mit einem Nachwort von Andrzej de Vincenz. Frankfurt am Main 1986.

32. Vorlesung (25. Mai 1841) Ausbleibende Reaktion der Polen und Tschechen auf den Terror Ivans IV – Erklärung der Ursache – In Polen wird die Begrenzung der Macht des Königs zur nationalen Idee der Epoche – Die Rolle der Reformation – Das Ansehen des Senats sinkt – Der Humanist Stanislau Hosius (Stanisław Hozjusz) und seine politischen Aktivitäten; Einführung des Jesuitenordens in Polen – Ivans des IV. weitere Gräueltaten; seine Angst und sein Vorhaben zur Flucht; Gesandtschaft nach England – Sigismund August warnt die Königin von England: er ahnt vor seinem Ende die Zukunft der Polen.

Die übrigen slavischen Länder, namentlich Polen und Tschechien, sahen den Grausamkeiten Ivans IV. gleichgültig zu; auf keine Weise bemühten sie sich, der bedrückten Rus’ zu Hilfe zu kommen. In Tschechien war das österreichische Haus, die Nation beherrschend, mit etwas ganz anderem, beschäftigt. In Deutschland, von dem sich immer mehr erhebenden Luthertum, in Ungarn aber von der sich ausbreitenden Eroberung der Türken bedroht, suchte es nur für sich selbst Bundesgenossen. Einerseits trachtete es die Könige Polens seinen Absichten geneigt zu machen, andererseits schickte es an Moskaus Großfürsten Gesandte, mit der Bitte um Hilfstruppen gegen die Türken. Das von dem Geräusche der innern Politik in Polen übertäubte Volk, deren Hauptgedanke die Erniedrigung der königlichen Gewalt war, vergaß nicht nur die litauischen von dem Zaren abgerissenen Besitzungen, sondern zuweilen klatschte es dem Emporkommen dieser Macht sogar Beifall zu, denn sie hielt die polnischen Könige im Schach. Die Regierungsjahre Sigismund Augusts (Zygmunt II August) sind außerordentlich ergiebig in Beschlüssen und neuen gesetzlichen Anordnungen. Hier kann man sogar das Beginnen der Konstitution, die Anfänge aller jener Beschlüsse und Einrichtungen sehen, welche in der Folge die Reichstage (Sejmy) der Republik lenkten. Öfters ward ein scheinbar sehr unbedeutender Umstand die Quelle äußerst wichtiger Verfassungsänderungen. Während der Unordnungen, die auf Veranlassung der königlichen Ehe entstanden waren, baten die Abgeordneten den König um besonderes Gehör, ohne die Gegenwart des Senats. Der Kanzler wies diese Neuerung als der Sitte entgegen zurück, der König aber, nicht voraussehend, was hieraus entstehen würde, willigte in das Verlangen. Von dieser Zeit an maßte sich die Kammer der Landboten eine unrechtmäßige Bedeutung an; sie hörte auf, sich als einen Teil des Reichstages (Sejm) zu betrachten, begann ausschließlich als selbstständige Gewalt zu handeln, in der Folge aber sich mit dem Thron zu messen. Die Zeitgenossen sagen, daß in dieser denkwürdigen Audienz die Abgeordneten, die

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_033

436

Teil I

den Starrsinn des Königs nicht zu brechen vermochten, vor ihm auf die Knie fielen, was in Polen unerhört gewesen. Der erstaunte König stand vom Sessel auf und griff mit der Hand nach der Mütze. Diesen Vorfall führte man später als eine Berechtigung an, die den König persönlich verpflichtete, den Abgeordneten nicht durch den Kanzler die Antwort zu erteilen, ja man verlangte sogar, er sollte die Deputation der Landbotenkammer mit entblößtem Haupt empfangen. Zur selbigen Zeit begehrten die Abgeordneten Beratungen mit dem Senat ohne Vorsitz des Königs, was ebenfalls, wenngleich erst nach einigem Widerstand, bewilligt wurde. So fiel auf „legale“ Weise das Ansehen des Senats; denn sobald es Sitte wurde, alle wichtigem Angelegenheiten in vereinten Kammern zu entscheiden, so wurde natürlich die Kammer der Abgeordneten, da sie die Stimmenmehrheit besaß, der einzige Gesetzgeber bei allen Beratungen. In solcher Reihenfolge bildete sich in Polen, wie in allen freien Ländern, die Verfassung aus. Jedesmal benutzt der Stärkere die Umstände; einen Schritt weiter tuend, legt er zuerst seine Erwerbung in die Form, und verwandelt sie später in ein Gesetz. Diese Erwähnungen lassen uns auch ermessen, welcher Anstand bei den Berührungen des Monarchen mit den Untertanen herrschte, wie der König die Volksvertretung achtete, und wie leicht es war, alles bei ihm zu erreichen. Die damaligen Chroniker und Geschichtschreiber rühmen einstimmig die Güte und Milde Sigismund Augusts; sie klagen nur zuweilen über seinen Starrsinn, und dies bedeutete, daß er noch hin und wieder den Überrest der sich ihm aus den Händen windenden Gewalt verteidigen wollte. Der Hof des polnischen Königs, einer der glänzendsten seiner Zeit, gewährte einen merkwürdigen Anblick. Die selbstständigen Fürsten Preußens und Kurlands huldigten ihm kniefällig auf dem Markt zu Krakau;697 die Woiwoden der Moldau und Walachei fielen vor der Majestät aufs Antlitz, und nebenbei geruhten die polnischen Herren und Edelleute kaum die Mütze vor ihrem Monarchen zu ziehen. Da nun alle politischen, alle militärischen und Zivilspringfedern der Regierung so sich lockerten, konnte der König gegen die Willkür der Einzelnen und Privaten nichts mehr ausstellen, als die überlieferte Achtung seiner Gewalt, den Zauber seines Namens und die aus den religiösen Gefühlen des Volks geschöpfte Kraft. Diese „letzte Festung“ des königlichen Ansehens begannen 697 Preußische Huldigung (Hołd pruski) am 10. April 1525 in Krakau; preußischer Lehenseid, den Albrecht von Preußen, der amtierende Hochmeister des Deutschen Ordens, gegenüber dem polnischen König Sigismunt  I. (Zygmunt Stary) leistete; vgl. auch das Ölgemälde von Jan Matejko „Hołd pruski“.

32. Vorlesung (25. Mai 1841)

437

die Sektierer zu untergraben. Schon sprachen wir über die plötzliche Ausbreitung der Sekten in Großpolen, namentlich aber in Preußen. Weil jeder Magnat sich für den Herrn, jeder Edelmann für das Haupt einer selbstständigen Republik, bei sich nämlich, hielt, so gab es keine Obergewalt, welche dem Einfluß der religiösen Abtrünnigkeiten vorbeugen gekonnt hätte. Die Sektierer durchaus eine Stütze in einer weltlichen Macht zu finden genötigt, wandten sogleich ihre Blicke nach Polen. Martin Luther, Johannes Calvin, Erasmus von Rotterdam, Andreas Osiander698 und die Übrigen, erfüllten die Republik mit ihren Schülern, sie schmeichelten dem König, indem sie ihm ihre Werke widmeten, ihn mit David und Salomo verglichen und den zur Wiederherstellung der evangelischen Wahrheit Auserwählten nannten. Sie bemühten sich nebenbei, die ihn umringenden Personen, namentlich die Frauen, zu gewinnen. Da sie nun wußten, daß er seine dritte Ehegattin, Katharina von Österreich699, nicht gern sah, und sich von ihr scheiden wollte, was der papstliche Nuntius aus politischen Gründen nicht zuließ, so verstanden sie geschickt hieraus Vorteil zu ziehen. Sigismund II. August, von den Senatoren nicht unterstützt, von dem Adel stets gereizt, in den Sektirern aber Schmeichler findend, wankte im väterlichen Glauben und schien sein ganzes Leben lang zwischen demselben und den lockenden Versprechungen der Neuerer zu wählen. Sein Hof wurde ein Zusammenfluß von Priestern, die das Kleid von sich geworfen hatten, von deutschen, wälschen und französischen Theologen. Da er selbst sehr gelehrt und begierig war, sich die Wissenschaften des Auslandes anzueignen, verbrachte er viele Stunden des Tages in Gesprächen mit ihnen. Die neuen Vorstellungen verbreiteten sich noch auf einem anderen Weg im Lande. Die Polen besuchten zu jener Zeit das ganze aufgeklärte Europa, sie studierten an allen ausländischen Universitäten. Die reiche, leichtfertige Jugend war begierig, auf ihren Reisen jene Männer, die so viel Aufsehen erregten, zu sehen und kennen zu lernen. Sie besuchte Luther, Calvin, Erasmus von Rotterdam, damit sie bei ihrer Rückkehr von ihnen reden könnte. Der Eitelkeit dieser berühmten Männer schmeichelte dies sehr. Denn die französischen und deutschen Großen, wenngleich ihnen Schutz erteilend, blicken dennoch immer mit Stolz auf sie herab; dahin gegen die polnischen jungen Herren sich ihre Freundschaft zur Ehre anrechneten, ihnen Dienste erwiesen und sie 698 Andreas Osiander (1498–1552). Deutscher Theologe; gab 1543 das Werk „De revolutionibus orbium coelestium“ von N. Kopernikus heraus, in dem er allerdings das Vorwort von Kopernikus mit seinem eigenen ersetzte und die Resultate des Kopernikus stark relativierte; vgl. Martin Carrier: Nikolaus Kopernikus. München 2001, S. 128ff. 699 Katharina von Österreich – Katarzyna Habsbużanka (1533–1572).

438

Teil I

mit reichen Geschenken überhäuften. Dafür erhoben auch diese Männer die Zuvorkommenheit, die Gastfreundschaft, das Trachten nach Aufklärung und die Großmütigkeit der Polen bis in den Himmel. Berühmte Männer dieser Epoche, Justus Lipsius700 und Paulus Jovius (Paolo Giovio)701, schrieben, daß das ganze polnische Volk wunderbar reich und aufgeklärt sei. Sie glaubten, die Polen waren alle so vermögend und glücklich, alle redeten so die fremden Sprachen wie diese Herren, die damals Deutschland und Frankreich bereisten. Solche Reisende hatten schon nach ihrer Rückkehr nach Hause die Pröpste verachten gelernt, disputierten mit ihren Bischöfen, erzählten fortwährend von jenen großen Männern des Auslandes, zeigten allen ihre Bücher, verteidigten aus Eitelkeit ihre Systeme als etwas Neues, Erhabenes und Schönes. Da nun noch dazu jeder Herr völlige Freiheit hatte, bei sich Schulen und Druckereien zu gründen, so viel er wollte, so bedeckte sich bald ganz Polen mit selbigen. Die Ausländer konnten nicht begreifen, was hier geschah; in armseligen Städten, in verfallenen Hütten fanden sie Pressen, sahen sie Holländer, Franzosen, Deutsche, beschäftigt mit dem Abdrucken von Schriften, die auch nicht den mindesten Zusammenhang mit Polen hatten. Es waren dies trockene theologische Abhandlungen über das Dogma, oder Klagegeschrei gegen die Übergriffe der Kirche, die man in Polen nicht kannte. Man weiß es wohl, daß alle Sekten irgendein Ortsinteresse, den Ländern eigen, wo sie sich erzeugten, hatten. Die Deutschen empörten sich über die feudale Macht ihrer Bischöfe, einige Städte wollten die ungeheuren Reichtümer der Klöster an sich reißen; doch die polnischen Bischöfe besaßen nicht feudale Gewalt, die polnischen Herren gingen nicht im Mindesten darauf aus, sich auf Kosten der Geistlichkeit zu bereichern. Die Reformation bezog sich ganz und gar auf Dinge, die für Polen völlig gleichgültig waren, sie war in Polen nichts weiter, als eine lächerliche Nachahmung fremder Muster; verbreitete sich jedoch desto leichter in einer Republik, wo jeder reden und denken konnte, wie ihm nur immer gefiel. Diese Epoche der slavischen Literatur ist für die allgemeine Geschichte der Kirche von äußerster Wichtigkeit. Viele Sekten wurden auf polnischem Boden ausgebrütet, viele andere wurden auf demselben großgezogen. Die englischen Unitarier bedienen sich bis auf den heutigen Tag in Polen gedruckter

700 Justus Lipsius (1547–1606). Zur Rezeption in Polen vgl. Andrzej Borowski: Lipsjanizm. In: Słownik literatury staropolskiej. Średniowiecze – Renesans – Barok. Hrsg. T. Michałowska, B.  Otwinowska, E.  Temeriusz-Sarnowska. Wrocław-Warszawa-Kraków. (2. Aufl.) 2002, S. 441–443. 701 Vgl. die 31. Vorlesung (Teil I).

32. Vorlesung (25. Mai 1841)

439

Bücher; ihre Dogmen sind in einem elenden polnischen Städtchen festgesetzt worden.702 Die Polen ergriffen besonders die allerkühnsten Meinungen. Luther genoß bei ihnen wenig Achtung, als ein Mann, der nur zur Hälfte etwas tut, und nicht im Stande ist, die allerletzten Folgerungen aus seinen Grundsätzen zu ziehen. Dies erklärt, warum das Luthertum in Polen so wenig Anklang fand; viel besser glückte es Calvin; vor allem fand man aber Gefallen an der Lehre der Unitarier, der neueren Arianer und Sozinianer, welche, weiter gehend als die Arianer selbst, endlich Christus die Gottheit absprachen, und sich aufs Alte Testament zurückzogen.703 Der Kampf dieser verschiedenen Glaubensparteien verwirrte die Republik. Sie vereinten sich immer auf den Reichstagen gegen die Kirche, haßten sich aber gegenseitig und verfolgten sich gerne. Die Lutheraner, Calvinisten und alle übrigen Abtrünnigen, die von der Kirche sich auszuscheiden begannen, eiferten gegen die Arianer und Sozinianer als gegen Gottlose und Atheisten; sie verlangten ihre, Landesverweisung. Unterdessen schlossen viele Herren die Kirchen und vertrieben die Pröpste. Sogar einigen Bischöfen schien die neue Religion bequemer; sie heirateten, ohne darum ihre bischöflichen Würden, welche bedeutende Einkünfte abwarfen, niederzulegen. Jeden Augenblick hoffte man auch den König im feindlichen Lager zu sehen. Jede sittliche und religiöse Einheit Polens verschwand augenscheinlich. Bei solchem Stand der Dinge fand sich jedoch ein Mann aus der Zahl jener seltenen, gewaltigen Männer, welche Kraft besitzen, den Gang der Ereignisse um einige Jahrhunderte zu beschleunigen oder aufzuhalten. Er zügelte das Zerwürfnis und legte einen Damm der Bewegung, welche die Kirche und Polen zerstörte. Es war dies ein Pole zu Wilna, in einer Krakauer Bürgerfamilie

702 Gemeint ist Raków (Kreis Kielce); dort erschien der „Rakauer Katechismus“ (Katechizm Rakowski), eine Zusammenfassung der (antitrinitarischen) Theologie des Sozinianismus bzw. der Polnischen Brüder (Bracia Polscy – Arianer); 1605 in Raków zuerst in polnischer Sprache gedruckt; in lateinischer Sprache 1605–1609, sogar dem englischen König Jakob  I. zugeeignet (später öffentlich verbannt); deutsche Übersetzung von Valentin Schmalz 1608; die wichtigsten Quellen (Bibliotheca Fratrum Polonorum) sind zugänglich unter [www.braciapolscy.com]; vgl. auch – Sozinianische Bekenntnisschriften: Der Rakower Katechismus des Valentin Schmalz (1608) und der sogenannte Soner-Katechismus. Hrsg. Martin Schmeisser. Berlin 2012. 703 Vgl. dazu: Socinianism and its role in the culture of XVI-th to XVIII-th centuries. Hrsg. Lech Szczucki, Zbigniew Ogonowski, Janusz Tazbir. Warsaw 1983; Christoph Schmidt: Auf Felsen gesät. Die Reformation in Polen und Livland. Göttingen 2000.

440

Teil I

geboren. Sein Name ist Stanislaus Hosius704, noch mehr war er in ganz Europa unter dem Namen des „großen Kardinals“ gekannt. Schon in der Jugend gab er sich auf der Akademie zu Krakau als ein ausgezeichneter Schüler zu erkennen. Später reiste er der Studien wegen nach Italien. Öfters kann man in der Geschichte Gesellschaften von Jünglingen bemerken, die an einem Ort geboren, oder in einer Schule erzogen, später auf verschiedenen Punkten der Erde in der Verteidigung einer und derselben Idee ringen. Padua hat gerade zu jener Zeit einen solchen glänzenden Kreis von Männern gebildet, die später Päpste, Kardinäle, große Staatsmänner und berühmte Krieger wurden. Ugo Boncompagni, auf dem apostolischen Stuhl Gregor XIII. genannt, Reginald Pole, ein sehr gottesfürchtiger und gelehrter Kardinal, der einige Zeit England regiert hat, Alessandro Farnese und dessen Bruder Ottavio, Herzog von von Parma, die Kardinäle Cristoforo Madruzzo und Otto Truchsess von Waldburg, waren Mitschüler oder Freunde des Hosius.705 Ohne Zweifel besprachen sie häufig die wichtigen Fragen, welche dazumal Europa bewegten. Nach der Rückkehr ward Hosius in Polen zuerst Sekretär des königlichen Hauses, später erhielt er das Bistum Ermland in Preußen; letzteres Land war schon fast gänzlich von der Kirche abgefallen. Man gab ihm dies Bistum, weil er sich als der furchtbarste Gegner der Abtrünnigen zeigte, und vollkommen die nötige Sprachkenntnis besaß, um mit ihnen zu kämpfen. Er sprach und schrieb deutsch ebenso gut wie lateinisch und polnisch. Die Sektierer nannten ihn „die dreizüngige Schlange“, den „dreiköpfigen Zerberus der katholischen Kirche“. Denn er hatte nebenbei eine solche Geistesgegenwart, daß er zu gleicher Zeit etlichen Schreibern verschiedene Briefe diktierte. Seine Tätigkeit setzte alle in Erstaunen; er versah oft sogar bei Tische die wichtigsten Angelegenheiten, antwortete auf Schriften, die von allen Orten ankamen, und las oder ließ geistliche oder weltliche Werke vorlesen, was ihn nicht im Mindesten verhinderte, die Pflichten eines frommen Geistlichen zu erfüllen. Mit dem politischen und religiösen Zustande Europas genau bekannt, dabei wissend, 704 Stanisław Hozjusz – Stanislaus Hosius (1504–1579). Vgl.: Stanisław Rzeszka, Johann Baptist Fickler: Gründtliche und außführliche Beschreibung der Geschichte, gantzen Lebens und Sterbens […] Herrn Stanislai Hosii. Ingolstadt 1591; [SUB Göttingen. Signatur: 8 H PRUSS 1482]; Anton Eichhorn: Der ermländische Bischof und Cardinal Stanislaus Hosius. 2 Bände. Mainz 1854–1855; Józef Umiński: Kardynał Stanisław Hozjusz 1504–1579. Opole 1948; Stanislaus Hosius: sein Wirken als Humanist, Theologe und Mann der Kirche in Europa. Hrsg. Bernhard Jähnig und Hans-Jürgen Karp. Münster 2007. 705 Ugo Boncompagni (1502–1585); Reginald Pole (1500–1558), der letzte römisch-katholische Erzbischof von Canterbury; Alessandro Farnese (1520–1589); Ottavio Farnese (1524–1586); Cristoforo Madruzzo (1512–1578); Otto Truchseß von Waldburg (1514–1573).

32. Vorlesung (25. Mai 1841)

441

wo sich jeder Sektierer befand, was er machte, wie er lebte und dachte, ließ er ihre Umtriebe nie aus den Augen, entdeckte ihre Fallstricke, ergriff augenblicklich jede neue Veröffentlichung, warnte die Polen, von wo nur irgend eine Gefahr sich zeigte. Da er fortwährend an den König, die Bischöfe und Pröpste schrieb, zu den Reichstagen und „Sejmiki“ (Kreis- oder Provinzial-Landtagen) herumreiste, die Synoden und Beratungen der Kapitel versammelte; so übte er seinen Einfluß aufs ganze Land, und wachte über der ganzen Republik. Nebenbei gab er Werke heraus, die man allgemein für klassisch hielt, und fast in alle europäischen Sprachen, in die französische, englische, deutsche, übersetzte. Sehr schade, daß seine polnischen Schriften jetzt so selten geworden sind. In den Kämpfen mit den Sektierern wußte er jede Waffe zu handhaben. Schrieb er die Abhandlungen lateinisch, so war er der ernste, tiefsinnige und gelehrte Theolog; zu den Deutschen sich wendend, ließ er sich zu ihrem Geschmack herab, ahmte die Vierschrötigkeit Luthers nach, brauchte treffende Schlagworte und derben Witz; in den polnischen Schriften wußte er ganz vorzüglich jenen leichten aufgeweckten Ton, jene angenehme Laune, welche schon damals „die polnische“ genannt wurde, zu treffen. Er selbst hatte kein PredigerTalent, was er sehr beklagte, jedoch schrieb er für andere Predigten. In den Berührungen mit dem Papst erlaubte er sich, wie er sagte, die evangelische Freiheit. Paul IV. warf er ohne Umschweife vor, daß man ihn allgemein der Ehrsucht beschuldige. „Ich höre stets die Klagen, – sagte er – daß der heilige Vater die englische und französische Politik verwirre, daß er Truppen sammle und sich zum Krieg vorbereite. Wenn doch nur einmal der heilige Vater aufhören wollte, den Hetman (Feldherrn) zu spielen, und sich um seine Besitzungen zu raufen; seine Besitzung ist die ganze, allgemeine Kirche!“706 706 Zusammenfassung des Schreibens von Hosius an den Kardinal Jacobus Puteus (1508– 1563). Die Stelle lautet: „Spargitur in vulgus, ab impijs hereticis magno Catholicorum dolore, neque mediocri totius Ecclesiæ detrimento, non alia in re, curas, cogitationensq. Sanctitatis eius consumi, qua in augendis, quacunque tandem ratione suis. Prae unius huius rei studio, sanctitatem illius omnia pro nihilo ducere: tum quem sequestrum pacis inter Christianos Principes esse oportebat, eum facem bellorum existere, ac ad Regem Galliæ mississe, ut pacem constituta violaret. Vera sint hæc an falsa, nos hic scire non possumus, sed magnos tamen ea motus animorum in vulgo facere certum est. Utinam autem hanc S.D.N. mentem Deus inspiret, ut Pontificem potius agere velit, quam Imperatorem: & positis armis, de constituenda religione, deque ratione, qua possit obvia ijs veniri, qui novata vel eversam potius illa capiunt, deliberationem suscipiat, atque ad nos quoque tuendos animum adijciat. &c.“ In: Stanislai Hosii  S.R.E cardinalis maioris poeniten & Episcopi Varmiensis Vita. Auctore Stanislao Rescio [Rzeszka]. Rom 1587, liber I, Kap. XXII; S. 75–76. [SUB Göttingen. Signatur 8 H PRUSS 1481]; deutsche Übersetzung – Stanisław Reszka: Gründtliche und außführliche Beschreibung der Geschichten, gantzen

442

Teil I

Dieser Freimut verletzte den Papst nicht im Mindesten; er antwortete ihm mit der Bitte, jemanden von seinen Freunden zu schicken, um sich besser von allem zu überzeugen. „Komme selbst – fügte er endlich hinzu – und sieh, was ich tue.“ Auf die erneuerte, feierliche Berufung eilte Hosius nach Rom, wo er den Kardinalshut erhielt, und zum apostolischen Legaten für den Vorsitz des Tridentinischen Konzils707 ernannt wurde. In der Tat war er es auch, der dies Konzil zu Stande gebracht hat. Er fertigte nach allen Seiten Boten und Briefe ab, mit der Vorstellung an die Monarchen, für jetzt sei es die wichtigste Angelegenheit, die religiösen Zwiste zu schlichten, und versprach zugleich den Häuptern der Sekten die Antworten auf alle ihre Einwürfe. Es kostete ihm viele Mühe, ehe er die Herrscher zur Sendung ihrer Bevollmächtigten bewegen konnte. Denn vielleicht nur den einzigen Kaiser Karl  V. ausgenommen, welcher die Sache besser einsah, legten die anderen Könige, namentlich der spanische und portugiesische, gar keinen Wert auf die durch den Protestantismus hervorgemfene Bewegung. Lange Zeit war Hosius auf dem Konzil zu Trident als ältester päpstlicher Legat. So oft es darauf ankam, die verwickeltsten Fragen zu lösen, berief man sich immer auf ihn. Endlich aber fing er an, nach seiner Heimat Sehnsucht zu fühlen, einmal weil er sein Bistum vom Protestantismus überschwemmt sah, zweitens weil er vor allem Pole war. In einem Brief an einen seiner Freunde sagt er, daß er mit Leib und Seele ein Pole sei, daß er sich beim „Polonisieren“ ertappte, d.h. ohne Ende reden und von der Sache abschweifen. Nach der Rückkehr ins Vaterland war es sein eifrigstes Bemühen, die Tridentinischen Beschlüsse in Ausführung zu bringen. Alles stand gegen ihn auf. Die preußischen, keine Volkstümlichkeit besitzenden Städte, von Deutschen bewohnt, mitten unter slavischer Bevölkerung zerstreut liegend, zuerst dem Kreuzritter-Orden, später den polnischen Bischöfen untergeben, fanden jetzt im Luthertum ein gewisses moralisches Band für sich; sie begannen schon ihre Intendenten und Superintendenten zu ernennen, in den religiösen Streitigkeiten sich nicht mehr auf den polnischen Hauptsitz zu berufen, sondern dieselben vor die eigenen, kraft der Magdeburgischen Rechte708 bestehenden Lebens und Sterbens, deß grossen Lehrers und Verfechters catholischer Kirchen und Religionen diser unserer Zeiten, Herrn Stanislai Hosii, der Heiligen römischen Kirchen Cardinals, obristen Penitentzierers zu Rom und Bischoffen zu Warmien. […]. Ingolstadt 1591, S. 78–79 [SUB Göttingen. Signatur 8 H PRUSS 1482]. 707 Konzil von Trient – Concilium Tridentium (1545–1563); vgl. den Sammelband – Concilium Tridentium. Hrsg. Remigius Bäumer. Darmstadt 1979. 708 „Als Magdeburger Recht wird keine konkrete Kodifikation, sondern ein im Einzelfall sehr variables Konglomerat von Normen und Rechtsvorstellungen bezeichnet, das ausgehend

32. Vorlesung (25. Mai 1841)

443

Magistrate zu bringen. Diese Magistrate oder Stadträte ergriffen natürlicherweise mit Hast die Gelegenheit zur Erlangung einer größeren Bedeutsamkeit, sie nahmen die Stellung der Landes-Regierung ein. Die aufgewiegelten Städter drohten öfters Hosius. Durch nichts jedoch erschreckt, ging er geradezu auf den Feind los; überzeugte die Beamten in theologischen Diskussionen und erbaute den gemeinen Mann durch sein musterhaftes, ernstes, gottesfürchtiges Leben. Durch diese Mittel gelang es ihm, wenigstens einen Teil der preußischen Länder zu erhalten, wie er sich ausdrückte: ein Teilchen seiner geliebten Herde vor den „Böcken“709 zu retten. Neben so mannigfaltigen, schweren Beschäftigungen war dieses ungemein tätige Leben außerdem auch dem Staatsdienste gewidmet. Zum Gesandten der Republik ernannt, leitete er die wichtigsten europäischen Angelegenheiten, schloß Bündnisse mit den Höfen, dem kaiserlichen, dem spanischen, portugiesischen, französischen und päpstlichen. Er starb in Italien als GroßAlmosenier des apostolischen Stuhls, voller Betrübnis darüber, daß er von seinem Vaterland die religiösen Umwälzungen nicht habe zurückdrängen können, und über die Folgen sich härmend, die hieraus für dasselbe entstehen mußten. Vor seinem Tod jedoch führte er noch, den Kampf mit den Sekten in sichere Hände zu überweisen bemüht, in Polen die berühmte Gesellschaft710 ein, welche am besten diesem Ziele entsprach. Hosius kannte sehr gut den Zustand seines Landes, er sah wohl, daß das Luthertum und der Calvinismus am meisten dem Gaumen der Aristokraten schmeckte, sich an die Höhen der Gesellschaft festklammerte und im Grunde nur ein politisches Sektenwesen sei. Um gegen dasselbe zu kämpfen, suchte er ein Heer, eine politische Vergesellschaftung, und fand dieselbe in dem dazumal gestifteten Orden der Jesuiten. von Magdeburg die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Rechtsordnungen Mittelund Osteuropas entscheidend mitgeprägt hat. Es wird darunter erstens die mittelalterliche Magdeburger Stadtverfassung und ihre Aufzeichnung in einer Reihe von Texten des 13. und 14. Jahrhunderts, zweitens die rechtsberatende Tätigkeit des Magdeburger Schöppenstuhls sowie drittens die juridische und gesetzgeberische Orientierung an beidem in Rechtspraxis und Rechtsaufzeichnungen des Mittelalters und der Neuzeit verstanden.“ – Hiram Kümper: Magdeburger Recht. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2012 [URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/55234.html]. 709 Man nennt in Polen (noch heute) umgangssprachlich die Protestanten „kozły“ („Böcke“). 710 Hosius gründete 1564 das erste Jesuitenkolleg in Braunsberg (Braniewo), das Lyceum Hosianum; dort studierte u.a. zwischen 1614–1617 Maciej Kazimierz Sarbiewski; zur Geschichte vgl. Anneliese Triller: Das Jesuitenkolleg 1565–1772. In: 400 Jahre Gymnasium in Braunsberg, Ermland in Ostpreußen. Aus der Geschichte des Gymnaziums zu Braunsberg/Ermland 1565– bis 1945 anläßlich der 400. Wiederkehr seiner Gründung. Hrsg. Bernhard-Maria Rosenberg. Osnabrück 1965, S. 5–23.

444

Teil I

Die Taten dieses Ordens gehören der allgemeinen Geschichte an; nirgends jedoch hat er ein solches politisches Übergewicht gewonnen, wie mit der Zeit in Polen.711 Die Jesuiten fanden hier einen Wirkungskreis, der dem Geist ihrer Einrichtung gänzlich entsprach und vertilgten die Reform mit ihrer Waffe. Sie drangen in die Häuser der Mächtigen, machten sich die Hofleute der Herren geneigt, verdrängten die Sektierer unter ihnen; nachdem sie zuerst die Paläste besetzt, eroberten sie in der Folge die Städte und Dörfer. Auf diese Weise, nach zwei Jahrhunderten hartnäckigen Kampfes, nachdem sie nicht eine einzige offene Schlacht geliefert, überwältigten sie die Dissidenten, nahmen alle Schulen unter ihre Leitung und ergriffen alle Springfedern, welche die Republik beherrschten. Sie leisteten Polen große politische Dienste, verursachten demselben jedoch auch großen Schaden. Das Gute entfloß ihrer Einrichtung, das Böse kam aus ihrer Stellung im Lande. Anderswo dienten ihnen bekanntlich die Künste und Wissenschaften als Mittel zur Erreichung des Zwecks: in China waren sie Chemiker und Mathematiker, in der neuen Welt Agronomen und Organisatoren. In Polen konnten sie nichts durch die Wissenschaften erlangen. Da sie den Leichtsinn, die Neugier und Nachlässigkeit, die dem Polen angeboren, gegen sich hatten und einzig damit beschäftigt waren, das Dogma unangetastet zu erhalten, traten sie einigermaßen mit dem Feind in Verträge, und wenngleich gegen sich selbst streng (denn ihre wütendsten Feinde getrauten sich nie, an der Reinheit ihrer Sitten zu zweifeln), sahen sie doch der Trägheit, der Schlemmerei und dem Trunk bei anderen durch die Finger, und erbebten nicht im Mindesten vor der immer mehr wachsenden Finsternis. Als sie deshalb von den philosophischen Doktrinen des vorigen Jahrhunderts angefallen wurden, befanden sie sich ohne Rettung, ungeachtet ihrer Gewandtheit und ihrer seit Jahrhunderten begründeten Macht, inmitten eines Volkes, welches sie selbstständig zu denken entwöhnt hatten, und das auf die glänzenden Lügen und frechen Paradoxien der neuen, die Vergangenheit verwerfenden Schulen nichts mehr zu antworten wußte. Das Emporwachsen des Jesuiten-Ordens in Polen beginnt erst unter der Regierung des Königs Stephan (Stefan Batory); zur Zeit Sigismund Augusts sehen wir nur einen einzigen Privatmann, einen Prälaten, welcher, umringt von Widerwärtigkeiten, öfters vom Unwillen des Königs getroffen, von den Großen gehaßt, auf den Reichstagen verfolgt, den sittlichen, seinem Vaterland 711 Vgl. Encyklopedia wiedzy o Jezuitach na ziemiach Polski i Litwy 1564–1995. Hrsg. Ludwik Grzebień. Kraków 1996; Stanisław Obirek: Jezuici w Rzeczypospolitej Obojga Narodów w latach 1564–1668: działalność religijna, społeczno-kulturalna i polityczna. Kraków 1996; Kazimierz Puchowski: Jezuickie kolegia szlacheckie Rzeczypospolitej obojga narodów: studium z dziejów edukacji elit. Gdańsk 2007.

32. Vorlesung (25. Mai 1841)

445

drohenden Gefahren mutig die Stirn bot. Mit dem König kam er noch so ziemlich zurecht. Vieles in Vergessenheit lassend, erlangte er zuweilen seine Hilfe; aber mit den Herren war kein Rat mehr zu halten, gewaltsam mußte er sich gegen ihre Tollheiten auflehnen, die alles Maß in jenen Zeiten überschritten, wo jedem erlaubt war zu tun, was er wollte. So ließ der Fürst Mikołaj Radziwill712, der lange zweifelte, welchen Glauben er zu wählen habe: ob den lutherischen, jüdischen oder türkischen, sich endlich damit hören, daß er einen völlig neuen auszudenken beabsichtige. Anderen Herren spukten ähnliche Projekte in den Köpfen; auf den Reichstagen zankte man um Dogmen, anstatt die öffentlichen Angelegenheiten zu beraten. Hosius, welcher seine Landsleute treffend anzureden verstand, ließ sich eines Tages auf einer Zusammenkunft des preußischen und zum Teil masurischen Adels so vernehmen: „O Volk gutmütiger Leute!… Wenn ihr schon durchaus rasen wollt, nun so rast; aber wenigstens hört nicht auf, Polen zu sein. – Braucht ihr einen neuen Glauben? einen neuen Gott? Nun da habt ihr ja jenen Taugenichts, den Masuren Grzegorz Paweł z Brzezin;713 macht ihn zu eurem Gott, und ihr werdet euer eigen masurisches Kirchlein haben. Es wird dies zwar eine Dummheit sein, aber doch wenigstens eine heimatliche! Ihr sucht nach einer geräumigen, bequemen Religion, mit einem Worte, ihr möchtet gerne eine Fußbekleidung wählen, die nicht drückt? Nun, kriecht doch in die Stiefeln des Masuren Grzegorz. Wozu erst die Pantoffeln aus Genf und Wittenberg einschleppen?“714

Mit einer so volkstümlichen und öfters auch vierschrötigen Sprache allenthalben gegen die Neuerer auftretend, zog er gegen sie die früheren SejmBeschlüsse „über die Ausländer“ hervor, verlangte neue Bestimmungen und 712 Mikołaj „Rudy“ Radziwiłł (1512–1584). 713 Grzegorz Paweł z Brzezin – Gregorius Paulus Brzezinensis (1525–1591), polnischer Unitarier, vertrat die radikal-pazifistische Seite der „Polnischen Brüder“ (Bracia Polscy); vgl. Konrad Górski: Grzegorz Paweł z Brzezin. Monografja z dziejów polskiej literatury arjańskiej XVI wieku. Kraków 1929. 714 Die paraphrasierte Stelle lautet in der Hosius-Vita von S.  Rescio: „Sed si libet insanire, dabiamus vobis iuvenile consilium, Gregorij potius Trideistæ perfidiam, ab homine tamen Polono, ab infertis revocatam recipite, quam nos sub Augustanæ civitatis, unde prima illa confusio prodijt, quæ tot iam nobis hæreses peperit, & ab ipsis Lutheranis vocatur ocrea Polonica, utrique pedi apta, hoc est, omnibus hæresibus conveniens, aut sub aliquot Helveticorum Cantonum & Scultetorum iugum & servitutem submittite.“ – Stanislai Hosii  S.R.E cardinalis maioris poeniten & Episcopi Varmiensis Vita, op. cit., Kap. XXV, S. 193; deutsche Übersetzung – Stanisław Rzeszka: Gründtliche und außführliche Beschreibung der Geschichten, gantzen Lebens und Sterbens, deß grossen Lehrers und Verfechters catholischer Kirchen und Religionen diser unserer Zeiten, Herrn Stanislai Hosii, op. cit., S. 202.

446

Teil I

erwirkte endlich, daß sie aus dem Lande verwiesen wurden. Die Edelleute andererseits schützten sich mit ihren Vorrechten. Man kann – meinten sie – die Bauern und Städter zur Unterwürfigkeit gegen die Bischöfe zwingen; wir aber, die wir das Recht haben, die Könige zu erwählen, wir können uns ebenso einen Papst wählen; und wie wir dem weltlichen Despotismus uns nicht gebeugt haben, ebenso wenig werden wir dem geistlichen erliegen. Während dieser Streitigkeiten wußte der König, welcher verpflichtet, über die Sicherheit der Grenzen zu wachen, in einen Krieg wegen Livland verwickelt war, fast nicht mehr, woher er das Geld und die Kriegsmacht nehmen sollte. Als litauischer Großfürst verfügte er noch über den Schatz dieses Fürstentums, bald jedoch versiegte auch diese Quelle, weil die Reichstage ihn beredeten, Litauen unter gleiche Rechte mit der Krone Polen zu stellen. Nur wenige mächtige Herren kamen ihm mit eigner Kasse und den Scharen ihrer Hoftruppen zur Hilfe. So hielt Mikołaj IV. Radziwiłł715 mit 4000 Mann der königlichen Leibgarden und dem gesammelten Häuflein der Haustruppen einiger Großen den Überfall Moskaus ab, hob 30 000 moskovitische Truppen auf, nahm ihre Kriegsvorräte und tötete ihren Oberanführer [Petr Šujskij]; bald darauf drängte er eine zweite Armee des Großfürsten Ivan zurück.716 Ivan IV. fuhr fort, in seinem Lande die Untertanen zu ermorden. Die Regierung dieses Tyrannen wird als eine Plage, zusammengesetzt aus Unheil verschiedener Arten betrachtet. Überfälle wandernder Ratten (Leming oder Lemur im naturwissenschaftlichen System genannt) und Heuschrecken vernichteten die Saaten, Pestluft raffte die Überbleibsel der Bevölkerung Novgorods, Pskows und Tver’s dahin. Die Bauernschaft sammelte sich in Moskau zu Haufen und suchte nach Brot; der Großfürst ließ sie aus Angst vor der Pest aus der Hauptstadt wegtreiben. Inmitten des allgemeinen Elends und grausiger Trübsal schien er der einzige Fröhliche zu sein; er gab Lustgelage, soff mit dem Gesindel seiner Günstlinge, vertrieb sich die Zeit mit den Witzen der Possenreißer und Taschenspieler. Seine Heiterkeit war jedoch nur scheinbar. Dieser Mensch, der Schrecken um sich herum verbreitete, fürchtete auch selbst ohne Unterlaß etwas Entsetzliches, und, wer möchte es glauben, er dachte stets auf Mittel zu seiner Flucht. Zu diesem Zwecke schickte er an die englische Königin Gesandte mit der Bitte um eine Zuflucht und einen Freibrief zur Durchfahrt, im Falle, daß er aus seinem Reich weichen müßte. Die Königin Elisabeth  I. versprach ihm, ein Land für seinen Aufenthalt zu bestimmen, mit der Bedingung, daß er sich dort auf eigene Kosten ernähre. Diese originelle Akte mit

715 Mikołaj IV. Radziwiłł – Mikolaj IV. der Rote (1512–1584). 716 Vgl. Karamzin, op. cit., Bd. 9, Kap. II, S. 31–32.

32. Vorlesung (25. Mai 1841)

447

den Unterschriften der Königin, des Lord Arundel717 und vieler anderer aus dem Rat der Lords, befindet sich im moskovitischen Archiv.718 Noch kam ihm etwas ganz anderes in den Kopf. Obgleich er mit seinen Gemahlinnen nach Willkür schaltete, einige sogar ohne Scheidung fortjagte, andere aber ungeachtet der kirchlichen Ermahnungen nahm, und nebenbei noch eine Menge Kebsweiber hatte, so faßte er dennoch den sonderbaren Gedanken, die alte Königin Elisabeth zu ehelichen. Die Königin versagte ihm ihre Hand, machte ihm aber ihrerseits andere, nicht minder sonderbare Vorschläge, wovon wir später reden werden. Unterdessen aber versah sie den Großfürsten mit Ärzten, Ingenieuren und Künstlern verschiedener Art. Der polnische König merkte die Gefahr vorher, welche aus diesem Eintritt des Zars in Verhältnisse mit den Mächten Europas entspringen konnte. Er stellte dem Kaiser, den Städten der Hansa und namentlich der englischen Königin vor, daß diese sich im Norden erhebende Macht mit der Zeit Europa bedrohen könne, daß sie von allen übrigen Reichen der Christenheit verschieden, sich auf durchweg andere Grundsätze stütze, ganz und gar andere Bedürfnisse und, wie es scheine, ihre eigene, gräßliche Bestimmung habe; daß daher die Christenheit mit vereinten Kräften ihrem Wachstum einen Damm entgegensetzen müsse. In einer diplomatischen Note Sigismund Augusts an die englische Königin sind folgende bemerkenswerte Worte: Wir wiederholen es ihrer Königlichen Majestät, daß Moskaus Zar, der Feind jedweder Freiheit, von Tag zu Tag seine Kräfte durch Handelsverhältnisse und Verbindungen mit den gebildeten Völkern vermehrt. Ihre Königliche Hoheit kennt seine Grausamkeiten und Mordtaten. Unsere einzige Hoffnung beruht darauf, daß wir ihm in Künsten und Wissenschaften überlegen sind, bald jedoch wird er, – Dank der Schamlosigkeit benachbarter Monarchen – ebensoviel wissen.719

717 Henry FitzAlan, 19th Earl of Arundel (1512–1580). 718 Vgl. Ivan Groznyj: „Poslanie anglijskoj koroleve Elizavete I“. In: Biblioteka literatury Drevnej Rusi. Hrsg. D.S. Lichačev u.a., tom 11: XVI vek. Sankt-Peterburg 2001; im Internet unter [http://lib.pushkinskijdom.ru]. 719 Nach  J.  Maślanka (A.  Mickiewicz: Dzieła. Tom VIII: Literatura słowiańska. Tom pierwszy. Warszawa 1997, S. 722–733) befindet sich dieses Schreiben in: Notices et Extraits des manuscrits de la Bibliothèque Nationale et autres Bibliothèques, publiés par l’Institut National de France. Bd. V, Paris 1798; konnte nicht gefunden werden. Einen Auszug aus diesem Brief in lateinischer Sprache zitiert Iosif Christianovič Gamel’ (1788–1862) – vgl. Joseph Hamel: Tradescant der Aeltere 1618 in Russland. Der Handelsverkehr zwischen England und Russland in seiner Entstehung. Rückblick auf einige der älteren Reisen im Norden. St.-Petersburg-Leipzig 1847, S. 129.

448

Teil I

Kein Wunder, wenn die englische Königin und die deutschen Fürsten auf diese Warnungen fast gar nicht achteten, da die Polen selbst, obgleich Augenzeugen der blutigen Frevel Ivans, der Abschlachtung ganzer livländischer Städte, der Metzeleien und Qualen der polnischen Kriegsgefangenen, ihrem König nicht behilflich sein wollten, sondern ihm im Gegenteil öfters die Hände banden. Der Geist politischer Parteiungen wie religiöser Sekten ergriff nicht nur die Reichstage, sondern auch den königlichen Rat. Sigismund, stets von Widerwärtigkeiten gepeinigt, verfiel in düstere Traurigkeit und prophezeihte zuweilen der Republik die unheilvollen Tage, welche einst über dieselbe von Norden her kommen sollten. Man sagt sogar, daß, als man ihn fragte: wer nach ihm den Thron besteigen werde, er statt alter Antwort mit dem Finger nach Norden wies; sei es, daß er hierdurch den Polen verkündete, was ihrer harre, sei es, daß er sie erschrecken und auf den guten Weg führen wollte. Hosius ebenso bange um die Zukunft Polens wie Sigismund August, riet dem König, seine Blicke nach dem österreichischen oder französischen Haus zu wenden und den Rest seiner Tage der Gründung einer dem Westen entnommenen Dynastie zu widmen; der kinderlose König aber antwortete, daß er keine Kraft mehr in sich fühle, für die Zukunft eines Landes zu arbeiten, dessen Gegenwart sich ihm aus den Händen winde.

33. Vorlesung (28. Mai 1841) Das Schrifttum in Polen – Mikołaj Rej – Er zeichnet das Bild des damaligen polnischen Adels – Der Vergleich Rejs mit Baldassare Castiglione und Michel de Montaigne – Rejs „Leben eines ehrbaren Mannes“ (Żywot człowieka poczciwego).

Erinnern wir uns jenes Polen-Janitscharen, welchen wir den ersten schriftstellernden Edelmann genannt haben: Dieser Janitschar schöpfte noch seine Begriffe aus älteren Zeiten; er brannte vor Begier, die Christenheit siegen zu sehen, und suchte Mittel, solchen Sieg Polen zu vergewissern; dies gehört der Jagellonischen Epoche an. Nun werden wir einen anderen Edelmann, schon einen Neuerer, erblicken, welcher herabsteigt und seine Brüder im Adel mit den philosophischen und religiösen Vorstellungen der Ausländer bekannt zu machen trachtet. Er geht von einem Standpunkt aus, welcher außerhalb der Kirche und der Republik liegt, scheint sogar lange Zeit gegen die grundsätzlichen Ideen Polens zu kämpfen, allmählich jedoch von den Triebkräften erfaßt, inmitten welcher er lebte und wirkte, wird er einigermaßen heimisch und endlich polonisiert er sich vollkommen. Der große Kardinal Hosius, gar sehr mit seinen Schriften an den Papst und die Monarchen beschäftigt, die europäischen Angelegenheiten besorgend, auf allen Reichstagen wirksam auftretend, bemühte sich außerdem, Leute, die durch Vermögen oder persönliche Fähigkeiten sich auszeichneten, für die Kirche wieder zu gewinnen, sie zu bekehren. Aus seiner Lebensbeschreibung wissen wir, daß er einen besonderen Wert auf die Bekehrung eines Mannes niederen Adels, Namens Mikołaj Rej720, legte, dessen Schriften dazumal die große Glocke zogen. Der Biograph des Kardinals (Stanisław Rzeszka) geht zwar nicht sehr höflich mit Rej um; doch spricht er ihm die Gabe des schönen Ausdrucks in der gemeinen Sprache (was bedeuten sollte in der polnischen) nicht ab. Rej gab sich zuerst durch religiöse Schriften, durch Psalmen, zu erkennen und lenkte später die Aufmerksamkeit des Hofes und Adels durch seine polemischen Schriften auf sich. Mit Verwunderung sah man damals zum ersten Male in gedruckten Büchern jene Meinungen, Leidenschaften und Vorurteile dargelegt, welche in der ganzen zahlreichen, übermächtigen Masse der republikanischen Staatsbürger gärten. Bis dahin offenbarten sich Volks- und Religionsgefühle bloß in Gesängen, oder man drückte sie hin und wieder in großen lateinischen Bänden aus, die durch ihren Umfang den nicht zum Sitzen 720 Mikołaj Rej (1505–1569). Vgl. Aleksander Brückner: Mikołaj Rej. Warszawa 1988.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_034

450

Teil I

geneigten Adel abschreckten. Rej, ein für seine Zeit gelehrter Mann, dabei aber von dem Ton der Volkslieder und dem polnischen Umgangsstil innigst durchdrungen, und alle diese Eigenschaften vereinend, gefiel den Gelehrten, dem Adel und selbst dem Volk; er vertrat vollkommen sein Land und seine Epoche, namentlich aber den Stand, dem er angehörte. Rejs Lebensgeschichte721, durch einen seiner Landsleute und Freund geschrieben, ist die Biographie des ganzen polnischen Adels vom Ende des 15. bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts. Wir erblicken in derselben das Leben dieser Klasse, zu jener Zeit der gebildetsten, großmütigsten und anziehendsten im Slaventum; daher sollte auch diese Lebensgeschichte nicht nur die Polen, sondern sogar den ganzen slavischen Stamm, dessen einziger Vertreter in jener Zeit der polnische Adel war, beschäftigen. Mikołaj Rej stammte aus Krakau; seine Kindheit verlebte er jedoch in Galizien oder in Rot-Ruthenien (Ruś Czerwona), und sprach, wie es scheint, in der Jugend einen ruthenisch-polnischen Dialekt722, hatte aber zugleich den Vorteil, inmitten des am meisten dichterischen, am meisten musikalischen aller slavischen Völker zu leben, wo er denn auch für Dichtung und Tonkunst Geschmack bekam, und sich nebenbei mit jenem volkstümlichen Ton und jener Einfalt durchdrang, welche vor allem seine Schriften auszeichnet. Die einzige hohe Schule für die damalige Jugend war die Krakauer Akademie; aber der Vater des Mikołaj Rej liebte seinen einzigen Sohn zu sehr, als daß er sich von ihm hätte trennen können, und erzog ihn bei sich auf dem Land. Der junge Rej schweifte in den Wäldern und an den Ufern des Dnjestr umher, in der Umgegend als wackerer Jäger und Fischer bekannt. Sein Biograph sagt, daß er mit der Beute der Jagd und Fischerei immer so beladen nach Hause zurückkehrte, daß es genug war an seinem Anzug zu schütteln, um sogleich ringsum eine Menge Fische, Vögel und Wild verschiedener Art fallen zu sehen. Allgemein bemerkte man in ihm ungewöhnliche Anlagen, und jeder sagte, 721 Vgl. – Żywot i sprawy poczciwego szlachcica polskiego, Mikołaja Reja z Nagłowic, który był za sławnych królów polskich, Zygmunta Wielkiego, pirwszego tym imieniem króla polskiego, a potym za Zygmunta Augusta, syna jego, także wielkiego a sławnego króla polskiego, który napisał Andrzej Trzecieski, jego dobry towarzysz, który wiedział wszytki sprawy jego. In: Mikołaj Rej: Zwierciadło albo kształt, w którym każdy stan snadnie się może swym sprawam jako we zwieciedle przypatrzyć. Kraków 1567–1568. Angaben nach: Bibliografia literatury polskiej. Nowy Korbut. Warszawa 1965, Bd. 3, S. 159. Die Autorschaft von Andrzej Trzecieski ist umstritten. Neue Ausgabe – M. Rej: Wybór pism. Hrsg. Anna Kochan. Wrocław 2006 (= Biblioteka Narodowa, Bd. 308). 722 Gemeint sind ostslavische Dialekteinflüsse; vgl. T.  Minikowska: Wyrazy ukraińskie w polszczyźnie literackiej XVI wieku. Warszawa-Poznań-Toruń 1980; Maria Karpluk: Stan badań nad językiem Mikołaja Reja. Osiągnięcia i postulaty. In: M. Karpluk: Staropolskie studia językoznawcze, Kraków 2010, S. 511–527.

33. Vorlesung (28. Mai 1841)

451

aus diesem Knaben würde ein ausgezeichneter Mann werden, wenn man ihm eine Erziehung gäbe. Der Vater bequemte sich endlich, ihn in die Schule zu schicken, und als es sich zeigte, daß dies schon zu spät war, – denn nachdem er die Freiheit des Lebens gekostet, wollte er auf keine Weise mehr etwas lernen, – so gedachte er ihn an den Hof eines Herrn zu geben, und kaufte ihm für diesen Zweck karmesinrotes Seidenzeug zum Anzug. Ehe jedoch das Kleid Mikołajs genäht war, hatte er, wie sein Biograph schreibt, das Zeug in Stückchen geschnitten und spielte damit, rote Fähnlein aus demselben verfertigend, die er an den Hals und die Flügel gefangener Krähen band. Es mußte also eine neue Ausstattung aus Krakau herbeigeschafft werden. Der Woiwode723, den ihm sein Vater zum politischen und sittlichen Führer erwählt, war ein vernünftiger Mann; er verstand die Anlagen des Jünglings zu erkennen und zu würdigen. Rej lernte von ihm polnisch schreiben und Briefe abfassen. Aber in Krakau wohnend, wo um einen damals glänzenden königlichen Hof sich eine Menge Ausländer sammelte, wo man verschiedene fremde Zungen sprach, über alles, was in Europa vorging, redete, wo die neuesten, interessantesten Bücher von Hand in Hand gingen, fühlte er große Lust, seinen Geist aufzuklären und machte sich so wacker ans Latein, daß er in Kurzem die theologischen und polemischen Abhandlungen lesen konnte, wozu übrigens kein großes philosophisches Wissen nötig war, da er darüber stets sprechen hörte. Auf diese Art wurde er aus einem Unwissenden durch sich selbst ein Schriftsteller. Die ersten Erzeugnisse seiner Feder waren, wie schon erwähnt, Religionsbücher und Andachtslieder. Man begann damals nach dem Muster der Tschechen und Deutschen in der Kirchen- und Volkssprache zu singen, und versuchte sogar in diese Sprache das katholische Ritual zu übersetzen. Rej, um sich den tschechischen Gelehrten und Kirchen wert zu machen, bemühte sich, das Rhythmenmaß des polnischen und ruthenischen Gesanges in die lateinische und tschechische Form einzuengen. Aus dem reichen Schatze der Rhythmen und Maße der Dichtung des polnischen Volkes wählte er die ärmsten, beschränktesten und wertlosesten Formen; denn da man das eigentliche Lied noch als der Literatur ganz fremd ansah, so entriß er demselben alles, was selbigem Reichtum und Vielfarbigkeit gab, um nur dessen Aufnahme von den Literaten zu erwirken. So erlangte er die Achtung der Gelehrten, leistete aber der Dichtung nicht den mindesten Dienst; er ist als Dichter sehr mittelmäßig, denn er hatte keine dichterischen Anlagen; von der Triebkraft seines Jahrhunderts ergriffen, konnte er nicht genügend seinen Geist sammeln, um ein bedeutendes Erzeugnis zu liefern, das durch die Idee oder die Form hervorragte. Die 723 Andrzej Tęczyński (um 1480–1536).

452

Teil I

eigentlichen Lieder und die in den Kantiken aufbewahrten haben unstreitig höheren Wert für die polnische Dichtung, als Rejs poetische Schöpfungen. Viel jedoch leistete er dadurch, daß er den Gelehrten, den Lehrern und Dichtern von Profession, das Dasein einer Volksliteratur anzeigte, daß er sie zum Betrachten dieser Form der Dichtung des gemeinen Mannes hinleitete. Bei weitem höher steht Rej als prosaischer Schriftsteller. Mit dem 16. Jahrhundert beginnt, wie bekannt, die Laufbahn des sich freimachenden menschlichen Gedankens. Allgemein schien dazumal die Disziplin der Kirche zu streng, das Reich der anerkannten Vorstellungen zu beschränkt; man suchte neue Bahnen des Wissens, man strebte mit Hilfe der Philosophie die großen Fragen des Glaubens und der Staatskunst zu lösen. Die damaligen Philosophen erhoben die altertümlichen Systeme der Griechen und Römer bis in den Himmel. Der zur Lernbegierde geweckte, aber unwissende Adel wollte erfahren, was in diesen umfangreichen Bänden enthalten sei. Gegen das Ende des 15. Jahrhunderts kommentierten die Gelehrten, die Bischöfe und Philologen die griechische und lateinische Philosophie. Hosius z.B. kannte Cicero, Plato und Aristoteles auswendig; er zitierte die Ansichten der Kirchenväter aus den Originaltexten. Aber der zeitgenössische Adel konnte diese Masse des Wissens nicht auf einmal auffassen, er konnte nicht so schnell Lateinisch und Griechisch lernen. Man ergriff daher begierig die sparsamen Sammlungen, Auszüge und Anekdoten. Schriften der Art wurden alltagliche Lektüre. Weniger gekannte und geringen Wert besitzende Schriftsteller, wie Diogenes Laertios724, Aulus Gellius725, kamen damals in Umlauf; man übersetzte, las, führte Plutarchs „Apophtegmata“ und alle griechischen und römischen Kompilatoren an; jeder wollte schnell und mit geringen Kosten lernen. Mikołaj Rej, europäischer Schriftsteller schon dadurch, daß er Polen, welches mit dem Westen vereint war, angehörte, wenngleich nicht der polnischen Kirche, die ein Teil der allgemeinen war, hegte die Meinungen seines Jahrhunderts. Seine Werke scheinen unter demselben Einfluß geschrieben zu sein, wie die der berühmten Autoren seiner Epoche, des Baldassare Castiglione und Michel de Montaigne.726 Castiglione lebte gleichzeitig mit ihm, Montaigne etwas später. Dasselbe Begehren nach Verallgemeinerung der sich damals bekämpfenden religiösen und politischen Ansichten im alltäglichen Leben; dasselbe Talent in der Leichtigkeit und Einfachheit der Darstellung erhabener Gedanken und 724 Diogenis Laertii vitae philosophorum. Hrsg. Miroslav Markovich und Hans Gärtner. 3 Bde., Stuttgart-Leipzig 1999 (Bd. 1 und 2), München-Leipzig 2002 (Bd. 3). 725 Aulus Gellius: Noctium atticarum libri XX. Paris 1511; dt. Übersetzung – Aulus Gellius: Die attischen Nächte. Frankfurt am Main 1988. 726 Baldassare Castiglione (1478–1529); Michel Eyquem de Montaigne (1533–1592).

33. Vorlesung (28. Mai 1841)

453

tiefer Gefühle; dieselbe Gewandtheit von allem zu sprechen, zeichnen diese drei Schriftsteller aus. Jeder von ihnen repräsentiert jedoch sein Volk und den Stand, dem er angehörte. Der Berühmteste unter ihnen, Baldassare Castiglione, sah den Verfall der adligen Macht und der italischen Republiken. Die Italiener, durch politische Gruppierungen zerrissen, welche sich Stützen in Frankreich, in Österreich, in Spanien suchten, besaßen weder eine Einheit, noch einen allgemeinen volkstümlichen Gedanken mehr. Der Adel scharte sich um den einen oder anderen dieser Höfe; es erlosch das Gefühl der politischen Unabhängigkeit, und die einst glänzenden Höfe der welschen Herren verschwanden. Castiglione verbrachte seine Jugend an den Höfen des Fürsten Urbino, des englischen Königs und des Papstes Leo X. In allen seinen Schriften bemüht er sich auch, die Italiener und das ganze Menschengeschlecht nach dem Muster des vollkommenen Hofmanns, das er sich ersonnen, zu bilden. Ein Hofmann ist für ihn ein vollendeter Mensch, ein Ideal des Menschen. Er hat für die Hofetikette dasjenige getan, was Quintilian727 für die Rhetorik: er schrieb die Grundsätze und Vorschriften derselben nieder. Ihn kümmern die religiösen Vorstellungen wenig, selten mischt er sich in Fragen der Politik, einzig hat er die Eigenschaften vor Augen, welche nötig sind, um auf irgend einem der glänzenden Höfe italienischer Fürsten Ansehen zu erlangen. Er spricht sehr viel über Musik, Fechtkunst, über die gehörige Weise, das Gespräch zu führen, über angenehmes Erzählen, über Anekdoten usw.728 Michel de Montaigne, ein französischer Großer, war Augenzeuge des Kampfes des Protestantismus mit dem Katholizismus. In Frankreich nahm von jeher jede Reibung der Vorstellungen einen politischen Charakter an, die religiöse Frage wurde sogleich Staatsfrage. Für die Italiener ward die Reformation eine Aufgabe der äußeren Politik, für die Franzosen eine innere Angelegenheit: sie teilten sich in Parteien, die sich mit der Feder und dem Schwert bekämpften. Die Hugenotten und Katholiken schlossen sich, wie bekannt, die einen an den König von Navarra, die anderen an die La Sainte Ligue (Katholische Liga) an; es gab jedoch höhere, selbstständige Geister, welche, ohne sich ausschließlich den Ansichten irgendeiner Partei zu ergeben, dem Hergang der ganzen Bewegung zuschauten. Montaigne gehört zu der Zahl derjenigen, welche augenscheinlich sahen, daß die Vergangenheit im Schwinden war, sie vermochten 727 M. Fabii Qvintiliani Oratoriarvm Institvtionum Lib. XII. Vgl. die Ausgabe – Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Hrsg. Helmut Rahn. Darmstadt 2011 (lateinisch und deutsch). 728 Vgl. Il Libro del cortegiano del conte Baldesar Castiglione. Firenze 1537; dt. Übersetzung – Baldassare Castiglione: Der Hofmann. Lebensart in der Renaissance. Aus dem Italienischen von Albert Wesselski. Berlin 1999.

454

Teil I

jedoch nicht, die Zukunft zu enträtseln und zu bestimmen. Er diente unter den Fahnen Heinrichs IV., wenn er gleich Katholik war; hatte Neigung für die Protestanten, wenn er gleich in seinen Schriften die katholische Religion verteidigte. Die im Glauben erschütterten Gemüter versuchten sich mit eigenen Kräften zu halten; nachdem also auch Montaigne die Hoffnung verloren, alle religiösen und politischen Fragen mit Hilfe der alten Philosophie und der Tradition zu lösen, forschte er in sich selbst nach dem Schlüssel des Rätsels und begann eine lange Bahn selbstständiger Darstellungen. Er denkt über sich nach, beurteilt seine Fehler, schätzt die Eigenschaften ab und vertieft sich endlich ganz in sich selbst. Stets wiederholt er mit großer Demut, daß er durchaus nicht als Muster der Vollkommenheit gelten wolle, und doch möchte er gerne, wie dies überall zu sehen, die ganze Welt nach sich meistern. Es scheint ihm, daß, weil er selbst auf dem Land unter Bauern erzogen, es das Beste wäre, die Jugend ebenso zu erziehen, und daß alle Eltern diese Weise befolgen sollten; auch hält er seine Ansichten in Sachen der Religion für die wahrsten; außerdem glaubt er, daß die Art, wie er die Pflichten gegen König und Vaterland erfülle, am meisten dem französischen Adel entsprechen würde. Bald werden wir sehen, worin die Vorstellungen Montaignes von denen unseres polnischen Edelmanns verschieden sind. Montaigne ist Politiker und ein Mann des Verstandes. Er traut dem Protestantismus nicht, weil er ihn in Frankreich als schädlich ansieht, er verteidigt den Katholizismus, denn dies ist eine kluge und seit Jahrhunderten erprobte Institution. Es findet sich in ihm nicht die mindeste Spur von jenem tiefen Mystizismus, welchen die deutschen Sektierer atmeten. Den Dogmen nach ist er immer rechtgläubig; in untergeordneten Fragen erlaubt er sich zu diskutieren oder vielmehr ohne Maß hin und her zu reden. Seine Schriften, eine wahre Sammlung verworrenen Geschwätzes über alles, was ihm in den Sinn kam, sind das Zeughaus, in welchem jede Partei Waffen für sich finden kann. Da er in verschiedenen Zeiträumen seines Lebens schrieb, so sah er die gewöhnlichen Dinge verschieden an; seine Hauptmerkmale sind unerschütterliche Treue gegen die Dogmen, unbeschränkte Freiheit in der Darstellung untergeordneter Aufgaben, unbesiegbarer Drang, der Welt alles zu erzählen, was in seinem Innern vorging.729 Der polnische Edelmann besaß nicht die Gelehrsamkeit des französischen Edelmanns. Beide lasen eifrig die nämlichen Werke, sie schöpften ihr Wissen aus den Auszügen, Kompendien und Handbüchern der Philosophen; Montaigne jedoch kannte besser die klassischen Schriftsteller, namentlich die Dichter und man kann sagen, seine Werke sind ein wunderschönes Mosaik, 729 Vgl. Michel de Mantaigne: Essais. Übersetzt von Johann Daniel Tietz. Frankfurt am Main 2010.

33. Vorlesung (28. Mai 1841)

455

bestehend aus Verslein, Anekdoten, passenden Ausdrücken, eingesetzt in die lebendige Erzählung eines witzigen Plauderers, der leicht und fast ohne zu wollen spricht. Rej führt öfters dieselben Schriftsteller an, er beruft sich auf dieselben Autoritäten; aber er zeichnet schon einen vollkommneren, größeren Plan, er bildet ein philosophisches System; dieses kam daher, weil er aufrichtiger war und mehr Glauben hatte als Montaigne. Wenngleich Protestant, nimmt er die Schrift und die katholischen Überlieferungen an, scheidet sie nicht, wie Montaigne, von den philosophischen und moralischen Aufgaben; alles, was er gesehen, worüber er gedacht, will er in ein Ganzes bringen, und zum Muster dieses Ganzen nimmt er sich das Königreich Polen. Er hat eine besondere, nur ihm eigentümliche Weise für das Begreifen der Dinge, und diese beschreibt er in seinem Buch, betitelt: „Zwierciadło albo kształt, w którym każdy stan snadnie się może swym sprawam jako we zwierciedle przypatrzyć“ (Der Spiegel oder die Form, in welcher jeder Stand mit Leichtigkeit seine eigenen Handlungen wie in einem Spiegel sehen kann); man nennt es auch: „Żywot człowieka poczciwego“ (Das Lebens eines ehrbarenen Mannes), d.h. das Leben eines Adligen, denn für ihn wie für Montaigne und Castiglione ist der Edelmann allein der Mensch im Staate. Rej, von der Schöpfung der Welt beginnend, erzählt nach den Büchern Moses und der Darstellung der Kirche, wie Gott den Menschen erschaffen, betrachtet dann die Verschiedenheit der Charaktere in den Menschen, was er dem verschiedenen Maße der Flüssigkeit oder Feuchtigkeit, die in dem menschlichen Körper vorherrschend ist, zuschreibt. Albowiem to jest rzecz nieomylna, iż ciało człowiecze z tych się czterech wilgotności rodzić musi, to jest: ze krwie, z kolery, z flegmy, a z melankoliej […]. A ty czterzy wilgotności są sobie barzo różne i sprzeciwne. Bo krew czyni człowieka wesołego, hojnego, wspaniłego, kolera pysznego a zuchwałego. flegma zasię leniwego, ospałego, bladego, a melankolia frasownego a rzadko wesołego. Otóż która by kolwiek tylko sama człowiecze ciało opanowała, pewnie by je snadnie umorzyła albo barzo zepsowała. Ale to Pan nadobnie tamże przy stworzeniu człowieka postanowić raczył, iż zawżdy jedna ku drugiej przymieszana być musi, tak iż chłodna gorącą chłodzi, a gorąca też zasię chłodnej zagrzewać musi […].“730 Denn das ist eine unfehlbare Sache, – sagt er – daß der menschliche Körper sich aus vier Feuchtigkeiten erzeugen muß, nämlich aus dem Blut, der Cholera, dem Phlegma und der Melancholie […]. Diese vier Feuchtigkeiten sind sehr verschieden und gegensätzlich. Das Blut macht den Menschen fröhlich, freigebig und großmütig; die Cholera stolz und frech; das Phlegma aber faul, schläfrig, bleich; die Melancholie besorgt, betrübt. Sollte nun aber irgendeine 730 Mikołaj Rej: Żywot człowieka poczciwego. Hrsg. Julian Krzyżanowski. Wrocław 1959, Księgi pierwsze, rozdział I, S. 23–24. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe zitiert.

456

Teil I allein den menschlichen Körper beherrschen, so würde sie ihn leicht zu Grunde richten oder doch sehr schädlich wirken. Schön hat aber der Herr den Menschen bei seiner Schöpfung ausgestattet, daß immer eine der anderen beigemischt sein muß, so daß die kühle die heiße mäßigt, und die heiße wiederum die kühle erwärmt.

Indem er also die jedem Menschen angeborenen Anlagen zugesteht, nennt er sie lateinisch das fatum, polnisch „wyrok“, d.h. Ausspruch, Zuerkenntnis. Der Mensch, durch diesen Ausspruch bestimmt, heiter oder schläfrig, gut oder boshaft zu sein, besitzt jedoch noch das ihm verliehene Prinzip, was die Bibel den „lebendigen Geist“ (spiritus vitalis), Rej aber schlechtweg die Vernunft nennt, die uns gegeben ist, damit wir die angeborenen Neigungen zügeln, hemmen und gehörig leiten können. In Betracht seiner körperlichen Natur nimmt der Mensch eine sehr niedere Stelle ein, er gehört fast zu den unorganischen Wesen, die der Einwirkung der Elemente ausgesetzt sind. Doch unterliegt er auch noch dem Einfluß höherer Kräfte, der Himmelskörper, welche auf sein tierisches Leben einwirken. Nach Rejs Vorstellung ähnelt die ganze Welt dem Königreich Polen. Es gibt in derselben fast so zu nennende Stände der Planeten, Kometen, der vorzüglicheren und weniger bedeutenderen Sterne, die edleren aber herrschen über die geringeren, woher denn auch die Erde ihre verschiedene Gewalt in ihrem Lauf erfährt. Aus dem Einfluß dieser Planeten entspringen verschiedene Zustände, Begebenheiten und Wendungen der menschlichen Dinge und hierbei die tierischen Neigungen des Menschen. Die Bestimmung, mit den Worten des Autors, praedestinatio, was wir „die Vorherbestimmung des Herrn“ nennen, hängt bei jedem Menschen von dem Einfluß ab, unter welchem er geboren ist. Diese Bestimmung unterscheidet sich vom fatum. Fatum ist die Kraft der irdischen Elemente. Praedestinatio aber die Macht der Himmelskörper, die himmlische Macht. Als Folge des Wirkens dieser Kräfte besitzt der Mensch verschiedene Neigungen. Rej kommt hier auf einen wichtigen Gedanken, nämlich daß die Zahl der schlechten menschlichen Neigungen der Zahl der Zehn Gebote Gottes entspreche, d.h. die einen haben eine angeborene Neigung zur Lästerung, die anderen zum Ungehorsam gegen die Eltern, andere zum Totschlag, Diebstahl usw. Wie daher dem Menschen zur Bewältigung der Elemente der „lebendige Geist“ dient, so hat er, um die Neigungen zu beherrschen, das geschriebene Gesetz, die Gebote; denn weil der Einfluß der Planeten sichtbar ist, so mußte auch das Gesetz sich offen zeigen. Dieses Licht erglänzte durch Moses wie eine Leuchte, um zu sehen, was böse und was gut ist; in Christus dem Herrn aber wie die Sonne. Rej fügt sogar in seiner Seeleneinfalt hinzu, daß der Erlöser die Menschheit aus einer großen Verlegenheit gezogen hat, weil wir jetzt wenigstens von Gott sprechen können, da wir sein Wort vernommen.

33. Vorlesung (28. Mai 1841)

457

So ist im Allgemeinen Rejs System. Ihm gemäß ist die Vernunft gegeben zum Erleuchten, das Gesetz aber hauptsächlich zum Hemmen. In der Vorrede sagt er sogar, was die Philosophen des Altertums getan haben, indem sie sich bemühten, die menschlichen Bahnen zu beleuchten und die bösen Neigungen zu hemmen, das möchte er gerne für Polen tun, wenngleich er ein einfacher und ungelehrter Mann sei. Nachdem er in Kürze seine allgemeinen Begriffe dargelegt, beschäftigte er sich mit der Anwendung derselben auf das gewöhnliche Leben in Polen. Nach seiner Meinung ist der polnische Edelmann das vollkommenste Wesen in der Menschheit, „der Vorgesetzte über die ganze Erde“. Was darunter wie verdeckt in den unterirdischen Schichten sich befindet, das scheint ihm schon etwas als zur späteren Schöpfung Gehöriges, fast Unbegreifbares. Hat er sich also den polnischen Adel in der Person eines Jünglings gedacht, welchen er zu bilden sich vornimmt, so trägt er seine Beobachtungen und Regeln zuerst ihm vor. Vor allem setzt er ihm die Vorschriften des Evangeliums auseinander, nachher spricht er von dem Unterschied der Temperamente und dem Einfluß der Planeten. Um das Temperament kennen zu lernen, rät er besonders, den Menschen zu beobachten, wenn er betrunken ist. Bo koleryk wnet z myślą swą wzgórę wyleci, wnet chce być hetmanem, a choć nic nie masz, przedsię sobie panem zda. Krewnik zasię wesół, skacze, miłuje, ściska, dałby barzo rad każdemu, by jeno co miał. Melankolik zasię lamentuje, wszystko mu niewczas, wszystko się mu krzywdą widzi. A flegmatyk zasię chrapie, sapi, spi, a na brzuch pluje, a przedsię i omacmie kufla podle siebie maca.731 Denn der Choleriker wird bald mit seinen Gedanken in die Höhe fahren; gleich will er Hetman sein, und wenngleich Nichts besitzend, dünkt er sich doch ein Herr. Der Sanguiniker aber ist lustig; er springt, herzt, umarmt alles, und möchte gerne geben, wenn er nur etwas hätte. Der Melancholiker aber klagt; alles scheint ihm unzeitig und unrecht zu sein. Der Phlegmatiker schnarcht, röchelt, schläft, bespuckt sich den Leib und, wenngleich im Dunkeln, tappt er doch mit der Hand nach dem Glas herum.

In diesen Bemerkungen zeichnet uns Rej ein lebendiges Bild seiner Zeitgenossen. Ferner erteilt er den Müttern und Lehrern Rat, wie sie die Kinder zu erziehen haben; führt Anekdoten und Beispiele aus der Heiligen Schrift, aus der neuen und alten Geschichte an; überschwemmt alles gerade wie Montaigne mit einer Flut von Zitaten; der Unterschied jedoch findet zwischen beiden statt, daß der Franzose nur in den Büchern und in sich selbst lebt, der Pole aber in der Bibel und in der Natur. Alle seine Gleichnisse, Metaphern und Bilder 731 Mikołaj Rej: Żywot człowieka poczciwego, op. cit., S. 25.

458

Teil I

sind den heiligen Büchern und dem vaterländischen Boden entnommen; er besitzt Gefühl für Naturschönheit, liebt die Tiere, was bei Montaigne fast nicht zu bemerken ist. Seine Ratschläge sind zuweilen sonderbarer Art, und er führt interessante Anekdoten von Erziehung der Kinder in Gesprächsform an. So z.B. erzählt er, daß, als einst ein Knabe von galligem Temperament eine große Neigung zum Morden zeigte, ihn die Eltern zum Metzger machten und so seiner Blutgier eine unschädliche Richtung gaben. Die Erziehung nach Rej ist ganz polnisch. Er läßt den Jüngling etwas schreiben und lesen lernen, aber mit Grammatik und Logik; wogegen er selbst einen offenbaren Widerwillen hat, will er ihn nicht quälen; dagegen befiehlt er ihm, sich im Reiten, im Werfen der Lanze, im Jagen nach dem Ringe und Gewehrschießen zu üben; endlich schickt er ihn auf die Wanderung. Der Abschnitt von der Wanderschaft ist ziemlich lang, er umfaßt alltägliche, bekannte Wahrheiten; doch ist er interessant für die Polen, denn er ist voll Einzelheiten des damaligen häuslichen Lebens der Herren und des Adels. Rej hat eine hohe Vorstellung von fremden Ländern, doch schätzt er Erfindungen und Künste gering. Seinem Zögling gibt er den Rat, sich an einen angesehenen ausländischen Großen zu halten, an einen gesetzten, würdigen Mann, und sich in Gesprächen mit ihm möglichst aufzuklären. Das Gespräch behauptet bei Rej die erste Stelle in seinem ganzen Erziehungsgang. Nachdem er auf diese Weise das Jünglingsalter gezeichnet, geht er zu den Mitteljahren über, zählt auf und erläutert die Pflichten des Mannesalters, widmet einen bedeutenden Teil seines Werkes der Erörterung, wie man einen Stand wählen müsse, wie der Republik und dem König zu dienen sei. Vier hauptsächliche Stände oder Berufsgeschäfte würden Rej vortrefflich seinen vier Temperamenten entsprochen haben, doch weil er Protestant war, so mußte er den geistlichen Stand beiseite lassen, und hierdurch hat er sein System unvollständig gemacht; den Beruf des Bürgers setzte er in das Kriegswesen, das Amtführen und das Hofleben; die Priesterwürde berührte er nur zuweilen hier und da. Die Pflichten und Annehmlichkeiten eines jeden dieser drei dem Edelmann angewiesenen Berufe erzählt Rej mit großem Talent in einem Stil voller Einfalt, der für den Polen sehr anziehend ist. Über den Kriegerstand z.B. spricht er sich so aus: A jeśli by cię też w stan rycerski albo ten żołnierski myśl wiodła, wierz mi, i tam byś się nie prawie źle udał. Bo tam znajdziesz i dworstwo, i towarzystwo, i ćwiczenie, a snadź mało nie potrzebniejsze niżli u dwora. Bo się tam nauczysz gospodarstwa, bo się już swym stanem tam nie inaczej, jako we wsi gospodarstwem, musisz opiekać. Już się tam nauczysz pomiernego szafarstwa, boć tego

33. Vorlesung (28. Mai 1841)

459

będzie potrzeba, bo tam trudno, jako domy, do szpiżarniej. Nauczysz się cirpliwości, nauczysz się spraw rycerskich, nauczysz się około koni, około sług i około inych potrzebnych rzeczy sprawy a opatrzności, a snadź mało nie rychlej, niżli w onej dworskiej zgrai darmo leżącej. Bo jeślić się trefi być w ciągnieniu, tedy już tam wielka rozkosz patrzyć na ludzi, patrzyć na sprawy, patrzyć na hufy pięknym porządkiem postępując, nasłuchać się onych wdzięcznych trębaczów, bębnów, pokrzyków, aż ziemia drży a serce się od radości trzęsie. Przydziesz do stanu: nie trzebać już będzie oliwek, limonij ani kaparów dla przysmaków, jako onemu doma leżącemu a rozpieszczonemu brzuchowi. Bo powiadają, iż to nawdzięczniejszy przysmak żołądkowi przegłodzenie. Boć stanie za limoniją i za kapary ona wdzięczna przejażdżka z miłym towarzystwem, żeć tam smaczniejsza będzie wędzonka a kasza, niżli gdybyś leżał za piecem, na ścianę nogi wzniósł, a w kobzę grając, czekając, rychło li obiad dowre, niżlić by przyniesiono bijankę z marcepanem. […] jużechmy słyszeli, jakie rozkoszy a jakie krotofile są w ciągnieniu między rycerskimi ludźmi. Patrzajże zasię, gdy już potrzeby nie będzie a rozłożą je po leżach, jakiej tam dopiro rozkoszy i ćwiczenia używać będą. Azaż tam nie rozkosz mają, gdy się do jednej gospody z potraweczkami nadobnymi znoszą? Azaż tam nie będą wdzięczne rozmowy a ony poczciwe żarty, że więc, jako ono powiadają, i gęba się dobrze nie zakrzywi od śmiechu? Acz też tam i kofel, i żołędny tuz wielkie zachowanie miewają, ale gdy tak, jakoś słyszał, zachowasz na wszem stateczną pomiarę w sobie, nic to tobie wszytko szkodzić nie będzie, bo trudno tego, powiadają, do tańca ciągnąć, kto nierad skacze. Potym zasię na wdzięczne się przejażdżki rozjadą, drudzy do zawodów, drudzy też z jakim myślistwem, drudzy też z łuków strzelają, kamieńmi drudzy miecą, owa tam żadny czas bez wżdy jakiej krotofile być nie może.732 Und sollte dich nun auch zum Ritter- oder Soldatenstand der Gedanke führen, glaube mir, auch dort würdest du dich nicht gar übel befinden. Denn da findest du auch Hofleben, auch Gesellschaft und Übung, wenn nicht noch nützlichere als bei Hofe. Da würdest du wirtschaften lernen, denn mit deinem Stand müßtest du dort nicht anders als wie mit der Wirtschaft auf deinem Landgut umgehen. Dort magst du mäßige Haushaltung lernen; denn dies würde nötig sein, da es nämlich nicht möglich, wie zu Hause, nach der Vorratskammer zu gehen. Du wirst Geduld und ritterliche Beschäftigungen lernen, auch wie man mit Pferden, Dienern und andern nötigen Dingen des Berufs und der Vorsicht umgehen muß, dies aber fast schneller als in jenem Schwarm untätig liegender Hofleute. Denn trifft es sich, auf dem Marsch zu sein, so ist schon das von großem Nutzen, die Menschen, die Gerätschaften zu sehen, wie die Scharen in schöner Ordnung vorwärts ziehen, zu hören die lieblichen Trompeten, Trommeln und Zurufe, daß die Erde zittert und das Herz vor Freuden hüpft. Erreichst du nun Ansehen, so werden dir die lieblichen Oliven, Limonen und Kapern zum Würzen nicht nötig sein, wie jenem zu Hause liegenden verzärtelten Bauch. Denn man sagt, die angenehmste Würze für den Magen sei der Hunger. Und für die Limonen und Kapern wird dich schon jener freudige Marsch mit der angenehmen Gesellschaft entschädigen, sodaß dir dort besser Rauchfleisch und Grütze schmecken wird, 732 Mikołaj Rej: Żywot człowieka poczciwego, op. cit., S. 94–97.

460

Teil I als lägest du hinterm Ofen, mit auf die Wand gestützten Beinen, auf dem Dudelsacke spielend, und wartetest, ob bald das Mittagsessen gar sei, besser als hätte man dir Marzipan mit Eierschaum gebracht. […] Wir haben schon gehört, welche Wonne und Lust es gibt auf den Zügen ritterlicher Leute. Sieh jetzt zu, wenn die Not aufhört und sie sich in die Winterquartiere begeben, welches Glück und welche Übungen sie erst da sich bereiten werden. Haben sie etwa keine Freude, wenn sie bei leckeren Gerichten in einem Haus sich versammeln? Wird es da etwa an lieblichen Gesprächen und biederen Scherzen mangeln? Nein, sondern, wie man zu sagen pflegt, daß der Mund vor Lachen fast krumm wird, wie denn dort auch der Becher und das KreuzAs großes Ansehen genießen, und wenn, wie gesagt, du in allem gehöriges Maß selbst beobachten wirst, so wird dir dieses Alles nichts schaden; denn es ist schwer, wie man sagt, denjenigen zum Tanze zu nötigen, der nicht gerne springt. Nachher sprengen sie wieder zu fröhlichen Lustritten auseinander, einige zu Wettrennen, andere zu Jagden, wieder andere schießen mit Bogen, noch andere werfen Steine: also geht dort kein Augenblick ohne irgendeine Lust vorüber.

Rej gibt hierbei seinem Zögling auch Sittenlehren; er sagt: A to zawżdy miej na pieczy, gdy tam ujrzysz: ano drapią, biorą a szarpają niewinne ludzi a ich majętności; bo to jest stary zwyczaj wojenny, chociaj się łzy leją, chociaj głosy aż pod niebo o pomstę krzyczą. Aleć ja radzę: byś miał przemrzeć i ze szkapami, kędy możesz, ostrzegaj się tego; abyś miał i jednę suknię przedać, a w drugiej się do domu wrócić, tedyć to lepiej będzie, niżli głos niewinny a przeklęctwo na się puścić.733 Das aber beachte immer, sobald du siehst, daß geplündert wird, daß unschuldigen Leuten ihr Vermögen geraubt wird (denn dies ist alter kriegerischer Gebrauch, wenngleich Tränen fließen und Klagerufe zum Himmel um Rache schreien), so rate ich dir dennoch, solltest du auch mit deinen Pferden Hunger leiden, dich vor Ähnlichem zu bewahren, und wenn du auch ein Kleid verkaufen und nur im anderen heimkehren müßtest, so ist dies dir besser, als unschuldige Stimmen und Verwünschungen über dich kommen zu lassen.

In ähnlicher Weise spricht er vom Hofleben, wo er seinem Edelmann den Rat gibt, sich zu bemühen, den Herren zu gefallen, jedoch nie von dem Weg der Wahrheit und Tugend abzuweichen. Endlich beschäftigt er sich mit der Heirat, mit seiner häuslichen Wirtschaft und den öffentlichen Dingen, was in Kurzem folgen wird.

733 Mikołaj Rej: Żywot człowieka poczciwego, op. cit., S. 97.

34. Vorlesung (1. Juni 1841) Fortsetzung der Betrachtungen über Rejs Werke – Über die Heirat nach Rej und Montaigne – Rej über Steuern, Ämter der Verwaltung und Schatzführung, den Senat und die Senatoren – Drohende Gefahren für das polnische Reich – Rejs Stil.

Einige gut übersetzte Werke in der Manier des Rej würden den Ausländern einen vollkommeneren Begriff der polnischen Geschichte geben, als der ist, den sie aus den Geschichtsschreibern, namentlich den heutigen, entnehmen können. Rej, wir wiederholen es nochmals, entfaltet vor unseren Augen das ganze Bild des Lebens in Polen. Was hier Slavisches geblieben, das ist im Kreis der Familie, in Sitten und Unsitten, in häuslichen Tugenden, unter welchen die slavische Gastfreiheit hervorragt, zu sehen; das eigentümliche Polen kommt zum Vorschein in den öffentlichen Angelegenheiten, in den Berührungen des Bürgers mit dem Staat, von demjenigen endlich, was man das Allgemeine, Europäische nennen kann, haben wir ein treues Bild in den religiösen und gesellschaftlichen Vorstellungen. Die Polen jener Zeit überragten schon die Slaven an der Donau. Denn letztere besingen bloß ihre Gefühle, malen nur kleine Bilder ihres Lebens aus; jene aber denken und sprechen; jeder trachtet sogar seine eigenen Begriffe der Politik und den gewöhnlichen Dingen anzupassen. Vergleichen wir die Ansichten Rejs mit denen Montaignes, so läßt sich ein großer Unterschied derselben christlichen Bildung (Zivilisation) bei den zwei verschiedenen Stämmen, nämlich dem römischen Gallien und der slavischen Gesellschaft wahrnehmen. Unseren Edelmann haben wir verlassen, wie „er sich als Freier herumtummelte“. Schon hat er die Lehrzeit beendigt; er hat sich in der Welt umgesehen, hat sogar einige Kriegszüge mitgemacht, und zählt etwa vierzig Jahre; nach Rej wäre es nunmehr an der Zeit, ans Heiraten zu denken, und rät ihm, sich die Wahl gut zu überlegen, „denn hier handelt es sich nicht um einen Ärmel, sondern um das ganze Kleid.“ („iż tu już nie o rękaw idzie, ale o całą suknię“).734 Michel de Montaigne widmet auch einen Abschnitt ausschließlich der Heirat; er setzt ihn aber aus Maximen zusammen, die er im Wirrwarr der griechischen und römischen Weisen geschöpft. Um das Alter zu bezeichnen, welches am besten für das Heiraten paßt, befragt er die Athener um ihre Ansicht; wegen der Grundregeln für die ehelichen Pflichten weiß er sich nicht anderswohin, als an die Römer zu wenden. Er fragt sogar die Türken um Rat. Er sagt, daß er 734 Mikołaj Rej: Żywot człowieka poczciwego, op. cit., S. 113.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_035

462

Teil I

neugierig sei, wie hierüber Mulei Hassan, der Bej von Tunis735, dächte, welcher dazumal vom Thron gestürzt in Europa umherirrte. Wie er also selbst keine moralische Gewißheit besaß, so konnte er auch seine vernünftigen Grundsätze auf kein sittliches Gefühl gründen. Nachdem er vergessen, daß er einen ganzen Abschnitt oder vielmehr einen ganzen Band seiner Denkwürdigkeiten zur Verteidigung der Kirchendisziplin736 geschrieben, schwatzt er nun von diesem Gegenstand, was ihm nur irgend in den Sinn kommt. So sagt er zum Beispiel: Je me mariay à trente trois ans, et loue l’opinion de trente cinq, qu’on dict ester d’Aristote. Platon ne veult pas qu’on se marie avant les trente; mais il a raison de mocquer de ceulx qui font les œuvres de marriage aprez cinquante cinq, et condamme leur engeance undigne d’aliment et de vie. Thales y donna les plus vrayes bornes; qui, ieune, respondit à sa mere le pressant de se marier, „qu’il n’estoit pas temps“; et, devenu sur l’age, „qu’il n’estoit plus temps“.737 Ich verheiratete mich im 33. Lebensjahr. Aristoteles soll jedoch das 35. empfehlen. Platon wünscht nicht, daß man vor dem zurückgelegten 30. Jahre sich verheirate, und bespöttelt mit Recht diejenigen, die dies nach dem 55. tun, ihre Nachkommenschaft erachtet er als des Lebens und der Nahrung unwürdig. Thales hat am besten die geeignete Zeit bezeichnet, als er seiner Mutter, die ihn zum Heiraten in der Jugend antrieb, antwortete: „es sei noch nicht Zeit“; und als er alt geworden: „es sei schon nicht mehr Zeit.“

Nachdem Montaigne einen ungeheuren Vorrat mühsam gesammelter Beispiele und Muster hervorgekramt, endet er damit, daß ein Ehepaar alsdann am besten zusammenpasse, wenn der Mann taub und die Frau blind sei. Im Allgemeinen ist er nicht für die Ehe; er sagt sogar, daß der Mensch nicht seinetwegen, sondern der Familie halber sich vereheliche; er unterscheidet die Liebe von der Ehe; fordert von der Gattin, daß sie gut, bescheiden, kurz ein Muster aller Tugenden sei, den Gemahl aber verpflichtet er ganz und gar nicht dazu und unterstützt diese Ansicht mit Beispielen aus der Geschichte; endlich fügt er hinzu, daß es gut sei, mit dem Heiraten nicht zu eilen, denn der französische Edelmann könnte in seinen erwachsenen Söhnen Nebenbuhler am Hof finden, er müßte, noch selbst jung, mit ihnen Vermögen, Waffenzeug, Gespanne und sonstiges Geräte teilen. Eine ganz andere Vorstellung von diesen Pflichten hat unser polnischer Edelmann. Für ihn ist die Ehe eine göttliche Einrichtung und der Staatsbürger 735 Bey Muley Hasan aus Tunis, Vasall Karls V., vertriebener König von Tunis (1534). 736 Vgl. M.  Montaigne: Essais. Paris 1802, Bd.  2, Kap.  12, S.  136–380 (Apologie de Raimond Sebond – Schutzschrift für Raimond von Sebonde); deutsche Übersetzung – Michel Montaigne: Essais. Übersetzt von Hans Stilett. Frankfurt 1998, S. 217–300. 737 Michel de Montaigne: Essais. Paris 1802, Bd. 2, Kap. 8, S. 74.

34. Vorlesung (1. Juni 1841)

463

verpflichtet zu heiraten, erstens um seine Bestimmung auf dieser Erde zu erfüllen, zweitens um sein eignes Glück zu gründen. Ihm gemäß gibt es kein glücklicheres Leben als das ländliche, häusliche. Er sagt: A jeśliże już tak myśl swą z przejrzenia bożego postanowisz, tu się dopiro będzie pilno trzeba wyiskać a roztropnie uważać, jakiego towarzysza i z jakimi obyczajmi sobie go szukać i obierać masz.738 Und wenn du deinen Sinn durch göttliche Fügung schon in diese Richtung lenkst, da ist es nun wahrhaftig notwenig, fleißig nachzudenken und vernünftig zu erwägen, was für einen Gefährten und mit welcher Gesittung du ihn suchen und erwählen sollst.

Montaigne sieht nur darauf, daß man sich glänzend und reich verheirate; Rej empfiehlt im Gegenteil, eine Gattin gleichen Standes zu nehmen. Bo ów, co się z wielkiego stanu ożenił, nie może być inaczej, aby wżdy staniku swego jako tako przyniewolić nie miał, bo już i więtszym kosztem, i w więtszej powadze, i w więtszej trudności onę miłościwą chować musi, niżli powinien wedle staniku swego. Już czyrwony rząd musi być na woźniki, a niedźwiedzie do kolan, a kobierce z kolebki wywieszaj z obu stron, a gałki aby się ze wszech stron błyszczały. Już dwie służbiste, a trzecia, co by im kwokała, a trzy bramy aby były na każdej. Już ściany obić musi, już z półmiski kapusta. Przyjedzie gość: już go w więtszej cerymonijej chować musi bo już musi być wino, i z Bożą Męką malowana śklenica, i kasza ryżowa na wieczerzą, bo się już jęczmień dla paniej nie godzi. Przyjedzie zasię szwagier w kilkudziesiąt koni, to już na sześć mis zarębuj, już wszytkim równo nalewaj, bo każdy będzie z lisim kołnierzem: trudno będzie poznać, kie pan. Drugim też do wsi obroki dawaj, owsa dosypuj, że go ledwe gąsiętom kęs na wiosnę zostanie, i to w pudle gdzie pod dachem, aby go nie naleziono. Przyjedzie też zasię pan zięć do pana szwagra, alić konie w karczmie i z pachołki. Przywitają go wżdy: „O, witajże, panie zięciu, zsiądźże, panie zięciu“, nalejże też prze pana zięcia, a na wieki nie spytają, jeśli jadł pan zięć albo gdzie konie stoją, że czasem nieborak zięć i na czczo się upije, i także i spać do brogu gdzie polezie. A konik, chartek, ptaszek, jeśli się co u pana zięcia przytrefi, to już nie jego, pana szwagrowo, i już się tak każdemu wymawiać będzie. […] A nie zawodźże się na wielkie trudności, na wielkie zgraje, na wielkie koszty, boć mało po tym, iż bęben przed tobą kołace, a surma wrzeszczy, a chłopi się po płociech wieszają, ukazując sobie, gdzie tu pan młody jedzie. Bo znajdziesz u drugiego, co na tę przejażdżkę wszytko utraci, a na przynosiny posagu mu nic nie zostanie i będzie długo sypiał aż do południa, bo go kurek żadny nie obudzi. Ale ty, nie rozmyślając się ani na żadne zbytnie miłości, ani na żadne powagi, ani na żadne spadki albo wielkie pomocy, gdyć się już w obyczajoch, i w urodzie, i w poczciwych przyjaciołoch upodoba poczciwa dzieweczka, miejże ty Pana

738 Mikołaj Rej: Żywot człowieka poczciwego, op. cit., S. 113.

464

Teil I Boga dziewosłębem, a anioły Jego – swaty, a bez wszech wielkich zalotów uczyń powinności swej krześcijańskiej dosyć […].739 Denn jener, der eine Frau von hohem Stande geheiratet hat, wird nicht umhin können, seinen geringen Stand immer irgendwie zu vergewaltigen, denn er muß jene Gnädige schon mit größerem Aufwand und größerer Ehrerbietung und größerem Getue behandeln, als er seinem Stand ensprechend sollte. Gleich ist rotes Geschirr für die Wagenpferde notwendig und ein Bärenfell für die Knie, und Teppiche müssen zu beiden Seiten aus der Kutsche hängen und daß die Knöpfe nur so von allen Seiten blitzen! Gleich zwei Dienerinnen, und eine dritte, die auf sie aufpasst, und drei Litzen soll jede tragen! Gleich muß er die Wände auskleiden, gleich wird das Kraut in Schüsselchen serviert! Es kommt ein Gast: Gleich muß er ihn mit größeren Zeremoniell behandeln, denn gleich muß es Wein sein und ein mit dem Leiden Christi bemaltes Glas und Reisbrei zum Abendessen, weil sich Gerste für die Dame nicht mehr schickt. Kommt wiederum der Schwager mit einigen Dutzend Pferden, so schneide gleich für sechs Schüsseln vor, schenk gleich allen ohne Unterschied ein, denn jeder wird einen Fuchskragen haben: es wird schwer zu erkennen sein, wer nun ein Herr ist. Und für die andern gib das Futter ins Dorf, schütte Hafer dazu, daß kaum ein bisschen davon für die Gänse im Frühjahr übrig bleibt, und das in einem Kasten irgendwo unter dem Dach, damit man ihn nicht findet. Und kommt dann auch noch der Herr Schwiegersohn zum Herrn Schwager, sind ja die Pferde im Wirtshaus zusammen mit den Knechten; da begrüßen sie ihn natürlich: „Ach, grüß Gott, Herr Schwiegersohn, steigen Sie doch ab, Herr Schwiegersohn, giß doch auch für den Herrn Schwiegersohn ein! Und nimmermehr werden sie fragen, ob der Herr Schwiegersohn schon gegessen hat oder wo die Pferde stehen, so daß sich mitunter der arme Schwiegersohn auf nüchternen Magen betrinkt und dann auch zum Schlafen irgendwo auf einen Heuschober kriecht. Und das brave Pferd, das brave Windspiel, der brave Vogel, wenn sich so etwas beim Herrn Schwiegersohn findet, das gehört ja nicht dem Herrn Schwager! So wird man sich dann vor jedem herausreden. […] Und bemühe dich nicht um großes Getue, um großes Gefolge, um großen Aufwand, denn wenig hast du davon, daß vor dir eine Trommel herwirbelt und ein Zinken herplärrt und die Bauern in den Zäunen hängen, um einander zu zeigen, wo denn hier der Bräutigam fährt. Denn du wirst bei manchem finden, daß er für diese Brautfahrt und für den Einzug ins Haus die ganze Mitgift ausgibt und er lange, bis zum Mittag schlafen wird, weil ihn kein Hahn aufwecken kann. Du aber denke weder an überflüssige Liebeleien noch an Ehren noch an Erbschaften oder großes Vermögen; wenn du an der Gesittung und an der Schönheit und an den ehrbaren Freunden eines ehrbaren Mädchens Gefallen findest, nimm dir den Herrgott als Brautwerber und Seine Engel als Brautbitter und tue große Hofmacherei deiner Christenpflicht Genüge […].

739 Mikołaj Rej: Żywot człowieka poczciwego, op. cit., S. 114–117.

34. Vorlesung (1. Juni 1841)

465

Montaigne im Gegenteil rät, das Aussuchen der Gattin den Freunden zu überlassen, weil der Mann selbst sich von der Leidenschaft blenden könnte, und da das Heiraten eine Interessenrechnung sei, so würden fremde Augen dieselben besser übersehen. Weiter sagt Rej: Bo to sobie snadnie każdy uważyć może, jakie rozkoszy, jakie miłe przypadki z takiego wdzięcznego stanu każdemu przypadać mogą. Już przygoda, już choroba, już każdy niedostatek lżejszy być musi, niżli komu inemu, gdy już jedno drugiego onym wdzięcznym upominaniem cieszy, ratuje i, czym może, wspomaga. Już zawżdy dwoja radość i żałość dwoja po społu z sobą chodzi. Już zawżdy wszytko sporo, bo jedno drugiego o wszytko się radzi, wszytko się nadobnie a roztropnie stanowi, wszytkiego się a wszytkiego sporo przymnaża. Przyjedzie przyjaciel: już mu miło na onę nadobną zgodę a na onę wdzięczną społeczność patrzyć: ano mu oboje usługują, oboje wdzięczną ochotę ukazują, tak iż na równej rzeczy przy onej ochocie woli tam każdy zostać, niżli ondzie, gdzie by mu i korcem, zasępiwszy nos, dosypywano. […] Nuż zasię w domku sobie mieszkając taki poczciwy staniczek, azaż mało rozkoszek swych nadobnych pomiernie użyć może? Azaż sobie nie mają onych nadobnych przechadzek po sadkoch, po ogródkoch swoich? Już oboje grzebą, ochędażają, oprawują, szczepią, ziołeczka sadzą; ano wszytko sporo, ano się wszytkiego z wielką ochotą i doźrzeć, i o wszytko starać się chce. Już przyszedszy do domeczku, ano chędogo, ano wszytko miło: kąseczek, chociaj równy, ale chędogo a smaczno uczyniony. Już obrusek biały, łyżeczka, miseczka nadobnie uchędożona, chleb nadobny, jarzynki pięknie przyprawione, krupeczki bieluchne a drobniuczko usiane, kureczki tłuściuchne. Owa w każdy kącik, gdziekolwiek weźrzysz, wszystko miło, wszytko jako by się śmiało, a wszytko wdzięczniej, niżli by u drugiego na trzy misy nakładano. Nuż, gdy jeszcze owi przyrodzeni błazenkowie a owy dziateczki wdzięczne przypadną, gdy jako ptaszątka około stołu biegając, świrkocą a około nich kuglują, jaka to jest rozkosz a jaka pociecha! Już jedno weźmie, drugiemu poda; tedy się tu sobie urozkoszują, to się tu im jako nalepszym błazenkom uśmieją. A ono, gdy już imie mówić, tedy leda co bełkoce, a przedsię mu nadobnie przystoi. Tu już patrząc na onę swoję pociechę, jakoż nie mają Pana Boga chwalić? Jakoż Mu dziękować nie mają? A Pan też nie może, jedno wdzięcznymi oczyma na onę taką społeczność i na onę ofiarę swoję, która Mu podawają w poczciwym rozrodzeniu swoim, patrzyć i im wedle obietnic Swych błogosławić. Błogosławieństwa stanu małżeńskiego poczciwego. Abowiem to mocno zaślubić raczył takiemu każdemu stanowi, kto się w nim wiernie, pobożnie, pomiernie a wedle wolej Jego zachowywać będzie, iż bogactwo a poczciwość około nich zawżdy zamnażać się będzie, a obiecuje się strzec i rozmnażać obory ich, stodoły ich, gumna ich tak, iż w obfitości zawżdy będą uż wać dobrodziejstwa Jego, a ziemia im dobrowolnie zawżdy będzie rozmnażała potrzebne owoce swoje. Żonka ona jego będzie jako winna macica, podawając wdzięczne gronka i Panu Bogu ku czci, a ku pociesze onemu towarzyszowi swemu. Dziatki będą jako oliwne gałązki około stołu jego,

466

Teil I a sam w swej stałości stanie jako drzewo cedrowe, nad pięknym zdrojem mocno stojące, które już żadnym wichrem nigdy poruszone być nie może.740 Denn es kann jeder leicht erkennen, welche Vergnügungen, welche liebenswürdigen Erlebnisse jedem aus einem so wohlgefälligen Stand erwachsen können. Gleich muß ein Unglück, gleich muß eine Krankheit, gleich muß jede Entbehrung leichter sein als für jemand anderen, wenn gleich einer den anderen mit angenehmer Aufmunterung tröstet, kuriert und, womit er kann, unterstützt. Gleich sind für immer beider Freude und beider Leid miteinander verbunden. Gleich geht immer alles mühelos vonstatten, denn der eine berät sich mit dem anderen in allem, man richtet alles schön und vernünftig ein, alles, aber auch alles gedeiht mühelos. Kommt ein Freund, gleich betrachtet er diese schöne Eintracht und diese wohlgefällige Gemeinschaft mit Vergnügen; beide bedienen ihn, beide legen wohlgefällige Heiterkeit an den Tag, daß ein jeder bei solcher Heiterkeit lieber dort bleibt, auch wenn es nur bescheiden zu essen gibt, als anderorts, wo man’s gleich scheffelweise vorsetzen würde, doch dabei ein finsteres Gesicht macht. […] Und wenn man wieder zu Hause ist, bietet ein solch ehrlicher Stand denn wenig an ihm eigenen Vergnügungen, die in aller Bescheidenheit genossen werden können? Gibt es denn nicht jene schönen Spaziergänge durch die eigenen Obstgärten, die eigenen Gemüsegärten? Gleich sind beide am Graben, Säubern, Instandsetzen, Pfropfen, Einpflanzen von Kräuterchen; da geht alles mühelos vonstatten, da will man sehr gerne nach allem sehen und sich um alles kümmern. Gleich ist man im Häuschen: da ist es sauber, da ist alles angenehm. Ein Imbiß, zwar bescheiden, doch sauber und schmackhaft angerichtet: gleich ist eiun Weißes Tischtüchlein da, ein Löffelchen, ein Schüsselchen, schön sauber, ein schönes Brot, herrlich zubereitetes Gemüse, schneeweiße und ganz fein durchsiebte Gräupchen, fette Hühnerchen. Da ist in jedem Winkelchen, wohin du auch schaust, alles angenehm, alles, als ob es lachte, und alles reizender, als wenn es bei einem anderen in drei prächtigen Schüsseln aufgetragen würde. Und wenn dann jene geborenen Närrchen, jene reizenden Kinderchen eintreffen, wenn sie um den Tisch laufen und wie kleine Vögelchen zwitschern und um die Eltern herum Possen treiben, was für ein Vergnügen ist das und was für eine Freude! Gleich nimmt sie einer und gibt sie dem anderen; so haben sie mal ihr inniges Vergnügen an ihnen, mal lachen sie sie schallend aus, weil sie die tollsten Närrchen sind. Und wenn eines zu sprechen anfängt, da kann es kaum irgendetwas lallen, und doch macht es sich hübsch aus seinem Mund. Wenn sie nun auf diese ihre Freude blicken, wie sollten sie denn da ihren Herrgott nicht loben? Wie sollten sie Ihm da nicht danken? Und auch der Herr kann nicht anders, als mit wohlgefälligen Augen auf eine solche Gemeinschaft und auf jenes Ihm geweihte Opfer, das sie Ihm durch ihre ehrbare Fruchtbarkeit darbringen, zu blicken und sie Seinen Verheißungen gemäß zu segnen. Denn Er hat jedem solchen Stande, wenn sich einer darin treu, gottgefällig, maßvoll und Seinem Willen gemäß verhalten wird, fest zu versprechen geruht, daß sich Reichtum und Ehre bei diesen immer

740 Mikołaj Rej: Żywot człowieka poczciwego, op. cit., S. 117–120.

34. Vorlesung (1. Juni 1841)

467

mehren wird; und es ist verheißen, daß ihre Ställe, ihre Scheunen, ihre Tennen geschützt und vermehrt werden, so daß sie Seine Wohltaten stets im Überfluß genießen werden und die Erde stets gerne ihre Früchte, deren sie bedürfen, für sie mehren wird. Jenes sein Frauchen wird wie ein Weinstock sein und wohlgefällige Trauben spenden, dem Herrgott zur Ehre und zur Freude jenes ihres Gefährten. Die Kinder werden wie Ölzweiglein um seinen Tisch her sein, und selbst wird er in seiner Standhaftigkeit wie eine Zeder dastehen, die an einer herrlichen Quelle fest verwurzelt ist und von keinem Sturm jemals mehr erschüttert werden kann.741

In dieser Beschreibung atmet Rej die Frische und Einfalt der serbischen Dichter, und hat zugleich in Rücksicht der Form jene klassische Klarheit, welche ihn zuweilen in seinen Diskussionen verläßt. Nach den Pflichten der Ehe folgen die bürgerlichen. Er widmet ihnen einen größeren Teil seines Buches, zeichnet die Grundsätze auf, welche ein Mann im Dienste des Staates festhalten muß, und betrachtet mit großer Sorgfalt die Amtsführung, besonders aber die des Schatzes. Nicht so dachte Montaigne, welcher Maire von Bordeaux war; ein Amt scheint ihm ein gar leichtes Ding. Denn obgleich ein religiöser und politischer Krieg in Frankreich die Verwaltung verwirrte, so konnte dieser die starkbegründete Staatsmaschine weder aufhalten noch verderben. In Polen aber gab es nichts, was einem Staatsmechanismus ähnlich sah, und der Gesetzvollstrecker erfuhr eine Menge verschiedener Hindernisse; denn nach den Begriffen der Polen hing diese Vollstreckung gänzlich von dem guten Willen der Bürger ab, daher sah der Beamte häufig sein Gewissen gefährdet, weil er den Beschlüssen, die er zu vollziehen beschworen hatte, nicht Genüge leisten konnte. Rej bietet uns in dieser Hinsicht interessante Einzelheiten. Wir erfahren z.B. von ihm, wie im damaligen Polen die Abgaben erhoben wurden.742 Der Sejm beschließt gerade die Kopfsteuer, der Steuerbeamte kommt mit dem Beschluß auf den Grund und Boden eines Dorfes; er bescheidet vor sich den DorfStarosten oder den Voigt (wójt), damit er nach der Zahl der Köpfe die Abgaben entrichte. Der Voigt, ein schlauer Fuchs, hat schon alles im Voraus bestellt, er hat die Einwohner des Dorfes nach verschiedenen Seiten hin zerstreut, bringt etliche zehn Groschen, kratzt sich hinter den Ohren und sagt klagend und stöhnend, daß bei Gott! nur so viel Leute da wären, und das Dorf verödet stehe. Ja freilich für den Augenblick konnte er wohl schwören, denn die einen sammelten Pilze und die anderen Nüsse; im Dorf aber war fast niemand vorhanden. Der Steuerbeamte fuhr mit leerem Beutel fort, und der Voigt trank nachher mit 741 Deutsche Übersetzung von Hans-Peter Hoelscher-Obermaier; in: Polnische Renaissance. Ein literarisches Lesebuch von Wacław Walecki. Frankfurt am Main 1996, S. 209–217. 742 Vgl. Mikołaj Rej: Żywot człowieka poczciwego, op. cit., II. Buch, Kap. II, S. 141.

468

Teil I

den Hauswirten zwei Wochen lang. Das zweite Mal ergriff der Sejm ein anderes Mittel, er verordnet die Rauchfang-Steuer. Jedoch der nicht auf den Kopf gefallene Voigt weiß sich auch hier zu helfen: er häuft etliche Familien in einer Hütte zusammen und „schwört auf Leib und Seele“, daß es nicht mehr besetzte Rauchfänge gebe. Schwer war es, diesen Ausflüchten zu steuern, denn nie hat die polnische Regierung eine Zählung der Bevölkerung unternommen; so oft Anstalten dazu getroffen wurden, erinnerte man, daß der König David743 eine große Strafe für die Neugier, zu wissen, wie viel Untertanen er habe, erlitten. Es blieb daher nur übrig, sich an den Eid zu halten. Der Schwur ward die einzige Bürgschaft des Gesetzes, die einzige vollziehende Gewalt. Aus diesen Gründen vermieden die damaligen Polen die Ämter der Verwaltung und Schatzführung. Denn nicht genug, daß den Beamten dieser Gattung sich tausend Hindernisse entgegenstellten, sondern, wenn nur einer von ihnen, wie Rej sagt, eine neue Zauntür hinstellte, so schrie man auch sogleich, daß der öffentliche Pfennig hier durchrolle; mauerte er einen etwas höheren Kamin, so rief man, daß durch denselben die Einkünfte der Republik in Rauch verflögen. Auch während des Krieges, weil jeder Edelmann verbunden war, das Pferd zu besteigen, nahm man es dem König übel, daß er Verwalter und Einnehmer im Land ließ. Das politische Leben hatte weit mehr Reiz; jeder drängte sich, Abgeordneter zu werden oder im Senate Sitz und Stimme zu haben. Rej beleuchtet mit großer Sachkenntnis das Wesen der repräsentativen Regierung. Er kannte schon sehr genau dieses System, welches man heute für eine neue Erfindung ansieht. Er sagt: I dlatego na to miedzy sobą ludzie poczciwi posły wybierają, aby sami wielkimi zgrajami a z szkodami na to wszyscy nie jeździli, a tym posłom już, co by sami sprawować mieli, to im poruczają, tego się zwierzają, a zową je nadobnym przezwiskiem, to jest stróżmi Rzeczpospolitej.744 Deshalb wählen ehrenwerte Leute unter sich Abgeordnete, damit sie selbst nicht in Massen und mit großen Unkosten auf die Sejm-Sitzungen zu fahren brauchen. Diesen Abgeordneten vertrauen sie dasjenige an, was sie selbst zu schaffen haben, und trauen es ihnen zu, sie mit dem schönen Namen der Wächter der Republik bezeichnend.

Er kannte die wichtige Pflicht der Abgeordneten; dem mit dem Zutrauen der Mitbürger Beehrten stellt er seine Besorgnisse vor, empfiehlt ihm, der öffentlichen Sache wie „den heiligen Sakramenten“ sich zu nähern: 743 Vgl. – Altes Testament: Zweites Buch Samuel, Kap. 24. 744 Mikołaj Rej: Żywot człowieka poczciwego, op. cit., S. 131.

34. Vorlesung (1. Juni 1841)

469

Bo uważ sobie, o co tam idzie; jedno sobie pomyśl, ktoć się nie zwierza i czegoć się zwierzają. Boć się zwierzają oni zacni a poważni rycerscy stanowie, zwierzająć się oni wdzięczni bracia a powinowaci twoi. Patrzże, czegoć się zwierzają. Zwierzająć się praw a wolności swoich, zwierzająć się majętności a gardł swoich. Patrzajże, jako to jest rzecz wielka a poważna, a mógłby ją własnie jakim sacrosanctum nazwać.745 Denn bedenke doch, um was es sich dort handelt; erinnere dich, wer sich dir anvertraut, und was man dir anvertraut. Denn es vertrauen sich dir jene edlen und ritterlichen Stände, es vertrauen sich dir deine lieben Brüder und Verwandten an. Überlege nur, was sie dir anvertrauen. – Sie vertrauen dir die köstlichsten Schätze, ihre Rechte und ihre Freiheiten, sie vertrauen dir ihr Vermögen und ihre Köpfe an. Siehe doch, welch erhabene, ehrenvolle Sache dies ist; man könnte es fast ein Allerheiligstes nennen.

Auch kannte er jene gefährlichen Klippen, an welchen in den heutigen europäischen Deputiertenkammern die Rechtlichkeit der Deputierten scheitert; an ihrer Spitze stellt er die persönlichen Aussichten und den Nepotismus: Bo ją tak zatrząsamy czasem, nie inaczej jako owym plugawym ogonem lisim, co im ławy pocierają. Albowiem snadnie się każdy dopatrzy, niech jedno przypadnie leda prywatka, a nie tylko już swoja własna, ale niechaj ruszą mnicha, księdza, pana, starosty, wojewody albo urzędnika jakiego, albo też szwagra, zięcia albo powinowatego jakiego, wnet usłyszysz prędką obmowę, prędkie a uporne zasadzenie i czasem niepomierne poswarki, by też to dobrze miało być i obrażeniem Rzeczpospolity, kiloby jakiej wioski do czasu podzierżeć dano albo w nadzieję kłosia jakiego. A cóż, gdy już przydzie o swą własną. To już tam rzekomo tajemnicami bywa zakryto, w przedsię wszyscy wiedzą, bo Pismo powieda, iż nie masz nic tajemnego, co by się wyjawić nie miało. Denn wir walten und schalten mit der öffentlichen Sache, als gehörte sie uns eigen, und schütteln mit derselben zuweilen so, wie mit jenem schmutzigen Fuchsschwanze, mit dem man die Bänke abstaubt. Jeder kann dies leicht sehen, sobald sich nur irgend ein Privatinteresse zeigt, und sogar wenn auch nicht einmal das eigne; rührt man z.B. nur einen Mönch, Priester, Herrn oder Starosten, einen Wojewoden oder einen Beamten an, oder wohl gar den Schwiegervater, Eidam oder sonst einen Verwandten, ja da wirst du bald rasche Verleumdung, rasche und hartnäckige Widersprüche, zuweilen auch unmäßigen Streit hören, sollte dies auch mit Beleidigung der Republik stattfinden, wenn nur irgend ein Dorf in die Hand fällt, oder die Hoffnung eines Vorteils da ist. Kommt nun die eigne Sache vor, so wird, wenn man es gleich geheim zu halten strebt, dennoch allen kund, wie es da zugeht, denn die Heilige Schrift746 sagt, es gibt kein Geheimnis, das nicht offenbar würde.

745 Mikołaj Rej: Żywot człowieka poczciwego, op. cit., S. 131–132. 746 Vgl. 2 Kor., 5, 10.

470

Teil I

Rej übergeht sogar jene verbindlichen Gastmahle, Bankette nicht, welche ganz den jetzt so genannten Ministerialdiners gleichen. Nachdem er seine Bemerkungen für den Abgeordneten beendigt, tritt er zum Senator. Da Rejs System zufolge die Zahl der bösen Neigungen derjenigen der Hauptsünden entspricht, so gibt er Warnungen, wie ein zum Senatorsitz berufener ehrenwerter Mann, geschmückt mit der höchsten Zierde eines polnischen Edelmanns, sich vor dem Haß, dem Hochmut, der Habsucht usw. verwahren soll, überhaupt aber, wie er den König zu ermahnen hat, wenn er diese Fehler in ihm bemerkt. Denn unserem Rej liegt hier nicht so wohl die Tugend der einzelnen Senatoren, als die Bewahrung des Herrschers vor aller Befleckung am Herzen. Hat man aber erwogen, daß damals in Polen der Herrscher weniger als irgendwo Einfluß hatte, so kann dies sonderbar erscheinen; doch muß man genau Rejs Worte erwägen, und dann wird man gerade das innere Wesen der polnischen Konstitution erkennen, wir werden bemerken, wie man die Bedeutung der Krone begriff. Der Senat hatte schon jene Gewalt nicht mehr wie früher; er nahm eine ähnliche Stellung ein, wie heute die Pairskammer747 in einigen konstitutionellen Ländern; er bildete die Ergänzung des Königtums, er umringte und unterstützte es. Ungeachtet ihres großen politischen Übergewichts konnten die Stände dennoch nicht leichten Zutritt zum Thron haben, geradezu mit dem König zu sprechen, denn die königliche Gewalt war etwas Verborgenes in dem Gebäude des Reiches, sie war gleichsam die den ganzen Volkskörper belebende Seele, das heilige Feuer auf dem Opferaltare. – Rej sagt: Albowiem Pana każdego umysł jest jako płomien, który się zawżdy ku górze ciągnie, kiedy do niego dobrych drew przykładają. Ale jeśliże mu też mokrych a sapiących przyłożą, tedy się wlecze po ziemi z dymem pospołu.748 Das Gemüt eines jeden Herrschers ist wie die Flamme, welche sich stets nach der Höhe zieht, sobald man ihr gutes Holz zulegt; fügt man ihr aber auch nasses und zischendes zu, so zieht sie sich samt dem Rauch der Erde entlang.

Schon sprießt hierin der Keim jenes später durch die Publizisten entfalteten und in ein Dogma des polnischen öffentlichen Rechts verwandelten Gedankens, daß der „König gleichsam die Bienenmutter“ sei, welche allein nicht arbeitet und keinen Stachel hat. Auf diese Weise stützte sich jede Gewalt nur auf die sittlichen Ideen und Gewohnheiten, die aus dem religiösen Leben und den alten Sitten entsprangen. Es finden sich bei Rej interessante Erwähnungen solcher Gebräuche. Häufig z.B. verschrieb man dem König testamentarisch 747 Pairskammer – Chambre des Pairs: Oberhaus des Französischen Parlaments (1814–1848). 748 Mikołaj Rej: Żywot człowieka poczciwego, op. cit., S. 150.

34. Vorlesung (1. Juni 1841)

471

das ganze Vermögen; fast immer hinterließ man ihm wenigstens einen Teil der Erbschaft. Außerdem wurden bedeutende Geldsummen als Geschenke gesandt. Ein Zeitgenosse Rejs wunderte sich sogar, daß diese Sitte immer seltener zu werden begann. Ohne die Erkenntnis solcher Grundsätze für die Ordnung der Dinge in Polen ist es unmöglich zu begreifen, wie dieses Reich hat bestehen und mächtig sein können. Denn trotz des Mangels der den Volkswillen beschränkenden, harten Gesetze und einer tüchtigen Königsgewalt sehen wir doch, daß die Republik in jenen Zeiten zahlreiche Heere unterhält, welche fähig sind, den Feind zurückzuschlagen; ihre Könige erfechten Siege auf vielen Schlachtfeldern, und das Reich vergrößert sich ungeachtet seiner scheinbaren Schwäche. Das polnische Reich war wirklich mächtig, der König, wenngleich er weder Ukase diktieren noch willkürlich verfügen durfte, konnte dennoch mit Sicherheit auf bereitwillige Aufopferung seiner Untertanen zählen, auf ihr sittliches Pflichtgefühl rechnen. Erst als dieses Gefühl schwach zu werden begann, verfiel auch die Republik in der Tat. Die Elemente der Auflösung lagen in den verschiedentlichen Vorrechten der Stände und in der unbeschränkten Freiheit sie zu mißbrauchen. So lange der Lebensgeist diese Vorrechte hemmte, sie in Schranken bannte, zielten sie alle auf Erreichung der allgemeinen Endzwecke hin; als aber später die politische und geistige Verwirrung entstand, rissen sie alle Bande der Einheit und der sittlichen Kraft auseinander. Dies besondere Sachverhältnis war den Ausländern unbegreiflich, und sogar heute verstehen ihre Geschichtsschreiber, die auf die fremden Muster der Geschichte blicken, noch nicht sie darzustellen. Alles ging in Polen anders zu als in ganz Europa; der Anblick der polnischen Konstitution verwirrte die westlichen Schriftsteller. Die Franzosen und Engländer aus den Zeiten Franz I. und Heinrichs VIII. konnten unsere Gepflogenheiten im Sejm nicht begreifen, sie ärgerten sich, daß der König vor den Landesabgeordneten, vor dem gemeinen Adel sein Haupt entblößte. Im 17. Jahrhundert, als die Reformation fast allenthalben die alten Verfassungen vernichtet und den Despotismus eingeführt hatte, ward die polnische Freiheit den Europäern noch weniger begreiflich. Einer der neueren Schriftsteller, der allgemein bekannte Fenimore Cooper749, sagte, als er sich für die Verteidigung der Polen erhob, daß ihre Regierung denen von Sparta, Athen und Rom sehr ähnlich wäre, welche die neueren Zeiten weder zu begreifen, noch zu würdigen verständen.

749 Vgl. Fenimore Cooper: Contributions for the Poles. Paris 1831 (3 Seiten); vgl. dazu Ludwik Krzyżanowski: Cooper and Mickiewicz, a Literary Friendship. In: Adam Mickiewicz – Poet of Poland: A Symposium. Hrsg. Manfred Kridl. New York 1951, S. 245–258.

472

Teil I

Die Gefahren, welche Polen bedrohten, vermehrte noch außerordentlich jene große „Glückseligkeit“ desselben, jenes unerhörte Wohlergehen, welches wir erwähnt haben, als wir die Worte eines Geschichtsschreibers aus der Zeit Sigismund des Alten anführten. Man könnte eine Masse ähnlicher Zeugnisse beibringen; allenthalben treffen wir Spuren eines damals allgemeinen glücklichen Zustandes auf dem polnischen Grund und Boden. Der Reichtum der großen Herren, die sittliche Würde in ihren Verhältnissen mit dem Thron, die swoboda (freies, behagliches Dasein) und die Liebe zum Vaterland in dem kleinen Adel, seine Lust, Dienste zum allgemeinen öffentlichen Wohle zu tun, dies alles erhob den ritterlichen Stand in seiner eigenen Überzeugung von seinem Wert, machte ihn großmütig, erhaben, zufrieden. Die außerordentliche Leichtigkeit, materielle Bedürfnisse zu stillen, das milde Benehmen der Gutsbesitzer vergönnten den Landleuten ein bei weitem besseres Leben zu genießen, als das des damaligen französischen und deutschen Landvolkes war. Es war aber auch nichts leichter, als sich von diesem Wohlergehen blenden zu lassen und fehlzugreifen. Die Ausgelassenheit konnte jedes Gesetz straflos antasten, es gab keinen Zügel, dem Sektengeist Einhalt zu tun, als er die religiöse, sittliche und politische Einheit des Volkes zu zerstören begann. Die Opposition wurde beim Adel allgemein beliebt, und die Regierung hatte gegen sie kein anderes Mittel, als das Stillschweigen der Schreier zu erkaufen. Im Übrigen vollendete der Einfluß fremder Begriffe das Zerstörungswerk. Zuerst die griechischen und römischen, dann die anderen ausländischen Ideen, welche mit Gewalt einen Zustand aufdrangen, der mit der Geschichte des Volkes nichts gemein hatte, noch mit derselben irgendeine Ähnlichkeit bot. So wurde das Jagellonische Gebäude endlich ganz und gar zertrümmert. Nur in dem in Rede stehenden Schriftsteller und noch mehr in den ihm gleichzeitigen Dichtern finden wir den Schlüssel zum wahrhaften Verstehen und Darstellen dieser Zeitereignisse; es loderte jenes unsichtbare Feuer in ihnen, das den ganzen Volkskörper beseelte. Die Beschlüsse, Verfügungen, Paragraphen der geschriebenen Konstitution, häufig fremden Gesetzgebungen entliehen, geben uns eine unvollständige und vielmals eine falsche Vorstellung von dem sittlichen und religiösen Zustand des Landes. Rejs Stil ist außerordentlich verschieden, je nach der zahlreichen Mannigfaltigkeit der Gegenstände, welche er berührte. Besonders gelingt es ihm, so oft er sich seinem eigenen Wohlgefallen und namentlich der slavischen Natur hingibt, die Reize und das Glück des häuslichen Lebens zu beschreiben; nicht weniger auch, wenn er davon spricht, was das wahrhafte Leben eines damaligen Polen ausmachte, nämlich vom Kriegerstand und den Pflichten eines Staatsdieners. Seine Sprache, noch tiefer aus der Quelle der slavischen geschöpft, hat noch heute einen sehr schätzenswerten Vorzug der Frische.

34. Vorlesung (1. Juni 1841)

473

Weil er ungemein leicht schrieb, so gewannen seine Werke allgemeine Aufnahme, erlangten jedoch nie großes Ansehen. Die Ausbildung fast aller westlichen Sprachen ist die Frucht zahlreicher Arbeiten und Geistesanstrengungen. Ein Ausdruck oder eine Wendung, von den Schriftstellern gut angewandt, wird dort sogleich vom Leser erfaßt, im Gedächtnis behalten, in Umlauf gebracht und in die Wörterbücher eingetragen. So entfaltet und bereichert sich die Sprache durch die von Geschlecht auf Geschlecht vererbten Erwerbungen; man kann z.B. die ganze Geschichte des Beginnens und des Wachstums der schönsten französischen Redensarten nachweisen. Bei den Polen und bei allen Slaven scheinen die Wörter im Gegenteil herumzuwandern und sich willkürlich zu gruppieren; die Konstruktion ist außerordentlich leicht und niemand braucht sie weder von seinen Vorgängern zu erlernen, noch sich an das Muster der Schriftsteller zu halten. Man könnte deshalb sagen, daß mit dem Bau der Sprachen im Slaventum dasselbe geschehe, was mit dem Bau der Wohnhäuser. Das Material ist sehr leicht zu haben, allenthalben findet es sich bei der Hand; daher erheben sich auch häufig neue, kunstvoll und schön aufgeführte Häuser, die jedoch nicht lange dauern. Rej und sogar die ihm folgenden, mit erhabenerem Talent und größerer Kraft, begabten Schriftsteller waren in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren vergessen; die Sprache, von einem anderen Trieb erfaßt, veränderte Gang und Farbenspiel; heute nehmen kaum die Literaten von diesen allen Werken Einsicht, in ihnen die Spuren der ursprünglichen polnischen Konstruktion aussuchend.

35. Vorlesung (4. Juni 1841) Polens Dichtung: Jan Kochanowski – Seine Latinität – Die Zeiten des lateinischen Klassizismus in Europa – Ariost und Tasso – Ronsard und die Plejade – Übersetzung der Psalmen Davids (Psałterz Dawidów) – Kochanowskis „Klagelieder“ (Treny) – Kochanowskis Satire „Satyr oder der wilde Mann“ (Satyr albo dziki mąż).

Da wir in diesem Vortrag, als dem einleitenden, bloß die allgemeine Bahn aufzuzeichnen und die Haupterscheinungen der Geistesbewegung in den drei slavischen Reichen aufzuweisen beabsichtigen, so werden wir, die an Dichtern und Schöpfungen ihrer Feder außerordentlich reiche Jagellonische Epoche durcheilend, uns nur bei einigen vorzüglichen Männern, welche diese Epoche repräsentieren, aufhalten, und unter ihren Werken wollen wir sogar bloß diejenigen berühren, welche als klassisch anerkannt sind und sich allgemeinen Beifall erworben haben. Die polnische Dichtung, also die slavische des 16. Jahrhunderts, fand ihre Vertretung in einem Mann aus der Familie Kochanowski und in einigen Idyllendichtern, welche in der Ferne ihnen nachfolgend, sich schon am Abend dieser glänzenden Epoche zeigen. Rej erfreute sich schon des vollen Glanzes seines Ruhmes, als Jan Kochanowski, der älteste und genialste unter den Brüdern, jener große Jan Kochanowski750, kaum seine Kräfte in lateinischen Reimen zu versuchen begann. Er war aus der Grenze des Reinpolnischen und der ostpolnischen und ostslavischen Dialekte geboren, und seine Werke geben das Zeugnis, daß er beide Varianten vollkommen beherrschte. Ohne Zweifel mußte sein Gemüt, von Kindheit an die heimatlichen Gesänge Rot-Rutheniens (Ruś Czerwona) hörend, hiervon durchdrungen werden. In den Jünglingsjahren reiste er nach damaliger Sitte zur Vollendung seiner Ausbildung ins Ausland; er besuchte Paris und verweilte ziemlich lange in Italien. Als Dichter, als Pole und Gelehrter verdient er in dreifacher Beziehung unsere Aufmerksamkeit, und es gebührt sich, seine dichterische Gabe und den Nationalcharakter nach dem damaligen europäischen Zustand der Zivilisation zu betrachten. Während seines Aufenthalts in Italien751 sah er das Aufblühen des lateinischen Klassizismus. Die Renaissance war dazumal in voller Blüte. Allgemein las man mit Begeisterung und Bewunderung die alten Dichter, man versuchte 750 Jan Kochanowski (1530–1584). 751 Vgl. dazu Bronisław Biliński: Italia i Rzym Jana Kochanowskiego (Poeta między konwencją, autopsją i historiozofią). In: Jan Kochanowski i epoka renesansu. W 450 rocznicę urodzin poety 1530–1980. Hrsg. Teresa Michałowska. Warszawa 1984, S. 168–229.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_036

35. Vorlesung (4. Juni 1841)

475

den Cicero und Horaz nachzuahmen und wandte sich ausschließlich dem Latein zu. Die lateinische Sprache wurde die herrschende; unter Literatur verstand man keine andere als die lateinische; schreiben hieß so viel als lateinisch schreiben. Für die Polen war die Kenntnis des Lateins noch notwendiger. Die Staatskanzlei hatte diese Sprache als die amtliche angenommen; alle großen Männer des Reichs machten die Kanzleikarriere durch; ihre Akten aus jener Epoche sind achtbare Denkmäler der volkstümlichen Literatur, und Männer wie Hosius, Rej, selbst Kochanowski, Szymon Szymonowicz und viele andere Dichter und Redner haben dieselben verfaßt. In dieser Epoche752 des Carlo Sigonio, Francesco Robortello, der Druckerfamilie Estienne, Giulio Cesare Scaligero, und in der Epoche des lateinischen Klassizismus, ragte Jan Kochanowski durch seine lateinischen Schriften über die anderen hervor; er war jedoch zu sehr Künstler und Dichter, als daß er dem Geschmack der italienischen Schule entsprochen hätte, besonders aber der pedantischen Schule, die dazumal in Frankreich herrschte. Die Anhänger dieser Schulen trugen sich öfters in Gedanken mit dem herum, was sie gegenwärtig betraf, und lenkten die Sache auf ihre philologischen Streitigkeiten; Kochanowski wollte geradezu dem Vergil und Ovid folgen. Seine Schriften erweckten daher außerhalb des Landes nicht das lebhafte Interesse; in Polen aber durfte er nicht viele Leser zu finden hoffen, die im Stande gewesen wären, den gewählten Geschmack seiner Kunst zu würdigen, oder gar seine zarten Anspielungen zu verstehen, welche eine tiefe Kenntnis des Lebens der alten Römer erforderten. Die pedantischen Dichtungen Scaligers und seiner Zeitgenossen waren allgemein in Umlauf und fanden Aufnahme, denn der große Ruhm dieser Männer als Philologen war Ursache, daß ihre flachen Poesien neben ihren wichtigen Werken über Altertümer abgedruckt wurden. Kochanowski jedoch, bei seinen Arbeiten in lateinischer Sprache durch den allgemeinen Nachhall von Rejs Ruhm und später durch das Beispiel anderer großen polnischen Dichter ermuntert, machte sich an die volkstümliche Dichtung. Im 16. Jahrhundert, besonders in dessen zweiter Hälfte, erschienen in ganz Europa viele ausgezeichnete Dichter, welche die Philologen bald aus dem Erbbesitz der Wissenschaften zu verdrängen und alle Gemüter nach sich zu 752 Carlo Sigonio (1520–1584) – Historiker, Rhetorikprofessor; Francesco Robortello (1516– 1567) – Rhetorikprofessor, unterrichtete J.  Kochanowski in Padua; Druckerfamilie Estienne: Robert Estienne (1499 oder 1503–1599), sein Sohn Henry Estienne (1531–1598), Charles Estienne (1504–1564); Julius Caesar Scaliger (1484–1558), italienischer Humanist und Dichter; bedeutendstes Werk: Poetices libri septem. (lateinisch-deutsch). Hrsg. Luc Deitz, Gregor Vogt-Spira. Stuttgart 1994–2003.

476

Teil I

ziehen begannen. Luis Vaz de Camoẽs und Pierre de Ronsard753 wurden im Jahre 1524 geboren; sechs Jahre später kam Jan Kochanowski zur Welt; nicht lange darauf Torquato Tasso und Miguel de Cervantes754, und endlich der von ihnen um etliche zehn Jahre jüngere William Shakespeare755, der den mittelalterlichen Kreis beschließt. Jedes Jahrzehnt dieses Jahrhunderts ist mit dem Erscheinen eines großen Namens oder eines großen Werkes bezeichnet. Shakespeare, den größten dramatischen Dichter des germanischnormannischen Stammes, wollen wir hier übergehen, weil er zu dieser Zeit Europa fremd geblieben ist, und wenden unser Auge nur den italienischen und französischen Dichtern zu, die Kochanowski gekannt und nachgeahmt haben konnte. In Italien wurden damals die Dichtungen jener ritterlichen Romanzen begierig gelesen, welche Ariost756 endlich zu seiner ungeheuren poetischen Schöpfung zusammenschmolz und Tasso weiter zu führen strebte. Von Tassos Schriften kannte man jedoch nur den „Rinaldo“ und urteilte nur nach anderen, über die noch nicht veröffentlichten Gesänge des „Befreiten Jerusalems“ („Gerusalemme liberata“). Kochanowski hatte daher, außer Ariost, keine Muster mehr vor Augen; die alten römischen Überlieferungen konnten aber durchaus nicht den slavischen sich anschmiegen, indem es nichts Gemeinschaftliches zwischen dem Genius der Slaven und dem der Römer gab. Ariost schöpfte aus seinen Vorgängern; alle Motive, Erdichtungen und Intrigen nahm er aus dem Kreis der ritterlichen Dichtung, die in Polen gänzlich unbekannt und durch die Tschechen nur ungeschickt nachgeahmt worden war. Ein Dichter, der den Beruf in sich fühlte, zu seinem Volk zu reden, vermochte in den seiner vaterländischen Geschichte fremden Schöpfungen keinen Reiz zu finden. Ariosts Ton übrigens war Kochanowski zu leicht; jene witzige Ironie, welche schon das Greisenalter der Kunst anzeigte, war dem Mann, der einem jugendlichen und feurigen Stamm angehörte, nicht begreifbar. Hiernach erklärt sich uns die Lauheit, mit welcher Kochanowski den Ariost behandelte, der übrigens allen die Köpfe verwirrte. Ebenso schwierig war es ihm, den Dante757 zu verstehen. Das slavische Gemüt, dessen Weise die natürlichen Dinge aufzufassen von uns gezeigt worden ist, indem wir auseinandersetzten, wie es sich hierin von dem Aufschwung des germanisch-deutschen Gedankens unterscheidet, konnte dem Dante, 753 754 755 756 757

Luis Vaz de Camoẽs (1524/25–1579/80); Pierre de Ronsard (1524–1585). Torquato Tasso (1544–1595); Miguale de Cervantes Saavedra (1547–1616). William Shakespeare (1564–1616). Ludovico Ariosto (1474–1533). Dante Alighieri (1265–1321).

35. Vorlesung (4. Juni 1841)

477

welcher sich einmal in höhere Bereiche erhebt und das anderemal sich in Abgründe vertieft, nicht nachfolgen. Um diesen Unterschied zu fühlen, ist es hinreichend, sich an den früher von uns gemachten Vergleich des serbischen Gesanges von überirdischen Dingen758 mit einer deutschen Ballade zu erinnern, die, wenn auch in Hinsicht der Form weniger vollkommen, sich doch mit dem Gegenstand selbst bis in die Wolken birgt. Kochanowski nennt sogar nirgends Dantes Namen; einmal nur versuchte er ziemlich glücklich seine Form nachzuahmen. Offenbar war dieser Dichter des Mittelalters ihm unzugänglich; aber die Alten entsprachen seinem Geschmack viel mehr. Die Form des Altertums, welche so viele Verwandtschaft mit der slavischen besitzt, die lateinische Form, namentlich die des Vergil und Horaz, gefiel den slavischen Dichtern außerordentlich. Sie bemerkten sogleich, welche Vorteile sie aus derselben zur Bereicherung ihrer Volkssprachen ziehen konnten. Kochanowski also, in Italien nur mit klassischen Erwerbnissen bereichert, kam nach Frankreich, um Pierre de Ronsard759 und die nach ihm benannte La Pléiade, welche Jean-Antoine de Baïf, Etienne Jodelle, Joaquim Du Bellay760 und andere dazumal eine große Umwälzung bewirkende Dichter verfaßten, kennen zu lernen. Die Ronsardische Pléiade hatte, die Schätze der ritterlichen Dichtungen erbend, eine unzählbare Menge der frühern Schöpfungen, die reich an Entdeckungen und voll Quellen für das Epos und die Lyrik sind, vor Augen; genügend wäre es gewesen, die wirklichen Lebenselemente zu reinigen, vom Gemenge des unnötigen Decorums zu befreien und sie ihren geraden Lauf nehmen zu lassen. Die spanische Schule hat dies glücklich zu Stande gebracht, und eine volkstümliche Literatur geschaffen. Ronsard, ein Mann beschränkten Geistes, leidenschaftlich und niedrig, stieß lieber die Vergangenheit gewaltsam zurück. Unfähig, jene erhabene, tiefsinnige Dichtung der mittelalterlichen Jahrhunderte zu begreifen, welche den Dante und das spanische Theater erzeugt hat, bemerkte er nur deren Fehler in Form und Stil. Die Dichter jener Zeiten, die 758 Vgl. die 20. Vorlesung (Teil  I), S.  256: „Zwischen den romanesken Gedichten, der Liederpoesie oder den sogenannten Frauenliedern [ženske pjesme], über die uns noch zu sprechen übrig bleibt, befindet sich eine vermittelnde Gattung, die man phantastisch nennen könnte, weil derselben ein gewisses wunderbares Element zum Grunde liegt. Dieses Wunderbare tritt hier unter der Gestalt eines phantastischen Wesens, der Vila, auf.“ – Der Vergleich mit einer deutschen Ballade ist jedoch nicht vorgenommen worden. Mickiewicz meint hier vermutlich die Ballade „Lenore“ von Gottfried August Bürger, die zwischen 1773–74 entstand. 759 Pierre de Ronsard (1524–1585). 760 Jean-Antoine de Baïf (1532–1598), Etienne Jodelle (1532–1573), Joaquim Du Bellay (1522– 1560), Verfasser des gegen das Lateinische gerichteten Manifests der „Pléiade“ – La Deffence, et illustration de la langue françoyse. Paris 1549.

478

Teil I

Schöpfer riesenhafter Denkmäler befaßten sich nicht mit den Kleinigkeiten der Ausführung; leicht war es, in ihnen grammatikalische Fehler zu entdecken, jedoch nicht so leicht, sogar unmöglich, ihnen in der Feinheit, Kraft und dem Malerischen des Ausdrucks gleichzukommen. Ronsard, in die schöne, vollendete Form der Klassiker verliebt, verglich die mittelalterlichen Schriftsteller mit Vergil und Horaz, die Barbarismen jener aufdeckend. Eine solche Beurteilungsweise der Dinge entsprach ganz dem Sinne der Gesellschaft, in der er sich bewegte: die Philologen bewunderten in ihm und seinen Nachahmern die Kenntnis des Griechischen und das Eindringen ins Lateinische. Die mit Religionszwisten beschäftigten Gemüter, die Notwendigkeit fühlend, sich klar, präzis und einfach deutlich zu machen, zogen Ronsards rhetorische Dialektik, den korrekten Stil und sein sentenzenreiches Wesen jenen leichten und sich der schnellen Erfassung nicht darbietenden mittelalterlichen Formen vor, die man mit eigenem Gefühl beleben mußte. Ronsard also, vom Streben seiner Zeit unterstützt, gab dem französischen Stil die ganze fernere Richtung; er brachte ihn in die Form, die er heute noch hat, in diese helle, zarte, scharfe und deutliche Form, die aber schon für immer unfähig ist, viele Gattungen der Dichtung zu erzeugen, ebenso wie der Stift das Farbenspiel nicht zu geben vermag. Nicht nur Landsleute, sondern auch Ausländer erkannten Ronsard als den größten Dichter in Frankreich, sogar für den größten Dichter der Welt an. Tasso selbst, durch den allgemeinen Ruf irregeleitet, brachte dem Urteil dieses flachen Kopfes die Früchte seiner Phantasie dar. Ronsard war durchaus nicht im Stande, Tassos erhabene Eingebungen zu begreifen; mit den Italienern war er nur in dem, was gerade ihr Fehler war, einverstanden, indem er die concetti Petrarkas, jene ausgesuchten Erzeugnisse schlechten Geschmacks, nachahmte, und jene epigrammatischen Stichworte, die in Petrarca zu finden sind, verunstalten auch die Werke Tassos. Ronsard glaubte über beiden zu stehen, und in der Tat hatte er in dieser Gattung den Vorrang; nie aber war er fähig, weder Tassos Mystizismus, noch Petrarkas Platonismus zu begreifen. Kochanowski machte mit Ronsard Bekanntschaft761, und rühmt sich sogar in seinen Werken, sich einem so berühmten Mann genähert zu haben; nie jedoch lobte er ihn. Was aber dem Kochanowski wirkliche Ehre macht, ist, daß er seinem Einfluß nicht unterlegen; in keiner seiner zahlreichen Schriften findet sich etwas, das ein concetto schiene, nirgends gibt es eine unanständige Parabel, eine freche Figur oder an schlechten Geschmack grenzende 761 Vgl. dazu Marek Edmond: Kochanowski i Plejada. Legenda a rzeczywistość. In: Jan Kochanowski i epoka renesansu. W 450 rocznicę urodzin poety 1530–1980. Hrsg. Teresa Michałowska. Warszawa 1984, S. 230–249; und – Jörg Schulte: Jan Kochanowski und die europäische Renaissance. Acht Studien. Wiesbaden 2011, S. 200–229.

35. Vorlesung (4. Juni 1841)

479

Übertreibung. Es ist dies der einzige so tiefsinnige Dichter, – wenn man will – in entgegengesetzter Richtung – der am meisten klassische, am meisten lateinische Dichter. Nach seiner Rückkehr nach Polen unternahm es Kochanowski, für das ganze Land in der Volkssprache zu schreiben, wie dies damals die italienischen und französischen Dichter begannen. Er widmete sich daher sogleich der Arbeit, die einen großen Teil seines Lebens eingenommen hat. Aufgemuntert durch den Bischof Piotr Myszkowski762 machte er sich an die Übertragung der Psalmen Davids ins Polnische.763 Als er sah, mit welcher Begeisterung man die von den Sektierern zum Absingen in den lutherischen und calvinischen Versammlungen übersetzten Psalmen ergriff, wollte er die Katholiken mit einer „rechtgläubigen“ Übersetzung beschenken, und gab ein Werk heraus, das ihm unsterblichen Ruhm gebracht, das so lange dauern wird, als die polnische Sprache ihre Selbstständigkeit unter den slavischen Zungen bewahrt. Alle Slaven sollten die Psalmen der Kochanowskischen Übersetzung wohl in Erwägung ziehen, die Polen aber dieselben auswendig wissen. Für andere Völker hat diese Übersetzung wenig Neues, denn ihr ganzer Wert beruht auf der Vollkommenheit der Form. Dieses Werk verstand man in späten Zeiten so wenig zu würdigen, daß einige Dichter764 sogar eine Verbesserung und Umarbeitung desselben vornahmen. Setzt man aber selbst die Erhabenheit des Kochanowskischen Genius bei Seite, so boten sich auch die Umstände, welche für das Entstehen dieses Denkmals mitwirkten, nicht mehr wieder. Damit eine solche Übersetzung erscheinen konnte, war zuerst ein hohes dichterisches Talent, zweitens lebendige Gottesfurcht im Volk, und drittens endlich noch jene Glut der Gemüter, welche dazumal die religiösen Streitigkeiten hervorgebracht, notwendig. Von allen Seiten berief man sich auf die Heilige Schrift. Es ist bekannt, welches Ansehen damals die Bücher des Alten Testaments in Deutschland und später auch in England hatten. Die aus ihnen geschöpften Meinungen, Sprüche, Vergleiche kreisten im allgemeinen Leben und verleibten sich der Umgangssprache ein. Die Bibel war immer vor den Augen des Volks, das sich im flammenden Begeisterungsfeuer der Religionskämpfe befand; dieses Feuer regte die Dichter auf und erhob sie bis zu der Begeisterung, die den Ton der Psalmen hören ließ.

762 Piotr Myszkowski (1505–1591). 763 Jan Kochanowski: Psałterz Dawidów. Kraków 1579. 764 Zum Beispiel Franciszek Karpiński: Psałterz Dawida na nowo przetłumaczony. Część I–II. Warszawa 1786.

480

Teil I

Keine jetzt lebende Sprache besitzt eine so schöne Übersetzung der Psalmen wie die polnische.765 Die Deutschen folgten den Einflüsterungen des Sektengeistes, sie suchten dasjenige heraus, was für die damaligen Zwiste paßte, und hoben gerade diejenigen Gefühle, welche ihren Leidenschaften besonders entsprachen, hervor; sie schöpften den Text für ihre Melodien. Keine einzige vollständige deutsche Übersetzung gilt als klassisch.766 In Frankreich haben die früheren Übersetzungen viel an Wert verloren, weil sich die Sprache sehr verändert hat; heut zu Tage würde es noch schwieriger sein, eine französische Übersetzung zu Stande zu bringen, denn viele Sprachformen, ganz und gar der Neuzeit angehörig, haben sich so der Sprache angeschlossen, daß sie fast etwas Wesentliches von ihr ausmachen; schwierig wäre es z.B. die Antithese, den Syllogismus, die epigrammatische Wendung, was sich in der hebräischen Dichtung durchaus nicht vorfindet, zu vermeiden. Kochanowski ist bei der Übersetzung der Psalmen begeistert, er hat einen edlen, hellen und leuchtenden Stil, einen dichterischen, kühnen Gang, freie, große und herrliche Bewegungen, allenthalben aber gesetzte Würde und priesterliche Feierlichkeit. Was seine weltlichen Dichtungen anbelangt, so müssen wir zuerst erwägen, welchen Vorrat er hierzu in Polen finden konnte. Die slavische Armut ist in dieser Hinsicht, im Vergleich zu jenen von Ronsard in seiner himmlischen Pléiade vergeudeten Schätzen, außerordentlich. Kochanowski hatte außer den schwachen Versuchen Rejs und einigen Liedern in den Kantiken keine weiteren Muster der geschriebenen Dichtung. Einige Kritiker767 warfen ihm vor, daß er nicht aus der ungeschriebenen Dichtung geschöpft habe, aus jenen Liedern des Volkes, von denen seine heimatliche Gegend erklang. Was hatte er jedoch für diesen Gegenstand zu tun? Sollte er etwa noch mehr dieser Lieder „fürs Volk“ schreiben? Letzterem fehlten sie ja auch so nicht in mündlichen Überlieferungen; die geschriebenen aber brauchte es nicht, denn es konnte nicht 765 Zum Beispiel – „Psałterz florianski“ – Florianer Psalter (lateinisch-polnisch-deutsch) aus dem 14.–15. Jahrhundert; digitalisierte Fassung unter [http://polona.pl]; vgl. – Psałterz Floriański łacińsko-polsko-niemiecki. Hrsg. Ryszard Ganszyniec, Witold Taszycki. Stefan Kubica. Red. Ludwik Bernacki. Lwów 1939 (Neuauflage Łódź 2002); Rudolf Hanamann: Der deutsche Teil des Florianer Psalters. Sprachanalyse und kulturgeschichtliche Einordnung. Frankfurt am Main 2010. 766 Vgl. Inka Bach, Helmut Galle: Deutsche Psalmendichtung vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Untersuchungen zur Geschichte einer lyrischen Gattung. Berlin-New York 1989; Gerhard Sauder: Psalmenübersetzungen und Psalmen im 20. Jahrhundert. In: Die Bibel und die Kultur der Gegenwart. Saarbrücker Ringvorlesung im Sommersemester 2006. Hrsg. Michael Hüttenhoff, Wolfgang Kraus, Bernd Schröder. St. Ingbert 2007, S. 57–100. 767 Vgl. Zorian Dołęga Chodakowski [Adam Czarnocki]: O Sławiańszczyźnie przed chrześcijaństwem: oraz inne pisma i listy. Hrsg. Julian Maślanka. Warszawa 1967.

35. Vorlesung (4. Juni 1841)

481

lesen. Kochanowski arbeitete für die Klasse, welche immer das Volk repräsentiert und ihm die Richtung gibt, nämlich für das Publikum; er mußte daher, die Form des Volksliedes erwählend, dieselbe zur klassischen Würde erheben und so verschönern, daß es dem Geschmack der damaligen Gelehrten genügte. Aus den Gattungen der lateinischen Dichtung bot sich ihm nur ein einziges Muster, das einer Anpassung fähig war. Schon sagten wir in der Einleitung unseres Vortrages, daß der Mangel an einer Vorstellung, welche die Geschichte des alten Polens in eine Einheit verflochten hätte, den Polen kein volkstümliches Epos zu haben erlaubte. Das Drama war ebenso schwierig zu unternehmen, denn die Literatur der Serben gelangte nicht bis zu ihm, und die Szenen der Heiligen Schrift, sowie man dieselben in Polen vorstellte, boten kein hinreichend geräumiges Feld für einen Mann, der die altertümliche Literatur kannte. Kochanowski, älter als Shakespeare, Calderon und Cervantes, hatte nur die griechischen Dramatiker als Muster, und diese nachahmend, schuf er ausgezeichnete Werke, von denen wir weiter unten sprechen werden. Vor allem aber dienten ihm die römischen Lyriker als Führer, mit ihnen wollte er die Polen näher bekannt machen; er nahm sich vor, die slavische Dichtung der des Horaz und Catull nachzubilden.768 Wir können ihm hier dasselbe wie dem Rej vorwerfen, daß er den Reichtum des Versmaßes im Volksgesang nicht hinreichend zu benutzen wußte, und durchaus seine Verse den Horazischen nachformte.769 Er kannte jedoch genau den Geist der volkstümlichen Gesänge, und niemand ahmte sie besser nach. Viele seiner Psalmen kamen in die Kantiken, einige Verse seines Liedes verirrten sich unter die Voksdichtung, und man kann sie wiederholt in den jetzt veranstalteten Sammlungen der Volkslieder sehen. Die lyrischen Schöpfungen Kochanowskis sind den Polen ebenso schätzbar, als seine Übersetzung der Psalmen; alle Augenblicke erinnert er an Vergil und Catull, öfters sogar entnahm er ihnen ganze Zeilen und Perioden. Dies war Sitte der damaligen Dichter: François Malherbe770 verfuhr später ebenso. Die anziehendsten seiner originellen Schöpfungen sind die „Treny“ (Klagelieder oder Trauerlieder) über den Tod seiner in der Kindheit verstorbenen Tochter. 768 Vgl. Krystyna Stawecka: Rzymskie wzory poezji Jana Kochanowskiego jako przykład twórczego naśladownictwa. In: Jan Kochanowski i epoka renesansu. W 450 rocznicę urodzin poety 1530–1980, op. cit., S. 106–123; Jan Peter Locher: Kochanowski und die antike, vor allem römische, Poesie. In: Jan Kochanowski. Ioannes Cochanovius (1530–1584). Materialien des Freiburger Symposiumms 1984. Hrsg. Rolf Fieguth. Freiburg (Schweiz) 1987, S. 45–70. 769 Vgl. Maria Cytowska: Horacy w twórczości Jana Kochanowskiego. In: Jan Kochanowski i epoka renesansu. W 450 rocznicę urodzin poety 1530–1980, op. cit., S. 124–139. 770 François de Malherbe (1555–1628).

482

Teil I

Keine Literatur besitzt etwas Ähnliches. Kochanowski hat hier das ganze Zartgefühl eines serbischen Dichters, zugleich aber auch bei weitem mehr Kraft und Tiefe; die Form jedoch entlehnt er einmal Ovids Elegien, das anderemal dem Volkslied. Einige Bruchstücke dieser Trauerlieder wollen wir anführen, welche so lieblich für den sind, der die polnische Sprache versteht, aber auch ebenso schwer in irgendeine fremde zu übersetzen. Tren II Jeślim kiedy nad dziećmi piórko miał zabawić, A kwoli temu wieku lekkie rymy stawić, Bodajżebych był raczej kolebkę kołysał I z drugimi nieważne mamkom pieśni pisał, Którymi by dziecinki noworodne spiły I swoich wychowańców lamenty tóliły! Takie fraszki mnie zbierać pożyteczniej było Niżli, w co mię nieszczęście moje dziś wprawiło, Płakać nad głuchym grobem mej wdzięcznej dziewczyny […].771 Wenn nun einmal je über Kindern meine Feder verweilen, Und ich für dieses Alter leichte Reime setzen sollte; O, so hätte ich doch lieber die Wiege geschaukelt, Und mit Andern leichte Lieder den Ammen geschrieben: Damit sie mit ihnen neugeborne Kindlein einschläfern, Und ihrer Zöglinge Wehklagen zu stillen vermöchten. Nützlicher wäre mir es gewesen, solche Spielereien zu sammeln, Als wozu mich mein Unglück heute gebracht: Am tauben Grabe meines lieben Mädchens zu weinen. Tren VI Ucieszna moja śpiewaczko! Safo słowieńska! Na którą nie tylko moja cząstka ziemieńska, Ale i lutnia dziedzicznym prawem spaść miała! Tęś nadzieję już po sobie okazowała, Nowe piosnki sobie tworząc, nie zamykając Ustek nigdy, ale cały dzień prześpiewając, Jako więc lichy słowiczek w krzaku zielonym Całą noc prześpiewa gardłkiem swym ucieszonym. Prędkoś mi nazbyt umilkła! Nagle cię sroga Śmierć spłoszyła, moja wdzięczna szczebiotko droga! Nie nasyciłaś mych uszu swymi piosnkami, I tę trochę teraz płacę sowicie łzami. A tyś ani umierając śpiewać przestała, 771 Jan Kochanowski: Treny. Hrsg. Janusz Pelc. Wrocław-Warszawa-Kraków 1969, S. 8. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe zitiert.

35. Vorlesung (4. Juni 1841) Lecz matkę, ucałowawszy, takeś żegnała „Już ja tobie, moja matko, służyć nie będę Ani za twym wdzięcznym stołem miejsca zasiędę; Przyjdzie mi klucze położyć, samej precz jechać, Domu rodziców swych miłych wiecznie zaniechać.“ To i czego żal ojcowski nie da serdeczny Przypominać więcej, był jej głos ostateczny. A matce, słysząc żegnanie tak żałościwe, Dobre serce, że od żalu zostało żywe.772 Du meine herzige Sängerin, slavische Sappho, Welcher nicht nur mein Teilchen Erde, Sondern auch meiner Laute dem Erbrecht nach zufallen sollte: Solche Hoffnung zeigtest du schon von dir, Neue Liedlein dir machend, das Mündchen Niemals schließend, nur den, ganzen Tag singend. Wie jene schlichte Nachtigall im grünen Busche Die ganze Nacht mit ihrer frohen Kehle durchjubelt, So bist du gar zu schnell mir verstummt: plötzlich verscheuchte Dich der grause Tod, du meine theure liebe Schwätzerin. Nicht gesättigt hast du mein Ohr mit deinem Liedlein, Und auch dies Wenige bezahle ich jetzt reichlich mit Tränen; Du aber hast sogar im Sterben nicht aufgehört zu singen, Sondern die Mutter küssend, so Abschied genommen: „Schon werde ich dir, o meine Mutter! nicht ferner dienen, Noch an deinen niedlichen Tisch mich setzen. Dahin wirds kommen, daß ich die Schlüssel weglege, selber fortreise, Das Haus meiner geliebten Eltern für ewig meide. Dieses und noch mehr, was des Vaters Herzenskummer Nicht zu erzählen erlaubt, war ihr letztes Wörtchen, Und der Mutter gutes Herz, so traurigen Abschied Vernehmend, daß es noch lebend geblieben! Tren VII Nieszczęsne ochędóstwo, żałosne ubiory Mojej namilszej cory! Po co me smutne oczy za sobą ciągniecie, Żalu mi przydajecie? Już ona członeczków swych wami nie odzieje – Nie masz, nie masz nadzieje! Ujął ją sen żelazny, twardy, nieprzespany … Już letniczek pisany I uploteczki wniwecz, i paski złocone, Matczyne dary płone. Nie do takiej łożnice, moja dziewko droga, 772 Jan Kochanowski: Treny, op. cit., S. 13–14.

483

484

Teil I Miała cię mać uboga Doprowadzić! Nie takąć dać obiecowala Wyprawę, jakąć dała Giezłeczkoć tylko dała a lichą tkaneczkę; Ojciec ziemie brełeczkę W główki włożył. – Niestetyż, i posag, i ona W jednej skrzynce zamkniona!773 Unglücklicher Schmuck, wehmütige Kleiderchen Meiner liebsten Tochter, Warum zieht ihr mein trauerndes Auge an? Nur den Jammer vergrößert ihr mir. Schon wird sie ihre Gliederchen nicht mehr mit euch decken; Es ist keine, keine Hoffnung mehr. Erfaßt hat sie eiserner Schlaf, der harte, der ohne Erwachen, Schon ist das gezeichnete Sommerkleid, Und die Geflechte zu nichts, auch die vergoldeten Bänder; Mütterliche, nun unnütze Gaben. Nicht in solch ein Bett, mein teures Mägdlein, Sollte dich die arme Mutter Geleiten; nicht solch eine Aussteuer versprach Sie dir zu geben, wie sie dir gegeben, Nur ein Hemdchen gab sie dir, und ein armseliges Häubchen, Ein Glümpchen Erde zu Häupten Legte dir der Vater, O wehe! die Aussteuer, und fiel Alles in einer Kiste verschlossen.

Es gibt viele Klagelieder ähnlicher Art. Kochanowski, der in der Übersetzung der Psalmen so viel Erhebung und Schwung besitzt, versteht es, hier seiner Dichtung gänzlich das örtliche Kolorit aufzutragen; er nimmt den Ton der einfachsten, genauesten Prosa an, und macht sie hierdurch am meisten dichterisch. Eines von diesen Klageliedern ist ganz und gar wie ein Brief geschrieben, mit Vorwürfen an die Tochter, daß sie das elterliche Haus verlassen: Tren VIII Wielkieś mi uczyniła pustki w domu moim, Moja droga Orszulo, tym zniknieniem swoim! Pełno nas, a jakoby nikogo nie było: Jedną maluczką duszą tak wiele ubyło. Tyś za wszytki mówiła, za wszytki śpiewała, Wszytkiś w domu kąciki zawżdy pobiegała. Nie dopuściłaś nigdy matce się frasować 773 Jan Kochanowski: Treny, op. cit., S. 14–15.

35. Vorlesung (4. Juni 1841)

485

Ani ojcu myśleniem zbytnim głowy psować, To tego, to owego wdzięcznie obłapiając I onym swym uciesznym śmiechem zabawiając. Teraz wszytko umilkło, szczere pustki w domu, Nie masz zabawki, nie masz rozśmiać się nikomu. Z każdego kąta żałość człowieka ujmuje, A serce swej pociechy darmo upatruje.774 Große Leerheit hast du mir in meinem Hause, Meine teure Ursula! durch dein Verschwinden verursacht. Zahlreich sind wir, und doch scheint Niemand da zu sein; Durch ein kleines Seelchen ist so viel verloren gegangen! Du hast für Alle gesprochen, für Alle gesungen, Alle Winkelchen im Hause hast du immer durchstöbert. Nie erlaubtest du der Mutter sich zu betrüben, Noch dem Vater den Kopf zu verderben durch vieles Denken: Bald diesen bald jene liebreich umarmend, Und mit deinem seligen Lächeln erheiternd. Jetzt ist Alles stumm, eine wahre Öde im Hause, Es gibt keineKurzweil mehr, und nichts mehr zu lachen. Aus jedem Winkel ergreift den Menschen die Trauer, Und das Herz sieht sich umsonst nach seinem Troste um.

In der folgenden Elegie (Tren IX) klagt er über das Unzulängliche der menschlichen Weisheit. Er sagt, daß er sein ganzes Leben sie lernte, daß er hoffte, in ihr ein Heilmittel für alles zu finden, und als er in ihren Tempel zu treten vermeinte, habe sie ihn plötzlich herabgeschleudert. Nachdem er viele Meinungen der Weisen des Altertums angeführt, die im Glück ernste Grundsätze verteidigen, im Unglück öfters Schwachheiten zeigen, redet er endlich die falsche Gottheit folgendermaßen an: Nieszczęśliwy ja człowiek, którym lata swoje Na tym strawił, żebych był ujźrzał progi twoje! Terazem nagle z stopniów ostatnich zrzucony I między insze, jeden z wiela, policzony.775 Ich unglücklicher Mensch, der ich meine Jahre Zugebracht, um deine Schwelle einmal zu erblicken, Bin jetzt plötzlich von den letzten Stufen gestoßen, Und neben Andern als einer aus der Menge gezählt!

774 Jan Kochanowski: Treny, op. cit., S. 15–16. 775 Jan Kochanowski: Treny, op. cit., S. 17–18.

486

Teil I

Das letzte seiner Klagelieder (Tren XIX albo Sen) ist das schönste. Der Dichter erzählt hier einen Traum, in dem sich ihm, dem Kummergebeugten, die Mutter zeigt, um ihn zu trösten. Żałość moja długo w noc oczu mi nie dała Zamknąć i zemdlonego upokoić ciała; Ledwie mię na godzinę przed świtaniem swymi Sen leniwy obłapił skrzydły czarnawymi. Natenczas mi się matka włamie ukazała, A na ręku Orszulę moję wdzięczną miała, Jaka więc po paciorek do mnie przychodziła, Skoro z swego posłania rano się ruszyła. Giezłeczko białe na niej, włoski pokręcone, Twarz rumiana, a oczy ku śmiechu skłonione. Patrzę, co dalej będzie, aż matka tak rzecze: „Śpisz, Janie? czy cię żałość twoja zwykła piecze?“ Zatym-em ciężko westchnął i tak mi się zdało, Żem się ocknął. – A ona, pomilczawszy mało, Znowu mówić poczęła: „Twój nieutolony Płacz, synu mój, przywiódł mię w te tu wasze strony Z krain barzo dalekich, a łzy gorzkie twoje Przeszły aż i umarłych tajemne pokoje. Przyniosłam ci na ręku wdzięczną dziewkę twoją, Abyś ją mógł oglądać jeszcze, a tę swoją Serdeczną żałość ujął, która tak ujmuje Sił twoich i tak zdrowie nieznacznie twe psuje, Jako ogień suchy knot obraca w perzyny, Darmo nie upuszczając namniejszej godziny. Czyli nas już umarłe macie za stracone I którym już na wieki słońce jest zgaszone? A my, owszem, żywiemy żywot tym ważniejszy, Czym nad to grube ciało duch jest szlachetniejszy. Ziemia w ziemię się wraca, a duch, z nieba dany, Miałby zginąć ani na miejsca swe wezwany? O to się ty nie frasuj, a wierz niewątpliwie, Że twoja namilejsza Orszuleczka żywie. A tu więc takim ci się kształtem ukazała, Jakoby się śmiertelnym oczom poznać dała. Ale między anioły i duchy wiecznymi Jako wdzięczna jutrzenka świeci, a za swymi Rodzicami się modli, jako to umiała Z wami będąc, choć jeszcze słów nie domawiała.“ […]776 Meine Traurigkeit ließ mir lange in der Nacht nicht Die Augen schließen, und den ermatteten Körper beruhigen; 776 Jan Kochanowski: Treny, op. cit., S. 38–40.

35. Vorlesung (4. Juni 1841)

487

Kaum umarmte mich eine Stunde vor dem Tagen Der träge Schlaf mit seinen schattigen Flügeln. Da gerade zeigte sich mir die Mutter, Und auf dem Arm trug sie meine liebe Ursula. So als käme das Kind mit mir das kleine Gebet zu sagen, Wenn von ihrem Bettchen es früh aufgestanden; Ein weißes Hemdchen trug sie, das hübsche Haar gewickelt, Das Gesicht rosenrot, und die Augen fast lächelnd. Ich warte, was geschehen wird; da hebt die Mutter so an: „Schläfst du, Johann? oder brennt dich der alte Kummer?“ Hier atmete ich tief empor, und es schien mir, Als erwachte ich. Sie aber nach einem kurzen Schwergen Begann von Neuem zu reden: „Dein ungestilltes Wehklagen, mein Sohn, hat mich hier in diese eure Gegenden Aus sehr weiten Fernen geführt, denn deine bittern Tränen Durchdrangen sogar der Verstorbenen verschwiegene Wohnsitze. Auf dem Arme habe ich dir dein liebes Mädchen gebracht, Damit du sie noch sehen kannst, und dies dein inniges Herzleid stillen, welches dir so deine Kräfte raubt, Und deine Gesundheit unbemerkt untergräbt, Wie das trockene Feuer den Docht in Asche verwandelt, Nicht eine einzige Stunde umsonst vorüberlassend. Betrachtet ihr uns Verstorbene schon etwa für verloren, Denen auch schon die Sonne für ewig erloschen sei? Ach nein! wir leben, und ein desto wichtigeres Leben, Je edler als dieser grobe Leib der Geist ist. Die Erde kehrt zur Erde, der Geist aber, vom Himmel verliehen, Sollte der verkommen und nicht an seinen Ort gerufen werden? Kümmre du dich darum nicht, und das glaube nur gewiß, Daß dein liebstes Ursulchen lebt. Hier aber hat sie sich dir in solcher Gestalt gezeigt, Wie sie dies vor sterblichen Augen hat tun können; Unter den Engeln aber und den ewigen Geistern Leuchtet sie wie die liebliche Morgenröte und betet Für ihre Eltern, sowie sie das schon vermocht, Da sie bei euch weilte, wenngleich sie kein Wort noch sprach. “

Ferner stellt ihm die Mutter vor, daß er sich nicht über das Schicksal der Tochter zu betrüben habe, denn sie sei in der anderen Welt glücklicher, indem sie die irdischen Trübsale und Leiden nicht kenne. Was in diesem Klagelied am meisten auffällt, das ist die Offenheit des Tons und die Einfalt der Erzählung. Der Dichter verstößt nicht durch Übertreibung; es gibt nichts Natürlicheres, als dieses Bild der Mutter, die ihm das Töchterchen auf dem Arm zum Trost bringt. Nach dieser Elegie schließt er den Erguß seiner väterlichen Trauer mit vier Zeilen, welche dem Andenken des zweiten Kindes geweiht sind. Als wenn ihm die Kräfte ausgingen, ferner zu weinen, sagt er nur:

488

Teil I EPITAFIUM HANNIE KOCHANOWSKIEJ I TYŚ, HANNO, ZA SIOSTRĄ PRĘDKO POSPIESZYŁA I PRZED CZASEM PODZIEMNE KRAJE NAWIEDZIŁA, ABY OCIEC NIESZCZĘSNY ZA RAZ ODŻAŁOWAŁ WSZYTKIEGO, A NA TRWALSZE ROZKOSZY SIĘ CHOWAŁ.777 AUCH DU HANNCHEN BIST SCHNELL DER SCHWESTER GEFOLGT, UND HAST VOR DER ZEIT DIE UNTERIRDISCHEN REICHE GESEHN, AUF DASS DER UNGLÜCKLICHE VATER AUF EINMAL ALLES B EWEINE, UND SICH FÜR DAUERHAFTERE GLÜCKSELIGKEITEN BEWAHRE.

Wir wollen die Lieder Kochanowskis übergehen und verweilen nur noch bei der Betrachtung seiner didaktischen Dichtung und seiner Satire. Als wahrhaft polnischer Dichter ist er Patriot, und dieses unterscheidet ihn von allen slavischen Dichtern, die seine Zeitgenossen waren. Seine Satire („Satyr albo Dziki Mąż“ – „Satyr oder der wilde Mann“) hat weder die Leichtigkeit der Horazischen, noch die klassische Form; es ist dies vielmehr ein kleines Drama, welches man, ähnlich den mimischen Szenen des Altertums, diesen sogar vorziehen könnte. Er führt auf dem königlichen Hof den Waldgott Satyr ein, und macht aus ihm die Hauptperson des Zwiegesprächs, – eine Dichtung, die an sich selbst nicht sehr originell ist und an Klassizismus erinnert. Dieser Satyr redet die Polen an, indem er ihnen ihre Fehler vorwirft, und Ermahnungen in Hinsicht der Staatskunst, der Staatswirtschaft [l’économie] und der Moral gibt. Ihm gemäß sind es folgende drei Hauptfehler, welche die Republik mit Unheil bedrohen: die Nachahmerei des Fremdentums, die ungeheure Leichtfertigkeit im Verhandeln der wichtigsten politischen und religiösen Aufgaben, und das Sich-Hingeben an die Industrie [l’impulsion industrielle], was durchaus mit der Natur Polens unvereinbar ist. Kochanowski drückt schon hier das aus, was, wie wir sehen werden, später viele Staatsmänner wiederholt haben, daß Polen seine selbständige Sendung besitze, gänzlich verschieden von derjenigen der anderen Völker, daß seine Bestimmung keine solche sei wie Deutschlands und Frankreichs, und daß es diese Sendung erfüllen oder untergehen müsse; denn, er sagt, die Reiche erhalten sich nur durch das, wodurch sie entstanden sind, und gerade das Zurückwenden zur Wirtschaft [l’économie], das Streben nach Reichtümern widerspricht schnurstracks den Grundpfeilern der Größe des polnischen Volks: „Prawdę mówię, czyli nie? uznajcie to sami:“ – Woła Satyr Kochanowskiego – („Sage ich die Wahrheit oder nicht? Ernennt dies selbst“):

777 Jan Kochanowski: Treny, op. cit., S. 48.

35. Vorlesung (4. Juni 1841)

489

Ale się tam ozywa jeden miedzy wami Mieniąc, iż gospodarstwo Polskę zbogaciło, A jako żywo złota więcej w niej nie było Prawda, że złota waszy przodkowie nie mieli, A mało bych tak nie rzekł, że go ani chcieli, Jednak za swoim męstwem wielkie państwa brali I bogatym książętom prawa ustawiali. Mniemacie wy podobno, że to wam bajano, Kiedy w objazd Kijowa siedm mil powiadano Albo iż na kościelech złote były dachy, A białym alabastrem budowane gmachy? Nie sądźcie tego miejsca z posady dzisiejszej, Bo to ledwe cień został ozdoby przedniejszej; Co waszych przodków siła i męstwo sprawiło, Że się to zacne miasto wniwecz obróciło. O Prusiech wam nic nie chcę powiadać, bo sami, Na każdy rok pływając do Gdańska z traftami Widzicie gęste miasta i zamki budowne, Drogi, mosty porządne i brzegi warowne, Czego trudno dokazać bez wielkich pieniędzy: Znać dobrze, że tam byli gospodarze tędzy. K czemuż przyszło? Polacy pruską ziemię wzięli, A oni się bogacze chudym nie odjęli. Ukażcież wy, pieniężni, coście tak znacznego Uczynili? Nie chcę nic wspominać dawnego. W kilku lat Tatarowie pięćkroć was wybrali, Bracią waszę w niewolą Turkom zaprzedali, Despot, w rzeczy despotów onych dawnych plemię, Na waszę wieczną hańbę dwakroć przeszedł ziemię, Moskiewski wziął Połocko i listy wywodzi, Że prawem przyrodzonym Halicz nań przychodzi. A by chciał patrzyć prawa, trzymałbych ja z wami, Bo się on mało bawił konstytucyjami. Co dalej? Szwedowie was przez morze sięgają, A Iflanty wam prawie z garści wydzierają. Na koniec, by nie Wisła, to u was Branszwicy, A tego przypłacili przedsię Pomorczycy. Toć owoc waszych bogactw i toście wygrali, Żeście przy pługu raczej niż szabli zostali. Aleć to jeszcze wszytko początki; po chwili Będzie tego podobno więcej, bracia mili, Gdy z was maszkarę zdejmą, a ludzie doznają, Że Polacy przodków swych barzo zostawają. […] Da aber läßt sich einer unter euch vernehmen Mit der Meinung, als habe die Wirtschaft Polen bereichert, Und doch befand sich seit Menschengedenken nicht mehr Gold daselbst. Freilich, eure Ahnen haben kein Gold gehabt; Fast aber würde ich sagen, sie haben es nicht gewollt.

490

Teil I Doch nahmen sie, ihrem Mut folgend, große Reiche, Und schrieben reichen Fürsten Gesetze vor. Fast scheint es, als glaubtet ihr, man hätte gefaselt, Als man euch erzählte, daß Kievs Umkreis sieben Meilen hielt? Oder daß es auf den Kirchen goldene Dächer gab, Und aus weißem Alabaster aufgebaute Paläste. Beurteilt nur nicht diesen Ort nach seiner jetzigen Lage: Denn euer Vorfahren Kraft und Tapferkeit vollführte es, Daß diese edle Stadt zu Nichts geworden. Von Preußen will ich euch schon gar nichts sagen, denn da ihr selbst Alljährlich nach Danzig die Flöße führend, Häufige Städte seht, und gemauerte Schlösser, Wege, ordentliche Brücken, und befestigte Ufer, Was doch schwer ohne vieles Geld zu erreichen: So ist wohl zu erkennen, daß es dort tüchtige Wirte gab. Wohin ists jedoch gekommen? Die Polen haben Preußen genommen, Und jene Reichen konnten sich der Armen nicht erwehren. Weist mal auf, ihr Geldmänner, was habt ihr denn so Edles Vollbracht? Ich will nicht mehr das Alte berühren. Aber nur noch jetzt haben euch die Tataren in einigen Jahren Fünfmal ausgemerzt, eure Brüder in die türkische Gefangenschaft verkauft. Der Despot, im Grunde das Geschlecht jener alten Despoten, Hat zu eurer ewigen Schmach zweimal euren Boden betreten, Polock hat er genommen, der Moskowite, und zeigt Briefe vor, Als falle ihm dem Geburtsrecht nach Halicz zu. Wollte er sich aber ans Gesetz kehren, ei! so möchte ich schon Mit euch halten, denn wenig hat er sich mit Konstitutionen befaßt. Was ferner? Die Schweden langen auch übers Meer nach euch, Und entreißen Livland fast aus eurer Faust. Endlich, wäre die Weichsel nicht da, der Braunschweiger hauste hier, Und doch haben es für euch die Pommern entgelten müssen. Dies ist die Frucht eurer Reichtümer, und das habt ihr gewonnen, Weil ihr lieber beim Pflug als beim Säbel geblieben. Dies jedoch sind nur alles erst Anfänge: wartet ein Weilchen, Solcher Dinge wird noch mehr kommen, lieben Brüder. Blicken sie euch nur erst in die Karten, und werden es gewahr, Daß die Polen gar sehr ihre Ahnen verleugnen.

An einer Stelle verspottet Kochanowski sehr geschickt den damaligen Luxus, indem er in Horazens Ton verfällt: Cóż wżdy w tym jest, dla Boga, iż będąc takimi Gospodarzmi, zdacie się przedsię ubogimi? Zbytek, sąsiedzi, zbytek, który jako morze, Wszytko pożrze, byś mu tkał nie wiem jako sporze. Mało mu na jeden raz wszytki roczne snopy, Zje on, kiedy zasiędzie, grunt za raz i z chłopy,

35. Vorlesung (4. Juni 1841)

491

Na ostatek i pana – taki to gość w domu, A by miał zginąć, nie chce ustąpić nikomu. Da kto pięćdziesiąt potraw, da on tyle troje, Ty go upoisz, a on i woźnice twoje, Ty w rysiu, on w sobolu, ty na czapce złoto, On ma i na trzewiku, chocia czasem błoto. U niego obercuchy szersze niż u kogo, Od kabata sto złotych, jeszcze to niedrogo, A kiedy się wystrychnie w usarskim ubierze, Po kołnierzu go poznasz, bo błam futra bierze. Więc jako mu nie rzeczesz: „Miłościwy Panie“, To już pewna przymówka, że głupi ziemianie. By też nawięcej przegrał, nic go to nie smuci, Jeszcze nadto chłopiętom ostatek rozrzuci. Pochlebce – to jego dwór, a rada – zwodnicy, Odźwiernych mu nie trzeba, strzegą drzwi dłużnicy. Na tego wy robicie, ten was wdawa w długi, Ten was z wiosek wyzuwa i obraca w sługi. […] Woran liegt denn das nur, bei Gott! daß, da ihr solche Wirte seid, ihr dennoch so arm erscheint? Der Luxus ist es, Nachbar, der Luxus! der Alles wie ein Meer Verschlingt, und stecktst du ihm auch noch so rasch zu. Kinderspiel sind ihm die Garben eines ganzen Jahres, Für ein Hinsetzen frißt er sogleich Grund und Boden sammt den Bauern auf, Endlich auch den Herrn. Solch ein Gast im Hause Will Niemandem weichen, sollte er auch umkommen. Setzt einer fünfzig Schüsseln, sogleich gibt er das Dreifache, Du machst ihn trunken, und er auch deine Kutscher. Du hast einen Bärenpelz, er Zobeln; du an der Mütze Gold, Er trägt es auch an Schuhen, und wenn es auch schmutzig draußen. Schmückt er sich aber mal mit Husarenkleide, Da erkennst du ihn am Kragen, hier verbraucht er ein ganzes Fell. Verspielt er auch noch so viel, es betrübt ihn nicht, Den Rest wird er sogar unter die Jungen werfen. Schmeichler machen seinen Hof, Betrüger seinen Rat aus, Schweizer braucht er nicht, Gläubiger bewachen die Tür. Für diesen arbeitet ihr Nachbarn, der bringt euch in Schulden, Der vertreibt euch aus den Dörfern, und macht euch zu Dienern.

Ebenso scherzt er über die Leichtfertigkeit, mit welcher gewöhnlich von Religionssachen gesprochen wird: Bracie, nie chcę się z tobą w rzecz wdawać o wierze, Bo ja sam na się wyznam, żem prostak w tej mierze. Lecz jesli ty inaczej o sobie rozumiesz, Jedź do Trydentu, a tam ukażesz, co umiesz.

492

Teil I Dobrym chrześcijaninem nie tego ja zowę, Co umie dysputować i ma gładką mowę, Ale kto żywie według wolej Pana swego, Tego ja barziej chwalę niźli wymownego.778 Bruder, nicht will ich mit dir über Sachen des Glaubens streiten, Denn selbst bekenne ich von mir, hierin unwissend zu sein; Denkst du jedoch anders von dir, Nun so reise nach Trient, und zeige dort, was du kannst. Einen guten Christen nenne ich nicht denjenigen, Der fein zu reden weiß und eine glatte Zunge führt, Sondern der nach dem Willen des Herrn lebt, Den lobe ich mir mehr, als einen Beredten.

778 Jan Kochanowski: Satyr albo Dziki Mąż. Opracowała i posłowiem opatrzyła Paulina Buchwald-Pelcowa.Warszawa 1983; keine Paginierung.

36. Vorlesung (11. Juni 1841) Der Vergleich Kochanowskis mit Horaz – Sein Drama „Die Abfertigung der griechischen Gesandten“ (Odprawa posłów greckich) – Epigramme (Fraszki) – Die Schriften Kochanowskis in Prosa: „Vorhersagungen“ (Wróżki) – Stefan Batory: Polen im neuen Glanz – Die Tyrannei Ivans IV. – Siege Stefan Batorys über Ivan IV.

Die Stellung Kochanowskis als Dichter in seinem Vaterland und jene fremden Einflüsse, welche ihn im Ausland durchdrungen, sind die Hauptelemente seiner Werke. Hieraus entstand auch ihre große Mannigfaltigkeit. In der lyrischen Dichtung versuchte er jeden Ton, jede Form, die er irgend bei Griechen und Römern vorfand. Die größte Ähnlichkeit hatte er mit Horaz. Letzterer nahm ebenfalls zum größten Teil die lyrischen Motive von den Griechen, nebenbei schöpfte er aber Begeisterung aus dem echt römischen Geist und hatte die Muttersprache vollkommen in seiner Gewalt. Aus denselben Ursachen, aus welchen Horaz schwer zu übersetzen ist, kann man auch die lyrischen Schöpfungen Kochanowskis in keiner Übersetzung zu erkennen geben. In Frankreich, wo Horaz sehr geschätzt wird, befinden sich eine Menge Übersetzungen desselben, keine jedoch gilt für klassisch, und niemand führt ihn anders als im Urtext an. Dies rührt daher, daß die dichterische Form, sobald sie einen gewissen Grad der Vollkommenheit erreicht hat, unmöglich in Übersetzungen sich wiedergeben läßt. Doch wollen wir Kochanowski nicht auf gleiche Höhe mit Horaz stellen. Er besitzt nicht jenen Reichtum der Reime, das Musikalische, die dichterische Anmut, womit jener die Zeitgenossen hinriß, und welche sich heute noch denen zu fühlen geben, die seine Verse lesen. Desgleichen besitzt er nicht immer jene vollendete Form, jenes organische Ganze, in welchem sich die Schöpfungen des antiken Künstlers zeigen. Er mißt sich mit ihm in einigen Versen seines Gesanges, öfters aber wird er prosaisch und schwach. Ebenso wie man einen Laut den Brustton, und einen andern den Kehlton nennt, könnte man auch sagen, es gäbe ein Feuer des Herzens, und eine Begeisterung des Kopfes. Das Feuer, die Begeisterung des Horaz, scheint ganz und gar vom Kopf herzurühren. Es ist dies ein Licht, das nie in Flammen ausbricht, aber immer fortdauert, seine Schöpfungen gleichmäßig beleuchtet. Kochanowski dagegen brachte sein Feuer aus dem Herzen hervor, öfters brannte er in wahrhaft dichterischer Begeisterung hell auf; diese Flamme konnte aber nicht immer in gleichmäßiger Glut bleiben und jedes Erzeugnis seiner Feder gleichartig beleben. Einige seiner Gesänge ausgenommen, die als vollkommen klassisch und musterhaft anerkannt sind, kann man das Übrige nur als schätzenswerte Versuche ansehen, die weit entfernt sind, in die Reihe der Meisterwerke gestellt werden zu können. © Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_037

494

Teil I

Der polnische Dichter versuchte auch Dramen zu schreiben, er unternahm sogar, als der erste in Europa, ein Drama nach Regeln, oder besser gesprochen, ein literarisches zu schaffen; denn nicht viel Gewicht legte man auf das wirkliche, volkstümliche Drama, welches auf jenen zufälligen Theatern, Jasełki (Krippenspiele) genannt, gespielt, und wo Szenen aus der heiligen Geschichte aufgeführt wurden. Um die Kochanowskischen Dramen zu beurteilen, muß man wissen, für wen er sie schrieb. In Polen gab es damals keine Schauspielhäuser, wie in den italienischen und spanischen Städten; es war nicht möglich Jasełki-Szenen zu verfassen, um sie vor einer zahlreichen aufgeklärten Gesellschaft zu spielen, wogegen das Volk seine eignen Sittengemälde von Christi Geburt und Kreuzigung hatte und die geschriebenen Dramen nicht brauchte. Das aufgeklärte Publikum und der reiche Adel, außerhalb des Landes, in Italien und Frankreich erzogen, bekannt mit den Autoren des Altertums, konnte keinen Geschmack an anderen Werken finden, als nur an solchen, die ganz nach alten literarischen, damals in Ansehen stehenden Regeln, verfaßt waren. Kochanowski, seine dramatischen Werke für den Adel bestimmend, unter denen es viele gab, die selbst Bücher über die Literatur des Altertums verfaßten, war gezwungen, sich durchaus an die klassischen Erinnerungen zu halten; nur hierdurch konnte er seine Aufmerksamkeit für sich gewinnen. Die klassischen Erinnerungen machten, so zu sagen, eine allgemeine Vergangenheit der literarischen Republik aus. Wer sich nur mit der Literatur befaßte, kannte besser die Geschichte Trojas und Roms als die alten Taten des eignen Landes. Fügen wir hinzu, daß Trojas Geschichte von slavischen, den tschechischen779 Schriftstellern, die allgemein bekannt und mit Vorliebe in Polen gelesen waren, behandelt wurde. Kochanowski also, um seinem Publikum zu genügen, war gezwungen, Inhalt und Gegenstand für sein Drama in den mythischen Taten Griechenlands zu suchen; er entnahm aus dem dritten Gesange der „Ilias“ jenen berühmten Abschnitt, wo bei der Gesandtschaft der die Helena zurückfordernden Griechen, Menelaos und Anthenor, mit Beredsamkeit prangen. Was die Ausführung des Themas anbelangte, so zeichnete er, da er sehr gut die zyklischen und tragischen Ansichten der Griechen kannte, welche die altertümlichen Angaben Homers umarbeiteten, nach ihnen die Charaktere des Anthenor, Odysseus und Paris. Was den Werkaufbau angeht, so konnte er schon nicht anders als den Griechen folgen, namentlich dem Äschylos und Sophokles. Die Durchführung seines Dramas ist ungemein einfach und erinnert an die Art und Weise dieser beiden Schriftsteller. 779 Vgl. die tschechische Übersetzung der Historia destructionis Troiae von Guido della Colonne (um 1210 nach 1287), die in Pilsen etwa 1468 unter dem Titel „Kronika Trojánská“ erschien; Ausgabe – Kronika Trojánská. Hrsg. Jiří Daňhelka. Praha 1951.

36. Vorlesung (11. Juni 1841)

495

Anthenor, den der Dichter als Muster eines weisen, vorsichtigen Ratgebers darstellt, zeigt sich zuerst auf der Bühne. Die Szene ist, ähnlich wie bei den Griechen, ein idealer Ort, welchen man für die Vorhalle des Tempels oder auch für den öffentlichen Platz vor dem Palast des Königs nehmen kann. Anthenor tritt aus seiner Wohnung und eröffnet das Ganze durch ein kurzes Selbstgespräch. ANTENOR Com dawno tuszył i w głos opowiadał, Że obelżenia i krzywdy tak znacznej Cierpieć nie mieli waleczni Grekowie: Teraz już posły ich u siebie mamy, Którzy się tego u nas domagają, Aby Helena była im wydana. Którą w tych czasiech przeszłych Aleksander Będąc w Grecyjej, gość nieprawie wierny, Uniósł od męża i przez bystre morze Do trojańskiego miasta przeprowadził. Tę jeśli wrócim i mężowi w ręce Oddamy, możem siedzieć za pokojem, Lecz jeśli z niczym posłowie odjadą, Tegoż dnia nowin słuchajmy, że Greczyn Z morza wysiada i ziemię wojuje. Czuje o sobie, widzę, Aleksander Praktyki czyni, towarzystwa zbiera, Śle upominki, aż i mnie nie minął; A mnie i dom mój, i co mam z swych przodków, Nie jest przedajno. A miałbych swą wiarę Na targ wynosić, uchowa mię tego Bóg mój. Nie ufa swej sprawiedliwości, Kto złotemu mówić od siebie rzecz każe. Lecz i to człowiek małego baczenia, Który na zgubę rzeczypospolitej Podarki bierze, jakoby sam tylko W cale miał zostać, kiedy wszytko zginie. Ale mnie czas do rady, bo dziś król chce posły Odprawować. Snadź widzę Aleksandra? Ten jest.780 ANTHENOR Was ich schon längst geahnt und laut verkündet, Daß solch bedeutende Schmach und Unbill Die tapfern Griechen nimmer dulden würden, ist eingetroffen! Jetzt schon sehen wir ihre Gesandten bei uns; Sie fordern, Helena solle ihnen ausgeliefert werden; 780 Jan Kochanowski: Odprawa posłów greckich. Hrsg. Tadeusz Ulewicz. Wrocław-WarszawaKraków-Gdańsk (12. Auflage) 1974, S. 7. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe zitiert.

496

Teil I Diese hat in jüngst verflossener Zeit Alexander, Der ungetreue Gast, in Griechenland weilend, Dem Gatten entrissen, und übers ungestüme Meer Der Trojanischen Stadt zugeführt. Liefern wir diese aus, und übergeben sie dem Manne, So können wir in Frieden ferner leben: Kehren aber die Gesandten unverrichteter Sache zurück, O! so horchen wir nur eines Tages der neuen Kunde, Wie der Grieche landet, und das Land bekämpft. Ich sehe wohl, wie seinetwegen Alexander fürchtet. Wie er Ränke schmiedet, Gesellen sammelt, Geschenke verschickt; mich sogar umging er nicht: Mir aber ist mein Haus und was ich von den Ahnen habe, Nicht feil. Sollte ich wohl meinen Glauben Zu Markte tragen? Bewahren wird mich davor Mein Gott. – Der traut seiner gerechten Sache nicht, Wer dem Gold befiehlt für ihn zu reden. Aber auch derjenige ist ein Mensch geringer Überlegung, Der für den Untergang der Republik Geschenke annimmt: als sollte er nur allein Unbeschädigt bleiben, wenn Alles untergeht. Aber ich muß nun sofort in den Rat gehen, denn der König Will heute die Gesandten entlassen. Sehe ich wohl recht, ist es Alexander? Ja, er ist es!

Hier beginnt das Zwiegespräch mit Alexander oder Paris, in der Weise geführt, wie man es als Muster im griechischen Theater sehen kann. Des Beispiels halber wollen wir es teilweise anführen: ALEKSANDER Jako mi niemal wszyscy obiecali, Cny Antenorze, proszę, i ty sprawie Mej bądź przychylnym przeciw posłom greckim. ANTENOR A ja z chęcią rad, zacny królewicze, Cokolwiek będzie sprawiedliwość niosła I dobre rzeczypospolitej naszej. ALEKSANDER Wymówki nie masz, gdy przyjaciel prosi. ANTENOR Przyzwalam, kiedy o słuszną rzecz prosi. ALEKSANDER Obcemu więcej życzyć niżli swemu Coś niedaleko zda się od zazdrości.

36. Vorlesung (11. Juni 1841) ANTENOR Przyjacielowi więcej niżli prawdzie Chcieć służyć zda się przeciw przystojności. ALEKSANDER Ręka umywa rękę, noga nogi Wspiera, przyjaciel port przyjacielowi. ANTENOR Wielki przyjaciel przystojność: tą sobie Rozkazać służyć nie jest przyjacielska. ALEKSANDER W potrzebie, mówią, doznać przyjaciela. ANTENOR I toć potrzeba. gdzie sumnienie płaci ALEKSANDER Piękne sumnienie: stać przy przyiacielu. ANTENOR Jeszcze pięknieisze: zostawać przy prawdzie. ALEKSANDER Grekom pomagać to u ciebie prawda. ANTENOR Grek u mnie każdy, kto ma sprawiedliwą. ALEKSANDER Widzę, żebyś mnie ty prędko osądził. ANTENOR Swoje sumnienie każdego ma sądzić. ALEKSANDER Znać, że u ciebie gospodą posłowie. ANTENOR Wszystkim ućciwym dom mój otworzony. ALEKSANDER A zwłaszcza, kto nie z próżnymi rękoma. ANTENOR Trzeba mi bowiem sędziom na podarki, Bom cudzą żonę wziął. o którą czynią.

497

498

Teil I ALEKSANDER Nie wiem o żonę, ale dobry bierzesz, Od Greków zwłaszcza; moje na cię małe. ANTENOR I żon, i cudzych darów nierad biorę. Ty, jako żywiesz, tak, widzę, i mówisz Niepowściągliwie; nie mam z tobą sprawy. […]781 Alexander Wie fast alle mir versprochen haben, So sei auch du, edler Anthenor, ich bitte dich, meiner Sache Gegen die griechischen Gesandten gewogen. Anthenor Ich aber bin von Herzen bereit, edler Königssohn, Zu tun, was nur irgend die Gerechtigkeit und das Wohl Unsrer Republik erheischen wird. Alexander Es gibt keine Ausrede, sobald der Freund bittet. Anthenor Allerdings, wenn er Gerechtes verlangt. Alexander Dem Fremden mehr zu gönnen, als dem Heimischen, Das scheint ja nicht fern vom Neid. Anthenor Dem Freunde mehr als der Wahrheit Dienen wollen, das scheint gegen den Anstand. Alexander In der Not, sagt man, gibt sich der Freund zu erkennen. – Anthenor Not kündigt auch die Stimme des Gewissens an. Alexander Ist es doch ein schönes Gewissen, dem Freunde zu helfen. Anthenor Und ein noch schöneres der Wahrheit.

781 Jan Kochanowski: Odprawa posłów greckich, op. cit., S. 9–13.

36. Vorlesung (11. Juni 1841)

499

Alexander Den Griechen beizustehen, das scheint für dich Wahrheit. Anthenor Meinetwegen, wenn seine Sache gerecht ist, Alexander Wohl sieht man’s, daß die Gesandten bei dir eingekehrt. Anthenor Allen Ehrlichen steht mein Haus offen. Alexander Besonders wenn sie mit vollen Händen kommen. Anthenor Weder fremde Gattinnen, noch fremde Gaben nehme ich. Du aber, Ich seh es wohl, wie unenthaltsam du lebst, So sprichst du auch: nichts habe ich ferner mit dir zu verhandeln.

Nach diesem Gespräch läßt sich der Chor hören, welcher, nach der Regel des Horaz782 den griechischen Mustern entlehnt, bestimmt war, den Personen des Drama Rat zu geben, moralische Bemerkungen über ihr Verfahren zu machen und die Götter anzuflehen, mit einem Wort, er stellte im Theater der Griechen das öffentliche Gewissen dar und war die Hauptperson. Alle griechischen Dramen entwickelten sich aus solchen Chören. Kochanowski führte auch in seine Kunst dies ideale Wesen ein; den Paris vor Augen, besingt er, wie glücklich die Jugend wäre, wenn die Vernunft mit ihr sein würde. Hierauf kommt Helena mit ihrer Amme. Diese letztere Figur ist unentbehrlich im griechischen Drama, bis später die Vertraute ihren Platz einnahm. Helena erzählt mit Einfalt ihrer Amme oder Vertrauten, welche Kochanowski die „alte Dame“ nennt, in welch trauriger Lage sie sich befinde, und welches Schicksal ihrer harre: Podobno w tył okrętu łańcuchem za szyję Uwiązana, pośrzodkiem greckich naw popłynę.783 (S. 16) Wahrscheinlich auf des Schiffes Hinterteil, mit einer Kette An den Hals gebunden, werde ich auf griechischen Schiffen fortsegeln.

782 Vgl. Quintus Horatius Flaccus: Ars Poetica. Die Dichtkunst. Lateinisch / Deutsch. Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Eckart Schäfer. 2. Aufl., Stuttgart 1984. 783 Jan Kochanowski: Odprawa posłów greckich, op. cit., S. 16.

500

Teil I

Wieder endet der Chor das Gespräch. Hiernach kommt einer von den griechischen Gesandten und berichtet der Helena, was im königlichen Rat vorgegangen ist. Diese Erzählung ist sehr einfach und schön. Der Gesandte wiederholte, nach damaliger Sitte der dramatischen Dichter, die Reden des Priam, Anthenor und aller griechischen Feldherrn. Gegen das Ende des Schauspiels zeigen sich Menelaos und Odysseus, indem sie aus dem königlichen Schloß heraustreten. Odysseus, zufolge des ihm durch die zyklische Dichtung verliehenen Charakters, ein sehr vernünftiger und verständiger Mann, tritt auf wie ein gewandter Politiker, faßt die Sachlage kurz und stellt sie gleichsam ministeriell vor. Menelaos bricht in Wut aus. Der Dichter, dem Äschylos und Homer folgend, legte ihm diese Worte in den Mund: MENELAUS Wieczne Światło Niebieskie i ty, płodna zielni, I ty, morze szerokie, wy, wszyscy bogowie, I wysocy, i niscy, świadki mi dziś bądźcie, Żem rzeczy sprawiedliwej od Trojanów żądał, Abych był krzywdy wielkiej i zelżenia swego Nagrodę jaką wziąć mógł; nicem nie otrzymał, Jeno śmiech ludzki a żal serdeczny tym więtszy. Na was tedy krzywdę swą i żałość niezmierną Kładę, możni bogowie; jeśli sercem czystym Tę prośbę do was czynię, pomścicie zelżenia I mej krzywdy tak jasnej; dajcie mi na gardle Usieść Aleksandrowym i miecz krwią napoić Człowieka bezecnego, ponieważ i on mej Zelżywości dawno syt i dziś się ją karmi.784 Du ewiges himmlisches Licht, und du fruchtbare Erde, Und du weites Meer, ihr Götter, alle Sowohl hohe wie niedrige! seid meine Zeugen heut, Daß ich Gerechtes von den Trojanern gefordert, Auf daß ich meiner großen Unbill und Schmach wegen Einige Vergütung erhielte. Nichts habe ich erlangt, Nur Menschengelächter, und desto größern Herzenskummer. Euch überweise ich nun meine große Unbill, und den ungeheuren Jammer, Ihr mächtigen Götter! Tue ich mit reinem Herzen Diese Bitte an Euch, so werdet ihr die Schmach Und meine so gerechte Sache rächen, mir erlauben, auf die Kehle Des Alexander mich zu setzen, und das Schwert im Blute Des verruchten Menschen zu tränken, dieweil auch er An meiner Schmach sich längst gesättigt und sie noch heute genießt. 784 Jan Kochanowski: Odprawa posłów greckich, op. cit., S. 41–42.

36. Vorlesung (11. Juni 1841)

501

Ähnliche Klagen oder Verwünschungen sind öfters von den Dichtern wiederholt worden. Noch neulich hat Edgar Quinet785 diese Form gebraucht. Hier singt der Chor ein wunderschönes Stück von Helenas Reise aus Griechenland nach Troja. Den Inhalt dieser Dichtung hat Kochanowski dem Euripides786 entnommen, nur etwas verändert und erweitert: CHORUS O białoskrzydła morska pławaczko, Wychowanico Idy wysokiej, Łodzi bukowa, któraś gładkiej Twarzy Pasterza Prijamczyka Mokrymi słonych wód ścieżkami Do przeźroczystych Eurotowych Brodów nosiła! Coś to zołwicom za bratową. Córom szlachetnym Prijamowym, Cnej Poliksenie i Kasandrze Wieszczej, przyniosła? Za którą oto w tropy prosto. Jako za zbiegłą niewolnicą. Prędka pogonia przybieżała. Toli on sławny upominek Albo pamiętne, którym luby Sędziemu wyrok ze wszech Wenus Bogiń piękniejsza zapłaciła, Kiedy na Idzie stokorodnej Śmierci podległy nieśmiertelne Uznawca twarzy rozeznawał? Swar był początkiem i niezgoda Twego małżeństwa, Prijamicze, Nie śmiem źle tuszyć, nie śmiem, ale Ledwe nie takiż koniec będzie.787 O weißbeflügelte Meerschwimmerin, Du Buchenschiff, Zöglingin Des hohen Ida! die du Priams Sohn, Den Hirten glatten Angesichts, Über die feuchten Pfade der salzigen Wasser An die durchsichtigen Quellen 785 Edgar Quinet (1803–1875), Professor am Collège de France, mit Mickiewicz befreundet. Vgl. E. Quinet: Ahasvérus. Paris 1834; deutsche Übersetzung – Ahasverus. Frei aus dem Französischen des Edgar Quinet. Ludwigsburg 1834; vgl. den „Prolog“, S. 3–7. 786 Nach  T.  Ulewicz (Jan Kochanowski: Odprawa posłów greckich, op. cit., S.  42) Nachahmung des Chorgesanges in der Tragödie „Hippolytos“ von Euripides. 787 Jan Kochanowski: Odprawa posłów greckich, op. cit., S. 42–45.

502

Teil I Des Eurotas getragen! Eine Schwägerin hast du den Schwestern, Töchtern des edlen Priamus, Der Polyxena und der Seherin Kassandra gebracht? Dieser sogleich auf den Fuß Wie einer entlaufenen Sklavin Folgte die schnelle Jagd nach. Ist das nun jen’ berühmtes Geschenk Oder Angebinde, womit dem Richter Das angenehme Urteil, von allen Göttinnen Venus die schönste zählte? Als auf dem stromreichen Ida Der sterbliche Richter unsterbliche Antlitze unterschied? Zank, Uneinigkeit war der Anfang Deiner Ehe, du Priams Sohn! Nicht wage ich Böses zu verkünden, nein; Aber wohl scheint ebenso das Ende.

Dies Drama schließt mit der Prophezeiung Kassandras, die eine wohlbekannte Person in der griechischen Tragödie ist. Kassandra stürzt, von weissagendem Geist erfüllt, auf die Bühne, und Anthenor fragt den Priamos: ANTENOR […] A to zaś co za białogłowa Z włosy roztarganymi i twarzy tak bladej? Drżą na niej wszytki członki, piersiami pracuje, Oczy wywraca, głową kręci: to chce mówić, To zamilknie. PRIAMOS Moja to nieszczęśliwa córa, Kasandra; widzę, że ją duch Apollinowy Zwykły nagarnął […] Antenor […] und diese aber, was für ein Weib ist das? Mit zerzaustem Haare, und so bleichem Antlitz? Es beben an ihr alle Glieder, sie arbeitet mit der Brust, Rollt die Augen, wirft das Haupt: bald als wollte sie reden, Bald verstummt sie wieder. – Priamos Meine unglückliche Tochter, Kassandra Ist es. Ich sehe wohl, daß sie der gewohnte Geist Apollos erfasst […].

36. Vorlesung (11. Juni 1841) KASANDRA Po co mię prózno, srogi Apollo, trapisz. Który, wieszczego ducha dawszy, nie dałeś Wagi w słowiech, ale me wszytki proroctwa Na wiatr idą nie mąjąc u ludzi więcej Wiary nad baśni prózne i sny znikome? Komu serce spętane albo pamięci Zguba rnojej pomoże? Komu z ust moich Duch nie mój pożyteczen i zmysły wszytki. Ciężkim, nieznośnym gościem opanowane? Prózno się, odejmuję, gwałt mi się dzieje; Nie władne dalej sobą, nie jestem swoja. Ale gdzieżem przez Boga? Światła nie widzę, Noc mi jakaś przed oczy nagła upadła. Owóż mamy dwie słońcy, owóż dwie Troi. Owóż i łani morzem głębokim płynie. Nieszczęśliwa to łani, złej wróżki łani, Brońcie brzegów, pasterze, nie dopuszczajcie Tej niezdarzonej goście nigdziej do ziemie! Nieszczęśliwa to ziemia i brzeg nieszczęsny, Gdzie ta łani wypłynie; nieszczęsna knieja, Gdzie wnidzie i gdzie gładki swój bok położy Wszytki stopy, wszytki jej łożyska muszą Krwią opłynąć; upadek, pożogę, pustki Z sobą niesie. O wdzięczna ojczyzno moja, O mury, nieśmiertelnych ręku roboto! Jaki koniec was czeka? Ciebie, mój bracie, Stróżu ojczyzny, domu zacna podporo, Wkoło murów trojańskich tesalskie konie Włóczyć grożą, a twoje oziębłe ciało Będzieli chciał nieszczęsny ociec pochować, Musi je u rozbójce złotem kupować. Nieprzepłacony duchu, z tobą pospołu I ojczyzna umarła; jednaż mogiła Oboje was przykryje. Lecz i ty, srogi Trupokupcze, niedawno i sam polężesz. Strzałą niemężnej ręki prędką obieżdżon. Cóż potym? Kłoda leży, a ze pnia przedsię Nowa rózga wyrosła i nad nadzieję Prędko ku górze idzie. A to co za koń Tak wielki na poboju sam jeden stoi? Nie wódźcie go do stajniej, radzę, nie wódźcie: Bije ten koń i kąsze; spalcie go raczej, Jeśli sami od niego zgorzeć nie chcecie. Czujcie, stróże: noc idzie, noc podejźrzana. Wielki ogień ma powstać, tak wielki ogień,

503

504

Teil I Że wszytko jako w biały dzień widać będzie, Ale nazajutrz zaś nic widać nie będzie. Wtenczas, ojcze, ani już bogom swym dufaj, Ani się poświęconych ołtarzów łapaj: Okrutnego lwa szczenię za tobą bieży. Które cię paznoktami przejmie ostremi I krwią twoją swe gardło głodne nasyci. Syny wszytki pobiją, dziewki w niewolą Zabiorą; drugie g’woli trupom umarłym Na ich grobiech bić będą. Matko, ty dziatek Swoich płakać nie będziesz, ale wyć będziesz!788 Kassandra Wozu nur quälst du mich umsonst, grausamer Apollo? Der du mir den Geist der Wahrsagung verleihend, nicht Zugleich das Gewicht der Worte mir gabst; denn alle meine Prophezeiungen Gehen in den Wind, und nicht mehr glauben ihnen die Leute Als eitlem Geschwätz, und schönen Träumen. Wem nur hilft doch mein gefesseltes Herz oder Der Verlust meines Gedächtnisses? Wem nützt aus meinem Munde Der Geist, der nicht mein? Und alle meine Sinne, Beherrscht durch den lästigen, unerträglichen Gast? Umsonst jedoch sträube ich mich, es geschieht mir Gewalt. Ich beherrsche mich nicht ferner, bin nicht die meinige mehr. Wo bin ich nun, o Gott! Ich sehe kein Licht, Unbekannte Nacht fiel mir plötzlich vor die Augen. Ha! da haben wir zwei Sonnen, da sind zwei Trojas, Da segelt auch übers tiefe Meer das Reh, Unglückselig ist dies Reh, das Reh der bösen Vorhersage; Wehret die Ufer, ihr Hirten, erlaubet nie Diesem ungeratenen Gaste zu landen. Unglücklich ist der Boden, unglücklich das Ufer, An welchem dies Reh aussteigen, unglücklich die Horstung, Wo es hinein gehen und seine glatte Seite legen wird. Alle ihre Fußtapfen, alle ihre Lager müssen In Blut überschwimmen. Verderben, Brand, Trümmer Bringt sie mit sich. O du mein schönes Vaterland! O ihr Mauern! unsterblicher Hände Arbeit! Welches Geschick harret euer? Dich, mein Bruder, Hüter des Vaterlandes, des Hauses edle Stütze, Drohen thessalische Rosse rings um die Trojanischen Mauern zu schleppen; und wenn der unglückliche Vater Deinen kalten Leichnam wird beerdigen wollen, Muß er ihn zuerst von den Mördern mit Gold erkaufen. Unschätzbarer Geist, mit dir zusammen Verschied auch das Vaterland: ein und dasselbe Grab

788 Jan Kochanowski: Odprawa posłów greckich, op. cit., S. 50–55.

36. Vorlesung (11. Juni 1841)

505

Wird euch beide bedecken. Aber auch du, grausamer Leichenverkäufer, wirst nicht lange danach fallen, Vom Pfeile einer untapferen Hand im Nu überwältigt. Was nun ferner? Es liegt ein Faß, und doch aus dem Stamme Erwuchs eine neue Sprosse, und über alles Erwarten erhebt Sie sich schnell in die Höhe. Was ist das für ein Pferd? So groß auf dem Schlachtfelde steht es ganz allein. Führt’s nicht in den Stall, ich rate euch, führt es nicht. Es schlägt dies Pferd und beißt; verbrennt es vielmehr, Wenn ihr nicht selbst durch dasselbe verbrennen wollt. Wachet ihr Hüter, die Nacht naht, die verdächtige Nacht. Großes Feuer soll entstehen, so großes Feuer, Daß Alles wie bei lichtem Tage zu sehen sein wird. Dann, Vater, traue weder deinen Göttern mehr, Noch erfasse die geweiheten Altäre; Des grausamen Löwen Brut folgt dir auf den Fersen, Sie wird dich mit scharfen Krallen ergreifen Und mit deinem Blut ihre lechzende Gurgel sättigen. Die Söhne alle werden sie erschlagen, die Mädchen In Gefangenschaft führen, die Übrigen ihren Verstorbenen Auf den Gräbern schlachten. Du aber, Mutter! wirst Deine Kinder nicht beweinen, sondern heulen wirst du.

Die letzte Zeile, im Polnischen mit großer Kraft gesprochen, betrifft die bekannte Verwandlung Hekubas in eine Hündin.789 Die Prophezeiung der Kassandra ist, sowohl in Betracht der Schöpfung wie des Stils, eine der schönsten Stellen in der slavischen Dichtung. Obiges Drama von Kochanowski führt den Titel: „Odprawa posłów greckich“ („Die Abfertigung der griechischen Gesandten“); es ist nicht in Akte eingeteilt, und könnte kaum den Umfang eines einzigen Aktes der neueren Schauspiele einnehmen. Sehr leicht ist zu begreifen, warum dieses Drama nie von der Gesamtheit des Publikums verstanden und gewürdigt werden konnte. Der Kanzler Jan Zamoyski790, welcher es in seinem Palast öfters aufführen ließ und selbst ein klassisches Werk über das Altertum geschrieben hat, wußte gewiß, wohin alle, auch die leisesten Andeutungen des Verfassers zielten und verstand alle Vorzüge des Stils zu fühlen. Das Parterre des Zamoyskischen Theaters bestand aus nicht vielen dieses Stückes würdigen Zuschauern. Aber wie 789 Vgl. dazu die Tragödie von Euripides: Hekabe. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Kjeld Matthiessen. Berlin-New York 2008. 790 Vgl. Ioannis Sarii Zamoscii De senatu romano libri duo. Venetiis 1563 [SUB Göttingen. Signatur:  8  ANT  2, 4503]; neue Ausgabe mit polnischer Übersetzung: Rozprawa Jana Zamoyskiego o Senacie Rzymskim: tekst łaciński, przekład oraz komentarz historycznoprawny. Hrsg. Marek Kuryłowicz, Wojciech Witkowski. Lublin 1997.

506

Teil I

konnte die Masse der Leser an diesem Drama, das keine leidenschaftlichen Bewegungen noch Intrigen umfaßte, Gefallen finden? Das größte Interesse eines Dramas sah man schon dazumal in der Intrige. Was man in den Bühnenstücken die Intrige nennt, kam im 17. Jahrhundert auf, und in Spanien schon am Ende des 16. Jahrhunderts, als man die Religionsszenen und die verwickelten ritterlichen Romane zu dramatisieren begann. Man stellte für das ideale oder dichterische Interesse ein künstliches, man könnte fast sagen, ein mechanisches hin, welches dem Publikum endlich unentbehrlich wurde. Ein solches Interesse gibt es in der „Abfertigung der griechischen Gesandten“ nicht. Später zuckten die Kritiker791 die Achseln darüber, daß ein genialer Mann, wie Kochanowski, etwas so Ungebundenes habe schreiben können. Diesen Kritikern des vorigen Jahrhunderts, die außer den französischen Stücken in der Literatur des Dramas fast gar nichts mehr kannten, waren die Komposition und der Stil Kochanowskis ein toter Buchstabe. Man darf sich nicht einmal darüber verwundern, denn der allgemeine Geschmack ändert sich öfters. Bekannt ist es ja, daß sogar Dantes und Shakespeares Meisterwerke lange Zeit von Kritikern und vom Publikum gering geschätzt oder verworfen dalagen. Erst unlängst, in den letzten Jahren des verflossenen Jahrhunderts, versuchte der berühmte deutsche Dichter und Schriftsteller Goethe, in seiner „Iphigenie auf Tauris“792 dem griechischen Drama dessen ursprüngliche Form wiederzugeben. Schade, daß es niemandem einfiel, diese beiden ausgezeichneten Schöpfungen, nämlich Goethes und Kochanowskis, zu vergleichen. Es hätte sich dann gezeigt, daß Kochanowski ihm an Kraft und Leidenschaft nachsteht, aber gewiß das Griechische bei weitem reiner und echter darstellt als Goethe. Was er in den griechischen Schriftstellern vorgefunden, das hat er vortrefflich gefühlt und wiedergegeben. Goethe aber dringt zuweilen mit dem Blick hinter den Kreis der Literatur und errät Einzelheiten des häuslichen Lebens, von welchen in den griechischen Geschichtsschreibern nicht die leiseste Erwähnung geschieht. Kochanowskis Stil war auch schon seinen Nachfolgern und Kritikern fremd. Eine genaue, natürliche, bloß durch Einfalt reizende Erzählung, die nichts Gesuchtes, nicht die mindeste Übertreibung und keine unnötige Verzierung hatte, schien ihnen zu prosaisch. Um jene Zeit begann schon der Geschmack 791 Vgl. Franciszek Ksawery Dmochowski: Sztuka rymotwórcza. Poema we czterech pieśniach. Warszawa 1788, Pieśń trzecia, S. 48: „Dawniej był Kochanowski napisał Odprawę / Posłów greckich, ale ta niewielką ma sławę; / Same w niej są rozmowy, nie masz zawikłania / Rzeczy, nie masz trudności, nie masz rozwiązania. / Tem się tylko robota od winy odjęła, / Że się zacny mąż przyznał do słabości dzieła.“ 792 J. W. Goethe: Iphigenie auf Tauris. Ein Schauspiel. Leipzig 1787; vgl. dazu – Dieter Borchmeyer: Iphigenie. In: Goethes Dramens. Interpretationen. Stuttgart 1992, S. 117–157.

36. Vorlesung (11. Juni 1841)

507

in Italien [Marino]793 und Polen sich zu verschlechtern. Man wandte das ganze Bemühen auf die Vervollkommnung der Form. Die Dichter erhitzten sich die Köpfe in Erfindungen eines neuen Versganges, sie bemühten sich namentlich um Reichtum und Ungewöhnlichkeit der Reime und um einen bis dahin ungekannten Versbau. Die einfache Form von Kochanowski wurde daher vernachlässigt, wenngleich er in derselben gerade einen der slavischen dramatischen Dichtung entsprechenden, vortrefflichen Rhythmus zu wählen gewußt hat, und seine Chöre desgleichen in sehr wissenschaftlicher Form verfaßt waren, die unglücklicherweise von den Späteren nicht nachgeahmt wurde. Kochanowskis Drama blieb in der Literatur eine Einzelerscheinung, ohne Muster und Nachahmung. Es besteht noch ein zweiter Versuch in dieser Gattung von ihm, betitelt: „Alcestis męża od śmierci zastąpiła“ (Alcestis vertritt den Tod ihres Gatten, oder: „Alcestis stirbt für ihren Gatten)794; jedoch legte er diese Arbeit, wie es scheint, unbeendigt bei Seite, nachdem er kaum etwa achzig Zeilen geschrieben hatte. Außerdem verfaßte er viele andere Dichtungen.795 Wir besitzen seine Schöpfungen, welche geschichtliche volkstümliche Begebenheiten besingen, so z.B. „Jezda do Moskwy (Einzug in Moskau) […], Kraków 1583, dann auch verschiedene Verse an Freunde, in Gestalt von Briefen geschrieben, und „Fraszki“796 betitelt, unter denen sich einige recht niedliche und witzige vorfinden. Das Gedicht „Pełna prze zdrowie“ (Auf die Gesundheit) z.B. lautet so:

793 Giambattista Marino (1569–1625). Zusatz in der französischen Ausgabe (A. Mickiewicz: Cours de litérature Slave. Paris 1860, Bd. II, S. 193). Mickiewicz kritisiert hier die Barockliteratur an sich. In Polen übersetzte die Lyrik von G. Marino – im Sinne der barocken Imitatio-Lehre – Jan Andrzej Morsztyn (1621–1693); vgl. Jan Andrzej Morsztyn: Utwory zebrane. Hrsg. Leszek Kukulski. Warszawa 1971. Die Adaptierung des Barockbegriffs erfolgte in Polen erst durch Edward Porębowicz: Andrzej Morsztyn, przedstawiciel baroku w poezji polskiej. Kraków 1893. 794 Teil der Übersetzung der Tragödie „Alkestis“ von Euripides. 795 Vgl. dazu den Überblick bei Janusz Pelc: Jan Kochanowski. Szczyt renesansu w literaturze polskiej. Warszawa 1980. 796 „fraszka“ verweist etymologisch auf das italienische Wort frasca (ein Zweig von Blättern umrankt), aus dem Leichtigkeit, Geschmeidigkeit und Witz abgeleitet werden. Als Gattungsbegriff von Kochanowski eingeführt, ist „fraszka“ der epigrammatischen Poesie zugeordnet und thematisiert mit Witz und Scharfsinn Gegenstände, Personen oder Angelegenheiten von geringer Bedeutung (nugae). Vgl. dazu Marian Ursel, Peter Boronowski: Die Fraszka im Zeitalter der Renaissance. Theorie und Geschichte (Abriß der Problematik). In: Jan Kochanowski, Ioannes Cochanovius (1530–1584). Materialien des Freiburger Symposiums 1984. Hrsg. Rolf Fieguth. Freiburg (Schweiz) 1987, S. 173–204.

508

Teil I Prze zdrowie gospodarz pije, Wstawaj, gościu! A prze czyje? Prze królewskie. – Powstawajmy I także ją wypijamy! Prze królowej. – Wstać się godzi I wypić; ta za tą chodzi. Prze królewny. Już ja stoję! A podaj co rychlej moję! Prze biskupie. – Powstawajmy Albo raczej nie siadajmy! Ta prze zdrowie marszałkowe. – Owa, gościu, wstań na nowe! Ta prze hrabie. – Wstańmy tedy! Odpoczniemże nogom kiedy? Gospodarz mu w ręku czaszę, My wiedzmy powinność nasze! Chłopie, wymkni ławkę moję, Już ja tak obiad przestoję.797 Der Wirt bringt die Gesundheit aus, Erhebe dich Gast: und wessen? Des Königs. Ei so stehen wir auf Und trinken sie auch aus! Der Königin: es ziemt sich aufzustehen Und zu trinken; sie und jene folgen sich. Der Königstochter: schon bin ich auf! Nur reiche mir bald den Pokal. Des Bischofs: erheben wir uns, Oder vielmehr setzen wir uns nicht wieder. Diese gilt dem Marschalle, Siehe Gast, da mußt du wieder aufstehen. Diese für den Grafen: hatten wir uns dran; Werden denn unsre Füße mal ausruhen? Der Wirt hält den Becher in der Hand, Uns lasset kennen unsre Schuldigkeit. Höre Junge, nimm meine Bank fort, Ich werde das Mittagsessen hindurch stehen.

Von den prosaischen Schriften des Kochanowski stehen seine sogenannten „Wróżki“ (Vorhersagungen) – für Polen – im größten Ansehen. Der Verfasser führt hier einen Dorfgeistlichen auf die Bühne, welcher mit einem Landmann über die öffentlichen Angelegenheiten spricht. Kochanowski war in seiner Jugend sehr heiter und voller Scherze, später wurde er ernst und finster; er sah das Unglück seines Landes voraus und verkündete dasselbe, indem er sagte, 797 Jan Kochanowski: Fraszki w wyborze. Hrsg. Julian Krzyżanowski. Warszawa 1969, S. 107.

509

36. Vorlesung (11. Juni 1841)

daß sich die Grundfesten der Republik, berührt durch verschiedene Rechtserklärungen und vielfachen Glauben, schon nicht mehr auf den Reichstag (Sejm) stützten; in dieser Hinsicht führte er Ciceros Worte, einem alten Lustspiel entnommen, an: Pleban Pyta jeden, „Quoeso, qui vestram Rempublicam tam cito amisistis?“ Odpowiada mu drugi: „Proveniebant oratores novi, stulti adolescentuli.“ Ziemianin A nie o naszychż to posłach mówi?798

Der Geistliche Einer fragt: „Warum verlaßt ihr eure Republik so eilig?“ Der Andere antwortet ihm: „Weil neue, dumme und junge Redner an die Spitze getreten sind.“ Der Landmann „Ob man da nicht etwa von unseren Landboten spricht?

Auch was er im Folgenden sagt, führt ihn auf traurige Betrachtungen. W Poznaniu jest sala wielka biskupia, tam niżli ją był nieboszczyk biskup Czarnkowski799 odnowił, byli namalowani rzędem wszyscy królowie Polscy, jakoż podobno jeszcze i dziś są. Owa po królu Zygmuncie, nie zostało już miejsca inszym królom jeno jednemu. Tam kiedy przyszło malować dzisiejszego też Pana na tem miejscu, które jakom powiedział, już jeno jedno było zostało, przypatrując się naleziono nad nim pismo na wapnie żelazem, albo nożem wykreślone temi słowy: hic regnum mutabitur. Tego nie wiedzieć kto to pisał, i jako tam dolazł; bo pod samym stropem. Może być, że ten ktokolwiek był stąd wziął naprzód wróżkę, iż to już jeno jednemu królowi miejsce było zostało; a może też być, że jakim inszym duchem, którego my nie wiemy. Jakokolwiek, rzecz pewna, że to tam było napisano; ważno-li to ma być albo nie ważno, nie śmiem się na żadną stronę skłonić: ale jednak może ujść między insze wróżki, jako i drugie, a Pan Bóg mocen wszystko w dobre obrócić.800 In Posen gibt es einen großen Bischofssaal, in welchem, ehe noch der verstorbene Bischof Czarnkowski denselben hatte erneuern lassen, die Gemälde der Könige Polens sich der Reihe nach befanden. Nun aber blieb nach dem König Sigismund (dem Alten), außer einer einzigen Stelle, kein Platz mehr übrig für die späteren Könige. Als es nun dazu kam, den gegenwärtigen Herrn an der Stelle zu malen, welche, wie gesagt, nur noch allein übrig geblieben war, fand man, genau nachsehend, auf der Mauer eine mit Eisen oder einem Messer in folgenden Worten gezeichnete Schrift: „Hic regnum mutabitur“ (Hier wird sich das Köngreich verändern). Wer dies geschrieben hat und wie er so hoch hinaufgekrochen, wußte man nicht, denn es war fast ganz an der Decke. 798 Jan Kochanowski: Wróżki. In: J. Kochanowski: Threny, Satyr, Wróżki. Paryż 1867, S. 45. Das Zitat „Proveniebant oratores novi, stulti adolescentuli“ stammt aus dem Werk von Cicero: Cato Maior de Senectute, Kap. VI, 20, der den Dichter und Dramatiker Gnaeus Naevius (um 265 v. Chr. – um 201 v. Chr.) anführt. 799 Andrzej Czarnkowski (1507–1562). 800 Jan Kochanowski: Wróżki, op. cit., S. 47.

510

Teil I Möglich ist es, daß, wer es auch war, sich daraus, daß nur noch für einen einzigen König Platz geblieben, diese Vorhersagung zog; vielleicht ward es auch in einem anderen Sinn geschrieben, den wir nicht wissen. Sei es nun so oder so, gewiß ist es, daß dieses dort geschrieben stand. Soll es wichtig oder unwichtig sein? Ich wage es nicht zu entscheiden; wohl aber kann es unter den übrigen Vorhersagungen ebenso gut stehen wie die anderen, und Gott der Herr vermag Alles zum Guten zu wenden.

Kochanowski, von der allgemeinen bangen Ungewißheit ergriffen, was mit dem polnischen Zepter nach dem Tod des kinderlosen Sigismund August geschehen würde, mußte notwendig an die Wahl eines neuen Königs denken; jedoch kam von seinen politischen Schriften nur das oben Angeführte bis auf uns. Die schlimmen Vorhersagungen erfüllten sich nicht sobald. Nach Sigismund August und Henryk Walezy801, welcher letztere nur kurze Zeit regierte, fand Polen in Stefan Batory802 einen Mann, wie es ihn bedurfte, um nicht nur die erschütterte Republik zu kräftigen, sondern auch zu erheben und zu vergrößern. Die Zeiten vom Hinscheiden des letzten Jagellonen bis zur Thronbesteigung Batorys wollen wir übergehen, da in denselben nach außen nichts Wichtiges vorgefallen ist; die große innere Begebenheit aber, die Feststellung der Königswahl, werden wir Gelegenheit haben, später zu erzählen. Eilen wir nun, um diesen Zeitabschnitt der Geschichte zu schließen und in Kürze den durch König Stefan gegen Moskau unternommenen Krieg zu schildern. Stefan Batory befand sich schon, da er als Woiwode von Siebenbürgen sein kleines Land regierte, in einer Stellung, die ihn zwang, mit der allgemeinen Politik Europas sich bekannt zu machen. Einerseits mußte er die Oberherrschaft der Türkei anerkennen, andererseits aber fortwährend sich um die Gunst des österreichischen Kaisers bewerben; auch war er gezwungen, Hilfe in Polen zu suchen und sogar in Verbindung mit Moskau zu treten. Von Geburt ein Slave803, kannte er die polnische Sprache und erriet durch Instinkt den Charakter der Polen. Sobald er also die Regierung der Republik übernommen hatte, stellte er sogleich dem Senat die Notwendigkeit vor, entscheidende Kriegszüge gegen ihre drohenden Feinde, die Krim-Tataren und Moskau, zu unternehmen. Da aber die Tataren den Türken unterwürfig waren, und ein Krieg mit den Türken mit zu vielen europäischen Fragen verwickelt war, so wurde beschlossen, denselben auf eine fernere Zeit zu verschieben. Der König 801 Henryk Walezy – Heinrich III. – Henri de Valois (1551–1589). 802 Stefan Batory (1533–1586), ungarisch: István Báthory. 803 Stefan Batory wurde in Șimleu Silvaniei (ungarisch Szilágysomlyó) in Transsilvanien (heute Rumänien) geboren.

36. Vorlesung (11. Juni 1841)

511

Stefan erkannte für schicklich, mit dem Umsturz des Zarentums zu beginnen, und fühlte sich dazu stark genug. Es schreckte ihn weder die Macht, noch die ungeheuere Gewalt des damals in Moskau herrschenden Ivan IV. Unter Ivan dem Schrecklichen begann gerade die fünfte Phase seiner Verfolgung und Folterung des Volkes („opaly“). Nachdem er auf verschiedene Weise eine Menge Leute jedweden Standes gemordet hatte, befahl er, auf dem Markt einen Galgen zu bauen und einen Kessel mit Wasser hinzustellen, ansagend, daß er seine Feinde hängen und lebendig kochen würde. Schrecken ergriff die ganze Hauptstadt; die Einwohner, des unentrinnbaren Verderbens gewiß, liefen aus der Stadt oder verschlossen sich in den Häusern. Der Großfürst erzürnt, daß niemand auf den Straßen zu sehen war, ging mit seiner Schar von Haus zu Haus, ließ die Türen einschlagen und trieb alle auf den öffentlichen Platz, damit sie seinen Grausamkeiten zusehen möchten. Wahrend dieser Verfolgungen tobte der Krieg mit den Krim-Tataren. Ivan, frech und störrisch, so oft die Schweden mit ihm unterhandeln wollten, bekam Angst und verlor, angesichts der Tataren, gänzlich das Vertrauen; er überreichte dem Khan selbst demütige Friedensbedingungen, um nur die Schlacht zu vermeiden. Die Tataren fielen in Moskau ein und verbrannten die Stadt. Nach Berechnungen der russischen Geschichtsschreiber kamen an 800 000 Menschen bei diesen Niederlagen um. Nach ihrem Abzug begann er, sobald er nur in die Hauptstadt zurückzukehren vermochte, sogleich seine sechste Phase der blutigen Tyrannei. Wir werden uns nicht mehr bei den Einzelheiten der Mordtaten aufhalten, denn es ist unmöglich, sie alle aufzuzählen. Nachdem er beinahe alle die mächtigsten und reichsten Bojaren umgebracht und fast die Hälfte der Einwohner vernichtet hatte, setzte er sich hin, um gleichsam mit dem menschlichen Leiden zu spielen. Er ersann mit seinen beliebten Ratgebern804 – der eine war ein Deutscher, der andere ein Livländer – immer wieder neue und schmerzlichere Mittel, die unglücklichen Opfer zu quälen: […] сверх того были сделаны для мук особенные печи, железные клещи, острые ногти, длинные иглы; разрезывали людей по составам, перетирали тонкими веревками надвое, сдирали кожу, выкраивали ремни из спины […].805 […] für das Foltern fertigte man spezielle Öfen, Eisenzangen, scharfe Krallen, lange Eisennadeln an; man schnitt den Menschen die einzelnen Gliedmaßen ab, mit dünnen Seilen zerteilte man sie in zwei Teile, riß ihnen die Haut herunter, schnitt Riemen aus dem Rücken […]. 804 Eilert Kruse und Johann Taube – vgl. die 31. Vorlesung (Teil I). 805 Karamzin, op. cit., Bd. 9, Kap. III, S. 97.

512

Teil I

Endlich machte er sich an das Vernichten seiner grausamen Legion, der „opričnina“, der Henkershelfer. Die Tyrannei muß zuletzt immer ihre eigenen Werkzeuge zermalmen. Bekannt ist es, daß die römischen Diktatoren ihre Mordknechte den Soldaten zum Hinschlachten preisgaben, und die französische Revolution hat desgleichen fast alle ihre Büttel aufgefressen. Ivan der Schreckliche, die Notwendigkeit fühlend, das ganze Heer an sich zu fesseln, rottete allmählich die ihm am nächsten stehenden Schmeichler aus, öfters die Strafen mit höllischem Scharfsinn erschwerend. Einem z.B. befahl er, vor dem Todesgang zuerst den Vater mit eigener Hand zu töten. Diese Epoche der Verfolgungen begann seit dem Tod des Fürsten Vorotynskij, eines durch Taten berühmten Kriegers, des neuen Besiegers der Tataren. Der Großfürst befahl, ihn langsam mit Feuer zu verbrennen, und rückte selbst mit dem Eisenstab die Kohlen heran, sich erkundigend, wo er seine Schätze verwahrt habe.806 Kurbskij, jener nach Polen geflüchtete Bojar, sagt von seinem Freund Vorotynskij schreibend: „О муж великий!“ – пишет несчастный Курбский: – „муж крепкий душою и разумом! священна, незабвенна память твоя в мире! Ты служил отечеству неблагодарному, где добродетель губит и слава безмолвствует.“807 Du vorzüglicher Mann, du Mann seltener Geistes- und Gemütsstärke, möge dein Angedenken für immer heilig in unserem Haus bleiben. Gedient hast du dem undankbaren Vaterland, wo der Wohltäter umkommt und der Ruhm verstummt.

Alles dessen ungeachtet, beugten sich die Bojaren und das Volk blindlings vor Ivan. Einer der zeitgenössischen Geschichtsschreiber führt folgendes Beispiel an. Man erzählt, als Ivan einen angesehenen Bojaren pfählen ließ, сей несчастный жил целые сутки, в ужасных муках говорил с своею женою, с детьми, и беспрестанно твердил: „Боже! помилуй Царя!“…808 lebte dieser Unglückliche 24 Stunden; unter unbeschreiblichen Qualen sprach er mit der Gattin und den Kindern und wiederholte alle Augenblicke: „Herr Gott, errette den Zaren!“ 806 Karamzin, op. cit., Bd.  9, Kap.  4, S.  157: „шестидесятилѣтняго Героя связаннаго положили на дерево между двумя огнями; жгли, мучили. Увѣряютъ, что самъ Іоаннъ кровавымъ жезломъ своимъ пригребалъ пылающіе уголья къ тѣлу страдальца. Изожженнаго, едва дышущаго взяли и повезли Воротынскаго на Бѣлоозеро: онъ скончался въ пути.“ 807 Karamzin, op. cit., Bd. 9, Kap. 4, S. 157. 808 Karamzin, op. cit., Bd. 9, Kap. 4, S. 161.

36. Vorlesung (11. Juni 1841)

513

Alle diese Einzelheiten dienen dazu, die russische Geschichte verstehen zu lernen. Sobald solche Angst ins Blut der Völker eingegangen war, wurde sie den Untertanen zu einer angeborenen, und die Selbstherrschaft des Gebieters setzte sich fest auf unwankelbarer Grundlage. Die Großfürsten rotteten jedes Gefühl, welches fähig gewesen wäre, Widerstand zu erzeugen, bis auf den letzten Überrest aus. Jene Verbrechen, welche bei anderen Völkern eine allgemeine Empörung der Gemüter hervorgebracht hätten, z.B. das öffentliche Schänden der Frauen, das Hinschlachten der Kinder usw., erweckten in den Russen nur Verwunderung. Eines Tages fragte Ivan, woran es liege, daß ein von ihm öfters gesehener Bojar sich seit langer Zeit nicht bei Hofe gezeigt habe. Man antwortete ihm, er habe eine sehr schöne Frau geheiratet. Sogleich begibt sich der Großfürst an der Spitze seiner Knechte zu ihm, und befiehlt, zuerst in des Mannes Gegenwart die Frau zu schänden und sie dann aufzuhängen; darauf stellt er ihn bei dem Leichnam als Wache hin, damit es niemand wage, den Strick zu zerschneiden. Ein andermal befiehlt er, nach der Hinrichtung des Mannes dessen achtzenjährige Gattin auf die Folter zu spannen. Während der Exekution ändert er plötzlich seinen Sinn, gibt sie seinem Sohn als Beischläferin, und schickt sie dann nach einigen Tagen ins Kloster, wo sie bald verschied. Sogar seine Spiele waren immer grausam. Er hatte Bären, die ausdrücklich für die Jagd auf Menschen erzogen und eingeübt waren. Mit diesen an irgendeinem Tor des Kreml versteckt, wartete er, bis sich ein größerer Haufen der Vorbeigehenden gesammelt hatte. Besonders freute er sich, wenn es ihm auf diese Weise gelang, ein Häuflein Landleute oder Städter, die fröhlich aus der Schenke zurückkehrten, zu erwischen. Alsdann ließ er seine reißenden Bestien auf sie los, und aus vollem Hals lachend sah er zu, wie diese die vor Schreck Erstarrten zerfleischten. Gelang es jedoch einem der Überfallenen dem Tod zu entrinnen, so gab er ihm einige Goldstücke als Belohnung seiner Gewandtheit. Zuweilen ließ er auch Leute in Bärenhäute nähen und hetzte sie mit Hunden. Wir haben schon gesagt, daß die ausländischen Gesandten nicht einmal vermuten konnten, wie es in Moskau zuging. Ivan verstellte sich in ihrer Gegenwart vollkommen, indem er Charakter und Sprache gänzlich änderte. Einer von diesen, der Gesandte des österreichischen Kaisers, Johann Cobentzel809, 809 Johann Cobentzl (1530–1594; vgl. – Herrn Hanss Kobenzels von Prosseg Teutsch-ordensRitters und Herrn Daniel Prinzens allerunderthenigste Relation uber ihre getragene Legation bey dem Grossfürsten in der Mosca. In: Fëdor Veržbovskij (Theodor Wierzbowski): Donesenie Ioanna Kobencelja o Moskovii ot 1576 goda. Varšava 1901 (= Materialy k istorii moskovskago gosudarstva v XVI i XVII stolětijach, 4); vgl. dazu Karamzin, op. cit., Bd.  3, Kap. V., S.  191: „Вѣроятно, что сію мысль внушилъ Григорію Посолъ Императорскій, Кобенцель: ибо онъ славилъ въ Европѣ не только могущество, но

514

Teil I

ein aufgeklärter vernünftiger Mann, sagt sogar ausdrücklich von Ivan, daß alles, was in anderen Ländern von ihm gesprochen würde, offenbar Verleumdung sei; daß im Gegenteil dieser Monarch die beste Erziehung habe, die Leute sehr gut zu behandeln wisse, und einen jeden nach seiner Würde zu ehren verstehe, daß er ihm selbst einen zuvorkommenden Besuch abgestattet habe. Moskau besaß in seinem Tyrannen zugleich den niederträchtigsten Fürsten, als gerade der wackere Polenkönig beschlossen hatte, es aus der Reihe der Staaten zu streichen. Batory, kaum vermögend 40 000 Streiter zu versammeln, besann sich nicht im Mindesten, diesem Gewalthaber den Kampf anzukündigen, welcher nach der Aussage der moskovitischen Historiographen ein zahlreiches Heer wie Xerxes hatte; regelmäßiger Truppen allein zählte er 40 000 Mann, außerdem 150 000 Bojarensöhne und im Notfall konnte er noch 300 000 Bauern ins Feld stellen. Dessenungeachtet zwang ihn der König Stefan in drei aufeinander folgenden Kriegszügen zur Annahme erniedrigender Bedingungen.

и мнимое доброжелательство Россіянъ къ Латинской Церкви, говоря въ донесеніи къ Вѣнскому Министерству: ‚Несправедливо считаютъ ихъ врагами нашей Вѣры; такъ могло быть прежде: нынѣ же Россіяне любятъ бесѣдовать о Римѣ; желаютъ его видѣть; знаютъ, что въ немъ страдали и лежатъ великіе Мученики Христіанства‘ […].“

37. Vorlesung (15. Juni 1841) Der Krieg Polens mit den Moskovitern in politischer, religiöser und literarischer Hinsicht – Gründe für die Wahl Stefan Batorys auf den polnischen Thron – Batorys Kriegspläne und der Sejm – Das Verhältnis der Kriegsparteien zu den europäischen Mächten – Batorys Kriegszug – Die Korrespondenz Batorys mit Ivan IV. und Kurbskij – Die Friedensmission des Jesuiten Antonio Possevino – Waffenstillstand und Friedensabkommen – Fortsetzung der Grausamkeiten durch Ivan IV.; seine Beziehungen zur englischen Krone – Der Tod Ivans IV.

Dieses Mal müssen wir wieder die Geschichte der Literatur unterbrechen und den großen Krieg zwischen Polen und Moskau erzählen. Dieser Krieg hat einen vielfachen Charakter; er ist zugleich ein politischer, ein religiöser und, man kann sagen, auch ein literarischer. Politisch ist er in der tiefsten Bedeutung des Wortes, denn es galt hier das Übergewicht der Regierungsgrundsätze eines dieser beiden Reiche; religiös, weil das Emporwachsen oder das Sinken des griechischen Ritus von demselben abhing; endlich literarisch, da die Schicksale beider Sprachen in der Waage lagen; und in der Tat hat auch derselbe zwischen der russischen Mundart und der ruthenischpolnischen die Grenzen gezogen. Schon sahen wir, wie sich die polnische Sprache ganz in der Stille hinter dem Niemen und bis an die Ufer des Dnjepr verbreitete. Bis dahin wurde sie vom religiösen Geist geführt, jetzt aber öffnet die politische Eroberung ihr die Bahn in die nordwestlichen Gegenden, in die Gebiete, bewohnt vom finnischen810 Volk, welches sich unter der Herrschaft der Deutschen befand; auf diese Weise suchte sie ihre Grenzen in Weißrußland und Livland. In den beiden sich zum Kampf stellenden Reichen kannten wahrscheinlich ihre Monarchen, Ivan der Schreckliche und Stefan Batory, allein nur die ganze Bedeutung desselben und begriffen, welche Folgen er herbeiführen konnte. Ivan, wenngleich den grausamen Untaten und Rasereien ergeben, fühlte dennoch stets die Gefahr jener Bewegung für sich, welche damals in politischer und religiöser Hinsicht sich in Polen offenbarte; er beobachtete fleißig jede Begebenheit in diesem Land, schickte dorthin unaufhörlich seine Agenten, verband sich die Mächtigen, bemühte sich eine Partei zu machen und hatte so viel bewirkt, daß nach dem Tode Sigismund Augusts einige polnische und viele litauische Herren das Zepter der Republik diesem Ungeheuer, das seine eignen Untertanen auffraß, übergeben wollten.

810 Gemeint sind die Esten.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_038

516

Teil I

Die Aussichten der verschiedensten Sekten traten in jener Zeit an die Spitze und hielten das Steuerruder aller politischen Interessen Polens. Die dem griechischen Bekenntnis zugetanen Familien stimmten für den moskovitischen Großfürsten und hatten alle Andersgläubigen für sich, denn den Abtrünnigen war durchaus notwendig, irgendwo eine Stütze zum Kampf mit der katholischen Kirche zu finden. Ivan IV. mangelte es nicht an Gewandtheit, aus Berechnung ging er auf das Zuvorkommendste mit den polnischen Gesandten um, er nahm sie an seinem Hof herrlich auf, ließ es weder an Höflichkeiten, noch an Geschenken fehlen. Der russische Geschichtsschreiber führt seine eignen Worte an eine dieser Gesandtschaften an. В отечестве вашем ославили меня злобным, гневливым: не отрицаю того; но да спросят у меня, на кого злобствую? Скажу в ответ: на злобных; а доброму не пожалею отдать и сию златую цепь и сию одежду, мною носимую […] Удивительно ли, что ваши Короли любят своих подданных, которые их взаимно любят? А мои желали предать меня в руки Хану […].811 In ihrer Heimat stellt man mich als einen unbarmherzigen Monarchen dar, ich sage nichts dagegen. Aber fragte man mich, gegen wen ich unbarmherzig bin, so würde ich antworten: gegen die Bösen. Den Guten [was bedeuten sollte den Polen] würde ich das letzte Hemd abgeben. Welch Wunder, daß eure Könige ihre ehrlichen Untertanen lieben! Die meinigen wollten mich dem Khan ausliefern […].

Und solche die Moskoviter beleidigende Worte sprach er in Gegenwart der versammelten Bojaren. Einige Polen ließen sich von der Heuchelei Ivans verführen. Sie dachten übrigens bei sich, daß die polnischen Institutionen, Gesetze und SejmBeschlüsse seine Gewalttätigkeit zu zügeln im Stande sein würden. Jedoch der Meinung des russischen Geschichtsschreibers zufolge hätten sie sich gewiß darin getäuscht, und zum Glück hat die Vorsehung sie dieser Probe nicht ausgesetzt. Was auch immer, das ganze Volk, die Gesamtheit des geringeren Adels wiesen stets den Gedanken zurück, den Moskoviter auf den Thron zu berufen, und alle Vorkehrungen vermochten nicht, ihn beliebt zu machen. Dem Woiwoden von Siebenbürgen nutzte ganz vorzüglich jene moralische Verwirrung und der Zusammenstoß der verschiedenen Interessen, welcher damals Polen bewegte. Fürs erste kam es ihm gut zu statten, daß ihn niemand näher kannte. Man wußte nicht mit Gewißheit, ob er Lutheraner oder Katholik sei. Die Andersglaubenden, von seiner Toleranz hörend, schmeichelten sich, daß er den neuen Lehren ergeben sei; die Katholischen hielten ihn desgleichen 811 Karamzin, op. cit., Bd. 9, Kap. 4, S. 126.

37. Vorlesung (15. Juni 1841)

517

für den ihrigen. Die einen von Haß gegen Frankreich und Österreich, die anderen von Haß gegen Moskau bewegt, vereinigten sich zur Wahl dieses Kandidaten. Zweitens empfahl auch das den König Stefan bei den Sektierern, daß man in ihm einen Freund der Türken zu sehen glaubte; diese genossen bei ihnen große Beliebtheit. Dies alles setzte Batory in eine vorteilhafte Lage, die er zu würdigen verstand, während er die empfindlichen Fragen nicht zu früh berührte, bei sich gewiß, daß er sie, wie es einem König zieme, durch seine Handlungen, durch die Tat entscheiden würde. Daher eröffnete er sogleich nach der Ankunft in Polen dem Rat sein Vorhaben gegen Moskau. Die Ausführung desselben verzögerte sich ein wenig wegen der Empörung Danzigs und der preußischen Städte. Jedoch schlug die ausgesendete geringe Abteilung Polen die zahlreichen Truppen der Danziger, trieb dieselben hinter die Mauern und zwang die Stadt, sich dem König zu ergeben. Als man unterdessen noch in der Republik wegen des königlichen Vorhabens beriet, schickte Batory nach allen Seiten Gesandte, machte Bündnisse mit den fremden Höfen und versammelte bewaffnete Streitkräfte. Es war gerade alles wie für den Augenblick bereit, denn Ivan, ohne die Ankündigung des Krieges abzuwarten, fiel in Livland ein. Dieses Land, am Meere gelegen, an der einen Seite die polnischen, an der anderen die moskovitischen Besitzungen berührend, war für beide Reiche von äußerster Wichtigkeit; denn es lag gerade auf dem Verbindungswege des Nordens mit Europa vermittelst des Baltischen Meeres. Der plötzliche und gewaltsame Überfall der Moskoviter verwirrte die Livländer und Schweden; die polnischen Besatzungen zogen sich vor der Übermacht aus den Städten zurück; die Anführer Ivans eroberten in einigen Wochen das ganze Land, alles mit Feuer und Schwert zerstörend. Nach Moskau schickte man 2–3 Hundertschaften von Gefangenen, um sie dort vor den Augen des Großfürsten umzubringen. Nachdem der König Stefan Preußen beruhigt hatte, rückte er gegen Moskau vor. Einer der polnischen Feldherrn, Andrzej Sapieha812, überfiel mit kaum 2000 gepanzerten Reitern, nachdem er noch eine Handvoll schwedischen und livländischen Fußvolks zusammengerafft, eine Abteilung von 20 000 Moskovitern, welche die Wenden belagerten, brachte ihnen eine Niederlage bei, verdrängte sie den anderen Tag aus den Schanzen und vernichtete sie gänzlich. Die moskovitischen Kanoniere, welche sich nicht gefangen geben wollten, hingen sich an den Lavetten ihrer Kanonen auf. Diese Heldentat erweckte in den Polen Bewunderung, und der russische, diesen Krieg schildernde

812 Andrzej Sapieha (1539–1621).

518

Teil I

Geschichtsschreiber813 weiht dem Patriotismus dieser Soldaten zum Lob einige Blätter. Unterdessen zog Batory mit der Hauptmacht durch Litauen. Man riet ihm, geradezu nach Livland zu gehen und das Land von den feindlichen Besatzungen zu reinigen; er jedoch behauptete, man müsse anderswo Krieg führend, Livland erobern. Um den Mittelpunkt zwischen Litauen, Weißrußland und Finnland inne zu haben und zugleich die Basis seines Wirkens auf dem Weg nach der Hauptstadt zu stützen, welche stets der Zielpunkt seiner Absichten war, wandte er sich nach Polock und schloß es mit Verschanzungen ein. Nach einigen Belagerungswochen wurde die Stadt, ungeachtet des Regens und der Kälte, mit Sturm genommen, das Schloß ergab sich durch Kapitulation. Die moskovitischen Anführer verlangten freien Rückzug nach ihrem Land, was der König gern bewilligte, nur von ihnen das Ehrenwort begehrend, nicht mehr gegen Polen zu kämpfen. Diese Bedingung war überflüssig, denn es harrte ihrer dort der unentfliehbare Tod; Ivan verzieh seinen Anführern und sogar den gemeinen Soldaten nie die Niederlegung der Waffen. Als nun diese Unglücklichen mit Tränen in den Augen um ihre Freiheit baten, ihre Häupter unter die Füße des Zaren tragen zu dürfen, wollte der König Stefan, gerührt durch ihre Aufopferung, sie durchaus retten, und behielt sie gegen sein Wort als Kriegsgefangene. Dieser Kriegszug endete mit der Einnahme des ganzen Weißrußlands und vieler livländischen Städte. Der König begab sich zum Sejm nach Warschau. In Folge der Vorkehrungen Ivans und der Reibung der verschiedenen Interessen unter den Polen bereitete sich auf dem Reichstag (Sejm) ein Sturm gegen den König vor. Man klagte ihn an, daß er, um eigenem Hochmut zu fröhnen, diesen lästigen Krieg führe; daß er ungeheure Summen für die Eroberung eines wüsten Landes ausgebe; daß er den Großfürsten anfeinde, welcher ein ruhiger und höchst wohlwollender Nachbar der Republik sei. Batory, noch bleich von den Mühsalen des Krieges und einer überstandenen Krankheit, im Kreise des Reichstages seine grauen Haare, die er sich während des Sturmes auf Polock durch die Flammen versengt hatte, vorweisend, entwaffnete alle Unwilligen und schloß den Widersachern den Mund. Nicht nur wagte es niemand, ihm für den zweiten Kriegszug Hilfsmittel abzuschlagen, sondern man beschloß sogar, 813 Vgl Karamzin, op. cit., Bd. 9, Kap. 5, S. 169, der sich auf Heidenstein bezieht: Reinhold Heidenstein (um 1553–1620), Sekretär bei König Stefan Batory; vgl. Reinoldi Heidensteini de Bello Moscovitico a Stephano Rege gesto gesto liber 6. Basel 1578; deutsche Übersetzung von Heinrich Rätel: Warhaffte Beschreibung des Kriegs, welchen der nechstgewesene König in Polen Stephan Batori […] wider […] Iwan Wasilowitzen geführt. Görlitz 1590; im Internet: [http://dfg-viewer.de]; polnische Übersetzung: Reinhold Heidenstein: Pamiętniki wojny moskiewskiej w 6 księgach. Przełożył Jan Czubek. Lwów 1894.

37. Vorlesung (15. Juni 1841)

519

gegen die alten Festsetzungen und Gewohnheiten, das wiederholte Erheben der zweijährigen Abgaben. Nachdem also der König die Erlaubnis der Stände erhalten, ordnete er neue Werbungen an und vergrößerte durch alle möglichen Mittel seine Streitkräfte. Unterdessen aber zogen seine wie auch die moskovitischen Gesandten, sich an fremden Höfen eifrig bemühend, Stockholm, Kopenhagen, Rom, Wien, Paris, London und ganz Europa in diese Angelegenheit hinein. Die Schweden, von der im Norden emporwachsenden Macht selbst bedroht, hielten sich auf Polens Seite. Der König von Dänemark, welcher die Schweden wie die Moskoviter haßte, blieb in Ungewißheit. Die Königin von England, welche die Vorteile des Handels mit dem moskovitischen Reich vorzüglich vor Augen hatte, zugleich aber auch, um im Stande zu sein, Polen zu bedrücken, wenn dasselbe sich mit Österreich vereinigen sollte, welches damals die spanische Politik gegen England lenkte, unterstützte den Großfürsten, ihm Kriegsvorräte und Männer vom Fach zuschickend. Frankreich erregte in Ivan Besorgnis durch seinen Einfluß in Konstantinopel, den es zur Unterstützung Polens benutzen konnte. Ivan bewahrte daher das gute Vernehmen mit England, hinterging Frankreich und bemühte sich Österreich zu gewinnen. Polen hatte zu jener Zeit zwei natürliche Feinde, die Türken und die Moskoviter. Die Türken verdrängten es vom Schwarzen Meer, bedrohten die südlichen Provinzen, entrissen seiner Oberleitung die Moldau und Walachei. Das Großfürstentum Moskau durfte auf keine Weise neben der polnischen Republik stehen bleiben. Die Politik Polens war jedoch schon sonderbar verdreht. Die öffentliche Meinung rief hartnäckig um Frieden mit der ottomannischen Pforte und dem Großfürsten, und sah in Österreich den gefährlichsten Feind. Alle diese Begriffe zogen in die leichten polnischen Gemüter zugleich mit den Lehren der Wittenberger und Genfer Doktoren814 ein, welche freilich keine Ursache hatten, die Türken und Moskoviter zu fürchten, aber aus sehr ersichtlichen Gründen den österreichischen Hof haßten. Nachdem also Batory vermöge seiner Willenskraft den inneren Widerstand des Landes und des Sejms gebrochen, begann er den zweiten Kriegszug gegen Moskau. Seine Absicht war jetzt, das Großfürstentum vom Meer zu trennen, den Weg abzuschneiden, auf welchem Ivan die Ingenieure, Artilleristen und Handwerker aus Europa bekam, die moskovitische Macht in ihrem Neste zusammenzudrücken und zu vernichten oder sie in die nordöstlichen Steppen hinauszuschleudern. Von Polock aus betrat er einen Weg durch Wälder und Sümpfe, welcher in der Rus’ unter dem Namen der Bahn der litauischen Fürsten bekannt ist, und belagerte Velikie Luki. Die zum Entsatz geschickten 814 Geimeint sind Martin Luther und Jean Calvin.

520

Teil I

moskovitischen Heere wurden geschlagen, die Festung durch Sturm [am 27. August] 1580 genommen. Ferner nahmen die polnischen Führer Veliž (Welisch), Uświat (Усвя́ты), Reval (Revel), Zawłocie, Jezierzyszcza (Озерище), Porchów (Порхов), Opoka, Starodub (Стародуб) und viele andere Festungen, der König aber stellte sich unter Pskov auf. Da Ivan IV. die feindlichen Streitkräfte nicht viel weiter als dreißig Meilen von seiner Hauptstadt entfernt sah, so verzweifelte er gänzlich, obgleich er noch 200 000 Mann Truppen hatte, und begann inbrünstig um Frieden zu bitten. Früher ließ er sich immer frech vernehmen und schrieb beleidigende Briefe, jetzt aber empfahl er schon seinen Gesandten, den König untertänigst zu bitten, mit christlicher Demut zu dulden, wenn er sie schlecht behandeln sollte, ja sogar, wenn er sie durchpeitschen ließe. Während des ganzen Krieges läßt sich gleichsam ein kleines Drama, gespielt von drei Personen, sehen; es wird ein besonderes Gespräch zwischen dem Großfürsten Ivan, dem König Batory und dem Fürsten Kurbskij, jenem Flüchtling aus Moskau, welcher Batory überall begleitet, geführt. Kurbskij war gleichsam die leibhaft gewordene Gewissensmarter des Großfürsten. Sobald er nur eine neue Gräueltat begangen oder eine neue Niederlage erlitten hatte, sogleich erhielt er von Kurbskij ein Schreiben voll bitterer Vorwürfe, und er hatte, ungeachtet seiner ganzen Macht, nicht Kraft genug, es ohne Antwort zu lassen. Jedes Mal, wenn er antwortete, sagte er zugleich an, daß er mit einem Ausreißer nichts zu schaffen haben wolle, und dennoch, sobald nur ein Brief kam, konnte er es nicht unterlassen, die Feder zu ergreifen. Zuweilen eröffnete er sogar selbst die Korrespondenz. Als er im Anfang des Kriegs die Stadt Valmiera (Wolmar) eingenommen, deren Bewohner sich auf das Schloß zurückgezogen, es endlich vorzogen, sich lieber in die Luft zu sprengen, als in die Hand des Tyrannen zu geraten, schrieb er an Kurbskij folgenden Brief voll geifernder Ironie und Heuchelei. […] Смирение да будет в сердце и на языке моем. Ведаю свои беззакония, уступающие только милосердию Божию: оно спасет меня, по слову Евангельскому, что Господь радуется о едином кающемся грешнике более, нежели о десяти праведниках. Сия пучина благости потопит грехи мучителя и блудника! […] Смотри, о княже! Судьбы Всевышнего. […] Здесь ты изрыгал хулы на Царя своего; но здесь ныне Царь, здесь Россия!.. […] войди в себя; рассуди о делах своих! Не гордость велит мне писать к тебе, а любовь Христианская, да воспоминанием исправишься, и да спасется душа твоя.815 815 Karamzin, op. cit., Bd. 9, Kap. IV, S. 154–155. Karamzin zitiert hier aus dem 2. Brief Ivans an Kurbskij nach älteren Quellen; zu den Varianten der Briefe vgl. die textkritische und

37. Vorlesung (15. Juni 1841)

521

Möge die Demut, wie sie in meinem Herzen ist, so auch in meinen Worten sein. Ich kenne meine Vergehen, aber die Barmherzigkeit Gottes ist unerschöpflich und hierein setze ich die Hoffnung meiner Erlösung. Der Herr Gott freut sich mehr über einen zerknirschten Sünder als über zehn Gerechte.816 Diese bodenlose Güte wird die Sünden eines Tyrannen und Wüstlings bedecken. […] Siehe, Kurbskij, die Fügungen des göttlichen Willens. […] hier hast du Schmähungen gegen deinen Herren gerichtet, und heute ist dein Herr in dieser Stadt [Wolmar], hier ist Russland! […] So gehe in dich, bedenke, was du tust. Nicht Stolz treibt mich, dir zu schreiben, sondern die christliche Liebe, damit du dich durch Erinnerung bessern kannst und deine Seele gerettet wird.

Kurbskij wartete auf die Wegnahme von Polock und die Besiegung der moskovitischen Truppen durch Batory, dann nach Erstürmung der Festung Sokol817 durch die Polen antwortete er Ivan unter den noch rauchenden Trümmern: „Где твои победы?“ – говорил он: – „в могиле Героев, истинных Воевод Святой Руси, истребленных тобою. Король с малыми тысячами, единственно мужеством его сильными, в твоем Государстве, берет области и твердыни, некогда нами взятые, нами укрепленные; а ты с войском многочисленным сидишь, укрываешься за лесами или бежишь, никем не гонимый, кроме совести […] Не явно ли совершился Суд Божий над тираном? Се глады и язва, меч варваров, пепел столицы и – что всего ужаснее – позор, позор для Венценосца, некогда столь знаменитого!“818 „Was ist aus deinen Siegen geworden?“, sagte er, „sie liegen im Grab der Helden, der wahren Woiwoden der Heiligen Rus’, die du vernichtet hast. Der König [Stefan Batory] nimmt mit wenigen tausenden, nur durch Tapferkeit starken Rittern Länder und Festungen ein, die wir einst erobert haben; und du, an der Spitze eines zahllosen Heeres sitzend, verbirgst dich hinter den Wäldern, wenngleich dich niemand jagt außer deinem eigenen Gewissen. […] Hat hier nicht klar und deutlich das Gericht Gottes sein Urteil über den Tyrannen gefällt? Überall Hunger und Elend, Schwert der Barbaren, die Hauptstadt in Schutt und Asche, und was noch am grausigsten ist, Schmach und Schande für den Gekrönten, den einst Gerühmten!“

Batory mischte sich auch in dieses Zwiegespräch. In jener Zeit hatten die diplomatischen Mitteilungen noch nicht diese farbenlose Art, die man ihr später gab; man wandte keine ein für allemal geschmiedeten Ausdrucksweisen und kalte Allgemeinheiten an. Die nördlichen Monarchen redeten einer den kommentierte Ausgabe: Perepiska Ivana Groznogo s Andreem Kurbskim. Hrsg. Ja.S. Lur’e i Ju.D. Rykov. Leningrad 1979; im Internet unter [http://lib.pushkinskijdom.ru]. 816 Vgl. das Lukas-Evangelium 15, Vers 7 und 10. 817 Die Festung wurde am 11. September 1579 eingenommen. 818 Karamzin, op. cit., Bd. 9, Kap. V, S. 178.

522

Teil I

anderen in wahrhafter Sitte der Homerischen Helden, bald in beredter Prosa, bald in Versen an. Der Zar Ivan mochte gern viel sprechen und schreiben, er schickte dem Batory in seinen weitschweifigen Briefen819 Herausforderungen, Drohungen und Verspottungen zu. Batory antwortete ebenso. Auf diese Art ist das abgespielte Drama, deren Hauptpersonen sich nicht durch Vermittlung des Dichters, sondern geradezu anredend und über rauchende Städte sich gegenseitig Worte zuwerfend, gewiß sehr interessant, und dies schriftliche Gespräch großer geschichtlicher Figuren macht ein schätzbares Denkmal in der slavischen Literatur aus. Ivan, die Sanftheit und Demut eines Mönchs annehmend, warf Batory vor, daß er Christenblut vergieße; er nahm daran Ärgernis, daß die polnischen Soldaten sich um die Gefallenen wenig bekümmerten und sie nicht beerdigen wollten. Als Batory von ihm die Erstattung der Kriegskosten verlangte, verwunderte er sich, wie ein König und christlicher Ritter Geld fordern könne; er sagte, daß er nur deswegen die Polen nicht kräftig angreife, weil er Widerwillen habe, Christen zu verderben, denn es würde genügen, nur seine Fahne zu erheben, um sie zu zermalmen. Hierauf antwortete der König Stefan: Где же ты, Бог земли Русской, как велишь именовать себя рабам несчастным? Еще не видали мы лица твоего, ни сей крестоносной хоругви, коею хвалишься, ужасая крестами своими не врагов, а только бедных Россиян. Жалеешь ли крови Христианской? Назначь время и место; явися на коне, и един сразися со мною единым, да правого увенчает Бог победою!820 Aber so zeige dich doch uns endlich einmal, du moskovitischer Gott, wie du dich dort von deinen elenden Sklaven nennen läßt! Bis jetzt haben wir weder deine Person noch deine Kreuz-Fahne gesehen, von der du ewig schwatzt, und die mit ihren Kreuzen keine Feinde schreckt, sondern nur die armen Russen. Willst du in der Tat Christenblut sparen? Bestimme Zeit und Ort, komme zu Pferd und trete allein gegen mich an, damit Gott den Richtigen mit dem Siegerkranz krönt!

Batory hatte die Belagerung Pskovs begonnen, mußte sie aber seinen Feldherrn überlassen und fuhr selbst auf den Reichstag (Sejm) nach Warschau.

819 Die Briefe Ivans IV. an Stefan Batory vgl. Biblioteka literatury Drevnej Rusi. Red. D.S.  Lichačev, L.A.  Dmitriev, A.A.  Alekseev, N.V.  Ponyrko. Sankt-Peterburg 2001, tom 11: XVI vek; im Internet unter: [http://lib.pushkinskijdom.ru]; über die Briefe Stefan Batorys an Ivan IV. vgl. Heidenstein, op. cit. 820 Karamzin, op. cit., Bd. 9, Kap. V, S. 190.

37. Vorlesung (15. Juni 1841)

523

Nie ward ein Monarch von seinen Untertanen so verleumdet wie er. Man streute die schändlichsten Gerüchte aus, erdichtete die unstatthaftesten Zumutungen. Indem er aus eigener Kasse die letzten Ersparnisse für den Bedarf der Republik hervorlangte, sprach man allerwärts, er führe den Krieg bloß in der Absicht, sich zu bereichern, um später aus Polen zu fliehen. Nebenbei beschuldigte man ihn, er bemühe sich, seine Gewalt zur unumschränkten zu machen und die Erblichkeit des Thrones zu begründen, wenngleich er kinderlos war und niemanden hatte, dem er den Thron überlassen konnte. Die Landboten beredeten sich, ihm keine Hilfsmittel mehr zu geben; jedoch noch einmal verwirrte ihnen die allgemeine Begeisterung des Volkes die Pläne. Auf dem Wege von den moskovitischen Grenzen, allenthalben, wo man von dem Nahen der königlichen Karosse hörte, versammelte sich das Volk in Massen aus Dörfern und Städten, den König und Kämpfer zu bewillkommnen und zu segnen. Als er vor Warschau angelangt war, ging die ganze Bevölkerung zu seinem Empfang heraus, alle Glocken wurden geläutet und der gemeine Mann behauptete, deutlich den Namen Batory in ihrem Geläute zu hören. Eine solche Begeisterung machte die auf dem Sejm vorbereitete Opposition verstummen. Batory ließ sich übrigens in keine Diskussionen ein. Die ihm Geneigten rieten, er möchte die allgemeine Stimmung benutzen und eine tüchtigere Ordnung in die Republik einführen. Man fragte vielfältig bei ihm an, wie die Verhältnisse zwischen dem Reich und dem geistlichen Stand, zwischen den Sekten und der Kirche zu ordnen wären. Er antwortete, noch sei nicht die Zeit dazu gekommen, obgleich er schon vieles hierin getan hatte. Man bat ihn auch, einen Sejm-Beschluß zu geben, worin die Wahl der Könige festgesetzt wäre. Auch hierüber wollte er nichts bestimmen; man wußte nur, daß er mit den Herren, die sein Vertrauen besaßen, einen großartigen Plan der inneren Umwandlung Polens beriet. Unterdessen befaßte er sich mit der Organisation des Heeres, bildete ein Fußvolk, welches Polen bis dahin nicht hatte. Da der Adel nie zu Fuß dienen wollte, es aber gefährlich war, von dem Reichstag die Erlaubnis zur Einberufung der dem Adel gehörigen Landleute zu verlangen, so begnügte sich der König mit der Einberufung auf den Krongütern und füllte von hier aus zahlreiche Regimenter; den Landleuten und ihren Nachkommen, welche drei Kriegszüge mitgemacht, sicherte er die persönliche Freiheit zu, und adelte außerdem häufig diejenigen, welche sich im Kampf hervorgetan. Auf diese Weise bildete Batory, fast ohne Wissen des Sejms, mit Hilfe der ihm erlaubten Werbung und des privatlichen Zuschusses von den Mächtigen, deren Geneigtheit er zu gewinnen gewußt, eine starke Infanterie; er brachte es bis auf 100 000 Mann regelmäßiger Truppen, was bis dahin im Norden unerhört war. Gleichzeitig befaßte er sich mit der Einrichtung steter Tribunale; ordnete die am Dnjepr ansäßigen Kosaken, erteilte ihnen Landereien und Vorrechte

524

Teil I

und vereinigte sie inniger mit der Republik. Alle diese durch den König völlig vorbereiteten Anordnungen kamen vor dem Sejm zur Bestätigung. So gegen den Willen des eignen Volkes, gegen seine eigenen Untertanen kämpfend, machte er sich endlich zum dritten Male gegen Moskau auf. Es galt ihm jetzt die Eroberung Pskovs, der letzten großen Festung, welche die moskovitische Hauptstadt deckte. Die Belagerung ging jedoch nicht gut von statten. Die Festungsbesatzung, an Zahl den Belagerern gleich, wehrte sich tüchtig. Kälte und Krankheiten richteten die Polen zu Grunde, schwächten den Geist im polnischen Lager. Schwer war es, diesen Zustand der Dinge den Moskovitern zu verhehlen, besonders da es selbst unter den hohen polnischen Würdenträgern Elende und Verräter gab, welche alles Ivan IV. berichteten und ihn aufmunterten, nur auszuharren, er würde bald den Rückzug des Königs sehen. Einerseits legte ein eifriger Sektierer821, der die religiösen Absichten und Vorhaben Batorys ausgekundschaftet hatte, vom Sektenhaß geleitet, ihm Fallgruben; andererseits suchte ihn ein nicht weniger verbrecherischer Bischof822, der den polnischen Thron in österreichische Hände ausliefern wollte, zu vernichten. Inmitten dieser Schwierigkeiten traf der berühmte Jesuit Antonio Possevino823, vom Papst gesandt, ein, um einen Frieden zwischen Polen und Moskau zu bewirken. Der Großfürst nämlich versprach dem römischen Stuhl, sich mit seinem ganzen Reich der westlichen Kirche einzuverleiben; er behauptete, daß er schon längst diesen Vorsatz gehabt und gerade in der Arbeit, es zu bewerkstelligen begriffen gewesen, als ihm der König Stefan alles durch seinen Überfall verdorben habe; und er versprach nun, von den Polen befreit, sogleich eine Synode zusammenzurufen, die religiösen Fragen zu erleichtern und zu beenden, sich dann auch gänzlich mit dem Kriegszug gegen die Türken

821 Grzegorz (Hrehory) Ościk (1535–1580), litauischer Adliger und Protestant, wurde des Verrats überführt und am 18. Juni 1580 in Wilno geköpft; vgl. dazu Reinhold Heidenstein – Rajnolda Hejdensztejna, sekreterza królewskiego, dzieje Polski od śmierci Zygmunta Augusta do roku 1594. Ksiąg XII. Z łacińskiego przetłumaczył Michał Gliszczyński. Życiorysem uzupełnił Włodzimierz Spasowicz. Petersburg 1857, tom I, S. 4–6. 822 Jakub Uchański (1502–1581), Erzbischof von Gnesen; vgl. Christoph Augustynowicz: Die Kandidaten und Interessen des Hauses Habsburg in Polen-Litauen während des Zweiten Interregnums 1574–1576. Wien 2001, S. 66ff. 823 Antonio Possevino (1533–1611), Theologe und Diplomat. Vgl. A.  Possevino: Moscovia. Vilnius 1586; im Internet unter [http://reader.digitale-sammlungen.de]; polnische Über­setzung von Albert Warkotsch: Antonio Possevino: Moscovia. Warszawa 1988; vgl. auch – Walter Delius: Antonio Posseviono und Ivan Groznyj. Ein Beitrag zur Geschichte der kirchlichen Union und der Gegenreformation. Stuttgart 1962.

37. Vorlesung (15. Juni 1841)

525

zu befassen; letzteres war zu jener Zeit die hauptsächlichste Absicht des päpstlichen Kabinets. Ungeachtet aller seiner Feinheit ließ sich der Jesuit vom moskovitischen Großfürsten hintergehen; denn er wirkte in gutem Glauben und mit wahrhaftem Eifer für die Sache der Kirche, Ivan aber dachte nur, wie er die Polen los würde. Hier sind die eignen Worte Possevinos über den Großfürsten, an den Papst geschrieben: Я видел не грозного самодержца, но радушного хозяина среди любезных ему гостей, приветливого, внимательного, рассылающего ко всем яства и вина. В половине обеда Иоанн, облокотясь на стол, сказал мне: „Антоний! укрепляйся пищею и питием. Ты совершил путь дальний от Рима до Москвы, будучи послан к нам святым отцем, главою и Пастырем Римской Церкви, коего мы чтим душевно“.824 Statt eines grausamen Monarchen fand ich einen zuvorkommenden Wirt, sitzend hinter dem Tisch unter liebreich bewirteten Gästen, denen er selbst die Speisen vorlegte und Wein zugoß. Eines Tages redete mich der Zar, sich auf den Tisch lehnend, laut an: „Stärke dich gut mit Speise und Wein; du bist angegriffen durch die weite Reise vom Heiligen Vater, vom Haupt und Hirten der allgemeinen Kirche, für den ich die tiefste Verehrung hege.“

In Folge der begonnenen Unterhandlungen wurde zuerst Waffenstillstand, dann auch Frieden geschlossen. Possevin redete dem Großfürsten ein, der Konig Stefan habe nur seiner dringenden Zusprache nachgegeben; dieser aber hatte andere wichtige Gründe zur Unterbrechung des Krieges. Moskau trat an Polen das ganze Livland, 100 verschiedene Städte und 28 befestigte Schlösser ab. Die russische Bevölkerung sollte dieses Land verlassen. Polock, der Schlüssel von Weißrußland, verblieb den Polen. Außerdem behielt Batory einige Städte für die Schweden. Auf diese Weise schnitt er Moskau für lange Zeit vom Meer ab und erreichte den Hauptzweck seines dritten Kriegszuges, welcher nicht der letzte sein sollte, denn der Großfürst begann sogleich, seine Heere zu erneuern, und der polnische König desgleichen immer seine groß angelegten Pläne festhaltend, trat in Unterhandlungen mit dem österreichischen Kaiser und sicherte sich die Stütze des Papstes, des wegen seines Genies und seiner Macht bekannten Sixtus’ V. Nachdem Ivan diesen für ihn schmachvollen Vertrag geschlossen, marterte er seine Bojaren weiter und dachte nach Verstoßung der achten Gattin an eine neue Heirat. Die letzten Regierungsjahre dieses Tyrannen bieten in 824 Karamzin, op. cit.,Bd. 9, Kap. V, S. 194.

526

Teil I

geschichtlicher Hinsicht nichts Erhebliches, nur enthüllen sie uns noch einige dunkle Stellen seines Herzens und beleuchten zugleich die Verbindungen Englands mit Moskau. Während des Krieges mit Polen vollbrachte der Großfürst die gräßlichsten seiner Untaten, er tötete mit eigener Hand seinen ältesten Sohn. Dieser ausgelassene und wie sein Vater grausame Jüngling bat ihn um die Erlaubnis, mit dem Heer gegen die Polen gehen zu dürfen. Ivan nahm dieses als eine Handlung auf, die den Gehorsam verletze, und schlug ihn dermaßen mit seinem berühmten Stab über den Kopf, daß er ihm den Schädel spaltete. Der zu den Füßen des nicht im Mindesten gerührten Vaters sterbende Sohn rief wie ein echter Moskoviter, er sterbe als treuer und ergebener Untertan. Einige Tage nach diesem Mord beschäftigte sich Ivan mit Plänen zu seiner Heirat und begann sich um die Hand, der alten englischen Königin zu bemühen. Elisabeth nahm seine Erklärungen sehr liebreich entgegen, sie versicherte, daß sie den Zaren Ivan sehr liebe, daß sie glücklich sein würde, sich im Anschauen seines Antlitzes zu weiden, da sie jedoch wisse, wie schwierig er in der Wahl der Schönheit sei, so erkenne sie es als schicklicher, ihm ihre Verwandte, die Gräfin Mary Hastings, zu empfehlen. Der moskovitische Gesandte wurde amtlich zur Beschauung dieser Schönheit zugelassen, er befahl ihr, vor ihm hin und her zu gehen, besah sie von allen Seiten und nachdem er eine genaue Beschreibung gemacht, schickte er diese seinem Herrn. Ivan fand sie zu mager. Die arme Gräfin, diesem herabwürdigenden Markten ausgesetzt, dazu hörend, welch Ärgernis man daran nahm, und welches Schicksal man ihr in der Gesandtschaft Polens und anderer Höfe prophezeite, erwirkte endlich bei der Königin durch Bitten den Abbruch dieser Verhandlungen. Die Königin ihrerseits hörte jedoch nie auf, alles für den Großfürsten zu tun, was nur irgend in ihrer Gewalt stand. Wenn die Polen demselben sogar noch den Titel des Zaren, d.h. des Königs, versagten, nannte sie ihn schon einen Kaiser; sie verpflichtete sich, ihm Geldzuschüsse zu machen und ihn auf alle mögliche Weise zu unterstützen. Von jener Zeit an dauert stets noch das Interesse, welches Großbritannien für Rußland hat, um durch Vermittlung der Macht desselben über Schweden, Dänemark und den ganzen Norden das Übergewicht zu erhalten. Noch hatten diese Verhandlungen den besten Fortgang, als der Großfürst von Krankheit ergriffen, die seine letzte sein sollte, fortwährend Blutbefehle erließ und ganze Tage mit dem Beschauen seiner Kleinodien zubrachte. Noch einige Stunden vor seinem Tod kam die Gattin seines Sohnes, ihn zu trösten, mußte jedoch fliehen, von Entsetzen erfaßt über seine abscheulichen Lästerungen. Er starb, wie er die letzten Jahre gelebt, ohne das mindeste Zeichen von Reue, ohne einen einzigen tugendhaften Gedanken. Der russische

37. Vorlesung (15. Juni 1841)

527

Geschichtsschreiber macht in dieser Hinsicht die Bemerkung, daß es für ihn keine Umkehr mehr gab, denn er habe die letzte Grenze des Verbrechens übertreten, sich gar zu tief in die Hölle versenkt, als daß er noch herauswaten gekonnt, und sein Insichgehen und Sich-Bessern würde der Welt den Glauben an die Gerechtigkeit Gottes genommen haben.825 Der Geschichtsschreiber fügt zu dieser Bemerkung hinzu, daß alle seine Schmeichler, alle Vollstrecker seiner Grausamkeiten auf sein Geheiß umgekommen, mit Ausnahme eines einzigen, welcher der abscheulichste, der nichtswürdigste und grausamste gewesen, Maljuta Skuratov.826 Nun aber möge sich jemand die Beliebtheit, die Popularität Ivans IV. erklären! Es beweinte ihn das ganze Volk. Als die Kunde seines Todes erscholl, lief das Volk in den Straßen herum, Tränen vergießend, heulend vor Verzweiflung, selbst die Familien der hingemordeten Opfer waren untröstlich vor Jammer und legten tiefe Trauer an! Der russische Geschichtsschreiber bleibt hier erstarrt vor Verwunderung stehen, er weiß selbst nicht, wie dies zu deuten. Doch hat man schon häufig bemerkt, daß der niederträchtig gewordene Pöbel immer Neigung zur Grausamkeit hat, daß er die blutigen Schauspiele liebt, sich in Massen auf dem öffentlichen Richtplatz drängt, nicht fähig, eine andere Kraft zu begreifen außer der vernichtenden, und er zollt dieser Kraft eine dem Grad der eignen Herabwürdigung, der eignen Niedrigkeit entsprechende Verehrung. Ähnliche Beispiele lassen sich ebenso gut bei den zivilisierten wie den barbarischen Völkern sehen. Diese Vergötterung des Vernichtungsprinzips, der vernichtenden Kraft, scheint nicht von Beschränktheit der Vernunft, sondern vielmehr von sittlicher Barbarei herzurühren. Der moskovitische Großfürst Ivan der Schreckliche war unfehlbar der vollständigste Tyrann unter allen in der Geschichte der Welt bekannten. Er vereinigte in sich alle Charaktere, oder eigentlich gesprochen, er besaß die besondere Gabe, die ungemeine Leichtigkeit, der Reihe nach alle Charaktere der Tyrannei anzunehmen. Einmal schien er leichtsinnig, ausgelassen wie Nero, das andere Mal finster, dumm und wild wie Caligula. Hin und wieder zeigte er das kalte Äußere Ludwigs XI., zuweilen brauchte er in seinen Briefen die Redeweisen des Tiberius. In seinem Briefwechsel und in seinen Reden kann man neben dem weitschweifigen, heuchlerischen Hin- und Herreden nach dem Muster Cromwells, den überzuckerten, bündigen Stil Robespierres 825 Über den Tod Ivans des Schrecklichen (1584) vgl. Karamzin, op. cit., Bd. 9, Kap. VII. 826 Der Satz bezieht sich auf die Äußerung von Karamzin, op. cit., Bd. 9, Kap. IV, S. 123: он жил вместе с Царем и другом своим для суда за пределами сего мира (Er lebte mit dem Zar und Freund für ein Gericht jenseits der irdischen Welt). – Maljuta Grigorij Luk’janovič Skuratov-Bel’skij (gestorben 1573). Vgl. Ruslan G. Skrynnikow: Iwan der Schreckliche und seine Zeit. München 1992, II. Kapitel.

528

Teil I

finden, welcher ja auch seine Stimme gegen die Todesstrafe erhob und die Menschenrechte verteidigte. Alles, was wir vom Großfürsten Ivan gesagt, ist der offiziellen russischen Geschichte entnommen; denn weil die slavischen Völker unter einander einen langen, noch unbeendigten Krieg führen, daher auch auf verschiedene Weise ihre Geschichte schreiben, für uns aber es sich hier nicht so sehr um das Erkennen der politischen Seite, als vielmehr um das notwendige Wissen und Verstehen der Literaturdenkmäler handelt, so glaubten wir, daß die Zeugnisse der Schriftsteller eines jeden Volkes genügend sein würden. Der Verfasser dieser Geschichte, Karamzin, hat gewiß ohne Übertreibung die Verbrechen Ivans geschildert; er wiederholt sogar öfter, daß er sich und den Leser vor vielen gräßlichen Eindrücken bewahren wolle; wir aber können beifügen, noch viele der grausigen Erzählungen Karamzins übergangen zu haben.

38. Vorlesung (18. Juni 1841) Zur Innen- und Außenpolitik des Königs Stefan Batory – Stefan Batory als Ideal des polnischen Königs – Die Sendung Polens in der Rede des Bischofs Goślicki – Stefan Batory ist in der Politik das, was Jan Kochanowski in der Literatur – Szymon Szymonowicz und seine Idyllen (Sielanki) – Der moskovitische Großfürst Feodor I. Ioannovič und Boris Godunov.

In unserer geschichtlichen Erzählung sind wir bis zu der Zeit gekommen, in welcher die zwei großen, das Zepter in Polen und Moskau haltenden Dynastien erlöschen. Der unmittelbare Nachfolger Ivans, sein jüngerer Sohn Fedor827, macht hierin eine Ausnahme; denn politisch die Sachen betrachtet, kann man sagen, er gehöre nicht mehr dem herrschenden Stamm der Waräger an. Das Haus Rjuriks endete in der moskovitischen Linie mit Ivan dem Schrecklichen. Der mongolische Geist, entfaltet und gänzlich gereift in der Person dieses Fürsten, vererbte sich nach dessen Tode dem moskovitischen Reich. Moskau, die Erbin des mongolischen Geistes, übertrug ihn später auf die neue Dynastie, welche die letzte Epoche der Geschichte des Nordens begann, die Epoche des russischen Kaisertums. In Polen hielt sich die Jagellonische Dynastie durch Anna, Schwester Sigismund Augusts, welche Batory ehelichte, noch auf dem Thron; gemäß dem Willen des Volkes, ausgedrückt durch einen besonderen Beschluß, wurde demselben nur unter dieser Bedingung die Königskrone aufgesetzt. Batory wollte die Zwiste, die in Moskau der Tod Ivans verursachte, benutzen. Moskau aber begann schon früher sich einige Übergriffe gegen die Artikel des Vertrages zu erlauben; der König kannte die moskovitische Politik sehr gut, und ordnete alles schon frühzeitig in der Art, daß er im Stande wäre, das Großfürstentum zu zwingen, nicht nur die Traktate zu halten, sondern sogar die Oberleitung Polens anzuerkennen und sich dessen Richtung zu ergeben; im entgegengesetzten Fall war er bereit, es zu erdrücken und zu vernichten. Er faßte damals den weitgesponnenen Knäuel der europäischen Interessen in seine Hände zusammen und machte Bündnisse mit Staaten, die auf Angelegenheiten des Nordens größten Einfluß ausübten. Schon war es ihm gelungen, Dänemark, als den Gegner Schwedens, das Heilige Römische Reich deutscher Nation und den Papst zu gewinnen.

827 Fedor I. – Fedor Ioannovič (1557–1598); vgl. Dmitrij M. Volodichin: Car’ Fedor Ivanovič. Moskva 2011.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_039

530

Teil I

Das Oberhaupt der Kirche war damals der Papst Sixtus V.828, ein Mann von tiefem und kühnem Geist, ebenso fähig Rat zu geben, wie auszuführen. Er verstand den König Stefan, und die Interessen des übrigen Europa auf die Seite schiebend, lenkte er alle Aussichten seiner Politik auf Polen; er öffnete dem Batory seine ungeheuren Schätze und versprach, während des ganzen Krieges das polnische Heer zu unterhalten. Nach den Mühen des Kampfes und den Kümmernissen, welche die inneren Zwiste veranlaßt hatten, faßte der König neuen Mut, belebte sich mit frischer Kraft und beriet Tag und Nacht die Pläne der Kriegszüge, welche den politischen Zustand Europas ändern sollten. Er hatte die Gewißheit, in drei Feldzügen die Türken nach Asien hinüberzutreiben; er wollte die Slaven an der Donau Polen einverleiben, dem österreichischen Haus den Besitz Siebenbürgens sichern, und schon war sogar die Rede von der Bestimmung Griechenlands. Er versicherte, daß, da er 20 000 gepanzerte und 10 000 leichte Reiter nebst 40 000 Mann Fußvolk habe, er die ganze Welt durchschreiten könne. „Ein furchtbareres Heer als selbst die mazedonische Phalanx habe ich geschaffen“, sagte er in seinem Rat, und man wußte aus Erfahrung, daß er sich nie überschätzte. Es nahte auch die Zeit, sich entschieden an die inneren Einrichtungen des Landes zu machen. Die Religionsfragen waren schon zum größten Teil durch die Tat entschieden. Der König erklärte, daß alle Bekenntnisse die gesetzliche Freiheit genießen sollten, und er würde außerdem nach Kräften den katholischen Glauben unterstützen und schirmen. Noch ehe er dies verkündigte, traf er in den Grenzen der Republik eine Menge entsprechender Einrichtungen. Er gründete Universitäten, Schulen und Klöster829 und übertrug den Jesuiten zugleich mit der Erziehung der Jugend die Verbreitung des Glaubens. Niemand bemerkte es, wie sich dieser Orden in Polen festsetzte, denn man kannte hier bis jetzt weder dessen Stärke, Geist noch Streben. Der König Stefan jedoch, schon früher in Siebenbürgen mit ihm bekannt geworden, rief ihn zu Hilfe, und tief in Weißrußland vordringend, führte er denselben hinter sich ein. Sobald er eine Stadt eingenommen hatte, setzte er dort sogleich, ohne sich an den Sejm zu wenden, einen Woiwoden, Kastellan oder Starosten ein, und legte den Grundstein zur Aufführung einer Kirche und Schule für die Jesuiten. In der Krone, d.h. in Groß- und Klein-Polen, fürchtete der König, ungeachtet

828 Sixtus V. (1521–1590); Papst von 1585–1590. 829 Im Jahre 1579 gründete Stefan Batory in Wilna die Academia et Universitas Societatis Jesu (Akademia i Uniwersytet Wileński Towarzystwa Jezusowego); 1582 in Riga das Jesuitenkolleg; vgl. Ludwik Piechnik: Początki Akademii Wileńskiej 1570–1599. Rzym 1984.

38. Vorlesung (18. Juni 1841)

531

der Sektenreibungen, gar nichts, er vertraute auf die Kraft der volkstümlichen Gefühle und konnte sich ohne den Einfluß der Jesuiten behelfen. Aber nicht so in Litauen, wo es mächtige Häuser gab, welche die große Stimme führten und dem östlichen Ritus angehörten; auch in Weißrußland, wohin die polnische Sprache noch nicht gedrungen war, besonders aber in dem von Deutschen überschwemmten Livland und Preußen, war er durchaus gezwungen, gegen das moralische Übergewicht des Feindes, gleichsam wie feste Schlösser, die Klöster der Jesuiten zu bauen. Die Universitäten zu Dorpat, Wilna und Königsberg, außerdem die zahlreichen Kollegien und Schulen in den anderen litauischen, preußischen, weißrussischen und livländischen Städten, legen Zeugnis ab von der unermüdlichen Tätigkeit dieses Königs. In den livländischen Ländern war der Protestantismus schon allgemein vom Adel angenommen worden, der zum größten Teile vom deutschen Adel abstammte; das ihm untertänige lettische und estnische Volk hielt aber fest an den alten Gebräuchen, den Streit der Dogmen gar nicht begreifend. Batory merkte sogleich, daß hieraus Vorteil zu ziehen wäre, um sich im Land festzusetzen; er hat kräftig dafür mitgewirkt, das livländische Volk der römischen Kirche treu zu erhalten, und nachdem er auf diese Weise den Adel von seinem Boden abgeschnitten hatte, zwang er ihn, eine Stütze in Polen zu suchen. Alle diese großen Taten wurden aber nicht sobald anerkannt und gewürdigt, indem man noch nach hundert Jahren sich über die gewaltsamen Handlungen dieses weisen Monarchen beklagte. Erst die späteren Nachkommen, im Beginn des jetzigen Jahrhunderts, überzeugten sich von der damaligen Notwendigkeit der religiösen Propaganda; denn nach dem Umsturz aller polnischen Institutionen in Weißrußland waren es die Jesuiten allein, welche erst ganz zuletzt dem Überfluten des moskovitischen Regierungsgeistes wichen. Andererseits, wollte jemand in Preußen, in dem fernsten Winkel der ehemaligen Besitzungen Polens, in Danzig, heute die lebenden Spuren seiner Regierung aufsuchen, so würde er nur eine Kirchenbrüderschaft finden, welche, wenngleich deutsch redend, noch einige polnische, ihr kaum mehr verständliche Lieder singt. So haben also die religiösen Bemühungen Batorys einen bei weitem dauerhafteren und kräftigeren Einfluß ausgeübt als selbst sein Schwert. Schon eilten die königlichen Boten mit Drohungen nach Moskau, schon versammelte sich der Sejm, um die wichtigen Vorstellungen des Thrones anzuhören, als der König plötzlich erkrankte. Man hoffte einen vollständigen Umbau der Republik. Es galt für gewiß, der König Stefan wolle die Gesetzgebung umändern und die Erblichkeit des Thrones feststellen oder wenigstens einleiten; was jedoch hierin seine Absichten waren, das blieb für immer ein Geheimnis. Man wußte nur, daß er sich darüber mit seinen Vertrauten, Jan

532

Teil I

Zamoyski830 und Mikołaj Radziwiłł831, beriet; was er aber mit ihnen beraten, wurde nie offenkundig. Schon öfters sprachen wir von der Jagellonischen Politik. Zwischen der Familie der Jagellonen und der der Wasas, welche ihnen nachfolgen und ihr Werk weiter führen, oder wenigstens vor dem Fall bewahren sollten, zeigt sich Batory als das Ideal eines volkstümlichen Königs. Die Jagellonen hielten überlieferungsartig an der Politik ihres Hauses; Batory scheint dieselbe mit dem Herzen erfaßt zu haben. Nachdem er Polen liebgewonnen und sich an dasselbe gebunden hatte, wollte er alle Begriffe seiner volkstümlichen Politik verwirklichen. Gerecht und mild, wie die alten Jagellonen, zeichnete er sich noch durch völlige Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst aus; er wiederholte immer, daß er weder Pole noch Litauer sei, weder Kinder noch Verwandte habe, sondern daß er sich „die Republik angetraut“ habe, und nur daran denke, sie mächtig und ruhmbekränzt zu machen. Die Grundregel seiner Politik war, das Barbarentum zurückzudrängen, den Feinden der Freiheit nicht einen Augenblick Frieden noch Ruhe zu gönnen und sich gänzlich dem Wohl und der Ehre des Vaterlandes zu weihen. Die Geschichtsschreiber setzen häufig ihre eignen oder die Vorstellungen ihrer Zeit an die Stelle derjenigen, welche den früheren Jahrhunderten Antrieb gaben. Heute ist es sehr an der Mode, viel von der Sendung, sei es einzelner bedeutender Männer in der Geschichte, sei es ganzer Völker, zu reden. Polen kann jedoch die Beweise aus den Denkmälern seiner Literatur aufzeigen, daß es schon damals begriff oder wenigstens in seinem Schoß höhere Geister besaß, welche die von der Vorsehung ihm zuerkannte Sendung begriffen. Wir haben schon früher einige Bruchstücke aus den Chroniken und aus den „Memoiren eines Janitscharen“ angeführt, welche geradezu hiervon Zeugnis geben; jetzt wollen wir hier gleichsam eine amtliche Urkunde hinzufügen. Es ist dies ein Abschnitt aus der Rede des Bischofs Wawrzyniec Goślicki832, die er dem Nachfolger des Königs Stefan bei seinem Einzug in Krakau hielt. Der Bischof, im Namen des Senats den König Sigismund III. begrüßend, legt ihm seine Stellung und seine Pflichten folgendermaßen dar:

830 Jan Zamoyski (1542–1605), Kanzler und Großhetmann der polnischen Krone; vgl. Sławomir Leśniewski: Jan Zamoyski: hetman i polityk. Warszawa 2008. 831 Mikołaj „Rudy“ Radziwiłł (1512–1584). 832 Wawrzyniec Goślicki (um 1530–1607), polnischer Bischof und Philosoph; Hauptwerk – De optimo senatore libri duo. Venedig 1568. Vgl. den Sammelband – O senatorze doskonałym studia. Prace upamiętniające postać i twórczość Wawrzyńca Goślickiego. Red. Aleksander Stępkowski. Warszawa 2009, S. 9–33.

38. Vorlesung (18. Juni 1841)

533

Na głowę swą Koronę weźmiesz, którą naddziadowie, pradziadowie, dziadowiem wujowie waszej K.M. sławnie nosili. Ludowi też takiemu panować będziesz, który starożytnością i szerokością języka, żadnemu najzacniejszemu miejsca nie ustąpi. Tu wiara przeciwko panom stateczna, tu miłość przeciwko ojczyźnie gorąca, tu cnota i sława nad wszystkie klejnoty najdroższe w poważaniu bywają. […] Nie na takim placu i w takim królestwie stolicę osiędziesz, gdzie owo tylko karczmy liczą albo łatki przedają: ale w takim królestwie, które jest murem i szczytem chrześcijanskim państwom od nieprzyjaciół krzyża świętego; tu nie będziesz próżnował, a nieprzyjaciel powabi, niebo sobie i swemu rycerstwu zawżdy budować będziesz, tyle ofiar krwawych Bogu swemu na każdą godzinę oddawając, ile głów i języków pogańskich wygładzisz, imię Boże i chwałę Jego świętą bluźniących.“833 Auf dein Haupt wirst du die Krone setzen, welche die Ahnen, die Urgroßväter, Großväter und Oheime eurer Königlichen Majestät rühmlichst getragen haben. Herrschen wirst du auch über ein Volk, das durch sein Altertum und die Ausbreitung seiner Sprache keinem, sei es auch dem edelsten, den Vorrang einräumt. Hier ist die Treue gegen die Herren standhaft, hier die Liebe des Vaterlandes feurig, hier wird die Tugend und die Ehre höher als alle köstlichen Kleinodien geschätzt. […] Nicht an solcher Stelle und nicht in einem solchen Königreich wirst du den Hauptsitz einnehmen, wo nur nach Läden gerechnet wird, oder wo man nur Waren verkauft, sondern in einem solchen Königreiche, das die Mauer und der Schild der christlichen Reiche vor den Feinden des heiligen Kreuzes ist. Hier gehest du nicht müßig einher, und fordert der Feind heraus, so kannst du dir und deiner Ritterschaft immer den Himmel bauen; denn so viel heidnische Köpfe und Zungen, die den heiligen Namen Gottes und seine Ehre lästern, du ausrottest, eben so viel blutige Opfer weihest du in jeder Stunde Deinem Gott.

Was der Erzbischof an dieser Stelle dem neuen König als Regel seines Verfahrens darstellt, das bemühte sich Stefan Batory zu erfüllen. Es besteht ein wunderbarer Zusammenhang zwischen den großen Genien in der Politik und denen in der Literatur. Kochanowski besitzt mehr als eine Ähnlichkeit mit Batory. Dem Herzen und dem Gedanken nach beide Slaven, erhielten sie eine europäische Erziehung; beide kühne, aber bedächtige Neuerer; die Mittel kennend, welche sie bei der Hand hatten, wollten sie, der eine die Republik, der andere die slavische Kunst, in Regeln fassen und europäisch machen. Beide von der Liebe ihres Landes beseelt, wurden zeitlebens weder gewürdigt und gehört, noch nach dem Tod nachgeahmt. Der König Stefan fand kaum einige Freunde, denen er seine großen Pläne anvertrauen konnte; der 833 Wawrzyniec Goślicki: Witanie Rady Stanów Koronnych polskich do Króla Jego Mości Zygmunta Trzeciego […]. Dnia 10. grudnia roku 1587. Kraków 1587, S. 6–7; ferner in – Wybór mów staropolskich świeckich sejmowych i innych. Hrsg. Antoni Małecki. Kraków 1860, S. 107–114; im Internet unter [http://reader.digitale-sammlungen.de].

534

Teil I

Dichter Kochanowski klagte immer, daß man ihn nicht lese, daß seine wichtigsten Werke inmitten eines leichtfertigen Publikums unbeachtet blieben.834 Zu seinem Glück starb Kochanowski noch vor Batory; er hatte die Freude, die Republik im Aufblühen ihrer Macht und auf der Siegesbahn zu verlassen. Dies Gefühl drückte er in einem seiner Gedichte835 aus, wo er klagt, nicht genug Talent zu haben, das Übergewicht seines Volkes, dessen sieghaftes Vorschreiten er allenthalben sah, würdig zu preisen. Mit Hochgefühl blickte er auf das eroberte Preußen, auf das in die Enge getriebene Moskau und endlich auf das Balkangebirge hin, welches jeden Augenblick sich dem polnischen König öffnen sollte. Alle Schriftsteller, von denen wir bisher gesprochen haben, gehören dem eigentlichen Polen an; Kochanowski wurde an der Grenze zum ruthenischen Dialekt geboren; jetzt werden wir zugleich mit der sich verbreitenden polnischen Sprache die Rus’ und Litauen betreten. Auf dem ersten erwartet uns der erste Dichter ruthenischer Abstammung, der das klassische Polnisch schreibt; auf dem zweiten, wo eine lebendigere Tätigkeit die Beredsamkeit weckte, werden wir dem größten der polnischen Redner und Schriftsteller, Peter Skarga, begegnen. Die letzten Vorlesungen des diesjährigen Vorlesungsreihe dem Besprechen dieser Autoren widmend, werden wir uns noch einmal mit dem Blick hinter die Donau nach jenen Gebieten wenden, die mit der Jagellonischen Epoche zusammenhängen, denn dort entstand zum Lobe der Jagellonen-Regierung das vorzüglichste Werk, das wir im Slaventum besitzen.836 Der uns jetzt in die Länder der alten Rus’ einführende Dichter, ein Mann von geringer Herkunft, hieß Szymon Szymonowicz.837 Der damaligen Sitte zufolge unterzeichnete er sich lateinisch Simon Simonides und erwarb unter dieser Benennung einen klangvollen Namen in Europa. Viele ausgezeichnete Kritiker, namentlich Justus 834 Vgl. Kochanowskis Gedicht „Muza“ (Die Muse); deutsche Übersetzung in: Jan Kochanowski: Ausgewählte Dichtungen. Hrsg. Willi Hoepp. Leipzig 1980, S. 117–119. 835 Vgl. das (epische) Fragment „Omen“ (1589), in: J. Kochanowski: Dzieła polskie. Hrsg. Julian Krzyżanowski. Warszawa 1980, S. 550–553: „Gdzieś to piękne boginie tak łaskawe były, / Żebych ja, ile chęci, tyle miał i siły / Służyć ojczyznie miłej, a jej sprawom sławnym, Nie dopuszczał zamierzknąć w ciemnym wieku dawnym! / Gdzie pójźrzę, wszędy widzę polskiej siły znaki: / Tu do czarnego morza jeszcze świeżo szlaki; / Tu droga znakomita przez śnieżne Bałchany; / Tu psie pola, a sam brzeg pruski zwojowany. / A ktoby oczy podał jeszcze w głębsze lata, / Przodkom naszym wielka część hołdowała świata. / Bo od zmarzłego morza po brzeg Adryański, / Wszytko był opanował cny naród słowiański.“ – vgl. dazu Janusz Pelc: Jan Kochanowski, op. cit., S. 244–245. 836 Gemeint ist das dem polnischen König Władysław IV. Wasa (1595–1648) gewidmete Epos von Ivan Gundulić „Osman“; vgl. dazu die 40. Vorlesung (Teil 1). 837 Szymon Szymonowicz – Simon Simonidae Bendonski (1558–1629).

38. Vorlesung (18. Juni 1841)

535

Lipsius, später Angelo Durini838, und der päpstliche Nuntius in Polen zur Zeit Stanisław Augusts, geben ihm den Vorrang vor allen gleichzeitigen lateinisch schreibenden Dichtern. Vor allem erwarb er sich jedoch Ruhm durch seine polnischen Schriften, und diesen hatte er es zu verdanken, daß man ihm unter dem Namen Bendoński den Adel verlieh. Szymonowicz folgte nicht den Fußtapfen Kochanowskis, der seine Kräfte in der lyrischen Dichtung, im Epos und Drama versuchte; er war der Erste, der Idyllen (sielanki)839 sang. Jetzt sind die Idyllen gänzlich in Vergessenheit geraten, schon scheint es unmöglich, in den Mund unserer gegenwärtigen Hirten und Hirtinnen Verse zu legen. Diese Gattung der Poesie findet eine große Schwierigkeit in sich selbst. Denn malte man der Natur getreu, so würde das Bild lächerlich und nicht anziehend; idealisierte man es aber, so verfiele man sogleich in Gezwungenheit und Erdichtung. Die zahlreichen Idyllendichter begingen diese Fehler und brachten es endlich dahin, daß sie gänzlich verworfen wurden. Vergil erkühnte sich bekanntlich nie, in seine Bukoliken lateinische Hirten einzuführen; er ahmte die Griechen nach. Die spanischen Schriftsteller und die des südlichen Frankreichs, welche die Idylle zu heben trachteten, begannen ihren Hirten ritterliche Gefühle zu geben; sie machten aus ihnen Ritter, die von der Liebe redeten, als befanden sie sich bei Hofe. Fontenelle840, dieser kalte Philosoph, verfaßte in angestrengter Arbeit Idyllen, die heute niemand liest. Robespierre841 selbst hat ihrer einige geschrieben. Die Deutschen, indem sie diese Gattung idealisierten, versetzten sich gänzlich ins Goldene Zeitalter. 838 Angelo Maria Durini (1725–1796), Kardinal. Edierte die lateinischen Dichtungen von Szymonowicz – Poetarum elegiographorum Par nobile Simon Simonides Leopoliensis et Raymundus Cunich Ragusinus. Varsoviae 1771; Simonis Simonidae Bendonski Leopolitani Magni Jo. Zamoscii a secretioribus consiliis Pindari latini Opera omnia quae reperiri potuerunt olim sparsim edita, nunc in unum collecta, ac denuo typis consignata procurante Angelo Maria Durini […]. Varsoviae 1772; vgl. Ewa Jolanta Głębicka: Szymon Szymonowicz – Poeta Latinus. Warszawa 2001. 839 Szymon Szymonowicz: Sielanki. Zamość 1614; neue Ausgabe vgl. Sz. Szymonowicz: Sielanki i pozostałe wiersze polskie. Hrsg. Janusz Pelc. Wrocław 2000; zur Gattung der „sielanka“ (Idylle, Bukolik – Schäferdichtung) vgl. Anna Krzewińska: Sielanka staropolska. Warszawa 1979. 840 Bernard Le Bovier de Fontenelle (1657–1757); vgl. Bernard Le Bovier de Fontenelle: Discours sur la nature de l’Egloque (1688). In: Œvres de Fontenelle. Paris 1790, Bd. 5, S. 1–37; deutsche Übersetzung: „Über die Natur der Schäfergedichte“. In: Herrn Bernhards von Fontenelle […] Auserlesene Schriften, nämlich von mehr als einer Welt, Gespräche der Todten, und die Histoire der heydnischen Orakel. Hrsg. Johann Christoph Gottsched. Leipzig 1771, S. 577–605. 841 Maximilien de Robespierre (1758–1794) interessierte sich für die „Idyllen“ von Gessner; ob er diese Gattung pflegte, konnte nicht ermittelt werden; vgl. – Œuvres de Maximilien

536

Teil I

Der berühmte Salomon Geßner842 hat Hirten ersonnen, die es nie auf Erden gab. Diese deutschen Hirten leben in Gesellschaft von Nymphen, Dryaden und Faunen, und können die Mythologie an den Fingern herzählen. Diese Werke der Deutschen, obwohl zuweilen sehr geschickt den griechischen Mustern nachgebildet, haben auch aufgehört, beliebt und gelesen zu sein. Szymonowicz erkor sich ein ganz und gar selbstständiges Verfahren; er dachte nicht daran, den Vergil, die spanischen Dichter oder die des südlichen Frankreichs nachzuahmen. Anfänglich hielt er sich vielmehr an Theokrit843; jedoch nach und nach immer mehr die eigne Bahn treffend, verließ er auch diesen und schuf sich eine originelle Gattung; er veröffentlichte einige rein volkstümliche Idyllen voller Wahrheit und Anmut. Nach Theokrit ist dies der größte Idyllendichter. Er überragt den Vergil. Letzterer besaß fast kein dramatisches Talent und verstand nicht, seine Personen redend einzuführen. Szymonowicz, dramatischer als er, ist zugleich ein viel besserer Landschaftsmaler. Vergil dagegen bleibt in dieser Hinsicht immer unvollkommen, und die französischen Idyllenschreiber befassen sich gar nicht damit. Szymonowicz hat sehr lebhaft die Natur gefühlt. Alle seine Idyllen könnte man in drei Gattungen teilen; zur ersten lieferten ihm außer Theokrit auch Bion von Smyrna und Moschos aus Syrakus844 häufig den Stoff. Ihnen entnahm er kleine Bilder, und besonders griechische Liedlein, die er jedoch mit örtlichem Farbenspiel überzog und sie so zu sagen nationalisierte. Er wußte, daß, um eine urtümliche Idylle zu schaffen, es notwendig war, sie so viel als möglich dem Volkslied zu nähern; doch hat er den Stil des Liedes nicht gänzlich beibehalten, denn er machte sie nicht gänzlich lyrisch, sondern lenkte sie mehr der dramatischen Form zu. Im Versbau und in der rhythmischen Gestaltung lassen sich Ähnlichkeiten mit der heutigen französischen Versifikation feststellen; er scheut sich nicht, von einer Zeile auf die andere überzugehen (Enjambement), und bemüht sich nicht um Reichtum des Reimes; er ist vor allem dramatisch. Als später die französische Versifikation des vorigen Jahrhunderts in der polnischen Literatur das Übergewicht bekam, konnte das verwöhnte und die Sache wenig verstehende Ohr des Publikums nicht mehr die Vorzüge der Verskunst dieses großen Dichters würdigen. Zum Robespierre, Bd. 1: Les œuvres littéraires en prose et en vers. Hrsg. Eugène Desprez, Emilie Lesueur. Paris 2011. 842 Salomon Gessner (1730–1788). Salomon Gessner: Idyllen. Hrsg. E. Theodor Voss. (3. Auflage) Stuttgart 1988; vgl. Salomon Gessner als europäisches Phänomen: Spielarten des Idyllischen. Hrsg. Maurizio Pirro. Heidelberg 2012. 843 Theokritos (um 270 v. Chr.); vgl. Theokrit: Gedichte: griechisch-deutsch. Hrsg. Bernd Effe. Berlin 2012. 844 Vgl. die 21. Vorlesung (Teil 1).

38. Vorlesung (18. Juni 1841)

537

Unglück ähneln seine Idyllen, die wir der ersten Gattung beizählen, gar sehr den griechischen; er hat bei ihnen nicht das Verdienst der originellen Schaffung. Die vorzüglichsten sind die der dritten Gattung, z.B. „Zalotnicy“ (Das Liebespärchen), „Żeńcy“ (Die Schnitter) und „Pomarlica“ (Das Aussterben oder die Viehseuche). „Das Liebespärchen“ ist ein allerliebstes kleines Drama, nur schade, daß die Hirten des Szymonowicz hier griechische Namen haben, was zuweilen sehr lächerlich erscheint und gegen die Einzelheiten ihres Lebens schlecht absticht, weil sie doch echte Slaven sind. Wir wollen diese Idylle voller Reiz und Einfalt teilweise anführen. Ein Hirte, den der Dichter Licydas nennt, nähert sich der Likora: […] ta trochę patrzyła Krzywooko, lecz dobrą gospodynią była.845 […] diese schielte ein wenig, war aber eine ausgezeichnete Wirtin.

Der zweite, Namens Amintas, bewarb sich um die Neera: […] siła było za tą Posagu, bo się babką chełpiła bogatą. I często nowe chusty sprawowała na się, I w srebrnym na każdy dzień chodzywała pasie. Onej trefnie żartować, onej w tańcu było Rej wodzić, onej samej, co żywo, służyło. Ledwie się o pułnocy do domu wracała, Bo, jako jedynaczce, matka folgowała. (S. 110) (große Aussteuer fiel / Dieser zu, denn sie rühmte sich einer reichen Großmutter. / Und häufig schaffte sie sich neue Kleider, / Und trug alltäglich einen silbernen Gürtel. / Ihr stand es schön, treffend zu scherzen; / den Reigen im Tanz zu führen, das stand ihr allerliebst. / Kaum kehrte sie um Mitternacht nach Hause, / Denn die Mutter sah ihr, der einzigen Tochter, vieles nach).

Einmal traf es sich, daß sie im Walde eingeschlafen war, wo gerade Amintas mit seiner Herde vorbeizog; diese Szene ist ein sehr poetisches und treffliches Bild der Natur:

845 Szymon Szymonowicz: Sielanki i pozostałe wiersze polskie. Hrsg. Janusz Pelc. WrocławWarszawa-Kraków 1964, S. 110. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe zitiert.

538

Teil I W ten czas była pognała kozy do chróściny, Kozy w chróścinie, ona u gęstej leszczyny Legła w chłodzie na trawie i smaczne zasnęła. Wilczaszku, żeś tam nie był, strawka cię minęła! Tamże pędził Amintas na pola przyległe, A gdy do kupy zgania owce swe rozbiegłe, Trafił na śpiącą. Co w nim za myśl w ten czas była, Trudno trafić, atoli źle mu nie radziła. Kto pragnie przyjaciela, wstydem go nabywa, Cnota nad zakazanie nie chce być skwapliwa. Stanął tylko, by wryty, ona twardo spała, A wtym trzoda, pasąc się, blisko nadchadzała. On do trzody: Owieczki, lekko następujcie, Śpi tu piękna Neera, spania jej nie psujcie! Śpi tu piękna Neera: ani się tryksajcie, I trawkę cicho szczypcie, i cicho stąpajcie. Baranie ty rogaty, abo cię nie minie Maczuga, abo capem jutro cię uczynię! Nazbyteś się rozigrał. By to długo trwało, Mnie by się raczej teraz rozigrać przystało. Lekko, owieczki moje, lekko następujcie, Śpi tu piękna Neera, spania jej nie psujcie! Śpi tu piękna Neera: przydź, wietrzyku chłodny, Przydź, wietrzyku, i czyń jej sen wdzięczny, łagodny! Pozwalam ci i włosy obwionąć na czele, Pozwalam – ach, niestetyż! – ty i w ucho śmiele Możesz poszemrać, możesz i wargę całować, A ja, nieborak, muszę przyjaźni folgować. Lekko, owieczki moje, lekko postępujcie, Śpi tu piękna Neera, spania jej nie psujcie! Buhaj kędyś zaryczał. Niebaczny buhaju! Jeśli mi na złość czynisz, roście w tym tu gaju Kijań na cię; koniecznie weźmiesz miedzy rogi. Naryczysz się cały dzień, teraz nie czyń trwogi. Gdyby w me, wolałbym ja, żeby spać przestała, Wolałbym, żeby ze mną te kwiateczki rwała. Lekko, owieczki moje, lekko postępujcie, Śpi tu piękna Neera, spania jej nie psujcie! Słoneczko, o słoneczko! Nie zajrzy nam cienia, Pohamuj małą chwilę ostrego promienia, Uchyl się za ten obłok! Blask śpiącemu szkodzi, Ja bym zasłonił, ale tknąć mi się nie godzi. I ty się nie przebiegaj, jaszczurko zielona, Bo cię prędko dosięże maczuga toczona. Lekko, owieczki moje, lekko następujcie, Śpi tu piękna Neera, spania jej nie psujcie!

38. Vorlesung (18. Juni 1841)

539

Muchy, bezecne muchy! Siła dodziewacie, Łaję wam i zajrzę wam; więtszą wolność macie Niżli ja. Na co się was tak wiele zleciało? Abo wam miło kąsać białe, miękkie ciało? I ciebie tu, komorku, zła śmierć posadziła! Ukąsiłeś, że przez sen wargami ruszyła. Einst trieb sie die Ziegen ins Gesträuch; / Die Ziegen im Gesträuch, sie aber legte sich in dichtem / Laubholz auf kühlem Grase, und schlummerte süß ein. / Ein Wölflein wärest du da, ein Gerichtchen wäre dir zu gefallen! / Dorthin zog Amintas auf die nahen Fluren, / Und als er nun seine Schafe zusammentrieb, / Entdeckte er die Schlafende. Welcher Gedanke in ihm da / Entstand, ist schwer zu raten, übel jedoch ward ihm nicht. / Wer sich einen Freund wünscht, erwirbt ihn durch Scham; / Die Tugend will das Verbot nicht übereilen. / Aber er blieb wie eingewurzelt stehen, sie schlief fest; / Unterdessen kam die weidende Herde dicht heran. / Er zur Herde: Sachte, meine Schäflein, sachte tretet auf. / Die schöne Neera schläft hier; komm kühles Lüftchen, / Komm Lüftchen, mach ihr den Schlummer angenehm und sanft. / Ich erlaube dir auch, ihr Haar auf der Stirn zu bewegen, / Ich erlaub es, o wehe! Du darfst auch ins Ohr ihr / Säuseln, auch die Wange küssen; / Und ich Armer muß der Freundschaft nachgeben! / Sachte, meine Schäflein, sachte tretet auf! / Hier schläft die schöne Neera, verderbt ihr nicht den Schlaf. / Der Bulle hat gebrüllt. Unbedächtiger Bulle, / Tust du mir dies zum Trotz, so wächst ja in diesem Haine / Ein Knüttel für dich; gewiß bekommst du ihn zwischen die Hörner: / Du kannst ja den ganzen Tag brüllen, jetzt nur schlage keinen Lärm. / Käme es auf mich an, ich wünschte ja lieber, sie erwachte, / Lieber, sie pflückte mit mir diese Blümlein. / Sachte, meine Schäflein, sachte tretet auf! Hier schläft die schöne Neera, verderbt ihr nicht den Schlaf. / Sonnlein, o du Sonnlein, beneide uns nicht den Schatten, / Spare auf einen Augenblick deinen stechenden Strahl, / Weiche hinter diese Wolke: der Lichtglanz schadet der Schlafenden; / Ich möchte sie beschatten, doch darf ich sie nicht anrühren. / Auch du, grüne Eidechse, spiele jetzt nicht herum, /Oder es trifft dich bald die gerundete Keule. / Sachte, meine Schäflein, sachte tretet auf! / Hier schläft die schöne Neera, verderbt ihr nicht den Schlaf. / Fliegen, o ihr abscheulichen Fliegen, Vieles verschuldet ihr, / Ich zürne und beneide euch: größere Freiheit genießt ihr / Als ich. Wozu seid ihr so zahlreich zusammengelaufen? / Es mundet euch wohl die schöne weiße Haut? / Und auch dich, Mücke, hat der böse Tod hier hingepflanzt; / Du hast gebissen, daß sie mit den Lippen gezuckt.

Amintas, fortwährend seine Schafe ermahnend, leise aufzutreten, fährt in ähnlicher Art fort und erzählt endlich, was ihm geträumt; es schien ihm, als wäre er in der Kirche gewesen, und hätte ringsumher viele Verwandte und Nachbaren, neben sich aber Neera gesehen. Der Geistliche sprach vom Altar zu ihnen, hernach „band er die Hände mit der Stola, wechselte gegenseitig die Ringe.“ („Wiązał stułą, wzajemne rozdawał pierścienie.“), und fügte mit einem Seufzer hinzu: „Boże, niech się nade mną kona Twe przejrzenie!“ („O Gott! möge sich deine Bestimmung über mich erfüllen.“).846 846 Szymon Szymonowicz, op. cit., S. 113.

540

Teil I

Nun geht der Dichter zum zweiten Liebespaar, zu Licydas und Likorys, über. […] Zaloty zasię Licydowe, A był to prosty najmit, bywały takowe. W ten czas Likorys krowy w dojniku doiła, Licydas sieczkę rzezał. Zawsześ mię żywiła, Ręko moja! Kto Bogu dufa a pracuje, Do ostatniej starości nędze nie uczuje! Dziś sieczkę rzeżesz, sieczka nie rzężę się sama. Likory, przy tej ręce będzie dobrze nama. Ręko moja, kto Bogu dufa a pracuje, Do ostatniej starości nędze nie uczuje! Panem się nikt nie rodzi, siła zostawiają Dzieciom rodzice, siła dzieci utrącają. Praca skarb napewniejszy; kto się spuści na nie, I za żywota ma chleb, i po nim zostanie. I ty, Likory, u mnie nie będziesz żebrała! Nie będziesz, gdy nie będziesz ze mną próżnowała. Ręko moja, kto Bogu dufa a pracuje, Do ostatniej starości nędze nie uczuje! Widziałem cię u tańca i tak mi się zdało, Iże-ć tamto igrzysko namniej nie przystało, Lubo cię w pięsy wzięto, lub do gonionego. Trudno ciągnąć, kto nie ma umysłu do czego. Piękniej ci u roboty, w tyj-eś przodek miała; U robotyś mi naprzód do serca przystała. Ręko moja, kto Bogu dufa a pracuje, Do ostatniej starości nędze nie uczuje! Pomnisz, kiedyśmy byli pospołu na żniwie, Pszenicę w ten czas żęto na siedzianej niwie? Zagon twój był wedla mnie; tak ci tam służyło Szczęście, że-ć sierpa w ręku ledwie dojrzeć było. Jeszcześ nam przyśpiewała! Przyznać ci się muszę, Chcąc się tobie przeciwić, siliłem się z dusze I mówiłem do siebie: Boże, jeśli zdarzysz, Niech taki zawsze robi wedla mnie towarzysz. Ręko moja, kto Bogu dufa a pracuje, Do ostatniej starości nędze nie uczuje. Widziałem, pod kądzielą kiedyś siadywała, Sama-ć się do wrzeciona nić z palca puszczała, Jedwab nie będzie taki. U ciebie i spanie Napozniejsze; u ciebie i narańsze wstanie. Tobie czeladź nakarmić, tobie pochędożyć Wszystko w domu i wszystko na mieścu położyć.

38. Vorlesung (18. Juni 1841) Ława zawsze chędoga, pomylę naczynie. Mówiłem: komu cię Bóg da, z tobą nie zginie. Ręko moja, kto Bogu dufa a pracuje, Do ostatniej starości nędze nie uczuje!847 […] Die Bewerbungen aber des Licydas Waren dieser Art, es war dies ein einfacher Tagelöhner. Wenn Likoris im Stalle die Kühe melkte, Schnitt Licydas Häcksel. Immer hast du mich genährt, Du meine Hand. Wer Gott vertraut und arbeitet, Der fühlt bis ins späteste Alter kein Elend. Heute schneidest du Häcksel, die Häcksel schneidet sich nicht von selbst, Likoris, bei dieser Hand wird es dir wohl im Hüttchen sein. Du meine Hand, wer Gott vertraut und arbeitet, Der fühlt bis ins späteste Alter kein Elend! Niemand kommt als Herr zur Welt, hinterlassen die Eltern Den Kindern viel, so vermachen die Kinder Vieles. Die Arbeit ist der sicherste Schatz; wer sich auf sie verläßt, Hat zeitlebens Brot, und hinterläßt noch den Seinigen. Auch du, Likoris, wirst bei mir nicht betteln, Nein, sobald du mit mir nicht müssig gehen wirst. – Du meine Hand, wer Gott vertraut und arbeitet, Der fühlt bis ins späteste Alter kein Elend! Ich habe dich beim Tanze gesehen, und fast schien es mir, Als stände dir dieser Jubel am wenigsten gut; Obgleich man dich zum Tanze, auch zum Ringeljagen wählte, Schwer ist dies von dem zu verlangen, wer keine Lust dazu hat. Schöner warst du bei der Arbeit, hier führtest du den Vortritt. Bei der Arbeit fielst du mir zu allererst ins Herz. Du meine Hand, wer Gott vertraut und arbeitet, Der fühlt bis ins späteste Alter kein Elend! Gedenkst du noch, als wir beide bei der Ernte waren? Weizen wurde auf der üppigen Flur geschnitten. Dein Beet war neben dem meinigen, es glückte dir Dort so, daß man die Sichel in deiner Hand kaum sah; Und noch sangest du uns, ich aber muß dir bekennen, Daß aus allen Kräften ich mich anstrengte, dir zuvorzukommen, Und zu mir sprach: Gott! wenn es dir gefällt, So füge es, daß neben mir immer solch’ ein Gefährte arbeite. Du meine Hand, wer Gott vertraut und arbeitet, Der fühlt bis ins späteste Alter kein Elend! 847 Szymon Szymonowicz: Sielanki, op. cit., S. 114–116.

541

542

Teil I Ich sah dich an dem Spinnrocken sitzen, Der Faden lief dir von selbst vom Wocken in die Finger! Seide geräth nicht schöner. Du legst dich auch Am spätsten schlafen, du stehest am frühsten auf. Du sättigest die Leute, du reinigest Alles Im Hause, und ordnest Alles an seinen Platz. – Die Bank ist immer rein, gewaschen das Gerät. Ich sagte, wem dich der liebe Gott gibt, mit dir kommt er nicht um. – Du meine Hand, wer Gott vertraut und arbeitet, Der fühlt bis ins späteste Alter kein Elend!

Wir übergehen die weitern Einzelheiten, welche das häusliche Leben unserer Landleute und des geringen Adels ganz vortrefflich darstellen, jedoch dem Ausländer gleichgültig sind. Wie Amintas seinen Vers wiederholt: Lekko, owieczki moje, lekko następujcie, Śpi tu piękna Neera, spania jej nie psujcie! Sachte, meine Schäflein, sachte tretet auf! Hier schläft die schöne Neera, verderbt ihr nicht den Schlaf! –,

so wiederholt auch Licydas nach jedem Abschnitt: Lekko, owieczki moje, lekko następujcie, Śpi tu piękna Neera, spania jej nie psujcie! Du meine Hand, wer Gott vertraut und arbeitet, Der fühlt bis ins späteste Alter kein Elend. –,

und zählt dabei nacheinander alle Tugenden seiner Hirtin auf; er schildert ihre Geschicklichkeit im Backen, Nähen, Kochen und anderen wirtschaftlichen Hausarbeiten: Tak śpiewał, a już sieczki wielka kupa była I Likorys namyślnie u krów się bawiła.848 So sang er, und schon gab es einen großen Haufen Hechsel; Likoris aber weilte mit Fleiß bei den Kühen.

Die schönste und volkstümlichste Idylle des Szymonowicz ist betitelt: „Żeńcy“ („Die Schnitter“).

848 Szymon Szymonowicz: Sielanki, op. cit., S. 111–118.

38. Vorlesung (18. Juni 1841)

543

Die Schnitterinnen, von der Arbeit erschöpft, schmollen auf den ihnen vorgesetzten Starosten (Gutsverwalter)), indem sie unter sich im Stillen flüstern: Oluchna Już południe przychodzi, a my jeszcze żniemy. Czy tego chce urzędnik, że tu pomdlejemy? Głodnemu, jako żywo, syty nie wygodzi, On nad nami z maczugą pokrząkając chodzi, A nie wie, jako ciężko z sierpem po zagonie Ciągnąć się. Oraczowi insza, insza wronie; Chociaj i oracz chodzi za pługiem, i wrona, Inszy sierp w ręce, insza maczuga toczona. Pietrucha Nie gadaj głosem, aby nie usłyszał tego. Abo nie widzisz bicza za pasem u niego? Prędko nas nim namaca; zły frymark – za słowa Bicz na grzbiecie, a jam nań nie barzo gotowa. Lepiej złego nie drażnić; ja go abo chwalę, Abo mu pochlebuję i tak grzbiet mam w cale. I teraz mu zaśpiewam, acz mi niewesoło: Niesmaczne idą pieśni, gdy się poci czoło. Oluchna. Schon naht der Mittag, wir aber schneiden immerfort; Will denn der Beamte, daß wir hier liegen bleiben? Dem Hungrigen machts der Satte nie zu Dank, Er spaziert mit der Peitsche schmollend auf und nieder; Weiß aber nicht, wie schwer es auf dem Beet ist, mit der Sichel Sich fortzuschleppen; anders ist’s dem Pflüger, anders der Krähe, Wenngleich auch der Pflüger hinter dem Pflug geht und die Krähe; Anders ists mit der Sichel in der Hand, anders mit der Peitsche. Pietrucha. Sprich nicht laut, damit ers nicht hört. Siehst du denn nicht die Peitsche hinterm Gürtel? Bald haut er uns damit; ein schlechter Handel Ists, für Worte die Peitsche auf dem Rücken zu fühlen, Ich aber bin nicht sehr dazu bereit. Lieber Reizen wir den Bösen nicht; ich lobe ihn entweder Oder schmeichle ihm, und so behalte ich den Rücken heil. Jetzt auch will ich ihm singen, wenngleich mir nicht heiter Zu Mut; schwer fließen die Lieder, wenn die Stirn schwitzt.

Hier singt die Schnitterin ein wunderschönes Liedchen. Die Dichter fanden in demselben die wahrhaften Merkmale des Volksliedes und reihten es in die Sammlung der Dichtungen des polnischen Volkes ein:

544

Teil I Słoneczko, śliczne oko, dnia oko pięknego! Nie jesteś ty zwyczajów starosty naszego. Ty wstajesz, kiedy twój czas, jemu się zda mało, Chciałby on, żebyś ty od pułnocy wstawało. Ty bieżysz do południa zawsze swoim torem, A on by chciał ożenić południe z wieczorem. Starosto, nie będziesz ty słoneczkiem na niebie, Inakszy upominek chowamy dla ciebie! Chowamy piękną pannę abo wdowę krasną, […] Starosta Pietrucho, nierada ty robisz, jako baczę, Chociaj ci nic młodego w pieluchach nie płacze. Pożynaj, nie postawaj, a przyśpiewaj cudnie, Jeszcze obiad nie gotów, jeszcze nie południe! Pietrucha Słoneczko, śliczne oko, dnia oko pięknego! Nie jesteś ty zwyczajów starosty naszego. Ty dzień po dniu prowadzisz, aż długi rok minie, A on wszystko porobić chce w jednej godzinie. Ty czasem pieczesz, czasem wionąć wietrzykowi Pozwolisz i naszemu dogadzasz znojowi, A on zawsze: „Pożynaj, nie postawaj!“ – woła, Nie pomniąc, że przy sierpie trój pot idzie z czoła. Starosto, nie będziesz ty słoneczkiem na niebie! Wiemy my, gdzie cię boli, ale twej potrzebie Żadna tu nie dogodzi, chociajby umiała. Siła tu druga umie, a nie będzie chciała, […] Sonnchen, schönes Auge, des lichten Tages Auge! Du führst nicht die Sitten unseres Starosten. Du gehst auf, wenn deine Zeit ist; ihm scheint es wenig, Er sähe es gerne, du gingest um Mitternacht auf. Du wandelst gegen Mittag immer deine Bahn; Er aber möchte gern Mittag mit Abend vereinen. O Staroste! keine Sonne wirst du an dem Himmel werden, Ein anderes Angebinde bewahren wir dir auf: Ein schönes Fräulein, oder eine hübsche Witwe. Der Starost. Pietrucha, ich sehe schon, daß du nicht gerne arbeitest, Wenngleich dir kein Kindlein in den Windeln weint. Schneide zu, bleib nicht stehen und singe schön dabei; Noch ist das Mahl nicht fertig, noch ists nicht Mittag!

38. Vorlesung (18. Juni 1841)

545

Pietrucha. Sonnchen, schönes Auge, des lichten Tages Auge! Du führst nicht die Sitten unsers Starosten. Du führst einen Tag nach dem andern, bis das lange Jahr vorüber; Er aber möchte gern Alles in einer Stunde beenden. Du brennst zuweilen, dann erlaubst du aber auch Dem Lüftchen zu wehen, und erleichterst unsere Mühe. Er aber ruft immer:“ Schneide zu, bleib nicht stehen!“, Ohne zu bedenken, daß dreifacher Schweiß bei der Sichel fließt, O Staroste! keine Sonne wirst du an dem Himmel werden, Wir kennen wohl deinen wunden Fleck; jedoch deiner Not Wird keine beistehen, wenn sie es auch könnte, Eine andere vermag hierin viel, sie wirds aber nicht wollen. […]

Der Starost unterbricht hier wieder das Lied mit Schelten, die Schnitterin aber endet es wie folgt: Pietrucha Słoneczko, śliczne oko, dnia oko pięknego! Nie jesteś ty zwyczajów starosty naszego. Ciebie czasem pochmurne obłoki zasłonią, Ale ich prędko wiatry pogodne rozgonią, A naszemu staroście nie patrz w oczy śmiele, Zawsze u niego chmura i kozieł na czele. Ty rosę hojną dajesz po ranu wstawając I drugą także dajesz wieczór zapadając, U nas post do wieczora zawsze od zarania, Nie pytaj podwieczorku, nie pytaj śniadania. Starosto, nie będziesz ty słoneczkiem na niebie! Ni panienka, ni wdowa nie pójdzie za ciebie! Wszędzie cię, bo nas bijasz, wszędzie osławiemy, Babę, boś tego godzien, babę-ć narajemy, Babę o czterech zębach. […] Sonnchen, schönes Auge, des lichten Tages Auge! Du führst nicht die Sitten unseres Starosten. Dich umhüllen zuweilen dunkle Wolken, Leichte Winde vertreiben sie jedoch bald; Unserm Starosten aber schau nie frei in die Augen: Immer thront bei ihm eine Wolke oder Falte auf der Stirn. Du gibst ergiebigen Tau früh des Morgens aufgehend, Du gibst auch solchen des Abends niedersinkend; Bei uns währt Fasten bis Abend von des Morgens früh; Nach Vesperbrot, nach Frühstück darf man nicht einmal fragen. O Staroste! keine Sonne wirst du an dem Himmel werden,

546

Teil I Weder ein Fräulein, noch eine Witwe wird dich haben wollen. Aber weil du uns schlägst, werden wir allenthalben dich Herumbringen, und ein altes Weib dir zuschanzen, Ein altes Weib mit vier Zähnen, weil du dies verdienst. […]

Diese letzten Zeilen hat der Starost nicht gehört, weil er nach der anderen Seite gegangen war; nach seiner Rückkehr fügt Pietrucha hinzu: Słoneczko, śliczne oko, dnia oko pięknego! Naucz swych obyczajów starostę naszego. Ty piękny dzień promieńmi swoimi oświecasz I wzajem księżycowi noc ciemną polecasz, Jako ty bez pomocy nie żyjesz na niebie, Niechaj i nasz starosta przykład bierze z ciebie. Na niebie wszystkie rzeczy dobrze są zrządzone: Księżyc u ciebie żoną, niech on też ma żonę. […] Siła gospodarz włada, siła w domu czyni, Ale czeladka lepiej słucha gospodyni.849 Sonnchen, schönes Auge, des lichten Tages Auge! Lehre du unserem Starosten deine Sitten. Du beleuchtest den schönen Tag mit deinen Strahlen, Und vertraust wiederum dem Monde die Nacht. Wie also ohne Hilfe du nicht lebst am Himmel, So möge auch unser Starost an dir Beispiel nehmen. Am Himmel ist alles wohl geordnet: Der Mond ist dir die Gattin; möge auch er eine Gattin haben. […] Vieles verrichtet der Wirt, vieles schafft er im Hause; Die Leutchen gehorchen doch besser der Wirtin.

Solcher Beispiele aus der Natur, solcher Ansichten und aus dem häuslichen Leben gezogener Anspielungen gibt es sehr viel bei Szymonowicz. Einige derselben haben die Bündigkeit und Einfalt der Sprichwörter, daher sind auch viele sprüchwörtlich geworden. Wir wollen hier einige Redensarten dieser Gattung anführen. Z.B.: Gdzie nie rado, lepiej tam z daleka omijać (Wo man dich nicht gerne sieht, da ist besser, von weitem umzugehen; Na każdy raz swoje się lekarstwo znajduje (Für jegliche Wunde findet man auch geeignete Medizin); Bóg bierze, Bóg daje (Gott nimmts, Gott gibts); 849 Szymon Szymonowicz: Sielanki, op. cit., S. 155–158, 164–165.

38. Vorlesung (18. Juni 1841)

547

Po Bogu, jest nadzieja w dobrym przyjacielu (Nach Gott gibt’s die Hoffnung in einem guten Freund); Zły postępek, złym się oddać godzi (Ein schlechtes Verfahren darf man ebenso strafen); Ale pies nie kąsa, gdy go kto nie drażni (Es beißt aber auch der Hund nicht ungereizt); Równemu z równym zawsze na świecie przystało (Gleichem mit Gleichem ziemt’s immer in der Welt); Chędogo, choć ubogo (Reinlich, wenn auch ärmlich); Dobrze mieć, jak mówią, język za zębami (Gut ist, wie man sagt, die Zunge hinter den Zähnen zu halten); Żart pański stoi za gniew i w gniew się obraca, / Ty go słówkiem, a on cię korbaczem namaca (Ein herrschaftlicher Scherz gilt für Zorn und wird zu Zorn; / Denn du triffst ihn mit einem Wörtchen, er dich aber mit der Peitsche). Einige seiner Verse stimmen auch so mit den Vorstellungen des Volkes zusammen und sind dermaßen in Polen bekannt, daß die Ammen sie den Kindern wiederholen. Sroczka krzekce na płocie, będą goście nowi. Sroczka czasem omyli, czasem prawdę powi. Gdzie gościom w domu rado, sroczce zawsze wierzą I nie każą się kwapić kucharzom z wieczerzą. Sroczko, umiesz ty mówić, powiedz, gdzieś latała, Z któryjeś strony goście jadące widziała? Sroczka krzekce na płocie; pannie się raduje Serduszko, bo miłego przyjaciela czuje.850 Elsterchen krächzt auf dem Zaune, neue Gäste kommen; Elsterchen irrt zuweilen, zuweilen sagt sie die Wahrheit. Wo man den Gästen hold, glaubt man immer dem Elsterchen, Und befiehlt den Köchen nicht, mit dem Abendmahle zu eilen. Elsterchen, du kannst ja reden, sage an, wo bist du gewesen? Von welcher Seite her hast du die Gäste kommen sehen? Elsterchen krächzt auf dem Zaune, dem Fräulein hüpft Das Herzchen, denn sie fühlt das Nahen des Lieben.

Fast wird es wunderbar erscheinen, daß gerade, als Szymonowicz seine Idyllen schrieb, das Großfürstentum Moskau unter dem Zepter des Feodor I. Ioannovič eine wahrhaft idyllische Glückseligkeit genoß. Es war dies für Moskau das Goldene Zeitalter. Der Nachfolger Ivan des Schrecklichen unterschied sich in Sitten, Charakter und allem von seinem Vater unaussprechlich. Nachdem er in 850 Szymon Szymonowicz: Sielanki, op. cit., S. 100–101.

548

Teil I

sehr jugendlichen Jahren den Thron bestiegen hatte, versetzte er durch Sanftmut, Milde und tugendhaftes Leben seine dieses Anblickes entwöhnten Untertanen in Erstaunen. Von schwächlicher Gesundheit und immer mit trauriger Sehnsucht erfüllt, widmete er seine ganze Zeit dem Beten, Almosenverteilen und dem Besuche der Spitäler und Klöster. Aus seinem Palast ging er ganz allein oder nur in Gesellschaft einiger ehrbarer Mönche heraus, und auf seinem Antlitz thronte stets ein Lächeln der Güte. Dies Alles machte ihn zu einer unbegreiflichen Erscheinung für das Volk, erwarb ihm aber bei den Bojaren die Meinung eines Schwächlings und Blödsinnigen. Das gemeine Volk hielt ihn für einen Heiligen, welches allenthalben ihm in den Weg trat und auf den Knien um seinen Segen bat. Die Bojaren bedauerten ihn als einen von der Natur Vernachlässigten, der unfähig sei, das Land zu regieren. Nachdem die russischen Geschichtsschreiber dieses allgemeine Urteil angenommen, sprechen sie von ihm, wie von einem krankhaften Idioten, und werfen ihm vor, daß er keine Einsicht in die Regierung des Reichs nahm, daß er sich mit politischen Angelegenheiten nicht befaßte. Und doch war das Fürstentum Moskau nie so glücklich, nie so ruhig. Im Innern blühte unerhörtes Wohlergehen, das ganze Volk befand sich in großer Wohlhabenheit, und allenthalben erhoben sich Dörfer und Städte aus dem Schutt. Ausgenommen einige Opfer der Politik des übermächtigen fürstlichen Günstlings, von dem wir später reden werden, sah man fast keine Todesstrafen. Nach außen wuchs das Land ungeheuer durch die Erwerbung Sibiriens, das schon früher teilweise, jetzt aber vollständig erobert wurde. Mit Schweden wurde ein für Moskau vorteilhaftes Bündnis geschlossen. Mit Polen dauerte der Friede ununterbrochen fort. Sogar in gesetzgebender Hinsicht erschienen neue Polizeibeschlüsse. Kurz, liest man die damalige Geschichte, so kann man nicht begreifen, woher auf einmal eine solche Glückseligkeit Moskaus und zugleich eine solche Verachtung gegen den Fürsten, unter dessen Zepter man sie genoß, entstand. Das Volk legte seinem frommen Zaren die Gabe der Prophezeiung bei. Man erzählte, daß, als die Tataren Moskau stürmten, Feodor, der der Schlacht von seinem Palast aus zusah, im Augenblicke des heftigsten Kampfes ruhig vom Fenster fortging, um sich zur Ruhe zu legen. Als er aber die Angst und Verwirrung seiner Umgebung sah, sprach er zu ihnen: „Будь спокоен! Завтра не будет Хана!“851 („Bleib ruhig! Morgen wird der Khan nicht mehr hier sein!“). 851 Karamzin, op. cit., Bd. 9, Kap. 2, S. 88. Der ganze Abschnitt lautet so: Утомленный долгою молитвою, Феодор мирно отдыхал в час полуденный; встал и равнодушно смотрел из высокого своего терема на битву. За ним стоял добрый Боярин, Григорий Васильевич Годунов, и плакал: Феодор обратился к нему, увидел его слезы и сказал: „Будь спокоен! Завтра не будет Хана!“ Сие слово, говорит Летописец, оказалось пророчеством.

38. Vorlesung (18. Juni 1841)

549

Und in der Tat, unvorhergesehene Ereignisse zwangen die Tataren zum plötzlichen Aufgeben des Sturmes, und seit jener Zeit erschienen sie auch nie wieder unter den Mauern von Moskau. Ein andermal, als er seinem Günstling eine kostbare Reliquie schenkte, die zu den fürstlichen Kleinodien gehörte, sagte er zu ihm: „Weigere dich nicht, Godunov, diese Reliquie anzunehmen. Mit der Zeit wirst du alles, was du nur wünschen kannst, nehmen, jedoch auch überzeugt werden, daß die Größe nur eitel vergänglicher Mammon ist.“852 In diesen Worten erblickte man später die Vorhersagung der künftigen Erhebung und des unglücklichen Schicksals dieses Godunov.853 Boris Fedorovič Godunov, Fedors Ioannovičs Schwager und Liebling, besaß sein unbeschränktes Vertrauen; er regierte das ganze Reich. In der moskovitischen Geschichte ist er eine große, geheimnisvolle und bis jetzt noch unenträtselte Person. Bis dahin nämlich bewegen sich die russischen Geschichtsschreiber freimütig; ohne irgend etwas zu befürchten, dürfen sie alles, was unter der Herrschaft der Rjuriken vorging, beleuchten; von nun an aber bindet sie häufig das Interesse der neuen Dynastie und zieht sie von der Wahrheit ab. Möglich daher, daß, durch dieses Interesse geleitet, sie das Andenken jenes Mannes verleumdet haben, der doch zahlreiche Beweise großer Fähigkeiten und seltener Tugenden gegeben hat. So viel ist gewiß, daß Godunov unter Fedor Ioannovič alle Angelegenheiten Moskaus besorgte, daß er die Siege erfochten und die äußere Politik gelenkt hat. Mit ebenso bedeutenden Vorzügen glänzte seine dem Zaren vermählte Schwester; die Geschichtschreiber schildern dieselbe als eine Herrin voller Anmut, Geist und Herzensgüte. Diese Freundschaft und diese Liebe sprechen für Fedor; gewiß war ein Monarch, der sich einen solchen Günstling zu wählen und eine solche Gattin zu ehren wußte, nicht des Verstandes beraubt. Sich dem Tode nahe fühlend, bat er seine Gemahlin (Irina) innigst, nach seinem Verscheiden sich in ein Kloster zu begeben; die Ereignisse überzeugten bald, daß auch dieser Rat sehr weise war. Bei dem Allen geriet Fedor, dieser gebenedeite Fürst, dieser heilige Zar, beim Volk in Vergessenheit und bei den Schriftstellern in Verachtung. Das moskovitische Volk hat, was höchst seltsam ist – nur das

852 Bei Karamzin lautet die Stelle anders: „Пишут, что он (в 1596 году) торжественно перекладывая мощи Алексия Митрополита в новую серебряную раку, велел Годунову взять их в руки и, взирая на него с печальным умилением, сказал: ‚Осязай святыню, Правитель народа Христианского! Управляй им и впредь с ревностию. Ты достигнешь желаемого; но все суета и миг на земле!‘ Феодор предчувствовал близкий конец свой, и час настал.“ (Karamzin, op. cit., Bd. 10, Kap. 3, S. 124). 853 Boris Fedorovič Godunov (1552–1605); vgl. Ruslan Skrynnikov: Ivan Groznyj, Boris Godunov, Vasilij Šujskij. Moskva 2005.

550

Teil I

Andenken zweier Ungeheuer, Šemjakas und Ivan des Schrecklichen – bewahrt. Dies erinnert uns an die Worte des Heiligen Ludwig: Meine Hofleute und die Weltleute – sprach der französische König – deuten mir übel, daß ich so viel Zeit in der Kirche zubringe. – Würde ich diese Stunden auf der Jagd mit dem Falken oder im Tanz zubringen, nicht im Mindesten würde es ihnen auffallen. Ich weiß mir das nicht zu erklären.854

Und auch wir wollen ohne Erklärung die oben angeführten Tatsachen lassen.

854 Quelle nicht ermittelt.

39. Vorlesung (22. Juni 1841) Die Wahl der Könige in Polen – Jan Zamoyski – Sigismund III. Wasa (Zygmunt III Waza) und seine Politik – Zur Situation im Großfürstentum Moskau; Ermordung des Fürsten Dmitrij, des Sohnes Ivans IV. – Der Großfürst Boris Godunov und seine Politik.

Nach dem Tode Stefan Batorys kehrte Polen zu seinen Rechten, es sollte sich wieder einen König wählen. Die Wahl ist die wichtigste Tat in der Geschichte der slavischen Völker, die Haupttatsache in ihrem sozialen Dasein. Die benachbarten Reiche, jedesmal die Gelegenheit ergreifend, sich durch diesen Paragraphen der polnischen Konstitution in die Angelegenheiten der Republik zu mischen, bemühten sich denselben zu ihrem Vorteil zu wenden. Wir müssen hier einige Worte über die Wahl der Könige in Polen sagen. Wir haben nicht nötig zu wiederholen, was schon früher von uns erwiesen wurde, daß die Befugnis, sich die Herrschaft zu erwählen, durch alle christlichen Reiche anerkannt und angenommen war, daß die Religion einige Formen aus den überlieferten Zeremonien des Alten Testamentes sich aneignete, daß sogar die Erbschaftsgrundsätze in der germanischen Gesetzgebung sich in vielem unter den aus dem Westen hergebrachten Bestimmungen milderten. Polen und alle slavischen Länder bewahrten das Andenken der alten Sitte; man vergaß nie, daß vor Jahrhunderten, wie dies die Geschichte von der Wahl des Piasten beweist, das Volk unter sich den Herrscher wählte. Es war also notwendig, sich an die volkstümliche Überlieferung zu halten, und zugleich eine Lehre aus der Erfahrung zu schöpfen. Sigismund August, durch kein persönliches Interesse gebunden, wollte schon in dieser Hinsicht der Republik einen Dienst erweisen, er wünschte ein vollständig ausgearbeitetes Werk von der Weise der Wahl in anderen Ländern, in Genf, Venedig, namentlich aber von der des apostolischen Stuhls zu haben. Diesem Verlangen genügte ein ausgezeichneter Schriftsteller855; dies hat jedoch zu nichts gedient: jene Bewegung, welche die Schranken sowohl der alten Sitte als auch der aus fremden Beispielen 855 Nach J. Maślanka (A. Mickiewicz: Literatura słowiańska, op. cit., Bd. VIII, S. 737) das Werk von Łukasz Górnicki (1527–1603): Rozmowa O Elekcyey, o Wolności, o Prawie, y obyczaiach Polskich Podczas Elekcyi Krola Iego Mci Zygmunta III czyniona] Pisana przez Łukasza Gornickiego Kraków 1616; neue Ausgabe: Ł. Górnicki: Droga do zupełnej wolności; Rozmowa o elekcji, wolności, prawie i obyczajach polskich. Wstęp Dorota Pietrzyk-Reeves. Kraków 2011; deutsche Übersetzung von Christian Gottlieb Friese (1717–1795) – Lucas Gornicki, Starosten von Tykocin und Wasilkow, Unterredung von der Wahl, Freyheit, Gesetzen und Sitten der Pohlen, zur Zeit der Wahl Sigismund des Dritten verfertigt […]. Breslau und Leipzig 1753 (2. Auflage 1762) – [SUB Göttingen. Signatur: 8 H POLON 58/61]; vgl. Jakub Z. Lichański: Łukasz Górnicki – sarmacki Castiglione. Warszawa 1998.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_040

552

Teil I

gewonnenen Warnungen brechend, die ganze Gewalt in dem üblichen Stand zusammenhäufte, riß das ganze Volk zu weit fort. Ehrsüchtige Männer, welche das Übergewicht, das der niedere Adel gewann, zu erkennen wußten, nahmen sich diesen Adel zum Stützpunkt ihrer eigenen politischen Ränke und warfen das höchste Steuerruder der Republik in die Hände der Adelsdemokratie [gminowładztwo szlacheckie]856. Das Meiste hat hierfür Jan Zamoyski857, genannt der Große, getan, der sich selbst vom geringen Edelmann zu einem Mächtigen emporschwang. Dieser kühne, gelehrte Mann, dessen Werke noch heute in neuen Auflagen der klassischen Philologen herausgegeben werden, ein tüchtiger Feldherr, gewandter Redner, war, nachdem er zu den ersten Würden des Landes und zu ungeheuren Reichtümern gekommen, immer von grimmigem Haß gegen die alten Familien der litauischen Großen und der polnischen Senatoren beseelt; im übrigen war er von römischen Begriffen durchdrungen, wenngleich sein Polen feurig liebend. Noch während des Interregnums (bezkrólewie) nach Sigismund August sprach Zamoyski die Worte, welche die fernere Richtung der polnischen Konstitution krümmten. Früher war man gewöhnt, den Sejm als den Allbeherrscher (wszechwładza), als den Bewahrer und Wächter jeglicher Gewalt zu betrachten; nach der öffentlichen Meinung gebührte ihm sogar die Wahl des Königs. Um sich den ganzen Adel geneigt zu machen, erhob Zamoyski, damals Starost und Landbote von Bełz, seine Stimme und behauptete, daß, weil die polnischen Gesetze unter dem ganzen Adel eine vollständige Gleichheit feststellten, darum auch jeder Edelmann gleichen Anteil an den vaterländischen Freiheiten und Vorrechten haben müsse, dies aber um so mehr in der hauptsächlichsten Prärogative, bei der Erwählung des Königs; er fügte außerdem hinzu, es sei gerecht, daß, wie allen die Verteidigung des Landes zukomme, auch alle zu der Wahl des Hauptes und Lenkers desselben beitrügen. Diese den Stolz jener Klasse von Bürgern aufreizende Stimme des Zamoyski beschleunigte die Bewegung, welche Polen der „Adelsdemokratie“ zutrieb. So wurde der Sejm durch die Wähler überflutet. Ohne sich damit zu begnügen, die Landboten gewählt zu haben, sehnten sie sich auch nach der Wahl des Königs, sie eigneten sich sowohl die gesetzgebende als auch die vollstreckende Gewalt an. 856 „gminowładztwo szlacheckie“ – Terminus nach Joachim Lelewel (1786–1861); vgl. Joachim Lelewel: Betrachtungen über den politischen Zustand des ehemaligen Polens und über die Geschichte seines Volkes. Brüssel-Leipzig 1845, vgl. das Kapitel: Dritte Periode von 1324 bis 1607, 233 Jahre Adelsdemokratie; im Internet unter [http://reader.digitale-sammlungen. de]; polnische Ausgabe – J. Lelewel: Polska, dzieje i rzeczy jéj: Historya Polska do końca panowania Stefana Batorego, dzieło pośmiertne przypiskami pomnożone i wydane przez E. Rykaczewskiego. Tom XIII. Poznań 1863, S. 201–677. 857 Vgl. Sławomir Leśniewski: Jan Zamoyski. Hetman i polityk. Warszawa 2008.

39. Vorlesung (22. Juni 1841)

553

Von nun an gibt es schon keinen oder es wird bald keinen Sejm mehr geben: die Wähler machen sich selbst an die Gesetzgebung, selbst an die Wahl der Könige, ja sogar an die Vollziehung der Beschlüsse. Wenn, wie es scheint, Polen in seinem politischen Gang zum Werden einer Republik, regiert durch erbliche Häupter, hinzielte, so war noch die Arbeit einiger Jahrhunderte zum Aufbau dieser Regierungsform erforderlich; es war noch zuvor notwendig, die unter verschiedenen Arten der Gewalt entstandenen Einrichtungen miteinander in Einklang zu bringen, den vielen sehr verschiedenen Völkern den einen Volksbegriff einzupflanzen, in den vielen Provinzen, welche zu Polen oder vielmehr zu dem gemeinsamen, im Worte „Vaterland“ enthaltenen Gedanken hinzugetreten, die aber vermöge des Bluts, der Religion und der Sitten verschieden waren, den klaren einhelligen Begriff des Vaterlandes zu Tage zu fördern. Zamoyski übersprang dies alles auf eine gewaltsame, revolutionäre Weise und trübte hierdurch die moralischen Grundregeln der Republik. Als nun der ganze Adel zur Wahl des Königs berufen wurde, was konnte man da von jenem Haufen, der von allen Enden bei Warschau zusammenlief, erwarten? Eine seltsame Menge versammelte sich hier. Der livländische Edelmann, ein Deutscher, begab sich dorthin zu Wagen, hinter sich seine Fähnlein-Fußknechte führend, mit Feuergewehren versehen, die mit Lunten losgebrannt wurden; der Kosak trabte zu Pferde vom Dniepr her; der Danziger, ein ehrlicher, betriebsamer Kaufmann, begab sich ohne vieles Geprange, ganz allein auf seinem Floß die Weichsel hinaufsteuernd, dahin; der polnische Herr kam mit seinen zehntausend Mann Haustruppen heran. Diese Leute, verschiedene Zungen redend und sich auf ihre verschiedenen Rechte berufend, welche niemand zu entwirren verstand, was konnten sie da zusammen beschließen? Der Sejm war wenigstens eine geordnete Körperschaft, er bestand aus Männern, die mit dem Vertrauen der Mitbürger beehrt waren, welche die Rechte ihrer Bezirke kannten; dieses zahlreiche Gemenge aber mußte notwendig der Leitung einiger Hauptführer zufallen. Zamoyski gab daher, statt das Übergewicht der Aristokratie zu schwächen, im Gegenteil die ganze Gewalt in die Hände der Aristokraten. Eine Aristokratie, die eine besondere Körperschaft, einen Stand im Reich ausmachte, eine solche Adelsherrschaft, wie sie sich zur Zeit der Jagellonen unter der Gestalt des Senates zeigte, gab es damals nicht mehr in Polen; aber Aristokraten (Oligarchen, Magnaten), d.h. Leute, mächtig durch Ansehen, Amt, Fähigkeit, durch eine zahlreiche Klientel, traten jetzt an die Spitze der Republik, sie konnten dieselbe nach Willkür beherrschen, ihr Gesetze diktieren. Die Macht der Gesetze ward sehr erschüttert; der historische Entwicklungsgang des Volkes, das unter den ersten Königen durch die Ältesten der

554

Teil I

Herren, unter der Regierung der jungen Piastenlinie und der Jagellonen durch den Adel geführt, später zwischen politischen Parteien geteilt war, sollte nun einigen Einzelmännern in die Hand fallen. Die letzte Reibung der Parteien fand während der Wahl Sigismunds III. statt. Schon während der Batorys lenkte die Ehrsucht Einzelner die Parteien nach eigenen Absichten. Den Thronkandidaten wurden private Bedingungen gestellt, sogar Zamoyski mit dem ganzen Adel nahm, nicht so wohl aus Angst vor der österreichischen Politik, als vielmehr durch eigenes Interesse bewogen, den König Stefan an. Man schrie damals sehr über österreichischen Despotismus und päpstlichen Einfluß. Nur ein Mann trat auf, der es wagte, seine Meinung, die schnurstracks der öffentlichen zuwiderlief, frei hören zu lassen. Es war dies der Landbote von Sandomierz, Jan Kochanowski. Er sagte im Sejm, man müsse einen Erzherzog von Österreich oder den moskovitischen Zaren zum Thron berufen, weil sie mit Regierungsangelegenheiten vertraut und fähig wären, sich den Gehorsam zu sichern.858 Ein anderer Landbote hätte sich dies nicht erlauben dürfen, man hätte ihn beschimpft und vielleicht auch getötet; den Kochanowski schirmte aber sein großer Ruhm als Schriftsteller. Während des Elections-Sejms (Sejm Elekcyjny) nach dem Tod des Königs Stefan, schob der Adel, um in der Wahl gänzlich freie Hand zu haben, zuerst die Kandidatur der Familie Batorys zurück. Die Freunde des verstorbenen Königs verließen aus Schmeichelei gegen die populär gewordene Meinung dessen Verwandte. Der russische Historiker Karamzin sagt: 12 Декабря 1586 года скончался Стефан Баторий (или от яда или от неискусства врачей, как думали), один из знаменитейших Венценосцев в мире, один из опаснейших злодеев России, коего смерть более обрадовала нас, нежели огорчила его Державу […].859 Am 12. Dezember 1586 starb Stefan Batory (entweder an Gift oder, wie man annimmt, wegen der Unfähigkeit der Ärzte), einer der bedeutendsten Monarchen auf Erden, einer der gefährlichsten Feinde Russlands, dessen Tod uns mehr erfreute, als daß er seinen Staat betrübte […].

Zum Unglück sind die Worte Karamzins wahr. Man machte sogar Schwierigkeiten, den Verwandten des verstorbenen Königs das Eigentum zurückzuerstatten, das ihnen doch erblich zukam. Später fielen die dem Zamoyski, welcher die Bewegung der Adelsdemokratie lenkte, unangenehmen Kandidaten der Reihe nach durch. Nachdem er die Batorys verlassen hatte und weder 858 Vgl. dazu: Janusz Pelc: Jan Kochanowski. Szczyt renesansu w literaturze polskiej. Warszawa 1980, S. 74 und 81. 859 Karamzin, op. cit., Bd. 10, Kap. II, S. 49.

39. Vorlesung (22. Juni 1841)

555

den Österreicher noch den Zaren Fedor noch irgend einen der Mitbürger, d.h. einen Piasten, haben wollte, neigte er sich endlich dem schwedischen Königssohn zu. Der schwedische Thronfolger war der Spindel nach ein Abkömmling der Jagellonen, gehörte aber einem Geschlecht an, das seine Erhebung dem Protestantismus verdankte und eifrig die Sache dieses Glaubens verfocht. Die polnischen Protestanten vermuteten daher einen Vormund in ihm zu finden; Zamoyski wiederum dachte, den jungen König beherrschen zu können. So verschenkten wieder falsche Berechnungen das Zepter, die Vorsehung aber bereitete eine Verrechnung für alle Parteien. Denn dieser Monarch sollte der eifrigste Bewältiger des Protestantismus im Norden werden, die Politik des Zamoyski umstoßen und sein ganzes Leben hindurch für das Zurückdrängen der Gemeinherrschaft des Adels arbeiten. Sigismund III. Wasa860, getauft mit dem Namen seines Oheims Sigismund August, war das Kind von Katharina Jagiellonica und Johann III. Wasa, dem Fürsten von Finnland. Die Kinderjahre brachte er im Gefängnis mit seinem Vater zu. Der grausame, damals Schweden regierende Erich XIV. hatte sogar die Absicht, den Fürsten Johann und dessen Sohn umbringen zu lassen und Katharina nach Polen zurückzuschicken. Diese hochherzige Frau wollte jedoch lieber des Gatten Schicksal teilen, sie blieb bei ihm während der ganzen Dauer der langwierigen Haft, unterstützte ihn mit ihrem Rat und erzog den Sohn im katholischen Glauben, was niemand wußte. Der junge Fürst, zum zweiten Mal sein Leben der Mutter schuldig, mußte natürlich die von ihr ihm eingeflößten Religionsgrundsätze lieben lernen. Bald darauf stürzte eine Revolution den Tyrannen Erik XIV., der Fürst Johann wurde auf den schwedischen Thron berufen und Sigismund zum König von Polen gewählt. Die Politik wurde in jener Zeit schon zu einer schwierigen Wissenschaft. Wir sahen, daß Batory in seinen Kampf mit Moskau fast alle europäischen Höfe hineinzog. Der Papst, der Kaiser, der türkische Sultan, die Könige von England, Schweden, Dänemark schickten ihre Gesandten oder Bevollmächtigten an ihn, um fortwährend die Ergebnisse dieses Krieges im Auge zu haben. Man versprach der einen oder anderen Partei Hilfsmittel, man mischte sich als Vermittler darein, überlegte frühzeitig die Artikel des Traktates. In einem solchen Zustand der Dinge war ein Mann von privater Herkunft, wenn auch noch so fähig und scharfsichtig, nicht im Stande, die Geheimnisse einer so verwickelten Wissenschaft zu erfassen, die sich auf eine lange Kabinetts- und Ministerialüberlieferung stützte. Das polnische Kabinett bestand nicht mehr; der Senat, Bewahrer der politischen Überlieferung, war schon zerstreut; König 860 Sigismund III. Wasa – Zygmunt III Waza (1566–1632).

556

Teil I

Stefan brachte seine eigene, gänzlich vollendete Politik mit sich; nach seinem Tod wiederholten einige der Vertrauten, er habe dieses und jenes gesagt; sie verstanden aber nicht, seine Gedanken mit denen, die zu dieser Zeit Europas Kabinette bewegten, zu vereinigen. Sigismund, am königlichen Hof erzogen, kannte genau die Bewegungen und Strebungen aller Kabinette und Völker. Zamoyski und etliche berühmte Männer seiner Zeit betrachteten die Landespolitik ausschließlich nur vom polnischen Standpunkt; Sigismund übersah sie von oben, königlich; Zamoyski wünschte den Frieden mit der Türkei, ungern mochte er sie angreifen, er wollte keinen Krieg mit Moskau, etwa nur in der äußersten Not; ebenso wollte er ein Bündnis mit Schweden, wußte jedoch nicht, was damals in den europäischen Kabinetten vorging, er begriff nicht die ganze Bedeutung des Hugenotten-Kampfes in Frankreich. Letzteres Land, durch einen Bürgerkrieg zerrissen, mußte, wie man vorhersah, der Macht Heinrichs IV.861 anheimfallen, welcher an der Spitze der Protestanten stand. Heinrich IV. verband sich mit England; dies strebte stets nach der Freundschaft Moskaus; Moskau hatte die protestantische Partei in Schweden für sich; auf diese Weise umschlang der Protestantismus das Slaventum rings umher; Frankreich hielt unter seinem Einfluß die ottomanische Pforte fest; der französische König konnte, nachdem er Protestant geworden, von der einen Seite Schweden und Moskau, von der andern Seite die Türkei auf Polen werfen, um es zu erdrücken und hierdurch das österreichische Haus zu schwächen, was der Hauptzweck des französischen Kabinetts war. Überdies hätte das protestantische Frankreich den brandenburgischen Kurfürsten, der sich an Polens Seite befand, in seine Politik hineingezogen. Man sah treffend voraus, und der König Sigismund wußte es genau, daß dies alles mit einem Kampf auf Leben und Tod enden mußte, welcher auch einige Jahre später entbrannte. Jeder bemühte sich um Bundesgenossen. Auf welche Bündnisse für Polen empfahl Zamoyski? Keine. Weder er noch alle diejenigen, die sich dem König widersetzten, wußten die volkstümliche Politik auf etwas zu stützen. Der König aber, nachdem er einmal beschlossen hatte, sich auf katholischer Seite zu halten, weil die Mehrheit des Volkes katholisch war, wollte zuerst seine Gewalt in Schweden befestigen, indem er dort die protestantische Partei und die seinem Haus feindlichen Fürsten stürzte; er wollte mit Hilfe Spaniens eine Flotte für Polen ausrüsten, was England und Schweden stets verhinderten; er wollte den Brandenburger862 gänzlich aufheben, endlich im Bündnis mit Österreich die Türken schlagen und die Moskoviter zurückdrängen. Die Zeit hat die Weisheit dieser Politik erwiesen. 861 Heinrich IV. –Henri Quatre (1553–1610). 862 Kurfürst Johann Sigismund von Brandenburg (1572–1619).

39. Vorlesung (22. Juni 1841)

557

Heinrich IV. trat, nachdem er katholisch geworden, in Einverständnis mit dem Papst und dem polnischen König. Man erfaßte damals einen ungeheuren Gedanken, den letzten wahrhaft christlichen, welcher Europa einen dauernden Frieden, auf Billigkeit und Recht gegründet, vergewissern sollte. Einer der Hauptpunkte dieses übrigens wohlbekannten Planes863 war, die Türken aus Europa zu vertreiben, das moskovitische Großfürstentum zu bändigen und es zu zwingen, in Asien für sich einen Zweck zu suchen. Dieser Artikel, beschlossen zwischen dem Papst, dem französischen König, dem Kaiser, der englischen Königin und dem polnischen König, war die Frucht der weisen und tiefen Politik Sigismunds III. Jedoch der Tod Heinrichs IV. vernichtete diesen schönen Plan und vereitelte die Berechnungen des polnischen Königs. Andererseits wartete die protestantische Partei in Schweden, wohin er sich den väterlichen Thron zu übernehmen begeben hatte, nur seine Rückreise nach Polen ab. Kaum segelte er fort, als auch die in seinem Namen regierenden Behörden gestürzt und Karl, der Herzog von Södermanland, zum König864 ausgerufen wurde. Auf diese Weise stand Polen ein Krieg mit Schweden bevor. Zum Unglück sonderte Polen schon damals das Interesse der Krone von dem des Reichs. Die Stände versagten dem König die Hilfsmittel, um seine Ansprüche auf den schwedischen Thron geltend zu machen, als ginge diese Sache Polen ganz und gar nichts an. Man wollte durchaus Frieden mit Schweden, wenngleich zu erwarten stand, daß Schweden, beherrscht von der protestantischen Partei, welche später in Deutschland landend den furchtbaren Dreißigjährigen Krieg begann, der Republik den ruhigen Besitz Livlands nicht gönnen würde. In derselben Zeit begannen die Zwiste mit den Tataren und den Türken, und bald kam es auch zum Kriege mit Moskau, wo, nach dem Tod Fedors I., des letzten Großfürsten aus dem Hause der Rjuriken, jener berühmte Boris Godunov, der schon zu Fedors Lebzeiten das Reich regierte, den Thron bestieg. Godunovs Regierung bildet den Übergang aus der alten zur neuen Ordnung der Dinge in diesem Land, er eröffnet die Periode der Wirren (smuta), aus welcher Moskau erst in das russische Kaiserreich umgewandelt, hervorgehen sollte. Schon haben wir gesagt, wie schwer es sei, die Geschichte dieser Epoche richtig aufzufassen, aus dem Grund, weil die russischen Schriftsteller öfters alles nach dem dynastischen Interesse bearbeitend, die Schilderungen der Zeitgenossen verfälschen, außer den amtlichen Geschichtschreiber aber niemand zu den Regierungsakten Zutritt hat. Dies nun dahingestellt, so scheint es 863 Vgl. dazu Moriz Ritter: Die Memoiren Sullys und der große Plan Heinrichs IV. München 1870. 864 Karl IX. Wasa (1550–1611), König von Schweden von 1604 bis 1611.

558

Teil I

gewiß, daß vor dem Tod des wohlwollenden Fürsten Fedor sein Liebling und Schwager Godunov schon an den Thron dachte. Es gab noch einen minderjährigen Sohn aus dem Herrschergeschlecht der Rjuriken, Dmitrij, der Sohn Ivan des Schrecklichen, von seiner siebenten Gattin Maria Fedorovna Nagoj. Dieses Kind wurde im Stillen in Uglič von seiner Mutter erzogen; es endete das achte Jahr, als plötzlich ein bewaffneter Haufe das Haus überfiel, und das Kind den Händen der Wärterin entreißend vor ihren Augen ermordete. Die Einwohner von Uglič umringten die Mörder und schlugen fast alle tot. Der Großfürst Fedor, auf die Nachricht von einem solchen Tod seines Bruders im Innersten bewegt, befahl eine Untersuchung anzustellen; an den Ort des vollbrachten Verbrechens wurde aus Moskva eine Kommission, zusammengesetzt aus den höchsten geistlichen und weltlichen Beamten, geschickt. Unmöglich ist es jedoch, hier der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Die ganze Auseinandersetzung dieser Sache, unterzeichnet vom Metropoliten, von den Bischöfen, von den Senatoren und Bojaren befindet sich im Reichsarchiv zu Moskau. Dieser gemäß bezeugen die Bekenntnisse der Einwohner von Uglič, der Mutter und Wärterin des Erschlagenen einstimmig, daß Dmitrij sich den Tod selbst gegeben, indem er in einem epileptischen Anfall in ein Messer gefallen war. Man kann keine Untersuchung verlangen, die förmlicher und genauer geführt wäre; dessenungeachtet beweisen doch alle Geschichtsschreiber, daß selbige falsch gewesen; daß der Metropolite, die Senatoren, die beim Vorfall gegenwärtigen Einwohner und selbst die Mutter gegen die Wahrheit gezeugt haben, um Godunov nicht zu beleidigen. Wie soll man nun das Rätsel lösen? In der Geschichte gibt es Beispiele großer Untaten, öfters kann man auch die Sache ganz anders dargestellt sehen, als sie in der Tat gewesen; man trifft auf Mordtaten, gerechtfertigt mit dem Schein der politischen Notwendigkeit; daß aber eine offenkundige, handgreifliche und augenscheinliche Tatsache so verschieden dargestellt wird, daß man erweisen konnte, das Kind habe sich selbst getötet, obgleich die Mörder gesehen wurden, die es umbrachten, dies ist unmöglich zu begreifen. Diese Untersuchung beweist, daß man in dem Erforschen einer geschichtlichen Wahrheit sich auf die russischen amtlichen Urkunden durchaus nicht verlassen darf; denn konnten die ersten Würdenträger des Reichs und der Kirche so unverschämt lügen, wie soll man nun erst die Kanzleiakten der Kammern und der Provinzialgubernateure beurteilen?865

865 Vgl. Ivan Stepannovič Beljaev: Sledstevnnoe delo o ubienii Dmitrija Careviča v Ugliče 15 maja 1591. Moskva 1905 [http://www.runivers.ru]; Danuta Czerska: Widmo z Uglicza. In: Pamiętnik Słowiański, 32 (1982), S. 3–35.

39. Vorlesung (22. Juni 1841)

559

Da nun Dmitrij auf diese Weise umgekommen und Fedor kinderlos verstarb, wurde Godunov als der Verwandte des verstorbenen Zaren auf den Thron erhoben. Diese Wahl Godunovs verdient Aufmerksamkeit aus dem Grund, weil sich hier der Charakter des moskovitischen Volkes deutlich ausprägt. Nach dem Erlöschen des Hauses der Rjuriken gewann auch Moskau sein früheres Recht, sich den Herrscher zu wählen, wieder. Man rief die Beamten, die Geistlichen, die Bürger und das Volk zur Abstimmung zusammen. Die Bojaren wollten zuerst die Bürger und das Volk zum Gehorsam gegen die Bojaren-Duma verpflichten; das versammelte Volk jedoch begann insgesamt zu schreien: „не знаем ни Князей, ни Бояр; знаем только Царицу, ей мы дали присягу, и другой не дадим никому […]“. Печатник советовался с Вельможами, снова вышел к гражданам и сказал, что Царица, оставив свет, уже не занимается делами Царства, и что народ должен присягнуть Боярам, если не хочет видеть государственного разрушения. Единогласным ответом было: „и так да Царствует брат ее!“ Никто не дерзнул противоречить, ни безмолвствовать; все восклицали: „да здравствует отец наш, Борис Феодорович!“866 „wir kennen weder Fürsten noch Bojaren; wir kennen nur die Zarin, ihr haben wir den Eid geschworen, und einen zweiten legen wir nicht ab […]“. Der Hofkanzler beratschlagte mit den Fürsten, ging erneut zu den Bürgern und sagte, die Zarin habe sich von dieser Welt verabschiedet und werde sich mit den Angelegenheiten des Reichs nicht mehr befassen, und das Volk müsse auf die Bojaren den Eid schwören, wenn es einen Zerfall des Staates nicht sehen wolle. Die einstimmige Antwort war: „Dann möge ihr Bruder herrschen!“ Keiner wagte zu widersprechen oder zu schweigen; alle riefen aus: „Es lebe unser Vater, Boris Fedorovič!“

Umsonst bemühen sich die russischen Geschichtsschreiber zu überzeugen, daß Godunov durch verschiedene Vorkehrungen die Stimmen des Volkes für sich vorbereitet habe. Wahrscheinlicher ist es, daß das Volk einzig und allein seinem inneren Gefühl folgte. Erinnern wir uns hier, wie die Mongolen, sobald sie sich irgendwo zu zweien oder dreien finden, sogleich durch Instinkt einen unter sich als Haupt anerkennen, und sich ihm unbeschränkt ergeben. Dieser mongolische Geist war schon im moskovitischem Volk, und letzteres bewarb sich wunderbar logisch um einen Selbstherrscher über sich. Mit ähnlicher Konsequenz klammerte sich die Anarchie in Polen an jede, der bestehenden Regierung verderbliche Meinung an. In solcher Reihenfolge wurde Godunov aus einem einfachen Bojaren moskovitischer Zar. Er scheidet die Dynastie der Rjuriks von der Dynastie der Romanovs, wie Batory die Dynastie der Jagellonen von der Dynastie der Wasen. 866 Karamzin, op. cit., Bd. 10, Kap. III, S. 129.

560

Teil I

Der König Batory, die Überlieferung des Hauses der Jagellonen festhaltend, unterschied sich jedoch von seinen Vorgängern darin, daß er Länder erobern, bezwingen wollte, während die Jagellonen sie nur vereinten. Und wohl war dies etwas Neues: der Gedanke einer sogenannten Eroberung widersprach den grundsätzlichen Vorstellungen des polnischen Volkstums. Zar Godunov führte desgleichen eine Neuerung ein, er rief die europäische Zivilisation der moskovitischen Regierung zu Hilfe. Schon seine Vorgänger, Ivan III. Vasil’evič und Ivan der Schreckliche, umringten sich mit Ausländern, sie hatten an ihrem Hof Deutsche, Franzosen und Engländer, aber Godunov wollte aus dem Fremdentum für sich eine politische Kraft herausziehen; er verlangte von Ausländern ihr Wissen, oder eigentlich dasjenige, was am meisten Vorteilhaftes die Wissenschaft liefert, nämlich die Kraft des Überwältigens, der Unterjochung. Ein russischer Geschichtsschreiber charakterisirt diese große Veränderung mit folgenden Worten: Rußland hört auf blutrünstig zu sein, Rußland frißt nicht mehr mongolisch auf. Bis dahin war es überfallend, von nun an wird es erobernd; bis dahin wandte es die tierischen Kräfte an, von jetzt gründet es seine Macht namentlich auf Durchtriebenheit.867

Dem amtlichen Geschichtsschreiber zufolge veränderte sich die innere Politik ungemein, die äußere ging aber ferner ihren alten Gang. В делах внешней политики Российской ничто не переменилось: ни дух ее, ни виды. Мы везде хотели мира или приобретений без войны, готовясь единственно к оборонительной; не верили доброжелательству тех, коих польза была несовместна с нашею, и не упускали случая вредить им без явного нарушения договоров.868 Nichts hat sich in den Angelegenheiten der russischen Außenpolitik geändert: weder ihr Geist, noch die Standpunkte. Immer bemühten wir uns um Frieden oder um Erwerbnisse ohne Krieg, indem wir uns nur abwehrend verhielten; [Nicht anders verfährt das heutige russische Kabinett. Anmerkung A. Mickiewicz]; wir trauten nie der Freundschaft der Bundesgenossen, deren Absichten mit unseren nicht übereinstimmten; und wir ließen keine Gelegenheit aus, ihnen zu schaden, ohne jedoch offenbar die Vereinbarungen zu verletzen.

Hindernisse aller Art, welche Sigismund III. bei Anwendung seiner äußeren Politik antraf, verbanden sich mit den Schwierigkeiten, welche er im Land überwinden mußte, namentlich mit dem Religionskampf. Die größte Hilfe 867 Quelle nicht ermittelt. 868 Karamzin, op. cit., Bd. 11, Kap. I, S. 18.

39. Vorlesung (22. Juni 1841)

561

fand er hierin in dem berühmten Priester Piotr Skarga. Sowie König Sigismund während seiner ganzen langen Regierung stets der protestantischen Partei vermöge der Politik und zuweilen auch mit dem Schwert Niederlagen beibrachte, so vernichtete sie Skarga durchs Wort. Weil von Skarga länger die Rede sein muß, so lassen wir sie bis zur folgenden Vorlesung.

40. Vorlesung (25. Juni 1841) Erwähnung des Epos von Ivan Gundulić – Piotr Skarga. Seine Reden und Predigten – Charakteristik der „Sejm-Predigten“ (Kazania sejmowe) – Die Begriffe Vaterland und Polen nach Skarga – Skargas politische und prophetische Reden – Charakter und Größe seiner Redekunst.

Wir wollten die diesjährigen Vorträge mit der Analyse des Epos869 des ragusanischen Dichters Ivan Gundulić beenden, jedoch die Zeit wird uns dazu nicht mehr ausreichen. Wir bedauern dies sehr, denn jene Dichtung würde für den Schluß der Epoche, von der wir eben reden, so passen, als wäre sie gerade dafür geschrieben. Er preist das Jagellonische Haus870 und den letzten der siegbekränzten polnischen Könige, Władysław IV. Unmöglich ist es jedoch, in zwei oder drei Stunden eine Vorstellung von der großen dichterischen Schöpfung zu geben, welche zwanzig Gesänge enthält, besonders aber darauf zu merken, was in selbiger das Originellste ist, auf seine Lyrik; es ist dies nämlich ein lyrisches Epos, und wunderbar, es hat große Ähnlichkeit mit einigen frischen gegenwärtigen Schöpfungen der polnischen Lyriker. Um diese Ähnlichkeit zu erklären, müßte man die ukrainische, die kosakische Dichtung näher kennen lernen; man müßte auch etwas über den Helden des Poems, Władysław IV., sagen, welcher sich polnischer König, litauischer Großfürst, preußischer Fürst, schwedischer König und moskovitischer Großfürst schrieb;871 schon diese Titel zeigen, welche Menge neuer Begebenheiten sich hier darbieten. Es liegt aber noch das sehr mannigfaltige und einigermaßen verworrene Bild 869 Ivan Gundulić (1589–1638); das Epos „Osman“ entstand zwischen 1622–1636; unvollendet; bis ins 19. Jahrhundert nur in handschriftlicher Fassung zugänglich. Edtio princeps: Dubrovnik 1826, die Mickiewicz vorlag; die fehlenden Gesänge (XIV und XV) dichtete Ivan Mažuranić (1814–1890) nach (Zagreb 1844). Neu Ausgabe – vgl. Ivan Gundulić: „Osman“. Hrsg. Milan Ratković. Zagreb 1964 (= Pet stoljeća hrvatske književnosti. Knjiga  13); vgl. auch – Pavao Pavličić: Studije o „Osmanu“. Zagreb 1996; Reinhard Lauer: Der Sturz des Mächtigen. Zur Bedeutung und Funktion des Proömiums in Ivan Gundulićs „Osman“. In: Der Sturz des Mächtigen. Zu Struktur, Funktion und Geschichte eines literarischen Motivs. Hrsg. Theodor Wolpers. Göttingen 2000, S. 263–277. 870 Diese Einschätzung, die schon in der 38. Vorlesung (Teil 1) steht, ist falsch, weil das Werk dem König Władysław IV. Wasa gewidmet wurde. Die Jagellonen werden im 3. Gesang lediglich erwähnt: „U njih svačkas rastu u slavi / svi poljački kralji izbrani: / Jadželoni, Vladislavi, / Kažimiri i Šišmani.“ – Ivan Gundulić: „Osman“. Hrsg. Milan Ratković, op. cit., S. 33 (Verse 104–108). 871 „Vladislaus Quartus Dei gratia rex Poloniae, magnus dux Lithuaniae, Russiae, Prussiae, Masoviae, Samogitiae, Livoniaeque, Smolenscie, Severiae, Czernichoviaeque necnon Suecorum, Gothorum Vandalorumque haereditarius rex, electus magnus dux Moschoviae.“

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_041

40. Vorlesung (25. Juni 1841)

563

der langen Regierung Sigismunds III. vor uns. In der Mitte dieser Regierung den geschichtlichen Faden verlassend, wenden wir uns an die Werke des Piotr Skarga872 oder vielmehr machen wir uns einen Begriff von ihm. Die Einzelheiten des Lebens dieses großen Mannes sind uns unbekannt geblieben, jedoch verlieren wir wenig hierdurch: Skarga stellt weder eine Partei noch eine Epoche vor, es spiegelt sich in ihm das ganze Land, das ganze Volk, mit seiner Vergangenheit, Gegenwart und sogar mit seiner Zukunft ab. Skargas Familie war Polen. Daraus, was wir oben von der Geschichte Polens, von den Ursachen seiner inneren Verwirrung gesagt, kann man sich schon erklären, was den Skarga in seiner politischen und religiösen Stellung bewegte. Weil er beschlossen hatte, die Sekten zu bekämpfen, die konservative Gewalt des Königs zu unterstützen, und – wenn es noch möglich wäre – die Republik in die Fugen, aus welchen sie herausgetreten, zurückzuführen, schrieb er dogmatische, geschichtliche Werke, Homilien und Predigten, eigentlich so genannt. Als dogmatischer Schriftsteller hat er unter den Theologen einen hohen Rang, er zeichnet sich durch tiefe Einsicht und Kenntnis der heiligen Schrift aus. Diese führt er nicht an, ist aber mit derselben durchdrungen, strömt über im Fluß der eigenen Gedanken; die aus seiner Feder geflossenen Zitate unterscheiden sich von seinem eignen Stil nur durch ein dunkleres und feierlicheres Farbenspiel. Er kannte das griechische und lateinische Paterikon, las alle polemischen Schriften, welche damals erschienen; was ihn jedoch besonders in literarischer Hinsicht empfiehlt, ist die ihm eigentümliche Darstellungsweise. Er befleißigt sich immer, die subtilsten Dogmen auf die populärste Art auszulegen. Dieses Streben bemerkten wir schon früher bei anderen polnischen Schriftstellern, namentlich bei Rej; Letzterer jedoch pflegt ziemlich flach zu sein, die früheren Chroniker schweifen zuweilen von der Sache ab; Skarga hingegen ist immer edel und klar. Die wichtigsten seiner dogmatischen Auseinandersetzungen sind die „Predigten über die sieben Sakramente“ („Kazania o siedmiu Sakramentach“)873, ausgezeichnet als Raisonnement, zuweilen auch als Muster des Stils. Erhabene Wahrheiten in der gewöhnlichen Umgangssprache darlegend, sucht er Ähnlichkeiten, Gleichnisse und Parabeln auf dem polnischen Boden, im alltäglichen Leben der Polen. Z.B. von der Taufe redend (aus diesen Predigten werden wir nur einige Abschnitte anführen, um zu zeigen, wie er sich gewöhnlich ausdrückt), vergleicht er dieses Sakrament mit einem Schiff, ohne welches man 872 Piotr Skarga (1536–1612). Vgl. Janusz Tazbir: Piotr Skarga. Szermierz kontrreformacji. Warszawa 1978; Kazimierz Panuś: Piotr Skarga. Kraków 2012. 873 Piotr Skarga: Kazania o siedmiu Sakramentach Kościoła Katolickiego. Kraków 1600.

564

Teil I

unmöglich den Abgrund zwischen uns und dem ewigen Leben durchmessen kann. Jako okręt na przewóz zamorski, bez którego nikt morza nie przepłynie, tak jest Chrzest Święty; ktoby go rzeczą samą nie miał abo pragnieniem.Taka jest i Pokuta, gdy kto po Chrzcie grzechem śmiertelnym upadnie. Wie das Schiff zur Überfahrt über das Meer, ohne welches niemand dasselbe durchqueren kann, so auch die heilige Taufe; wer sie in der Tat nicht besäße oder durch sein Verlangen dieselbe nicht herbeiführte! Eine solche ist auch die Buße, wenn jemand nach der Taufe in eine Todsünde verfiele.

Zugleich auch den Nutzen der Firmung (bierzmowanie) erklärend, fügt er hinzu, sie sei nicht nötig […] nie tyle żeby zbawienie było, ale żeby bezpiecznie było, jako kto konia ma na drogę, bezpieczniejszy jest do jachania tam, gdzie myśli, choć też pieszo chodzić może.874 nicht sowohl darum, daß die Erlösung stattfinde, sondern daß sie sicherlich erfolge; sowie wenn jemand ein Pferd zur Reise besitzt, er sicherer ist, an den gedachten Ort hinzukommen, wenngleich er auch zu Fuß gehen könnte.

In derselben Art die Wichtigkeit der übrigen Sakramente darstellend, beleuchtet er mit vorzüglicher Einfalt und Kraft das ganze System der katholischen Religion. Als polemischer Schriftsteller gab er Werke von nicht geringerer Bedeutung heraus. Einerseits die Andersglaubenden, welche gegen die Kirche aufstanden, überführend, zeigte er von der anderen Seite der Regierung, welche Bahn sie einhalten müsse. Er stellte den Polen vor, daß die innere Lebensfrage des Reiches sich auf die Länder der alten Rus’ bezöge, daß es kein anderes Mittel gäbe, diese Gebiete unwiderruflich mit der Republik zu vereinen, als nur durch die Einheit der Kirche. Zur Erreichung dieses Ziels riet er durchaus, mehr Schutz dem gemeinen Volk zu erteilen, seine materielle Lage zu verbessern und es endlich dem wahren Glauben zuzuführen, nicht mit Hilfe von Gewaltmitteln, sondern durch das Aposteltum. Diese großen Wahrheiten sind in dem bekannten Werke „Über die Einheit der Kirche“ („O jedności Kościoła“)875 mit enthalten.

874 Piotr Skarga: Kazania o siedmiu Sakramentach, op. cit., S. 5. 875 Piotr Skarga: O jedności Kościoła Bożego pod jednym Pasterzem i o greckim od tej jedności odstąpieniu. Wilno 1577.

40. Vorlesung (25. Juni 1841)

565

Am höchsten jedoch stehen unter den Arbeiten Skargas und erwarben ihm den meisten Ruhm seine politischen Reden, oder die „Sejm-Predigten“ („Kazania sejmowe“)876. Diese Gattung schuf er selbst. Bei ungewöhnlicher Befähigung konnte er in den dogmatischen Schriften und in den Homilien nicht seine ganze Macht entfalten, erst in den Sejm-Predigten erhob sich sein Genius bis zum Gipfel. Hier offenbart er die Begriffe, welche er von der Sendung Polens hatte, zeichnet die Pflichten der Bürger gegen die Republik, legt das von ihm für das beste erkannte politische System dar, sagt endlich die Zukunft Polens vorher. Hier ist er Redner und Staatsmann, gesalbter Priester und Prophet. Vor allem zeichnen sich seine Werke durch Patriotismus aus; Skarga stellt uns das Muster eines gesalbten Geistlichen und Patrioten dar. Dieses Merkmal leuchtet bei ihm schon in seinen polemischen Schriften durch, die Vaterlandsliebe verlieh ihm Kräfte, er bewies stets den Andersglaubenden, daß sie das Vaterland zu Grunde richteten, und um mit den vielen Sekten, die damals Polen zerrissen, zu kämpfen, war kein gewöhnlicher Mut, keine gewöhnliche Kraft erforderlich. Die Apostel, die Kirchenväter, der Heilige Augustin877, der Heilige Clemens von Alexandria878, alle früheren Philosophen, welche die katholische Lehre auslegten und mit den Ungläubigen kämpften, waren immer von ihrer, wenngleich nicht zahlreichen, doch geschlossenen Herde umringt. Skarga hingegen befand sich in Gegenwart eines gegen ihre Feldherrn aufrührerischen Kriegsheeres, er mußte sich die Zuhörer gewinnen. Die Sektierer verschrien ihn als einen Inquisitor, königlichen Schmeichler, Ränkeschmieder, Parteigänger der absoluten Gewalt. Verleumdet, verfolgt, zuweilen öffentlich beschimpft, sah er, auf die Kanzel tretend, Feinde vor sich, und begegnete, wenn er von derselben herunterstieg, gewaltsamen Angreifern. Man sagt, er habe einst, als er aus der Kirche trat, eine Ohrfeige bekommen; ein anderes Mal entging er durch ein Wunder dem Tod. Die auflauernden Sendlinge eines Herren erwarteten ihn auf dem Weg, wo er vorbeigehen sollte, um ihn zu ergreifen und zu ertränken; plötzlich kam ihm der Gedanke ein, das Haus dieses Herren zu besuchen, und hierdurch rettete er sich. Der Herr, der ihm aufpassen ließ, verwirrt durch sein Erscheinen, nahm ihn gastfrei auf und sie schieden freundschaftlich voneinander. 876 Zuerst in – Piotr Skarga: Kazania na niedziele i święta [..] z przydaniem kilku kazań sjemowych […]. Kraków 1597. 877 Augustinus von Hippo (354–430); vgl. Augustin-Handbuch. Hrsg. Volker Hennig Drecoll. Tübingen 2014; ferner das „Corpus Augustinianum Gissense a Cornelio Mayer editum“ unter [www.cag-online.net] – kostenpflichtig. 878 Clemens von Alexandria (um 150–215); vgl. Rüdiger Feulner: Clemens von Alexandrien. Sein Leben, Werk und philosophisch-theologisches Denken. Frankfurt am Main-BerlinBern u.a., 2006.

566

Teil I

Dieser Mann, den Verleumdungen und Gefahren ausgesetzt, mußte, wenn er seine Stimme von der Kanzel erhob, statt in der Stimmung seiner Zuhörer die ihm so nötige Kraft zu schöpfen, dieselbe aus sich selber hervorbringen, er mußte mit dem in der Tiefe seines Geistes entflammten Feuer ein kaltes und von Vorurteilen eingenommenes Publikum erwärmen. Auf die von Rednern so häufig gebrauchten Abwege ließ er sich niemals ein, bemühte sich nicht, die Zuhörer für sich einzunehmen, schmeichelte ihnen nie, sondern am häufigsten, sobald er den Senatoren und Landboten in ernster, würdevoller Rede ihre Pflichten vorgehalten, begann er nach kurzer Erhebung im Gebet zu Gott die privaten und öffentlichen Vergehen zu rügen; Personen bezeichnete er jedoch nie. Selbst so häufig mit Schmähungen überschüttet, sprach er gegen niemanden ein böses Wort, er tadelte und bekämpfte bloß die falschen Lehren und die allgemeinen Vergehen. Hier wird es nötig darzutun, was Skargas Patriotismus gewesen, welchen Begriff vom Vaterland er gehabt, wie dieser sich in seinen Werken zeigt. Der Keim dieses Begriffs war schon bemerklich in der fabelhaften Geschichte Polens, in den ältesten Angaben der Chroniker, in den Schriften des Wincenty Kadłubek, welcher sagt: die Liebe des Vaterlandes sei mächtiger denn der Tod879; in der von dem Biographen des Heiligen Stanisław erdichteten Erzählung880 von jener Krone, welche Polen durch ein Wunder abgenommen, ihm auch wiedergegeben werden soll; endlich in den „Annales“881 des Jan Długosz; erst Skarga aber spricht ihn klar aus, entfaltet und stellt ihn in seinen Worten völlig vor Augen. Skarga liebt das Vaterland nicht darum, weil es sein heimatlicher Boden, sondern weil es, wie er sagt, eine göttliche Ordnung und Beschluß ist. Gott erschafft die Völker, er gibt ihnen verschiedene Sendungen und diesen gemäß haben sie ihnen eigentümliche Pflichten. Mit einem Wort, die Völker sind bei 879 Die Stelle lautet: „Quod amore patrie suscipitur, amor est non furor; virtus est, non temeritas: fortis enim es ut mors dileccio, que quanto est meticulsior, tanto audacior.“ – In: Wincenty Kadłubek: Chronica Polonorum. Hrsg. Alexander Przezdziecki. Cracoviae 1862, S. 84. 880 Wincenty z Kielczy (Vincentius de Kielcza): Vita sancti Stanislai episcopi cracoviensis. Entstanden zwischen (etwa) 1257–1261, liegt in zwei Redaktionen vor (Vita minor und Vita maior). Ausgabe: Vitae et miracula sanctorum Poloniae patronorum Adalbert et Stanislai. Lwów 1883. (Teil III, Kap. 27 – Episode über die goldene Krone, die der Papst, nachdem ihm in der Nacht der Engel Gottes erschien, veranlaßte, daß sie dem ungarischen Fürsten Stefan Batory übergeben wird.). 881 Ioannis Dlugossi Annales seu cronicae incliti regni Poloniae. Liber septimus, liber octavus. Varsaviae 1975, S. 285. Dort über das Wiederauftauchen der seit Bolesław dem Kühnen (Bolesław Śmiały) verlorenen polnischen Krone bei der Krönung von Przemysław II. im Jahre 1295.

40. Vorlesung (25. Juni 1841)

567

Skarga wie besondere Schöpfungen, wie Tiere von besonderen Gattungen. Sie beginnen in der Liebe Gottes und es führt sie die Weisheit. Diese Weisheit ist jedoch vielfach. Es gibt eine teuflische, die ihren Scharfsinn zu Verrat und Schaden des Menschengeschlechtes verwendet durch Betrug und Lüge und Verbreitung des Lasters oder der Sünde, dafür Erdenruhm und Wohlhabenheit gewinnend; diese führt „die Höllenbuben“, die der Hölle verpfändeten Völker. Die zweite ist die irdische Weisheit, deren ganze „Vernunft im Erlangen, Festhalten und Vermehren der Güter dieser Welt besteht“ („rozum tylo na dostawanie i zatrzymanie, i rozmnożenie dóbr świeckich doczesnych.“); […] „Eine solche Weisheit besitzen die heutigen Politiker“ – fügt Skarga hinzu – „welche die Herren und Könige belehren, bloß für den Frieden und das irdische Glück ihrer Untertanen zu sorgen, um Sachen der Erlösung sich nicht zu bekümmern.“ (Taką mądrość mają politycy dzisiejszy, którzy nauczają panów i królów, aby o religię, dotrzymanie, i obronę ś. wiary katolickiej, i o ludzkie zbawienie nie dbali i dla niego nic nie czynili, tylo doczesnego pokoju i dobrego mnienia poddanych swoich pilnując, zbawiennych potrzeb ich zaniechali.“)882. Es gibt endlich eine himmlische Weisheit, die die Geheimnisse der Vorsehung durchdringt; man kann sie nicht anders als durch ein heiliges Leben erwerben. Mit dieser waren ausgestattet Joseph, Moses, die Makkabäer usw. Solche Männer erkennen die einem Volke von Gott vorgezeichneten Weg und sind berufen, ihr Volk auf dieselben zu führen. Dies sind die Begriffe Skargas. In der ganzen Geschichte sieht er nur zwei Völker, welche seinem hohen Begriff vom Vaterland entsprechen, das auserwählte Volk Israel und das polnische Volk. Als einen besonderen Beweis des Segens über Polen betrachtet er es zuerst, daß die Vorsehung es mit einer langen Reihe von Königen beschenkt hat, unter denen es keinen einzigen Tyrannen gab, und daß es sogar Bolesław dem Kühnen, dem einzigen Mörder unter ihnen, vergönnt war, vor dem Tod die Untat zu büßen; zweitens daß Polen, das letzte christliche Reich, gleichsam wie eine Vormauer für die Aufklärung des Nordens dasteht; daß es endlich eine Freiheit hat, welche ganz und gar aus einer solchen Konstitution entfließt, wie sie im menschlichen Organismus vorhanden ist, wo das Herz und der Kopf keine despotische Gewalt über die Glieder besitzen883, sondern im Körper dasjenige sind, was die Religion und die königliche Regierung in der Republik. Diese Freiheit nennt er auch deshalb die goldene Freiheit (złota wolność), den Ausdruck gebrauchend, welchen man in seiner geheimnisvollen Bedeutung verstehen muß. Das Gold bedeutete wie 882 Piotr Skarga: Kazania sejmowe. Hrsg. Janusz Tazbir. 3. Auflage. Kraków 1984 (= Biblioteka Narodowa: Seria 1; 70), S. 7–8. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe zitiert. 883 Vgl. Neues Testament, 1. Kor. 12, vor allem 24.

568

Teil I

bekannt in den mittleren Jahrhunderten häufig die Vollkommenheit, das reinste Ergebnis; den Alchimisten zufolge war es das konzentriete Licht. Die Adepten der geheimen Wissenschaften suchten nach dem Gold, das ewiges Leben und Gesundheit geben sollte. In dieser Bedeutung wurde auch die gesetzgebende Bulle des deutschen Kaiserreichs die Goldene Bulle884 genannt; in dieser Bedeutung nannte auch Skarga und die späteren Schriftsteller die polnische Freiheit eine goldene Freiheit, d.h. die vollständigste, welche einem jeden Bürger die ganze Freiheit des Wirkens sowie die ganze Verantwortlichkeit des Mißbrauchs derselben ließ. Skarga liebte und schonte Polen, wie das neue Jerusalem, welchem Gott große Verheißungen gegeben. Ein solches Polen aber, wie er es begriff, war nur in seinem Gedanken; er sonderte es sogar von den Menschen ab. Die Menschen verraten seiner Meinung nach dieses von der Vorsehung aufgebaute Vaterland; sie werden ihrer Sendung untreu. Die Generation, zu der er sprach, sah er für verbrecherisch an, für wandelnd auf einer irrigen Bahn zum furchtbaren Unglück. Stellt sich ihm daher einmal das Bild von dem, durch die Tugenden der Vorfahren und Schutzpatrone Polens verwirklichten Vaterland Gottes auf Erden vor Augen, so erhebt er die Stimme des Segens; sieht er dagegen die Bosheiten und Verbrechen der Zeitgenossen an, so droht er und verwünscht. Hier einige Abschnitte aus der Einleitung zu einer seiner Predigten. In seinen anderen Predigten finden sich bei weitem schönere und beredtere Stellen; wir führen jedoch diese an, weil er hier gerade von der Vaterlandsliebe spricht. Im Angesicht der im Sejm versammelten Senatoren und Landboten ließ er sich folgendermaßen vernehmen: Żaden z was, Przezacni Panowie, nie jest tak prosty, aby nie baczył ciężkiej i wielkiej niemocy tego naszego Królestwa i wnętrznego a domowego jego zachwiania; abo żeby nie uczuł mocnego nieprzyjaciela, który na głowy nasze następuje i rozbojem straszliwym nam grozi. Byście domowe niemocy tego królestwa zleczyli, łacniejsza by obrona naleźć się mogła. Ale jako się chory bronić ma, który sam na nogach swoich nie stoi? Leczcież pierwej tę chorą swoje matkę, tę miłą ojczyznę i Rzeczpospolitą swoje. […] Słusznie też do was mówić tak nań, przezacni obmyślacze dobra pospolitego, wszytkiej tej Korony, to jest ludzi i dusz, ile ich jest w Polszcze, w Litwie, w Rusi, w Prusach, w Żmudzi, w Inflanciech, oczy do was obracają i ręce do was podnoszą, mówiąc jako i oni Egiptcyjanie do Józefa: „Zdrowie nasze w ręku waszych.“ [Gen 47, 25]. Wejźrzycie na nas, abyśmy nie ginęli i w domowej niesprawiedliwości, i w pogańskiej niewolej. Wyście ojcowie naszy i opiekunowie, a my sieroty i dzieciny wasze. Wyście jako matki i mamki nasze; jeśli nas odbieżycie, a źle o nas radzić będziecie, my poginiem i sani zginiecie. Wyście rozumy i głowy nasze; my jako proste dzieci na wasze się obmyślanie spuszczamy, i Pan Bóg wam myślić o 884 Vgl. die 24. Vorlesung (Teil I).

40. Vorlesung (25. Juni 1841)

569

nas rozkazał. Wyście jako góry, z których rzeki i zdroje wytryskają: a my jako pola, które się onymi rzekami polewają i chłodzą. „Góry – jako Psalm mówi – przyjmujcie ludkom pokój, i pagórki spuszczajcie im sprawiedliwość“ [Psal. 71, 3]. Was Pan Bóg podniósł na wysokie urzędy: nie dla was, abyście sami swoich pożytków pilnowali, ale dla ludu, który wam Pan Bóg powierzył, abyście nam sprawiedliwość i pokój, który od Pana Boga bierzecie, spuszczali. Toć są głosy i wołania ich do was: zmiłujcież się nad nimi! Miłujcie ojczyznę tę swoje i to Hieruzalem swoje, to jest Koronę tę i Rzeczposp[olitą], a mówcie tak z serca z Dawidem: „Jeśli cię zapomnię, ojczyzno miła moja i Hieruzalem moje, niech zapomnię prawice ręki swojej. Niech język mój przyschnie do ust moich, jeśli pomnieć na cię nie będę a jeśli cię na czele wszytkich pociech moich nie położę.“ [Psal. 136, 5–6].885 Keiner von euch, hochedle Herren, ist so einfältig, daß er die schwere und große Ohnmacht dieses unseres Königreiches und seine innere und äußere Erschütterung nicht bemerkte, oder daß er den mächtigen Feind nicht fühlte, der auf unsere Häupter tritt und mit gräßlichem Raube uns droht. Möchtet ihr die häuslichen Schwächen dieses unseres Königreichs heilen, dann würde sich schon leichter die Abwehr gegen den Ankömmling finden. Wie aber soll sich der Kranke, der nicht auf seinen Füßen sieht, wehren? Heilet daher doch erst diese eure kranke Mutter, dieses euer liebe Vaterland und diese eure Republik. Mit Recht erheben sich zu euch, hochedle Berater des gemeinen Wohles, die Augen dieser ganzen Krone, das heißt der Menschen, so viele nur irgend in Polen, Litauen, der Rus’, Preußen, Samland, Livland sich befinden, sprechen so, wie jene Ägypter zu Joseph: „Unser Leben ist in euren Händen.“ [Gene. 47, 25]. Blickt auf uns herab, auf daß wir nicht umkommen, sei es in häuslicher Ungerechtigkeit oder in heidnischer Gefangenschaft. Ihr seid unsere Väter und Vormünder, wir aber eure Kinder und Waisen. Ihr seid wie unsere Mütter und Ammen; verläßt ihr uns oder berät ihr uns schlecht, so kommen wir um und ihr selbst kommt um. Ihr seid unsere Vernunft und unsere Häupter. Wir, wie die unschuldigen Kinder, verlassen uns auf euren Rat; auch hat der Herr euch befohlen, an uns zu denken. Ihr seid wie die Berge, aus denen Quelle und Flüsse entspringen, wir aber wie die Fluren, die sich mit diesen Flüssen befeuchten und kühlen. „Berge – lautet der Psalm – empfanget der Völker Frieden, und Anhöhen, verleihet ihnen die Gerechtigkeit. Euch hat Gott zu hohen Ämtern erhoben, nicht euretwegen, auf daß ihr euren eignen Vorteil wahrnimmt, sondern für das Volk, das euch Gott anvertraut hat, auf daß ihr uns die Gerechtigkeit und den Frieden, den ihr von Gott empfängt, zuteilt.“ [Psal. 71, 3]. Dies sind ihre Stimmen und Rufe an euch: Erbarmet euch doch über sie. Liebt dies euer Vaterland und dies euer Jerusalem, nämlich diese Krone und die Republik, und sprecht aus dem Herzen mit David: „Sollte ich dich vergessen, dich mein liebes Vaterland und mein Jerusalem, so möge ich die Rechte meines Arms vergessen. Möge mir die Zunge am Gaumen verdorren, wenn

885 Piotr Skarga: Kazania sejmowe, op. cit., Kazanie wtóre, S. 36–40.

570

Teil I ich dich vergessen und dich nicht vor allen meinen Freuden obenan stellen sollte.“ [Psal. 136, 5–6].

Diejenigen, zu welchen Skarga dies sprach, unterbrachen ihn häufig mit dem Gemurre des Unwillens. Mit Ausnahme eines Einzigen waren alle Senatoren Protestanten. Während der Erhebung der Hostie beugte nur der König allein seine Kniee; sie aber, vor dem Altar hingestellt, statt die Stirn zu senken, schüttelten mit den Köpfen, um desto besser das Blinken der Brillanten an ihren Mützen sehen zu lassen. Der Kanzelredner bewarb sich gar nicht um ihre Geneigtheit. Auf diese stolzen Menschen, die mit einem Haufen von Hofleuten umringt waren, und von denen noch jeder hinter der Kirchtür seine bewaffneten Scharen hatte, herabblickend, sagte er ihnen geradezu: Zjeżdżacie się z wielkimi kupami jezdnych i pieszych, jako na wojnę, nie na radę, i utracacie to, czym by się niemałe wojsko uchować podobno mogło. Tak długi czas tu siedzicie, a mało sprawujecie. Wiele, wedle Proroka, siejecie, a mało użynacie [Hag.  1, 6]. Na pobory narzekacie, a tu więtsze utraty na tym takim zamieszaniu podejmujecie. […] Przeto czujcie o takiej pladze Boskiej nad wami, iż Pan Bóg dopuścił pomieszanie rad i rozumów waszych, iż widząc, nie widzicie, chcąc co czynić, nic nie czynicie. Co we dnie zrobicie, to się w nocy obali, i błogosławieństwa żadnego z waszych rad i sejmów nie masz.886 […] Kto tu na was, ze wszech stron królestwa zebrane, i na głowy ludu patrzy i wasze obyczaje i sprawy widzi, domyślać się może, jakie niezbożności i grzechy po wszystkiej Koronie panują!887 Ihr kommt herangefahren mit großen Haufen Reiterei und Fußvolk, als ginge es in den Krieg und nicht zur Beratung, und verschwendet das, womit sich sehr wahrscheinlich ein mächtiges Heer unterhalten ließe. So lange sitzt ihr schon hier und bringt doch wenig zu Stande. Nach dem Propheten gesprochen, säet ihr viel und erntet wenig [Haggai 1, 6]. Ihr klagt über die Steuern und unternehmt in solcher Verwirrung größere Unkosten. […] Fühlt daher eine solche Strafe über euch, daß der Herr die Verwirrung eurer Vernunft und eures Rats zugelassen hat, sodaß ihr sehend nicht seht, etwas tun wollend, doch nichts tut. Was ihr am Tag vollbringt, das stürzt in der Nacht ein, und es ist nicht der mindeste Segen von eurem Rat und eurem Sejm zu bemerken. […] Wer hier auf euch von allen Enden des Königreichs Versammelte, die Häupter des Volks, hinschaut, eure Sitten und Handlungen sieht, der kann die Gottlosigkeit und Sünde, wie sie über die ganze Krone hin herrschen, vermuten.

Hernach nahm er der Reihe nach alle innere Plagen der Republik vor: die bürgerlichen Uneinigkeiten und die Reibungen der Parteien, den Verfall jeglicher 886 Piotr Skarga: Kazania sejmowe, op. cit., Kazanie pierwsze, S. 14. 887 Piotr Skarga: Kazania sejmowe, op. cit., Kazanie ósme, S. 200.

40. Vorlesung (25. Juni 1841)

571

Zucht, die ausgelassene Willkür, die Schwächung der königlichen Gewalt, den ungeheuren Druck, unter dem das Volk stöhnte. Er rief aus: A ona krew abo pot żywych poddanych i kmiotków, który ustawicznie bez żadnego hamowania ciecze, jakie wszytkiemu królestwu karanie gotuje? Powiedacie sami, iż nie masz państwa, w którym by barziej poddani i oracze uciśnieni byli pod tak absolutum dominium, którego nad nimi szlachta bez żadnej prawnej przeszkody używa. I sami widzim nie tyło ziemiańskich, ale i królewskich kmiotków wielkie opresyje, z których żaden ich wybawić i poratować nie może. Rozgniewany ziemianin abo starosta królewski nie tylo złupi wszytko, co ubogi ma, ale i zabije, kiedy chce i jako chce, a o to i słowa złego nie ucierpi. Tak to królestwo poddane robaczki nędzne, z których wszyscy żyjem, opatrzyło. Przetoż P[an] Bóg grozi u Izajasza [3, 14–15]: „Wyście wypaśli winnice moje, i łupiestwa ubogich w domu waszym. Czemu tak kruszycie lud mój i twarzy ubogich moich mielecie?“ Jako ziarna pod młyńskim kamieniem, tak ci kmiotkowie pod pany swymi. […].888 Czemuż w tej niewoli stękają? Czemu ich nie jako niewolników używać nie mamy? Na twej rolej siedzi, a źle-ć się zachowa – spędź go ze swej rolej, a wrodzonej i chrześcijańskiej wolności mu nie bierz i nad jego zdrowiem i żywotem panem się najwyższym sam bez sędziego nie czyń. Starzy chrześcijanie, którzy za pogaństwa niewolniki kupne mieli, wszytkim wolności dawali jako braciej w Chrystusie, gdy się świętym chrztem z niewolej diabelskiej wyzwalali. A my wierne i święte chrześcijany, Polaki tegoż narodu, którzy nigdy niewolnikami nie byli, bez żadnego prawa mocą zniewalamy. I jako okupione bydło, gdy dla swej nędze uciekać muszą, pożywamy; i gdy żywności swej indzie ubodzy i znędzeni szukają, okup na nich jako Turcy na więźnie wyciągamy, czego we wszytkim chrześcijaństwie nie słychać. Acz wiem, iż tego nie wszyscy u nas czynią, ale według złego i dzikiego jakiegoś a niesprawiedliwego prawa czynić na swoje potępienie, uchowaj Boże, mogą. Jakoż się z takim prawem wszytkiego na świecie chrześcijanstwa nie wstydzić? Jako się o taką tyrańską krzywdę na oczy Boskie ukazać? Jako się nie bać, aby nad nami na pomstę od Boga poganie takiej mocy i absolutum dominium nie używali?889 Jenes Blut aber und der Schweiß der lebenden Untertanen und Landleute, die ohne Beschränkung fließen, welche Strafe bereiten sie dem ganzen Königreiche? Ihr sagt ja selbst, daß es keinen Staat gibt, in welchem die Untertanen und Pflüger mehr bedrückt wären, als unter dem absolutum dominium, welches der Adel über sie ohne irgend ein gesetzliches Einschreiten genießt. Und wir sehen ja selbst nicht nur die großen Bedrückungen der landbürgerlichen, sondern auch die der königlichen Landleute, aus denen sie niemand erlösen noch erretten kann. Der erzürnte Landbürger oder der königliche 888 Piotr Skarga: Kazania sejmowe, op. cit., Kazanie ósme, S. 195. 889 Die Textpassage ab „Czemuż w tej niewoli stękają?“ stammt aus der Predigt von P. Skarga: Pokłon Panu Bogu Zastępów za zwycięstwo inflantskie na Carolusem, książęciem sudermańskim. Kraków 1605, die er anlässlich des Sieges von Chodkiewicz gehalten hatte; sie befindet sich im Anhang der Ausgabe – Piotr Skarga: Kazania sejmowe, op. cit., S. 209–210.

572

Teil I Starost raubt nicht nur alles, was der Arme besitzt, sondern schlägt ihn auch tot, wenn er will und wie er will, und dies Verfahren hat kein böses Wort zu erdulden. Hat das Königreich so die untergebenen armen Würmchen, von denen wir alle leben, versorgt? Daher droht auch der Herr im Buch Jesaja [3, 14–15]: „Ihr habt meine Weinberge geplündert; und Häuser sind voll von dem, was ihr den Armen geraubt habt. Wie kommt ihr dazu, mein Volk zu zerschlagen?“ Ihr zermalmt das Gesicht der Armen. Wie die Körner unter den Mühlsteinen, so sind diese Ackersleute unter ihren Herren […]. Warum stöhnen sie denn in der Gefangenschaft? Warum sollt ihr sie nicht als Sklaven, sondern als Tagelöhner gebrauchen? Wohnt er auf deinem Grund und Boden und führt er sich schlecht auf, so treibe ihn von deinem Acker fort, nimm ihm aber nicht die angeborne und christliche Freiheit, und stelle dich nicht selbst über sein Leben und seine Gesundheit als höchster Herr ohne einen Richter. Die alten Christen, welche zur heidnischen Zeit gekaufte Sklaven besaßen, gaben allen die Freiheit als den Brüdern in Christo, sobald sie sich durch die heilige Taufe aus der Gefangenschaft des Teufels erlösten. Und wir, getreue und heilige Christen, zwingen Polen, die nie Sklaven waren, ohne irgend ein Recht mit Gewalt zur Sklaverei; wir gebrauchen sie, wie gekauftes Vieh, wenn sie aber von ihrem Elende entlaufen, und diese Armen und Ausgehungerten anderswo ihr Brot suchen, legen wir auf sie, wie die Türken für die Gefangenen, ein Lösegeld. Wenngleich ich weiß, daß dies nicht Alle bei uns tun, so können sie doch dem schlechten, seltsam wilden und ungerechten Gesetze zufolge, es zu ihrer Verdammung tun, was Gott verhüten möge. Wie soll man sich mit einem solchen Gesetze nicht vor der ganzen Christenheit auf Erden schämen? Wie sich nur Einer so tyrannischer Unbill wegen vor Gottes Angesicht zeigen? Wie nicht befürchten, daß die Heiden nicht einmal solche Gewalt und absolutum dominium über uns zur Strafe von Gott, bekommen?

Keine der schmerzlichsten Wahrheiten erspart Skarga seinen Zuhörern. Er senkt das Wort in das innerste Gewissen des Volkes und wendet es nach allen Seiten herum. Er kündigt Polen große Unglücksfälle an, nicht mehr in Sinnbildern, wie dies die Propheten des alten Bundes getan, welchen Dunkelheit und Doppelsinn vorgeworfen wird, sondern auf das Deutlichste und Eindringlichste. Die Zukunft stand ihm vor Augen, aufgezeichnet wie in einem Buch der verflossenen Geschichte; er las sie ab von Blatt zu Blatt. Siehe, was er den Polen in seiner Predigt „Uneinigkeit in der Heimat“ („O niezgodzie domowej“) vorhersagte, gerade zu der Zeit, als sie glänzende Siege über Schweden, Moskau und die Tataren erfochten: Nastąpi postronny nieprzyjaciel, jąwszy się za waszę niezgodę, i mówić będzie: „Rozdzieliło się serce ich, teraz poginą.“ [Ozeusz 10, 2]. I czasu, tak dobrego do waszego złego a na swoje tyraństwo pogodnego, nie omieszka. Czeka na to ten,

40. Vorlesung (25. Juni 1841)

573

co wam źle życzy, i będzie mówił: „Euge, euge, teraz je pożerajmy, teraz pośliznęła się noga ich, odjąć się nam nie mogą.“ [Psal. 35].890 I ta niezgoda przywiedzie na was niewolą, w której wolności wasze utoną i w śmiech się obrócą, i będzie – jako mówi Prorok – Isa. 25 [24, 2]: „sługa równo z panem, niewolnica równa z panią swoją, i kapłan z ludem, i bogaty z ubogim, i ten, co kupił imienie, równy z tym, co przedał.“ Bo wszyscy z domy i zdrowim swoim w nieprzyjacielskiej ręce stękać będą, poddani tym, którzy ich nienawidzą. Ziemie i księstwa wielkie, które się z Koroną zjednoczyły, w jedno ciało zrosły, odpadną i rozerwać się dla waszej niezgody muszą. Przy których teraz potężna być może ręka i moc wasza i nieprzyjacielom straszliwa. Odbieżą was jako chałupki przy jabłkach, gdy owoce pozbierają, którą lada wiatr rozwieje. I będziecie jako wdowa osierociała, wy, coście drugie narody rządzili. I będziecie ku pośmiechu i urąganiu nieprzyjaciołom swoim. Język swój, w którym samym to królestwo między wielkimi onymi słowieńskimi wolne zostało, i naród swój pogubicie, i ostatki tego narodu, tak starego i po świecie szeroko rozkwitnionego, potracicie i w obcy się naród, który was nienawidzi, obrócicie, jako się inszym przydało. Będziecie nie tylo bez pana krwie swojej i bez wybierania jego, ale też bez ojczyzny i królestwa swego, wygnańcy wszędzie nędzni, wzgardzeni, ubodzy, włóczęgowie, których popychać nogami tam, gdzie was pierwej ważono, będą. Gdzie się na taką drugą ojczyznę zdobędziecie, w której byście taką sławę, takie dostatki, pieniądze, skarby i ozdobności, i rozkoszy mieć mogli? Urodzili się wam i synom waszym taka druga matka? Jako tę stracicie, już o drugiej nie myślić. „Będziecie nieprzyjaciołom waszym służyli, w głodzie, w pragnieniu, w obnażeniu i we wszytkim niedostatku. I włożą jarzmo żelazne na szyje wasze“891, przeto iżeście nie służyli Panu Bogu swemu w weselu i w radości serdecznej, gdyście mieli dostatek wszytkiego, i dla dostatku, ze wszeteczeństwa waszego, gardziliście kapłanem i królem, i innym przełożeństwem, wolnością się Belialską pokrywając, a jarzma wdzięcznego Chrystusowego i posłuszeństwa nosić nie chcąc. […] Nie tak rychło i nie tak żałośnie wojną i gwałty postronnych nieprzyjaciół zginąć możecie, jako waszą niezgodą. Jabłko, gdy z wierzchu się psować pocznie, wykroić się zgniłość może, iż potrwa, ale gdy wewnątrz gnić i psować się pocznie, wszytko zaraz porzucić musisz i o ziemię uderzyć.892 Es wird auftreten der benachbarte Feind, sich an eure Uneinigkeit festklammernd, und wird sagen: „Ihr Herz hat sich geteilt, jetzt werden sie umkommen.“ [Hosea  10, 2]. Und eine so günstige Zeit für euer Unheil und seine Tyrannei wird er nicht versäumen. Es harrt hierauf derjenige, der euch Böses wünscht, und ausrufen wird er: „Euge, euge, jetzt fressen wir sie auf, jetzt ist ihr Fuß ausgeglitscht, sie können sich unser nicht erwehren.“ [Psalm 35].

890 Zitat-Paraphrase mit Bezug auf Psalm 35. 891 Zitat-Paraphrase mit Bezug auf 5. Mose (Deteronomium) 28, 45. 892 Piotr Skarga: Kazania sejmowe, op. cit., Kazanie trzecie, S. 70–73.

574

Teil I Und diese Uneinigkeit wird auch euch die Gefangenschaft zuführen, in welcher eure Freiheiten untergehen werden, und es wird sein, wie der Prophet spricht: „der Diener gleich sein mit dem Herrn, die Sklavin gleich mit ihrer Herrin, und der gesalbte Priester mit dem Volk, der Reiche mit dem Armen, und derjenige, der den Besitz gekauft, mit demjenigen, der ihn verhandelt hat.“ [Jesaja 24, 2]. Denn alle werden mit ihren Häusern und ihrer Gesundheit in feindlicher Hand stöhnen, denjenigen untertänig, die euch hassen. Die Länder und die großen Fürstentümer, welche sich mit der Krone vereinigt haben und zu einem Körper verwachsen sind, müssen sich eurer Uneinigkeit wegen zerreißen und werden abfallen an jene, bei denen heute euer Arm und eure Kraft den Feinden gewaltig und schrecklich sein kann. Sie werden von euch springen, wie die Hütchen, die man bei Apfelbäumen aufstellt, welche jeder Wind auseinanderjagt. Und ihr werdet sein wie die verwaiste Mutter, ihr, die andere Völker regiert haben. Und euren Feinden werdet ihr zum Spott und Gelächter. Eure Sprache, in welcher dieses Königreich allein zwischen den übrigen großen slavischen frei geblieben ist, und euer Wolk werdet ihr vernichten, und die Überbleibsel dieses so alten, weit und breit in der Welt erblühten Volkes verlieren, euch aber selbst in ein fremdes Volk, das euch haßt, nach anderer Wohlgefallen, umwandeln. Nicht nur ohne einen Herrn eures Bluts und eurer Wahl werdet ihr sein, sondern auch ohne Vaterland und Königreich, verbannt, allenthalben unglücklich, verachtet, arm, Herumtreiber, die man mit Füßen verstoßen wird, dort gerade, wo man euch früher achtete. Wo findet ihr anderwärts ein solches Vaterland, in welchem ihr so großen Ruhm, solche Reichtümer an Geld, Schätze, Zierraten und Glückseligkeiten haben könntet? Wird sich euch und euren Söhnen eine zweite solche Mutter erzeugen? Verliert ihr diese, so denkt an keine zweite mehr. „Euren Feinden werdet ihr dienen in Hunger, Durst, Entblößung und allem möglichen Mangel. Und ein eisernes Joch wird man auf eure Nacken legen“ [5. Mose 28, 45], dafür daß ihr eurem Herrn nicht gedient habt, als ihr euch in jedem Überfluß befandet, und des Überflusses wegen in eurer Ausgelassenheit euren gesalbten Priester und euren König verachtet habt, euch aber mit anderer Vormundschaft und Belials893 Freiheit gedeckt, das liebliche Joch Christi und den Gehorsam nicht habt tragen wollen. Nicht so bald und nicht so traurig könnt ihr durch Krieg und Überfall der benachbarten Feinde sinken, als durch eure Uneinigkeit. Fängt der Apfel von oben an zu faulen, so läßt sich das Verdorbene ausschneiden und kann noch nützen, beginnt er aber inwendig zu faulen und zu verderben, so mußt du gleich alles wegwerfen und zertreten.

893 Belial – (auch Beliar); Teufelsgestalt, Satan, Dämon; vgl. Neues Bibellexikon. Zürich 1991, Bd. 1, S. 267.

40. Vorlesung (25. Juni 1841)

575

Eine dieser Predigten894 unterbrach ein zum König gelangter Bote mit der Nachricht von dem großen Sieg unter Kirchholm895, wo Hetman Jan Karol Chodkiewicz896 mit 4000 Mann die Schweden aufs Haupt geschlagen, welche 12 000 Mann Fußvolk und 4000 Mann Reiterei ganz vorzüglich gut bewaffnet hatten. Der schwedische Feldherr Andreas Linderson blieb dort auf der Walstatt; der General Brandt war gefangen genommen und der Herzog von Södermanland (Karl IX.), der Thron-Usurpator, entkam nur mit genauer Not. Dieser lange Zeit in Europa berühmte Sieg sicherte Polen den Besitz von Livland. Als man diese Nachricht hörte, fielen die Senatoren, die Landboten und alle in der Kirche Anwesenden auf die Kniee. Der Priester Skarga setzte, nachdem er das Te Deum laudamus abgesungen, seine Vorhersagungen folgendermaßen fort: Cóż mam z tobą czynić, nieszczęśliwe królestwo? […] Bych był Izajaszem, chodziłbych boso i na poły nagi, wołając na was, rozkoszniki i rozkosznice, przestępniki i przestępnice zakonu Bożego: „Tak was złupią i tak łyskać łystami będziecie, gdy nieprzyjaciele na głowy wasze przywiedzie Pan Bóg i w taką was sromotę poda […]“ [Iz  20, 12; 30, 13–4]. Ustawicznie się mury Rzeczypospolitej waszej rysują, a wy mówicie: Nic, nic! Nie-rządem stoi Polska! Lecz gdy się nie spodziejecie, upadnie i was wszytkich potłucze! Bych był Jeremijaszem, wziąłbych pęta na nogi i okowy, i łańcuch na szyję i wołałbych na was grzeszne, jako on wołał: „Tak spętają pany i pożoną jako barany w cudze strony.“ [Jer 27, 2]. I ukazałbych zbutwiałą i zgnojoną suknią, którą trzasnąwszy, gdyby się w perzyny rozleciała, mówiłbych do was: „Tak się popsuje i w niwecz obróci, i w dym a w perzynę pójdzie chwała wasza i wszytki dostatki i majętności wasze “ [Jer 13, 1–12].

894 Nach J. Maślanka (A. Mickiewicz: Dzieła. Tom VIII: Literatura słowiańska. Kurs pierwszy. Warszawa 1997, S. 740–741) stammt diese Begebenheit nicht aus den Sejm-Predigten von P. Skarga, sondern aus dem Geschichtswerk von Julian Ursyn Niemcewicz (Dzieje panowanie Zygmunta III. Warszawa 1818–1819, tom I–III; Ausgabe Sanok 1860, tom I, S. 257). Skargas Predigt auf den Kirchholmer Sieg erschien 1605 unter dem Titel: „Pokłon Panu Bogu zastępów za zwycięstwo inflanckie nad Karolusem książęciem sudermańskim, dane od Pana Boga w dzień świętego Stanisława, 27. dnia Septembra, roku Pańskiego 1605. nad Rygą u Kircholmu […]. Kraków 1605; vgl. dazu Michał Kuran: Struktura i problematyka kazań tryumfalnych Piotra Skargi wygłaszanych z okazji zwycięstw wojennych. In: Acta Universitatis Lodziensis. Folia Litteraria Polonica 3 (21) 2013, S. 209–224. 895 Schlacht bei Kirchholm (lettisch: Salaspils) – 27. September 1605; vgl. die Beschreibung bei Adam Naruszewicz: Historya Jana Karola Chodkiewicza, Wojewody Wilenskiego. Hrsg. Tadeusz Mostowski. Bd. I, Warszawa 1805, S. 93–135. 896 Jan Karol Chodkiewicz (1560–1621); vgl. Leszek Podhorodecki: Jan Karol Chodkiewicz 1560–1621. Warszawa 1982.

576

Teil I I wziąwszy garniec gliniany, a zwoławszy was wszytkich uderzyłbych go mocno o ścianę w oczach waszych, mówiąc: „Tak was pogruchocę, mówi Pan Bóg, jako ten garniec, którego skorupki spoić się i naprawić nie mogą.“ [Jer 19, 11].897 Was soll ich mit dir machen, unglückliches Königreich? […] Wäre ich Jesaja, ich ginge barfuß und halbnackend, euch zurufend, Vergeuder und Vergeuderinnen, Übertreter und Übertreterinnen des Bundes Gottes: „So wird man euch berauben und so werdet ihr mit euren Blößen prangen, wenn der Herr auf eure Häupter die Feinde bringen, und euch in solche Schmach hingeben wird.“ [Jes 20, 12; 30, 13–4]. […] Unaufhörlich spalten sich die Mauern eurer Republik; ihr aber sagt, es ist nichts, es ist nichts; Polen besteht durch Unordnung, Ehe ihr es euch aber verseht, wird es fallen und euch alle erschlagen. Wäre ich Jeremias, ich legte Fesseln an die Füße und Eisen, und schlänge eine Kette um den Hals und riefe euch Sündern zu, wie er gerufen: „So wird man die Großen binden und sie in fremde Fernen wie Schafe treiben.“ [Jer 27, 2]. Und ich zeigte das vermoderte und verpestete Kleid, welches, wenn es geschüttelt wird, in Staub zerfallt, ich würde zu euch sagen: „Also wird verfaulen und zu nichts werden, in Rauch und Asche euer Ruhm aufgehen, und alle eure Reichtümer und eure Wohlfahrt.“ [Jer 13, 1–12]. Und ich nähme einen Lehmtopf, riefe euch alle zusammen und schleuderte ihn vor euren Augen kräftig an die Wand, euch sagend: „So werde ich euch zerschellen, spricht der Herr, wie diesen Topf, dessen Scherben sich nicht zusammenleimen noch ausbessern lassen.“ [Jer 19, 11].

Hier hält er etwas inne, und gleichsam als sähe er ein Gesicht, ruft er aus: „Kto głowie mojej doda wody i źrzódło łez oczom moim, abych we dnie i w nocy opłakał pobite ojczyzny i narodu mego? […] O, jakoś owdowiało, ludne i pełne królestwo! Płacząc w nocy płaczesz, i łzy twoje na jagodach twoich, nie masz kto by cię ucieszył, z onych miłych przyjaciół twoich wszyscy tobą pogardzili, stali się nieprzyjaciółmi twymi. Spadła z ciebie wszytka ozdobność, wojewody i pany twoje pędzą w niewolą jako barany słabe, które i paszej nie najdują. Lud wszystek stęka chleba szukając […].“ Co było w oczach pięknego, wszytko upadło i ołtarzami swemi pogardził Pan Bóg i kościoły podał w ręce nieprzyjacielskie. […] Dziedzictwa nasze wpadły w ręce cudzoziemców i domy nasze do obcych. Staliśmy się sierotami bez ojca. Stoją nad szyją naszą i spracowanym odpocząć nie dadzą. […] Niewiasty nasze i panienki posromocili, pany na szubienicy zawiśli, starch się nie wstydzili i młodych na nieczystość użyli. Ustało wesele serc naszych, obróciło się w płacz śpiewanie nasze. Spadła korona z głowy naszej, biada nam żeśmy pogrzeszyli. Przyszedł koniec nasz, spełniły się dni nasze. […]“ I rzekł Pan Bóg do Proroka swego: „Wyrzuć je, patrzyć na nie nie chcę, niech idą“. I spytaliśmy: gdzież pójdziemy? Powiedziano: Tak mówi Pan Bóg: Kto na śmierć, ten na śmierć, kto na głód, ten na głód, kto w niewolą, ten w niewolą. [Jr 15, 1–9].898 897 Piotr Skarga: Kazania sejmowe, op. cit., Kazanie ósme, S. 187–189. 898 Piotr Skarga: Wzywanie do pokuty […]. In: P.  Skarga: Kazania sejmowe i wzywanie do pokuty obywatelów Korony Polskiej i Wielkiego Księstwa Litewskiego. Wstęp,

40. Vorlesung (25. Juni 1841)

577

„Wer reicht meinem Haupte Wasser und Quelle meinen Augen, um die Erschlagenen meines Vaterlandes und Volkes zu beweinen. […] O! wie bist du verwitwet, schönes und bevölkertes Königreich! Weinend schluchzest du in der Nacht und deine Zähren sind auf deinen Wangen, niemanden von deinen lieben Freunden hast du, der dich tröstete; es haben dich alle verachtet, alle sind sie deine Feinde geworden, deine Wojewoden treiben sie in die Gefangenschaft, wie schwache Lämmer, die nicht einmal Weide treffen. Das ganze Volk seufzt nach Brot suchend […]. Alles, was für die Augen schön war, ist herabgestürzt, und der Herr verschmähte seine Altäre und übergab die Kirchen in feindliche Hand. […] Unser Erbe ist in die Hände der Ausländer gefallen, und unsere Häuser an die Fremden. Unsere Diener beherrschen uns, es gibt Niemanden, der uns aus ihrer Hand befreite. Wir sind Waisen ohne Vater geworden. Sie stehen über unseren Nacken und gönnen nicht einmal den Ermüdeten einen Augenblick der Ruhe. […] Unsere Frauen und Mädchen haben sie geschändet, die Kämpfer an den Galgen gehangen; sie hatten keine Scham vor den Ältern und mißbrauchten die Jungen zur Unzucht. Die Freude unseres Herzens hat aufgehört, unser Lied ist zum Weinen geworden. Die Krone ist von unserm Haupte gefallen, wehe uns, daß wir gesündigt haben! Unser Ende ist gekommen, unsere Tage haben sich erfüllt […]“. Und es sprach der Herr zu seinem Propheten: „Wirf sie hinaus, ich will sie nicht anblicken, mögen sie gehen.“ Wir aber fragten: Wo sollen wir hin? Die Antwort war: Wer auf den Tod, der zum Tode, wer aufs Schwert, der unters Schwert, wer auf Gefangenschaft, der in Gefangenschaft. [Jer 15, 1–9].

Nachdem er ein solches Bild mit den Worten der Propheten, die Jerusalems Zerstörung weissagten, entworfen hatte, fügt er hinzu: Bych był Ezechijelem, ogoliwszy głowę i brodę, włosy bych na trzy części rozdzielił. I spaliłbych jedne część, a drugą bych posiekał, a trzecią bych na wiatr puścił. I wołałbych na was „Jedni z was poginiecie głodem, drudzy mieczem, a trzeci się po świecie rozproszycie.“ [Ez 5; 1, 2, 12]. […] Bójcie się wżdy tych pogróżek. Jąć objawienia osobliwego od Pana Boga o was i o zgubie waszej nie mam. Ale poselstwo do was mam od Pana Boga i mam to poruczenie, abych wam złości wasze ukazował i pomstę na nie, jeśli ich nie oddalicie, opowiadał. Wszytkie królestwa, które upadały, takie posłańce Boże i kaznodzieje miały, którzy im wymiatali na oczy grzechy ich i upadek oznajmiali.899 Wäre ich Ezechiel, so teilte ich die Haare, nachdem ich Kopf und Bart kahlgeschoren hätte in drei Teile. Und den einen verbrennte ich, den zweiten zerhackte ich, den dritten überließ ich den Winden, und schreien möchte ich zu euch: „die Einen von euch werden durch Hunger umkommen, die andern durchs Schwert fallen, die dritten aber in der Welt zerstreut werden.“ […]. opracowanie i przypisy Mirosław Korolko. Warszawa 2012, S.  232–234. Die Zitierungen sind Zitat-Paraphrasen mit Bezug zum Buch Jeremia. 899 Piotr Skarga: Kazania sejmowe i wzywanie do pokuty obywatelów Korony Polskiej i Wielkiego Księstwa Litewskiego. Wstęp, opracowanie i przypisy Mirosław Korolko, op. cit., Kazanie ósme, S. 202.

578

Teil I [Ez  5; 1, 2, 12]. Fürchtet immer diese Drohungen. Zwar habe ich über euch und euer Verderben keine besondere Offenbarung vom Herrn erhalten; aber eine Sendung an euch habe ich vom Herrn, und ich bin beaustragt worden, euch eure Bosheiten vorzuwerfen und die rächende Strafe euch zu verkünden, im Falle ihr nicht ablaßt. Alle Königreiche, die da sanken, haben solche Sendlinge Gottes und Prediger gehabt, die ihnen ihre Sünden vor die Augen hielten, und ihren Fall ansagten.

Später erläutert Skarga, daß die Drohungen Gottes von mannigfacher Art sind: einige, die sich abändern lassen, sobald die Menschen Buße tun und den Zorn Gottes durch Flehen abwenden; andere, die erst spät in Erfüllung gehen und zwar erst in den Nachkommen und Söhnen der Sünder, welche die bösen Väter nachahmen; wieder andere, welche keine Änderung erleiden, die, nach dem Verwerfen der Gnade Gottes, gleich zu unerschütterlichem Beschluß werden. Nachdem er dieses mit Beispielen aus der Heiligen Schrift und der Weltgeschichte erklärt, sagt er: Z jakiemiż pogróżkami posłał mię do was Pan Bóg, Przezacni Panowie moi? Jeśli mię spytacie: z pierwszymi, czy z wtórymi, czy z trzecimi? Ja odpowiem: nie wiem. To tyło wiem, iż jedna z tych trzech was nie minie. A ja wam, namilszym bratom moim, i ludowi memu, i ojczyźnie miłej mojej pierwszej życzę, aby wam Pan Bóg tak groził, jakoby wam dał pomoc do powstania i pokuty na odmianę dekretów i pogróżek swoich; abyśmy nie ginęli, ale się przestraszywszy do ubłagania gniewu Pańskiego wszytko serce i myśli obrócili.900 Mit welchen Drohungen hat mich Gott nun zu euch gesandt, meine hochedlen Herren? Fragt ihr: ob mit den ersten, zweiten oder den dritten, so werde ich antworten: Ich weiß es nicht. Nur eins weiß ich, daß ihr einer von den dreien nicht entgehen werdet. Ich aber, euer untertänigster Diener, wünsche euch, meinen liebsten Brüdern, meinem Volke und meinem geliebten Vaterlande, die erste, nämlich, daß euch Gott so drohen möge, als reiche er euch Hilfe, um euch zu erheben, auf daß ihr büßet, zur Abänderung des Ratschlusses und seiner Drohungen, damit wir nicht umkommen, sondern erschrecken und unsern ganzen Sinn und ganzes Herz zur Abwendung des Zornes Gottes hinwenden möchten.

Diese erschütternden Prophezeiungen mit den Worten der Propheten von der Barmherzigkeit Gottes beschließend, spricht er mit Hosea: „Er macht uns lebendig nach zwei Tagen; er wird uns am dritten Tag aufrichten, daß wir vor ihm leben werden.“901 Es ist dies der einzige Trost, den er seinen Zuhörern gab.

900 Piotr Skarga: Kazania sejmowe i wzywanie do pokuty, op. cit., Kazanie ósme, S. 206. 901 Altes Testament – Das Buch Hosea 6, 2.

40. Vorlesung (25. Juni 1841)

579

Alle diese Vorhersagungen, in den Sejm-Predigten enthalten, sind wiederholt in seiner gesondert veröffentlichten Schrift „Aufforderung zur Buße an die Bürger der polnischen Krone und der Großherzogtums Litauen“.902 Skarga hat nach unserem Ermessen das Ideal eines geistlichen Predigers und Patrioten erreicht. Als Redner, als Schriftsteller steht er auf gleicher Höhe mit Bossuet und Massilon903, nur übertrifft er sie in vieler Hinsicht. In den schönsten Predigten der Franzosen hat die Form gar zu sehr das Übergewicht, man erkennt sogleich, daß sie für ein gelehrtes Publikum bestimmt waren, während man bei Skarga die Form fast gar nicht bemerkt und gar nicht sehen kann, wie sich seine Abschnitte entfalten. Nie dachte er über seine Phrasen nach und darum sprach er auch so vollkommen, so reizend. Sein Stil trägt das Gepräge des sogenannten Goldenen Zeitalters der polnischen Literatur, er besitzt jenen eigentümlichen Ton, jenen gleichsam metallischen Klang, an welchem diese Epoche jeder slavische Literat erkennt. Sogar in dem Bau seiner Predigten unterscheidet er sich von allen früheren und jetzigen Rednern. Er zeichnet sich keinen äußeren Plan, macht keinen sogenannten Eingang, sondert nicht in Teile ab, bewahrt nicht die kräftigsten Argumente für den Schluß. Vielmehr zuweilen, während der Auseinandersetzung der Dogmenfrage, nach einer kalten, genauen Argumentation, entflammt er sich plötzlich, verfällt in prophetische Begeisterung, verkündet die Zukunft, ruft das Volk zur Besserung auf, betrauert das Volk und ist Prophet, Tribun, vor allem aber Pole. Fortwährend von dem Feuer der Kämpfe erwärmt, gezwungen immer mit seinem Publikum zu ringen, erlangte er ungeheure Kraft und bildete sich jenen Stil aus, der nur ihm allein eigen ist. Die älteren Prediger, die geistlichen Redner sind nur Kirchenschreiber; sie besprechen die Dogmen, die allgemeine christliche Moral, sie gehören allen Jahrhunderten und allen Völkern an. Die modernen jetzigen französischen Kanzelredner bemühen sich gar zu sehr, den Wünschen des sogenannten zivilisierten Publikums zu genügen, sie fürchten sich, dessen Geschmack zu beleidigen. Skarga vergißt sich gänzlich, wenn er auf die Kanzel tritt, er kehrt seine Stimme jenem idealen Vaterland zu, das ihm immer vor Augen schwebt; für seine Zuhörer ist er, wie er selbst sagt, „ein eisernes Bollwerk, eine Mauer von Erz, gegen Stichworte, Schreien, Ingrimm und Drohungen.“904 Was ihn jedoch über alle diese Redner erhebt, ist der prophetische Geist, dessen so deutliche 902 Piotr Skarga: Wzywanie do pokuty obywatelow Korony Polskiej i W. Księstwa Litewskiego. Kraków 1610. Neue Edition – Piotr Skarga: Wzywanie do pokuty […]. In: P. Skarga: Kazania sejmowe i wzywanie do pokuty obywatelów Korony Polskiej i Wielkiego Księstwa Litewskiego. Wstęp, opracowanie i przypisy Mirosław Korolko. Warszawa 2012, S. 189–242. 903 Jacques-Bénigne Bossuet (1627–1704); Jean-Baptiste Massilon (1663–1742). 904 Quelle nicht ermittelt.

580

Teil I

und so unwiderlegbare Beweise er gegeben hat. Man bemerkte sogar in seinen drohenden Vorhersagungen eine Redensart, die später fast Wort für Wort die Zarin Katharina gebrauchte. Die künftige und letzte Vorlesung des diesjährigen Kursus werden wir der Nachweisung des Zusammhanges widmen, welcher zwischen der Literatur der slavischen Völker und den jetzigen philosophischen Systemen der französischen und der deutschen Autoren obwaltet.

41. Vorlesung (29. Juni 1841) Über die slavischen Völker bis zum Westfälischen Frieden – Zur politischen Lage in Polen und Rußland im 17. Jahrhundert – Beginn des geistigen, moralischen und politischen Niedergangs Polens – Der Westfälische Frieden (1648) und die verhängnisvollen Folgen für Polen – Das Großfürstentum Moskau wird zum russischen Kaiserreich – Die Philosophen Voltaire und Montesquieu über Polen – Die Slaven in den Augen der neuzeitlichen Philosophie: „Hegel, Gott und Preußen“ – Joseph Marie de Maistre – Gegensätzliche Einschätzung der Philosophen über die Rolle Rußlands und Polens – Die Philosophie und die Zukunft der Slaven in Europa.

Die diesjährige Vorlesungsreihe über die slavische oder eigentlich über die polnische Literatur zur Zeit der Jagellonen, welche die allgemeine slavische Literatur repräsentiert, werden wir mit Skarga beschließen. Skarga vereint in sich, wie wir gesagt haben, die Vergangenheit, die damalige Gegenwart und die Zukunft des polnischen Volkes. Hielten wir uns an den Lauf der politischen Begebenheiten, so müßten wir unseren Vortrag bis zum Westfälischen Frieden905 fortführen. Dieser Traktat bezeichnet eine neue Epoche in der Geschichte Europas, er führt die Slaven auf die europäische Bühne; jedoch von den Jahren zwischen Skarga und dem Westfälischen Frieden, voll politischer und kriegerischer Ereignisse, kann man sagen, daß sich in ihnen nur die Gedanken, welche wir ausgedrückt, die sittlichen Begriffe, deren Merkmale wir gegeben haben, erfüllen; in literarischer Hinsicht stellen sie nichts Wichtiges dar. Wir lassen den Faden der Geschichte des Slaventums im Augenblick der Ungewißheit seiner Schicksale fallen. Das in Moskau herrschende Haus war schon erloschen; das Jagellonische Blut in Polen stirbt aus. Moskau verfällt in einen furchtbaren Wirrwarr und scheint untergehen zu sollen. Polen dagegen spannt noch einmal alle seine politischen und sittlichen Kräfte an, es erhebt sich, als wollte es den uralten Gedanken der slavischen Einheit erfüllen. Wie einst die Jagellonen, nachdem sie die Throne Tschechiens und Ungarns eingenommen, einigermaßen als die Repräsentanten des ganzen Slaventums anerkannt waren, so sind es jetzt die polnischen Großen, d.h. die durch Fähigkeiten und Einfluß übermächtigen Männer, jene Mitbesitzer und Erben der königlichen Gewalt, die Regierer der Republik, welche sich bemühen, den ewigen Zweck zu erreichen. Die Hetmane oder Heerführer, nachdem sie den geringen 905 Westfälischer Friede, abgeschlossen zwischen dem 15. Mai und dem 24. Oktober 1648 in Münster und Osnabrück; vgl. den Sammelband – Der Westfälische Friede: Diplomatie – politische Zäsur – kulturelles Umfeld – Rezeptionsgeschichte. Hrsg. Heinz Duchhardt. München 1998 (= Historische Zeitschrift: Beihefte; N.F., Bd. 26).

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_042

582

Teil I

Adel zu Hilfe gerufen, unternehmen Kriegszüge, schließen Frieden, sie wirken wie Könige, wenngleich sie nicht den Titel der Könige haben. Der Kronhetman Jan Zamoyski, aus eigenen Mitteln die eidlichen Scharen bezahlend, warf die Türken, vertrieb die Tataren, erfocht glänzende Siege in der Walachei und besetzte die Moldau mit dem letzten der Republik huldigenden Herrscher. Jan Chodkiewicz906, Litauens Hetman, bekämpfte ganz allein mit der ihm von seinen Verwandten und Nachbarn zugesandten Hilfe die ganze schwedische Macht in Livland; er besiegte den Schwedenkönig und sicherte Polen den Besitz dieser Provinz. Der Woiwode von Podolien und Ruthenien, Jerzy Jazłowiecki907, faßte den Vorsatz, die Republik von ihren Feinden, den hinter Perekop in der Krim hausenden Tataren zu befreien, dieses Land dem tatarischen Khan zu nehmen und in eine Woiwodschaft des Königreichs umzuwandeln. Der Tod ereilte ihn gerade, als er schon gegen den Feind aufbrechen wollte. In derselben Zeit machte sich Mniszech908, der Woiwode von Sandomierz, mit einer Handvoll angeworbener Soldaten, unterstützt von den Haustruppen einiger Freunde und Verwandten, nach Moskau auf, um Godunov vom Thron zu stürzen und seine Tochter mit der Zarenkrone geschmückt zu sehen. Alle diese Herren fanden keine große Schwierigkeit beim Anwerben der Truppen; die Republik schien in dieser Hinsicht unerschöpflich. Kaum ließ sich jemand mit einem Vorhaben hören, so eilte ihm auch sogleich von allen Seiten der gewaffnete und berittene Adel entgegen. Die Haufen dieser Reiterei, nicht zahlreich, aber noch den von Alters her erworbenen Namen der Unbesiegten bewahrend, schlugen die zahlreichen moskovitischen Heere in die Flucht und brachen die geübten Reihen der Schweden; selbst die Türken konnten ihnen nicht Stand halten. Ein Franzose, Guillaume le Vasseur de Beauplan, der um diese Zeit im Heer der Republik diente, hinterließ uns die Beschreibung909 eines damaligen polnischen Reiters. Seine Bewaffnung kostete 10 000 Gulden (etwas über 6000 Franken). Der französische und englische König, die reichsten Monarchen der Christenheit, waren nie im Stande, ein so prächtiges Heer zu bilden und zu unterhalten. Es bewaffnete sich aber auch jeder Edelmann 906 907 908 909

Jan Karol Chodkiewicz (156–1621). Jerzy Jazłowiecki (1510–1575), polnischer Großhetmann. Jerzy Mniszech (1548–1613); vgl. Danuta Czerska: Dymitr Samozwaniec. Wrocław 2004. Guillaume le Vasseur de Beauplan (um 1600–1673), französischer Militäringenieur, von 1630–1647 in Diensten der polnischen Krone; vgl sein Werk: Description d’Ukraine qui sont plusiers Provinces du Royame de Pologne. Rouen 1670; [im Internet unter: www. litopys.org.ua]; deutsche Übersetzung: Wilhelm le Vasseur Sieur de Beauplan: Die Beschreibung der Ukraine, der Krim und deren Einwohner. Hrsg. Johann Wilhelm Moeller. Breslau 1780.

41. Vorlesung (29. Juni 1841)

583

auf eigene Kosten und man könnte sagen, wollte man sich in der heutigen Redeweise ausdrücken, daß die polnische Reiterei damals das Landeskapital vorstellte. Es schien folglich, als wäre die Zeit gekommen, wo die Polen wieder ihre Kraft außerhalb des Reichs geltend machen, Reiche erobern und gründen sollten; dieser Bewegung waren jedoch die volkstümlichen Begriffe entgegen. Jene unternehmenden Herren dienten alle der einen Republik, diese Republik verdammte aber, nach den nationalen polnischen Vorstellungen, jeden Gedanken einer Länderunterjochung und die Masse des Volkes wollte niemals Eroberungspläne, welche ihren Beweggrund in den Ansichten eines Privatinteresses hatten, unterstützen. Der Adel, welcher so bereitwillig sich unter die Fahnen der Großen zur Verteidigung des Landes reihte, verließ diese augenblicklich, sobald sie der persönlichen Ehrsucht angeklagt waren. Die öffentliche Meinung empörte sich gegen sie und, fügen wir noch hinzu, der Neid der Miteiferer, der Mitherrscher, stellte ihnen ebenfalls Hindernisse entgegen. So wollte der ruhmbekränzte Sieger Schwedens, Chodkiewicz, von seinem Heer verlassen, und da er keine Hilfe von der Republik erhalten konnte, alle livländischen Festungen schleifen, und sich unter den Ruinen der einen, in welcher er sich hielt, begraben. Ebenso war Zamoyski, inmitten der Türken, Tataren und Walachen fast zur Verzweiflung gebracht; die Feinde scheute er nicht, erwartete aber mit der größten Bangigkeit, was der Sejm beschließen würde, und sah mit Furcht auf die Vorkehrungen der ihm Abgeneigten. Zum Sturz des Ansehens dieser Krieger benutzte man die Verleumdung. Den Hetman Chodkiewicz klagte man an, er gelüste über Livland zu herrschen; dem Zamoyski warf man vor, er sinne auf Gründe zur Kriegführung, um mit seiner Feldherrngabe glänzen zu können. Diese Männer erfuhren damals die Freuden und Qualen des Königtums; sie verbrauchten ihr Leben zur Brechung des Widerstandes, der sich ihnen allenthalben, im Sejm, im Volk und sogar im Heer entgegenstellte. Es kam die Reihe an sie, die Bitterkeit jener Lage zu kosten, welche sie selbst ihren Königen bereitet hatten; sie fanden dieselbe jetzt um sich herum und in der Regierung, sogar an der Spitze der bewaffneten Macht stehend. Diesem Auflodern des politischen Lebens und der Freiheit entspricht der Glanz der Literatur in Polen. Dieses Zeitalter ist das goldene der polnischen Literatur. Einige große Namen haben wir genannt, welche den damaligen Zustand der Gemüter anzeigen; denn solche Männer, wie Kopernikus, wie Skarga, gedeihen nie einsam: es mußte sie eine üppige literarische Vegetation umringen. Kopernikus glänzt als die letzte und kräftigste Erscheinung der slavischen Intelligenz, Skarga als der mächtigste Denker im Slaventum, und vielleicht als der größte salbungsreiche Kannzelredner in der gesamten Christenheit.

584

Teil I

Von nun an beginnt das geistige, sittliche und politische Sinken Polens. Die Wechselreihen dieses Verfalls lassen wir für den Vortrag des künftigen Jahres; jetzt wollen wir nur noch zeigen, welche Verbindungen zwischen Polen und Europa zu dieser Zeit stattfanden und beweisen, daß Polen nicht allein dieses allgemeinen Verfalls wegen zu beschuldigen ist. Das Königreich Polen, als ein Bruchteil des europäischen Ganzen, teilte die Schicksale der Staaten, mit welchen es durch seine Politik verbunden war und aus welchen es die sittliche und geistige Kraft schöpfte. Rom, als die Mitte der religiösen Bewegung, und Paris, damals schon das anerkannte Zentrum der geistigen Bewegung, waren die Quellen, an welchen Polen seine sittlichen und geistigen Vorstellungen schöpfte. Diese Quellen schienen in jener Zeit vertrocknet oder wenigstens getrübt. Nach dem großen Krieg des Katholizismus mit dem Protestantismus spaltete sich die Kirchenwelt und zerfiel in zwei Teile. Einer von diesen begann, wie der tiefe deutsche Philosoph Franz Xaver von Baader sagt, zu erstarren und zu versteinern910, der andere zerfiel und ging in Fäulnis über. Die römischkatholische Philosophie, über den Fortschritt des Protestantismus von Entsetzen erfaßt, erstarrte vor Schrecken. Öfters hat man nach großen Erschütterungen, nach großen politischen Umwälzungen bemerkt, daß der Schreck die Gemüter ergreift, daß die Völker in eine seltsame Schwäche, in eine moralische Ohnmacht verfallen: die kampfermatteten Parteien flüchten dann zur Legalität, alle bergen sich unter dieselbe. So ward es auch in Folge der damaligen Religionskriege. Die Katholiken und Protestanten deckten sich mit der Legalität, mit einer Legalität, die nichts sagt und nichts erklärt. Man begann damals in den katholischen Ländern, ja selbst in Rom, dem Unglauben durch die Finger zu sehen, wenn nur der Nichtglaubende das rechtliche Bestehen der Kirche, nämlich die äußere Form achtete; im Gegenteil aber verdächtigte und verfolgte man zuweilen sogar die gläubigen Denker aus Besorgnis, sie möchten in Ketzerei verfallen. 910 Vgl. Franz Xaver von Baader: Vorlesungen über speculative Dogmatik. 2. Heft. Münster 1830, S. 13: „Lediglich also, um die Lösung dieses Problems unserer Zeit, so viel an uns ist, auch in der Religionswissenschaft zu fördern, in welcher bekanntlich seit dem Eingehen der scholastischen Philosophie das spekulative und historische oder empirische Element sich immer mehr trennend, ersteres endlich in die Destruktivität, letzteres in Versteinerung ausartete […].“ Über Baader vgl. auch die 27. und 32. Vorlesung (Teil II), die 17. und 20. Vorlesung (Teil III), die 5. und 7. Vorlesung (Teil IV). Ferner – Ryszard Zajączkowski: Auf den Wegen der heiligen Revolution. Franz Baader und Adam Mickiewicz. In: Adam Mickiewicz und die Deutschen. Eine Tagung im Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar. Hrsg. Ewa Mazur-Kębłowska und Ulrich Ott. Wiesbaden 2000, S. 127–137; Zajączkowski verweist auf Baaders „Philosophische Schriften und Aufsätze“. I. Band. Münster 1831.

41. Vorlesung (29. Juni 1841)

585

Es ist leicht zu begreifen, daß dieser Zustand der Dinge verderbliche Folgen für Polen nach sich zog. Die Jesuiten hielten fest an dieser Politik, sie beherrschten damals das Land, nachdem sie lange Zeit den Protestantismus bekämpften, und es endlich dahin brachten, daß er an eigener Entkräftung starb. Aus solchem Sieg zogen sie aber wenig Vorteil, denn sie fühlten schon jene Freude, jene Kraft nicht mehr, welche den früheren Kirchenvätern ein solcher mehrmaliger Sieg über die Ketzer gegeben hatte. Die Angst des Raisonnements, die Scheu, Geheimnisse der Religion zu berühren, bemächtigte sich aller Gemüter in Polen. Paris und Frankreich, in einem politischen Kampf begriffen, nebenbei auch durch protestantische Länder von Polen geschieden, wurden immer seltener von den Polen besucht und gerieten endlich ganz in Vergessenheit. Die politischen Folgen dieses Zustandes ließen jedoch einen noch viel verderblicheren Einfluß auf Polen bemerken. Der Westfälische Friede änderte die Stellung aller europäischen Staaten; der geschichtliche Fortschritt der Völker wurde gewaltsam gekrümmt; andere Begriffe, andere Interessen nahmen nun die Oberhand. Die Fürsten, welche die Waffen ergriffen hatten, die einen, die katholische Kirche zu verteidigen, die anderen, ein gesetzliches Dasein dem Protestantismus zu sichern, diese Fürsten verständigten sich nach langen Kämpfen, beide Parteien zu hintergehen und zu selbsteigenem Vorteil die Leidenschaften der Katholiken wie der Protestanten auszubeuten. Indessen entging dieser im innersten Schlupfwinkel der fürstlichen Kabinette versteckte Verrat den Blicken der Publizisten damaliger Epoche. Diese stimmen im Gegenteil sogar Triumphlieder ob dieses Westfälischen Friedens an, der ja nach ihrer Meinung Duldung (Toleranz), Freiheit, Existenz der Volkstümlichkeiten sichern sollte, sie begrüßen ihn als die Morgenröte einer neuen Ordnung der Dinge. Heut zu Tage sind jedoch sogar die protestantischen Geschichtsschreiber darin einig, daß dieser Vertrag als die verderblichste Kombination zu betrachten sei, die jemals gegen die moralische Würde und Unabhängigkeit der Völker unternommen worden. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation, das Reich, welches die legale Macht des Katholizismus darstellte, wurde auf immer durch diesen Frieden gestürzt; die Kurfürsten, die Reichsfürsten, einst Würdenträger des deutschen Kaiserstaats und unabhängig vom Kaiser und Reichstag, finden sich durch denselben mit selbständiger Gewalt bekleidet. Deutschland zählt auf einmal eine große Menge Fürsten, im Interesse dieser Fürsten eine Unzahl ränkeschmiedender Kabinette, und das zertrümmerte Deutschland bleibt von nun an den Einflüssen des Auslandes offen. Die Schweden, die das Interesse des Protestantismus schirmen sollten, begnügen sich mit Losreißung eines Stücks vom deutschen Reich, mit Eroberung von Pommern und etlicher Seehäfen; sie verlassen die Protestanten, ohne sogar die freie Ausübung ihres Glaubens gewährleistet zu haben.

586

Teil I

Die Markgrafen von Brandenburg vermehren ihre Gewalt, indem sie ihrem Fürstentum einige unabhängige Städte zufügen, deren Freiheiten man nicht achtet. Man hat zu jener Zeit die Gewandtheit des französischen Kabinetts gar sehr gelobt, welche die Protestanten Frankreichs verfolgte und den Protestantismus in Deutschland dennoch begünstigte; Frankreich gewann durch den Westfälischen Frieden Elsaß, sicherte sich die Erwerbung Lothringens und der Freigrafschaft Burgund (Franche-Comté), die schon vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation getrennt waren. Indessen finden berühmte und dem Königtum ergebene Publizisten in diesem Frieden die Quelle aller Übel, welche die revolutionäre Gegenwirkung des letzten Jahrhunderts herbeiführen mußten; das Königtum nämlich, Katholiken und Protestanten solchergestalt betrügend, machte seine Aufrichtigkeit verdächtig; die Völker erkannten, daß die Könige sie täuschten und ausbeuteten. Von diesem Augenblicke an wird das Interesse des Thrones von dem der Kirche in der öffentlichen Meinung getrennt. Polen besonders litt durch diesen Frieden, es allein hatte seine Hand nicht darein gemischt. Welchen Anteil konnte es auch an solchen Berechnungen nehmen? Man hat es dem König von Polen zum Vorwurf gemacht, daß er die Vermittlung zwischen den verhandelnden Mächten zurückwies. Aber der neue Gang der europäischen Politik warf ja alle geschichtlichen Ideen Polens um. Die Nachfolger der Jagellonen hätten zuvörderst das Grundgesetz des Reiches und sämtliche Überlieferungen ihres Hauses verleugnen müssen, ehe sie sich in diese Sache mischen konnten, die ein Herd des schachernden Egoismus geworden. Von Seiten Richelieus911 ward dem König vorgeschlagen, den brandenburgischen Kurfürsten zu berauben und selbst Österreich Schlesien abzunehmen. Solch ein Verschwörungsgedanke aber gegen eine Macht, die von Polen einmal anerkannt war, und derjenige, Österreich zu befeinden, mit dem man in Frieden stand, stieß alle grundsätzlichen Regeln der polnischen Republik um. Die Verschwörung ziemte nicht dieser freimütigen, offenen Regierung und der Verrat war so den Gefühlen des Thrones wie des polnischen Volkes zuwider. Das deutsche Reich war bisher ein treuer Freund und Bundesgenosse Polens; die Kaiser aus dem luxemburgischen Haus intrigierten zwar eine Zeitlang gegen dieses und verfolgten Sonderinteressen nach Eingebung ihres Familienegoismus, aber diese Feindschaft hatte nichts mit den deutschen Reichsinteressen gemein. Jetzt hatte Österreich noch den Titel des apostolischen Staats beibehalten; ohne jedoch im Mindesten auf Aposteltum Anspruch zu machen, 911 Armand Jean du Plessis der Richelieu (1585–1642), Minister unter Ludwig XIII.

41. Vorlesung (29. Juni 1841)

587

sah es den Augenblick vorher, wo es auf seine vererbten Ländergebiete zurückgeworfen werden würde, es ward eine Territorialmacht, es mußte an sein Familieninteresse denken, es mußte Polens „natürlicher Feind“ werden. So blieb denn Polen mitten in Europa einsam und ohne Verbündete. Die Staatskunst, welche von jetzt an gelten sollte, ist auf Selbstsucht begründet, auf dem Interesse des Ländergebiets, sie wird gehandhabt durch die Gewandtheit der Minister. Man trachtet von nun an seine Besitzungen abzurunden, man sucht nach natürlichen Grenzen, zum ersten Male wird das fatale Wort natürliche Feindschaften ausgesprochen. Im Mittelalter, selbst während der schrecklichsten Kriege Frankreichs mit England, in jener Zeit der Schlachten von Crécy, Poitiers und Azincourt912 haben sich die Franzosen und Engländer nicht als natürliche Feinde angesehen; von jetzt an sucht man die Naturgrenzen zwischen den Völkerschaften, man handelt nur noch im Namen der materiellen Interessen, die durch das Interesse des Ländergebiets repräsentiert sind; die Ausdehnung, die Wichtigkeit eines Gebiets erhebt man nunmehr hoch über die moralischen Prinzipien, durch welche die Völker doch allein nur geordnet und regiert werden. Aus dem, was wir von der Politik der Polen gesagt und von den Ideen, die sie über ihr Vaterland haben, ist klar zu erkennen, daß sie keine Mittel fanden, sich diesen Berechnungen anzuschließen. Zum ersten Male zieht sich der Papst von der diplomatischen Gemeinschaft zurück, und Polen bleibt allen diesen Anordnungen fremd. Zu wessen Vorteil mußte der Frieden ausfallen? Er ward geschlossen im Interesse einer Macht, deren Dasein man kaum mutmaßte. Die Erfahrung lehrt, daß Moskau, jetzt in das russische Kaiserreich umgewandelt, die Hinterlassenschaft der alten Politik, welche mit dem Westfälischen Frieden verschwindet, ausgerafft hat. Dies erscheint wohl seltsam und dennoch sieht man in der Geschichte häufig Ähnliches. Die mächtigsten, die stärksten politischen Parteien geraten fast immer in die Gewalt der Individuen, welche am besten ihre Prinzipien vertreten; ebenso bemächtigen sich in den politischen Berechnungen jene Staaten, deren Grundsätze den geschlossenen Bündnissen am besten entsprechen, der Gewalt. Nach dem Westfälischen Frieden entstand in der Meinung, im Urteil des europäischen Publikums eine durchgängige Veränderung; alle Blicke wenden sich notwendig nach Moskau, weil dieser Frieden nur furchtsam jene Prinzipien verkündigt, welche schon längst im moskovitischen Kabinett bestanden und in voller Ausübung waren. Die Verachtung gegen die Individuen, die Verachtung gegen alles, was Meinung, was von Alters her rechtlich heißt, die 912 Schlacht von Crécy 1346, Poitiers 1356, Azincourt 1415; vgl. Joachim Ehlers: Der Hundertjährige Krieg. München 2009.

588

Teil I

materielle Kraft als höchste Richterin für alle Fragen angerufen: alle diese Ideen gründeten ja wie bekannt die Macht Moskaus. Die mongolische Idee, die Vernichtungsidee, übertraf sogar in ihrer Riesengröße sämtliche Ideen, welche die Diplomaten des Westfälischen Vertrags in Schwung brachten, sodaß das moskovitische Kabinett selbst durch die bloße Tatsache des Westfälischen Friedens sich aufgefordert fand, die moderne Politik Europas zu vertreten; es wurde fatalistisch durch Europa, durch die Ränke aller Diplomaten und durch die Meinungen aller Philosophen dazu eingeladen. Polen beginnt dagegen in Vergessenheit zu geraten, bis dahin war in allen diplomatischen Kombinationen, welche auf der mittelalterlichen Überlieferung fußten, ein Grundartikel die Aufrechthaltung der polnischen Macht gewesen, als der Gewährleisterin der Interessen der Christenheit. Wir haben von der letzten dieser Art gesprochen, bekannt unter dem Namen des allgemeinen Friedensplans Heinrichs IV.913 Aber seit diesem Augenblick erschien das ganz vergessene Polen den Politikern Europas als etwas Fremdartiges, als ein uralter Aberglaube christlicher Ehrenhaftigkeit. Die Politik, dergestalt verändert und nur noch als System des Materialismus auftretend, vergreift sich sogar an der Fortdauer eines slavischen Reiches; von den drei Königreichen, die bis dahin das slavische Geschlecht gebildet hatte, verschwindet das tschechische für immer, beschuldigt, es habe keine Tatkraft mehr; Polen wird als Feind betrachtet, weil es seine Überlieferungen entgegenstellt, weil es Hindernisse dem Gang des materialistischen Geistes in den Weg legt und ein mit den neuen Interessen unversöhnbares Dasein fortzusetzen strebt. In der Tat sind die Gewaltigen und Philosophen des vorigen Jahrhunderts auch von einem besonderen Haß wegen dieses schon von Europa abgeschiedenen, fast vergessenen Staates, erfüllt. Friedrich der Große, nachdem er Polen mehrere Provinzen entrissen, widmete noch die letzten Jahre seines Lebens der Anschwärzung und Lächerlichmachung der Polen; er schrieb sogar ein burleskes Gedicht über Polens Mißgeschicke.914 Die Metzeleien, die Plünderungen während der Konföderation von Bar915 dünkten diesem König für ein komisches Gedicht würdige Gegenstände. 913 Vgl. die 39. Vorlesung (Teil I). 914 Frédéric II: La Confédération. Poëme en cinq chants, trouvé dans le portefeuille du philosophe de Sans-Soucy (1789), dann unter dem Titel: La Guerre des confédérés, in: Œuvres posthumes de Fréderic II, roi de Prusse. Tome XV. Berlin 1788, S. 191–260. Vgl. Georg Peiser: Über Friedrich des Großen burleskes Heldengedicht „La guerre des confédérés“. In: Zeitschrift der Historischen Gesellschaft für die Provinz Posen, Bd. 18 (1903). [SUB Göttingen. Signatur: 8 H POS 511]. 915 Konfederacja Barska 1768–1772. Am 29. Februar 1768 gründeten polnische Adlige auf der Festung Bar (Podolien) eine Konföderation, um die Unabhängigkeit Polens gegenüber

41. Vorlesung (29. Juni 1841)

589

Katharina die Große, die mehr Würde besaß, zeigte denselben Ingrimm gegen die Polen in besondern Unterhaltungen. Maria Theresia zauderte wegen religiösen Bedenkens einige Augenblicke, den Teilungsvertrag zu unterschreiben. Die Philosophen, welche damals an der Spitze der europäischen Geistesbewegung standen und die materialistische Weltansicht vertraten, bekämpften Polen mit derselben Heftigkeit, von demselben Haß beseelt. Voltaire, der berühmteste von ihnen, verfälschte sogar die Geschichte, um die Zerreißung Polens zu rechtfertigen; er beglückwünschte den König von Preußen, die Kaiserin von Rußland und das österreichische Kabinett, dies Reich zerstört zu haben. Und doch bedauerte er das Schicksal der Juden; er entwarf den Plan, das jüdische Königreich in Jerusalem herzustellen, um die evangelische Vorhersagung von der Zerstörung des Tempels Lügen zu strafen. Man hat Voltaire bezüchtigt, an Rußland verkauft gewesen zu sein; aber ich halte dafür, daß sein Haß uneigennützig, eine logische Folgerung, und daß sein Plan, Polen zu vertilgen, dem der Herstellung des jüdischen Staates ganz entsprechend war.916 Edward Gibbon917, dem man kein persönliches Interesse in dieser Angelegenheit unterstellen kann, der sicherlich weder Geschenke vom russischen Hof erhielt noch Beziehungen zum König der Preußen unterhielt, bewundert doch Dschingis-Khan, Tamerlan und das mongolische System. Es treten Verbindungen zwischen dem materialistischen System und dem durch die Mongolen realisierten System, das später als Basis im Großfürstentum Moskau diente. Nach Berechnungen eines Statistikers tötete Dschingis-Khan mehr Menschen als Rom während der ganzen Kriege der Republik und des Kaiserreichs, die Kriege von Julius Cäsar eingeschlossen! Montesquieu, der in Polens Geschichte durch ahnendes Gefühl tiefer eingedrungen, der sogar sagt, Polen ziele zur Freimachung des Individuums, daher es auch ihm zufolge das Rätsel lösen mußte, zeigt gleichwohl nirgends für dasselbe Mitgefühl, er erhebt es und seine Einrichtungen nie durch Vernunftgründe, wie es doch sonst seine Weise war. Auf der anderen Seite sucht er die Quellen der tatarischen Geschichte auf, obgleich er bemerkt, daß dies eine seltsame nomadische Menschenrasse sei, die, einzeln genommen, gutartig, Rußland zu verteidigen; vgl. Władysław Konopczyński: Konfederacja barska. 2 Bde., Warszawa 1991. 916 Vgl. Voltaires polemische Schriften: Essai historique et critique sur les dissentions des églises Pologne. Basel 1767; Discours aux confédérés catholiques de Kaminiek en Pologne. Amsterdam 1768; in: Œuvres complètes de Voltaire. Bd. 5. Paris 1836; vgl. auch Mieczysław Smolarski: Studia nad Wolterem w Polsce. Lwów 1918, S. 209. 917 Edwards Gibbon: The History of the Decline and Fall of the Roman Empire.  6 Bände. London 1776–1788.

590

Teil I

im Ganzen aber eine zerstörende ist, und obgleich er ihren Vernichtungstrieb fühlt, rechtfertigt er selbige doch durch intellektuelle Gründe, stellt sogar ihre Einrichtungen als musterhaft dar, und spricht geradezu aus, das tatarische Regierungssystem in China sei ein Vorbild, ein Ideal der Unterjochung.918 Ich rede hier nicht weiter von den übrigen zweitrangigen Schriftstellern, welche die Buchläden mit Gedichten und Rossiaden919 aller Arten angefüllt. Diese deutschen, italienischen und englischen Poeten und Philosophen aller Völker waren durch eine mysteriöse Kraft angezogen, und durch jene furchtbare Macht, die in Rußland erschien, wie bezaubert. Endlich kennt ja auch die moderne Philosophie, welche jetzt in Deutschland herrscht, ebenfalls keine andere Macht unter den Slaven als die Rußlands. Wir haben einige Worte von diesen Systemen zu sagen; hieraus werden sie, meine Herrn, die große Schwierigkeit einsehen, welche sich dem Studium der slavischen Geschichte, unter Eingebung dieser Systeme geschrieben, entgegenstellt. Dasjenige, welches jetzt noch fortdauert, und sich auf die Ruinen der übrigen philosophischen Doktrinen gestellt hat, ist das Hegelsche. Ich werde nur den philosophischen Teil untersuchen und seinen Grundgedanken der in dunkler, rätselhafter Sprache verhüllt ist, allgemein verständlich darzulegen mich bemühen. Die Schüler Hegels, die kein Interesse haben, ihn zu verbergen, machen es uns möglich, ihn zu begreifen und darzustellen.920 Nach Hegel ist Gott als Geist und als Kraft, als Sein und Nichtsein zu denken; dieser Gott des Weltalls verwirklicht sich im Menschen; er wächst als Pflanze, als organisches Wesen, als Tier, als Kind, als Mensch und gelangt endlich in der menschlichen Seele zum Begriff seiner selbst. Deutlicher gesprochen: der einzige individuelle Gott ist der Mensch. Der Gedanke verwirklicht sich im 918 Charles-Louis de Montesquieu (1689–1755); vgl. sein Werk – De l’esprit des loix (1748); dt. Vom Geist der Gesetze. Stuttgart 1994; im 11. Buch, Kap.  5 befindet sich eine negative Äußerung über Polen: „l’indépendance de chaque particulier est l’objet des lois de Pologne, & ce qui en résulte, l’oppression de tous.“ (Die Unabhängigkeit jedes Individuums ist Gegenstand des Rechts in Polen, und daraus resultiert die Unterdückung für alle); in der Fußnote wird auf die „Unbequemlichkeit des Liberum veto“ verwiesen. Zitat nach [http://fr.wikisource.org]. 919 „Rossiada“ (1779) heroisches Epos von Michail Matveevič Cheraskov (1733–1807), das als Gattungsbegriff im 19. Jahrhundert einige Nachahmer fand; vgl. Peter Thiergen: Studien zu M.M. Cheraskovs Versepos „Rossijada“. Bonn 1970. 920 Gemeint ist in erster Linie der Hegel-Schüler Karl-Ludwig Michelet (1801–1893), auf den sich Mickiewicz stützt; vgl. Carl Ludwig Michelet: Entwicklungsgeschichte der neuesten Deutschen Philosophie mit besonderer Rücksicht auf den gegenwärtigen Kampf Schellings mit der Hegelschen Schule. Berlin 1843; Carl Ludwig Michelet: Geschichte der letzten Systeme der Philosophie in Deutschland von Kant bis Hegel. 2 Teile. Berlin 1837–1838 (Reprint: Olms, Hildesheim 1967). Mickiewicz besuchte übrigens im Sommer 1829 mit Karol Libelt eine Vorlesung von Hegel; vgl. dazu die 17. Vorlesung (Teil III).

41. Vorlesung (29. Juni 1841)

591

Menschen und gewinnt in ihm das Wissen seines eigenen Daseins. Aber der geschichtliche, der (kollektive) gemeinsame Gott, sich nicht begnügend, in den von ihm auserkorenen Individuen zu existieren, in den Individuen, die als Philosophen ihre Ideen begreifen, der Gott der Weltgeschichte hat sich in die Völker einverleibt. Nach Hegel verkörperte er sich einst in den Reichen des Morgenlandes, in den Herrschern Babylons und Persiens, z.B. in der Person des Königs Ninus.921 Später zog er Griechenland vor, wo er sich in der Kunst besonders betätigte und die glänzende Kunstperiode erzeugte; dann ging er nach Rom über und trat als politischer Gott auf. Endlich erlag er einer nochmaligen Umwandlung, die Form der germanischen Rasse annehmend.922 Hegel sagt nicht genau, in welchem Königreich Gott jetzt gerade residiert; aber aus seinem politischen System läßt sich leicht erraten, daß er, ihm zufolge, gegenwärtig in Preußen residiert. Der politische Gott hat sich zum Preußen gemacht. [Gelächter unter den Zuhörern] Meine Herren! ich bin weit entfernt, eine Karikatur machen zu wollen. Drücke ich mich schlecht aus, so liegt es an der großen Schwierigkeit, die Hegelschen Gedanken populär wiederzugeben; ich beabsichtige jedoch durchaus nicht, eine lächerliche Form seinen Abstraktionen geben zu wollen. In deutscher Sprache, wo vieldeutige, weitschweifige Bezeichnungen angewendet werden, ist es sehr leicht, diese Ideen, welche ihnen so seltsam erscheinen, auszudrücken, sobald man nur die wissenschaftlichen Formen, die eine gewisse Wichtigkeit verleihen, beobachtet. Die Tatsache ist, daß nach Hegel der vollkommenste Staat, unter welchem Gott sich darstellen kann, das Königreich Preußen ist, mit einem König und Ständen seiner Art und solcher Staatsverfassung ungefähr, wie sie heute dort besteht.923 921 Ninus (Ninos) – mythischer Begründer der Stadt Ninive (heute Irak) und „Stifter des assyrischen Reiches“; vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Stuttgart 2002, S. 268 (Erster Teil: Die orientalische Welt, Dritter Abschnitt: Persien, Zweites Kapitel: Die Assyrer, Babylonier, Meder und Perser). 922 Die Ausführungen beziehen sich auf die entsprechenden Kapitel aus Hegels „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“ (op. cit.) – Erster Teil: Die orientalische Welt, Zweiter Teil: Die griechische Welt, Dritter Teil: Die römische Welt, Vierter Teil: Die germanische Welt. 923 Das sagt Hegel über Preußen indirekt, indem er die „konstitutionelle Monarchie“ als die einzige, dem höchsten Rechtsbegriff entsprechende Staatsform anerkennt; vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundriss. Berlin 1833 (Dritter Abschnitt. Der Staat. §  257–360; § 272: „Man muß daher den Staat wie ein Irdisch-Göttliches verehren und einsehen, daß, wenn es schwer ist, die Natur zu zu begreifen, es noch enendlich herber ist, den Staat zu fassen.“; […] § 273: „Die Ausbildung des Staates zur konstitutionellen Monarchie ist das Werk der neueren Zeit, in welcher die substantielle Idee die unendliche Forme gewonnen hat.“ – Zitat nach G.W.F.  Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Frankfurt am

592

Teil I

Die Anhänger Hegels legen sein System verschiedentlich aus; es gibt sogar einige, die es mit den katholischen Ideen zu verschmelzen trachten, während andere in den gröbsten Materialismus verfallen. Ich habe ihnen die Doktrin so gegeben, wie sie in den Schriften des Lehrers selbst ausgedrückt zu sein scheint. Hegel aber bemerkt, daß diese Gottheit, die auf ihrer steten Wanderung die mächtigsten Völker besucht, auch inmitten der Slaven ihren Sitz aufschlagen könnte. Es gibt Hegelianer, die da vermeinen, Rußland biete für die Inkarnation der Gottheit einen viel mächtigeren und weit vollständigeren Körper dar, als das Königreich Preußen. Die russische Philosophie924 ist gewaltsam in diesen Strom hineingezogen. Sie billigt die gesamte Vergangenheit Rußlands, selbst die Grausamkeiten Ivans. Und wenn wir annehmen, daß Gott sich dergestalt einem Volk einverleibt, um seine politische Kraft zu offenbaren, so hat Gott das Recht, seine Feinde zu vernichten; die Rußland feindlichen Völker, welche ehedem eines Mangels politischer Voraussicht beschuldigt wurden, weil sie sich demselben nicht genügend widersetzt haben, laufen jetzt also große Gefahr, vom Anathema (Verfluchung) getroffen zu werden, als weil sie sich der Gottheit widersetzen. So ist der ganze philosophische und politische Gang Europas dem politischen und religiösen Fortschritt Polens diametral entgegen. Darf man sich daher wundern, wenn dieses Volk, von allen übrigen Staaten getrennt, beharrend in der Entwicklung der eigenen Grundsätze, nicht im Stande, irgend eine Hilfe weder von Rom noch von Paris zu erhalten, bekämpft selbst durch die gesamte Philosophie, wenn, sage ich, alle Intelligenzen dieses Volkes schwanken und schwach zu werden beginnen, und daß Polen einen Augenblick der Sammlung nötig hat, um seine Feinde zu erkennen, sich zu orientieren und den Weg in die Zukunft zu treffen! Auch die zwischen Katholizismus und Materialismus vermittelnden Philosophien, welche Anspruch darauf machen, die menschliche Gesellschaft neu zu organisieren, haben sich gleichfalls an die slavische Rasse gewandt und die Geschichte dieses Volkes verunstaltet. Unter diesen Schulen führen wir die Saint-Simonisten925 an; diese lassen keine Nationalitäten zu; dennoch verherrlichten ihre Häupter Rußland als Repräsentanten der Kraft; denn sie Main 1986, S. 434–435; vgl. auch die anonym erschienene Schrift „Hegel und Preußen“. Frankfurt am Main 1841. 924 Vgl. Dmytro Čyževs’kyj: Hegel in Rußland. Halle 1934; Katja Lebedewa: Russische Träume: die Slawophilen – ein Kulturphänomen. Berlin 2008 (= Ost-West-Express, Bd. 4); Andrzej Walicki: Filozofia polskiego romatyzmu. Kraków 2009 (Kapitel: „Prelekcje paryskie“ Mickiewicza a słowianofilstwo rosyjskie, S. 173–233). 925 Dazu gehörte Michel Chevalier (1806–1879), der seit November 1830 die Zeitschrift „Le Globe. Journal de la doctrine de Saint-Simon“ leitete.

41. Vorlesung (29. Juni 1841)

593

meinen, diese Kraft, einmal bekehrt, würde alle Länder, über die sie herrscht, dem Saint-Simonismus zur Verfügung stellen. Auch die Fourieristen926, die jede nationale und geschichtliche Idee zurückstoßen und eine neue Gesellschaft zu gründen trachten, riefen das slavische Volkstum an. Es ist ihr einziger Aufruf an eine Nationalität, an einen unabhängigen Staat, so viel mir bewußt ist. Einer der größten Denker unter den katholischen Philosophen, Joseph Marie de Maistre, erkannte wohl die Polen angetane Unbill. Er erblickte hierin die Unwissenheit derjenigen Völker, die seine Geschichte erzählten. Indessen als französischer Emigrant, als Anhänger der Legitimität, und vermeinend, Rußland allein stehe auf der legitimen Basis, spendete er Polen nichts weiter als ein unfruchtbares Bedauern.927 Ballanche gibt in seiner „Vision d’Hebal“928 der polnischen Geschichte eine andere Bedeutung, er stellt es zwischen Griechenland und die keltische Rasse; es war ihm zufolge bestimmt, die rohe Gewalt zu bekämpfen und die Überlieferung und Aufopferung lebend zu erhalten; dies ist jedoch nur eine Seite der Geschichte Polens. Ich vergaß, ihnen die so oft wiederholten Worte Voltaires anzuführen: „Das Licht muß euch jetzt vom Norden kommen“ („La lumière doit maintenant vous venir du Nord“).929 Nach allem, was wir gesagt haben, sehen sie, meine Herren, einen seltsamen Instinkt, eine allgemeine Bewegung, die alle Systeme gen Norden zieht. Alle Philosophen und Reformatoren suchen ihren Stützpunkt im slavischen Stamm zu nehmen; man dürfte hieraus wenigstens diesem Geschlecht eine dauernde und große Bestimmung vorhersagen. Auch die Griechen strebten während ihres Verfalles ihre philosophischen Systeme den Römern mitzuteilen, weil sie in sich selbst nicht mehr die Kraft, selbige zu verwirklichen, fühlten.

926 Charles Fourier (1772–1837); vgl. Michaela Trude: Die Fourieristen. Bonn 1986. 927 Joseph de Maistre (1753–1821); vgl. J. de Maistre: Les Soirées de Sankt-Péterbourg ou Entretiens sur le gouvernement temporel de la Providence. Paris 1821; dt. Übersetzung: Die Abende von St. Petersburg oder Gespräche über das zeitliche Walten der Vorsehung. Hrsg. Jean J. Langendorf und Peter Weiß. Wien 2008. 928 Pierre-Simon Ballanche (1776–1847); vgl. P.-S. Ballanche: Vision d’Hébal, chef d’un clan écossais: épisode tiré de „La ville des expiations“. Paris 1831; vgl. Arthur McCalla: A romantic historiosophy. The philosophy of history of Pierre-Simon Ballanche. Leiden 1998. 929 Unklar. Es handelt sich hier vermutlich um die oft falsch zitierte Äußerung von Aleksej Stepanovič Chomjakov, die aus seinem Gedicht über Napoleon stammt: „Скажите, не утро ль с Востока встаёт?“ (Sprecht, zieht nicht der Morgen im Osten herauf?) – A.S. Chomjakov: „Eščo ob nem“. In: A.S. Chomjakov: Stichotvorenija i dramy. Leningrad 1969, S. 120. Zur Verwechslung von „Norden“ und „Osten“ vgl. die 5. Vorlesung (Teil III).

594

Teil I

Aber in diesem slavischen Geschlecht sehen wir zwei Reiche, deren Gegensätze wir erläutert haben. Die Geschichte dieser Staaten und die Art und Weise, wie sie sich zu entwickeln haben, sind auf das Innigste seit dem Westfälischen Frieden mit dem Zustand Europas verbunden. Noch neulich war dies slavische Geschlecht berufen, eine wichtige Rolle zu spielen, die man bisher weder begriffen noch erklärt hat; man weiß, daß Rußlands Gewicht im letzten Kampf des alten Europa mit der französischen Revolution den Ausschlag gegeben hat; man weiß, daß Polen andererseits für die Sache des Westens gerungen. Indessen haben diese beiden Mächte mehr als einmal sehr widersprechende Stellungen eingenommen, die fähig wären, die öffentliche Meinung irre zu führen. Man sah z.B., wie die polnische Aristokratie, welche die Legionen kommandierte, die französische Revolution bekämpfte, während das russische Reich sehr geschmeidig Bündnisse mit Frankreich schloß. Diese beiden Völker erscheinen mitten im europäischen Kampf (ich glaube, ihnen diesen Vergleich schon gemacht zu haben) wie zwei Ritter mit geschlossenem Visier, deren Wappen und Geheimnis noch niemand hat entziffern können. Offenbar wird das Geschick dieser inmitten Europas isolierten Reiche, durch die Philosophie angeregt, durch die Reformatoren angerufen, nicht bloß die große Frage des Übergewichts, welche das slavische Geschlecht teilt, sondern auch zugleich die Fragen des Lebens, der Religion, der Philosophie und der Gesellschaft entscheiden. Jedes der Königreiche, welche das Slaventum bildet, rechnet auf die Zuneigung und Abneigung der Völker und philosophischen Schulen des Westens. Wahrscheinlich wird Ihnen, meine Herren, erfreulich sein, im künftigen Jahr zu hören, wie das Reich der Tschechen, welches, als gar keine Tatkraft mehr aufweisend, verschwunden und vergessen war, sein Volkstum neu aufzustauen beginnt; und wie Polen, nicht nur vergessen, sondern selbst notwendig und fatalistisch durch das ganze jetzt in Europa herrschende System bekämpft, diesem allgemeinen Angriff die Ideen entgegenstellt, welche es aus seinem Volkstum schöpft.

Teil II (1841–1842)

1. Vorlesung (14. Dezember 1841) Einleitung – Programm der Vorlesungsreihe 1841–1842: die slavische Literatur vom Ende des 17. bis zum 19. Jahrhundert – Ihre Einheitsbestrebungen – Rückblick auf die Geschichte der Slaven – Die vom Slaventum erwartete Idee – Das gemeinsame in dieser Erwartung mit dem europäischen Westen – Die Bedeutung des Wortes für die Slaven – Die Stellung des Professors.

Herr Mickiewicz dankte zuerst bei der Eröffnung seiner Vorträge im Collége de France seinen vorjährigen Zuhörern für die ihm geschenkte Gewogenheit, die ihm um so teurer sei, da er die große Schwierigkeit gefühlt habe, die Aufmerksamkeit einer Versammlung zu gewinnen, welche aus Zuhörern verschiedener Nationen besteht; und erwähnte zugleich, daß er nicht alle Teile seines Vortrags berühren könne, weil die Natur des Gegenstandes nicht erlaube, die politischen Leidenschaften und die bestehenden Interessen anzutasten. Dieses, selbst zu seinen Stammgenossen, den Slaven, sprechend, vermöge er nicht, und zwar, weil sie Söhne eines Vaterlandes sind, welches verschiedene Volkstümlichkeiten umfaßt, die sich gegeneinander feindselig in ihren Bestrebungen und Bedürfnissen verhalten und meistens feindlich gegenüber stehen. Um übrigens auch den anderen Teil seines Publikums nicht zu langweilen, sei er gezwungen gewesen, im Vortrag des verflossenen Jahres beim Durchgehen des unermeßlichen Raumes der slavischen Geschichte jeden Augenblick, wenn auch nicht sein Vaterland, so doch wenigstens das Terrain seiner Besprechung zu verändern. Auf diese Weise erkaltete die Aufmerksamkeit der Polen, so oft er sich auf den russischen Boden versetzte, und umgekehrt waren die Russen unzufrieden, sobald er lange auf dem Landstrich verweilte, den sie gerne nur als ihre Provinz ansehen möchten. Die Bescheidensten unter ihnen, die Slaven an der Donau, sandten ihm aus dem Inneren der Wallachei und Moldau Vorwürfe, daß er sie vergesse, was doch unbegründet ist, da die einmal angenommene chronologische Ordnung ihm diesen Teil der literarischen Geschichte bis an das Ende zu verlegen befiehlt. Übrigens wäre sein bisheriger Vortrag eigentlich nur eine Einleitung, eine Vorbereitung oder gleichsam nur eine Umschiffung, welche die Entdeckung und Umseglung der Länder zum Zweck hatte. Häufig war es notwendig, sich bei berühmten Namen nicht aufzuhalten, sondern sie zu übersehen; oft mußte man in dieser oder jener Provinz, bei diesem oder jenem Volke gepriesene Denkmäler, die zwar groß, aber ohne allgemeinen Charakter sind, bei Seite lassen. Denn es handelte sich hier nicht um die Geschichte eines einzelnen Volkes, sondern um die Geschichte vieler Völker und ihrer Literaturen; wie oft war es nicht notwendig, inmitten dieser

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_043

598

Teil II

Mannigfaltigkeit der Gegenstände innezuhalten, rund umher zu sehen, um sich nicht zu verirren; ja sogar um sie alle mit einem Überblicke zu umfassen, war es erforderlich, gänzlich den slavischen Boden zu verlassen, sich auf einen ganz allgemeinen Standpunkt emporzuschwingen, dem Westen seine philosophische Sprache zu entlehnen und den slavischen Gedanken mit dem europäischen zu vereinen. Dies ist die Pflicht des Berufenen in dieser Stadt angesichts des Landes Frankreich, welches Europa repräsentiert. Wenngleich diese Methode ihre Unbequemlichkeiten haben und mit Schwierigkeiten verbunden sein kann, so gebieten dennoch wichtige Rücksichten, auch ferner fest daran zu halten.1 Das Ende des 17. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts soll für dieses Jahr das Feld sein, auf welchem sich die Erforschung der Politik, Philosophie und Kunst bewegen wird. Dieser Zeitraum läßt sich leichter behandeln, denn in ihm treten die Slaven in immer nähere Verbindung mit dem übrigen Europa. Ihre Zaren, Könige und Edelleute besuchen die westlichen Länder; sie begeben sich nach Frankreich und England, um daselbst Regierungssysteme, philosophische Begriffe und Vorbilder der Kunst zu holen. Das slavische Geschlecht atmet den europäischen Geist durch alle Poren ein. Auf diese Art bildet sich auf seinem breiten Erdraum eine gesellschaftliche Oberfläche, welche aus zivilisierten Leuten von besserer Erziehung, fast in Franzosen verwandelt, besteht; aufgeputzt mit französischem Flitter, blinkt sie mit einem gewissen lichten, jedoch vergänglichen Phosphorschein. Will man die Werke dieser Epoche kennen lernen, so ist es genügend, die Übersetzungen zurück zu übersetzen, um die linkischen Nachahmungen der klassischen Werke aus der Zeit Ludwigs XIV. und XV. zu sehen. Nichts Trockneres als diese Zeit gibts in literarischer Beziehung, daher wird sie auch nur wenig Erwägungswertes darbieten; kaum finden wir in der polnischen Literatur ein einziges ausgezeichnetes Werk. Gleichwohl fängt das slavische Geschlecht, das so oft unterjocht war, und auch für jetzt noch einmal im 17. Jahrhundert in geistige und sittliche Sklaverei geriet, wieder zu wirken an; es offenbart sich in ihm eine außerordentliche kühne Bewegung, die aber keine stete Richtung hat; es zeigt sich schon in den Werken hier und da ein originelles Merkmal, und alle volkstümlichen Literaturen scheinen zur Gestaltung einer einzigen allgemeinen zu eilen.

1 In der dritten Auflage von F.  Wrotnowski (A.  Mickiewicz: Literatura słowiańska. Tom II, Poznań 1856, S. 1–2) wird dieser Absatz in direkter erzählter Rede wiedergegeben. Auf die Übersetzung in dieser Redeform wurde verzichtet, da der Bericht in indirekter Rede alle Informationen enthält.

1. Vorlesung (14. Dezember 1841)

599

Diese Erscheinung verwirrt die Systematiker und wirft alle in Schulen festgestellten Begriffe um. Diesen nach fängt jede Literatur mit der religiösen, fast immer lyrischen Poesie an, die dem theokratischen Zustand der Gesellschaft entspricht; dann scheidet sich von der Lyrik das die Heldenzeiten besingende Epos aus, und endlich kommt die Rhetorik und Philosophie, welche das Trübe und Verworrene der Poesie nach und nach läuternd, zum letzten Ergebnis, gleichsam zum Ausbruch die Prosa und Journalistik geben, was schon einigermaßen das caput mortuum der Geistesarbeiten sein soll. So glaubten Giambattista Vico, Friedrich Schlegel und andere Schriftsteller.2 Unterdessen ging es – wie bekannt – bei den Slaven ganz anders her: auf der letzten Seite ihrer pragmatischen Geschichte finden wir die ersten Zeilen eines Gedichtes, eines Liedes, das kein gewöhnliches ist, weil aus ihm ganze Gedichte aufblühen und welches selbst in den Augen der strengsten Kritiker, ungeachtet der Mängel in einzelnen Sätzen, zusammengenommen ein Ganzes voll schöpferischer Kraft und immer wachsender Bewegung ausmacht. [In den Vorlesungen des letzten Jahres3 zeigten wir, daß die Slaven weder eine gemeinsame Mythologie noch literarische Werke vorzuweisen hatten, die bei allen Slaven anerkannt waren. Es gab die slovakische4 Poesie, die sich von der tschechischen grundsätzlich unterscheidet; reich vertreten war die serbische Poesie, die wir jedoch als etwas Zufälliges erachten; sie hatte keine Zukunft, blieb in der Geschichte der slavischen Literatur als etwas Zufälliges, als Episode. Erst auf der letzten Seite der politischen Geschichte der slavischen Kaiser- und Königreiche, auf der letzten Seite ihrer pragmatischen Geschichte, begegnen wir den ersten Strophen einer wahren Poesie. Aus diesen Strophen enstehen bald ganze Poeme. Groß und kraftvoll ist diese Poesie. Selbst die strengsten Kritiker, die auf Mängel einzelner Werke verweisen, erkennen ihre Vitalität und ihren Höhenflug. Dieser dichterische Höhenflug strebt Einheit an und erzeugt eine zentripetale Bewegung, denn in den Werken der Dichter, die zu verschiedenen slavischen Völkern gehören, empfinden alle Slaven die Eingebung ihres eigenen

2 Vgl. Giambattista Vico: Principi di una scienza nuova d’intorno alla commune natura delle nazioni, Neapel 1725; deutsche Übersetzung – G. Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker. Übersetzt von Vittorio Hösle und Christian Jerman.  2 Bde., Hamburg 1990; Friedrich Schlegel: Geschichte der alten und neuen Literatur. Vorlesungen gehalten zu Wien 1812. 2 Teile. Wien 1815. 3 Vgl. die 5.–7. Vorlesung (Teil I). 4 Für diese Feststellung fehlt jegliche Begründung. In der Płoszewski-Übersetzung „mährische Poesie“ („poezja morawska“); vgl. dazu den Kommentar von Julian Maślanka (Adam Mickiewicz: Dzieła. Tom IX: Literatura słowiańska. Kurs drugi, op. cit., S. 444), der mit Recht die Existenz dieser Poesie bezweifelt.

600

Teil II

Geistes. Die Poesie setzte die ersten Zeichen dieser zentripetalen Ausrichtung, die sich heute mannigfaltig manifestiert.]5 Am Ende der Regierung des Zaren Alexander I., in dem Jahr 1824 oder 1825, und zwar als das russische Ministerium den kurz dauernden Widerstand des Zaren und einiger seiner Freunde brach, lenkte man die Politik des Staates in die Bahn der mongolischen Tradition und ergriff Maßnahmen zur Vernichtung der Verfassung des Königreichs Polen. Der polnische Sejm, der die politischen Interessen der nationalen Vergangenheit repräsentierte, erriet dazumal instinktmäßig die hierdurch gegebene Richtung der Dinge und stellte ihr eine zwar unbewegliche, aber dafür auch ungebeugte Kraft entgegen. Es war dieses eine der gewaltigsten Oppositionen, die der Regierung je in den Weg traten. Der Kampf auf Leben und Tod kündigte sich schon damals an; beide Parteien häuften ihre Waffen im Geheimen. Unterdessen trat ein sonderbares Ereignis ein: Russen und Polen wurden in einer Verschwörung6 zusammen ertappt, die ein gemeinsames, dazumal jedoch von niemandem verstandenes Ziel hatte. Die Untersuchungskommission7 spürte keine einzige Folgerung heraus, ihr geübter Berichterstatter scherzte über das Siegel der Verschworenen, welches auf einer in zwölf Felder geteilten Oberfläche die zwölf slavischen Stämme bezeichnete. Der Gedanke dieses Siegels kam, wie es scheint, von den Ufern der Donau, und eben in jener Zeit macht sich in der Geschichte und Dichtung der Slaven ein diesem Gedanken entsprechender Charakterzug bemerkbar. Die Archäologen und Antiquitätensammler, Leute, die am wenigsten gefährlich sind, bemühen sich, gleichsam eine neue Vereinigung zu erschaffen; indem sie sich in das entfernteste Altertum8 vertiefen, suchen sie den einen Ursprung der Slaven und legen den Beweis der ursprünglichen Einheit in die Gemeinschaft ihrer Sprache. [Man publizierte bereits ein allgemeines slavisches Wörterbuch 5 Der Abschnitt in eckigen Klammern wurde nach der Übersetzung von Felix Wrotnowski nachübersetzt (A. Mickiewicz: Literatura słowiańska. Tom II, Poznań 1856, 3. Auflage, S. 1–3). 6 „Gesellschaft der vereinten Slaven“ (Obščestvo Soedinennych Slavjan – Stowarzyszenie Zjednoczonych Słowian) – gegründet 1822 in Novgorod Volynskij (Ukraine) von den Brüdern Petr Ivanovič und Andrej Ivanovič Borisov und Julian Lubliński (alias Kazimierz Motosznowicz) mit dem Ziel, den russischen Zar zu stürzen, Polen zu befreien und eine slavische Föderation zu bilden. Vgl. Milica Vasil’evna Nečkina: Obščestvo soedinennych slavjan. MoskvaLeningrad 1927; Über Dekabristen und Polen vgl. die 28. Vorlesung in diesem Band. 7 Vgl.: Donesenie Sledstvennoj kommissi [dlja izyskanij o zloumyšlennych obščestvach ego imperatorkomu veličestvu]. [Sanktpeterburg] 1826; franz. Fassung: Conspiration de Russie: rapport de la Commission d’enquête de St-Pétersbourg à S.  M. L’empereur Nicolas 1er sur les sociétés secrètes découvertes en Russie, et prévenues de conspiration contre l’État. Paris 1826. 8 Vgl. Pavol Jozef Šafárik: Slowanské starožitnosti. Praha 1837; deutsch – Paul Joseph Schaffarik: Slawische Alterthümer. Bd. 1–2. Übersetzt von Mosig von Aehrenfeld. Hrsg. Heinrich Wuttke. Leipzig 1843–1844.

1. Vorlesung (14. Dezember 1841)

601

und eine Geschichte der slavischen Literatur9. Auf vielen Wegen suchte man diese Gemeinsamkeit.] Die Dichter ihrerseits übergehen alle Gegenstände, die den gegenseitigen Haß der Völker wecken könnten. Die russischen hören auf, ihren Ivan, Peter den Großen und Katharina zu preisen; die polnischen übersehen ihre geliebten Helden des 16. Jahrhunderts und zeichnen Bilder, Gefühle und Sitten auf, die nicht nur ihren Landsleuten lieb und teuer sind, sondern auch jedem Slaven bekannt und anlockend. So z.B. kann in den Schriften von Kazimierz Brodziński ebenso gut ein Russe wie ein Pole allgemeine Merkmale finden, die das häusliche Leben der slavischen Geschlechter von der Oder bis Kamčatka auszeichnen. Die Ukraine, dieser neutrale Mittelboden zwischen Polen und Rußland, ist der Ort des Zusammentreffens der Dichter geworden. Józef Bohdan Zaleski und Aleksandr S. Puškin, Kondratij Ryleev und Seweryn Goszczyński treffen hier bei eben denselben Begeisterungsquellen zusammen. Verschieden ist ihre Anschauungsweise der Dinge, verschieden die Wahl der Aussicht; aber mit Recht hat man gesagt, daß es möglich wäre, von diesen Teilen ein harmonisches Ganzes, eine erhabene Kosaken-Rhapsodie10 zusammenzusetzen. Von nun an wird es den Literaten nicht mehr verziehen, die angrenzende Mundart und die sich berührenden Kunstprodukte nicht zu kennen. Jan Kollár, ein slovakischer Dichter, schließlich hat eine gediegene Abhandlung „Über die literarische Wechselseitigkeit“ verfaßt, in der er allen Slaven die Verpflichtung auferlegt, ihre Mundarten und Literaturen zu kennen. Um (bestehenden slavischen) Empfindlichkeiten aus dem Wege zu gehen, veröffentlichte er das Werk in deutscher und französischer Sprache.11

9 10

11

Vgl. Samuel Bogumil Linde: Słownik języka polskiego. Warszawa 1807–1814; Paul Jozef Schaffarik: Geschichte der slawischen Sprache und Literatur nach allen Mundarten. Ofen 1826. Gemeint sind die Gedichte über den Hetman der Zaporoger Kosaken Ivan Mazepa (1639– 1709); vgl. Bohdan Zaleski „Dumka o Mazepie“ (1824); Kondratij Fedorovič Ryleev „Vojnarovskij“ (1825); Aleksandr Sergeevič Puškin „Poltava“ (1828). S. Goszczyński schrieb keine Gedichte über Mazepa, aber über den blutigen Aufstand von 1768 in der Ukraine und das Kosakenleben in der Versdichtung „Zamek kaniowski“ (Das Schloß von Kaniów. 1828). Vgl. Jan Kollár: Über die literarische Wechselseitigkeit zwischen den verschiedenen Stämmen und Mundarten der slawischen Nation. Pest 1837; vgl. § 4. „Ein nicht hochgelehrter aber doch wenigstens auf der ersten Stufe der Bildung und Aufklärung stehender Slawe, möge nur die vier jetzt lebenden gebildeteren Dialekte kennen, in welchen Bücher geschrieben und gedruckt werden, nämlich den russischen, illyrischen, polnischen und böhmischslovakischen. Der gelehrtere und und gebildetere Slawe zweiter Klasse wird sich auch in die kleineren Mundarten und Untermundarten einlassen, wie z.B. im Russischen das Kleinrussische, im Illyrischen das Kroatische, Windische, Bulgarische, im Polnischen das Lausitzische usw. Der Slawe dritter Klasse oder ein Gelehrter, Sprach- und Geschichtsforscher von Fach soll alle slawischen Mundarten ohne Ausnahme kennen […].“ (S. 338). Über Jan Kollár vgl. auch die 4. Vorlesung (Teil III).

602

Teil II

Was bedeutet nun diese wunderbare Erscheinung, diese Offenbarung einer jugendlichen Literatur auf den Gräbern so vieler Völker, so vieler slavischen Systeme? Nach der Einleitung zu dieser Frage, zu der wir, die Gedanken und Worte in der Hast auffassend, gekommen waren, sprach der Professor weiter. Ich werde hier meinen neuen Zuhörern die im vergangenen Jahre umständlicher auseinandergesetzte politische Geschichte der slavischen Völker in kurzen Worten wiederholen. Ihre Kaisertümer und Königreiche waren zuerst durch fremde Eroberung gestiftet, darnach durch den christlichen Gedanken konstituiert und modifiziert nach denjenigen Formen, welche von den beiden Einflüssen der zwei geteilten Kirchen abhängig waren. Es bildete sich das russische und polnische Reich, indem das eine gegen das andere ankämpfte und jedes seinerseits die Oberhand der ihm eigentümlichen Idee zu verschaffen strebte. Unter den Jagellonen vermochte Polen ein tiefes, edles, auf christlichem Glauben und christlicher Liebe fußendes, politisches System zu erfassen; solches aber zu verwirklichen, gebrach ihm die Kraft. Die sittliche Kraft hierzu hätte es aus dem Westen schöpfen müssen; nun aber schnitt es der Protestantismus von dieser Quelle ab, und so siel es der Anarchie anheim; denn Anarchie ist nichts Anderes, als ein Zustand der Dinge, der eine neue Idee erfordert. Polen befand sich in diesem Zustande, es suchte für sein Fortbestehen einen neuen Antrieb und gewahrte ihn in keiner dem Westen entlehnten Form. Weder wollte es eine Monarchie nach dem Muster Ludwigs XIV. werden, noch sich die Philosophie des vorigen Jahrhunderts aneignen, es blieb daher in Erwartung. Gegen alle Anmaßungen war sein Widerstand gleich, und es glich in dieser Beziehung dem Volk Israel, das, wenn auch, wie Sie wissen, meine Herren! nicht vermögend, den fremden Götzendienst zu überwältigen, dennoch standhaft die Götzen verwarf. Rußland im Gegenteil, gestärkt durch die allgemeine Schwäche der Christenheit, schöpfte aus dem asiatischen Wesen eine eigentümliche Lebenskraft; dann sich der Begriffe des l8. Jahrhunderts zu seinen Zwecken bedienend, ging es mit doppelter Kraft vorwarts und wurde, fast ohne Widerstand zu finden, erobernd. Doch haben wir schon ein gewisses Wanken des Kaisers Alexander in seiner Politik, die Verschwörung des Jahres 1825, sowie auch das allgemeine Streben, das unter allen Slaven wahrgenommen wird, erwähnt; jetzt wollen wir Tatsachen anführen, welche dartun, daß die russische Politik durch einen furchtbaren Widerstand gehemmt werden kann. Die von Österreich besiegten und unterjochten Tschechen waren gezwungen, ihr Auge auf das gemeinsame Volksgeschlecht zu werfen und, ihren ausschließlichen Ansichten entsagend, sich auf das ganze Slaventum zu stützen. Polen, seit drei Jahrhunderten eine neue Norm suchend, bewirkt fortwährend Erschütterungen und anhaltende Reibungen, und während die Tschechen

1. Vorlesung (14. Dezember 1841)

603

Theorien ersinnen, gibt es ihnen Leben und Zusammenhang. Die russische Regierung wird desgleichen sich früher oder später auf die öffentliche Meinung stützen müssen, und durch diese in ihrem Vordringen angehalten, entweder ihre Richtung verändern oder sich von den Völkern verlassen sehen, die sie bis jetzt noch unterstützen; denn beweisen wollen wir durch Belege, geschöpft aus den Werken der Geschichtsschreiber und Dichter, durch alles dasjenige, was die allgemeinen Einsichten und Begriffe in Rußland darstellt, daß schon eine Umkehr, eine Veränderung und eine andere Zukunft verkündende Richtungen sich bemerkbar machen. Mit einem Wort, sämtliche slavischen Länder befinden sich in einer feierlichen Erwartung, alle sehen ein, daß es nicht so bleiben kann, und alle sehnen sich nach einem allgemeinen, neuen Gedanken. Was wird diese Idee sein? Wird der gesamte slavische Stamm in Rußlands Eroberungsbahn hineingezogen werden? Oder werden die Polen ihn dorthin, wo sie selbst mit abenteuerlicher Kraft ihre Zukunft suchend hineilen, mit sich zu reißen vermögen, eine Zukunft, welche die Russen Schwärmerei schelten, die Tschechen eine Utopie nennen, und welche ein Ideal ist? Kann man von beiden Seiten auf Zugeständnisse hoffen? Findet sich dann eine Formel, die da alle Not, Interessen und Bestrebungen dieser Völker zu umfassen vermag? Diese wichtige Frage wird uns im Laufe dieses Jahres beschäftigen. Als Slave und Zeuge der Bewegung, welche die Philosophie erschüttert, die Gemüter und Herzen im Westen beunruhigt, fühle ich eine lebhafte Zuneigung für diesen Teil meiner Vorträge, welcher, die neueste Literatur und slavische Philosophie umfassend, erst am Ende der nun eröffneten Vorlesungen meinem Plane gemäß erscheinen wird. Ich glaube jedoch, daß nur dieser eine Teil für Franzosen das Gewicht eines gegenwärtigen Interesses haben wird: denn der alte Westen erwartet auch etwas. Alle Philosophen gestehen, daß wir uns in einer Epoche des Überganges befinden. Nach einigen Publizisten soll sie mit einer Restauration, nach anderen wieder mit einer Umwandlung enden; alle aber glauben an eine bevorstehende Wiedergeburt, an eine Veränderung der bestehenden Ordnung der Dinge. Diese Epoche zeigt sich den französischen Dichtern als eine Dämmerung, von der es unbekannt ist, ob sie ein Abend der alten Welt oder der Lichtglanz einer jungen Morgenröte ist; man fragt mit Unruhe, was wird es morgen geben? Einer der größten unter ihnen sagt, „daß er weder zu denjenigen gehört, welche verneinen, noch zu denen, welche bejahen. Er gehört zu denen, die hoffen.“ („il n’est pourtant, lui, ni de ceux qui nient, ni de ceux qui affirment. Il est de ceux qui espèrent.“).12 Möglich, daß die Idee, welche der Westen hervorzubringen 12

Victor Hugo im Vorwort zu „Les Chants du crépuscule“ (1835), in: Victor Hugo: Préface – Les Chants du crépuscule. In: Victor Hugo: Œuvres complètes: Les Feuilles d’automne. Les

604

Teil II

strebt, und worauf auch die Slaven warten, eine gemeinsame Idee für alle Völker sein wird. Es ereignet sich manchmal, daß, wenn die Wissenschaften an einer wichtigen Entdeckung arbeiten, wenn alle eine Veränderung in der Anschauungsart der Dinge, in der Auffassungsweise der Natur oder der Menschheit ahnen, zuweilen ein unbekannter, den Wissenschaften fremder, außerhalb des Kreises der Gelehrten-Gesellschaften und Universitäten arbeitender Mann sich findet, welcher den regelmäßigen Fortschritt der Wissenschaften überholt. Ein solcher Kopernikus, Kolumbus, Montgolfier macht zuweilen eine Entdeckung, die Akademien und gelehrte Körperschaften in Erstaunen setzt. Unsere Schuldigkeit wird es sein, die Idee, nach welcher die slavischen Geschlechter streben, bestmöglichst zu entfalten. Niemand hat sie bis jetzt in Formeln gefaßt; wir wollen uns wenigstens bemühen, sorgfältig alle Anzeichen zu sammeln, die uns vielleicht den Gesichtskreis, wo dieses neue Licht aufgehen soll, zeigen werden. Meine Herren! und wenn Sie auch keinen slavischen Gedanken aufnehmen wollten, so ist es doch immer vorteilhaft, davon in Kenntnis gesetzt zu werden; denn so oft in der Welt eine neue Idee sich offenbart, so oft erwählt auch die Vorsehung einen Volksstamm dafür. Die Göttin Roma überwand alle übrigen heidnischen Götter und sperrte sie im Pantheon ein; Frankreich hat Europa katholisch gemacht und nach seinem Ebenbilde alle großen Volkstümlichkeiten gebildet mit Ausnahme der russischen. Wenn ein Gedanke gesetzgebende Kraft in sich schließt, so dient ihm immer irgendein Volk zur ausübenden Gewalt. Daher meine Herren, schon dieses wäre wohl im Stande, ihre Wißbegierde zu wecken, welche von den ihnen bekannten und viel teuren Ideen ein so weit ausgebreitetes Geschlecht wie das slavische am wahrscheinlichsten bewegen wird. Und fürwahr, eine Idee, von den Slaven unterstützt, würde nicht grundlos aus den Sieg rechnen können. Wird es vielleicht die Idee der Fourieristen, der Kommunisten oder nach Pierre Leraux13 die der gesamten Menschheit sein? Diese Frage untersuche ich nicht für diesesmal; aus der Ferne sehe ich, wie wichtig sie ist, fühle die Schwierigkeit und, aufrichtig gesagt, die moralische Gefahr meiner Lage. Niemand vermag sich dieses genugsam vorzustellen. Um zu begreifen, was die Literatur bei den Slaven sei, und welche Rolle sie da spiele, mögen die Franzosen an die Zeiten der Regentschaft Ludwigs XV. und

13

Chants du crépuscule. Les Voix intérieures. Les Rayons et les Ombres, Paris 1909, S. 139; deutsche Übersetzung – Victor Hugo: „Herbstblätter“. Deutsch von Henri Fournier. „Dämmerungsgesänge“. Deutsch von Ferdinand Freiligrath. Frankfurt am Main 1836, S. 152. Vgl. Pierre Leroux: De l’Humanité, de son principe, et de son avenir, où se trouve exposée la vraie définition de la religion et où l’on explique le sens, la suite et l’enchaînement du Mosaïsme et du Christianisme. Paris 1840.

1. Vorlesung (14. Dezember 1841)

605

an die ersten Jahre Ludwigs XVI. zurückdenken und sich erinnern, daß auch bei ihnen dazumal die Literatur den Beruf hatte, verschiedenen Forderungen der Zeit zu entsprechen. Sie vertrat die christliche Kanzel, welche unglücklicherweise zu jener Zeit nicht gleichen Schritt mit der gesellschaftlichen Bewegung hielt; sie bahnte schon den Weg der Journalistik, und schuf gleichsam eine Art geistiger Vergesellschaftung. Im Slaventum muß sie heute desgleichen allen diesen Anforderungen genügen: nur steht sie da unter einer viel gewaltigeren Aufsicht, als hier unter den damaligen Tribunalen Frankreichs und den Parlamenten; dort muß sie Angesichts einer Bastille oder vielmehr in der Bastille selbst arbeiten. Die Lust des Sprechens, das Geneigtsein, sich vor Andern zu enthüllen, wächst im Verhältnisse der den Gedanken bedrückenden Last; kaum können Sie daher es sich vorstellen und glauben, welche Hoffnungen die Slaven in diesen Lehrstuhl setzen. Seine Bedeutung scheint ihnen weit größer, als sie in der Tat ist: sie betrachten ihn als eine Tribüne, eine Fahne, ja fast als einen Kampfplatz. Es gibt einen Volksglauben bei uns, daß es auf der Erde herumirrende Geister gebe, die zum ewigen Schweigen verdammt sind. Jedermann also, der auf diesem Lehrstuhle Platz nimmt, wird sich von einer Menge dieser Geister bald umringt, bald angefallen fühlen. Die Slaven legen, weil sie die Gabe der Sprache noch nicht gemißbraucht haben, derselben ihre ursprüngliche Kraft bei. Nach ihnen ist es genug, Ein Wort zu sprechen, auf daß Taten geschehen. Und wie viel hätten die Slaven ihnen nicht zu sagen! Jene glauben, es bedürfe nur ein Wort dem Genius Frankreichs ins Ohr zu flüstern, damit dieser furchtbare Gewaltherr ans Werk gehe; ja, sie staunen schon, daß aus diesem Gespräche, welches ihren Begriffen nach zwischen dem slavischen Genius und dem der großen Nation stattfindet, bis jetzt noch gar nichts zu ersehen ist! Die Schar der Geister, die ich erwähnte, ist bestrebt, mich verschieden zu stimmen. Erkläre den Gang der Zivilisation des russischen Kaisertums, scheint mir der russische Genius zuzurufen, zähle seine öffentlichen Anstalten, seine Lehrvorräte, seine auf Befehl der Regierung gemachten Entdeckungen; vergiß über alles nicht Rußlands organisierende Kraft, in deren Besitz wir sind und wodurch wir ohne Unterlaß Beute machen, dieselbe aber auch zu behalten und zu organisieren verstehen: diese Kraft ist außerordentlich schätzbar in einer Zeit, die nur zu vernichten und zu zerstören versteht. Der russische Genius weiß jedoch, was ihm hierauf der polnische erwidert. Und welches Recht letzterer auf Ihre Geneigtheit und ausschließliche Wirksamkeit besitzt, werde ich hier nicht wiederholen, da Polen schon in ihren politischen Versammlungen sogar beredte Organe gefunden hat. Wenn ich daher von allen Seiten durch Leidenschaften und Interessen bestürmt werde, so erlauben Sie mir, meinen Standpunkt zu bestimmen,

606

Teil II

wodurch ich die Stellung eines slavischen Professors, wie ich sie begreife, bezeichnen will. Meinem Urteil nach soll jedermann, gleichviel aus welchem Lande, vor allem zuerst der Wahrheit dienen, im Interesse der Wahrheit, welches das Interesse der guten Sache und das der Menschheit ist, fortarbeiten. Darum benannten auch die Alten die literarischen Wissenschaften studia humaniora, studia humanitatis. Heute geziemt es nicht mehr, den Vortrag bloß auf historische Belehrungen zu beschränken; es hieße dieses, das Publikum verkennen, seinem eignen Beruf untreu werden. Es darf aber auch das Interesse der Nation, welche diese Anstalt gegründet, nicht außer Acht gelassen werden. Ich will daher jedesmal die Fragen, die ich den Franzosen nützlich und von allgemeiner Wichtigkeit für die Gegenwart halte, zu untersuchen und der Aufmerksamkeit der Zuhörer darzubieten trachten. Was aber die Slaven anbelangt, so glaube ich, meine Herren, daß die Pflicht eines, ihre Literatur vortragenden Professors dieselbe ist, wie die Pflicht eines treuen und gewissenhaften Berichterstatters vor einem aufgeklärten Tribunal. Er muß frei von ausschließlichen Bestrebungen sein, muß sich mit dem Leben jener Geschichte und jener Denkmäler so erfüllen, daß er gleichsam alle Strahlen in sich aufnehme, um das Bild so treffend wiederzugeben, daß das Volk oder der Schriftsteller sein eignes wiederfinde in ihm. Die, welche für die Wahrheit schreiben und fördern, werden sich angefeuert fühlen, wenn sie ihre Gestalt hier treu wiedersehen, und umgekehrt wird es die beste Weise sein, die Lüge zu überwinden, indem man ihr im makellosen Schild das eigene Gorgonenhaupt entgegenspiegelt.

2. Vorlesung (21. Dezember 1841) Scheidepunkt zwischen der alten und der neuen Geschichte des Slaventums – Einfluß der Polen auf die Rus’ – Die Tschechen treten vom literarischen Feld ab – Die Scholastik, die Jesuiten und die Rhetorik in Polen – Sprache der Literatur vs. Umgangssprache – Die „Denkwürdigkeiten“ des Pasek.

Es scheint, daß einige programmatische Ausführungen, die ich in meiner vorherigen Vorlesung die Ehre vozutragen hatte, falsch verstanden wurden. Nach einem polnischen Journal und den Briefen, die ich erhalte, beabsichtige ich angeblich, die Geschichte der Literatur zu verlassen, um mich ausschließlich den politischen und sozialen Systemen der Slaven zu widmen.14 Erlauben sie, daß ich meine Worte wiederhole, um den Plan zu erklären. Ich sagte, daß ich eine lebhafte Zuneigung für den letzten Teil meiner Vorlesungen, für die neueste Literatur und für die slavische Philosophie fühle; bedauerlicherweise muß ich jedoch diesen Teil, der das französische Publikum insonderheit interessiert, auf den Schluß meiner Vorlesungsreihe verschieben. Diesem Plan folgte ich auch im letzten Jahr. Während ich die Geschichte des Schrifttums schilderte, entwickelte ich am Ende der Sitzung zusammenfassend einige allgemeine Überlegungen zur Herkunft des europäischen Gedankens. Dieser Gedanke, der sich im Westen in philosophischen Theoremen manifestierte, entwickelt sich in den slavischen Ländern durch politische Taten. Ich verwies auf die Affinität dieser Bestrebungen und auf die Bedeutung der Erkenntnis ihrer möglichen Resultate. Ich muß nunmehr diese allgemeinen Überlegungen weiter entwickeln, um auf diese Weise die Geschichte der Slaven mit der Universalgeschichte zu verbinden. Vorerst gilt es jedoch, zwei Jahrhunderte zu betrachten, die die Literatur und Philosophie der Gegenwart vorbereiten. Trotz gebotener Eile werde ich bemüht sein, jedes bedeutende Detail zu beachten und die Ganzheit der slavischen Literaturen im Auge zu behalten. Das dürfte nun leicht zu bewerkstelligen sein. Wir haben mehrfach festgestellt, daß trotz aller Verschiedenheit und Divergenz der politischen und religiösen Ideen der Slaven, trotz der wenigen Verbindungsknoten, genauer gesagt, trotz des Mangels jeglicher religiöser und politischer Verbindungsknoten, die literarische Entwicklung dieser Länder einer gemeinsamen Gesetzmäßigkeit zu unterliegen scheint. 14

Diese Befürchtung äußerte Adam Jerzy Czartoryski in „Dziennik Narodowy“ vom 18.3. 1841 (Nr. 38); Abdruck in „Pamiętnik Literacki“, 1908, S. 623–624.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_044

608

Teil II

So z.B. sind die Jahreszahlen, die den Niedergang der Literatur markieren, in allen slavischen Ländern gleich; die Unterschiede betragen nur wenige Jahre. So betrachten die Tschechen das Jahr 1620 als das Schicksalsjahr, als unglücklichen Beginn ihres literarischen Niedergangs. Dieses Jahr beendet die Epoche der literarischen Entwicklung der tschechischen Literatur; es ist das Jahr der Schlacht auf dem Weißen Berg. Das Jahr 1622 bezeichnen auch die Polen als den Tiefpunkt ihrer Literatur.15 In Rußland besteigt etwas früher, nämlich im Jahre 1613, das Haus Romanov den Thron, und dies historische Ereignis wird zugleich zu einer Ära in literarischer Hinsicht. Die Vorräte des slavischrussischen Schrifttums, der Chronikenliteratur, verschwinden von nun an aus dem Gesichtskreis; an ihrer Statt offenbart sich eine Bewegung anderer Art. Der Einfluß der Bischöfe von Kiev reicht bis nach Moskau, und im Kiever Kollegium sind polnische geistliche Würdenträger tätig (einer von ihnen, der Metropolit Petr Mohyla16, war früher einer der vielen Kämpfer in den polnischen Heeren). Ein neuer Einfluß, in Folge der religiösen Streitigkeiten, beginnt auf die russische Sprache zu wirken, und es erscheint das erste Mal um diese Zeit eine kirchenslavische Grammatik.17 Es ist der Anfang jener Periode, welche die Russen selbst die polnische18 nennen, und welche später unter der Regierung Elisabeths die Epoche der Wiedergeburt hervorbrachte. Überall begegnen wir daher Grenzpfosten, die die alte Geschichte der Slaven von der neueren trennen. Im letzten Jahr berichteten wir über die Hussitenkrieg. Die Tschechen verschwanden lange Zeit vom literarischen Feld. Der Dreißigjährige Krieg hat dem tschechischen Volkstum einen Todesstoß versetzt. In einigen Worten erzählte ich über das allgemeine auto-da-fé, das 15 16

17 18

Vgl. Feliks Bentkowski: Historia literatury polskiej. Warszawa-Wilno 1814, Bd. 1, S. 168, der damit die Zeit von 1622–1760 bezeichnet und u.a. die polnische Barockliteratur abwertet. Petr Mohyla (1596–1647). Stammte aus Moldavien, kämpfte bei Chocim (1621) an der Seite des Hetmans Jan Karol Chodkiewicz, studierte in Holland, Paris und Krakau; Begründer des Kiever Kollegiums (1632), später Kievo-Mohylianische Akademie; Metropolit von Kiev, Galizien und Russland. Vgl. S.T. Golubev: Kievskij mitropolit Petr Mogila i ego spodvižniki. Tom 1, Kiev 1883, Tom 2, Kiev 1898; Ryszard Łużny: Pisarze kręgu Akademii Kijowsko-Mohylańskiej a literatura polska. Kraków 1966. Meletij Smotryckyj: Hrammatiki Slavenskija Pravilnoe Syntagma. Jevje 1619. Kirchenslavische Grammatik. Herausgegeben und eingeleitet von Olexa Horbatsch. Frankfurt am Main 1974 (= Specimina philologiae Slavicae 4). Nach Nikolaj Ivanovič Greč: Opyt istorii russkoj literatury. Sanktpeterburg 1822, S. 49: „такъ какъ первое отдѣленіе перваго періода можемъ назваться въ нашей Словесноснти временемъ Греческимъ, а второе Татарскимъ, такъ третіе по справедливоспи должно именоваться Польскимъ.“ (So wie wir den ersten Abschnitt in der ersten Periode unserer Literatur die griechische Zeit und die zweite die tatarische Zeit nennen, so bezeichnen wir gerechterweise die dritte als die polnische Zeit); gemeint ist die Zeit von 1462–1689.

2. Vorlesung (21. Dezember 1841)

609

damals das ganze tschechische Schrifttum in Flammen verzehrte. Um an diese Zeit zu erinnern, zitiere ich einen Schriftsteller dieser Zeit, den berühmten, von Europa vergessenen Pädagogen und Philosophen Jan Amos Komenský (Comenius). Er initiierte die Gattung des Bilderbuchs und war der Autor des „Orbis pictus“19; diese Idee verdanken wir einem Slaven. So beschreibt er die Verfolgungen, die damals sein Vaterland heimsuchten: Wie man mit Büchern umging, muß ich nicht erzählen; alle wissen das. Sie wurden den Flammen geopfert. Die Vernichtung wurde auf verschiedene Art und Weise vollzogen. Die einen verbrannten die Bücher in ihren Häusern, die anderen auf öffentlichen Plätzen. Man sah Wagen voller Bücher, die man zum Verbrennungsort fuhr; ihnen folgten Henker mit Fackeln. So wurde das Schrifttum unseres Vaterlandes vernichtet.20

Es ist bekannt, daß die österreichische Regierung 30 000 Familien, davon 185 Adelsfamilien, zwang, ihre Heimat zu verlassen; man vernichtete etwa eine halbe Million Bücher. Wie stark muß doch der nationale Lebenswille der Tschechen gewesen sein, daß sie diesen verbissenen Verfolgungen widerstehen konnten! Der tschechischen Literatur begegnen wir erst in der Zeit der nationalen Wiedergeburt wieder. Polen allein verfolgte noch seine literarische Bahn weiter. Man schrieb hier noch viel und ließ auch drucken, aber überall spiegelte sich immer deutlicher das Zeichen des Sinkens ab. Dieser allmähliche Sturz kam von oben, er offenbarte sich zuerst im Bereich der Theologie: ein Schrecken und Starren bemächtigte sich der Gemüter der Geistlichkeit. Die Jesuiten, nachdem sie die Protestanten überwunden hatten, wollten auch jeden Hang zu theologischen Untersuchungen ertöten; weil sie im stoischen Andenken das Beispiel aller Sektenärgernisse und Gewalttätigkeiten hatten, befürchteten sie, in einen gleichen Ton zu fallen. Das vernunftmäßige Auseinandersetzen erschreckte 19

20

Jan Amos Komenský [Comenius]: Orbis sensualium pictus. Nürnberg 1658 [http://www. hs-augsburg.de/~harsch/Chronologia/Lspost17/Comenius/com_o000.html]. Vgl. Adam Fijałkowski: Orbis Pictus. Świat malowany Jana Amosa Komeńskiego. Orbis Pictus. Die Welt in Bildern des Johann Amos Comenius. Universität Warschau. Warszawa 2008. Paraphrasierung des Zitats aus: Paul Joseph Schaffarik: Geschichte der slawischen Sprache und Literatur nach allen Mundarten. Ofen 1826, S.  354 (Fußnote  2), der aus der tschechischen Übersetzung zitiert. Original: [J.A.  Comenius]: Historia persecutionum ecclesiae Bohemicae, jam inde a primordiis conversionis suae ad Christianissimum, hoc est, Anno  894. ad Annum usque 1632. Ferdinando Secundo Austriaco regnante: in qua inaudita hactenus Arcana Politica, consilia, artes, praesentium bellorum verae causae et judicia horrenda exhibentur. Nunc primum edita cum duplici indice. [Sine loco] 1648. [SUB Göttingen. Signatur: 8 H CESK I, 5511]. Es handelt sich um ein Sammelwerk, in dem Comenius federführend war.

610

Teil II

sie ebenso sehr, als die Begeisterung; sie nahmen sich vor, die Philosophie in scholastische Zügel zu zäumen. Eine so beengte Literatur fing an zu verarmen. Die Geistlichen auf der Kanzel wurden Schönredner und, vor der Zensur erblassend, folgten sie dem Cicero und dem Plinius. Nachdem man daher den Gedanken ertötet, blies man nur noch seine hohlen Formen auf, um durch strotzende Phrasen die Leerheit des Sinnes zu verbergen; daher rührt die bombastische Schreibart und die ungeheueren Titulaturen und Ausdrücke. Der Mangel einer wesentlichen Weihe und Innigkeit ließ sich auch bald in der Politik wahrnehmen. Die Regierung verband sich mit dem Senat gegen die Anarchie; da sie jedoch weder die gesetzlichen Formen einerseits, noch die eingerissenen Vorurteile andererseits weder offen antasten wollte, noch je die notwendige Kühnheit herzu besaß, so bestrebte sie sich ihre vermeintlichen Widersacher hinterlistig zu bekämpfen. So z.B. wagte man nicht, die Frage der Thronerblichkeit offen zu berühren; unterdessen verstärkten durch Ankäufe von Stimmen die Könige ihre Partei. Dieses erklärt hinlänglich, woher die Polen die zweideutige Ausdrucksweise, die doppelzüngige Beredsamkeit damals sich einschlich. Selbst vernünftige, ja talentvolle Männer, wie der König Kasimir (Jan Kazimierz) und der König Johann (Jan III.), die sonst sehr klar redeten und schrieben, unterlagen der Mode und deklamierten bei Eröffnung der Reichstage schön klingende, aber hohle Orationen. Dessenungeachtet erhielt sich doch unter dieser über das ganze Land ausgebreiteten oberflächlichen Schicht, unter dem rhetorischen, von allen Kanzeln und Gerichtsstellen hinab rauschenden Blasenschaum, eine reine und feste Sprache, die, den gewöhnlichen Bedürfnissen dienend, sich in der Umgangssprache ausbildete und nur der günstigen Gelegenheit harrte, um in edeln Strömen hervorzuquellen. Vergebens wärs daher, aus jener Zeit vorzügliche und anziehende schriftliche Erzeugnisse in großen Werken zu suchen, man findet sie nur noch in den Memoiren und vertrauten Briefen. Und Polen besitzt eine Menge solcher; das bekannteste unter ihnen und mit vollem Rechte in jeder Hinsicht das ruhmwürdigste sind die „Pamiętniki“ (Memoiren) von Jan Chryzostom Pasek.21 21

Pamiętniki Jana Chryzostoma Paska z czasów panowania Jana Kazimierza, Michała Korybuta i Jana III. Wydane z rękopisu przez Edwarda Raczyńskiego. Poznań 1836. Verkürzt zitiert: Pasek, op. cit., mit Seitenangabe. In dieser Ausgabe, die Mickiewicz zur Verfügung stand, hat der Herausgeber alle lateinischen Wörter, Syntagmen und Zitate getilgt. Dadurch verliert Paseks Text seine (barocke) stilistische Authentizität, die im 19. Jahrhundert als Auswüchse des Manierismus (Makkaronismus) abgewertet wurde. Textkritische Ausgabe vgl.: Pamiętniki Jana Chryzostoma z Gosławic Paska. Opracował Jan Czubek. Wydanie krytyczne, zupełne. Lwów-Warszawa-Kraków [1929]. Deutsche Übersetzung: Die Goldene Freiheit der Polen. Aus den Denkwürdigkeiten Sr. Wohlgeboren des Herrn

2. Vorlesung (21. Dezember 1841)

611

Pasek, von adligen, aber nicht reichen Eltern geboren, brachte seine Jugend im Schlachtgetümmel, unter den Befehlen des Stefan Czarniecki kämpfend, zu; er befand sich in jeder großen Schlacht, die nur irgend wo mit den Moskovitern, Schweden und Preußen damals in der Ukraine, in Polen oder Dänemark ausgefochten wurde. Seine „Denkwürdigkeiten“ (Memoiren) sind als schriftliches Zeugnis, als literarisches und Kunstwerk sehr anziehend. Man kann sie als eine schätzbare militärische Geschichte jener Zeit und als geheime Notaten eines jener vielen tausend damaligen Könige von Polen ansehen. Übrigens besaß er alle Eigenschaften eines polnischen Edelmanns seiner Zeit, Eigenschaften, die er selbst auf vier Haupttugenden zurückführt, nämlich: für seine Freunde sich zum Kampf stellen, ihre Schulden bezahlen, in ihren Geschäften reisen und ihnen mit gutem Rat dienen: Kto przy mnie za łeb pójdzie, pieniędzy pożyczy, Poradzi, a gdy jechać, siła mil, nie liczy, To mi prawy przyjaciel, takiego szanuję, Tym czworgiem niech mi służy, ostatkiem daruję. (Pasek, op. cit., S. 239) Wer mir auf Schritt und Tritt folgt, Geld leiht, / mich berät, / und wenn es auf weite Reisen geht, die Meilen nicht zählt, / der ist mein richtiger Freund, den schätze ich; / mit diesen vier Eigenschaften mag er mir dienen, der Rest ist geschenkt.

Hundert Jahre vor ihm hatte ein anderer polnischer Edelmann, der berühmte Mikołaj Rej, das Vorbild eines polnischen Edelmanns22 gegeben, und Pasek bleibt schon weit hinter jenem Ideal zurück; seine Tätigkeit beschränkte sich auf den engeren Kreis eines guten Soldaten, Nachbars und Familienvaters. Übrigens schrieb er seine Memoiren nicht, um sie drucken zu lassen, sondern um sich selbst im spätem Alter an das zu erinnern, was er in der Jugend vollbracht und gesehen hatte; es finden sich sogar Spuren, daß er sie seiner Frau und seinen Freunden nicht vorgelesen. In diesen Schattenrissen geringer Ereignisse und wichtiger Begebenheiten, die wie zum eigenen Vergnügen gleichförmig verzeichnet sind, finden sich oft merkwürdige Schlachtbeschreibungen. So erzählt er die Einnahme einer schwedischen Festung: Jan Chryzostom Pasek (17. Jahrhundert). Ausgewählt, übersetzt und erläutert von Günther Wytrzens. Graz-Wien-Köln 1967. 22 „Żywot człowieka poczciwego“ (Leben eines ehrbaren Menschen). In: M. Rej: Zwierciadło albo kształt, w którym każdy stan snadnie się może swym sprawam jako we zwierciedle przypatrzyć. Kraków 1567–1568.

612

Teil II [1658] A Tetwin też wchodzi z dragoniją rozumiejąc, że on tam do zamku najpierwszy wszedł – trupa leży gwałt, a nas tylko z piętnaście stoi towarzystwa, bo się już od nas porozbiegali – i żegna się mówiąc: „A tych ludzi kto narznął, kiedy was tu tak mało?“ Odpowiedział Wolski: „My, ale i dla was będzie; ono wyglądają z wieże.“ A wtem prowadzi tłustego oficera młody wyrostek. Ja mówię: „Daj sam, zetnę go.“ On prosi: „Niech go pierwej rozbierę, bo suknie na nim piękne, pokrwawią się.“ Rozbiera go tedy, aż przyszedł Adamowski, kraj czego koronnego towarzysz, Leszczyńskiego, i mówi: „Panie bracie, gruby ma kark na W[aszmo]ści młodą rękę, zetnę ja go.“ Targujemy się tedy, kto go ma ścinać, a tymczasem wpadli tam do sklepu,, w którym były prochy w beczkach; pobrawszy insze rzeczy, biorą też: i prochy w czapki, chustki, kto w co ma. Dragon zdrajca przyszedł z lontem zapalonym, bierze też proch: jakoś iskra dopadła. O Boże wszechmogący, kiedy to huknie impet, kiedy się mury poczną trzaskać, kiedy owe marmury, alabastry latać! A była tam wieża na samym rogu zamku nad morzem, na której wierzchu dachu nie było, tylko płasko cyną wszystka pokryta, tak jako w izbie posadzka; rynny dla spływania wód mosiężne, złociste, a wokoło tego balasy i statuy także na rogach takież z mosiądzu a grubo złociste; miejscem też osoby z białego marmuru, takie właśnie jakoby żywe. Bo lubom ich tam in integro z bliska nie widział, ale po rozruceniu przypatrowaliśmy się i jedną wyrzuciły były prochy całą nie naruszoną na tę stronę ku wojsku, która właśnie taka była jak kobieta żywa; do której na dziwy się zjeżdżali jeden drugiemu powiedając, że tam leży żona komendantowa wyrzucona prochami, a to leżała owa pactwa, rozkrzyżowawszy się, in forma jako człowiek z pięknego ciała stworzony, że rozeznać było trudno, aż prawie pomacawszy twardości kamiennej. Na tej wieżej albo raczej salej królowie uciechy swoje miewali, kolacyje jadali, tańce i różne odprawowali rekreacyje, bo jest w ślicznym bardzo prospekcie: może z niej wszystkie prawie królestwa swego widzieć prowincyje, ale i część Szwecyjej widać. Tam na tę wieżą komendant i wszyscy, co przy nim byli, uciekli i stamtąd o kwater, lubo nierychło, prosili; co mogliby byli otrzymać, ale te prochy, które directe pod tą wieżą zapaliły się, wyniosły ich bardzo wysoko, bo wszystkie owe porozsadzawszy piętra, jak ich wziął impet, to tak lecieli do góry przewalając się tylko między dymem, że ich okiem pod obłokami nie mógł dojrzeć. Dopiero zaś impet straciwszy, widać ich było lepiej, kiedy nazad powracali, a w morze jako żaby wpadali. Chcieli niebożęta przed Polakami uciec do nieba, aleć ich tam nie puszczono; zaraz św. Piotr przywarł furtki mówiąc: „A zdrajcy! wszak wy powiedacie, że świętych łaska na nic się nie przygodzi, instancyja ich do Pana Boga nieważna i niepotrzebna. W kościołach w Krakowie chcieliście stawiać konie strasząc jezuitów, aż wam musieli niebożęta złożyć się na okupną jako poganom; teraz częstował was Czarniecki pokojem i zdrowiem chciał darować: pogardziliście. Pamiętacie, coście w sandomierskim zamku zdradziecko prochy na Polaków podsadzili, a przecie i tam Pan Bóg obronił od śmierci, kogo miał obronić; wyrzuciły prochy pana Bobolę, szlachcica tamecznego, i z koniem aż za Wisłę na drugą stronę, a przecie zdrowy został. I teraz strzelaliście gęsto, a niewieleście nabili Polaków – czemuż? Bo ich aniołowie strzegą, a was – czarni, a toż macie ich usługę.“ (Pasek, op. cit., S. 19–21)

2. Vorlesung (21. Dezember 1841)

613

Auch Tetwin mit seinen Dragonern drang ein, in dem Glauben, als allererster in das Schloß da eingedrungen zu sein – ein Haufen Leichen liegt herum, von uns stehen nur etwa fünfzehn Offiziere da, denn die Unseren hatten sich ja schon zu verlaufen begonnen – er bekreuzigt sich und fragt: „Wer hat die Leute da niedergemetzelt, wo ihr doch nur so wenige seid?“ Wolski antwortete: „Wir, aber es wird auch noch für euch reichen, da, wie sie vom Turm herunterschauen!“ Da führte ein junger Rekrut einen dicken Offizier vorbei. Ich sage: „Gib her, ich mach ihm den Garaus.“ Er bittet: „Laß mich ihn erst ausziehen, er trägt gutes Tuch, es würde blutig werden.“ Er zieht ihn also aus, da kam Adamowski, ein Offizier des königlichen Truchsessen Leszczyński, vorbei: „Mein Lieber, der hat einen zu dicken Nacken für Euer Wohlgeboren junge Hand, laß mich ihn fertigmachen.“ Wir feilschen also darüber, wer ihn niedermachen soll, inzwischen war man in den Keller eingedrungen, wo Pulver in Fässern lag; mit anderen Sachen nahmen die Unseren auch Pulver mit in Mützen und Tüchern, jeder wie er konnte. Ein Lump von Dragoner kam mit einer brennenden Lunte, raffte auch Pulver zusammen, und irgendwie zündete ein Funken. Allmächtiger Gott, was war das für eine Detonation, wie die Mauer zu schwanken begannen, wie da die Marmor- und Alabasterfiguren durch die Luft flogen! Es stand da nämlich an der äußersten Ecke des Schlosses über dem Meer ein Turm, der oben kein Dach hatte, er war nur mit Zinn ganz flach gedeckt, wie ein Fußboden in einer Stube, dazu für das Regenwasser vergoldete Messingrinnen, ringsherum Balustraden, an den Ecken Statuen, ebenfalls aus Messing und stark vergoldet, stellenweise auch Gestalten aus weißem Marmor, ganz wie lebendig. Obwohl ich sie dort in integro aus der Nähe nicht gesehen habe, so betrachteten wir sie nach der Explosion doch genau. Eine davon hatte das Pulver ganz und heil auf die andere Seite zu unserer Truppe geschleudert, die sah eben aus wie eine lebende Frau; um sie zu bestaunen, ritt man herbei und erzählte den anderen, daß die Frau des Kommandanten dort liege, von der Explosion hergeschleudert. Da lag dann jenes Kuriosum da, mit ausgebreiteten Armen, in forma eines wohlgestalteten Menschen, schwer von einem lebendigen zu unterscheiden, erst wenn man die Härte des Steins ertastete, wußte man Bescheid. Auf jenem Turm oder besser Saal hatten die Könige ihre Vergnügungen, speisten zu Abend, tanzten und unterhielten sich auf allerlei Art. Man hat von dort ja eine sehr schöne Aussieht, der König konnte fast alle Provinzen seines Reiches sehen, dazu noch einen Teil von Schweden. Auf diesen Turm war der Kommandant und seine ganze Suite geflohen, und von dort aus baten sie, wenn auch zögernd, um Quartier; man hätte es ihnen vielleicht gewährt, aber das Pulver, das directe unter diesem Turm zündete, trug sie sehr hoch empor, es zerriß alle Stockwerke darunter, und als die Detonation sie erfaßte, da flogen sie so hoch, daß sie sich in den Rauchwolken wälzten: man konnte sie mit den Augen oben kaum erspähen. Erst als der Schwung vorbei war, sah man sie besser, sie kamen zurück und plumpsten wie Frösche ins Meer. Die armen Hascher wollten vor den Polen in den Himmel fliehen, aber dort ließ man sie nicht ein, Sankt Petrus machte gleich das Tor zu und sagte: „Ihr Kerle! Ihr behauptet doch, daß die Gunst der Heiligen zu nichts gut sei,

614

Teil II daß ihre Fürbitte bei Gott nichts gelte. In die Krakauer Kirchen wolltet ihr zum Schrecken der Jesuiten Pferde einquartieren, bis die Armen ein Lösegeld aufbrachten wie bei Heiden; jetzt hat euch Czarniecki Frieden angeboten und wollte euch ungeschoren lassen, ihr habt verächtlich abgelehnt. Denkt daran, wie ihr hinterhältig im Schloß Sandomir die Polen in der Luft sprengtet, und auch dort rettete der Herrgott den, der gerettet werden sollte, die Detonation schleuderte Herrn Bobola, einen dortigen Adeligen, in die Luft, mit seinem Pferd ans andere Weichselufer, und er bleib dennoch heil. Auch jetzt habt ihr ein dichtes Feuer auf die Polen eröffnet und doch nicht viele erschossen – warum wohl? Sie werden ja von Engeln geschützt und ihr von schwarzen Teufeln – das sind nun ihre Dienste!“ (Pasek: Denkwürdigkeiten, S. 45–47).

Pasek beschreibt alles in diesem heiteren, scherzhaften Tone, den die Engländer humuor nennen. Es war dies der gewöhnliche Ton der Umgangssprache des polnischen Adels. Dennoch traf man auch inmitten dieser allgemeinen Fröhlichkeit in einer Gesellschaft von so unbefangener Gesittung düstere und ernste Charaktere an. Neben den adeligen Wohnhäusern erhoben sich hie und da Schlösser, zuweilen von Personen bewohnt, die an Byrons Lara erinnern. Unser Adel verstand aber ganz und gar nicht diese Helden der Poesie von heute. Erschien irgendwo ein solcher, so verschwand er, von niemandem erkannt, gleich einem Schatten der Zauberlaterne. Pasek beschreibt einen dieser gravitätischen Wunderlinge, und nachdem er merkwürdige Einzelheiten von ihm erzählt, nennt er ihn schlechhin verrückt [vgl. Pasek, op. cit., S. 65–71]. Zweikämpfe kommen in seinen „Denkwürdigkeiten“ häufig vor; eigener gedenkt er an dreißig. Ohne Kämpfe fand keine Unterhaltung, kein Gastmahl statt, welche, ungeachtet der Niederlage des Landes und des allgemeinen Mißgeschicks, dennoch zahllos waren. Man schlug sich für die Ehre des Königs, für die Ehre seiner Partei, seiner Familie, seiner Freunde, selbst unserm Schriftsteller begegnete es zuweilen, mit dreien auf einmal zu kämpfen. Und nachdem er dem ersten Gegner den Kopf gespalten, seinem Bruder die Hand abgehauen, muß er sich augenblicklich noch mit den Anverwandten der Besiegten messen. Aus der Anzahl seiner Zweikämpfe lässt sich erahnen, wie viele Wunden und Verletzungen er davorntrug, was er in den „Denkwürdigkeiten“ nicht verschweigt. Es kam auch vor, daß er seine Bürgerrechte in einer benachbarten Woiwodschaft erkämpfen musste: Mnie na tym pierwszym wstępie panowie Krakowianie poczęli lekcewaważyć, nazywając mnie przybyszem. Dopiero tego w łeb, tego w nos, tego po plecach; i takci uczyniłem sobie pokój, żeć mię przecie nie nazywali przybyszem. (Pasek, op. cit., S. 314).

2. Vorlesung (21. Dezember 1841)

615

Die Herren Krakauer begannen mich bei dieser ersten Gelegenheit geringzuschätzen und nannten mich einen Dahergekommenen. Da versetzte ich einem eins über den Schädel, einem anderen auf die Nase, dem dritten über Schulter, so schaffte ich mir Frieden, und sie nannten mich fürderhin nicht mehr dahergekommen. (Pasek – Denkwürdigkeiten, S. 323).

Da man nun das Bild eines solchen Lebens hat, so kann man sich die unerhörte Tapferkeit der polnischen Reiterei erklären, die aus Männern wie Pasek bestehend, ganze Massen Moskovitischer oder schwedischer Infanterie auseinander sprengte. Man kann auch einsehen, wie schwer es war, eine Republik, aus dergleichen Gemütern zusammengesetzt, zu handhaben. Und doch besaß Pasek, bei allen guten Eigenschaften seiner Landsleute, nicht alle ihre Fehler. Immer war er seinen Befehlern gehorsam und stimmte für die Regierung; den Konföderationen abhold, geriet er nicht selten als Freund des Königs, als Royalist in Gefahr. In seinen Schlachterzählungen geht er nicht auf die Pläne der Heerführer ein, forscht nie nach den Folgen der allgemeinen Heeresbewegungen, schildert aber vortrefflich einzelne Begebenheiten, die Scharmützel des Vortrabs, teilweise Überfälle und die Zweikämpfe, kurz, er übersieht die Strategie und Taktik, betrachtet aber den Krieg von seiner poetischen Seite. Sehen kann man dieses z.B. in den Beschreibungen der Siege von Stefan Czarniecki über Ivan Andreevič Chovanskij und Jurij Alekseevič Dolgorukij, die er weitläufig beschreibt. Er sagt: Biło się też wojsko nasze tak, że po wszystek czas służby mojej, i przed tą, i po tej okazyjej, nigdy nie widziałem bijących się tak mężnie Polaków. I mówiono, iż gdyby Polacy zawsze tak się bili szczerze, byłby świat cały w ich mocy. Moskale ufali w wielkość swego wojska, nasi zaś w Pana Boga i swoją dzielność, bo jeden na drugiego zapatrując się, tak stawał, przy takiem współubieganiu się litewskiego wojska z naszem, że też już lepiej widzieć niepodobna; jakoż i to przyznać każdy musi, że moskiewskie wojska, a osobliwie owe bojarskie chorągwie w szyku stojące, są tak straszne, jako narod żaden nie jest. Spojrzawszy na owe ich brody, to się tak jakaś przedstawia powaga, jakby się na panów ojców porywał. (Pasek, op. cit., S. 110). Unser Heer focht aber auch so, daß ich zu keiner Zeit meines Dienstes vor und nach dieser Schlacht die Polen so tapfer kämpfen sah. Und man sagte sogar, würden die Polen immer so tapfer dreinschlagen, fürwahr, die ganze Welt stände in ihrer Macht! Die Moskowiter vertrauten auf die Übermacht ihres Heeres, die unseren aber auf Gott und ihre Tapferkeit, denn Einer dem Anderen nacheifernd, stellte sich jeder so zum Kampfe, daß bei gleichem Wetteifer des lithauischen Heeres mit dem unsrigen es unmöglich war, etwas Vortrefflicheres zu sehen; denn wohl muß Jedermann gestehen, daß die

616

Teil II moskowitschen Heere, und besonders die Fahnen der Bojaren, in Reihen haltend, so furchtbar sind, wie kein Volk auf der Welt. Sieht man nur ihre Bärte an, die ihnen eine gewisse Gravität geben, so glaubt man sich an ehrbaren Vätern zu vergreifen.

Nicht eine trockene Sammlung an Ereignissen sind die „Denkschriften“ Paseks; sie sind voll von Einzelheiten, merkwürdigen Szenen und witzigen Vergleichen, und gehen gleichsam in einen historischen Roman über. Die Schriftsteller französischer Memoiren sprechen gewöhnlich von der Begeisterung und der Absicht der Generale, beurteilen den ganzen Zusammenhang der Ereignisse und geben nicht die einzelnen Züge, diese anziehenden Geringfügigkeiten, dieses Spiel des gewöhnlichen Lebens, wie die Romanschreiber der historischen Schule, z.B. Walter Scott. In dieser Hinsicht kommt Pasek keiner von denen gleich, welche die Ereignisse ihrer Zeit verzeichnet haben: weil die von ihm aufbewahrten Taten eben das ganze Interesse eines Romans haben. Dieser Mann hat auch nach seiner Heimkehr von den Schlachtfeldern alles beschrieben, was ihn umgab. Er liebte die Natur und hatte ein besonderes, dem slavischen Stamm angeborenes Vergnügen an Tieren; er hinterließ hierüber Manches, was dem Naturforscher auffallen könnte. Sein Haus war ein wahrer Tiergarten; ging er zur Jagd, so flog ein zahmer Rabe ihm voran, nebenbei trabte ein dressierter Fuchs, der das Geschäft des Spüroder Vorstehhundes wohl verstand, und gut abgerichtete Hasen liefen mit unter den Hunden. Er war stolz auf seinen wunderlichen Troß, und die Bauern, die das staunend betrachteten, nannten ihn einen Zauberer. Seiner Fischotter widmet er viele Seiten; sie war unterrichtet, auf seinen Befehl Fische aus dem Wasser zu holen, und als er sie endlich dem König schenken mußte, brachte er dieses Opfer beinahe mit Tränen. Sein Stil ist klassisch; er hat alle Leichtigkeit, allen Reiz und alle Leichtfertigkeit der Prosa französischer Memoiren, und doch ist er ganz und gar slavisch. Bei Pasek findet man kein einziges Fremdwort.23 Dieser Edelmann schrieb wie er sprach, ohne Fleiß und Sorge; unbekümmert um ihr Schicksal, warf er die Gedanken aufs Papier, hoffte und dachte nicht einmal, daß man ihn einst zu den meisterhaften polnischen Schriftstellern zählen würde. Nie fehlte es ihm an Worten und Gedanken; er folgte nur der Eingebung, und wenn es ihm an dieser fehlte, so ließ er seinen Gegenstand fallen, nahm einen andern auf oder warf die Feder von sich. Häufig geschieht 23

In der von Mickiewicz benutzten Ausgabe der „Pamiętniki“ von Edward Raczyński, Poznań 1836, wurden alle „Latinismen“ (Makkaronismen) getilgt. Vgl. Fußnote 21.

2. Vorlesung (21. Dezember 1841)

617

es, daß er bei Erzählung des hitzigsten Kampfes auf eine Person kommt, in Folge deren er auf eine neue Geschichte gerät, und ist diese auch nur ein unbedeutender Nachbarnzwist, gleich muß er die ganze Prozedur in einem wichtigen Ton vortragen. Es ist in ihm die alltagsbezogene Seite des damaligen polnischen Lebens dargestellt. Wir werden noch die Gelegenheit haben, die heroische Seite kennenzulernen, die sich uns in den Memoiren des berühmten Priesters Augustyn Kordecki24 offenbaren wird.

24

Augustyn Kordecki (1603–1673); vgl. 4. und 5. Vorlesung (Teil II).

3. Vorlesung (28. Dezember 1841) Bemerkungen über die Umbildung der Volkssage – Das Franzosentum in Polen – Das Theater in Warschau – Bemerkungen über die Wahl der Könige – Der Enthusiasmus als Springfeder des Handelns der Polen.

Wir finden in den „Denkwürdigkeiten“ von Pasek eine Bemerkung – eine Art von Beobachtung oder Notiz, wie sie Verfasser von Tagebüchern gerne unter ihre Begebenheiten als erlebte oder gehörte Wunderdinge zu setzen pflegen, und über die sie oft in einem philosophischen Ton sich auslassen. Unser Schriftsteller hatte aber keinen Sinn für geheime tiefe Forschungen der phantastischen Welt und des Volksglaubens, vielmehr sucht er vor allem das Ergötzliche, und so erzählt er schlicht und leicht folgendes: W całym królestwie szwedzkim i w duńskich niektórych prowincyjach tymi djabłami tak robią, jako niewolnikami w Turczech, i co im każą, to czynić muszą, i nazywają ich duchami familijnymi. Kiedy Rej był posłem do Szwecji, zachorował mu stangret jego kochany, którego zachorzałego zostawił u pewnego szlachcica, mając go odebrać powracając do Polski. Chory ten leżał w jednej izbie pustej, a kiedy go gorączka ominęła, usłyszał muzykę jakąś pięknie grającą. Rozumiejąc, że to tam w inszych pokojach grają, leży, aż z myszej jamy wyskoczy jeden chłopek maleńki, po niemiecku ubrany, za nim drugi i trzeci, a potem i damulki; muzykę też coraz to lepiej słychać, poczną tańczyć po izbie. Ów stangret w okrutnym był strachu. Potem zaczną parami i wychodzić za drzwi; wyszła także muzyka, wyprowadzono i pannę, zwyczajnie tak jak do ślubu ubraną; nareszcie wyszli wszyscy z izby jemu żadnego nie czyniąc gwałtu. Biedny stangret ledwie od strachu nie umarł. Wychodząc zostawili jednego malca, który mu rzekł: „Nie turbuj się tym, co widzisz, bo tu tobie i włos z głowy nie spadnie; my jesteśmy panowie duchowie. Mamy też to wesele swoje: żeni się nasz brat, idziemy do ślubu, i nazad tędy powracać będziemy, i ciebie też weselnego aktu uczyniemy uczestnikiem.“ Ów nie życząc sobie patrzyć na owo widowisko, wstał i założył drzwi na haczek, żeby oni tamtędy nazad powrócić nie mogli. Skoro tam już po owym ślubie powracają, aż tu drzwi zamknięte; muzykę znowu słychać; tymczasem ruszą drzwiami: zamknięte; wlazł jeden malusieńki szparą pode drzwiami, a uczyniwszy się w oczach jego dużym mężczyzną, pogroził mu tylko palcem i zdjąwszy haczyk otworzył drzwi i tym się znowu co pierwej prowadzili traktem, a potem w owę myszą jamę powłazili W godzinę, lub też więcej, wyszedł znowu jeden z owej dziury i przyniósł mu na talerzu kołacza suto konfektami i rozenkami przeplatanego mówiąc ten maleńki oddawca: „Weź i skosztuj tych weslnych wetów“. Odebrał stangret te wety z wielkim strachem, a podziękowawszy, postawił wedle siebie. Przyszli potem do niego ci, co go doglądali w jego chorobie, i ten lekarz, co koło jego zdrowia chodził. Pytają: któż to dał? Opowiedział im całą awanturę. Pytają: „Czemuż nie jesz?“ Odpowiada: „Bo się tego jeść boję.“ Owi mówiąmu: „Nie bądź prostakiem, nie bój się, jedz, dobre to rzeczy; nasi to są domownicy; nasi przyjaciele, jedz.“ On po staremu nie chce. Wziąwszy owi

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_045

3. Vorlesung (28. Dezember 1841)

619

kołacz, przed oczami jego zjedli, i nic im nie szkodził. Zażywają oni tam tych malców do roboty i do różnych posług. (Pasek, op. cit., S. 56–57). Im ganzen Königrich Schweden und in einigen dänischen Provinzen arbeitet man mit so Teufeln wie in der Türkei mit Sklaven; was sie ihnen befehlen, müssen sie tun und werden Familiengeister genannt. Da Rej als Gesandter nach Schweden ging, erkrankte ihm unterwegs sein guter Kutscher; er ließ ihn daher bei einem Edelmanne und wollte auf seinem Heimwege nach Polen ihn mitnehmen. Der Kranke lag in einem leeren Zimmer, und als ihn die Fieberhitze verläßt, vernimmt er auf einmal hübsche Musik: er wähnt, es werde in einem entfernten Zimmer gespielt und bleibt ruhig liegen. Siehe, da springt plötzlich aus einem Mäuseloch ein Männlein hervor, ganz deutsch ausgeputzt, daruf noch eins und wiederum eins, dann auch kleine Weiblein; die Musik wird immer vernehmbarer und es beginnt ein förmlicher Tanz in dem Zimmer. Der Kutscher ist höllischer Angst. Später zieht alles paarweise zur Tür hinaus, die Musik schwindet; ein Fräulein führt man vor, ganz wie zur Trauung gekleidet, es zieht sich aber Alles aus der Stube zurück, ohne dem Kutscher irgend ein Leid anzutun. Der arme Kerl war nahe daran, vor Angst zu sterben. Ein Männlein wurde aber zurückgelassen, das ihn denn so anredete: „Kümmere dich nicht um das, was du hier siehst, denn dir fällt auch kein Haar vom Kopf; wir sind die Hausgeister, halten heute Hochzeit, es heiratet unser Bruder; wir gehen jetzt zur Trauung und kommen hier wieder vorbei, dich aber machen wir zum Genossen der Hochzeitsfeier.“ Jener wünschte aber nicht mehr das Schauspiel zu sehen, er stand auf und verriegelte die Tür, daß sie hier nicht wieder durch könnten. Als sie nun von der Trauung zurückkehren und hier die Tür verschlossen ist, hört man wieder die Musik wie zuvor; sie rühren an der Tür und finden sie verschlossen; da kriecht ein ganz kleiner durch die Ritze unter der Tür hervor, und nachdem er vor des Kutschers Augen zu einem großen Kerl angewachsen, droht er ihm nur mit dem Finger, macht die Tür auf und Alles spaziert wieder denselben Weg, sich in einem Mäuseloch verkriechend. Nach einer Stunde oder später kroch wieder einer aus dem Loch heraus und brachte ihm auf einem Teller Kuchen mit Zuckerwerk und Rosinen, welches überreichend der kleine Angeber also sprach: „Da nimm hin und versuche diesen Hochzeitsbissen.“ Mit vieler Angst empfing es der Kutscher, bedankte sich und stellte den Teller bei Seite. Es besuchten ihn später die Leute, welche ihn in der Krankheit pflegten, auch der seine Gesundheit besorgende Arzt. Sie fragten: „Wer hat dies gegeben?“ Nun erzählt er ihnen die ganze Geschichte; dann fragten sie wieder: „Und warum isst du nicht?“ Er antwortet: „Weil ich dieses zu essen fürchte“ Da lachten sie ihn aus und sagten: „Sei doch kein Tropf, fürchte dich nicht, iß nur, es sind gute Sachen, und jene da sind unsere Hausgenossen, unsere Freunde, iß nur, iß.“ Doch er blieb beim Alten und wollte nicht. Sie nahmen alsdann den Kuchen, aßen ihn vor seinen Augen, und es schadete ihnen nichts. Ja, sie bedienen sich dort dieser Männlein zur Arbeit und zu verschiedenen Dienstleistungen.

Ein ähnliches Märchen kreist in ganz Polen, nur wird es in der Regel in einem anderen Ton und etwas abweichend erzählt. Die Stelle jenes feigen Kutschers

620

Teil II

vertritt hier ein Edelmann, welcher in einem verzauberten Zwergweibchen seine ehemalige, ihm von einem Geist geraubte Geliebte wieder erkennt. Um ihn zu trösten, gibt sie ihm eine Schachtel voll Perlen, die sich nie leert, denn immer konnte er eine Perle herausnehmen, ohne daß sich diese verminderten. Das Volk erzählt die Geschichte mit Wichtigkeit und Anmut, unser Verfasser hat sie zu einem Histörchen benutzt. An diesem Beispiel sieht man das verderbliche und traurige Schicksal der Volkssagen. Auf diese Weise verdarben sie allmählich in den Ländern des Westens. Die Schriftsteller veränderten ihren ursprünglichen Sinn zu einer abgedroschenen und scherzhaften Deutung. So verfuhren bei den Italienern Gozzi25, bei den Deutschen Musäus26, bei den Franzosen Rabelais27 und zuletzt Perrault28, der hiermit dieser Literatur den letzten Schlag versetzte. Die Literatur unterlag in jener Epoche allgemein dem Einfluß des Zeitalters Ludwigs XIV. Nirgends war vielleicht dieser Einfluß bedeutender als in Polen. Der König, die Königin, die Hofleute und alle Großen sprachen und schrieben französisch, Alles pries mit Begeisterung die Literatur der Franzosen, die in ganz Europa Aufsehen erregte. Schon besaß Warschau dazumal ein französisches Theater. Ein polnischer Großer, Morsztyn29, Zeitgenosse von Pierre Corneille und gewiß ihm persönlich bekannt, da er lange in Paris gelebt, übersetzte den „Le Cid“, ließ ihn drucken und auf dem Warschauer Theater im Jahre 166[2] auf die Bühne bringen; dieses Stück erschien 1636 in Paris. Zum ersten Male erhielt die französische Tragödie eine Übersetzung, und diese kann man klassisch nennen. Dieses beweist, wie die polnische Sprache jedweden Keim der Entwickelung in sich trug und sich schon damals in den Stil und Ton des Zeitalters Ludwigs XIV. fügen konnte. Dieser Art Versuche brachten aber keine Früchte, blieben ohne 25

Carlo Gozzi (1720–1806). Vgl. Carlo Gozzi: Le fiabe teatrali. Hrsg. Paolo Bosisio. Rom 1984; Susanne Winter: Von illusionärer Wirklichkeit und wahrer Illusion: zu Carlo Gozzis Fiabe teatrali. Frankfurt am Main 2007. 26 Karl-August Musäus (1735–1787). Vgl. Johann Karl Augustus Musäus: Die deutschen Volksmärchen. Mannheim 2011; vollständige Ausgabe; ferner – Rita Seifert: Johann Carl August Musäus – Schriftsteller und Pädagoge der Aufklärung. Weimar 2008. 27 François Rabelaise (um 1490–1553); François Rabelais: Gargantua und Pantagruel. Aus dem Französischen übertragen von Walter Widmer und Karl August Horst. Gütersloh 1990; vgl. Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Hrsg. Renate Lachmann. Frankfurt 1987. 28 Charles Perrault (1628–1703); vgl. Charles Perrault: Sämtliche Märchen. Übersetzung und Nachwort von Doris Distelmaier-Haas. Stuttgart 2012. 29 Jan Andrzej Morsztyn (1621–1693); Pierre Corneille (1606–1684); Morsztyns Übersetzung – Cyd albo Roderyk. Komedia hiszpańska. In: J.A. Morsztyn: Utwory zebrane. Hrsg. Leszek Kukulski. Warszawa 1971, S. 540–623.

3. Vorlesung (28. Dezember 1841)

621

Einfluß auf die Nationalliteratur; denn es gab nichts Gemeinsames zwischen dieser halbspanischen und halbfranzösischen Geschichte, wie der „Cid“, und den polnischen Chroniken. Die höheren Zirkel mochten vielleicht die ParisVersailler Form verstehen und schätzen, die öffentliche Meinung aber war dazu nicht fähig. Die Franzosen wollten, wie es scheint, dafür andere einführen, nach Art der Aufführungen im „Théâtre du Cirque Olympique“.30 Unter einem Zelt auf öffentlichem Platz führte man Begebenheiten aus der Gegenwart auf, ganze Schlachten von Regimentern zu Fuße und zu Roß gab es da, Pulver und Gepolter wurde auch nicht gespart. Die Schauspieler bemühten sich sogar, in Bewegung und Gestalt die Helden ihrer Stücke nachzuahmen. Einer von ihnen verstand so trefflich den Mund zu verzerren, daß er durch eine herabgelassene und aufgelaufene Unterlippe, charakteristisch in dem Haus Habsburg, ganz dem österreichischen Kaiser ähnlich sah. Dieses Gaukelspiel brachte seine Wirkung hervor, und veranlaßte unter anderem eine wirklich tragische Szene. Einmal, als gerade der Sieg der Franzosen über die Deutschen gegeben wurde, und man den gefangenen Kaiser in Ketten fortführte, rief einer von den Zuschauern: es wäre doch besser, ihn gleich zu töten und nicht beim Leben zu lassen, damit er nicht wieder Veranlassung zum Blutvergießen werde. Unter dem Publikum befanden sich viele zu Pferde und bewaffnet; als nun die Schauspieler den Rat nicht befolgten, setzte jener Menschenfreund hinzu: „W ostatku, jeżeli wy go nie zabijecie, ja go zabiję“. Porwie się do łuku; nałożywszy strzałę, jak wytnie pana cesarza w bok, aż drugim bokiem żelezce wyszło, zabił. Drudzy Polacy do łuków; kiedy wezmą szyć w owę kupę, naszpikowano Francuzów, samego, co siedział w osobie króla, postrzelono; naostatek na łeb i z majestatu spadł pod scenę i z inszymi Francuzami uciekł. (Pasek, op. cit., S. 214; Czubek, S. 248) „Übrigens, wenn ihr ihn nicht umbringt, werde ich ihn umbringen!“ Er ergriff den Bogen, legte einen Pfeil auf und traf den Herrn Kaiser in die Seite, daß die Spitze auf der anderen herauskam. Er tötete ihn. Auch andere Polen griffen nach dem Bogen. Als man anfing, jenen Haufen zu hecheln, spickte man die Franzosen. Den, der in der Person des Königs thronte, schoß man an, er fiel aus seiner Majestät auf den Schädel und vom Theater herunter, dann floh er mit den anderen Franzosen. (Pasek – Denkwürdigkeiten, S. 281)

30

Théâtre du Cirque Olympique – von Antonio Franconi (1737–1836) begründetes ZirkusTheater in Paris. Vgl auch Tadeusz Witczak: Epizod teatralny „Pamiętników“ Jana Chryzostoma Paska. In: Pamiętnik Teatralny, 1969, Heft 4, S. 547–561.

622

Teil II

Unser Verfasser31 war dort zugegen, und es scheint, daß er selbst nicht müßig zugesehen, nicht etwa weil er selbst betört war, sondern dies als einen nötigen Schlag gegen den französischen Einfluß betrachtete, der sich am Hofe und in der Hauptstadt zu allgemeiner Empörung der nationalen Gefühle verbreitete. Er spricht folgendermaßen darüber: Francuzów w Warszawie więcej niżeli owych, co cerberowe rozdymają, ognie; piniądze sypią, praktyki czynią, a najbardziej nocne, wolność im. w Warszawie wielka, powaga wielka; tryumfy publiczne sprawują z otrzymanych wiktoryj, choć też nie za prawdziwe, lecz za zmyślone; do pokoju wniść Francuzowi zawsze wolno, a Polak u drzwi musi i pół dnia stać; zgoła sroga i zbyteczna powaga. […] Przyszedszy na pałac do pokojów królewskich, rzadko obaczyć było czuprynę, tylko łby jako pudła największe, aż jasność okien zasłoniły. W tych tedy okazyjach widząc [się] niektórzy, sarkali na to, że się tak dwór rozmiłował w tym narodzie, i już mistrowie podrygali śpiew francuzski. Sama tedy wolność polska nie miała w tym upodobania i wszystkim tym pogardzała. (Pasek, op. cit., S. 213, 215; Czubek, S. 247, 249). Franzosen gab es in Warschau mehr, als die das Feuer des Zerberus anfachen, sie warfen mit Geld herum, praktizierten Machenschaften, meistens in der Nacht, in Warschau genossen sie große Freiheiten, großes Ansehen, sie feierten öffentlich Triumphe nach errungenen Siegen, sei es auch erfundenen und nicht wirklich erfochtenen. In die Gemächer konnte ein Franzose immer hinein, ein Pole musste manchmal einen halben Tag vor der Türe stehen, kurz und gut, ein großes und übermäßiges Gewicht. […] Wenn man im Palast zu den königlichen Gemächern kam, sah man selten einen Haarschopf, nur Schädel wie riesige Pudel verdunkelten fast das Licht, das durch die Fenster fiel. In einer solchen Situation beklagten sich einige, daß der Hof an diesem Volk einen solchen Narren gefressen hatte. Einige hohe Würdenträger tanzten schon ad Galli cantum. Die polnische Freiheit hatte daran keinen Gefallen und verachtete all das. (Pasek – Denkwürdigkeiten, S. 279, 282).

Was diese polnische Freiheit war, welcher Geist im Volke herrschte und wie sich sein öffentliches Leben in jener Epoche kund tat, erfahren wir vielleicht einzig nur aus Pasek, der so plastisch alles darstellt, der selbst ein Augenzeuge und Kenner dieser Zustände war und sie treu wieder erzahlt. Wir wollen sehen, wie er z.B. die Wahl des Königs Michael beschreibt.

31

Vgl. dazu Tadeusz Witczak: Epizod teatralny „Pamiętników“ Jana Chryzostoma Paska. In: Pamiętnik Teatralny 1969, zeszyt 4, S. 547–561.

3. Vorlesung (28. Dezember 1841)

623

Anno Domini 1669. Nastąpił potem obiór króla, wyszły od arcybiskupa uniwersały do województw, zagrzewając stany Rzeczpospolitej do obioru prędkiego i życząc, żeby się ten akt przez deputatów mógł odprawić. Aleć województwa słowa na to nie dały rzec, tylko żeby wszystkim wsiadać na koń, tako jak na wojnę; wiedzieli bowiem, co za ducha ma w sobie arcybiskup; wiedzieli, że on do śmierci praktyki francuskiej nie odstąpi; wiedzieli też i to, że wiele nowych do tej oblubienicy gotuje się konkurentów, jako to: książę Kondeusz, książe neuburski, książe lotaryngski. Gromadzą się zatem województwa dobrym porządkiem, każde u siebie w domu, a potem ruszyły się ku Warszawie. Ja, żem się w Krakowskiem ożenił, takżem też tam z nimi był pod chorągwią krakowskiego powiatu, gdzie Pisarski Achacy rotmistrzował. Poszliśmy tedy pod Wisimierzyce i tam staliśmy więcej niżeli tydzień, potem stanęliśmy pod Warszawą pierwszych dni lipca. Jako z rękawa wysypały się województwa, wojska wielkie, poczty pańskie, piechoty, zgoła ludzi bardzo pięknych i wiele. Sam Radziwiłł Bogusław miał z sobą ludzi z ośm tysięcy, bardzo pięknych […]. Opuścił tedy arcybiskup uszy, powątpiewając o swoim zamiarze, ale po staremu nie ustaje w dopinaniu i ma nadzieję. Aleć jak się kołowanie zaczęło, różni różnie sądzą; to ten będzie królem, to ten będzie, a o tym nikt nie wspomni, którego sam Bóg obrał. Ci, co posłali swoich posłów, starają się o to i mają nadzieję, że się podług ich stanie intencji, a ten nie spodziewa się niczego, wiedząc, że do tego żadnego nie było i nie masz podobieństwa. Francuskie subiekta jako zhukane pracują skrycie, ale neuburskiej i lotaryngskiej partii jawnie. O polskim zaś konkurencie i wzmianki nawet żadnej nie masz. Tam dają, darują, sypią, leją, częstują, obiecują; ten nikomu nic nie daje ani obiecuje, ani o to prosi, a jednak odnosi. Kiedy już po kilku sesjach i po odebranej od posłów cudzoziemskich legacji, i po deklarowanej każdego posła za swego pana dla Rzeczypospolitej uczynności najbardziej nam przypadł do serce Lotaryńczyk, z przyczyny, że to pan wojenny i młody, którego poseł powiedział też w swojej perorze na końcu te słowa: „Ilukolwiek macie nieprzyjaciół, z wszystkimi walczyć będzie“. Po czym solwowano do jutra sesją. Nazajutrz pozjeżdżali się do szopy; wojska okryły pole, dopiero różni różne dają sentencje, ten tego, ten zaś innego chwaląc; ozwie się jeden ślachcic z wojwództwa łęczyckiego, którzy zaraz nad kołem stali na koniach: „Nie odzywajcie się, Kondeuszowie, bo wam tu będą kule koło łba latały“. Senator jeden odpowiedział mu coś przyostro. Kiedy to poczną ognia dawać, senatorowie z miejsc w nogi, kryjąc się to pod karety, to pod krzesła; rozruch, gwałt. Inne chorągwie skoczyły zaraz w drugą stronę potrącać i deptać piechotę; ta poszła w rozsypkę. Obstąpiono zewsząd koło. Kiedy to poczęto egzorty prawić: „Zdrajcy! wytniemy was, nie wypuścimy was stąd; darmo mieszacie Rzeczpospolitę; innych senatorów postanowimy; spośród nas króla sobie obierzemy, jakiego nam Pan Bóg poda do serc“. Tak ci skończyła się owa sesja tragicznym widowiskiem. Chorągwie obróciły się w pole, a panowie biskupi i senatorowie powyłazili wpół ledwie żywi spod karet, spod krzeseł i pojechali do gospód; drudzy zaś, co w polu stali, udali się do namiotów.

624

Teil II Nazajutrz nie było sesji, bo się panowie po utrząśnieniu smarowali i olejek po przestrachu pili. Województwa też nie wychodziły w pole, ale stały w obozie. Dnia  16 lipca posyłają województwa do arcybiskupa, żeby wyjechał na sesją i zagaił według prawa dalszą elekcją. Ten odpowiedział: „Nie wyjadę, bo nie jestem pewien życia, i inni panowie senatrowie nie wyjadą“. Posłano znowu, donosząc, „że już wojska pomykają się ku szopie; kto więc cnotliwy i senator, i kto chce, niech z nami wyjedzie; obierzemy sobie pana. Kto nie wyjedzie, tego będziemy mieli za zdrajcę ojczyzny, i jaki stąd będzie skutek, niech się każdy domyśli“. Stanęły tedy województwa o pół ćwierci mili od szopy. Już więc senatorowie nie zjeżdżali się do szopy, ale do nas. Nasz kasztelan krakowski, Warszycki, i inni senatorowie przyjechali do nas. Dopieroż w radę o tym, co przeszło, i jak się komu podoba ten postępek. Pan kasztelan krakowski rzecze: „Imię Jego święte (bo to jego przysłowie), chwalę ja ten postępek; w tym się ma pokazać polska wspaniałomyślność, że to króla powinna obierać wszystka ślachta, nie zaś pewna liczba osób; nie mam ja o to urazy, lubo mi kule świstały nad głową, bo wiem, że to u każdego ślachcica tkwi w sercu ta zła chęć ludzi, która się już wszystkiemu światu ogłosiła; i owszem, jeżeli pożyję, na tym będę stał, aby sejmy odprawiały się na koniach, bo inaczej nie upilnują nam posłowie tych naszych wolności, których przodkowie nasi tak krwawo nabyli“. Dawał przykłady dawne, że póki Polacy tak czynili, póty kwitnęła złota wolność, i teraz trzeba się nam koniecznie ze snu porwać, odstąpiwszy choć na chwilę wczasów domowych. Wtem przysyłają do nas Wielkopolanie, zapytując: „Cóż mamy czynić, ponieważ o nas nie dbają panowie senatorowie?“ Odpowiedzieliśmy im i zaraz swoich posłali posłów: „że my swoich mamy senatorów, ruszamy się do szopy i będziemy sobie radzić“. Potem na miejscu obioru ruszyły się województwa i stanęły. O! Kiedy się to z Warszawy karety wysypią, jedni rysią, drudzy na cwał do koła co żywo śpieszą […]. Zasiedli tedy, ale już nie tak licznie jak przedtem. […] Zasiadłszy w kole siedzą, jakoby z choroby powstali, nic nie mówiąc jeden do drugiego. Ozwał się ktoś tam z kupy: „Mości panowie! nie na próżnowanie tu przyjechaliśmy, bo milcząc i patrzając na siebie nic tu nie sprawimy; a oto ponieważ ksiądz jegomość z Prażmowa funkcji urzędowi swojemu należytej nie czyni dosyć, więc prosimy jmć pana kasztelana krakowskiego, jako pierwszego w królestwie senatora, aby nam był dyrektorem; wszakże to nie papieża obierają, możemy się zatem obejść bez księdza“. Dopiero się arcybiskup porwie i rzecze: „A moi mości panowie, pókim ja żyw, to w tych wszystkich okazjach, które do mojego obowiązku należą, ojczyźnie i każdemu z waćpanów służyć nie przestanę. Teraz zaczynajmy szczęśliwie, a Bóg nam pobłogosławi, o co dnia dzisiejszego z całym duchowieństwem Jego świętego prosiłem majestatu, aby łaską Ducha Świętego raczył nakłonić serca nas wszystkich, co by mogło być z Jego świętą chwałą, a z dobrem ojczyzny naszej. Waćpanowie mianujecie, który się z tak wielu zacnych podoba konkurentów, a ja, starszy brat i sługa waćpanów, do gotowego“. Brali inni głosy za i przeciw; my też tu już zacinamy się przyczynami:

3. Vorlesung (28. Dezember 1841)

625

„ja tego“, „ja też tego życzę“; „mnie się podoba ten“, „a mnie też ten“. Racja tego taka, owego też taka. To gdy się dzieje, Wielkopolanie już krzyczą; „Vivat Rex!“ Skoczyło kilku od nas do nich, pytając: „Na kogo wołają?“ i przynieśli tą nowinę, „że na Lotaryńczyka“. W łęczyckim zaś i w brzesko-kujawskim województwie wnieśli to: „Nam nie potrzeba bogatego pana, bo on będzie bogatym, gdy zostanie królem polskim; nie trzeba nam z innymi spokrewnionego monarchami, bo to jest niebezpieczeństwem wolności, ale nam trzeba męża dzielnego, męża walecznego; gdybyśmy byli mieli Czarnieckiego, pewno by był usiadł na tronie, a że nam go Pan Bóg wziął, obierzemy jego ucznia, obierzemy Polanowskiego“. To gdy się dzieje, ja z ciekawości skoczyłem do Sandomierzanów, którzy najbliżej nas stali, aż tam trafiłem na tę materię, że życzą sobie Piasta, mówiąc: „Nie trzeba nam daleko szukać króla, mamy go między sobą; wspomniawszy na cnotę i poczciwość, i dla ojczyzny wielkie zasługi śp. księcia Jeremiego Wiśniowieckiego, słuszna by rzecz była zawdzięczyć to jego potomstwu. Owo jest książę jmć Michał, czemuż go nie mamy mianować, alboż nie z dawnej wielkich książąt familii, alboż nie godzien korony?“ A on siedzi między ślachtą pokorniusieńki, skurczony i nic nie mówi. Skoczę ja znowu do swoich i powiadam: „Mości panowie, już w kilku województwach zanosi się na Piasta“. Pyta mnie pan kasztelan krakowski: „A na któregoż?“ Powiadam: „Tam na Polanowskiego, a tu na Wiśniowieckiego“. Tymczasem hukną Sandomierzanie: „Vivat Piast!“ Dębicki podkomorzy, ciska czapkę do góry i wrzeszczy na wszystek głos: „Vivat Piast! Vivat król Michał!“, a tu też nasi Krakowianie wołają: „Vivat Piast!“ Rozbieży się nas kilku między inne województwa z musztukiem, wołając: „Vivat Piast!“ Łęczyczanie i Kujawianie, rozumiejąc, że na Polanowskiego, poczeli też zaraz wołać, inne województwa także. Wrócę się nazad do swoich, a tu już go biorą pod ręce i prowadzą do koła. Starszyzna nasza krakowska nie chce go i przeciwi się temu (bo od innych pieniędzy dużo nabrali i obietnice mieli wielkie), osobliwie Pisarski i Lipski, mówiąc: „Dla Boga“ co czynimy? Czy nas szaleństwo ogarnęło? stójmy! tak być nie może!“ Pan kasztelan karkowski już od nas odstąpił, bo to jego był krewny, i tam już przy nominacie. Innych też senatorów idzie wiele; jedni powtarzają: „Vivat!“, drudzy też milczą. Rzecze do mnie Pisarski […]: „Mości panie bracie! Co w tym terminie rozumiesz?“ Odpowiem: „To rozumiem, co mi Bóg do serca podał: Vivat król Michał! […]“ Wprowadziliśmy tedy nominata do koła szczęśliwie; tam dopiero winszowania, tam dopiero radość dobrych, a smutek złych. Czynił ci arcybiskup te ceremonie, które do jego urzędu należały, ale z jakim sercem, z jaką ochotą? Oto właśnie tak, jak kiedy owo wilka zaprzęga do pługa i każą mu gwałtem orać. Co potem wybuchnęło na jaw, co z dobrym panem robili za dziwy, o tym niżej będzie. Zaraz nazajutrz był król kilku milionami droższy, tak wiele mu nadano podarunków, to jest: karet, cugów, obiciów, sreber i różnych kosztowności […]. Dosyć na tym, że tak Pan Bóg ku niemu skłonił serca ludzkie, iż kto tylko miał co najspecjalniejszego, to mu niósł i oddawał, nie tylko z koni, pięknych rumaków, ale nawet i z rynsztunkiem, choć też i parę pistoletów w heban lub słoniową kość oprawnych.

626

Teil II Rozjechała się nareszcie ślachta do domów, już jednakże nie pod chorągwiami, ale każdy osobno. (Pasek, op. cit., S. 259–265).32 1669. Dann nahte die Königswahl heran. Vom Erzbischof ergingen Innoteszenzen, welche die ordines der Respublica zu einer schnellen Wahl ermunterten und den Wunsch äußerten, daß dieser Akt per deputatos vollzogen werden könnte. Die Wojewodschaften aber wollten davon absolut nichts wissen, man ließ vielmehr die Pferde besteigen wie für einen Kriegszug. Welche Gesinnungen der Erzbischof hegte, war klar, man wußte, daß er bis zum Tode nicht von den französischen Intrigen lassen würde, man wußte ferner, daß viele Bewerber um jene Braut sich rüsteten, wie zum Beispiel der Herzog von Longueville, der Fürst von Neuburg, der Herzog von Lothringen. Die Wojewodschaften sammelten sich also in guter Ordnung bei sich daheim, und dann brachen sie nach Warschau auf. Weil ich in das Krakauer Gebiet geheiratet hatte, befand ich mich auch unter der Fahne des Krakauer Bezirkes, wo Achacy Pisarski Rittmeister war. Wir zogen nun vor Wyśmierzyce und lagen dort länger als eine Woche. In den ersten Julitagen bezogen wir vor Warschau Quartier, dann kamen die anderen Wojewodschaften daher, wie aus dem Ärmel geschüttelt. Zahlreiche Truppen, herrschaftliches Gefolge, Infanterie, überhaupt sehr viel gut ausgerüstetes Volk. Allein Boguslaw Radziwiłł hatte etwa 8000 gut equipierte Leute mit sich. […] Der Erzbischof ließ also die Nase hängen, weil er am Erfolg seiner Intentionen zu zweifeln begann. Er war aber weiterhin unermüdlich geschäftig und hegte Hoffnungen. Als dann die Beratungen anfingen, hörte man verschiedene Meinungen: der würde König werden, jener; den jedoch, den Gott selbst vorgesehen hatte, erwähnte keiner. Diejenigen, die ihre Gesandten ausgeschickt hatten, um für sie zu wirken, hatten Hoffnungen, es würde alles ihren Intentionen gemäß ablaufen. Er erwartete jedoch nichts, weil er wußte, daß keinerlei Wahrscheinlichkeit dafür bestand. Die französischen Parteigänger waren scheu geworden und wirkten im Stillen, die des Fürsten von Neuburg und des Herzogs von Lothringen öffentlich. Von einem polnischen Kandidaten war überhaupt keine Rede. Dort gab man, beschenkte man, schüttete Geld aus, schenkte ein, bewirtete, versprach, er aber gab niemandem etwas und versprach auch nichts, bewarb sich auch nicht und trug doch den Sieg davon. Als einige Sessionen bereits vorüber waren und man die Botschaften der ausländischen Abgesandten entgegengenommen hatte, wobei jeder von ihnen den Nutzen seines Herrn für die Rzeczpospolita dargelegt hatte, gefiel uns der Lothringer am besten, ex ratione er ein kriegerischer und junger Mann war, sein Abgesandter hatte auch am Schluß seiner Oration die folgenden Worte gebraucht: „Wieviel Feinde ihr auch habt, ihr müsst mit allen kämpfen.“ Man vertagte die Sitzung auf den nächsten Tag.

32

Zitiert nach der Ausgabe von Czubek, Pamiętniki, op. cit., S. 315; IX, S. 38.

3. Vorlesung (28. Dezember 1841)

627

Am anderen Morgen kamen die Senatoren allmählich unter ihrem Flugdach zusammen, die Truppen bedeckten das Feld. Man äußerte verschiedene Meinungen und lobte den einen oder den anderen. Ein Szlachtiz aus der Wojewodschaft Łęczyca ließ sich hören. Dieses Aufgebot befand sich aufgesessen gleich neben dem Beratungsplatz. „Condé-Anhänger, muckst euch nicht, sonst pfeifen euch die Kugeln um die Ohren!“ Ein Senator gab ihm eine scharfe Antwort. Da begannen sie zu schießen, die Senatoren flohen von ihren Plätzen zwischen die Wagen und unter die Fauteuils; Wirbel und Tumult. Gleich sprengten andere Eskadronen von der anderen Seite heran und blockierten die Infanterie, ritten sie nieder und zerstreuten sie. Der Beratungsplatz wurde umstellt. Nun begann man dem Tadel Ausdruck zu verliehen: „Verräter! Wir werden euch niederhauen. Wir lassen euch nicht hinaus. Vergeblich wollt ihr den Staat durcheinanderbringen! Wir werden andere Senatoren konstituieren und aus ihren Reihen den König wählen, den uns der Herrgott ans Herz legt.“ So endete diese Session mit einem tragischen Schauspiel. Schließlich brachten die Offiziere ihre Truppen zur Raison, die Eskadronen kehrten auf das Feld zurück, und die Herren Bischöfe und Senatoren krochen allmählich unter den Sesseln und Wagen hervor, halbtot, und fuhren dann in ihre Quartiere. Andere, die auf dem Wahlfeld wohnten, in ihre Zelte. Am anderen Tage gab es keine Session, denn die Herren rieben sich nach der Erschütterung ein und tranken auf den Schreck Öle und Hyazinthe. Auch die Wojewodschaften rückten nicht auf das Feld aus, blieben aber im Lager. Am 16. Juli sandten die Wojewodschaften zum Erzbischof, er möchte zu einer Session ausfahren und dem Gesetze entsprechend die Fortsetzung des Werkes einleiten. Er antwortete: „Ich fahre nicht, denn ich bin meiner Gesundheit nicht sicher, und auch die anderen Herren Senatoren werden nicht fahren.“ Man schickte abermals, daß sich die Truppen schon um das Flugdach zusammenzögen. „Wer Ehre im Leibe hat und ein Senator ist, der mag mit uns ausreiten. Wir werden uns einen Herren wählen. Wer nicht ausreitet, den werden wir wie einen Vaterlandsverräter behandeln. Was das für Konsequenzen haben wird, das kann er sich selbst denken.“ Die Truppen der Wojewodschaften standen eine achtel Meile von dem Flugdach. Die Senatoren kamen auch nicht mehr darunter zusammen, sondern bei uns. Unser Krakauer Kastellan Warszycki und andere Senatoren kamen zu uns. Zuerst beriet man über das gerade Passierte, wie einem dieses Vorgehen gefalle. Der Krakauer Herr sagte: „Bei Seinem heiligen Namen (das war seine Lieblingswendung), ich lobe dieses Vorgehen. Darin mag die polnische Herzigkeit zum Ausdruck kommen, daß den König der gesamte Adel, nicht aber eine gewisse Anzahl von Personen erwählt. Ich bin darob nicht gekränkt, obwohl mir die Kugeln um die Ohren pfiffen, denn ich weiß, daß jedem Szlachtizen die Bosheit jener Leute am Herzen frißt, die nun schon der ganzen Welt offenbar ward. Übrigens, sollte ich mit dem Leben davonkommen, werde ich darauf bestehen, daß die Sejms zu Pferde abgehalten werden, anders würden die Abgeordneten nicht imstande sein, unsere Freiheiten aufrechtzuerhalten, die unsere antecessores mit ihrem Blute erkämpft haben.“

628

Teil II Er führte Beispiele aus der Geschichte an, daß die Goldene Freiheit so lange florierte, als die Polen sich dementsprechend verhielten. Auch jetzt müssen wir uns aus dem Schlafe aufraffen, und im Augenblick die häuslichen Freuden zurückstellen. Da sandten die von Großpolen zu uns: „Was sollen wir anfangen? Die Herren Senatoren ignorieren uns!“ Wir antworteten ihnen und schickten gleich unsere Boten: „Wir haben unsere Senatoren und brechen zum Flugdach auf, werden uns schon Rat schaffen.“ Die einzelnen Wojewodschaften rückten Wahlplatz und lagerten dort. Oh! Da kamen die Karossen aus Warschau herausgerollt, die einen im Trab, die anderen im Galopp. […] Nun begann also die Beratung, aber mit weniger Teilnehmern als vorher […]. Bei der Beratung saßen sie da wie eben Genesene, niemand sprach etwas. Da meldete sich jemand aus dem Haufen: „Meine Herren, wir sind nicht hergekommen, um nichts zu tun. Wenn wir einander schweigend ansehen, wird nichts dabei herauskommen. Weil seine Hochwürden Herr Prażmowski die seinem Amt zukommenden Funktionen nicht ausüben will, so bitten wir Seine Wohlgeboren den Herrn Kastellan von Krakau als den ersten Senator in regno, die Leitung zu übernehmen. Wir wählen ja hier keinen Papst und können also auch ohne Priester auskommen.“ Jetzt erst riß es den Erzbischof hoch: „Aber meine Herren, mein Lebtag werde ich bei allen Anlässen quae sunt mei muneris nicht aufhören, unserem Vaterland und jedem von euch, meine Herren, specialiter zu dienen. Jetzt also laßt uns glücklich beginnen, wofern Gott seinen Segen dazu gibt, worum ich Seine heilige Majestät auch am heutigen Tage cum toto clero gebeten habe. Die Gnade des Heiligen Geistes wolle unser aller Herzen zu dem lenken, was zu Seinem heiligen Ruhme und zum Wohle unseres Vaterlandes gereicht, et similia. Meine Herren, nominiert den, der unter so vielen ehrenwerten Bewerbern euren Gefallen findet, und ich, euer älterer Bruder und Diener Euer Herren, stehe bereit.“ Es erhoben sich Stimmen pro et contra, und wir begannen jeder auf unseren Argumenten herumzureiten. „Ich bin für den.“ – „Ich schließe mich an.“ – „Mir paßt der auch.“ Der eine führte diese Gründe an, der andere jene. So beriet man also, da schrien die aus Großpolen auch schon: „Vivat rex!“ Einige von uns stürzten hin, um zu erfahren, wen man da hochleben ließ. Man brachte die Botschaft, daß es dem Lothringer gelte. In den Wojewodschaften Łęczyca und Brześć Kujawski brachte man vor: „Wir brauchen keinen Reichen als Herrn, denn als polnischer König wird er ohnehin reich, brauchen auch niemanden, der mit anderen Monarchen verschwägert ist, denn dies ist ein periculum libertatis, uns tut ein vir fortis, ein vir bellicosus not. Hätten wir noch Czarnecki, würde dieser sicher den Thorn besteigen. Da Gott uns ihn aber genommen hat, wollen wir doch seinen Schüler wählen, wir wählen den Polanowski.“ Das wurde debattiert; per curiositatem preschte ich zu denen von Sandomierz, die uns am nächsten standen. Dort traf ich dann auf die Meinung, daß sie einen de sanguine gentis wünschten und sprachen: „Wir brauchen nicht lange nach einem König zu suchen, wir haben ihn

3. Vorlesung (28. Dezember 1841)

629

unter uns. Wenn wir uns an die Vortrefflichkeit, die Ehrenhaftigkeit und die großen merita des seligen Hieremi Wiśniowiecki dem Vaterland gegenüber erinnern, dann wäre es wohl recht und billig, seinen Nachkommen den Dank dafür abzustatten. Da steht ja Seine Wohlgeboren der Fürst Michael, warum sollten wir nicht ihn nominieren? Stammt er denn nicht aus einer Familie früherer Großfürsten? Ist er etwa der Krone nicht würdig?“ Er aber saß da unter der Szlachta, ganz demütig, hatte sich geduckt und sprach kein Wort. Ich setzte wieder zu den Meinen hin und sagte: „Meine Herren! Schon bei einigen Wojewodschaften steht es günstig für einen Piasten!“ Der Herr aus Krakau fragte mich: „Für welchen denn?“ „Für Polanowski und hier für Wiśniowiecki.“ Da schrie man gerade bei denen aus Sandomierz: „Vivat Piast!“ Der Kämmerer Dębicki warf seine Mütze in die Luft und brüllte aus Leibeskräften: „Vivat Piast! Vivat rex Michael!“ Da stimmten auch unsere Krakauer mit ein: „Vivat Piast!“ Einige von uns liefen zu den anderen Wojewodschaften mit der Neuigkeit und riefen: „Vivat Piast!“ Die Leute aus Łęczyca und die Kujawier glaubten, das gelte ihrem Polanowski, und begannen gleich auch zu rufen, andere Wojewodschaften desgleichen. Ich kehrte zu den Meinen zurück, da faßte man ihn auch schon an der Hand und führte ihn in den Beratungsring. Unsere Krakauer Offiziere negierten und widersprachen (denn sie hatten von anderen Kandidaten viel Geld genommen und große Versprechungen erhalten), besonders Pisarski und Lipski. „Um Gottes willen! Was machen wir? Hat uns der Wahnsinn übermannt? Halt! Das ist unmöglich!“ Der Herr aus Krakau hatte uns schon verlassen, denn dort war sein Verwandter. Er befand sich bei dem Nominierten. Viele andere Senatoren gingen ihm obviam. Die einen stimmten mit ein, die anderen schweigen. Pisarski sagte zu mir […]: „Mein lieber Herr Bruder, was hältst du von der Geschichte?“ „Ich meine, was mir Gott ins Herz gab: Vivat rex Michael!“ […] Wir geleiteten ihn also glücklich in den Wahlring. Dort erst gratulationes, dort erst Freude den Guten und Trauer den Bösen. Der Erzbischof vollzog die seinem Amte zukommenden Zeremonien, sowohl circa inaugurationem als auch andere actiones gratiarum in den Kirchen; mit welchem Herzen aber, mit was für einem Widerwillen! Es war, als ob jemand einen Wolf in den Pflug spannt und ihn mit Gewalt zwingt, Furchen zu ziehen. Von dem, was später in publicum ruchbar wurde, was man mit dem guten Herrn aufführte, davon weiter unten. Am nächsten Morgen war der König gleich um einige Millionen schwerer, so viele Geschenke hatte man ihm gemacht: Karossen, Gespanne, Beschläge, Silberzeug und verschiedene Kostbarkeiten […]. Genug damit: Gott hatte die Herzen der Menschen ihm so zugewandt, daß jeder das ihm Wertvollste dem König zum Geschenk darbrachte, nicht nur schöne Pferde, Araber, sondern auch Ausrüstung, und wenn es nur ein Paar ebenholz- oder elfenbeinbeschlagene Pistolen waren.

630

Teil II Die nobilitas ritt also heim, jetzt nicht mehr unter den Fahnen, sondern einzeln. (Pasek – Denkwürdigkeiten, S. 329).

[Nachdem uns der Professor dieses in einer schönen Übersetzung gegeben hat, gleichwie eine zweite Beschreibung des Konföderationslandtags (sejmik), wo man den Firlej Broniowski33 in Stücke gehauen, machte er folgende von tiefer Auffassung der polnischen Geschichte zeugende Bemerkung:] Hiermit haben Sie, meine Herren, ein treues Bild eines polnischen Reichstages (Sejms); es fehlt ihm nichts als Paseks Stil. Diesen Stil kann man nicht nur im Französischen nicht wiedergeben, sondern es würde sogar schwer fallen, ihn im Polnischen nachzuahmen. Um so zu schreiben, müßte man ein gleiches Leben führen, ein Leben voller Tätigkeit und reich an Abenteuern, man müßte sogar die damalige Tracht antun. Wollte jemand sein Werk gestochen herausgeben, so müßte er statt der Kommas und Punkte für ein Buch, das keine Sätze und Abschnitte enthält, eigene Zeichen erfinden, um auszudrücken, wie der Sprecher sich hier den Schnurrbart gedreht, dort nach dem Schwerte gegriffen, dann diese oder jene Gebärde gemacht, denn solches vertrat die Stelle der Worte, ja selbst der Gedanken. 33

Bei Wrotnowski, op. cit., S. 28, befindet sich dieser Satz in einer Fußnote mit einem Verweis auf die gemeinte Stelle, die hier zitiert wird: „Einige Male kam es beinahe zum Blutvergießen, und schließlich war es dann soweit, denn einige Tage später ereignete sich ein tragisches Schauspiel, als ein gewisser Firlej Broniowski, der angeheitert zur Sitzung kam, zunächst auf seinem Pferd hinter uns, das heißt den Deputierten der Krakauer Wojedwodschaft stehenblieb. Er begann zu rufen, zu schreien, den Rednern ins Wort zu fallen. […] Ich sagte ihm: „Herr Bruder, wir brauchen hier keinen Schaffer! Hier ist der Platz der Krakauer Wojewodschaft, verhalt dich entweder ruhig oder entfern dich!“ Er ging auf mich los und begann zu fauchen: „Kann stehenbleiben, wo es mir gefällt!“ Nun gingen meine Kollegen hoch und sagten ihm, es sei nicht erlaubt: „Weißt du denn nichts von der Anordnung, daß jeder hinter den Deputierten seiner Wojewodschaft Aufstellung zu nehmen hat? Entfern dich, sonst erschlägt man dich noch“ Oder schämst du dich vielleicht deiner Wojewodschaft?“ […] Er ritt auf die andere Seite und begann dort von neuem zu randalieren. Man wusste aber von ihm, daß auch er ein Malkontenter sei, und jemand sagte ihm dort: „He, Herr Bruder, Vorsicht, damit du dir nichts etwas Böses einbrockst!“ Er trieb’s noch ärger, dann sagte er etwas gegen den König, und man griff gegen ihn zum Säbel. Er begann zwischen die Hütten der Wojewodschaft Bełz zu fliehen, auch von dort jagte man ihn davon. Im Felde hieb man ihn dann grausam in Stücke. Wir im Beratungsring wussten nicht, was dort geschah. Da schleppten sie ihn in den Ring und riefen: „Tretet zurück!“ Es brachten ihn also zwei türkisfarben gekleidete Knechte an den Füßen mit nur einem Schuh geschleppt, sie warfen ihn in der Mitte des Ringes hin: „Da habt ihr den ersten Malkontenten! So wird es auch den anderen ergehen!“ Irgendwie erfasste einen Mitleid und Schauder beim Anblick dieses Niedergemetzelten. Diejenigen wieder, die sich als Malkontente fühlten, waren halbtot vor Angst, als der wie ein geschlachtetes Vieh in seinem Blute dalag.“ […]. (Denkwürdigkeiten, S. 352–357)].

3. Vorlesung (28. Dezember 1841)

631

Für Wähler nach dem jetzigen Schlag und für die Ausländer erregt jenes Bild Verwunderung in Beziehung auf die Politik. Staunen erregt es, ein Land regiert zu sehen durch eine Versammlung von fünfzig, sechzig, hundert Tausend Männern, eine Versammlung, welche dennoch die wichtigsten Aufgaben der Politik und Staatswirtschaft entscheidet. Ein solcher Gang der Dinge mußte den an Ordnung und Ruhe gewöhnten Einwohnern fremder Länder immer von Außen wie ein fürchterlicher Unfug erscheinen, und darum verschrie man auch die polnische Konstitution als eine Anarchie. Geht man jedoch in das Wesen der Dinge ein, so kann man sich zu einem höheren Gesichtspunkt erheben, von wo dieser scheinbare Tumult sich begreifen läßt, und man findet hier einen bestimmten Geist, der da weiß, wohin und wie weit er hinaus will. Wenn das geübteste Heer ein Manöver ausführt, wenn die Bataillone und Schwadronen sich in verschiedenen Richtungen durchkreuzen, so scheint alles in Unordnung zu sein, nur dem Anführer und Jenen, die seine Absicht kennen, scheint dieses nicht. Viel hat man schon von den Fehlern des polnischen Wahlsystems gesprochen; aber warum beharrte dennoch die Nation so hartnäckig dabei: es war ja so leicht, den bekannten und allgemein verschrieenen Mängeln abzuhelfen. Die Polen schlossen ja von der Nachfolge die königlichen Söhne und Verwandten nicht aus; hinlänglich wäre es daher gewesen, nur Fürsten, von zahlreicher Familie umgeben, zum Throne zu berufen. Und in der Tat hat der König Jan Kazimierz nur in der reinen Absicht, die Republik zu retten, die Krone niedergelegt, auf daß man um so leichter den Fürsten Condé34 wählen könnte. Die Bischöfe, sehr geübte Politiker und sehr wohlhabende Leute, unterstützten die Absicht des Königs: trotzdem scheiterten alle Berechnungen an der Eingebung der Nation; denn sie stimmten nicht mit der volkstümlichen Vorstellung von der Wahl überein. Die Wahl war bei den Polen und andern Völkern des Mittelalters nach der christlichen Anschauung ein Akt, ganz verschieden von der heutigen Praktik, welche Jeremy Bentham, Jean Jacques Rousseau35 und die Publizisten formuliert haben. Die Wahl, wie sie die Kirche und das polnische Volk begriff, war ein Werk Gottes, eine unmittelbare Wirkung der Vorsehung, mit einem Worte, ein Wunder. Darum sah man alle Maßregeln, die im Voraus genommen wurden, für sündhaft an und nannte sie Widerspenstigkeit gegen den heiligen Geist. 34 35

Henri Jules de Bourbon Condé d’Enghien (1643–1709). Jeremy Bentham (1748–1832); vgl. Jeremy Bentham: Eine Einführung in die Prinzipien der Moral und Gesetzgebung. Aus dem Englischen übersetzt von Irmgard Nash und Richard Seidenkranz. Saldenbur 2013; vgl. Jean Jacques Russeau: Sozialphilosophische und politische Schriften. München 1981; Kapitel: „Betrachtungen über die Regierung Polens und über deren vorgeschlagene Reform“.

632

Teil II

Die Anrufung des heiligen Geistes, bis jetzt im Gebrauch, war dazumal keine eitle Zeremonie; man glaubte in der Tat, daß der heilige Geist hierbei wirke. Sehen wir die Einladungsbriefe an. Der Primas und der König hüten sich gar sehr, ihre Kandidaten zu empfehlen: sie berufen sich immer auf die Eingebung des Volkes, stets wiederholend: „Den werdet ihr wählen, welchen euch Gott in die Herzen eingibt.“ Aus allen Denkschriften jener Zeit ersieht man auch, daß der ganze niedere Adel so dachte. Wie hätten die Volksführer nach dergleichen eindringlichen Erklärungen den Mut haben können, mit einem schon fertigen Kandidaten aufzutreten, ihn geradezu gegen den heiligen Geist, d.h. gegen das allgemeine Wohl des Volkes aufzudringen? Daher, wo nur irgend sich eine Spur von berechneten Maßregeln und vorgefaßten Plänen entdecken ließ, fanden diese unüberwindlichen Widerstand. Als nun aber Europa damit umging, die Regierungen lediglich nach der menschlichen Vernunft festzusetzen und zu bestimmen, und wie es so dem hergebrachten überlieferten Wesen der Dinge geradezu entgegentrat, da wollten auch in Polen die Könige, Senatoren, Geistliche und Diplomaten die Republik auf dieses allgemeine Geleis des 16. und 17. Jahrhunderts führen, wenngleich das Volk hartnäckig sein politisches Leben beständig nach altem Brauch zu entwickeln strebte. Demnach kam es zum Zwiespalt zwischen der Masse des Volkes und allem, was seine Spitze bildete, die von moderner Aufklärung, Diplomatik und Politik strotzte. Diese Frage berührt die Aufgabe: woher soll man die Königsmacht ableiten, und worauf sie stützen? Man vermeinte in den Vernunfttheorien für sie schon eine Basis zu finden und bestrebte sich, sie durch ähnliche Mittel zu schaffen, wie man z.B. Parteien bildet, durch Stimmenankauf und dergleichen. Alles erlaubte Sachen und sogar dieser hin und herratenden, berechneten Systeme würdig; denn nach neueren Begriffen sind die Wahlen nichts weiter als eine Zusammenstellung verschiedener Interessen und Leidenschaften, die sich in einem gegebenen Augenblick um einen Namen herum ins Gleichgewicht legen. Auf gleiche Weise wollte man auch alle Gefühle und Interessen der Polen entweder in einem fremden oder einheimischen Fürsten vereinigen. Wie aber dieses ausführen? Man erschreckte sie mit den Gefahren der Wahl, lockte sie mit Aussichten auf Privatgewinn. Aber ließen sich wohl solche Manner schrecken, denen es ein Vergnügen war, die Kugeln sausen zu hören, wie z.B. jener Krakauer Kastellan36 von altem Schrot und Korn, und welcher offen gestand, er würde Zeit seines Lebens darauf sehen, daß die Reichstage (Sejmy) zu Rosse und gewaffnet abgehalten werden. Oder war es wiederum 36 Stanisław Warszycki (1599–1681). Vgl. bei Pasek – „Denkwürdigkeiten“, op. cit., Anno Domini 1669, S. 332–333.

3. Vorlesung (28. Dezember 1841)

633

etwa möglich, jenen kleinen Adel zu bestechen, der seine Pferde und Waffen dem König hingab, welchen er zum ersten und vielleicht letzten Mal sah? Kein einziger Keim des europäischen Rationalismus konnte je in Polen Wurzel schlagen, und dennoch gab es polnische Könige, die eine furchtbare Gewalt besaßen. Stefan Batory fühlte, daß er König sei und verfuhr hart mit allen den anmaßenden erlauchten Herren der Republik, jedoch nur bis zu dem Augenblick, in welchem er die volkstümliche Handfeste zu anderen beschloß, bis er sich Theorien ergab. Michał Korybut Wiśniowiecki, ohne großmächtige Verwandte, ohne Freunde, kaum 5000 polnische Gulden Einkünfte besitzend, wurde König, und sogleich nahm der Adel die Obhut seiner Majestät über sich, und wahrlich, es bedurfte keines anderen Gerichtshofes, um die geringste Beleidigung seiner Person zu ahnden, so lange als er die Liebe des Volkes hatte. Jan Sobieski war wirklicher Monarch, als er mit seinen dreißigtausend Kriegern unter Wien stand, wurde jedoch von der Nation sogleich verlassen, als er auf den unglücklichen Einfall kam, um seinen Söhnen den Weg zum Throne zu bahnen, für sie die Fürstentümer der Moldau und Walachei zu erwerben. Aus den oben angedeuteten Vorstellungen des Volkes erklärt sich jener heilige Schein, welcher die Hoheit des polnischen Königs umgab; auf diesen stützte sich die ganze Macht des Monarchen. Der trotzigste und stolzeste Magnat, der da offen auf dem Sejm gegen den König auftrat, sprach dennoch immer seinen Namen, und wenn es auch in seinem Zimmer war, nicht anders aus, als sich vom Sessel erhebend und die Mütze ziehend. Es ereignete sich sogar, daß während des Krieges der Konföderierten gegen den König aus dem sächsischen Hause, als die Nachricht von seinem Tod ankam und einer der Edelleute sich ein beleidigendes Wort über das Andenken dieses Herrschers erlaubte, seine eignen Waffengefährten ihn zwangen, unter den Tisch zu kriechen und auf Vieren, nach altem Brauch, die Beleidigung der Majestät des Thrones zu widerrufen. So oft es sich daher um die Verleihung der Gewalt oder auch nur um die Votierung der Abgaben handelte, war es nötig, sich einzig und allein an die edlen Gefühle des Volkes zu wenden, und das, was wahrhaft Großes in ihm war, in Bewegung zu setzen. Jegliche Größe und Macht hatte hier den Quell, nämlich den allgemeinen Enthusiasmus, einzig und allein den Enthusiasmus und nichts weiter. Aber wie aus diesem Element den steten Organismus eines Königreichs bilden? Wie eine Konstitution, hierauf gestützt, systematisch entwickeln, auf etwas, das so vorübergehend, unabhängig vom Willen und unberechenbar ist? Kann man denn zu jeder Zeit, und so viel es bedarf, Begeisterung erwecken? Zwar gab es große Ereignisse, die bloß durch Enthusiasmus hervorgebracht sind, z.B. die Kreuzzüge, der Dreißigjährige Krieg, einige Feldzüge in der französischen Revolution. Jedoch, kann es ein Reich geben,

634

Teil II

welches allein durch Enthusiasmus dauert, lebt und wirkt? Bis jetzt haben wir kein Beispiel eines solchen; wird einmal ein solches sein? Dieses dürfen wir nicht vorher leugnen. Die Geschichte besitzt kein Recht, ihr Urteil über die Zukunft zu fällen. Diese Aufgabe, welche fremden Völkern vielleicht eitel und leer klingt, ist für die Slaven von großer Bedeutung: von ihrer Lösung hängt das zukünftige Schicksal Polens ab.

4. Vorlesung (4. Januar 1842) Schriftquellen der polnischen Geschichte – Kordeckis Denkschrift – Polen zur Zeit des Jan Kazimierz – Die Kosaken und die Jesuiten – Die Belagerung von Tschenstochau – Der Glaube an das unmittelbare Wirken der unsichtbaren auf die sichtbare Welt ist die moralische und politische Kraft Polens.

Nichts ist unbekannter, als die Geschichte des Nordens im 17. Jahrhundert. Die Polen, von allen Seiten mit Krieg überzogen, waren stets im Kampf und hatten keine Zeit, auf den Grund dieser Feindseligkeiten einzugehen und die Ereignisse geschichtlich niederzuschreiben und zu begründen. Die Russen und Tschechen schweigen hier gänzlich, und es finden sich nur Berichte von Ausländern, von fremden Schriftstellern, die, am häufigsten dem Interesse des Schweden37 und des Brandenburgers38 ergeben, mit berechneter Bosheit die Geschichte Polens verfälschen. Die schwedischen Protestanten kannten schon damals die Wichtigkeit der öffentlichen Meinung: die von ihnen erkauften Publizisten posaunten in den Tagesblättern große Siege aus, wo nicht einmal Gefechte stattgefunden. Der berühmte Samuel Pufendorf39 hat in seinem ungeheuren Werk mit Stahlstichen eine Menge Belagerungen und Städte abgezeichnet, die nie existierten. Die einzigen richtigen Urkunden zur Geschichte jener Zeit waren in den polnischen Archiven, doch sind diese zum größten Teil ein Raub der Flammen geworden, und das Übriggebliebene haben noch unlängst die Russen geraubt.40 Dermaßen stellen sich in jeder Hinsicht als die schätzbarsten Quellen zur Forschung die Memoiren der Privaten heraus. Unter diesen Tagebüchern gibt es einige in Form von Heldengedichten, und ganz verschieden von jenem ländlichen Roman, wovon uns Pasek ein Muster gegeben. Die wichtigste Denkschrift von jenen geringen Vorräten ist ein kleines Büchlein, unglücklicherweise nur in lateinischer Sprache geschrieben. Der Schriftsteller hat wahrscheinlich die damalige Umgangssprache nicht für fähig gehalten, der erhabenen Sache zu entsprechen. 37 Karl X. Gustav König von Schweden (1622–1660). 38 Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620–1688). 39 Vgl. Samuel Pufendorf: Sieben Bücher von denen Thaten Carl Gustavs Königs in Schweden: Mit vortrefflichen Kupffern ausgezieret und mit nöthigen Registern versehen. Nürnberg 1697. 40 Ganze Bibliotheksbestände und Archive aus Polen (z.B. die  Załuski-Bibliothek und andere) sind nach der Teilung Polens nach Petersburg ausgelagert worden.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_046

636

Teil II

Der Gegenstand selbst, an sich ein materielles Faktum, ist fast bedeutungslos. Es handelt sich nur um die Verteidigung einer kleinen Festung, kaum von einigen hundert Ruten Umfang, wo eine kleine Besatzung sich sechs Wochen lang gegen mehrere tausend Schweden behauptet. Doch dieser belagerte Flecken besitzt einen lauten Namen, er ist für alle Slaven ein heiliger Zufluchtsort, eine zweite Casa Santa von Loreto41, und seine heldenmütige Abwehr war von unberechenbaren Folgen, mit einem Wort, sie hat Polen erlöst. Um die Wichtigkeit dieses Ereignisses einzusehen und die ernste, ja rauhe Erzählung richtig zu würdigen, ist es notwendig, sich an die Geschichte der Regierung von Jan Kazimierz zu erinnern, und besonders an das, was im Jahre 1655 vorgefallen, und was schon damals die politische Laufbahn Polens beschließen sollte.42 Im Schoß der Republik erhoben sich zwei furchtbare Feinde gegen sie: die Kosaken und der Kurfürst von Brandenburg.43 Der Grund des Kosakenaufstandes lag in der allgemeinen moralischen Zerrissenheit des nationalen Gedankens, welcher bisher diese Völker zusammenhielt. Polen hatte keine Apostel und keine Bekenner seines Glaubens mehr, auf die Bekehrung der Kosaken durfte es nicht mehr hoffen, d.h. das feindselige griechische Element in ihnen zu vernichten. Die Jesuiten, welche damals am Ruder der öffentlichen Erziehung standen, waren am wenigsten geeignet, dies Werk zu vollbringen. Ihr Orden nahte immer mehr seinem Verfall. Sie hatten sich an den großen Höfen gewöhnt, die kalvinischen und lutherischen Aristokratien und die Sektenerzeuger diplomatisch zu bekämpfen und umhüllten sich hierdurch gleichsam, wenn auch dem Anschein nach mit einer unschuldigen, so dennoch sehr schädlichen Heuchelei. Sie überzogen ihre ursprüngliche, wirkliche Sitteneinfalt mit einem gefälligen und weltlichen Äußeren. Das derbe und biedere Volk der Hirten und Krieger liebte nicht diese Verstellung, auch sagte ihm eine gezierte, erkünstelte Sprache nicht zu. Die Predigten in einem hochtrabenden und gemachten Ton trafen noch viel weniger sein Herz. Die mönchische Geistlichkeit war noch tiefer als die Jesuiten gesunken, denn ihre Sitten waren 41 Basilica della Santa Casa (Basilika vom Heiligen Haus) in Loreto bei Ancona an der Adria. 42 Polnisch-Schwedischer Krieg zwischen 1655–1660 (Schwedische Sintflut – potop szwedzki) und der Russisch-Polnische Krieg zwischen 1654–1667. Vgl. Gotthold Rohde: Geschichte Polens. Ein Überblick. Darmstadt (3. Aufl.) 1980. 43 Der Kurfürst Wilhelm Friedrich von Brandenbrug unterstellte sich in dem Vertrag von Königsberg (17. Januar 1656) der Lehnshoheit von König Karl X. Gustav von Schweden; dadurch brach er seinen Vasalleneid gegenüber dem polnischen König Johann II. Kasimir (Jan II Kazimierz Waza). Durch den Vertrag von Wehlau (19. September 1657) mit dem polnischen König Johann II. Kasimir erlangte dann das von ihm regierte Herzogtum Preußen seine Souveränität.

4. Vorlesung (4. Januar 1842)

637

verderbt. Der leichte Umgang inmitten einer Bevölkerung, wo geräuschvolle Gastfreundschaft, Gefälligkeit und Prunksucht herrschte, verleitete sie; sie vernachlässigten ihre Pflichten gerade zur Zeit, als ihr Beruf die größte sittliche Aufopferung und die strengste Lebensregel erheischte. Somit war die Empörung der Kosaken gegen Polen sogar in religiöser Hinsicht schwer zu beschwichtigen. Gleich zu Anfang der Regierung von Jan Kazimierz trafen schwere Niederlagen die Ukraine; endlich lieferte der König an der Spitze des ganzen Adels die letzte große Schlacht bei Beresteczko44, in welcher sich die europäische Reiterei mit der asiatischen maß. Drei Tage lang kämpften hier dreihundertausend Reiter, und die Polen trugen einen vollständigen Sieg davon. Das kosakische Volk ergab sich, doch die Führer, durch persönliche Rücksichten geleitet, flüchteten unter die Obhut der Russen und Türken. Der Zar kündigte Polen den Krieg an: russische Truppen und Kosaken rückten nach Lithauen vor und besetzten einerseits Wilno, andererseits Lemberg. Der schwedische König Karl Gustav nahm diese Gelegenheit auch wahr und drang mit seinen Veteranen des Dreißigjährigen Krieges, einer Armee, die der Schrecken Europas war, über Preußen nach Großpolen ein. Bald wurde auch der gewandte und tätige Fürst Georg II. Rákóczi von Siebenbürgen45 in die Gemeinschaft gezogen; er kam mit zwanzigtausend Mann, überfiel Kleinpolen und bemächtigte sich im Verein mit den Schweden der Stadt Krakau. Der noch nicht eingenommene Rest von Lithauen, die Quartheere und der Adel Großpolens ergaben sich freiwillig dem Schweden und erkannten ihn als Herrn. Jan Kazimierz, von allen verlassen, entwich nach Schlesien. Polen war schon dazumal aus dem Buch der Weltgeschichte gestrichen. Während dieser Vorfälle rückte eine schwedische Truppenabteilung aus Tschenstochau (Częstochowa) los, um dort die vielen seit Jahrhunderten gehäuften Schätze im Kloster auf Jasna Góra (Heller Berg) auszubeuten. Man hoffte mit leichter Mühe die kleine Festung zu nehmen, und erwartete nicht im Geringsten, daß an diesem Felsen, auf welchem eine schwach beschützte Kirche stand, das Kriegsglück der Schweden zerschellen sollte. Aber in klösterlicher Zurückgezogenheit befand sich dort ein Mann, der einzige vielleicht zu 44

Ukr. Берестечко. Kleinstadt am Fluß Styr, wo die Schlacht vom 28. Juni bis zum 10. Juli 1651 stattfand. Unter der Führung von Stefan Czarniecki (1599–1665) wurde das Heer von Bohdan Chmel’nyc’kyj (1595–1657). vernichtend geschlagen. Bei Wrotnowski, op. cit., S. 35 fehlt der Satz über die Schlacht bei Żółte Wody (ukr. Жовті Води) vom 29. April bis zum 16 Mai 1648 und über die Schlacht bei Korsun am 26. Mai 1648 in der die polnisch-litauischen Truppen von den Saporoger Kosaken unter Bohdan Chmel’nyc’kyj und den Krimtataren geschlagen wurden. Vgl. Witold Biernacki: Żółte Wody-Korsuń 1648. Warszawa 2004. 45 Fürst Georg II. Rákóczi (1621–1660).

638

Teil II

jener Zeit, welcher über die menschlichen Ratschläge, über die politischen und militärischen Berechnungen sich hinwegzuheben wußte und nur seiner Pflicht treu blieb, treu der Sache des Vaterlandes. Dies war ein wahrhaft großer polnischer Geist; auf ihn einstürmend, weckte der Feind einen gar mächtigen Klang aus seiner Seele, er weckte einen Ton, der die unerforschte Größe des polnischen Volkes ausmacht. Der Kampf unter den Mauern von Tschenstochau war so großartig, daß ihn ganz Polen hören, ihn sehen, darnach das Ideal der volkstümlichen Abwehr ermessen und jeder einzelne Pole das Maß seiner Selbstkraft finden konnte. Hierdurch wurden sämtliche Gemüter auf einmal geweckt, stimmten in einem einzigen Gefühl zusammen, und die Polen wurden unbesiegbar. Jener Mann, der die große Rolle spielte, hieß Augustyn Kordecki und war Prior im Kloster der Pauliner auf Jasna Góra. Er selbst hinterließ die Beschreibung der Belagerung, in schlichtem Ton verfaßt, ganz würdig der Feder des Helden: Es gibt in Kleinpolen in der Diözese von Krakau eine unbedeutende Berghöhe, von alters her Jasna Góra (Clarus Mons) genannt. Der Wanderer erblickt sie schon von weitem, denn rund herum sind weite Ebenen, aus welchen unmerklich sich die Anhöhe auf felsiger Unterlage erhebt. Jasna Góra ist durch das Wunderbild der Allerheiligsten Jungfrau in allen slavischen Ländern berühmt, das sich in der Kirche des Paulinerklosters befindet. Man sagt, dieses Bild sei vom Heiligen Lukas auf einem Blatt von Cypressenholz, einst im Hause zu Nazareth gefunden, gemalt.46

So beginnt die Erzählung in einem bescheidenen Ton und geht gleich über zu folgenden Begebenheiten. 46

Im Original lautet die Stelle: „Est in Polonia Minore, Diœcesis Cracoviensis, Mons Czestochoviensis, quem Maiores Clarum dixerunt, quòd iucundum usquequàque molli declivitate Viatoribus aspectum exhibeat, levi fastigio in verticem, à solidârupe assurgens. Eius denominationis celebritatem, auxerunt insignia miracula, quibus ibi corruscat Imago Deiparæ Virginis, à Sancto Luca depicta, in Mensa Cupreßina, ad quam IESVS Filius Dei Matri suæ dulcißimæ & Sancto Iosepho Nutritio, in Domo Nazarenâ convesci solebat.“ In: Nova Gigantomachia, Contra Sacram Imaginem Deiparæ Virginis à Sancto Luca depictam, Et In Monte Claro Cze̜stochouiensi Apud Religiosos Patres Ordinis  S.  Pauli  Primi Eremitæ, in celeberrimo Regni Poloniæ Cœnobio collocatam, Per Suecos [et] alios Hæreticos excitata, et ad perpetuam beneficiorum Gloriosæ Deiparæ Virginis recordationem, successuræ posteritati fideliter conscripta a R. P. Fr. Augustino Kordecki prædicti Ordinis, protunc Clari Montis Priore. Cracoviæ 1655 – Ad lectorem (unpaginiert) nach der Titelseite; [SUB Göttingen. Signatur:  4  HE SANCT  88/57]; im Internet unter [http:// reader.digitale-sammlungen.de]. Polnische Übersetzung: Augustyn Kordecki: Pamiętnik oblężenia Częstochowy. Krzeszowice 2004 [11858, Warszawa]; vgl. Adam Kersten: Pierwszy opis obrony Jasnej Góry w 1655 roku. Studia nad nad „Nową Gigantomachią“ Ks. Augustyna Kordeckiego. Warszawa 1959.

4. Vorlesung (4. Januar 1842)

639

Die erste gegen Tschenstochau abgeschickte Truppenabteilung bestand meist aus Polen, die sich dem Schweden angeschlossen hatten. Ihr Anführer, der Graf Johann Weihard Wrzesowicz, war früher der Wohltäter des Klosters, jetzt ein dienstfertiger Parteigänger Karl Gustavs. Er wollte die Mönche bereden, freiwillig die Oberhoheit seines Herrn anzuerkennen, und dem vom schwedischen General bestimmten Kommandanten die Festung zu überliefern. Die Priester jedoch erwiderten nach kurzer Beratung, daß sie Gott fürchten und die Feinde sie daher nicht ängstigen, und sie seien bereit, in der Verteidigung der Religion und des Königs zu sterben. Weihard war Katholik und Pole; diese Antwort trug für ihn die Bitterkeit des Gewissenvorwurfs in sich; er faßte daher unversöhnlichen Haß gegen die tugendhaften Mönche und beschloß, den Ort dem Boden gleich zu machen, die Höhle, wie er sich ausdrückte, samt ihrer Löwenbrut mit Stumpf und Stiel auszurotten. Nach einigen vergeblichen Versuchen zog er sich doch nach Krzepice zurück, da er sah, daß er nichts ausrichten konnte, und rief den General Burchard von der Lühnen Müller zu Hilfe. Nicht lange darauf zog auch Müller mit achttausend Mann und zwanzig Feldstücken herbei. Die Besatzung vom Jasna Góra bestand aus 160 Soldaten, 68 Mönchen und 50 Edelleuten, die sich hierher mit ihren Familien und ihrer Dienerschaft geflüchtet hatten, im Ganzen kaum 400 Mann waffenfähiges Volk. An Vorräten fehlte es übrigens nicht; denn in Polen verstanden nur die Geistlichen etwas in guter Ordnung zu erhalten, und die einzige gut versehene Festung war gerade in den Händen der Pauliner. Müller schickte zuerst Unterhändler an die Mönche mit der Drohung, falls sie sich nicht ergäben, wolle er den erstürmten Ort mit Feuer und Schwert vernichten; und diese Drohungen waren nicht eitel, denn nach damaligem Kriegsrecht vollzog man dieses sogar an erstürmten Städten. Die Schweden waren dazumal grausam in ihrer Kriegsführung und besonders grollten sie der katholischen Geistlichkeit. Die vom belagernden General Abgeschickten waren gewöhnlich Polen; diese im guten Glauben, daß der Widerstand einer so geringen Besatzung das nutzloseste Opfer sei, bestrebten sich, die Belagerten zu überzeugen, daß sie auf nichts mehr hoffen könnten und daher der Notwendigkeit sich fügen müßten; sie sprachen zu ihnen im Namen der Vernunft. Einer von ihnen sprach, wie folgt, zu dem im Refectorium versammelten Rat. O mein Gott, in welchen Zeiten leben wir doch, würdige Väter! Von Feinden verfolgt, sind wir vom eigenen König verlassen. Unser Kasimir ist schmachvoll geflohen; die ganze Republik hat sich dem schwedischen König ergeben. Zum Glück genießt er noch seinen Sieg mäßig. Und warum wollt ihr, seinen Zorn reizend, ihm selbst Opfer bringen? Dies auch gerade im Augenblick, wo die Vorsehung euch selbst ein Rettungsmittel bietet, wo man wie mit seines Gleichen mit euch unterhandeln will. Wißt ihr doch, wie gering eure Kräfte sind im Vergleich

640

Teil II zu den schwedischen, doch ihr wißt’s vielleicht noch nicht; so will ich’s euch sagen, daß unsere Heere zur Fahne des Durchlauchtigsten Karl Gustav schon übergegangen sind, daß die großen Herren und Bischöfe jeden Widerstand für unmöglich erkannt haben. Ergebt euch daher in das, was Gottes barmherzige Schickung euch bereitet. Glaubt doch nicht etwa, aus eurem Klosterwinkel besser die Sachen zu übersehen, als die geistlichen und weltlichen Herren, und wollet nicht gegen die Beschlüsse des Senats und der Ritterschaft verfügen. Wundersam wäre es zu glauben, daß ihr allein, während alles untergeht, auf diesem Felsen unerschüttert bleiben werdet.47

Der Rat der Mönche, fährt Kordecki fort, vernahm diese Worte mit finsteren und grimmigen Blicken. Man antwortete gar nichts und verlegte den Bescheid auf morgen. Müller wurde der Beratungen überdrüssig und ließ Sturm laufen. Hier beginnen die Beschreibungen der fortwährend erneuerten Anfälle. Für Kordecki als Mönch war das Krachen der platzenden Bomben und Granaten etwas Neues, er beschreibt die Kämpfe mit einer seltenen Einfalt und trifft glücklich den Ton, welchen die historischen Romantiker mit Hilfe der Kunst nur zuweilen finden. Man machte einen glücklichen Ausfall unter Anführung von Stefan Czarniecki; die Schweden wurden bis an ihr Lager zurückgedrängt, mehrere Offiziere getötet und einige Kanonen vernagelt. Indessen führt Müller eine Abteilung Belagerungsgeschütz von Krakau herbei; die Hoffnungen der Belagerten schwinden von allen Seiten, die Besatzung verliert an Mut, die Soldaten rufen laut um Kapitulation, eine Meuterei steht bevor. Der Prior versammelt wieder den Kriegsrat der Mönche, arretiert den Anführer der Miliz, jagt mehrere Kanoniere davon und ergreift alle möglichen Mittel. Zur Seite jeder Kriegsabteilung stellt er einen geübten Geistlichen, der die Soldaten während des Kampfes ermutigt, läßt von Neuem Treue schwören und auf diese Weise vollkommen gefaßt, hält er einen der fürchterlichsten 47

Im Original: „In quæ prôh dolor, afflicta Patria devenit tempora! Quando Procerum Nobiliumque, exclusa suffragiorum libertate, ipsi necessitati Regem Suecorum nobis imponenti obtemperandum est. Abest IOANNES CASIMIRUS Rex Noster, verè an falsò (sit posteritatis iudicium) spreti Regni & deserti, ab universa Nobilitate insimulatus. Cessit tota Polonia potentiæ Regis Suecorum, Vestra sola Religiosi Patres, vel audacia, vel temeritas, ipsius furori paratur: non alium Vestrorum consiliorum fructum relaturi, quám excidium seræ posteritati memorandum. Mora diuturnior resistendi, vehementiorem acuit ultoris vindictam; præstat rebus integris cum hoste componere, quàm serò perniciosi erroris pœnitere, & extremam cladem Loco Sacro, ac Personis accersere. Considerate, quomodo robur militiæ Polonæ Quartionorum legiones, nihil reluctantibus suis Ducibus, falsces & arma Sueticæ potestati submiserunt. Omnes Principes, tam Ecclesiastici, quám Sæculares, extortis impetu consiliorum vehementi remis, vela Divinæ permiserunt voluntati; nihil ausi contra torrentem niti. Ecquæ Vestra est spes, vel dicam liberè, quæ obstinatio?“ – A. Kordecki: Nova Gigantomachia, op. cit., S. 32.

4. Vorlesung (4. Januar 1842)

641

Stürme aus. In der Mitte desselben, als über fünfhundert Kanonenwürfe auf den Klosterhof allein fielen, während die einen auf den Wällen kämpfen, die anderen das um sich greifende Feuer auf den Dächern löschen und ein Teil der Geistlichen in der Kirche mit der zum Kampf unfähigen Einwohnerschaft betet, erschallt auf einmal Musik von oben, und angestimmt wird das Lied „Bogurodzica“ (Gottesmutter).48 Es war das Kirchenorchester, das aus eignem Antrieb die Galerie des höchsten Turmes erstiegen und das heilige Lied angestimmt hatte. Die sanfte Harmonie, die sich bei dem furchtbaren Kanonendonner wunderbar ausnahm, flößte den Herzen Mut und Zuversicht ein und gewährte noch den Nutzen, daß die abscheulichen Gotteslästerungen der Schweden nicht zu den Ohren der Frauen und Kinder gelangten. Es wurde nun beschlossen, daß jedesmal während des stärksten Feuers die Musik dort spielen solle. Doch das Vorrücken des Sturmgeschützes brachte auch die Gemüter des Adels ins Wanken; mit Ausnahme von Zweien warfen schon alle dem Prior vor, daß er mit dem Feind unterhandle, und dies ganz besonders, als am Geburtsfest der Allerheiligsten Jungfrau die Schweden wir mit Absicht die Feier des Tages zu stören, den mächtigsten Angriff versuchten. Aber der Prior vermochte noch die Furcht zu unterdrücken, er verbot sogar, früher zu den Waffen zu greifen, als nach verrichtetem Gottesdienst; obschon während der Prozession um die Kirche Kugeln und Mauerstücke zu den Füßen der Gläubigen stürzten. General Müller fruchtete der Angriff dieses Tages nichts, im Gegenteil, er verlor seinen Anführer der Artillerie.49 Der Brandenburger Kurfürst [Friedrich Wilhelm], der einst mit dem polnischen König einen Nichtangriffspakt abgeschlossen hatte, begann bereits eine Politik zu praktizieren, die dem Haus Brandenburg viele Vorteile bringen sollte. Er trennte sich vom König Jan Kazimierz, verbündete sich mit den Schweden und sicherte sich einige Ländereien in Großpolen. Der Prior stand vor der letzten Bewährungsprobe. Die Mönche selbst, vor allem die jungen, denen es an Glauben und Ausdauer fehlte, erachteten die Verteidigung als 48

49

[Das Schlachtlied der Polen zur Ehre der Allerheiligsten Jungfrau und Mutter Gottes, welches jedesmal vor Beginn des Kampfes abgesungen wird. Anmerkung des Übersetzers.] – Die Stelle lautet im Original: „Dum verò utrinque suis naviter intenti officijs fuerunt animi, è sublimi turris odeo, ab aulædis, choraulibus, tibicinibusque, in tubis ductilibus, pio Hymnorum sono, in laudem Gloriosæ Virginis Matris ordinatorum, recreantur obsessi: hostes è contra Musica suos eludi conatus, & tam terribiles assultus contemni, furiosâ indignatione ringuntur. Tantùm accreuit fiduciæ Claromontanis cantu sacro, ut deinceps in consuetudinem ijs venerit, harmonia simili, & calamitatem obsidionis solari, & furorem barbarum ferocientis exercitus ab auribus sexus timidi amoliri.“ (A. Kordecki: Nova Gogantomachia, op. cit., S. 28)]. Genaue Beschreibung vgl. A. Kordecki: Nova Gigantomachie, op. cit., S. 57–58.

642

Teil II

vergebliche Mühe. Nachhaltigen Eindruck hinterließen auf sie die Worte eines polnischen Adligen aus dem schwedischen Lager, der als Parlamentarier kam, um die Besatzung zum letzten Mal zur Aufgabe der Festung zu bewegen. Als Stefan Zamojski, der seine ganze Familie in der Festung hatte, jedoch stets unerschüttert blieb, einstens einem von diesen etwas derb erwiderte, sprach der Sendling folgende Worte: Mein Herr Schwertträger halten wir hier etwa einen Landtag ab, daß Sie so viele Argumente hervorkramen? Hier wird mit etwas anderem geschossen, als mit Worten und Witzen, an denen es Ihnen freilich nicht fehlt. Jedoch bitte ich, einmal Vernunft anzunehmen, glauben Sie denn etwa, mit diesen Witzeleien die Kugeln der Schweden abzuhalten? Zu wem sprechen Sie, mein Herr? Wir sind auch Polen und so gute Patrioten wie andere. Auch uns liegt nichts Anderes als die Republik am Herzen; wir bemühen uns nur darum, daß wenigstens ihre Überreste erhalten bleiben, und darum begeben wir uns unter die mächtige Obhut Seiner Majestät des Königs Karl Gustav. Laß daher ab, Herr Zamojski, die würdigen Väter durch deinen Rat zu verleiten. Du feuerst sie zum Kampf an: hast du denn etwa Vermögen genug, um dem Adel und der Geistlichkeit ihren Schaden zu bezahlen, um ihre Schlösser und Dörfer und Städte wieder aufzubauen, die man den Flammen preisgeben oder einziehen wird? Besitzest du in deinen Adern Blut genug, um dasjenige zu erkaufen, das unter dem schwedischen Schwerte fließen wird? Eilet, euch vor dem Untergange zu retten, würdige Väter, so lange es an der Zeit ist, denn ich sage euch, es wird hier kein Stein auf dem anderen bleiben.50

Zuletzt beeilte sich der Adel, seine Frauen und Kinder aus der Festung zu holen, um sie nicht der Gefahr eines Sturmangriffs auf das Kloster auszusetzen. 50

In Original lautet die Stelle: „Nunquid, Generose Domine Zamoyski, Comitia hic Polona tractantur, ut ingenio ludens, per elaboratas verborum ambages compositis rationibus, conatus & mandatum Serenissimi Regis Suecorum euertere contendas! Sumus & Nos, quibus est gratissima Patriæ salus, & æquè, ut alijs bonis Civibus interest, eius intergritati studere: Iam iam labanti, ne penitus cadat piè consulendo, sic prudenter succurrendum duximus, scilicet in partes Serenissimi Regis Suecorum, Domini & Protectoris Clementissimi, declinando. Desine, Generose Domine, in perniciem Loci Sacra prava moliri consilia, & Patres Tuis haud tutò persuasionibus innitentes, imminentibus vitæ ipsorum exponere periculis. Poterisnè G. D. de Tua substantia damna refundere, quæ à numeroso exercitu Suetico, & Conventui, & Nobilitati, ad aliquot milliaria circa Monasterium consistenti gravia, Vestrâ culpâ inferuntur, & eò graviora, quò diutiùs resistetis, inferentur? Poterisné Tuis viribus hostilem retrudere impetum, & Tua conscientia tot Religiosorum eluere sanguinem, qui fundetur, dum furor exacerbati militis Vestram superabit temeritatem? Meliora tandem consilia capessite Patres, antequam Vos furor hostilis extremo involuat discrimine, atque citra omnem placationis spem in Vestri Monasterij busto consepeliat.“ – A. Kordecki: Nova Gogantomachia, op. cit., S. 50.

4. Vorlesung (4. Januar 1842)

643

Eine schwere Verantwortung lastete auf dem Haupt des armen Mönches, der gezwungen war, die Besatzung im Zaum zu halten, dem Adel geistigen Trost zu spenden und obendrein die Tränen und Schreie derjenigen zu ertragen, die in der Festung nach ihren Familien suchten. Er beugte sich dennoch nicht. Voraussehend, daß wenn er irgend jemand gehen ließ, die Zurückgebliebenen die Zuversicht verlieren würden, befahl er, keinen einzigen herauszulassen, und sagte, er selbst bürge für die Sicherheit aller, und er habe Mittel zu ihrer Rettung. Der Kampf währte fort und jeder Tag erforderte unerhörte Anstrengungen, bis endlich die Nachricht von den Siegen Stefan Czarnieckis und von des Königs Rückkehr nach Polen ankam; bald darauf zog sich Müller von Tschenstochau zurück und erlitt schwere Verluste. In der letzten Versammlung des Klosterrates, die am heftigsten geführt wurde, legte der Prior die Gründe der Ausdauer den erkaltenden Brüdern, wie folgt, auseinander: Wenn wir in Folge der Kapitulation das Kloster verlassen, wer hält alsdann die Gottlosen zurück? Leicht ist das Schicksal dieser heiligen Mauern vorauszusehen, man wird sie zertrümmern, und dies gerade befiehlt uns, keinen Schritt zu weichen. Ich würde euch an euer Gelübde erinnern, an die Pflicht, im Notfall für die Verteidigung des Glaubens zu sterben! Was jedoch noch vor allem zu bedenken und zu beherzigen Not tut, ist, daß die Sache der Kirche und Polens, die Sache unsers geliebten Vaterlandes, jetzt auf uns beruht, auf uns allein nur. Wenn der Allmächtige Polen zu erretten beschlossen hat, was zu bezweifeln unwürdig wäre, so ist es dieser Felsen, wo der Quell des neuen Lebens für Polen hervorquellen wird; denn auf dem ganzen Gebiete der überschwemmten und geplünderten Republik gibt es keinen unbefleckten und freien Ort mehr außer diesem Felsen, wo die allerreinste Jungfrau ihren Thron errichtet hat und folglich auch die Hauptstätte des Ruhmes sein wird. Dieselbe unsichtbare Kraft, die die Leiden vieler Menschen hier geheilt, wird sich wie ein Born der Genesung und neuen Lebens über das ganze Volk ergießen, wird Länder und Städte, die sichtbaren Glieder der Republik, erquicken, auf daß die Welt sehe, und ich sage euch, es wird dies offenkundig werden, daß Polen keine andere Macht erhebt, als die Gnade der Königin, die hier mitten unter uns wohnt.51 51

Im Original lautet die paraphrasierte Stelle: „Quocunque nomine tandem venerimus (inquiebant) in potestatem Suecorum, sive per deditionem, sive violentiam, eadem nos in utroque casu discrimina manent; præterquam, si hostis iugo voluntatem submiserimus, fortasse ab ineritu vitam servare poterimus; nihilominùs (cui enim hostis hic fide stetit) omnibus bonis spoliati, aut Monasterio eijciemur invuiti, aut ipsimet plurimus opressi malis ultrò cedemus, si quidem arcem hic everso Monasterio Rex Suecorum constituere molitur. Proinde dilapsis nobis (quis enim habitare poterit cum igne devorante) excidium Monasterij, & extirpatio cultus Divini, dedicationem hanc faciliùs sequeretur, ut & alibi factum conspicimus. Que autem necessitas est serviendi hostis voluntati, & ei nos nostraque subijciendi, cum annone & defensionis apparatus, Dei gratiâ sufficiat? quod

644

Teil II

Aus dem Gesagten können wir entnehmen, welches der moralische Gedanke war, der dieser berühmten Verteidigung voranging: Keine Rücksicht auf die Umstände und Meinungen der Menschen haben und nur seine Pflichten treu erfüllen. Das war der ganze Grundsatz des Heldenmönchs. Nicht leicht kann Polen in seiner Geschichte einen tätigen Genius von gleicher Kraft aufweisen, wie dieser Mann ihn passiv besaß. Schon erhob er sich zu der Höhe, wo ihm die Zukunft klar war; seine Tapferkeit war nicht die eines Soldaten, der den Tod auf seinem Posten mutig abwartet oder sich ihm mit Verzweiflung in die Arme wirft. Im Gegenteil, er war immer ruhig, demütig sogar; sein Mut hatte nichts Menschliches mehr an sich, denn als ihn die Jugend und das Militär im Stich ließen, als er nur noch auf einige Greise rechnen konnte, setzte er all sein Vertrauen auf das sittliche Pflichtgefühl des Menschen und blieb unerschüttert. Es scheint, als ob die Vorsehung alle Mittel erschöpft habe, um seine Kraft zu erproben. Der vertraulichen Vorstellungen der Landsleute, den Drohungen der Schweden, der Empörung der Soldaten, dem gesunkenen Mut des Adels, der Bedenklichkeit der Mönche, allem widerstand er, blieb allein fest und wußte zu helfen. In diesem Drama kamen viele verschiedenartige Charaktere zum Handeln. Der General Müller, gleichgültig in Sachen der Religion, erbittert gegen die Geistlichen, lacht über Wunder, fürchtet aber Gespenster und die Mönche, die utrumque secundum rationem suadet, ut contra insultus hostiles tueamur nos, eo præsertim attento, tertio postea, decimo vel die trigesimo, nos ei posse obtemperare, ijsdem vel melioribus conditionibus, interim auxilium miserante Deo aliquod, cui non diffidamus expectantes; iam si potestati eius semel subiecti fuerimus, corrigendi errorem quam deinceps habebimus facultatem. Silemus pulcherrimam standi pro Deo necessitatem, & si res postulaverit, vitam & sanguinem fortiter profundendi: ita, ut quamvis constaret hostem viribus nostris superiorem evasurum, verùmtamen quamdiu occasio daretur, & spiritus superesset in corpore, semper gloriosum foret & salubre, animosè pro honore Dei decertare, & totius Patriæ charissimæ, salutem propugnandam nos suscepisse, dum pro immunitate Clari Montis decertantes, eò maioræ gloriâ & merito, quo graviori discrimine impios Hereticorum conatus retundere studemus. Enimuerò, si Supremus rerum Arbiter decrevit Patriam Nostram pristinæ integritati restituere, quod minimè dubitandum, omnis ipsius vigor salutis, à Monte Claro emanaverit necesse: hic enim convulsis reliquis Patriæ membris, illæsus solus persistit, ubi Gloriosissima cœli Domina, quæ sibi aliquando gratum & decorum duxit à Regno Poloniæ dici Reginam, sedem fixit Regiam, Caput Regni sui constituens, ut unde gratiarum Dei fons scaturiens irrigat mentes hominum interiùs, medendo earum infirmitatibus, inde & in totum Patriæ corpus externum, virtus sanitatis redundet: & quam alibi arcano Dei iudicio retraxit, hinc erigendæ Patriæ propugnatricem extendat manum; quatenus appareat, Regnum Poloniæ solius Reginæ suæ benegnitate, potentiâ, & protectione suo antiquo robori restituendum.“ – A.  Kordecki: Nova Gigantomachia, op. cit., S. 79–81.

4. Vorlesung (4. Januar 1842)

645

er für Schwarzkünstler hält. Zu seiner Seite stellt Graf Weihard ein Bild jener leichtfertigen Polen dar, die die Partei des schwedischen Königs ergriffen und die auf den Berg von Tschenstochau wie auf einen Vorwurf hinblickten, ihnen von den treuen Söhnen des Vaterlandes vorgehalten. Dann gab es auch solche unter ihnen, die das Kloster gern retten, aber zugleich nicht die Gunst des Schweden verlieren mochten. Unterdessen laufen aus dem Haufen Kosaken und Landleute insgeheim hinüber, in der Kirche zu beten, gegen die sie eben ihre Waffen erhoben hatten. Der Prior Kordecki hatte weder Vorurteile, noch war er ein Geisterseher. Zwar erwähnt er einige wundervolle Erscheinungen, dringt jedoch dem Leser den Glauben daran nicht auf: er erzählt geradehin die Vorfälle und führt die Zeugnisse auf. Unter anderem finden wir ein Beispiel, welches die wundervolle Herzenseinfalt und den tiefen Glauben im damaligen Polen darstellt. Als einige Morgen hindurch dichte Nebel den Schweden den Zutritt zu den Mauern erleichterten und die Mönche dagegen nichts ersinnen konnten, gaben sie einem der heiligen Väter auf, durch Gebet die Wolken zu vertreiben. Dieses Mittel wirkte, und alle nahmen es für so natürlich, daß wir in den Einzelheiten bei Verteilung der Arbeiten durch den Prior lesen, dieser sei bestimmt gewesen, die Abteilung anzuführen, jener, einer anderen Tätigkeit vorzustehen, und wieder ein anderer, den Nebel zu vertreiben. Hieraus kann man abnehmen, welchen Einfluß der Protestantismus in Polen gewinnen konnte. In England ließ er sich an die Feudalformen knüpfen, in Frankreich würden, sollte man auch den Katholizismus gänzlich aufheben, unter der obersten Schicht des sozialen Lebens dennoch Überreste der römischen Municipalität verbleiben, in Deutschland könnten die uralten Einrichtungen, wie sie bis jetzt durchgedauert haben, auch noch ferner ohne ein anderes allgemeines Band fortbestehen; nur in Polen allein, mußte ein Schlag gegen die katholische Religion die Republik auf einmal umstoßen, denn hier ruhten alle Kriegs- und Zivilgebräuche auf dem festen Glauben an das unmittelbare Walten der unsichtbaren in der sichtbaren Welt, auf der steten Offenbarung jenes Verbandes, die wir mit dem Namen Wunder bezeichnen. Aus diesem Glauben ersprießt die ganze sittliche und politische Stärke des polnischen Organismus, auf ihn mußte man sich daher auch jedesmal berufen, so oft es sich darum handelte, eine aktive oder auch nur passive Kraft im Volke zu wecken.

5. Vorlesung. (7. Januar 1842) Das in Kordecki personifizierte Ideal – Russische Gegenwartsgeschichte – „Mestničestvo“ – Die geheime Kanzlei – Polens Konstitution – Das Veto – Die sozialen Theorien verschiedener philosophischer Schulen.

[Die Vorsehung rettete noch Polen unter den Füßen seiner Feinde. Ohne eine Armee, ohne Anführer, ohne eine militärische Organisation und ohne Geld verdrängte das Volk die Schweden, besiegte die Moskoviter, zerschlug die Siebenbürger und hatte noch genug Kraft, den Feind bis in sein Land zu verfolgen. Zum ersten Mal seit Lechs Zeiten überquerten die Polen unter der Führung von Stefan Czarniecki52 das Meer, um die Skandinavier anzugreifen.] Die Voraussage des Kordecki ging in Erfüllung. Der König fand nach seiner Rückkehr ins Reich den ersten Ruhepunkt in dem Kloster von Tschenstochau; hier versammelte sich zum ersten Male wieder der zerstreute Senat, von hier aus erging der erste Aufruf an das Volk, der es unter die Fahne der wiedergewonnenen eignen Herrschaft versammelte. Kordecki war einer von den Männern, wie sie die Vorsehung von Zeit zu Zeit herabsendet, auf daß sich die Nachkommen an ihnen heranbilden. Nie zeigte sich der polnische Gedanke so ausgesprochen, als in diesem Mann. Die späteren Helden besitzen kaum einige Züge des Charakters, der in ihm vollständig leuchtet. Die Gemütlichkeit des Jan Kazimierz, der feste Glaube des Jan Sobieski, die Einfalt des Tadeusz Kościuszko, erinnern uns immer von verschiedenen Seiten her an dieses eine moralische Wesen, diesen Mönch, welcher Herzenseinsalt, ein heiliges Feuer und Demut in sich zugleich vereinigend, das vollkommenste Muster der slavisch-polnischen Tugend gegeben hat. Unter den Verfassern von Denkschriften spricht er allein nicht von sich, selbst wo er Taten erzählt, deren hauptsächlichster Urheber er gewesen. Nur einmal führt er seine Anrede auf, dies aber nicht im Geringsten, um mit seinem Rednertalent zu glänzen; denn er verkündigt daselbst in einem so demütigen und liebreichen Ton den Willen der Versammlung, wie er es gewöhnlich zu tun pflegte, wenn er derselben seinen Rat und Aufmunterung zum Guten erteilte. Nirgends sucht er auch mit seiner Überlegenheit zu prahlen: er verschweigt im Gegenteil die Namen der Furchtsamen, und obgleich er während des ganzen Kampfes nicht ein einziges Mal gewankt, so erkennt er doch anderen den Ruhm zu und will nur an ihren Gebrechen und Fehlern Anteil haben: 52

Stefan Czarniecki (1599–1665), Feldhetmann der polnischen Krone, eroberte im Kampf gegen die Schweden am 14. Dezember 1568 die Insel Als in Dänemark.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_047

5. Vorlesung. (7. Januar 1842)

647

Oftmals verloren wir die Besinnung und ließen uns von der Furcht betören; sobald wir jedoch uns im Rat versammelten, wurden aller Herzen wieder von Mut erfüllt.53

Die Zeitgenossen vergaßen diesen ehrwürdigen Mann. Die Geschichtsschreiber des 18. Jahrhunderts, Bekenner und Anbeter der englischen und französischen Doktrinen, waren nicht mehr im Stande, dergleichen Ereignisse zu verstehen und Männer wie Kordecki zu würdigen: sie hätten sich vielleicht auch geschämt, irgend welchen Pfaffen zu rühmen; sie erwähnen ihn daher kaum, obgleich er eines Denkmals schon als politischer Mann würdig ist und in der Literatur auch einen hohen Rang einnimmt, weil er ein Buch geschrieben, das mit vollem Recht den Namen einer Moralepopöe verdient. Während Polen teils angreifend, teils abwehrend die Schweden bekämpfte, bedrohte die russische Macht nicht nur seine Grenzen, sondern auch die inneren Einrichtungen. Zu Anfang des 17. Jahrhunderts wurde das Haus Romanov auf den Thron erhoben. Diese Familie, wenngleich aus Deutschland stammend, war mit den Rjuriks sowie mit vielen andern Bojarenfamilien verwandt, denn die regierenden Fürsten ehelichten oft Töchter ihrer Untertanen, zuweilen sogar mehrere auf einmal, wie z.B. Ivan der Schreckliche, der zehn Frauen hatte. Der erste Zar aus dieser Familie war der Sohn eines Bojaren, welcher gezwungen die Mönchstonsur erhielt und bei seinem Vater im Kloster wohnte. Warum war die Wahl auf diesen Jüngling gefallen, der doch in Ansehen und Geburt so vielen anderen nachstand? Wie wurde er gewählt? Welche Form hatte diese Wahl? Dies sind Fragen, welche fremde Geschichtsschreiber beschäftigen und verwirren. Die Engländer und Franzosen konnten sich nie darüber Rechenschaft geben, weil sie immer nach irrigen Vorstellungen urteilten, welche fast allen westlichen Schriftstellern gemein sind. Sie glauben, daß es in allen Ländern einen gewissen politischen Mechanismus gebe, der, einmal durch Urkunden vorgeschrieben, in gleichmäßiger Ordnung seine nationalen Verrichtungen macht, Verrichtungen, die sich demnach im Voraus als bloße formale Akte berechnen und auf Resultate zurückführen lassen. Man untersuchte also, welche Kammern in Rußland mit der Wahl des Herrschers beauftragt waren, alsdann, welche Behörden ihn verkündeten, ferner, auf welche Weise man 53

Im Original lautet der Absatz: „Nam quantumuis aliquoties titubarent aliqui animo, re tamen sacrâ peractâ, ubi ad conclave arcanorum consiliorum esset peruentium, omnes unanimi consensu, viritim rogati sententiam, morti se potius atrocissimae offerebant ab hostibus Deiparae Virginis, & Ecclesiae sustinendae, quàm ut Locum Intemeratae Matris honori Sacrum, blasphemorum pedibus hostium, calcari permitterent.“ – A.  Kordecki: Nova Gigantomachia, op. cit., S. 100–101.

648

Teil II

die Nation zum Gehorsam aufforderte. Inzwischen verfolgten die Dinge dort einen ganz anderen Gang, und es ist unmöglich, auf diesem Wege die Fragen zu lösen. So viel ist gewiß, daß das russische Volk sich oft das Recht nahm, den Fürsten zu wählen, und obgleich es keine genauen Vorschriften gab, so wußte man doch recht gut, wie und wer hier handeln sollte. In älteren Zeiten versammelten sich die Beamten, die Geistlichkeit, der Metropolit, auf einem öffentlichen Platz, das Volk zog scharenweise herbei, alles durfte beraten. Die Älteren schlugen Kandidaten vor, die man jedoch meistens aus regierenden Familien nahm, und die allgemeine Stimme des Volkes bestätigte sie. Unter den Mongolen hat sich diese Sitte in ein dynastisches Recht umgewandelt und nur den nationalen Reichsdingen stand die Entscheidung in Fragen der Nachfolge zu. Hierüber entstanden mitunter Empörungen, in der Regel ergab sich aber das Volk dem Willen der Höheren und der Gemeinde von Moskau, ihren Urteilsspruch in Gesetzeskraft annehmend. Sowie man in Polen die Wahl des Königs durch den Adel in Folge einer göttlichen Eingebung geschehen ließ, so glaubten die Russen an eine feste Bestimmung, an eine fatalistische Notwendigkeit, die alle Gemüter demjenigen Kandidaten zulenkte, der bestimmt war, zu herrschen. Michail Fedorovič Romanov54 bestieg also den Thron als ein vom Schicksal dazu Erwählter. Seine Dynastie führte in Rußland nicht nur eine neue Idee ein, die der Umgestaltung des Staats nach europäischer Manier, sondern man kann sagen, sie füllte es zugleich mit fremdartigem Stoff an, mit einer ausländischen Bevölkerung. Von nun an strömten Scharen Deutscher, Engländer und Franzosen ins Reich und in die Residenz. Und nachdem auf diese Weise die Ausländer den Thron umringt hatten, schnitten sie den Bojaren jeden Zugang zu demselben ab; der Zar vertilgte mit Hilfe Fremder den Überrest einheimischer slavischer Militärmacht, bildete gleichsam einen anderen Staat im Staate und knüpfte somit die Masse des Reichs an seine Person. Dieses für die altrussische Volkstümlichkeit verderbliche Element empörte die Eingeborenen, und es entspann sich ein innerer Kampf zwischen der neuen europäischen Idee und den Überresten der angeborenen slavischen Gefühle. Nachdem Ivan der Schreckliche den Bojarenstand unterdrückt hatte, benahm er der Nation jede selbsttätige Kraft; doch glimmte immer noch die Kraft des Widerstandes in ihr, die sich in den Trümmern der alten Gebräuche und hergebrachten Begriffe verborgen hielt. Die Romanovs setzten das Werk Iwans fort, rotteten die Bojaren aus und hoben ihre hauptsächlichsten Privilegien auf.

54

Michail Fedorovič Romanov (1596–1645).

5. Vorlesung. (7. Januar 1842)

649

Eine der ältesten Einrichtungen, die mit dem Adeltum in Rußland eng verbunden ist, war das sogenannte местничество (mestničestvo)55 oder die Abstufung der angeborenen Würden nach den Familienurkunden, welche eine eigens dazu bestimmte Behörde56 in Bücher sorgsam eintrug. Die fremden Schriftsteller haben auch hiervon falsche Begriffe. Darin liegt nichts Gemeinschaftliches mit den feudalistischen Vorurteilen des westlichen Europa. Der französische, deutsche und englische Adel setzte großen Wert in die Altertümlichkeit seines Herkommens und Teilte sich darnach in Klassen. So galt jedweder der alten Barone des Christentums, z.B. ein Montmorency57, in der öffentlichen Meinung immer mehr als ein Minister des Königs oder irgendein ernannter Würdenträger. Hingegen betrachteten sich die Bojaren in Rußland als gleich unter einander, als einen und denselben Stoff, aus welchem die Herrscher Generale und Beamten machten; aber die einmal gegebene Ernennung durch den Monarchen bestimmte nun schon die Reihe der Folgenden, die man genau mit anderen verglich und nach der man die Bedeutsamkeit abwog. Ein Bojar, der gestern zum General ernannt worden, blickte mit Verachtung auf den von heute; ein Sohn des heutigen hatte auf immer den Vorrang vor dem Sohn des von morgen. Dies gab Veranlassung zu sehr verwickeltem Streit, zu Zank und Klagen. So entspann sich z.B. ein Streit zwischen den fürstlichen Familien der Fürsten Požarskij und Lykow; ein hierüber vorhandenes Dokument verschafft uns einen Begriff über dergleichen Vorfälle und gibt uns zu gleicher Zeit ein Muster des damaligen Amtstils. Es ist eine Bittschrift an den Thron: Царю Государю и Великому Князю Борису Федоровичу всеа Русіи бьетъ челомъ холопъ твой Мишька Пожарский: пожаловлъ ты, Государь Царь и Великий Князь Борисъ Федоровичъ всеа Русіи, велѣлъ быти у Государыни Царицы и Великой Княгини Марьи Григорьевны и всеа Русіи, Князь 55 Rangordnung – Platzordnung. Das Mestničestvo „sollte gewährleisten, daß jeder Bojar die ihm im Vergleich zu anderen (also relativ, nicht absolut) zukommende Dienstleistung erhielt und der dienstliche Rangunterschied nicht über ein bestimmtes, zu berechnendes Maß hinausging. Kriterium für solche Rangbestimmungen war einerseits die genealogische Ankunft, andererseits Dienstrang und Dienstdauer der Vorfahren.“ – Karla GüntherHielscher, Victor Glötzner, Helmut Wilhelm Schaller: Real- und Sachwörterbuch zum Altrussischen. Neu bearbeitet von Ekkehard Kraft. Wiesbaden 1995, S. 176. 56 Разрядный приказ (razrjadnyj prikaz): „zentrale Moskauer Verwaltungsbehörde für die Kriegführung, Reichsverteidigung und Dienstverhältnisse der Dienstleute.“ – Karla Günther-Hielscher, Victor Glötzner, Helmut Wilhelm Schaller: Real- und Sachwörterbuch zum Altrussischen, op. cit., S. 272. 57 Französisches Adelsgeschlecht, dessen Mitglieder seit 1327 den Titel „Erste christliche Barone von Frankreich“ führten. Vgl. Daniel Dessert: Les Montmorency, mille ans au service de France. Paris 2015.

650

Teil II Михайлове Княгини Лыкова Княгине Марье, да матери моей Княгине Марье; а по вашей, Государь, Царской милости, а намъ по своему отечеству, матери моей менши Князь Михайловы Княгини Лыкова Княгини Марьи быть не вмѣсно; а мошно, Государь, быть матери моей Княгине Марье быть больши Князь Михайловы Княгини Лыкова Княгини Марьи многими мѣсты. А я холопъ твой, бью челомъ тебѣ Государю Царю и Великому Князю Борису Федоровичу всеа Русіи в отечествѣ на Князь Борисова отца на Князь Михайла Лыкова. Милостивый Государь Царь и Великий Князь Борисъ Федоровичъ всея Русіи, пожалуй меня холопа своего, вели мнѣ дать въ нашемъ отечествѣ свой Царский судъ и счетъ. […].58 Vor dem Herrn Zaren und Großfürsten Boris Fedorovič von ganz Russland fällt auf sein Angesicht dein Unteran Miška Požarskij. Du, Zar und Großfürst Boris Fedorovič von ganz Russland, hast befohlen, daß Marija Fürstin Lykova und meine Mutter, die Fürstin Marija Požarskaja, bei der Zarin und Großfürstin von ganz Russland Marija Grigor’evna in Dienste treten. Eurer Großmut, o Zar, und gemäß der Altersrechte ziemt es nicht, daß der Name der Fürstin Požarskaja, meiner Mutter, dem Namen der Fürstin Marija Lykova nachsteht. Im Gegenteil, meine Mutter Požarskaja steht mehrere Stufen höher als die Fürstin Lykova. Sonach strecke ich mich, dein Untertan, als Kläger des Fürsten Lykov zu deinen Füßen. O gnädiger Zar und Großfürst Boris Fedorovič von ganz Russland, werfe einen Blick auf deinen Sklaven und spricht ein kaiserliches Urteil nach Rechten des Alters.

Der Kläger führt weiter Beweise an, welche dartun, daß im Jahre 1503, während des russischen Feldzugs gegen Livland, einer seiner Vorfahren das Zentrum des Heeres angeführt, während Fürst Lykov nur den linken Flügel befehligte. Von dort herab leitet er sein und des Verklagten Herkommen in einer sehr verwickelten und schwer verständlichen Berechnung und zieht zuletzt folgenden Schluß: И по тѣмъ, Государь, случаемъ мочно мнѣ быть холопу твоему Мишькѣ больши Князь Борисова отца Князя Михайла Лыкова десятью мѣсты.59 Mithin kommt es mir zu, o Zar, daß ich, dein Untertan Miška, zehn Stufen höher als Fürst Borisov, der Vater des Fürsten Michail Lykov, stehe.

Die Zaren wollten häufig dergleichen Streitigkeiten gänzlich ein Ende machen; von Iwan an gerechnet trachteten alle darnach, bis Fedor Alekseevič im Jahre 58

59

Delo stol’nika knjazja Dmitrija Michajloviča Požarskogo s stol’nikom knjazem Borisom Michajlovičem Lykovym o mestiničestve [Nr.  93; 22. 10. 1603]. In: Sbornik Muchanova. Sanktpeterburg 21866, S. 150. Dmitrij Michajlovič Požarskij (1578–1642) stammte aus der Dynastie der Rurikiden. Boris Michajlovič Lykov-Obolenskij (1576–1646). Delo stol’nika knjazja Dmitrija Michajloviča Požarskogo s stol’nikom knjazem Borisom Michajlovičem Lykovym o mestiničestve, op. cit., S. 151.

5. Vorlesung. (7. Januar 1842)

651

1682 es durchsetzte: er verbrannte die Rangbücher (Knigi rozradnyje) und verwandelte somit das mestničestvo auf immer in Asche. Spätere Geschichtsschreiber, die Liberalisten, die von dem Geist des 18. Jahrhunderts durchdrungen waren, rühmen diese Tat, indem sie hier einen Triumph des Gleichheitsprinzips sehen wollen. Es hat dies jedoch nur der Alleinherrschaft genützt. Die Bedeutung, die man der Rangeswürde beilegte, trug noch eine gewisse Art Unabhängigkeit in sich; wenngleich aus der Gnade des Zaren seinen Ursprung herleitend, verlor sie durch die Vererbung den Schein dieser Abhängigkeit, erschien nicht mehr als Werk unmittelbarer Willkür oder augenblicklicher Laune des Monarchen. Nach Aufhebung des mestničestvo ward alles geradezu vom Willen des Herrschers abhängig, Alles ward ein einziges Werk desselben verhängnisvollen Gedankens, der seitdem den Schritt der russischen Regierung lenkt und welchen der Zar Paul I. (Pavel I) in folgenden, von de Maistre und der legitimistischen Schule sehr gepriesenen, Worten ausdrückte: „Nur derjenige in meinem Reich ist groß, zu dem ich spreche, und seine Größe dauert nur so lange, als ich mit ihm rede.“60 Zar Aleksej  I.  Michajlovič machte einen zweiten bedeutsamen Schritt in der Entwicklung des Systems: er setzte eine geheime Kanzlei61 ein; diese Einführung bildet in der slavischen Gesetzgebung eine neue Epoche. Die Slaven haben nie ein geheimes Gerichtsverfahren gekannt; die Gerichte wurden in allen ihren Ländern nicht allein öffentlich abgehalten, sondern der Notar und Wortführer war schon nach altem Brauch verpflichtet, die ganze Verhandlung bis ins Einzelne gleichsam wie auf der Bühne vorzutragen. In Rußland hörte man sogar die Verteidigung des Verklagten und urteilte laut über ihn, nur den Fall etwa ausgenommen, wo der Fürst aus eigner Machtvollkommenheit selbst zum Tod verurteilte. Erst nach Einführung dieser Kanzlei bekam die geheime Prozedur das Übergewicht. Zuerst war sie bestimmt, nur Majestätsverbrechen zu untersuchen und zu strafen, doch bald wußten die Beamten ihre furchtbare Jurisdiktion auf alle möglichen Falle auszudehnen, indem sie leicht in jedem Vergehen eine Verletzung oder Beleidigung der fürstlichen Person witterten, und noch besonders, da der Kläger des Beklagten Leben in Händen hatte und ihn leicht auf die Folterbank setzen konnte, nur mit der einzigen Bedingung, daß auch er vor derselben nicht sicher war. Die Einrichtung der geheimen Kanzlei, oft umgestoßen, wurde immer von Neuem durch verschiedene 60 61

Zitat nicht ermittelt. „Prikaz Velikogo Gosudarja Tajnych Del“ – etwa „Geheimer Gerichtshof“; um etwa1653 eingerichtet von Aleksej  I.; vgl. Il’ja Jakovlevič Gurljand: Prikaz Velikogo Gosudarja Tajnych del. Jaroslavl’ 1902 (Reprint – Moska 2011); ferner – Christoph Schmidt: Sozialkontrolle in Moskau. Justiz, Kriminalität und Leibeigenschaft: 1649–1785. Stuttgart 1996.

652

Teil II

Herrscher hergestellt; sie besteht bis jetzt unter vielen Namen, z.B. die geheime Polizei, die höhere Polizei, die Polizei des Reichs. Dies Spürwesen verdrängte ganz und gar die öffentlichen Gerichte zuerst aus dem Zarentum, dann aus den eroberten Provinzen. Auf diese Weise schwanden die slavischen Gebräuche und Vorstellungen. Rücksichtslos verfolgten die russischen Gebieter ihr Ziel, ganze Klassen von Einwohnern metzelten sie nieder, ganze Städte brannten sie ab und vernichteten das bei sich, was die Ausländer Aristokratie nennen. Sie nahmen sich vor, das einheimische Element zu vertilgen und auf dem Gebiet eines slavischen Volkes ein neues Reich zu gründen. Diese Politik dauert seit Entstehung des moskovitischen Zarentums bis auf den heutigen Tag und ist in unaufhaltsamem Fortschritt. Um dieselbe Zeit, als das Haus Romanov sich im Norden so mächtig erhob und seinen Einfluß über die Nachbarländer auszubreiten bemüht war, rückte für Polen ein verhängnißvoller Zeitpunkt heran, wo seine politische Existenz für lange Zeit aufhören sollte. Während der Regierung von Jan Kazimierz sprach ein Adeliger62 im Sejm jenes schreckliche Wort aus, das seit jeher gefürchtet war, welches die Kraft hatte, die Beratung zu hemmen und die volkstümliche Gewalt in ihrem Gleise aufzuhalten: er sprach das Veto. Das Gesetz, welches einer einzigen Verneinung so große Kraft beilegte, ist keine Erfindung der Polen gewesen; die Spur seines Bestehens läßt sich seit den ältesten Zeiten bei allen slavischen Gemeinden wahrnehmen; da waren Besitz, Nutzung und Verpflichtungen allen gemeinsam, und jeder genoß gleichsam vollkommene Gewalt, durfte gegen die Beschlüsse anderer sein „nie pozwalam“ (ich will nicht) sprechen. Es gab indessen ein Mittel zur Ausgleichung; mit Gewalt und Schlägen vermochte man den sich Widersetzenden zu zwingen, mit in den Gesamtwillen zu stimmen. Das Veto-Recht existierte auch in den Gemeinden der Rus’ und in Tschechien. Nach der Entstehung des polnischen Reiches unterlag die Theorie des Veto unter dem Einflusse ausländischer Begriffe, besonders römischer, vielfältigen Umwandlungen; die volkstümlichen Vorstellungen wurden verdreht, indem man die Bedeutung des Landboten mit der eines Tribuns verwechselte. Was war das polnische Liberum Veto? Wie läßt es sich mit dem festen Bestehen der Gesellschaft vereinen? Nach den Ansichten der Philosophen existiert die Gesellschaft bekanntlich vermöge der allgemeinen Einigkeit ihrer Glieder, für deren Bestehen jegliches Mitglied einen Teil seiner individuellen Rechte aufgibt. Insoweit stimmen die Philosophen überein, doch weiterhin weichen 62

Władysław Wiktoryn Siciński (1615–1672) am 9. März 1652.

5. Vorlesung. (7. Januar 1842)

653

sie von einander ab. Die einen, welche heut zu Tage die Schule der Legitimisten63 bilden, die sehr alt ist, da sie bis in die Seiten des Plato hinaufreicht, meinen, diese Aufgebung von Privatrechten geschehe zum Besten einer Familie, d.h. des königlichen Hauses, das die Gesellschaft vorstellt. Sie behaupten, daß, sobald ihr einmal das Zepter verliehen worden, niemand seinen in ihre Hände gegebenen Willen zurücknehmen, niemand die Regierung ändern könne, bis das Herrscherhaus ausstirbt und auf diese Weise die Vorsehung selbst zur Wahl eines anderen königlichen Hauses alle Mitglieder der Gesellschaft beruft. Die zweite philosophische Schule meint dagegen, die Interessen der Gesellschaft müssen durch ihre Mitglieder selbst vertreten werden, ihre Mehrzahl müsse die Vollmacht, die absolute Gewalt eines unbeschränkten Herrschers haben, die Minderzahl könne sich dann nicht trennen, sie müsse ihr untertan bleiben. Unter keine dieser Theorien lassen sich die polnischen Begriffe bringen. Nach diesen hört der Mensch als Glied der politischen Gesellschaft nie aus, seine vollen Rechte zu genießen, und jederzeit steht es bei ihm, aus der Gesellschaft zu treten: es ist dies die persönliche Freiheit, auf ihrem höchsten Gipfel angelangt. Diese Freiheit kann er bei Beratungen der allgemeinen Sache weihen, doch darf er sie auch jedesmal sich vorbehalten; es ist dies jener Zustand, welcher von dem Bürger eine stete, in jedem Zeitpunkt sich wiederholende Aufopferung fordert, eine solche, wie sie die Religion dem Gewissen des Christen auflegt. Der Pole fügt sich der Gemeinde, nicht weil ihn hier seine Vorfahren in die Liste der Untertanen geschrieben, sondern weil er sie für die gerechteste, beste und schönste anerkennt, der er aus eigenem Willen Treue gelobt; darum gesteht er sich auch das Recht zu, sie nicht nur verlassen, sondern sogar aufhalten zu dürfen, wenn er sieht, daß sie ihr Ziel verfehlt, daß sie mit seinem Willen zur Erreichung des Endzweckes nicht mehr übereinstimmt. Diese Begriffe sind logisch, ja sie sind es sogar mehr als diejenigen, auf welchen die legitimistischen und demokratischen Philosophen ihre Gesellschaft gründen. Und in der Tat, wenn es einerseits unwürdig ist, vom Menschen zu verlangen, sich blindlings einem fremden Willen zu ergeben, so bemerken andererseits auch schon einige der ausgezeichnetsten demokratischen Publizisten, daß die Ansicht der Mehrzahl kein absolutes Gesetz abgeben dürfe, indem es irrtümlich sei, zu glauben, daß die Mehrzahl irgend eines Reichs oder einer Vergesellschaftung die allverbreitetste Kenntnis aller Verhältnisse und die allerhöchste Erleuchtung besäße.

63

Französisch légitimistes, von légitime = gesetzlich, rechtmäßig; Partei in Frankreich, die nach der Revolution von 1830 weiterhin den Standpunkt der Unabsetzbarkeit des Herrscherhauses (Bourbonen) vertrat.

654

Teil II

Die polnische Konstitution erkannte einzelnen Gliedern des Reichs ungeheure Rechte zu, legte ihnen aber auch große Pflichten auf, verlangte außerordentliche Tugenden. Dies erklärt uns, warum die polnischen Bischöfe, Senatoren und sogar Mikołaj Rej in seinem „Żywot człowieka poczciwego“ (Leben eines ehrbaren Menschen) die Reichstage und alle politischen Beratungen als Verrichtungen eines religiösen Opfers ansahen, warum sie die Glieder zur Versammlung mit gereinigtem Gewissen, mit gesammeltem und erhobenem Geiste kommen hießen: jeder Landbote, sogar jeder Adelige trug, dem Gedanken der volkstümlichen Urkunde gemäß, eine Art Priesterweihe in sich. Sobald es nun an erhabenen Tugenden gebrach, sobald das Volk von dem Wege seiner sittlichen Vervollkommnung wich, mußte eine solche Gesellschaft zuerst stehen bleiben, dann verfallen. Der Erste, der zu der inneren Verwirrung und zum Verfall des Reichs Anlaß gab, war Siciński64, Abgesandter von Upita. Schreckliche Dinge erzählt man von ihm: kaum nach Hause zurückgekehrt, soll ihn der Blitz erschlagen haben; seine Güter sind in fremde Hände übergegangen, und der Leichnam, bis jetzt in einer wüsten Kapelle aufbewahrt, dient dem Wanderer zum Schrecken. Bemerkenswert ist jedoch dieses, daß, nachdem der Sejm das ausgesprochene Veto vernommen, kein Einziger auf den Gedanken fiel, Siciński zur Zurücknahme des Wortes zu bewegen, im Gegenteil, alle gingen voller Trübsinn und Grauen schweigend auseinander. Fassen wir nun zusammen, was über die Wahl und das Veto gesagt worden, so finden wir viel Ähnlichkeit zwischen der volkstümlichen polnischen Verfassung und der Konstitution der römischen Kirche. Das Konklave, selbst wie es heute nach den vielen Veränderungen der Päpste beschrieben wird, erfodert gleichfalls die Einstimmigkeit aller, sei sie auch nur eine vermeinte, nicht eine wirkliche! Die Notwendigkeit dieser allgemeinen Zustimmung macht noch heute die Regel aus bei den Sprüchen der Geschworenen-Gerichte. Aber überall suchte man dies gefährliche Gesetz durch weise Vorkehrungen zu beschränken. Nur in Polen wurde unglücklicherweise vernachlässigt, ihm bestimmte Formen zu geben und mit Vorsicht sich gegen Mißbräuche zu schützen. Während die römische Kirche ihre Kardinäle einsperrt, ihnen zu fasten gebietet, sie hungern läßt, wenn sie nicht einig werden können, während die englischen 64

Władysław Siciński (1615–1672), polnischer Adliger aus Upita (Kleines Städtchen bei Kowno, Litauen) der am 9. 3. 1652 als Erster die Sejmberatungen durch ein liberum veto beendete. A. Mickiewicz schrieb 1825 in Odessa das Gedicht „Popas w Upicie“, in dem er auf das Siciński-Ereignis eingeht. Vgl. auch Aleksander Brückner: „Liberum Veto“. In: Encyklopedia Staropolska. Warszawa 1937 (Reprint 1990), tom 1, S. 770–774.

5. Vorlesung. (7. Januar 1842)

655

Geschwornen nicht minder streng gehalten werden, war es im Gegenteil in Polen Sitte, Trinkgelage dem beratenden Körper zu geben, die Mitglieder desselben mit Speise und Trank zu überladen. Hier, wo alles auf dem guten Willen und unaufhörlichen freien Aufopferungen beruhte, wo der Soldat selbst nicht um Sold diente, jederzeit das Heer verlassen durfte und als größte Strafe die Ausstoßung galt, hier waren strenge Sittenregeln und Gespanntheit des Geistes die wahrhaften Grundlagen des öffentlichen Lebens. Als der Wille sank, als man keine Opfer mehr bringen wollte, mußte die Republik zuerst in ihrem Gleis stocken, alsdann viel Unheil erfahren, welches die Vorsehung auf sie herabgeschickt, auf daß sie bessere, was verdorben.

6. Vorlesung (11. Januar 1842) Die Politik Polens am Ende des 17. und zu Anfang des 18. Jahrhunderts – Die neuzeitige Politik Rußlands – Peter der Große. Seine Reformen des Reichs.

Äußer den obenerwähnten Überresten des 17. Jahrhunderts zeigt die polnische Literatur, bis zu der Zeit der sogenannten Wiedergeburt unter Stanisław August kein Werk vor, das einen Wert in allgemeiner oder nationaler Hinsicht darböte. Wohl ist die Poesie eine Schöpfung des ganzen Volkes, die Siege und Kämpfe jedoch unter Jan Kazimierz und Jan Sobieski vermochten nicht die Volksmassen zu begeistern; denn sie waren nur ein Abglanz, ein Andenken des alten Ruhmes, aber nicht die Morgenröte, nicht die Ankündigung zukünftiger Größe. Jedes Volk hat einen angebornen unfehlbaren Instinkt, welcher jedem einzelnen Menschen, ja selbst jedem Tier auf einmal zu erkennen gibt, woher eine Gefahr drohe, wer zu fürchten sei, und beinahe welche Absichten der Feind im Schilde führe. Die Polen fühlten ihren Beruf im Bekämpfen der Ungläubigen und Abtrünnigen, sie errieten, womit das Eindringen der Türken in Europa drohe und warfen sich auf diese. Hieraus floß die ganze Kraft und Weisheit der polnischen Politik zur Zeit der Jagellonen. Aber der durch Religionsreform im Lande rings ausgestreute Samen von Religionszwistigkeiten zerriß diese Einheit der Gefühle und trübte diese Quelle wahrer Begriffe. Seit dieser Zeit regierte sich Polen vielmehr durch die Überlieferung als durch das lebendige Wort des eigenen Gewissens; es hielt seine Augen auf die vergangenen Gefahren fortwährend gerichtet und gewahrte die eben hereinbrechenden nicht. Alle seine Helden und Staatsmänner kehrten ohne Unterlaß ihre Wachsamkeit auf die zurückgeworfene und gestürzte Türkei, und begriffen weder die Natur noch die Richtung der Nachbarmächte, die sich aus dem Schoß der Abtrünnigkeit nach und nach erhoben; gleichgültig sahen sie Moskau und Brandenburg zu. Man darf jedoch nicht meinen, daß es damals Polen an geübten und fähigen Diplomaten gebrach. Jan Kazimierz, Jerzy Sebastian Lubomirski65, Jan Sobieski, waren gewandte und aufgeklärte Politiker. Aber fremdes, außerhalb der eignen Grenzen entlehntes Licht konnte zur Entdeckung der wahren Nationalbahn nicht dienen. Die philosophischen Begriffe des 18. Jahrhunderts bemächtigten sich bloß der oberen Schicht der polnischen Gesellschaft, der vornehmen 65

Jerzy Sebastian Lubomirski (1616–1667). Vgl. Witold Kłaczewski: Jerzy Sebastian Lubomirski. Wrocław 2002.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_048

6. Vorlesung (11. Januar 1842)

657

und mächtigen Familien, deren Mitglieder die Geschicke des Vaterlandes in Händen hatten, drangen jedoch nie bis zur Hauptmasse des Volkes durch. Das volkstümliche Gefühl stieß jene Begriffe und Doktrinen der Art von sich, so daß die damals in Europa berühmten Männer unbeachtet Polen durchwanderten und Moskau gleichsam zugeworfen wurden, wo man sie erwartete und mit offenen Armen empfing, und wo sich eiligst Ereignisse entwickelten, welche nach dem Ende der mit dem Entsatz von Wien beschlossenen Periode die Bühne einer neuen Epoche eröffneten. Die neue Geschichte Rußlands fängt mit Peter dem Großen an. Kriege, Traktate, Ländererschleichungen, diplomatische Verschlingungen, kurz die äußere Geschichte dieses Staates sind allgemein bekannt und Gegenstand vieler gelehrten Abhandlungen und Bücher geworden; aber die innere Geschichte, so zu sagen die geheime Geschichte Rußlands, ist völlig unbekannt: noch verstand man nicht oder wagte es nicht, über Zwecke und Absichten der moskovitisch-russischen Monarchen, über die wahre Bedeutung der durch sie unaufhörlich bewirkten Reformen zu schreiben. Es gibt bis jetzt noch kein Geschichtsbuch über Rußland. Der Kaiser Alexander I. bewilligte nur die Zeiten Rjuriks zu erzählen und zu erforschen, aber weiter durfte das öffentliche Unheil das Geheimnis nicht enthüllen, und der ganze Inbegriff der Volksangelegenheiten mußte daher im Schatten bleiben; denn alle Glieder des Romanovschen Hauses sehen sich eins für das andere gleichsam verantwortlich an, und leiden nicht, daß ihre Handlungen und Absichten erwogen werden, indem sie alle einem und demselben Prinzip folgen. Die Gewissenhaftigkeit Karamzins66 hinderte ihn, Peter des Großen Taten zu berühren; die dem Karamzin folgenden weniger gewissenhaften Geschichtsschreiber Rußlands wiederholen alle sonder Scham und Scheu entweder die nämlichen Lügen, oder sie helfen sich durch Verschweigen. Jedermann z.B. kennt die Todesart67 Pauls I., aber die Professoren predigen immer von ihren Lehrstühlen den Schülern herab, daß es ein Blutsturz gewesen, der den Untertanen ihren geliebten Monarchen entriß; dennoch hatte einer von den Lehrern jedesmal, so oft er diesen unglücklichen Zufall erwähnte, die Gewohnheit gehabt, gravitätisch und gleichsam mit Tränen in den Augen nach der Halsbinde zu fassen.68 66 67 68

Karamzins Geschichte des russischen Staates (Istorija gosudarstva Rossijskogo) in 12 Bänden endet mit den Jahren 1611–1612. Vgl. Careubijstvo 11 marta 1801 goda. Zapiski učastnikov i sovremennikov. Moskva 1990 (Reprint der Ausgabe 1917). Ignacy Żegota Onacewicz (1780/81–185). Professor für Geschichte an der Universität Wilno.

658

Teil II

Weil der Petersburger Hof im Bündnis mit anderen Höfen, die über slavische Länder herrschen, steht, so ist auf dem Raum, der den siebenten Teil der bekannten Erdoberfläche einnimmt, kein einziger Ort zu finden, wo man die zwei letzten Jahrhunderte der russischen Geschichte zwanglos behandeln könnte. Dessenungeachtet geben die Staatsurkunden, aus den Archiven von Moskau entlehnt, wie die von Munde zu Munde überlieferten Berichte, wichtige Einzelheiten und Beobachtungen. Ja, Vorhersagungen, die vielleicht erst spater erdichtet wurden, sollen der Ankunft Peter des Großen vorangegangen sein. Sowie Ivan der Schreckliche wurde er unter wunderlichen Erscheinungen geboren: man wahrsagte, daß Rußland entweder einen Messias oder Antichrist sehen werde. In der Tat waren auch wichtige Religionsfragen an der Wiege dieses Fürsten in Verhandlung. Der Katholizismus breitete sich bedeutend am Hofe seines Vaters aus; der Zar Aleksej Michajlovič und die Zarin waren schon fast bekehrt; ein Bischof des griechischen Ritus zwar, jedoch geheimer Jesuit, und welcher am meisten wirkte, gab dem Neugeborenen in der Taufe einen bis dahin in russischen Jahrbüchern unbekannten Namen, der gleichsam die Bestimmung des künftigen Herrschers andeutete, und welcher die römische Kirche in seinem Staat zu gründen berufen war. Das Volk glaubte fest, daß der junge Zar gewiß eine Reform bewirken, eine neue Religion im Lande einführen würde. Aber Aleksejs Tod und die später eingetretenen Palastränke und Volksaufwieglungen vernichteten das Werk der Jesuiten. Peter schwankte wirklich zwischen zwei Religionen, nicht deshalb weil er gleichen Hang zu beiden gehabt, sondern weil er nicht wußte, welche von beiden seinen Absichten am besten dienen könnte. Aufgewachsen wie Ivan unter Aufruhr und Mord, ein Zeuge, ja oft beinahe ein Opfer der Metzeleien, die von den Strelizen an seiner Familie verübt wurden, lernte er schon von Kindheit an kalt berechnen, die Menschen verachten und im Blutvergießen Vergnügen finden. Die Jugendgeschichte Peter des Großen ist hinlänglich bekannt. Der russischen Fürstensitte gemäß brachte er seine ersten Jahre im Kreise aller Art Spaßmacher und Hofnarren zu, welche meist vom Ausland, nämlich Livland, Deutschland, Frankreich und England zu seinem Zeitvertreib und zu seiner Unterhaltung bezogen wurden. Peter hat aber, statt in diesem Haufen fader Schranzen zu verweichlichen, aus diesen jenes erste Bataillon nach deutscher Norm gestiftet, welches später der Keim der russischen Armee ward. In diesem Bataillon diente er vom Trommelschläger an, und rückte durch alle Grade so genau vor, daß er selbst nach großen Siegen militärische Stufen nicht überspringen wollte. Um diese Zeit fand er in einem Magazin eine alte englische Schaluppe, diese ließ er ausbessern und brachte darauf ganze Stunden in Einübung der Schiffsbewegungen zu. Einen seiner Günstlinge, den Genfer Franz

6. Vorlesung (11. Januar 1842)

659

Lefort69, ernannte er zum General seiner Landmacht, die noch nicht vorhanden war, einen anderen zum Admiral der Seemacht, von der er nur träumte, und bei seinem Tod ließ er in der Tat eine mächtige Armee und eine der ersten und bedeutendsten Flotten Europas zurück. Die Gespräche mit den ihn umgehenden Ausländem weckten seine Wißbegierde, aber auch zugleich seine Eroberungslust und gaben ihm den Gedanken ein, der später das Prinzip der russischen Politik wurde. Anders als seine Vorfahren, die das europäische Wesen in ihre Staaten einführen wollten, beabsichtigte er vielmehr, Europa soviel Kräfte zu entziehen, als nötig, um es zu besiegen und zu unterjochen. Zu diesem Zwecke machte er Reisen: besuchte Deutschland, Holland und England, überall die Axt in der Hand, lernte er die Schiffsbaukunst, forschte fleißig nach allem, was ihm notwendig sein konnte, und schickte ganze Schiffsladungen von Ingenieurs, Baumeistern und Ärzten, die er im Ausland angeworben, nach Rußland hinüber. Ein gewaltiger Aufruhr der Strelizen, die letzte echt russische, revolutionäre Bewegung, rief ihn plötzlich in die Heimat.70 Nach Ausrottung der Bojaren gab es im Zarenreich kein nationales slavisches Heer; dieses hatte aus Edelleuten bestanden, deren jeder sein Fähnlein Höriger zum Kampf geführt; feile Söldlinge, nur der Person des Zaren zugetan, nahmen jetzt die Stelle jener ein. Dessenungeachtet hafteten noch an dieser neuen verschiedenartigen Waffenmacht alte russische Begriffe, Gewohnheiten und Vorurteile. Die Strelizen hielten an der Volksreligion fest und nahmen am allgemeinen Wohlgefallen oder Hasse ihrer Mitbürger teil, kurz sie waren unter dem Einfluss der öffentlichen Meinung, und die Parteien gebrauchten sie immer als ein zu Diensten stehendes Werkzeug bei gegenseitiger Verdrängung. Dieser aufgewiegelte bewaffnete Troß warf sich auf die Burg und verlangte gewaltsam nicht die Veränderung der Regierungsform oder des politischen Systems, nicht den Abschluß eines Bündnisses oder die Ankündigung eines Kriegs, sondern den Sturz dieses oder jenes Günstlings, die Entfernung dieses oder jenes Generals. Jetzt aber ging man damit um, wie es verlautete, den an Leib und Seele schwachen Zar Ivan Alekseevič, welcher mit Peter und seiner Schwester Sophie zusammen den Thron einnahm, von des Bruders Übermacht zu befreien. Diese Bewegung scheiterte, denn der Aufruhr wurde durch jenes von Peter gestiftete Fremdenbataillon gedämpft, welches von 69 François Le Fort (1656–1699); auch Franz Lefort. 70 Vgl. Alexander Moutchnik: Der „Strelizen-Aufstand“ von 1698. In: Volksaufstände in Rußland. Von der Zeit der Wirren bis zur „Grünen Revolution“ gegen die Sowjetherrschaft. Hrsg. H.-D. Löwe. Wiesbaden 2006, S. 197–222.

660

Teil II

einem Teil der Moskoviter, unter den Befehlen dreier Fremden, eines Schotten, eines Deutschen und eines Franzosen, unterstützt, den vollkommensten Sieg davontrug. Peter eilte nun herbei, um aus diesem Übergewicht Vorteil zu ziehen, und um sich an den Qualen der besiegten Feinde zu weiden. Die moskovitische Grausamkeit nahm jetzt einen neuen Charakter an. Peter war nicht jener tolle Tyrann wie Ivan der Schreckliche, er war aber ein grausamer Philosoph: er betrieb den Mord systematisch; indem er Tod und Pein eigenhändig ausübte, stellte er Beobachtungen über die menschliche Natur an; deshalb köpfte er selbst. Zum ersten Mal hieb er nur fünf Köpfe ab, später konnte er nach bald erworbener Handfertigkeit deren fünfundzwanzig innerhalb einiger Stunden abhacken.71 Die ersten Magnaten, die Großwürdenträger des Reichs und des Auslandes mußten bei dieser Beschäftigung zugegen und ihm behilflich sein. Franzosen und Deutsche taten ungern diese ihre Schuldigkeit, aber die Engländer gingen mit kaltem Blut ans Werk. Unter Allen zeichnete sich ein geborener Moskauer jener Aleksandr Danilovič Menšikov aus, der später zur Fürstenwürde des apostolisch-römischen Reiches erhoben wurde. Dieser radbrechte und spießte sehr geschickt die unglücklichen Opfer auf den Pfahl. Peter selbst öffnete mit dem Messer lebendige Bojaren, Strelizen und Bauern, und übte sich in der ihm angenehmen Anatomie; er befahl den Ärzten, ihm dabei den Umlauf des Blutes, den Zusammenhang der Gedärme und den Körperbau zu erklären: auf diese Weise quälte er viele Tausende zu Tode. Dieses alles hinderte ihn aber nicht, an den Höfen europäischer Monarchen wohl empfangen und Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Paris zu werden; dieses machte, wie man sich zu jener Zeit ausdrückte, der Akademie eine Ehre. Nachdem Peter der Große die nationale Waffenmacht vernichtet und eine Armee, die seinem kaiserlichen Willen blind gehorchen sollte, geschaffen hatte, nahm er sogleich die allgemeine Reform seines Staates vor und faßte den Plan, Rußland zu verdeutschen, zu verholländern. Besonders gefiel ihm die deutsche Sprache, welche bis auf Katharina II. russische Hofsprache gewesen ist. Wer beim Zaren Gnade finden wollte, mußte deutsch sprechen, der Zar selbst sprach nur zu seinen Soldaten russisch, obgleich er sie auf ein fremdes, aus dem Deutschen und Holländischen sonderbar zusammengesetztes Kommandowort einübte. Alles, was nur das mindeste Merkmal von Volkstümlichkeit an sich trug, erweckte in ihm Haß und Abscheu: er befahl dem Volksmann den Bart zu rasieren, er gab Vorschriften für den Anzug des Weibes, welches früher gewöhnlich vom Mann abgesondert lebte, jetzt sich auch öffentlich 71

Vgl. dazu – Voltaire: Histoire de Charles XII. Paris 1968, S. 51.

6. Vorlesung (11. Januar 1842)

661

zeigen und den Hofunterhaltungen beiwohnen mußte, außerdem im Kopfneigen, in Kniebeugungen, Setzen der Füße und Händehalten nach den Regeln eines dazu vorgeschriebenen Zeremonienbuchs sich zu richten, genötigt war. Die sogenannten Hofbälle endeten meistens mit einem Ärgerniß; denn Peter der Große und andere pflegten sich mit Getränken zu berauschen; er kostete oft seine Lieblinge, indem er ihnen Branntwein in den Hals goß. Europa hat dennoch die Reformen Peters als einen großen Fortschritt zur Zivilisation angesehen. Um aber Rußland Europa anzunähern, suchte er einen anderen Weg, er strebte über alles nach einem Seehafen an der Ostsee. Von nun an neigt sich die slavische Macht, die zur Zeit der Rjuriken gen Osten hingelastet, gegen den Westen; von nun an sieht das russische Kabinett den asiatischen Krieg nur als eine Art militärischer Hebungen an, achtet auf dieser Seite der Eroberungen nicht, es setzt aber seine ganze Politik und Kraft auf europaischen Einfluß. Die Notwendigkeit eines baltischen Seehafens für Rußland erzeugte jenen im 18. Jahrhundert berühmten schwedischen Krieg. Peter wollte Narva nehmen und baute seine Hauptstadt an der Ostsee; Karl XII. landete mit seinen Truppen und begann eine Reihe von Siegen, die mit der Niederlage von Poltava endeten. Karl der XII. erbte von seinen Ahnen einen kriegerischen Geist und besaß eine schöne durch ihn geschaffene Armee; es gebrach ihm nur an einer einzigen Sache: er war von keinem religiösen Enthusiasmus mehr beseelt, er gebot nur über eine materielle Kraft, und erkannte endlich, daß die ganze schwedische Macht in jenem protestantischen Enthusiasmus bestanden, der nach einer Dauer von kaum funfzig Jahren schon vor ihm erloschen war. Ein Normanne, Materialist, trat gegen einen andern tatarisierten Normannen, der ebenfalls Materialist war, in die Schranken, der aber eine so große Masse von Mitteln der Art in Schwung setzte, daß der erste von ihrer Last erdrückt werden mußte. Die Schlacht von Narva, wo achtzehn bis zwanzigtausend Schweden achtzigtausend Russen aufs Haupt geschlagen, war nur ein ungeheurer Sieg der Taktik über die Zahl; hiernach beging aber Karl den Fehler, statt aus dem Sieg Vorteil zu ziehen, nach Polen zu gehen, um es aufzuwiegeln und seinen König zu entthronen, während Peter der Große alle möglichen Mittel benutzte, um seinen Verlust zu ersetzen. Dabei vergaß er selbst nicht den religiösen Enthusiasmus seines abergläubischen Volkes zu wecken: indem er ein Gebet an den Heiligen Nikolaus durch den Metropoliten überall verkünden ließ, welches er in einem Stil, der das Maß damaliger Begriffe gibt, wahrscheinlich selbst geschrieben hat. Dies lautet:

662

Teil II O! großer, Heiliger Nikolaus! o du unser ewiger Tröster in allen möglichen Trübsalen, mächtigster unter allen Heiligen, die da je gewesen und je noch sein werden: womit haben wir dich so beleidigt, daß du uns verlassen hast? Wir haben dich ja stets um deine Hilfe gegen diese trotzigen, grausamen, schrecklichen, tollen und ungebeugten Feinde und Vernichter, die man Schweden nennt, angerufen. Und weil es nicht möglich ist, daß sie uns ohne Gebrauch von Beschwörungen und Hexerei überwältigen, dieweil wir uns so sehr bestrebten, unsere Festungen und Zufluchtsorte zur Ehre deines Namens zu sichern, so flehen wir dich an. O! großer, Heiliger Nikolaus, unser Ritter und Fahnenträger, sei mit uns sowohl zur Friedens- als auch zur Kriegszeit, und bewahre uns vor diesen schrecklichen Schweden, und jage sie fern hinter unsere Grenzen in die Flucht.72

Nach mehrern Jahren grausamen Kampfes kam es am 15. Juli 1709 bei Poltava zum entscheidenden Zusammenstoß. General Adam Loewenhaupt73, der mit Hilfstruppen zu Karl zog, ereilte das Schicksal Hasdrubals; er wurde unterwegs durch russische Truppen aufgerieben, und der König befand sich mit einer geringen Schar der Seinigen im Angesicht ungeheurer moskovitischer Heere. Der Ruhm der Schweden war noch so furchtgebietend, daß Peter mit dem König zu unterhandeln versuchte, und ihm Alles außer Narva und dem Gebiet, worauf St. Petersburg sich erhob, abzutreten versprach. Der junge Kriegsheld verwarf die Bedingungen und verlor die Schlacht. Die Polen trugen, was wenig bekannt ist, zum Siege der Moskoviter bei, denn eine Abteilung polnischer Reiterei, von ihrem König August II. zugesandt, warf sich auf den schwedischen Nachtrab und brachte Karls Dragonergarde zum Weichen, womit das Kampfgeschick im zweifelhaftesten Augenblicke entschieden ward. Seit dem Siege von Poltava fängt für das russische Zarentum die Epoche des Wohlergehens an. Peter erhält Glückwünsche von allen europaischen Höfen, und erst dazumal begrüßte der König von England ihn als Kaiser aller Reussen. Der Kaiser unternahm nun eine wiederholte Reise durch Europa, und kam über Holland nach Frankreich. Man erzählt, daß ihn hier die Sicherheit der königlichen Familie von einem zugetanen Adel und Volke umgeben, am meisten ansprach, was ihm sehr edel und ritterlich däuchte. Er, der russische Alleinherrscher, beneidete die Bourbonen und pflegte zu sagen, er gäbe dafür sein Reich, um nur dem Haus angehören zu dürfen, welches das Geheimnis besäße, so viel Liebe und Vertrauen zu gewinnen. Dessenungeachtet sagte er zugleich den Fall dieses glücklichen Zustandes voraus: Frankreich und namentlich die 72 73

Quelle nicht ermittelbar. Adam Loewenhaupt (1659–17019). Bei Wrotnowski und Siegfried ursprünglich Ivan Mazepa (1639–1709), der an dieser Schlacht gegen die Russen auch teilnahm. Hasdrubal, karthagischer Feldherr, versuchte (vergeblich) seinem Bruder Hannibal in Italien im Kampf gegen die Römer zu helfen. Er verlor die Schlacht am Metaurus und wurde 207 v.Chr. von den Römern geköpft.

6. Vorlesung (11. Januar 1842)

663

königliche Familie würden durch ihre Weichlichkeit und Nachlässigkeit zu Grunde gehen; dies waren seine eignen Worte. Der Kardinal Richelieu, an welchem ihn gleiche Härte des Naturells und Tiefe der Ansichten fesselte, gewann vor Allen des Kaisers Hochachtung und Bewunderung. Diesem Priester, sagte er oft, würde ich die Hälfte meiner Länder schenken, um von ihm die Kunst, die andere Hälfte zu regieren, zu erlernen. Nach der Rückkehr nach Rußland griff Peter noch tätiger das Werk seiner Reformen an, indem er unaufhaltsam dem Volk fremdes Leben einzuimpfen und Institutionen einzuführen strebte, die der slavischen Natur stracks entgegengesetzt waren. Er sah in Schweden einen Senat und wollte auch einen solchen in Rußland schaffen. Die schwedischen Senatoren waren mächtige, reiche, vom Volke geachtete Herren, völlig geeignet durch ihr Ansehen den königlichen Willen zu maßigen; wie aber konnten blind gehorchende Diener, die Peter oft mit dem Stock schlug und oft vor seinen Augen auf die Folter zu spannen befahl, zu jener Bedeutung gelangen? Es ist also unter dem Namen russischer Senat ein Kollegium gebildet worden, das bis jetzt noch nicht einmal so viel Einfluß besitzt, als der türkische Divan. Nichts Irrigeres gibt es, als die Begriffe des Auslandes in dieser Hinsicht. Der Senat in Rußland, von dem man zu Lande beinahe gar nichts hört, ist nur ein Zufluchtsort alter Generale und Beamten; er regiert nicht, er darf keine Vorstellungen machen; er übt nur des Monarchen Willen aus, er unterzeichnet nur in Zivil- und Kriminalsachen die Berichte des Oberprokurors, über politische Angelegenheiten spricht er in den Sitzungen gar nicht. Peter der Große ahmte in der administrativen Organisation Österreich nach, und setzte zwölf Departements ein, das Departement des Krieges, der Finanzen u. dgl., die er in einem dazu besonders gebauten, in zwölf Teile geteilten Gebäude einrichtete. Diese Organisation unterlag in der Folge manchen Veränderungen. Was die Zivilgesetzgebung betrifft, so war es des Zaren einziges Streben, alle Gewalt in seiner Hand zu vereinigen. Er führte Monopolien, sogenannte Odkupy (Wiederkäufe) von Branntwein, Tabak und Teer ein, und vernachlässigte nicht, zugleich einen Ukaz zu geben, worin er befahl, daß das Volk Tabak rauche, welches bis auf diese Zeit in Rußland unbekannt gewesen. Obschon sich niemand mehr im Staat fand, der Peter in seinem Handeln hinderte, so fand er doch unverhofften Widerstand in seinem eigenen Sohn. Dieser Kampf hat eine sehr große Wichtigkeit, er ist schon die letzte Reibung zweier entgegengesetzten Ideen. Den Russen ist diese tragische Geschichte völlig unbekannt, denn die amtlichen Urkunden davon sind streng bewacht; der Übermacht schmeichelnde Ausländer verfinsterten das Andenken des unglücklichen Opfers; sie schildern Aleksej, den Sohn Peters, als verwahrlost und verrückt, ihn, der am Geiste, Herzen und Erziehung ein echter Russe war. Seine gottesfürchtige Mutter, aus dem fürstlich wolfenbüttelschen Hause, flößte ihm von seiner Kindheit die Grundsätze der Volksreligion ein: er wuchs

664

Teil II

heran von Klostergeistlichen umgeben, von welchen er die alte Geschichte lernte, und hörte gerne Volkssagen und Überlieferungen, denn er liebte alles, was vaterländisch und volkstümlich war. Diese arme slavische Seele, die in eine fremde Familie sich verirrt hatte, zitterte vor Scheu und Schrecken beim Anblick dessen, was um sie her geschah. Der unglückliche Aleksej Petrovič fühlte eine instinktmäßige Furcht, so oft sich ihm sein Vater näherte. Peter aber sah mit Verachtung die Mönche an, die er Bocksbärte zu nennen pflegte, zog die Güter der Geistlichkeit ein, hob das Patriarchat auf, und als nach dem Tod des letzten Patriarchen Bischöfe zu ihm kamen, mit der Bitte, daß er einen andern wähle, da rief er, sich auf die Stirn schlagend, aus: „Seht da euren Patriarchen, euren Papst und euren Gott.“ Darüber entsetzt schloß sich der junge Fürst in seinem Hause ein, und beweinte mit der Mutter und mit wenigen Geistlichen Rußlands neues Schicksal; aber der Vater ließ ihn auch hier nicht in Ruhe, er befahl ihm das Exerzieren und die Schifffahrt, was er scheute und haßte, zu lernen. Da übrigens alle Mittel und Hoffnungen einer Linderung fruchtlos blieben, so faßte Aleksej Petrovič den Entschluß zu fliehen; er entwich nach Deutschland, von da begab er sich unter den Schutz des östreichischen Kaisers und später an den Hof des neapolitanischen Königs. Peter schrieb an ihn strenge Briefe, worin er ihm seine Aussichten und was er von ihm erwarte, erklärte; aber bald darauf veränderte er den Ton, und fing zu schmeicheln und ihn sanftmütig zu bitten an, daß er zurückkehren möge; er versprach ihm alles zu verzeihen und schwur bei Gott, auf die letzte Ölung, daß er ihm kein Leid antun werde. Sobald Aleksej nun also durch Bitten und Schwüre angelockt, nach Rußland kam, wurde er sogleich aufgegriffen und dem Gericht überliefert. Es ist dies der graulichste Prozeß, den es je gegeben. Der Vater bestimmt eine Kommission, von hundert und achtzig Großwürdenträgern zusammengesetzt, zum Gericht über seinen Sohn; selbst als Patriarch, als Oberhaupt der Kirche, nimmt er teil, um des Sohnes Beichte zu hören. Dieser ebenbürtige Slave, folgsam und geduldig wie sein Stamm, ohne selbsttätige Macht, mit religiösen Prinzipien erfüllt, erkennt die Gewalt des Patriarchen in seinem Vater an, und öffnet vor ihm seine innersten Herzensbewegungen, alle seine geheimen Gedanken: er beichtet, daß er ihm zuweilen den Tod gewünscht. Kraft dieses Bekenntnisses sprach das Gericht das Todesurteil. Peter gab sich das Ansehen, diese Strafe lindern zu wollen, indem er sie in Gefängnisstrafe umwandelte, aber schon am ersten Tage starb der Fürst im Gefängniss vergiftet, und seine ihm zugetanen Diener und Getreuen gaben auch unter Martern ihren Geist auf. Die Mutter von Aleksej, Evdokija Fedorovna Lopuchina, im Kloster eingekerkert, lebte nicht lange, und viele Personen, die man der Freundschaft für sie beschuldigte, wurden zum Galgen oder unter das Beil des Henkers geschickt.

7. Vorlesung (18. Januar 1842) Antislavisches Streben der moskovitisch-russischen Politik – Die Armee Peter des Großen. Charakter des Volkes von Großrußland – Dessen Mundart wird Amtssprache – Zivilorganisation des Zarenreichs – Polens Lage zur Zeit der Könige aus dem sächsischen Haus – Die drei Monarchen: Peter der Große, August II. und Karl XII – Das Testament Peters des Großen – Vergleichung seiner Reformen mit dem Streben des französischen Nationalkonvents – Persönlicher Charakter Peters des Großen – Charakter der französischen Terroristen.

Nachdem das moskovitische Kabinett das slavische Element Rußlands verschlungen, will es nun allein als Träger des slavischen Begriffs gelten, als Repräsentant der angeborenen Stammesmacht, und indem es seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts auf Polen lastet, strebt es zugleich auf alle seine Stammesgenossen von der Mündung der Donau an bis zum Montenegro die Hand zu legen. Notwendig ist also zu wissen, ob es wirklich den geschichtlichen Charakter dieses Geschlechts trägt, und zu erkennen, ob die literarischen Erzeugnisse des russischen Geistes, und die auf Befehl und Eingebung der Regierung gelieferten Denkmäler in der Tat slavische sind. In dieser Hinsicht könnte man eine, aus der alten Geschichte für immer gefaßte Formel aufstellen und sagen, daß seit der Gründung der Hauptstadt Moskau das fortwährende Bestreben ihrer Fürsten gewesen, alle Lebenskraft den Provinzen zu entziehen, um sie zuerst im Großfürstentum Moskau und später in der Person des Alleingebieters zu konzentrieren. Auf diese Art sind also nach dem Falle ihrer Erbfürsten die Völkerschaften von Nowogrod, Tver’, Pskov u.a. durch diese emporgewachsene Last erdrückt worden, und da die moskovitischen Bojaren aus der großfürstlichen Hand die eroberten Gebiete regierten, so kam die Reihe auch an die Bojaren selbst; sie wurden mit Hilfe der Strelizen, dieser Hauptarmee der moskovitischen Fürsten, vernichtet. Gleiches Schicksal begegnete auch den Strelizen von der neuen, aus Eingeborenen unter dem Kommando der Fremden zusammengesetzten Armee. Diese Fremden verdankten ihr Sein, ihre Bedeutung und ihre Zukunft dem Herrscher, sie lebten und webten nur durch dieses Herrschers Alleinwillen. Und so ist dieses zerstörende Werk der Zusammenschmelzung unter Peter des Großen vollbracht worden. Seitdem ist der russische Selbstherrscher beinahe jener pantheistischen Gottheit gleich, die nach den Begriffen des Morgenlandes die ganze Schöpfungswelt verschlingt und wiedergibt, sie wie die Luft ein- und ausatmend. Nachdem Peter den letzten Rest des Nationallebens in sich aufgenommen, begann er, seinen Gedanken über die tote Landesoberfläche wiederzugeben,

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_049

666

Teil II

gleichsam auszuatmen, und sein eignes Wesen durch die von ihm abhängigen Beamtenkasten zu vervielfältigen. Er schuf Generale, Offiziere und die ganze Militär- und Zivilhierarchie. Die Armee ist der rechte, der kräftigste Arm der Willkürherrschaft des Zaren. Ihre technische Organisation kann man hier übergehen; aber erforschen muß man den Geist und die moralische Idee dieser mit einem einzigen Leben durchdrungenen Masse, aus deren Schoß die neue russische Literatur hervorging. Durch sie nahm die Mundart, die jetzt Staatssprache ist, den Platz der alten russischen ein. Beinahe alle russischen Schriftsteller dienten in der Armee, heute noch macht die Armee das russische Publikum aus, welches liest, beurteilt und den Ton der Literatur angibt. Die Geschichte der russischen Armee ist also in literarischer Hinsicht beachtungswert. Es ist bekannt, daß alle Armeen in Europa ihren Anfang im alten Rittertum nahmen; selbst ihre Disziplin wurde durch die überlieferten Überreste der Gebräuche und Erinnerungen dieses Waffenbundes veredelt. Der Begriff der Soldatenehre ist der letzte Nachlaß ritterlicher Vorstellungen jener Zeit, welche wenigstens diesseits der Alpen bis zum Dreißigjährigen Krieg fortdauerten. Erst Wallenstein und andere deutsche Heerführer haben den Charakter des Soldatenstandes geändert, indem sie gezwungen waren, durch angeworbene Söldlinge sich zu helfen. Seitdem sahen die Offiziere den militärischen Beruf als eine Bahn der Ehrsucht, und die Soldaten als ein Handwerk an. Peter der Große hat bei der Bildung seiner Armee deutschen Keimes ihr die Weihe eines Schreckenssystems gegeben, das den moskovitischen Zaren erblich ist. Wie sollte ein Slave, in diese Reihen gestellt, vor dem Offizier, einem Deutschen, nicht erzittern, der im Namen des Zaren und ihn sogar selbst kommandierte, der durch einen Wink seines Degens oder Rohrs die Person des schrecklichen Monarchen links und rechts herumbewegte? Diese Zaubergewalt weckte in dem gutmütigen Volk eine beinahe abergläubige Furcht. Alles Übrige, Uniform, Achselklappen, Schärpe, war ihm neu und wunderbar. Der russische Bauer, der früher kein Tuch kannte, wagte kaum, es mit den Fingern zu berühren; und gewohnt, Gold und Silber nur in den Verzierungen der Gotteshäuser zu sehen, fühlte er schon vor des Offiziers Kleidung tiefen Respekt; kurz, der Anblick des Generalstabes bewirkte auf den Soldaten denselben Eindruck, wie eine Prozession auf einen andächtigen Menschen. Fügen wir noch das grausame Reglement hinzu, welches die Körperstrafe und das Leben des Soldaten dem Eigenwillen der Vorgesetzten anheimgibt. Die Armee Peters des Großen bestand zuerst aus Einwohnern des moskauischen und der nächsten Gebiete, aus jener Völkerschaft, die schon seit jeher sich öfters mit anderen Geschlechtern vermengt hatte. Später versetzte man die Depots der Regimenter nach Petersburg und ergänzte sie aus der finnischen

7. Vorlesung (18. Januar 1842)

667

Rasse. Der Kern des Heeres, der von den Gubernien Moskau, Archangel’sk, Novgorod und anderen, diesen angrenzenden, entnommen worden, war also großrussisch. Das Volk von Großrußland zeichnet sich unter den anderen Stämmen slavischen Geschlechts vorteilhaft aus. Es ist von hohem Wuchs, breiten Schultern und kräftig, hervorragend durch seine Geistesschärfe, in welcher Beziehung es vielleicht das erste Volk von Europa ist; aber es hat ein gefühlloses Herz und eine kalte Seele: die Musik und den Gesang liebt es nicht, wie die Südslaven, und trägt in den Augen einen sonderbaren Ausdruck. Sieht man diese Augen genauer an, so gleichen sie gefrorenen Wassertropfen; man erblickt darin etwas Schauerliches, etwas, das einer Tiefe ohne Grund und Boden gleicht: es sind Augen, von denen das Licht abgleitet, ohne in der Linse zu glühen. Es ist dies ein heller stechender Blick, nicht der eines Menschen oder eines hohen Tieres, sondern der eines Lurchs oder Gewürms. Um davon eine Vorstellung zu haben, darf man nur ein Insekt unter das Vergrößerungsglas nehmen und seine unbeweglichen, durchsichtigen, durchdringenden und kalten Augen beobachten. Dieses Volk sprach eine, gleich allen slavischen, reiche, obwohl nicht musikalische und poetische Mundart, in der man nie etwas geschrieben. Erst in Petersburg, wo es außer der Armee beinahe keine Einwohner gab, ist sie zur allgemeinen Schrift- und Verwaltungssprache geworden. Peter der Große erfand und setzte durch einen Ukaz dafür das Alphabet ein. Auf diese Weise ist der großrussische Dialekt zur Amts- und Gesetzessprache des ganzen Reichs geworden, der in vielen Provinzen nur offizielles Leben hat. Die Südslaven aus Klein- und Weißrußland, die in die Petersburger Regimenter (polki) traten, nahmen nach und nach den Charakter der Nordrussen an. Ein Soldat, zum Dienste auf 20, 25, 30, 35 Jahre, kurz auf sein ganzes Leben, ohne Hoffnung, je seine Heimat wiederzusehen, ausgehoben, immerwährend zum mühsamen Exerzieren oder Kriegführen genötigt, vergaß seine Familie und die Gewohnheiten des heimatlichen Herdes gänzlich. Er vergaß alle Überlieferungen und alle in der Kindheit gehörten Lieder. Das Regiment ward ihm alles, Vaterland, Heimat und Gesellschaft, es hatte seine Überlieferung und seine Geschichte. Die russische Armee unterscheidet sich von jeder anderen Europas: sie ist gleichsam ewig. Seit Peter dem Großen ist in Europa alles verändert. Wer kennt z.B. jetzt noch die Namen der Regimenter unter Ludwig XV., wer die Geschichte der republikanischen Legionen oder auch nur jener berühmten Halbbrigaden Napoleons? Hingegen in Rußland haben die Regimenter, die Peter gestiftet, noch immer ihre alten Namen, und viele haben noch die von ihm gegebenen Standarten und manches von der alten Rüstung aufbewahrt; sah man doch oft auf den Schlachtfeldern russische Soldaten ihre Verwundeten im Stiche lassen, die Tschakos und die Säbel aber davontragen.

668

Teil II

Diese Regimenter waren dem polnischen Heer überlegen; das Material war mächtiger und vielfältiger: russisch, finnisch, kleinrussisch, deutsch, und all das schmolz die Kraft des Schreckens fest zusammen. Als Peter der Große sein Heer gebildet, begann er die Zivilorganisation seines Reichs nach denselben Grundsätzen, und unterwarf die ganze Bevölkerung einer Einteilung in vierzehn Klassen oder Stufen nach einer Rangtabelle (Tabel’ o rangach).74 Diesem Gedanken des Zaren gemäß ist Rußland gleichsam ein Regiment (polk): Jeder betrachtet sich dort als in dem Register mit einbegriffen. Diese Administration ist keine natürliche Folge der Bedürfnisse des Landes, sondern das Land ist ihr ein Bedürfnis: nicht sie leistet dem Reich Dienste, sondern das Reich dient ihr; diese Staatsverwaltung allein ist der Staat. Diejenigen, welche in Rußland zum öffentlichen Dienst nicht gehören, gleichen dem ungebundenen Trosse bei der englischen Armee in Indien, welcher nur da ist, damit er ernährt und versorgt werde. Weil Jedermann also im russischen Staate ein Regierungsbeamter (Einregistrierter) sein soll, so hat derjenige, der keinen Grad (Rang) besitzt, keinen Platz in der Gesellschaft, und wenn er reich ist, so weiß er nicht, wohin er gehört, er gleicht dem Freigänger unter regelmäßigen Truppen, der nicht wissend, wie und wo sich zu stellen, nur herumirrt und die Ordnung stört. Der Rang gibt in Rußland noch kein Amt, aber ohne einen Rang kann niemand Beamter werden. Eine ähnliche Hierarchie wollte man einst im byzantinischen Kaisertum einführen; dieses Kaiserreich besaß aber keine Kräfte mehr zur Ausführung. Etwas Ähnliches kann man in China sehen, aber dort erstreckt sich die Ranghierarchie nur auf die Mandarinen, in Rußland dagegen ist die ganze Volkszahl mit einbegriffen. Dies ist wirklich die rationellste Organisation. Hier geht man von dem Grundsatz aus, daß der Mensch so viel in der Gesellschaft gilt, wie viel er dieser dienen will oder gedient hat: Eifer und Höhe der Dienststufe macht den ganzen Wert eines Menschen in Rußland, keine andere Bedingung, keine andere moralische Eigenschaft hat Wert bei der Regierung, welche allein die Gesellschaft ist und alle Rechte derselben besitzt. Nirgends vermochte man die Begriffe des 18. Jahrhunderts so vollkommen ins Leben zu rufen, nirgends sie in ein System zu verwandeln, welches das Interesse persönlicher Ehrsucht und Selbstliebe so sehr nährt. Die fortwährende Hoffnung und Sucht nach Graden, Orden, Gewinnen und Belohnungen, die nach ihrem jedesmaligen 74

Табель о рангах. Vgl. den Artikel „Rangplatzordnung“. Lexikon der Geschichte Rußlands. Von den Anfängen bis zur Oktober-Revolution. Hrsg. Hans-Joachim Torke. München 1985, S. 311; Jurij M. Lotman: Rußlands Adel. Eine Kulturgeschichte. Köln-Weimar-Wien 1997, Kapitel „Menschen und Dienstränge“, S. 15–47.

7. Vorlesung (18. Januar 1842)

669

Erreichen den Durst nur noch vermehrt, wird endlich zur alleinigen Lebensidee, welche, alle Geisteskräfte verschlingend, den Menschen in ein Werkzeug, in einen Automaten umwandelt, das durch den Gedanken der Regierung bewegt wird. Mit dieser so geordneten Kraft seines Reiches langte Peter der Große nach Europa hinüber und fing durch sein stilles Einschreiten in Polen den europäischen Kampf an. Die polnische Republik war damals in einer falschen Lage. Die durch des Zaren meistens ausländische Sendlinge seit langer Zeit sich hier mehrenden Ränke und Einflüsse verwirrten die Wahlen nach seinem Plan und hatten die öffentliche Meinung in Polen auf das Äußerste zerrüttet. Der polnische Adel glaubte schon, der Thron sei eine für ausländische Bewerber feile Ehrenstelle; die Politiker sahen die freie Königswahl als eine Gewinnquelle für die Republik an: man handelte mit den Königen und schloß mit ihnen die pacta conventa, welche voll leichtgegebener Versprechungen waren, mit der verborgenen Absicht, sie nie zu halten. Die Könige kamen nach Polen mit dem Vorsatz, sich dort erblich festzusetzen; die Republik dagegen wollte von den Königen deren Schätze und Hilfstruppen haben, ohne die geringste Veränderung ihrer Verfassung zu bewilligen. Peter der Große erriet die Absichten Augusts II. von Sachsen und zog ihn zum Bund gegen Schweden im Jahre 1701. Dieses Bündnis zeigt schon amtlich die Nichtigkeit der äußeren Politik Polens. Von nun an schien der Zar die Polen nicht als Feinde zu betrachten, er galt als ihr Verbündeter. Dieser Schritt entspricht dem ersten Benehmen der moskovitischen Großfürsten gegen Novgorod. Peter gab gleichen Schutz dem polnischen König wie dem Adel, er unterstützte die Monarchie und die Republik, und ließ sich oft, bald als ein legitimistischer Philosoph, bald als ein Republikaner des 18. Jahrhunderts, vernehmen. Er ist vielleicht der erste unter den Herrschern, der in geschriebenen Bündnissen mit theoretischen Grundsätzen hervortrat. Bis dahin hatten die zerstrittenen Mächte Manifeste erlassen, Kriege angekündigt, Traktate geschlossen, sich nur auf ihre althergebrachten Rechte, auf der Ahnen Gewohnheiten, auf früheres Gutachten berufend; die Staatsminister waren gleichsam Advokaten, welche, an der Seite der Streitenden als Verteidiger stehend, uns Artikel eines bekannten und allgemein geachteten Gesetzbuches zitierten. Jetzt aber führte man schon Prinzipien ein, Legitimität und selbst das Recht von Gottes Gnaden. [Interessant sind in dieser Hinsicht die Briefe Peters an August II., in einem ganz neuen Stil verfaßt. Indem er sich gegen die Konföderation ausspricht, die zwecks Vertreibung des Königs vom Thron geschlossen wurde, erklärt er:

670

Teil II Als christliche Monarchen haben wir die Pflicht, Gewaltaten und Ungerechtigkeiten zu verhindern, die auf den Umsturz der menschlichen Gesellschaft [ein neuer Stil in dieser Epoche] und die Zerstörung des Friedens im Christentum zielen, und dieser Frieden wird nicht von Dauer sein, wenn die Rechte der Könige vor jeglichem Verlust ungesichert bleiben und die Völker den Gehorsam verweigern; diese Völker dürfen nicht die Rechte der Monarchen, deren Herrschaft unmittelbar von Gott stammt, mit den Füßen treten. Schließlich müsse man sich davor hüten, die Fundamentalgesetze der Natur zu brechen, denn dann wäre der Mensch, der nach dem Ebenbild Gottes erschaffen wurde, schlechter als das Vieh.75

Ich übergehe vorerst die Briefpassagen im Geiste der Republikaner. Später, wenn über die Herrschaft von Katharina der Großen zu sprechen sein wird, werde ich eine ihrer Instruktionen76 zitieren, demgegenüber die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen) von 1789 geradezu frostig ausfällt. Während seiner Reisen, während seines Aufenthaltes in Holland und Frankreich verfolgte Peter der Große nur ein Ziel: Europa zu verwirren und aus dieser Verwirrung Vorteile zu ziehen. Er führte weiterhin Krieg mit den Schweden. Es herrschte zwar Frieden mit dem englischen König Georg I., mit dem preußischen und mit dem französischen König, gleichzeitig aber verfolgte er aufmerksam die Intrigen von Georg Heinich von Görtz und Giulio Albertoni77 und war bereit, auf die Früchte langjähriger Kämpfe mit den Schweden zu verzichten, um das politische Gebäude Europas zu zerstören. Bekannt ist die Geschichte der Verschwörung von Cellamare (Conspiration de Cellamare). Der spanische Minister Giulio Albertoni verfolgte den Plan, den französischen Regenten zu stürzen, um die Herrschaft an den spanischen König zu übergeben. Der schwedische Minister Goertz schloß sich diesen Plänen an und stellte die Hilfe von Karl XII. in Aussicht. Peter der Große, ein erklärter Feind Karls XII., erklärte sich bereit, mit ihm Frieden zu schließen, gewährt ihm Hilfe in Geld und Soldaten, um den englischen König Georg I., 75 76

77

Zitatparaphrase aus dem Brief Peters des Großen an August II. – Litterae Officiosae pariter ac Commonitoriae a Sacra Czaarea Maiestate ad Reipublicae Polonae Proceres […], [Sine loco] 1704. [Quelle: SUB Göttingen. Signatur: 8 H POLON 2/7:4 (6)]. Nakaz Ekateriny II Kommissi o sostavlenii proekta novogo Uloženija. 1767 (Weisung Katharina der Zweiten an die Kommission über die Ausarbeitung des Entwurfs eines neuen Gesetzbuches. 1776). Vgl. Friedrich Andreae: Beiträge zur Geschichte Katharinas II. Die Instruktion vom Jahre 1767 für die Kommission zur Abfassung eines neuen Gesetzbuches . Berlin 1912. Text siehe unter: [www.historydoc.edu.ru]. Georg Heinrich von Goertz (1668–1719), holsteinischer Minister des Schwedenkönigs Karl XII; Guilio Albertoni (1664–1752), italienischer Kardinal und spanischer Staatsminister unter Philipp V. von Spanien.

7. Vorlesung (18. Januar 1842)

671

seinen Verbündeten, vom Thron zu stürzen, einen weiteren verbündeten Regenten, den polnischen König August II., mit dem er gerade einen Friedensvertrag abschloß, zu vertreiben, und insgesamt ganz Europa zu erschüttern. Es gibt verschiedene Vermutungen über Ziele und Absichten Peters des Großen. Voltaire, der mit seinem Spürsinn für Egoismus die Politik des Zaren vortrefflich einschätzte, war der Meinung, daß Peter der Große einfach Verwirrung stiftete, um daraus Vorteile zu ziehen. In der Tat wollte er sich um jeden Preis in europäische Angelegenheiten einmischen. Daher brachte er Opfer, um in den Deutschen Reichstag als Fürst des römischen Reichs einzuziehen. Er bemühte sich werbend um kleine Fürstentümer, um dort Stimmtrecht zu besitzen und somit berechtigt zu sein, dorthin seinen Botschafter zu entsenden. Diese Intrige, geschmiedet in Holland, zerplatzte. Goertz wurde, wie bekannt, geköpft, Albertini in Verbannung geschickt, und Peter der Große schloß später mit Schweden Frieden.]78 Diese drei Monarchen: Peter der Große, August II. und Karl XII. nebst den drei Ministern, Görtz, Alberoni und Guillaume Dubois79, stellen das 18. Jahrhundert mit allen seinen Neigungen und Bestrebungen dar. August II. nahm Ludwig XIV. zum Muster, liebte Pracht und Üppigkeit, achtete schöne Künste als Gegenstand der Ausstellung oder Quelle des Vergnügens, war zuvorkommend, beehrte Schriftsteller und Künstler mit seiner Huld, und wollte, wie man sich damals ausdrückte, Polen polieren, er wollte für dieses Land ein Orpheus, König Sesostris I.80 oder Theseus werden. Er hielt an seinem Hof ein vortreffliches Orchester, er führte in die Residenz eine italienische Oper ein, die beste damals in Europa, lud selbst den Adel zu Gastmälern, um das Parterre zu füllen, denn sonst kam niemand, das Stück zu hören; auch beschäftigte er sich eifrig mit dem Plan, einen Kodex zu verfassen. Denn Gesetzgebung war die Monomanie der Zeit, alle Monarchen mußten Gesetze schreiben, und ausländische Schriftsteller deuten es Peter dem Großen übel, 78

Die in eckige Klammern gesetzten Textpassagen und das Zitat, die in der Übersetzung von Gustav Siegfried fehlen, wurden nach der Edition von F.  Wrotnowski (Literatura słowiańska. Rok drugi, 1841–1842. Poznań 1865, S. 70–72) nachübersetzt. Die Stelle lautet in der Übersetzung von G. Siegfried: „Merkwürdig sind in dieser Hinsicht die Briefe Peters an August, in einem ganz neuen Stil verfaßt, worin der Zar über die Pflicht der christlichen Monarchen, den europäischen Frieden zu erhalten, die menschliche Gesellschaft vor ihrem Falle zu bewahren, über das Fundamentalgesetz der Natur und über die von Gott stammende Gewalt sich ausläßt.“ (A. Mickiewicz: Vorlesungen über slawische Literatur und Zustände. Zweiter Teil. Leipzig und Paris 1843, S. 82). 79 Guillaume Dubois (1656–1723), französischer Kardinal und Minister unter Philippe II. de Bourbon. 80 Sesostris I. altägyptischer Pharao. Als Mächtiger Herrscher auch als Liebhaber der Literatur und Kunst bekannt.

672

Teil II

daß er kein Gesetzbuch verfaßt hat. August II. repräsentierte auch sein Jahrhundert von der am meisten materiellen, tierischen Seite; eine leidenschaftliche Begierde nach sinnlichem Genuß beseelte ihn. Karl XII. griff tiefer in das Altertum hinein, er wollte Cäsar und Alexander den Großen nachahmen, neigte sich dem Heidentum zu, obgleich er manche religiöse Gefühle oder vielmehr religiösen Aberglauben zeigte. Peter der Große, bei weitem höher als diese beiden und kälter als DschingisChan, hatte nur einen einzigen Gedanken, eine einzige Begierde: er wollte herrschen; er repräsentierte den Stolz des Zeitalters, war der Vorläufer des Nationalkonvents. Zum Beweis, daß ich die hehren Pläne Peters des Großen nicht überzogen darstelle, führe ich einige Ausschnitte aus seinem Testament an. Die Echtheit dieses Dokuments kann ich allerdings nicht beweisen. Ausländer, die das Vertrauen des Zaren genossen, publizierten Fragmente dieses Testaments, das sich angeblich in den Staatsarchiven befinden soll. Der französische Schriftsteller Joseph Esneaux sammelte in seiner Geschichte Rußlands alle bisher gesondert veröffentlichten Teile des Testaments und fügte sie zu einer Einheit zusammen. Hier nun einige Grundsätze der Politik, die Peter der Große seinen Nachfolgern anempfiehlt: Es darf nichts vernachlässigt werden, um dem russischen Volk europäische Formen und Gebräuche zu geben. Man muß den Staat im Zustande eines immerwährenden Kriegs erhalten, sich durch alle möglichen Mittel ausbreiten, gegen Norden jenseits der Ostsee, gegen Süden dem Ufer des Schwarzen Meeres entlang. Die Mißgunst Groß Britanniens, Dänemarks und Brandenburgs gegenüber Schweden aufrechterhalten, welches wir letztlich unterwerfen werden. Unter dem Verwand des Austreibens der Türken aus Europa stets eine Armee in Bereitschaft halten, am Schwarzen Meer Festungen bauen, und immer weiter vorschreitend, soll man bis nach Konstantinopel gehen. Es muß die Anarchie in Polen angefacht und diese Republik endlich in Besitz genommen werden. Mit England muß man kraft der Bündnisse in gutem Vernehmen bleiben; dasselbe wird seinerseits zum Gedeihen und zur Vervollkommnung des russischen Seewesens beitragen; mit diesem sollen alle europäischen Meere erobert werden, denn davon hängt der Erfolg des ganzen Planes ab. Man soll die Wahrheit wohl beherzigen, daß der Besitzer des indischen Handels Herr von Europa ist. Sich nach Möglichkeit mit Gewalt oder List in die Händel aller europäischen Länder, besonders Deutschlands, mischen. Auf die Griechen und Slaven in der Türkei, Österreich, Polen und Preußen ist der Einfluß der Religion zu gebrauchen.

7. Vorlesung (18. Januar 1842)

673

Endlich den Krieg unter den europäischen Mächten entzünden, die einen gegen die andern der Reihe nach unterstützen und die Schwäche aller benutzend, sie alle unterjochen.81

Wie es auch mit der Authentizität dieser Urkunde beschaffen sein mag, so ist doch gewiß, daß das russische Kabinett getreu die darin vorgezeichnete Bahn befolgt. Das von Peter dem Großen festgestellte System verdient auch noch in dieser Rücksicht eine aufmerksame Beachtung, daß, was er vollkommen ausgeführt, anderswo nur mit wenig Erfolg versucht wurde, und daß es sich zu unserer Zeit, die voll von Reformbestrebungen ist, nicht selten unter der Gestalt mannigfaltiger neuer Theorien zeigt. Der Nationalkonvent verfolgte schon die Bahn Peter des Großen. Die russische Reform und die französische Revolution sind zwei gegenseitig sich erklärende Ereignisse, oder vielmehr beide nur ein und dasselbe Ereignis, ein Werk des 18. Jahrhunderts, welches Gesetzgeber ward und das Schreckenssystem angewandt hat. Beide Unternehmungen gingen von dem Grundsatz aus, der Mensch sei der Richter der Menschheit, er brauche außer seiner eignen Vernunft sonst keine anderen Überlieferungen zu Rate zu ziehen, seine individuelle Vernunft zum Maßstabe nehmend, könne 81

Der Text lautet bei Joseph Esneaux, L.E. Chennechot: Histoire philosophique de Russe, depuis les temps les plus reculés jusqu’a nos jours. Bd. I–IV. Paris 1828–1832; hier Bd. IV, S. 163–165: „Ne rien négliger pour donner à la nation russe des formes et des usages européens. Maintenir l’État dans un système de guerre continuelle. S’étendre, par tous les moyens possibles, vers le nord, le long de la Baltique; vers le sud, le long de la mer Noire. Entretenir la jalousie de l’Angleterre, du Danemark et du Brandebourg contre la Suède, qu’on finira par subjuguer. Intéresser la maison d’Autriche à chasser les Turks de l’Europe, et, sous ce prétexte, entretenir une armée permanente; établir des chantiers sur les bords de la mer Noire, et, en avançant toujours, s’étendre jusqu’à Constantinople. Alimenter l’anarchie de la Pologne, et finir par subjuguer cette république. Entretenir, au moyen d’un traité de commerce, une alliance étroite avec l’Angleterre, qui, de son côté, favorisera tous les moyens d’agrandissement et de perfectionnement de la marine russe, à l’aide de laquelle on obtiendra la domination sur la Baltique et sur la mer Noire, point capital dont dépend la réussite du plan. Se pénétrer de cette vérité, que le commerce des Indes est le commerce du monde, et que celui qui en peut disposer exclusivement est le souverain de l’Europe. Se mêler à tout prix, soit par force, soit par ruse, des querelles de l’Europe, et surtout de l’Allemagne. Se servir de l’ascendant de la religion sur les Grecs désunis ou schismatiques, répandus dans la Hongrie, dans la Turquie et dans les parties méridionales de la Pologne. Enfin, mettre en lutte l’une contre l’autre les cours de France et d’Autriche, ainsi que leurs alliés, et profiter de leur affaiblissement réciproque pour tout envahir.“ Für die Korrektur des Textes danke ich Frau Dr. Sofina Dembruk (Romanisches Seminar der Georg-August-Universität Göttingen).

674

Teil II

er den historischen Gang allen Völkern zumessen und nach seinem Gutachten beurteilen, was das Glück oder Unglück anderer sei. Dieser bis zum höchsten Grad erhobene individuelle Stolz, diese Vermessenheit erzeugt eine gewaltige Energie, die nichts achtet, welche die Vergangenheit mit Füßen tritt und alles umstößt; daher rührt sein instinktmäßiger Haß gegen alles, was religiös, was moralisch, kurz gegen alles, was aus dem Leben der gestimmten Menschheit entsprossen ist. Schon vor Peter dem Großen folgten die Großfürsten von Moskau diesem Antrieb; sie richteten Novgorod, Pskov und andere Städte zu Schanden, ebenso wie der Nationalkonvent Lyon und Toulon zerstören wollte. Peter der Große opferte den eigenen Sohn seinen Lieblingsabsichten, und auch so manches Mitglied des Nationalkonvents opferte seinen Vater, sein Kind oder seinen Bruder. Alles seinen Ideen zum Opfer bringen, war das System des 18. Jahrhunderts. Das moskovitische Großfürstentum und später das russische Zarentum sind als fortwährender Konvent zu betrachten. Die französischen Anhänger Nationalkonvents entsetzen sich bei diesem Vergleich; sie sagen, daß der Nationalkonvent für die Freiheit und Rußland für den Despotismus wirkte; die Russen fühlen sich hierdurch auch beleidigt und behaupten, Peter der Große habe alles organisiert, während der Konvent alles zerstörte. Das Erste anbelangend, so ist es wohl bekannt, daß der Despotismus des Nationalkonvents und Peter I. sich nichts nachgaben; was aber das Zweite betrifft, so ist freilich Peter der Große, wenn auch schon der Nationalkonvent vieles organisiert haben mag, in der Tat ein bei weitem größerer Organisator, – er hat eine ungeheuere Vernichtungsmaschine aufgebaut. Diesen zwei Gewalthabern standen verschiedene Hindernisse im Wege. Der Nationalkonvent konnte seine Absichten nicht vollstrecken, bevor er nicht alle Elemente der alten Ordnung der Dinge im Lande selbst in Staub verwandelte; Peter der Große war dagegen ein unumschränkter Gebieter seines Zarenreichs, war dessen Herr, wie der Schöpfer Herr seiner Schöpfung ist. Während jener an die Ausrottung der Kasten in der eignen Nation ging, kündigte dieser seinen Nachbarvölkern den Krieg an: die russische Politik sah so auf die angrenzenden slavischen Völker herab, wie der Nationalkonvent auf die Geistlichkeit und den französischen Adel. Des Einen und des Anderen Wohlergehen begünstigte die Untauglichkeit und Zügellosigkeit der angefallenen Parteien. Die Verderbnis der alten französischen Gesellschaft, die Ohnmacht ihrer Formen, deren Geist schon längst verwittert war, bot dem, wenn auch verderblichen, aber durch die Macht des Bösen belebten Streben einen leichten Sieg. Der Nationalkonvent scheiterte dennoch an der Vergangenheit Frankreichs: das bis ans Herz des Volkes zurückgedrängte Leben nahm die Oberhand und verbreitete

7. Vorlesung (18. Januar 1842)

675

sich von Neuem. Ebenso befanden sich die an Rußland grenzenden Länder ohne allen Schutz gegen dessen Tätigkeit, weil sie ihre Lebensprinzipien zu entwickeln vernachlässigt hatten; ihr Leben mußte daher ebenfalls bis zum Herzen des Volkes zurückgedrängt werden. Schon die Person Peter des Großen regt sowohl in physischer als in moralischer Beziehung zu Betrachtungen an, die zu merkwürdigen Fragen Anlaß geben. Offenbar stammte dieser Mann aus Großrußland. Er war von hohem Wuchs, starkem Körperbau, wohlgebildetem, aber zugleich düsterem Gesicht; besonders hatte er in seinen grauen mit Blut unterlaufenen Augen etwas Schauriges; und sein Blick deutete auf einen vertatarten Moskoviter. Sein Angesicht und seine ganze Gestalt, fortwährend in Unruhe, schienen durch irgendeine Nervenbewegung hin und her gezuckt zu sein. Selbst sitzend konnte er auf dem Platz nicht ausdauern, er schaukelte sich auf eine den Anwesenden widrige Weise. Ähnliche Ungeduld beobachtete man auch bei vielen Konventsmitgliedern, vornehmlich bei denen der Bergpartei, den Montagnards, die das Blutbad der Revolution unversehrt überlebten. Sie unterschieden sich von ihren Genossen durch jenes Zucken der Muskeln im Angesicht und durch die unaufhörliche Beweglichkeit, welche sich bei reißenden Tieren im Käfig bemerken läßt. Jetzt könnte man die Philosophen fragen, wie sie die angeborene Wissenschaft Peters des Großen, die Tiefe der Ansichten und Kombinationen in seinem ganzen Wirken erklären würden. Ein Mann, der in einem Barbarenland geboren, eine sehr vernachlässigte Erziehung genossen, die beinahe mit Fleiß in ihm den Keim aller höheren Begriffe und moralischer Fähigkeiten erstickte, dieser Mann hinterging dennoch immer die geschicktesten Diplomaten und schuf eine Land- und Seemacht. Voltaire82 sagte mit Recht, denjenigen würde man für einen Phantasten angesehen haben, welcher das in Peters Kindheit vorhergesagt hätte, was dieser Monarch später in der Zeit seines Herrschens ausgeführt. Woraus schöpfte er so viele Kenntnisse, wo so viele geniale Entwürfe? Dieses Rätsel wird uns die slavische Philosophie vielleicht lösen, vielleicht werden wir in ihr merkwürdige und unverhoffte Erklärungen vieler wunderbaren Erscheinungen finden. Es gibt Völker, welche angeborene Anlagen besitzen, zu denen andere mit großer Mühe kaum gelangen. Der Mongole ist schon von Natur so diszipliniert, wie ein geübter Soldat Friedrichs des Großen oder einer römischen Legion; die Herrscher der Tataren kamen schon zur Welt als 82

Paraphrasierung des Zitats – vgl. Voltaire: Histoire d l’empire de Russie sous Pierre-le. Grand. Paris 1834, Bd. I, S. 5.

676

Teil II

tüchtige Heerführer. Und indem Dschingis-Chan in seinem Zelt, seinen China und Ungarn gleichzeitig verheerenden Horden Befehle gab, umfasste er eine riesenhafte strategische Kombination, welche die größten Kriegszüge des Altertums und Napoleons weit übertraf. Dabei war dieser Mensch, der solche Kriegsoperationen plante und durchführte, nicht in der Lage, Karten zu lesen, und konnte weder schreiben noch lesen.

8. Vorlesung (21. Januar 1842) Vernichtender Einfluß Peters des Großen auf Literatur und Kunst in Rußland – Der Geist des 18. Jahrhunderts hat die Bestimmung, die Selbsttätigkeit der Slaven zu wecken – Der Marschall Kinský in Tschechien – Konarski und das Piaristenkollegium – Neue Literatur in Rußland: Lomonosov und sein Kontrahent Trediakovskij.

Aus dem, was bisher gesagt worden, kann man sich leicht die Ursache für das Schweigen in der Literatur und in der Kunst unter der Regierung Peter des Großen erklären. Die russischen Geschichtsschreiber und andere Schriftsteller wiederholen bei der Schilderung dieser Zeiten gewöhnlich die nämlichen Äußerungen und Worte: Peter der Große war so sehr mit Krieg und Traktaten beschäftigt, daß er keine Muße finden konnte, an Literatur und Kunst zu denken; er führte ein Staatsgebäude auf und ließ seinen Nachkommen das Werk der Verzierung desselben zurück; er schuf eine Kraft, die später Früchte bringen sollte; er befaßte sich mit Dingen, nicht mit Worten.83 Dieser letzte Ausdruck, der in allen Vorträgen russischer Literatur kurzweg wiederholt wird, gehört Greč. Man könnte ihn Lügen strafen, denn die Literatur hat nicht in Worten allein ihren Gegenstand. Im Übrigen sind die Bemerkungen russischer Geschichtsschreiber, obschon oberflächlich, doch sehr treffend. Die Literatur konnte in den Wirkungskreis Peters I. nicht kommen: um sie zu beleben ist es nötig, im Volk den moralischen Funken anzuzünden, das Gefühl der unabhängigen, selbstständigen Kraft zu wecken; Peter aber bemühte sich bei der endlichen Ausführung des von seinen Vorfahren geerbten Systems, alle Spur von Unabhängigkeit zu verwischen und das moralische Leben vollends zu ertöten. Zwar gab er seinem Volk Macht, Reichtum und gutes materielles Dasein, aber zum Tausch wollte er ihm durchaus seinen Geist nehmen, gleich Satan, der nach der Volksmeinung dem Menschen unter der Bedingung, daß er ihm seine Seele verschreibe, alles verspricht. Rußland ist in der Tat ein vom Peter besessener Leib geworden. Vielleicht ist es nicht so allgemein bekannt, aber wenigstens aus der slavischen Geschichte läßt sich diese Beobachtung deutlich herauslesen, daß, wenn irgendein Volk dieses Stammes erstarrte und die Tätigkeit seines Geistes verlor, 83

Vgl. N.I. Greč: Opyt istorii russkoj literatury, op. cit., S. 99: „ПЕТРЪ ВЕЛИКИЙ, вводя въ Россію Европейскіе обычаи, Науки и Искуства, смотрѣлъ на вещи, и не обращалъ еще вниманія на слова.“ (Als Peter der Große in Rußland europäische Sitten, Wissenschaften und Künste einzuführen begann, schaute er auf Dinge und beachtete noch nicht die Worte).

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_050

678

Teil II

dieses immer ein fremder Geist besuchte, der in ihm die Tätigkeit weckte, und es oft auf einem falschen Wege weit dahin trug, bis es auf diese Weise erwacht, sich im Irrtum begriffen sah, und zu der Wahrheit zurückzukehren anfing. Der Geist des 18. Jahrhunderts hatte die Bestimmung, eben diesen Einfluß auf die slavichen Völker auszuüben. Er reizte sie auf durch allerlei Versprechungen von Neuerungen, Zivilisation, Reichtum und Freiheit, und vermochte endlich in diesen das Leben zu wecken. Die Geschichte dieses Überganges ist die Geschichte einer schmerzlichen Krankheit, nach deren Krisis sich nach und nach Symptome von Volksliteratur wahrnehmen lassen. Die Tschechen fielen zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges in Ohnmacht; Polen empfand seine erste Unbehaglichkeit unter Jan Kazimierz, zuerst im Bereiche seiner Politik und bald darauf im Kreise seiner Literatur; Rußland unter Peter dem Großen war noch fern von dergleichen Empfindungen. Dem oberflächlichen Anblick nach zu urteilen, schien die slavische Volkstümlichkeit der Tschechen auf immer verwischt zu sein. Lange und beharrlich versuchte man alle geschichtlichen und schriftlichen Spuren zu vernichten. Am Ende des 18. Jahrhunderts prahlte ein fanatischer Jesuit, Koniáš, ein wie auch immer angesehener Mann, daß er eigenhändig etwa 60 000 slavische Bücher verbrannte.84 Nach der Vernichtung aller Bücher und Literaturdenkmäler verwarfen die zivilisierten Klassen ihre Sprache und fingen an, deutsch zu sprechen und zu leben. Aus Haß auf die Hussiten, die die katholische Kirche bedrängten und auf Adelsprivilegien insistierten, wurde die tschechische Aristokratie verdeutscht, übernahm die Sprache, die Sitten und die deutsche Denkweise, und behielt zum Schluß lediglich die Familiennamen als Zeichen slavischer Abstammung. Der Bürgerstand folgte dem Vorbild des Adels, ging aber noch einen Schritt weiter, denn aus Haß auf alles, was slavisch sei, wollten die Bürger nicht mehr die alten Namen tragen: die Städte wurden deutsch. Das Landvolk allein, vom Adel abgeschnitten und von den Städten verachtet, bewahrte die Muttersprache und die Überlieferungen; es verblieb in seiner Einfachheit unbefleckt, moralisch, arbeitsam und treu den Sitten und dem 84 Antonín Koniáš (1691–1760); vgl. A.  Koniáš: Clavis Haeresim claudens & aperiens: Kljč Kacýřské Bludy K rozeznánj otwjragicý, K wykořeněnj zamjkagicý. Aneb Registřjk Některých bludných, pohorssliwých, podezřelých, neb zapowěděných Kněh. Na swětlo wydaný S Dowolenjm Duchownj Wrchnosti. Hradec Královè 1729, 2. Auflage 1749 [http:// kramerius.mzk.cz]; Index Bohemicorum Librorum Prohibitorum, Et Corrigendorum: Ordine Alphabeti Digestus, Reverendissimi, Celsissimi, S. R. I. Principis Domini Domini Antonii Petri Dei Gratia, Et Sedis Apostolicæ Archi-Episcopi Pragensis Jussu Collectus, Atque Editus. Pragae [ca. 1775]. Exemplar der SUB Göttingen; [Signatur DD2001 A 261]; vgl. Jiří Bílý: Jezuita Antonín Kaniáš. Osobnost a doba. Praha 1996; Jan Fiala: Temno, doba Koniášova. Benešov 2001. Die Zahl der verbrannten Bücher ist nicht genau verifizierbar.

8. Vorlesung (21. Januar 1842)

679

Boden der Vorfahren. Es ist das gesittetste und am meisten künstlerische Volk unter allen slavischen Stämmen. Diejenigen, welche die Geschichte rationell auslegen, haben Grund, die Tschechen nicht zu der Reihe der Nationen zu rechnen; aber auch diese, die nicht aufhören zu glauben, daß das moralische Prinzip seine Wirksamkeit in der praktischen Politik wiedergewinnen wird, können große Hoffnungen auf diese gesunde Volksmasse setzen, welche so viele Jahrhunderte inmitten des Verderbens fortdauert. Um dieser eine literarische Bewegung zu geben, um auf sie durch die Presse einzuwirken, war ein mächtiger Mann nötig, welcher einerseits weder die Regierung noch eine geistliche Inquisition befürchtete, und andererseits eine innige Zuneigung zu seinem Volk hegte. So einen Mann fanden die Tschechen in der Person des Marschalls Kinský85, welcher zu Ende des 18. Jahrhunderts seine anfangs nur schüchterne Stimme zum Schutz der Überreste volkstümlicher Sprache und Literatur erhob. Die Schwäche Polens offenbarte sich auch zuerst auf der Höhe der Gesellschaft. Die Standesmänner, die Gelehrten, Politiker und die großen Herren verließen zuerst den Nationalgrund und begannen die schmerzliche Geschichte fruchtloser Bestrebungen. Man riß sich von der vaterländischen Überlieferung los und hatte nichts, um dem Übel abzuhelfen; man hielt die Regierungsmaschine still und unbeweglich. Ein halbes Jahrhundert hindurch ist die Republik in Unordnung, alle Reichstage (Sejme) werden kraft des Veto gesprengt, schon gibt es weder Gesetze noch Verwaltungsvorschriften, die der Notwendigkeit entsprächen. Alle beschuldigen sich gegenseitig, suchen gleichviel durch welche Mittel sich aus diesem Zustand herauszuwinken, und da keines gelingt, unternehmen sie lieber gar nichts mehr. Endlich nach der tatlosen Regierung Augusts III. warfen sich die ermüdeten Geister blindlings in die Reformen. Die Geschichte dieser reformatorischen Schwärmerei ist heute den Polen selbst wenig bekannt. Es wurden jedoch viele Städtchen und Gemeinden zum Gegenstand einer musterhaften Anordnung der ganzen Republik genommen. Man versuchte in diesen die Systeme von Tommaso Campanella, Jean Jacques Rousseau und Anne Robert Jacques de l’Aulne Turgot auszuführen.86

85 František Josef Kinský (1739–1805); vgl. Franz Josef von Kinsky: Erinnerungen an einen wichtigen Gegenstand. Prag 1773; [SUB Göttingen. Signatur: DD98A302(1)]. 86 Tommaso Campanella (1568–1639); vgl. T.  Campanella: Civitas solis (1623); dt. Übersetzung – Der Sonnenstaat. Stuttgart 2008; Jean Jacques Rousseau (1712–1778); vgl. J.J.  Rousseau: Du contrat social ou principes du droit politique. Amsterdam 1762; vgl. den Sammelnad – Der lange Schatten des contrat social: Demokratie und Volkssouveränität bei Jean-Jacques Rousseau. Hrsg. Oliver Hidalgo. Wiesbaden 2013; Anne Robert Jacques de l’Aulne Turgot (1727–1781); vgl. sein Hauptwerk – Réflexions sur la formation

680

Teil II

Die Literatur wandelte noch auf ihrer scholastischen Bahn; die bei den Jesuiten auferzogene Jugend hatte beim Eintritt in die Welt keine hinlängliche Bildung zum Lesen der Bücher, die aus dem Ausland bezogen wurden. Um Tür und Tor den Zeitgenossen zu öffnen, um dem geistigen Streben eine Richtung zu geben, war es notwendig, einen kräftigen Einfluß auf die Geistlichkeit und die Masse des Adels zu üben. Dazu fand sich in Polen ein Mann, dessen Name eine neue Epoche bezeichnet, und dieser war der Piar Stanisław Konarski. Das Piaristen-Kollegium, welches ebenso wie das der Jesuiten halbweltlich war, hatte mehr Gelegenheit als die Klostergeistlichkeit auf das öffentliche und häusliche Leben des Volkes einzuwirken. Doch die Piaristen schritten noch weiter; dies waren gleichsam säkularisierte Jesuiten, denen es an der Tüchtigkeit gebrach, die jenen der starke Glaube und die Strenge der Sitten verlieh; weniger streng, obgleich nie im Glauben wankend, fingen sie an Bündnisse mit dem 16. Jahrhundert einzugehen, sich diesem äußerlich zu fügen, Dichter nachzuahmen und selbst die Sprache der damaligen Philosophen sich anzueignen. Konarski, der Sohn eines vornehmen Hauses, verwandt mit vielen mächtigen Familien, seit seiner Jugend auf das Feld der öffentlichen Angelegenheiten hingezogen, konnte alle geheimen Springfedern der Landespolitik in der Nähe beobachten. Anfänglich war er an der Seite des Stanisław Leszczyński, mit ihm besuchte er Italien und Frankreich, hielt sich einige Zeit in Paris auf, wo er von Ludwig XV. pensioniert wurde; aber endlich kehrte er in sein Vaterland zurück, entfernte sich völlig von politischen Geschäften und richtete sein ganzes Bemühen auf die inneren Verbesserungen der Republik. In diesem beschloß er die Erziehungsweise der Jugend zu verändern, und gründete in Warschau jene, unter dem Namen Collegium Nobilium87 berühmte Schule, die nur den Söhnen der Reichen und Magnaten zuganglich war. Alte Polen erblickten sogleich die Gefahr eines solchen Instituts; sie sahen in ihm den Keim einer neuen Standesverschiedenheit, eine Einführung neuer Aristokratie nach den Begriffen des Westens, einer Aristokratie des Reichtums, welche selbst bei den Jesuiten unbekannt war, da diese den Adel überhaupt gleich behandelten. Aber Konarski wollte rasch handeln, und darum wandte er sich bloß den mächtigen und den meisten Einfluß im Lande genießenden Familien zu. Seine Schriften „O skutecznym rad sposobie“ (Über die erfolgreiche

87

et la distribution des richesses (1766); deutsche Ausgabe: Anne-Robert-Jacques Turgot: Betrachtungen über die Bildung und Verteilung der Reichtümer. Berlin 1981. Collegium Nobilium – von 1754–1805 Internatsschule der Piaristen; heute Theaterakademie (Akademia teatralna).

8. Vorlesung (21. Januar 1842)

681

Ratgebung)88 und „De emendandis eloquentiae vitiis“ (Über die Berichtigung der Fehler in der Redekunst)89 verliehen ihm allgemein Achtung und Einfluß. Konarski erhob sich in seinen Ansichten nicht über das Jahrhundert; er glaubte, daß es hinreiche, einen Gesetzartikel aufzuschreiben, um die ganze Volksverfassung zu verbessern. Er kannte wohl die ganze ungeheure Gefahr des Veto, er fühlte, daß der sich verderbende Organismus der Republik geheilt und die Regierung gestärkt werden müsse; aber er erkannte nicht, daß die Quelle aller Fehler und Schwächen eines Volkes in seinen Sitten hafte, und daß, wenn man das gesellschaftliche Gebäude befestigen will, man zuerst die Sitten des Landes verbessern und die Veränderung oder das Werk der Institutionen dem Land selbst überlassen müsse; er erhob sich also nur gegen die äußeren Formen und brachte sein ganzes Leben mit Aufspüren neuer Organisationen für die Reichstage, Tribunale und Schulen zu. Seine dem Jahrhundert entsprechenden Ansichten bewirkten großen Eindruck, und seit der Zeit bildete sich eine Partei in Polen, die schon immerwährend das Veto bekämpfte. Das Werk des Konarski „De emendandis eloquentiae vitiis“ ist heute beinahe ganz vergessen, denn mit dem Verschwinden der alten Schreibart der Jesuiten verschwand auch der Gegenstand seiner Polemik; es stützte sich auf eben dieselben Ideen wie die politischen Schriften. In Folge der angenommenen Vorstellungen glaubte er, man könne einen mittelst der Sprachregeln beredt machen, und, ohne auf seinen Geist zu wirken, ihm die Gabe verleihen, andere anzuziehen und zu überzeugen; er glaubte, daß, wenn man nur die Intelligenz bilde, man die schöpferische Kraft hervorbringen könne. Die Rhetorik ist eine heidnische, dem Geist völlig entgegengesetzte Erfindung; Alles in ihr ist falsch, sowohl die Begriffe, aus denen sie entsprossen, als auch ihre Methoden und Einteilungen. Und wenn schon in den westlichen Ländern alte Gewohnheiten und harte Formen der mittelalterlichen Kunst dieser Verirrung widerstanden, so durchwandelte sie in vernichtender Richtung ganz Polen ohne allen Anstoß; rhetorische Verhandlungen dämpften hier zu früh den Enthusiasmus der Dichter und Künstler. In Rußland war es wohl die Geistlichkeit nicht, welche man dazu hätte anhalten können, die Literatur in Bewegung zu setzen, sie war ja von Peter I. 88 Stanisław Konarski (1700–1773); vgl. St. Konarski: O skutecznym rad sposobie albo o utrzymywaniu ordynaryinych seymow. 4 Bde., Warszawa 1761–1763; deutsche Übersetzung – St. Konarski: Von einem nützlichen Mittel zum Bestande der ordentlichen Reichstage in Pohlen. Aus dem Polnischen ins Deutsche übersetzt. Theil 1–2. Warschau 1762 [SUB Göttingen. Signatur: 8 H POLON 62/47]. 89 Stanisław Konarski: De emendandis eloquentiae vitiis. Varsoviae 1741; polnische Übersetzung – Stanisław Konarski: Pisma wybrane. Tom 2. Hrsg. Juliusz Nowak-Dłużewski. Warszawa 1955.

682

Teil II

verachtet, und er hegte gegen sie die Gesinnungen der Schriftsteller des 18. Jahrhunderts. Als Edward Gibbon die Kapuziner im Kapitol die Vesper singen hörte, fühlte er zum ersten Male die Ursache des Verfalls des römischen Reichs, er begriff nun, daß es der in den Mönchen versinnlichte Gedanke war, welcher das römische Kaiserreich, dieses Ideal der nationalen Macht auflöste, und schrieb seine Bücher der gegen das Christentum gerichteten Geschichte.90 In Rußland mußte der Haß wider das Priestertum noch größer sein. Was sollten hier wohl Leute bedeuten, die vom Zaren nicht abstammten, die ohne Rang, ohne Titel, ohne Ehrgeiz, ohne Orden und Belohnungssucht arm und mit ihrer Armut zufrieden lebten. Ohne Zweifel ist der Mönch eine lebendige Idee des Todes für das russische Zarentum; und obwohl die Mönche schon zur Zeit Gibbons und Peters des Großen den römischen Legionen aus der Zeit des Verfalles glichen, Bärte und Klosterkleider nur wie jene Waffen alter Legionen trugen, ohne ihren Geist mehr zu besitzen, so erfüllte ihre Rüstung dennoch das Jahrhundert mit Schauer und war so unausstehlich für die Reformatoren der Menschheit, daß Peter der Große, ungeachtet seiner zahlreichen Kriegsaktivitäten, fortwährend an der Vernichtung der Klosterinstitutionen arbeitete.91 Sein Berater, der Bischof Feofan92, den die russischen Historiker so rühmen, war in seinen Händen das geeignete Werkzeug. Interessant sind Prokopovičs katechetische Schriften. Er verkündet vor allem die einfache und reine Moral, verlangt von der Geistlichkeit, daß sie sich nicht allzu sehr mit großen Fragen der Religion befasse, beruft sich auf die ersten Mönche und wünscht sich, daß die Geistlichkeit diesen Vorbildern folgt; er empfiehlt der Geistlichkeit, Landund Gartenwirtschaft zu betreiben, Kranke zu pflegen und insonderheit die Vertiefung religiöser Geheimnisse zu vermeiden, um nicht der Hybris der Zeit anheimzufallen. Wozu lernen? Wozu lesen? „In diesem kleinen Bändchen“ – sagt er zu den Mönchen – habt ihr alles zur Hand“.93 90

91 92 93

Vgl. Edward Gibbon: The History of the Decline and the Fall of the Roman Empire. London, 1. Bd. 1776, 2.–3. Bd. 1781, 4.–6. Bd. 1788. Deutsche Übersetzung – Edward Gibbon: Verfall und Untergang des römischen Imperiums. Bis zum Ende des Reiches im Westen. Aus dem Englischen übersetzt von Michael Walter und Walter Kumpmann, mit einer Einführung von Wilfried Nippel. 6 Bde., München 2003. Vgl. Michail Ivanovič Gorčakov: Monastyrskij prikaz (1649–1725). Opyt istorikojuridičeskogo issledovanija svjašč. M.  Gorčakova. Sankt-Peterburg 1868 (Reprint 2005); Internetfassung: [www.allpravo.ru]. Feofan Prokopovič (1681–1736); vgl. Joachim Klein: Russische Literatur im 18. Jahrhundert. Köln-Weimar-Wien 2008, Kapitel 5, S. 32–42 (mit weiterführender Literatur). Zitat nicht gefunden. Vgl. Feofan Prokopovič: Slovo i reči poučitel’nye, pchval’nye i pozdravitel’nye sobrannye i nekotorye vtorom tisneniem, a drugie vnov’ napečatannye. č. 1.–4. Sanktpeterburg 1760–1774; Auszug in deutscher Übersetzung: Vorschläge wie ein Printz in der Christlichen Religion soll unterrichtet werden. Verfaßet von Theophanes,

8. Vorlesung (21. Januar 1842)

683

Peter der Große untersagte den Mönchen Chroniken zu schreiben; später, und das ist ein einmaliges Vorgehen dieser Art, verbot er ihnen Feder und Tinte zu verwenden. Es bedurfte einer besonderen Erlaubnis des Archimandriten, wenn man ein Stück Papier und eine Feder besitzen durfte. Trotz aller Erniedrigungen verbreitete die Geistlichkeit dennoch Angst. Man unternahm Schritte zur Bändigung der Geistlichkeit, indem man sie in die russische Hierarchie eingliederte. Den Bischöfen verlieh man den Rang eines Generals, den Archimandriten den eines Generalleutnants usw. Auf diese Art trat die griechische Geistlichkeit in die Liste der Staatsdiener; aber die katholische Geistlichkeit, deren Klöster sich sehr in ihren Regeln, Bestrebungen und Endzwecken unterscheiden und sich nach keiner möglichen Hierarchie ordnen lassen, konnte in das russische System nicht eingefaßt werden und bleibt daher in Rußland immer eine Anomalie. Weil also das ganze geistliche Leben sich in der Hauptstadt und im nicht zahlreichen Offiziergefolge des Zaren einschloß, so konnte nur hier der literarische Antrieb seinen Ursprung haben, wie auch wirklich einer aus diesem Kreise, Michail Lomonosov, der Reformator der Literatur oder vielmehr der Schöpfer der neuen russischen Sprache wurde.94 Lomonosov, der Sohn eines gemeinen Landmanns, aus der Gegend von Archangel’sk, 1711 geboren, war ein Nordrusse und besaß nebst dem, diesem Volk eignen Esprit viel Einbildungskraft und Gefühl, was selten unter seinen Landsleuten vorkommt. Nachdem er das väterliche Haus verlassen, ging er nach Moskau, um da lesen und schreiben zu lernen, ferner studierte er in Petersburg physikalische und mathematische Wissenschaften, und besuchte endlich Deutschland, wo er die Vorlesungen des damals berühmten Philosophen Christian Wolff95 hörte. Die russischen Schriftsteller, welche die Werke Lomonosovs erklären, wiederholen alle die nämlichen Ausdrücke der Bewunderung, sie nennen ihn Peter den Großen96 in der Literatur, den Vater der Sprache, den Volksreformator Ertz-Bischoff von Novogrod. Sine loco [ca. 1728], 16 Seiten [SUB Göttingen; Signatur: 8 H UN III, 1113/a (3)]; daneben war er auch Verfasser einer Rhetorik – Feofan Prokopovič: De Arte Rhetorica Libri X. Kijoviae 1712. Mit einer einleitenden Untersuchung und Kommentar herausgegeben von Renate Lachmann. Köln-Wien 1982. 94 Michail Vasil’evič Lomonosov (1711–1765). Vgl. Helmut Keipert: Geschichte der russischen Literatursprache. In: Handbuch des Russisten. Sprachwissenschaft und angrenzende Disziplinen. Hrsg. Helmut Jachnow. Wiesbaden 1999, S. 726–779. 95 Christian Wolff (1679–1754); vgl. Leopold Auburger: Rußland und Europa. Die Beziehungen M.V. Lomonosovs zu Deutschland. Heidelberg 1985. 96 Äußerung von V.G. Belinskij (1811–1848): „С Ломоносова начинается наша литература; он был ее отцом и пестуном; он был ее Петром Великим.“ (Mit Lomonosov beginnt unsere Literatur; er war ihr Vater und ihr Bildner; er war ihr Peter der Große) – Vissarion

684

Teil II

usw.; keiner aber dringt tiefer in das Wesen der Einzelheiten ein, keiner sucht zu erklären, welcher Einfluß sein Gemüt lenkte. Es scheint, daß der hitzige Kampf neuer Schulen (Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger vs. Johann Christoph Gottsched)97, dem er in Deutschland beigewohnt, auf ihn einen tiefen Eindruck gemacht, und daß er, jenen dort vorgefallenen Veränderungen gemäß, auf den Gedanken geriet, in Rußland Reformen zu versuchen, die in Deutschland Bodmer anstrebte. Von den deutschen Dichtern entlieh er außer dem Versmaß nichts, sondern folgte im Übrigen der französischen Methode; so ahmte er auch den Jean Baptiste Rousseau98 nach. Wolffs trockener Pedantismus bändigte in ihm die Einbildungskraft und verlieh ihm den kalten Ton, der seine Schriften charakterisiert. Lomonosov fand zu Petersburg einen Mitstreiter, der den Rest der alten russischen Schule vertrat und eine ganz entgegengesetzte Richtung wählte. Dieser war Vassilij K. Trediakovskij.99 Die slavische Sprache, innerhalb des Reichs Peter des Großen, faßte drei Mundarten in sich: die moskovitisch-russische oder nördliche, die kleinrussische oder südliche, und die weißrussische oder westliche. Beinahe zehn Millionen Menschen sprachen jede dieser Mundarten. Die südliche, die wohlklingendste und am meisten musikalische, war doch nicht so viel gebildet, um der Schriftstellerei zu dienen; die westliche, die reichste und reinste unter allen, meist Hof- und Kanzleisprache der Großfürsten von Litauen, erfreute sich schon einer vorzüglichen Bildung; die nördliche, wenn man nur davon die verdorbene Sprache einiger finnisch-moskovitischen Provinzen ausschließt, besaß auch einen großen Schatz von Urelementen, aber es gebrach ihr an der

Belinskij: Literaturnye mečtanija. (Ėlegija v proze) [1834]. In: V. Belinskij: Polnoe sobranie sočinenij v 13 tomach. Tom I: Stat’i i recenzii. Chudožestvennye proizvedenija 1829–1835. Moskva 1953, S. 41; deutsche Übersetzung – W.G. Belinski: Ausgewählte philosophische Schrifte. Moskau 1950, S. 31. 97 Johann Jakob Bodmer (1698–1783); vgl. J.J.  Bodmer: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie (1740). Stuttgart 1966; vgl. den Sammelband – Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Hrsg. Anett Lütteken und Barbara Mahlmann-Bauer. Göttingen 2009; Johann Jakob Breitinger (1701–1776); vgl. J.J. Breitinger: Critische Dichtkunst (1740). 2 Bde., Stuttgart 1966; Johann Christoph Gottsched (1700– 1766); vgl. J.Ch. Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst für die Deutschen. Leipzig 1729; Ausführliche Redekunst. Leipzig 1736. 98 Jean Baptiste Rousseau (1670–1741); vgl. dazu Jurij Tynjanov: Ode als oratorisches Genre. In: Texte der russischen Formalisten . Band II: Texte zur Theorie des Verses und der poetischen Sprache. Hrsg. Wolf-Dieter Stempel. München 1972, S. 289. 99 Vasilij Kirillovič Trediakovskij (1703–1768); vgl. Joachim Klein: Russische Literatur im 18. Jahrhundert. Köln-Weimar-Wien 2008, Kapitel 8, S. 64–75.

8. Vorlesung (21. Januar 1842)

685

erhabenen Einfalt der lithauisch-russischen Mundart und an dem Wohlklang, der die Südsprache auszeichnet. Alle diese drei Dialekte vermischten sich in Petersburg mit dem Überrest des Altkirchenslavischen. Man wußte nicht, welcher von allen diesen zur Amtssprache zu wählen sei. Lomonosov, ein Großrusse, aus den Gegenden des Weißen Meeres, gab seiner heimatlichen Mundart den Vorrang, er verfaßte darin einige Strophen einer Ode, als er noch in Deutschland verweilte.100 Dieses Gedicht, gerade zur Zeit geschrieben, als eben Konarski an der Verbesserung der polnischen Beredsamkeit arbeitete, war für Petersburg eine unerhörte Neuigkeit, eine außerordentliche Erscheinung, die eine allgemeine Bewunderung erweckte. Trediakovskij, der Widersacher Lomonosovs, wollte den Fortschritt der großrussischen Mundart hemmen und die neue Literatur in die engen Grenzen des Altkirchenslavischen einleiten, ihn durch den südlichen Dialekt verstärken. Mit so einer Sprache schrieb er seine Tragödien, die heute aus der Hinsicht merkwürdig sind, daß sie ein treues Bild davon geben, was die Ortsquelle an Begeisterung liefern und wohin die Literatur in Rußland auf diesem Geleis kommen konnte. [Ich lese ihnen eine Szene aus der Tragödie „Deidamija“101 von Trediakovskijs. Die Szene ist in mehrfacher Hinsicht interessant. Sie werden nunmehr

100 „Oda na vzjatie Chotina“ (Ode auf die Einnahme von Chotin) – (1739), die er zusammen mit der Abhandlung „Pis’mo o pravilach rossijskogo stichotvorstva (Brief über die Regeln der russischen Versifikation) an die Russische Akademie der Wissenschaften von Deutschland aus schickte; sie ist der „Ode auf den Frieden von Passarowitz“ von 1718 von Johann Christian Günther (1695–1723) nachgebildet; vgl. Reinhard Lauer: Geschichte der russischen Literatur. Von 1700 bis zur Gegenwart. München 2000, S. 67; ferner – Il’ja Z.  Serman: Lomonosovs Oden und die Poetik des Schuldramas. In: Slavische Barockliteratur II. Gedenkschrift für Dmitrij Tschižewskij (1894–1977). Hrsg. Renate Lachmann. München 1983, S.129–141; N.Ju. Alekseeva: Russkaja oda. Razvitie odičeskoj formy v XVII– XVIII vekach. Sanktpeterburg 2005. 101 V.K. Trediakovskij: Deidamija (1750), in: Sočinenija Tred’jakovskogo. Tom I. Sanktpeterburg 1849, S. 579–721. Im Vorwort erklärt Trediakovskij die antike Fabel: Als Thetis, die Mutter von Achilles, durch das Orakel erfährt, daß ihr Sohn in Troja streben wird, verkleidet sie den neujährigen Achilles als Mädchen und schickt ihn auf die Insel Skyros zu König Lykomedes, damit er seinem Schicksal entkommen kann. Dort heißt er Pyrrha (die Rothaarige) und lernt Deidameia, die Tochter des Königs, kennen; beide verlieben sich. Als später Odysseus eintrifft und den Jungfrauen des Königs Geschenke präsentiert, wählt Pyrrha ein Schwert; er wird als Achilles enttarnt und muß in den Krieg ziehen. Daraus entwickelt sich der tragische Konflikt der Beziehung zu Deidameia. Über verschiedene Versionen dieser Erzählungen vgl. Anneliese Kossatz-Deißmann: Achilles. In: Lexikon iconographicum Mythologiae Classicae (LIMC). Band I. Zürich-München 1981, S. 37–200.

686

Teil II

verstehen, warum ich mich über die russische Hierarchie so ausführlich ausgelassen habe. ДЕИДАМІЯ Дѣйствие третіе. Явление 4. Ликодем, Деидамія, Ахиллесъ, Навплія, Вулевполемъ, и прочіе всѣ девицы, такъ же и царская стража. DEIDAMEIA Dritter Akt. Vierte Szene. Lykomedes, Deidameia, Achilles, Nauplia, Vulevpolem, die anderen Jungfrauen und die königliche Wache.

Lykomedes betritt als Erster die Bühnenmitte, erst dann schließt sich sein Gefolge an; das ist Hofetikette. Lykomedes spricht zu seinem ersten Minister und Anführer des Heeres Vulevpolem: Посолъ ужъ во дворѣ. Но ты Вулевполемъ, Какъ здѣсь стоять при мнѣ, назначъ теперь имъ всемъ.102 Der Gesandte ist bereits im Palast eingetroffen. / Sage nun allen, wie sie sich um mich postieren sollen.

Und er fügte noch hinzu, er möge allen sagen, was sie tun sollen, um würdig zu erscheinen. Lykomedes stellt sich mit dem Zepter in der Hand vor den Königsthron. Vulevpolem positioniert alsdann das ganze Gefolge des Königs nach Maßgabe der russischen Hofetikette: ВУЛЕВПОЛЕМЪ Благопристойно къ вамъ Царевнѣ стать поближе; Долгъ Пиррѣ быть при ней, однакъ довольно ниже. А Навплія по томъ ужъ мѣсто взять должна; По сей порядкомъ всѣ, честь коей какъ дана. Симъ образомъ весь бокъ дѣвицами скрасится; Но стража поперегъ и одаль да вмѣстится. Der Königin gebührt die Ehre, in ihrer Nähe zu stehen; Neben ihr steht Pyrrha, aber eine Stufe tiefer. Und hinter ihnen sollte Nauplia Platz nehmen; Hinter Nauplia alle anderen ihrem Stand gemäß. Auf diese Weise wird eine Seite mit Jungfrauen geschmückt; Und die Wache wird ganz hinter quer gestellt. 102 V.K. Trediakovskij: Deidamija, op. cit., S 644.

8. Vorlesung (21. Januar 1842)

687

Die ganze Platzanweisung wird im schwülstigen Stil der Tragödie vorgenommen. Nun nahmen alle ihren vorbestimmten Platz ein, und Vulevpolem fährt in seiner Rede fort: При семъ концѣ стола, который вкось отъ васъ, По должности моей я стану самъ тотчасъ. Предшествуяжъ Послу, и къ кресламъ самъ пришедши, А вскорѣ отъ него назадъ сюда отшедши, Вдоль станетъ отъ меня Хиронъ здѣсь при столѣ; Но сторону сію занять всѣ по Послѣ Пришедшіи за нимъ возмогутъ всякъ по чину; И такъ соединить стражей съ собою дружину. Державный Царь, указъ былъ вашъ чтобъ учредить; Но лучше я не могъ никакъ распорядить.103 Am anderen Tischende, das ihnen gegenüber liegt, / werde ich meinem Rang gemäß Platz einnehmen, / indem ich dem Gesandten entgegen komme und ihn zu den Stühlen führe. / und gleich hinter ihm, etwas von mir nach hinten gerückt, nimmt Chiron am Tisch Platz; / auf dieser Seite können alle Gefolgsmänner hinter dem Gesandten ihrem Rang gemäß Platz nehmen; / und so wird die Wache mit dem Gefolge vereint. / Mächtiger König, du hast befohlen, alles zu erledigen; / besser als ich es getan habe, konnte ich es nicht verrichten.]104

Fast die Hälfte der Tragödie besteht aus lauter Szenen der Hofetikette, wo die Personen sich immer nach dem Alter der Hierarchie stellend, gereimte Zeremonienformeln wiederholen, die zu übersetzen es schwer fallen würde, ohne daß der Leser meine, alles sei eine komische Parodie. Trediakovskij war dennoch ein gebildeter Mann. Er studierte in Frankreich und schrieb selbst einige französische Verse, welche in dem Almanach des Muses105 zu jener Zeit sich schön ausnahmen. In Frankreich machte wohl die 103 V.K. Trediakovskij: Deidamija, op. cit., S. 645. 104 Der folgende Absatz in eckigen Klammern, der in der Ausgabe von G.  Siegfried fehlt, ist nachträglich aus der Edition von Felix Wrotnowski übersetzt worden (Literatura słowiańska wykładana w kolegium francuzkiem przez Adama Mickiewicza, op. cit., S. 85–86). 105 In der Bibliographie dieser Zeitschrift [Frédéric Lachèvre: Bibliographie sommaire de l’Almanach des muses (1765–1833). Paris 1928] nicht nachweisbar; Trediakovskijs französische (syllabische) Gedichte, insgesamt 17, befinden sich als Anhang („Stichi na raznye slučai“) in: V.K. Trediakovskij: Ezda na ostrov Ljubvi. Sanktpeterburg 1730. Es ist die Übersetzung des Romans von Paul Tallemant: Voyage de l’isle d’amour. Paris 1663; in der neueren Ausgabe vgl. V.K.  Tradiakovskij: Izbrannye sočinenija. Moskva-Leningrad 1963, S. 69–93; vgl. auch – Jean Breuillard: Vassili Trediakovski. In: L’Influence française en Russie au XVIIIe siècle. Hrsg. J.-P. Poussou, A. Mézin und Y. Perret-Gentil. Paris 2004,

688

Teil II

schon fertige und völlig gebildete Sprache den Schriftsteller zum Dichter, da hingegen in Rußland sich der Dichter die Sprache schaffen mußte. Wäre die russische Literatur in der von Trediakovskij ihr gegebenen Richtung fortgefahren, so wäre sie ohne Zweifel das, was die chinesische geworden. Manche Bruchstücke seiner Trauerspiele haben Ähnlichkeit mit den aus dem Chinesischen übersetzten Schauspielen. Diese Richtung gehörte eigentlich Peter I. an. Trediakovskij strebte mit dessen Geiste sich zu durchdringen und wurde seiner Zeitgenossen wahrer Poet, besonders Poet des Petersburger Hofs. Doch haben die russischen Schriftsteller, statt sich an den auf diese Art angebahnten Weg zu halten, den Corneille, Racine und später die deutschen Tragiker und Dichter zum Muster genommen. Dies war das erste, noch schwache Merkmal eines moralischen Widerstandes, welches dennoch beweist, daß Peter der Große nicht vollends vermochte, alle Geisteskrafte des russischen Volks dermaßen zu vernichten, wie dies anderen in China gelungen ist.

S. 253–266; Elena Gretchnaïa: L’expérience parisienne de Vasilij Trediakovskij: quelques precisions. In: Revue des etudes slaves, vol. 80 (2009), 80–83, S. 299–310.

9. Vorlesung (25. Januar 1841) Anfänge der neuen russischen Literatur: Kantemir, Lomonosov – Jean Baptiste Rousseau dient den Russen und Polen zum Muster der Lyrik – Lomonosovs Gedichte – Rücksicht der russischen Kritik auf Rang und Orden der Schriftsteller – Der den Tschechen und Polen verderbliche, rationelle Materialismus erwärmt Rußland.

Nun läßt sichs sicher viel leichter verstehen, warum die russische Sprache unter allen slavischen vorzugsweise die Sprache der Gesetzgebung und der Befehle genannt werden kann. Sie ging aus dem Schoß der Verwaltung hervor, sie trägt ein Amtsmerkmal an sich und ihre Literatur verrät Jahre lang kein Unabhängigkeitsgefühl. Peter der Große schwankte bei der Wahl des Alphabets zwischen den lateinischen und slavisch-griechischen Buchstaben, und hat, nachdem er endlich die letzteren angenommen, diese gleich den lateinischen abgerundet. Mit diesen Lettern, von denen die ersten in Amsterdam gegossen wurden, druckte man zu Petersburg 1702 die erste russische Zeitung.106 Von nun an beginnt die literarische Bibliographie, die ihre Epoche von Lomonosov anhebt. Noch vor ihm erschienen schriftliche Versuche in der neurussischen Sprache; diese gehören Kantemir an. Der Fürst Kantemir107, ein geborener Grieche, Sohn eines Moldauer Gospodaren und im Lager Peter des Großen erzogen, begab sich später mit einem russischen Gesandten nach Frankreich, wo er, viele Jahre in Paris verweilend, in nahe Berührung mit Fontenelle108 und anderen damals berühmten französischen Schriftstellern trat. Bei Fontenelle sah er oft den Piaren Stanisław Konarski, den Reformator der polnischen Literatur, und auch oft tschechische Magnaten, welche zuerst die Gemüter ihrer Landsleute auf das Studium der slavischen Literatur lenkten. Fontenelles Salon zu 106 „Vedomosti“ (1703–1727). Die Zeitung wurde am 16. Dezember 1702 durch Peter den Großen gegründet; erschien bis 1710 in kirchslavischer Schrift, ab 1715 in der modernisierten; 1728 übernahm die Akademie der Wissenschaften in Petersburg die Redaktion und die Fortführung der Zeitung unter dem Titel „Sankt-Peterburgskie Vedomosti“. Vgl. – B.I. Esin: Istorija russkoj žurnalistiki (1703–1917). Moskva 2000. 107 Antioch Dmitrievič Kantemir (1708–1744); vgl. Satiry i drugija stichotvorčeskija sočinenija knjaza Antiocha Kantemira, s istoričeskimi primečanijami i s kratkim opisaniem ego žizni. Sanktpeterburg 1762; deutsche Übersetzung einiger Satiren und Gedichte: Heinrich Eberhardt, Freyherrn von Spilcker […] Versuchte freye Uebersetzung der Satyren des Prinzen Kantemir […]. Hrsg. C. Mylius. Berlin 1752 [SUB Göttingen; Signatur: 8 P GERM 3, 5245]; vgl. auch Ju.K. Ščeglov: Antioch Kantemir i stichotvornaja satira. Sanktpeterburg 2004. 108 Bernard le Bovier de Fontenelle (1657–1757); vgl. Werner Krauss: Fontenelle und die Aufklärung. München 1969.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_051

690

Teil II

Paris war also der Sammelplatz aller dieser Reformatoren, dies kann wohl schon einen Begriff von dem Geist der Reformen und von dem Ruf geben, welchen Fontenelle in den nördlichen Ländern lange genoß. Seine Schrift „Entretiens sur la pluralité des mondes“ (1686)109 war das erste ins Russische übersetzte Werk. Die Polen haben außer dieser Abhandlung auch noch seine kalten Idyllen übersetzt und nachgeahmt. Aber wie gesagt, Lomonosov war es, der zuerst die bis auf Karamzin oder bis an die Zeiten Alexander I. reichende Epoche eröffnete. Er hat nicht nur seine Mundart zu der Würde einer Sprache erhoben, ihre erste Grammatik und viele prosaischen Werke geschrieben, Abhandlungen über Physik, Astronomie und Metallurgie verfaßt110, sondern in diesem ganzen Zeitabschnitt folgt ihm die russische Literatur, trägt den Stempel seines Charakters und hält sich in der Lyrik an Bau und Maß seiner Verse. Der Geist und die Form der lyrischen Dichtung Lomonosovs sind dem Jean Baptiste Rousseau entnommen, den die Russen und selbst die Polen bis auf Katharina II. und Stanisław August nachahmten. Um eine Vorstellung von den Kopien zu haben, genügt, das Original selbst zu betrachten. Jean Baptiste Rousseau galt lange für den größten Lyriker des neuen Europa.111 Die französischen Kritiker und mit ihnen die slavischen wiederholten fortwährend, die neue Epoche müsse mit der lyrischen Poesie beginnen, und der Enthusiasmus der Vernunft vorangehen. Für die Kenner der Geschichte des Nordens wäre es allerdings verwunderlich, in einer prosaischen Zeit, wie der Peters des Großen, Enthusiasmus zu finden. Der Ruhm von J.B. Rousseau war längst verblaßt, und das 18. Jahrhundert galt als das unlyrischste aller Epochen. Der bekannte Kritiker Sainte-Beuve112 sagte, Jean Baptiste Rousseau 109 Razgovory o množestve mirov gospodina Fontanella, Parižskoj akademii nauk sekretarja. S francyzskago perevel i potrebnymi primečanijami iz-jasnil knjaz’ Antioch Kantemir v Moskve 1730 godu; dt. Übersetzung – Bernhard von Fontenelle: Dialoge über die Mehrheit der Welten. Mit Anmerkungen und Kupfertafeln von Johann Elert Bode. Weinheim 1983. Nachdruck der Ausgabe Berlin-Hamburg 1780. Polnische Übersetzung 1765 von Eustachy Dębicki – „Rozmowy o wielości światów“. Warszawa 1999. 110 Michail Lomonosov: Rossijskaja grammatika. Sankt-Peterburg 1755 (Reprint: Leipzig 1972). M. Lomonosov: Ausgewählte Schriften in zwei Bänden. Band 1: Naturwissenschaften; Band 2: Geschichte, Sprachwissenschaft und anderes. Berlin 1961. 111 Vgl. Jean-Baptiste Rousseau: „Odes, cantates, épigrammes et poésies diverses“, in: Les Œuvres de Mr. Rousseau. 1. Band, Paris 1716; 2. Band 2, Paris 1722; vgl. auch – Henry Alexander Grubbs: Jean-Baptiste Rousseau, his life and works. Princeton 1941. 112 „[…] le moins lyrique de tous les hommes à la moins lyrique de toutes les époques.“ – Charles-Augustin Sainte-Beuve: Critiques et portraits littéraires (1832–39). Bd. I. Paris 1841; zitiert nach [http//:www.inlibroveritas.net]; dt. Übersetzung: C.-A. Sainte-Beuve: Literarische Portraits aus dem Frankreich des XVII.–XIX. Jahrhunderts. Hrsg. von Stefan Zweig. Frankfurt am Main 1923. Charles-Augustin Sainte-Beuve (1804–1869).

9. Vorlesung (25. Januar 1841)

691

ist der unlyrischste aller Dichter, die die unlyrischste Epoche aller Epochen ausdrücken. Woher z.B. die fast religiöse Begeisterung des Dichters entstand, kann man aus den Vorreden zu seinen Werken ersehen. Er verließ den Weg der Jahrhunderte des Mittelalters und war im Grunde kein besserer Christ und Franzose als einer, der durch Horaz ein Polytheist oder durch Lomonosov ein Orthodoxer wurde; er war nur ein Bekenner einer Schule, ein Rhetor. Er erforschte Systeme und Theorien der lyrischen Dichtkunst, er kannte vollkommen den Bau einer Ode, und einige Psalmen Davids vornehmend, trachtete er gar nicht, das tiefe Geheimnis dieser Kunstgebilde zu ergründen, bemühte sich keineswegs zum Begriff der ganzen hebräischen Poesie sich zu erheben, sondern er arbeitete einige davon abgerissene Stücke nach der Horazischen Methode um; er wollte, wie er es selbst gestand, die hebräische Dichtung „abwechslungsreich gestalten“ (variété). Auf diese Weise diente also Horazens Form, die wieder eine Nachahmung der griechischen war, dem französischen Erzlyriker zum Muster, den die russischen und polnischen nachahmten. Wenn  J.  B.  Rousseau auf diese Weise der Gottlosigkeit entgegenzuwirken glaubte, so irrte er sehr. Um die Neigungen seines Jahrhunderts erfolgreich zu bekämpfen, muß man sehr hoch über den Zeitgenossen stehen. König David herrschte mit dem Begriff des alleinigen Gottes durch die volle Erhabenheit dieser israelitischen Idee über das Heidenthum. Die Helden zitterten vor den Naturerscheinungen; David sah in ihnen nur die Offenbarung des ewigen Gedankens. Aber J.B. Rousseau, sich Gott auf israelitische Weise vorstellend, blieb weit unter den Begriffen des 18. Jahrhunderts. Bei ihm ist die Sonne immer das größte Wunder der Welt; Gott spricht immer mit der Stimme der Donner und Stürme; die Allmacht Gottes findet ihr Maß in der Kraft, die dem Ozean die Grenzen vorzeichnet; kurz, die tote Natur wird als das schönste und größte Werk Gottes dargestellt. Während dessen erklärte man schon die Theorie des Donners, erschrak nicht mehr über die Unermeßlichkeit des Ozeans und hatte in den physikalischen und philosophischen Abhandlungen eine weit höhere Poesie, als in allen Oden des psalmierenden J. B. Rousseau. Indessen hatte er am Abend seines Lebens doch einige wahre poetische Begeisterung. Als er im Elend, in der Verbannung das Geheimnis seines Daseins ergründete, den Lästerern verzieh, ihnen selbst für die Lästerungen als für eine der Eigenliebe heilsame Strafe dankte, als er die Verfolgung für eine notwendige Folge seiner Fehler ansah und sein verflossenes Leben betrachtend, darin eine nützliche Lehre fand; dazumal war er ein wahrer Dichter. Er war auch Dichter und beinahe Prophet, als er, den fernem Fortgang des Jahrhunderts vorhersehend, mit Schauer erfüllt mit mahnender Stimme verkündete, die Philosophie trage bereits in ihren Händen die Donnerkeile; als er jene

692

Teil II

Trümmer der über einander getürmten Systeme und Argumente beschrieb, auf denen die Philosophen den Himmel ersteigen wollten. Lomonosov und alle seine Nachfolger besangen Gott, weil man ihn in Frankreich mit Versen besungen, und weil der erste damalige lyrische Dichter sich die religiöse Poesie zum Gegenstand genommen hatte; aber das, was Jean Baptiste Rousseau eine andere Lehre gab, was in ihm die wahre Begeisterung erweckte, das fehlte ihnen, sie hatten kein Unglück zu erdulden. Ihre Dichtung diente ihnen im Gegenteil als Bahn zu Ehren und Reichtum, öffnete ihnen die Türen der Paläste der Magnaten und brachte Rang und Orden ein: sie starben beinahe alle im Glück und hohen Rang. Dieses eben verdarb ihre Talente. Bezähmt durch die Regierung, mußten sie sich mit deren Ideen durchdringen, in ihre Spuren treten, ihr Werkzeug werden, gleich jenen Bergströmen bei Goethe, die in die von Menschenhänden gegrabenen Kanäle hinabrollend, ihren jähen Lauf damit endigen, daß sie die Räder der Mühlen und Fabriken treiben.113 In den Oden des Lomonosov trifft man schöne Bruchstücke und einige Verse voll Anmut und Kraft.114 [Ich lese ihnen eine Ode von Lomonosov vor, die, meiner Meinung nach, zu den besten aller seiner Werke zählt: УТРЕННЕЕ РАЗМЫШЛЕНИЕ О БОЖИЕМ ВЕЛИЧЕСТВЕ

Morgengedanken über die Größe Gottes

Уже прекрасное светило Простерло блеск свой по земли И божие дела открыло: Мой дух, с веселием внемли; Чудяся ясным толь лучам, Представь, каков зиждитель сам!

Schon hat den Glanz, den himmelsreinen Das Licht auf Erden rings verstreut, Daß Gottes Wunderwerk erscheinen; Vernimm’s mein Geist! denk hocherfreut, Erstaunt vor solcher Strahlen Pracht, Wie groß er selbst, der sie entfacht.

Когда бы смертным толь высоко Возможно было возлететь, Чтоб к солнцу бренно наше око

Wenn zu erfliegen solche Höhe, Den Sterblichen vergönnt nur wäre, Daß unser schwaches Auge sähe

113 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Faust II, 4. Akt. Faust äußert im Diskurs mit Mephisto über die Entstehung des Hochgebirges das Verlangen, weder nach Macht noch nach der Liebe einer Frau zu streben. Er erkennt ein höheres Ziel und will nunmehr die Natur (das Meer) durch den Bau von Dämmen und Kanälen kontrollieren. 114 Der folgende Absatz mit dem Gedicht, mit eckigen Klammern markiert, fehlt in der Übersetzung von G. Siegfried (und bei Wrotnowski). Er wurde aus der französischen Edition übernommen und nachübersetzt (Les slaves cours professé au Collège de France par Adam Mickiewicz et publié d’après les notes sténographiées: Les pays slaves et la Pologne histoire, littérature et politique, tome deuxiéme. Paris 1849, S. 439).

693

9. Vorlesung (25. Januar 1841) Могло, приближившись, воззреть, Der Sonnen Leuchten nah und näh’r, Тогда б со всех открылся стран Wär’ ringsum vor uns aufgetan Горящий вечно Океан. Ein ewiger Flammenocean. Там огненны валы стремятся И не находят берегов; Там вихри пламенны крутятся, Борющись множество веков; Там камни, как вода, кипят, Горящи там дожди шумят.

Dort strömen, rollen Feuerfluten, Kein Ufer findend weit und breit, Dort wirbeln flammend Sturmesgluten, Schon seit Jahrtausenden im Streit; Dort kocht dem Wasser gleich der Stein Und glühender Regen rauscht darein.

Сия ужасная громада Как искра пред тобой одна. О коль пресветлая лампада Тобою, боже, возжжена Для наших повседневных дел, Что ты творить нам повелел!

Doch diese Menge, unergründet, Ist wie ein Funke nur vor Dir; Welch helles Licht hast Du entzündet O Gott, vor unsren Blicken hier, Das unser täglich Wirken schaut, Durch Dein Gebot uns anvertraut!

От мрачной ночи свободились Поля, бугры, моря и лес И взору нашему открылись, Исполненны твоих чудес. Там всякая взывает плоть: Велик зиждитель наш господь!

Wir sehen der finstern Nacht entsteigen Jetzt Feld und Hügel, Wald und Meer; Wir sehen sie Deine Wunder zeigen, Die Du geschaffen ringsumher; Und alles Fleisch stimmt an den Ruf: Groß bist Du Herr, der uns erschuf!

Светило дневное блистает Лишь только на поверхность тел; Но взор твой в бездну проницает, Не зная никаких предел. От светлости твоих очей Лиется радость твари всей.

Des Tages Leuchte überglänzet Der Körper Flächen nur allein, Dein Auge doch, durch nichts umgrenzet, Dringt in die tiefsten Tiefen ein; Ausströmt Dein himmlisch heller Blick In alles Leben Freud und Glück.

Творец! покрытому мне тьмою Простри премудрости лучи И что угодно пред тобою Всегда творити научи, И, на твою взирая тварь, Хвалить тебя, бессмертный царь.115

Gibt Herr, in dieser Nacht, der trüben, Mir einen Strahl, der mich erhellt, Lehr mich, o Schöpfer, vor Dir üben Stets das nur, was Dir wohlgefällt! Daß, wenn sie Deine Werke schaut, Dich preise meine Seele laut!116

115 M.V.  Lomonosov: Izbrannye proizvedenija. Hrsg. A.A.  Morozov. Leningrad 1989, S.  204; Mickiewicz besaß in seiner Bibliothek die Ausgabe: M.V. Lomonosov: Sobranie raznych sočinenij. Sanktpeterburg 1803, tom I; dort S. 30–31; über Lomonosovs Oden vgl. Walter Schamschula: Zu den Quellen von Lomonosovs „kosmologischer“ Lyrik . In: Zeitschrift für Slavische Philologie, 34 (1969) 2, S. 225–253; Joachim Klein: Russische Literatur im 18. Jahrhundert. Köln-Weimar-Wien 2008, Kapitel 9. Lomonosov. 116 Übersetzt von Wilhelm Wolfsohn, in: Die schönwissenschaftliche Literatur der Russen. Auserwähltes aus den Werken der vorzüglichsten russischen Poeten und Prosaiker älterer und neuerer Zeit, ins Deutsche übertragen und mit historisch-kritischer Übersicht,

694

Teil II

In dieser Ode gibt es wunderschöne Verse, vor allem die, in denen der Dichter von brausenden Feuerwogen redet, die kein Ufer finden, und über die sich wirbelnden Flammenwinde („Там огненны валы стремятся / и не находят берегов/ Там вихри пламенны крутятся“). Einige gewisse Dunkeltheit der Bilder setzt an der Stelle ein, an der er das „Chaos“ erwähnt („Сия ужасная громада / Как искра пред тобой одна.“); wir wissen nicht, ob er hier die Sonne oder den Ozean der Schöpfung meint. Es kommen auch grobe Verstöße gegen die Schulregeln vor, wenn er etwa sagt: die „Felder befreiten“ sich von der dunklen Nacht genauso wie die Berganhöhen, Meere und der Wald („От мрачной ночи свободились / Поля, бугры, моря и лес“). Dennoch besitzt dieses Werk viel Anmut. Vor allem zwei Verse, die man schwer übersetzen kann, klingen in russischer Sprache wunderschön, und zwar die, in denen er vom Licht der Augen Gottes spricht, aus denen jegliche Freude fließt, die die Seelen erfüllt („От светлости твоих очей / Лиется радость твари всей.“).] Seine anderen gereimten Schriften sind weniger geglückt; sie sind meistens schwülstig, hinschlendernd, schwerfällig und im Mangel eines genügsam reichen Gegenstandes voll weit hergeholter Episoden. An zwanzig sogenannten Triumph-Oden widmete er den Geburtsfesten, Ehen und Siegen seiner Monarchen. Die Kritiker werfen ihm überhaupt Eintönigkeit vor; unter diesen auch Merzljakov, daß er, statt sich mehr mit dem ganzen Menschengeschlecht als mit einzelnen Personen zu befassen, den großen Leidenschaften und Bewegungen des menschlichen Herzens nachzugehen, sich in Lokalgefühle und Lokalgegenstände eingeengt habe und zu sehr Russe sei.117 Dieser Vorwurf ist nicht ganz gerecht. Pindar, der größte unter den Lyrikern des Altertums, ist vorzugsweise Grieche und Lokaldichter gewesen. Aber Pindar war von den Geheimnissen der Religion und Geschichte seines Landes tief durchdrungen, hatte eine echte Bewunderung für die Triumphe, die er besang, und glaubte z.B. ganz ehrlich, der olympische Sieg überträfe alles, was nur auf Erden Göttliches sein könnte; Lomonosov, statt zu bewundern, verwunderte sich nur in Ausrufungen und Fragen: „Was sehe ich? Welcher Anblick! Schaut, was sich ereignet im Westen oder Osten!“ Mit gekünstelten Wendungen leimte er die lyrische Form zusammen, und immer trocken und immer kalt, hatte er nicht Gefühl genug, sie auszufüllen. biographischen Notizen und Anmerkungen begleitet von Wilhelm Wolfsohn. Erster Band. Gedichte. Erste Abteilung. Leipzig 1843, S. 339–340. 117 Aleksej Fedorovič Merzljakov (1778–1830); Professor für Poetik und Rhetorik an der Universität Moskau; vgl. А. Ф. Мерзляков: Рассуждение о Российской словесности в нынешнем ее состоянии. In: Труды общества любителей российской словесности, ч. I. Mосква 1812, S. 53–110.

9. Vorlesung (25. Januar 1841)

695

Merzljakov ist, wie es scheint, der erste Kritiker in Rußland, der über Lomonosov ein Urteil zu fällen wagte. Bis dahin war er überall zitiert, musterhaft genannt worden, das war alles. Die Kritik warf sich vor der Autorität seines Namens, vielleicht auch seines Ranges, auf die Kniee nieder; denn kaum kann man sich vorstellen, welchen Schrecken die hierarchische Stellung den Rezensenten einflößt. Schriftsteller von Bibliographien und Literaturgeschichten unterlassen nie, Rang, Titel, Orden und Ehrenzeichen des Autors herzuzählen; N.I. Greč schreibt z.B. in dem Abschnitt über Lomonosov: Прибывъ въ 1741 въ Петербургъ, опредѣленъ онъ былъ въ Адъюнкты Академіи Наукъ; въ 1756 произведенъ в Профуссоры Химіи, въ 1751 в Коллежскіе Совѣтники. Того же года опредѣленъ онъ Членомъ иъ Академическую Канцеларію. Въ 1760 поручены въ полное его вѣдѣніе Гимназія и Университетъю Въ Декабрѣ 1764 года произведенъ онъ въ Статскіе Советники.118 Als er 1741 nach Petersburg angekommen war, wurde er zum Adjunkten bei der Akademie der Wissenschaften, 1746 zum Professor der Chemie, und 1751 zum Kollegialrat ernannt. In demselben Jahr stellte man ihn als Mitglied der akademischen Kanzlei an, 1760 übertrug man ihm die völlige Gerichtsbarkeit der Gymnasien und Universität, und im Dezember 1764 wurde er zum Staatsrat ernannt.

Sie schreiben sorgfältig das Jahr, den Monat und den Tag seines jedesmaligen Fortschreitens zu einer höheren Stufe, seiner Ernennung zu einem höheren Amt auf. Auf einer mit solchen Anzeigen oft ganz gefüllten Seite findet man kaum zuletzt eine Zeile, die das Werk des Helden angibt. Professor Friedrich Otto, ein Deutscher, trieb seine Ehrerbietung für die Würden so weit, daß er, die Analyse der Schriften verabsäumend, nur die Register von Rang und Orden, mit welchen die Schriftsteller geziert waren, herausgab.119 Es finden sich in dieser Hinsicht manchmal merkwürdige Anekdoten. In Rußland lebte unlängst oder lebt vielleicht noch jetzt der Senator Dmitrij Ivanovič Chvostov120, ein sonst gebildeter Mann, der aber als Schriftsteller, ohne Talent und ohne die geringste Bildung, kurz eine Art von literarischem Idioten ist. Eine unglückliche Schreibsucht machte ihn zur wahren Geißel des Publikums und besonders der Journalisten. Diese gerieten beim Empfang der dicken Pakete voll poetischer und prosaischer Erzeugnisse seiner Feder nicht selten in schwierige Lagen. Um sich vom Druck derselben zu befreien, 118 N.I. Greč, op. cit., S. 162. 119 Friedrich Otto: Lehrbuch der Russischen Literatur. Leipzig und Riga 1837, S. 204–211, der sich in der Einleitung auf N.I. Greč (op. cit.) beruft. 120 Dmitrij Ivanovič Chvostov (1757–1835); vgl. – A.E. Machov: Ėto veseloe imja: Chvostov. In: D.I. Chvostov: Sočinenija. Hrsg. O.L. Dolgin und A.E. Machov. Moskva 1999, S. 5–43.

696

Teil II

um zugleich eine Figur, wie der Senator Chvostov, Mitglied vieler gelehrten Gesellschaften, reich und mit mächtigen Familien verwandt, nicht zu beleidigen, suchten sie verschiedene Ausflüchte. Bald antworteten sie ihm, daß die Spalten eines Journals so wichtigen Dingen nicht genügen; bald baten sie ihn, seine Gedichte, von einem so leichten und seinem Geschmack für die Auswahl des Publikums, für die Petersburger Salons zu bewahren und sie nicht vor die Masse der Leser zu werfen, die da unfähig sei, ihn zu verstehen und zu würdigen. Dessenungeachtet gelang es dem Herausgeber doch nicht, immer vor seinen Schriften sich zu schützen, und gelehrte Körperschaften mußten diesen Schriftsteller in ihren Kreis aufnehmen. Als der Senator Chvostov Mitglied der Moskauer Akademie geworden, war Dmitrij Vasil’evič Daškov, ein aufgeklärter geistvoller Mann, wie ich glaube, jetzt gerade Minister, bestimmt, den neuen Kollegen zu begrüßen, wußte aber nicht, wie er es anfangen sollte; indem er befürchtete, durch seinen eignen Ernst lächerlich zu werden, zog er es vor, offenherzig zu sein und allem diesem die Wendung einer unterhaltenden Szene zu geben. Und wirklich überhäufte er ihn in seiner langen Rede mit den übertriebensten Lobeserhebungen, stellte ihn über die ersten russischen Schriftsteller und führte nebstbei von allen seinen Versen das Lächerlichste an.121 Daškov bekam dafür hohen Orts einen Verweis, Chvostov jedoch erkannte gar nicht die Mystifikation, war vielmehr überzeugt, daß er eine wirkliche, ihm gebührende Huldigung empfing. Er schrieb also und ließ immerfort drucken, und es fehlte ihm als Großwürdenträger nie an Lesern unter seinen zahlreichen Klienten. Man kaufte seine Werke zwar nicht, um ihm Gewinn zu bringen, denn diesen achtete er gar nicht, sondern nur um seiner Autoreneitelkeit zu schmeicheln. Das Merkwürdigste dabei ist, daß niemand das Geheimnis dieser von Daškov veranstalteten Komödie verriet, und daß die über die russische Literatur schreibenden Deutschen dessen spaßhafte Belobungen im allerbesten Glauben wiederholten. Chvostov gilt in Deutschland für den ersten russischen Schriftsteller.122 121 Dmitrij Vasil’evič Daškov (1784–1839). Die Szene spielte sich im März 1812 in der „Gesellschaft der Liebhaber der Wortkunst, der Wissenschaft und der Künste“ ab; vgl. dazu N.S. Tichonravov: D.V. Daškov i graf D.I. Chvostov v Obščestve ljubitelej slovesnosti, nauk i chdožestv. In: Russkaja starina, 1884, Nr. 7, S. 106–107; ferner – Russkij literaturnyj anekdot konca XVIII–načalo XIX veka. Sostaviteli Efim Kurganov i N.G. Ochotin. Moskva 1990; an der Parodierung des „unermüdlichen Verseschmiedes“ Chvostov beteiligte sich auch A.S. Puškin – vgl. A.V. Zapadov: Puškin i Chvostov. In: Literaturynyj archiv, tom 1. MoskvaLeningrad 1938, S. 265–272. 122 Paul Jozef Schaffarik: Geschichte der slawischen Sprache und Literatur nach allen Mundarten. Ofen 1826, der über die Oden von Chvostov schreibt, daß sie „sowohl dem Gehalt als der Sprache nach zu den besten Erzeugnissen in dieser Gattung gehören.“ (S.  172). Ferner – Friedrich Otto, op. cit., S. 127–128.

9. Vorlesung (25. Januar 1841)

697

Der Geist des 18. Jahrhunderts, der das Slaventhum in seiner Erschütterung auf einen falschen Weg hinriß, schien Böhmen mit einem Male zu töten, stürzte Polen in den Zustand schmerzlicher Ohnmacht und war dagegen für Rußland ein erwärmender Hauch. Das Streben des rationellen Materialismus fiel hier in den Herd der Regierung, woher nur wissenschaftliches und industrielles Dasein.sich überall verbreitete, so daß sich bereits in keinem moralischen und unabhängigen Gefühle Widerstand fand. Schriftsteller und Politiker jener Zeit verschwanden bei ihrem Begegnen mit der wirklichen Tätigkeit der russischen Regierung beinahe im Angesichte ihrer Überlegenheit und sahen sich beim Anstoßen mit einem schon fertigen, hier gegebenen Ergebnisse ihrer fernsten Aussichten im vollen Irrtum begriffen. Und indem ihre Ansichten mit der französischen Revolution, die im Terrorismus enden sollte, übereinstimmten, sahen sie, daß derselbe Terrorismus hier schon allgewaltig herrsche; das System des Materialismus war in Frankreich die Doktrin einer Partei, in Rußland aber war es das Prinzip der Regierung. Die Meister des 18. Jahrhunderts waren nur Schulknaben im Angesicht der Meister des Zarentums. Es ist also leicht begreiflich, warum die russische Regierung die französische Philosophie nie befürchtete. Diese Philosophie bekämpfte die Religion, verfolgte die Geistlichkeit, begehrte die Toleranz und hob die Strenge der Sitten auf; dies alles half den Regierungsendzwecken in Rußland, fand Vorschub, Beispiel und Muster am Hof Peters und Katharinens. Die Glaubensfreiheit der Religionen, die der europäischen entgegengesetzt sind, fand nirgends kräftigeren Schutz als unter dem Zarenzepter; die Zügellosigkeit der Sitten war nirgends mehr an der Tagesordnung, als in ihrer Hauptstadt. Wen konnten hier z.B. Voltairs123 gottlose Lästerungen und Ärgernis gebende Witze beleidigen, der auch seinerseits desto größere Neigung für die russische Regierung empfand, je älter er wurde. Aber die französischen und deutschen, Rußland überschwemmenden Bücher trugen mit dem Verderben auch Lebenskeime in das Land. Das 18. Jahrhundert wollte, einem von Mutwillen irregeleiteten Jüngling gleich, der noch in seinem Herzensgrund der edlen Gefühle nicht beraubt ist, die menschliche Gesellschaft verbessern und brannte im Innern von einem moralischen Streben, das ungeachtet seines angenommenen kalten Äußeren oft in ihm durchschimmert. Dieses durch fremde Literatur den Russen zugeteilte Feuer, welches sich unter verschiedenen Gestalten offenbarte, erzeugte endlich den Anfang ihrer volkstümlichen Literatur.

123 Vgl. Voltaire: Histoire de l’empire de Russie sous Pierre-le-Grand (1759–1763). Paris 1834, Bd. II, S. 140–144.

10. Vorlesung (28. Januar 1842) Kennzeichen der russischen Literatur seit Lomonosov bis zu Karamzin – Die Geschichte Katharinas I. und Menšikovs – Die Kosaken unterliegen der ersten mongolischen Operation des russischen Regierungssystems – Peter II. – Die Familie Dolgorukij – Menšikovs Sturz – Versuch einer konstitutionellen Charte – Die ausländische Partei in Petersburg – Die Zarin Anna – Sturz der Familie Dolgorukij – Ernest Biren. Der minderjährige Ivan – Das an den russischen Thron gebundene Schicksal der deutschen Fürsten: Anton Ulrich von Braunschweig–Lüneburg – Sturz Birens; Münnich – Münnichs Sturz – Lestocq und die Zarin Elisabeth – Widerstand gegen die ausländische Fraktion – Die russische Literatur gelangt in die höfische Sphäre.

[Von den mir zugestellten Briefen, die Anmerkungen über meine Vorlesungen als Ganzes oder über einige meiner Behauptungen enthalten, würde ich diesen oder jenen öffentlich vorlesen; ich befürchte allerdings, daß ich mich wiederholen werde und auf Überlegungen einlasse, die ich mir zum Abschluß der Vorlesungen vorbehalten habe. In einem dieser Briefe wird mir erneut vorgeworfen, ich hätte den Konvent verunglimpft, indem ich sein System mit dem von Peter dem Großen verglichen habe. Der Verfasser dieses Briefes, der sehr prominent ist, zitiert die Geschichte und versucht zu zeigen, daß der Konvent eine organisierende Kraft hatte, während Peter der Große nur eine riesige Zerstörungsmaschine organisierte. In dieser Frage wiederhole ich meinen Eindruck: Die Organisationskraft des Konvents ähnelt sehr der von Peter dem Großen. Wenn ich das Glück habe, meine Korrespondenten zu inspirieren, diesen Weg mit einiger Sorgfalt zu verfolgen, glaube ich, daß sie darin alle Erklärungen finden werden, die ich ihnen zu geben imstande bin, denn ich muß diese Frage noch einmal vom Standpunkt der slavischen Philosophie aus behandeln. Dieser Nation, die mit so vielen Rassen vermischt ist, dieser Nation, die abwechselnd Herrin und Sklavin so vieler kleiner Rassen war, ist es gegeben worden, eines der größten Geheimnisse der Geschichte zu erklären, das Geheimnis der menschlichen Rassen, die wahre Bedeutung und den Charakter der Rassen zu erklären. Ihr werdet dann sehen, warum einige Rassen verschwinden, während andere unbeweglich und ewig auf der Erde bleiben; warum wir an verschiedenen Punkten des Globus zur gleichen Zeit Individuen auftauchen sehen, die den Charakter derselben Rasse tragen, die gemeinsame Tendenzen haben, die auf die gleiche Art und Weise handeln, und die zwischen ihnen keine Beziehung der Nationalität, des Systems und der Philosophie zu haben scheinen. Es wird sich dann zeigen, warum es unmöglich war, bestimmte Bereiche zu zivilisieren. Wir werden dann sehen, warum es unmöglich war, bestimmte Rassen zu zivilisieren,

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_052

10. Vorlesung (28. Januar 1842)

699

sie dazu zu bringen, die Berufe und Künste der europäischen Gesellschaft zu erlernen; warum die Beduinen immer Nomaden bleiben und die Mongolen immer zerstörerisch; wie es ist, daß es Rassen gibt, die jeden Instinkt für Religion und Organisation verloren haben. Was wir bisher gesagt haben, soll als Beweis und Verdeutlichung dieses Teils der slavischen Philosophie dienen. Wir wollen nun den Gedanken aus unserer Geschichte der Literatur wieder aufgreifen.]124 Die russische Literatur von Lomonosov an bis auf Karamzin schöpfte ihre Gedanken, Gefühle und Formen aus der rhetorischen Poesie, entwickelte sich inmitten politischer Ereignisse auf einem ganz abgesonderten Weg, hatte mit ihnen nichts Gemeinschaftliches. Man muß jedoch dem Gang dieser Ereignisse folgen, um die geheime Regung des Elements zu erfassen, das erst zu den Zeiten Alexanders in der russischen Literatur zum Vorschein kommt, und ein Widerstreben der slavischen gegen die verschlingende Idee Peter des Großen andeutet. Nach dem Tod dieses Monarchen bestieg seine Witwe Katharina  I. den Thron. Katharina, gebürtig aus Livland, aus einer niedrigen polnischen Familie, geborene Marta Skowrońska, von einer Magd im Wirtshaus zur Geliebten und endlich zur Gemahlin Peters emporgestiegen, fand ihre Stütze in einem gleichen Liebling des Glückes, Aleksandr Danilovič Menšikov125, der als Knabe Kuchen zum Verkauf (pirožnik) herumtrug, später Marschall, Generalkommandant der Armee, Fürst des Heiligen Römischen Kaiserreichs und Ritter sämtlicher Orden Europas geworden ist. Kein Wunder, daß die fremden Geschichtsschreiber niemals begreifen konnten, was hier vorging. Nach welchen legitimistischen oder demokratischen Grundsätzen ließ sich ein solcher Fall erklären? In der Tat, nie ist die Regierung einer absoluten Monarchie demokratischer besetzt gewesen, als diesmal: eine Wirtshausmagd und ein Gassenverkäuferr übernahmen die höchste Gewalt. Wie dem auch sei, so ist nur zu gewiß, daß weder die Zarin noch ihr Minister irgendeine Form der alten Staaten des Westens zum Vorbild nahmen: die Regierung wollte sich ausdehnen, herrschen, unterjochen, aber durch kein Interesse irgendeiner Kaste, noch durch die Logik irgendeines Systems geleitet. 124 Der folgende Absatz in eckigen Klammern fehlt in der Übersetzung von G.  Siegfried (und bei Wrotnowski). Er wurde aus der französischen Edition übernommen und nachübersetzt – Les slaves cours professé au Collège de France par Adam Mickiewicz et publié d’après les notes sténographiées, tome deuxiéme. La Pologne et le Messiansme. Histoire. Littérature et Philosophie. Paris 1849, S. 1–3. 125 Aleksandr Danilovič Menšikov (1673–1729).

700

Teil II

Unter der Herrschaft Katharinas I. trat sogleich ein wichtiges Ereignis ein, der, erste Schritt zur Verderbung der Kosaken geschah. Die Kosaken erlagen der ersten Operation nach der üblichen Methode der russischen Regierung. Man überschüttete sie mit Belohnungen für die Dienstleistungen im Krieg gegen Polen, ließ ihnen alle Freiheiten und Vorrechte, erlaubte ihnen eigne Führer zu haben: nur ihr Land umzingelte man mit einer Reihe von Festungen, legte russische Besatzungen hinein und bereitete so die Sache für später vor. In der Folge brach hier zu gelegener Zeit eine Empörung aus, und ihre Dämpfung vollendete das Werk. Doch schon seit dem Augenblick, als man die Festungen zu bauen begann, verloren die Kosaken das Gefühl ihrer Unabhängigkeit: die große und schöne Poesie, die einzige Literatur dieses Volkes, verstummte sogleich. Der letzte poetische Hetman war der berühmte Ivan Mazepa, ein Junker des Königs Jan Kazimierz. In einer Sammlung kosakischer Lieder wird das Schönste unter den neueren ihm zugeschrieben.126 Nach dem Tode Katharinas  I.  erhob  Menšikov Peter II., den Sohn des unglücklichen Aleksej Petrovič, der als Verfechter und Vertreter der slavischen Idee von seinem Vater getötet worden, auf den Thron. Unter dem Namen dieses Regenten herrschte Menšikov über Rußland mit vollem Dünkel und der Härte eines Menschen, der sich aus einem niederen Stand plötzlich emporgehoben. Doch endete sein glänzendes Schicksal sehr traurig; eine Verschwörung, durch die Familie Dolgorukij geleitet, raffte ihn dahin. Diese Revolution ist beachtungswert. Die Familie Dolgorukij, von alter Herkunft, begütert, mit ansehnlichen Häusern verwandt, von einer Menge Klienten umgeben, war an sich schon bedeutend, und glänzte außerdem durch den Erwerb von Würden und Gnaden der Zaren. Einer aus dieser Familie, Aleksej Grigor’evič Dolgorukij127, fand Gelegenheit, Peter II. vorzustellen, in welcher schmählichen Sklaverei er sich unter der Macht seines Ministers befände. Man zog den Gardegeneral ins Geheimnis, und der Untergang des allmächtigen Fürsten wurde beschlossen. Menšikov, gar nichts argwöhnend, weilte ruhig auf 126 Ivan Mazepa (∼1639–1709); Vgl. Het’man Ivan Mazepa: Pysannja. Krakiv-L’viv 1943; darin Mazepas „Duma“; zugänglich unter: http://litopys.org.ua/coss3/ohl19.htm; ferner seine Briefe an Motrona Kočubej u.a.: vgl. – Listi Ivana Mazepi: 1687–1691, T. 1. Red. Vjačeslav Stanislavs’kyj. Kiïv 2002; über Mazepa vgl. Julian Maślanka: Mazepa. In: Życioryse historyczne, literackie i legendarne. Red. Zofia Stefanowska i Janusz Tazbir. Seria III. Warszawa 1992, S. 95–130; ferner den internationalen Sammelband: Mazepa e il suo tempo. Storia, cultura, società. Mazepa and his time. History, culture, society. Hrsg. Giovanna Siedina. Alessandria 2004. 127 Aleksej Grigor’evič Dolgorukij (gest. 1734), Senator und Mitglied des Obersten Geheimen Rats (Верховный тайный совет).

10. Vorlesung (28. Januar 1842)

701

seinem Landgut. Bei der Rückkehr nach Petersburg bezeugte man ihm überall die üblichen militärischen Ehren und in Scharen begleitete ihn das Volk zu seinem Palast; hier erst bemerkte er mit Verwunderung, daß der Polizeimeister seine Sachen bereits in Beschlag nahm. Auf die Frage, was dies zu bedeuten, ward er ohne Antwort verhaftet und bald darauf aus der Stadt gebracht. Die Geschichte dieses Glückskindes ist die nämliche aller Trotzigen und Vermessenen, welche Rußland bis auf Katharina II. beherrscht haben. Sie erfuhren fast dieselbe Reihenfolge der Prüfungen, wie sie Städte und Völkerschaften durchgegangen. Zuerst nur Ungnade und Absetzung, alsdann wird ihnen in einer gewissen Entfernung von der Residenz, nachdem ihnen Orden, Würden und Degen abgenommen, ein bestimmter Wohnort angewiesen; hier langen sie noch mit ihrer Familie an, doch schon harrt eine Untersuchungskommission, die sie für schuldbeladen erklärt und zum Tode verdammt; nach dem Urteilsspruch werden sie begnadigt und nach Sibirien geschleppt, wo sie in elender Hütte mitten unter Schnee kläglich enden. Ein solches Los traf den Fürsten Menšikov. So bemächtigten sich die Dolgorukijs des Zaren, folglich auch des Zarentums und verlangten nun nicht zu herrschen, sondern zu regieren. Es sprach aus ihnen ein Gefühl der Unabhängigkeit, sie versuchten nachzudenken, um zu finden, was Rußland fehle, sie wollten dieses Reich nach irgendeinem historischen und moralischen Grundgesetze leiten. Seit Entstehung des Großfürstentums Moskau finden wir zum ersten Male Männer, die den Verstand in Anspruch nehmen, die als Bürger zu handeln und eine andere Regierung als die eigenmächtige einzuführen sich erdreisten. Doch worauf konnte sich eine solche stützen? Es gab schon keine Kaste der Bojaren und auch nicht einmal Strelitzen mehr. Die Dolgorukijs nahmen als Grundstein ihres Staatsgebäudes die Amtsbedeutung, eine Anzahl von Beamten sowohl Zivil- als Militärwürdenträger an, also eine Klasse von Leuten, die sich seit Peter dem Großen gebildet und im Senat hauptsächlich konzentrierte. Sie bemühten sich also, für den Senat einen politischen Einfluß zu erwirken, ihm einen politischen Charakter zu geben. Der Senat bestand zum größten Teil aus Fremden, aus Ankömmlingen und solchen Einheimischen, die sich erst emporgehoben hatten, die Mehrzahl bildeten indes Russen. Diese Masse, auf die historische Bahn zurückgestoßen, verlor ganz die klare Übersicht der Dinge, konnte nicht mehr die Politik Peter des Großen verstehen, konnte nicht mehr einsehen, warum die Regierung mit allen europäischen Völkern Krieg führte, warum sie die Türken zu besiegen trachtete. Sie konnten nicht mehr begreifen, warum sie, mit Polen in gutem Einvernehmen stehend, seine Grenzen stark besetzte, warum sie Zwist und Anarchie unter den Polen aussäte, warum sie sich Finnlands schneeiger Einöden zu bemeistern suchte und fortwährend Truppen nach

702

Teil II

dem Kaukasus zur Schlachtbank trieb. Das Kabinettsgeheimnis Peter des Großen war den Dolgorukijs nicht bekannt. Sie reisten in Europa umher, nahmen die öffentlichen Angelegenheiten in Augenschein, doch ergründeten sie nie die moskovitisch-russische Politik. Sie fingen nun an, mit den Nachbarstaaten sich friedlich zu einigen, dann die Kriegsheere als zu kostspielig zu verringern und wußten nicht, daß Peter der Große und seine Vorgänger gerade um den Staatsschatz zu bereichern, die Heere vergrößerten. Gleichwie die auswärtigen Angelegenheiten, so ließ sich auch in der Hauptstadt nichts mit Leichtigkeit mehr der neuen Ordnung der Dinge anpassen. Die Generale, fremd, abenteuerlich, nach Stellen und Würden begierig, ehrsüchtig und noch eingedenk der bedeutenden Karrieren, welche eben Menšikov, Osterman und Bruce128 durchgemacht hatten, wollten Krieg, Beute und Eroberungen; die Regimenter, stets gewohnt, sich zu bewegen, zu kämpfen und zu siegen, ertrugen die Ruhe mit Ungeduld. Die Dolgorukijs sahen sich in Petersburg nicht an ihrem Ort, sie dachten daran, die Regierung nach Moskau zu verlegen, doch der Tod Peters II. verwirrte diese Pläne. Indessen zerstreute sich die Partei der Dolgorukijs, die aus echten Russen bestand, keineswegs, im Gegenteil bemühete man sich, den Gedanken, welcher die Politik dieser Familie leitete, zu sichern; es wurde in der Eile eine Art konstitutioneller Charte („kondicii“) entworfen; man unternahm die Thronberufung der kurländischen Prinzessin Anna Ivanovna, Nichte Peter des Großen und Tochter Ivans V., der auf Geheiß seines Bruders getötet ward, man wollte Anna durch einen Schwur zur Aufrechthaltung der Konstitution verpflichten und die Macht des Monarchen durch Einrichtung des Obersten Geheimen Rates (Verchovnyj tajnyj sovet)129 von Rußland beschränken. Den Hauptartikeln der „Konditionen“ gemäß darf der Herrscher ohne Einwilligung des Obersten Geheimen Rates keinen Krieg ankündigen, noch Frieden schließen; er darf nicht den Thronfolger bestimmen, nicht die Reichsbeamten ernennen, noch Abgaben auflegen; er darf den Adel nicht anders am Leibe noch am Vermögen strafen, als nach den gerichtlichen Formen.130 128 Andrej Osterman (1687–1747); russischer Diplomat und Staatsmann deutscher Herkunft (Heinrich Johann Friedrich Graf Ostermann); vgl. den Sammelband von Johannes Volker Wagner, Bernd Bonwetsch, Wolfram Eggeling (Hrsg.): Ein Deutscher am Zarenhof. Heinrich Graf Osterman und seine Zeit (1687–1747). Essen 2001. James Daniel Bruce [Jakov Vilimovič Brjus (1669–1735)], Generalfeldzeugmeister der russischen Armee; (schottischer Abstammung). 129 Text der Gründungsverlautbarung vgl.: Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj imperii. Sobranie pervoe. 1649–1825 gg. Pod redakcej M.M. Speranskogo. SPb. 1830, tom 7, S. 568–569. 130 Zusammenfassung der ingesamt acht Konditionen – in: Gosudarstvo rossijaskoe: vlast’ i obščestvo. S drevnejšich vremen do našich dnej. Sbornik dokumentov. Red. Ju.S. Kukuškin. Moskva 1996, S. 70–71.

10. Vorlesung (28. Januar 1842)

703

Auf diese Weise wollte man die Macht der Zaren beschränken, der Alleinherrschaft Einhalt tun. Doch dieses hieß in Rußland ebenso viel als den historischen Fortgang des Großfürstentums Moskau und des russischen Zarenreichs hemmen. Die Dolgorukijs schwächten unwillkürlich das Imperium, indem sie es auf das frühere Geleis, auf slavischen Boden leiteten, wo jedoch nach mehreren Jahrhunderten der Vernichtung kein Überbleibsel mehr von moralischen Rechten und Vorstellungen vorhanden war, das als Stütze hätte dienen können. Daher klagten die Russen, welche dem Petrinischen Gedanken getreu blieben, die Dolgorukijs des Staatsverrates an; diejenigen jedoch, welche einsehen, daß die moralische Tendenz der einzige Zweck des Staates ist, müssen diese Familie stets im Andenken ehren. Die kurländische Prinzessin unterschrieb 1730 die Bedingungen, begab sich nach Petersburg und ward als Zarin ausgerufen. Zum Unglück aber befanden sich im Obersten Geheimen Rat selbst, der die „Konditionen“ aufrechthalten, beleben und sichern sollte, ihre verderblichen Elemente. Der Rat bestand größtenteils aus Fremden, aus Mitgliedern deutscher, kurländischer, französischer Familien, die sich vor Kurzem erst in Rußland eingenistet hatten.131 Osterman, Löwenwolde132, Bruce sahen wohl voraus, daß, wenn die Regierung auf ihre alte historische Bahn geleitet würde, alle fremdartigen Elemente untergehen müßten, daß die Geistlichkeit ihren Einfluß wieder erlangen, und für diejenigen Ausländer nur, welche wahren Eifer und reines Licht mitbrächten, ein mittelmäßiger Zugang offen bleiben würde; daher fing die ganze fremde Sippschaft an, gegen die Konditionen („kondicii“) sich zu verschwören. Ostermann, einer der Verfasser der Konditionen, beredete insgeheim die Zarin, es sei eine Schande für sie, Rußland nicht durch ihren eignen Willen zu beherrschen, sondern sich an Vorschriften und Regeln halten zu müssen. Anna hatte noch einen anderen Grund, den Obersten Geheimen Rat und die Konditionen zu hassen. Man verwehrte ihr, ihren Liebling und Freiwerber, den Kurländer Biren133, herbeizuholen. Die Ausländer fanden sogar ein Mittel, die Russen selbst zu empören. Sie machten den niederen Bojaren Vorstellungen, daß der Rat sich der ganzen Regierung bemächtigt habe, daß seine Glieder weder Sibirien noch die Knute fürchteten, daß sie frei von jeder Strafe waren. Der niedere Adel erhob ein Geschrei, er wollte lieber die Knute bekommen, wenn nur auch die 131 Die acht Mitglieder waren: Vasilij Lukič Dolgorukov, Aleksandr Danilovič Menšikov, Fedor Matveevič Apraksin, Gavriil Ivanovič Golovkin, Petr Alekseevič Tolstoj, Dmitrij Michajlovič Golicyn, Andrej Ivanovič Osterman und Herzog Carl Friedrich von Schleswig-Holstein-Gottorf. 132 Karl Gustav von Löwenwolde (gest. 1735), russischer Diplomat. 133 Ernst Johann von Biren (1690–1772), Herzog von Kurland und Semgallen; 1740 Regent von Rußland.

704

Teil II

höheren Bojaren sie bekämen. Zuletzt verbreitete man das Gerücht unter dem Volk, daß die Dolgorukijs die Zarin gefangen hielten, daß sie ihr alle Macht entrissen und das allgemeine Beste ihrer Ehrsucht geopfert hatten. So reizte man die einen durch Neid, die anderen durch ihre Gutmütigkeit auf und bereitete allmählich eine Empörung vor, die in eine abgekartete Revolution ausbrechen sollte. Eines Tags versammelte sich ein großer Volkshaufen vor dem Palast, stürmte das Tor, um die vermeintlich gefesselte Zarin zu befreien und forderte mit lautem Geschrei, daß man ihr die Macht zurückgäbe. Anna zeigte sich und schien ganz erstaunt; sie fragte, was das Volk verlange. Sobald man es ihr gesagt, wandte sie sich zu [Vasilij Lukič] Dolgorukov134 und sprach: Стало быть, ты меня обманул, князь Василий Лукич? – сказала государыня, обратившись к стоявшему близ нее князю. Затем императрица приказала одному из правителей дел верховного тайного совета, Маслову, доставить ей подписанные ею в Митаве кондиции и письмо, писанное ею к верховному тайному совету. По приказанию, переданному Масловым от имени императрицы, граф Головкин, который, как великий канцлер, хранил важные государственные документы, принес государыне требуемое. Императрица изодрала оба документа в присутствии всего шляхетства […].135 Fürst Vasilij Lukič, du hast mich getäuscht, wie ich sehe, sprach die Zarin, indem sie sich dem neben ihr stehenden Fürsten zuwandte. Danach befahl die Zarin einem der Verwalter des Obersten Geheimen Rates, Maslov, ihr die von ihr unterschriebenen Konditionen und das von ihr verfaßte Schreiben an den Obersten Geheimen Rat zu geben. Nach dem an Maslov ergangenen Befehl der Zarin, brachte Graf Golovkin, der als Großkanzler wichtige Staatsdokumente verwahrte, die von der Zarin angeforderten Dokumente. Die Zarin zerriß beide Dokumente im Beisein des ganzen Adels […].

Der Untergang der Dolgorukijs war vollzogen; sie erlagen dem gewöhnlichen Schicksal gesunkener Günstlinge. Von der Residenz weit fortgebracht, alsdann ihrer Würden, ihres Vermögens und der Ehrenzeichen beraubt, dem Gerichte übergeben, erwarteten sie neun Jahre das Urteil; doch die russische Regierung kennt weder Verjährung noch Vergessenheit, es geschah Birens Rachsucht Genüge; alle insgesamt, der Vater, die Oheime, der Sohn und die Brüder

134 Vasilij Lukič Dolgorukov [Dolgoruckij] (~1670–1739). Vgl. V. Korsanova: Dolgorukov, Vasilij Lukič. In: Russkij biografičeskij slovar’. Sanktpeterburg-Moskva 1906, tom 6, S. 511–522. 135 Zitat nach: Nikolaj Ivanovič Kostomarov: Russkaja istorija v žizneopisanijach ee glavnejšich dejatelej. Moskva 1992, S.  140–141 (Reprint der Ausgabe Sanktpeterburg 1873–1874).

10. Vorlesung (28. Januar 1842)

705

erduldeten auf öffentlichem Platze den Tod durchs Rad; ihre Freunde wurden nach Sibirien geschickt.136 Biren, der jetzt die Herrschaft an sich riß, gesellte zu dem Stolz von Menšikov noch die höchste Verachtung des Russentums; oft sagte er laut, er habe von den Konditionen nur zwei Artikel beibehalten, das Beil und die Knute. Vor diesem Sohn oder Enkel eines Jägers des kurländischcn Fürsten zitterten jetzt alle Herren, alle russischen Generale. Man zählt an 25000 Menschen, die er ohne Gericht nach Sibirien geschafft. Nach dem Tode Annas erhob er Ivan137, den unmündigen Sohn des Fürsten Anton Ulrich dem Jüngeren von Braunschweig-Wolfenbüttel-Bevern und einer Nichte138 der verstorbenen Zarin, auf den Thron. Von nun an treten deutsche Fürsten in den Kreis der russischen Politik. Peter der Große geriet zuerst auf den Gedanken, seinen Sohn mit einer deutschen Fürstin und die Töchter mit deutschen Fürsten zu vermählen; dies scheinbar nichts sagende Ereignis ist jedoch von wichtigen Folgen. Die kleinen deutschen Fürsten waren damals meistens in kritischen und unnatürlichen Verhältnissen. Sie hatten als Herrschende nach der Reformation nicht mehr den religiösen Charakter in den Augen des Volkes. Einstens geachtete Würdenmänner des Heiligen Römischen Reichs verloren sie nach dessen Umsturz, und nachdem sie ihren Oberherrn verleugnet, das Ansehen ihrer Titel, das Ziel und Wesen ihrer politischen Bedeutung; sie stellten den Untertanen gegenüber gar nichts vor und waren von der Gnade fremder Herrscher abhängig. Selbst wenn es sich um die Wahl des Kaisers handelte, blieb das höchste Vorrecht der Wähler und Fürsten unbeachtet; die Ränke fremder Mächte, der Einfluß des französischen Königs und des Erzherzogs von Österreich entschieden alles. Sowie sich nun Rußland zu den Erniedrigten wandte, 136 Vgl, dazu – [Dolgorukov, Aleksej Grigor’evič; Dolgorukov, Ivan Alekseevič; Dolgorukov, Sergej Grigor’evič]: Gespräche Im Reiche derer Todten, Zwischen dem Knees Alexi Dolgorucki, Ehemaligen Rußischen Reichs-Cantzler … Und seinem Sohne Knees Joh. Dolgorucki, Welcher am 6. Nov.  1739. zu Novogrod schwerer Verbrechen halber, mit dem Rade bestraffet, und ihme sodann der Kopff abgehauen worden, Ingleichen seinen Brüdern Kneesen Sergey, und Kneesen Jo. Dolgorucki, Welchen beyden nebst ihrem Vetter Wasili Dolgorucki gleichfalls d.d. zu Novogrod, wegen des Lasters beleidigter Majestät, die Köpffe abgeschlagen worden: Worinnen dieser Personen Leben und entsetzliche Ubelthaten, wie auch die Vollziehung ihrer wohlverdienten Straffe beschrieben werden. Leipzig-Braunschweig 1740. [https://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10931931_00003.html]. 137 Ivan VI. (1740–1764). 138 Anna Leopoldovna (1718–1746), d.h. Elisabeth Katharina Christine Herzogin zu Mecklen­ burg-Schwerin.

706

Teil II

fanden diese eine neue Stütze für sich. Kein Interesse des Augenblicks, keine Berechnung einer besondern Kombination verknüpfte sie mit Rußland; dieses Band ist gänzlich moralischer Natur und hält alle äußeren Erschütterungen aus; es ist die Notwendigkeit eines politischen Lebens, welche alle Herrscher empfinden müssen. Die kleinen deutschen Fürsten gelangen durch die Verwandtschaft mit der mächtigen Zarenfamilie, indem sie bald zu Generalen, bald zu russischen Gubernatoren aufsteigen, zu einem Ansehen, das sie in Deutschland durch sich allein nicht haben können. Darum sind sie bereit, ihre Religion abzuschwören, die Sprache zu vergessen, Sitten zu ändern, Familie zu verlassen, um sich nur in Rußland zu naturalisieren. Oft trifft sie hier ein trauriges Geschick, Gefangnis, Tod; nichts ist jedoch im Stande, sie zu verscheuchen, nichts schreckt sie ab. Der unglücklichste dieser Fürsten war Anton Ulrich der Jüngere von Braunschweig-Wolfenbüttel-Bevern, den Biren zum Gatten für die Thronerbin verschrieben. Obgleich schon dessen Sohn Ivan VI. als nachfolgender Zar verkündigt worden war, genoß dieser gar keine Rechte, empfing keine Ehrenbezeugungen, hatte nicht einmal die Freiheit, öffentlich zu erscheinen. Biren behandelte ihn verächtlich, drohte ihn jeden Augenblick nach Deutschland zurückzuschicken, wenn er sich nicht in seine Befehle füge. Es kam jedoch auch an Biren die Reihe; ihn stürzte sein bester Freund Burkhard Christoph von Münnich139, der zuerst im polnischen Heere gedient, später General in Rußland wurde. Nachdem er zuvor alles eingerichtet und ein Regiment in Bereitschaft gestellt hatte, stattete er seinem hohen Freunde einen Abendbesuch ab, um ihm gute Nacht zu wünschen. Man erzählt, Biren habe die Nacht zuvor geträumt, er sehe Münnich einen großen Sieg davon tragen. Durch diesen Traum etwas geängstigt, fragte er jetzt, ob er irgendwo des Nachts einen Sieg erkämpft habe. Münnich glaubte sich verraten, er erblaßte, doch rasch sich erholend, gab er eine Antwort, die allen Verdacht aufhob und entfernte sich. Nach einigen Augenblicken kam er mit den Verschworenen wieder, ergriff Biren, ließ ihm den Mund zubinden, auf eine Kibitka setzen und nach Sibirien schaffen. Darauf ward er in der Folge wirklicher Herr von Rußland. Anfangs ward der braunschweigische Fürst mit seiner Gemahlin zur Herrschaft berufen; doch bald verlor er die Liebe des Publikums. Als Deuscher begriff er durchaus nicht, unter welchen Elementen er sich hier bewegte, er wollte Peter des Großen Zarenreich so regieren, wie ein Reich des Westens; er machte sich an eine Begründung der Gerechtigkeit, an die Organisation der Finanzen, während diese Maschine doch alles zersprengte, auf Europas 139 Burkhard Christoph von Münnich (1683–1767).

10. Vorlesung (28. Januar 1842)

707

Erdrückung zielend. Die Schar der Ausländer, die allenthalben im Heer und am Hof zerstreut war, begann zu murren, es gebe nichts zu tun, keinen Krieg, keine Intrigen im Ausland, von einer solchen Regierung ließe sich nichts Gutes erwarten. Und in der Tat, eine Regierung, die weder der Bahn Peter des Großen folgte, noch Kraft genug besaß, rückwärts zu gehen und den Gedanken der Dolgorukijs aufzunehmen, mußte fallen. Ein Wundarzt warf den Thron übern Haufen. Jean Herman Lestocq140, ein Franzose, von Profession Barbier, zum Regimentschirurgen aufgestiegen, wußte sich am Hof Zugang zu verschaffen und sich bei der Fürstin Elisabeth, Tochter Peters des Großen, beliebt zu machen. Nach dem Tode Katharinas I. waren auf dem Thron zwei Fürstinnen der älteren Linie, die von Ivan, Peters Bruder, stammten. Erst Lestocq ließ sich in eine Erklärung des Nachfolgerechts ein, machte Elisabeth verständlich, daß sie regieren müsse, und gab ihr den Rat, wie die Prätendenten zu stürzen seien; er gewann ein Garderegiment für sich und überfiel des Nachts den unglücklichen Regenten, der im Vertrauen auf seine ehrlichen Absichten nichts argwöhnte und an keine Verschwörung glaubte. Elisabeth trat selbst in das Schlafgemach des braunschweigischen Fürstenpaares und ließ sie beide im Bette ergreifen. Der Sohn dieses Paares, den man zum Imperator (Ivan VI.) ausgerufen hatte, war noch in der Wiege. Diese Ausrufung sollte ihm den Tod bringen; aber man sagt, der Kleine habe seine Arme gegen Elisabeth streckend, sie angelächelt und dadurch entwaffnet. Man ließ dem armen Kind das Leben, auf daß es seine ganze Zeit im Gewahrsam zu Schlüsselburg verlebe und zuletzt doch von Mörderhand falle. Seine Eltern, auf immer von ihm getrennt, wurden zuerst nach Riga gebracht, alsdann gerichtet und ihrer Würden beraubt nach Kolmogora geschickt, wo sie zwanzig Jahre in einem finsteren Turm verlebten, mehrere Kinder aufzogen und starben. Kaum fünfzehn Jahre nach dem Absterben der Eltern ließ man die Waisen des braunschweigischen Hauses heraus und erlaubte ihnen, nach dem Westen zurückzukehren und unkundig ihrer Religion und Sprache herumzuirren, nicht einmal wissend, welcher Familie oder welchem Lande sie angehörten. Dies gräßliche Beispiel schreckte indes die deutschen Fürsten von dergleichen Versuchungen des Schicksals nicht ab: bald nach den Braunschweigern werden wir die Holsteiner141 auf den Thron steigen, ins Gefangnis wandern und ins Grab stürzen sehen. Als indessen Lestocq, Münnich und alle die höchsten Personen mißhandelnd, Elisabeth zur Zarin erhob, weckte diese Erschütterung bei den Russen 140 Jean Herman Lestocq (1692–1767). 141 Peter III. – Karl Peter Ulrich von Schleswig-Holstein-Gottorf (1728–1762); war knapp sechs Monate lang Kaiser von Rußland.

708

Teil II

abermals ein gewisses Gefühl von Unabhängigkeit. Fast ohne Ausnahme begann man die ausländischen Würdenträger zu verhaften und zu richten. Osterman, dieser alte Rankeschmied, der schon zwei herrschende Häupter gestürzt und sich jetzt an das dritte machte, Löwenwolde, Bruce, Münnich und viele andere wurden dem Gericht übergeben und zur Folter am Rad verdammt, alsdann gingen sie in Gnaden nach Sibirien. Da begegnete Münnich auch Biren, den man zufallig an einen anderen Ort hinüberschaffte. Durch das Beispiel der Dolgorukijs geschreckt, wagten die Russen nicht mehr, eine Konstitution („Konditionen“) zu schreiben; doch wenigstens einem dunklen Gefühl von Nationalehre treu, vertrieben sie die Ausländer, da sie das fremde System nicht verscheuchen konnten. Ihre Verfolgung war nun eine Zeit lang das Losungswort der Regierung. Doch allmählich legte sich diese Ereiferung und die Ausländer gewannen wieder die Oberhand. Elisabeth besaß im Herzen keine edlen oder patriotischen Gefühle; sie ging jedoch mit der allgemeinen Bewegung mit, und in Worten und öffentlichen Verhandlungen wollte sie als Russin erscheinen. Zu ihrer Zeit fing man zum ersten Male am Petersburger Hof an von Literatur zu sprechen. Einer ihrer Günstlinge, Šuvalov142, ward der Mäzen der russischen Literaten; er unterstützte Lomonosov, lebte in Verbindungen mit allen Schriftstellern des Reichs und des Auslandes. Es leitete ihn eine zwiefache Neigung: er liebte die Russen und fühlte eine noch größere Anhänglichkeit an Ausländer, besonders strebte er nach der Freundschaft der französischen Encyklopädisten. Er war es, der Voltaire die Materialien für die Geschichte Peter des Großen und Katharinas II. besorgte.143 Werfen wir einen Überblick auf den abgezeichneten Zeitabschnitt, so sehen wir, wie der alte slavische Geist zuerst verdreht und zurückgedrängt, dann wieder zum Vorschein kommend, sich über die fremde Macht erhebt, aber nicht die Kraft besitzt, sich aufrecht zu erhalten. Die Russen wollten die Schweden und Polen nachahmen, sie bemühten sich die Unabhängigkeit der schwedischen Senatoren und polnischen Großen zu besitzen. Daher der Gedanke, einen Rat zu bilden, der auch einige politische Macht besäße. Die Zivilisation Peter des Großen, die wie ein scharfer Spiritus auf das slavische Element ausgegossen wurde, um es zu ertöten, rief es im Gegenteil aus seiner Erstarrung auf. Die Dolgorukijs, die Bezborodko-Familie, einige der Golicyns und viele andere Russen alten Stammes, begannen, betroffen durch den Anblick von Stockholm und Warschau, nunmehr unverwandt darauf zu sinnen, wie man etwas Ähnliches in Rußland einführen könne. Doch ihre Konstitution konnte sich 142 Ivan Ivanovič Šuvalov (1727–1797), Begründer der Moskauer Universität und der Akademie der Schönen Künste in St. Petersburg. 143 Voltaire: Histoire de l’empire de Russie sous Pierre-le-Grand. Paris 1759–1763, t. I–II.

10. Vorlesung (28. Januar 1842)

709

nicht halten, denn sie hatte noch keine hinlängliche Grundlage; das Gefühl der Unabhängigkeit drückte sich bloß in dem Hass gegen die Ausländer und nur durch ein augenblickliches Aufbrausen, sie zu vertreiben, aus. Darauf erringen die Ausländer wieder die Oberhand und es bereitet sich eine neue Epoche vor, diejenige Katharinas II. Die slavische Nationalität der Russen ändert ihre abwährende Stellung, sie übergeht alle geschichtlichen Muster der Nachbarvölker, erfaßt die Begriffe des 18. Jahrhunderts und sucht in dessen Theorien eine Stütze für sich. Seit Nikita Ivanovič Panin144, der am vollständigsten diese Tendenz repräsentierte, bis auf die Verschwörung der Dekabristen (1825) hat sie nicht aufgehört, in Rußland sich zu entwickeln. Ich bedauere, daß ich augenblicklich ein sehr interessantes und höchst seltenes russisches Buch145 nicht zur Hand habe, deren Titel und Autor ich vergessen habe. Es handelt sich um Memoiren oder Aufzeichnungen eines Generalstaatsanwalts über Vorfälle und Ereignisse während seiner Amtszeit. Dieser bedauernswerte Staatsanwalt ist das Musterbeispiel eines passiven, der Regierung untertänigen Menschen, gleich einer Maschine, die ohne Gefühl und Nachdenken die Arbeit verrichtet. In der Gunst aller Favoriten stehend, musste er sie der Reihe nach verhaften, in Fesseln legen und aus der Hauptstadt verbannen. Mit größter Treuherzigkeit erzählt er, wie Seine Hoheit Münnich ihm befahl, zu Seiner Hoheit Biren zu gehen, ihn zu verhaften und in einen Gefängniswagen („kibitka“) zu setzen, wie auch später eine andere Hoheit ihm befahl, einen anderen hohen Minister u.a. zu verhaften. Es scheint, daß er zu allen, die Amtsherrschaft ausüben, in ehrlicher Loylität steht; nach ihrem Fall zeigt er weder Hassgefühle noch Mitleid. Sobald er sieht, daß jemand aufsteigt, schaut er zu ihm auf, beginnt ihn zu bewundern und zu vergöttern; dann jedoch, wenn er seinen Niedergang sieht, staunt er erneut und vergisst ihn. Dieses, in seiner Art einmalige Buch ist eine echte Rarität, und es wäre eine vergebliche Mühe meinerseits, es in die Hände zu bekommen.

144 Nikita Ivanovič Panin (1718–1783); Diplomat, von 1764–1780) russischer Außerminister unter Katharina II. Vgl. die 15. Vorlesung (Teil II). 145 Zapiski knjazija Jakova Petroviča Šachovskogo pisannyja im samim. Sankt-Peterburg 1810, 21821; [Internet: http://imwerden.de].

11. Vorlesung (1. Februar 1842) Die Diplomatie wird das Merkmal des 18. Jahrhunderts – Friedrich der Große und sein Abrundungssystem – Der russische Kanzler Bestužew und seine Politik – Die polnischen Familien der Poniatowskis, Czartoryskis und Potockis – Die Politik der „Familie“ Czartoryski – Rulhières „Geschichte“ – Das Dichterische der damaligen polnischen Geschichte – Was dem Volk den Druck und das Elend am empfindlichsten zu fühlen macht – Bemerkung über die Hauptursache der Kosakenempörung.

Meine Herren! Wir müssen nun die Geschichte Russlands beenden; anschließend kehren wir zur Geschichte Polens bis zum Siebenjährigen Krieg zurück; dann vergleichen wir die Bestrebungen beider Regierungen und beider Literaturen. Das  18. Jahrhundert nimmt im Laufe seiner zweiten Hälfte das Merkmal eines diplomatischen an. Die Diplomatie wird zur Wissenschaft, sie sucht aus sich selbst Grundsätze hervor, entwickelt die durch den Westphälischen Friedensschluß gegebenen Begriffe. Es kommen nun in die gewöhnliche Sprache früher völlig unbekannte Ausdrücke von Präponderanz, Gleichgewicht, pragmatischer Sanktion und dergleichen tausend andere Stichwörter, mit deren Hilfe schon alle Ereignisse, ohne Rücksicht auf moralisches Gefühl oder auf allgemein anerkanntes und geachtetes Recht erklärt werden. Zu dieser Zeit erscheint auch ein neues System von natürlichen Freundschaften und Feindschaften. Die vor einem Jahrzehnt durch Bündnisse vereinten Kabinette erfinden jetzt Beweggründe eines für sie natürlichen Krieges, schließen Bündnisse mit Feinden gegen Freunde, geben wieder je nach Umständen der Waagschale der Politik der Mächte von Neuem den Ausschlag oder halten sie im Gleichgewicht. Die Völker, ihren Regierungen gehorsam, folgen ihnen noch, aber schon ohne Enthusiasmus. Unter allen diesen bald für Frankreich, bald für England, für Preußen oder Österreich als notwendig oder unnütz anerkannten Veränderungen litt Polen am meisten; denn hier war die Wahlstatt des Zusammentreffens dieser verworrenen Interessen. Diese ganze Periode wird von den Fremden durchweg falsch aufgefaßt; sie können z.B. nicht verstehen, warum Rußland, damals Bundesgenosse von Frankreich, dennoch dessen Verbündeten, Preußen, hartnäckig bekämpfte, und warum letzteres, anfänglich England freundlich gesinnt, ihm hernach als feindliche Macht entgegentrat. Friedrich der Große entwickelte die Idee des Jahrhunderts aus ihrer verworrenen Ausdrucksweise, faßte sie in deutlichere Formeln ein und gestand offen, daß er mit seiner guten Armee und einem wohlversehenen Schatz nicht untätig bleiben wollte, er trachtete sofort

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_053

11. Vorlesung (1. Februar 1842)

711

sein Land abzurunden. Das Abrundungssystem ward seitdem zur Mode, alles strebte schon sich abzurunden, nur Rußland dachte an etwas anderes. Das Kabinett der Zarin Elisabeth folgte stets den Plänen Peter des Großen. Die russische Politik breitete ihren Einfluß in Polen aus, indem sie dessen König aus dem sächsischen Haus unterstützte, der schon keine Stütze mehr im Lande und auswärts keinen Verbündeten mehr finden konnte. Nebenher kämpfte Rußland mit der Türkei und Schweden und schickte, sich in den siebenjährigen Krieg mischend, seine Heere bis Berlin. Jetzt zum ersten Male erschienen die Russen diesseits der Oder und auf dem Boden verdeutschter Slaven vorrückend, stießen sie mit den Deutschen selbst zusammen. Diejenigen Regimenter, denen Peter seinen Geist eingepflanzt, zeigten hier sogleich ihren Vorzug vor den übrigen. Die Siege über Friedrich den Großen waren keineswegs das Werk des Genies russischer Generale, nicht der Erfolg ihrer Überlegenheit in der Taktik oder einer tief durchdachten strategischen Kombination. Rußland veränderte alljährlich die Generale, und diese veränderten bei jedem Feldzug den Operationsplan. Einige unter ihnen waren wissenschaftlich gebildet, andere verstanden aber die Kriegskunst gar nicht. Nur die deutsche Mannszucht konnte mit der russischen nicht in Vergleich kommen. Diese einzige Springfeder war die ganze Wirksamkeit, die ganze Schreckensmacht dieser Scharen, die alle Hiebe aushielten, alle Hindernisse brachen. Friedrich der Große gebrauchte auch in seiner Armee den Stock, was sogar in Frankreich damals nachgeahmt wurde; dessenungeachtet spannte dieses Mittel die europäische Kriegszucht nicht so hoch, als die russische Strenge, welche aber nicht nur dem Leib drohte, sondern auch die Seele traf, indem sie ihre Quelle im geistigen, obgleich schlechten Prinzip hatte und darum auf den nicht materiellen Fond des Menschen wirkte. Friedrich der Große ließ die Soldaten für ihre Vergehen totschießen, Münnich gab im türkischen Feldzug einen Tagesbefehl, worin er dem Soldaten verbot, krank zu werden und an der Pest zu sterben; wenn einer nicht gehorchte und in Krankheit verfiel, so wurde er lebendig begraben, und die Ärzte gestehen, daß den anderen Tag der Gesundheitszustand des Heeres sich verbesserte. Man darf jedoch dies nicht für so ausfallend halten, als es scheint. Der Schrecken kann ebenso gut wie der Enthusiasmus die moralischen Kräfte erheben, ihnen die Stärke verleihen, physische Hindernisse, selbst Leibeskrankheiten zu besiegen. Da also der Enthusiasmus in den westlichen Heeren diesen Grad nicht erreichte, wie der Schrecken in den russischen, so mußten letztere überall die Oberhand behalten. Nach jeder in Preußen gewonnenen Schlacht zogen sich die Russen, statt aus dem Siege Vorteil zu ziehen, nach Polen in die Winterquartiere zurück.

712

Teil II

Friedrich der Große gibt in seinen Schriften146 zu verstehen, daß es seine strategischen Bewegungen waren, welche das verhungerte russische Heer zum schnellen Rückzug ins Ausland zwangen; doch ist es wunderbar, wie er ein siegreiches Heer durch Hunger schwächen konnte, und womit er diese seine Bewegungen ausführte, da er jedesmal mit einer weit geringen Kriegsmacht zurückblieb. Andere Schriftsteller meinen, daß die russischen Generale deshalb ihre Siege nicht verfolgten, weil sie jeden Augenblick Veränderung in der Politik ihres Kabinetts erwarteten. Diese Politik war ja unveränderlich und die Heerführer wirkten nur in deren Auftrage. Rußland verfuhr im Siebenjährigen Krieg auf seine alte Weise. Am wenigsten handelte es sich bei ihm um die Eroberung Preußens; was sollte es wohl mit einem von ihm durch Polen getrennten Gebiete anfangen? Es führte aber hier seine erste Operation aus, wollte nur den Staat Friedrichs des Großen schwächen, dessen Fortschritt aufhalten, ihm den Einfluß auf die europäischen Angelegenheiten entziehen, diese unter seinen Schutz ganz allein nehmen und durch einen Traktat sichern. [Das wäre Rußland zweifellos gelungen, wenn nicht der Tod der Zarin den Aufmarsch des russischen Heeres aufgehalten hätte, und wenn der Sohn des Fürsten von Schleswig Holstein-Gottorf, der als Peter III. den Thron bestieg, nicht den Lauf der Politik des Petersburger Kabinetts für einen Augenblick abgebremst hätte.] Man warf auch den Verdacht auf den Reichskanzler Bestužev147, daß er von Frankreich bezahlt, diesen Feldzug begann und unterhielt. Rulhière, der Rußland besser kennt, sagt mit Recht, daß es wohl schwer wäre, eine Summe zu finden, groß genug zur Bestechung des Mannes, welcher einen so ungeheuern Staat regierte und in seiner Hand alle Mittel besaß, sich ohne Staatsverrat zu bereichern. Man kann hier wohl noch die Bemerkung machen, daß seit Ivan kein Beispiel von einem an fremde Kabinette verkauften Russen zu finden ist. Die Mächtigeren lassen sich nie bezahlen, und die Russen hatten schon damals das Gefühl ihrer Macht. Bestuževs Politik spricht sich trefflich in einigen seiner Zeilen an das russische Kabinett aus, die Rulhière anführt: Aussi sountenait-il dans le conseil „que l’état naturel de la Russie est la guerre, ques on administration intérieure, son commerce, sa police, toute autre vue doit être subordonnée à celle de régner au-dehors par la terreur, et qu’elle ne serait

146 Vgl. „Histoire de la querre de sept ans“. In: Œuvres de Frédéric le Grande. Hrsg. Johann D.E. Preuss. Bd. 1–30. Berlin 1846–1856, Bd. 3–5. Im Internet unter: [www.friedrich. uni.trier.de]; dort auch die Ausgabe in deutscher Übersetzung. 147 Aleksej Bestužev-Rjumin (1693–1766).

11. Vorlesung (1. Februar 1842)

713

plus compete parmi les puissances européennes, si elle n’avait pas cent mille homes sur ses frontiers, toujours prêts à fonder sur l’Europe“.148 So behauptete er im Rat, „daß der natürliche Zustand Russlands der Krieg ist, daß seine innere Verwaltung, sein Handel, seine Polizei, alle anderen Ansichten der Außenherrschaft des Terrors untergeordnet werden müssen, und daß es unter den europäischen Mächten nicht mehr konkurrenzfähig wäre, wenn es nicht hunderttausend Männer an seinen Grenzen hätte, die immer bereit wären, auf Europa aufzubauen“.

Obschon der preußische Feldzug ihm selbst unangenehm war, und obschon die Zarin Elisabeth mehr als einmal den Verlust an Leuten und Kosten bereuete, so ließ doch Beiden der Geist des Zarentums nicht zu, anders zu verfahren, denn dieser Geist riß übermächtig alles fort und warf Kabinette, ja selbst Monarchen nieder, sobald sie ihm in den Weg traten. In der Bahn einer solchen Kraft lag Polen und war zu jener Zeit ganz machtlos. Der König August III. gehorchte nur Befehlen, die ihm aus Petersburg zukamen, und die Republik hatte weder Regierung noch Verwaltung noch Waffenmacht mehr. Die Landtage wurden einer nach dem anderen gesprengt, der Petersburger Hof erlaubte nicht, das Heer zu vermehren und sog das Land mit den Durchzügen und Einquartierungen seiner Armee aus. Neben dieser Erniedrigung und Unordnung herrschte hier wunderbar genug eine Art unerhörter Ruhe, ja selbst materieller Behaglichkeit. Nach den von Schweden und Moskovitern erlittenen Niederlagen, Feuersbrünsten und Metzeleien sieht man jetzt zur Sachsenzeit, vornehmlich unter August III., überall Belustigungen, Überfluß und überhaupt ein dem Anschein nach ungemein frohes und glückliches Leben. Selbst die öffentliche Sicherheit schien mehr als je befestigt. Im Laufe von dreißig Jahren kann man in den Gerichtsakten kaum eine Kriminalsache finden; kaum wurde irgendwo ein armer Zigeuner oder Jude zum Tode verurteilt; es gab weder einen Edelmann noch Bauer, der wegen Totschlag, Mordversuch oder Raub angeklagt wäre. Reiche Ausländer machten bei ihren Reisen durch dieses Land, das weder eine Grenzwache, noch Reisepässe, weder Polizei, noch Gendarmen kannte, nicht selten den Weg durch weite, fast unberührte Wälder, ohne je von Räubern angefallen zu werden, sie fanden vielmehr in Herrenhäusern prunkvolle, zuvorkommende Gastfreundschaft. Ein englischer Schriftsteller sagt, daß in allen Gegenden Polens beim Adel immer Fasching, beim Volk immer Kirmeß zu sein schien. Der König August III. suchte sein Mißgeschick in Gastgelagen zu vergessen und pflegte 148 Claude Carloman de Rulhière: Histoire de l’anarchie de Pologne et du démembrement de cette République: suivie des anecdotes sur la révolution de Russie, en 1762, par le même auteur, Band 1. Paris 1807, S. 200–201. Zitiert nach: [http://www.hathitrust.org].

714

Teil II

immer beim ersten Humpen zu sagen: – „Nun ist der Augenblick gekommen, in welchem alle meine treuen Untertanen sich zu betrinken anfangen“; – beim letzten Trinkspruche rief er: „Jetzt wache ich nur noch der Einzige über die Ruhe der ganzen Republik.“149 Aber inmitten dieses scheinbar so fröhlichen Daseins bemeisterte sich der Polen langsam ein durchdringender Schmerz, zuerst in den höheren Gesellschaftskreisen, bis er endlich die ganze Nation ergriff. Nun erst erscheinen hier große, nie gekannte Charaktere, mit einem gewissen Merkmal von Fatalismus und Buße gestempelt. Einzelne nehmen ganz besondere Stellungen ein, und manche Familien halten im Angesicht der Republik und des ganzen Europa fest an einer selbstständigen Politik, durchwandeln qualvolle Wege und reißen ganze Geschlechter mit sich fort. Der Erste in der Reihe dieser bedeutenden Gestalten, ein musterhafter Mensch neuerer Zeit, war Stanisław Poniatowski150, der Vater des Königs Stanisław August. Der Ursprung des Hauses Poniatowski ist nicht hinlänglich bekannt.151 Einige Genealogen leiten es von der adeligen italienischen Familie der Torellich ab, doch scheint diese Ableitung falsch zu sein. Wie dem auch sei, die Poniatowskis haben die Kennzeichen des slavischen Geblüts nicht; alle tragen eine hohe Stirn, Adlernase und schwarze, lebhafte Augen; übrigens aber erinnern sie durch allgemeinen Ausdruck des Gesichts, wie man aus ihren Bildnissen ersieht, an die uralten Häuptlinge der Lechen. Stanisław, der Vater des Königs, war der Sohn eines Ökonomen, d.h. Verwalters, in einem kleinen Dorfe und diente zuerst als Edelknabe am Hofe eines polnischen Herrn. Hierauf trat er als Freiwilliger ins Heer der Leszczyński-Partei152, wurde bald Oberst, später General und vertrauter Ratgeber des schwedischen Königs. Nach der Schlacht von Poltava, wo er Karl XII. das Leben rettete, zog er sich mit ihm in die Türkei zurück, und hier, ohne Vermögen und mächtige Verbindungen, faßte er den Gedanken, Polen mit Hilfe fremder Mächte zu erlösen; er reizte Schweden und die Türkei gegen Rußland auf, um die Republik von des Letztern Einfluss zu befreien. Es gelang ihm durch seine unermüdeten geschickten Bestrebungen den türkischen Hofrat (divan) zu bewegen, dem Zaren den Krieg anzukündigen. Seinem Rat gemäß hatte das türkische Heer Peter den Großen umringt. Der Zar sah kein anderes Mittel mehr, als die Waffen zu strecken oder sich töten zu lassen, er geriet in 149 Beide Äußerungen sind nicht ermittelt. 150 Stanisław Poniatowski (1676–1762). 151 Vgl. Maria Dernałowicz: Portret Familii. Warszawa 1990. 152 Stanisław Leszczyński (1677–1766). 1704 zum König von Polen gewählt, nach der Niederlage bei Poltava (1709) Emigration; 1733–1736 als König wiedergewählt. Von 1738–1766 Herzog von Lothringen und Bar.

11. Vorlesung (1. Februar 1842)

715

Verzweiflung, und, vom Schlag gerührt, wälzte er sich auf dem Boden, als seine Gattin, jene Marta Skowrońska, später Katharina  I., sich hineinmischte und den Rat gab, noch den Weg der Unterhandlung zu versuchen. Man brachte alle Kleinodien, die sich nur im Lager befanden, zusammen und schickte sie als Geschenk zum Pascha. Der Türke verwarf die Schätze, aber der schlaue Gesandte griff nach einem anderen Ausweg, er führte ihm Worte des Korans an, welche den Mohamedanern verbieten, alle Feinde auf einmal auszurotten, und begann um Mitleiden für die ganze Christenheit zu flehen; er sagte ihm, daß Frankreich keinen König mehr habe (dies war zur Zeit der Regentschaft), daß Polen gleichfalls ohne König sei (denn August II. flüchtete sich aus dem Lande), und daß Schweden auch den seinigen schon verloren habe; wenn nun noch der russische Zar in Gefangenschaft geriete, würden alle Christen durch Unordnung zu Grunde gehen. „Stelle dir vor – setzte er hinzu – was mit den Türken ohne Heerführer geschehen, was den Mohamedanern, ihres Kaisers beraubt, widerfahren könnte!“153 Der gutmütige Pascha war dadurch gerührt, und Poniatowski wirkte kaum so viel aus, daß bei der Kapitulation eine Bedingung gesetzt wurde, die Rußland verpflichtete, alle seine Truppen, die sich innerhalb der Republik vorfanden, herauszuführen. Dieses Verfahren des Pascha, das man zur Zeit der Kreuzzüge des Gottfried von Bouillon besser zu schätzen verstanden, fand man jetzt lächerlich. Die Schriftsteller wiederholen, es hätte der türkische Anführer zu Karl XII. scherzend gesagt, daß er Europa von seinem letzten Monarchen nicht entblößen wollte. Es war eine Zeit, in welcher man, um einen Zug von Geradheit und Großmut zu finden, ihn bei den Türken suchen muß. Poniatowski beschwerte sich in Istanbul über den vereitelten Erfolg dieses Feldzuges und bewirkte dadurch nur, daß der unglückliche Pascha erdrosselt wurde, aber einen zweiten Krieg anzufachen vermochte er nicht. Er hatte also nichts Besseres zu tun, als nach Polen zurückzukehren und sich mit August II. zu vertragen, welcher ihm einen Platz im Senat anbot. Gleichzeitig trat er in Verbindung mit einer Familie, in welcher die Verwirklichung seiner immerwährenden Träume und Bemühungen schon systematisch betrieben wurde: er heiratete die Fürstin Czartoryska.154 Die Familie der Fürsten Czartoryski, in den letzten Zeiten Polens geradezu und, ausnahmsweise nur „Familie“155 genannt, verdient eine eigne Geschichte. Sie ist das einzige unter allen Privathäusern Europas, das eine eigne politische 153 Zitat nicht ermittelt. 154 Konstancja Czartoryska (~ 1695–1759). 155 Vgl. Zofia Zielińska: Walka „Familii“ o reformę Rzeczpospolitej 1743–1752. Warszawa 1983; Zofia Wojtkowska: Saga rodu Czartoryskich. Warszawa 2020.

716

Teil II

Geschichte hat, und sozusagen den Mittelpunkt für die Literaturgeschichte dreier Jahrhunderte bildet. Seit der zweiten Hälfte des 17. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts gehören fast alle in Polen gedruckten Werke den Mitgliedern dieser Familie an, teils weil sie von diesen herausgegeben oder durch sie veranlaßt, teils auch, weil sie diesen gewidmet waren. Den ersten Antrieb zu dem Familienstreben der Czartoryski gab ein fremder, von Frankreich herstammender Einfluß. Dieser beginnt mit der Heirat eines dieser Fürsten mit der am Hofe Ludwigs XlV. erzogenen Gräfin Izabela z Morsztynów Czartoryska.156 Alles, was sie nur in Frankreich gesehen, die Majestät des Königtums, die Größe und die Macht des Staates, die diplomatische Gewandheit, den Hofprunk, die Armee, die Festungen, die Ordnung im Innern des Landes, dies Alles drang tief in ihre Seele. Sie schuf sich davon ein Ideal, das sie in Polen ausgeführt zu sehen wünschte. So viel fähige und ehrsüchtige Manner sie nur finden konnte, alle trachtete sie nach ihren Zwecken zu lenken; ihr Salon wurde bald ein Herd politischer Bewegung. Diese erhabene Frau war Mutter dreier Kinder, die bestimmt waren, eine große Rolle in der Republik zu spielen; sie erzog zwei Söhne, August und Michael und eine an den Stanislaw Poniatowski verehelichte Tochter. Als Poniatowski Mitglied der Czartoryskischen Familie wurde, fand er dort schon seine Absichten von dieser Partei mit einer sie immerwährend auszeichnenden Berechnung und Methode entwickelt. Ihr Endzweck war Herr der Republik nach der römischen Bedeutung des Wortes zu werden. Einen ähnlichen Gedanken hatte auch eine zweite Fraktion, die der Potockis; aber diese wollten vollends die königliche Macht vernichten und die befestigte Regierung einer Art Ausschuß anvertrauen, welcher aus Männern bestehen sollte, die durch Vermögen und Ansehen Übergewicht hätten, kurz sie wollten die Staatsverfassung umändern, die Czartoryskis hingegen nahmen sich zum Grundsatz, die bestehende Ordnung in nichts anzutasten. Diesem Plan gemäß beschäftigte sich die Familie weder mit einem Reformprojekt, noch verkündete sie Abhandlungen über neue Regierungssysteme, sie verachtete jede gesetzgebende Arbeit, die nur im Zusammenschreiben der Verfassungsartikel bestände; sie bestrebte sich alle hohen Stellen, alle bedeutenden Ämter einzunehmen und durch diese Organe zuerst ihren Geist in die gesetzlichen Formen der Republik einzuflößen, um sie später erst nach den ihr angeeigneten Begriffen umzuwandeln, sie nach dem Muster der Monarchie Ludwigs XIV. oder Englands zum mächtigen nordischen Staate zu bilden. Eine solche Absicht erfoderte viele Tätigkeit sowohl im höhern Wirkungskreise der Politik als auch in dem des Adels. 156 Izabela Elżbieta Czartoryska (1671–1751) Tochter des Dichters Jan Andrzej Morsztyn.

11. Vorlesung (1. Februar 1842)

717

Der Fürst August lenkte die Kabinettsangelegenheiten: er sandte seine Bevollmächtigten an alle europäischen Höfe und übte seinen Einfluß auf den Nationalsenat aus. Der Fürst Michał hingegen durchlief die Sejmiki (Versammlungen des Adels zur Wahl der Landboten), bearbeitete die Tribunale und warb Parteigänger. Das Ziel oder vielmehr das Mittel der Tätigkeit der Czartoryskis war, das sächsische Haus zuerst auf dem polnischen Thron zu befestigen, um auf diese Art den fremden Mächten, besonders den Russen, den Weg zu Umtrieben im Land abzuschneiden. Lange Zeit hatte Rußland keine hartnäckigeren Feinde als die Czartoryskis, die aber zuletzt von Frankreich und von deutschen Höfen im Stiche gelassen, von dem Sachsenkönig, der Schutz in Petersburg suchte, verraten, endlich ihren Stützpunkt verändern und ihre Hoffnungen auch in die Macht des Zarenkabinetts setzen mußten. Diese beiden vornehmen Fürsten, August und Michał Czartoryski157, glänzten zugleich durch Einfluß, Mut, Edelsinn und einen ehrenvollen Charakter; beide überdies gelehrt und gebildet, waren eine auffallende Erscheinung unter dem unaufgeklärten, vorurteilsvollen und stürmischen Adel. Ihr Vermögen konnte mit den ungeheuern Besitzungen der Adelsfamilien Sanguszko, Potocki und Radziwiłł nicht in Vergleich kommen; dennoch verstanden sie freigebig zu sein. Indem sie den Luxus verachteten und zur Erreichung ihrer Absichten nichts sparten, verteilten sie so ihre Einkünfte, wie ein guter Minister den Staatsschatz. Jedoch hatten sie neben diesen Eigenschaften auch Mängel, die eben aus dem sie beseelenden Geist entsprossen. Für das Ausländische von unermeßlicher Bewunderung durchdrungen, fühlten sie eine Art Ekel für alles, was sie umgab. Im Vertrauen auf die Großartigkeit und Erhabenheit ihres Zweckes konnten sie den Widerstand ihrer Landsleute weder begreifen noch ertragen und hegten gegen diesen Groll und selbst Abscheu. Dieser Haß offenbarte sich bei beiden verschieden. Der Fürst August nahm stets das Ansehen einer berechneten Gleichgültigkeit. Im Kreise der Senatoren pflegte er kaum je einen Entwurf zu geben und nur mit wenigen Worten zu unterstützen. Auf lange und stürmische Reden seiner Gegner faltete er bloß die Hände auf die Brust zusammen und antwortete durch einen Blick nach oben. Ein solches Verhalten entfremdete ihm die Herzen der Senatoren. Der Fürst Michał, der populärste Mann in ganz Polen, kannte mit Vor- und Zunamen hunderttausend Edelleute, wußte alle ihre Familienverbindungen und Verhältnisse auswendig und verstand es, im Sejm hinreißend zu reden; aber

157 August Aleksander Czartoryski (1697–1782) – Woiwode von Ruthenien; Michał Fryderyk Czartoryski (1696–1772) – Großkanzler von Litauen.

718

Teil II

dabei konnte er sich nie beißender Witze und bei seiner Eigenliebe beleidigender Scherze enthalten, blieb deshalb allgemein unbeliebt. Doch vermochte endlich die Familie mit Hilfe einer geduldigen, ausdauernden und hartnäckigen Tätigkeit sich der Republik zu bemächtigen. Der König scheute sie und verstand ihre Absichten nicht. Der größere Teil des Adels, durch Privatverhältnisse verbunden, vereinte auch mit dem ihrigen sein eignes Schicksal. Rußland selbst stützte sich endlich auch auf sie. Die Czartoryskis hielten es lieber mit dem Petersburger Hof, im Vertrauen auf sich, diesen hintergehen zu können. Sie wollten für Polen das tun, was die Rjuriken für Rußland getan, wie die Moskauer Großfürsten die Mongolen mit deren eignen Waffen überwunden, ebenso wollten sie das Übergewicht des Zarentums mit den in seinem eignen Kabinett erlernten Mitteln stürzen. Des Kanzlers Bestužev158 achteten sie gar nicht, seine tiefe Politik sahen sie als eine Folge seiner rohen Unfähigkeit an; hierin irrten sie jedoch sehr. Dieser Bestužev besaß in der Tat etwas Gemeines, etwas von jenem großrussischen Bauerncharakter; die altertümlichen Bojarenfamilien hatten nicht diesen Grad von List, nicht diese Gewandtheit, zu betrügen. Er sprach sehr geläufig, dennoch stotterte er siebenzehn Jahre lang, ohne sich je zu verraten. Wenn er mit fremden Gesandten sprach, drückte er sich immer so aus, daß man ihn nicht verstehen konnte. Und sprach man mit ihm, so beschwerte er sich über sein stumpfes Gehör, über seine unzulängliche Kenntnis der französischen Sprache, und ließ sich eine Sache tausendmal wiederholen. Er hatte die Gewohnheit, Noten eigenhändig und mit ganz unleserlichen Buchstaben zu schreiben; wurden ihm diese zurückgestellt, so schickte er sie noch mehr mit Glossen verwirrt zurück. Erst als er in Ungnade fiel, gewann er in einem Augenblick Sprache, Gehör und alle Sinne wieder. Solch einen Mann hofften die Czartoryskis hinters Licht zu führen. Oft glaubten sie schon das Ziel ihrer Bestrebungen erreicht, immer aber zerstörte ihnen irgendein unvorhergesehener Fall alle ihre Berechnungen und vernichtete ihre ganze Arbeit. Endlich gewann ihr Schwestersohn Stanisław August Poniatowski die Gunst der Zarin Katharina und wurde polnischer König. Es schien nun, daß sie jetzt den erwünschten Mann zur Ausführung ihres Vorhabens besäßen, und doch war dessen Regierung für sie die Quelle anhaltender Widerwärtigkeiten. Der König Stanisław wollte und wagte nicht das Geheimnis seiner „Familie“ zu verstehen; er zog vor, sich nach dem eignen Rat der Zarin zu richten. Die große und unheilschwangere Rolle, die dieser Mann gespielt, ist über die Maßen seltsam. Es unterliegt keinem Zweifel, daß man ihm schon bei der 158 Aleksej Petrovič Bestužev-Rjumin (1693–1766).

11. Vorlesung (1. Februar 1842)

719

Geburt die Krone weissagte. In Folge der Versicherungen eines Astrologen gaben ihm die Eltern eine königliche Erziehung. In seiner Gestalt, in seinem Umgange besaß er etwas, das jedem auffiel. Als er in Paris gewesen, scherzte man, er ahme Ludwig XIV. nach. Er kam schon mit dem Selbstgefühl seiner Bestimmung an den Petersburger Hof und war der Erste, was sehr sonderbar ist, der Katharina, damals noch Großfürstin, den Gedanken zur Übernahme der höchsten Gewalt eingab. Als diese Großfürstin von ihrem Geliebten hörte, daß ihn der Thron unfehlbar erwarte, so gelüstete sie auch Kaiserin zu werden. Die Mutter Poniatowskis, welche die festeste Überzeugung hegte, daß ihr Sohn König werden müsse, war seinen Verhältnissen zu Petersburg abhold, beklagte sich über die niederen und unedelen Mittel, die er gebrauche, und wodurch er den Weg seines Schicksals krümme, sie gab sich Mühe, ihn von Katharina loszureißen und in die Heimat zu rufen; das Geschick wollte aber, daß er die ihm einmal bestimmte Krone auf diesem Wege empfange, der auch übrigens dem biegsamen und romantischen Charakter des Stanisław mehr entsprach. Die vorzüglichste Beschreibung der obenerwähnten Ereignisse und Personen verdanken wir einem fremden Schriftsteller, auf welchen jedoch Polen ein Recht hat: dieser ist Rulhière. Claude Carloman de Rulhière, ein französischer, nach Petersburg gesandter Diplomat, ein enzyklopädischer Philosoph und Verfasser geistvoller Gedichte, wurde stark betroffen durch das, was er am russischen Hof wahrnahm. Der überall beinahe mit Augen sichtbare Einfluß dieser geheimen Kraft, die den riesenhaften Staat beherrschte, welche, alle Kombinationen brechend, die Voraussicht der tüchtigsten Politiker täuschte, machte ihn stutzig und führte ihn auf die Vermutung, ob nicht etwa das Zarentum auf einer neuen, der Politik alter europäischer Staaten völlig fremden Idee159 sich stütze. Und da er die Fortbildung der Menschheit zum Gegenstand seiner Untersuchungen gewählt hatte, empfand er Lust, Polens Geschichte und Land kennen zu lernen. Was er also zuerst aus den ausländischen Büchern erfahren, das sah er hier dargestellt in Personen und Taten von unbegreiflicher Kraft und Kühnheit. Die politische Lage, die Gesetze, die innere Einrichtung der Republik, alles dieses war Gegenstand seines Nachdenkens, und so war er der Erste, der die für seine Zeit zu tiefe Meinung ausgesprochen: „Nicht das Gesetz, sondern der Geist regiert ein Land“.160 Übrigens ist schon das historische und literarische 159 Gustaw Siegfried vermerkt bei diesem Begriff in einer Fußnote: Der Schrecken. 160 „Ce ne sont point les lois qui gouvernent les hommes: c’est l’esprit public […]“. – Claude Carloman de Rulhière: Histoire de l’anarchie de Pologne et du démembrement de cette République: suivie des anecdotes sur la révolution de Russie, en 1762, par le même auteur, Band 1. Paris 1807, S. 42.

720

Teil II

Verdienst Rulhières allgemein anerkannt. Man sagt, daß Napoleon, als noch sein Herz edlen und großmütigen Gefühlen zugänglich war, gerade beim Lesen der „Geschichte der Anarchie in Polen“ [Histoire de l’anarchie de Pologne] von Rulhière die erste Neigung für die Polen gefaßt habe; selbst die Erhaltung dieses Werkes verdanken wir Napoleon. Denn die zu des Schriftstellers Lebzeiten ungedruckte Handschrift geriet in die Hände eines Literaten, der durch ein fremdes Kabinett bestochen, die Tendenz des Werkes völlig verändernd, daßelbe zu drucken begann. Napoleon, davon unterrichtet, ließ die Arbeit einstellen, alles, was die Presse schon verlassen, vernichten und das Buch nach dem Urtext, der sich nun unter den Urkunden des Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten Frankreichs befindet, herausgeben.161 Rulhière begriff besser als die Polen selbst ihre politischen Veränderungen; er sieht die Revolution von 1773 als das wichtigste Ereignis des Festlandes an. Ohne in die Nachforschung dieser Vorfälle in Hinsicht auf die Europa erschütternden Angelegenheiten einzugehen, kann man sagen, daß die polnische Geschichte jener Zeit für den Literaten und Dichter unter allen die merkwürdigste ist: denn sie hat eine ungeheure Zukunft für die Poesie vor sich. Nichts ist tragischer, nichts erhabener als die Ansicht, in welcher drei so große Charaktere neben einander hervortreten und ringen, nämlich: der persönliche Charakter mächtiger Männer, welche die durch sie begriffenen Ideen verwirklichen wollen; der Nationalcharakter, den sie umzubilden trachten, und endlich der Charakter Europas, das auf sie einwirkt und auf welches sie auch zurückwirken. Wie viele Leiden und Trübsale blieben in den stillen Kabinetten der Czartoryskis und Poniatowskis verschlossen; wie viele gewaltige Empfindungen verbarg nicht ihr kaltes Äußere! Kaum kann man heute jene Quellen aus einigen diplomatischen Ausdrücken entnehmen, ihr Geheimnis ging sowohl für die Landsleute als auch für die Ausländer und Schriftsteller, die ohne Dolch, Gift oder mittelalterliches Schwert kein Trauerspiel begreifen, verloren; einst jedoch wird sich dies den künftigen Dichtern enthüllen, und diese werden einmal begreifen, was in der jetzigen Gesellschaft wesentlich tragisch ist, und den inneren Kampf, worin der Mensch Schauspieler und zugleich Schaubühne ist, darstellen können, den Kampf zwischen einem System und dem Gefühl, zwischen der Pflicht und der Vernunft, worin die Leidenschaften und Schmerzen schon persönlich zu sein aufhören, und wo Personen wirklich ganze Länder und Geschlechtsreihen von Völkern vorstellen. 161 Ausführliche Analyse der „Geschichte der Anarchie in Polen“ von Rulhière – vgl. Ryszard W. Wołoszyński: Polska w opiniach Francuzów XVIII wieku. Warszawa 1964, S.  107–302; vgl. auch Daniel Beauvois: Polacy w oczach Francuzów w latach 1764–1849. In: Echa Przeszłości VII (2006), S. 41–52.

11. Vorlesung (1. Februar 1842)

721

Selbst der äußerliche Schauplatz ist reich an merkwürdigen Szenen und Bildern. Hier in einem Sejmik ist Peter der Große mit Abgeordneten im Gespräch. Auch Karl XII. dringt verkleidet unter die Landboten. Hier neben dem Tumult des säbelumgürteten Adels ziehen schweigende Regimenter von Schweden und Russen ein. So geschah es bis zu jenem „Begräbnis-Sejm“ (sejm pogrzebny) vom 30. September  1773, der die Geschichte der Sejme im alten Polen beendete, als die Senatoren und Landboten bei den auf die Kammern gerichteten Geschützen berieten und die Kanoniere mit brennenden Lunten auf ihre Entscheidung warteten. Die Schmerzenslast, die sich nach und nach aus der politischen Sphäre herabsenkte, erdrückte endlich den ganzen Adel; aber was geschah damals mit dem Volke, welches Schicksal hatte es? Auch darauf muß man einen Blick werfen, denn hier findet sich auch eine die Literatur betreffende Seite. Allgemein spricht man von dem Elend des slavischen Volkes in vielen Gegenden Polens und Rußlands; man malt mit lebhaften Farben die Not des dortigen Bauern, der in einer erbärmlichen Hütte wohnt, oft Hunger leidet und nebenbei der Peitsche ausgesetzt ist. Woher rührt es denn aber, daß man in den Volksliedern dieses Stammes bis zum Untergang Polens darüber keine Klage vernimmt? Warum beschwerte sich denn dieser Bauer früher nie über Unterdrückung, Hunger und Peitsche? Dies kommt daher, weil der Mensch erst dann, wenn ihm die moralische Kraft gebricht, auch seine physischen Leiden zu empfinden anfängt. So lange der polnische Bauer den Edelmann überall neben sich bei der Wirtschaft, auf der Jagd und im Krieg sah, die Notwendigkeit seiner Auslagen begriff, die für den allgemeinen Dienst, für Pferde und für Waffen nötig waren, erlaubte er ihm ohne Murren, die Frucht seiner Arbeit zu verkaufen, besaß er noch die Kraft, Mangel zu ertragen. Sobald aber dieser Edelmann aufhörte, die Hütte des Bauern zu besuchen, mit ihm auf die Jagd zu gehen und Ausflüge zu Pferde zu machen, sobald er sich mit einer Gesellschaft von Ausländern umgab und für des Landsmanns Getreide und Arbeit vom Ausland Kutschen, Schmuck und Geräte bezog, deren Gebrauch der Bauer nicht begreifen konnte, alsdann wurde ihm sein Elend bitter, alsdann fing er an, Hungers zu sterben. Es ist ja bekannt, daß die Tataren weniger essen als die polnischen Landleute, die Trapisten noch weniger als die Tataren, und dennoch befinden sie sich wohl, denn die moralische Kraft erhält sie. Ebenso läßt sich auch das, was die Peitsche betrifft, erklären. Die Schmerzlichkeit der Strafe hängt meistens von der Einbildung ab, die man damit verbindet. Einen von den asiatischen Fürsten, der nach der Eroberung von vier Königreichen das Kaiserreich Japan nicht zu unterwerfen vermochte, befahl der Großmogul vor dem Heer auszustrecken und ihm hundert Peitschenhiebe aufzuzählen. Der Feldherr und Bezwinger von Königreichen sah sich jedoch

722

Teil II

gar nicht als grausam bestraft an, denn so würdevoll in den Augen anderer, wie zuvor, stand er auf, und ihm war dieser Schmerz nicht größer als der von Kriegswunden. Ein russischer Bojar aus Ivans und auch späteren Zeiten achtete die Stockschläge, die er aus der Hand des Herrschers erhielt, gar nicht als Schmach; diese Strafe aber, von einem Ausländer ihm erteilt, hätte er nicht ertragen, er wäre vor Scham gestorben. Der Landmann in Polen vergab Vieles der Strenge seines ritterlichen Sarmaten; als er aber von einem adeligen Putzmännchen geprügelt wurde, empfand er Schmerz in der Tiefe seiner Seele. Die heutigen Reformatoren sprechen Vieles und fortwährend von dem physischen Elend des slavischen Volkes und beachten gar nicht sein moralisches Leiden. Nie würde dieses Volk einem Mann folgen, der ihm Boden und Geld austeilen wollte, wenn dieser Mann in der moralischen Kraft des Guten oder Bösen es nicht übertrifft. Niemand wird dem polnischen Bauer weder durch Reichtum noch Titel und Glanz Ehrfurcht gebieten, aber der wird ihn leiten, welcher ihn mit Begeisterung oder Furcht zu erfüllen vermag. Hier bietet sich eine Bemerkung über die Ursachen der Kosakenkriege dar. Die Polen bekennen jetzt selbst, daß sie die Kosaken durch Ungerechtigkeit zum Aufruhr brachten; die Geschichte dieser Ungerechtigkeit wird aber auf eine falsche und grundlose Weise dargestellt. Gewöhnlich spricht man da von Erpressungen, Bedrückungen, Körperstrafen und Grausamkeit. Wir haben glaubwürdige Urkunden, daß dieses nicht der wesentliche Beweggrund war; in den Volksliedern der Kosaken ist keine Spur von diesem Allen, die stärksten Klagen sind vielmehr darin nur gegen die allgemeine Galanterie der „Lachen“ gerichtet. Die Kosaken sind wohlhabend gewesen, gewiß wohlhabender als andere polnische Bauern; und niemand zwang ihnen je ihr Eigentum ab, welches sie übrigens auch wenig achteten. Ein Ataman aus Zaporož’e, der vom Markt in Seidengewändern und mit Tressen geziert heimkehrte, trank sich satt, traktierte jeden für seinen Gewinn bis zum letzten Heller und kroch dann in ein mit Teer gefülltes Faß, um nicht reicher zurückzukehren, als er ausging. So ein Mann, fürwahr, empörte sich gewiß nicht wegen eines ihm genommenen Stückes Ackerland; er wurde aber Rebell, als man ihn moralisch beleidigte, ihm eine fremde Religion aufdringen und ihn seine Niedrigkeit fühlen ließ, indem man ihm das Vorrecht, zur Königswahl gehören zu dürfen, verweigerte.

12. Vorlesung (11. Februar 1842) Die andere Hälfte des 18. Jahrhunderts ist die Epoche der Wiedergeburt der nordischen Literaturen – Katharina II. und Stanisław August Poniatowski – Geographische Karte der slavischen Literatur – Naruszewicz und Deržavin – Deržavins Gedichte. Die Ode an Gott – Was bei den Slaven „duch“ bedeutet – Erste Spur des Selbstgefühls eigner Würde bei den Slaven – Deržavin als scharfsinniger Dichter zeigt schlechten Geschmack – Das Unedle und Linkische in den slavischen Schriftstellern, woher rührt es? – Was ist Witz?

Die politischen Ereignisse in Rußland und Polen übten lange Zeit keinen sichtbaren Einfluß auf die Tendenz der Literatur aus. Lange Zeit sind diese zwei Gegenstände einzeln zu betrachten, bis sie endlich in eine Geschichte, in eine Einheit zusammenfließen. Während Rußland, die Waffen in der Hand und den Fuß zum Angriffsmarsch vorgerückt, mit drohendem Blick den Osten und Westen übersieht, während Polen im Kampf der inneren Parteien allmälig eine echt volkstümliche erzeugt, gänzlich verschieden von jenen, rückt auch die Literatur nach und nach, geleitet noch durch die Rhetorik, ins Feld der Tätigkeit vor. Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts ist die Epoche der Wiedergeburt der nördlichen Literaturen. Sie fängt vom Jahre 1760 an, dasselbe kann als Normalgrenze betrachtet werden. Die Thronbesteigung Katharinas II. und Stanisław Augusts sind hier als Hauptereignisse zu betrachten: denn diese beiden gekrönten Häupter prägen der Literatur ihrer Zeit die Richtung und den Charakter auf. Die Zarin Katharina II., eine Prinzessin aus dem Hause Anhalt-Zerbst, war eine Deutsche, jedoch floß auch slavisches Blut in ihren Adern. Zerbst (Serb oder Sirb)162 ist nämlich nichts anderes, als ein verdeutschtes altslavisches Land, beherrscht von der normannischen Familie Anhalt. Sophie Auguste, später Katharina genannt, wurde im Lager unter den von ihrem Vater befehligten Soldaten erzogen. Absichtlich schien die Vorsehung eine solche Erziehung der Prinzessin zu geben, die einst durch eine militärische Revolution zum Thron gelangen sollte, ihre Seele war sogar früh dazu vorbereitet. In Petersburg angelangt, fühlte sie vom ersten Augenblick an ihre Überlegenheit über alles, was sie umgab, und indem sie die leichte und scharfe Durchdringlichkeit der Bewohner dieser Gegend mit der tatarischen Kaltblütigkeit, Ausdauer

162 Auf die Erklärung dieser (höchst umstrittenen) Etymologie wurde verzichtet. Vgl. dazu den Kommentar von Julian Maślanka (A.  Mickiewicz: Dzieła. Tom IX: Literatura słowiańska. Kurs drugi. Warszawa 1997, S. 479.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_054

724

Teil II

und Unerbittlichkeit in der Ausführung ihrer Pläne verband, war sie von einem echt mongolischen Charakter. Aber woher kam nur ein solches Phänomen? Wir haben schon früher gesehen, daß öfters auch in weit entfernten Ländern übereinstimmende Organisationen zum Vorschein kommen, und daß es Gegenden gibt, wo schon selbst die Natur große Feldherrn und gewandte Diplomaten hervorbringt. Daß der Mongolenstamm diese Eigenschaft besitzt, davon haben wir untrügliche Beweise: durch welchen Zufall verirrte sich aber eine solche Seele aus einen fremden Boden? Die Betrachtung der Geschichte des 18. Jahrhunderts und besonders die der französischen Revolution zeigt uns schon in der Theorie, was später durch anderweitige Kenntnisse bestätigt werden kann, und daß das Mongolentum öfters auch in den westlichen Ländern, mitten in der von der asiatischen ganz verschiedenen Zivilisation, zum Vorschein komme. Wie es Länder gibt, wo immer, man weiß nicht woher, furchtbare und unerklärliche Krankheiten, bekannt unter dem Namen der großen Epidemien, erscheinen, so gibt es wieder andere, wo die Moralepidemie ihr Nest angelegt hat. Es kommen jedoch außerordentliche Fälle vor, wo die epidemische Krankheit ganz von selbst auch in den ihr fremden Weltgegenden ausbricht. So z.B., bevor noch die Cholera ganz Europa heimsuchte, zeigten sich schon hier einzelne Erscheinungen derselben; in unreinlichen Spitälern brütet sich manchmal die Pest aus und ebenso das gelbe Fieber in den mit Negern beladenen Schiffen. Es scheint, daß wie in der physischen Natur die Verderbtheit der Luft, so auch in der moralischen die Fäulnis dessen, was man Zivilisation nennt, ähnliche Folgen habe, und auf diese Weise zeigte die europäische Gesellschaft von Zeit zu Zeit die Symptome des normalen Mongolismus. Katharina war keine Mongolin von Geburt; sie war es aber ihrem Geiste, ihrer Erziehung und ihrer Denkungsart nach; sie war vielleicht die vollkommenste Verwirklichung des Ideals der damaligen Zeitbegriffe. In dieser Frau hat das 18. Jahrhundert mit den durch Ivan den Schrecklichen und seine Nachfolger repräsentierten Zwecken der moskovitischen Großfürsten eine heimliche Ehe geschlossen. Es war dies eine kalte, gefühllose, rasonnierende Zivilisation, die einer slavischen Seele eingeimpft ward. So ging also Katharina nach Petersburg, um über die zu ihrem Empfang ganz vorbereitete Gesellschaft zu herrschen. Die Palastrevolution, die sie zum Thron erhob, war nur eine gewisse Gestaltung der Umstände, von welchen die Heldin auf den Schauplatz geführt ward, die anfänglich Elisabeths Rolle fortspielte, und um zu scheinen, als wolle sie die slavische Nationalität noch mehr erheben, ihren Gemahl, einen Deutschen, stürzte. Peter III., Katharinas Gemahl, hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Karl XII. und August II.; er war

12. Vorlesung (11. Februar 1842)

725

Normanne und mußte als ein Opfer der größeren Macht des verkörperten Geistes des 18. Jahrhunderts fallen. Der polnische König, ein Geliebter der Zarin, unterschied sich durch einen ganz entgegengesetzten Charakter. Man erblickt in ihm eine schöne und edle Seele, ein gutes Herz, einen großmütigen Charakter, dies alles aber verwöhnt und verdorben. Wiewohl unter französischen Enzyklopädisten gebildet, behielt er dennoch eine Art von Unschuld und Seelenwärme, von der sich die Polen zu ihm angezogen fühlten; von der anderen Seite aber fehlte ihm die nötige moralische Kraft, um dem Einfluss der Katharina zu widerstehen; er mußte also von dieser Frau bezwungen werden, und er verliebte sich ernstlich in sie. Während die Czartoryskis sich alle Mühe gaben, ihn für ihre rationelle, tiefe und mühsame Politik zu gewinnen, brachte er seine Zeit beim Schreiben von Liebesbriefen an die Zarin zu. Gänzlich durchdrungen von den romanhaften Vorstellungen seines Zeitalters, strebte er das Heldenideal des Jean Jacques Rousseau in sich zu verwirklichen, zugleich aber streifte er an die Voltaire’sche Schule an.163 Die Politik Katharinas, die schon in ihrer Jugend älter als ihre grauen Minister und reicher als das 18. Jahrhundert selbst erscheint, mußte notwendig solch einen Mann wie Stanisław August überwältigen. In ihren Briefen, die sie in einem Alter von kaum 30 Jahren geschrieben, sieht man im höchsten Grade jene Spitzfindigkeit des Räsonnierens und die verborgene Bosheit des Witzes, welche die Briefe Voltaires am Abende seines Lebens charakterisieren. Bevor wir unsere Betrachtungen über die Werke und Schriftsteller dieser Epoche anstellen, wollen wir uns die geographische Karte der nördlichen Literatur ins Gedächtnis zurückrufen und von einem hohen Standpunkt einen die literarische Lage dieser Länder umfassenden Blick werfen. Schon vor dem 16. Jahrhundert kommt auf dem ganzen slavischen Boden, in allen Gemeinden die volkstümliche Poesie zum Vorschein. Die Dichter der an der Donau wohnenden Slaven erfüllen ihren Beruf gleichsam von Amtswegen, sie bilden eine neue Homeridenepoche164; bei den Kosaken begleiten sie 163 Vgl. Memoires secrets et inédits de Stanislas Auguste – comte Poniatowski – dernier roi de Pologne relatifs à ses rapports intimes avec l’impératrice Catherine II et à son avènement au trône. Leipzig 1862; Mémoires de Stanislas II Auguste (PONIATOWSKI), édité par Anna Grześkowiak-Krwawicz & Dominique Triaire. Paris 2012; in deutscher Sprache: Memoiren der Kaiserin Katharina II. Von ihr selbst geschrieben. Nebst einem Vorwort von Alexander Herzen. Autorisierte deutsche Übersetzung. Hannover 1859 (Augsburg 2004). Vgl auch – Isabel de Madariaga: Katharina die Große. Das Leben der russischen Kaiserin. München 1996 (Wiesbaden 2004). 164 Vgl. dazu die 16. Vorlesung (Teil I).

726

Teil II

die Heerführer, besingen ihre Taten und spinnen den Faden der Heldenpoesie weiter. Andere Slaven haben keine amtlichen, vom Volk als solche anerkannten Dichter. Hier schreibt der erste beste in der Stunde der Begeisterung ein Lied, manchmal nur eine Strophe, öfters sogar nur einen Vers. Diese werden vom Volk verbreitet und aufbewahrt, und so entsteht daraus nach und nach eine reiche Sammlung, zwar ohne den gleichförmigen Zusammenhang der serbischen Heldenlieder oder der kosakischen Dichtungen, nichtsdestoweniger aber schätzbar wegen der Offenherzigkeit und Einfachheit der Schöpfungen, denn sie sind alle die Frucht einer wahren Begeisterung. Mitten in dieser nationalen, auf dem ganzen Slavenland zerstreuten Literatur ragen die konzentrierten Herde, die Mittelpunkte der eigentlichen Bücherliteratur, hervor. Dies sind die Klöster, die religiösen Versammlungen. Gegen das Ende des 16. Jahrhunderts werden hauptsächlich Krakau und später durch den polnischen Einfluß auch Kiev zu solchen Mittelpunkten und verbreiten die Schriftliteratur nach allen Seiten unter die Völker. Schnell wird die Oberflache dieser Länder mit einer Menge von Buchdruckereien bedeckt, und diese Regsamkeit, anfangs frei und zügellos, fällt in die Hände der Jesuiten, erhält von ihnen eine gleichförmigere Richtung, eine geregeltere Haltung, wird aber nach und nach von ihnen gedämpft und erstickt. Polen stellt seit dieser Zeit das Schauspiel einer weiten Geisteserstarrung vor. In Rußland geschieht dasselbe auf einem andern Wege: hier wird alles vom Geist der moskovitischen Großfürsten ertötet und verschlungen. Einige Zeit vor der Periode, bei deren Anfang wir stehen geblieben, herrscht schon überall im Slaventum eine tiefe Stille. Verschmäht liegt das Lied darnieder, die nicht schriftliche Literatur treibt noch hier und da einige kleine von niemandem beachtete Sprossen, die Bücherliteratur aber scheint schon auf immer erstorben zu sein. Mitten in der allgemeinen Erstarrung und Finsternis auf dem literarischen Feld der Slaven entstehen und verbreiten sich plötzlich zwei Strahlen des neuen Lichts, in Warschau und Petersburg. Die Paläste der Monarchen kann man hier für die Brennpunkte halten, wiewohl auch neben dem Mäzenat des Stanisław August noch mehrere polnische Magnatenhäuser und namentlich die Czartoryskis die Schriftsteller und die Literatur pflegen. Zwei angesehene Manner, in denen sich das Streben dieser Epoche abspiegeln sollte, kamen beinahe gleichzeitig zur Welt: in Polen Adam Naruszewicz, geboren 1733, in Rußland Gavriil Romanovič Deržavin, geboren 1743. Wir wollen Deržavin zuerst betrachten, denn er übte einen dauerhaften Einfluß aus, ja man kann sagen, er war bis zur Ankunft Karamzins der König des russischen Parnaß. Deržavin war der Sohn eines von tatarischen Mursen abstammenden Obersten, sein Geburtsort war in der Gubernie Kazan’, was er sich sogar zur Ehre

12. Vorlesung (11. Februar 1842)

727

anrechnete. Von Hause aus sprach er einen verdorbenen östlichen Dialekt, den finnisch-russischen; da er aber eine lange Zeit im Militär diente, so nahm er jene neue von Peter dem Großen begründete Sprache an, und da er außerdem viele alte Bücher gelesen, so eignete er sich eine Menge alter südslavischer [kirchenslavischer] Worte an, was gerade die Ursache der schnellen Veraltung seiner Schriften wurde. Es war dies aber nicht seine, sondern die Schuld des bei seinen Nachfolgern üblichen Strebens. Je mehr die großrussische Sprache die Oberhand gewann, desto mehr verengte sie sich in sich selbst, verdrängte alle slavischen Wurzeln und verwarf die noch von Deržavin gebrauchten Wendungen und Ausdrücke. Die russischen Schriftsteller werden vielleicht einsehen, daß sie eine falsche Bahn eingeschlagen, indem sie die Provinzialmundarten zurückzustoßen bemüht waren, während dagegen die Polen und Tschechen dieselben in ihre Sprache aufzunehmen streben. Deržavin war mit einer großen Fassungskraft begabt, die man in allen seinen Schriften wahrnimmt, und alle philosophischen Fragen scharfsinnig durchdringend, handelte er sie in Versen ab. Dabei ist in ihm eine mächtige Kraft der physischen Organisation und die Blutwärme sichtbar, die öfters poetische Begeisterung zu sein scheint. Er besaß die Begeisterung eines Journalisten und die Lebendigkeit eines öffentlichen Redners; manchmal nur schwang er sich, ohne es selbst zu wissen, in die Sphäre einer höheren, wahrhaften Poesie. Seine Form übrigens ist dieselbe, die Lomonosov den Franzosen entlehnte, immer eine etwas nach dem russischen Schnitt bearbeitete Malherbesche Strophe.165 Deržavin besaß bei weitem mehr Kraft als Lomonosov: wie dieser mit François Malherbe, so kann jener mit Lebrun166 verglichen werden, obgleich Deržavin auch noch Lebrun an Kraft und wirklichem Talente übertraf, ohne jedoch seine Gedanken und deren äußere Gestalt so gut wie Letzterer zu feilen. Die Oden nehmen mehrere Bände seiner Schriften ein: diesen Gegenstand hat er gänzlich erschöpft. Den scholastischen Vorstellungen gemäß schrieb er religiöse, politische oder patriotische Oden, und endlich mannigfaltige kleinere Gedichte, die er auch Oden nennt.

165 François Malherbe (1555–1628). Er erweiterte die Variationsmöglichkeiten der traditionellen Strophenformen, der Odenstrophe, die aus zehn achtsilbigen Zeilen besteht: „Die ersten vier Verse stehen im Kreuzreim, die letzten vier im umschlingenden Reim, und zwischen beiden Vierergruppen ist ein Paareim.“ Die Ode Malherbes kann bis zwanzig Strophen umfassen. Vgl. Jürgen Grimm, Frank-Rutger Hausmann, Christoph Miething: Einführung in die französische Literaturwissenschaft. Stuttgart 1976, S. 101. 166 Ponce-Denis Écouchard-Lebrun (1720–1807); französischer Lyriker; schrieb Oden und Elegien, später Epigramme und Satiren; auch „Lebrun-Pindare“ genannt.

728

Teil II

Unter den ersteren ist die in alle europäischen Sprachen übersetzte und von den Russen als die schönste Frucht ihrer Literatur betrachtete Ode „Gott“ („Bog“): О ты, пространством бесконечный, Живый в движеньи вещества, Теченьем времени превечный, Без лиц, в трех лицах божества! Дух всюду сущий и единый, Кому нет места и причины, Кого никто постичь не мог, Кто все собою наполняет, Объемлет, зиждет, сохраняет, Кого мы называем: бог.

Du, grösser als des Weltalls Weiten, / Du Inbegriff der Allgewalt, / Du, der du bist von Ewigkeiten, Gestaltlos, dreifacher Gestalt! / Allgegenwärtiger, All–Einer, / Der erdgebornen Menschen keiner / Er musst dich, ursachloser Geist; / Von dir wird alles Sein durchdrungen, / Gebaut, erhalten und umschlungen, / Der du allein der Heil’ge heißt. //

Измерить океан глубокий, Сочесть пески, лучи планет Хотя и мог бы ум высокий, – Тебе числа и меры нет! Не могут духи просвещенны, От света твоего рожденны, Исследовать судеб твоих: Лишь мысль к тебе взнестись дерзает, В твоем величьи исчезает, Как в вечности прошедший миг.

Wer zählt die Tropfen in dem Meere? / Wer mißt der Sterne Licht und Strahl? / Uns selbst wenn solches möglich wäre, – / Für dich gibt’s weder Maß noch Zahl. / Die Geister, die im Lichte leben, / Den Thron der Herrlichkeit umschweben, / Ermessen deine Tiefe nicht. / Sucht der Gedanke dich zu finden, / Er muß in Deinem Licht erblinden, – / Ein Irrwisch vor dem Sonnenlicht. //

Хаоса бытность довременну Из бездн ты вечности воззвал, А вечность, прежде век рожденну, В себе самом ты основал: Себя собою составляя, Собою из себя сияя, Ты свет, откуда свет истек. Создавый всe единым словом, В твореньи простираясь новом, Ты был, ты есть, ты будешь ввек!

Du riefest vor dem Anbeginn der Zeiten / Das Chaos aus der ew’gen Nacht. / Du hast vor allen Ewigkeiten / Die Ewigkeit hervorgebracht, / Du hast dich in dir selbst gegründet, / Du hast dein Licht aus dir entzündet / Und strahlst in deines Lichtes Schein. / Du ließest deinen Atem wehen, / Dein Wort ließ diese Welt entstehen. / Du warest, bist, wirst ewig sein. //

Ты цепь существ в себе вмещаешь, Ее содержишь и живишь; Конец с началом сопрягаешь И смертию живот даришь. Как искры сыплются, стремятся, Так солнцы от тебя родятся; Как в мразный, ясный день зимой Пылинки инея сверкают, Вратятся, зыблются, сияют, Так звезды в безднах под тобой.

Was lebt, ist Schöpfung deiner Hände, / Erhalten durch dein Machtgebot; / Zum Anfang wird in dir das Ende, / Du schenkst uns Leben durch den Tod. / Wie Funken sprüh’n, wenn Flammen toben, / So sind aus dir hervorgestoben / Die Sonne, Abbild deiner Macht. / Wie Rauhreif glitzert, blitzt und funkelt, So leuchtet, wenn’s hienieden dunkelt, / Tief unter dir der Sterne Pracht. //

12. Vorlesung (11. Februar 1842)

729

Светил возженных миллионы В неизмеримости текут, Твои они творят законы, Лучи животворящи льют. Но огненны сии лампады, Иль рдяных кристалей громады, Иль волн златых кипящий сонм, Или горящие эфиры, Иль вкупе все светящи миры – Перед тобой – как нощь пред днем.

Die Sonnen zieh’n zu Millionen / Durch die Unendlichkeit die Bahn; / Sie strahlen Licht in alle Zonen, / Wie sie’s Äonen schon getan. / Doch diese angezünd’ten Feuer, / Die Flammenglut, so ungeheuer, / Daß ich’s zu denken nicht vermag, / Die Licht- die Brand-, die Feuerwogen / Allüberall am Himmelbogen, – / Sie sind vor dir wie Nacht vorm Tag. //

Как капля, в море опущенна, Вся твердь перед тобой сия. Но что мной зримая вселенна? И что перед тобою я? В воздушном океане оном, Миры умножа миллионом Стократ других миров,– и то, Когда дерзну сравнить с тобою, Лишь будет точкою одною; А я перед тобой – ничто.

Der Sterne ungezählte Herde, – / Ein Tropfen ist’s im Meer für dich. / Doch was ist dann die kleine Erde, / Und was ist, Gott, vor dir mein Ich? / Könnt’ ich millionenfach vermehren / Die Myriaden Himmelssphären / Und Kraft und Glanz des Sternenlichts, – / Dies alles würde doch nicht reichen, / Sie nur von fern dir zu vergleichen. / Doch was bin ich vor dir? Ein Nichts! / /

Ничто! – Но ты во мне сияешь Величеством твоих доброт; Во мне себя изображаешь, Как солнце в малой капле вод. Ничто! – Но жизнь я ощущаю, Несытым некаким летаю Всегда пареньем в высоты; Тебя душа моя быть чает, Вникает, мыслит, рассуждает: Я есмь – конечно, есть и ты!

Ein Nichts! Doch deine ew’ge Güte / Bestrahlt mit ihrem Reichtum mich. / In meinem endlichen Gemüte, / Herr, spiegelst du unendlich dich. / Ein Nichts! Doch fühle ich das Leben, / Mich drängt ein unstillbares Streben / In immer höh’re Höhn dir zu. / Die Seele dürstet, dich zu finden, / Und endlich wagt mein Geist zu künden: / „Ich bin – also bist auch du!“ //

Ты есть! – природы чин вещает, Гласит мое мне сердце то, Меня мой разум уверяет, Ты есть – и я уж не ничто! Частица целой я вселенной, Поставлен, мнится мне, в почтенной Средине естества я той, Где кончил тварей ты телесных, Где начал ты духов небесных И цепь существ связал всех мной.

Du bist! So spricht der Sterne Reigen, / Und auch mein Geist, mein Herze spricht’s / Und die Vernunft muß es bezeugen: / Du bist! – Und ich bin nicht mehr Nichts, / Ich bin ein Teil im Weltgetriebe, / Ich bin gesetzt von deiner Liebe / In jene Mitte allen Seins, / Wo sich das Körperhafte endet, / Die Schöpfung sich zum Geiste wendet, – / In mir ward Geist und Körper eins. //

Я связь миров, повсюду сущих, Я крайня степень вещества; Я средоточие живущих, Черта начальна божества;

In mir fügt sich das Weltenganze, / Ich bin der Gipfel der Natur, / Die Blüte in des Lebens Kranze, / Band zwischen Gott und Kraetur. / Mein Leib, er muß

730

Teil II Я телом в прахе истлеваю, Умом громам повелеваю, Я царь – я раб – я червь – я бог! Но, будучи я столь чудесен, Отколе происшел? – безвестен; А сам собой я быть не мог.

zu Staub zerfallen, / Mein Geist befiehlt den Donnern allen, – / Ich – Zar und Knecht, ich – Wurm und Gott! / Doch ob ich gleich so hoch geehret, / Viel ist zu wissen mir verwehret, / Und leicht wird mein Verstand zu Spott. //

Твое созданье я, создатель! Твоей премудрости я тварь, Источник жизни, благ податель, Душа души моей и царь! Твоей то правде нужно было, Чтоб смертну бездну преходило Мое бессмертно бытие; Чтоб дух мой в смертность облачился И чтоб чрез смерть я возвратился, Отец! – в бессмертие твое.

Von dir, o weiser Schöpfer, habe / Ich alles, was ich hab’ und bin, / Du bist der Geber aller Gabe, / Des Lebens Leben und sein Sinn. / Dein Willemuß an mir geschehen, / Und durch das Tal des Todes gehen / Muß, was unsterblich ist an mir. / Mein Geist, in Sterblichkeit gekleidet, / Kehrt, wenn der Leib den Tod erleidet, / Zur Ewigkeit, zu dir. //

Неизъяснимый, непостижный! Я знаю, что души моей Воображении бессильны И тени начертать твоей; Но если славословить должно, То слабым смертным невозможно Тебя ничем иным почтить, Как им к тебе лишь возвышаться, В безмерной разности теряться И благодарны слезы лить.167

Du bleibst verborgen, unzugänglich, / Und meines inn’ren Auges Kraft / Ist, dich zu schauen, unzugänglich, / Ich ahne dich nur schattenhaft. / Und doch kann ich dich dadurch preisen, / In aller Schwachheit Dienst erweisen, / Daß sich mein Herz im Lob ergießt, / Daß Geist und Seele zu dir streben, / Daß sie in deinem Licht verschweben, / Daß dir des Dankes Träne fließt.168

Dieses Urteil ist jedoch unrichtig; unter seinen Schöpfungen gibt es noch andere von größerem Wert. Freilich hat der Stil, der in den Übersetzungen seine Vorzüge verliert, im Original eine große Tiefe und Eleganz; was bedeutet jedoch im Grunde diese Ode an Gott? Was für einen Gott besingt unser Dichter? Der in der Poesie des 18. Jahrhunderts bekannte Gott gehörte Niemandem an: er war weder der überall anwesende und mit lebendiger Stimme 167 G.R. Deržavin: „Bog“. In: G.R. Deržavin: Sočinenija. Red. G.N. Ionin. Sankt-Peterburg 2002, S.  56–58. In der vorliegenden Edition von Gustav Siegfried und Felix Wrotnowski (vgl. Literatura słowiańska. Rok drugi. 1841–1842. Poznań 1865, S. 127) fehlt der Text der Ode, die Mickiewicz in seiner Vorlesung in der französischen Übersetzung von Frédéric-Gustave Eichhoff vorgetragen hatte; sie stand damals Wrotnowski nicht zur Verfügung. Vgl. Frédéric-Gustave Eichhoff: Histoire de la langue et de la littérature des Slaves. Paris 1829, S. 338–345. Die Interpretation der Ode vgl.: Efim Ėtkind: Duchovnaja dilogija Deržavina. Ody „Bog“ i „Christos“. In: Cahiers du monde russe et soviétique. Vol. 29, Nr. 3–4 (JuilletDécembre) 1988, S. 343–356. 168 G.R. Deržavin: „Gott“. In: Russische Gedichte über Gott und Welt, Leben und Tod, Liebe und Dichtertum. Ins Deutsche übertragen von Ludolf Müller. München 1979, S. 19–22.

12. Vorlesung (11. Februar 1842)

731

sprechende Gott Israels, noch der Gott der Christen. Es war dieses vielmehr ein gewisses abstraktes Wesen, das in gedehnten, schwerfälligen und mit mathematischen Begriffen angefüllten Versen verehrt wurde. Indem der Dichter das höchste Wesen beschreiben will, verfährt er wie Spinoza;169 er fängt an, alles aufzuzählen, was es nicht sei, um endlich den Begriff geben zu können, was es sein müsse. Daher wiederholt er zu tausendmalen, daß Gott keinen Anfang gehabt und auch kein Ende haben werde, zieht eine ähnliche Reihe von Verneinungen fort und indem er nun das Ideal der Größe aufsucht, stellt er in der Sprache eines Geodäten die Unendlichkeit der Zeit und des Raumes dar. Alle solche Poesien aber sind offenbar die Negation dessen, was sie scheinbar beweisen sollen: sie zeigen den Unglauben ihrer Zeit. Das Mittelalter hat, so viel wir wissen, keine Ode an Gott erzeugt, nichtsdestoweniger fühlt man dennoch auf jeder Seite der damaligen Schriften einen gewissen Duft der Gottheit, man sieht, daß wenn sie auch nicht unter unmittelbarer göttlicher Begeisterung, so wenigstens unter dem Auge Gottes geschaffen wurden. Das 18. Jahrhundert im Gegenteil wollte Gott nicht in die gewöhnlichen Angelegenheiten mischen und ihm die höchste Achtung erweisend, wünschte es ganz artig ihn aus dem alltäglichen Leben hinaus und in das Feld der abstrakten Begriffe einzuschließen. Ebenso konnte Deržavin außer diesen Begriffen weder in der Geschichte noch in der Denkungsart seines Volkes etwas finden, wodurch er das wahrhafte Dasein des Ewigen deutlicher und gleichsam handgreiflicher zeigen könnte. Kurz er war hier durchaus kein Volksdichter, denn fürwahr das slavische Volk hat ein bei weitem tieferes und lebendigeres Gefühl von dem Dasein Gottes: schreibt es ja doch selbst der Erde, der Luft, dem Wasser, den Bäumen und Steinen eine sprechende Stimme, eine gewisse unsterbliche Seele zu, und betrachtet sie als mit der Gottheit verbunden und stets unter dem Einfluss des göttlichen Willens. [Und Deržavin fragt sich oft: Gibt es Gott? Indem er nun auf den Skeptizismus griechischer Philosophen170 zurückgreift, will er Gott aus Überlegungen (raisonnements) ableiten und nicht aus der Geschichte seines Volkes oder aus der Tiefe des eigenen Empfindens.] Unter Deržavins religiösen Gedichten ist die Ode über die „Unsterblichkeit der Seele“ („Bessmertie duši“, [1785, 1796]) und noch mehr in der Ode an „Christus“ („Christos“, [1814]) gegeben, bei weitem erhabener als sein berüchtigter Hymnus an jenen Gott, der vielmehr der Gott der Mathematiker, aber keineswegs der der Bewohner des Ostens ist.

169 Zu Spinoza vgl. die 18. Vorlesung (Teil III). 170 Verweis auf die Vorsokratiker; vgl. Georg Wöhrle (Hrsg.): Die Milesier: Anaximander und Anaximenes. Berlin-Boston 2012 (= Traditio Praesocratica, Bd. 2).

732

Teil II

In der Ode über die „Unsterblichkeit der Seele“ geht der Dichter zwar von den üblichen Argumentationsgrundlagen des 18. Jahrhunderts aus. Er versucht, die Existenz der Seele zu beweisen, als würde er sie anzweifeln. Allerdings geht er einen Weg, den er mit den Philosophen des Jahrhunderts nicht gegangen ist. Nachdem er die Natur, die äußere Welt nach dem Geheimnis der Existenz der Seele gefragt hat, fragt er schließlich sich selbst, seine Seele: Дух тонкий, мудрый, сильный, сущий В единый миг и там и здесь, Быстрее молнии текущий Всегда, везде и вкупе весь, Неосязаемый, незримый, В желаньи, в памяти, в уме Непостижимо содержимый, Живущий внутрь меня и вне. […].171

O du subtiler, kluger, mächtiger, wahrhaftiger Geist, der du rascher und weiter triffst denn der Blitz, weit hinfährst und doch unbeweglich zu sein scheinst, du leuchtest hier und zugleich wo anders, bist überall und doch allerwärts ein Ganzes, durch nichts gefesselt, gegenwärtig im Willen, im Gedächtnis und in der Vernunft, lebend in und außerhalb von mir.

Hier drückt Deržavin die Begriffe slavischer Völker vortrefflich aus; er ist ein wahrhaft volkstümlicher Dichter. Um diese erhabene Strophe gehörig verstehen zu können, muß man die wahre Bedeutung des „duch“172 erfassen. Dieser Ausdruck läßt sich nicht durch das französische esprit wiedergeben, das durch verschiedene Anwendungen gewiß braucht, keine bestimmte Bedeutung mehr hat. Nie kann er in den slavischen Sprachen statt „dowcip“, der Witz, oder „rozum“, die Vernunft, gebraucht werden, auch ist er nicht eins mit „dusza“, die Seele. Nach der neuen Philosophie behauptet die Seele, „dusza“, im Reiche unserer übersinnlichen Existenz, als Inbegriff von Leidenschaften und Trieben eine untergeordnete Stelle, macht die sogenannte tierische Seite aus. Der Geist, „duch“, bei den Slaven ist das, was man noch in allen Ländern versteht, wenn jemand sagt, er habe einen Geist gesehen, er habe mit Geistern gesprochen; kurz, es ist dieses der Mensch, der im Körper lebt, getrennt von demselben. Von der richtigen Auffassung dieses Wortes hängt viel ab, denn fast der dritte Teil der ausgebreiteten slavischen Sprache hat in ihm die Stammwurzel. Alle Worte, die in der geistigen Sphäre die Bewegung des Geistes und in der sinnlichen die Bewegung der Materie bezeichnen, stammen von diesem Element. [Geist ist dann nicht das, was viele Philosophen unter mens verstehen, sondern das, was spiritus in der Bibel bedeutet.]

171 „Bessmertie duši“. In: G.R. Deržavin: Duchovnye ody. Moskva 1993, S. 30. 172 [Entspricht dem deutschen Wort: der Geist, und in philosophischer Sprache dem Wort: subjektiver Geist. Anmerkung des Übersetzers.]

12. Vorlesung (11. Februar 1842)

733

Deržavin folgt den Vorstellungen des Volkes darin, daß er den Geist nicht in einzelne Vermögen zerlegt, die Einteilungen der Philosophen, die der Vernunft die höchste Stelle einräumen, nicht annimmt, ja sogar die Neigungen nicht als besondere Teile betrachtet. Er sagt vielmehr, daß der selbstbürtige und vollständig ganze Geist sich bald dem Denken, bald dem Gefühl und den Neigungen zuwendet und einverleibt. Nach ihm sind das Denkvermögen, das Herz, der Körper nur Organe, nicht aber Teile des Geistes. Nirgends ist dieser slavische Begriff so gut und tief aufgefaßt und dargestellt, als in einigen Strophen dieses Dichters. Seine Ode an „Christus“ („Christos“) hat auch ganz vortreffliche Stellen. Ihr Anfang ist schwach: Deržavin stellt den Erlöser immer in königlicher Majestät vor, er kann sich von dem Gedanken der monarchischen Macht gar nicht trennen, aber in der Mitte des Gedichts kommt er auf einen freimütigeren Weg, erlangt die Selbstständigkeit wieder und setzt seine tief philosophischen Ideen auseinander: er nimmt nach einigen religiösen Traditionen an, der Mensch, ursprünglich außerhalb der Materie geschaffen, sei erst durch den Fall in sie geraten, und Jesus, als die Macht Gottes, steige nieder, um ihn aufzurichten. Eine besonders schöne Stelle ist die, wo der Dichter sagt, daß mitten in der die Menschheit bedeckenden Finsternis das himmlische Licht zu ihr keinen Zugang sich habe bahnen können, bis endlich ein reiner Lichtstrom aufgelodert, die Seele der Allerheiligsten Jungfrau, in der zum ersten Male ein göttlicher Strahl seinen Widerschein gefunden, um über dem erniedrigten Geschöpf zu leuchten.173 Der Zusammenhang des Menschen mit der ganzen Schöpfung, wie ihn der Dichter auffaßt, findet hier eine nicht weniger philosophisch durchdachte Erklärung; die Natur wird von ihm die Gefährtin des Menschen genannt, die mit ihm gemeinschaftlich dulden und kämpfen muß, so lange bis der Geist sich von den Fesseln des Leibes zu befreien, sie zu vernichten vermag, so lange bis der Leib aufhört, den Geist zu bedrücken. Schade, daß die Historiographen der russischen Literatur statt aufzuzählen, wenn und was für Orden und Grade Deržavin erhalten, nicht lieber den Zeitraum, wo er etwas geschrieben, bemerkt haben. Es scheint, als ob die beiden Oden „Unsterblichkeit der Seele“ und „Christus“ die Frucht seiner Jugend

173 Vgl. Die Strophe 18 in der Ode „Christos“ (1814). In: G.P. Deržavin: Duchovnye ody. Mосква 1993, S. 90: „[…] Но пал как в толь глубокий мрак, / Что сил его восстать не стало; / То тут Любовь, времен в исходе, / Сошла смирить страстей злых ревы: / Сый воссиял от чистой Девы, / Как солнца луч от чистых вод!“

734

Teil II

seien; denn in den anderen erscheint er immer als ein kalter Philosoph und Rhetor.174 Wir wollen für den Augenblick seine patriotischen Oden bei Seite legen, um die leichten Gedichte zu betrachten, wo er die französischen Schriftsteller nachahmen wollte, und wo das Streben nach Witz seine gerade und kräftige Natur verunstaltete. Es ist schwer zu begreifen, wie einige sonst ausgezeichnete russische Kritiker namentlich diejenigen seiner Schriften als Muster in dieser Gattung anführen können, die an „Felica“175 gerichtet sind. Unter diesem Namen, der übrigens auffallend passend gewählt ist, pries er die Zarin Katharina, indem er sie sich als eine kirgisisch-kajsakische Fürstin darstellte. Nichts Traurigeres kann es geben, als unseren Dichter im Wettkampf des Witzes zu sehen. Keine Strophe läßt sich hier ohne Widerwillen lesen; jeder Vers gleicht einer Fratze. Was jedoch bemerkenswert, und was eine Epoche in der nördlichen Literatur bildet, ist, daß Deržavin der erste der nationalen in die Hofgesellschaft aufgenommenen Dichter war, daß er zugleich die Person der Monarchin für menschlich zu halten wagte; von einer herzlichen Begeisterung für die Zarin, die ihn als einen Menschen, als einen Dichter zu behandeln pflegte, durchdrungen, strebte er ihr durch Nachahmung ihrer Lieblingsschriftsteller zu gefallen und fing selbst an, ein wenn auch noch schwaches Selbstgefühl zu haben. Wir sehen also, daß das Erwachen dieses Gefühls, so schwer bei den hiesigen Slaven, ein Werk des fremden Literatureinflusses war. So viele Jahrhunderte hindurch unterdrückt von Ausländern, von den Normannen und Mongolen, ohne irgend etwas Gemeinschaftliches zu haben mit den Gewalthabern, die sie von weitem zu verehren gewohnt waren, erhoben sie sich nicht leicht aus dieser Erniedrigung. Verzeihen muß man daher auch Deržavin seine Witzeleien und Possen, und daß er, wo er leicht und anmutig zu sein strebt, doch nur unedel und unbeholfen ist. Merkwürdig bleibt nur, daß, wie wir dies an den serbischen Schriftstellern bemerken konnten, die slavischen Volksdichter nie solche Fehler besitzen; im Gegenteil wird von den Franzosen ihre Feinheit, das Treffende und gleichsam ihre kindliche Anmut gepriesen. Woher kommt es nun, daß die slavischen Schriftsteller, so oft sie sich bemühen, subtil und gewandt zu sein, beinahe immer linkisch und plump erscheinen. Weder die Ästhetik noch die Rhetorik sind im Stande, dies zu enträtseln. Es scheint aber dasjenige, was wir unbeholfen und unedel nennen, 174 Vgl. dazu – Jurij Tynjanov: Die Ode als oratorisches Genre (1927). In: Texte der russischen Formalisten. Band II: Texte zur Theorie des Verses und der poetischen Sprache. Hrsg. Wolf-Dieter Stempel. München 1972, S. 272–337. 175 Vgl. die Ode „Felica“ (1783). In: G.R. Deržavin: Polnoe sobranie stichotvorenij. Leningrad 1957, S. 97–103.

12. Vorlesung (11. Februar 1842)

735

vom Mangel an Selbstvertrauen herzurühren. Eine unedle Gestalt ist nichts anderes, als eine angenommene Form, die nicht den dazu gehörigen Geist besitzt. Wer den Glauben seines persönlichen Wertes verliert und ein fremdes Äußere, einen fremden Gang und fremde Bewegung annimmt, der erscheint gleichsam zur Strafe seines beleidigten Selbstgefühls unedel und unbeholfen. Der andächtige, natürliche, arbeitsame Landmann ist nie linkisch und plump. Dieser slavische Bauer als Jäger, neben seinem Herrn als Soldat in den vaterländischen Reihen, hat eine schöne und edle Haltung; aber derselbe Bauer als Lakai wird immer etwas Unedles an sich haben. Die Slaven sind nicht für den Bedientenstand geschaffen, und doch werden viele Schriftsteller am Ende Lakaien. Dieser Mangel an Glauben und Kraft des Geistes, was wir unedel und unbeholfen genannt haben, wird unmerklich zum Witz. Die Betrachtung der Satiriker und der witzigen Leute wird uns dieses deutlicher machen; vorläufig kann man sagen, daß der Witz in der „gewöhnlichen“ Bedeutung des Worts, derjenige, den man in Karikaturen und Epigrammen antrifft, nichts weiter ist, als das Unedle und Unbeholfene bis auf die höchste Spitze getrieben. Ein Verstoß unter dem Einfluss des Schlechten wird ein vollkommnes, vollendetes Schlechte und gewöhnlich witzig genannt.

13. Vorlesung (15. Februar 1842) Was ist lyrische Dichtung? – Einfluß der Musik auf die Poesie – Unterschiede zwischen Lebendigkeit, rhetorischer Wärme und lyrischer Begeisterung der Eingebung – Die Wärme der Rhetorik und das Feuer der Begeisterung – Geschichte Polens zur Zeit Stanisław Augusts – Die durch die Czartoryskis fortgeführte Reform – Untergang ihrer Bestrebungen – Charakterschwäche des Königs Stanisław August – Mannigfaltiger Einfluß des 18. Jahrhunderts auf die politischen Charaktere der Polen – Eine neue Partei in Polen. Anfang einer neuen Geschichte – Die Barer Konföderation. Die Idee derselben, ausgedrückt im Aufruf des Bischofs Sołtyk – Welchen Vorwurf verdienen die Fürsten Czartoryski und der König Stanisław August?

[Ich entschuldige mich für die Änderungen in der Reihenfolge in meiner diesjährigen Vorlesung und für die Pause; alles resultiert aus der ständigen Befürchtung, meine Zuhörer nicht mit Monotonie langweilen zu wollen, die notwendigerweise bei der Analyse einzelner Werke entsteht. Ich bin daher in jeder Vorlesung bemüht, irgendeinen allgemeinen literarischen Aspekt aufzuzeigen, ihn mit Einzelbeobachtungen zu versehen, um dann das Ganze im Lichte der nationalen Geschichte darzustellen. Es kommt allerdings vor, daß ich Einzelheiten erwähne, die man ohne die Reflexion über allgemeine Probleme nicht erklären kann, oder sie müssen in eine Beziehung zu einer geschichtlichen Epoche gesetzt werden, die wir noch nicht erreicht haben. Das ist heute der Fall, da ich wegen der lyrischen Dichtung die Absicht habe, das Publikum zunächst mit dem großem russischen Dichter Deržavin, dann mit dem in seiner Zeit gefeierten polnischen Lyriker Naruszewicz bekannt zu machen.] Deržavins Triumph-Oden auf siegreiche russische Generale verweisen auf historische Ereignisse, die einer späteren Betrachtung vorbehalten bleiben, wie die Ode auf den Tod von Grigorij Aleksandrovič Potemkin („Vodopad“) der Erstürmung von Warschau („Oda na vzjatie Varšavy“), schließlich der Jubel anläßlich der Vernichtung der französischen Armee wären vorerst unverständlich. Was Naruszewicz angeht, so steht er Deržavin in der Begrifflichkeit und der poetischen Manier sehr nahe; eingekerkert in den engen, von der Schule vorgezeichneten Bahnen, verwarf er jedoch alles, was in seinem Talent, in seiner Stellung und in seinen literarischen und politischen Arbeiten kraftvoll, elementar und mächtig war. Wir verlegen also die Analyse einiger Werke von Deržavin auf den Zeitpunkt, in dem wir die Endphase der polnische-russischen Kämpfe erörtern werden. Was aber seinen Zeitgenossen, Naruszewicz, betrifft, so wird dieser später neben Karamzin gestellt besser erscheinen.176 Übrigens muß diesen wie auch 176 Dieser Vergleich ist nicht vorgenommen worden. © Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_055

13. Vorlesung (15. Februar 1842)

737

allen andern slavischen Dichtern dieses Zeitabschnittes der Name lyrische Dichter abgesprochen werden. Lassen sie uns die Frage auseinandersetzen. Erstlich, was ist eine lyrische Dichtung ohne Lyra? Was sind das für Dichter, die zu singen scheinen, ohne ihre Lieder in Musik zu setzen, ja ohne deren Klang in ihrem eignen Inneren vernehmen zu können? Die Musik ist bei den lyrischen Schöpfungen kein eitler Schall, sie ist ihr wesentlicher Hauptteil, ihre Seele, ihr Leben, ihr Licht. Hier erst offenbart sich die Wichtigkeit der Volksmusik und des Volksgesanges. Jetzt erblicken wir die Ursache, warum in Ländern, wo das Volk zu singen aufhört, wahre Dichter verstummen. Was ist also demnach die Nationalmusik? Die Volkslieder, die in augenblicklichem Gefühl von sonst sehr prosaischen, aber von wahrer Begeisterung ergriffenen Personen erzeugt werden, bestehen aus einer Menge zerstreuter Töne oder Motive, und ihre Sammlung macht die Volksmusik aus. Und woher rührt denn diese musikalische Begeisterung? Mit Recht benannte man diese abgesonderten, plötzlich und unverhofft aus der begeisterten Brust hervorbrechende Töne Motive. Ein Motivum ist etwas, was Bewegung verursacht und Antrieb gibt, es ist das Prinzip der Bewegung. Selbst die Physik gesteht, daß die Bewegung kein materielles Ding ist; dieses Prinzip muß folglich einen Platz außer der Materie haben. Die Motive können weder von der Materie noch von abstrakten Begriffen herkommen, sie sind Ideen. Darum sind manchmal sehr gelehrte Musiker sehr arm an Motiven, sie suchen sie oft an den Türen der Wirtshäuser, den Dorfgeiger belauschend. Das slavische Volk besitzt einen unermeßlichen Schatz dieser von den Komponisten noch ungekannten und unangewandten Motive. Darum gebricht es auch einem Volk, sobald es sich dem Materialismus ergibt, sofort an Motiven; es hört auf, Lieder zu dichten, seine Musik verarmt, wird gelehrt, sie kann noch leidenschaftlich sein, niedere menschliche Empfindungen wiedergeben, aber sie ist nicht mehr vom reinen schöpferischen Feuer beseelt. Lassen Sie uns jetzt den Einfluß der wahren Musik auf die Poesie betrachten. Ein polnischer Arzt177 machte die Beobachtung, daß die Musik den Umlauf des Bluts hemmt, die Tätigkeit des Blutsystems vermindert, zugleich aber das Nervensystem freier macht, d.h. sie gibt eine freiere Bewegung demjenigen Systeme, durch welches das nicht materielle Prinzip mit dem materiellen Menschen in Verbindung steht. Diese tiefe Bemerkung kann viele Werke hoher Poesie, deren Muster die Totenklage auf Saul178 uns darbietet, erklären. Der grambelastete König ruft in einem Anfall von Geistesstörung einen Lautenschläger herbei, um sich zu beruhigen, d.h. um die stürmischen

177 Konnte nicht ermittelt werden. 178 Vgl. das II. Buch Samuel (17–27) im Alten Testament.

738

Teil II

Bewegungen seiner Seele zu besänftigen.179 Die Musik also, die auf den Geist des Dichters einwirkt, überwältigt die Materie, zügelt die tierischen Leidenschaften und entfesselt ihr nicht materielles Prinzip. Ohne diese Wirkung atmete die Dichtkunst immer nur den materiellen Teil des menschlichen Wesens und brächte nur das hervor, was im Menschen am meisten tierisch ist, den Schrei der Tollheit, das Geschrei der Lüste, sie könnte auch die Fröhlichkeit verzerrt nachahmen, jedoch besäße sie nie jene majestätische Ruhe, jenes erhabene himmlische Feuer, das man z.B. in der israelitischen oder in manchen Bruchstücken Orphischer, gewöhnlich beim Klang der Musik verfaßter Poesien finden kann.180 Ohne Musik also gibt es keine echte lyrische Dichtkunst. Außer in der Bibel existiert nur noch ihr schwaches Andenken in den Chor-Gesängen griechischer Dichter und in der von Horaz überlieferten Theorie. Horaz sagt, daß der Chor die Wahrheit lehren, die Leidenschaften besänftigen, guten Rat geben, das Gebet der Gottheit darbringen und das Unglück beweinen soll.181 Diese Vorschriften umfassen den ganzen Beruf der hohen lyrischen Dichtkunst; aber jene zerstreuten Töne, jene Bruchstücke einer unter dem Volk herumirrenden großen Musik blieben von den Dichtern völlig unbeachtet. Und doch sind dies keimvolle Samenkörner. Der Ackersmann hinter dem Pfluge, welcher, wenn er zur Sonne aufblickt, ein Lied anstimmt, ohne zu wissen, woher es komme, ist ein echter lyrischer Dichter. Und in allen Volksliedern herrscht dieselbe Ruhe, wie in der hebräischen Poesie und in den Oden der Griechen. Als die Dichtkunst sich von der Musik losriß, geriet sie in abstrakte Vernünftelei und mußte niedrige Leidenschaften zu Hilfe rufen.

179 „Sooft nun ein Geist Gottes Saul überfiel, nahm David die Zither und spielte darauf. Dann fühlte sich Saul erleichtert, es ging ihm wieder gut, und der böse Geist wich von ihm.“ (I. Buch Samuel (16, 23). 180 Vgl. Die Hymnen des Orpheus. Griechisch und deutsch. In dem Versmaasse des Urtextes zum erstenmal ganz uebersetzt von David Karl Philipp Dietsch. Erlangen 1822; Joseph O. Plassmann: Orpheus. Altgriechische Mysterien. Jena 1928 (Neuausgabe: München 1992). 181 Vgl. Quintus Horatius Flaccus: Ars Poetica. Die Dichtkunst, Lateinisch / Deutsch. Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Eckart Schäfer. 2. Aufl., Stuttgart 1984; Verse 195–200: „Der Chor verteidigt die kräftige Pflicht, eine Rolle des Schauspielers, daß er aber mitten ins Geschehen platzt und, was nicht geeignet, nicht vorgesehen nützt und vielmehr stört. Jener soll die Guten unterstützen, als Freund beraten, die Zornigen lenken, würde gerne die Ängstlichen beruhigen, jener lobt Speisen kurzer Mähler, heile Gerechtigkeit und Gesetze, den Frieden bei offenen Türen, deckt Vollbrachtes, erfleht die Götter und betet sie an, daß das Glück den Elenden zurückkehre, den Wohlhabenden verschwinde.“

13. Vorlesung (15. Februar 1842)

739

Nun erst kann die Verschiedenheit erklärt werden, die zwischen der Blutaufwallung, dem rhetorischen Hitzfieber der Dichter des 18. Jahrhunderts und zwischen dem Enthusiasmus der wahren lyrischen Dichtung, welche übrigens noch mangelt, besteht. Hierin liegt eine große Aufgabe. Und wenn wir uns erinnern, daß der bezeichnende Charakter des Organismus der slavischen Gesellschaft eben der Mangel an aller Offenbarung Gottes ist, so werden wir sagen können, was die Erscheinung eines wahrhaft lyrischen Gedichts unter den Slaven zu bedeuten habe. Solch ein Gedicht wird der Anfang einer neuen Epoche, die Ankündigung des göttlichen Gedankens werden. In ihm werden zwei lange Zeit getrennte Kreise sich zusammenschlingen; die literarische Dichtkunst wird mit der Volksdichtung verschmelzen. Das Wesen der lyrischen Dichtung wollen wir bis zum Augenblicke des Erscheinens echter lyrischer Dichter unserer Tage aussetzen, jetzt aber den niedergelegten Faden der polnischen Geschichte wieder aufnehmen. Bei der Thronbesteigung des Stanisław August schienen die Fürsten Czartoryski den Zweck ihrer Wirksamkeit zu erreichen. Da diese übermächtige Fraktion schon nach ihrem Willen die Republik gelenkt, vermochte sie endlich Polen von Grund aus umzubilden und unbemerkt manche Gesetze und Einrichtungen einführend, die Natur der Nationalverfassung völlig umzuwandeln. Nach vielen ohne Gesetzgebung oder Sejm-Beratungen verflossenen Jahren erscheint plötzlich ein voluminöser Kodex182, der während eines einzigen Sejms angenommen wurde. Man hütete sich selbst vor dem Namen eines Gesetzes und schrieb nur Verordnungen und Verwaltungsartikel. Analysiert man jeden dieser Artikel, so ersieht man darin die Geschichte eines langen Nachdenkens und einer mühevollen Arbeit; keiner in strenge Grenzen umschrieben, alle verschiedenen Deutungen unterworfen, stehen sie dennoch in vollkommener Übereinstimmung, streben nach einem einzigen Endpunkte, nach der königlichen Gewalt. Der Sejm nahm sie einzeln an und ahnte die Richtung ihres Strebens nicht. Und die Nachbarmächte, die ihren Blick nur auf das Äußere der Republik gerichtet hielten, errieten nie den tiefen Zweck ihrer Tätigkeit im Inneren. Rulhière183 bemerkt hier, daß sich nie eine ähnliche Umwälzung ereignete, daß man nie eine Privatfamilie solch eine Reform in 50 Jahren vollenden sah, welche selbst das königliche Haus in Frankreich durch fortgesetzte jahrhundertlange Bemühungen nicht zu erreichen vermochte. 182 Vgl. Władysław T. Kisielewski: Książęta Czartoryscy i ich reforma na sejmie 1764. Sambor 1880. 183 Vgl. Claude Carloman de Rulhière: Histoire de l’anarchie de Pologne et du démembrement de cette République: suivie des anecdotes sur la révolution de Russie, en 1762, par le même auteur, Band 2. Paris 1807, S. 305–306.

740

Teil II

Aber im Augenblick ihres Triumphs stießen die Czartorvskis auf unvorhergesehene Hindernisse. Sie traten endlich mit ihren wirklichen Absichten offen hervor und begannen Rußland die Stirne zu bieten. Dieser Widerstand, dem Anschein nach wenig bedeutend, hatte den Charakter eines tiefen, versteckten Hasses und wurde desto reizbarer, je länger er verkappt blieb. Sie verweigerten dem russischen Hofe den Abschluß eines Angriffsbündnisses und wendeten sich an die ihm feindlich gesinnten Höfe, im Lande aber gaben sie schon ganz unumwunden den Entwurf zur Aufhebung des Liberum veto und zur Annahme eines Gesetzes, kraft dessen die Mehrheit alles bestimmen sollte. Erst jetzt erkannte plötzlich der preußische König Friedrich der Große die Absichten der Reform, und faßte einen unerbittlichen Haß gegen die Czartoryskis und den polnischen König; er verklagte sie bei Rußland. Andererseits haben die dem Systeme der Familie entgegengesetzten, sowie die republikanischen184, das alte Polen vorstellenden Parteien, ihre Klagen über die mit Despotismus drohenden Umtriebe der Familie auch vor fremde Höfe gebracht. Rußland und Preußen nahmen also die Freiheit in ihren Schutz, und indem sie in den Manifesten die Vorzüge der republikanischen Institutionen erhoben, das verfallene Liberum veto hochpriesen185, nahmen sie sich vor, der Welt ein Beispiel unerhörter Großmut zu geben, die Vorrechte der Polen, wenn auch wider ihren Willen, zu erhalten, die Nation vor ihren eignen Leidenschaften zu verteidigen und alle möglichen Mittel zur Aufhebung der Reformen anzuwenden. Stanisław August, einerseits von den Czartoryskis zur Einnahme der ihm vorbereiteten Stellung angespornt, andererseits durch die Drohungen Katharinas abgeschreckt, wankte zuerst, warf sich aber endlich in die Arme Rußlands. Die Fürsten Czartoryski, vom König verlassen, von ihren Verbündeten verstoßen, von den ihnen entgegengesetzten Parteien angefeindet, verloren bald die ganze Frucht aller ihrer Bemühungen von einem halben Jahrhundert und wurden das Ziel von Verfolgungen. Dies Verhängnis, das seit jeher alle Parteien in Polen zu gegenseitiger Vernichtung leitet, macht ihre Geschichte ungemein tragisch. Jetzt erkennen wir, was der Fatalismus bedeutet, und was er bei den Alten war. Jede Tragödie ist eine Fatalität. Wenn der Mensch das Geheimnis seiner Bestimmung verliert und noch nicht aufhört, an das Dasein einer übersinnlichen Welt zu glauben, 184 Zu der „republikanischen“ Fraktion gehörten die Adelsfamilien von Jan Klemens Branicki, Józef Potocki, Franciszek Salezy Potocki, Stanisław Szczęsny Potocki, Karol Radziwiłł „Panie Kochanku“; (der Beiname „Lieber Herr“ diente zur Unterscheidung von den anderen Mitgliedern der Familie Radziwiłł). 185 Vgl. Zofia Zielińska: Zabiegi Rosji o zachowanie Liberum veto i o gwarancję w okresie bezkrólewia 1763–1764 roku. In. Kwartalnik Historyczny, 111 (2004), 3, S. 63–88.

13. Vorlesung (15. Februar 1842)

741

so muß er notwendig Fatalist werden. Am Ende einer Periode oder in den Übergangszeiten sind alle Männer von höheren Geistesgaben meistens Fatalisten. Friedrich der Große, im praktischen Leben ein vollendeter Skeptiker, fürchtete doch den Zufall und sagte, daß der Zufall alles regiere, er war Fatalist. Die Fürsten Czartoryski und der König Stanisław August, die ihr Vertrauen in politische Berechnungen und ihre Systeme und Hoffnungen auf Mächte stützten, deren Absichten sie weder verstehen noch berechnen konnten, waren auch Fatalisten. Stündlich kam eine Kabinettsnote von Berlin oder ein Courier von Petersburg, wie eine wahre Gottheit, wie das Fatum der Alten, an, alle ihre Pläne unverhofft zu verwirren, alle ihre Grundsätze umzuwerfen. Der König Poniatowski, dieser zum Leiden verurteilte Monarch, fühlte tief seine eigne und seiner Nation Erniedrigung; er büßte schwer das rationelle System. Überall Schutz suchend und nirgends findend, beweinte er bitter seine Ohnmacht. Oft setzte er in den Königssälen durch den Reiz seines Gesprächs, durch seinen lebhaften Witz und Frohsinn die Höflinge in Verwunderung; blieb er aber allein in seinem Gemach, so stürzte er zu Boden und stöhnte laut unter der Last seiner Leiden. Mehr als einmal sah man ihn am Bett kniend mit starren Augen, die Hände erhoben; er hatte aber nicht den Mut, inmitten des Sejms die Hände zum Himmel emporzuheben; er hatte nicht Mut, über des Vaterlandes Mißgeschick öffentlich zu sprechen, und in der Macht, in der Begeisterung und im Feuer des Volkes Heil zu suchen. Das  18. Jahrhundert berührte auf verschiedenen Wegen die Charaktere, welche das alte Polen damals vertraten. Die Fürsten Czartoryski stammen aus Litauen, wo die höhere Klasse aus Familien normannischen Ursprungs bestand, und besaßen in ihrem ganzen Wesen etwas Normannisches. In ihren Plänen und Unternehmungen offenbart sich jene Geduld, Ausdauer und Erwägung, die dem Normannentum eigen. Das 18. Jahrhundert hat sie in seine Philosophie und seine politischen Systeme verflochten. Der König Poniatowski, von ganz anderer Abstammung, ließ sich durch die sinnlichen Versuchungen des Jahrhunderts irre führen. Eitle Ergötzungen und Vergnügungen raubten ihm die Energie des Geistes. Im Dunkel der Parteireibungen, wo alles sich verwickelt und verwirrt, wo die Andersgläubigen, die Lutheraner und Schismatiker durch den preußischrussischen Hof aufgehetzt, in ihrem Geist handelnd zugleich gute Vaterlandssöhne sein wollen; wo die Prälaten, die Toleranz genehmigend, den Krieg zum Schutz der katholischen Religion entzünden; wo die fremde Gewalt durch Belagerung die Städte zum Aufruhr zwingt, durch Umtriebe die Provinzen zu Metzeleien aufreizt: da ruft dieses Einschreiten fremder Mächte eine neue Partei hervor, die zwischen der alten und späteren Geschichte den Scheidepunkt gibt und die neuere Geschichte beginnt.

742

Teil II

Diese Partei beabsichtigte, den König zu entthronen und die Republik von der russischen Übermacht zu erlösen; sie dachte nach alter Sitte an die Veränderung der Dynastie, sie wollte von Neuem die Krone dem sächsischen Haus überreichen, und da sie furchtsam durch diplomatische Mittel wirkte, so erwartete sie immer etwas und zog die Sache in die Länge. Ein Mann aber, dessen Andenken im Volk ewig bleiben wird, ein schlichter Edelmann, Józef Pułaski, schloß inzwischen mit seinen Söhnen (Kazimierz und Antoni) und seinem Neffen (Franciszek) die berühmte „Konföderation zu Bar“ (Konfederacja barska)186, beendigte das Schwanken und sprach das Losungswort. Pułaski hing anfänglich an den Aussichten der sächsischen Partei, aber bald verwarf er dergleichen Berechnungen und faßte den Vorsatz, nur für die Unabhängigkeit seines Vaterlandes zu kämpfen. Dies beginnt die Epoche der Wiedergeburt Polens. Der Gedanke dieser Konföderation beruhte weder auf Grundsätzen noch auf durchdachten Berechnungen, er stützte sich nur auf ein großes Gefühl. Die Konföderierten rufen nur im Namen der Nationalehre für die Befreiung der Republik zu den Waffen. Ihre Stimme bewegt alle edlen Herzen. Was nur bei der Czartoryskischen und der ihr entgegengesetzten republikanischen Partei Vernünftiges war, sammelt sich um die Konföderierten. Die alle durch die Familie erniedrigte Aristokratie, der durch die Familie verachtete litauische kleine Adel strömt zum Bunde herbei, selbst die Dissidenten, Lutheraner und Kalvinisten eilen mit Begeisterung demselben entgegen. Auf diese Art bildet sich eine bewaffnete Schar, die noch kein Losungswort führt, aber schon keins von den Zeichen annehmen will, die bis jetzt die Parteien auszeichnen. Es ist merkwürdig, daß, so oft die polnische Volksmasse aufgestanden, immer die Priesterhand ihre Fahne trug. Wenn wir den Heiligen Wojciech (Adalbert) und den Heiligen Stanisław schon übergehen, so erblicken wir jetzt noch Kordecki, den Bischof Kajetan Sołtyk187 und den Geistlichen Marek.188 186 Die Konföderation von Bar (1768–1772) war ein am 29. Februar 1768 von polnischen Adligen (Adam Krasiński, Kazimierz Pułaski, Michał Krasiński u.a.) gegründetes Militärbündnis gegen Russland und den polnischen König Stanisław Poniatowski, das die Unabhängigkeit Polens anstrebte, aber nach langen Kämpfen und Vermittlungsversuchen scheiterte. Vgl. Władysław Konopczyński: Konfederacja barska. T.  1–2. Warszawa 1991; Janusz Maciejewski, Agnieszka Magdalena Bąbel, Jacek Wójcicki, Agata GrabowskaKuniczuk: Literatura Konfederacji Barskiej. Bd. 1: Dramaty; Bd. 2: Dialogi. Warszawa 2005. 187 Kajetan Sołtyk (1715–1788). Vgl. Kazimierz Rudnicki: Biskup Kajetan Sołtyk. Kraków 1906 (= Monografie w zakresie dziejów nowożytnych. Tom 5. Hrsg. Szymon Askenazy). 188 Marek Jandołowicz (∼ 1713–1794). Prediger des Karmelitenordens in der podolischen Stadt Bar; ihm werden die „Prophezeihungen für Polen“ („Wieszczby dla Polski“) zugeschrieben, worin er den Niedergang und die phönixhafte Wiedergeburt Polens voraussagt; Hauptgestalt in den romantischen Dramen von Seweryn Goszczyński „Proroctwo Ks.

13. Vorlesung (15. Februar 1842)

743

Niemand sprach besser die moralische Idee der Konföderierten von Bar aus, als es Sołtyk in seinem Aufruf an die Nation tat. Seine Worte sind: Diese zweifelnden Staatsbürger haben viele Reiche zu Grunde gerichtet, welche sich nach den Zeitumständen fügen wollen und welche, anstatt nachzudenken, was ihnen die Pflicht für die öffentlichen Angelegenheiten zu tun gebietet, nur nachsinnen, wie aus den schlechtesten Umstanden Vorteil oder wenigstens der geringste Nachteil zu ziehen wäre, und auf diese Art stellen sie den Ereignissen nicht die ungebeugte Kraft und unerschütterliche Standhaftigkeit der Pflicht entgegen, sondern ihre Vernunft, ihre Weisheit, ihre schwache menschliche Vorsicht. Nie werden wir die Hoffnung der Erlösung Polens verwirklicht sehen, so lange der größere Teil der Polen nicht aushört, zu berechnen, was er kann, und nicht anfängt, zu erwägen, was er tun soll. Die ewigen Gesetze stehen hoch über den erhabensten Bemühungen der Genies und der Talente.189

Beinahe die nämlichen Worte finden wir zur Zeit Sigismunds III. in der Rede des Bischofs Wawrzyniec Goślicki190, später in der Rede Kordeckis191 und endlich in dem oben angeführten Aufruf. Sołtyks Ideen zeigten sich verkörpert in dem Karmelitermönch Marek. Er wagte im Namen des Glaubens und der Unabhängigkeit seines Vaterlandes das Banner Polens gegen ganz Europa zu erheben. Die Konföderation von Bar fiel, weil sie eins nicht verstanden, nämlich, daß sie alle europäischen Mächte gegen sich haben mußte. Diesen Begriff hatte sie zwar in ihrer Theorie, aber nicht in ihrer Praxis. Man rechnete noch auf Österreich, man suchte nach Hilfe in Frankreich und glaubte den Grundsatz behaupten zu können, ohne an dessen Folgerungen festhalten zu müssen. Marka“ (1833) und Juliusz Słowacki „Ksiądz Marek“ (1843). Vgl. den Sammelband – Przemiany tradycji barskiej. Red. Zofia Stefanowska. Kraków 1972. 189 Das Original lautet: „La plupart des états, leur disait-il, ont été perdus par ces citoyens équvoquesw gui veulent s’ accomoder au temps, qui dans les affaires publiques, au lieu de considerer ce que le devoir exige d’eux, cherchent à tirer des plus fâcheuses circonstances le meilleur parti, ou du moins le moindre mal possible, et n’opposent par-là aux événemens que les ressources de leur esprit, de leur sagacité, de la faible prévoyance humaine, et non l’inflexible roideur de la vertu, la fermeté inébranlable du devoir; et nous ne verrons la Pologne concevoir quelqu’espérance de salut, que quand le plus grand nombre des Polonais cesseront de calculer ce qu’ils peuvent, pour considérer uniquement ce qu’ils, doivent: tant les règles éternelles de la vertu sont au-dessus des plus sublimes efforts du génie et des talens.“ – Claude Carloman de Rulhière: Histoire de l’anarchie de Pologne et du démembrement de cette République: suivie des anecdotes sur la révolution de Russie, en 1762, par le même auteur, Band 2. Paris 1807, S. 484. Zitat nach [http://www.hathitrust. org]. Sinngemäße Wiedergabe der Ansichten von Sołtyk aus seinen Reden und Briefen durch Rulhière aus bisher unbekannten Quellen. 190 Vgl. dazu die 38. Vorlesung (Teil I). 191 Vgl. dazu die 4. Vorlesung (Teil II).

744

Teil II

Wenn wir jedoch bedenken, wie diese Männer mit einem Häuflein von kaum drei- bis vierhundert Edelleuten, ohne reguläre Truppen, ohne Geschütz, ohne Geld, ohne Festungen für ihre Zuflucht, sich auf die Russen und Preußen stürzten, so werden wir über sie nicht klagen dürfen, daß sie nicht logisch genug dachten und nicht genug Mut besaßen, an Europa ein Manifest ergehen zu lassen, obschon die Idee, welche sie verteidigten, dieses von ihnen erfoderte. Und wem ist es demnach erlaubt, die Fürsten Czartoryski oder den König Stanisław August zu verurteilen? In Frankreich steht niemand das Recht zu, über sie Klage zu führen. Man kann weder Wenzel Anton Kaunitz192, noch Friedrich den Großen, noch irgendeinen Minister, der damals Europa lenkte, diesen Männern gleichstellen. Hoch über alle jene ragen die Fürsten Czartoryski durch ihre edlen Gefühle, durch die ihrem Land dargebrachten Opfer von eignem Vorteil, Leben, ja selbst Ehre, hervor. Das ganze Europa des 18. Jahrhunderts kann neben ihnen keine so würdigen Männer aufstellen. Polen allein hat das Recht, ihnen Vorwürfe zu machen, weil es in seiner Geschichte das Beispiel von Jan Kazimierz und Kordecki besitzt. Polen allein hat das Recht, sich über sie zu beschweren, daß sie die uralte Landesverfassung nicht geachtet, daß sie nicht auf diesen Schutz gebaut, auf welchen ein armer Pauliner- und Karmelitermönch vertrauend, des Triumphs seines Vaterlandes über alle Feinde sicher war, daß sie nicht genug Glauben an den Gott ihrer Väter hatten. Polen kann auch dem Könige Stanisław Poniatowski vorhalten, daß er nicht verstand, ein wahrer polnischer König zu sein, ein König, wie ihn die Nation verlangte, nämlich der tapferste, der schlichteste und den Bedürfnissen der damaligen Zeit entsprechend, der trotzigste aller Polen. Ein Augenblick voll Mut und Offenherzigkeit hätte ihm auf einmal alles wiedergegeben, was er durch vieljährige Unzulänglichkeit und geheime Ränke verloren. Mehr als einmal wollte er schon von wahrer Liebe für das allgemeine Beste beseelt und stark durch seine Beredtsamkeit, sich persönlich zu den Konföderierten begeben; immer aber hielten ihn die Höflinge durch die Furcht vor Gefahr und insonderheit vor der Lächerlichkeit zurück. Die Furcht vor der Lächerlichkeit hat viel Böses in Polen getan. Die geradherzigen Söhne des Nordens bestrebten sich, die Ausländer nachzuahmen und schauten sich um, ob sie nicht für linkisch oder lächerlich gehalten werden. Viele politische Endzwecke sind mit dem Bemerken vernichtet worden, daß Europa darüber lachen würde.

192 Wenzel Anton Kaunitz (1711–1794), Reichfürst und Staatskanzler unter Maria Theresia von Österreich und Joseph II.

14. Vorlesung (18. Februar 1842) Bild des Konföderationskrieges – Charakter seiner großen Männer – Rußland, obgleich in einer mißlichen Lage, triumphiert dennoch – Rußlands triumphierende Flotte – Der Fall der Konföderation macht Epoche in der europäischen Politik – Rußland, Preußen und Österreich verspüren es, daß in Polen eine neue Idee aufgegangen ist – Repräsentant derselben ist der Priester Marek.

Wir müssen jetzt unsere Blicke dem Kriegsbild zuwenden, das unter dem Namen der „Konföderation von Bar“ bekannt ist. Nach diesem Kampf folgen zwanzig Friedensjahre für Rußland und Polen, und das ganze Leben beider Nationen, in politischen Anstrengungen ermüdet, ist nur in literarischen Bewegungen sichtbar. Die Konföderation von Bar, ihre Waffe für die Religion, Unabhängigkeit und Freiheit des Reichs erhebend, machte allen berechneten Plänen ein Ende, lähmte durch ihren Kriegsruf alle bisherigen Parteien; erst jetzt fühlte der König, daß er der Nation wirklich aufgedrungen war: er wagte nicht, an die Spitze der Konföderierten zu treten, denn sie kämpften gegen Rußland, er konnte nicht die russische Obhut zurückweisen, denn durch sie hatte er die Krone; von da ab gebrach ihm das politische Leben. Die Fürsten Czartoryski, allzu gute Patrioten, um einen Bürgerkrieg anzufachen und ihre Landsleute zu verfolgen, blieben neutral, verließen den politischen Schauplatz, sich auf eine stille Opposition gegen das russische Kabinett beschränkend, was indeß keinen Nutzen brachte. Die Konföderation bestand aus einer Menge kleiner Verbindungen, die sich in allen Provinzen, in jedem Bezirk, fast in jeder Stadt, bildeten. Es war ein Heer zerstreuter, hemmziehender Reiterscharen, die das polnische Reich von Kiev bis an Preußens Grenzen und vom Baltischen bis ans Schwarze Meer durchstreiften. Die Russen hatten Städte, Festungen inne, hatten ihren Mittelpunkt in Warschau, konnten also nach einem bestimmten Plan verfahren, Verbindungen hindern und in regelrechtem Kampf den Konföderierten Niederlagen beibringen. Kleine Volkshaufen vermochten nie der russischen Artillerie und dem Fußvolk Stand zu halten, doch wenn sie mit der Reiterei oder mit Transporten zusammenstießen, blieben sie immer im Vorteil. Die weit um sich greifende Kriegsfurie verschlang Tausende von Dörfern und Höfen, das Volk tummelte sich haufenweise auf den Feldern und rächte sich an den Verbündeten für ihre Siege. Unmöglich ist es, ein Gesammtbild dieses Krieges zu entwerfen, seine Geschichte streift an das Romanhafte, selbst die Charaktere der Helden haben Romantik in ihrem Wesen, etwas, was an die Helden der „Ilias“ und die fahrenden Ritter des Mittelalters erinnert. © Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_056

746

Teil II

Lesen wir z.B. die in Frankreich erschienenen Memoiren von Beniowski193, welche wunderbare Dinge finden wir da! Dieser Konföderat wurde von den Russen gefangen, nach Sibirien geschleppt und in einer festen Stadt Kamčatkas eingeschlossen; er macht eine Verschwörung, überfällt die Besatzung, ergreift den Kommandanten, macht sich zum Herrn der Festung, läßt die Kamčatka-Bewohner, die nicht einmal wissen, ob ein Polen existiert, Treue der Konföderation von Bar schwören; nach einem Widerstand von einigen Monaten wird er gezwungen zu flüchten; über das japanische Meer gelangt er nach den französischen Kolonien, von da nach Paris mit der ersten vollständigen Nachricht von den Ereignissen in Polen und bittet um Hilfe für die Konföderation. Die Taten eines Michał Dzierżanowski (1725–1808), Józef Sawa-Caliński, Kazimierz Pułaski und so vieler anderer Männer voll seltener Biederkeit, Muts und Seelenkraft, wieviel Stoff könnten sie noch den Romantikern bieten.194 Über alle strahlt Kazimierz Pułaski.195 Sein Vater starb im Gefängnis und wurde sogar durch die Verbündeten angeschuldigt; Brüder und Verwandte fielen im Kampf, er blieb allein; mehrmals von den Seinen gekränkt, von den Feinden immer am heftigsten verfolgt, verlor er nie den Mut und den Feuereifer. Im Sommer sieht man ihn auf den Steppen der Ukraine, des Winters 193 Móricz August Benyovszky (1746–1786). Vgl.: The Memoirs and Travels of Mauritius August Count de Benyowsky, Magnate of the Kingdom of Hungary and Poland. One of the Chiefs of the Confederation of Poland. Consisting of his Military Operations in Poland, his Exile into Kamchatka, his Escape and Voyage from that Peninsula through the Northern Pacific Ocean, Touching at Japan and Formosa, to Canton in China, with an Account of the French Settlement, he was Appointed to Form upon the Island of Madagascar. Written by Himself. Translation from the Original Manuscript. London-Dublin 1790. Deutsche Übersetzung: Des Grafen Moritz August v[on] Beniowski Reisen durch Sibirien und Kamtschatka über Japan und China nach Europa. Amsterdam 1984 [Reprint der Ausgabe Berlin 1790]. 194 Michał Dzierżanowski (1725–1808), Józef Sawa-Caliński (gest. 1771), Kazimierz Pułaski (1745–1779). Sie tauchen später in den Werken der polnischen Romantik auf. Vgl: Henryk Rzewuski: Pamiątki Soplicy. Hrsg. Zygmunt Schweykowski, Wrocław 2009; deutsche Übersetzung: Henryk Rzewuski: Denkwürdigkeiten des Herrn Soplica. Übertragen von Philipp Löbenstein mit einem Nachwort von Andrzej de Vincenz. Frankfurt am Main 1986; ferner – Juliusz Słowacki: Beniowski. Poema. Hrsg. Alina Kowalczykowa. 4. Auflage. Wrocław-Warszawa-Kraków 1996; deutsche Übersetzung Juliusz Słowacki: Beniowski. Eine Versdichtung. Übersetzt und herausgegeben von Hans-Peter Hoelscher-Obermaier. Frankfurt am Main 1999; Juliusz Słowacki: Sen srebrny Salomei. Romans dramatyczny w pięciu aktach. Hrsg. Alina Kowalczykowa. Wrocław 2009. 195 Kazimierz Pułaski (1745–1779). Einer der Anführer der Konföderation von Bar; nach 1772 Emigration in die Vereinigten Staaten, wo er an der Seite von George Washington kämpfte; gilt als Begründer der amerikanischen Kavallerie („Father of the American Cavalry“); vgl. Władysław Konopczyński: Kazimierz Pułaski; życiorys. Kraków 1931, Antoni Lenkiewicz: Kazimierz Pułaski (1745–1779). Wrocław 2004.

14. Vorlesung (18. Februar 1842)

747

haust er in den Karpaten, mit dem Beginn des Frühlings bricht er wiederum plötzlich in Königlich-Preußen ein. Nach der heutigen Kriegsmethode begreift man schwerlich diese Bewegungen, diese Märsche von 40 bis 50 Meilen in 24 Stunden. Ein Krieg der Art dauerte fünf Jahre fort. Die Konföderaten ergänzten sich immer nach schweren Verlusten durch neue Ankömmlinge, bis es ihnen endlich gelang, Europa für ihre Sache in Bewegung zu setzen. Unter allen Monarchen jener Zeit gedachte der einzige Sultan Mustafa III., ein ehrlicher, andächtiger, den Vorschriften seiner Religion treuer Mann, aufrichtig den Polen beizustehen. Es fehlte ihm aber an Beweggründen zur Erklärung des Krieges, denn Rußland stritt seine Teilnahme an den inneren Unruhen der Republik ab, es gab vor, daß es seine Heere nur zu Werbungen auf das polnische Gebiet sende; man redete sogar dem türkischen Hofrat ein, daß Abteilungen, die man nach Warschau geschickt, kein anderes Ziel gehabt, als dem König zum Namenstag zu gratulieren. Der englische und preußische Minister verhehlten auf jede mögliche Weise die Wahrheit, erließen selbst fortwährend Noten, um die Aussagen des Petersburger Kabinetts zu bekräftigen. England gab, ungeachtet der Handelskonflikte mit Rußland, wie immer, so auch damals, in entsprechenden Augenblicken alle Nebenrücksichten bei Seite setzend, jener überwiegenden Sympathie Gehör, um Rußland beizustehen und zu retten. Erst nachdem Konföderatenabteilungen, von den Russen verfolgt, hinter dem Dnjester erschienen, zauderte der Sultan nicht mehr, den Krieg anzukündigen und zahlreiche Truppen abzuschicken. In dieselbe Zeit fiel die Revolution in Schweden196, die dem russischen Einfluß sich entgegensetzte, und innerhalb des Reichs ließ sich ein drohendes Murren vernehmen: allgemein sprach man von Verschwörungen gegen die Familie der Schleswig-Holstein-Gottorf, und erwartete jeden Augenblick einen Aufstand des Volkes in der Residenz. Für Polen schienen daher günstigere Augenblicke zu nahen, und Rußland befand sich in schwierigen Umständen. Die Zarin Katharina II. verriet bisweilen selbst geheimen Kummer und Sorgen, dennoch bereitete das Petersburger Kabinett mitten in dieser Bekümmernis riesige Unternehmungen: zu den äußersten Mitteln greifend, um für seine Heere das notwendige Geld aufzutreiben, schmiedete es den Plan, in Griechenland einzufallen, die slavischen Stämme aufzuwiegeln, die Moldau und Walachei wieder herzustellen, den 196 Anarchische Zustände in Schweden (1668–1771), entstanden durch Auseinandersetzungen der „Partei der Hüte“ (Hattpartiet), die zu Frankreich hielt, mit der „Partei der Mützen“ (Mössoma), die Russland favorisierte. Den Konflikt beendete Gustav III. während seiner Regentschaft (1771–1792); vgl. Ronald D. Gerste: Der Zauberkönig. Gustav III. und Schwedens Goldene Zeit. Göttingen 1996.

748

Teil II

Blicken des östreichischen Kaiserhauses eine Veränderung bietend, die Türken aus Europa zu jagen und ein orientalisches Reich zu bilden, für welches man sogar schon Gesetze in Petersburg schrieb. Unter Anführung französischer und englischer Offiziere schickte das Kabinett eine russische Flotte ins mittelländische Meer. Diesen Dingen schenkte man keinen Glauben in Europa. Die Engländer verspotteten die russische Marine wie einst die Karthager die römische. Beim Anblick des falschen Baus und der schlechten Besatzung der Schiffe konnten sie sich des größten Gelächters nicht enthalten. Selbst der Admiral John Elphinston, welcher die Expedition kommandierte, verhöhnte seine Flotte und seine Matrosen dermaßen, daß er mit Kanonen scharf auf sie feuern ließ, wenn er Zeichen zum Aufbrechen oder Anhalten gab. Und doch umschiffte diese so verspottete und gering geachtete Flotte das Festland Europas, lief ins Marmarameer, zwang unter der Führung des Admirals Aleksej Grigor’evič Orlov die große türkische Flotte zur Umkehr und sperrte sie in der Meerenge bei Çeşme (1770) ein. Der Admiral Grigorij Andreevič Spiridov vernichtete mit Hilfe des Kapitäns Samuel Greigh mit Brandschiffen dem Sultan eine doppelt so große Schiffszahl als die seinige war. Elphinston ging zuerst mit einer Fregatte durch die Dardanellen, gab der Besatzung auf dem Verdeck einen Abendtee und kehrte im Triumph zurück. Die Türken baten um Frieden; da hörten die englischen und französischen Journale auf zu scherzen. Die türkischen Landtruppen, durch ihre Anführer, durch Verwalter, die der Unternehmung feind waren, oft verraten, zerstreuten sich am Dnjester. Die schon zivilisierteren Paschas und Vezire konnten die ehrlichen und religiösen Absichten des Sultans nicht mehr begreifen, ließen sich daher leicht durch die Russen bestechen. Aleksand Michajlovič Golicyn, und später Petr Aleksandrovič Rumjancev-Zadunajskij drängten die Türken zurück und wandten sich gegen Polen: für die Konföderaten schlug die letzte Stunde. Der preußische König, der alles genau mit ansah, schickte fortwährend seine Pläne und Ansichten der österreichischen Kaiserin zu und bewog sie, der Konföderation den Todesstoß zu versetzen und Polen zu zerreißen. Von der einen Seite schritten 20 000 Preußen, von der anderen eine doppelte Anzahl Österreicher ins polnische Gebiet, wo überdies schon 40 000 Russen hausten und die Hauptpunkte besetzt hielten. Nach vielen gräßlichen Schlachten hatte man die Konföderaten aus allen Orten verdrängt und gab Befehle, sie als Räuber und Mörder zu verfolgen: bald schwanden sie von der politischen Bühne. Die Vollendung dieser Tat betrachtet Rulhière als das größte Ereignis neuerer Zeiten, als den Anfang der neuen Epoche.197 Allerdings änderte sich seit197 Vgl. Claude Carloman de Rulhière: Histoire de l’anarchie de Pologne et du démembrement de cette République: suivie des anecdotes sur la révolution de Russie, en 1762, par le même auteur. Band 1. Paris 1807, S. 10.

14. Vorlesung (18. Februar 1842)

749

dem völlig die europäische Politik. Bisher führten die Mächte unter einander Krieg oder schlossen Traktate, um sich gegenseitig zu sichern; man verschwor sich gegen den Mächtigeren, man bemüht sich endlich, eine Provinz zu erhaschen, ein politisches oder Handelsprivilegium zu erlangen. Jetzt aber sehen wir drei Mächte in Verabredung gegen ein Reich, das für das schwächste galt, und durchaus nicht in Absicht auf Beute, nicht um das Reich zu teilen, sondern aus einer Ursache, die allgemein mißverstanden ward. Die vereinigten Höfe weigerten sich lange, Polen zu teilen, als wehrten sie sich vor den Einflüsterungen des bösen Geistes. Rußland und Preußen erkühnten sich nur durch Angst, Österreich trat schüchtern bei, doch ungeachtet der Scheu der Herrscher und der Abratungen der Minister folgten sie dem mächtigen Trieb, dem Instinkte, sich selbst zu erhalten, denn sie fühlten, daß aus dem Schoß der Slaven eine neue Idee auftaucht. Und wirklich, die Konföderation von Bar erhob nicht bloß die Fahne zur Vertreibung russischer, österreichischer und preußischer Heere, sie erklärte nicht damit zu schließen, sie wollte keine Verträge eingehen. Als man Pułaski Amnestie und sogar die Zurückziehung der russischen Truppen aus der Republik versprach, sagte er, daß er alsdann gegen die Russen nach Moskau marschieren würde. Er hatte nicht bloß die Absicht, das Reich zu befreien, sondern alles aufzureiben, was der Entwicklung desselben im Wege stände. Die Gedanken, welche der Bischof Sołtyk in seiner Rede aussprach, und welche den Glauben an menschliche und diplomatische Berechnungen zurückweisen, erschütterten die Grundfesten der europäischen Politik. Noch verstand niemand, welches Streben Polen erschütterte; die Konföderaten selbst hatten keine klare Vorstellung ihrer Absichten; nur die Monarchen erzitterten bei dem Anblick jener schwachen und ungeübten Häuflein, sie wurden dermaßen von Furcht um das politische Gleichgewicht Europas und die pragmatische Sanktion ergriffen, daß sie, das Hineinblicken in die geheimen Kabinettsbücher vergessend, einmütig zur Löschung der gefährlichen Flamme herbeistürzten. Dies war die Einleitung zu den späteren Umtrieben in Koblenz198: wenn sich nämlich die europäischen Staaten plötzlich vereinen und ohne Rücksicht auf diplomatische Schritte der Französischen Revolution den Krieg erklären, um eine Idee zu töten, die für sie gefährlich war.

198 Gemeint ist das in Koblenz entstandene „Manifest des Herzogs von Braunschweig“ (Manifeste de Brunswick) vom 25.7.1792, in dem Feldmarschall und Herzog Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig-Wolfenbüttel im Auftrag des Kaisers von Österreich und des Königs von Preußen die Pariser Bevölkerung vor Übegriffen auf das französische Königshaus warnt und mit Krieg droht; es blieb ohne Wirkung und konnte die Ereignisse in Paris nicht aufhalten. Text des Manifests vgl. Wolf D. Behschnitt: Die Französische Revolution Quellen und Darstellungen. Stuttgart 1983.

750

Teil II

Aus dieser Rücksicht behauptet die Konföderation von Bar einen sehr wichtigen Platz in der Geschichte Europas und ist insbesondere für die Slaven von einer noch tieferen Bedeutung. Denn indem diese kriegerische Verbrüderung einen neuen Geist verbreitete, zerriß sie alle Bande der Vergangenheit, verließ einigermaßen die geschichtliche Bahn der Nation, löste sich von allen parteilichen und provinziellen Vorurteilen los. Drei Hauptcharakterzüge der Konföderaten lassen sich nach der Örtlichkeit bemerken. Die südlichen sind die trotzigsten, in ihren Anführern schimmert etwas Altkosakisches durch; die lithauischen bemühen sich um eine Art Gesetzlichkeit, sie verfahren stets mit Ordnung und Ausdauer; die sogenannten „Koroniarze“, d.h. die von der Krone Polens stammenden, streifen schon mehr an den Charakter der französischen Revolutionäre; mehr eingenommen für die Mittel als den Zweck, verschwören sie sich, wollen den König ergreifen, schmieden Pläne für Gewalt und Schrecken. Aber mitten unter diesen verschiedenen Stimmungen erhebt sich und gewinnt die alte polnische Idee, die Idee des Edelmuts, der Aufopferung und des Enthusiasmus, die alle Pläne verwirft, keine Hindernisse achtet, die Oberhand. Diese Idee, zuerst von den Königen, dann von den Magnaten aufgegeben, jetzt durch den niederen Adel wieder gehoben, wird endlich in dem eigentlichen Polen wie auch in Lithauen und der Ukraine zur allgemeinen Volkstümlichen Idee, sie bemächtigt sich des ganzen Reichs. Der Mann, der diese Idee am meisten repräsentierte, der angesehenste Mann jener Zeit, nicht durch seine Taten, aber durch die Begeisterung im Glauben, war unstreitig der Priester Marek. Gleichwie Pułaski entging er nicht dem Verdacht, selbst nicht den Verfolgungen seiner Landsleute. Unglücklicherweise fanden sich unter den Konföderaten Leute, die das Werk betreiben wollten und doch nicht die Überzeugung hegten, aus der es hervorging. Darum finden wir in den Memoirendieser Zeit den Priester Marek und Pułaski des Fanatismus angeklagt. Józef Wybicki199 und andere sonst angesehene Männer, erzogen in den Begriffen des Jahrhunderts, konnten diese Fanatiker nicht verstehen. Wer aber hätte ohne ihren Fanatismus gewagt, mit schwach gewaffneten Häuflein auf Mächte wie Rußland und Preußen loszugehen? Wer hätte den Gedanken gefaßt, einen Kampf der weder Einigung noch Rückzug erkannte, in ein Nationalsystem umzuwandeln? In einem Treffen begann man Pułski zuzurufen, er möge fliehen; er aber stürmte vorwärts, ward freilich gefangen, es folgten aber alle diese verständigen und vorsichtigen Herren diesem fanatischen Führer nicht. Ähnlich erging es dem Geistlichen Marek, der allein auf 199 Józef Wybicki (1747–1822), Verfasser der polnischen Nationalhymne. Vgl. seine Erinnerungen Józef Wybicki: Życie moje … oraz wspomnienie o Andrzeju i Konstancji Zamoyskich. Hrsg. Adam M. Skałkowski. Wrocław-Warszawa 2005.

14. Vorlesung (18. Februar 1842)

751

den Wällen einer Festung in hartnäckigem Kampf zurückgeblieben, in Feindes Hand geriet und schon umgebracht werden sollte. Doch zum ersten Male, seitdem die Geschichte von Kriegen zwischen Russen und Polen etwas zu erzählen weiß, begegneten sich die Gemüter der einfachen Soldaten vereint durch ein Gefühl. Die so sehr an Subordination und blinden Gehorsam gewöhnten russischen Soldaten widersetzten sich dem Befehl ihres Führers, und indem sie ihre Hand nicht gegen einen heiligen Mann erheben wollten, stellten sie sich zu seiner Wehr. Der General wurde stutzig, schickte einen Bericht nach Warschau und sperrte unterdessen den Gefangenen ein. Dies beruhigte nicht die Soldaten, es lief unter ihnen fortwährend ein geheimes Gerücht von wunderbaren Dingen, die sich in Mareks Zelle ereigneten, und der Kommandant ließ zuletzt, der Sorge los zu werden, den Gefangenen heimlich frei.200 Wodurch nun, durch welche Zauberkraft nahm dieser Mann die Herzen der feindlichen Soldaten für sich ein? Sein priesterlicher Charakter hatte bei ihnen kein Ansehen, denn dieses waren ja Schismatiker. Durch seine Rede, wie einige Schriftsteller und selbst Rulhière meinen, konnte er sie auch nicht ergreifen, denn er verstand nicht russisch. Worin bestand nun aber der Zauber, den er ausübte? Unserer Meinung nach bestand er in der unvergleichlich höheren Geisteskraft, in seinem Gott geweiheten Leben, in seiner Sittenstrenge. Der slavische gemeine Mann hat in seiner Einfalt jenen geheimnißvollen Instinkt, der schwer zu ertöten ist, aufbewahrt, welcher den Menschen die Stimme Gottes hören und auf einmal erkennen läßt, was wahrhaft groß, was Eingebung und echt göttlich ist. Türken oder Soldaten eines anderen Volks hätten wohl den Priester nicht verschont; in den Russen aber, selbst in den am meisten tierischen, fand sich so viel Gefühl vor, das einen Mann wie diesen erkannte und ehrte. Dieses scheinbar nichts sagende Ereignis ist jedoch von großer Bedeutung, und die Slaven sollten es wohl beherzigen. Es zeigt, daß nur eine gemeinsame Idee, ein gemeinsames Ziel wahre Zuneigung erwecken kann, und welcher Art dieses auch sei, es kann nur aus der Idee des ihnen allen gemeinsamen Gottes hervorgehen.

200 Nach J. Maślanka (A. Mickiewicz: Dzieła. Tom IX: Literatura słowiańska. Kurs drugi. Warszawa 1997, S. 487) eine Legende, denn der Priester Marek saß von 1768 bis 1774 im Gefängnis; dann kehrte er nach Polen zurück.

15. Vorlesung (22. Februar 1842) Ein Faden moralischer Kraft zieht sich durch alle Begebenheiten am Petersburger Hofe – Blick auf den Gang derselben seit der Zarin Elisabeth – Panin; seine Versuche, Rußland konstitutionelle Gesetze zu geben – Peter III. zeigt sich reformwillig – Katharina II. – Die Orlovs versuchen die Macht zu ergreifen – Ähnlichkeit der Bestrebungen Panins in Rußland und der Czartoryskis in Polen – Glänzender Schein an Katharinas Hof – Das in den Russen erwachende Unabhängigkeitsgefühl kann sich mit der Freiheit der Polen nicht vereinen – Zur polnischen Literatur während der Konföderation zu Bar – Anfänge der lyrischen Dichtung; die Vorhersagungen des Wernyhora, die Prophezeiung des Priesters Marek.

Die Unterdrückung der Konföderation von Bar zog die erste Teilung Polens nach sich. Jetzt muß man sich zu der Hauptquelle dieser Handlung wenden, man muß einen Blick auf die Haupstadt werfen, von der die Zarin ihr Werk kräftig und klug betrieb. Die Revolution, wodurch Katharina sich zum Thron erhoben, ist im Ausland bekannt: viel haben davon die Ausländer geschrieben.201 Fremde Höfe, die sich damals ruhig verhielten, waren begierig zu wissen, was in Petersburg geschah; ihre Gesandten benachrichtigten sie von allen Einzelheiten, wie von einem Roman anziehender Ereignisse. Heute interessiert die dramatische Seite ihrer Vorfälle weniger, jedoch ist es der Mühe wert, das moralische Prinzip dieser Bewegung zu erforschen, denn dadurch wird anschaulich, daß das eben angeführte Schauspiel nur eine notwendige Folge der zu den Zeiten Katharinas I., Annas und Elisabeths vorgekommenen Staatserschütterungen und zugleich eine Vorbereitung späterer Erscheinungen war. Interesse und Leidenschaften des Augenblicks aus mannigfachen Stoffen bestehend, häuften am Petersburger Hofe einen bedeutenden Brennstoff zusammen; ein Strahl von so zu sagen moralischer Elektrizität durchdrang seine Mitte, gab den Funken und fachte einen Ausbruch nach dem andern plötzlich an. Am Lebensabend der Zarin Elisabeth umgaben allein Russen ihren Thron, bekleideten die Ämter und füllten den Palast. Unter Ränken, Neid und egoistischen Plänen aller Art war es dennoch unmöglich, daß sie nicht auch manchmal den edlen Wunsch gefühlt haben sollten, etwas für den Staat, für das Vaterland, für die Nachkommenschaft oder endlich für den Ruhm und nicht immer bloß für sich allein zu tun. Viele Mächtige empfanden wohl öfters 201 Vgl. Claude Carloman de Rulhière: Anecdotes sur la révolution de Russie en l’année 1762. Paris 1797. [SUB Göttingen. Signatur: 8 H RUSS 362/45].

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_057

15. Vorlesung (22. Februar 1842)

753

diesen über den Ehrgeiz der Selbstliebe erhabenen Trieb; aber Dolgorukijs Schicksal stellte sich sogleich ihrem Gedächtnis vor; sie wagten nicht mehr, sich in Entwürfe von Gesetzen und Verfassungen einzulassen, sie wählten eine andere Verfahrungsweise. Sie unternahmen, in die Ukase einige legale Garantien, zuerst für die Magnaten und Hoch-Würdenträger, dann für den Senat und endlich für ganz Rußland einzuflechten. Diesen Gedanken stellte am reinsten Graf Panin202 dar. Panin, ein aufgeklärter Mann, brachte nach längerem Aufenthalt als Gesandter zu Stockholm von dort ein sanfteres Benehmen, eine der Rauheit damaliger russischer Herren ganz entgegengesetzte Zuvorkommenheit zurück, wodurch er bald sehr beliebt wurde, besonders bei der Klasse der niederen Beamten und der Städter. Als Elisabeth sich dem Tod näherte, durchlief er die ganze Reihe der Parteiführer, pries ihnen seinen Plan als das einzige Rettungsmittel für Alle an, denn jedermann erwartete mit Schrecken den Tod der Zarin. Die Günstlinge sahen ihren unumgänglichen Sturz voraus; der mutmaßliche Thronfolger Peter, Fürst von Holstein-Gottorf, fürchtete die gegen ihn gesponnenen Kabalen; Katharina schon in Verdacht bei ihrem Gemahl, war keinen Augenblick mehr sicher, vom Hof entfernt zu werden. In dieser allgemeinen Besorgnis suchte Panin alle zu überzeugen, daß, wenn sie sich ohne jegliche Vorkehrung auf den Lauf der Ereignisse verließen, sie irgendein unverhoffter Zufall zu Grunde richten könne; daß man Schutz in der Gesetzlichkeit suchen und sich durch irgendeine Verfassung sicher stellen müsse. Er gab demnach Peter den Rat, er möge die bisherige Art der Thronbesteigung verändern, sich nicht durch die Leibgarde, durch Söldlinge, wie es bisher barbarischerweise unvereinbar mit den Sitten zivilisierter Völker geschehen, ausrufen lassen, sondern dem Senat befehlen, ihn als Zar zu verkünden, dann an das Volk einen Aufruf ergehen lassen und der Armee den Befehl des Gehorsams geben. Auf diese Weise, sagte er, wird man die Gelegenheit zum Versuch, die Herrscher zu stürzen, entfernen; die Verschworenen werden nicht leicht den Senat vereinigen, das Volk aufwiegeln können, da doch jetzt nichts leichter ist, als einige Regimenter zu verführen. Aber bei Panin handelte es sich um etwas anderes: er hatte nämlich einige Artikel, welche die Wahlform der Zaren feststellten, in Bereitschaft, wollte sie dem neuen Monarchen zum Unterzeichnen vorlegen und dadurch wenigstens einen Punkt gegen Willkür bewahren. Andererseits gab er den Günstlingen der Zarin zu verstehen, daß, wenn sie den mutmaßlichen Thronfolger unterstützten, sie sich die sichersten Zufluchtsplätze 202 Nikita Ivanovič Panin (1718–1783). Über Panins Pläne und Reformen vgl. Manfred Hildemeier: Geschichte Rußlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution. 2. Auflage. München 2013, S. 492–496.

754

Teil II

im Senat verschaffen, und so als Senatoren dem Thronerben unentbehrlich geworden, Leben, Vermögen und Kredit behaupten würden. Dieser fein gesponnene, recht glücklich angelegte Entwurf ward plötzlich zerstört, wie dieses gewöhnlich geschieht, wenn jemand die Ereignisse, welche eine Idee entwickelt, in bestimmte Formen einschränken will. Sobald man vernommen, daß die Zarin verschieden, eilten die Höflinge und Würdenträger einer nach dem anderen herbei, den Fürsten von Holstein-Gottorp als Zaren zu begrüßen. Peter schwang sich aufs Pferd und von der Garde umgeben, wurde er unter Jubelruf zum Palast geleitet; und so war er tatsächlich unumschränkter Alleinherrscher, die Entwürfe Panins aber sind zu Nichts geworden. Obschon Peter III. auf eine despotische Weise die Gewalt errungen, so war er doch kein Feind der Freiheit, vielmehr immer bereit, alles für sie zu tun, und feurig ergriff er, was ihm als gut, edel und lobenswürdig vorgestellt wurde. Er unterschied sich nur darin von Panin, daß dieser ein gewisses Kollegium gründen wollte, welches mit dem Monarchen an der Regierung Teil nehmen und dessen Alleinherrschaft beschränken sollte. Jener aber wollte allein und auf einmal Allen die Freiheit geben. Es schien ihm, man könne dieses mit einem einzigen Worte tun, daß es genüge jemandem zu sagen: sei frei, tugendhaft und großmütig, und daß er es sogleich werde. Er begann also auf der Stelle wohltätige Ukase zu erlassen. Er hob die geheime Kanzlei auf, schrieb ein „Manifest über die Freiheit des Adels“203, das dem Adel schon die Reisen ins Ausland, das Verkaufen seiner Güter ohne Genehmigung des Herrschers und in der Armee nach Belieben zu dienen erlaubte; auf diese Weise bewirkte er eine wahre Revolution, denn in einem Staat, wo alles auf der militärischen, durch den Despotismus befestigten Hierarchie beruhte, die Abhängigkeit abschaffen, hieß ebenso viel, als dem mit Gewalt zum Militärdienste genommenen Rekruten die Erlaubnis geben, seinen Abschied zu fordern. Am Hof Peters III. sprach man von nichts mehr als von Reformen und vom Gesetzgeben. Das von einem trüben Vorgefühl künftiger Begebenheiten schon getroffene 18. Jahrhundert wünschte sich gegen alles durch die Vorbereitung festgestellter Gesetzesartikel zu beruhigen und rief nach Gesetzsammlungen. Panin und sein Anhang hat sich auch mit der Abfassung eines Kodex für Rußland beschäftigt; aber der Zar ging rascher ans Werk, er nahm den Kodex Friedrich des Großen204 an, 203 Manifest o vol’nosti dvorjanstva – 1762. Im Internet unter: http://doc.histrf.ru/18/manifesto-darovanii-volnosti-i-svobody-vsemu-rossiyskomu-dvoryanstvu/; vgl. auch I.V.  Faizova: „Manifest o vol’nosti“ i služba dvorjanstva v XVIII stoletii. Moskva 1999. 204 Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten. Von 1794. [2. Auflage. Decker, Berlin 1794, 2 Teile und Register in 3 Bänden] Mit einer Einführung von Hans Hattenhauer und einer Bibliographie von Günther Bernert. 3., erweiterte Auflage. Luchterhand, Neuwied u.a. 1996.

15. Vorlesung (22. Februar 1842)

755

und obgleich dieser in seiner kurzen Sammlung von Gesetzen und Verordnungen nichts russischen Sitten Angemessenes enthielt, ließ er ihn doch wörtlich in die Landessprache übertragen. Die europäischen Publizisten priesen diese Handlung des Kaisers über alle Maßen, selbst Rulhière lobt ihn und wirft nur den Russen vor, sie könnten in ihrer Sprache die deutschen Formeln nicht wiedergeben. Peter III. begnadigte eine Menge politischer Gefangener, die zur Zeit seiner Vorgänger nach Sibirien verbannt wurden, nahm sich sogar vor, den unglücklichen, schon zwanzigjährigen Fürsten Ivan205 aus seinem Kerker zu befreien; aber alles, was er in diesem schönen Antrieb nur tat oder bezweckte, wandte sich zu seinem eignen Verderben. Die aus Sibirien zurückgerufenen Verbannten erfüllten den Hof mit Intrigen des alten Hasses, bei dem Namen Ivan erinnerte man sich an die Thronansprüche der älteren Linie, die Zarin nahm Teil an der Besorgnis derer, die sich über den plötzlich wachsenden Einfluß der Ausländer, namentlich der Preußen, entsetzten. Allmählich kamen alle Fraktionen russischer Parteien überein, den Zaren zu entthronen und Katharina die Krone zu geben. Panin trat noch einmal hervor mit seinen Vorschlägen und überreichte der Zarin eine lange Reihe von Verfassungsartikeln. Die russische Partei, die die Umwälzung bewirkt und über die Ausländer triumphiert hatte, bestand aus drei Fraktionen. Die erste davon war im Heer unter den Offizieren, die ihr ganzes Schicksal dem Dienstglück verdankten, die nichts verlieren, vielmehr alles gewinnen konnten, und sich nach Umänderung sehnten; die zweite bestand aus solchen Politikern wie Panin, die nur nach einer Konstitution strebten; die dritte mit ihren Vorstellungen höher stehend und von durchaus französischen Begriffen durchdrungen, dachte schon an irgendeine nach dem Muster Griechenlands oder Roms gestaltete Republik. Das Haupt dieser Partei oder die einzige ihren Plänen innigst ergebene Person, war die berühmte Fürstin Daškova206, ein achtzehnjähriges Mädchen, das immer schwärmend mit dem Livius und Plutarch in den Händen stets nur die Gesellschaft holländischer und Genfer Republikaner suchend, von ganzer Seele den Despotismus verachtete, und ganz fest glaubte, Katharina strebe nur deshalb nach dem Thron, um eine Republik zu gründen und sie 205 Ivan VI. (1740–1764). Vgl. die 10. Vorlesung (Teil II). 206 Ekaterina Romanovna Voroncova-Daškova (1743–1819). Vgl. Princesse Dachkova: Mon Histoire. Mémoires d’une femme de lettres russe à l’époque des Lumières. Éd. présentée et annotée par Alexandre Woronzoff-Dashkoff, Catherine Le Gouis, Catherine WoronzoffDashkoff. Préface de Francis Ley. Paris 1999; Alina Chernova: Mémoires und Mon Histoire. Zarin Katharina die Große und Fürstin Katharina  R.  Daschkowa in ihren Autobiographien. Berlin 2007.

756

Teil II

zur Präsidentin zu machen. Indem sich also jeder Teil, entweder durch eignes oder durch allgemeines Interesse bewegt, verschiedene Hoffnungen nährte, leitete Alles eine unsichtbare Macht. Die Orlovs207 arbeiteten am wirksamsten an der Zuziehung des Heeres zur Verschwörung, und zeigten sich nach dem Ausbruch als Besitzer einer wirklichen Gewalt, nämlich der Heeresmacht, die Fürstin Daškova gewahrte aber in diesen vermeintlichen Bürgern der Republik, in diesen Brutusen nur gemeine Ränkeführer; Panin mußte sich auch mit seinen Vorschlägen bis auf bessere Zeiten vertrösten. Die Bestrebungen Panins und seiner Genossen sind denen der Fürsten Czartoryski ähnlich; es bietet sich hier ein merkwürdiger Vergleich dar. Diese beiden Fraktionen nach entgegengesetzten Richtungen handelnd, verfuhren jedoch nach einer und derselben Methode. Beide wollten allmählich die angeborene Landesverfassung, die eine für die Ordnung, die andere für die Freiheit umwandeln. Diese Ähnlichkeit erklärt jene Sympathie, welche immer zwischen den Fürsten Czartoryski und Panin bestand. Nicht selten vereitelte er die Absichten des russischen Kabinetts, hielt dessen Depeschen zurück und tat, was er nur konnte, um ihnen zu folgen. Man beschuldigt ihn der Bestechlichkeit, obgleich er doch wesentlich ein anderes Interesse hatte, er wollte nämlich in Polen irgendein Gebäude aufgeführt sehen, das ihm zu einem seine Bemühungen unterstützenden Muster dienen könnte. Der Einfluß der durch Panin und die Fürstin Daškova repräsentierten Parteien milderte wenigstens die äußeren Formen der russischen Alleinherrschaft. Der Zarin Thron war schon mit Glanz und einer gewissen Feinheit europäischer Bildung umgeben. Die nationalen Schriftsteller und Literaten jener Zeit, meistens in den Feldlagern erzogen, und von alten Vorstellungen des Terrorismus durchdrungen, aus entlegenen Provinzen an einen prunkvollen und zugänglichen Hof angelangt, waren von Bewunderung und Freude erfüllt. Auf diese Weise läßt sich der Enthusiasmus für die Monarchin bei einem Offizier wie Deržavin begreifen, der, sobald die Zarin ihn zu sprechen und seine Verse zu lesen wünschte, außer sich war. In einem seiner Gelegenheitsgedichte spiegelt sich, ungeachtet der Ausdrücke, die in der russischen Sprache angehen, jedoch treu übersetzt des Fremden Ohr beleidigen könnten, vollkommen das Bild des damaligen Zeitabschnittes. Der Schriftsteller spricht in einem scherzhaften, gleichsam ironischen Ton das redlich gemeinte Lob Katharinas so aus:

207 Grigorij Grigor’evič Orlov (1734–1783), Aleksej Grigor’evič Orlov (1737–1808), Fedor Grigor’evič Orlov (1741–1796).

15. Vorlesung (22. Februar 1842)

757

Unerhörte Sache! Du erlaubst Deinem Volke zu denken! Also kann man schon straflos die Tafel verlassen, ohne Dein Lebewohl getrunken zu haben? Man kann einen Schreibfehler beim Namen des Monarchen begehen, ohne des Majestätsverbrechens beschuldigt zu werden? Wer unversehens des Zaren Bildnis fallen lässt, wird nicht mehr zum Galgen geführt? Schon sollen nicht mehr zum Zeitvertreib der Herrscherin die armen Leute im Spiegelzimmer eingeschlossen werden. Herren mit beschmutzem Antlitz, die ihre Gnade verloren, werden nicht mehr der Höflinge schmählichem Hohngelächter bloßgestellt? Jetzt soll es keine Freude mehr sein, sich wie ein Bär auf die Untertanen zu stürzen und ihre Leiber zu zerreißen, keine Gewohnheit mehr, Wundärzte jenen zum Aderlassen zuzuschicken, die an keinem Hitzfieber leiden? […].208

Alle diese Erwähnungen beziehen sich auf geschichtliche Vorfälle, die zur Zeit früherer Zaren und Zarinnen stattgefunden. Deržаvins Feuer ist also als entzündet durch den ersten Strahl der Freiheit begreiflich, jedoch merkwürdig bleibt es, daß ihm nie die Freiheit anderer Länder gefiel. Er konnte die Polen nicht leiden, weil sie Katharina nicht liebten; alle Völker, die Krieg gegen Rußland führten, sah er als Empörer gegen ihre rechtmäßige Herrscherin an. Von diesen Vorstellungen rührte auch der Haß vieler russischer Gesandten in Warschau her. Die Art, wie sich die Polen ihrem König näherten, und die Nachlässigkeit, mit der sie den Namen Katharinas oft in leichtfertigen und scherzhaften Gesprächen erwähnten, alles dieses schien den Moskvitern Rebellion zu atmen, und beleidigte sie aufs Äußerste. Es war dies eine Reibung zwischen den Repräsentanten zweier entgegengesetzten Ideen. Der in jeder Einzelheit dieser beiden Völker unterschiedene Geist offenbarte sich auch in ihren echt literarischen Volksschöpfungen ganz verschieden. Wir wollen Deržavin noch bei Seite lassen und nur einen Blick noch auf die Literatur der

208 Freie Wiedergabe folgender Strophen aus dem Gedicht „Felica“ (1782) von G. Deržavin: […] „Неслыханное также дело, / Достойное тебя! одной, / Что будто ты народу смело О всем, и въявь и под рукой, / И знать и мыслить позволяешь, /И о себе не запрещаешь / И быль и небыль говорить; / Что будто самым крокодилам, / Твоих всех милостей зоилам / Всегда склоняешься простить // Стремятся слез приятных реки / Из глубины души моей. / О! коль счастливы человеки / Там должны быть судьбой своей, / Где ангел кроткий, ангел мирный, / Сокрытый в светлости порфирной, / С небес ниспослан скиптр носить! / Там можно пошептать в беседах / И, казни не боясь, в обедах / За здравие царей не пить. // Там с именем Фелицы можно / В строке описку поскоблить, / Или портрет неосторожно / Ее на землю уронить, / Там свадеб шутовских не парят, / В ледовых банях их не жарят, / Не щелкают в усы вельмож; / Князья наседками не клохчут, / Любимцы въявь им не хохочут / И сажей не марают рож. // Стыдишься слыть ты тем великой, / Чтоб страшной, нелюбимой быть; / Медведице прилично дикой / Животных рвать и кровь их лить.“ […]. – Г.Р. Державин. Полное собрание стихотворений, op. cit., S. 102.

758

Teil II

Konföderaten von Bar werfen. Sie besteht zwar bloß aus wenigen abgerissenen Stücken, diese haben aber einen ungemeinen Wert. Wir haben oben erwähnt, daß die erste Strophe, der erste Laut einer wirklich lyrischen Dichtung dem Slaventum eine neue Zeit verkünden wird. Und in der Tat ließ sich dieser erste Klang aus dem Munde der Priester und Ritter vernehmen, der das Zeichen des geweckten Gedankens ist; sie ergriffen das wesentliche Motiv und schlugen den Grundton an, nach welchem die lyrische Dichtung ihre Laute zu stimmen hatte. Dies ist eine unermeßliche Begebenheit, denn stumm vergehen oft in dieser Hinsicht ganze Jahrhunderte. Die musikalischen Motive des slavischen Liedes wurden immer vom gemeinen Manne, von einer reinen aber mächtigen, mit beinahe übernatürlicher Gewalt begabten Seele gefunden. Darum gehört auch der erste Name, der jetzt die Geschichte der neuen Lyrik eröffnet, dem gemeinen Volke an. Dieser in alten Volkssagen bekannte Name war vielleicht nicht eigen, sondern nur gegeben dem Manne, der nichts schrieb, keine Lieder reimte und die Reihe lyrischer Gedichte nur durch Offenbarung einer Weissagung anhob. Immer und überall entspringt diese Dichtung aus solcher Quelle. Ein junger Landmann der Ukraine, genannt Wernyhora209, flüchtete sich zur Zeit eines blutigen Aufstandes210 auf eine Insel in die Einsamkeit, nach seiner Rückkehr verkündete er und diktierte den Wißbegierigen seine Prophezeiungen und Vorhersagungen. Nirgends befindet sich ihr authentischer Text, aber die vielen Varianten stimmen alle dem Inhalt nach in den Hauptgedanken überein. Diese Weissagungen sind zwar noch keine Poesie, allein sie bahnen ihr den Weg, sie führen in die Regionen der Wunder, zu den Quellen höherer Begeisterung. Übrigens sollten die Dichter den Umstand wohl betrachten, daß, indem ihre Werke zum Vergnügen, zur Unterhaltung in friedlichen Augenblicken gelesen werden, das Volk im Gegenteil in Fällen der Gefahr, der Furcht und beim Eintritt wichtiger Ereignisse, immer in den Prophezeiungen Wernyhoras nach Zeichen suchte. Endlich begannen auch selbst die Literaten sich mit ihm zu befassen, und wandten mit einem gewissen Vertrauen ihre Aufmerksamkeit darauf.211 209 Über Mojsej Wernyhora und den Text der Prophezeiung, entstanden um 1809, vgl. Stanisław Makowski: Wernyhora. Przepowiednie i legenda. Warszawa 1995; deutsche Übersetzung der Prophezeiung erscheint bereits 1831 in dem Journal „Das Ausland. Ein Tagblatt für Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Völker“, Nr.  34 (23. Februar 1831), S. 216. 210 Hajdamakenaufstand von 1768. Vgl. Władysław Andrzej Serczyk: Hajdamacy. Kraków 1972. 211 In den Werken von Michał Czajkowski „Wernyhora wieszcz ukraiński. Powieść historyczna z roku 1768“. (1838); dt. Übersetzung Leipzig 1841–43; Lucjan Siemieński: „Trzy wieszczby“ (1841); Juliusz Słowacki: „Sen srebry Salomei“ (1844); später St. Wyspiański „Wesele“ (1901). Vgl. Władysław Stabryła: Wernyhora w literaturze polskiej. Warszawa 1996.

15. Vorlesung (22. Februar 1842)

759

Gleich auf Wernyhora folgt der Mönch Marek. Dieser Geistliche ist der Verfasser eines einzigen Gedichtes, aber dessen Authentizität unterliegt gar keinem Zweifel; mit dem Stil seiner Zeit gestempelt, zeigt es übrigens auch in der Form die vollkommenste Ursprünglichkeit. Diese ist weder eine scholastische noch eine französische Form, sie ist weder Adam Naruszewicz noch Jean Baptiste Rousseau oder irgendeinem der damals lebenden Dichter entliehen. Der Autor ist, wie man sieht, im Reimen nicht geübt, aber gerade und würdevoll spricht er mit religiöser Stimme an. Alle Gedanken sind hier originell und erscheinen zum ersten Male auf dem polnischen Boden. Der Dichter beschäftigt sich nicht mehr mit den Kämpfen der Parteien, macht von dem Kronprätendenten keine Erwähnung, erhebt die ganze Sache höher, indem er sie gerade dort aufnimmt, wo sie der Prediger und Prophet Piotr Skarga gelassen. Hier Prophezeiung des Priesters Marek in Versen, welche aus einer alten Sammlung von Konföderatenurkunden entlehnt, unlängst gedruckt erschien.212 Dotąd jest Polska berło nie kwitnące, Dokąd nie będzie wstępnie działające; Ale jak tylko na wstępnym zostanie, Drgną strachem lutrzy, Moskwa i poganie! Pierwsi dwaj swojej hardości przypłacą A drudzy prawo wraz z państwem utracą. Kościół na skale stanie się wspaniały, Dwugłowy w kolor przybierz się biały, Jednogłów piersi czarnego osiędzie, Z którym złączony cuda czynić będzie. Natenczas wszelki pielgrzym swoje śluby Złoży przy grobie Bogu, trybut luby, Niewolnik wolny wyjdzie bez okupu, Strzelec pozbędzie łakomego łupu; Róża naturę zimną w ciepłą zmieni, Kogut z chytrości jak wąż się wyleni. A tak ustaną złote nasze wieki, Wiersz opowiada już czas niedaleki. Ale ty, Polsko, po czasu niewiele W smutnym musisz się wprzód zagrześć popiele. 212 [In dem Buch unter dem Titel: „Trzy wieszczby“ (Die drei Weissagungen) von Lucjan Siemieński. Paris 1841, S.  98–100. Die Konföderatenhandschrift gibt eine diesen Versen vorangehende merkwürdige Einzeilheit in folgenden Worten. „Der gottesfürchtige Marek, ein Karmelitermönch, hatte sich zur Predigt vorbereitend, statt Auszüge aus der heiligen Schrift diese Verse im prophetischen Geiste niedergeschrieben; nach der Predigt von seinem Vorgesetzten getadelt, er mische sich in Sachen, die dem Kloster Nachteil bringen könnten, entschuldigte er sich mit Demut, er wisse nicht, was er geschrieben habe!“ (S. 98). Anmerkung des Übersetzers].

760

Teil II Chytrzy sąsiedzi twoi ciebie zdradzą I z jednym wielkim mocarzem powadzą. Skąd strasznych wojen powstaną turnieje, Miecz krwie newinnej obficie naleje, Wiele odważnych marnie zginie braci, Wstyd poświęcony Bogu panna straci, Kapłan z ofiarą przy ołtarzu lęże, W toż z mnichem licho zakonnika sprzęże. Cna góra, złotym otoczona kołem Niech ufa Bogu nisko bijąc czołem, Bowiem najbliższa będzie strasznej burzy. Dym ją zarównie z inymi okurzy. Kościoły z ozdób swych zdarte zostaną, Dni zgoła wszystkich, płaczliwe się staną. Lecz się Najwyższy twej krzywdy użali, Na nichże samych ruinę tę zwali. Więc czyń wielkiemu wcześnie dzięki Bogu, Bo ten im przytrze wyniosłego rogu. A ty jak Feniks z popiołów powstaniesz, Cnej Europy ozdobą się staniesz.213 So lange Polens Zepter blühend sich nicht entfaltet, / So lange wird es angreifend nicht handeln können, / Beginnt es jedoch nur einmal den Angriff: / Werden Lutheraner, Moskau und andre Heiden vor ihm erzittern! / Die zwei ersten werden ihren Trotz mit Blut bezahlen, / Und die anderen Gesetz und Staat verlieren. / Der Tempel auf dem Felsengrunde wird in Pracht erglänzen, / Und der zweiköpfige Adler sein Gefieder in Weiß verwandeln. /Alsdann wird der Pilger sein hohes Gelübde / Am Grabe des Herrn, ein gottgefälliges Opfer darbringen. / Der Sklave wird frei sein ohne Lösegeld, / Der Waidmann seine begehrte Beute verlieren, / Die Rose der Natur wird ihre Kälte in Wärmeduft verwandeln, / Der Hahn sich seiner List wie die Schlange sich ihrer Haut enthäuten, / Und so unser Vließ sich wieder in seiner Zeit einfinden. / Der Seher spricht von nicht mehr fernen Zeiten. / Du aber Polen mußt dich zuvor in trauriger Asche begraben lassen. / Deine schlauen Feinde werden dich verraten / Und mit einem großen Machthaber entzweien; / Auf schreckliche Kriege werden Folter folgen, / Das Schwert wird viel unschuldig Blut vergießen. / Viele schuldlose Brüder werden zu Grunde gehen, / Die Jungfrau der Gott geweihten Scham beraubt sein, / Der opfernde Priester beim Altare sterben, / Und so auch der Mönch und so der Laie: / Vertraue auf Gott und beuge tief die Stirn, / Du Berg der Ehre mit goldenem Kreise umgeben; / Denn dir am nächsten werden Stürme toben, / Dich wie andere wird der Qualm trüb umwölken. / Die Kirchen werden der Zierden beraubt / Und jeder Tag mit Zähren begossen sein: / Doch diese Unbill wird des Höchsten Mitleid

213 Profecja księdza Marka karmelity. In: Literatura barska. Antologia. Hrsg. Janusz Maciejewski. Wrocław-Warszawa-Kraków-Gdańsk 1976, S. 3–5.

15. Vorlesung (22. Februar 1842)

761

rühren, / Auf die Täter selbst wird sich das Unheil wälzen. / Daher spende ewig deinem Gotte Dank, / Der die Stolzen demütigt. / Und du wirst wie ein Phönix aus deiner Asche erstehen, / Vor ganz Europa eine Zierde werden.

Es ist unmöglich, sich in die Analyse aller Ausdrücke der gereimten Voraussagung des Priesters Marek einzulassen, besonders da die dem Druck übergebene Abschrift wahrscheinlich von Fehlern verunstaltet war. Die Worte am Anfang – „Zepter“ („berło“) erinnern an den „Stab Aarons“; weiter folgt eine Reihe Prophezeiungen für verschiedene Völker die mit Sinnbildern der „Rose“, des „Waidmanns“ usw. bezeichnet, nicht genug klar sind. Jedoch der Hahn zeigt in der sinnbildlichen Volkssprache immer Frankreich an, und augenscheinlich haben wir hier schon im Jahre 1762 seine vorausgesagte Umwandlung. Endlich wird vom Schicksal Polens gesprochen. Seit Skarga bricht das erste Mal wieder der Gedanke hervor, der Polen eine europäische Sendung bestimmt. Der strenge und beredte Redner aus Sigismunds Zeiten ist jedoch ein Prophet des alten Bundes. Er betrachtet Polen wie das israelitische Volk, das in die babylonische Gefangenschaft gehen, dann zurückkehren und den Tempel wieder aufbauen soll; der Priester Marek erhebt diesen Gedanken zu einer Skarga unbekannten Höhe und versinnlicht ihn dem christlichen Glauben gemäß. Polen stellt sich ihm vor als ein lebendes Wesen, das sterben, seine Hülle ablegen und wieder auferstehen soll. Hier waltet schon der religiöse Verklärungsgedanke; diese wenigen Verse schließen nun die ganze polnische Literatur. Diese Dichtung flog von der Literatur der Epoche Stanisław Augusts unbemerkt vorüber, und traf zwischen die polnischen Legionen. Da erst lassen sich manche Töne vernehmen, die an diese Idee erinnern, an eine Idee, welche in den vorzüglichsten Werken neuester Zeit strahlend, ihnen ihren eigentlichen Kern gibt. Wir haben manche andere in literarischer Beziehung wenig bedeutende Lieder, die aber doch über alles, was in den letzten Zeiten von lyrischer Dichtung sich gezeigt, erhaben sind. Wie z.B. folgendes Lied der Konföderaten von Bar: Stawam na placu z Boga ordynansu, Rangę porzucam dla nieba wakansu, Dla wolności ginę – wiary swej nie minę, Ten jest mój azard. Krzyż mi jest tarczą, а zbawienie łupem, W marszu nie zostaję – choć i padnę trupem. Nie zważam, bo w boju – dla duszy pokoju Szukam w Ojczyźnie.

762

Teil II Krew z ran wylana dla mego zbawienia Utwierdza żądze, ukaja pragnienia Jako katolika – wskróś serce przenika Prawego w wierze. Śmierć zbawcy stoi za pobudki hasło, Aby wzniecenie złych skłonności zgasło; Wolności przywary – gwałty świętej wiary Zniesione były. Wyroku twego, wiem, że nie zapłacę, Niech choć przed czasem życie moje tracę, Aby nie w upadku – tylko w swoim statku Wiary słynęła. Nie obawiam się przeciwników zdrady. Wiem, że mi dodasz swej zbawiennej rady W zamysłach obrotu – do praw swych powrotu, Jak rekrutowi. Matka łaskawa, tuszę, że się stawi, Dzielnością swoich rąk pobłogosławi, А że gdy przybraną – będę miał wygraną Wiary obrońca. Boć nie nowina, Marji puklerzem Zastawiać Polskę, wojować z rycerzem Przybywa w osobie – sukurs dawać Tobie, Miła Ojczyzno! […] Niech nas nie ślepią światowe ponęty, Dla Boga brońmy wiary Jego świętej, А za naszą pracą – będzie wszystką płacą Żyć z Bogiem w niebie.214 Ich stelle mich zum Kampf auf Gottes Befehl / Um des Himmels willen, nicht aber den Rang suchend, / Und sterbe für die Freiheit, und sterbe für den Glauben, / Dies ist mein Schwur. // Das Kreuz ist mein Schild und Heil meine Beute, / Weder des Marsches Mühen, noch den Tod scheue ich, / Denn auf dem Schlachtfelde – in meinem Vaterlande / Suche ich den Frieden für meine Seele. // Das aus meinen Wunden fürs Heil rinnende Blut, / Befestigt mein Begehren, und stillet mir, dem Rechtgläubigen, / Den Durst – das Herz wird gerührt Mit dem Getreuen im Glauben. // Des Heilands Tod gilt mir zum Losungswort des Handelns / Gegen die Missetaten der Bösen, / Gegen die

214 Pieśń konfederacka. In: Skarbiec historii polskiej. Hrsg. Karol Sienkiewicz. Tom 1, Paryż 1839, S. 226–227; auch in Literatura barska, op. cit., S. 316–318 (unter anderem Titel).

15. Vorlesung (22. Februar 1842)

763

Frevel der Freiheit und die Gewalt, den heiligen Glauben angetan, / Dies alles ist zu vernichten. // Von dem einmal durch Gott verhängten Tode wird sich Niemand loskaufen, / Ich muß also sterben, und geschieht dies einen Augenblick früher, / So geschehe es wenigstens nicht in Vergessenheit, / wohl aber in des Glaubens und der Tugend / Rühmlichem Walten. // Ich befürchte gar nicht der Gegner Tücken; / Denn ich bin sicher des Beistands deines heiligen Rats, / Sicher deiner Begeisterung für mein Tun, und des Wiedergewinns meiner Rechte, Gott, ich bin ja dein Krieger. // Ich hoffe fest, daß die heilige Mutter mir Hilfe spenden, / Und ihre gnadenreiche Hand mich segnen wird; / Unter ihrem Schutz bin ich gewiß ein Sieger, / Des Glaubens Verteidiger. // Denn seit uralter Zeit wird mit Marias Schild / Polen geschirmt. – / Sie selber naht dem Ritter / Ihm zu helfen im Gefecht – und eilet zum Beistande / Dir, o liebes Vaterland! herbei. […] // Die Weltlockungen mögen uns nicht verblenden, / Verteidigen wir aus Liebe zu Gott seinen heiligen Willen, / Und für unser Mühen wird der ganze Lohn sein / Das Leben im Himmel.

Es scheint, daß dieses Lied ein Edelmann gedichtet, weil es in das Lateinische eingreift, und weil ihm die Einfachheit des Stiles der Volksgesänge abgeht. Dieses ganze Gedicht erscheint gleichsam nur als ein lyrischer Hauch, als ein das ganze Land durchziehender Duft, der eine Form sucht; die Form eines Volksliedes war diesem Geiste zu gemein und nicht genug ernsthaft, darum näherte er sich mehr den religiösen Hymnen. Selbst nach einer Kirchenmelodie ward es von den Konföderaten gesungen; es schien auf diese Weise in der Musik die Verbindung zwischen der Konföderatenpoesie und der heiligen Dichtung zu bilden. Sowie die Dichtung selbst, so erscheint auch endlich der Weissager der Konföderation von Bar nach vieljähriger Vergessenheit in der schriftlichen Literatur. Das Angesicht des Priesters Marek leuchtet aus dem Grunde seiner Periode hervor und waltet in der Höhe über ihre Begebenheiten. Verleumdet von den Zeitgenossen, unbeachtet von den Nachkommen, ist er heute ein Liebling der Schriftsteller geworden. Es gibt beinahe keinen Roman, keine Dichtung neuerer Schöpfung, wo seiner nicht Erwähnung geschehe. Man führt seine Worte an, man bringt ihn auf die Bühne und stellt ihn auf verschiedene Art vor die Augen des Volkes, bald als einen Prediger, bald als einen Mann der Tat in staunenswürdigen Ereignissen. Diese Methode durch Walter Scott verallgemeinert, hat der slavischen Literatur viele Nachteile gebracht und droht mit ungemeiner Verwüstung. Niemand will verstehen, daß die in ihm wirkende Idee der Stolz war, vielleicht noch größer als die bei Lord Byron. Er rühmt sich der Kenntnis des Herzens aller Menschen, die er in seine Romane einführt bis auf die innersten Geheimnisse; er hat die Anmaßung zu behaupten, den ganzen Grund ihrer Charaktere zu kennen, glaubt sie alle zu begreifen, alle ihre möglichen Gedanken und

764

Teil II

Taten zu enträtseln, den ganzen Umfang ihrer geistigen und irdischen Wirksamkeit zu messen. Er geht mit den Helden wie mit Puppen um, bewegt sie nach Willkür, spricht an ihrer Statt, und von ihnen im Tone eines Höheren mit einer gewissen sie schmälernden Vertraulichkeit. Übrigens schrieb Walter Scott zum Zeitvertreib der ungeheuren Masse seiner beschäftigungslosen Leser. Gibt es aber ein solches Publikum in slavischen Ländern? Ist es möglich, auf diese Art die Helden der Konföderation von Bar zu behandeln? Und überhaupt ist es geziemend, sich solch eine Überlegenheit über den begeisterten Propheten zuzuerkennen? Wer unter den jungen Literaten hat das Recht zu glauben, daß er die Idee dieses Mannes begriffen, und daß er ihn in seiner Schrift nach Willkür bewegen und ihn eine gegebene Rolle zur Unterhaltung der Zeitungsleser abspielen lassen könne? August Wilhelm Schlegel215 hat die Deutschen beschworen, doch ja nicht die Volkssagen anzutasten, denn diese zarten Spinngewebe würden unter plumpen Händen verschwinden. Wie kann man einer ruchlosen Hand verzeihen, die da wagt den Lichtkranz, der ein so ehrwürdiges Haupt umschlingt, zu beflecken? Es gibt Schriftsteller, die gleichsam zum Hohn dieser erhabenen Idee, deren Apostel und Märtyrer jener Mann war, Gedichte zu seinem Lobe schreiben.216 So ein Lob ist schmählicher für ihn als die Lästerungen der Zeitgenossen. Ähnliche Schriftsteller sollten den Namen und das Schicksal der Pharisäer befürchten. Diese setzten den verstorbenen Propheten zierliche Denkmäler, aber Gott sprach über sie den Fluch, weil sie immer bereit waren, die lebenden zu steinigen.

215 Vgl. August Wilhelm Schlegel: Beyträge zur Kritik der neuesten Litteratur. In: Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel. Ersten Bandes Erstes Stück. Berlin 1798, S. 141–177. 216 Gemeint ist Juliusz Słowackis Verspoem „Beniowski“, in dem die Gestalt des Priesters Marek dargestellt wird.

16. Vorlesung (8. März 1842) Zustand der polnischen Literatur nach der ersten Teilung Polens – Es bildet sich eine besondere Klasse von Literaten – Krasicki und seine Satiren – Die Satire entspricht nicht dem Wesen der Slaven – Aus den verschiedenen Richtungen, die der Geist einschlägt, resultiert der Charakter verschiedener Völker – Trembecki – Die Aufklärung Polens. Die Erziehungskommission – Den Grundregeln der polnischen Republik wird zum ersten Male durch die Bestätigung der I. Teilung Polens Gewalt angetan.

Die Epoche Stanisław Augusts kann uns nicht lange aufhalten; es ist eine wenig slavische, wenig volkstümliche. Für die Slaven ist sie im Allgemeinen von geringem Interesse und für die Fremden enthält sie wenig Belehrendes. Es genügt, einige Männer zu kennen, die sich darin auszeichneten, um eine Vorstellung von ihrer ganzen Nachahmerschaft zu gewinnen. Nach der Teilung des Landes verschließen sich die erschrockenen und ermüdeten Gemüter in sich selbst. Es gibt keinen kräftigen Arm mehr, welcher es unternähme, das Wahrzeichen der Verbündeten zu Bar wieder aufzurichten, und sich gegen Europa zu erheben. Sogar das Andenken an jene Verbindung verfällt in moralischen Mißkredit. Diesen sittlichen Todesstoß gab ihr das Unternehmen auf das Leben Stanisław Augusts.217 Die Urheber dieser Tat begriffen nicht, welche Gefahr ihr Schritt nach sich zog: sie wußten nicht, daß ein großer Nationalakt weder durch Sophismen noch durch den Antrieb bloßer Leidenschaften eröffnet werden könne. Es schien ihnen dies der kürzeste Weg zum Ziele, und sie vergriffen sich so unbesonnen an jenem geheimnisvollen Band, das sie mit dem Volk verknüpfte. Man weiß, welch ein Zauber in Polen das gekrönte Haupt, die Person des vom Volke selbst gewählten Monarchen umgab. In einem republikanischen Wahlreich konnte man den König absetzen, indem man ihm aber das Leben raubte, nahm man ihm keineswegs seine königlichen Rechte. Als einst ein Tollkopf auf das Leben Sigismunds III. einen Mordversuch gemacht und hierdurch das Gerücht von einer Verschwörung entstanden, wollte demselben kein Mensch Glauben beimessen.218 Man 217 Über den mißglückten Anschlag vom 3. 11. 1771, an dem die Konföderierten Stanisław Strawiński, Walenty Łukawski und Jan Kuźma beteiligt waren, vgl. Mémoires du roi Stanislas-Auguste Poniatowski. Hrsg. S.M.  Goriainov.  2 Bde., St. Petersburg 1914– 1924, Bd.  1, S.  678–680; neue Edition: Stanislas Auguste. Mémoires. Redaktion Anna Grześkowiak-Krwawicz, Dominique Triaire. Paris 2012 (= Institut d’Etudes Slaves). 218 Es handelt sich um den Anschlag eines Geistesgestörten namens Piekarski – vgl. Julian Ursyn Niemcewicz: Dzieje panowania Zygmunta III. Red. Kazimierz Józef Turowski. Tom 3, Kraków 1860, S. 163.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_058

766

Teil II

sagte allgemein, es sei in Polen unerhört, einen Anschlag auf die Person des Königs zu machen. Solch eine Überzeugung lag im Herzen des Volkes verborgen und begann nun sich plötzlich zu äußern. Die Verbündeten, selbst die im offnen Kampf mit dem König standen, mußten die Teilnahme an dieser Verschwörung leugnen. Stanisław August gewann seit diesem Augenblicke wieder viel von der verlornen Liebe. Man fing an, ihn zu bedauern und sich ihm wieder zu nähern. Die politischen Parteien, durch seinen und durch ausländischen Einfluß gelähmt, sahen die Notwendigkeit, sich wieder um seinen Thron zu scharen. Von allen Seiten rief man sich zu, einander die Hände zu reichen, durch gemeinschaftliche Anstrengungen Polen zu retten, die gefallene Nation zu bessern, zu erleuchten und zu bilden. Bildung war das allgemeine Losungswort der Periode. Die Wissenschaften und Künste im Lande zu verbreiten, hielt man für die sicherste Art, dem Land Macht und Ruhm zu verschaffen. Einmal auf diesen Weg geraten, entwickelten die Polen ungemeine Tätigkeit und Kraft. Der König sparte keine Kosten, um Künstler herbeizuziehen, legte Prachtgebäude an, setzte sich selbst zu Warschau in Bewegung, um die Straßen gerade machen zu lassen, und war emsig um die Verschönerung der Stadt beschäftigt. Die Großen gaben Millionen her für die öffentlichen Arbeiten: der eine ließ Kanäle bauen, der andere eine Karte des ganzen Landes aufnehmen, ein dritter schenkte der Republik eine Bibliothek von 200 000 Bänden.219 Fabriken und Manufakturen entstanden überall. Wenn Polen durch Industrie hätte gerettet werden können, so wäre es sicher damals geschehen: es fehlte weder an Fleiß noch an Talenten. In der damaligen Zeit war es, wo Stanisław August eine bis dahin in Polen ganz ungekannte Klasse Literaten von Profession schuf, sie zum Schreiben ermunterte, sie belohnte und ihnen förmliche Jahresgehälter aussetzte. Ein besonders Begünstigter war Adam Naruszewicz, welchen bald Krasicki220 verdunkelte, der damals als „Dichterfürst“ anerkannt, ein besserer Repräsentant seiner Zeit ist als Naruszewicz. Der Graf Krasicki war auch Geistlicher, er meinte es aber nicht ernstlich mit seiner geistlichen Würde. Damals betrachtete man in Polen sowie in Frankreich 219 Fürst Michał Kazimierz Ogiński (∼ 1730–1800) finansierte den Bau eines Kanals zwischen dem Niemen und Dnjestr; Fürst Józef Aleksander Jabłonowski (1711–1777) initiierte und finanzierte den ersten Atlas der polnischen Länder. Er war der Gründer der „Fürstlich Jablonowskischen Gesellschaft der Wissenschaften“, der „Societas Jablonoviana“; Józef Andrzej Załuski (1702–1774) und Andrzej Stanisław Załuski (1696–1758) gründeten mit ihren Beständen die Bibliotheca Zalusciana in Warschau. 220 Ignacy Krasicki (1735–1801). Vgl. Agnieszka Pufelska: Ein heiterer Bischof am preußischen Hof. In: Hofkultur und aufgeklärte Öffentlichkeit. Potsdam im 18. Jahrhundert im europäischen Kontext. Hrsg. Günther Lottes und Iwan M. D’Aprile. Berlin 2006, S. 245–263.

16. Vorlesung (8. März 1842)

767

diesen Stand als den Weg zu Reichtümern und Ehrenstellen; Krasicki gesteht auch offen zu, er habe mit den Domherren im Chor gesungen, weil man ihm dafür Goldgulden zahlte. Nach seiner Rückkehr von der Reise in fremde Länder ward er die Zierde der höheren Gesellschaften zu Warschau, er entzückte mit seinem Witz, und die gutmütigen Biographen sagen gerade zu, der König habe seine hohen Eigenschaften anerkennend, ihm das Bistum Ermland, den Lehrstuhl des großen Hosius verliehen. Als Schriftsteller nimmt er auch in der Tat eine hohe Stelle ein, er ist ungemein witzig, und obgleich in seinem komischen Epos nicht viel Neues erfunden, so hat er doch eine eigentümliche Form, leichte Wendungen und einen leichten Stil, ähnlich dem Gesang zwitschernder Vögel, dabei so vollendet und graziös, wie es nur französische Schriftsteller zu sein vermögen. Seine launigen Heldengedichte, der damaligen Mode entsprechend, sind meistens gegen die Mönche gerichtet. Er schrieb seine „Monachomachia“ („Krieg der Mönche“) zu Sanssouci in Gesellschaft mit Voltaire221, von dessen philosophischen Grundsätzen er immer mehr angezogen wurde, ohne sich jedoch glücklicherweise gänzlich in denselben zu verlieren, weil er nicht das Beißende Voltairs in seinem Charakter besaß; von Natur ein echter Rusine des Südens, besaß er die Lebhaftigkeit eines Kosaken, verbunden mit italienischer Bildung: es war dieses ein Kleinrusse in seinen Sitten, seinem Äußeren und seiner poetischen Form, der aber etwas Italienisches in sich trug. Ein französischer Physiologe222 teilte, um die Verschiedenheit der Temperamente zu bezeichnen, die Menschen nach der Beschaffenheit des Schädels, des Bauchs und der Brust in Schädeltypen, Bauchtypen und Brusttypen ein. Hiernach könnte man sagen, Krasicki sei ein vollkommenes Modell des Bauchschriftstellers (Abdomenier) gewesen. Der ausgezeichnete Zustand dieses seines Organs gab ihm einen seltenen Humor, verschaffte ihm eine fast leichtsinnige Heiterkeit, und machte ihn fortwährend zum Lachen geneigt. Er war bei weitem lustiger als Boileau und Voltaire. Mit Recht fragt ein Kritiker, ob dies einem Erzbischof geziemte, ob es schicklich für ihn gewesen, statt die armen Mönche, denen er vorstand, zu belehren und zu bessern, sie öffentlich dem Gelächter preiszugeben. Krasicki bleibt jedoch immer ein berühmter Satiriker. Seine und zugleich der französischen Schriftsteller Nachahmer, obgleich boshafter als er, besitzen weder den Frohsinn, der ihn so beliebt macht, noch die leichten Wendungen, in denen sich die Franzosen auszeichnen. Die Slaven überlassen sich, um jemanden zu sticheln, sogleich einer ungebührlichen 221 Diese Tatsache wird in der Forschung angezweifelt; vgl. Julian Maślanka (A. Mickiewicz: Dzieła. Tom IX: Literatura słowiańska. Kurs drugi. Warszawa 1997, S. 491). 222 Thomas de Troisvèvre: Division naturelle des tempéraments tirée de la fonctionomie. Paris 1821.

768

Teil II

Bitterkeit. Dies läßt uns noch einige Beobachtungen an dem so oft berührten Gegenstande machen. Wir sahen schon, daß die Satire der slavischen Literatur fremd ist. Es scheint, als wenn einige Arten der Dichtung, einige Anlagen des Geistes, weder allen Völkern, noch allen Zeiten eigen sind, wie dies die Rhetorik auch zugibt, indem sie alles, was irgendwo und zu irgend welcher Zeit, gut oder schlecht, geschrieben werden kann, in ein Ganzes zusammengefaßt. Erinnern wir uns, daß dasjenige, was die Slaven Duch (Geist) nennen, dieses unsichtbare innere Wesen, die Eigenschaft besitzt, sich einem unserer Seelenorgane einzuverleiben, z.B. der  Einbildungskraft, der Fassungskraft usw., daß diese Organe dann bestimmt sind, den Geist durch sein planetarisches Leben zu führen; und dieser kann in einem derselben sich so festsetzen und verschließen, daß der Mensch endlich nur für diese Erde zu leben und zu wirken scheint. Jeder Volksstamm besitzt ganz besonders dieses oder jenes Seelenorgan, das fähig ist, den menschlichen Geist völlig in sich einzuziehen. Das israelitische Volk z.B. hat in Künsten, Dichtungen, Politik niemals anders verfahren, als mit der ungeteilten Kraft des inneren Menschen, mit dem unzersplitterten, in einzelnen Organen nicht veränderten Genius; es lieferte nie Erzeugnisse der bloßen Intelligenz oder irdischer Einbildungskrast, die für das irdische Leben geschaffen und eingerichtet waren. Es konnte vom Stolz befallen in Starrsinn geraten, verfiel aber nie in eine niedrige, rein planetarische Richtung. Dagegen besitzen die keltischen Völkerschaften eine überwiegend entwickelte Intelligenz. Die Römer haben schon bei den Galliern und Kelten eine ungemeine Leichtigkeit bemerkt, alles zu erlernen, in allem sogleich die am meisten versprechende, die praktische Seite aufzugreifen, und von jeder Ausfassung weitere Folgen zu ziehen. Diese allzu sehr ausgespannte Verstandeskraft, wenn sie sich im Streit mit der Einbildungskraft befindet, muß notwendig letztere abkühlen und hemmen. Daher verzweigte sich bei den keltischen Völkern, neben den wahrhaft poetischen und aus reiner Begeisterung kommenden Erzeugnissen, immer auch eine gemischte Poesie, in welcher die Intelligenz mit der Einbildungskraft streitet und sie zuletzt verschlingt. Die eigentliche Satire ist keltische Erfindung; sie kam in Rom auf, aber nicht unter den Patriziern, die, wie man annimmt, ihren Ursprung von Griechen haben, sondern unter den keltischitalischen Stämmen. In Frankreich wurde während des ganzen Mittelalters, als die höhere Poesie blühte, auch die Satire und der Stichelvers stets unter der Mittleren und niederen Volksklasse fleißig angebaut. Bei den Slaven scheint der göttliche Instinkt, der Genius, der Geist mehr entwickelt, wie bei anderen Völkern. Daher diese ihre Neigung zu allem, was religiös, was tief und erhaben ist; daher ihre fortwährenden Forschungen in der Vergangenheit und Zukunft und die Vernachlässigung der gegenwärtigen Dinge. Die Slaven besitzen viel

16. Vorlesung (8. März 1842)

769

Einbildungskraft, aber in der Intelligenz stehen sie weit hinter den Germanen und Kelten. Bei den slavischen Völkern kommen niemals für ein philosophisches System Massen in Bewegung, in ihrer Geschichte gibt es kein Beispiel, daß irgendeine große Handlung im Denken ihren Ursprung hatte. So oft also die slavischen Schriftsteller und Dichter sich mit der Art solcher Erzeugnisse befassen wollen, welche eine sehr entfaltete Intelligenz erfordern, müssen sie immer gleichsam wider ihre Natur handeln, sie müssen in sich die göttliche Wurzel entkräften, die den Menschen in die höheren Regionen der Poesie hinauftreibt. Daher hatte diese Schriftgattung niemals Glück bei den Slaven, und wird es wahrscheinlich auch nie haben. Es gab jedoch Schriftsteller, die sich von ihrer Volkstümlichkeit gänzlich entfernten, und die fremden Erzeugnisse, besonders die keltischen, sehr gut nachäffen konnten. Einer von diesen sonderbaren Leuten ist der auf dem polnischen Parnaß hochstehende Stanisław Trembecki, einer der geläufigsten, der vollendetsten Schriftsteller, die je in der slavischen Literatur geglänzt, und zugleich am wenigsten volkstümlich, am wenigsten slavisch waren. Wir besitzen wenige Nachrichten über das Leben Trembeckis. Es ist uns bekannt, daß er bei einer wohlhabenden Familie in Polen seine Erziehung genoß, später längere Zeit in Paris verweilte, sich unter dem hohen französischen Adel bewegte und nach seiner Rückkehr die Stelle eines Hofmanns bei Stanisław August bekleidete. Er war ein Mann von ungewöhnlicher Verstandeskraft und besaß eine außerordentliche Leichtigkeit, sich jede Schreibart anzueignen; die lateinische Literatur war ihm genau bekannt, französisch schrieb er so geläufig wie polnisch, und nicht minder gründlich war er in den andern slavischen Sprachen bewandert. Was er nur erlebte und sah, ward bei ihm ein Gegenstand zum Epos, nichts aber konnte seine Seele fesseln oder vielmehr alles gewann ihn nur für einen Augenblick. Am meisten verehrte er den Hof Ludwigs XIV., den französischen Adel, die Pariser Lebensart und Voltaire; er bewunderte gleichfalls die Jesuiten und schrieb eine rührende Ode auf ihren Untergang.223 Er lobte die alte polnische Verfassung und zugleich die Pläne ihrer Reformatoren. Er bewunderte seinen König, in welchem er den Kaiser Augustus sehen wollte, und nebenbei für sich das Los eines Horaz oder Virgil zu finden meinte; aber vor allem Übrigen war die Zarin Katharina die Göttin seines Herzens. Er war ganz außer sich vor Freude, als er an ihrem Hofe den Luxus und die Pracht von Versailles zugleich neben der originellen Frische und slavischen Einfalt antraf. Dies machte eine

223 Stanisław Trembecki (1737–1812) – „Oda na ruinę zakonu jezuitów w roku 1773“, in: St. Trembecki: Poezje, Bd. 2, Sanok 1858, S. 117–119.

770

Teil II

solche Wirkung auf seinen Dichtersinn, daß ihn einige Kritiker224 zu den russischen Schriftstellern zählen wollen; in den Schmeicheleien gegen Katharina übertrifft er jene sogar an Witz und Anmut. Dieser unbegreifliche Mann erregt zwar Staunen bei seinen Lesern, aber er läßt sie kalt, er erweckt keine Begeisterung in ihnen. Seine Werke werden das einzige Denkmal für ihn bleiben, nie wird er Nachahmer finden, er schuf keine Schule, obgleich er klassisch genannt wurde. Das sogenannte Klassische in der Kunst beginnt erst seit dem Untergang Griechenlands. Die gemessene Abrundung und die vollendete Anmut der Form, was in griechischen Werken so großes Lob erhält, ist gerade die Folge des damals verdorbenen Geistes. Als dieses Atmen, das noch die Dichter des Altertums belebte, erloschen, da vermochte man, wie sich die heutigen Ästhetiker ausdrücken, das Unendliche im Endlichen einzuschließen; ein Ausdruck, der vortrefflich die griechische Kunst bezeichnet. Nachdem man das Unendliche abgeschlossen, und nichts mehr außerhalb der Erde geschieht, konnte man zu einer gewissen Vollkommenheit in der Form der irdischen Seite der Kunst gelangen. Trembecki war ein wahrer Grieche aus Perikles Zeiten, oder ein Lateiner aus Augusts Epoche. Die Slaven können aus seinen Werken eine vollkommene Vorstellung von dem Stil der Alten entnehmen.225 Damit können wir die Erwähnung des größten Dichters aus der Zeit des Stanisław August schließen. Die Betrachtung der Werke des Franciszek Karpiński und Julian Ursyn Niemcewicz müssen wir auf spätere Zeit verlegen, weil sie schon den Eingang in eine andere Periode bilden. Während so die Dichtkunst zum Vergnügen des Königs, seiner Umgebung und überhaupt der Magnaten diente, beschäftigte man sich fleißig mit der öffentlichen Bildung. Der Sturz der Jesuiten fiel gerade in die Zeit der ersten Teilung Polens. Die großen Schätze dieses Ordens verwandte man zur Anlegung von Schulen in der ganzen Republik. Schon seit dem 16. Jahrhundert hatten die Polen im Sinne, eine Anstalt zu gründen, die wie in Frankreich unter dem Namen der Universität eine ganz eigne Schulbehörde ausmacht; dieses Vorhaben kam nun zu Stande. Die „Kommission für die nationale Bildung“ (Komisja Edukacji Narodowej) setzte Verordnungen fest, die auf sehr liberale Grundsätze gestützt waren. Für alle Stände des Volkes öffnete man im ganzen Land Akademien, Gymnasien und Schulen; die Ausbildung war unentgeltlich; der lernenden

224 Stefan Witwicki: Wieczory pielgrzyma. Rozmaitości moralne, literackie i polityczne. Bd. 1, Paris 1837, S. 217–218. 225 Über Stanisław Trembecki – vgl. Claude Backvis: Un grand poete polonais du XVIII siècle Stanislaw Trembecki. L’é trange carriere de sa vie et sa grandeur. Paris 1937.

16. Vorlesung (8. März 1842)

771

Jugend gab man große Vorrechte und suchte sie auf alle mögliche Weise anzufeuern. Aber dies stufenartig erhobene Gebäude der Bildung oder des öffentlichen Unterrichts hatte in keiner moralischen Wahrheit, in keinem allgemeinen Dogma seine Stütze. Man bezog aus dem Ausland die Werke, die als Elementarbücher dienen sollten. Diese Bücher, von Philosophen und Enzyklopädisten verfaßt, standen in merkwürdigem Mißverhältnisse mit der religiösen Erziehung, die noch in den Händen der Geistlichkeit lag. Die Logik und alle Lehrgegenstande in den Schulen wurden schon nach der materiellen Ansicht betrieben. Untergeordnete Sammlungen historischer Taten, die man aus den Werken fremder Republikaner schöpfte, machten die monarchische Verfassung gehässig, daneben aber suchte man den Schülern die Überzeugung einzuflößen, daß nur die königliche Macht den Freistaat erhalten könne. Auf solch eine Weise bildete man zwanzig Jahre die Jugend, die mit ihren von widerstreitenden Begriffen verworrenen Köpfen sich einst ans Ruder des Staates stellen und ihrem Land eine neue Organisation geben sollte. Diese Jugend war es, aus welcher später der größere Teil des sogenannten großen „Vierjährigen Sejms“ [„Sejm Czteroletni“ 1788–1792] bestand. Noch ein Umstand verdient hier unsere Beachtung, der zur Zeit der ersten Zerreißung Polens eintrat. Es verbreitete sich das Gerücht in Warschau, einige Magnaten226 hätten, von einer weiten Reise zurückgekehrt, ein unfehlbares Mittel mitgebracht, das übrig gebliebene Polen zu retten. Diese Herren, mit den Werken G.B. de Mablys, J.J. Rousseaus, Montesquieus beladen, machten überall bekannt, daß in diesen Werken das ganze Geheimnis stecke, wie man die Republik aufrichten und umbauen solle, daß in ihnen tiefe und wahre Ideen sich fänden, auf welche eine Konstitution gestützt, mit der Zeit reichliche Mittel zur Erlangung politischer und materieller Macht geben würde. Dieser Glaube begann nach und nach sich der Gemüter zu bemächtigen, und gegen das Ende der damaligen Epoche befestigte sich die Überzeugung, daß Polen hauptsächlich der Arbeit 226 Darunter Michał Wielhorski, der als Vertreter der „Konföderation von Bar“ in Paris Gabriel Bonnot de Mably und J.J.  Rousseau 1770 bat, Vorschläge zur Reform des Staatssystems in Polen auszuarbeiten. Mably, der 1776 mit Wielhorski nach Polen kam, verfasste die mehrfach modifizierte Abhandlung „Du Gouvernement et des lois de la Pologne“ (1770, 1781); neue Edition von Marc Belissa – Paris 2008; Auszüge in deutscher Übersetzung: G.B. de Mably: Politische Texte. Hrsg. Hans Erich Bödeker und Peter Friedmann. BadenBaden 2000 (Abschnitt: Über die Regierung und die Gesetze Polens, S.  195–204); Jean Jacques Rousseau: Considérations sur le gouvernement de Pologne et sur sa réformation projetée (1770–1771). Genf 1782; dt. Übersetzung in: J.J.  Rousseau: Sozialphilosophische und politische Schriften. München 1981 – Kapitel: „Betrachtungen über die Regierung Polens und über deren vorgeschlagene Reform“.

772

Teil II

der inneren Umschaffung sich hingeben, nur in sich selbst alles suchen, aus dem volkstümlichen Gedanken alles herleiten müsse. Die größten Patrioten, von welcher Partei sie auch waren, kamen endlich überein und stimmten dieser Ansicht bei. Der König, die Czartoryskis, die von den Konföderierten übriggebliebenen, mit einem Worte, alles, was nur im Lande am meisten strahlte, schuf jetzt eine neue Partei, welche in den Ideen das zu finden strebte, was man vergeblich in Handlungen gesucht hatte. Bevor wir aber zur Untersuchung dieses Gegenstandes übergehen, können wir hier die Bemerkung machen, daß man auf diese Art die I. Teilung Polens legalisierte. Man unterließ, schon gegen diese Zerreißung zu eifern, man vergaß die der Republik entrissenen Provinzen und beging einen Frevel an der Majestät des Volkes. Jedes Volk hat für sich eigentümliche konstitutionelle Grundsätze, und die Annahme fremder Vorstellungen darin in irgendeiner Rücksicht bedroht es mit der entschiedensten Gefahr. Diejenigen Staaten, welche durch Eroberungen ihre Größe erlangten, verlieren nicht notwendigerweise an moralischer Kraft, wenn ihnen ein Teil des Landes entrissen wird; aber Polen ist durch keine Eroberungen entstanden, alle Provinzen hatten sich von freien Stücken an die Republik angeschlossen, sie verbanden sich mit ihr durch den gegenseitigen Schwur zu Schutz und Hilfe. Die Repräsentanten dieser Provinzen besaßen alle Vorrechte, konnten sogar ihr Veto einlegen, d.h. den Gang der ganzen Körperschaft aufhalten. Mit welcher Befugnis durfte man also das knüpfende Band durchschneiden? Mit welchem Recht erdreistete man sich, die Abgesandten der rusinischen und preußischen Gebiete zu entfernen, welche Länder ja durchaus nicht als unterworfene ihr Bündnis mit Polen geschlossen hatten? Die Masse der Nation fühlte das Unwürdige eines solchen Verfahrens, aber die aus der Tiefe keimenden Wahrheiten im Volke entgingen dem Auge der Politiker, die nichts davon in den zu Rate gezogenen französischen und englischen Büchern fanden. Die Abtretung einer einzigen Provinz nur war für Polen die Aufhebung der Rechte, auf welchen es beruhte. Man durfte allerdings das nicht von Polen verlangen, was die Möglichkeit überstieg; vielleicht konnten sie diese Provinzen nicht schützen, dies ist eine andere Sache; aber nun und nimmer ziemte es sich, die Zerreißung zu billigen, denn dadurch griffen sie die organischen Rechte des Volkes an. Mehrmals hatte es sich schon zugetragen, daß Polen Länder verlor und sie wieder in Besitz nahm; aber nie hat ein Traktat den feindlichen Raub zu Gesetzeskraft erhoben; man wartete in solchen Fällen die Zeit ab und machte einen bloßen Waffenstillstand. König Jan III. hatte in einem üblen Augenblick

16. Vorlesung (8. März 1842)

773

seiner Politik den Traktat227, der eine Stadt an Rußland überließ, unterschrieben, aber der Sejm verweigerte entschlossen die Ratifikation desselben. In der Senatoren- und Landbotenkammer blieben die erledigten Sessel für die Repräsentanten der entrissenen Länder stehen, damit der Gedanke an die gesamte Republik sich immer fest erhalte. Dieser Gedanke, diese Volkstheorie, in ihrem Begriff so ähnlich mit denen der katholischen Kirche, wird uns besonders durch folgenden Vergleich deutlicher erscheinen. Die Päpste waren gezwungen, viele ihrer Kirchen den Händen der Ungläubigen oder Ketzer zu überlassen, sie hören indessen nie auf, für sie die geistlichen Vorsteher zu bestimmen. Sobald aber ein Papst nur einmal einem Monarchen fremden Glaubens erlauben würde, die Bischöfe zu ernennen, so würde er augenblicklich seinen Charakter verlieren und aufhören, das Haupt der römischen Kirche zu sein. Die ganze aufgeklärte Klasse in Polen machte sich ohne Ausnahme einer solchen Tat schuldig, und wir werden später sehen, daß man auch in vieler anderen Hinsicht die wahre Volksverfassung verletzt hat.

227 Sog. „Ewiger Friede“ (auch „pokój Grzymułtowskiego“) zwischen Polen und Russland vom 6.5. 1686; vgl. K.A. Kočegarov: Reč’ Pospolita i Rossija v 1680–1686 gg. Zaključenie dogovora v Večnom mire. Moskva 2008.

17. Vorlesung (15. März 1842) Die Literatur aus den Zeiten Katharinas und Stanisław Augusts rettet die aufgeklärten Stände in Rußland und Polen – Wie gelangten fremde Sprachen und Sitten in höhere gesellschaftliche Kreise in den slavischen Ländern? – Zivilisation und Barbarentum – Die politische Reform Polens – Der Große Sejm (Sejm Wielki) – Erblichkeit des Thrones; zweites gewaltsames Antasten der angestammten Republikverfassung Polens – Die Verfassung vom 3. Mai 1791 und ihre Idee von der Gleichheit aller Bürger der Republik – Preußen, Rußland und Österreich verbünden sich gegen Polen – Das geheime Band, das Frankreich und Polen verbindet – Kurze Übersicht zur symbolischen Geschichte des alten Polen.

Die Literatur aus den Zeiten Katharinas und Stanisław Augusts hat einer zahlreichen Klasse des slavischen Volkes ihr Gutes erwiesen; sie bewahrte die polnischen Großen und andere Leute, die in der russischen Hierarchie hohe Stufen einnahmen, vor dem unfehlbaren Sturz. Diesen Einfluß, den die Literatur in Rußland und Polen gehabt, beachtete man bis jetzt nicht. Die Geschichte anderer Völker bietet nichts Ähnliches, nirgends scheidet eine so große Kluft die zivilisierte Klasse von den Niedrigeren. Nachdem diese Volksstämme viele Anfälle herumziehender Horden und erobernder Völker ausgestanden, wurden sie von fremden Systemen und Sprachen heimgesucht. So viel es im Slaventum nur Menschen gab, die da lernten, forschten, ihre Seelenorgane bildeten, alle diese wurden der Nation entfremdet, die gebildetere Klasse begann sogar eine fremde Sprache zu reden, eine Sprache, die ganz verschieden von der des Volkes war. Später erhob man Klagen gegen die französische und deutsche Sprache, weil sie den slavischen Adel entnationalisierten; man schrieb hierüber viele dicke Bücher, verlachte in den Komödien das Ausländische der Rede. Dies ist jedoch nur eine oberflächliche Betrachtung der Dinge. Das Übel liegt nicht in den fremden Sprachen selbst, es sprießt erst durch sie hervor und wurzelt in der Erziehung. Die fremde Sprache kann man nicht lehren, man muß sie einimpfen. Sie gedeiht nicht ohne lebendiges Wort, ohne Gebärde und Beispiel. Bücher verderben kein Volk, nur das Beispiel lebender Menschen bringt die Pest. Ankömmlinge aus Frankreich und Deutschland entwöhnten den Adel allmählich dem Volkstum, aber nicht durch ihre Sprache, sondern durch ihre Unterrichtsmethode. Der deutsche Erzieher begann beim Unterricht des Kindes mit Definitionen, dann zu Folgerungen und Schlüssen übergehend und stets den Weg der deutschen Rationalphilosophie verfolgend, wirkte er künstlich auf dessen Intelligenz ein, trieb alle Geisteskräfte ihr zu, entwickelte sie auf Kosten des Gemüts

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_059

17. Vorlesung (15. März 1842)

775

und bildete also den Zögling zu einem echten Deutschen. Ein so verdeutschter slavischer Geist mußte sich natürlich auch deutsch äußern, bedurfte der deutschen Sprache, die volkstümliche reichte ihm nicht mehr hin. Der französische Erzieher, der spielend seine Stunden gab, zog aus allen Dingen etwas Scherzhaftes, lehrte die feinen Schattierungen der Worte auffassen, die Rede wohlklingend ordnen, überhaupt in allem die oberflächliche Seite beachten, insonderheit den Witz überall zeigen, formte folglich den Zögling innerlich zum Franzosen. Diesem ward somit die französische Sprache unumgänglich, denn in seiner eignen fand er Nichts, was seine Vorstellungen ausdrücken konnte. Auf diese Weise verwandelten sich Russen und Polen, ohne es selbst zu wissen, in Deutsche und Franzosen. Es gibt eine Menge russisch und polnisch abgefaßter Bücher über diesen Gegenstand, in denen man sogar den reinen Nationalstil nachahmen will, die jedoch vollends fremdartig sind und nicht das Mindeste vom Slaventum besitzen. Von nun an trat eine förmliche Spaltung zwischen dem Herrn und Landmann ein; schon konnten sie sich nicht mehr verstehen: ein und dieselbe Sache betrachtend, sahen sie dieselbe mit verschiedenen Augen an, jeder begriff sie anders, äußerte sich in einer anderen Sprache. Bei den Tschechen – es ist dies das einzige Beispiel in der Geschichte – hat sich die ganze gebildete Klasse vollständig verdeutscht, hat sogar die tschechische Sprache vergessen. Die Polen und Russen verließen noch nicht ihre Volkssprache, sie waren aber nicht minder als die verdeutschten Tschechen entartet. Zwischen dem russischen Edelmann und Bauer war ein so ungeheurer Abstand, wie niemals zwischen dem französischen Baron und dem Landmann. Dies mußte schlechterdings zu einem entsetzlichen Ausgange führen. Einer der angesehensten und tiefsten Geschichtsforscher in Polen, Jan Potocki, sah schon, als er schrieb, die Gefahr eines solchen Zustandes vorher. Er sagte, eine furchtbare Katastrophe drohe den slavischen Ländern, und wenn im Norden eine Revolution ausbreche, müsse sie notwendig mit der Ausrottung alles dessen, was als zivilisiert gelte, und mit dem Rückfall jener Gegenden ins Barbarentum endigen.228 Doch was verstanden Potocki und andere gleichzeitige Geschichtsschreiber unter Zivilisation und Barbarentum? Wen nannten sie zivilisiert und wen Barbar? Sollte der polnische Bauer, der getrost im Elend, stets bereit zur Verteidigung der Heimat, treu seiner Religion und festhaltend an den Sitten des Volkes 228 Jan Potocki (1761–1815); vgl. Jan Potocki: Fragments historiques et géographiques sur la Scythie, la Sarmatie et les Slaves. 4 Bde., Brunsvic (Braunschweig) 1796, Bd. I, S. 30.

776

Teil II

sich bewährte, sollte dieser etwa, einem Fürsten Poniński229 gegenüber, einem Mann voll Witz und raffiniertem Verstand, der aber sein Vaterland an Moskau verkaufte und das Geld in Schwelgerei verpraßte, ein Barbar sein? War dieser Bauer ein Barbar im Vergleich mit dem Grafen Gurowski230, der ein Hofnarr beim Großfürsten Peter war und später durch den russischen Gesandten dem polnischen König zum Erzbischof für Gnesen vorgeschlagen, die Frechheit besaß, öffentlich auf dem Sejm sich mit seiner Käuflichkeit zu brüsten. Und ebenso der russische Bauer, der, das heilige Kreuz schlagend, den türkischen Kanonen bei Očakov (1739; 1788) und Ismail (1790) entgegenging und in die Gräben stürzte, um mit seiner Leiche für andere eine Brücke zu bauen, dieser seinem Monarchen so gehorsame Soldat, so pünktlich in der Erfüllung der Religionspflichten, die man ihm gelehrt, kann er als Barbar neben Orlov oder Potemkin, diesen verdorbensten Männern des 18. Jahrhunderts gelten? Potemkin wurde zum Gegenstand der Bewunderung für seinen deutschen Biographen231, weil er Millionen auf seine Küche verwandte, Couriere nach Paris schickte, um sich Pasteten holen zu lassen, für eine Übernachtung prächtige Paläste in den Steppen der Krim errichten ließ. Das Leben Aleksej Orlovs war eine Reihe der gräulichsten Verbrechen; ein Beispiel genügt. Die uneheliche Tochter der Zarin Elisabeth, Fürstin Elizaveta Alekseevna Tarakanova genannt, führte ein stilles Leben in Italien, erregte aber dennoch Katharinens Argwohn, sie möchte einst ihre Rechte an den Thron als Enkelin Peter des Großen geltend machen. Das beste Mittel schien, ein für allemal sie aus dem Wege zu räumen. Dazu bot sich der größte russische Magnat, der Liebling der Zarin, Aleksej Orlov, an. Unter dem Vorwand, als habe er die Gunst seiner Herrin verloren, reist er ins Ausland, läßt sich in Toskana nieder, erregt Staunen unter den Italienern durch seinen Reichtum und seine 229 Adam Poniński (1732–1798), Sejmmarschall von 1773–1775, beurkundete die I.  Teilung Polens; gilt als korrupter Verräter polnischer Interessen dieser Zeit. 230 Władysław Roch Gurowski (∼1715–1790), Großmarschall von Litauen, der in Polen unverhohlen russische Interessen vertrat. Vgl. Władysław Konopczyński: Władysław Gurowski. In: Polski Słownik Biograficzny t. IX, s. 171–173. Der Kandidat für das Bischofsamt war allerdings der von der Zarin protegierte Gabriel Jan Podoski (1719–1777). Vgl. Marceli Kosman: Między tronem a ołtarzem. Poznań. 2000; vgl. dazu J. Maślanka (A. Mickiewicz: Dzieła. Tom IX: Literatura słowiańska. Kurs drugi, op. cit., S. 494). 231 Gustav Adolf Wilhelm von Helbig: Potomkin. Ein interessanter Beitrag zur Regierungsgeschichte Katharinas der Zweiten. Leipzig 1804; vorher in Fortsetzungen unter dem Titel „Potemkin. Der Taurier“ in der Zeitschrift „Minerva“. Ein Journal historischen und politischen Inhalts, herausgegeben von Johan Wilhelm von Archenholz u.a., in den Jahrgängen 1797–1800 [Internet: http://ds.ub.uni-bielefeld.de]. Vgl. auch G.A.W. von Helbig: Russische Günstlinge. Tübingen 1809 (2. Aufl. München-Berlin 1917); russisch – Russkie izbranniki. Moskva 1999.

17. Vorlesung (15. März 1842)

777

Verschwendung und knüpft mit dem Opfer seiner höllischen Intrigen Bekanntschaft an. Er heuchelt Liebe und bittet um ihre Hand. Alles war mit der größten Geschicklichkeit und List geführt, sodaß die Fürstin, den Verrat nicht ahnend, den Bällen und Vergnügungen, die ihretwegen angestellt wurden, beiwohnte. Einst auf ein Schiff im Hafen zu Livorno eingeladen, erschien sie voll Vertrauen und Frohsinn, aber kaum hatte sie das Verdeck betreten, als der Anker gelichtet wurde und das Schiff, man weiß nicht wohin, schnell davonsegelte. Niemandem ist bekannt, was mit der Unglücklichen geschah, man sagt nur, daß, sobald sich das Schiff in Bewegung gesetzt, der schändliche Orlov, seines teuflischen Triumphes gewiß, ihr einen Backenstreich gab.232 Was gibt es nichtswürdigeres als ein solches Verbrechen? Diese Tat ist indessen ebenso wenig tragisch, als die ganze Schreckensgeschichte Russlands seit dem Ende 16. Jahrhunderts und die ganze Epoche der Machiavellis, der Borgias und aller jener großen Verbrecher und Egoisten, denen der innere Kampf zwischen moralischem Pflichtgefühl und der Lockung des Ehrgeizes oder der Leidenschaft nicht mehr bekannt war, die nichts weiter als Werkzeuge des Bösen waren; man kann dieses daher nicht tragisch nennen. Dagegen macht der Kampf, der alle Blätter der damaligen Geschichte Polens ausfüllt, diese Geschichte des Unglücks und der Erniedrigungen tragischer als alle übrigen. Einige oben angeführte Beispiele der Schändlichkeit und Sittenlosigkeit in Polen waren bloß Ausnahmen. Es ist also einleuchtend, daß in gänzliche Verdorbenheit versunkene Klassen endlich vom Volk, welches immer auf alten Überlieferungen fußt, ausgerottet werden mussten. Und wahrlich, es wäre besser für die slavischen Völker gewesen, wenn jene verschwunden, am besten aber, wenn sie auf den rechten Weg gekommen wären. Die erste Rettung für diese Klassen brachten die damaligen Literaten, indem sie ihnen Werke darboten, in welchen sie neben den französischen und deutschen Ideen, neben den ausländischen Systemen, immer noch etwas Volkstümliches fanden, wenigstens oberflächlich die Muttersprache lernten oder zum mindesten nicht leicht vergessen konnten. Auf diese Art hob die Literatur sie empor, schloß ihnen das Tor ihrer Nationalvergangenheit auf, gestattete ihnen nicht, ihren Volksgeist so zu ändern, wie es bei den Tschechen geschah, die sich ins Deutsche umgewandelt haben. Aus diesem Zustand der zivilisierten Klasse kann man leicht folgern, wie ihre Repräsentanten in Polen die Reform der Republik, das Werk des „Vierjährigen Sejms“ (Großen Sejms), leiten konnten.

232 Über Tarakanova vgl. Ernest Łuniński: Księżna Tarakanowa a Konfederaci Barscy. Lwów 1907; Igor’ Vladimirovič Kurukin: Knjažna Tarakanova. Moskva 2011.

778

Teil II

Die Reform war schon in den Gemütern zur Reife gediehen, sie kam von sich selbst zum Vorschein. Der gewöhnliche Sejm begann 1788 mit einer gelinden Abänderung einiger Artikel, geriet unmerklich in steigende Tätigkeit und endete mit dem Erschüttern der Grundpfeiler der Republik. Die Geschichte dieser vierjährigen Beratschlagungen ist das Bild zu der Geschichte des Volksgeistes, der, allmählich von der Tradition abkommend, endlich im Zweifel über sich selbst verfällt. Der Sejm ging von dem berühmten Grundsatz des Cartesius233 und den Philosophen der Neuzeit aus, die mit Fragen an sich selbst beginnen: Bin ich? Warum existiere ich?; er verwarf daher die ganze Geschichte Polens, dessen Vergangenheit dem Sejm die Verpflichtung auferlegte, für die Zukunft zu arbeiten; der Sejm war allerdings der Auffassung, er könne über die Zukunft beliebig verfügen. Erst nachdem er eine Menge Artikel abgefaßt, die sich auf nichts stützten, merkte er die Schwierigkeit, wollte in ihnen das Grundgesetzliche heraussuchen und das nur bedingt Gültige von dem Unbedingten absondern. Lange Zeit hat man über wirkliche sogenannte Kardinalgesetze verhandelt. Sowie die von der römischen Kirche abgefallenen Sekten sich öfters bemühten, allgemeine Dogmen aufzustellen und auch nicht eins finden konnten, so war auch der „Große Sejm“ (Sejm Wielki), nachdem er von der Nationalgeschichte abgefallen, je mehr er die Landesgesetze zur Untersuchung zog, desto unsicherer, welche unangetastet bleiben, und welche der Erwägung unterworfen werden sollten. Dieser Sejm ging allen konstitutionellen Versammlungen des Westens voran, er war der erste, der den Entschluß faßte, die alte Verfassung umzuändern und eine neue Volkskonstitution zu schaffen. Heute gibt es nichts Leichteres, als eine Konstitution zu schreiben, da sich Muster in Menge vorfinden; damals aber hatte man einen ganz andern Begriff von dieser Arbeit. Unter Konstitution verstand man einfach ein Statut, Anordnungen, Gesetze; Niemand wollte hierdurch eine konstitutionelle Charte entwerfen. Niemand unternahm es, dem Reich die Staatsurkunde vorzuschreiben, die die Vergangenheit und Zukunft des Volkes umfassen, sein Dasein erklären und seinem Fortschritt die Bahn vorzeichnen sollte. Polen hat sich zuerst diesem verhängnisschweren Versuch unterzogen. Vor allem andern kam das Thronfolgerecht in Betracht und man suchte es auf rationelle Weise zu begründen. Die Wählbarkeit der Könige schien widersinnig zu sein, da alle übrigen Länder unter erblichen Regierungen standen. 233 „Cogito ergo sum“ – René Descartes: Die Prinzipien der Philosophie. Amsterdam 1644, Kap. 1, Absatz 7: „Deshalb ist die Erkenntnis: Ich denke, also bin ich (lat. Ego cogito, ergo sum), von allen die erste und gewisseste, welche bei einem ordnungsmässigen Philosophieren hervortritt.“

17. Vorlesung (15. März 1842)

779

Niemand dachte daran, daß zwischen der freien Wahl und dem Interesse des Volks ein geheimer Zusammenhang besteht. Die Thronfolge war verschieden in den verschiedenen christlichen Ländern eingerichtet und am Ende ließ sich ersehen, daß allenthalben diese Einrichtungen das ewige Gesetz der Vorsehung lenkte. In Frankreich z.B. schloß das Salische Recht (Lex Salica) die weibliche Linie aus. Diese Festsetzung stand in keinem Kodex, in keinem Verfassungsbuch geschrieben, dennoch hatte man sie streng beobachtet, und heute kann man sehen, welche gute Folgen sie gehabt hat. In einem aus vielen Feudalfürstentümern unter einem Scepter zusammengesetzten Reiche mußten die Könige, denen die Oberherrschaft gesichert war, und welche durch keinerlei Aussteuer ihrer Töchter die Kronbesitzungen zu teilen brauchten, nach und nach notwendigerweise alle diese Fürstentümer an sich ziehen. In Spanien dagegen war die Thronfolge der weiblichen Linie zuerkannt, und dieses Statut hieß das kastilische. Man wollte es öfters abschaffen, das Volk widersetzte sich aber jedesmal und es hatte Recht; denn Spanien, aus vielen unabhängigen Königreichen bestehend, konnte nur durch Heiratsverbindungen zu einem Ganzen werden, wie dies auch bekanntlich durch die Vermählung Ferdinands II. mit Isabella von Kastilien bewirkt wurde. In den letzten Zeiten sogar hat eine nach altem kastilischem Recht gekrönte Frau durch die erste Einführung einer Konstitution, d.h. einer neuen Idee, den Anfang zu Bewegungen gegeben. So wurden also zwei schroff entgegengesetzte Rechtsgebräuche zwei benachbarten Staaten auf gleiche Weise heilsam. Ebenso kann man auch nachweisen, daß die Wählbarkeit der Könige die polnischen Länder vereinigt hat. Hätten die Polen nicht das Recht gehabt, sich von den im Herzogtum Masovien herrschenden Piasten loszusagen, so wären sie nie in den Besitz der großen lithauischen und rusinischen Landstriche gekommen. Wenn Polen mit seinem Bürgertum nichts weiter anzubieten gehabt hätte, als Ordnung und Frieden, wie hätte es die preußischen Provinzen an sich gezogen, die man für die reichsten und am meisten zivilisierten Besitzungen des deutschen Ordens gehalten hat, und dessen tüchtige Verwaltung und Regierung als musterhaft bewundert wurde? Was andere Völker an Polen lockte, war sein ehrenvolles und erwünschtes Recht der freien Königswahl. Der Hauptgrund des späteren Kosakenaufstandes war ihre Ausschließung von diesem Vorrecht. Heute ist es leicht, dies alles zu beurteilen, aber dazumal, wo man immer nach fremdhergebrachten Theorien sich richtete, zog man die Geschichte der Väter nicht gehörig zu Rate, man wollte der uralten Klugheit seines eignen Volkes keinen Glauben schenken und war unfähig zu begreifen, daß die Vorsehung, den Völkern besondere Bestimmungen zuteilend, auch einem jeden von

780

Teil II

diesen die entsprechenden organischen Gesetze vorgeschrieben hat, welche man nicht antasten darf, ohne dem Volke einen tödlichen Stoß zu versetzen. Einer der größten Schriftsteller und der kühnsten Theoretiker des 18. Jahrhunderts, Jean Jacques Rousseau, erkannte schon diese Wahrheit und beschwor die Polen, doch ja nicht an ihrer altertümlichen Verfassung zu rütteln, vielmehr so viel als möglich nicht nur die Gesetze und herkömmlichen Gebräuche, sondern sogar die Vorurteile der Vorfahren zu ehren, denn, wie er sagte, solche Gesetze, Gebräuche und Vorurteile bewahrten dazumal einzig und allein den selbständigen Charakter Polens.234 Um die Aufmerksamkeit der Zuhörer nicht übermäßig in Anspruch zu nehmen, werde ich vorerst auf die Erörterung anderer Gesetzesvorlagen, die der „Große Sejm“ zu verabschieden gedachte, verzichten. Zwei Hauptpunkte haben wir bereits untersucht, zuerst die alte Idee von der Einheit (całość) der Grenzen Polens, die der Sejm frevelhaft verletzte, indem er die I. Teilung Polens akzeptierte; jetzt sehen wir, wie schäbig und verantwortungslos es war, sich der Geschichte der Nation zu widersetzen, indem man das Recht der Königswahl mit Gewalt brach. Später werden wir andere Beispiele anführen; wir werden noch einige Sozial- und Religionsfragen erörtern, die mit der späteren Epoche verbunden sind. Nach langen fruchtlosen Verhandlungen und Abmühungen hinterließ der Sejm eine Verfassung, die unter dem Namen „Konstytucja 3 maja“ (Verfassung vom 3. Mai 1791) bekannt ist. Dort ist alles beschrieben und bezeichnet: die Macht des Königs, die der Gesetzgebung, des Gerichts und das Verhältnis, in welchem sie zu einander stehen. Unter diesen neuen Begriffen findet sich nur ein Gedanke aus der früheren Zeit, der aus heimatlicher Quelle entspringt, der Gedanke nämlich, alle Mitglieder der Republik zur Gleichheit zu bringen. Der Adel, welcher sich immer mehr abgesondert, stand im 17. Jahrhundert völlig abgeschlossen. Jetzt hatte man das Gefährliche dieser Richtung erkannt, und der Sejm, auf das Räsonnieren der Zeitgenossen nicht mehr achtend, unternahm, statt alle Klassen herunterzusetzen, im Gegenteil, die Niederen zu heben, d.h. die Bürger und Bauern zu adeln. Der König, die Hetmane, die Feldherrn und sogar die Privatherren hatten die Befugnis, andere zu adeln. Nach einer genauen Berechnung wären binnen 50 Jahren alle Polen adlig geworden, das ist, alle Mitglieder der Republik hätten dieselben Rechte und Vorrechte gehabt. 234 Vgl. Jean Jacques Rousseau: Considérations sur le gouvernement de Pologne et sur sa réformation projetée (1770–1771). Genf 1782; dt. Übersetzung in: J.J. Rousseau: Sozialphilosophische und politische Schriften. München 1981 – Kapitel: „Betrachtungen über die Regierung Polens und über deren vorgeschlagene Reform“.

17. Vorlesung (15. März 1842)

781

Dieser große Gedanke entsprang aus keiner Theorie des 18. Jahrhunderts; aber indem man sich den vaterländischen Grundsätzen zuwandte, vergaß man einen Umstand, man vergaß, daß Polen ein Teil Europas war: indem man es unterließ, die Nichtintervention geltend zu machen, führte man sie praktisch ins Leben ein; man wollte sich mit einer gewissen passiven Nichteinmischung sicher stellen, sich zu Hause einrichten, ohne zu bedenken, daß Rußland, Österreich und Preußen ihre Blicke darauf richteten und diese ganze innere Bewegung zu hemmen im Stande waren. Kaum war die Urkunde vom 3. Mai anerkannt, als der preußische König, der, mit Polen in feierlichem Bund stehend, den Reichstag bisher unterstützt, in jeder Note von seiner freundschaftlichen Gesinnung versichert und auf seine edlen und religiösen Gefühle zu vertrauen geheißen hatte, plötzlich die Sprache änderte, den Traktat brach und sich mit Rußland verband, um die Konstitution zu vernichten und aus Polen eine neue Beute zu machen. Rußland, das bis dahin den Veränderungen in Polen mit Ruhe zugesehen, warf sich jetzt in Gemeinschaft mit Preußen und Österreich über die Republik her, denn schon machte auf einer anderen Seite ein großes Ereignis das Streben und Ziel der polnischen Reform begreiflich. Die französische Revolution loderte damals in hellen Flammen und bedrohte Europa. Um sie zu unterdrücken, mußten die verschworenen Monarchen zuerst Polen zertrümmern. So zeigt sich auch hier wieder der verborgene Zusammenhang in der Geschichte dieser beiden Nationen, der ewig durch gleiches Glück und Unglück sie vereinigt, den wir aber erst später nach seinem Ursprung geschichtlich entwickeln werden. Genug, drei Mächte fallen über die unbewaffneten, durchaus zum Kriege unvorbereiteten Polen her. Der König, der bis jetzt mit dem Sejm gemeinschaftlich gehandelt, ob der großen Gefahr des Landes erschrocken, verläßt die Versammlung, nimmt die von Rußland gegebenen Bedingungen an, und Polen erleidet abermals eine Zerreißung. Jetzt erst sagt sich das Volk von allen den Theorien und Systemen, die es retten sollten, los, folgt nur dem Antrieb edler Gefühle und sucht sein Heil im Aufstand, dessen Repräsentant Tadeusz Kościuszko235 war. Dieser Krieg, den die Schlacht bei Maciejowice (1794), wo der Feldherr verwundet und gefangen wurde, beendigte, ist hinlänglich bekannt. Hier ist es passend, noch einmal der mythischen Geschichte Polens zu gedenken. Wir werden uns dabei überzeugen, daß diese Geschichte das Symbol, das Vorbild aller Epochen ist, daß sie in jeder Periode sich wiederholt, nur in einem immer größeren, über Einzelheiten immer weiter ausgedehnten Maße. Sowie die Kinderjahre eines großen Mannes sein Jünglingsalter voraussehen lassen, 235 Tadeusz Kościuszko (1734–1817); vgl. Alex Storozynski: The Peasant Prince – Thaddeus Kosciuszko and the Age of Revolution. New York 2009.

782

Teil II

wie dasselbe die weitere Entwicklung der Kindheit ist und das Mannesalter die Züge einer jeden vorangegangenen Lebensperiode an sich trägt, so spiegelt sich bei den Völkern das erste Blatt ihrer Geschichte, das mythische Blatt, am Ende einer jeden Geschichtsperiode ab. Was sagt uns die mythische Geschichte Polens? Das kriegerische Lechengeschlecht durchzieht die Länder vom Schwarzen Meer bis an die Ostsee, wählt Anführer im Pferdewettrennen. Dieses ritterliche Volk hatte seinen König, seine Hauptstadt, aber es hatte keine Grenzen um sein Reich. Allmählich beginnt seine Dynastie zu verfallen und erlischt gänzlich. Das Land gerät in Verwirrung, bekannt unter dem Namen „rząd dwunastu wojewodów“ (die Herrschaft der zwölf Woiwoden).236 Nach diesen Woiwoden – die Sage von Krakus übergehend, die übrigens gleichfalls ihren tiefen Sinn hat – sehen wir eine Jungfrau, die als Opfer der Vaterlandsliebe fällt, die lieber sterben als sich mit einem Ausländer vermählen will. Darauf bildet sich eine neue Dynastie, weniger tüchtig als die alten Lechen und gleichfalls zuletzt der Verderbnis unterliegend, endet sie mit jenem schwachen und lasterhaften König, der seine Oheime vergiftet, seine Vorfahren verleugnet und von Mäusen vertilgt wird. Mit dem letzten Popiel237 geht das herrschende Haus zu Grunde, es gibt keine Könige mehr. Da erscheinen erst Engel, um ein neues Geschlecht zum Zepter zu berufen, der Stellmacher und Bauer Piast wird erkoren. Blicken wir nun in die zweite Periode, wie sich alles wiederholt. In den Bolesławen und Wladysławen finden wir zuerst tüchtige Könige, die uns an die früheren Lechen erinnern; dann folgt eine Unordnung in Polen, durch die Teilungen veranlaßt, die uns die zwölf Woiwoden zurückruft; endlich wieder eine Heldenjungfrau, Jadwiga (Hedwig), die ihrem deutschen Geliebten entsagt und sich dem Wohle des Landes opfert; dann eine Reihe von Königen, die den Leszeks und den Popiels gleichen, von denen der Letzte, Stanisław August die Vorfahren verleugnet und elend stirbt. Mögen uns die Rationalisten über diese Ähnlichkeiten, diese sich entsprechenden Erscheinungen und die so zahlreichen anderen wunderbaren Dinge eine Erklärung geben; mögen sie z.B. auslegen, warum der Ahn der Poniatowskis, ein Amtmann, ein armer Edelmann, mit dem Bilde des Kalbes untersiegelte, welches nach den Überlieferungen das Wappen der Könige aus dem Lechenstamm war? Warum Kościuszko auf eine so schlagende Weise an Piast erinnert? Warum das Volk sich auf einmal erhebt, sich um ihn schart und ihm unbegrenzte Gewalt gibt? Und dies ist ja ein Mann im Kleid eines Bauers, der 236 Vgl. Julian Maślanka: Literatura i dzieje bajeczne. Warszawa 1984. 237 Zu Popiel vgl.: Słownik folkloru polskiego. Hrsg. Julian Krzyżanowski. Warszawa 1965; Jerzy Strzelczyk: Mity, podania i wierzenia dawnych Słowian. Poznań 2007.

17. Vorlesung (15. März 1842)

783

unter dem Volke lebt und so der Einfachheit ergeben ist, daß er als Diktator der Republik sich noch ein Glas Wein versagt. Er liebte eine Sorte Burgunder, und als ihn Michał Kleofas Ogiński238 fragte, warum er diesen Wein nicht auf seiner Tafel führe, meinte er, dieses zieme einem Ogiński, der ein reicher Herr sei, aber der Diktator, der von den Geldern der Republik lebe, könne sich dieses nicht erlauben. Der Dichter und Kammerherr Stanisław Trembecki, der einst in einer Karosse dem Diktator den Besuch machte, fand ihn in der Küche das Feuer schürend.239 Kościuszko führt sogar den Namen des Piastengeschlechts. Es ist bekannt, daß ihr Urvater Chościszko hieß oder Kościszko oder auch Koscisko, was immer kość, das Gebein, bedeutet. Und als das Volk nach einem Piasten als König rief, als es sich zum Feldherrn den Kościuszko erwählte, kann man sagen, daß es die Worte der heiligen Schrift erfüllte, wo es heißt: „Und der Mensch sprach: Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch.“ (Genesis 2, 23). Der Name Piast hat ebendenselben Stamm, wie das Wort piastować, Sorge tragen, pflegen, nähren, und piast bedeutet den Schoß, die Brust, die Mitte des Körpers. Es könnte scheinen, diese Bemerkungen legten willkürlich dem allen einen Zusammenhang bei, den es nicht besitzt; wer indessen die polnische Sprache kennt, wird in dieser Etymologie die Richtigkeit einsehen, den Rationalisten aber muß man die Worte Shakespears in Erinnerung bringen: „Es gibt mehr Dinge im Himmel und auf Erden, / Horatio, als Eure Schulweisheit sich träumt.“240 und hinzufügen, daß die Geschichte noch weit mehr der Art enthält.

238 Vgl. Pamiętniki Michała Ogińskiego o Polsce i Polakach od roku 1788 aż do końca roku 1815. tom I. Poznań 1870, S. 336; der „Burgunder“ wird dort nicht erwähnt; Nach Maślanka 1997, Bd. IX, S.  496, konnte Mickiewicz von dieser Episode von Ogiński selbst gehört haben, als er ihn 1829 in Florenz besuchte. 239 Konnte nicht nachgewiesen werden. 240 William Shakesperae: Hamlet. I, Aufzug, 5. Szene: „There are more things in Heaven and Earth, Horatio, Than are dream’t of in your philosophy.“

18. Vorlesung (8. April 1842) Kurzer Abriß der russischen Geschichte. Die allgemeine Idee des russischen Zarismus ist die Selbstherrschaft – Merkmale der finnischen Rasse – Was hat Europa der Zarenmacht entgegenzustellen? – Woher ist die Kraft zu erwarten, den Zarismus zu werfen? – Kann die Idee des erdrückten Polens sich noch verkörpern? – Ein Blick auf das gesamte Slaventum – Übersicht der Veränderungen, welche hier der Fortschritt materialistischer Zivilisation bewirkt hat. – Vergleichung des Geistes mit der Dampfkraft.

Das letzte Halbsemester der diesjährigen Vorlesungsreihe soll den Schluß der beiden Jahre ausmachen, die einer allgemeinen Betrachtung des Gegenstandes gewidmet wurden. Der Professor, der es nach den Osterferien eröffnet hatte, erwähnte noch verschiedene Schwierigkeiten, die er zu überwinden habe. Es kann sein, sprach er, daß in mir selber die Ursache liegt, die den schnellern Gang des Vortrages hemmt. Ich fühlte mehr als einmal meine Kräfte sinken unter der Last, die mein Beruf mir auflegt. Ich scheute mich, eine allzu große Wichtigkeit meinem Gegenstand beizumessen, und wünschte zugleich meine Zuhörer ins Geheimnis einzuweihen und ihre Aufmerksamkeit auf die literarische Seite der ganzen Aufgabe zu lenken. Öfters kamen auch Beobachtungen, die ich in der Geschichte der slavischen Völker gemacht, mir selber zu kühn, und die daraus gezogenen Schlußfolgerungen zu gewagt vor. Aber zu meinem Glück finden sich in eben erschienenen Werken, deren Verfasser mit meinen Vorträgen unbekannt sind, diese meine Hinweisungen bestätigt, und ganz neue Erscheinungen in der Welt des slavischen Wissens kommen mir zu Hilfe, sodaß alles, was ich früher nur mit einem Vorgefühl sah, nur gleichsam ahnte, mir jetzt die Kraft der Überzeugung gibt. Es bleibt uns nun übrig, einige Werke durchzugehen, die den Übergang zur neuesten Literaturgeschichte bilden, die wir mit der Auseinandersetzung einiger philosophischen und moralischen Fragen, so weit sich diese auf die Slaven beziehen, schließen wollen. Wir sahen schon die weitläufige Entwickelung der Geschichte Polens auf die gedrängte Darstellung des Mythenalters und auf die Hauptpersonen zurückgeführt; wir haben nun dasselbe mit der russischen Geschichte zu tun, was noch leichter sein wird, da wir sie in einer Person zusammenfassen können. Rußland besitzt keine mythische Geschichte. Die Ideen, die das jetzige russische Kaisertum beleben und bewegen, lassen sich auf eine, die der Alleinherrschaft, bringen. Es ist genug, die Beschaffenheit der herrschenden Macht zu kennen, um die ganze Geschichte des heutigen Rußlands zu durchschauen, alles, was sich in ihm zuträgt, zu verstehen, und sogar über die sonderbaren

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_060

18. Vorlesung (8. April 1842)

785

Verhältnisse, die zwischen der Regierung dieses Reichs und den Regierungen anderer Reiche stattfinden, sich Aufschluß zu verschaffen. Schon hatten die polnischen Könige des 16. Jahrhunderts etwas Gefährliches in dem mächtigen Staate befürchtet, dessen Bestimmung in den Augen der europäischen Mächte unerklärlich war. Später haben auswärtige Schriftsteller, welche diese Regierung in Betrachtung zogen, ein schauerliches Vorgefühl empfunden; denn in der Tat ist die Grundidee der Macht russischer Zaren ganz von der verschieden, auf welche sich die anderer Monarchen Europas stützt. Die deutschen Kaiser und die europäischen Könige haben sich immer, so oft es sich um ihre Gewalt handelte, auf Verträge oder Institutionen berufen; sie bewahrten sogar gewisse Formeln für die Heiligung ihrer Rechte. Karl der Große und seine Nachfolger wurden als Herrscher in Rom gesalbt und rechneten erst von diesem Augenblick an die Zeit ihrer Regierung. In anderen Ländern haben die politischen Parteien eine Stütze in den absoluten Rechten des Volkes gesucht, um sie auf die Herrscher überzutragen. In Rußland aber erhob sich die Zarenmacht weit über alle diese formellen Rechtfertigungen. Dort regiert der Zar nicht kraft der gegebenen Salbung, nicht kraft seines Kaisertitels. Die Salbung und der Titel bedeuten hier nichts, durchaus nichts, die Geschichte überzeugt uns davon. Ivan dem Schrecklichen fiel es einmal ein, einen seiner Lieblinge zum Großfürsten von Moskau zu ernennen.241 Er hatte ihn mit allen Zeichen des Herrschers bekleidet, ihm die völlige Regierung des Reiches übergeben, und wurde selbst zu einem ganz einfachen Ivan Vasil’evič, ohne für sich den geringsten Titel vorzubehalten, und ließ sich in einem Dorf bei Moskau nieder; dennoch hatte er die Macht, mit einem Wort, mit einem Wink diese seine Kreatur zu zerschmettern, diesen Schatten eines Großfürsten zu vernichten. Peter der Große hat gleichfalls bei seiner Reise ins Ausland Romodanovskij242 zu seinem 241 Simeon Bekbulatovič (Khan Sain-Bulat), den Ivan der Schreckliche 1575 mit der Zarenkrone krönte; er selbst nimmt den Namen Ivan Moskovskij an und spielt die Rolle eines einfachen Bojaren. Vgl. Boris A. Uspenskij: Zar und „falscher Zar“. Usurpation als kulturhistorisches Phänomen. In: B.A. Uspenskij: Semiotik der Geschichte. Wien 1991, S. 83–85. 242 Fürst Fedor Jur’evič Romodanovskij (~1640–1717). Leiter der berüchtigten Geheimpolizei (Preobraženskij prikaz), militärischer Würdenträger und Mitglied des von Peter dem Großen gegründeten Narrenkonzils (Всешутейший, всепьянейший и сумасброднейший собор; englisch – The All-Joking, All-Drunken Synod of Fools and Jesters; auch Saufsynode genannt), in dem er den Titel Fürst-Kaiser (Князь-кесарь) verliehen bekam. Die Tätigkeit des Narrenkonzils bestand in der Parodierung der katholischen Kirchenhierarchie im Rahmen von szenischen Darbietungen; es gab auch den Titel Fürst-Papst (Князь-папа). Das Narrenkonzil ist sichtbarer Ausdruck der karnevalistischen Lachkultur des alten Rußland. Überblick über die Forschung vgl. Gun-Britt Kohler: Karneval und kultureller Raum.

786

Teil II

Stellvertreter ernannt und mit dem Zarentitel243 geschmückt. Selbst erst ein Großfürst, schuf er schon einen Kaiser. Dies ist der Begriff von der Macht des Herrschers in Rußland, von der auch das Volk keine andere Vorstellung hegt. Der russische Bauer, der Soldat gibt beinahe niemals seinem Monarchen den Titel eines Kaisers. Dieser Titel wird nur in amtlichen Angelegenheiten gebraucht; in gewöhnlicher Sprache dagegen pflegen ihn alle gosudar’, d.h. großer Richter, zu nennen.244 Unter diesem Namen regiert er Rußland. Wenn aber der Russe seinen Zar mit einer innern Bewegung erwähnt, sei es, daß er bei seinem Anblicke vor Furcht erzittert oder in Liebe erglüht, dann nennt er ihn einfach bei seinem eignen Namen, z.B. Nikolaj Pavlovič, d.h. Nikolaus, der Sohn Pauls. So sind also die Salbungen, die Titel, die Konstitutionen nur Formen, welche der Herrschende gebrauchen oder nach seinem Belieben entbehren kann. Daher kommt es auch, daß die russischen Monarchen sich niemals den übrigen europäischen gleichstellen wollen; sie betrachten sich im Geiste als höher. Diese Überzeugung findet sich nirgends förmlich ausgedrückt, sie steht nicht aufgeschrieben und bei diplomatischen Traktaten betrügen sich beide Teile in dieser Hinsicht; einerseits jedoch bemerkt man ein geheimes, fast unterwürfiges Nachgeben, andererseits findet sich ein verstecktes Bewußtsein höherer Würde. Erinnern wir uns an das Testament245 Peter des Großen. Hatte er wohl an die Vernichtung aller Staaten denken können, wenn er geglaubt, daß sie auf wesentlichen Grundlagen beruhten? Es ist augenscheinlich, daß er ihnen bei sich solche nicht zutraute. Überlegungen zu Bachtins Konzept des Lachens. In: Valenzen des Lachens in der Vormoderne (1250–1750). Hrsg. Stefan Bießenecker und Christian Kuhn. Bamberg 2012, S. 29–52. 243 Das belegen einige Quellen, die B.A.  Uspenskij: Zar und „falscher Zar“. Usurpation als kultur-historisches Phänomen, op. cit., S.  102–103, anführt; hier ein Beispiel: „Diesem [Romodanovskij] gab er [Peter] einige Zeit vor seiner Abreise in fremde Länder den Titel Fürst-Kaiser, selbst tat er so, als wäre er sein Untertan, und gab damit das Beispiel des Gehorsams, und erhielt von ihm Ränge und Befehle, ließ ihn als Herrscher, als er 1697 in fremde Länder zog, und nach seiner Rückkehr ließ er ihm Titel und offenkundige Verherung, indem er ihn in Reden und Briefen Herr nannte, und verwendete seine Rauheit und Strenge, um die Bojaren zu erniedrigen. “ […] – M.M. Ščerbatov: Tetradi zapisnyja vsjakim pismam i delam, komu čto prikazano i v kotorom čisle ot E.I.V. Petra Velikago 1704, 1705 i 1706 godov s priloženiem primečanij o službach tech ljudej, k kotorym sej gosudar’ pisyval. SPb., 1774, S. 15. 244 Mickiewicz sieht wohl eine Verbindung zwischen „gosudar’“ (Herr, Herrscher) und „sudja“ (Richter). Zum Stichwort „gosudar’“ vgl. Karla Günther-Hielscher, Victor Glötzner, Helmut Wilhelm Schaller, Ekkehard Kraft: Real- und Sachwörterbuch zum Altrussischen. Wiesbaden 1995. 245 Vgl. die 7. Vorlesung (Teil II).

18. Vorlesung (8. April 1842)

787

Während des letzten Krieges gegen Napoleon hat ein österreichischer General den Oberbefehl über die Heere der Verbündeten geführt, die englischen Schätze haben das Meiste zum Triumphe beigetragen, und doch hat die allgemeine Völkerstimme dem Zaren Alexander I. den Sieg zuerkannt und schreibt ihm noch jetzt denselben zu: nach ihr stand er hier moralisch an der Spitze, er gab der Koalition die nicht materielle Kraft, während die Engländer nur als Werkzeug dienten und nur die Mittel zum Sieg herbeischafften. Diese Bemerkung macht auch erklärlich, warum Rußland so leicht die Verträge bricht. Niemals betrachtet es dieselben als wirklich das Gewissen verpflichtend. Die russische Macht befindet sich gegen Europa in demselben Verhältnis, in welchem das alte Rom zu den Republiken und Königreichen aller Weltteile stand; denn hat Rom irgendeinmal aufrichtig die Rechtmäßigkeit eines Königs oder einer Regierung geachtet? Für die Römer galt eigentlich nur die Stadt, urbs, nämlich Rom; sie kannten nur ein Heer, nämlich ihre Legionen. Sie führten zwar Kriege, schlossen auch mit anderen Reichen Bündnisse, aber sie glaubten nie daran, daß dieser oder jener König oder sonst eine Republik dasselbe Recht haben sollte, mit welchem der römische Senat die italischen Völkerschaften beherrschte. Niemals hat ein römischer Konsul oder Tribun den feindlichen Feldherrn als seines Gleichen behandelt. Auf gleiche Weise würde das russische Volk sich sehr darüber ärgern, wenn der Zar sich einem König oder Kaiser gleichstellen wollte. Wenigen ist es bekannt, und doch ganz gewiß, daß das russische Militär seiner Meinung nach allen anderen Truppen überlegen sei; es betrachtet nur sich allein des Namens einer Armee würdig; fremde Heere sieht es so an, wie ein altes Regiment eine Rekrutenschar; es hält sie für eine bloße Nachäfferei, für eine noch unvollständige Gestaltung. Daher die Schwierigkeit für die Führer, den russischen Soldaten, welcher immer gegen Feinde wie gegen Empörer und Verräter in Wut entbrennt, bei Kapitulationen im Zaume zu halten; die Regierung kann nämlich das Gefühl nicht verbergen, sie bändige in jedem Kampf Rebellen, und so werden diese von den Truppen als Eidbrüchige angesehen. Hieraus erklären sich hinlänglich die verübten und noch jetzt vorkommenden Grausamkeiten in Polen. Wir kennen bereits die geschichtliche Erhebung der Macht in Rußland, und wie sich die Vorstellungen davon gebildet haben. Ein solches Gefühl der Gewalt ist durch keine menschlichen Mittel zu erreichen. Keine Konstitution, kein Gesetz, keine Verträge vermögen dem Menschen die Idee einzuhauchen, daß er über alle Konstitutionen, Rechte und Pakte stehe, daß er der Monarch der Monarchen sei. Jetzt wollen wir uns daran erinnem, daß dieses Selbstbewußtsein schon einige Anführer asiatischer Stämme besessen haben. Einer von ihnen, der Befehlshaber einer rohen, unbekannten Horde [Dschingis-Khan], spie dem chinesischen Gesandten, der als Repräsentant eines mächtigen

788

Teil II

Kaisers ihn als seines Gleichen behandeln wollte, ins Angesicht, versprach ihm die Länder seines Herrn zu unterjochen und hielt Wort. Derselbe Häuptling entsandte an alle Könige der Erde Boten, daß sie sich ihm unterwerfen sollten. Er vergaß dabei auch Frankreich nicht, und obgleich er nicht wußte, wo es sich befindet, hätte er sicher dasselbe angegriffen, wenn er länger am Leben geblieben wäre.246 Ein solches Selbstvertrauen, das die Heerführer beseelte, teilte sich den asiatischen Scharen mit und trieb sie an, die Welt zu verwüsten, aber diese Kraft erwachte nur von Zeit zu Zeit und verschwand mit dem Leben der einzelnen Männer. In Rußland faßte sie erst festen Sitz, den Institutionen eingeimpft, schuf sie eine Hierarchie und wächst und wirkt in einem fort. Da schon so oft von den Mongolen und der ganzen Nachkommenschaft der Finnen die Rede war, die einen solchen Einfluß auf das Los der slavischen Völker geübt, so scheint es zweckmäßig zu sein, noch einige Worte beizufügen, die das Rätsel der dunkeln Geschichte dieses Geschlechts lösen können. Schon haben wir hinlänglich die physische Seite der Finnenrasse betrachtet, wir wollen nur noch den Umstand erwähnen, daß die eigentümliche Gestaltung ihres Schädels der Entwickelung ihrer Intelligenz hinderlich scheint. Nie hat sich ihr Geist in diesem Seelenorgan betätigt und er ist nach und nach in große Schwäche versunken. Die Chinesen, die den gebildetsten Zweig dieses Stammes ausmachen, zeigen in ihren intellektuellen Handlungen viele Fertigkeiten und Fleiß, aber eins fehlt, die innere Lebenskraft, die Energie. Der Geist schreitet nie in der Intelligenz fort. Ihre Arbeiten sind wie die einer gelähmten Hand. Hier also der Grund, warum sich diese Völker nicht anders bewegen lassen, als durch Geistesüberlegenheit; so oft sich daher ein begeisterter Feldherr unter diesen Horden zeigte, zog er immer die Massen wie einen einzigen Mann mit sich fort und gelangte zur unbesiegbaren Macht. Jedoch waren diese Menschen seit Anfang der Geschichte nur immer das Werkzeug eines bösen Einflusses, das Werkzeug einer teuflischen Absicht, wie es die Charaktere Attilas und Dschingis-Khans deutlich zeigen. Indessen dürfen wir sogar an diesem verderblichen und grauenhaften Geschlecht nicht verzweifeln; um es zu überwinden und zu bilden, ist es nur nötig, daß der Norden einen Mann erzeuge, dem die Begeisterung DschingisKhans, aber von Gott herrührend, eigen wäre. Um zu begreifen, welche Rechte der russische Alleinherrscher sich anmaßt, kann man sagen, er beziehe auf sich, was die Mystiker Gott beilegen, d.h. er bringe die Ewigkeit mit der Ergründung der Tiefe seiner Allmacht zu. Der Zar 246 Vgl. Marco Polo: Die Beschreibung der Welt: 1271–1295. Hrsg. Detlef Brennecke. StuttgartWien 2003.

18. Vorlesung (8. April 1842)

789

selbst kennt weder die Grundstütze, noch das Streben, noch den Zielpunkt seiner Macht: und hierin liegt die Gefahr der Völker, die mit Rußland im näheren Verhältnis stehen. Was hat Europa einer solchen Macht entgegenzusetzen? Kann man den russischen Kaiser einer übertriebenen Vorstellung von seiner Macht beschuldigen, wenn er nichts vorfindet, was ihm den Irrtum benimmt? Mit materiellen Mitteln kann ihn Niemand bezwingen. Auch fängt man schon an, sich davon zu überzeugen, daß materielle Mittel zu Nichts führen, so lange ihnen eine Idee nicht als Steuer dient. Welche Idee könnte man aber heute gegen den Zaren aufbringen? Wollte man ihn im Namen der katholischen Idee angreifen, ihn vor seinem eignen Gewissen anklagen, daß er dem Oberhaupt der Kirche nicht gehorsam sei, so würde er antworten, andere Monarchen begingen dieselbe Sünde. Und wenn er dagegen der katholischen Kirche vorwürfe, sie habe nicht genug Kraft gezeigt; wenn er seine eignen Bekehrungswerke aufweisen und als Tatsache ausstellte, daß Rußland seit einem halben Jahrhundert acht Millionen Seelen seinem Glauben zugewandt – was würde man ihm entgegnen? Der gute Erfolg im Bekehrungsgeschäft muß notwendig den Glauben in dem Bekehrenden starken, das erlangte Resultat zu einem folgenden führen. Was die Ideen anbetrifft, in welche die französische Revolution leider ausgeartet ist, so würden diese im Kampfe mit der russischen Idee des Zarismus noch weniger auf Sieg rechnen können. Denn sobald es sich bloß um die verbesserte materielle Existenz des Volkes handelt, so könnte der Zar dartun, daß er Eisenbahnen anlege, die Fabriken vermehre, die Industrie im Lande hebe, das materielle Wohlsein seiner Völker sich sehr angelegen sein lasse, und zu dem allen weit mächtigere Hilfsmittel besitze, als alle die in den Händen auswärtiger Projektenmacher. Übrigens wurde nie eine Institution durch Theorien und Schriften weder gegründet noch vernichtet. Bekannt ist, welch einen schmerzvollen Weg das russische Volk durchwandern mußte, bis endlich die Idee des Zarismus Wurzel schlug. Viele Jahrhunderte haben dasselbe zu einem solchen, wie es heute ist, umgearbeitet, und es ward dieses nicht vermöge der Schriften, sondern mit dem Arm normannischer Eroberer, mit dem Eisen tatarischer Heerführer, und zuletzt mit der Scharfrichterhand zugerichtet, die von Moskaus Großfürsten gelenkt wurde. Mit keinem anderen Mittel kann man auch ein Volk besiegen, als etwa durch eine Institution, durch eine ins Leben übergegangene Idee. Betrachten wir z.B. die  Geschichte der uns bekanntesten Religionen, des Christentums und Islams. Hier sehen wir, wie das geheimnisvolle Umherwandern in der Wüste, wie namenlose Leiden und unzählige Prophezeiungen das Volk Israel zum Empfang des Heilands befähigten. Gewiß nicht unter den Athenern, die der heilige Apostel Paulus in rhetorischen Kindereien versunken fand, oder unter den Römern konnte Christus erscheinen und sich offenbaren.

790

Teil II

Der arabische Prophet247 traf desgleichen ein Volk, das durch seine Lebensweise, durch Überlieferungen, durch einen poetischen Geist fähig war, eine phantasiereiche Offenbarung zu empfangen. Wo ist aber heute eine menschliche Gesellschaft, ein Volk, das genügsam vorbereitet wäre, eine neue Idee zu fassen? Jedes besitzt schon seine eigne. Polen war die Verkörperung einer Rußlands entschieden widersprechenden Idee. Der Kampf dieser beiden Mächte war ein Sozialkampf, und von unbezweifelt entschiedenerer Wichtigkeit als der Streit des Hegelschen mit dem Schellingschen System248, oder überhaupt aller übrigen deutschen philosophischen System, die sich ohne Unterlaß gegenseitig bekämpfen und häufig nicht länger dauern als das Leben ihrer Urheber. Rußland jedoch hat Polen erdrückt. Es bleibt nun, da die von Letzterem vorgestellte Idee sich klar herausgebildet, zugleich auch zu untersuchen übrig, ob sie sich von Neuem verkörpern läßt; denn außer ihr gibt es keine hinreichende Kraft, Rußland zu überwinden, seinen Einfluß zu hemmen oder es auf eine bessere Bahn zu lenken. Bevor wir diese Forschung aufnehmen, zu der wir auf literarischem Wege gelangen werden, werfen wir noch zum letzten Male einen Blick auf den Sitz der Slaven. Schon haben wir das Bild dieses weit ausgedehnten Landes von oben herab betrachtet. Fruchtbare Gefilde zu beiden Seiten der Karpaten, dann nach der einen Richtung unübersehbare Steppen, gleichsam ein zweites grünes Meer neben dem schwarzen, in der Mitte undurchdringliche Wälder, nach der anderen Richtung am baltischen Meer eine dichte Kette von zahlreichen Seen. Dieser ganze weite Raum war mit einer zahllosen Menge Dörfer bedeckt, die fast gleichmäßig gebaut und beinahe gleich weit von einander entfernt waren. Worin hat sich bis heute die Außenseite jener Länder verändert? Was sehen wir nach so vielen Jahrhunderten umgestaltet? Nur die Wälder sind zum Nachteil der Bevölkerung lichter geworden, hin und wieder gänzlich verschwunden, sonst wenig Veränderung. Hier und da in den Dörfern ein Palast, aber soviel ihrer auch sind, würden sie vereinigt weder ein Genua noch ein Venedig ausmachen. Vier oder fünf Städte haben sich gehoben und meistens durch ausländische Einwohner und Bevölkerung. Einige Kunststraßen dienen zum Herbeiführen von Luxusgegenständen, die nicht im Mindesten der Volksmenge nützen. Dies ist alles, was die sogenannte Zivilisation den slavischen Ländern gebracht hat. Von all den Kämpfen während eines Jahrtausends, die wir betrachtet, hat die Masse des Volks nichts gewonnen; ihr Zustand ist im Gegenteil heute weit schlimmer als im 6. Jahrhundert oder als im Mittelalter, 247 Vgl. Tilman Nagel: Mohammed: Leben und Legende. München 2008. 248 Vgl. die 16. und die 17. Vorlesung (Teil III).

18. Vorlesung (8. April 1842)

791

wenn wir den Beschreibungen, welche uns Jordanes, Prokopios von Caesarea und Saxo Grammaticus hinterlassen haben, Glauben schenken.249 Das niedere Volk ist jetzt unglücklich, weil es nicht mehr die Wälder besitzt, wo es einige Nahrung und Holz zu seinen Hütten fand, weil es mit seinem Schweiß die Kunststraße bauen und unterhalten, weil es mehr Unrecht als je von seinen Herren erfahren, und den empfindlichsten Druck, den Geistes- und Glaubensdruck, erdulden muß. Die Mongolen haben das Land nur durchzogen, die normannischen Ketzer, die Schweden, haben sich nicht lange darin aufgehalten; aber der Herr, der des Bauern Religion verhöhnt, steht alle Tage vor ihm; der Bauer sieht ihn täglich mit stolzem Haupt am Kreuz vorübergehen, auf welches er seine einzige Hoffnung gesetzt. Der Grundeigentümer, der seinem Untertan das irdische Gut entrissen, will in ihm noch den Glauben schwächen, der im künftigen Leben ein besseres Los verspricht. Dies ist die äußerste Bedrückung, die moralische. Von den Verbesserungen, die man in der Produktion überflüssiger Dinge hier und da eingeführt, hat das slavische Volk wenig geerntet; aber es hat auf der anderen Seite bedeutend in geistiger Hinsicht gewonnen. Seine Gefühle haben sich über einen weiteren Raum ausgedehnt, der Glaube hat sich in ihm mächtiger begründet. Das gesellige Leben in den Dörfern, dessen stilles Glück unsere Geschichtsschreiber geschildert, unsere Dichter, wie Zaleski, so anmutig besungen, dieses glückliche Leben war in enge Grenzen eingeschlossen, in die einer Feld-Parzelle (zagon). Hundert Dörfer hätte man in Brand stecken können, und die Nachbarn würden gleichgültig zugesehen haben; dies erklart auch, warum das Slaventum feindlichen Einfällen so leicht unterlag. Später haben sich der russische und der polnische Bauer, ins äußerste Elend gebracht, dennoch in der Hierarchie der Menschheit emporgehoben und sind zu einer höheren Würde und zu der Erkenntnis gelangt, daß sie der Allgemeinheit des Volkes angehören. Die Landesangelegenheiten fingen an sie zu beschäftigen; sie fühlten, daß sie Polen, daß sie Russen und Mitglieder eines großen Ganzen seien. Als sie aber ihr Glück nicht mehr im Bürgertum jener Länder fanden, als weder Polen noch Rußland ihrer sittlichen Notwendigkeit entsprochen, da erwachte in ihnen das Verlangen, die Ahnung einer ausgedehnten Völkerverbindung, sie wurden alle Christen, und da sie nichts mehr von der Erde zu 249 Jordanes: Die Gotengeschichte. Übersetzt, eingeleitet und erläutert von Lenelotte Möller. Wiesbaden 2012; Prokopios von Caesarea: Werke (gr.-dt.). Übersetzt und herausgegeben von Otto Veh. 5 Bde., München 1961–1977 (darunter „Historia arcana“); Gesta Danorum: Mythen und Legenden des berühmten mittelalterlichen Geschichtsschreibers Saxo Grammaticus. Übersetzt, nacherzählt von Hans-Jürgen Hube. Wiesbaden 2004.

792

Teil II

hoffen hatten, wendeten sie ihre Blicke dem Himmel zu. Nirgends entbrannte die Liebe zu Gott so lebhaft, nirgends erhob sich der menschliche Geist so warm, nirgends ist die Hoffnung auf die Zukunft so innig und kräftig als bei den slavischen Völkern. Man kann daher sagen, daß diese in Armut und Elend versunkenen Völker das kräftigste Werkzeug sind, welches der Allmächtige zu seinen wohlwollenden Absichten für die Welt bewahrt hat. Wir wollen diesen Gegenstand mit einer slavischen Parabel beschließen: Einige werden die Quellen kennen, aus welcher sie stammt. Es war einst ein Dampfschiff bestimmt für ein fernes Land. Unterwegs bemerkten die Reisenden, daß man mit einem Teil des Dampfes das Küchenfeuer ersparen und kochen könne; später wurde ein Apparat hinzugefügt, womit man das Verdeck und die Wäsche reinigte; am Ende war man im Stande, alles durch die Dampfkraft zu erreichen, wozu sonst Menschenhände nötig waren. Das wohl im Stande gehaltene und mit Bequemlichkeiten reich versehene Schiff setzte seinen Lauf weiter fort. Selbstzufrieden ergötzten sich die Reisenden am Anblick des schönen Himmels; aber auf einmal blieb das Schiff stehen: es fehlte an Kraft, die Räder zu bewegen, die Mannschaft geriet in heftigen Zwist; denn niemand wollte die Öffnungen verschließen, durch welche der Dampf zu den verschiedenen Verrichtungen hervorströmte.250 Und so vollbringt auch das Göttliche, das in uns ist, und wirkt alle menschlichen Werke, es gibt die Kraft dazu her und kann mit der Dampfeskraft verglichen werden; man kann es zu verschiedenen Verrichtungen benutzen, prachtvolle Bauten aufführen, großartige Geistesschöpfungen hervorrufen, industrielle Erfindungen vertausendfachen usw. Die Ägyptier haben uns steinerne Pyramiden hinterlassen, andere Völker Pyramiden von Büchern, und wieder andere ihre ganze Geisteskraft verwandt, um Bequemlichkeiten des Lebens zu ersinnen. Ein Volk gibt es aber, welches das Glück hat, seine Geisteskraft bis auf den heutigen Tag ungeschwächt zu besitzen.

250 Quelle nicht ermittelt.

19. Vorlesung (12. April 1842) Merkmale polnischer Schriftsteller am Ende der Herrschaft Stanisław Augusts – Das traurige Ende der Literaten dieser Zeit – Rußlands Triumph – Deržavin, der in der Poesie die russische Idee des Zaren zum Ausdruck bringt; seine Ode „Auf die Einnahme Warschaus“ – Polen besitzt nicht genug Kraft, um sich Rußland zu widersetzen – Kiliński und seine Denkschriften – Was ist Verrat? – Verräterische Schriftsteller in Polen.

Man darf sich nicht wundern, daß die Schriftsteller der Epoche Katharinas und Stanisław Augusts die volle Bedeutung des Kampfes, dessen Zeugen sie waren, nicht erkannt haben; denn selten vermögen Zeitgenossen die Wichtigkeit der sie umgebenden Ereignisse zu schätzen. Es bedarf mehr als Talent, um die Gegenwart zu verstehen, mehr als Genie, um die Zukunft vorauszusehen, während es so leicht ist, die Vergangenheit zu beurteilen. Die Schriftsteller dieser Periode besaßen bloß Talent, nur einige hatten Genie. Und wenn man sie des Leichtsinns, der Sorglosigkeit und der Neigung zu auswärtigen Dingen zeihen kann, so haben sie diese Verschuldungen gar schrecklich gebüßt. Wir haben schon erwähnt, daß das letzte Kapitel des Schrifttums der Stanisław- August-Periode das traurigste in der slavischen Geschichte darstellt; es bildet gleichsam den Trauerzug, der das Vaterland zum Grabe geleitet: alle damaligen Schriftsteller starben vor Trauer und Gram. Zuerst verlor der an ihrer Spitze stehende so berühmte und fruchtbare Naruszewicz plötzlich seine ganze Kraft und Energie, wie auch jenen Humor, der ihn in den hohen Zirkeln Warschaus so sehr auszeichnete. Alle seine Hoffnungen waren auf der Einsicht und Geschicklichkeit des Königs gegründet, die Entthronung Stanisław Augusts stürzte ihn in Verzweiflung. Die Hauptstadt verlassend, begab er sich in seine Diözese, und brachte dort sein Leben in Tage langem, dumpfem Hinbrüten zu. Von der Literatur sprach er nicht einmal gern, um politische Neuigkeiten kümmerte er sich ebenso wenig, und kaum besaß er den Mut, Trost in der Religion zu suchen, die er seit längerer Zeit auszuüben unterlassen hatte. In einem solchen Zustande starb er, beinahe vergessen von allen seinen Landsleuten, Freunden und Gönnern. Dem anmutigen Schriftsteller Franciszek Dionyzy Kniaźnin251, der am Hof der Fürsten Czartoryski ein vergnügtes Leben geführt, raubte die Nachricht

251 Franciszek Dionyzy Kniaźnin (1750–1807); F.D. Kniaźnin: Dzieła. Wyd. F. S. Dmochowski. Tom  1–7. Warszawa 1828–1829. Vgl. Rolf Fieguth: Twórczość Franciszka Dionizego

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_061

794

Teil II

von der Niederlage bei Maciejowice die Sinne. Er wurde nicht mehr geheilt und quälte sich noch zehn Jahre hindurch, bevor er starb. Der eitelste von allen, der Tausendkünstler Stanisław Trembecki der in allen Hauptstädten Europas seinen Wohnsitz hatte, unzählige Zweikämpfe bestand, und sich rühmte, daß man ihn in Paris den Umbringer der Marquis (tueur de Marquis) nannte; dieser Kammerherr, Spaßvogel, Hofmann und lustige Teilnehmer aller fröhlichen Gelage, fiel gleichfalls gegen das Ende seines Lebens in einen völligen Blödsinn. Im Bauerkittel lief er barfuß im Garten von Stanisław Szczęsny Potocki umher, bei dem er, so zu sagen, das Gnadenbrot aß. Es blieb ihm nur eine gewisse Spur poetischen Geschmacks übrig, die ihn staunen machte, wenn man ihm seine eignen Verse vorlas, und ihn fragte, wer der Verfasser sei. Der komische Dichter Franciszek Zabłocki252 begab sich nach dem Niedergang Polens ins Kloster. Julian Ursyn Niemcewicz253, dem ein langer und schmerzvoller Lebenslauf noch vorbehalten war, seufzte damals in Ketten. So sind alle diese Schriftsteller das Opfer ihrer Vaterlandsliebe geworden, ein Beweis, daß sie in der Tiefe ihrer Seele stets eine volkstümliche Idee nährten; nur fehlte es ihnen an Kraft, um sich von den Sitten und Lehren ihres Zeitalters zu befreien, um die Fesseln zu zerreissen, die ihnen der Geist der Zeit und die Verhältnisse aufgelegt hatten. Der Fall Warschaus und der Brand im Warschauer Stadtteil Praga erwärmte plötzlich ihre Seelen, aber es lähmte zugleich ihre ganze Geisteskraft: nicht mehr fähig, sich umzuschaffen, fühlten sie doch sehr, daß sie ihrem Beruf nicht entsprochen hatten. Man kann sie mit jenen Wahnsinnigen vergleichen, die ihr ganzes Leben verwirrt, kurz vor ihrem Tod die Besinnung erlangen, sich an alles erinnern, ihren Irrtum begreifen und sterben, nachdem sie über sich selbst geweint haben. Indessen trat das triumphierende Rußland Polen mit Füßen, und die russische Literatur erklang von Siegesgeschrei. Deržavin pries mit seiner mächtigen Stimme die glücklichen Taten Suvorovs254, und man kann von ihm sagen, daß er der letzte wahre russische Dichter gewesen, sowie Suvorov der letzte General, Kniaźnina w kontekście komparatystycznym. In: Wiek XIX. Rocznik Towarzystwa Literackiego Adama Mickiewicza VIII (L) 2015, S. 429–448. 252 Franciszek Zabłocki (1752–1821). Vgl. Bożena Mazurkowa: Na ziemskich i niebieskich szlakach. Studia o poezji Franciszka Zabłockiego i Franciszka Dionizego Kniaźnina. Katowice 2008. 253 Julian Ursyn Niemcewicz (1757–1841). Vgl. Ilse Kuhnert: J.U.  Niemcewicz  Śpiewy historyczne. Geschichtsauffassung- und darstellung. München 1968. 254 Aleksandr Vasil’evič Suvorov (1730–1800; vgl. Peter Hoffmann: Alexander Suworow. Der unbesiegte Feldherr. Berlin 1986.

19. Vorlesung (12. April 1842)

795

den der Geist des Zarenthums belebte. Dieser Geist stellt, wie bekannt, den Grundsatz der unaufhörlichen Unterjochungen auf. Deržavin ist sein treuer Repräsentant: er treibt die Russen zum Vordringen, ruft Beifall ihren Eroberungen, tadelt und verwünscht ihre Feinde. Unter seinen berühmtesten Oden zeichnet sich die auf die „Erstürmung Warschaus“ („Na vzjatie Varšavy“, 1794) aus. Die Anlage, der Gedanke, die Tendenz sind ziemlich gewöhnlich. Er beginnt mit der Schilderung eines Gewitters und vergleicht damit das Herankommen Suvorovs; dann beschreibt er den Sturm auf Warschau und stellt über dieses Bild die Mannen der russischen Fürsten, in deren Mitte Peter den Großen, gleichsam zum Fest nach Art der heidnischen Götter versammelt, wobei der Dichter Lomonosov die Siege Suvorovs besingt. So gewöhnlich diese Schilderung erscheint, so zeigt doch diese eine ungemeine Stärke des Stils und Ausdrucks. So sagt er zum Beispiel von Warschau: […] Лежит изменница и взоры, Потупя, обращает вкруг; Тезают грудь ея укоры, Что раздражила кроткий дух, Склонилась на совет змеиный, Отвергла щит Екатерины, […] Сидит орел на гидре злобной: Подите, отнимите, львы!255 […] Da liegt die Verräterin, und die Augen senkend, blickt sie um sich her; Gewissensbisse nagen an ihrer Brust, weil sie eine zärtliche Seele verwundet. Sie beugte sich dem Rat der Schlange. Und sie wies Katharinas Schild zurück. […] Der Adler sitzt auf der bösartigen Hydra: Kommt ihr Löwen, versucht sie ihm zu entreißen!

Diese Herausforderung der Löwen bezieht sich auf die Mächte Europas und ganz besonders auf Frankreich, dessen Interesse nach der Volksmeinung aller Slaven von der Sache Polens unzertrennlich ist. Merkwürdig bleibt, daß auch Puškin256, der gleichfalls den Sturm Warschaus besingt, auf eine ähnliche 255 G.D. Deržavin: Sočinenija. Hrsg. G.N. Ionin. Sankt-Peterburg 2002, S. 205. „sovet zmeinyj“ (Rat der Schlange, hinterlistiger Rat) bezieht sich auf (entsprechende) Empfehlungen des französischen Kabinetts. 256 Vgl. „Na vzjatie Varšavy“. Tri stichotvorenija V. Žukovskogo i A. Puškina. Sankt-Peterburg 1831; S. 3–6: V. Žukovskij: „Staraja pesnja no novyj lad“; S. 7–9; A. Puškin: „Klevetnikam Rossii“; S. 11–15: A. Puškin: „Borodinskaja godovščina“. Die Stelle „geschwätzige Studenten“

796

Teil II

Weise die Franzosen herausfordert und den „geschwätzigen Studenten“, wie er sie nennt, zuruft, sie sollten nur kommen, Rußland seinen Raub zu entreißen. Wir haben schon gesehen, weshalb die Polen bei den Russen für Rebellen und Verräter gelten; es wird uns also nicht befremden, wenn, gemäß derselben Ansicht, das revolutionäre Frankreich im Angesichte Rußlands als ein rebellisches und verräterisches Volk erscheint. Die Morgenröte der französischen Revolution hat alle Völker mit gleichem Jubel begrüßt; die Dichter verschiedener Länder, wie Vincenzo Monti257, Friedrich Gottlieb Klopstock, Johann Wolfgang von Goethe, Hymnen zu ihrem Lobe anstimmend, verhießen Europa den Eintritt in eine neue Weltepoche; Niemcewicz übersetzte französische Stücke für das Warschauer Theater; nur die russischen Dichter entbrannten dagegen in Haß, weil sie instinktmäßig das Streben jener Idee errieten. Von der Zeit an läßt sich sogar eine Veränderung in der Schreibart Deržavins bemerken. Vorhin nichts weiter als Rhetor, wird er jetzt sogar ernstlich zürnend, zuweilen aber ängstlich, was man in der „Ode auf die Totenfeier Ludwigs XVI.“ („Na panichidu Ljudovika XVI“) und in jener, wo er den Kaiser Napoleon verwünscht, ersehen kann.258 Wohl kann man Deržavin seinen Nationalstolz vergeben, aber nichts konnte ihn berechtigen, die Polen Elende zu schimpfen, und was noch mehr Staunen erregt, sie anzuklagen, daß sie die zärtliche Seele der Kaiserin Katharina nicht zu würdigen verstanden.259 Als Gegner Frankreichs sucht er noch eine Stütze für sich in den Vorstellungen des russischen Geistes. Früher war die Gottheit für ihn in ganz abgeschlossenen Räumen, jetzt bringt er sie auf die Erde herab. Nicht einer seiner Verse enthielt früher etwas über die bestehende Religion, nun fühlt er ihre Notwendigkeit, um als Feind der Revolution ausrufen zu können:

kommt bei Puškin nicht vor, stattdessen „narodnye vitii“ (Volksredner). Gemeint sind (polonophile) französische Abgeordnete der Nationalversammlung und Journalisten. In dem Gedicht „Klevetnikam Rossii“ lautet die Stelle: О чем шумите вы, народные витии? / Зачем анафемой грозите вы России? / […] Так высылайте ж к нам, витии, / Своих озлобленных сынов: / Есть место им в полях России, / Среди нечуждых им гробов. In: A.S. Puškin: Sobranie sočinenij v 20 tomach. Moskva 1948, tom 3, S. 269–270. 257 Vincenzo Monti (1754–1828). 258 Vgl. G.R. Deržavin: „Gimn liro-ėpičeskij na prognanie Francuzov iz otečestvo“ (1812). 259 Vgl. seine Ode „Na vzjatie Varšavy“.

19. Vorlesung (12. April 1842) […] Ответствуйте теперь вы нам, Ответствуйте нам, Петионы: Почто монарха и отца, Заслуги, веру и законы Попрали вы, о злы сердца! Почто невинного убили И век пятном наш обагрили?260

797 Antwortet uns, antwortet uns, ihr Pétionen261 weshalb habt ihr euren Monarchen und Vater, die Verdienste, die Religion und die Gesetze mit den Füßen getreten, ihr bösen Herzen! Weshalb habt ihr den Unschuldigen getötet und das Jahrhundert mit Blut befleckt?

Am wenigsten kann Deržavin begreifen und wird fast rasend, daß sich Leute gefunden, die, frech genug, ihre Hände an das Haupt des Königs, an ein gekröntes Haupt legten. Er vergißt sich hierbei bis zum Vermengen der Begriffe, denn als Katharina auf die Polen losschlug, um demokratische Grundsätze gegen den Despotismus Stanisław Augusts, wie sie sagte, zu schützen, da hat Deržavin den Cäsar verdammt: Cäsar war für ihn damals ein Rebell, wie ein gewisser Stanisław August, der die Freiheit seines Landes umwarf, jetzt aber, da er gegen Frankreich Verwünschungen ausstößt, verdammt er den Brutus. Brutus, ein Feind des Cäsar, kommt ihm als Jakobiner, als Revolutionär vor. In dieser Ode gibt es jedoch Strophen, die man vortrefflich nennen könnte; besonders schön ist die letzte: Греми, проклятие, всеместно И своды храма потряси, И правосудие небесно Скорей на злобу ниспроси! Греми, о Муза! и искусством Подвигни к жалости сердца, Наполнь одним Европу чувством К отмщенью царского венца! Греми! – Но се ревут уж громы, На крылиях Орлов несомы.262 Donnere überall o Fluch! Mache erbeben die Gewölbe dieses Heiligtums [so spricht er von der Kirche, wo die Totenfeier zum Andenken Ludwigs XVI. gehalten wurde], rufe herab die Gerechtigkeit des Himmels, auf die Bosheit Donnere, o Muse, wecke Reue in den Herzen, erwecke ein und dasselbe 260 Gemeint ist die Ode „Na panichidu Ljudovika XVI“. in: G.D. Deržavin: Sočinenija. Hrsg. G.N. Ionin. Sankt-Peterburg 2002, S. 157. 261 Pétionen (Antonomasie), abgeleitet von Jérôme Pétion de Villeneuve (1756–1794) – (radikaler) Anführer während der Französischen Revolution, 1790 Präsident der Nationalversammlung, 1791 Präsident des Pariser Krimaltribunals. 262 Deržavin, „Na panichidu Ljudovika XVI“, op. cit., S. 158–159.

798

Teil II Gefühl in ganz Europa, die Begierde zur Rache für das gekrönte Haupt. Donnere! – aber schon brüllen die auf den Flügeln der Adler getragen Donner.

In der Ode auf die „Erstürmung von Warschau“ („Na vzjatie Varšavy“) bricht der ehrgeizige Gedanke des Zarentums mit seiner Macht, der ganzen Welt zu drohen, klar hindurch. Deržavin sagt ganz deutlich zu den Russen: Но ты, народ, подобно грому Которого мечи вдали звучат! Доколе тверд, единодушен, Умеешь смерть и скорби презирать, Царю единому послушен, И с ним по вере поборать, По правде будешь лишь войною: Великий дух! твой Бог с тобою! На что тебе союз? – О Росс! Шагни – и вся твоя вселенна.263

Aber du, mit dem Blitz vergleichbares Volk, dessen Schwerter in der Ferne klirren! Überall fest und einmütig, du verstehst den Tod und die Mühen zu verachten. Nur dem einen Zaren unterworfen, wirst du mit ihm allein durch die Waffen den Glauben zu verbreiten vermögen. Großer Geist! dein Gott mit dir. Wozu sind dir Verbündete? O, Rußland, mache nur einen Schritt vorwärts, und die ganze Welt ist dein!

Der letzte Vers („На что тебе союз? – О Росс! / Шагни – и вся твоя вселенна.“) klingt besonders im Russischen vortrefflich. Wir haben also Beweise, daß darin keine Übertreibung war, was wir oben von dem versteckten Gedanken der russischen Literatur bemerkten. Einem solchem Gedanken hatte Polen in jenen Tagen, wo ganz Warschau unter dem Schwert fiel, nichts gegenüberzustellen. Einige von den Vaterlandsfreunden wollten noch das Vergangene bewahren, andere von ihnen ahmten den Franzosen nach und ließen die Bürger von Warschau die „Marseillaise“ singen, die kaum wußten, wo und was Marseille war. Es war keine Begeisterung vorhanden, die Kraft gehabt hätte, einen Ton von sich zu geben, der dem gewaltigen russischen Ton Deržavins entsprochen hätte. Erst später aus der Mitte der polnischen Legionen ließ sich die Herausforderung an Rußland im Namen des Volksgeistes und Lebens vernehmen. In der Zeit Stanisław Augusts war kaum der Charakter der Führer ihrer Sendung angemessen. Wir wollen hier wenigstens einen von ihnen erwähnen, einen minder bekannten, der aber desto mehr Aufmerksamkeit verdient, da er zugleich Schriftsteller ist: er hinterließ Tagebücher oder vielmehr eine Beschreibung seiner Begebenheiten für die eignen Kinder verzeichnet. Wir meinen Jan Kiliński264, den ersten Stadtbürger, der in der neuern Geschichte Polens hervortritt. Jan Kiliński, ein Schuhmacher von Profession, später Magistratsrat der Stadt Warschau, stand während 263 Deržavin, op. cit., S. 205–206. 264 Jan Kiliński (1760–1819), einer der Kommandierenden während des Kościuszko-Aufstandes von 1794.

19. Vorlesung (12. April 1842)

799

der Schilderhebung unter Kościuszko in großer Gunst und Achtung, sowohl bei allen Stadtbewohnern als besonders bei den höhern Zünften und Handwerken. Als daher der Aufstand in der Hauptstadt schon im Gange war, sah man allgemein in ihm den Anführer der städtischen Volksklasse, denn seine Vaterlandsliebe, seine Bereitwilligkeit zur Aufopferung und Einsicht war Allen bekannt. Neben seiner Einfachheit und heißen Vaterlandsliebe hatte er indessen gar keine politische Meinung, gar keine Theorie in sich; seine Zeitgenossen machten ihm sogar den Vorwurf, daß er sich an keine Partei anschließen wollte: es war ihm um Polens Ehre und Größe zu tun, er fühlte tief dessen Erniedrigung und wünschte, sich seinem Heile zu opfern, wenn er gleich Manches nicht begriff. Seine Tagebücher, erst im späten Alter geschrieben, enthalten viele bemerkenswerthe Einzelheiten und geben das treue Bild seiner edlen Seele. So z.B. jene Stelle, wo er erzählt, wie ihn Repnin265 in seinem Gefängnis zu Petersburg besucht: Gdy pierwszą noc przenocowałem, zaraz z rana o godzinie dziesiątej przyszedł do mnie minister carowej Repnin z pięcioma oficerami, z którym ja nieszpetną miałem potyczkę. Najprzód gdy wszedł we drzwi, zaraz mówił do mnie te słowa: ty bestya jemu w Warszawie bóty robił, skazawszy mi palcem na oficera; więc ja wejrzawszy na oficera, którego pierwszy raz widziałem, więc ja zaraz mu odpowiedziałem: żem w życiu mojem jemu ani żadnemu bótów nie robił. Ten minister toż samo drugi raz powtórzył, więc mu byłem przymuszony prawdę odpowiedzieć, że tym którym ja w Warszawie moskałom bóty robił, to już na świecie nie żyją. Potem mnie pytał: dla czegom ja w Warszawie panów wieszał? Na co ja jemu znowu odpowiedział, że ich nie ja ale mistrz wieszał. Także pytał mnie: za co ich wieszał? Więc ja jemu odpowiedział: że ich mistrz wieszał za zdradę ojczyzny, aby już więcej kraju nie zdradzali, – także pytał mnie: jeżelim moskali w Warszawie bił? Odpowiedziałem mu, żem ja ich tylko straszył, aby z Polski uciekali, bot am nie byli proszeni, a nawet my ich do siebie nie prosili; więc mi na to powiedział, że mnie każe za to dać 500 pałek przez jedną koszule, więc ja jemu odpowiedziałem, że ja pierwszy raz o tem słyszę, aby pułkownicy będąc w niewoli, kijami bici być mieli, gdyśmy ich w Polsce tak nie traktowali. Ten minister widząc mnie że go się wcale nie lękam, odwinął swego futra i pokazał mnie, że ma trzy gwiazdy u sukni i że ma tę moc kazać mnie bić kijami; więc ja jemu odpowiedziałem, że ja jego szanuję w największym sposobie, ale ja dam się wprzód zabić, aniżeli kijom podpadać będę. Ten minister kazał mnie przed swemi gwiazdami drżeć, na co ja jemu odpowiedziałem, że ja znam tysiącami gwiazd, a przed nimi nigdy nie drżałem i drżeć nie będę.266

265 Fürst Nikolaj Vasil’evič Repnin (1734–1801); Generalfeldmarschall der russischen Armee; Diplomat. 266 Jan Kiliński: Pamiętniki. Hrsg. Stanisław Herbst. Warszawa 1958, S. 238–239; die Edition enthält zwei Ausgaben der Memoiren – in der Reihenfolge: „Drugi pamiętnik. O czasach Stanisława Augusta“, S.  7–180; „Pierwszy pamiętnik“, S.  183–241; zur Editionsgeschichte

800

Teil II Als ich die erste Nacht daselbst zugebracht, kam gleich des Morgens um zehn Uhr der Minister der Kaiserin, Repnin, mit fünf andern Offizieren zu mir; mit diesen hatte ich kein übles Zusammentreffen. Bei seinem Eintritt richtete er zuerst folgende Worte an mich: Kanaille, Du hast für ihn in Warschau Stiefeln gemacht – wobei er mit dem Finger auf einen Offizier hinwies. Ich blickte also den Offizier an, den ich zum ersten Male vor mir sah, und gab ihm sogleich zur Antwort, daß ich in meinem Leben weder diesem, noch anderen Stiefeln verfertigt habe. Da wiederholte dieser Minister noch einmal dasselbe, und so ward ich gezwungen, ihm die Wahrheit zu sagen, daß nämlich diejenigen Moskoviter, denen ich in Warschau Stiefeln gemacht, nicht mehr am Leben seien. Dann fragte er mich, weshalb ich die Herren in Warschau gehängt, worauf ich ihm wieder antwortete, daß nicht ich, sondern der Henker sie gehängt habe. Auch verlangte er zu wissen, warum sie gehängt wurden? Ich sagte ihm also, daß der Büttel sie für den Verrat am Vaterlande gehängt habe, auf daß sie fernhin nicht mehr das Land verraten könnten. Dann fragte er mich, ob ich Russen zu Warschau erschlagen? worauf ich ihm sagte, daß ich ihnen nur Angst eingejagt, damit sie aus Polen sich entfernen möchten; denn sie waren dorthin nicht eingeladen. Da sagte er zu mir, er würde mir 500 Stockhiebe aufs bloße Hemd dafür geben lassen. Ich erwiderte ihm, daß ich zum ersten Male davon höre, wie ein gefangener Oberst mit Stöcken geprügelt werden solle, da wir sie in Polen nicht so behandelt hätten. Der Minister riß, um mich zu erschrecken, seinen Pelzrock auf, zeigte mir, daß er drei Sterne an seinem Kleid hätte, und daß es in seiner Gewalt stände, mich mit Stöcken schlagen zu lassen. Da sagte ich, ich hätte vor ihm allen möglichen Respekt, aber ich ließe mich eher totschlagen als mit Stöcken prügeln. Da befahl mir dieser Minister, vor seinen Sternen zu zittern, worauf ich ihm entgegnete, daß ich Tausende von Sternen am Himmel kenne, daß ich niemals vor ihnen gezittert habe und auch niemals zu zittern gedenke.

Diese letzte Antwort ist in der Tat erhebend. Kiliński bereitete sich zum Aufstand mit Andacht vor; man findet in ihm nichts Ähnliches, wie bei Hugo Kołłątaj oder bei irgendeinem anderen der damaligen Revolutionsführer. Er erzählt mit wunderbarer Bescheidenheit: Tak tedy ja biedny nie miałem nikogo co by stanął od pospólstwa na czele, więc przyszło mi do tego, że mnie oficerowie przymusili, żem się musiał rezolwować i być powodem [przywódcą] całej rewolucji, lubo mi to było bardzo trudno się odważyć, ale i cóżem miał robić nie znając żadnej taktyki? Bo natenczas rozumiałem, że tylko sama taktyka niprzyjaciół wybić może, ale jak widzę, że to wcale jest nieprawda, bo nam ci się z taktyką pochowali, a tylko my bez taktyki zostali, więc i ja byłem przymuszony poszukać taktyki owego Rzymianina brata szewca, który zapewne więcej taktyki nad swoje kopyta nie znał, tak jak i ja, a nieprzyjaciół pogrążył, więc i ja się właśnie takim samym sposobem na to dowodzenie odesłał. Więc gdy mi Bóg dał doczekać środy, tak zaraz naprzód uczynił vgl. darin das Nachwort („Posłowie“) von St. Herbst, S. 265–270; Erstausgabe – Pamiętniki Jana Kilińskiego szewca, a razem Pułkownika 20 Regimentu. Poznań 1882.

19. Vorlesung (12. April 1842)

801

rachunek sumienia przez spowiedź, na tę samą intencją, aby nam Bóg dopomógł szczęśliwie zacząć i skończyć […]. Więc po uczynionym nabożeństwie zaraz z oficerami cechowych wszystkich starszych wizytowałem oddając każdemu z nich instrukcją, aby wiedział, na której ulicy miał stanąć […].267 Ale jednak wstawszy sobie o godzinie piątej z rana w tęż środę [16 IV] zaraz poszedłem do fary, dałem na mszę świętą […], a potem, przyszedłszy do domu swego, zaraz napisałem testament, który włożyłem żonie mojej w łóżko […].268 So hatte ich, Armer, also niemanden, der aus dem Volke sich an die Spitze gestellt hätte, es kam folglich dahin, daß die Offiziere in mich drangen, ich solle mich darein ergeben, Anführer des ganzen Aufstandes zu sein, obgleich es mir sehr schwer fiel, mich zu entschließen; denn wie sollte ich es anfangen, ohne das Mindeste von der Kriegskunst zu wissen? Damals nämlich glaubte ich noch, daß nur diese allein die Feinde vernichten könne, aber wie ich sehe, ist dieses durchaus nicht wahr; denn die Taktiker haben sich verkrochen, und nur wir, die wir die Unkundigen waren, haben Stand gehalten. So wurde ich denn also gezwungen, mich nach der Taktik jenes Römers, des Bruders Schuhmacher, umzusehen, der wahrscheinlich davon ebenso viel als ich und nur das verstand, was zu seinem Leisten nötig war, und dennoch die Feinde verjagte. Als mich also der liebe Gott den Mittwoch erleben ließ, rechnete ich zuerst ab mit meinem Gewissen durch die Verrichtung der Beichte, in der Absicht, daß uns Gott glücklich beginnen und enden lassen möchte. […] Nach vollbrachter Andacht, besuchte ich sogleich in Gemeinschaft mit Offizieren alle Zunftmänner und Ältesten, und gab einem jeden von ihnen die nötige Instruktion, damit er wisse, auf welcher Straße und zu welcher Stunde er eintreffen solle. […] Indem ich um 5 Uhr morgens aufstand, begab ich mich sogleich zur Kirche, lies eine heilige Messe lesen, […] und als ich nach Hause zurückkehrte, schrieb ich sogleich mein Testament nieder und legte es meiner Frau aufs Bett […].

Um drei Uhr Morgens weckte Kiliński über 200 Leute, die bei ihm übernachtet hatten, und ging auf die Straße. Die Beweise seiner Tapferkeit und Geistesgegenwart sind außergewöhnlicher Art; aber in der Beschreibung seiner Taten sucht er die Wichtigkeit derselben zu verringern. Es trieb ihn weder Ruhmsucht noch Haß an, und in der Tat schien er die Russen nur verscheuchen und verjagen zu wollen. Unter allen Polen, welche Tagebücher geschrieben, ist er der einzige, der sich nicht rühmt, Feinde getötet zu haben; es ist ihm beinahe zuwider, sich des Wortes töten zu bedienen, und er sagt daher gewöhnlich, daß er diesen oder jenen „weggeräumt“ oder „beruhigt“ hat und dergleichen, wie in folgender Stelle:

267 Kiliński, op. cit., S. 201(Pamiętnik pierwszy). 268 Kiliński, op. cit., S. 59 (Pamiętnik drugi).

802

Teil II […] powracając do siebie po broń, już będąc w pasji wielkiej, wziołem kordelas księdza Meiera, który miał przy sobie. A właśnie natenczas nadszedł ku mnie oficer moskiewski; a ja wziąwszy od księdza kordelas tego momentu na nim początek zrobiłem. Gdym go już uspokoił, tak zaraz krzyknąłem na ludzi, aby poszli za moim przykładem i nieprzyjaciół naszych nie żałowali. […] Więc znów wylazł mi skądsiś kapitan moskiewski, którego ja jak najprędzej sprzątnołem, aby nam swojej kompanii przeciw na nie komenderował. […] Więc ja jeszcze wpadłem na kozaka, który także z dziury wyłaził, tak jego w kark zaraz, aby już więcej jak kobiet, tak mężczyzn swoją piką nie kłuł.269 […] als ich in meine Wohnung zurückkehrte, um Waffen zu holen, war ich schon sehr aufgeregt, und nahm daher den Hirschfänger des Geistlichen Meier, den er bei sich hatte, mit. In diesem Augenblick kam eben ein russischer Offizier auf mich zu; dann griff ich zum Hirschfänger und machte mit ihm sogleich den Anfang. Als ich ihn schon beruhigte, rief ich meinen Leuten zu, daß sie meinem Beispiel folgen und die Feinde nicht verschonen sollten. […] Da kroch mir doch wieder ein russischer Kapitän hervor, den ich auf das Eiligste wegräumte, damit er nicht seine Kompanie gegen uns kommandieren möchte. […] Da stieß ich dann noch auf einen Kosaken, der gleichfalls aus seinem Versteck herausgekrochen kam, und so gab ich ihm auch Etwas ins Genick, damit er weder Männer noch Weiber mit seiner Picke niederstechen konnte.

Nach Befreiung der Stadt wurde der Schuhmacher Kiliński in einem so aristokratischen Land, wie Polen dazumal war, zum Mitglied des einstweiligen Rates und später zum Vertreter im höchsten Nationalrat ernannt. Er nahm Sitz unter den höchsten Personen; aber dies hat nicht im Geringsten seine Lebensansicht geändert: er beneidete sie weder um Reichtümer noch Rang, benahm sich gegen sie wie früher und wurde sowohl von ihnen als vom Volk geschätzt. Auch hatte er nicht nötig, sich keck diesen Magnaten gegenüber zu stellen; denn in seiner Seele fühlte er sich ihnen gleich. Das edle Gefühl seiner Würde drückt er selber lebhaft aus, indem er von Igelström270 spricht: […] Bóg mnie ma to jeszcze zostawił abym mu dał się dobrze we znaki, aby pamiętał co to jeden szewc polski może zrobić, który zapewne tak w ciele jak w duszy jedno z nim znaczenie mieć może. Ale o jak wiele jest dumnych despotów, którzy w swej ślepocie zostają i wyniosłości, że nigdy sobie tego nie wystawiają przed oczy, że jego może tak najmizerniejszy człowiek tak mocno zwyciężyć, że przed nim i za Czarne morze uciekaćby musiał – a dla czego? Bo mu tak w ciele jak w duszy równym zostaje – ale że tego sobie żaden despota nigdy nie 269 Kiliński, op. cit., S. 206–207 (Pamiętnik pierwszy). 270 Osip Andreevič Igelström (1737–1817); schwedischer Herkunft – Graf Otto Henrik Igelström; seit 1753 im Dienst der russischen Armee; 1792 Oberbefehlshaber der russischen Armee in Polen (Warschau); während des Kościuszko-Aufstandes von 1794 Flucht nach Riga.

19. Vorlesung (12. April 1842)

803

wystawia, aby mógł być od mizernego zwyciężony, – więc niżej zobaczymy jakto on przedemną szewcem z Warszawy uciekać musiał, a choć mu jego sama powaga nie dozwalała uciekać, a przecież o niej zapomniał, i sam nawet bez asystencyi tak dobrze przedemną zmykał, że aż się za nim kurzyło aby go szewc nie dogonił, boby zapewne musiał tak przedemną drżeć i przed moją cnotą która się wem nie znajduje.271 […] Gott hat mich am Leben gelassen, auf daß ich mich noch tief in des Generals Gedächtnis eingrabe, damit er nicht vergesse, was ein polnischer Schuster ausrichten kann, der ihm an Leib und Seele gleichzukommen wohl fähig ist. Aber wie viel gibt es nicht übermütige Despoten, die in ihrer Blindheit und Hoffahrt verharrend, durchaus sich nicht vorstellen können, wie sie der geringste Mensch so besiegen kann, daß sie vor ihm bis über das Schwarze Meer flüchten müssen. Und warum? Weil der Geringste ihnen an Leib und Seele gleicht; aber weil kein Despot jemals begreift, daß er von einem Schwachen überwältigt werden könne, so werden wir es weiter unten sehen, wie er vor mir, einem Warschauer Schuster, hat flüchten müssen, und obgleich ihm Rang und Orden nicht einmal erlaubten, auszureißen, so vergaß er dies dennoch, und lief sogar ohne Begleitung so hastig vor mir davon, daß Kies und Funken stoben, damit ihn nur der Schuster nicht einhole; sonst hätte er wohl vor mir, wie vor meiner Tugend, zittern müssen.

Er ist einer der schönsten Charaktere in dem Aufstand unter Kościuszko. Zur strengen Gefängnisstrafe verurteilt, wurde er nach Petersburg geschleppt und in einem Turm verwahrt, aus dem ihn die Großmut des Zaren Paul rettete. Er ist der Einzige, der in der Beschreibung seines Lebens und der gleichzeitigen Ereignisse niemanden beschuldigt, und das Unglück Polens nicht im Verrat sucht. Seit der Konföderation zu Bar bis auf den heutigen Tag schreiben die Polen den Grund ihrer Unfälle und Niederlagen häufig Verrätereien zu. Puławski war der Erste, der Verrat rief, und seitdem wiederholt sich dieser Ruf fortwährend. Erwägen wir ein wenig dies erschütternde Verhängnis, welches die Polen geneigt macht, sich gegenseitig des Verrats anzuklagen. Wunderbar genug, gibt es in Europa nur zwei Völker, nämlich die Polen und die Franzosen, die ihre Führer und Mitbürger dieses Verbrechens zeihen. Den Alten war der Begriff des heutigen Wortes Verrat unbekannt. Bei den Römern hieß verraten tradere so viel, als von seinem Platz während des Kampfes weichen, seine Pflicht als Soldat in einem wichtigen Fall nicht erfüllen; aber daß man dem Vaterland entsagen, es geradezu verkaufen könnte, das haben die Römer nimmer begriffen. Der Verrat im wahren Sinne erscheint eigentlich erst mit dem Christentum. Judas gibt das Vorbild und darnach vermehren sich die Fälle, besonders 271 Kiliński, op. cit., S. 191 (Pamiętnik pierwszy).

804

Teil II

während der Kreuzzüge. In allen Ritterromanen finden wir neben den Helden und treuen Rittern zu gleicher Zeit auch Verräter. Wie soll man sich das erklären? Es scheint, daß hierin gerade der Beweis einer großen Bestimmung liegt, welche die Vorsehung Polen und Frankreich vorbehalten hat. Denn in der Tat, was heißt verraten? Eine Idee verleugnen, die für die Ausführung zu schwierig ist, sich von einer schweren Pflicht entbinden, um zeitliche Vorteile sicher und leicht zu gewinnen. Die Engländer haben keine Verräter aufzuweisen, die neue Geschichte Rußlands zeigt keinen einzigen; denn wenn das Ziel selbst auch dem kürzesten Blick erreichbar, wenn die Mittel, die zu diesem Ziele führen, im vollsten Maße vorhanden sind, dann gibt es nichts, was locken könnte, vom Streben abzulassen, vom Posten zu weichen; dann ist ein wenig heißes Blut, ein Nervenantrieb hinreichend, um in der Arbeit auszuharren und der Gefahr zu trotzen. Wenn aber auf der einen Seite eine wirklich moralische Idee steht, die nicht völlig in die Berechnung des materiellen Wohlseins herabgezogen, das aufgepflanzte Ziel nicht für jedes Fassungsvermögen ist und nur der edlere Geist es in der Zukunft erblicken kann, wenn auf der anderen Seite uns alle materiellen Vorteile an sich ziehen, wenn man für eine ungewisse Zukunft eine sichere Gegenwart sich bereiten kann; dann ist es außerordentlich schwer, den Lockungen nicht zu unterliegen. In den Kreuzzügen z.B., als es nötig war, Gott weiß wohin zu gehen, um eine unbekannte Stadt zu erobern, die Festung Saint-Jean-d’Acre zu belagern, Hunger, Durst und alles mögliche Elend zu ertragen und dabei zu kämpfen, da fehlte vielen Rittern die Kraft, den Versuchungen zu widerstehen, sie verließen ihre Reihen und luden Fluch und Schande auf sich. Frankreich führte öfters in einem erhabenen Interesse, nach der heutigen Beurteilung der Dinge, für eine sehr wenig Vorteil gewährende Sache Krieg, Polen kämpfte fortwährend ebenso; man kann sagen, daß sein ganzes Bestehen nichts weiter ist, als ein ununterbrochenes Ringen mit der Gegenwart, um eine bessere Zukunft. Es darf uns daher nicht befremden, wenn kleinmütige und sogar halbkräftige Seelen häufig des Landes Interesse verlassen haben. Ja, was noch mehr, diesem Interesse kann niemand zweckmäßig dienen, der den Nutzen auf der Stelle ernten will, und sich auf die Macht der menschlichen Berechnungen stützt. Solche Leute haben fast immer nur der Idee geschadet, die sie verteidigen wollten. Obige Betrachtung war am rechten Ort, weil in der slavischen Literatur es gerade die polnische ist, wo wir eine ganz besondere Erscheinung, eine nirgends sonst bekannte Klasse von Schriftstellern erblicken, die ihr Vaterland verraten, den Namen und den Glauben ihres Landes verleugnen, die Geschichte

19. Vorlesung (12. April 1842)

805

schänden, die Sitten verleumden, den Volkscharakter anschwärzen und förmlich mit Wut die treuen Vaterlandssöhne verfolgen, um selbst der Verfolgung zu entrinnen, oder sich Rücksichten bei den Bedrückern zu erwirken. Namhaft sogar müssen wir die Bekanntesten unter ihnen machen, die die Fahne der Abtrünnigkeit erhoben. Diese sind Józef Sękowski272, Graf Gurowski273 und der für einen Forscher slavischer Altertümer gehaltene Wacław Aleksander Maciejowski.274 Übrigens leicht möglich, daß Polen bestimmt ist, das vollständigste Muster eines politischen Verräters zu liefern, sowie das Christentum den Erzverräter des religiösen Glaubens hervorbrachte.

272 Osip-Julian Senkovskij (1800–1858); polnischer Herkunft (Józef Sękowski); Pseudonym Baron Brambeus; Orientalist und Schriftsteller; Mitherausgeber der polnischen satirischen Zeitschrift „Bałamut“ (Sankt-Petersburg); verspottete den polnischen Aufstand von 1830 – vgl. seine Erzählung „Bol’šoj vychod Satany“, in dem Almanach „Novosel’e“ (SanktPetersburg 1833, S. 129–186 [http://www.az.lib.ru]; vgl. Viktorija Valentina Močalova: Peterburgskie poljaki (Senkovskij, Bulgarin) i Mickevič. In: Adam Mickevič i pol’skij romantizm v russkoj kul’ture. Hrsg. N.M. Filatova, E.Z. Cybenko, V.A. Chorev. Мoskva 2007, S. 118–137; Daria Ambroziak: „Każdy baron ma swoją fantazję“. Józef Sękowski – Polak z pochodzenia, Rosjanin z wyboru. Opole 2007. 273 Władysław Roch Gurowski (∼1715–1790); vgl. die 17. Vorlesung (Teil II). 274 Wacław Aleksander Maciejowski (1792–1883); polnischer Historiker; Verfasser einer dreibändigen Literaturgeschichte: Piśmiennictwo polskie od czasów najdawniejszych aż do roku 1830, t. 1–3. Warszawa 1851–1852. Mickiewicz kritisierte Maciejowskis „russischen Panslavismus“; vgl. J.  Maślanka (A.  Mickiewicz. Dzieła. Tom IX: Literatura słowiańska. Kurs drugi, op. cit., S. 500. W.A. Maciejowski war auch der Verfasser des Werks – Slawische Rechtsgeschichte. In vier Teilen. Aus dem Polnischen von F.J.  Buss und M.  Nawrocki. Stuttgart-Leipzig 1839; polnisch – Historya prawodawstw słowiańskich. Tom  1–4. Warszawa-Lipsk 1832–1835; russische Übersetzung 1858 (Bd. 1 und Bd. 3). Vgl. Juliusz Bardach: Aleksander Maciejowski i jego współcześni. Wrocław 1971.

20. Vorlesung (19. April 1842) Karpiński und seine Poesie – Das innere Leben in Polen unter der russischen Gewaltherrschaft – Bei den Polen entstanden die Reformen bisher aus dem politischen Gedanken, bei den Russen aus dem religiösen – Die Aktivitäten der Sekten in Rußland – Versuche, die slavische Gemeinde umzuwandeln – Die führenden Reformatoren – Warum sie keinen Erfolg haben.

Der Vorstellung gemäß, welche wir von dem Charakter der Slaven haben, und wie er sich am reinsten im niederen Volke ausprägt, finden wir nur einen Schriftsteller in der Zeit Stanisław Augusts, der auf den Namen eines slavischen Dichters Anspruch machen kann. Es ist dies Franciszek Karpiński275, der so zu sagen mehr der slavischen Literatur im Allgemeinen als der polnischen besonders angehört. Karpiński, geboren zu Hołosków [ukr. Goloskiv] in Galizien, einem Landstrich, der zwar weniger in der Ferne bekannt ist, aber bei den Einheimischen als das Vaterland vieler Volksdichtungen in großem Rufe steht. Alle berühmten Idyllendichter des 16. Jahrhunderts sind Landsleute Karpińskis. Er unterscheidet sich von den alten polnischen Dichtern dadurch, daß er mehr natürlich, diese mehr künstlerisch sind. Wir wollen zwar den Dichtungen des Szymon Symonowicz und anderer nicht ganz die Originalität absprechen, allein es läßt sich leicht bemerken, daß sie besonders Kunstwerke zu liefern, das Reich der Dichtung, in dem sie sich bewegten, zu verschönern strebten. Sie, die Söhne einer glücklichen Zeit, hatten nur die künstlerische Annehmlichkeit, das Spiel der Dichtung im Auge; Karpiński dagegen ist mehr aufrichtig, folgt keinem fremden Vorbild, hängt keinem besonderen System an; er singt frei wie der Vogel, und ergießt seine Empfindungen, wie er sie im Herzen fühlt. Er versetzt sich nicht in das Goldene Zeitalter, in das Feengebiet der alten oder neuen französischen Idyllen, sondern nimmt Ereignisse oder Charaktere geradezu aus dem ländlichen Leben, das ihn wirklich umgibt. In seinen Thyrsiden und Corydonen276 erkennt man ganz genau den Landmann und die kleinen, in

275 Franciszek Karpiński (1741–1825); vgl. Teresa Kostkiewiczowa: Model liryki sentymentalnej w twórczości Franciszka Karpińskiego. Wrocław 1964; Roman Sobol: Ze studiów nad Karpińskim I., Wrocław 1967. 276 Vorbild sind die Hirten Thyris und Corydon aus den Bucolica (7. Ekloge) von Publius Vergilius Maro. Vgl. Polnische und litauische Idyllen aus der Zeit von 1747 bis 1825. Hrsg. Stephan Kessler. Wiesbaden 2011.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_062

20. Vorlesung (19. April 1842)

807

einem polnischen Dorf zusammen lebenden Landedelleute. Daher ward er so populär bei jener zahlreichen Klasse, die gleichsam ihr Bild in seinen Idyllen erkannte. Dessenungeachtet erregte er keine Aufmerksamkeit bei den sogenannten gebildeten Dichtern, welche, obgleich sie seine Werke gelesen, doch bloß die französische Poesie vergötterten. Man ließ ihm so zu sagen keine Ruhe mit jener Vergötterung und zwang ihn beinahe, einige französische Dichter, z.B. Jacques Delille277, zu übersetzen. Alle Poesien Karpińskis, die Übersetzungen ausgenommen, haben eine religiöse Färbung und meistens den Charakter der Sehnsucht. Man kann sie als klassisch, als musterhaft betrachten. Es finden sich unter ihnen Gesänge, die neben die schönsten Goetheschen zu stellen sind, und schwer läßt sich eine Dichtung finden, die so anmutig und so abgerundet wäre. Die Form unterscheidet sich jedoch sehr von derjenigen, welche die Dichter aus der Periode Stanisław Augusts beobachteten. Sie ist nicht bloß künstlich, sondern zugleich begeisternd. Die Kunst geht hier mit der Begeisterung Hand in Hand, sie verbinden sich auf eine glückliche Weise. Zu den schönsten und bekanntesten gehört die Idylle „Laura i Filon“ („Laura und Philon“). In den Strophen derselben ist alles national, polnisch: das Bild der Landschaft, das Hundegebell, das man gewöhnlich abends in unseren Dörfern hört, der Wald, bei dem der Gesichtskreis zu enden pflegt, die Himbeeren, der Blumenkranz, mit einem Worte, jede Kleinigkeit ist aus dem gewöhnlichen Leben in Polen entnommen. Hier hat der Professor einige Strophen übersetzt zitiert, mir, dem Übersetzer, ist es unmöglich, diese wundervolle Herzenseinfalt und das Anmutige derselben im Deutschen weder in Prosa noch in Versen wiederzugeben, und aufrichtig gestanden, da sich die Extreme gewöhnlich berühren, würde diese Dichtung nicht poetisch wiedergegeben, so würde sie sich schlecht ausnehmen. Daher schreibe ich sie in ihrer ursprünglichen Sprache nieder, andern überlassend, die Schönheit derselben dem deutschen Publikum verständlich und fühlbar zu machen:

277 Jacques Delille (1738–1813. Karpiński übersetzte einige Strophen aus seinem Poem „Les Jardins ou l’art d’embellir les paysages“. Paris 1782.

808

Teil II LAURA

LAURA

Już miesiąc zeszedł, psy się uśpiły, I coś tam klaszcze za borem. Pewnie mnie czeka mój Filon miły Pod umówionym jaworem.

Schon scheint der Mond, und die Hunde schlafen. Hinterm Wald ich Klatschen hörte, Dorther, vom Ahorn, wo wir uns trafen; Philon ist’s, der Heißbegehrte.

Nie będę sobie warkocz trefiła, Tylko włos zwiążę splątany; Bobym się bardziej jeszcze spóźniła, A mój tam tęskni kochany.

So wie ich bin, will ich vor ihn treten, Ohne Zopf, mit wirren Strähnen – Würde mich wohl sonst zu sehr verspäten; Schmachtend wird er mich ersehnen.

Wezmę z koszykiem maliny moje I tę plecionkę różowę; Maliny będziem jedli oboje, Wieniec mu włożę na głowę.278

Hier im Körbchen sind Himmbeer’n zum Essen, Die ging ich eben noch pflücken; Das rosa Blumenkränzchen indessen Soll lieblich Dein Haupt Dir schmücken.

Die ganze Poesie Karpińskis trägt das Gepräge des Einheimischen und Gegenwärtigen. Es wäre sehr interessant, die Erzeugnisse dieses Dichters einzeln durchzugehen und mit den Liedern der serbischen und montenegrinischen zu vergleichen; aber da wir die allgemeine slavische Literatur betrachten, so müssen wir denselben von einem anderen Gesichtspunkt beurteilen. Wir müssen erwägen, wie sich in ihm die Idee des Volkes und der Zeit kund gibt, und in religiöser und politischer Hinsicht seine Werke untersuchen. Zur Zeit Stanisław Augusts war Karpiński der Einzige, der seiner Religion treu blieb, er war es, der so richtig den Ton des Gebetes zu treffen wußte, und deshalb hat er auch das große Glück, bei seinem Volk Anerkennung zu finden. Noch bei seinen Lebzeiten sang man in allen katholischen Dorfkirchen Polens seine Lieder voll Gefühl und einfacher Anmut. Was jedoch die Religiosität betrifft, so hat er sich buchstäblich an die zeremoniellen Vorschriften der Kirche gehalten und sein Talent weder dazu benutzt, den Glauben gegen die Anfälle der Zeit zu schützen, noch denselben zu entfalten und der Zeit anzupassen. Mit Recht schreibt ihm ein Kritiker, wie Brodziński, einen Charakter zu, der den Slaven überhaupt eigen ist, nämlich eine passive Treue, einen gewissen Widerstand. In der Tat hat er sich zwar dem allgemeinen Andrang der Zeitumstände widersetzt; aber er kämpfte nicht dagegen, er litt und verblieb in der Religion und vereinte sein Wesen mit dem des Volkes, er war so ganz ein polnischer, ein slavischer Landmann (kmieć) oder ein Slave, der sich 278 Dzieła Franciszka Karpińskiego. Wydanie (zupełne) Kazimierza Józefa Turowskiego. Kraków 1862, S. 288. Deutsche Übersetzung von Jochen Halbey – in: Polnische Aufklärung. Ein literarisches Lesebuch von Zdzisław Libera. Frankfurt am Main 1989, S. 89.

20. Vorlesung (19. April 1842)

809

von der Donau her unter die Polen verirrte. Er vergaß die ganze Religionsgeschichte seiner Heimat, scheint ein neubekehrter Christ zu sein, beseligt in der neuen Religion, von ihren Dogmen ergriffen, der aber aus diesen Dogmen kein Leben schöpft und keine weitern Folgen ableitet. Als politischer Dichter steht er einsam da, nimmt keinen tätigen Anteil an der großen Bewegung während der Regierung Stanisław Augusts. Er schrieb damals wenige Lieder und einige rührende Gebete, darunter das Lied „Andenken an den 3. Mai 1791“ („Na pamiątkę 3 Maja 1791“); darin wird das polnische Volk als arme Kinder dargestellt, die den Segen Gottes erflehen. Mit der Elegie „Klagen eines Sarmaten am Grabe Sigismund Augusts, des letzten polnischen Königs aus dem Geschlecht der Jagellonen“ („Żale Sarmaty nad grobem Zygmunta Augusta, ostatniego polskiego króla z domu Jagiełłów“) beschließt er seine dichterische Laufbahn, denn auch er verstummte mit Polens Untergang und legte, wie er selbst sagt, seine Leier am Grabe Sigismunds nieder. Hier einige Strophen von den Klagen eines Sarmaten: Ty śpisz, Zygmuncie! a twoi sąsiedzi Do twego domu goście przyjechali!… Ty śpisz! a czeladź przyjęciem się biedzi Tych, co cię czcili, co ci hołdowali!… Gorzkie wspomnieme, gdy szczęści przeminie, Czemuż i pamięć o nich nie zaginie?… […] Ojczyzno moja, na końcuś upadła! Zamożna kiedyś i w sławę, i w siłę!… Ta, co od morza aż do morza władła, Kawałka ziemi nie ma na mogiłę!… Jakże ten wielki trup do żalu wzrusza! W tym ciele była milionów dusza! Du schläfst Sigismund! Deine Nachbarn aber haben sich selbst zu Gast in dein Haus geladen! Du schläfst! und deine Kinder mühen sich zu empfangen diejenigen, die dir huldigten, die dich ehrten. Bittere Erinnerung, wenn das Glück entweicht, warum verschwindet nicht auch die Erinnerung an dasselbe? […] Du, mein Vaterland, so bist Du denn gefallen, einst so berühmt und mächtig! Das Du einst vom Meere zum Meere herrschtest, besitzt jetzt kein Endchen Land fürs Grab! Welch Leid erwecket nicht diese große Leiche, in diesem Körper war das Leben von Millionen.

Dann spricht er von der Emigration, die schon dazumal begann: Po tych rozbojach, jedni zniechęceni Pod nieznajome rozbiegli się nieba, Drudzy, ostatnią nędzą przyciśnieni, W swych kiedyś domach dzisiaj żebrzą chleba!

810

Teil II Insi rozdani na Moskwę i Niemce, Na roli ojców płaczą cudzoziemce. […] Oto krwią piękną ziemia utłuszczona Konia i jeźdźca dzikiego wytucza, A głodne dzieci matka przymuszona Panującego języka naucza!… […] Wisło! nie Polak z ciebie wodę pije, Jego się nawet zacierają ślady, On dziś przed swoim imieniem się kryje, Które tak możne wsławiły pradziady!… Już Białym Orłom i bratniej Pogoni Świat się, przed laty nawykły, nie skłoni!… Nach solchen Schlachten zerstreuten sich die einen voll Verzweiflung in die weiten Fernen! Andere gedrückt von dem tiefsten Elend, betteln um Almosen an ihren eignen Haustüren! Noch andere verschenkt an Moskowiter und Deutsche weinen, Fremdlinge auf ihrer Väter Acker. […] Der mit teurem Blute gedüngte Boden weidet das wilde Roß und den rohen Kriegsknecht. Die hungernden Kinder aber muß die arme Mutter die Sprache des Gebieters lehren! […] O Weichsel! nicht der Pole trinkt aus dir Wasser, seine Spuren verwischen sich ja fast sogar, heute muß er verhehlen seinen Namen, an welchem so viel Ruhm die mächtigen Vordern geknüpft! Schon neigt dem weißen Adler und verbrüdertem Ritter279 zu Roß die Welt sich nicht mehr wie vor Jahren.

Endlich ruft der Dichter schmerzvoll: Zygmuncie, przy twoim grobie, Gdy nam już wiatr nie powieje, Składam niezdatną w tej dobie Szablę, wesołość, nadzieję I tę lutnię biedną!… Oto mój sprzęt cały! Łzy mi tylko jedne Zostały!…280 Hier, Sigismund! an Deinem Grabe lege ich, / Da kein Wind uns mehr erfrischen soll, / Das für jetzt unnütze Gerät, / Schwert, Heiterkeit, Hoffnung / Und diese meine arme Laute nieder! / Siehe, das ist all mein Gut! / Nur die Tränen allein sind mir treu verblieben!

279 Weißer Adler: Wappen von Polen; Ritter zu Roß – „Pogoń“: Wappen von Litauen. 280 Dzieła Franciszka Karpińskiego. Wydanie (zupełne) Kazimierza Józefa Turowskiego. Kraków 1862, S. 490–492.

20. Vorlesung (19. April 1842)

811

Karpiński zeichnet sich besonders in Schilderungen trauriger Schicksale aus. Zu seinen schönsten Erzeugnissen gehört das in unserer Literatur so bekannte, elegische Gedicht „Duma Lukierdy czyli Luidgardy“ („Duma281 von Lukierda bzw. Ludgarda“), dessen Inhalt der Chronik282 und dem Überrest eines Volksliedes von dieser unglücklichen Königin entnommen ist, die auf Befehl ihres Gemahls Przemysław II. ermordet wurde. Ludgarda, eine geborene mecklenburgische Fürstin, vertraut den Winden ihre Klage an die Mutter, als sie sich in Gefahr sah, wie folgt: Powiejcie, wiatry, od wschodu! Z wami do mojego rodu Poślę skargę, obciążaną Miłością moją skrzywdzoną. Smutna matka w dłoń uderzy, Nieszczęściu zaraz uwierzy, Przyśle mi braty obrońcę I łuków syrbskich tysiące. Powiejcie, wiatry, od wschodu! Z wami do mojego rodu Poślę skargę, obciążoną Miłością moją skrzywdzoną. Ale stójcie, Syrby mężne! Hamujcie razy potężne, Choć mię Przemysław chce zgubić, Ja go jeszcze wolę lubić. Ja się tylko żalę na to, Że moje upływa lato, Że mię mej młodości zbawił. On by się może poprawił. Powiejcie, wiatry, od wschodu! Z wami do mojego rodu Poślę skargę, obciążoną Miłością moją skrzywdzoną. Szczęśliwsza wiejska dziewico! Której miłość tajemnicą, Nie zna jeszcze serca pana: I ty, co kochasz, kochana! Ja, króla mężnego żona, 281 Duma: balladen-affine Gattung; Vorform der Ballade im ostslavischen Kulturraum. Vgl. Czesław Zgorzelski: Duma poprzedniczka balady. Toruń 1949. 282 Vgl.: Kronika polska Marcina Bielskiego. Bd. 2. Warszawa 1830, S. 234.

812

Teil II Kochając go, pogardzona. Gdy mię dojmie rozpacz sroga, Bluźniąc klnę siebie i Boga. Powiejcie, wiatry, od wschodu! Z wami do mojego rodu Poślę skargę, obciążoną Miłością moją skrzywdzoną Wehet ihr Winde aus dem Osten! / Durch euch an mein Geschlecht / Entsende ich die Klage, gefüllt / Mit meiner gekränkten Liebe. / Die traurige Mutter wird die Hände ringen, / Dem Unglück sogleich Glauben schenken, / Mir die wackeren Brüder zur Verteidigung / Senden, und Tausende sorbischer Bogen. // Wehet ihr Winde aus dem Osten! / Durch euch an mein Geschlecht / Entsende ich die Klage, gefüllt / Mit meiner gekränkten Liebe. // Doch haltet ein, tapfre Sorben! / Hemmt die gewaltigen Hiebe. / Wenngleich mich Przemysław verderben will, / will ich ihn jedoch vielmehr lieben. / Nur beklag’ ich mich darob, / Daß mein Frühling so dahinzieht, / Er mich meiner Jugend beraubt; / Bessern könnte er sich vielleicht. // Wehet ihr Winde aus dem Osten! / Durch euch an mein Geschlecht / Entsende ich die Klage, gefüllt / Mit meiner gekränkten Liebe. // Glücklicher bist Du, Landjungfrau! / Der die Liebe ein Geheimnis, / Die du noch nicht den Gebieter des Herzens kennst? / Und auch du, die du liebst, wiedergeliebt, / Ich, Gattin des tapferen Königs, / Liebe ihn, die Verschmähte, / Daß, sobald der Verzweiflung Schrecken mich erfaßt, / Lästernd ich fluche mir und Gott. // Wehet ihr Winde aus dem Osten! / Durch euch an mein Geschlecht / Entsende ich die Klage, gefüllt / Mit meiner gekränkten Liebe.

Die Königin fleht noch zu ihrem Gemahl, ihr nur mit einem Lächeln das Glück wiederzugeben, und ruft dann in Verzweiflung: Ale on nieubłagany!… Pójdę do matki kochanej, Pójdę choć w jednej koszuli: Ona mię w smutku utuli.

Doch er ist unerbittlich!…. O! jetzt will ich zur lieben Mutter Gehen, wenn auch nur im bloßen Hemd, Wird sie mich aufnehmen, mir das Herz erleichtern.

Przechodząc lasów tajniki, Może litościwszy dziki Zwierz mi życia nie uszkodzi, Na które srogi mąż godzi. […]

Die Schluchten des Waldes durchziehend Wird vielleicht das wilde Getier Mitleidiger mein Leben schonen, Wonach der grause Gatte trachtet.

Es kommt aber wieder die Liebe und vereitelt als überwiegendes Gefühl den Plan der Flucht:

813

20. Vorlesung (19. April 1842) Gdzież mię ślepa miłość niesie? Ona mię zbłąka po lesie. Fałszywe ścieżki poradzi I tu mię nazad sprowadzi? Żebym zgon mój nieszczęśliwy, Widziała, jak popędliwy Uderzy hartowną strzałą W serce, które go kochało.283

Die blinde Liebe, wohin führt sie mich? Sie wird mich noch im Walde irreleiten. Mir falsche Pfade zeigen Und hierher zurückführen, Auf daß ich mein unglückliches Ende Sehe, wie der Jähzornige Mit gehärtetem Bolzen das Herz Berührt, das ihn geliebt.

Ohne Zweifel ist dies eine der schönsten, einfachsten und natürlichsten polnischen Balladen. Wir sehen hier, daß Karpiński den berühmten Dichtern der Donauländer, Serbien und Montenegro, nicht nur gleich kommt, sondern sie sogar überragt. Wenn wir aber fragen, ob er für die Poesie seines Landes tat, was er konnte und was er sollte, ob wir ihn einen Volksdichter nennen können, so müssen wir antworten, nein; diesen Titel können wir ihm nicht beilegen. Er war andächtig, gottesfürchtig, beharrlich, wie dies im Allgemeinen der einfache polnische Landmann ist; er schien aber nicht daran zu denken, daß bereits tausend Jahre über diesem Volk verflossen waren, daß ein Polen gewesen, daß seine Vergangenheit dem Sprößling eines alten polnischen Geschlechts nicht nur eine poetische, sondern sogar eine religiöse Pflicht auferlegte. Oder haben etwa Karpińskis Vorfahren vergeblich den slavischen Gemeinden vorgestanden, sie in den Kampf geführt? Geziemte es ihm, ohne an dieser Vergangenheit zu sündigen, sich einer stillen Resignation gänzlich hinzugeben? Diese ist wohl dem schlichten Ackersmann zu vergeben, nicht aber einem Staatsbürger, der sogar gesetzmäßig verpflichtet war, das Vaterland zu verteidigen. In dieser Hinsicht ist Karpiński kein Pole. Mit der Zeit wird er bei den Tschechen und Russen glänzen; unter den Seinigen las ihn die ritterliche Jugend schon, während er noch schrieb, wenig später, wurde er gänzlich verworfen, denn der politische Antrieb lenkte die Polen nach einer anderen Seite hin. Kann man z.B. zugeben, daß dieser so tief und erhaben denkende Dichter, nichts Besseres seinen Landsleuten zu raten weiß, als Rußland um Mitleid anzuflehen, bei der Gnade der Zarin Katharina Zuflucht zu suchen? In dem Gedicht „Wider die Zweikämpfe“ („Przeciw pojedynkom“) spricht er wie im Namen des Vaterlandes zu den Polen: Wielkość nieszczęścia wielke względy wzbudza, Może nas słabszych wesprze litość cudza.

283 Dzieła Franciszka Karpińskiego, op. cit., S. 353–354.

814

Teil II Jedną potęgą Europa się chwali: To mogąc wszystko nie zechce źle zrobić …284 Die Größe des Unglücks weckt große Rücksichten, / Vielleicht hilft uns / Schwachen ein fremdes Mitleid. / Europa rühmt sich ja mit seiner Macht: / Diese, alles vermögend, wird doch nichts Böses beabsichtigen. …

Am Ende fleht er Katharina auf Knien um Gnade an. In diesen Worten ist kein polnisches Gefühl. Ein anderer zeitgenössischer Dichter, Julian Niemcewicz, wenngleich in Kunst, Form und Begeisterung Karpiński nachstehend, wurde doch zum nationalen Dichter; denn er legte seine Laute nicht nieder, verlor nicht die Hoffnung, hielt fest am lebendigen Gedanken des Volks, verließ nur mit ihm das Land. Mit Karpiński wollen wir die Reihe der Dichter des alten Polens beschließen; mit Niemcewicz in die Geschichte des jetzigen Polens eintreten. Er eröffnet eine Reihe von Begebenheiten unter den Wanderern seit den letzten Jahren des vergangenen Jahrhunderts bis auf die heutige Zeit, die Literatur des vorübergehenden Herzogtums Warschau mit einbegriffen. Bald werden wir den slavischen Boden verlassen müssen und in ferne Länder uns begeben, um einem Zweig des slavischen Gedankens zu folgen, der bereits nur in den ausgewanderten Polen sich darstellt, aber beständig dauert und sich entfaltet. Das ganze slavische Gebiet ist der russischen Regierung verfallen und liegt erstarrt in tiefstem Verstummen. Die polnische Staatsregierung, die bis dahin über Religion und Politik Wache gehalten, räumt das Feld, und läßt den Leidenschaften ihres Widersachers freien Lauf. Indessen glüht verborgen unter der lastenden Herrschaft Rußlands ein religiöses und politisches das Leben, das heute wenig erkannt, jedoch mit einer großen Zukunft schwanger geht. In beiden Richtungen gibt es eine Menge von Einzelbewegungen, denen wir einen flüchtigen Blick zuwerfen wollen. Zu der Zeit, als die polnische Regierung vor ihrem Untergang eine politische Umänderung zu Stande bringen wollte, bemühten sich viele Privatmänner nach denselben Grundsätzen Polen zu reformieren, indem sie mit Umwandlung der slavischen Gemeinde begannen. Wir haben schon früher angeführt, wie man diese Gemeinde mit tausend Neuerungen mannigfach gequält hat. In Rußland machten sich gleichfalls neben den Anstrengungen der Regierung, alle Kräfte nach einer Richtung zu lenken, fortwährend partielle Unternehmungen bemerkbar, die in ihrem Wirkungskreis einen anderen Lebenstrieb einzuführen strebten. Die Polen wurden in ihren Reformen von einem politischen, die Russen von einem religiösen Gedanken geleitet. 284 Dzieła Franciszka Karpińskiego, op. cit., S. 368–371.

20. Vorlesung (19. April 1842)

815

Wir wollen mit Rußland beginnen. Man weiß, wie viel zum Entstehen der gegenwärtigen russischen Verfassung der Einfluß der griechischen Kirche beigetragen, die hier dem Christentum seine Form gab, und sie bis jetzt erhält. Man weiß ferner, daß, um diese Kirche vor Untergang zu bewahren und Abfall zu verhüten, dessen Samen sie in sich trägt, die Auseinandersetzung der Glaubensartikel untersagt werden mußte. So ist in Rußland aller Religionsunterricht verloren gegangen. So oft aber einem Volk die Lehre des lebendigen Wortes versagt war, warf es sich jedesmal auf den Buchstaben der Schrift; überall wo die Kirche nicht genug Leben zeigte, suchte das Volk aus den heiligen Büchern dasselbe zu schöpfen. Die Bibel, ziemlich zahlreich im Land verbreitet, fand eifrige Leser im Kaufmannsstand der größeren Städte und sogar beim gemeinen Mann. Aus diesem Lesen, das ohne Hilfe und Leitung blieb, entstand und entsteht noch jetzt eine Menge Sekten, die heimlich sich ausbilden und wachsen. Beachtenswert dabei ist, daß diese Sekten auf derselben logischen Bahn sich bewegen, wie wir sie in der Geschichte der bekannten Kirchensekten des Ostens und Westens finden. Es gibt dort z.B., obgleich unter anderen Benennungen, Manichäer, Gnostiker, Pelagianer usw. Alle diese Aufkömmlinge haben in Rußland aus sich selbst ihren Ursprung, sie organisieren sich und bestehen, obgleich dies nicht weiter bekannt ist. Schon öfters haben wir gesehen, daß die Slaven ganz besonders den praktischen Instinkt besitzen, der sie jeden ihrer Gedanken zu verwirklichen nötigt. So gibt es auch eine russische Sekte285, die durch falsches Auffassen des evangelischen Textes in den grausigen Irrtum des Origenes verfallen, sich trotz der ärgsten Verfolgungen der Regierung nicht ausrotten läßt, und obgleich sie ihrer Beschaffenheit nach sich nicht vermehren kann, sich dennoch durch fortwährende Anwerbung unter den Soldaten und dem Volk erhält. Eine andere Sekte286, ähnlich der pelagianisch-pantheistischen, vermochte unter sich eine solche Gemeinschaft einzuführen, wie bisher noch keinem Phalanstère287 der Neuzeit gelungen. Alle diese so verschiedenen Sekten erhalten sich dadurch, daß sie die Sanktion der Religion haben. Unter dem zermalmenden Schreckenssystem der russischen Regierung finden sie dennoch Mittel zu ihrem Bestehen und Wachsttum wie das Christentum in einigen Gegenden des Ostens, z.B. 285 „Skopzen“ (skopcy), vgl. Karl Konrad Grass: Die russischen Sekten. Bd. 2: Die weissen Tauben oder Skopzen nebst geistlichen Skopzen, Neuskopzen u.a., Leipzig 1914 (Reprint Leipzig 1966). 286 „Duchoborcy“ (Geisteskämpfer), vgl. Karl Konrad Grass: Die russischen Sekten, op. cit. 287 Vgl. die 7. Vorlesung (Teil I).

816

Teil II

in  Kochinchina [Vietnam], wo die Regierung, so despotisch sie auch ist, es dennoch nicht zu ersticken vermag. Die Käuflichkeit der Beamten und das eigne Interesse der Herren schützen am meisten das Sektentum in Rußland. Um nämlich die Untertanen, die für dieses Vergehen wie für ein Staatsverbrechen gestraft werden müßten, nicht zu verlieren, bemühen sich die Eigentümer selbst, ihre Zusammenkünfte zu verheimlichen, legen übrigens diesen Dingen wenig Gewicht bei und sprechen hierüber, wie der Statthalter Felix288 über das Erscheinen des Christentums, indem sie dies alles für Märchen und für religiöse Träumereien halten. Inzwischen ist der ganze russische Boden durch diese unterirdischen Sekten durchwühlt. Welche Formen und Dogmen auch immer eine jegliche bekenne, so bilden sie doch zusammen eine ungeheure Opposition gegen die bestehende Kirche, welche Angesichts der großen Gefahr stumm und wie abgestorben sich verhält. In dieser Hinsicht ist die russische Kirche der anglikanischen ähnlich, welche ebenfalls ihren Grundfesten nicht zu trauen scheint, sich aber gänzlich auf die weltliche Macht verläßt. Der Tag, an welchem die religiöse Frage in den zivilisierten Klassen bei der Regierung in Betracht käme, würde schreckenvoll für diese beiden Länder sein, denn er würde alle jene Geister und Gemüter auf die Kriegsbühne rufen, die bis jetzt durch die Hemmkette der Kirche und Regierung in Schranken gehalten sind. Indem so ein tief verborgenes Wirken Rußland unterminierte, versuchten einige Männer in Polen, von politischen Zwecken geleitet, ihre Besitzungen von Grund aus zu reformieren. Die Geschichte dieser Versuche ist wenig bekannt, wäre aber heute von großem Interesse, denn jede dieser Unternehmungen zeigte schon ihren Wert in der Erfahrung. Die großen Grundbesitzer, bekanntlich Vertreter der Gemeinden, und Herren, die denselben vorstanden und sie zu organisieren das Recht hatten, verfielen auf den einfachen Gedanken, vorher auf ihren Gütern die Reformen zu erproben, die sie in die Republik einzuführen im Sinne hatten. Dies war sogar ein ganz origineller Gedanke. Die ältesten Bemühungm dieser Art, deren Spuren noch nicht verschwunden sind, waren von dem Fürsten Czartoryski gegen das Ende der Regierung Augusts III., vor der Thronbesteigung Poniatowskis, unternommen. Diese Umgestaltungen verdienen jedoch bloß den Namen oberflächlicher Verbesserungen. Man bemühte sich, dem drückenden Zustande der Bauern abzuhelfen, ihre Arbeiten zu ordnen und ihnen Gelegenheit zu eröffnen, Habe und Kenntnisse zu erwerben. Unter solcher Verwaltung fühlten die Untergebenen sich wohl, aber augenscheinlich war in dieser Reform kein erzeugender Gedanke, 288 Marcus Antonius Felix, Statthalter von Judäa; vgl. Apostelgeschichte (24, 1–27).

20. Vorlesung (19. April 1842)

817

kein oberster Grundsatz an der Spitze, aus dem sich alles Übrige heraus entwickelt hätte. Die Czartoryskis verfuhren hier nach derselben Methode, wie zu der Zeit, als sie Polens Verwaltung in Händen hatten. Später wollte ein reicher Prälat, der Priester Paweł Ksawery Brzostowski289, einen noch weit größeren Gedanken zur Ausführung bringen. Er nahm sich vor, auf seinen Gütern eine vollkommene Republik in der polnischen Republik zu stiften.290 Zu diesem Endzwecke verlieh er, indem er jedoch immer Herr und Vertreter, gleichsam König und Haupt dieser Gesellschaft verblieb, ihr, bedeutende Vorrechte. Die Gemeinde verfügte hier selbst über ihre Einkünfte, richtete die Schuldigen und hatte sogar ihre eigne Kriegsmacht. Man legte ein Zeughaus an, übte sich im Felddienst, zu welchem die Grundbesitzer abwechselnd verpflichtet waren, mit einem Worte, es war diese Gemeinde wie in der Zeit des VI. Jahrhunderts, militärisch eingerichtet: ein ritterlicher, patriotischer Charakter war das Abzeichen dieser ganzen Organisation. Ein anderer Reformator war der Graf Joachim Litawor Chreptowicz.291 Dieser viel gereiste, aufgeklärte Kaufmann, der viele Kenntnisse erworben, wollte gleichfalls auf seinen Besitzungen eine rationell-konstituierte Regierung einführen. Er wählte dazu ein großes Dorf von anderthalbtausend Einwohnern, ließ alle Hütten niederreißen und nach seinem Plane wieder aufbauen. Jedes Haus stand abgesondert, wie ein kleines hübsches Vorwerk nebst Garten. Der Herr sah selber auf Ordnung, gab den Bauern das nötige Vieh und alles Übrige, und verlangte nichts weiter von ihnen, als wöchentlich zwei Tage Arbeitsdienst gegen Quittung; diese wurde aber in seiner Hauskasse zur Zahlung der Reichsabgabe angenommen. Ein Grundeigentum mit Haus und Vieh zu bekommen, zu einer leichten Arbeit verpflichtet zu sein und nebenbei noch einen Grundherrn zu haben, der die Abgaben auf sich nahm, wäre das größte Glück für einen Deutschen oder Holländer gewesen; der einheimische Landmann aber klagte sehr über eine solche Veränderung. Warum? Erinnern wir uns, daß beim Bau der erbärmlichsten Hütte die Slaven noch an gewissen geheimnißvollen Gebräuchen festhielten, ähnlich denen der alten Griechen und Römer. Alle diese Zeremonien stehen mit dem Hausleben der slavischen Landleute noch in einem solchen Zusammenhang, wie gewisse politische Statuten mit 289 Paweł Ksawery Brzostowski (1739–1827); vgl. Magdalena Ślusarska: Paweł Ksawery Brzostowski. Warszawa 2000. 290 Gemeint ist die 1769 auf dem Gut Merecz bei Wilno durch Brzostowski gegründete Bauernrepublik – Rzeczpospolita Pawłowska (Republik zu Pawłów), die der Sejm 1791 legalisierte; nach der III. Teilung Polens zerfiel das Gut zur Ruine; vgl. Julian Bartyś: Rzeczpospolia Pawłowska na tle reform włościańskich w Polsce w XVIII wieku. War­szawa 1982. 291 Joachim Litawor Chreptowicz (1729–1812); vgl. Krzysztof Tracki: Ostatni kanclerz litewski. Joachim Litawor Chreptowicz w okresie Sejmu Czteroletniego 1788–1792. Wilno 2007.

818

Teil II

der Existenz des Volkes. Die Bauern also, die vor der Wahl eines neuen Wohnplatzes lange vorher den Willen Gottes zu erforschen, den Rat der Greise zu befragen und religiöse Handlungen zu veranstalten gewöhnt waren, konnten schon das nicht ertragen, daß ihre Häuser ohne alle Umstände auf den bloßen Befehl des Herrn plötzlich umgebaut wurden. Häufig kamen sie mit der Erklärung zu ihm, dies ginge nicht, man müsse zuerst um Rat fragen. Überdies wurde das dem slavischen Volk unentbehrliche gesellige Leben hierdurch gleichfalls gestört. Zwischen den auf weiter Fläche zerstreuten Häusern ward die Verbindung schwieriger: der Bauer betrachtete sein schönes Häuschen wie ein Gefängnis, dachte nur daran, wie er aus demselben entschlüpfen, mit dem Nachbar sich besprechen und vergnügen könnte. So machte Graf Chreptowicz, indem er die Bauern materiell beglücken wollte, gegen ihre lebhaftesten Neigungen einen Verstoß und erreichte sein Ziel nicht. Erwähnen kann man hier auch den Geistlichen Wiażewicz.292 Dieser reiche Diener Gottes, ergeben der Philosophie des vorigen Jahrhunderts, setzte sich zum Ziele, die Bauern in den Naturzustand zurückzuführen. Zu diesem Behuf kaufte er eine große wilde Waldstrecke und beabsichtigte, darin eine gewisse Anzahl Familien ansäßig zu machen, damit sie ihr Leben mit Nachdenken in der Wüste zubrächten. Was jedoch der Gegenstand ihres Nachdenkens sein sollte, kümmerte ihn nicht. Er reiste sogar nach Genf, um Jean Jacques Rousseau zu sprechen und ihn als Muster eines Kolonisten in seine Wildnis zu locken. Rousseau oder ein anderer französischer Schriftsteller tut irgendwo Erwähnung davon.293 Der Geistliche Wiażewicz selbst lebte ganz epikureisch, und dachte an nichts weniger als mit den Einsiedlern zusammen sich niederzulassen; er behielt sich nur das Recht vor, sie hin und wieder zu besuchen und mit ihnen von der Weisheit zu reden. Diese Reform fand eigentlich nur auf dem Papiere statt; es kam nicht einmal zum Beginn der Ausführung. Der letzte Versuch dieser Art ist das Werk des Gelehrten Stanisław Staszic.294 Dieser unternahm es, sein Dorf wie ein Reich zu gestalten, er entsagte seinen Herrenrechten über die Bauern, gab ihnen die Freiheit, mit der Gemeinde nach Belieben zu verfahren, trat ihnen sogar einen Teil der herrschaftlichen Einkünfte ab, mit einem Worte, er wollte sie selbststandig machen. Auch diese 292 Wacław Wiażewicz (gestorben 1788), Ex-Jesuit, Kanoniker in Gnesen (Gniezno), Kommissar der Kirchengüter des Gnesener Bistums. 293 Quelle nicht ermittelt. Nach  J.  Maślanka (A.  Mickiewicz: Dzieła. Tom IX: Literatura słowiańska, op. cit., S. 502) war es der litauische Unterschatzmeister Antoni Tyzenhaus (1733–1785), der Rousseau 1788 begegnete und diese Einladung aussprach; er versuchte Litauen zu industrialisieren. 294 Stanisław Staszic (1755–1826); vgl. Hanna Cieniuszek: Stanisław Staszic – myśliciel, pisarz, uczony. Warszawa 2006.

20. Vorlesung (19. April 1842)

819

Reform mißglückte aus vielen Ursachen, besonders aber weil Staszic keinen Begriff von der Organisation der alten slavischen Gemeinde hatte. Wir sagten schon früher, daß diese Gemeinde das Erbeigentum nicht kannte. Die Bemerkung des polnischen Rechtsgelehrten Hube295, von den Historikern nicht genug beachtet, hätten Staszic aufmerksam machen sollen. Denn wie soll man die Gemeinschaft in der Gemeinde mit den Zivileinrichtungen in Einklang bringen, die auf persönlichen Rechten beruhen? Zwischen dem Gedanken der verpflichtenden Landesgesetze und dem einer solchen nur in der Theorie verbliebenen, oder durch die Praxis seit Jahrhunderten aufgehobenen Gemeinde wäre ein ewiger Kampf entbrannt. Daher konnte die Reform des Staszic sich auf keine Weise bewähren. Man könnte noch viele solche Beispiele anführen; denn es gab noch weit kühnere Reformatoren als die hier erwähnten, sie verdienen aber eine größere Aufmerksamkeit, weil sie einigermaßen musterhaft sind. Im Jahre 1818 wollte endlich der gesamte Adel mehrerer lithauischen Gubernien die Bauern in Freiheit setzen. Lange hatten sie sich darüber zu Wilna auf den Gubernial-Sejmiks (Landtagen) beraten und beschlossen mit der Bitte: die Regierung möge diesem Wunsche genügen und eine zweckmäßige Organisation vorschreiben, sich an den Thron zu wenden. Diese Bitte wurde abgeschlagen. Was soll man nun von allen diesen Plänen denken? Wir sehen erstens, daß man immer etwas erschaffen, immer eine Institution zu Stande bringen wollte, ohne irgendein Dogma oder eine Idee als Basis zu nehmen, was natürlich ein Fehler war. Oft bildet einzig ein Dogma das ganze Band der menschlichen Gesellschaft. So beruhte z.B. das Zusammenhalten der Juden vor ihrem Eintritt in Palästina auf dem einzigen Dogma des alleinigen Gottes. Dieser eine Glaube sonderte schon die Juden von den heidnischen Völkern ab, entfernte das Kastenwesen und pflanzte die Überzeugung in sie, daß alle Menschen Brüder seien: aus dieser einen Wahrheit entsprangen viele andere. Die Gesellschaften aber, die lediglich theoretisch gebildet werden, können niemals wirkliches Leben in sich haben. Ferner ersehen wir, daß man die Aufgabe über das Dasein der slavischen Gemeinde in Polen, ohne Rücksicht auf das Dasein Polens, lösen wollte, dessen Bestehen doch wohl diese untergeordneten Existenzen umfaßte; man bedachte nicht, daß jede Abänderung der allgemeinen Landesgesetze alle einzelnen Gemeinden berühren mußte. Zu dem letzten Mittel greifend, hoffte Staszic und viele andere die Schwierigkeit zu entfernen, indem sie auf ihre Macht Verzicht leisteten. Indessen war 295 Józef Huby: Wywód spraw spadkowych słowiańskich. Warszawa 1832 (dt. Joseph Hube: Geschichtliche Darstellung der Erbfolgerechte der Slaven. Posen 1836).

820

Teil II

dieses nicht hinreichend, das Volk konnte mit keiner solchen bloßen Entsagung sich zufrieden geben. Seit tausend Jahren haben die Herren an der Spitze gestanden, die Gemeinden zum Kampfe geführt, sie waren daher auch jetzt verpflichtet, sie aufzuklären und zu schirmen. Die Bauern hatten das völlige Recht, ihre Herren anzuhalten, ihnen zu zeigen, was sie jetzt zu tun, wie sie die Religionsvorschriften zu verstehen, den Patriotismus zu begreifen, die Sache des Vaterlandes auf alle Lebensverhältnisse anzupassen hätten. Der Grundeigentümer, welcher zehn Jahrhunderte lang der Gemeinde vorgestanden, sie zuletzt in eine schwierige Lage geführt, hatte nimmer das Recht, sie zu verlassen. Sonst müßte man ja auch den Feldherrn freisprechen, der, wenn er sein Heer unter die Feinde gebracht, den Kommandostab niederlegt. Die Herren, die Edelleute und alle diejenigen, die sich des Bürgerrechts in der polnischen Republik erfreuten, waren verpflichtet, in sich eine Idee für das Volk auszuarbeiten; es war ihre Pflicht, ihm eine in religiöser, politischer und wissenschaftlicher Hinsicht bessere Zukunft zu eröffnen; ihnen lag es sogar ob, diese Zukunft mit Wort und Tat zu erkämpfen. Eine solche Last war der zivilisierten, d.h. der adligen und gelehrten Klasse, durch die Nationalgeschichte auferlegt. Der Kampf um die Zukunft voller Drangsale und Mühen beginnt mit der ersten Pilgerschaft der Polen. Dieser Kampf ist mit solchen Schwierigkeiten und Anstrengungen verknüpft, daß es freilich den Herren leichter wird, ihre Funktionen niederzulegen, als unter der Fahne dieser Heerscharen die Zukunft auf dem Schlachtfelde abzuwarten.

21. Vorlesung (26. April 1842) Der Dichter Julian Niemcewicz – Polen in der Heimat und der Pilgerschaft – Die polnischen Legionen; das Lied der Legionen; durch Fakten gelöste Probleme: Patriotismus, Bürgerschaft, Gleichheit.

Wie wir schon bemerkt haben, versetzen wir uns mit Julian Niemcewicz in die uns gleichzeitigen Begebenheiten Polens. Das Leben dieses Mannes umfaßt ein ganzes Jahrhundert: er war geboren im Jahre 1756 und im vergangenen Jahre haben wir ihn hier beerdigt. Dieses Leben war so geräuschvoll und stürmisch, wie das Leben der Generationen, die er unter Kämpfen angetroffen und deren Mühe er geteilt hat. Zu seinen politischen und literarischen Ansichten nahm Julian Niemcewicz das Edelste und Kräftigste, was sich in den Herzen der alten Polen vorfand, die noch ihre alterthümliche Unabhängigkeit zu behalten wünschten; aber in seinen Bestrebungen und Neigungen blickt schon zugleich das Polen der jüngsten Zeit gewissermaßen durch. Es wäre schwer, jetzt eine Biographie von Niemcewicz zu schreiben. Seine Lebensereignisse und alle seine literarischen Werke sind mit historischen Begebenheiten so sehr verflochten, daß die Zergliederung seiner Schriften ihm heute öfters politische Fehltritte nachweist, und wiederum die politische Seite ihn als Schriftsteller verteidigt. Wohl kann man aber schon nach der Quelle beurteilen, aus der er seine Begeisterung geschöpft, was unsterblich in seinen Geisteserzeugnissen ist. Diese Quelle wollen wir enthüllen. Er hat sich als politischer Redner, als Dichter und Prosaiker ausgezeichnet. Als Dichter versuchte er sich fast in jeder Gattung der Poesie: er schrieb Dramen, geschichtliche Gesänge, Tragödien, Lustspiele, Satyren, Fabeln, Epigramme, Idyllen. Als Prosaiker verfaßte er die polnische Geschichte, ferner Denkschriften, Romane und verschiedene politische Abhandlungen. Von allen diesen zahlreichen Schriften blieb keine einzige unbeachtet, viele übten auf das Land einen großen Einfluß, wurden sogar volkstümlich; dessenungeachtet gilt nichts davon für musterhaft und klassisch. Einzeln wollen wir hier weder auf seine Vorzüge noch Mängel eingehen. Man hat Niemcewicz vorgeworfen, daß er in seinen dramatischen Schriften die Charaktere der Personen nicht kräftig genug aufgefaßt, die Färbung der Zeit nicht festgehalten und die Form vernachlässigt habe. In seinen historischen Leistungen beschuldigt man ihn der Ungründlichkeit und besonders der Ungleichmäßigkeit, mit der er bald in einen Rednerton, bald in Nachahmung der Klassiker verfällt, auch wollte man die vielen Anmerkungen und Zitate,

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_063

822

Teil II

die er machte, nicht leiden. Es scheint, daß der Charakter des Verfassers am besten dartun wird, worin die wirkliche Schönheit und die größte Anmut seiner Werke liegt. Niemcewicz war Dichter und nie Künstler; die Kunst war nicht sein Abgott, er brachte ihr nie ein Opfer, schrieb nie für die Unterhaltung der Leser: seine Werke betrachtete er nur als ein Gerät, womit er die Feinde Polens bekämpfte. Für ihn ist eine Anmerkung, ein historisches Zitat nichts weiter als eine Waffe zum Angriff oder zur Abwehr. Wenn wir alles, was wir durch momentane Eingebung veranlaßt, niederschreiben in der Erwartung eines sofortigen Erfolgs, mit Recht ein Pamphlet, eine Flugschrift nennen können: dann dürfte man wohl sagen, daß der größte Teil von den poetischen und historischen Schriften des Niemcewicz diesen Namen verdient, ja daß Niemcewicz nichts weiter als Flugschriften gab, und er der größte von allen bekannten Pamphletoren ist; immer an eine und dieselbe Sache gebunden, und sich gleich in der Vaterlandsliebe wie dem Feindeshass, verließ er nie seinen Posten als Verteidiger des Landes und war ohne Nachsicht gegen seine politischen, moralischen nnd literarischen Widersacher. Um also seine Schriften richtig zu verstehen, ist es notwendig, mit der vergangenen und jetzigen Geschichte Polens vertraut zu sein. Nach dem Maßstab kann man ihn nicht messen, nach welchem man gewöhnliche Dichter beurteilt, die bloß der Eitelkeit genügen und Ruhm erwerben wollen. Wenn die Tiere in seinen Fabeln296 eine ganz neue, aus der heutigen Politik und Literatur entlehnte Sprache reden, so muß man wissen, daß sein Bär nicht derselbe ist, wie bei Lafontaine. Der Bär des Niemcewicz stellt fast immer einen Moskoviter oder selbst den Großfürsten Konstantin vor; der Fuchs und der Rabe bedeuten gewöhnlich einen Bücherzensor. Oft legte er in seine Fabeln Anekdoten, die in der Stadt umherliefen, und den angeführten Charakteren diejenigen Kennzeichen und Gewohnheiten von Personen bei, die er gerade auf dem Korn hatte. Jedermann verstand die Anspielung und daher erreichten viele seiner jetzt minder interessanten Stücke dazumal vollkommen den Zweck, einige derselben werden noch so lange wirksam verbleiben, als der Kampf zwischen Polen und Rußland dauern wird. In seinen historischen Werken ändert Niemcewicz fortwährend Ton und Gang, bleibt selten seiner mächtig: er läßt sich hinreißen von dem, was er beschreibt, besonders dann, wenn er die Siege der Polen und die Niederlagen der Russen berichtet. Mit welchem Wohlbehagen, mit welcher Freude schildert er zum Beispiel in der „Geschichte der Regierung Sigismunds III.“297 den 296 Julian Ursyn Niemcewicz: Bajki i powieści. Warszawa 1820. 297 Julian Ursyn Niemcewicz: Dzieje panowania Zygmunta III. Wrocław 1836.

21. Vorlesung (26. April 1842)

823

Brand Moskaus (1611) und die Übermacht der Polen! Dort gleicht er dem Livius in Hinsicht des Stils und ist ebenso voll Nationalstolzes, sieht mit eben derselben Verachtung auf alles herab, was fremd und feindlich, wie der Geschichtsschreiber der Römer. Wenn er aber daran kommt, die Unfälle und Fehltritte der Polen anzuführen, dann umgeht er zuweilen die Wahrheit, und sucht die unglücklichen Ereignisse zu verschleiern. Als Redner hat er gleichfalls von seinem Talente Beweise gegeben. In der von Stanisław August gegründeten Kadettenschule erhielt er seine erste Erziehung, bereiste dann fremde Länder und sah Frankreich in dem heißesten Feuer der Revolution. Dies erklart seine politischen Theorien und die Art seines Rednertalents. Niemcewicz kehrte nach Polen zurück, erwärmt von der Flamme der französischen Revolution, er war von ihren Ansichten erfüllt und überzeugt, daß man keine bessere Verfassungsform als das konstitutionelle System erfinden könne; er sah in der Annahme der Konstitution das einzige Mittel, Polen zu retten. Die unbegrenzte Liebe zu seinem Volk war wie die Begriffe des Jahrhunderts, sie war zu irdisch, zu materiell und ließ ihn gar nicht über die Zeit hinaussehen. Betrübt über das Unheil seines Landes, über die herabgewürdigte Regierung, über die allgemeine Unordnung, die damals herrschte, scheint er nur die materielle Größe, den Verlust der weitausgebreiteten Besitzungen Polens und der königlichen Schätze zu beklagen. Oft füllt er ganze Abschnitte mit der Beschreibung der Gelder und Kostbarkeiten, welche die Könige besaßen, und bedauert den verschollenen Glanz und Prunk der polnischen Großen, worauf er in seiner Jugend gewohnt war zu sehen. Dies alles zeigt zwar, daß er die Armut und das Elend seines Landes fühlte, aber auch zugleich, wie sehr es ihm an höheren Gefühlen in der großen Not gebrach, an Gefühlen, welche die Religion und die moralische Kraft dem Menschen geben. Sein allzu großer Haß benahm ihm den richtigen Blick in dieser Hinsicht. In den mit der Religionsfrage verknüpften Erschütterungen Europas vermochte er nicht wahrzunehmen, worin das wirkliche Interesse der Polen lag. Es scheint, daß er zu jeder Religion sich bekannt, die nur im Gegensatz zu Rußland, Österreich und Preußen gestanden hätte; und weil Österreich, der Feind von Polen, katholisch war, so schmollte er lange Zeit dem Glauben seiner Vorfahren, und stand ihm feindlich gegenüber. Im Hintergrunde jedoch von allen diesen Theorien und Systemen lag in ihm ein Gefühl, von dem er sich selbst nicht Rechenschaft zu geben wußte, und welchem er öfters ganz wider seine Ansichten folgte. Nach dem Sturz der Konstitution vom 3. Mai verzweifelte der größere Teil der polnischen Politiker ganzlich an der Volkssache; sie sahen für die Nation durchaus keine Rettung mehr. Niemcewicz dagegen zeigte, daß er eher ein

824

Teil II

Pole als Konstitutioneller war, er verließ das Vaterland und wurde Emigrant, ohne die heiße Sehnsucht in sich zu ersticken, seinem Land ferner zu dienen. Er kam dann mit Kościuszko zurück, geriet mit ihm in der blutigen Schlacht bei Maciejowice in Gefangenschaft, saß in demselben Turm zu Petersburg und wurde auch mit ihm zugleich nach dem Tod Katharinas befreit. Der Zar Paul wollte, daß er im Lande bleibe, und gab ihm seine eingezogenen Güter zurück. Die Politiker, besonders in Litauen, singen aber schon an, sich an die Herrschaft Rußlands zu gewöhnen, trösteten sich mit der Hoffnung, daß der Rest von polnischer Nationalität ihnen würde gelassen werden: nur Niemcewicz fand keine Beruhigung in den Täuschungen seiner Landsleute, er verließ abermals die Heimat und begab sich nach Amerika, wo er zehn Jahre verweilte. Dort hatte er Gelegenheit, sich zu überzeugen, daß es nicht die Form der Verfassung war, die er im Leben gesucht; denn er fand hier eine seinen Vorstellungen entsprechende Regierung, zugleich einen reichlichen Unterhalt und ein bequemes Leben, trotz dem aber fühlte er sich unglücklich. Als er daher die Nachricht erhielt, daß die polnischen Legionen den vaterländischen Boden wieder betreten, verließ er sogleich Amerika und kehrte nach Polen zurück. Nach den Niederlagen der französischen Adler flüchtete er noch einmal mit den Truppen seiner Nation. Zurückberufen vom Kaiser Alexander, vertraute er kurze Zeit den Versprechungen dieses Monarchen, und nachdem seine Täuschung verschwunden, begann er mit aller Kraft den heimlichen Kampf gegen die Regierung Rußlands. Endlich trieb ihn das unglückliche Ende des letzten Aufstandes aus Polen, ohne daß er je zurückkehrte. Während er so Staatsformen aller Art erprobt und sich in den mannigfaltigsten Verhältnissen befunden hatte, suchte er immer etwas, was durchaus von keiner Regierungsform abhing, was weit erhabener als jeglicher Zustand war: er suchte eine volkstümliche Idee, deren Bild er sich nie deutlich entwerfen konnte. Niemcewicz ist einer von den Männern, welche gleichsam Vorbilder der kommenden Generation sind. Wenn die Generationen die Geschichte solcher Männer beachten und ergründen wollten, würden sie in ihnen die Schicksale ihres eignen Lebens lesen. Nach der Vernichtung der Konstitution vom 3. Mai war er einer der Ersten, der die heimatliche Erde verließ, und bald darauf folgten ganze Massen Polen seinem Beispiel. Ebenso war seine Gefangenschaft die Kündigerin des Geschickes für die Nachkommen, die Kasematten zu Petersburg, in denen er geschmachtet, werden seit ihm nicht mehr leer von polnischen Gefangenen. So begab er sich, einer besseren Zukunft nachjagend, nach Amerika, und seit der Zeit haben Tausende seiner Landsleute jene Länder besucht, wo er sein Vaterland beweinte. Nach der letzten Revolution betrat er fast zuerst den fremden Boden, und bald folgte die ganze Generation ihm

825

21. Vorlesung (26. April 1842)

nach. Er war der Führer seines Jahrhunderts und schloß dessen Tore zugleich mit seinem Leben.298 Der Lebenslauf und die Werke des Niemcewicz repräsentieren schon zum Teil das ausgewanderte Polen. Polen zeigt sich nämlich jetzt zweifach, wie in zwei Teile zerspalten. Im Lande selbst suchen alle, die noch eine etwas höhere Intelligenz haben, das alte Erbe, die volkstümlichen Gesetze, das Polen aus den frühern Zeiten zu erhalten, man könnte sagen, daß die Intelligenz im Lande geblieben ist, deren Vertreter Männer wie Michał Kleofas Ogiński, Adam Jerzy Czartoryski, Tadeusz Czacki299 waren. Aber auf der anderen Seite gingen alle, die noch in sich einen Antrieb zu Taten verspürten, die auf die Zukunft hofften, die der inneren Stimme Gehör gaben, diese alle gingen anderswohin ihr Vaterland zu suchen; sie bilden die Emigration. Der polnische Geist ist heraus in fremde Länder gezogen. Das berühmte Lied der polnischen Legionen beginnt mit folgenden Versen, die das Motto der neuen Geschichte sind: Jeszcze Polska nie zginęła, Kiedy my żyjemy.300

Noch ist Polen nicht verloren, so lange wir leben.

Dieses besagt, daß Männer, welche das besitzen, was wesentlich die Volkstümlichkeit ausmacht, fähig sind, das Dasein ihres Vaterlandes unabhängig von allen Bedingungen und politischen Zuständen zu erhalten, und daß sie mächtig sind, dieses Dasein aufs Neue zu verwirklichen. Daher wurde im vorjährigen Vortrag erwähnt, daß der Begriff „Vaterland“ (ojczyzna) bei den Polen nicht am Begriff ihres Bodens haftet. Jetzt sehen wir, wie das polnische Volk auf der Reise ist, eine Nation, die sich mitten unter anderen Völkern zerstreut befindet. Es wird jetzt nicht unpassend sein, die Geschichte der polnischen Legionen, die im engen Zusammenhang mit der Geschichte Frankreichs steht, kurz durchzugehen. Wir wollen mit der Erklärung des Gedankens beginnen, der sie hervorgebracht hatte. Die Legionen fahren noch fort – sie beharren in dem Wesen des alten Polen, aber sie bergen zugleich den Keim seiner Zukunft in sich. Sie sind es erst, welche die Fragen zu lösen beginnen, über welche man auf dem Vierjährigen Sejm (Sejm Czteroletni 1788–1792) beratschlagt hat; ihre Geschichte gibt erst die Aufklärung, was Patriotismus, was Bürgertum und Gleichheit sei.

298 Vgl. Adam Jerzy Czartoryski: Żywot J.U. Niemcewicza. Berlin-Poznań 1860. 299 Tadeusz Czacki (1765–1813). 300 Verfasser Józef Wybicki (1747–1822); entstanden 1797 in Italien. Vgl. Józef Wójcicki: Twórca Hymnu Narodowego Józef Wybicki. Warszawa 1996.

826

Teil II

Zur Zeit des Vierjährigen Sejms glaubte man in Polen, wie auch überall, daß, um den Namen eines Patrioten zu erhalten, es genug sei, zur ersten besten Fahne sich zu bekennen. Alle Parteien hielten sich für gleich patriotisch; wer für diese oder jene Absicht kämpfte, wähnte für das Vaterland zu fechten, und da oft solche Ansichten nichts weiter als persönliches Interesse waren, so arbeitete ein Jeder unter dem Vorwand, es sei fürs Vaterland, für sich allein. Ungemein schwierig ist es, in solchen Fällen die allgemeine, die volkstümliche Sache von der Privatsache und der persönlichen zu sondern: fast keine menschliche Bemühung vermag dies zu erreichen, nur die Geschichte allein und das allgemeine Fortschreiten des Volkes kann diese schwierige Frage lösen. Doch als die Polen in die Reihen der Legionen eilten, was konnte sie dazu bewegen? Wer sich dort anwerben ließ, verließ alles, was ihn an den heimatlichen Boden, an die Nationalsitten band; er ging, weder für eine Ansicht zu streiten, noch seine Grenzen, seine Heimat zu schützen. Er begab sich nach dem weiten Westen, sein Vaterland zu suchen, ohne zu wissen, wo und worin er es finden könne, ohne zu wissen, welche Ansicht siegen, was für eine Staatsverfassung, ob eine republikanische oder königliche oder kaiserliche in Frankreich sich gestalten würde. Man mußte also alle Formen verwerfen, alle Ansichten dahingestellt lassen und eine Kraft suchen, die einst dem Land heilbringend sein könnte, wobei tausend Gefahren zu überwinden, feindliche Länder zu durchbrechen, Kerker, Drangsale und Tod zu verachten waren. Wer also fähig war, sich so weit aufzuopfern und einzig nur auf die Stimme des inneren Gefühls zu achten, gab einen Beweis, daß er in seiner Seele das hatte, was das Wesentlichste im Patriotismus nach polnischen Begriffen ist. Denn wie könnte man anders sich diese Kraft erklären, die ihn aus seinem Land herauszog und ihn weit hinwarf, damit er für eine Sache kämpfe, die weder eine Form noch ein zuversichtliches Banner hatte. Diese geheime Kraft, diese wunderbare Macht, war jener unbekannte Gott, den man Patriotismus der Polen nennen könnte. Als daher die Parteien des Vierjährigen Sejms sich gegenseitig den Verrat vorwarfen, als sogar ein Teil der in Paris ansässigen Emigranten die Zeit in Hader und Beschuldigungen zubrachte, galten alle Legionisten für gute Patrioten in Polen; man hat keinem einzigen von ihnen den Patriotismus abgesprochen; denn das war schon gewiß, daß sie für nichts anderes als für Polen kämpften. Der Vierjährige Sejm wollte auch die Gleichheit vor dem Gesetz feststellen: man beratschlagte, ob die niederen Stände erhoben oder die höheren durch Abschaffung der Vorrechte erniedrigt werden sollten; aber nur die Legionen vermochten die Aufgabe zu lösen, und in dieser großen Umgestaltung Polens war es sogar nicht möglich, auf eine andere Art den gewünschten Erfolg zu erreichen. Auf dem mütterlichen Boden hätten die verdienstvollsten Leute,

21. Vorlesung (26. April 1842)

827

plötzlich aus der Masse des Volkes hervorgehoben, den Stand ihrer Geburt nicht sogleich vergessen können, und ebenso wären die höheren Stände durch die Benennungen nach ihren Gütern, durch die angewöhnte Ehrerbietung der niederen Volksklasse gegen glänzende Namen, stets zum angeborenen Ehrgeiz erweckt worden. Da indessen sowohl diese als jene auf einmal unter Fremde geschleudert, bei gleichen Beweisen von Patriotismus sich sogleich in ihrem Inneren für wirklich gleich erkannten, weil alle ein gleiches Opfer gebracht, gleiche Gefahren überstanden: so war in den Legionen kein Unterschied zwischen einem Bauer, einem Bürger, einem Grafen und einem polnischen Fürsten; man hörte dort nie um Vorrechte der Geburt und Privilegien zanken. Wir wollen hier bei der Anführung dieser zwei Tatsachen stehen bleiben. In einem Zeitalter jedoch, das zur Gesetzgebung so eilfertig ist, sollte man ihnen die Aufmerksamkeit nicht entziehen. Es läßt sich erstens aus ihnen ersehen, daß, um ein wichtiges Recht zu erlangen und zu genießen, man zuvor eine schwere Pflicht erfüllen muß, daß es nicht genug sei, in irgend einem Land geboren zu sein, irgend einem Volke anzugehören, um sogleich unter ihm ein Bürger zu sein, oder gar seine Gesetze umzuarbeiten, das Werk seiner Umgestaltung auf sich zu nehmen, denn ein so großes Unternehmen verlangt eine sichere Bürgschaft, und diese kann man nur stellen in bürgerlicher Aufopferung. Zweitens finden wir die Belehrung, daß Gleichheit nur unter solchen Männern herrschen könne, die sich einem und demselbem Gegenstand weihen, und die mit demselben Gefühl durchdrungen sind, daß keine Anordnungen diese Gleichheit einführen, sondern sie nur aus großen historischen Ereignissen entsprießen kann. Die polnischen Legionen haben die künftige Gesetzgebung ihres Landes begonnen. Sie hinterließen keinen Artikel, kein Statut, keine Konstitution, aber sie erkämpften für die künftigen Generationen das Recht eines unabhängigen Bestehens und einer freien Verfassung. Während die Politiker die unverjährten Rechte Polens in diplomatischen Noten an die europäischen Kabinette bewiesen, stellten die Generale der Legionen das lebende Beispiel seines Bestehens dar, die Reihen der Legionen füllten sie immer von Neuem, man weiß nicht, wie und wo sie die neuen polnischen Soldaten und Offiziere fanden.

22. Vorlesung (29. April 1842) Geschichte Rußlands seit dem Tod Katharinas II. – Paul I. – Die Französische Revolution regt sein Gemüt auf – Die Legitimisten: Graf Joseph de Maistre – General Suvorov – General Dąbrowski und die polnischen Legionen in Italien – Der Zar Paul verliert den Glauben an das System der Legitimisten; seine Neigung für Napoleon – Verschwörung gegen Paul; sein tragisches Ende – Thronbesteigung Alexanders I. – Das polnische Volk folgt instinktiv Napoleon, der Polens eigene nationale Idee verkörpert – Napoleon und das XVIII. Jahrhundert.

Der Gegenstand unserer Betrachtung nimmt immer weitere Grenzen ein. Wir verließen Suvorov im Kampf mit Tadeusz Kościuszko und Jan Henryk Dąbrowski an den Mauern Warschaus, jetzt treffen wir sie in Italien. Die philosophischen und religiösen Systeme, die sich im polnischen Sejm und im Petersburger Kabinett bekämpften, klopfen jetzt an die Türen aller Kabinette Europas, sie bringen ihre Angelegenheit vor den französischen Nationalkonvent und selbst vor den Zaren. Wir sagten, daß die Kraft, welche die polnischen Krieger antrieb, in fernen Ländern zu fechten, nach Italien hinzueilen, die den Schriftstellern der Legionen Józef Wybicki, Cyprian Godebski, Michał Kleofas Ogiński die Begeisterung einhauchte, daß diese Kraft in der Heimat ihren Ursprung hatte. Wir müssen also an unsere Quellen zurückgehen und den Faden der russischen Geschichte, die wir mit dem Tode Katharinas abbrachen, wieder aufnehmen; denn es wäre sonst schwierig, die Schriftsteller später zu verstehen, die uns von den Niederlagen Polens und seinen Hoffnungen erzählen werden. Wir haben schon gesehen, als wir die Begebenheiten in Rußland durchgingen, daß in dem dortigen Kabinett von Zeit zu Zeit politische Systeme aufkommen, die obgleich anfangs mit Schüchternheit unterstützt, nach und nach doch an Kraft gewinnen. Auch haben wir bemerkt, daß in dem herrschenden Haus merkwürdige Charaktere zuweilen erscheinen, die wie aus einer fremden Sphäre durchaus nichts Gemeinschaftliches mit dem sich forterbenden Regierungssysteme haben, und indem sie sein Streben unterbrechen, scheinen sie bestimmt zu sein, zu dessen Untergang beizutragen, immer aber werden sie das Opfer ihrer Bemühungen. Diese Erscheinungen wiederholen sich immer häufiger und bald sehen wir den Kampf zweier verschiedenen Systeme in einem Herrscher Paul I. vereinigt. Der bedauernswerte Aleksej, der Sohn Peter des Großen, der unglückliche Peter III. und Paul I. bilden einen ganz abgeschlossenen Herrscherkreis. Um die Regierung des Zaren Paul I. zu begreifen, müssen wir noch die philosophischen Systeme Europas berühren, denn er handelte unter ihrem Einfluss,

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_064

22. Vorlesung (29. April 1842)

829

was im Allgemeinen wenig beachtet wird. Dieser Monarch war wegen des ihm eigentümlichen Charakters, wegen seiner Erziehung und absonderlichen Lage von der Teilnahme an der russischen Regierung ausgeschlossen. Er hatte eine edle und kräftige Seele, aber der Haß und das Mißtrauen seiner Mutter, die ihn umringenden Späher machten ihn einsam und in sich gekehrt. Hätte ihm das Schicksal erlaubt, ganz seinen Willen zu haben, alle Annehmlichkeiten zu genießen, zu denen eine unbegrenzte Macht dem herrschenden Fürsten Gelegenheit gibt; hätte er seine Jugend in den unmäßigen Vergnügungen, die besonders am Hofe Katharinas stattfanden, zugebracht, so würde er sicher seine Kräfte vergeudet und sich dem Herkommen und den Ideen der russischen Herrscher überlassen haben; er wäre ganz einfach der Nachahmer seiner Vorfahren geworden. Aber einsam und unglücklich entfaltete er in seinem Innern die Gefühle, die ihn zum Guten zogen. Er lernte die Ungerechtigkeiten hassen, denen er selbst zum Opfer ward, er lernte die Verbrechen verabscheuen, die seine Mutter begangen; er verdammte den Mißbrauch der Macht. In jener Zeit dehnte sich die französische Revolution immer weiter aus und brach jeden Widerstand. Die Zarin Katharina betrachtete sie sowie die ganze übrige Aufwallung Europas als eine günstige Gelegenheit, ihr Reich zu vergrößern. Nach dem Bericht einiger Schriftsteller gab sie ihre Gedanken mit dem bekannten Sprichwort zu verstehen: „Im Trüben ist gut fischen.“ Paul dagegen dachte über diese Ereignisse philosophisch nach. Als ein Unglücklicher und Verfolgter war er religiös zugleich. Dabei waren ihm viele der französischen Legitimisten bekannt, er las ihre Aufsätze, vertiefte sich in die Schriften von Charles Alexandre Calonne301 und besonders in das bekannte Werk des Grafen Joseph de Maistre „Considérations sur la France“302. Im Allgemeinen ist nicht bekannt, wie viel das System der Legitimisten Rußland zu verdanken hat; wir wollen nicht behaupten, daß es in Rußland entstanden, aber es hätte nie eine Form gewinnen, nie zum Sinnbild werden und am wenigsten in Wirksamkeit treten können, wenn es nicht hier eine Stütze gefunden hätte; denn dies ist gewiß, daß jede Ansicht, jede Theorie nicht eher wirken kann, als bis sie auf irgend einem Boden Wurzel gefaßt hat. Die legitimistischen Ansichten begannen dann gerade eine Form zu gewinnen, als das alte Gebäude der französischen Gesellschaft zusammenstürzte. Später 301 Robert Lacour-Gayet: Calonne. Financier, réformateur et contre-révolutionnaire (1734– 1802). Paris 1963. 302 Paris 1796; deutsche Übersetzung: Betrachtungen über Frankreich. Über den schöpferischen Urgrund der Staatsverfassungen. Deutsch von Fr. von Oppeln-Bronikowski. Hrsg. von P. R. Rohden. Berlin 1924.

830

Teil II

sprach sie am besten Graf de Maistre aus in seinem zu Petersburg gedruckten Werk.303 Diese Systeme hat Niemand besser begriffen und schärfer entwickelt. Sie haben einen ungemeinen Einfluß auf die Slaven gehabt, haben einen großen Schaden für Polen bewirkt. Wir müssen uns also mit ihnen bekannt machen, wenigstens das Wichtigste über sie in Erinnerung bringen. Eine Erscheinung, wie die französische Revolution, mit so außerordentlichen Ereignissen verbunden, mußte notwendig Männern von tieferem Geist sehr auffallen. Und nachdem man sie so ernstlich beobachtet, sah man bald ein, daß sie ein weit ausgedehnteres Bestreben hatte, als die Politiker glaubten, man sah, daß sie die bestehende Religion umwarf. Da sie aber nebenbei die bevorrechteten Kasten aufhob, waren Leute, die durch diese Aufhebung gelitten, allerdings geneigt, mit der Religion gemeinschaftliche Sache zu machen. So bildete sich die Überzeugung, die französische Revolution begehe darin ihre Sünde, daß sie sowohl die Offenbarung und die hierdurch der Kirche gegebenen Rechte, als auch die Überlieferung und die hieraus der Hierarchie der menschlichen Gesellschaft, nämlich dem Adel zugestandenen Rechte, zu gleicher Zeit umstoßen wollte. Graf de Maistre nahm diese Basis an, und bemühte sich in seinem Werke dieselbe zu entwickeln und philosophisch zu begründen. Nach seiner Ansicht ist die Bestimmung des Menschengeschlechts auf Erden, die Erbsünde abzubüßen. Die Menschen seien von Natur böse, unfähig, sich von selbst zu bessern, die Offenbarung gab ihnen also ein übernatürliches Hilfsmittel, und zur Erhaltung der notwendigen Ordnung bestimmte die Vorsehung auserwählte Familien und Personen, die eine angeborene Fähigkeit, zu regieren und andere im Gehorsam zu erhalten, besitzen; daher die Rechte solcher Herrscherstämme und einzelner Personen in irgend etwas zu kränken, ein Frevel an Gott sei! Da es sich aber sehr oft ereignet, daß diese Erwählten in den Begriffen von einer und derselben Sache von einander ganz abweichen und ganz verschieden den Sinn der Wahrheit deuten, hieraus aber Zwietracht und Krieg entsteht, so findet Graf de Maistre kein anderes Mittel, die Monarchen zu versöhnen, als die Berufung an den Papst; nach seiner Meinung besitzt der Papst die Regierung über die Intelligenzen und ordnet auf diese Weise den Willen der Monarchen. Hieraus geht augenscheinlich hervor, daß de Maistre die papstliche Gewalt hauptsächlich in Hinsicht der weltlichen Angelegenheiten als die Ordnerin

303 Joseph de Maistre: Les Soirées de Saint-Pétersbourg, ou entretiens sur le Gouvernement temporel de la Providence: suivis d’un traité sur les sacrifices. Paris 1821; deutsche Übersetzung – Die Abende von St. Petersburg oder Gespräche über das zeitliche Walten der Vorsehung. Hrsg. Jean J. Langendorf und Peter Weiß. Wien 2008.

22. Vorlesung (29. April 1842)

831

der königlichen Macht ansieht.304 Seine Werke waren noch nicht im Drucke erschienen und schon streuten französische Emigranten diese Ansichten in Rußland305 aus. Zar Paul, in seiner einsamen Beschaulichkeit zu höheren Fragen befähigt, griff solche Thesen mit Begeisterung auf und hielt sich für den Vertreter der Macht Gottes im russischen Reich. Sobald er also nach dem Tod der Kaiserin Katharina, obgleich er früher durchaus nicht zu den Regierungsgeschäften zugelassen ward, dennoch ohne allen Widerstand den Thron bestiegen, so schien er, wie Sixtus V., plötzlich an Alter und Gestalt zu wachsen. Niemals bemühte sich ein Monarch in jedem seiner Schritte, in jeder kleinsten Bewegung mehr Würde und Stolz zu zeigen. Er wollte die Grundsätze des Grafen de Maistre in seiner Person verwirklichen und rechtfertigen. Man sieht jedoch, daß er ihnen gleich anfangs mißtraute; denn vor allem anderen fing er an, sich mit formellen Dingen zu befassen: einen Ukaz nach dem anderen ließ er dem Volke verkünden, wie es die Person des Kaisers verehren sollt. So ward z.B. befohlen, vor ihm auf das Angesicht zu fallen; wer ihm auf der Straße begegnete, mußte vom Pferde absitzen oder aus dem Wagen steigen, das Haupt entblößen, den Pelz abwerfen und niederknien, wäre es selbst im Kot oder Schnee. So suchte Paul die Majestät des Monarchen zu heben, gerade als die französische Revolution unter seinen Augen die Throne umstürzte. Für ihn lag hierin die Frage von der Macht. Er schickte sogar den General Suvorov, der mit Leib und Seele die französische Revolution haßte, gegen Frankreich. Suvorov, der letzte General aus der Armee Peter des Großen, wie wir ihn nannten, idealisierte den Charakter eines russischen Feldherrn in sich. Er stammte von den Finnen, war aber slavisiert; von kleinem und armseligem Körperbau besaß er doch eine erhabene und kräftige Seele. Zuerst zeichnete er sich im Siebenjährigen Krieg, dann in dem türkischen Feldzug aus, endlich nahm er Warschaus Vorstadt Praga und gab dem polnischen Aufstand den letzten Stoß. Nicht bloß dem Zufall oder dem materiellen Übergewicht der Kräfte sind jedoch seine Siege in Polen zuzuschreiben; er stand wirklich höher als die polnischen Anführer. Gutmütig und ebenso voller Einfalt wie Kościuszko besaß er wie dieser im höchsten Grad den slavischen Charakter, der so verständlich dem slavischen Landmann und so fähig ist, seinen Enthusiasmus, seine Liebe, sein Vertrauen zu erwecken. Nebenbei besaß er aber jenes tiefe und entschiedene 304 Joseph de Maistre: Du Pape. 1819; deutsche Übersetzung – Vom Papst. Ausgewählte Texte. Berlin 2007. 305 Vgl. Marija Igorevna Degtjareva: Religioznofilozofskaja mysl’ Žozefa de Mestra v kontekste formirovanija konservativnych tradicii Evropy i Rossii. Moskva 2009 [http://www.dissercat.com].

832

Teil II

religiöse Gefühl im höheren Grade als Kościuszko, woher auch seine Kraft, sein blindes Vertrauen auf guten Erfolg entsprang. Die polnische Revolution hatte dazumal niemanden, den sie diesem Feldherrn entgegenstellen konnte, sie arbeitete noch, um einen solchen Mann hervorzubringen. Die Vorsehung, welche damals Polen im Zorn behandelte, wählte hierzu einen Feind, welcher durch seine Handlungsweise und durch sein Auffassen des Krieges zugleich den Polen eine Lehre geben sollte. Im Ausland hat man Suvorov sehr unvorteilhaft beurteilt; man hielt ihn für lächerlich, höchst sonderbar und wild. Indessen hatte er eine sorgsame Erziehung genossen, verstand alle europäischen Sprachen und wollte sich ihrer nur aus Haß und Verachtung nicht bedienen; vor allem zeremoniellen Wesen hatte er Abscheu, behielt aber stets sein Ziel vor Augen, dem er geradezu entgegenschritt. Den Sieg suchte er in der Begeisterung seiner Soldaten, er kannte die Art ihres Denkens und Begreifens, redete sie in ihrer Sprachweise an, öfters sogar in Versen; statt der Tagesbefehle schrieb er gereimte Sprüche. Viele seiner in Reimen verfaßten Anreden haben sich noch erhalten; sie mögen heute vielleicht komisch klingen, in ihrer Zeit aber übten sie großen Einfluß auf die Truppen. Einst – es war bei Ismail – befahl er den Solden, sich aufzustellen, rief seine Stabsoffiziere zusammen und statt mit Beredsamkeit den Tagesbefehl vorzutragen, sprach er nur folgende Worte: Kinder, um Mitternacht werde ich aufstehen, stehet auch ihr auf; dann werde ich beten, tut dasselbe; nach dem Gebet werde ich mich waschen, ihr aber werdet euch nicht waschen, denn ihr habt keine Zeit dazu; dann werde ich mich auf die Erde setzen und dreimal wie ein Hahn krähen – hier krähte er dreimal wie ein Hahn – dies wird das Zeichen zum Sturm sein.306

Mit diesem Losungswort erstürmte er Ismail. Auswärtige Offiziere, die sich in seinem Heere befanden, erzählten später diese Anekdote als einen Beweis 306 Originalzitat nicht gefunden. Die Anekdote ist belegt bei Christian August Vulpius: Kurze Lebens- und Kriegs-Geschichte des Grafen Alexander Suworow Rimnikski mit einer Nachricht von den Kosaken. Leipzig1800, S. 31: „Er sagte den Abend vorher: ‚Morgen früh, eine Stunde vor dem Tage, werde ich aufstehen, werde mich anziehen, mich waschen, werde beten, werde dann krähen wie ein Hahn, und man stürmt nach der Disposition‘“. In folgenden russischen Quellen nicht nachweisbar: Sergej Nikolaevič Glinka: Žizn’ Suvo­ rova im samim opisannaja, ili sobranie pisem i sočinenij. Č. I–II. Moskva 1819; Anekdoty knjazja italijskago, grafa Suvorova Rymniksago. Izdannye  E.  Fuksom. Sanktpeterburg 1827; Nikolaj Alekseevič Polevoj: Istorija knjazja Italijskogo, grafa Suvorova-Rymnikskogo, generalamissimusa rossijskich vojsk. Moskva 1834 (3. Auflage, Moskva 1904); deutsche Übersetzung – Geschichte des Fürsten Italiiski, Grafen Suworoff-Rimnikski, Generalissimus der russischen Armeen […] in freier Übertragung hrsg. von J. de la Croix . Riga 1850.

22. Vorlesung (29. April 1842)

833

seiner Ungeschliffenheit. Indessen solche Anreden, wie sie damals in Frankreich gehalten wurden, hätte jeder Feldherr aufsetzen können, um aber auf diese Weise die Soldaten anzureden, mußte man zuerst mit ihnen gelebt, ihre Eigentümlichkeiten und Sitten kennen gelernt haben. Übrigens hat Suvorov im italienschen Feldzug tüchtige Proben seines Talents abgelegt und zugleich bewiesen, daß er in der Strategie und Taktik bewandert war. Selbst wahrhaft religiös, wollte er auch seine Soldaten belehren, er las ihnen die heilige Schrift vor und vertrat im Lager sehr oft den Feldprediger. Aus Religiosität kam auch sein unerbittlicher Haß gegen die französische Revolution. Als man ihm gefangene französische Generale vorführte, ließ er sie wie Pestkranke einsperren. Die Person des Monarchen war stets für ihn ein Gegenstand der tiefsten Verehrung. Österreichische und französische Generale mit Verachtung behandelnd, beugte er vor dem französischen Kronprätendenten, als dem Repräsentanten der göttlichen und königlichen Majestät, die Stirn, bezeichnete sich mit dem heiligen Kreuz und küßte den Saum seines Gewandes. Was Paul  I. in der religiösen und politischen Sphäre begründen wollte, das erfüllte Suvorov instinktmäßig mit Hilfe der materiellen Kraft. In Italien traf er auf die polnischen Legionen, und so standen die zwei slavichen Heere einander wieder gegenüber. Wir haben schon den Gedanken entwickelt, welcher die polnischen Legionen hervorgebracht; ihre Taten sind allgemein bekannt. Der General Jan Henryk Dąbrowski307, von der französischen Regierung hierzu bevollmächtigt, bildete sie in Italien als Hilfstruppen. Zu beachten ist hierbei, daß, so oft es sich um den Sold oder um Rangerhöhungen handelte, Dąbrowski jedesmal gerne nachgab, vor allem aber über die genaueste Erhaltung des festen moralischen Charakters dieser Scharen wachte. In dem mit der lombardischen Regierung geschlossenen Vertrag ward festgesetzt, daß die polnischen Legionen als fremde Hilfstruppen, die für das gemeinsame Interesse kämpften, betrachtet werden sollten; daß den Legionisten alle Rechte und Vorrechte der lombardischen Bürger zu Gebote stehen, und daß sie als Freunde und Brüder angesehen werden sollten. Es ist dies das erste Beispiel von einem Bündniss, geschlossen im Sinne der Brüderschaft. Dieser Mann, von der Vorsehung zum Führer der Legionen bestimmt, hatte zwei Eigenschaften in seinem Charakter, die den Polen sonst sehr selten eigen sind, nämlich Beharrlichkeit und Resignation. Der Name Dąbrowski ist so zu sagen das Verbindungsglied der alten mit der neuen Geschichte Polens. Es fehlte nicht viel, daß er in der ersten Revolution zu Warschau einer falscher Anschuldigung wegen dem Galgen verfallen wäre; dennoch machte 307 Vgl. Jan Pachoński: Generał Jan Henryk Dąbrowski 1755–1818. Warszawa 1985.

834

Teil II

ihn dies nicht abgeneigt, der Sache des Vaterlandes ferner treu zu dienen; er verwarf die Zuredungen Suvorovs und des Königs von Preußen, und zog eine ungewisse Zukunft der glänzenden Stellung vor, die man ihm für die Gegenwart anbot. Sein ganzes Leben war nichts weiter als eine fortgesetzte Reihe der schönsten Hoffnungen und der bittersten Erfahrungen. Anfangs von der französischen Regierung zurückgestoßen, dann erhört, schuf er seine Legionen und sah sie bald vernichtet. Die eine verlor er zum Teil in den täglichen Gefechten unter eigner Anführung; die zweite wurde in Mantua gefangen und den Österreichern ausgeliefert, die die polnischen Kriegsgefangenen wie Ausreißer behandelten. Die französische Regierung wollte nun nichts mehr von ihm hören; dennoch ließ er die Hände nicht sinken; er eilte nach Paris, klopfte an alle Türen, wo er hoffen konnte, fand die Mittel, raffte ein Kriegsheer zusammen und verlor es fast gänzlich an der Trebbia wieder. Erst dann, als es ihm gelungen war, die gefallenen Reihen zu erneuern, als die Siege Napoleons die Kriegslage veränderten, schien das Ziel seiner Wünsche erreichbar; schon machte er den Plan, über Kärnten, Ungarn und Böhmen in Österreich einzubrechen, als ihn plötzlich die Nachricht von dem geschlossenen Traktat von Lunéville [1801] ereilte, welcher Europa den Frieden wiedergab. Jede Hoffnung war nun den Legionen entschwunden; eine von ihnen, nach St. Domingo geschickt, ging gänzlich unter; der Rest zerstreute sich allmählich über Italien und schritt seinem Untergang entgegen. Viele Offiziere und Generale sahen nicht die geringste Möglichkeit der Sache des Vaterlandes auswärts fernerhin zu dienen; selbst General Karol Kniaziewicz308, der anerkantermaßen entscheidende Sieger bei Hohenlinden, fing jetzt an zu wanken und trat aus dem Dienst. Dąbrowski hielt allein noch aus, stützte sich jedoch nicht mehr auf Napoleons Persönlichkeit, sondern wartete ab, ob nicht ein günstiger Umstand Frankreich erlauben würde, zum Vorteil Polens zu wirken. Zu jener Zeit führte Suvorov, nach Korsakovs Aushebung durch Massen bei Zürich in den Alpen eingeschlossen, jenen beispiellosen Rückzug über die Berge aus, wodurch er die Überreste seines Heeres rettete. Ein trauriges Los harrte jedoch seiner. Es nahte die Unglücksstunde für die beiden Männer Suvorov und Paul. Suvorov, der seinen ganzen Enthusiasmus im Dienste für den monarchischen Despotismus erschöpfte, fiel selbst als Opfer desselben. Kaum hatte der Kaiser Paul durch einen Ukaz befohlen, Suvorov als den größten Feldherrn der Erde zu betrachten und ihm einen Triumphzug zu bereiten, als er plötzlich wegen eines Vergehens gegen das militärische Reglement erzürnt, ihn aller 308 Karol Kniaziewicz (1762–1842).

22. Vorlesung (29. April 1842)

835

Würden beraubte. Der von der Ungnade des Zaren getroffene Held kam ganz allein, in aller Stille nach der Hauptstadt. Seine besten Freunde fielen von ihm ab, niemand getraute sich seinen Namen zu nennen, Alle gingen ihm scheu aus dem Wege. Dadurch im Innersten erschüttert, erkrankte er und starb vor Gram. Gerade damals war es auch, wo in der Gemütsstimmung Pauls I. eine ungeheure Veränderung vorgegangen war, die ihn zu immer unbesonneneren und gewaltsameren Maßregeln antrieb, und endlich sein trauriges Ende herbeiführte. Er bemerkte, daß die Systeme der Legitimsten ihnen nur dazu dienten, Nutzen von ihm, dem Zaren, zu ziehen, daß die Könige und ihre Minister das, was sie ihm anempfahlen, weit entfernt waren selbst zu glauben. Da er jedoch einmal die ganze Zusammenstellung jener Begriffe angenommen hatte, so wollte er sie auch aufs Vollständigste durchführen. Als Vertreter der religiösen Sache verlangte er mit Ernst, daß man alle Religionsvorschriften pünktlich beachte. Den Legitimisten befahl der Zar daher, zur Beichte zu gehen, und den Geistlichen, ihnen keine Absolution zu erteilen, sobald sie nicht sichtliche Beweise von Besserung zeigten, was sehr schwer hielt. Als er aber erfahren, wie diese Herren immer das Interesse des Katholizismus auf den Lippen hatten, und in ihren Gesprächen am Hofe nicht nur über die Religionsgebräuche und Ausübungen, sondern selbst über Christus spöttelten, da entzog er sogleich dem Prätendenten das Jahresgehalt und versagte den Royalisten jegliche Hilfe. Als christlicher Monarch hatte er im Sinn, in Übereinstimmung mit andern Höfen, eine politische Gerechtigkeit auf der ganzen Erde einzuführen. Deshalb wollte er die abgesetzten Könige wieder auf die Throne erheben, das Königreich Sardinien, die Republik Genua und andere Reiche wiederherstellen. Sagt man doch, er habe sogar Polen neu aufrichten wollen. Aber der österreichische Gesandte, obgleich er am stärksten Gerechtigkeit und Billigkeit anempfahl, gab dennoch zu verstehen, Österreich würde die günstige Gelegenheit, Sardinien und Genua an sich zu reißen, benutzen, auch wäre es keineswegs gesonnen, dem Papst seine Besitzungen zurückzuerstatten. Ebenso wollte der Zar Paul das Haupt sämtlicher geistlicher Ritterorden werden. Er erschuf eine Menge Adlige, Herzoge, Fürsten und ernannte sich zum Großmeister des Maltheserordens. Der Papst belobte diesen sonderbaren Einfall eines Schismatikers; denn er hatte mehr die Besitzungen des Ordens als die treue Erfüllung seiner Pflichten im Auge. Dieses Alles entzauberte auf einmal den Zaren Paul; er verlor den Glauben an die Aufrichtigkeit des Papstes, der Könige und aller Systeme, ja sogar aller Religion. Dieser betrogene und irregeführte, biedere Mann wußte zuletzt nicht, woran er sich halten sollte; Verzweiflung bemächtigte sich seiner, er raste vor Zorn und rächte sich an den Menschen, indem er seine hocherhobenen

836

Teil II

Lieblinge wieder tief hinabstürzte und sie zuweilen regimenterweise nach Sibirien schickte; dies raubte ihm schnell die Beliebtheit in Rußland. Während dessen brachte Napoleon als erster Konsul Europa den Frieden wieder. Paul, welcher bereits an allen Systemen verzweifelt und instinktmäßig Napoleons Genie erraten hatte, rief häufig aus, daß er endlich einen Menschen gefunden, daß es doch einen Mann auf Erden gäbe, und wünschte mit ihm in engere Verhältnisse zu treten. Aber der Unwille, den er durch sein sonderbares und gewalttätiges Benehmen im Reich erregt, konnte nicht mehr besänftigt werden. Alle Magnaten, die ihn umgaben, mit dem Verlust ihrer Ehrenstellen und mit der Kibitka309 bedroht, dachten daran, sich sicher zu stellen. Der Gedanke einer Konstitution in Rußland, schon so oft angefacht, glühte noch in vielen Köpfen, und gerade zu jener Zeit, wo man allgemein sich mit diesem Gegenstand befaßte. Die eingerichtete und wieder umgeworfene Konstitution in Frankreich beschäftigte die Gemüter in ganz Europa: Jeder erwog sie, richtete sie und wollte nach seinem Gutdünken sie verbessern. Die Russen in Petersburg sprachen ohne Unterlaß davon. Der Großfürst Alexander, in französischen Ansichten erzogen, ließ sich öfters gegen den Despotismus vernehmen, und sprach mehrmals von der Notwendigkeit einer Konstitution für Rußland; die Aussichten der Unzufriedenen lenkten sich schnell nach diesem Punkt; die Konstitution ward ihr Losungswort. Sowohl die um sich selbst besorgten Günstlinge, als auch solche, die aufrichtig an eine Verbesserung der Zustände in Rußland dachten, und jene, denen es nur darum zu tun war, daß Alexander Kaiser werde, alle kamen darin überein, den Kaiser Paul zu stürzen, um die konstitutionellen Pläne in Ausführung zu bringen. Der General Benningsen, von Geburt ein Hannoveraner, ein unerschöpflicher Planer von Verfassungsprojekten, verständigte sich, nachdem er schon mehrere Vorschläge abgefaßt, mit Pahlen, Jašvili, Zubov und anderen Magnaten, die hierin ihr eignes Interesse hatten.310 Es gelang ihnen, Alexander zu erschrecken, der seit einiger Zeit seines Vaters Unwillen gegen sich bemerkte, und sie brachten ihn dahin, daß er in die Einsperrung Pauls willigte. Natürlich dachten sie auch nicht daran, mit der Gefangennehmung des Zaren alles zu beenden, auch wäre ihnen dieses nicht gelungen; viel sicherer und kürzer schien es, den unglücklichen Monarchen ganz aus dem Wege zu räumen, einen Herrscher, der rechtschaffen, philosophisch und religiös sein und so sein 309 Kibitka: russische Fuhrwerk, das auch zum Transport von Gefangenen diente. 310 Levin August Benningsen (1745–1826); Peter Ludwig von Pahlen (1745–1826); Vladimir Michajlovič Jašvil’ [Jašvili] (1764–1815); Platon Aleksandrovič Zubov (1767–1822). Vgl. dazu Careubijstvo 11 marta 1801 goda. Zapiski učastnikov i sovremennikov. Moskva 1990. (Reprint izdanija 1907 goda).

22. Vorlesung (29. April 1842)

837

ungeheures Reich despotisch regieren wollte, welches doch auf einer gerade entgegengesetzten Idee beruhte. Alexander I. bestieg den Thron mit andern Begriffen, mit dem Vorhaben, Gesetze zu geben. Die Entwürfe für die Konstitution zerfielen jedoch von selbst, denn sobald nur der Tod Pauls bekannt war, eilten die Offiziere, den Thronfolger als Zaren auszurufen, und niemand wagte mehr, die Konstitution zu erwähnen. Während dies in Rußland geschah, war die Lage der Auswanderung („Emigration“), welche Polen repräsentierte, in äußerst kritischer Lage. Die französische Regierung hatte sie ganz verlassen, die eigenen Anführer, außer Dąbrowski, alle Hoffnung verloren. Aber in diesem Augenblick fand das ganze Volk einen neuen Stützpunkt, es neigte sich, durch keinen Rat gelenkt, nur mit eignem Vorgefühl das Streben Napoleons erratend, zu diesem hin. Von nun an blieb Napoleons Name für lange Zeit das Losungswort und die Standarte der Polen. Trotz des Argwohns der Generale und der Warnungen der Publizisten ehrte ihn die Nation mit wankelloser Treue und blieb fest in der Anhänglichkeit an seine Person. Napoleon übte einen ungeheuren Einfluß auf die slavischen Länder; dieser Einfluß ist bei weitem größer als derjenige, den seine Politik zu Stande gebracht hat. Wir wollen hier eine Bemerkung machen, die auch für Franzosen von Interesse sein kann; denn wohl scheint es, daß noch niemand den großen Mann in dieser Hinsicht würdig beurteilt hat. Die Person Napoleons war die dem vergangenen Jahrhundert Widerstand leistende Kraft. Er hat die ganze Kraft, Größe und Gewalt dieses Zeitalters in sich zusammengefaßt, zugleich aber auch alles vernichtet, was unwahr und zufällig gewesen. Der Hauptfehler des 18. Jahrhunderts war der durch nichts zu bändigende Leichtsinn, mit dem man sich alles zu erklären und zu deuten suchte. Für die damaligen Menschen gab es kein Geheimnis mehr, sie hatten zur Erklärung einer jeden Erscheinung ihre Systeme schon fertig. Selbst der Terrorismus war nicht im Stande, die Gemüter in Frankreich und Polen zu erschrecken; man tröstete sich damit, daß, sobald er der Reihe nach geworfen sein würde, wieder alle Freiheit, Systeme zu untersuchen und neue zu schaffen, zurückkehren müsse. Nun brachte aber die Vorsehung einen so rätselvollen Mann zum Vorschein, und die Kraft aller Intelligenzen mußte sich vor ihm demütigen. Man befragte sich, ohne Antwort zu finden, woher kommt dieser Mann? Was will er ausrichten, wo hat er sein Ziel, was ist seine Sendung? Und das war schon eine große Wohltat für die Menschheit, sie zum Überlegen, zu irgendeiner Betrachtung zu zwingen, ihr einen Gegenstand vor die Augen zu stellen, der sich nicht erklären ließ.

838

Teil II

Napoleon rief durch seine Siege, seine Gesetze, seine außerordentlichen Talente den Menschen des 18. Jahrhunderts, die nichts mehr zu bewundern fähig, mit Gewalt das Gefühl der Bewunderung in die Seele zurück. Die gebildete Klasse der Polen, deren Eilfertigkeit zu Vernünfteleien und Diskussionen sogar die der Franzosen übertraf, zwang er lange Zeit, einer Erscheinung nachzuspähen, nach einem Punkt den Blick zu richten und mit Aufmerksamkeit die Bewegungen dieser Flamme im Gesichtskreis der Weltereignisse zu betrachten. Schon aus diesem Grund nimmt Napoleon eine wichtige Stellung in der slavischen Literatur ein; später werden wir Gelegenheit haben, mehr von ihm zu sagen.311

311 Vgl. die 26. Vorlesung (Teil II), die 5. Vorlesung (Teil III), vor allem die 14. Vorlesung (Teil IV); zur Übersicht vgl. die im Internet als PDF-Dateien zugängliche Dissertation von Andrzej Pochodaj: Legenda Napoleona I Bonaparte w kulturze polskiego romantyzmu. Praca doktorska. Promotor: prof. Dr Alina Kowalczykowa. Wrocław 2002 [http://napoleon.org.pl]; ferner – Jacek Lyszczyna: „Bóg jest z Napoleonem, Napoleon jest z nami“: mit Napoleona w literaturze polskiej XIX wieku. Katowice 2009.

23. Vorlesung (6. Mai 1842) Die polnisch-sibirische Literatur – Die Beschreibung Sibiriens – Der General Kopeć und sein Reisetagebuch – Bemerkung über das Gefühl der Nationalkraft – Ein geheimnisvolles Band verbindet alle Mitglieder eines Volkes.

Die ausgewanderte Literatur Polens, die Literatur der Legionen, wird erst unter den kaiserlichen Standarten Napoleons in die Heimat zurückkehren. Jetzt aber sie bei Seite lassend, müssen wir uns in Gedanken aus Italien bis in den fernsten Norden versetzen, und in Sibirien eine zweite Literatur Polens außerhalb der Heimat suchen; diese werden wir die „verbannte“ nennen. Die Zahl der verbannten Polen vermehrte sich täglich. Ihre Schriften und besonders die Gefühle, von denen sie belebt, verzweigten sich nach und nach im Land. Man kann sogar sagen, daß die Verbannungsliteratur gerade in der Richtung des volkstümlichen Charakters fortschritt. Die berühmten Männer des vergangenen Zeitalters, J.A. Załuski, Wacław Rzewuski, verfaßten in Kaluga ihre Werke; der Bischof Sołtyk brachte aus der Verbannung seine begeisternden Aufrufe.312 In dieser verbannten Literatur findet sich die Quelle der tiefsten Betrübnis, welche später die polnische Gesamtliteratur umhüllt. Sibirien verschlang alle aus dem Krieg Kościuszkos übrig gebliebenen Streiter, alle Patrioten, die sich der russischen Regierung widersetzt hatten, alle diejenigen, die man im Verdacht hatte, das Land aufzuregen oder sich mit ihren Brüdern im Ausland vereinigen zu wollen. Das erste Mal erklang in Polen der Name Sibirien und seit der Zeit ist Sibirien den Polen der alltägliche Ausdruck für eine beständige Drohung geworden. Jeder von ihnen, der eine gefährliche Unternehmung wagt, muß notwendig auch an Sibirien denken. Dieses Land erwähnen die russischen Schriftsteller selten, obgleich einige die Triumphe der Russen in Oden besingen; dieser so ferne und völlig fremde Erdteil tritt erst durch die Polen in das Gebiet der Poesie ein. Sibirien ist nichts weiter als eine politische Hölle; es spielt dieselbe Rolle, wie die Hölle in der Poesie des Mittelalters, die uns Dante so gut beschrieben hat. In jedem Buch der gegenwärtigen polnischen Literatur geschieht Sibiriens Erwähnung; recht treffende Berichte von den Qualen der Polen findet man darunter; wir haben

312 Józef Andrzej Załuski (1702–1774) – vgl. die 16. Vorlesung (Teil II); Wacław Rzewuski (1784–1831?) – vgl. Jan  K.  Ostrowski: Wacław Rzewuski w literaturze i sztuce – prawda i legenda. In: Orient i orientalizm w sztuce. Materiały Sesji Stowarzyszenia Historyków Sztuki, Kraków, grudzień 1983, Warszawa 1986, S. 193–21; Kajetan Sołtyk (1715–1788) – vgl. die 13. Vorlesung (Teil II).

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_065

840

Teil II

sogar ein Werk von Słowacki313, dessen Schauplatz durchgängig Sibirien ist. Wir müssen also wenigstens einige Worte von diesem Land sagen. Nach den Berichten der Geographen und Geologen beträgt der Flächeninhalt dieses ausgedehnten, vom Altaischen und Uralischen Gebirge und dem Weißen Meere begrenzten Landes etwa 500 000 Quadratmeilen. Außer den verschiedenen Einteilungen, die oft geändert werden, zerfällt es in zwei Kriegsbezirke, die nach den Städten Tobolsk und Ochotsk genannt werden. Der erste dieser Bezirke ward unter Ivan dem Schrecklichen von einer Kosakenbande erobert; den zweiten entdeckten und besetzten gleichfalls einige zwanzig Kosaken, die sich zufällig nach der Halbinsel Kamčatka verirrt hatten. Sie gründeten dort eine militärische Niederlassung, berichteten davon der Regierung und seit der Zeit wird Kamčatka unter die Zahl der russischen Besitzungen gerechnet. Die Einwohner dieser Länder sind mongolischer Abstammung und unter dem Namen der Jakuten und Ostjaken (Chanten) bekannt. Sie sind bis auf den heutigen Tag ununterworfen, was beinahe niemand weiß. Rußland hat sich den Boden zugeeignet, diese Bevölkerung aber hat ihre Sitten und ihre wilde Ungebundenheit bewahrt. Gegen zwei Millionen Europäer haben sich an der Hauptstraße festgesetzt, um die militärischen Punkte und einige Hafen zu bewachen, die Inländer aber achten so viel auf das Durchziehen einiger russischen Regimenter durch ihre Steppen, wie etwa die Fische, wenn zuweilen ein Linienschiff die Fläche des Meeres durchschneidet. Die Čukčen, wahre Beduinen dieser Schneewüsten, vertauschen ihre Produkte bei den Russen gegen Tabak und Branntwein, was russische Beamte, die zugleich Kaufleute sind, als schuldige Abgabe ansehen. Alle dortigen Horden wissen jedoch, daß ein Zar, ein geheimnißvoller und grausamer Beherrscher des Nordens vorhanden ist. Die Gubernatoren und die Dolmetscher zeigen ihnen, wenn sie von ihrem Zaren sprechen, einen gespaltenen Adler oder das Wappen Rußlands; und so sind sie der Meinung, daß dies das Bild des Zaren sei, daß jener Zar, ein Ungeheuer, in der Tat zwei Köpfe, Flügel und Krallen habe und daß die Welt in seiner Gewalt stehe. Da sie aber mit allen Göttern im Frieden zu leben wünschen, so bringen sie auch diesem Gott ein kleines Geschenk dar. Dies ist der Zustand der echten Sibirier. Die europäische Bevölkerung, die an den Straßen und Häfen sich befindet, besteht völlig aus russischen „Kriminalisten“, politisch Verbannten und den Kriegsgefangenen verschiedener Länder, als Schweden, Preußen, Franzosen, 313 Juliusz Słowacki: Anhelli. Paris 1838; vgl. Sybir romantyków. Red. Zofia Trojanowiczowa, Jerzy Fiećko. Poznań 1993; Słowacki kannte die Tagebücher von Józef Kopeć und Silvio Pellico (siehe unten).

23. Vorlesung (6. Mai 1842)

841

welche die Regierung nicht auslösen wollte oder selbst bei gutem Willen auf der unermeßlichen Bodenfläche nicht aufzufinden im Stande war; allein fast die Hälfte der fremden Bevölkerung bilden die Polen. Nach den Berechnungen, die von einigen aus amtlichen Registern gemacht wurden, fand man, daß seit dem Beginn der Kriege unter Katharina und Stanisław August über 100 000 Adlige der Verbannung verfielen. Der Adel ist besonders von dieser Plage getroffen. Von den Verwiesenen kehrt selten einer zurück, und die Überzeugung von der Unmöglichkeit der Rückkehr ist so allgemein geworden, daß die Verurteilten beim Abschied von ihren Verwandten und Freunden ausrufen: „O, daß wir uns nimmer begegnen möchten!“ Denn da es keine Hoffnung des Wiedersehens gibt, als etwa in Sibirien, so bleibt nichts zu wünschen übrig, als bis zum Tode getrennt zu bleiben. Einer von den polnischen Kriegsgefangenen, der General Kopeć314, der lange Zeit in Kamčatka an dem äußersten nordöstlichen Ende der alten Welt gewohnt, und diese Reise wieder zurück gemacht hat, hinterließ uns eine anziehende Beschreibung seiner Abenteuer und der Gegenden, die er gesehen. Er war kein gelehrter Mann. In seinem sechzehnten Lebensjahr trat er als gemeiner Soldat unter die Nationalkavalerie, und nachdem er binnen zwanzig Jahren alle Stufen durchschritten, wurde er Brigadengeneral. Noch war er aber Major, als ein Teil des polnischen Militärs, zugleich mit dem durch Rußland entrissenen Land eingezogen, die Abzeichen der Zarin Katharina annehmen mußte, was nach der damaligen Sprachweise „zur schuldigen Untertanentreue zurückkehren“ hieß. Während des Aufstandes unter Kościuszko befand sich die zweite litauische Brigade, in welcher Kopeć diente, in der Ukraine, und zwar öfters unter seinem Kommando, da der ältere Stabsoffizier seiner Pflicht nicht eben sehr oblag. So hatte er das Zutrauen seiner Waffengefährten gewonnen, und eilte auf die erste Nachricht von der Erhebung seiner Landsleute dorthin, wohin ihn das Vaterland rief. In der Gegend von Kiev brach er auf, schlug sich durch ein hundert Meilen langes und von Feinden besetztes Gebiet hindurch, und vereinigte sich endlich mit dem Führer der ganzen Bewegung. In der Schlacht bei Maciejowice viermal verwundet und gefangen genommen, wurde er mit andern Kriegsgefangenen nach Kiev geschleppt, dann abgesondert und als Rebell nach Kamčatka verurteilt. Den Anfang seiner Reise beschreibt er wie folgt: Szóstego dnia w nocy porwany w kibitkę, która miała model kufra, obita w koło skórami a w środku żelazna blachą, z boku tylko okienko dla podania wody albo jedzenia, w spodzie druga dziura dla spadu. Ten kufer był bez żadnego siedzenia, 314 Józef Kopeć (1762–1827).

842

Teil II ani jeszcze byłem z ran wyleczony, dawano mnie wór z słomą i włożony był na mnie tytuł aresztanta sekretnego z numerem tylko bez imienia. Jest to u nich w takim rodzaju aresztant największy kryminalista, z którym nikt pod największa kara nie może rozmawiać; ani też wiedzieć jak się nazywa i za co wzięty.315 In der sechsten Nacht wurde ich aus dem Schlafe geweckt und in eine Kibitka geworfen, die die Form eines Koffers hatte, außerhalb mit Tierhäuten, innerlich mit Blech beschlagen, und nur mit einer Öffnung, durch welche Wasser und Nahrung verabreicht wurde, und einer zweiten im Boden zum Abfluss versehen war. In diesem Kasten war kein Sitz vorhanden, weil aber meine Wunden noch nicht geheilt waren, so gab man mir einen Sack mit Stroh, und belegte mich mit dem Titel eines heimlichen Arrestanten, mit bloßer Nummer ohne Angabe eines Namens. Ein solcher Arrestant gilt bei ihnen als der größte Verbrecher, mit welchem niemand unter der härtesten Strafe weder reden noch wissen darf, wie er heißt und was er verbrochen.

Die Kibitken wurden unter Alexander I. abgeschafft, das Verfahren jedoch mit Gefangenen, die zur Klasse der heimlichen Arrestanten gehören, bleibt immer dasselbe. Z Kijowa do Smoleńska byłem przywieziony siódmego dnia dniem i nocą. Na zmianie poczt wszędy się lud zbiegał dla ciekawości, co by to było zamkniętym w tym kufrze, ile że dwóch zbrojnych na wierzchołku tej kibitki siedziało. Szóstego dnia posłyszałem turkot bruku, był to Smoleńsk. Wysadzony w nocy przy jakimsiś ogromnym i starym murze, usłyszałem szczęk broni, postrzegłem tłumy żołnierzy i byłem prowadzony długim a wąskim korytarzem i osadzony w jednej wąskiej framudze przy straży kilku żołnierzy i przy świetle lampy czarnej. Były tam dwa okna z kratami żelaznymi przebijane czarnymi deskami, aby nigdzie dzienne światło wchodzić nie mogło. Trzeba było zgadywać noc lub dzień; warta ani słowa nigdy do mnie mówić nie chciała. Smoleńsk (ach, wzdrygam się wspomnieniem i tytułu mu dać nie potrafię!) było to miejsce pożerające różnymi nieszczęściami i męczarnią naszych rodaków, w którym tyle tysięcy poczciwych Polaków było dręczonych: wiele z nędzy, wiele z wilgotnych murów, wiele podręczonych umyślnie poginęło. […] Kiedy się wszystko uciszyło, sypiać nie mogłem: słyszeć mi się zdawało poza innymi murami obok mnie jakieś różne bicia, katowania i szczęk kajdan, co bardziej mnie jeszcze wybijało ze snu; tysiąc imaginacji roiło się, abym ja na tę kolej nie przyszedł. (Dziennik, S. 16) Aus Kiev wurde ich in einer sechs Tage und Nächte dauernden Fahrt nach Smolensk befördert. Auf jeder Poststation lief das Volk zusammen, neugierig, was im Kasten wäre, um so mehr, da zwei Bewaffnete, obenauf sitzend, Wache hielten. Am siebenten Tage hörte ich ein Geräusch, wie vom 315 Dziennik podróży Józefa Kopcia przez całą wzdłuż Azję, lądem od portu Ochocka, oceanem przez Wyspy Kurylskie do niższej Kamczatki, a stamtąd na powrót do tegoż portu na psach i jeleniach. Warszawa 1837, S. 14–15 [http://www.pbi.edu.pl]. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe verkürzt zitiert.

23. Vorlesung (6. Mai 1842)

843

Steinpflaster, es war Smolensk. Des Nachts wurde ich in der Nähe einer hohen Mauer aus meinem Wagen gezogen, ich hörte Waffengeklirr und bemerkte eine Menge Soldaten, ward dann durch einen langen engen Gang geführt, wo man mich endlich in einer kleinen Nische, die von mehreren Soldaten bewacht und von einer dunkeln Lampe beleuchtet war, absetzte. Es befanden sich dort zwei Fenster mit eisernem Gitter, die aber mit schwarzen Brettern verschlagen waren, damit kein Tageslicht hineinfiel und zu erraten wäre, ob es Tag oder Nacht sei. Die Wache wollte mir auf kein einziges Wort antworten. Smolensk! Das weckt Grausen in mir und kaum weiß ich, welchen Namen ich ihm geben soll: es war der Ort des Unglücks und der schauervollen Qualen unserer Landsleute, ein Ort, wo so viele tausend wackere Polen gemartert wurden, von denen die einen aus Elend, die anderen durch die Feuchtigkeit der Mauern und viele durch die Pein absichtlich zu Tode gequält umkamen. […] Der Schlaf blieb fern von mir. Wenn die Ruhe eintrat, vernahm ich durch die Mauern das Schlagen und Quälen und Kettengerassel, was mir noch mehr den Schlaf vertrieb; tausend Bilder schwebten vor meinen Augen, ich stellte mir vor, meiner harre ein ähnliches Schicksal.

Nach Verlauf einiger Zeit erscheint plötzlich der Kommandant vor Kopeć und lädt ihn zu einer Spazierfahrt ein; er setzt ihn in seinen Wagen, fährt einige Male in der Stadt herum, und während Kopeć glaubt, man bringe ihn auf den Richtplatz, wird er vor die Untersuchungskommission gestellt, die ihm auf merkwürdige Weise ihre Fragen vorlegt. Gdy mnie wprowadził do jednej wielkiej sali, znalazłem w końcu, że to było sądownictwo, do którego mnie kazano zbliżyć się, a że byłem jeszcze słaby z ran niewygojonych, kazano mi dać krzesło i usiąść. Zapytany byłem najprzód od nich o moim urodzeniu, religii, latach i całym ciągu życia. Szczęściem moim było, żem był ostrzeżony od Kapitana Mało-Rosjana, który mnie wiózł z Kijowa do Smoleńska, nauczył mnie, aby zawsze jednego słowa i eksplikacji trzymać się i mimo zbijania i strachów zawsze trzymać się jednego. 1 Byłem pytany, czy przysięgałem? Opowiedziałem, że w ciągu służby mojej dwudziestoletniej kilka razy przysięgałem, niby nie rozumiejąc, czego oni chcą. 2 Zapytano mnie się znowu: ale ostatnia przysięga jaka była? Ja jeszcze nie rozumiem – odpowiadam, że ostatnia była najważniejsza, że ojczyzny mojej do ostatniej kropli krwi bronić i zastawiać będę – rzekli oni, ale nie o to się pytamy: ale Monarchini naszej czy przysięgałeś? Odpowiedziałem, że to był gwałt i przemoc. Zapytano mnie się: a to masz za rzecz małą? Odpowiedziałem: że miłość ojczyzny mojej kazała na to zapomnieć, na co oni oburzeni zostali i serio z miejsc swoich powstawali. Kazano mnie w tym momencie odwieźć do mojego pierwszego więzienia. (Dziennik, S. 17–19) Als man mich in einen großen Saal geführt, merkte ich endlich, daß dies der Gerichtssaal sei; man hieß mich näher treten und, da ich wegen meiner Wunden noch nicht stehen konnte, mir einen Stuhl verabreichen und niedersetzen. Zuerst wurde ich über Geburt, Religion, Alter und den ganzen Lebenslauf befragt. Glücklicherweise hatte mir ein Hauptmann aus Kleinrußland,

844

Teil II der mich von Kiev nach Smolensk gebracht, den Rat gegeben, bei meinen Antworten immer bei Einem und Demselben zu bleiben, wie sehr man mir auch das Gegenteil beweisen und mich einschüchtern wollte. Dann wurde ich gefragt, ob ich einen Eid abgelegt, worauf ich antwortete, während meines zwanzigjährigen Dienstes mehr als einmal geschworen zu haben, indem ich mich unwissend stellte, was sie von mir verlangten. – Hierauf fragte man mich von Neuem: „Aber der letzte Eid, wie lautete dieser?“ Noch verstand ich sie nicht und antwortete: „Der letzte Schwur war der wichtigste, ich versprach in ihm, mein Vaterland bis auf den letzten Blutstropfen zu verteidigen.“ – Sie fügten: „Danach fragen wir nicht, sondern ob du unserer Zarin den Eid geleistet hast?“ – „Ja“, sagte ich, dies jedoch nur gezwungen von der Übermacht. Sie aber fragten: „Hältst du dies für etwas Geringes?“ Ich antwortete: „Die Liebe zum Vaterland hat mir das zu vergessen befohlen“; da standen sie entsetzt und zornig auf. Man befahl, mich auf der Stelle in mein Gefängnis zurückzuführen.

Danach erzählt der General Kopeć seine Reise folgendermaßen weiter: Od Smoleńska do Irkucka trzech żołnierzy w mojej straży zginęło, jedni nogi albo ręce połamali z wierzchołka mojej kibitki. Gdy pijani i nieuważni z gór lecieli, zdarzało się to często, że kiedy rozpędzą konie, kibitka się wywraca i konie wleką po ćwierć mili, a ja zamknięty tłukę się jak śledź w beczce, lecz że byłem obwijany worem, sieczką i słomą, to mnie ratowało. […] W tym przeciągu i przejeździe drogi różne, nieszczęśliwe kolonie i miasteczka przebywałem, które są zaludnione przez posyłanych na zsyłkę, wtedy postrzegałem ludzi bez nosów piętnowanych. […] Na jednym noclegu, gdy kobieta jedna jeść przyniosła dla straży, postrzega oficer, że twarz była niepospolita i zapytał się coby była za jedna? Odpowiedziała, że niegdyś Pułkownikówna a dziś kowalowa jestem posłana na zsyłkę, przyczyny nie chciała powiedzieć za co. […] Przywieziony byłem do Tobolska a po dwudniowym tam pobycie wieziony byłem dalszą droga do Irkucka. Na tejże drodze napotkałem po kilkaset ludzi obojej płci na zsyłkę pędzonych ku Irkuckowi, przy małej bardzo straży, których od kolonii do kolonii przesyłają i ledwo w końcu trzeciego roku z Europy do Irkucka przybywają. Uciec tam żaden nie może, gdyż nigdzie nie masz pobocznych kolonii; prócz na jednej chyba drodze, która przez Piotra Wielkiego tymi dzikimi i ciemnymi lasami robiona do Irkucka. Te kolonie osadzone tylko dla samej poczty: gdyby zaś który chciał z niewolników w bok gdzie się schronić do lasów, zostanie od zwierząt zjedzony. […] Życzyłem sobie w tym czasie, aby już rozbójnicy mogli napaść i mnie odebrać, lecz mój oficer zapowiedział mnie uczciwie, gdyby w przypadku mieli napaść, ma rozkaz sekretny, mnie pierwszego zabić; i potem już nie życzyłem, aby podobny wypadek mógł się zdarzyć. Gdy w tej drodze zachorowałem śmiertelnie, chciałem, aby z kilka dni oficer mógł się zatrzymać; lecz odpowiedział mi na to: widzę i wchodzę bardzo w stan twój dzisiejszy, lecz ma rozkaz nigdzie się nie zatrzymywać, a w przypadku śmierci, ciało moje powinien zawieźć do miejsca przeznaczonego – (o mil jeszcze niemal trzysta). […] Kiringa kolonia leży na trakcie do Irkucka, złożona z kilkudziesiąt osady ludzi na zsyłkę posłanych, dano nam kwaterę, dość dom duży i wygodny. Okna były z tego kamienia, który się drze na arkuszowe papiery, przez które dość widać,

23. Vorlesung (6. Mai 1842)

845

na tym szkle pisze się krzemieniem lub goździem jak na pergaminie. Gdy oficer pilnujący podweselił sobie podobnież i cała warta, wtem przypatruję się oknu i widzę jakieś wiersze napisane, których było kilkanaście po rosyjsku ręką Księżny Menszykowej, która z mężem gdy była wieziona na zsyłkę w tym domu jakiś czas spoczywała, która wypłakawszy oczy ze smutku nie dojechała do Berczowych ostrowów, umarła w drodze i tam pogrzebiona została. Gdy te wiersze czytam na oknie, wchodzi bardzo stary człowiek lat ośmdziesięciu wieku, który z młodych dni będąc oficerem, do tej kolonii był zesłany. Skoro wszedł do mnie oświadczył, że jest gospodarzem, i że jego dom jest przeznaczony na spoczynek ludzi nieszczęśliwych. (Dziennik, S. 27–28, 35–37, 45–46). Während der Fahrt von Smolensk nach Jakutsk kamen drei Soldaten meiner Wache ums Leben, indem sie oben von der Kibitka stürzten und Arme und Beine brachen. Wenn sie betrunken und unvorsichtig die Berge scharf hinabfuhren, geschah es oft, daß die Kibitka umwarf und die Pferde noch über eine Viertelmeile weit jagten, ehe sie anhielten; ich aber wurde, wie ein Hering im Fass verschlossen, herumgestoßen und hatte nur dem Sack mit Stroh und Häcksel meine Rettung zu verdanken. […] Auf dieser Strecke des Weges kam ich häufig durch verschiedene beklagenswerte Kolonien und Marktflecken, wo die Bevölkerung aus den in Verbannung Geschickten besteht; fast allenthalben sah ich Gebrandmarkte und Leute ohne Nasen. Auf jeder Umspannung zeigten sich ähnlich Verunstaltete. […] Als in einem Nachtquartier ein Weib das Essen für die Wache brachte, bemerkte der Offizier, daß sie von ungewöhnlicher Gesichtsbildung war und fragte, wer sie wäre? Sie antwortete: „Ehemals Oberstin, jetzt die Frau eines Schmieds; ich bin zur ssylka (Deportation) verurteilt worden.“ Die Ursache hierzu wollte sie nicht sagen. […] So wurde ich nach Tobolsk gebracht; hier verweilten wir zwei Tage und setzten dann den Weg nach Jakutsk weiter fort. Auf dieser Straße sah ich manchmal Hunderte von Menschen beiderlei Geschlechts zur Deportation (ssylka) getrieben, die man von einer Niederlassung zur anderen unter geringer Bedeckung herüberführt, und welche kaum im dritten Jahr aus Europa an den Ort ihrer Bestimmung ankommen. Entfliehen kann da niemand, denn es gibt keine Nebenstraßen außer der, welche von Peter dem Großen durch diese wilden Wälder nach Jakutsk erbaut ist. Die Kolonien sind nur der Post wegen besetzt. Wollte aber einer von den Gefangenen irgendwo seitwärts entschlüpfen, so gäbe er sich den wilden Tieren preis. […] Ich wünschte zu jener Zeit, daß die Räuber uns anfallen und mich befreien möchten; aber mein Offizier kündigte mir offenherzig an, er habe für einen solchen Fall geheimen Befehl, mich zu töten; da ließ ich ab von meinem Wunsch. Auf dieser Reise lebensgefährlich erkrankt, bat ich den Offizier um einige Tage Rast; er antwortete mir darauf nur: Ich sehe wohl ein, wie traurig heute dein Zustand ist, aber wir haben den Befehl, nirgends anzuhalten, und wenn du sterben solltest, muß ich deinen Leichnam an Ort und Stelle bringen; es waren aber noch an 300 Meilen. […] Kiringa, eine Kolonie auf dem Weg nach Irkutsk, ist von einigen Dutzend Menschen bevölkert, die hier „deportiert“ wurden. Man gab uns dort ein ziemlich geräumiges und bequemes Quartier, dessen Fenster aus jenem Stein waren, der sich wie ein Bogen Papier in Stücke spalten läßt. Solche Scheiben sind ziemlich durchsichtig, und man kann auf ihnen mit einem Feuerstein oder Nagel wie auf Pergament schreiben. […]

846

Teil II Als der wachhabende Offizier und die ganze Wache sich berauscht hatten, betrachtete ich das Fenster und erblickte eine Anzahl russischer Verse von der Fürstin Dar’ja Michajlovna Menšikov eingegraben, die in diesem Haus auf ihrer Reise, zu der sie mit ihrem Gemahl verwiesen war, sich einige Zeit aufgehalten, die unterwegs sich die Augen ausgeweint und, ehe sie die Siedlung Berëzov erreicht, ihr Grab gefunden hatte. Als ich die Verse an dem Fenster las, trat ein achtzigjahriger Greis ins Zimmer, der in seinem früheren Alter als Offizier nach dieser Kolonie geschickt war. Er trat gerade auf mich zu und sagte, daß er der Wirt sei und sein Haus zur Beherbergung der „Unglücklichen“ bestimmt wäre.

Ein Unglücklicher bedeutet bei den Kolonisten Sibiriens, bei dieser europäischen Bevölkerung, die sich hier vermehrt hat, ebenso viel wie bei anderen ein Landsmann; es ist dieses gleichsam der Volksname. Statt z.B. zu sagen, mein Vater war Kriminalist, ein politischer Gefangener, wird dort gesagt: mein Vater war ein Unglücklicher. Wenn einst Sibirien von Rußland abfallen sollte, was gar nicht unmöglich ist, so würde dieses Volk die „unglückliche Nation“ heißen. W Jakucku przebyłem część zimy do wiosny; znalazłem Komendanta znajomego pułkownika S …, który dość w Województwie Mińskim dla rabunków był sławny. Porobiwszy wiele kryminałów w Polsce wyrobił się na komendę do Jakucka, wiele miał Polaków przy nim służących i ci tedy sekretnie mi opowiadali, wiele on ma różnych sprzętów rabownych, monstrancjów, kielichów, paten i wiele innych sprzętów kościelnych. (Dziennik, S. 47) […]. [Od Jakucka do Ochocka] drogi żadnej, tylko strasznymi górami i wąwozami, ale w konwoju było wielu Jakutów którzy wiedzieli drogą. Są znaki jeszcze drogi po kościach końskich, gdzie przez tyle już lat transporta chodzą do portu Ochocka, gdyż konie padają po drodze, część od niedźwiedzi zjedzona. […] Na każdą górę kiedyśmy się wdarli, Jakuty czynią nabożeństwo i od każdego konia wyrwawszy włosy, zawieszają na drzewach. […] Szliśmy zawsze od rana do wieczora bez popasu; stawaliśmy na nocleg zawsze nad jakąś rzeką i paszą dla koni. Wystrzegaliśmy się tylko nocować blisko udrów dla napadu niedźwiedzi; gdzie każdej nocy musiało kilka koni zginąć. […] Kupcy mieli swoje namioty, prócz tego jeszcze na twarzach sitko włosiane z płótnem, których zrzucać nie można było dla niezwyczajnego mnóstwa, komarów i robactwa w powietrzu znajdującego się. Zaś oddychać bez sitka było niepodobno, gdyż inaczej gęba byłaby robactwem napełniona. (Dziennik, S. 47, 51–53) In Jakutsk verblieb ich einen Teil des Winters bis zum Frühjahre; ich traf dort einen bekannten Oberst S …, welcher seiner Raubereien wegen in der Wojewodschaft Minsk einen ziemlichen Ruf hatte, als Kommandanten an. Nachdem er noch viele Verbrechen in Polen begangen, besorgte er sich die Kommandantenstelle zu Jakutsk und hatte viele Polen in seinen Diensten; diese beschrieben mir im Geheimen, wie viele geraubte Sachen, Monstranzen, Kelche, Kelchdeckel und anderes kirchliche Gerät er im Besitz habe. […]

23. Vorlesung (6. Mai 1842)

847

[Von Jakuck nach Ochock] gab es keine Straße, es ging über mächtige Berge und Schluchten, allerdings gab es im Konvoi viele Jakuten, die den Weg kannten. Die Wegzeichen markieren Pferdeknochen, denn seit vielen Jahren gehen hier Transporte zum Hafen von Ochock, wobei viele Pferde teils selbst fallen, teils von Bären gefressen werden. […] Auf jedem Berge, den wir glücklich erklommen, verrichteten die Jakuten ihre Andacht, und nachdem sie einem jeglichen Pferde ein Haar ausgerissen, hingen sie es an die Baume. […] Vom frühen Morgen bis zum Abend zogen wir ohne Rast. Um zu übernachten, machten wir gewöhnlich an irgendeinem Fluss oder einer Wiese Halt. Nur suchten wir die Zedernbäume zu vermeiden wegen der Bären, durch die wir jedesmal einige Pferde einbüßten. […] Die Kaufleute hatten ihre Zelte und außerdem noch über dem Gesicht gewisse Schirme aus Pferdehaaren und Leinwand, die man wegen der Menge von Mücken und anderen Insekten, mit denen die Luft angefüllt war, nicht ablegen konnte. Besonders war das Athemholen ohne diese Schirme unmöglich, sonst hätte man den ganzen Mund voll Ungeziefer bekommen.

Der General Kopeć erzählt auch noch seine Freilassung. Er hatte nämlich das Glück, in Ochotsk einen dienstfertigen Kaufmann anzutreffen, der ihm versprach, Briefe an seine Freunde zu bestellen. Jednego czasu siedzę na wyrzuconym drzewie, przypatruję się tysiącznemu stworzeniu, słyszę, że ktoś po kamieniach idzie do mnie i postrzegam człowieka dość wspaniałego w pięknym ubiorze. Zdawało mi się na pierwszym wstępie, że jakieś stworzenie wyszło z morza. Zbliża się do mnie i pyta z jakich jestem narodów człowiek: odpowiadam, ze z nieszczęśliwego. Rzecze mi: „To zapewne Polak jesteś; znam ten naród i ich interes. Ja jestem kupiec […] i powracam do Rosji. Jeżeli masz przyjaciół i familię, pisz przeze mnie a zaręczam, że dojdzie. Poświęcam ja się to na rzecz bardzo wielką, bo gdybym został zaskarżonym, że rozmawiam tylko z takim niewolnikiem, byłbym w niewolę gdzie odesłany, ale czuję aż nadto i chcę nieszczęśliwemu dopomóc. Za powrotem do stancji swojej (mówi do mnie) znajdziesz papier, pióro, atrament i lak“. […] Pobrał moje listy, które drogą handlu dostawił do Petersburgu i po śmierci już Katarzyny rozdał Polakom naszym, a nota dostała się do rąk Pawła, co mi przyniosło oswobodzenie. (Dziennik, S. 57–59). Einst saß ich an dem Gestade des Meeres aus einem Stücke Holz, das die Wellen herausgeworfen, und betrachte die tausendfältige Natur. Da hörte ich jemanden über die Steine auf mich zukommen und erblickte einen ziemlich vornehmen und schön gekleideten Mann. Im ersten Augenblicke schien es mir, als wäre er ein Wesen aus dem Meere gestiegen. Er aber trat zu mir heran und fragte, von welcher Nation ich sei; ich gab zur Antwort, von der unglücklichen. Also bist du gewiß ein Pole, sagte er, ich kenne dieses Volk und sein Bestreben. Ich bin ein Kaufmann […] und kehre nach Rußland zurück, hast du Freunde und Familie, so schreibe durch mich und ich stehe dir dafür, daß sie es erhalten werden. Zwar setze ich mich einer großen Gefahr aus, denn würde ich angeklagt, nur mit einem solchen Verbannten gesprochen zu

848

Teil II haben, so schickten sie mich auch gefangen fort; ich fühle indessen zu tief und will einem Unglücklichen helfen. In deiner Wohnung wirst du Papier, Tinte, Feder und Siegellack finden; die Wache daselbst ist von mir schon erkauft und auch der Matrose, der sich neben dir befindet. […] Er nahm meine Briefe, beförderte sie auf dem Handelsweg nach Petersburg, wo sie ein Jahr nach dem Tode Katharinas in Pauls I. Hände kamen, und das brachte mir die Freiheit.

Kopeć hatte ein inniges Gefühl für die Natur; einfach und prunklos beobachtet und berichtet er die erhabenen Naturerscheinungen des Nordens. W jesieni morze jest najrozhukańsze: słychać ustawiczne bałwany i szum największy Oceanu. Kiedy się bałwan o brzeg rozbija, natenczas cała ta niższa Kamczatka się wstrząsa. Dni bywają szare a noce najciemniejsze. Skoro uderzą bałwany i powstanie szum morza, zaraz kilkanaście tysięcy psów, które przez lato żywią się rybą na brzegach morskich, zawyją wszystkie w tym czasie a niejakiej odległości podobnież niedźwiedzie odezwą się ze swym głosem. Wulkan brzmi nieustannie i wyrzuca ognie: co za okropny wtenczas spektakl i sytuacja człowieka! Psy dopiero późną jesień wracają do swych gospodarzy, którzy już dla nich przyspasabiają ryby suszone na zimę, bo latem psy nie są dla nich użyteczne. Niedźwiedzie żywią się rybami, dopóki nie dojrzeją jagody i cedry (orzechy tameczne). Niedźwiedzi Kamczadale niewiele bardzo niewiele biją prócz najwyborniejszych czasem do zakrycia sanek, bo lepsze futra mają w wielkiej obfitości. (Dziennik, S. 83–84) Im Herbst ist die See am unbändigsten, immerwährend ist das Brausen und Tosen der Wellen zu hören. Und wenn sie an das Gestade anprallen, dann erbebt ganz Unter-Kamčatka. Die Tage sind düster, die Nächte sehr dunkel. Beginnt das Meer zu toben und schlagen die Wellen hoch, so fangen zugleich viele Tausende von Hunden, die sich während des Sommers am Ufer des Meeres von Fischen nähren, an zu heulen, und in einiger Entfernung lassen sich auf gleiche Weise die Bären vernehmen. Der Vulkan donnert fortwährend und speit Flammen. Welch ein grausiger Anblick, welch Schauspiel ist dies alsdann für den Menschen! Die Hunde kehren erst im Spätherbste zu ihren Herren zurück, die für sie gedörrte Fische zum Winter in Bereitschaft haben; im Sommer nämlich sind ihnen die Hunde unnütz. Die Bären nähren sich von Fischen, bis die Zedernüsse und Beeren reif sind. Die Kamčadalen töten sehr wenige Bären, und nur die schönsten, um die Schlitten zu bedecken, denn sie haben bessere Felle in großer Menge.

Jemand hat schon die Ähnlichkeit zwischen Kopeć und Silvio Pellico316 bemerkt; denn auch in ihm ragt der religiöse Glaube und die Ergebung hervor. Das erste Mal sehen wir in Kopeć einen Polen, der mit Hingebung das Unglück 316 Silvio Pellico (1789–1854); vgl. seine Memoiren – „Le mie prigioni“. Torino 1832; polnische Übersetzung: Moje więźenia. Pamiętniki Silwiusza Pellico z Saluzzo. T.  1. Z przypisami

23. Vorlesung (6. Mai 1842)

849

erträgt, ohne die Hoffnung zu verlieren. Niemcewicz bewahrt in seinen Denkschriften fortwährend den Haß und Zorn der alten Polen, er gehört hierin noch zur vergangenen Generation; Kopeć glaubt sich im Gegenteil von der Vorsehung getroffen, er gesteht, jeden Morgen zu Gott um seine Freiwerdung gebetet und nicht unterlassen zu haben, auf eine bessere Zukunft, wenn auch nicht für sich, so doch wenigstens für das Vaterland zu hoffen. Diese demütige und vertrauensvolle Beharrlichkeit charakterisiert schon die neue polnische Literatur; aus derselben entspringt die belebende Kraft der neuen Dichter Antoni Malczewski, Kazimierz Brodziński und vieler anderen, die ein ganzes Jahrhundert von Niemcewicz entfernt zu sein scheinen. Kopećs Reisetagebuch liefert uns auch politische Beobachtungen in Betreff der russischen Regierung in Sibirien. Wie wollen wir uns z. B, diese Herrschaft über eine kriegerische Bevölkerung und so viele Tausende unglücklicher Gefangenen, bloß durch einige Bataillone ausgeübt, erklären? Kopeć macht uns dieses durch folgendes Beispiel sehr gut begreiflich. Es traf sich, daß er einen Teil der Reise in Gesellschaft mit einer Karawane, von Jakuten, Tungusen und Ostjaken geführt, machte. Ein russischer Offizier, der als Kommandant nach Ochock bestellt war, gesellte sich auch zu ihr; obgleich er nun aber keine Gewalt über die Karavane hatte, weil sie Kaufleuten angehörte, so eignete er sich dennoch sogleich dieselbe zu. Weil ihm die Mühseligkeiten einer so schweren Reise und das Reiten lästig waren, ließ er sich von den Sibiriern auf den Händen tragen, und wo es Gefahren zu überwinden gab, verlangte er von ihnen, sie möchten sich geradezu für ihn aufopfern; kurz, er befahl diesen Leuten, die niemandem zu gehorchen gewohnt waren, wie ein Herr seinen Untertanen. Im Falle des Ungehorsams griff er zum Säbel, hieb darauf los, hatte schon einige verwundet, zuletzt liefen sie alle davon, so daß die Karavane, von ihrer Bedeckung entblößt, drei Tage auf einem Platze halten mußte, bis endlich wieder einige Kaufleute, die der Jakutensprache mächtig waren, auf die Bäume kletterten und die Zerstreuten durch Zuruf und Beschwörung beim Namen ihrer Götter heranzogen. Was erfüllte diesen Menschen mit einem solchen Machtgefühl? Nichts anderes als das Vertrauen auf die Macht seines Zaren. Niemals zweifelte er hier an seiner Gewalt und auf diese sich stützend, fühlte er sich selbst ein Herrscher. Warum hat sich kein Pole erkühnt, gegen die Jakuten so aufzutreten, wie dieser russische Offizier? Warum ließ sich der General Kopeć, der doch so oft Beweise von Mut und Tüchtigkeit gegeben, nur von einem russischen Leutenant so gelassen führen? Dieses rührt daher, weil er über sich und in sich Piotra Maroncellego. Tłumaczył Felicyan Tustanowski. Wilno 1837; deutsche Übersetzung: Meine Gefängnisse. Gauting 2002.

850

Teil II

keine so kräftige Idee fühlte, die im Stande gewesen wäre, der Kraft, die im russischen Zaren sich zeigt, die Spitze zu bieten. Ein großes und geheimnißvolles Wesen ist diese Nationalkraft, die, aus einem Zentralpunkt ausgehend, jedes einzelne Glied des Volkes belebt, selbst ohne sein Wissen. So fand der berühmte Beniowski317, als die Barer Konföderation für die Unabhängigkeit kämpfte, in sich die Kraft, einen Aufstand in Kamčatka gegen die russische Regierung zu erheben, sich der Besatzung zu bemächtigen und den Winter hindurch zu halten. Während des Aufstandes unter Kościuszko zeigten sich gleichfalls Bewegungen unter den Polen in Sibirien, obgleich sie nicht wußten, was in der Heimat sich zutrug. Nach dem Untergang Polens kam dagegen kein ähnliches Unternehmen zum Vorschein. Die französischen Gefangenen, die sich von einigen Kosaken wie eine Herde treiben ließen, begannen erst während der Siege Napoleons bei Lützen und Bautzen aufrührerisch zu werden und versuchten, sich durch die Bewachung hindurchzuschlagen. Wie soll man dies Alles erklären? Die heutige Philosophie, welche die Menschen als kleine Teilchen betrachtet, die zu einem Gesamten zusammengescharrt, von der Regierungsmaschine bewegt werden, ist dies nicht im Stande zu tun. Eher ist es noch der Physik der neuesten Zeit möglich; denn diese hat schon bemerkt, daß ein geheimer Zusammenhang zwischen den Teilchen eines organischen Ganzen, und der Gesamtheit dieser die Idee vorstellenden Bestandteile obwaltet. Es ist z.B. bekannt, daß Pflanzensäfte, wie der Wein, in der Gährung Erscheinungen zeigen, die denen entsprechen, welche wir in der lebendigen Pflanze, aus der dieser Saft zuweilen schon vor hundert Jahren gepreßt worden, ersehen können. Es ist bekannt, daß eine nördliche Baumpflanze, die nach südlichem Zonen versetzt wurde, immer zu der nämlichen Zeit ihre Blätter und Blüten entfaltet, in welcher Bäume derselben Gattung auf dem heimatlichen Boden ausschlagen. Die Birke, diesen poetischen Baum unseres Landes, sieht man in der Schweiz und sogar in Italien bis spät in den Frühling hinein unter grünen Mandeln und Kastanien kahl stehen. Und man 317 Móricz Benyovszky (1746–1786). Vgl. seine aus dem französischen Manuskript übersetzen „Memoiren – The Memoirs and Travels of Mauritius August Count de Benyowsky, Magnate of the Kingdom of Hungary and Poland. One of the Chiefs of the Confederation of Poland. Consisting of his Military Operations in Poland, his Exile into Kamchatka, his Escape and Voyage from that Peninsula through the Northern Pacific Ocean, Touching at Japan and Formosa, to Canton in China, with an Account of the French Settlement, he was Appointed to Form upon the Island of Madagascar“. London-Dublin 1790. Rezeption in Polen vgl. Juliusz Słowacki: „Beniowski“ (1841). Poema. Hrsg. Alina Kowalczykowa. Wrocław-Warszawa-Kraków 41996; deutsche Übersetzung – J.  Słowacki: „Beniowski“. Eine Versdichtung. Übersetzt und herausgegeben von Hans-Peter Hoelscher-Obermaier. Frankfurt am Main 1999; Mickiewicz ignoriert dieses Werk.

23. Vorlesung (6. Mai 1842)

851

hat sogar gefunden, daß ein früheres oder späteres Eintreten der Wärme im Frühling, wie es in jenen Erdstrichen zu geschehen pflegt, auf sie ohne Einfluß bleibt, und seine Wirkung sich erst äußert, wenn die Lufterwärmung unter ihrem heimatlichen Himmel erfolgt. Sollte man also hieraus nicht den Schluß ziehen können, daß, wenn unter so wenig belebten Dingen eine verborgene Gemeinschaft besteht, die Menschen als Wesen, die die größte und kräftigste Lebensenergie besitzen, um so fester und inniger mit einander verbunden sein müssen? Und nun lassen sich erst jene Worte der Legionisten begreifen: „Jeszcze Polska nie zginęła, kiedy my żyjemy“ („Noch ist Polen nicht verloren, so lange wir leben“), weil nämlich Jedermann, wo er sich auch befinden mag, sobald er denkt, fühlt und wirkt, die Überzeugung haben kann, daß in diesem Augenblick Millionen seiner Landsleute auf ähnliche Art denken, fühlen und wirken, wie er. Dieses unsichtbare Band hält jede Nationalität zusammen. Die Volkstümlichkeit, im erhabensten Sinne des Wortes, bezeichnet die Sendung des Volkes, den Beruf eines gewissen Vereins von Menschen, die aufgefordert von der Vorsehung, das vorgesteckte Ziel zu erreichen, gegenseitig sich unterstützen und durch dieselbe tiefe Sympathie vereint sind, wie wir sie schon im Reiche der Pflanzen sehen können, und die wir mit einem Beispiel aus der Naturgeschichte des polnischen Landes bestätigt haben.

24. Vorlesung (10. Mai 1842) Fortsetzung des Reisetagebuchs des Generals Kopeć – Das Schamanentum. Nordlicht und Sonnenaufgang in Sibirien – Der sittliche Einfluß Sibiriens auf die Polen.

Es bleibt uns noch übrig, das Bild des Naturzustandes und der Lebensart in Sibirien zu vervollständigen, und dann wollen wir den Einfluß betrachten, welchen die von den Verbannten bewirkten Eindrücke auf die Literatur und den Charakter ihres Volkes ausüben. Wir müssen hierbei bezeugen, daß uns die Einzelheiten, die wir anführen werden, den Zustand vieler Tausende von Polen kennen lehren, daß wir in ihnen die Geschichte unserer Bekannten und Freunde wiedergeben. Wir kehren also zurück zu dem Reisetagebuch des Generals Kopeć. Er erzählt uns Kleinigkeiten des häuslichen Lebens, die wir sonst nirgends berichtet finden. Die Sache, im Allgemeinen betrachtet, so ist das, was das Unglück der Handwerker und Landbauern in den zivilisierten Ländern Europas ausmacht, in Sibirien und im Norden überhaupt unbekannt. Den Ansichten unsers Zeitalters gemäß könnte das dortige Leben für ein sehr bequemes und sogar glückliches gelten. Die Sorge um die Zukunft, dieser die jetzige Generation bedrückende Alp, quält in Sibirien Niemanden. Die Sibirier brauchen sich um die materiellen Bedürfnisse nicht zu kümmern, die Lebensmittel haben sie immer sicher. Alles ist hinlänglich vorhanden: das Wild und die Fische kosten bloß die Mühe, nach ihnen hinzulangen und sie aufzubewahren, oft denkt man nicht einmal an die Aufbewahrung. Das Geld hat dort bis jetzt noch keinen Umlauf, obgleich die Regierung für die „Zivilisierung“ der Einwohner es einzuführen strebte; nur starke Getränke und Tabak stehen bei den Einwohnern im Wert. [Mój gospodarz] zrewidował moje rzeczy, to jest tytuń i różne cacka i powiedział, że mogę tu żyć po pańsku. Wziął trzy funty tytuniu, porozdawał między Kamczadałów, i za procent tylko poprzynosił mi wiele produktów do życia, co tylko mogło być u nich najlepszego, to jest: ryb najprzedniejszych wędzonych i świeżych, ptactwa różnego, jagód i mleka jeleniego. Wpadłem zaraz w lepszą energię, że już z nędzy i głodu nie umrę. (Dziennik, S. 77). [Mein Hauswirt] durchsuchte meine Sachen, nämlich den Tabak und einige Kleinigkeiten, die ihm in die Augen stachen, und sagte, daß ich hier herrschaftlich werde leben können. Er nahm drei Pfund Tabak, verschenkte ihn unter die Kamčadalen und brachte mir nur als Zinsen eine Menge Lebensmittel dafür, das Beste, was sich bei ihnen vorfand, d.h. die köstlichsten geräucherten Fische, verschiedenes Geflügel, Beeren und Hirschmilch. So bekam

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_066

24. Vorlesung (10. Mai 1842)

853

ich gleich besseren Mut, als ich sah, daß ich wenigstens vor Elend und Hunger nicht sterben würde.

Nur langsam zogen sich die Tage von Trauer und Verzweiflung dahin. W tak smutnej rozpaczy i oczekiwaniu losu, przybiega gospodarz, w którego domu mieszkałem, zbladły, zadyszany i wylękły donosząc mi, że okręt pokazuje się blisko portu. Ja mówię mu: powinieneś się z tego cieszyć, a on powiada mi na to: kto wie, co przychodzi na nim, smutek czy radość. Były tu bowiem takie przykłady, że komendant, chcąc złupić narody i wydrzeć im wszystko, donosi guberni irkuckiej fałszywie, że się buntują i nie są posłuszni, a gubernia w skutku tych doniesień dają komendantowi moc i jus gladii. Ten tedy moralny człowiek wszystkie barbarzyństwa popełnia i majątki wydziera, gdyż ledwo w lat kilka rząd guberni odbierał raporta. Teraz co rok mają komunikację przez przybywające okręty kupieckie […]. Nie wyszło godzin dwóch po uwiadomieniu przez gospodarza o zbliżającym się okręcie, gdy wchodzi do mnie komendant z kapitanem okrętu, których ja spostrzegłszy, pomimo tego, że byłem pierwej osłabiony, wpadłem w większą słabość, która mi śmiercią groziła, mniemając, że mi wyrok śmierci mojej oznajmić mają. W tym razie usłyszałem od komendanta, że Paweł I zwraca mi życie i wolność. Z początku nie wierzyłem. […] Po niejakim czasie ocuciłem się i przyszedłem do zmysłów. Proszę komendanta, aby mi dozwolono pójść na brzeg oceanu, dokąd często chodziłem: odpowiada mi, że już straży nie ma, chyba każę iść za sobą: tu już więcej wierzyć zacząłem, że jestem wolny. Udałem się na brzeg Oceanu, z dawną moją strażą, gdzie mi się wszystko opatrznie wydawało. Przed każdą burzą tysiączne pokazują się stworzenia i wszystko to z bałwanami posuwa się ku brzegom, a mnie się zdawały w oczach różne procesje nasze, zakony idące z krzyżami, niby mnie spotykając; szedłem naprzeciwko nich do morza ale mnie wstrzymano, gdyż byłem pomieszany. Za powrotem do mojego mieszkania ledwo się mogłem przecisnąć dla natłoku mężczyzn i kobiet, którym wprzódy nie wolno było się znajdować się u mnie. Każda z kobiet przyniosła jakiś prezent; różne jagody, ryby, ptactwa z uprzejmością ofiarowali. Na stoliku moim kamiennym znalazłem flaszkę araku, do czterech funtów głowę cukru i świec małych woskowych pęczek: ten prezent zrobił mi kupiec z okrętu. Wtem mój gospodarz donosi, że idzie tameczny ewangelista, ksiądz, w ubiorze kościelnym z ewangelią i ze świtą śpiewaków. Był to ksiądz wieku ośmdziesięcioletniego, od dawna zesłany a razem dla oświecenia i nauczenia wiary dzikich narodów: dla majtków i oficjalistów tam przebywających. Miał ów ksiądz sześciu chłopców zabranych na Wyspach Aleuckich, pochrzcił ich i nauczył języka rosyjskiego, z których wykształcili się tacy śpiewacy, że można ich z włoskimi porównać. Postrzegam, że prowadzą sędziwego księdza w kapie z ewangelią i trybularzem przed nim niesionym. Starałem się ja też zrobić jakąś okazałość: na prędce zapaliłem do kilkadziesiąt świeczek ofiarowanych mi przez kupca. Miałem też obrazek papierowy na ścianie, wyobrażający Jana Chrzciciela, który jadąc przez kraje moskiewskie za kieliszek wódki u żołdaka kupiłem. […] Najprzód śpiewał cztery razy ewangelię razem ze śpiewakami, które głosy tak zajmowały serca, że żaden od łez wstrzymać się nie mógł. Ja, od maleństwa nieskłonny do płaczu, zacząłem prawie ryczeć, co mi nawet

854

Teil II zrobiło ulgę od duszenia ustawicznych spazmów. Po skończonym nabożeństwie pousiadali w koło i nieprędko mogli utulić z żalu. Potrzeba było wyprawić dla nich jaką ucztę, ale nie wiedziałem z czego. Wtem przychodzi mi myśl poncz polski: miałem arak i cukier od kupca, na miejscu cytryn miałem kwas z jagód bruszników, z którym ryby na zimno jadałem, był bardzo gustowny. Kazałem wiec poncz robić w naczyniu kamiennym, objętości trzech garncy, do którego Kamczadale nalewają wielorybią tłustość i używają za lampę. Filiżanek drewnianych japońskich miałem część swoich a resztę przyniesiono od komendanta […]. Gdy zgromadzeni przy ponczu siedzimy, dopiero zaczyna każdy przypominać swoją ojczyznę ze łzami; ksiądz i komendant ubolewali, że oglądać jej nie spodziewają się wcale. Ksiądz jako tam na zawsze zesłany, a komendant przez długie tamże przebywanie od wulkanowych dymów i powietrza długo nie wytrzyma. Przy owym ponczu odzywa się komendant, powiadając mi, że ja tu jeszcze lat trzy zabawię; na com się zmieszał i zacząłem być słabszym. Rzekłem do komendanta, to ja widzę zdradzonym siebie; odpowiada mi na to, że nie, bo ten okręt co tu zaszedł dla wody i drew, przyniósł wprawdzie rozkaz uwolnienia, lecz jutro wychodzi na wyspy oceanu i dopiero z powrotem za lat dwa lub trzy, jeżeli nie będzie prędzej okazji, zabierze mnie z sobą. (Dziennik, S. 128–130, 132–134). Im Augenblick einer so traurigen Verzweiflung und Erwartung des Schicksals kommt auf einmal mein Hauswirt, ganz blaß, erschöpft und erschrocken hereingelaufen und benachrichtigt mich, daß sich ein Schiff in der Nähe des Hafens zeige. Ich sage zu ihm, nun so freue dich doch darüber; er aber sagte, wer weiß, was mit ihm kommt, ob Freude oder Leid. Es ereigneten sich nämlich hier solche Fälle, daß der Kommandant in der Absicht, die Einwohner zu pressen und völlig zu brandschatzen, dem Statthalter zu Irkutsk die falsche Nachricht von Rebellion und Ungehorsam einsandte, worauf ihm dann der Gouverneur Vollmacht und das jus gladii zugestand. Dieser moralische Mann erlaubte sich bald alle möglichen Gräuelthaten und Vermögensplünderungen auszuüben; denn die Gouvernementsregierung erhielt kaum nach einigen Jahren Berichte von dort. Jetzt bekommt sie jährlich einmal Nachrichten. Beinahe zwei Stunden waren seit dem Erscheinen meines Wirtes verflossen, als der Kommandant mit dem Schiffskapitän zu mir hereintrat. Ich bemerkte sie kaum und verfiel in Schwäche, die köstlich zu werden drohte, da ich glaubte, sie kamen mir mein Todesurteil zu verkünden. Dieses Mal vernahm ich vom Kommandanten, daß mir Paul  I.  Leben und Freiheit wiedergäbe. Anfangs glaubte ich’s nicht. […] Nach einiger Zeit erwachte ich und kam zur Besinnung. Ich bat, daß man mir erlauben möchte, an das Ufer zu gehen, wohin ich mich öfters zu begeben pflegte; der Kommandant erwiderte, es gäbe für mich keine Bewachung mehr, außer wenn ich Begleitung verlangen sollte; hier begann ich schon mehr an meine Freiheit zu glauben. Mit meiner alten Bewachung begab ich mich ans Meer, wo mir alles verkehrt vorkam. Vor jedem Sturm zeigen sich tausenderlei verschiedene Geschöpfe und alles dieses wird von den Wellen dem Gestade zugeworfen. Mir aber däuchte, als wären dies unsere Kirchenprozessionen, die Ordensbrüder mit Kreuz und Fahnen, und als kämen sie auf mich zu; schon schritt ich ihnen zum Meer entgegen, man hielt mich aber zurück, denn ich war außer mir! Bei der Rückkunft in meine

24. Vorlesung (10. Mai 1842)

855

Wohnung traf ich so viele Männer und Weiber, denen früher nicht erlaubt gewesen war, mich zu besuchen, daß ich mich kaum durchdrängen konnte. Ein jedes von den Weibern brachte mir etwas zum Geschenk; verschiedene Beeren, Fische, Vögel boten sie mir mit der größten Artigkeit an. Auf meinem steinernen Tische fand ich eine Flasche Arak, etwa vier Pfund Zucker und ein Päckchen kleiner Wachslichter; dieses Geschenk machte mir der Schiffskaufmann. Plötzlich bringt mir mein Wirt die Nachricht, daß der dortige evangelische Geistliche im Kirchenornat mit der heiligen Schrift und dem Sängerchor herannahe. Es war dies ein Priester von etwa achtzig Jahren, vor langer Zeit hierher gesandt, um zugleich die wilden Völkerschaften, die Matrosen und die verschiedenen dort anwesenden Beamten aufzuklären und im Glauben zu belehren. Dieser Geistliche hatte sechs Knaben von den Aleuten (Alaska) bei sich, die er getauft, die russische Sprache gelehrt und zu solchen Sängern gebildet hatte, daß man sie mit den italienischen vergleichen konnte. Als ich den ehrwürdigen Geistlichen im Ornat mit der Heiligen Schrift, vor ihm das Rauchgefäß, zu mir geführt sah, bemühte ich mich gleichfalls, zu einem feierlichen Empfang mich vorzubereiten. In der Eile zündete ich sämtliche Wachslichter an, die mir der Schiffskaufmann geschenkt, beleuchtete das Bild des heiligen Johannes des Täufers, welches an der Wand hing und das ich auf der Fahrt durch die russischen Länder von einem Soldaten für ein Glas Branntwein gekauft hatte. […] Der Geistliche sang aus den vier Evangelien zugleich mit den Sängern; diese Stimmen ergriffen die Herzen aller so, daß keiner sich der Tränen erwehren konnte. Ich, von Kindheit auf nicht zum Weinen geneigt, verfiel sogar in Schluchzen, was mir eine Erleichterung für mein fortwährendes, krampfhaftes Atmen verursachte. Nach beendigter Andacht setzten sich alle in einen Kreis und es dauerte lange, ehe sich die wehmutsvolle Erschütterung der Gemüter legte. Es schickte sich wohl, für sie ein Mahl zu bereiten, nur wußte ich nicht wovon. Da fiel mir der polnische Punsch ein, Zucker und Arak hatte ich vom Kaufmann, statt der Citronen diente der säuerliche Saft von Preißelsbeeren, mit dem ich im Winter die Fische kalt zu essen pflegte und der sehr wohlschmeckend war. Ich ließ also Punsch machen, in einem steinernen Gefäße von zwölf Quart Umfang, in welches die Kamčadalen sonst Wallfischtran gießen und das sie als Lampe gebrauchen. Hölzerne japanische Tassen hatte ich teils bei mir, teils brachte man die übrigen von dem Kommandanten. […] Als wir so versammelt beim Punsch saßen, da begann erst jeder seiner Heimat unter Tränen zu gedenken. Der Geistliche und der Kommandant bedauerten mit Schmerzen, gar keine Hoffnung mehr zu haben, dieselbe je wiederzusehen: der Geistliche, weil er für immer hier angestellt, und der Kommandant, weil er der vulkanischen Dünste wegen nicht allzu lange sein Leben zu fristen vermutete. Beim Punsch bemerkte auch der Kommandant, ich müsse hier noch drei Jahre verweilen, was mich verwirrte und ich einen Schwächeanfall bekam. Ich sagte zum Kiommandanten, ich sehe mich verraten, worauf er antwortet, das sei nicht der Fall, weil das Schiff, das hier wegen Wasser- und Holzmangel landete, zwar den Befehl der Freilassung gebracht, jedoch morgen nach den Inseln des Ozeans abginge und erst bei der Rückkehr nach zwei oder drei Jahren, wenn keine andere Gelegenheit sich eher treffe, mich mitnehmen würde.

856

Teil II

Erinnern wir uns jetzt hier an die Tagebücher unsers heiteren Pasek;318 welch ein großer Unterschied in den Charakteren dieser beiden Männer! Pasek, der nie weint, dem mitten unter Gefahren und den schwierigsten Abenteuern immer irgendein launiger Scherz einfällt, scheint nicht zum selbigen Volke zu gehören. In der Brust des Generals regt sich schon die Wehmut; die Religion und die Sittlichkeit beherrschen mehr seine Seele; er denkt mehr an die Zukunft des Vaterlandes, wenn jenen nur die Gegenwart beschäftigt. Eine solche Änderung haben die langen Trübsale in den Polen hervorgebracht. Wir wollen hier noch einige Bruchstücke aus Kopećs Tagebuch über die Rückreise nach Ochotsk in seinem mit Hunden bespannten Schlitten anführen. W kilka dni przychodzi komendant i donosi mi, że okręt angielski bez masztu oderwany od floty, przybył do naszego portu i wręcza mi depesze do przesłania na Irkuck do Petersburga, do ich posła. Miał komendant rozkaz surowy w takich zdarzeniach donosić to guberni irkuckiej […]. Był więc komendant w wielkim ambarasie, że nie miał okrętu do przesłania oddanych sobie depeszy, tym bardziej, że zima się już zbliżała. Pierwszych dni listopada, gdy brzegi oceanu dobrze zamarzły, robi komendant wyprawę ażardowną do Ochocka, dokąd już kilka podobnych wypraw czyniono, lecz z tych ledwo dwie doszły, inne zaś dla wielkich mrozów i napadu Czukczów lub innych narodów dojść nie mogły. Komendant jednak dopełniając swojego obowiązku, zaprzęga do trzystu psów i jeleni zbiera świtę zbrojną, kilkunastu tłumaczów, ryb suszonych dla ludzi i psów równie jak mięsa jeleniego na trzy miesiące przysposabia i zamarzłymi brzegami oceanu wkoło tej całej ziemi, dziesięć razy dalej, niebezpieczniej i trudniej jak morzem, puszczamy się w podróż. […] Nastąpił dzień wyjazdu, odprawione było nabożeństwo: tameczny ewangelista pobłogosławił mnie i zrobił pamiątkę srebrną z napisami i wielu krzyżami w tych wyrazach: „Tobie krzyżu kłaniamy się i zmartwychwstania drugiego oczekujemy“. Ten upominek drogi do dziś dnia u siebie konserwuję. […] Krzyknęła razem cała świta najokropniejszym głosem […] Wnosić wtedy można, z jaką szybkością psy ruszyły: zdawało się, że od tak prędkiej jazdy powietrze głowę zrywa i cały już człowiek został odurzony. […] Sanie i psy idą po wierzchu zlodowaciałego śniegu, dla tego jest niezmiernie lekko; popasu nie bywa tylko nocleg. […] Stanąwszy na noclegu wybierają miejsca leśne albo gdzie morze wiele drzewa powyrzucało: tam dopiero psy wyprzężone zwinąwszy się w okręg zasypiają, a w godzin dwie każdy a nich dostaje po jednej suszonej rybce i tym pokarmem trwa całą porę. Cała świta ma dość pracy, bo musi na każdym noclegu wielką w śniegach wykopywać jamę i sięgać aż do ziemi. […] Wiatr tam nie dochodzi. (Dziennik, S. 136–138, 140–142). Nach einigen Tagen erscheint bei mir der Kommandant und verkündet, daß ein englisches Schiff ohne Mast, von der Flotte verschlagen, in unseren Hafen eingelaufen sei; zugleich händigt er mir Depeschen ein, um sie so über Irkutsk nach Petersburg zu senden. Der Kommandant hatte den strengen Befehl, solche Ereignisse dem Gouvernement von Irkutsk zu melden […]. Der 318 Vgl. die 2. Vorlesung (Teil II).

24. Vorlesung (10. Mai 1842)

857

Kommandant war in großer Verlegenheit, weil er kein Schiff zur Verfügung hatte, um die Depeschen zu senden, zumal auch der Winter nahte. Als Anfang November die Ufer des Ozeans vereisten, unternahm der Kommandant eine gefährliche Expedition nach Ochock, wohin man schon einige Expeditionen schickte, wobei nur zwei glückten, während andere wegen Frost und wegen der Überfälle der Čukčen und anderer Stämme Ochock nicht erreichten. Der Kommandant aber, seiner Pflicht nachkommend, machte eine gefahrvolle Expedition zu Lande: er ließ gegen 300 Hunde und Hirsche anspannen, sammelte eine bewaffnete Bedeckung, einige Dolmetscher, die nötige Menge gedörrter Fische und Hirschfleisch sowohl für die Menschen als Hunde auf drei Monate, und den gefrorenen Meeresufern entlang machen wir uns auf die Reise, welche um diesen ganzen Erdteil herum zehnmal weiter, gefährlicher und schwieriger als zur See war. […] Am Tage unserer Abreise wurde noch eine Andacht verrichtet. Der dortige Geistliche segnete mich und verehrte mir ein silbernes Andenken mit vielen Kreuzen und Inschriften mit den Worten: „Vor dir, o Kreuz, beugen wir uns und harren der zweiten Auferstehung.“ Dieses teure Andenken bewahre ich noch heute mit Liebe. […] Mit einem Male schrie das ganze Gefolge schrecklich auf […]. Darnach läßt sich denken, mit welcher Eile die Hunde davonflogen; es schien, als wollte einem die Luft den Kopf abreißen, so ward man von der schnellen Fahrt betäubt. […] Der Schlitten und die Hunde gehen auf der Oberfläche des gefrorenen Schnees, weshalb es sehr leicht geht; angehalten wird bloß zur Nacht. […] für die Nachtruhe sucht man einen waldigen Ort oder eine Stelle, wo die See viel Holz ausgeworfen hat; dort legen sich erst die losgespannten Hunde schlafen. Nach Verlauf zweier Stunden bekommt jeder ein gedörrtes Fischlein und bei diesem Futter dauert er 24 Stunden aus. Das ganze Gefolge hat viel Arbeit, denn es muß bei jeder Übernachtung im Schnee eine große Grube ausheben und bis zur Erde gelangen. […] Dort ist es windstill.

So machte Kopeć die Fahrt, auf welcher er vor den Niederlassungen der Kamčadalen vorbeieilte, die so verschneit waren, daß eine derselben nur durch die Hunde ausgewittert wurde. Hier mußten sich die Reisenden mit Stricken durch das Fenster hinunterlassen, welches zugleich als Schornstein diente. Er erzählt ein merkwürdiges Ereignis, das ihm an einem solchen Ort begegnet ist. Mówi wtem do mnie ewangelista, że ja, mieszkając przez lat dwa w niższej Kamczatce, nie wiedziałem o ich skarbach, które się tam znajdują. Jakoż rozwija korę brzozową i pokazuje mi kilka grzybów suszonych powiadając, że one są cudowne, rosną na jednej tylko wyniosłej górze blisko wulkanu. Uważ Panie, rzecze Ewangelista, że te futra dostałem za grzyby i oni gotowi cały majątek oddać gdybym ich posiadał więcej. Te grzyby mają taką własność, że kto ich zje, widzi swoją przyszłość. Ponieważ nie mogłem sypiać, radzi mi więc, abym zjadł jeden. Wahałem się długo, lecz namyśliwszy się zjadłem połowę, co mi najmilszy sen sprawiło. Ujrzałem się nagle w najprzyjemniejszych i najgustowniejszych ogrodach, wśród rozlicznych kwiatów, między kobietami ubranymi w białe suknie, i fetowały mnie różnymi owocami i jagodami i tysiące innych przyjemności. Spałem dwie godziny więcej nad mój sen zwyczajny. Na drugą noc namawia mnie

858

Teil II abym zjadł całego. Ja byłem już odważniejszy, zjadłem grzyb cały i w kilka minut zasnąłem. Obudziłem się w godzin kilka, niby posłany z tamtego świata, aby mnie ten ksiądz wyspowiadał. Mogła być północ, gdy zbudziłem Ewangelistę, który wziął stułę i mnie spowiadał. W godzinę zasnąłem znowu i spałem aż do dwudziestu czterech godzin. Nie śmiem o moich w tym śnie okropnych widzeniach nadmieniać. Przez com przechodził i com widział. Później przywiódł mnie ten grzyb do wielkiej niespokojności i melancholii, bo temu wszystkiemu długo wierzyłem. Ostrzegałem też mojego Ewangelistę, co on złego robił, aby się poprawił. Bo to wszystko widziałem i przyszłość swoją: co mnie tym więcej czyniło niespokojnym a później niektóre z tych sennych marzeń sprawdziły się na jawie. Nadmieniam tylko, że od powzięcia rozumu czyli od lat pięciu lub sześciu, postępowanie całego życia w dalszych latach; wszystkie osoby jakie tylko znałem w życiu i którymi przyjaźń mnie łączyła; wszystkie zabawy i czynności z kolei, dzień po dniu, rok po roku, i przyszłość następną, wszystko to widziałem przed sobą. (Dziennik, S. 144–145). Der Geistliche sagte mir, daß, obgleich ich zwei Jahre in der Unter-Kamčatka gewesen, ich doch von seinen Schätzen nichts wüßte. Zugleich entfaltetete er eine Birkenrinde, und zeigte mir einige trockene Pilze, mit der Bemerkung, sie wären wunderbar und wüchsen nur auf einem einzigen Berg in der Nähe des Feuerberges. Diese Pilze haben die Eigenschaft, daß, wer sie ißt, seine Zukunft sieht. Weil ich nicht schlafen konnte, so gab er mir den Rat, einen zu essen. Lange Zeit konnte ich mich nicht entschließen, endlich besann ich mich und genoß die Hälfte eines Pilzes, was mir den angenehmsten Schlaf bewirkte. Ich erblickte mich plötzlich in den lieblichsten und geschmackvollsten Gärten, unter zahlreichen Blumen, zwischen weiß gekleideten Jungfrauen, die mir verschiedene Früchte, Beeren und tausend andere schöne Sachen anboten. Die nächste Nacht redete er mir zu, ich möchte einen ganzen essen. Ich war schon dreister und aß einen ganzen Pilz, einige Minuten darauf verfiel ich in Schlaf. Nach einigen Stunden erwachte ich, als wäre ich aus der anderen Welt gesandt, um bei diesem Geistlichen zu beichten. Es konnte Mitternacht sein, als ich denselben weckte; er nahm die Stola und ließ mich beichten. In einer Stunde schlief ich wieder ein, und erwachte erst nach 24 Stunden. Ich wage nicht, alle die schrecklichen Bilder dieses Traumes anzuführen; was ich darin erlebte und erblickte, beunruhigte mich um so mehr, als einige von diesen Traumbildern später in Erfüllung gingen, denn ich sah wirklich meine Zukunft. Ich führe nur an, daß mir von dem Augenblicke, wo ich verständig wurde, nämlich von meinem fünften oder sechsten Lebensjahre an, die Handlungen meines ganzen Lebens in den folgenden Jahren, alle Personen, die ich im Leben gekannt und mit welchen ich durch Freundschaft verbunden war, alle meine Vergnügungen und Taten in ihrer Reihenfolge, Tag für Tag, Jahr für Jahr und die darauffolgende Zukunft vor meinen Augen standen.

Bei seiner Rückkehr in die Heimat erzählte Kopeć öfters von diesem Traum und was darin ihm von Polens künftigem Los kund geworden; jedoch von einer ungläubigen Generation umgeben, die über diesen ganzen Bericht scherzte, wollte er nicht einmal die Einzelheiten in seinen Tagebüchern erwähnen.

24. Vorlesung (10. Mai 1842)

859

Wir machten schon früher die Bemerkung, daß die Vorsehung, um die polnische Republik für den Mißbrauch des politischen Lebens, für die zügellose Vielrednerei zu strafen, dieselbe zu einem langen, schrecklichen Schweigen verurteilt hat. Dasselbe Mittel gebrauchte sie gegen die allzu üppig sich entfaltende Intelligenz. Die Verbannung nach Sibirien ist die weitere Fortsetzung der Besserungsmittel, welche die Vorsehung für die Slaven des polnischen Zweiges erkoren. Das grausige, dumpfe Sibirien ist zugleich ein Land, wo die innere Beschaulichkeit sehr angeregt wird. Man kennt dort keine andere Religion als das Schamanentum. Alle Reisende aus Europa, die Alles nach ihren mitgebrachten Begriffen beurteilen, sehen in den Schamanen nichts als Tausendkünstler und Taschenspieler; sie legen gar kein Gewicht auf ihre Religionsübungen, und wollen nicht einmal das Wesentliche ihres Glaubens näher untersuchen. Aber aus den Berichten der Polen, besonders aus einem Werk, welches vor einigen Jahren ein ungenannter Pole319 herausgegeben, kann man schon einigermaßen begreifen, was der Schamanismus ist. Er sagt, daß die Schamanen sich sogar durch eine besondere Organisation auszeichnen, schon unter den Kindern erkennt man die künftigen Schamanen. Diese Knaben sind gewöhnlich düster, sie fliehen die Menschen, begeben sich in einsame Steppen, um mit der Natur und der Gottheit zu leben. Durch die Schamanen allein teilt sich hier eine höhere Eingebung mit, nur unter ihnen bewahrt sich ein Inbegriff religiösen Wissens; sie repräsentieren unter den Sibiriern gleichsam das moralische Leben. Die Verbannten, aus den verschiedensten Ländern nach Sibirien „zusammengeschickt“, bilden ebenfalls eine gewisse Art Schamanen. Abgeschnitten von der Geselligkeit, angewiesen einsam zu leben, sehen sie sich gezwungen, in die Tiefen ihres Geistes zu blicken, die Vergangenheit zu betrachten, ihr Gewissen zu durchforschen. Die Geschichte des Generals Kopeć zeigt sich alsbald wiederholt in der Geschichte Polens. Das Zusammentreffen vieler Umstände zwang kurz darauf einen bedeutenden Teil der Nation, einen ganz ähnlichen Weg zu solchen romanhaften Abenteuern zurückzulegen, nämlich die Geschichte ihres Landes zu erwägen, das Gewissen des ganzen Volkes zu ergründen, das gesammte Leben des Volkes der alten Tage von seiner Kindheit bis in die spätesten Jahre mit einem Blicke zu ermessen. Um das Bild Sibiriens zu beenden, wollen wir noch ein Bruchstück aus dem Werke desselben Verfassers anführen, dem die Erzählung von den Schamanen 319 Józef Kobyłecki: Wiadomości o Syberii i podróże w niej odbyte w latach 1831, 1832, 1833, 1834. Tom  I–II. Warszawa 1837. [http://www.dbc.wroc.pl]. Vgl. auch den Sammelband „Sybir romantyków“. Hrsg. Zofia Trojaniczowa, Jerzy Fiećko. Poznań 1993.

860

Teil II

entnommen. Er beschreibt uns das Nordlicht und den Sonnenuntergang wie folgt: Noc w porze zimowej, jak dzień w porze letniej, trwa tu prawie ciągle; noc ta jest długa, smętna, ale okazałą, niekiedy czarującą, gdy ją oświeci zorza północna; granatowe niebo iskrzy milionami gwiazd, ale one nie ogrzewają ani nie oświecają, lecz, podobne do błyszczących oczu nadpowietrznych duchów, spoglądają z nieba z wyrazem żalu i politowania na tę smutną ziemię. I czyli to czasem nie wpływem migania tych nadpowietrznych świateł wybuchnął w całej rozciągłości północy płomień, płomień niebieski, jakiego nigdy ręka ludzka nie wznieciła, płomień podobny kolorem do tych płomieni, w jakie wyobraźnia nasza stroi duch niebieskie! płomień delikatny, przeźroczysty, jak cień się jawiący! Nie ma dla niego na tej ziemi ani nazwiska, ani porównania; nie ma bowiem tej jaskrawości słonecznej, ćmiącej oczy nasze: przypatrując się tylko niebu, małe można o nim dać wyobrażenie, porównywające go do Drogi Mlecznej. Z tego zorzowego światła w mgnieniu oka wzniosły się aż pod zenit białe promieniste słupy i rozpoczęły między sobą czy walkę, czy też dziwnej rozmaitości grę biegającą, może tylko zrozumianą przez duchy, mieszakańce nadpowietrzne. Słupy te posuwały się z niepojętą dla śmiertelnika szybkością; zdawało się, że cisną się jedne za drugie, obalają się nawzajem, jednak bez uszkodzenia i nie przerywając bynajmniej swojego niebieskiego ciała; że przenikają jedne przez drugie […]. Niedługo znowu pokazały się nowe dziwaczniejsze jeszcze zjawiska, jakby uniesione gniewem i krawawą zemstą; pustynia, cała dotychczas blada, nagle powlekła się ognistą łuną. Zjawiska te, podobne do niezwyczajnego wymiaru walców ciemnopurpurowych, z równą szybkością przebiegając jak poprzednie słupy, podobnie wnosząc się, tworząc i znikając, w podobny obłęd jak pierwsze wprowadzają natężoną uwagę badacza; czym by były i co by te nadzwyczajne, dziwne i czarodziejskie zjawiska znaczyły, nikt dotąd nie wytłumaczył: równie niedowiarek, jak mędrzec od dawna mozolą się nad ich objaśnieniem. Zabobonny Tunguz mniema, że to są duchy walczące pomiędzy sobą i wstępnym bojem załatwiające swe nieporozumienia i spory; ale lepiej można by powiedzieć, że to są senne marzenia śpiącej natury, objawiające się oczom ludzkim pod taką postacią, pod jaką zmysłom człowieka objawia się sen przykrego spoczynku. […] W miesiącu styczniu, w godzinach wieczornych albo raczej w godzinach nocy, by noc już od końca listopada trwa ciągle, spodziewają się północni mieszkańcy i z ustęsknieniem oczekują powrotu słońca […] Przywykli oglądać to ożywiające ognisko, pożegnawszy się z nim wieczorem, nie pomyślą nawet o jego wschodzie – jutro rano – mówią obojętnie; lecz cóż by rzekli, gdyby kto powiedział: Jutro dnia nie będzie! Słońce długo, długo nie pokaże się na widnokręgu i ciągła, kilkomiesięczna noc okrywać będzie ziemię cieniem swoim. Jakże pożądanym byłoby naówczas okazanie się jego, z jaką niecierpliwością czekano by go, z jakim uniesieniem i radością witano by pierwszy jego promień […] a sam dzień pierwszego wschodu jest dniem uroczystości mimowolnie religinej […]. Z wierzchołka wznoszącej się skały, blisko ujścia Kołymy, widać przedmioty, chociaż dzikie i niezupełnie wyraźne, lecz okazałe; od południa i zachodu rozciąga się okryta śniegiem tundra nie zmirzona okiem; od strony północnej i wschodniej morze spokojne, nieporuszone jak wieczność, okryte kryształowymi,

24. Vorlesung (10. Mai 1842)

861

czarodziejskimi górami, gorejącymi różnokolorowym światłem przy odbiciu się o nie zorzy; ale każdy z mieszkańców tutejszych spogląda z niecierpliwością na północno-wschodnią stronę – wie bowiem, iż tam pierwszy spostrzeże promień słońca! […] Wtem z wierzchołka góry rozlega się głos radośny, głos zwiastujący przybycie ożywiającego wszelkie istoty światła, w krótkim wyrażeniu przybiegunowego mieszkańca: „Otóż jest! otóż jest!“ i złoty brzeg słońca pokazuje się spoza widokręgu, jaśniejące nad miarę promienie jego w mgnieniu oka rozsypują się na miliony brylantowych iskier szronem obciążonej atmosfery i błyszczą w postaci iskrzących się gwiazd po zwierciadlanych powierzchniach gór lodowatych; morze w odległości przedstawia wyobraźni czarodziejskie baszty, zamki i miasta jakby z czystego utworzone kryształu, ale nie ręką ludzką, bo nikt ze śmiertelnych dotknąć się ich nie mocen! Rozmaite widziadła to się zbliżają, to znów się zagłębiają w przestrzeni jego po toczących bałwanach, i niespodziewanie najodleglejsze przedmioty zdają się nie być dalsze od oczu jak koniec wyciągnionej ręki człowieka […]. Niedługo przecież trwa pociecha tutejszego mieszkańca; słońce albowiem, zaledwie oddzieliło się od widokręgu i cokolwiek się wzniosło, już znowu zachodzić zaczyna i wkrótce się chowa, tworząc w przeciągu jednej godziny poranek i wieczór.320 Im Winter ist hier fast beständig Nacht, im Sommer wieder beständig Tag; eine solche Nacht ist lang, wehmuthsvoll, aber erhaben, zuweilen bezaubernd, wenn sie das Nordlicht erleuchtet; der dunkelblaue Himmel funkelt von Millionen heller Sterne, aber sie wärmen nicht, sie leuchten nicht, sondern sie flimmern wie die glänzenden Augen überirdischer Wesen mit einem Ausdrucke des Schmerzes und des Mitleids auf diese traurige Erde hernieder. Und, ob vielleicht durch den Einfluß dieser zitternden Himmelslichter, von Zeit zu Zeit strömte plötzlich eine Flamme über den ganzen Norden aus, eine blaue Flamme, wie sie noch nie von Menschenhand entstanden, höchstens jenen Lichtstrahlen ähnlich, in welche unsere Phantasie die himmlischen Geister kleidet! eine zarte durchsichtige Flamme, schnell wie ein Schatten vorüberwandelnd! Es gibt auf Erden für sie keinen Namen, keinen Vergleich, denn sie hat nicht jene Feuerröthe der Sonne, die unsere Augen blendet; den Himmel betrachtend, kann man sich nur eine geringe Vorstellung machen, wenn man sie mit der Milchstraße vergleicht. Aus diesem Nordlichte schossen schnell wie der Blitz flammenhelle, bis an den Zenith reichende Säulen und begannen unter sich einen Kampf oder vielmehr ein erstaunlich mannigfaltiges, bewegtes Spiel, vielleicht nur Geistern und überirdischen Bewohnern verständlich. Diese Säulen schossen mit einer dem Sterblichen unbegreiflichen Schnelligkeit; es schien, als würfen, drängten und stürzten sie einander, ohne sich jedoch zu beschädigen und ihre blauen Körper zu brechen; als flögen die einen durch die anderen hindurch […]. Bald kamen neue, noch erstaunlichere Gestalten, welche in Zorn und blutroter Rache zu erglühen schienen; die bisher totenbleiche Einöde überzog sich plötzlich mit Feuersglut. Diese Bilder, unermeßlichen, dunkelpurpurnen Walzen vergleichbar, 320 Kobyłecki, op. cit., Bd. II, S. 2–5, 7–11.

862

Teil II fuhren durch einander mit derselben Geschwindigkeit, wie die vorigen Säulen, kamen empor, wuchsen und verschwanden, und machten ebenso wie jene den aufmerksamen und gespannten Zuschauer bestürzt. Was diese außerordentlichen, wunderbaren und zauberischen Erscheinungen sind und was sie bedeuten, hat bis jetzt Niemand erklärt, obgleich der Gelehrte wie der ungläubige Spötter schon lange Zeit sich Mühe geben, darüber Aufschluß zu finden. Der abergläubische Tunguse wähnt, daß dies Geister sind, die mit einander ringen und in diesem Angrifsskampf ihren Zwist und Hader schlichten; aber es wäre vielleicht besser zu sagen, daß dies lebhafte Träume der schlafenden Natur sind, die sich den Augen des Menschen unter solcher Gestalt kund geben, wie seinen Sinnen die Erscheinungen eines schweren Menschentraumes. Im Monat Januar in den Abendstunden oder vielmehr in den Stunden der Nacht, welche seit dem November immer fortdauert, hofften und erwarteten die Einwohner des Nordens mit Sehnsucht das Wiederkommen der Sonne. […] Leute, die dieses belebende Licht zu genießen gewöhnt sind, nehmen von ihm am Abend Abschied und denken nicht einmal an sein Wiederkommen. Morgen – sagen sie gleichgültig; aber was würden sie dazu meinen, wenn jemand ihnen sagte: Morgen wird es keinen Tag geben! Die Sonne wird lange, lange Zeit am Himmel nicht erscheinen, und eine beständige Nacht wird mehrere Monate hindurch diese Erde mit ihrem Schatten umhüllen. Wie würde alsdann der Sonnenaufgang erwünscht sein, mit welcher Ungeduld würde man ihn erwarten, mit welch einem Entzücken und mit welcher Freude den ersten Strahl begrüßen! […] und an dem Tage des ersten Aufgangs tritt unwillkürlich eine religiöse Feier ein […]. Auf dem Gipfel des Felsen, der sich an der Kolyma erhebt, erblickt man Gegenstande, obgleich nur verworren und nicht ganz deutlich, doch großartig geformt. An der nördlichen und östlichen Seite erstreckt sich das Meer, ruhig, unbeweglich, wie die Ewigkeit von zauberischen Kristallbergen bedeckt, in der Morgenröte mit tausendfältigen Farben glühend. Jeder Einheimische schaut ungeduldig nach dieser Seite hin, weil er weiß, daß dort der erste Sonnenstrahl sich zeigen wird. […] Da erschallt von dem Gipfel des Berges der freudige Ruf, welcher die Ankunft des alle Wesen belebenden Lichtes verkündet, der Ruf in den kurzen Worten des Polarbewohners: Es ist da! Es ist da! und der goldne Rand der Sonne erscheint am Horizonte. Seine über die Maßen glänzenden Strahlen zerstreuen sich augenblicklich in Millionen Brillantfunken in der mit Reif gefüllten Atmosphäre und strahlen wie feurige Sterne auf der Spiegelfläche der Eisberge. Das Meer stellt der Phantasie in der Ferne zauberhafte Türme, Schlösser und Städte dar, als wären sie aus reinstem Kristall erschaffen, doch nicht von Menschenhand, denn kein Sterblicher vermag sie anzurühren. Verschiedene Gestalten kommen näher und versinken wieder in die Tiefen unter die dahinrollenden Wellen, unverhofft scheinen die fernsten Gegenstände mit der Hand erreichbar zu sein; […] Indessen dauert die Freunde der hiesigen Bewohner nicht lange; denn kaum hat sich die Sonne ein wenig emporgehoben, so beginnt sie schon wieder zu sinken und bald verschwindet sie ganz, indem sie in einer Stunde den Morgen und den Abend abschließt.

24. Vorlesung (10. Mai 1842)

863

Dieses Einsiedlerleben, dies Leben mit sich selbst und der Natur, mit einem Wort, solch ein Leben, wie das der Verbannten in Sibirien, prägt sich erst in der polnischen Literatur ab. Alle diese Unglücksfälle, die auf die Polen hereinbrachen, scheinen dazu bestimmt, um sie von den weltlichen Dingen abzuziehen, jedes Band zu zerreissen, das sie früher an die materielle und intellektuelle Kraft fesselte, um sie von allem, was die Erdenmacht ausmacht, zu trennen und zu zwingen, sich mit sich selbst zu beschäftigen, aus sich selbst eine Kraft hervorzubringen. Dieser moralische Einfluß läßt sich auch im politischen Leben bemerken. Man kann sagen, daß Sibirien die verschiedenen Volksklassen einander näher gerückt, und die Kluft zwischen den Ständen zu beseitigen begonnen hat. Der mächtige Große, der Edelmann, der Landmann müssen dort die nämliche Arbeit verrichten, sie jagen zusammen und leben unter einem Dach. Der Hochmut, das Laster des polnischen Adels, das Gefühl von Vorrechten vor allen übrigen Menschen büßt besonders bei den der sibirischen Verbannten seine Strafe. Der Edelmann verliert dort nicht nur alle Vorrechte, sondern sogar den Namen, wird zu einer bloßen „Nummer“. Der General Kopeć, der Sprößling einer berühmten Familie, konnte sich zuweilen seines eignen Namens nicht erinnern. Das Elend der Verbannung brachte das polnische Volk auch mit anderen slavischen Zweigen in engere Berührung. Sonst wäre es fast unmöglich gewesen, die Polen den Russen zu nähern. Denn was konnte ein unabhängiges, freies, auf seine Freiheiten stolzes Volk für eine Gemeinschaft mit einem sklavisch gesinnten, bedrückten, seit Jahrhunderten an das Joch gewöhnten Volke haben? Das eine wie das andere hat die Vorsehung hierher geführt, damit beide über dem irdischen Herrn einen höheren Herrn suchen, damit sie im Gefühl der Notwendigkeit göttlicher Hilfe sich vereinen. Von nun an atmet wenigstens der russische und der polnische Verbannte ein und dasselbe Gefühl. Man kann sagen, daß erst im Schoße des Unglücks und der Leiden das erste Band einer innigen Verbrüderung der Slaven geknüpft wurde. Die Tschechen, die ihre Volkstümlichkeit nur noch auf die Religion stützen können, die Russen, die aller Aussicht auf Abwerfung des Joches beraubt, die Polen, die in Druck und Verbannung seufzen, – alle müssen gleichzeitig zu Gott ihre Zuflucht nehmen.

25. Vorlesung (17. Mai 1842) Erlöschen der Hoffnungen der Polen nach dem Frieden im Westen – Die Politiker wenden sich an den Zar Alexander  I. – Charakter des Zaren – Der Fürst Adam Czartoryski – Napoleons Siege in Österreich und Preußen. Rückkehr der Legionen ins Vaterland – Der Vertrag zu Tilsit – Napoleons Absichten über das Schicksal Polens – Das Großherzogtum Warschau – Die Legionisten und Inländer werfen sich gegenseitig Exaltation vor – Was ist unter politischer Exaltation zu verstehen? – Der slavische Stamm und das polnische Volk sind bestimmt, eine neue Gesellschaftsordnung zu schaffen – Welche Menschen haben Neigung für Polen und welche Widerwillen?

Bei Eröffnung dieser Vorlesung machte der Professor bekannt, daß unter den an ihn gerichteten Briefen, seinen Vortrag betreffend, besonders der Brief eines Russen321 seine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen, und daß er von den gerechten, zuweilen sogar tiefen Bemerkungen Nutzen ziehen würde. Auf jedes Einzelne könne er natürlich nicht antworten, nur müsse er sich dagegen feierlich verwahren, als beabsichtige er durch seinen Vortrag dem Hass der Polen gegen die Russen Nahrung und Stärke zu geben. Dem Briefsteller ist wahrscheinlich nicht bekannt, bemerkte Herr Mickiewicz, wie gewisse öffentliche Schriften diese Vorlesungen gerade des entgegengesetzten Strebens anklagen, und dies sollte man wenigstens für einen Beweis der Unparteilichkeit gelten lassen. Wenn der Korrespondent seine Namensunterschrift gegeben hätte, würde er ihm kategorisch auf jeden Vorwurf geantworet haben. Nach dieser Erwähnung kehrte der Professor zur Literatur und politischen Geschichte, wo er am Ende des 18. Jahrhunderts stehengeblieben, zurück. Die letzten Jahre dieses Jahrhunderts waren für die Polen die empfindlichsten. Ihres Landes beraubt, sahen sie auch noch alle Hoffnung auf die Zukunft schwinden. Die Könige, Kabinette, Kammern und Völker, von dem langen Kampfe ermüdet, sehnten sich nach dem allgemeinen Frieden. Schon waren die Grundbedingungen zum Friedensschluss zwischen Frankreich, England und Österreich unterzeichnet; Rußland zeigte sich gleichfalls geneigt und tat schon Schritte, um in nähere Verhältnisse mit der französischen Republik zu treten. Alle Welt überließ sich der Freude; ein Volk gab es aber, das den Frieden

321 Aleksandr Aleksandrovič Čumikov (1819–1902), der 1842 die Vorlesungen von Mickiewicz besuchte und seine „russophobe“ Haltung kritisierte; vgl. seinen Beitrag „O russofil’stve Mickeviča“, in: Russkij archiv. Istoriko-literaturnyj sbornik. Hrsg. Petr I. Bartenev. Moskva 1872, vyp. II, S. 426–432. [http://www.runivers.ru]. Vgl. dazu Bogusław Mucha: Rosyjscy słuchacze paryskich prelekcji Adama Mickiewicza o literaturze słowiańskiej. In: Pamiętnik Literacki 1994, z. 3, S. 123–146; hier S. 131–132.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_067

25. Vorlesung (17. Mai 1842)

865

fürchtete. Die Nachricht über die dem Abschluss sich nahenden Bündniss erfüllte das ganze alte Polen mit Schrecken. Dennoch hatte Niemand während der Kriege mehr als die Polen selbst gelitten. Die polnischen Provinzen, von Hungersnot getroffen, mußten noch die russischen Heere mit Lebensmitteln und Rekruten versehen. Polnisches Blut floß in Strömen auf allen Schlachtfeldern in den österreichischen, preußischen, russischen und französischen Reihen. Brüder mußten gegen Brüder schlagen, und verließen sie die eine Fahne, um zur anderen überzugehen, so gaben sie sich im Falle der Gefangennehmung dem Kriegsgericht und einem schimpflichen Tod preis. Dessenungeachtet war ihnen dieser schreckliche Zustand erträglicher als der Frieden. Der polnische Diplomat, Graf Michał Ogiński322, von dem Komitee zu Paris in das Hauptquartier Bonapartes gesandt, erkrankte plötzlich bei der Nachricht vom Friedensschluß, viele andere Polen wurden bei dieser Neuigkeit wahnsinnig. Nur der General Dąbrowski stand, obgleich von Seelenschmerz und Trübsinn auf das Tiefste ergriffen, dennoch fest unter seinen Kriegern, besserer Zeiten harrend. Polens politische Literatur verschwand nun auf lange Zeit. Diejnigen, die ihre Aussichten an das Interesse dieser oder jener Partei geknüpft hatten, verließen zu allererst das Feld der Politik, als sie sich in ihren Berechnungen durch die neue Wendung der Dinge getäuscht sahen. Wir wollen hier den wichtigsten unter ihnen, Józef Kalasanty Szaniawski323, erwähnen. Dieser, in der Revolution des Jahres 1794 der eifrige Patriot, später Terrorist und Häuptling eines französischen Klubs, zog sich voll Verzweiflung in den Hintergrund und suchte Trost in der Philosophie. Er war der Erste, der den Polen die deutsche Philosophie zuführte.324 Seine ganze Geisteskraft wandte sich jetzt auf Ergründung der Systeme, und auf Umherschwärmen in Träumereien. Nachdem er sein bürgerliches Leben auf die engsten und alltäglichsten Grenzen beschränkt, ersetzte er sich den Mangel der wirklichen Freiheit, durch eine erträumte, indem er sich beliebige Fragen aufstellte und nach Belieben löste. Wäre er ein Deutscher gewesen, so hätte ihm dies gewiß gänzlich genügt, er hätte fortwährend geschrieben, kühne Systeme geschaffen, und dabei ein niedriges, prosaisches Leben in aller Stille fortgesponnen; aber da der Beruf des polnischen Volkes und vor allem der politische schwere Pflichten auf ihn lud, wurde er nach und 322 Mémoires de Michel Oginski sur la Pologne et les Polonais, deputs 1788 jusqu’a la fin de 1815. Tom I–II. Paris1826; polnische Übersetzung: Pamiętniki Michała Kleofasa Ogińskiego o Polsce i Polakach: od roku 1788 aż do końca roku 1815. Tom 1–2. Poznań: 1870; zugänglich in „Podlaska Digital Library“: [http://pbc.biaman.pl]; vgl. auch – Andrzej Załuski: Michał Kleofas Ogiński. Życie, działalność i twórczość. London 2003. 323 Józef Kalasanty Szaniawski (1764–1843). 324 Vgl. Wiktor Wąsik: Historia filozofii polskiej. Warszawa 1966, tom II, S. 18–40.

866

Teil II

nach Zensor, Spion und fast Landesverräter. Als Schriftsteller gebührt ihm eine hohe Stelle in der Geschichte der polnischen Philosophie. Praktisch gebildete Männer, früher Beamte, Reichstagsabgeordnete, Senatoren, achtungswürdige und eifrige Bürger, denen aber die der neuen Generation nötige Spannkraft fehlte, zogen sich gleichfalls von der Politik zurück. Der rühmlichste Repräsentant dieser Gattung von Patrioten war der Graf Prozor325, einer der Helden des eingekerkerten und verbannten Polens. Prozor stammte aus einer berühmten Familie, war der Besitzer eines großen Vermögens, hatte einst den Marschallstab des litauischen Tribunals und glänzte unter den Großen am Hofe Stanisław Augusts. Nach dem Untergang Polens ward er von den Preußen ins Gefängnis geworfen, dann wieder freigelassen, wanderte er nach Frankreich aus; nach dem Friedensschluss kehrte er ins Vaterland zurück, fiel aber in österreichische Hände; diesen endlich entronnen, wurde er bei seiner Ankunft in Litauen in die Verbannung geschickt. Später vom Zaren Alexander begnadigt, wurde er abermals als Teilnehmer an der Verbindung von 1825 in die Petersburger Kasamatten eingeschlossen. Nach mehrern Jahren freigelassen, wäre er das Opfer neuer Leiden geworden, wenn der Tod sie ihm nicht erspart hätte. Dieser achtzigjährige Greis, der die Hälfte seines Lebens in Gefängnissen zugebracht, rühmte sich, daß er dasselbe Schicksl wie Polen erfahren habe. Er meinte, daß man an ihm einen ähnlichen Raub wie am Land begangen; Preußen habe ihm seine Jugend, Österreich seine Gesundheit, Rußland die Kraft des Geistes entrissen; dennoch aber behielt er immer eine unerschütterte Hoffnung und Ausdauer. Die aus Frankreich zurückkehrenden Polen fanden Schutz beim Zaren Alexander  I.  Die  Thronbesteigung dieses Monarchen ward mit dem allgemeinen Freudenruf einer glücklichern Zukunft begrüßt; man hoffte auf eine Änderung des Systems unter seinem Zepter. In der Tat waren in seiner Person zwei ganz verschiedene Grundzüge des Charakters der russischen Herrscher gewissermaßen vereinigt: er besaß die Gutmütigkeit, die Neigung zur Gerechtigkeitsliebe, die sich in Ivan VI., in Peter III. und Paul I. zeigte, und nebenbei das durchtriebene, listige, kaltberechnende Wesen, welches Peter den Großen, Katharina II. und viele andere russische Monarchen auszeichnete. Aber es gebrach ihm völlig an Energie im Handeln; bei weitem mehr passiv als tätig, zeigt er sich uns als ein Slave, in welchem die Überlieferung und Erinnerung zuweilen mongolische Anwandlungen zu Wege brachte; immer ward er jedoch zu dem hingezogen, was erhaben, religiös und moralisch war. Sogar sein hoher 325 Karol Prozor (1761–1841); vgl. Antoni Józef Rolle: Karol Prozor, ostani oboźny litewski. In: A.J. Rolle: Wybór pism (I–III). Hrsg. W. Zawadzki. Tom II: Gawędy historyczne. Kraków 1966.

25. Vorlesung (17. Mai 1842)

867

und wohlgestalteter Wuchs, seine sanften Gesichtszüge hatten etwas Slavisches; er war der einzige unter den russischen Zaren mit blauen Augen. Die Lehrer Alexanders, der Schweizer Frédéric Césare de La Harpe326 und der in Frankreich bekannte Schriftsteller Heinrich Friedrich Storch327, dessen Werke von Jean Baptiste Say kommentiert sind, hatten ihn in liberalen, französischen Ansichten erzogen. Voll von den Theorien des 18. Jahrhunderts war er ein Liberaler nach dem Begriff der damaligen Zeit; aber als Herrscher ging er auf der alten Bahn fort, nie besaß er hinreichende Kraft, um auf die Angelegenheiten seines Reiches Einfluß zu üben und der Regierung eine andere Richtung zu geben. Diese Ungewißheit, diese Unentschlossenheit im politischen Verfahren wurden indessen für ihn eine Quelle des Wohlergehens. In jener Epoche der übermütigen Bestrebungen bekam er manchmal mutvolle Einfälle, trieb dann seine Bundesgenossen zu tollkühnen Schritten, verlor alsbald seine Hitze, kehrte ins Geleis der alltäglichen Politik zurück und erntete fast immer allein die Früchte solcher Unternehmungen. Ein angesehener Pole saß als Mitglied im Rat und gewann das Vertrauen des Zaren Alexander: dies war der Fürst Adam Jerzy Czartoryski.328 Von früher Jugend an faßte er den Vorsatz, die Politik seiner Ahnen fortzuführen, mit dem Unterschiede nur, daß jene die Unabhängigkeit ihres Landes mit Hilfe Rußlands festzustellen, Fürst Adam dagegen, ein russischer Minister, für Polen einen politisch nationalen Zustand im Bund mit Rußland zu bewirken sich bemühte. Auf Frankreich rechnete er nicht mehr, ebenso wie viele der damaligen Politiker die Hoffnung ganz verloren, irgendeine Hilfe von dieser Seite her zu erhalten. Man kam daher überein, sich dem Zar Alexander geneigt zu machen, und ihn im Namen seines eigenen Interesses anzusprechen. Fürst 326 Frédéric Césare de La Harpe (1754–1838); Jean Charles Biaudet, Françoise Nicot (Hrsg.): Correspondance de Frédéric-César de La Harpe et Alexandre Ier, suivie de la correspondance de F.-C. de La Harpe avec les membres de la famille impériale de Russie. Neuchâtel 1978–1980; vgl. – Arthur Boehtlingk: Der Waadtländter Friedrich Caesar Laharpe. Der Erzieher und Berater Alexanders I. von Russland des Siegers über Napoleon I. und Anbahner der modernen Schweiz. 2 Bde., Bern-Leipzig 1925. 327 Heinrich Friedrich Storch (1766–1835); russisch: Андрей Карлович Шторх; Erzieher der Zarenfamilie, Mitglied der Petersburger Akademie der Wissenschaften, Wirtschaftswissenschaftler. Vgl. seine Werke – „Cours d’économie politique ou exposition des principes qui déterminent la prospérité des nations“. St. Petersburg 1815; kommentierte Ausgabe: Cours d’économie politique, ou, Exposition des principes qui déterminent la prospérité des nations, par Henri Storch; avec des notes explicatives et critiques par Jean Baptiste Say. Paris 1823; „Rußland unter Alexander I.“. St. Petersburg 1803–1811. 328 Vgl.: Adam Jerzy Czartoryski: Pamie̜tniki i memoriały polityczne 1776–1809. Hrsg. Jerzy Skowronek. Warszawa 1986; ferner: Jerzy Skowronek: Adam Jerzy Czartoryski: 1770–1861. Warszawa 1994.

868

Teil II

Adam Czartoryski erwarb vielen Polen Plätze im Senat und Reichsrat. Auch nahm er, vom Zar unterstützt, die litauischen Provinzen in seine Obhut, beförderte die Bildung in ihnen und sicherte deren Sprache und Volksrechte. Die russische Regierung, nach Außen beschäftigt, hatte nicht Zeit, sich in die inneren Angelegenheiten sehr einzumischen, und vor allem schützte die Person des Fürsten das polnische Interesse; die Verwaltungsbeamten, die wohl wußten, in welcher Gunst er bei dem Zaren stand, wagten es nicht, seinem Einfluss entgegenzuhandeln. Inzwischen erklärte Napoleon, gezwungen durch England das Übergewicht auf dem Festland sich zu verschaffen, an Österreich den Krieg, und nötigte es durch die Siege bei Ulm und Austerlitz zur Annahme des Friedens. Alexander I. zeigte, seitdem er den Thron bestiegen, in den Augenblicken edler Begeisterung viel Zuneigung für Napoleon. So oft es sich aber um die Anerkennung des Kaisers oder um irgendeine Frage der europäischen Politik handelte, erhob er stets seine Stirn und gab den anderen Monarchen das Beispiel unbeugsamer Kraft. Wie einst Peter der Große Schirmherr des göttlichen Rechts zu sein vermeinte, so wagte auch er jetzt ganz allein, im Namen der Moralität, im Namen der erhabenen politischen Wahrheiten, sich nur auf das Völkerrecht berufend, gegen das Todesurteil des Prinzen Louis Antoine Henri d’Enghien329 zu protestieren; er allein wollte dem König von Sardinien [Karl Emanuel IV.] das ungerecht entrissene Reich wiedergeben; er allein endlich verteidigte die Unabhängigkeit der Republiken Genua und Venedig. Der damals neu aufgekommene Gedanke, einer notwendigen Intervention der Völker auf dem Grundsatz ihres gemeinsamen Interesses, gehört gleichfalls Alexander  I. an. Merkwürdig genug! Diesen Grundsatz der Solidarität zwischen allen Völkern, der so uralt, so rein christlich ist, mußte gerade der russische Zar den zivilisierten Europäern in Erinnerung bringen! Die übrigen Herrscher, welche fortwährend die abgedroschenen Phrasen des göttlichen Rechts und des Völkerrechts auswendig wiederholten, fühlten und dachten nichts dabei, verbanden nicht die mindeste Bedeutung damit. Weder der österreichische Kaiser, der Vorsitzende des Deutschen Bundes, noch irgendeiner der deutschen Fürsten hatte den Mut, sich gegen die Hinrichtung des Prinzen d’Enghien auszusprechen. Der russische Zar allein besaß das Bewußtsein seiner Macht, er allein war es, welcher der europäischen Politik etwas Regsamkeit und Leben verlieh; er

329 Louis Antoine Henri de Bourbon-Condé, Herzog von Enghien (1772–1804); vgl. Herzog von Rovigo: Ueber die Hinrichtung des Herzogs von Enghien. Leipzig 1824. Zur von A. J. Czartoryski redigierten Protestnote des Zaren Alexander I. vgl. – A. J. Czartoryski: Pamiętniki, op. cit., S. 410–412.

25. Vorlesung (17. Mai 1842)

869

schickte sogar Truppen gegen Frankreich und nach der Niederlage bei Austerlitz schloß er bloß einen vorübergehenden Waffenstillstand. Bald darauf warfen die Siege bei Auerstedt und Jena das preußische Reich über den Haufen, und die polnischen Legionen erblickten sich auf dem ihnen teuren Boden der Heimat. Dąbrowski ließ eine Proklamation ergehen, die ganz Polen zu den Waffen rief. Die Tagesbefehle des französischen Kaisers bezeugen, daß die Polen ohne Unterschied des Standes und Vermögens sich beeilten, die Reihen der Krieger zu mehren. In einigen Wochen nach Bekanntmachung des Aufrufs stand Dąbrowski schon an der Spitze eines Nationalheeres und focht neben dem französischen bei Eylau und Friedland. Dieser Krieg endete mit dem Vertrag zu Tilsit. Rußland schien Frankreich die Hand zu bieten; es handelte sich um die Teilung der Herrschaft über Europa, über die Welt. Napoleon und Alexander fühlten sich stark genug, Europa Gesetze zu diktieren: die Tagesblätter von Moskau sprachen sogar schon davon, indem sie den Kaiser Napoleon als den Herrscher des Westens, und den Kaiser Alexander als den Herrscher des Ostens und Nordens bezeichneten. Aber eine Frage konnte nicht erledigt werden, nämlich die polnische. Alexander wollte an Napoleon die türkischen Provinzen abtreten, wenn dieser nur die Zerreissung Polens bestätigte. Napoleon, zu allem bereit, Rußland als Bundesgenossen zu gewinnen, in der Hoffnung, Englands Macht zu brechen, wollte dennoch unter keiner Bedingung Polen gänzlich verlassen. Man hat ihm öfters den Vorwurf gemacht, daß er nicht die Absicht gehabt, Polen wiederherzustellen, und daß er selbst in diesem Sinne sich öfters ausgesprochen habe. In der Tat sprach er so, aber nur bei vorübergehenden Veranlassungen; er gestand z.B., daß er während des friedländischen Feldzugs an Polen nicht gedacht. Jedoch hat er nie etwas Ähnliches in Bezug auf die Zukunft gesagt. So oft es sich um Polen handelte, verwarf er immer die ihm gebotenen Bedingungen. Er sagte, das künftige Geschick der Völker liege in der Hand der Vorsehung und endigte immer damit, daß er dies der Gottheit selbst anheimstelle. Als er während der Besetzung Posens durch die franzosischen Truppen sah, mit welcher Schnelligkeit sich die polnischen Kriegsscharen bildeten, ließ er einen Artikel im „Moniteur“330 einrücken mit der Frage an sich selbst, was Polen erwarte? und beantwortete sie damit, Gott allein wisse die Zukunft dieses Landes. Ohne Zweifel wagte er damals nicht, weder den Namen des Königreichs noch der Republik hervorzurufen, er begnügte sich, das Herzogtum Warschau zu stiften. Denn um das ganze Polen wieder herzustellen, 330 Pariser Zeitung, seit dem 28.11. 1793 unter dem Titel „Gazette nationale ou le Moniteur universel“; seit dem 1.1. 1811 als „Moniteur universel“; der besagte Artikel erschien am 1.12. 1806.

870

Teil II

hatte er mit Österreich, Preußen und Rußland Krieg führen, hätte er die drei Mächte, die an der Zerreißung Teil genommen, besiegen müssen. Indem er also den Keim zu einem künftigen Volksheer legte, weil er einem Bruchstück des Landes die Unabhängigkeit sicherte, sparte er das Übrige auf spätere Zeiten. Wir haben schon gesehen, welche politische Veränderung in den Legionen vorgegangen, wie in ihnen alle ohne Rücksicht auf die Hierarchie der Geburt und der Grade sich gleich war. Ähnliche Gleichstellung zeigte sich auch in den polnischen Provinzen. Die Parteien hörten auf, die Polen beschuldigten einander nicht mehr, ausschließlich Rußland oder Frankreich anzuhängen; der Fürst Czartoryski unterstützte ohne Unterschied die Verfechter jeder politischen Ansicht, sogar die feuerigsten Republikaner. Hugo Kołłątaj331 befreite er aus dem Gefängnis und viele andere Polen, welche an den Begebenheiten des Jahres 1794 Teil gehabt haben, aus der Verbannung nach Sibirien. Kołłątaj, der Anführer der revolutionären Partei, Franciszek Ksawery Dmochowski332 und andere Republikaner schrieben Briefe an Czartoryski und Ogiński mit dem Ersuchen, in Rußland zu verbleiben, den Standpunkt nicht zu verlassen, der ihnen Gelegenheit gab, unglückliche Opfer zu retten. Man klagte sich dennoch gegenseitig einer Sache an, nämlich der Exaltation. Die polnischen Diplomaten, welche alle Hoffnungen auf den vortrefflichen Charakter des Zaren Alexander setzten, warfen den Legionisten kriegerische Exaltation vor; diese beschuldigten wiederum die Provinzen eines übertriebenen Vertrauens auf Alexander. Die einen wie die anderen wußten nicht, daß gerade diese Exaltation sie zum ersten Male vereinte, daß nur sie allein die Sache des Volkes wieder heben konnte. Ich muß hier noch erläutern, was unter politischer Exaltation zu verstehen sei. Diese Frage steht in enger Verbindung mit der Lösung der Aufgabe des zukünftigen Schicksals von Polen. Erinnern wir uns an die Mythologie, an das Wunderbare, welches, wie wir oben sagten, die Wiege und das ganze fernere Leben der polnischen Republik umgab. Von Anbeginn bis zu den letzten Blättern ihrer Geschichte ersehen wir, daß sie nur durch die größten Anstrengungen sich erhalten, daß alle ihre großen Fragen der Politik, des Krieges und der Finanzen sich nicht anders lösen ließen, als durch Erregung der edelsten Gefühle des Volkes. Schon gegen Ende des 16. Jahrhunderts war Polen in den Augen von ganz Europa als ein 331 Hugo Kołłątaj (1750–1812). Vgl. Piotr Żbikowski: Hugo Kołłątaj. Więzień i poeta. Lublin 1993. 332 Franciszek Ksawery Dmochowski (1762–1808). Politisch stark engagiert; daneben Übersetzer: Homer „Ilias“, Horaz, Vergil, John Milton u.a.; Verfasser der „Verskunst“ – „Sztuka rymotwórcza“. Hrsg. Stanisław Pietraszko. Wrocław 1956.

25. Vorlesung (17. Mai 1842)

871

Volk anerkannt, das stets dem Antrieb seines Gefühles folgt, und wurde eben deshalb vom Kongress anderer Völker ausgeschlossen, aus dem Geleis ihrer Bestrebungen hinausgeschoben. Für unausführbar ward die polnische Politik verschrieen; was jedoch noch merkwürdiger ist, die Polen selbst begannen ihre politischen Rechte für das praktische Leben als unanwendbar zu errachten. Das Liberum Veto, die Wahlen, die Art der Abgabenentrichtung, die unumschränkte Unabhängigkeit der Sejm-Abgeordneten – dies alles schien den Theoretikern als unausführbar, eine Fatalität, die auf dem Volk lastete, und die es weder abzuwerfen noch ihr Genüge zu leisten die Kraft hatte. Solch ein Beispiel steht in der Geschichte Europas einzig da. Mit Recht erblickt auch der König Stanisław Leszczyński, Verfasser eines wichtigen Werkes über die Reform der Republik, in dieser Lage seines Volkes eine Aehnlichkeit mit dem Schicksal der Israeliten. Dem Volke Israels wurde gleichfalls die Verfassung von oben herab gegeben, die es nicht erfüllen konnte und auch nicht von sich zu weisen wagte, der aber zu gehorchen dasselbe fortwahrend eine höhere Macht zwang. Leszczyński rät keine Veränderung an, immer rechnet er auf den Enthusiasmus des Volkes. Wir haben schon auseinandergesetzt, wie die polnischen Könige deshalb ihre Macht verloren, weil sie nicht verstanden sich auf das, was das Wesentlichste, das Erhabenste im polnischen Volkstum gewesen, zu stützen. Leszczyński hat diese Bemerkung gemacht, und weil er selbst zuvor Bürger, dann König der Republik war, so verstand er sie gut. Seine eigenen Werke wollen wir hier anführen. Nachdem er das Muster eines für Polen erwünschten Königs geschildert, sagt er: Taki król, ręczę, panując sercami naszymi, dostąpiłby prędzej mocy wielowładnej, im by się mniej o nię starał. A to tym sposobem, boby znalazł zapewne jedność w radach […], sprawiedlowość w trybunałach […], staranie o dobro pospolite w senacie […], activitatem w ministrach […], ochotę w rycerstwie […], na ostatek wierność w poddaństwie, gdyby się raz stał nie tak panem, jako ojcem ojczyzny; a czegoż więcej najwielowładniejsi monarchowie pretendować mogą? […] Król polski znalazłby w sercu poddanych żywioły mocy wielowładnej trwalszej i lepiej ugruntowanej niźli ta, którą się przymusem narzuca uległości ludu bojaźliwego.333 Ich versichere, daß so ein König viel schneller die Selbstherrschaft erlangte, als wenn er sich selbst um sie bemühte. Denn auf diese Weise würde er die Einstimmigkeit in den Beratungen […], die Gerechtigkeit in den Tribunalen […], das Gemeinwohlstreben im Senat […], die Zustimmung der Ritterschaft […] und schließlich die Treue der Untertanen erreichen, wenn er einmal 333 Głos wolny wolność ubezpieczający przez Stanisława Leszczyńskiego, króla polskiego, weilkiego księcia litewskiego & księcia Lotaryngii i Baru. Red. Kazimierz  J.  Turowski. Kraków 1858, S. 32. Zugänglich unter: [www.wbc.poznan.pl].

872

Teil II nicht als Herr, sondern als pater patriae aufträte; was mehr noch können die allherrschenden Monarchen erwarten? […] Der polnische König würde im Herzen seiner Untertanen die Grundlage einer bei weitem dauerhafteren und besser begründeten Alleinherrschaft finden, als jene Übermacht, die sich der Schwachheit eines furchtsamen Volkes aufdringt.

Welcher Grundsatz ist es nun, der die Grundlage einer so gewaltigen Macht sein könnte? In den Jahrhunderten des Mittelalters haben Geistliche, die Vorgesetzten der Klöster, unumschränkt ihren Verbrüderungen geboten, nirgends sah man einen blinderen Gehorsam. Die Untergebenen dieser kleinen Reiche hörten auf den Knieen die Worte ihrer moralischen Gebieter an. In den Ritterorden schwur man desgleichen dem Großmeister Treue. Diese Gewalt hatte zur Grundlage das, was gewöhnlich Exaltation genannt wird. Was auch immer ihr Charakter gewesen, die Exaltation begann zugleich mit dem Christentum. Vor der Ankunft Jesu Christi gab es im Altertum exaltierte Männer – die Schüler des Pythagoras334, die Anhänger des Epiktet, welche sich von der Gesellschaft lossagten und in der bestehenden Ordnung der Dinge weder Befriedigung noch Zweck des Lebens findend, eine neue Bahn aufsuchten; doch hat erst der Heiland alle diese Bestrebungen vereinzelter Exaltationen verwirklicht in dem neuen Zustand der Dinge; er schuf eine Welt, in der die Exaltation der Philosophie Grund und Boden finden konnte. Später entstanden aus demselben Grundsatz die Klöster, die geistlichen Ritterorden und alle dergleichen religiöse Verbindungen. Aber gegen das Ende des 15. Jahrhunderts hält das Fortschreiten der Menschheit in dieser Richtung inne. Statt die gesamten politischen Gesellschaften zu umfassen, scheint der religiöse Geist, der Geist der Exaltation, nachdem er einzelne Gesellschaften durchdrungen, wiederum in die Tiefen Einzelner sich zurückzuziehen. Was mußte hieraus entspringen? Sollten die Klöster, die geistlichen Ordensritter und alle diese Versammlungen, entstanden aus moralischen Gefühlen, die ihren Ursprung im Christentum nahmen und innig mit ihm verbunden waren, sollten sie von der Erde verschwinden? Angenommen, dies wäre eingetroffen, die Menschheit hätte diese Bahn verlassend, sich wieder dem Heidentum zugewendet und nur materiellen Interessen nachgejagt; so hätte man notwendigerweise dann auch den Untergang des Christentums annehmen müssen. Andererseits, wenn wir zugestehen, daß die Bestimmung des christlichen Geistes, des Geistes der Exaltation, ist, sich über die gesamte politische 334 Vgl. Christoph Riedweg: Pythagoras: Leben, Lehre, Nachwirkung. Eine Einführung. 2. Auflage. München 2007.

25. Vorlesung (17. Mai 1842)

873

Gesellschaft zu ergießen, von den Völkern als eine Gesetzeskraft habende Verfassung aufgenommen zu werden, dann müssen alle jene Einzelerscheinungen, alle jene unbefriedigten Männer, deren eigene Gefühle sie von der breitgetretenen Bahn schleudern, denen ängstlich zu Mute wird in dem alltäglichen Lebenskreis, dann müssen sie einen geselligen Zustand erlangen, der ihrer Sehnsucht und ihren Wünschen entspricht; ihr unberechnetes, öfters vernichtendes Hin- und Herwerfen wird alsdann die Schranken der Ordnung finden, und jeder wird antreffen, was er gesucht. Wie wir schon mehrmals wiederholt, daß sich keine Theorie auf eine Formel zurückführen läßt, so lange sie der Grundlage entbehrt, diese Grundlage aber nicht die Erde, sondern die menschliche Gesellschaft ist, ebenso muß jener zukünftige politische Zustand, gestützt auf die nämlichen Gefühle, die einst die religiösen und Ritterorden belebten, die Grundlage als schon völlig in der Vergangenheit vorbereitet finden. Was wir in allgemeiner Beziehung von dem Geist der slavischen Völker gesagt haben, liefert auch den Beweis, daß die Vorsehung dieses Geschlecht zur Annahme einer neuen Ordnung vorbereitet hat. Diesem Menschenstamm, der seine Geisteskräfte nicht erschöpft hat durch Arbeiten für Intelligenz und Industrie, sondern ein reines und tiefes religiöses Gefühl bewahrt, wird keine der bisher gekannten politischen Formen Genüge tun; unter diesem Geschlecht findet sich ein Volk, von Europa immer für ein ritterliches und zugleich für ein ins Blaue hinein suchendes gehalten; sehr logisch muß man daher folgern, daß der slavische Stamm und das polnische Volk bestimmt sind, eine neue gesellige Ordnung zu schaffen. In diesem Charakter der Slaven und Polen kann man auch die Ursache wahrnehmen, warum der polnischen Sache die Gemüter der einen geneigt, die der anderen abgeneigt sind. Allgemein sind religiöse Leute, Dichter und Künstler, Freunde dieser großen Angelegenheit; hingegen haben alle dieselbe immer bitter gehaßt, welche die Gegenwart mit ihren Fesseln umstrickt, die ihr Dasein auf der Vergangenheit erbaut haben, und nicht fähig sind, sich höher empor zu erheben. Erwähnen wir hier einiger Namen, die sogar in Frankreich wenig bekannt sind, aber schätzbar für Polen. So haben z.B. die Bürger Antoine Bernard Caillard, Charles Delacroix, der General Jean Baptiste Kléber, Kazimierz de La Roche Skalski die Sache Polens mit solch einem Feuer verteidigt, als wäre sie ihre eigene gewesen; und dagegen hatte Polen unter den Diplomaten keinen heftigeren Feind als den Fürsten Charles Maurice de TalleyrandPérigord, dem schon bei der einfachen Erwähnung des Namens Polen übel wurde. Alles, was wir gesagt, läßt sich in kurzen Worten zusammenfassen. Das Geschlecht der Slaven hat bis jetzt noch keine politische Form gehabt, unter welcher es sich ganz eines sittlichen, vollkommnen, ihm eigentümlichen

874

Teil II

Lebens erfreut hätte. Das polnische Volk, nachdem es alle Veränderungen der neueren Geschichte durchgemacht, alle politischen Gestaltungen durchgegangen, bewahrt in sich das Gefühl seiner Macht und seines inneren Lebens; dieses gestattete ihm sogar nicht, bei irgend einem Systeme stehen zu bleiben, trieb es immer weiter zu gehen, und verband es dadurch selbst aufs innigste mit dem Schicksale anderer verbrüderten Völker. Daher ist auch die Frage der politischen Regierungsform für das slavische Geschlecht und für Polen in denselben Worten und in der nämlichen Weise gegeben.

26. Vorlesung (24. Mai 1842) Das Herzogtum Warschau; sein Nationalgeist und der Einfluß Napoleons – Das Murren der Publizisten und der älteren Generation – Der Fürst Józef Poniatowski als Vertreter des neuen Polens – Die Literatur im Großherzogtum Warschau: Koźmian, Wężyk, Godebski, Reklewski, Gorecki – Der Krieg 1812: Napoleons Fall – Volksmeinung im Norden und Urteil der Philosophen über ihn – Seine Bedeutung für das Slaventum – Napoleons Sendung: Beginn einer geistigen und politischen Evolution.

Bald werden wir die polnische Geschichte mit dem Sturz Napoleons beschließen, und die weitere Fortsetzung der russischen Literaturgeschichte mit Karamzin beginnen, welcher der Repräsentant dieser Epoche ist und uns zu Žukovskij, Batjuškov und Puškin führen wird. Die Gründung des Herzogtums Warschau mußte im Norden eine Art geistiger und moralischer Umwälzung bewirken; denn dieser Teil Polens hatte endlich das erlangt, wonach das Ganze so lange geschmachtet, es erhielt ein politisches Dasein. Das Herzogtum zählte kaum einige Millionen Einwohner, stand aber unter Napoleons Obhut, und wog in der Waagschale der europäischen Angelegenheiten mit dem ganzen Gewicht der Vergangenheit und Zukunft des polnischen Volkes. Durch Polen begann Napoleon auf den Norden Einfluß zu üben. Daher bemühten sich auch die Monarchen, welche dem Kaiser der Franzosen das Königreich Neapel, Spanien und Schweden abgetreten hatten, mit beispielloser Anstrengung ihm dieses kleine Herzogtum zu entreißen, um die durch selbiges sich dartuende Idee im Keim zu ersticken. Der Nationalgeist zeigte sich in diesem eng begrenzten wieder hergestellten Polen in einer ganz neuen Frische. Das Herzogtum hatte ein zahlreiches, aber in Spanien, Illyrien, Neapel zerstreutes Heer. Zur Disposition standen gerade einige Tausend Soldaten; dessenungeachtet wagte der Führer einer so kleinen Schar Schritte, die er mit einem weit größeren Heer zu unternehmen nicht gewagt hatte. Derselbe Fürst Józef Poniatowski, der an der Spitze von 50 000 Mann die Pläne Dąbrowskis von sich wies, ergreift jetzt mit 10 000 die Offensive wider die Österreicher, und zaudert nicht, eine Schlacht dem Erzherzog Ferdinand zu liefern, der mit einem viermal größeren Heer gegen ihn anrückt. Er wirft sich nach Galizien, erobert einen Teil dieser Provinz und hätte sich derselben wahrscheinlich völlig bemächtigt, wenn nicht der Friede zu Schönbrunn seinem Vorhaben ein Ende gemacht. Diese Kühnheit, diesen Mut zu großen Unternehmungen hatten die Polen Napoleons Einfluss zu danken. Polen besaß nun, was ihm seit langer Zeit gefehlt, es hatte eine Idee, auf die es sich stützen konnte. Befreit von den

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_068

876

Teil II

Kümmernissen, die so langen Zwiespalt unterhalten hatten, sowie von den politischen Zänkereien, von neuerungssüchtigen Plänen, von Parteisucht, vereinigt in der einzigen Idee, die sich auf das Genie eines Mannes stützte, schritten die Polen frei und zuversichtlich der Zukunft entgegen. Doch in moralischer und literarischer Beziehung war Napoleons Einfluß im Allgemeinen wenig zu bemerken. Mächtige und von den alten Parteien noch übriggebliebene Männer, begriffen nicht, was in der Zeit geschah. Die achtungswertesten Männer der alten Ordnung, wie Tadeusz Kościuszko, Józef Wybicki, Henryk Lubomirski335, der alte Fürst Adam Czartoryski, verlangten von Napoleon Versprechungen und Bürgschaften, wollten von ihm eine förmliche Verheißung der Wiederherstellung Polens erzwingen, warnten ihre Landsleute, blindlings jenem Mann zu trauen. Das Herzogtum schien von Armut und Hungersnot bedroht, man mußte ungeheuere Abgaben entrichten, ein Heer unterhalten, dessen Versorgung die Kräfte und das Bedürfnis des Ländchens überstieg. Schriftsteller, Dichter, Publizisten brachen in laute Klagen über das Schicksal ihrer Landsleute aus. Der Dichter Marcin Molski336 schilderte in vielen seiner Dichtungen die Armut des Städters, der den Soldaten zu verpflegen hatte, das Elend des Landmanns, auf dem schwere Abgaben lasteten. Die Publizisten bemühten sich ferner, die Polen in der Politik, wie sie es nannten, zu Verstande zu bringen. Dieselben Staatsmänner, die lange Zeit nach der Freiheit ihres Landes, nach einer Verfassung, nach Gleichheit gedürstet, dieselben, welche nicht mit dem Bruchstück eines unabhängigen und konstitutionellen Polens zufrieden gewesen wären, fanden in dem Herzogtum Warschau nichts, was ihrem Ideal entsprach. Das Herzogtum konnte nicht eigenmächtig handeln, es hing von Napoleon ab; die Wahrheit zu gestehen, hatte es nicht einmal Pressefreiheit! Man fühlte recht gut, daß etwas gegen die Politik oder die Person des Kaisers bekannt zu machen nicht straflos durchgegangen wäre. Dawider murrte die alte Generation, aber das ganze Land machte sich wenig daraus: es geizte weder mit dem Geld noch mit dem Blut seiner Söhne, verwarf den Gedanken, je Frankreich zu verlassen, und hing treu an Napoleon. Der Fürst Józef Poniatowski, der Mann jener Epoche, erriet durchs Gefühl die Neigung des Volkes und blieb treu bei dem Kaiser. In der Gesellschaft, die ihn gewöhnlich umgab, getraute er sich nicht, dieses Gefühl auszusprechen, nannte es bloß Ehre. Napoleon anzuhängen, verlangte nach seiner Ansicht die Ehre: er hätte sich für ehrlos gehalten, wenn er ihn verlassen. Obgleich er daher öfters sogar von den in Galizien und Rußland wohnenden Polen dazu veranlaßt 335 Henryk Lubomirski (1777–1850). 336 Marcin Molski (1751–1622). Vgl. Ulotna poezja patriotyczna wojen napoleońskich (1805– 1814). Red. Andrzej Zieliński. Wrocław 1977.

26. Vorlesung (24. Mai 1842)

877

ward, harrte er dennoch bis ans Ende aus, und wurde deshalb, ungeachtet ihm die Publizisten viele politische Fehler und die Militärschriftsteller Mangel an Erfahrung in der Taktik vorwerfen, der Lieblings-Held des Volkes. Die damaligen Literaten, welche nach ihrer Methode an der Zivilisation und Bildung Polens weiter fortarbeiteten, machten sich auch jetzt an das Übersetzen und Nachahmen französischer Werke. Wer den Zustand der Literatur in Frankreich unter dem Kaiser kennt, kann sich wohl leicht vorstellen, was diejenige des Herzogtums Warschau zu bedeuten hatte. Indessen erhoben einige Dichter in vorübergehenden Augenblicken der Begeisterung ihre Stimme zum Lobe Napoleons, und was bemerkenswert ist, viele unter ihnen, heute beinahe schon vergessen, haben nur diesen enthusiastischen Versen ihren Platz in der Volksliteratur zu verdanken. Kajetan Koźmian337 z. B der Verfasser einst berühmter Werke, heute fast gar nicht gelesen, schrieb eine Ode auf den Frieden zu Schönbrunn, wovon einige Strophen nach der damaligen Art, in welcher Jean Baptiste Rousseau und Ponce Denis Écouchard-Lebrun ihre Oden sangen, zu den besten literarischen Erzeugnissen gehören. Wir wollen folgende Stelle anführen: Ucichły mordercze bronie, Oschła ziemia z krwie potoków, Zwycięzca zasiadł na tronie, I podniosł księgę wyroków. Uciszcie się stałe lądy! Nowe prawa, nowe rządy Zwiastuje pokój żądany. A ty sprzeczne jego chwale! Morze, miotaj wściekłe fale Już cię krępują kajdany.338

Verstummt sind des Mordes Waffen, Versieget die Blutströme; Der Sieger hat den Thron bestiegen Und erhoben das Gesetzbuch des Schicksals. Beruhigt euch ihr festen Lande; Neue Gesetze und neue Ordnungen Verkündet der erwünschte Frieden. Und du seinem Ruhme neidisches Meer, rase mit deinen schäumenden Wogen, Schon bändigen dich die Fesseln.

Übrigens ist die ganze Ode in Bezug aus den Stil recht schön und auch dies verdient Beachtung, daß Koźmian, der immer zur rhetorischen Schule gehört, hier das erste und einzige Mal das echt polnische Wort vortrefflich an seiner Stelle sprach. „Uciszcie się stałe lądy!“ (Beruhigt euch ihr festen Lande!) ruft er feierlich den Staaten des Festlandes zu, wie einst die Herolde, wenn der Marschall im Sejm oder im Tribunal den Stab erhob. Ein anderer Dichter der damaligen Zeit, Franciszek Wężyk, der gleichfalls der Vergessenheit anheimfällt, schrieb ein vortreffliches Gedicht beim 337 Kajetan Koźmian (1771–1856). 338 K.  Koźmian: Oda na pokój w roku 1809. In: Kajetan Koźmian: Wybór poezji, oprac. R. Dąbrowski. Kraków 2000; vgl. Stefan Treugutt: Ody napoleońskie Kajetana Koźmiana. In: Pamiętnik Literacki 1966, z. 1, S.  31–82; Łukasz Zabielski: Kajetan Koźmian spoza kanonu. Studia i szkice historycznoliterackie. Białystok 2018.

878

Teil II

Einmarsch der polnischen Truppen im Jahre 1812 in die russischen Grenzen. Um die Rache der Polen gegen die Moskoviter zu wecken, hebt er an: Kto kuł senat w hydne pęta, Kto przebrał miarę zniewagi, Kto druzgotał niemowlęta O zwaliska domów Pragi?339

Wer schmiedete in Ketten die Senatoren? Wer überschritt das Maß der Herabwürdigung? Wer zerschmetterte die Säuglinge dort An den Trümmern von Pragas Häusern?

Diese vier letzten Verse sind sehr schön. Wężyk war hier begeistert, was ihm nicht wieder begegnet ist. Aber alle diese Dichter kehrten zu ihren scholastischen Arbeiten zurück, und es kommen andere, die Dichter der Legionen, zum Vorschein. Trotz ihrer großen Mängel in der äußeren Form fand die ganze Nation an ihnen Gefallen. Die bekanntesten unter ihnen sind Godebski, Reklewski, Gorecki.340 Was sie am meisten auszeichnet, ist das Natürliche und Einfache ihrer Sprache. Sie lassen schon alle Umschweife weg, und nennen die Dinge beim wirklichen Namen. Das Gewehr ist bei ihnen nicht mehr das „feuertragende Eisen“, der Regiments-Kapelan kein „Levite“ mehr. Die Soldaten sangen ihre Gedichte, die Offiziere lasen sie, das Volk liebte sie, wenngleich die sogenannten echten Literaten von Warschau und Wilno ihnen keine Aufmerksamkeit schenken wollten und die Verfasser nicht in die Reihe der Schriftsteller zuließen. Hier z.B. ein  Gedicht von Gorecki: die Erstürmung des Engpasses SamoSierra durch polnische Krieger. Es ist bekannt, daß einige polnische Schwadronen diesen schwierigen Durchgang erzwangen, und der Kaiser Napoleon einen Tageserlaß über diese Heldentat selbst diktierte. Gdzie wąwóz Samo skałami się jeży, Jest ciasne przejście jak na szyk rycerzy; Tam dumny Hiszpan siadłszy na gór szczycie Czekał z pioruny na wrogów przybycie. Z jakim łoskotem w alpejskie nadbrzeża Wó oceanu potęga uderza, Tak szli do szturmu Frankowie zuchwali, Lecz trzykroć biegli i trzykroć wracali. 339 Franciszek Wężyk (1785–1862); F.  Wężyk: Wiersz do wojska polskiego z okoliczności rozpoczętej wojny z Moskwą (1812). In: Zbiór poetów polskich XIX wieku. Oprac. Paweł Hertz. Tom I. Warszawa 1959, S. 419. Vgl. Barbara Czwórnóg-Jadczak: Klasyk aż do śmierci: twórczość literacka Franciszka Wężyka. Lublin 1994. 340 Cyprian Godebski (1765–1809), Wincenty Reklewski (1786–1812), Antoni Gorecki (1787–1861).

26. Vorlesung (24. Mai 1842)

879

Jak niedostępne niebo dla bogaczy, Tak była trudną dla mężnych ta droga; Próżne wysiłki mętwa i rozpaczy, Najśmielsze dusze śmierć spychała sroga. Zacięte Maury z gór wierzcha szydziły; „Chodźcie tu, chodźie, dawno was czekamy, Was tu Kastyli robią uśmiech miły, Wam stary Madryt otwiera swe bramy“. Wteczas bohater, co wiódł nasze męże, Przybiegł, gdzie polskie lśkniły się oręże; W cichym milczeniu zwarte hufce stały, Gdy on do wielkiej tak zachęcał chwał; „Wy, co z waszymi znajome szeregi Egiptu pisaki, Apeninun śniegi, Ty z lwim sercem młodzieży nietrwożna, Wam to zwyciężać, gdzie innym nie można“. Rzekł, huczą trąby, ostrz mieczów się świeci, Przez grad kartaczy las proporców leci, Grzmi grom po gromie i razem ustały … Na wierzchu szańców usiadł orzeł biały.341 Wo der Engpaß Samo von Felsen starrt, /Da führt ein Pfad so breit wie Mann und Roß. / Dort saß der Spanier stolz auf Bergeshöhen, / bereit, seinen Blitz dem Feinde entgegen zu schleudern. // Wie an den Fuß der Alpen die Wogen / Der See mit Geheul und Ungestüm prallen, / So stürmten die Franken dreimal kühn hinauf, / Und dreimal kehrten sie wieder. // Wie für die Prasser der Himmel verschlossen, / So war den Tupfern dieser Weg versagt; / Umsonst ringt Muth und Wuth und Verzweiflung, / Die kühnsten Seelen stößt der grause Tod hinunter. // Die zornentbrannten Mauren höhnten herab: „Kommt nur, kommt! euer harren wir ja längst, / Euch lächeln hold Kastiliens schöne Töchter, / Euch öffnet das alte Madrid seine Tore.“ // Da kam der Held, der unsre Mannen führte, / Geflogen, wo polnische Waffen blinkten; / Und feuert die stillharrenden, geschlossenen Reihen, / Zum hohen Ruhme also an: // „Ihr, deren bekannte Scharen der Sand Egyptens / Der Schnee der Apenninen sah – Du / Löwenherzige Jugend sonder Furcht und Tadel, / Dir geziemt zu siegen, wo Andre nichts vermögen.“ // Er sprachs, die Hörner schallen, es blitzt der / Schwerter Schneide, den Hagel der Kartätschen / Durchfliegt ein Wald von Fahnen. Donner auf / Donner rollt hastig, doch plötzlich wird es stumm … / Auf dem Gipfel der Schanzen ließ sich der Weiße Adler nieder!“

341 Antoni Gorecki: Dobycie przez wojsko w Hiszpanii wąwozu pod Samo-Sierra. In: A. Gorecki: Poezje Litwina. Paris 1834, S. 141–143.

880

Teil II

Man kann sagen, daß die ganze Geschichte des Herzogtums Warschau und sogar des Königreichs Polen bis zur Revolution von 1830 in einigen Strophen des Legionenliedes enthalten ist. Es ist gesagt worden: Przejdziem Wisłę, przejdziem Wartę, Będziemy Polakami, Da nam przykład Bonaparte, Jak zwyciężać mamy.342

Wir werden die Warte und Weichsel überschreiten, Wir werden Polen sein. Bonaparte wird uns zeigen, Wie wir siegen sollen.

Und in der Tat, dies ging in Erfüllung, und nichts mehr. Das Lied faßt weder den Niemen noch den Dnjepr in die Grenzen des gehofften Polenlandes. Man könnte glauben, daß von so weiten Grenzen in Italien träumen, gar zu übermütig gewesen wäre; soviel ist jedoch gewiß, daß jene Dichter und Seher, welche den in lombardischen Festungen zerstreut liegenden Tausenden von Landsleuten den Übergang über die Warte und Weichsel voraussagten, auch die Wiedererlangung der alten Grenzen ihnen zu versprechen gewagt haben würden, hätten sie davon gleichfalls eine Ahnung gehabt. Als aber alle Staatsmänner kurz vor dem Jahre 1812 die Wiederherstellung Polens und dessen glänzende Zukunft verkündeten, hat keiner der Dichter diese täuschenden Hoffnungen geteilt, keiner von ihnen etwas Ähnliches geweissagt. Ihre Lieder waren wehmütig und traurig: sie feuern die Krieger zur Treue und Tapferkeit an, aber sie versprechen ihnen nichts. Um den Charakter dieser ganzen Kriegsliteratur kennen zu lernen, wollen wir hier noch ein Bruchstück eines anderen Gedichts von Gorecki anführen: Na dalekim Dniepru brzegiem Szły cicho wojska lśkniące się żelazem, Pomiędzy nimi bystrym wiatru biegiem Leciał z wodza mojego rozkazem. Jak teraz wszystko uległo odmianie! Koń mój był rzeski, i ja byłem młody. Słyszę głos silny: „Wstrzymay się młodzianie! Z tobą dnieprowej napijem się wody.“ Był to Zakrzewski mąż sławny dziełami, Szlachetność w sercu, surowość miał w oku; Pod jego pierwej byłem rozkazami, Nim mnie Mielżyński wziął do swego boku. 342 Fortsetzung der (späteren) polnischen Nationalhymne von J. Wybicki.

26. Vorlesung (24. Mai 1842)

881

Pułk jego w każdej wsławiony potrzebie, Stąpał pułk trzeci, po zielonej błoni, A on mię wzywał: „Pijemy do ciebie. Choć nas rzuciłeś towarzyszu broni!“ Wstrzymałem konia, rże, pieni się, wspina, A wódz częstując mnie dnieprową wodą: „Na twem weselu napijem się wina, Po wojnie żonę wyswatam ci młodą.“ „Ah! wodzu, rzekłem, walecznymi dzieły Oby z nas każdy doszedł Twoiej chwały.“ A w tym z daleka spiże grzmieć poczęły, I coraz bardziej i bardziej huczały. „Ściskajcie szyki, dwójcie krok rycerze!“ Krzyknął Zakrzewski; wojsko słucha wprawne; I już Smoleńska widać było wieże, I mchem pokryte baszty starodawne. Trąciłem konia, leciał jak wiatr chyży; A na rumaku tak białym jak śniegi, Tam gdzie najgęstrzy szedł ogień ze spiży, Zakrzewski swoie prowadził szeregi. Ostatni raz już rycerza widziałem, Jak nawałnica, szła za nim młodź dzielna Już przeszli szańce, już byli pod wałem, Gdy wodza kula wstrzymała śmiertelna. Długo tam, długo słychać strzały było, Aż noc zakryła krwawe bojowisko; Nazajutrz nasi szli, i Dniepru blisko Uczcili męża mogiłą. Kiedy wieczorem dziatwa mię otoczy, I siądzie przy mnie żona urodziwa; Zawsze mi obraz Twój staje przed oczy, Zdaje się duch Twój że z nami przebywa. Tyś mnie dotrzymał słowa i za grobem, Tyś mnię wyswatał tę żonę nadobną; […]343 343 Antoni Gorecki: Duma o Zakrzewskim. In: A. Gorecki: Poezje Litwina. Paris 1834, S. 148– 151. Namen im Gedicht: Kalikst Zakrzewski (1776–1812) – Anführer der polnischen Infanterie gegen Rußland; fiel 1812; Stanisław Kostka Mielżyński (1778–1826) Brigadegeneral des

882

Teil II An dem fernen Dnjepr-Strande / zogen Kriegerscharen in glänzender Rüstung, still einher; / Mitten durch sie flog ich mit Windeseile / Und trug meines Feldherrn Befehl. // Wie heute sich das alles geändert! / Mein Roß war flink und ich war jung! / Eine starke Stimme rief: „Halt ein Jüngling!“ / „Wir wollen zusammen Dnjepr-Wasser trinken.“ // Es war Zakrzewski, berühmt durch seine Taten, / Edelmut im Herzen, Ernst hatte er im Blicke; / Seinen Befehlen habe ich einst gefolgt, / Bis mich Mielżyński an seine Seite rief. // Sein Regiment, berühmt in jeder Schlacht, / Das dritte Regiment, durchzog die grüne Heide, / Er aber rief: „Dir trinken wir zu, / Waffengefährte! obgleich du uns verlassen.“ // „Ich hielt das Roß, es wiehert, schäumt und bäumt, / Der Hauptmann aber sprach, mir Dnjepr-Wasser reichend: / Wein wollen wir auf deiner Hochzeit trinken, / Nach beendigtem Kampf führe ich eine junge Gattin Dir zu.“ // „Ach! Hauptmann, rief ich, mit Kampfestaten / Möge jeder von uns dir zum Ruhm gereichen!“ / Und da begann Geschütz zu donnern, / Und immer stärker und stärker zu brüllen. // „Schließt die Reihen! doppelt den Schritt, ihr Ritter!“ / Rief Zakrzewski. Die kriegserfahrene Schar vollführts; / Und schon sah man die Zinnen von Smolensk, / Und die uralten moosbewachsnen Türme. // Ich spornte mein Roß, das flog dahin wie der Sturm, / Und auf seinem schneeweißen Zelter sah ich / Zakrzewski seine Reihen dort führen, / Wo das wildeste Feuer den ehernen Schlünden entkrachte. // Das letzte Mal sah ich dort den Helden, / Wie das Gewitter folgt ihm die tapfre Jugend, / Schon gewannen sie die Schanzen, schon erreichten sie den Wall, / Als den Führer eine tötende Kugel aufhielt. // Lange noch, lange tobte es dort ringsum, / Bis endlich die Nacht den blutigen Wahlplatz umschattet. / Des Morgens schritten die Unsrigen traurig, und ehrten / Mit einem Denkmal am Dnjepr den Mann. // Umringen des Abends mich die Kinder / Und setzt sich zur Seite mir das holde Weib; / So stellt sich immer Dein Bild vor meine Augen, / Es scheint, als weile Dein Geist mit uns. […] // Du hast mir noch von Jenseits Wort gehalten, / Du hast mir diese schöne Gattin zugeführt. […]

Alle Gedichte der damaligen Zeit tragen ein ähnliches Gepräge der Wehmut und Ergebung in den Willen der göttlichen Vorsehung. Es ist bekannt, wie schreckensvoll der Feldzug von 1812 endigte. Unzählige Male hat man ihn schon beschrieben, doch nirgends hat sich sein Andenken so tief ins Gedächtnis gegraben, als in den Ländern, durch welche er ging. Was am meisten die slavischen Völker ergriffen hat, das ist der grausenhafte, geheimnisvolle Charakter, der in allen damit verbundenen Umständen und Begebenheiten durchleuchtet. Zuerst eine ungewöhnlich reiche Ernte, welche die verwüsteten Länder vor Hungersnot bewahrt, dann sehr große Hitze und Waldbrände; endlich ein so kalter Winter, wie man ihn noch nie erlebt. Der Frost begann außergewöhnlich früh und von 18 bis auf 30 Grad steigend, Fürstentums Warschau; Gorecki war sein Adjutant während des Rußlandsfedzuges von 1812.

26. Vorlesung (24. Mai 1842)

883

dauerte er ununterbrochen viele Wochen; außerdem wehte bei einer Kälte von 25 Grad unter Null auch ein starker Wind, eine den Physikern unerklärliche Erscheinung. Das russische Volk schreibt den Sieg über Napoleon und die Vernichtung der französischen Armee der Vorsehung allein zu. In seiner einfachen Redeweise, sagt es, daß die von Gott gesendeten Generale „его превосходительство генерал Мороз и его превосходительство генерал Голод“ (d.h. Sr. Excellenz der General Frost und Sr. Excellenz der General Hunger) die Franzosen aufgerieben haben. Der Zar Alexander wies immer die ihm von den Heerführern und vom Senat gemachten Gratulationen mit Demut zurück, indem er offen gestand, daß der Sieg das unmittelbare Werk der Hand des Höchsten gewesen. Seit dieser Zeit ging in seiner Seele eine große moralische Veränderung vor, er wurde wirklich gottesfürchtig. Die polnischen Truppen teilten das Unglück der französischen Heere; unzertrennlich sie bis nach Frankreich begleitend, bildeten sie während des ganzen Rückzugs den Nachtrab. Das Schicksal Polens schien entschieden. Napoleon war gestürzt, die Polen konnten nur auf eine andere politische Kombination ihre Berechnung stützen. Dessenungeachtet pries und bewunderte das Volk den Kaiser Napoleon, durch ihn mit Frankreich in Sympathie verbunden, hofft es immer noch von da eine, wenn auch unbestimmte Hilfe für die Zukunft. Nichts konnte dem Volk diesen tiefen, ahnungsvollen Glauben entreißen. Das polnische Volk lernte in Napoleon Frankreich kennen, und die geheime, unerforschliche Seite seines Charakters machte ihn zum Helden der Polen und zum Schrecken der Moskoviter. Der russische Bauer und der gemeine Soldat hielten ihn für einen Zauberer; beim niederen Volk war sogar der Glaube verbreitet, daß er verschiedene Gestalten annehmen könnte, und wunderbare Märchen liefen darüber umher. Suvorov soll sich dem Volksglauben nach öfters persönlich mit Napoleon gemessen haben. In diesem Zweikampf verwandelte sich einst der Kaiser in einen Löwen, und Suvorov tat sogleich dasselbe. Da griff Napoleon nach einer neuen List und machte sich zum Adler; aber Suvorov wollte, um ihn desto sicherer zu bezwingen, ein zweiköpfiger Adler werden, suchte deshalb um die Erlaubnis dazu beim Zaren Paul nach. Doch dieser, über einen solchen Übermut erzürnt, nahm ihm alle Ehrenzeichen. Dies ist die Art, in der das gemeine Volk seine Ahnungen von der großen Bestimmung dieses Mannes äußert. Der Dichter Deržavin schrieb eine seiner berühmtesten Hymnen344, in welcher er ihn ebenso auffaßte. Er ist hier nicht 344 „Gimn liro-ėpičeskij na prognanie Francuzov iz otečestva“ (1812). In: Sočinenija Deržavina s ob-jasnitel’nymi primečanijami Ja. Grota. Tom tretij. Stichotvorenija. Čast’ III. Sanktpeterburg 1866, S. 137–164; vgl. dort die Fußnote 31 (S. 151).

884

Teil II

mehr der Rhetor, schreibt seine Verse wie in Prosa, als wollte er vor einem Busenfreund seine Befürchtungen und Hoffnungen darlegen, die er immer auf den unergründeten Ratschluß der Vorsehung zurückführt. Diese lange Hymne ist durchgängig von religiösen Gedanken erfüllt. Der Dichter erhebt sich hier in die geheimnißvolle Sphäre, redet sogar die Sprache der Apokalypse. Napoleon gilt ihm bald als der Antichrist, bald als das Tier aus der „Offenbarung“ des Heiligen Johannes (die ganze Ode ist eine Paraphrase der Apokalypse). Diese Vorstellung war dazumal unter der gebildeteren Klasse Rußlands ziemlich allgemein. Der gelehrte Professor Johann Wilhelm Hezel345 in Dorpat legte in einem amtlichen Bericht dem Minister eine Abhandlung vor, in welcher er durch kabbalistische Rechnungen beweist, daß Napoleons Name (Le Empereur Napoleon) die Zahl 42 sei und den Antichrist bedeute. Deržavin fuhrt dies in einer Anmerkung an, um einige seiner Verse zu erklären. Die Bestimmung und die Taten Napoleons suchte man auch in Frankreich sich zu deuten. Die seiner Macht feindlichen Parteien blieben bei der Meinung stehen, er wäre das Resultat der Revolution gewesen. Dieser Mann, wenn wir uns durchaus der Sprache des Chemikers bedienen sollen, konnte kein Resultat sein, weil er nicht im Mindesten sich in die revolutionären Kombinationen eingelassen, dem revolutionären Treiben in Frankreich nie angehört hat, und sogar kein Mann des Abendlandes war; es gibt nichts in ihm, was einen Gallier, Germanen oder Slaven anzeigt. Er besaß weder den französischen Witz, noch die slavische Gutmütigkeit. Der Witz, das Treffende war ihm ganz fremd. Er ist der einzige französische Monarch, den man nicht zu den Witzigen rechnete, der durch sein ganzes Leben keinen Scherz gemacht, auch nicht ein einziges Wortspiel (Bonmot) hinterließ. Im Charakter und im Genius dieses Mannes war, wie das schon einige französische Schriftsteller bemerkten, viel Morgenländisches. Er liebte den Osten, eine unerklärbare Neigung rief ihn nach dieser Weltgegend; oftmals sagte er, daß nur im Osten große Männer geboren werden, und daß ein jeder, der Epoche gemacht, das Morgenland durchzogen habe; dieser Glaube trieb ihn nach Ägypten. 345 Friedrich von Hezel (1734–1824). Vgl. Bericht von W.F.  von  Hezel an den Generalfeldmarschall und Kriegsminister Michael Andreas Barclay de Tolly vom 11. Juni 1812. In: S. Ju. Čimarov: Russkaja Pravoslavnaja Cerkov’ v vojne 1812 goda. Sanktpeterburg 2004, S. 80–81; Hezel benutzt das latenische Alphabet als Zahlenmatrix: a–k (1–10), l–t (10–100), u–z (110–160). Der Name LE EMPEREUR NAPOLEON (20+5+5+30+60+5+80+5+110+80+40+1+60+50+20+5+50+40) ergibt die Zahl  666; vgl. Offenbarung 13, 16–18: „Wer Verstand hat, berechne den Zahlenwert des Tieres. Denn es ist die Zahl eines Menschennamens, seine Zahl ist 666.“; Napoleons Alter im Jahre 1812 betrug 42 Jahre = QUARANTE DEUX (70+110+1+80+1+40+100+5+4+5+100+140) = 666 (vgl. Offenbarung 13, 5–7). Name und Alter verweisen in der Zahl 666 auf den Antichristen.

26. Vorlesung (24. Mai 1842)

885

Wie können nun die Philosophen346, welche Napoleon verächtlich Ideologen nannte, behaupten, er sei ihr Zögling gewesen? Das ganze Leben hindurch verwarf er die Ideologie, nämlich die von leblosen Dingen entnommene und zum Beurteilen lebendiger, menschlicher, moralischer Vorgänge angewandte Kenntnis. Er war ein Freund der Wissenschaften, haßte aber den Ideologismus. Daher ist dieser Mann trotz aller Erklärungen der Gelehrten dennoch unerklärt geblieben und dieses sogar für das französische Volk, das nicht aufhört ihn zu preisen, ohne Rücksicht zu nehmen auf die Flüche der Legitimsten, das Geschrei der Republikaner und die Apostaten, Freunde des status quo. Deshalb faßten die Engländer, weil er unerklärbar war, einen instinktmäßigen Haß gegen ihn. Dieses Volk, das alles voraussehen, von Oben herab Schlachten gewinnen will, wie Schachpartien, das alles auf irdischer Macht und Berechnung beruhen läßt, hat beim Anblick eines unergründeten Mannes, der alle Kraft aus sich selber nahm und um sich her ausströmen ließ, der so zu sagen mit einem Wink große Männer schuf, ungeheuere Heere wie aus der Erde hervorrief und ein Volk über das andere stürzte, dieses Volk hat beim Anblick eines solchen Mannes das seinem Dasein schroff entgegentretende Wesen geahnt, und weil es ihn nicht begreifen konnte, wollte es ihn zu Grunde richten. England war angesichts Napoleons von solch einem Entsetzen ergriffen, wie ein kräftiger und kühner, aber ungläubiger Mensch, wenn er einen Geist erblickt. Für das Slaventum hat Napoleon eine außerordentliche Bedeutung. Wir haben schon gesagt, wie die polnische Literatur jener Zeit die Napoleonische sei; er hat aber auch sogar auf Rußland gewirkt. Zum ersten Male war der russische Monarch gezwungen, sich an die edlen Gefühle des Volks zu wenden, die Russen, was seit Jahrhunderten nicht geschehen, wieder im Namen des Glaubens und des Vaterlandes zu den Waffen zu rufen; das erste Mal geht der russische Bauer im Jahre 1812 für Glauben (vera) und Vaterland (otečestvo) in den Kampf; nirgends soll früher das Wort Vaterland (otečestvo) in der Regierungssprache zu finden gewesen sein. Seit Napoleon beginnen in Rußland, wenn auch nicht die Gedanken, so doch wenigstens die Gefühle sich zu regen, welche später Verschwörungen erzeugten. Durch Napoleon hat sich Polen zum ersten Mal in gleichem Gefühl, in gegenseitiger Hoffnung mit Frankreich vereint; hieraus aber entspringt eine Reihe Ideen, die notwendig eine Reihe Begebenheiten hervorbringen muß.

346 Antoine Louis Claude Destutt de Tracy: Eléments d’idéologie. Paris 1801–1815; vgl. Ulrich Lorenz: Das Projekt der Ideologie. Studien zur Konzeption einer „ersten Philosophie“ bei Destutt de Tracy. Stuttgar-Bad Cannstatt 1994.

886

Teil II

Noch ist hinzuzufügen, daß sogar Bewohner anderer Länder in diesem Mann etwas Übermenschliches sahen. Goethe347, einer der weisesten Männer, eines der größten Genies Europas, wagte kaum von ihm zu sprechen. Mitten unter den auf Napoleon erbitterten Deutschen, ehrte er ihn so, daß er sich fast seinen Namen zu nennen scheute; er sah in ihm den Vertreter einer größeren und wertvolleren Idee für die Menschheit, als alle Erfindungen der deutschen Philosophen sind, und neigte sein geniales Haupt vor ihm. Müller, der berühmte Geschichtsschreiber Johannes von Müller348, der die Franzosen nicht leiden konnte, sein ganzes Leben zur Ausrottung des französischen Einflusses in Deutschland hinbrachte, Österreich und Preußen deshalb diente, um sie gegen Frankreich aufzureizen, dieser Müller erkannte nach der ersten mit Napoleon gehaltenen Unterredung in ihm den Mann des Schicksals. Alles dies haben wir darum angeführt, um die große Anhänglichkeit der Polen an diesen Mann begreiflich zu machen. Die politischen Parteien in Frankreich suchten nach dem Sturze des Kaisers wieder in ihr gewöhnliches Geleise zu kommen. Die Partei des Jahres 1792, welche Fouché, die der heruntergekommenen Legitimisten, welche TalleyrandPérigord vertrat, und die Partei der wahrhaft Konstitutionellen, deren Vorbild der General Fayette gewesen, haßten sämtlich Napoleon, freuten sich sämtlich über seinen Untergang.349 Hat aber sein Gedanke den Zielpunkt erreicht, und ist derselbe zugleich mit ihm gestorben? War dieses nur ein mächtiger Monarch, ein gewandter Feldherr, ein ehrgeiziger Mann, der für einen Augenblick die Welt erschütterte? Unwillkürlich wird man hier an Cäsars Geschichte erinnert. Cäsar schien in den Augen der Politiker, der Anhänger der damaligen Parteien, in den Augen von Cicero, Brutus, Cato nichts weiter zu sein, als ein gewandter, genialer und ehrgeiziger Mensch. Und doch war das Volk, das gesamte Volk, ohne zu wissen warum, zum großen Verdruß des über diese Verblendung klagenden Cicero, Cäsar ergeben. Die fremden, unterworfenen Völker, welche Rom und den Senat verwünschten, verehrten Cäsar und gingen mit ihm gegen Rom und die 347 Vgl. Gustav Seibt: Goethe und Napoleon. Eine historische Begegnung. München 2008. 348 Johannes von Müller: Der Geschichten Schweizerischer Eidgenossenschaft (Teile 1–16). In: Johannes von Müllers sämtliche Werke. Hrsg. von Johann Georg Müller.1/ 2–39/40. Stuttgart [u.a.] 1831–1835. Vgl. Karl Schib: Johannes von Müller 1752–1809. Hrsg. im Auftrag. des Historischen Vereins des Kantons Schaffhausen. Thayngen-Schaffhausen [u.a.] 1967. 349 Joseph Fouché (1759–1820) – Polizeiminister; Charles Maurice de Talleyrand-Périgord (1754–1838); vgl. Johannes Willms: Talleyrand. Virtuose der Macht 1754–1838. München 2011; Marie Joseph de La Fayette (1757–1834); General und Politiker; Teilnehmer am amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1777–1781).

26. Vorlesung (24. Mai 1842)

887

Welt. Dieser Cäsar schien Vergil und Horaz unbegreiflich zu sein. Sie nannten ihn nicht aus Schmeichelei den Mann der Bestimmung.350 Sueton, ein gründlicher Historiker, ein allgewaltiger Schriftsteller, sah in Cäsars Charakter das göttliche Vorbild.351 Als die römischen Anführer nur noch Strategiker und Taktiker waren, erforschte Cäsar alte Traditionen, gehorchte der Eingebung und folgte seinem Instinkt. Man beschuldigte ihn sogar, daß er zuweilen bloß Feldzüge unternahm, um zu erfüllen, was ihm geträumt. Es ist bekannt, daß aus dem Traum, welchen er einmal in seiner Jugend gehabt, ein Astrolog ihm die Weltherrschaft weissagte. Das Ende Cäsars war ähnlich dem Napoleons. Die damaligen Staatsmänner meinten auch, seine Sendung wäre mit seinem Leben beschlossen, und Rom wurde zu seiner gewöhnlichen Politik zurückkehren. Indessen folgten später Männer auf Männer, um seinen Gedanken zu verwirklichen. Er sammelte das Interesse der ganzen Welt in sich und in seine Faust. Er war gesendet, die Ankunft eines anderen, eines sittlichen Herrschers, Jesus Christus des Heilands, vorzubereiten. Alle Geschichtsschreiber, sogar die Ungläubigen, sind in dieser Hinsicht einig, versichern einstimmig, daß die Herrschaft Roms, die Zusammenscharung der Völker unter das römische Kaisertum und die eiserne Faust Cäsars den Weg für das Fortschreiten des Christentums gebahnt habe. Napoleon, 1800 Jahre später als Cäsar, ging gleichfalls, diesem christlichen Gedanken die Bahn brechend, voran. Seine Sendung mußte viel erhabener, sein Sturz viel jäher sein. Er stürzte mit Millionen Menschen, die nur seine Glieder waren, mit seinem Leben lebten, mit seiner Begeisterung atmeten. Wenn wir auch bloß historisch die Sachen betrachten, ohne uns auf die Ahnungen der Völker zu berufen, so können wir doch schon folgern und annehmen, daß die Erscheinung und der Sturz dieses Mannes die Verheißungen einer neuen Epoche sind, welche dasselbe in Rücksicht auf unsere Zeiten sein wird, was das Christentum auf das Heidentum war. Wer auch immer bestimmt sein mag, den Gedanken Napoleons zu erfüllen, er selbst beginnt schon nach der Beendigung der politischen Revolution, wir wollen nicht sagen eine Revolution aber eine Evolution. Die Revolution läßt nach der Bedeutung, welche der lateinische Ausdruck hat, eine rückschreitende, retrograde Umwälzung, ein Zurückgehen verstehen. Diejenigen, welche eine Revolution erwarten, hoffen vielleicht auf eine Vertilgung, eine

350 P. Vergilius Maro: Aeneis. Lateinisch/Deutsch. Stuttgart 2008; mögliche, aber nicht eindeutige Stelle in Liber I, 283–288; nicht bei Horaz; vgl. J. Maślanka (A. Mickiewicz. Dzieła. Tom IX: Literatura słowiańska. Kurs drugi, op. cit., S. 516). 351 Gaius Suetonius Tranquillus: De vita caesarum / Die Kaiserviten. Herausgegeben und übersetzt von Hans Martinet. Lateinisch-deutsch. Düsseldorf 1997.

888

Teil II

Ausrottung des Christentums; aber das Christentum ist tiefer in den Herzen der Völker eingewurzelt, als es scheint, und besitzt ein ewiges Leben. Napoleon beginnt also eine Evolution, eine Entfaltung, denn jede unsterbliche Wahrheit entfaltet sich und wächst, und der Mann der Bestimmung, der Heros Frankreichs und eines Teils der Slaven, ist zugleich die Fahne der künftigen Vereinigung der Völker, welche er regierte, ihrer geistigen Vereinigung in dieser Idee, welche der Anfang einer sittlichen und religiösen Evolution sein wird.

27. Vorlesung (31. Mai 1842) Die russische Literatur seit Karamzin – Verwandtschaft der Literatur dem Buchstaben und dem Geist nach – Ursache der Verbindung der literarischen und politischen Geschichte – Slavische Reaktion wider den Petersburger Geist; die Moskauer Martinisten – Charakteristik der russischen Schriftsteller: Dmitriev, Deržavin und Karamzin – Der Wiener Kongreß – Die polnische Frage verwirrt alle Verträge – Nur der Haß gegen Napoleon vereint die Monarchen – Die slavischen Völker kann nur das religiöse Gefühl vereinen.

In der Literaturgeschichte, die das Geschlechtsbuch, der genealogische Stammbaum des menschlichen Geistes ist, kann man zwei Linien der Abkunft, nämlich dem Buchstaben und dem Geiste nach, wahrnehmen. Leicht nachweisbar ist der Ursprung der Literatur. Es genügt, ein literarisches Kompendium in die Hand zu nehmen, um zu sehen, wie sich die Zeiträume unterscheiden, wie sich die Namen der Schriftsteller aneinanderreihen, wie sie in steter Folge und Nachahmung des Früheren gewisse Gruppen, gewisse Klassen bilden, und auf diese Weise das hervorbringen, was wir Epochen nennen. Aber solch ein oberflächlicher Überblick der Literaturgeschichte wird nie im Stande sein uns alle Ereignisse zu erklären, daher mußten wir, um die literarischen Ergebnisse Polens und Rußlands zu verstehen, weit von diesen Ländern entlegene, moralische und politische Tatsachen in Untersuchung ziehen. Eben jetzt auch befinden wir uns in einem ähnlichen Fall. Wenn wir die Literaturgeschichte von Greč352 und anderen russischen Schriftstellern lesen, wie sollen wir das gleichzeitige Erscheinen des Deržavin, Karamzin, Batjuškov, Žukovskij und Puškin begreifen? Was Deržavin353 war, das haben wir schon gesehen, betrachten wir jetzt die anderen. Karamzin, schon in seinem Jünglingsalter als talentvoller Schriftsteller anerkannt, geht nicht auf der breitgetretenen Bahn; statt Triumphoden zu schreiben, nach Rang und Auszeichnungen zu streben, begibt er sich in fremde Länder354, um die Reife zu benutzen; er macht sich mit den deutschen und englischen Schriftstellern vertraut, von denen Deržavin nicht einmal gehört. 352 N. I. Greč: Opyt kratkoj istorii ruskoj literatury. Sanktpeterburg 1822. 353 Vgl. die 12. Vorlesung (Teil II). 354 Nikolaj M. Karamzin: Pis’ma russkogo putešestvennika. Red. Ju. M. Lotman, N.A. Marčenko, B.A. Uspenskij. Leningrad 1986; deutsche Übersetzung – Nikolaj Karamsin: Briefe eines russischen Reisenden. Übersetzt von Johann Richter. Ausgewählt und herausgegeben von Gudrun Ziegler. Stuttgart 1986; vgl. Hans Rothe: N.M. Karamzins europäische Reise. Der Beginn des russischen Romans. Philologische Untersuchungen. Bad Homburg vor der Höhe 1968.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_069

890

Teil II

Batjuškov, ein Offizier der siegreichen Armee des Jahres 1812 und 1813 scheint beinahe den Krieg zu vergessen, welchen der alte Deržavin unablässig besungen; er weiht ihm nur ein einziges Lied355, und spricht auch darin mehr von Naturbildern und den Ritterzeiten des Rheinlandes, als vom Hass gegen Frankreich, oder von patriotischen Gefühlen für Rußland. Žukovskij schrieb ein Kriegslied356, das weit umher erscholl, aber bald wählte er einen andern Stoff; er schreibt Balladen und übersetzt Goethe und Schiller, Was ist die Ursache dieser Veränderung? Die ganze Generation scheint Rußland zu verlassen, von Petersburg auszuwandern. In dieser Zeit begann eine religiöse und moralische, und zugleich mit ihr eine allgemeine slavische Reaktion wider den in Petersburg herrschenden Geist. Wir verließen Petersburg als die unumschränkte Beherrscherin der russischen Literatur. Die Hauptstadt, wie bekannt, bildete die Sprache, gab der Literatur jenen leichten und freien Ton, der die Epoche Katharinas bezeichnet, jenen philologischen Geist, den die Zarin zu verbreiten strebte. Aber noch in den letzten Jahren ihres Lebens kommt in Moskau, das bereits von dem Mittelpunkt der von den Zaren ausgehenden Bewegung entfernt war, ein anderer moralischer Antrieb zum Vorschein, der anfangs vernachlässigt, später die Aufmerksamkeit und sogar die Verfolgung der Regierung auf sich Zog. Moskau hatte zu jener Zeit nur ein Senats-Departement, das gar keinen Einfluß ausübte, und die alte russische Akademie357, die im Schatten der Petersburger Akademie der Wissenschaften stand. Die Moskauer Akademie, einst von den ersten Romanovs angelegt, befaßte sich nur mit Philologie und Theologie, sie trug durchaus nichts bei zu der allgemeinen Geistesregung, und dennoch war es in Moskau, wo ein neues Leben erkeimte. Einige der dortigen Bojaren, wie Lopuchin358 (nicht zu verwechseln mit dem Generalstaatsanwalt Lopuchin), die Turgenevs359, deren Name schon zu den Zeiten des Pseudode355 Konstantin  N.  Batjuškov (1787–1855). K.N.  Batjuškov: „Perechod čerez Rejn“ (1814). In: K.N. Batjuškov: Polnoe sobranie stichotvorenij. Moskva-Leningrad 1964, S. 209–213. 356 Vasilij A. Žukovskij (1783–1852). V.N. Žukovskij: „Pevec vo stane russkich voinov“ (1812). In: V.A. Žukovskij: Sobranie sočinenij v 4 tomach. Moskva-Leningrad 1959, tom I, S. 149–166. 357 „Slavjano-Greko-Latinskaja Akademija“, gegründet 1687 auf die Initiative von Simeon Polockij (1629–1680). Vgl. S.  K.  Smirnov: Istorija Moskovskoj Slavjano-Greko-Latinskoj Akademii. Moskva 1855; zur Geschichte der Petersburger Akademie vgl. vgl. P.P. Pekarskij: Istorija Imperatorskoj Akademii nauk v Peterburge. 2 Bde., Sankt-Peterburg 1870–1873. 358 Ivan Vladimirovič Lopuchin (1756–1816) – Philosoph, Freimaurer; vgl. Lopuchins Zapiski iz nekotorych obstojatel’stv žizni i služby dejstvitel’nogo tajnogo sovetnika i senatora I.B. Lopuchina, sostavlennoj im samim. London 1860.Im Internet unter: [https://dlib.rsl. ru/viewer/01003564986#?page=2]. – Petr V. Lopuchin (1753–1827) – Polizeichef, Politiker. 359 Ivan Petrovič Turgenev (1752–1807); Aleksandr Ivanovič Turgenev (1784–1846); Andrej Ivanovič Turgenev (1785–1846); Nikolaj Ivanovič Turgenev (1789–1871); Sergej Ivanovič Turgenev (1792–1827).

27. Vorlesung (31. Mai 1842)

891

metrius genannt wird, und andere, haben die erste Privatdruckerei360 angelegt; alle übrigen nämlich gehörten der Regierung. Die mächtigen Herren dachten gar nicht an den Gewinn aus einer solchen Anstalt; sie hatten ein edles Ziel vor Augen, sie wollten den ärmeren Teil des Volkes sittlich aufklären und bilden. Mit Hilfe eines wenig bekannten Mannes, des jungen Offiziers Novikov361, vermochten sie nach und nach eine sehr tätige Gesellschaft362 zu gründen, sie ließen übersetzen und gaben auf eigne Kosten deutsche und englische Werke religiösen Inhalts heraus, und die Volksmenge, die Kaufleute, welche lesen konnten, welche Deržavin und Lomonosov nicht kannten, warfen sich begierig auf die aus dieser Druckerei hervorgehenden Bücher. Die Zarin Katharina II. lachte anfangs über diese Bemühungen, sie schrieb sogar für ihr Theater zu Petersburg eine kleine Komödie363, welche der Martinisten (so nannten sich diese Reformatoren) spottete. Die Martinisten ließen sie in ihrer Loge aufführen, und dies zog ihnen Verfolgung zu; denn schon begann die Revolution, und in Deutschland bedrängte man das Illuminatenwesen des Dr. Weishaupt.364 Man verbannte die Turgenevs, Novikov wurde ins Gefängnis geworfen, die Druckerei aufgehoben, alle noch im Laden vorhandenen Bücher verbrannt, und die Sache schien auf immer erstickt zu sein.365 360 Vgl. B.I. Krasnobaev: Die Bedeutung der Moskauer Universitätstypographie unter Novikov für die Kulturverbindungen Rußlands mit anderen europäischen Ländern. In: Buch- und Verlagswesen im 18. und 19. Jahrhundert. Hrsg. H.G.  Göpfert, G.  Koziełek und R.  Wittmann. Redaktion H. Ischreyt. Berlin 1977, S. 217–235. 361 Nikolaj Ivanovič Novikov (1744–1818); vgl. M.N. Longinov: Novikov i moskovskie martinisty. Moskva 1867; Douglas Smith: Working the Rough Stone. Freemasonry and Society in Eighteenth-Century Russia. DeKalb (Illinois) 1999. 362 „Družeskoe učenoe obščestvo“ (Gesellschaft Gelehrter Freunde), begründet von Johann Georg Schwarz (Ivan Grigor’evič Švarc) und N.I.  Novikov, auf dessen Initiative die „Tipografskaja kompanija“ (Typographische Kompanie) entstand. Vgl. B.I.  Krasnobaev: Eine Gesellschaft Gelehrter Freunde am Ende des 18 Jahrhunderts: „Družeskoe učenoe obščestvo“. In: Beförderer der Aufklärung in Mittel- und Osteuropa: Freimaurer, Gesellschaften, Clubs. Hrsg. Eva  H.  Balazs, Ludwig Hammermayer, Hans Wagner und Jerzy Wojtowicz. Berlin 1979, S.  257–270, Georg von Rauch: Johann Georg Schwarz und die Freimaurer in Moskau. In: Beförderer der Aufklärung in Mittel- und Osteuropa: Freimaurer, Gesellschaften, Clubs. Hrsg. Eva H. Balazs, Ludwig Hammermayer, Hans Wagner und Jerzy Wojtowicz. Berlin 1979, S. 212–224. 363 Ekaterina II.: „Obmanščik“ (Der Betrüger). Komedija v pjati dejstvijach. In: Sočinenija imp. Ekateriny II. Hrsg. A.N. Pypin. Sankt-Peterburg 1901, tom I. Im Internet: [http://az.lib. ru]. 364 Adam Weishaupt (1748–1830), Begründer des Illuminaten-Ordens; vgl. Die Illuminaten. Quellen und Texte zur Frühaufklärungsideologie des Illuminatenordens (1776–1785). Hrsg. Jan Rachold. Berlin 1984; Leopold Engel: Geschichte des Illuminaten-Ordens. Ein Beitrag zur Geschichte Bayerns. Leipzig 2011. 365 Vgl. A.N. Pypin: Russkoe masonstvo XVIII i pervaja četvert’ XIX veka. Red. G.V. Vernadskij. Petrograd 1916 (Reprint: Sankt-Peterburg 2009).

892

Teil II

Sehen wir jetzt noch, welchen Charakter diese Bewegung hatte und aus welcher Quelle dies neue Leben entsproß. Dieser Keim kam aus Frankreich, sein Urheber war ein in diesem Land fast unbekannter Mann, Louis-Claude de Saint-Martin. Wir sehen also, wie einzelne Männer aus der Geschichte fremder Völker für die der Slaven zuweilen wichtig werden. Zu solchen gehört der französische Theosoph Saint-Martin.366 In den letzten Jahren vor der Revolution ließ sich in Frankreich unter einer gewissen Klasse der Gesellschaft ein Erwachen des religiösen Lebens bemerken. Es war gleichsam das deutliche Vorgefühl von der Notwendigkeit der Religion zu der Zeit, als man allgemein schon ihren Untergang voraussah. Die Logen der Freimaurer zu Montpellier und Lyon waren in dieser Hinsicht eifrig beschäftigt und wollten in ihre Geheimnisse einige Grundwahrheiten des Christentums einführen. Was noch merkwürdiger, ist, daß der menschliche Geist damals so gewaltsam die kirchlichen Formen zersprengend, einer Gesellschaft sich zuneigte, die doch eigentlich nur auf Formen beruhte, und daß er die christlichen Dogmen verwerfend, unbekannte Gebräuche mit der Freimaurerei annahm. In den damaligen Tagen spielte der erwähnte Saint-Martin eine große Rolle, und zu gleicher Zeit auch ein anderer noch geheimnißvollerer Theurg und Theosoph, der portugiesische Jude Martinez de Pasqually367, welcher auf seiner Reise durch Frankreich mit Saint-Martin Bekanntschaft gemacht. Später in die mystischen Lehren hineingezogen, und in der Absicht, die religiösen Fragen bis aus den Grund zu erforschen, lernte Saint-Martin deutsch, um den berühmten Theosophen Jakob Böhme368 studieren zu kön366 Louis-Claude de Saint-Martin (1748–1830); vgl. Wiktor Weintraub: Saint-Martin i poetyka profetyzmu. In: W.  Weintraub: Poeta i prorok. Rzecz o profetyzmie Mickiewicza. War­ szawa 1982, S. 101–121; W. Weintraub: Rosyjski martynizm i Oleszkiewicz. In: W. Weintraub, op. cit., S. 122–148; Gerhard Wehr: Louis Claude de Saint-Martin. Der „unbekannte Philosoph“. Berlin 1995. 367 Martinez de Pasqually (1727?–1774), der 1754 den „Ordre des chevaliers-maçons Élus Coëns de l’Univers“ gründete, in dem Saint-Martin von 1771 bis 1772 als Sekretär tätig war; Hauptwerk: Martinès de Pasqually, Traité sur la réintégration des êtres dans leur première propriété, vertu et puissance spirituelle divine (1770–1772). Paris 1899 [https://gallica.bnf. fr/ark:/12148/bpt6k75328t]; dt. Übersetzung – Martinès de Pasqually: Abhandlung über die Wiedereinsetzung der Wesen in ihre ursprünglichen geistigen und göttlichen Eigenschaften, Kräfte und Mächte. (Novalis-Verlag) Steinbergkirche 2007. 368 Jakob Böhme (1575–1624). Über Böhme diktierte Mickiewicz 1853 seinem Freund Armand Lévy eine Abhandlung in französischer Sprache, die Piotr Chmielowski später ins Polnische übersetzte, Vorwort Władysław Mickiewicz: „Rozprawa Mickiewicza o Jakóbie Boehmem.“ Warszawa (Nakładem „Przeglądu Filozoficznego“) 1898 [http://upload.wikimedia. org]. Über Mickiewicz J. Böhme, Angelus Silesius und Saint-Martin vgl. Michał Masłowski: Die „Ansichten und Bemerkungen“ von Adam Mickiewicz. In: Adam Mickiewicz und die Deutschen. Eine Tagung im Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar. Hrsg. Eva

27. Vorlesung (31. Mai 1842)

893

nen. Um dieselbe Zeit machte er auch Bekanntschaft mit einigen Russen und Polen, die seine Werke und Ansichten nach Moskau brachten. Der Admiral Pleščeev369 und der Pole Graf Grabianka370, der zuletzt in den russischen Kasamatten seinen Tod fand, scheinen als Vermittler zur Verpflanzung dieser Bewegung aus Frankreich nach dem Norden gedient zu haben, und waren Mitglieder dieser halb freimaurerischen, halb christlichen Loge. [Ivan] Lopuchin und viele andere unter dem russischen Adel verbreiteten eifrig die eingeimpften Ansichten, und alle Männer, die nur einigermaßen mit Aufmerksamkeit die Dinge betrachteten, erkannten die Notwendigkeit, die Religion in Rußland zu beleben. Auf ähnliche Weise fand die durch Jakob Böhme gegebene Bewegung hieselbst Anklang. Gegen das Ende des 17 Jahrhunderts wurde der Protestantismus zu einer kalten und trocknen Form. Die Theologie, die mit dem Angriffe auf die scholastischen Formeln begonnen, verfiel am Ende selbst in die Scholastik, und das wenige Leben, das sich noch im Protestantismus zeigte, entsproß eigentlich mehr aus dem Hass gegen die katholische Kirche. Fast könnte man sagen, dieses Leben erhalte sich weniger durchs Herz als durch die Galle. Mit Ausnahme der theologischen Polemik, enthalten die anderen Werke nichts als weitläufige Abhandlungen über einzelne Wahrheiten, und gegenseitige Anklagen der Ketzerei. Johann Arndt371, der um das Ende des 16. Jahrhunderts geboren, zu Anfang des 17. Jahrhunderts gestorben, war der Erste, der die Religion zu beleben und der Reform entgegenzuarbeiten begann, er war der Erste, der sich mit der Wahrheit hören ließ, daß, um andere zu bekehren, man vorher selber sich bekehren müsse; daß der Theologe nur so viel Bedeutung habe, als an ihm selbst Heiliges sei; daß Bücher wenig Wert im Christentum haben und lebendige Werke dessen Fruchte seien. Arndt lenkte die Aufmerksamkeit auf die Propheten, kündigte eine neue Ära an, einen neuen Fortschritt des Christentums Mazur-Kębłowski, Ulrich Ott. Wiesbaden 2000, S. 107–126; vgl. auch Gerhard Wehr: Jakob Böhme. Ursprung, Wirkung, Textauswahl. Wiesbaden 2010. Über „Jacob Boehme Resources“ vgl.: [http://pegasus.cc.ucf.edu]. 369 Sergej Ivanovič Pleščeev (1752–1802); vgl. M.N. Longinov: Novikov i moskovskie martinisty. Moskva 1867; Viktor Stepanovič Bračev: Masony v Rossii ot Petra  I do našich dnej. Sankt-Peterburg 2000. 370 Tadeusz Grabianka (1740–1807); vgl. Józef Ujejski: Król Nowego Izraela. Karta z dziejów mistyki wieku oświeconego. Warszawa 1924; Maria Danilewicz-Zielińska: The King of the New Israel: Thaddeus Grabianka (1740–1807). In: Oxford Slavonic Papers. New Series I. 1968, S. 49–73; Jerzy Siewierski. Upadły Anioł z Podola. Opowieść o Tadeuszu Grabiance. Warszawa 2003. 371 Johann Arndt (1555–1621). Vgl. den Sammelband – Frömmigkeit oder Theologie: Johann Arndt und die „Vier Bücher vom wahren Christentum“. Hrsg. Hans Otte und Hans Schneider. Göttingen 2007.

894

Teil II

und die Vereinigung Israels mit der christlichen Kirche. Sehr beachtungswert bleibt es, daß die Werke des ersten Reformators des Protestantismus von den russischen Martinisten als Werkzeuge zur Umänderung der Kirche Rußlands gewählt wurden.372 Es zeigte sich hier das nämliche Bedürfnis. Jeder wußte recht gut, die russisch-griechische Kirche tauge nichts mehr; ihre Bischöfe, Gelehrten und Frommen wurden selber Martinisten, und verbreiteten die Lehren Arndts und Speners373, eines anderen deutschen Theologen, der die Begriffe seines Vorgangers weiter entwickelte. Zur selben Zeit übersetzte man auch die wenig bekannten Schriften des berühmten englischen Quäkers William Penn.374 Alle diese Werke hatten eine praktische Tendenz. Es handelte sich hier darum, das Christentum aus der Welt endloser Vernünfteleien, in welche es von der protestantischen Gelehrsamkeit gestoßen worden, herauszuziehen und mit einem tätigen Leben in Verbindung zu bringen. Auf diese Weise haben jene denkenden Männer, ohne zu merken, den Protestantismus dem katholischen Glauben genähert. Die Martinisten wurden, wie wir gesagt, zerstreut, ihre Bücher verbrannt; aber der Einfluß der oben erwähnten Bojaren und Schriftsteller hat auf den Geist und den Charakter alles dessen, was mit ihnen in Berührung gekommen, nicht aufgehört zu wirken. Dimitriev375, der letzte Repräsentant der Schule aus Katharinas Zeitalter, ein talentvoller und witziger Schriftsteller, teilte die Überzeugung der Martinisten nicht, schadete ihnen jedoch auch nicht. Deržavin haßte sie aus vollem Herzen und verspottete sie mit der größten Bosheit. Von Karamzin kann man sagen, daß er ihr Zögling war. Die Familie Turgenev lernte ihn frühzeitig kennen, zog ihn zu sich und erweckte in ihm den Eifer, seine Fähigkeiten auszubilden. Er neigte sich nicht völlig zur Ansicht des Martinismus, verdankte jedoch diesem alles, was er Ernstes, Gutes und Religiöses in sich hatte. Diese Schule lehrte ihn wenigstens die Religion ehren, und nicht völlig aus der Seele verbannen. Als er seine wichtigeren Werke schrieb und herausgab, richtete er sich nach den zu Petersburg vorherrschenden Schriftstellern, teilte die Ansichten der liberalen französischen Schule, die größtenteils aus jungen Russen bestand, bei denen die Ausländer den Ton anstimmten. Es war eine politische Schule, die sich sehr 372 Vgl. Stefan Reichelt: Johann Arndts „Vier Bücher von wahrem Christentum“ in Russland. Vorboten eines neuzeitlichen interkulturellen Dialogs. Leipzig 2011. 373 Philip Jacob Spener (1635–1705); vgl. Philipp Jakob Spener. Leben, Werk, Bedeutung: Bilanz der Forschung nach 300 Jahren. Hrsg. von Dorothea Wendebourg. Tübingen 2007. 374 William Penn (1644–1718). 375 Ivan Ivanovič Dimitriev (1760–1837); vgl. dazu den Sammelband: Ivan Ivanovič Dmitriev (1760–1837). Žizn’. Tvorčestvo. Krug obščenija. Red. A.A. Kostin, N.D. Kočetkova. SanktPeterburg 2010.

27. Vorlesung (31. Mai 1842)

895

wenig mit religiösen Fragen befaßte. Am Hofe und in den höheren Zirkeln herrschte das französische Wesen; erst die Martinisten spornten die Jugend und den Adel Rußlands an, die deutsche und englische Sprache zu lernen. Karamzins Werke wurden beim Publikum sehr beliebt, besonders durch den Reiz ihrer Form und durch die Bündigkeit, Erhabenheit und Einfachheit seines Stils. Auch war er der Erste, der die fühlende Seite des menschlichen Herzens berührte, der erste unter den russischen Schriftstellern, der die Bahn des historischen Romans betrat. Die gefühlvolle Betrachtung der Naturschönheiten, des häuslichen und literarischen Lebens läßt sein Talent leicht die lieblichsten Saiten treffen. Vor allem anderen verdankt er aber der „Geschichte des russischen Staates“ (Istorija gosudarstva Rossijskogo) seinen Ruhm, von der wir einige Worte beifügen wollen. Dieses umfassende Werk begann er unter der Regierung Alexanders. Die Flachheit und Trockenheit der damaligen Literatur in Rußland, die er als Schaum [l’écume]376 nannte, war ihm Veranlassung, dieselbe mit einem ernsten Gegenstand, mit einer gewissenhaften Belehrung zu beleben. Größtenteils in dieser Absicht unternahm er seine „Geschichte des russischen Staates“. Jetzt wirft man ihm vor, daß er den Faden des historischen Lebens nicht aufzufassen verstand, daß er mit den Quellen über das Slaventum nicht genug bekannt war, daß er endlich die Tatsachen falsch darstellte, indem er sie in die von ihm dazu gemachten Rahmen einfügte, und die Vorstellung vom alten Slaventum verfälschte, indem er das altertümliche Rußland, als ein unter dem Zepter einer einzigen Herrscherfamilie regiertes Reich beschrieb, und das gegenwartige Zarentum zum Muster in der Schilderung der früheren Zeiten nahm.377 Aber die später erhobenen Forderungen waren damals noch nicht bekannt, und die größten englischen und französischen Geschichtsschreiber haben dieselben Fehler straflos begangen. Was den Stil anbetrifft, so kommen Karamzin, Gibbon378 und Hume379 einander gleich, in anderer Beziehung steht er aber höher als sie, denn er ist gefühlvoller und zuverlässiger. Gibbon 376 Stelle bei Karamzin nicht gefunden. 377 Vgl. Die Kritik von Zorian Dołęga Chodakowski: O Słowiańszczyźnie przed chrześcijaństwem oraz inne pisma i listy. Hrsg. Julian Maślanka. Warszawa 1967; darin die übersetzten Beiträge aus „Vestnik Evropy“ (1819) und „Syn Otečestva“ (1820); vgl. auch – Ulrike Brinkjost: Geschichten und Geschichte. Ästhetischer und historiographischer Diskurs bei N. M. Karamzin. München 2000. 378 Edward Gibbon (1737–1794); E.  Gibbon: The History of the Decline and the Fall of the Roman Empire, London, 1. Bd. 1776; 2.–3. Bd. 1781; 4.–6. Bd. 1788. Deutsche Übersetzung: Verfall und Untergang des römischen Reiches. Hrsg. von Dero A. Saunders. Aus dem Englischen von Johann Sporschil. Frankfurt am Main 2004. 379 David Hume (1711–1776); D.  Hume: The history of England: from the invasion of Julius Cæsar to the revolution in 1688. In eight volumes. London 1763.

896

Teil II

bleibt immer kalt, nur dann erglüht er, wenn er gegen christliche Dogmen losbricht. Die Schriftsteller der Jetztzeit haben ihn hierin, wie in vieler anderen Hinsicht übertroffen. Hume ist beinahe ganz in Vergessenheit gekommen, Karamzin dagegen bleibt klassisch, seine Geschichte wird immer gelesen werden, und besonders die Bände, die von Ivan dem Schrecklichen handeln. Indem er diesen Gegenstand beschreibt, befindet er sich Angesichts einer Zeit, die er nicht zu erklären vermag; und, um so zu sagen, den unmittelbaren Einfluß Gottes auf die menschlichen Dinge hier verspürend, wird er ernster, tiefer und zuweilen sogar erhaben. Als er z.B. eines der damaligen Ungeheuer, Maljuta Grigorij Luk’janovič Skuratov-Bel’skij, schildert, sagt er: „er sei nur deshalb der Grausamkeit Iwans entronnen, weil für solche Verbrecher kein Gericht auf Erden vorhanden, er mußte mit seinem Herrn zugleich Rechenschaft über sein Leben vor Gott selbst ablegen.380 Sicherlich wäre weder Gibbon noch Hume im Stande gewesen, eine solche Wahrheit einzusehen. Man könnte auch eine interessante Vergleichung zwischen Karamzin und Adam Naruszewicz anstellen, da es aber hierbei notwendig wäre, die einzelnen Fehler und Vorzüge des polnischen Historikers durchzugehen, und die Zeit uns drängt, so müssen wir die Betrachtung über diese beiden Schriftsteller auf ein anderes Mal verschieben. Was Žukovskij381 und Batjuškov anbelangt, so werden wir später einige Bruchstücke ihrer Dichtungen anführen, die uns von selbst an das erinnern werden, was wir über Antoni Gorecki im Vorbeigehen erwähnten. Karamzin war der erste russische Literat, der sich ausschließlich seinem Beruf geweiht hat; sein ganzes Herz, sein ganzes Leben widmete er der Literatur. Er dachte nie an Einfluß auf politische Angelegenheiten, öfters entzog er sich den gnädigen Anerbietungen Alexanders und besaß selbst den Mut in wichtigen Dingen dem Kaiser entgegenzutreten. Als Politiker indessen folgte er der damaligen Ansicht, trennte scharf die Politik von der Religion und Moral, und bekannte aufrichtig, daß er in der Politik alle Mittel für gut erachte. Im elften Band seiner „Geschichte des russischen Staates“ findet sich sogar ein Satz, der ganz den Geist des Petersburger Kabinetts in sich trägt. Indem er den Boris Godunov lobt, sagt er: „Der Fürst Vasilij hatte eine kluge Politik; er verstand

380 Das Zitat bezieht sich auf folgende Stelle bei Nikolaj Michajlovič Karamzin: Istorija Gosudarstva Rossijskogo. Reprintnoe vosproizvedenie izdanija 1842–1844 gg. V trech knigach s priloženiem. Red. V.I. Sinjukov. Moskva 1989, Bd. 9, Kap. IV, S. 123: „Оставался еще один, но главный из клевретов тиранства, Малюта Григорий Лукьянович Скуратов-Бельский, наперсник Иоаннов до гроба: он жил вместе с Царем и другом своим для суда за пределами сего мира.“ Vgl. auch die 37. Vorlesung (Teil I). 381 Auf Žukovskij ist Mickiewicz nicht mehr eingegangen.

27. Vorlesung (31. Mai 1842)

897

seinen Verbündeten ohne Krieg allen möglichen Schaden zuzufügen.“382 Diesen Gedanken entlehnte der gute Karamzin geradezu den vergötterten ausländischen Schriftstellern. Während in Rußland solche Tendenzen sich kund gaben, stand das Schicksal Europas auf der Waagschale des Wiener Kongresses. Die zu Wien versammelten Monarchen bemühten sich, eine neue Ordnung einzuführen. Man faßte zuerst den Vorsatz, nichts weiter zu tun, als die Grenzstreitigkeiten zu schlichten und die Länder auf ihr früheres Gebiet zurückzuführen. Vielleicht wäre man damit zu Ende gekommen, hätte nicht die Frage, was mit dem Herzogtum Warschau zu machen sei? alle Entwürfe in Verwirrung gebracht. Wo sollte man die Grenzen dieses Herzogtums auffinden, wie dies Land benennen? Die durch Napoleon verliehene Benennung wollte man ihm nicht lassen, und hätte man es Königreich oder Herzogtum Polen betitelt, dann hätte man die Grenzen des alten Polenlandes herstellen müssen. Auf diese Art war Polen ein Knochen, den man nicht zerbeißen konnte, man ging daher von der Grenzfrage ab. Hierauf begannen die Monarchen auf Anraten ihrer Minister einen moralischen Grundsatz zu suchen. Man fand für notwendig, den Traktat auf irgendeine Idee zu stützen, denn es ließ sich nicht verkennen, daß den Völkern die Streitigkeiten, die nichts anderes als Länderraub bezweckten, schon zum Überdruß geworden waren. Der Fürst Talleyrand äußerte frei und offen, er allein habe eine Idee. „Bei Euch ist die Macht“, sagte er, „ich aber komme mit der Idee; diese Idee ist Rechtlichkeit. Laßt uns überall die Rechtlichkeit einführen, dies wird das allerbeste Mittel sein, die französische Revolution zu beenden und Europa in die alten Schranken zurückzubringen. Geben wir einem jeden sein Recht wieder.“383

Man wollte daher die Republiken Genua, Venedig und das Königreich Sardinien wiederherstellen, die Bourbonen wieder auf den Thron setzen und die französische Revolution wie eine in die Geschichte bloß eingeschobene Begebenheit, wie einen vorübergehenden Räuberanfall betrachten, mit einem Schlag alles in Vergessenheit begraben, was während dreißig Jahren geschehen 382 Freie gedankliche Wiedergabe der Stelle bei Karamzin, op. cit., Bd.  11, Kap. I, S.  18: „В делах внешней политики Российской ничто не переменилось: ни дух ее, ни виды. Мы везде хотели мира или приобретений без войны, готовясь единственно к оборонительной; не верили доброжелательству тех, коих польза была несовместна с нашею, и не упускали случая вредить им без явного нарушения договоров.“ Vgl. auch die 39. Vorlesung (Teil I). 383 Zitat nicht ermittelt. Kontext vgl. Alexander Sallé: Talleyrand-Perigord’s politisches Leben. Aus dem Französischen von Dr. A. Neurohr. Stuttgart 1834.

898

Teil II

war. Aber siehe! Wieder tauchte die polnische Frage hervor und warf dieses System über den Haufen. Denn Rußland und Preußen hatten niemals darein gewilligt, an Polen die alten Rechte zurückzugeben. Die französischen Legitimisten beeilten sich, den Monarchen behilflich zu sein. Ihrer Ansicht gemäß bezog sich die Rechtlichkeit eigentlich nur auf die Monarchen, keineswegs aber auf die Völker, und das gefiel Österreich wohl; denn auf diese Weise konnte es Venedig behalten. Sardinien sah hierin gleichfalls einen Vorwand, Genua an sich zu reißen. Nach der damals beliebten Lehre des Grafen Joseph Marie de Maistre war die Republik auf dem geraden Wege politischer Berechnungen eine Unregelmäßigkeit. Unter gesetzmäßiger Regierung sollte nur die päpstliche und königliche Gewalt verstanden werden.384 Unglücklicherweise hatte die polnische Republik auch einen König gehabt, man konnte also auch unter diesem Vorwand das legitimistische System von der Ausmerzung der Freistaaten auf Polen keineswegs anwenden. Lange Zeit jedoch erwog man diese Frage. Alle fühlten das Bedürfnis, vor dem eignen Gewissen eine Ausrede zu finden. Alle fühlten, daß eines moralischen Grundsatzes nicht entbehren könne; dabei aber wollten sie sich gern mit dem ersten besten Vorwand begnügen. Man ist kaum im Stande, sich den Ingrimm der Legitimisten vorzustellen; von da an schwuren sie Polen unauslöschlichen Haß. Ohne Polen wäre die Schwierigkeit, wenigstens einerseits, leicht zu heben gewesen. „Es waren Päpste“, sagten sie mit dem Grafen de Maistre, „es waren Könige, welche die Völker väterlich regierten, und wenn diese auch zuweilen Strenge gebrauchten, so war es doch zum Zweck der Besserung; nun warf sich ein wahnwitziges Volk, das französische, über diese herrliche Ordnung und riß alles nieder; endlich gelang es uns, dessen Wahnsinn zu bändigen und die allgemeine Glückseligkeit wiederherzustellen.“385

Was sollen wir aber jetzt sagen? Haben diese Könige, die nach de Maistre und seinen Anhängern immer rechtlich verfahren, aus Gerechtigkeit ein ganzes Volk gemordet? Haben sie dies seiner Besserung wegen getan, da doch allgemein bekannt ist, daß sie es seiner Volkstümlichkeit berauben und ausrotten wollten? Der Graf richtete in seiner Angst an mehrere hochgestellte Russen 384 Vgl. Joseph Marie de Maistre: Vom Papst: ausgewählte Texte. Übersetzt von Marie-Luise Frimont. Berlin 2007; Die Abende von St. Petersburg oder Gespräche über das zeitliche Walten der Vorsehung. Hrsg. von Jean-Jacques Langendorf und Peter Weiß. Überarbeitete Übersetzung aus dem Französischen von Moritz Lieber. Wien-Leipzig 2008; Wilhelm Schmidt-Biggemann: Politische Theologie der Gegenaufklärung: Saint-Martin, De Maistre, Kleuker, Baader. Berlin 2004. 385 Zitat nicht ermittelt.

27. Vorlesung (31. Mai 1842)

899

Briefe386, in welchen er ihnen den Rat gibt, den polnischen Volksgeist mit Hilfe des Katholizismus und der Jesuiten zu vernichten, was höchst sonderbar erscheint. Er meinte, da Polen sich mittelst des Katholizismus bei seiner Nationalität erhält, so könnte man es durch die Einführung der Jesuiten, die nach der Beschaffenheit ihrer Institution nichts Nationales, nichts Einheimisches an sich haben, in einen allgemeinen Katholizismus hineinlocken. Und was verstand er hierunter? Nur einen Katholizismus der Form nach, einen logischen Katholizismus, eine Logik des Christentums. Etwas anderes in ihm zu verstehen, überstieg die Kräfte des Grafen de Maistre. Mit einem Worte, die Vorsehung hat die polnische Frage deshalb aufgestellt, um allen Unbefangenen die Falschheit sämtlicher, auf dem Wiener Kongress zur Untersuchung gezogenen Systeme und somit den verwerflichen Glauben der Verteidiger dieser Systeme zu zeigen. Madame Krüdener387 und andere Mystiker, die damals dem Kaiser Alexander I. zur Seite standen, wollten eine neue Ordnung in Europa einführen. In dieser Absicht gab auch der Philosoph Franz von Baader388 eine wenig bekannte Broschüre heraus, in welcher er große Unglücksfälle vorhersagt, wenn die Monarchen nicht einsehen sollten, daß Mangel an wahrer Religiosität der Grund aller Revolutionen sei; daß die Völker nicht eher sich beruhigen würden, bis das Evangelium ausdrücklich auf die Politik angewandt wäre; daß dieses das Bedürfnis zur Zeit, die logisch notwendige Folge der Geschichte des Christentums sei, und daß man sie auf keine Weise umgehen dürfe. Baader war damals der Einzige, der Polen als Beispiel aufstellte und sagte, daß, um die Gerechtigkeit zur Grundlage zu machen, man zuvor einen Akt der Gerechtigkeit zeigen müsse, denn die Völker verstünden nur Taten, und nur durch Taten könne man sie belehren.

386 Joseph Marie de Maistre: Cinq lettres sur l’éducation publique en Russie. In: J.M. de Maistre: Lettres et opuscules inédits. Vol. 2. Paris 1853, S. 281–339 [http://www.archive.org]; deutsche Übersetzung: Fünf Briefe des Grafen Joseph de Maistre an den Grafen von Rasumowsky über den öffentlichen Unterricht in Rußland aus dem Jahre 1810. Ein Beitrag zur gegenwärtigen Unterrichtsfrage. Regensburg-New York 1866. [http://www.bsbmuenchen-digital.de]. 387 Juliane von Krüdener (1764–1824); vgl. Amely Bölte: Juliane von Krüdener und Kaiser Alexander: ein Zeitbild. Berlin 1861; Wilhelm Baur: Krüdener, Barbara Julie von. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Band 17, Leipzig 1883, S. 196–212; Ernest John Knapton: The Lady oft he Holy Alliance. The Life of Julie de Krüdener. New York 1939; Peter Zimmerling: Starke fromme Frauen. Gießen 31999, S. 22–46. 388 Franz von Baader: Über das durch die französische Revolution herbeigeführte Bedürfnis einer neuern und innigern Verbindung der Religion mit der Politik. Nürnberg 1815 (Reprint: Köln-New York 1992).

900

Teil II

Aber die Politiker zogen Theorien vor. Um die Frage nach langen Verhandlungen einfacher zu machen, wollte man nichts weiter als ein Normaljahr finden. Laßt uns eine Ordnung machen, wie sie auch sei, riefen sie; nehmen wir irgend ein Jahr vor der französischen Revolution an und führen wir die Verhältnisse auf den damaligen Zustand zurück. Diefe Aufgabe rief wieder viele Streitigkeiten hervor. Man nahm zuerst das Jahr I789, in welchem die französische Revolution begann; aber dieses Jahr taugte nichts, denn Polen hatte noch in diesem Jahre bestanden. Andere rieten das Jahr 1794, die Epoche des Terrorismus an; dieses erlaubte den Monarchen, Polen von der europäischen Karte zu streichen; aber dann hätte man auch Frankreich seine Revolutionseroberungen: Holland, Genua und Sardinien, zuerkennen müssen. Auf diese Art ließ die polnische Frage nicht einmal das Normaljahr finden. Also mußte man allen Ansprüchen auf logische Anordnungen entsagen und den Vertrag nach alter Sitte schließen, die heilige Dreieinigkeit anrufen, den Kongreß eine Heilige Allianz389 betiteln; man mußte geradezu eine Verabredung niederschreiben, einen Traktat ohne alle moralische Bürgschaft, ohne seine Gedanken einem wahren Prinzip zu entnehmen. Während der stürmischen Beratungen des Kongresses gab es einen Augenblick, wo der Kaiser Alexander, einerseits gerührt durch die Vorstellungen der Polen, die bei ihm für ihre Volkstümlichkeit fürsprachen und ihre kräftigste Teilnahme ihm zusagten, andererseits erschreckt durch die Forderungen Österreichs, Preußens und Englands, schon im Begriffe stand, die Pelm zu den Waffen zu rufen und einen Kampf mit Europa zu bestehen; aber die Landung Napoleons in Frankreich versöhnte sogleich die Parteien des Wiener Kongresses. Schon fing man allgemein an zu glauben, daß die christlichen Monarchen bei der Religionsverschiedenheit in der Tat in der Politik nicht einig werden könnten, daß ihr Hader aus der Weise entspränge, wie jeder die Religion auf die Politik anwenden wollte; Napoleons Rückkehr belehrte jedoch die Menschheit, was sie auf dem Korn gehabt. Man überzeugte sich, daß nur der Haß gegen Frankreich und Napoleon sie einig erhielt; mit dem Augenblicke, als die Furcht vor Frankreich und Napoleon verschwunden war, begannen sie sich zu zanken; als man mit Frankreich und Napoleon kämpfen mußte, waren sie augenblicklich einig.

389 Vgl. Philipp Menger: „Die Heilige Allianz – ‚La garantie religieuse du nouveau système Européen‘?“. In: Das europäische Mächtekonzert. Friedens- und Sicherheitspolitik vom Wiener Kongreß 1815 bis zum Krimkrieg 1853. Hrsg. Wolfram Pyta. Stuttgart 2009, S. 209–236.

27. Vorlesung (31. Mai 1842)

901

Trotz aller Protestationen der Politiker, trotz der Masse von Büchern, die man über diesen Traktat der Heiligen Allianz geschrieben, blieben die Völker bei der Überzeugung, daß alle Unterhandlungen zu Wien nur dahin zielten, den Einfluß Frankreichs zu hemmen, Frankreich zu entwaffnen. Die Polen, gleichfalls durch den Sturz Napoleons aller Hoffnung beraubt, obgleich einige unter ihnen auf die Großmuth Alexanders vertrauten, überzeugten sich noch einmal, daß sie von dieser Seite her durchaus nichts zu erwarten hätten, und die Massen des polnischen Volkes begrüßten mit demselben Enthusiasmus wie Frankreich die Nachricht von der Rückkehr des Kaisers. Wir wollen hier zum Schlusse noch einmal der Martinisten erwähnen. Wir konnten schon wahrnehmen, daß, so oft sich eine große Frage unter den slavischen Völkern über die Sphäre des augenblicklichen Interesses erhebt, die Polen, Russen und zuweilen die Slaven anderer Zweige durch ein und dasselbe Gefühl verbunden werden. So haben z.B. der Graf Grabianka und die moskovitischen Bojaren gemeinschaftlich an der Erweckung des religiösen Lebens gearbeitet. Was am auffallendsten ist, der Fürst Nikolaj Repnin390, jener rohe Gesandte Rußlands am Warschauer Hofe, der sich so grob gegen den König und den polnischen Sejm benahm, gehörte gleichfalls zur Sekte der Martinisten. Als er später in kaiserliche Ungnade verfiel, pflegte er sich gegen die Polen zu äußern, daß er mit großem Seelenschmerz die Leiden, welche er ihnen habe bereiten müssen, betrachtet habe. Einst eilte er sogar in der Nacht zum König, dem er öffentlich eine Beleidigung zugefügt, und bat ihn auf den Knien mit Tränen im Auge um Vergebung der Tat, die er nur auf Befehl der Zarin verübt habe. Erinnern wir uns auch jetzt, daß derselbe Stanisław August, der sich ganze Tage hindurch mit seinem Witz und der Nichtachtung alles Heiligen brüstete, sobald er sein Schlafgemach betrat, aufs Angesicht fiel, um Gott um Vergebung seiner Sünden zu bitten. So huldigte der König öffentlich dem Atheismus und verschloß sich reuig in seiner Kammer, so verehrte der Gesandte öffentlich den Despotismus und tat in der Nacht Buße. Die Zeit dürfte kommen, wo das, was hinter der Bühne geschah, auf den offenen Schauplatz tritt.

390 Vgl. Ujejski, op. cit., S. 53, 139; Stanisław Załęski: O masonii w Polsce od roku 1742 do 1822: Na źródłach wyłącznie masońskich. Kraków 1889.

28. Vorlesung (7. Juni 1842) Der russische Dichter Batjuškov – Das religiöse Gefühl erwacht in den damaligen Dichtern Polens und Rußlands – Gram und Unentschlossenheit des Zaren Alexander I. nach dem Wiener Kongreß. Madame Krüdner und die Mystiker – Die Martinisten werden zur Regierung berufen; Golicyn – Der allgemeine Unwille. Opposition der Literatur gegen die Regierung in Rußland – Puškin – Die Verschwörung. Das erste Zusammenkommen der Polen mit den Russen auf einem politischen Weg und gegenseitige Verschlossenheit. Schwäche der Verbindung, weil sie auf einen negativen Gedanken, auf den Haß sich stützt – Die russische Literatur, die unfähig ist, einen Schritt vorwärts zu gehen, bleibt bei Puškin stehen.

Die Dichtungen des Batjuškovs gehören nicht allein der russischen, sondern der allgemein slavischen Literatur an. Wir wollen hier einige Bruchstücke jenes Gedichts anführen, welches die letzte Erinnerung an den Krieg der verbündeten Mächte unter russischer Oberleitung gegen die durch den Kaiser Napoleon vertretene europäische Idee enthält. Der russische Offizier Batjuškov gedenkt folgendermaßen des Übergangs über den Rhein im Jahre 1814: Меж тем как воины вдоль идут по полям, Завидя вдалеке твои, о, Реин, волны, Мой конь, веселья полный, От строя отделясь, стремится к берегам, На крыльях жажды прилетает, Глотает хладную струю И грудь усталую в бою Желанной влагой обновляет… О, радость! я стою при Реинских водах! И жадные с холмов в окрестность брося взоры, Приветствую поля и горы, И замки рыцарей в туманных облаках, И всю страну обильну славой. Воспоминаньем древних дней, Где с Альпов вечною струей Ты льешься, Реин величавой! Свидетель древности, событий всех времен, О, Реин, ты поил несчетны легионы. Мечом писавшие законы Для гордых Германа кочующих племен; Любимец счастья, бич свободы, Здесь Кесарь бился, побеждал И конь его переплывал

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_070

28. Vorlesung (7. Juni 1842)

903

Твои священны Реин, воды. […]391 Strömen vergleichbar, wogten die Heere über die Fluren, und schon in der Ferne, o Rhein! deine Wellen erblickend, bricht aus den Reihen mein Roß, fliegt auf den Fittichen des Verlangens dir entgegen und stürzt in die Wässer, um seine in Schlachten ermüdete Brust zu erquicken … Welch eine Freude! Da stehe ich an deinen flutenden Tiefen, und den begierigen Blick im Kreise umherwerfend, sehe ich diese Auen, diese Berge, diese Ritterschlösser in Nebel gehüllt, diese ganze Landschaft reich an Ruhm und Erinnerungen alter Tage, wo du herrlicher Rhein, von den Alpen herab als ewiger Strom und Zeuge unsterblicher Vorgänge aller Zeiten, weithin rollest. Du tränktest einst die zahllosen Legionen, die mit dem Schwert dem stolzen Germanen Gesetze vorschrieben. Des Glückes Liebling, die Geißel der Freiheit, Cäsar, focht und siegte hier; sein Roß durchschwamm deine Gewässer.

Der rhetorischen Methode fröhnend, nach der Gewohnheit der Schriftsteller aus der alten Schule, von der selbst Žukovskij nicht frei war, zieht hier der Dichter lange geschichtliche Taten auf einen geographischen Punkt zusammen und erzählt, was der Rhein seit Cäsar bis auf die letzten Tage gesehen. Dann spricht er weiter: Давно ли брег твой под орлами Аттилы нового стонал, И ты уныло протекал Между враждебными полками? Давно ли земледел вдоль красных берегов. Средь виноградников заветных и священных, Полки встречал иноплеменных И ненавистный взор зареинских сынов? Давно ль они, кичася, пили Вино из синих хрусталей, И кони их среди полей И зрелых нив твоих бродили? И час судьбы настал! Мы здесь, сыны снегов, Под знаменем Москвы с свободой и с громами!.. Стеклись с морей, покрытых льдами, От струй полуденных, от Каспия валов, От волн Улеи и Байкала, От Волги, Дона и Днепра, От града нашего Петра, С вершин Кавказа и Урала!.. […] 391 K.N.  Batjuškov: „Perechod čerez Rejn“ (Übergang über den Rhein). In: K.N.  Batjuškov: Polnoe sobranie stichotvorenij, op. cit., S. 209.

904

Teil II Wie lange ist es her, als dein Ufer unter den Adlern des neuen Attila stöhnte und du traurig zwischen den feindlichen Heeren dahinflossest? / Wie lange ists her, seitdem die Furt längs den schattigen, geweihten Weinbergen sich dem Zusammentreffen feindlicher Heere darbot und die Augen überrheinischer Söhne sah? / Wie lange ists her, als aus Kristallen den Wein leerend, sie hier taumelten und ihre Rosse üppige Getreidefelder und reife Weinstöcke zerstampften? Die Zeit des Schicksals ist gekommen! Jetzt sind wir da, unter dem Losungswort Moskaus, das Heil und Donnnerkeile bringt! Wir Söhne des Schnees, der eisbedeckten Meere, von den Wogen der Uleja und des Bajkal, den Ufern der Volga, des Don und des Dniepr, aus unserer Peters Hauptstadt, von den Spitzen des Kaukasus und des Ural herab!

Etwas weiter folgen vier ungemein schöne Verse, die schwer in einer Übersetzung wiederzugeben sind: Мы здесь, о, Реин, здесь! ты видишь блеск мечей! Ты слышишь шум полков и новых коней ржанье, Ура победы и взыванье Идущих, скачущих к тебе богатырей. Hier sind wir, o Rhein! Du siehst der Schwerter Glanz, du hörst das Gewirr der Regimenter, der neuangekommenen Rosse Wiehern, das Sieges-Hurra, das Jauchzen der in Sprüngen zu dir eilenden Helden!

Endlich gibt der Dichter ein Bild der Landschaft, der Felsen am Rhein und des Feldlagers, dann setzt er hinzu: Там всадник, опершись на светлу сталь копья, Задумчив и один, на береге высоком Стоит и жадным ловит оком Реки излучистой последние края. Быть может, он воспоминает Реку своих родимых мест – И на груди свой медный крест Невольно к сердцу прижимает… Но там готовится, по манию вождей. Бескровный жертвенник средь гибельных трофеев. И богу сильных Маккавеев Коленопреклонен служитель алтарей: Его, шумя, приосеняет Знамен отчизны грозный лес; И солнце юное с небес Алтарь сияньем осыпает. Все крики бранные умолкли, и в рядах Благоговение внезапу воцарилось Оружье долу преклонилось, И вождь, и ратники чело склонили в прах:

28. Vorlesung (7. Juni 1842)

905

Поют владыке вышней силы, Тебе, подателю побед, Тебе, незаходимый свет! Дымятся мирные кадилы. И се подвигнулись – валит за строем строй! Как море шумное, волнуется всё войско; И это вторит клик геройской, Досель неслышанный, о, Реин, над тобой! Твой стонет брег гостеприимной, И мост под воями дрожит! И враг, завидя их, бежит От глаз в дали теряясь дымной!..392 Dort, gestützt an seiner Lanze mit glänzender Stahlspitze, steht der Reiter einsam und sinnig, vom hohen Ufer den raschen Wellen des Stromes mit dem Blick nacheilend. Gewiß kam ihm sein heimatlicher Fluß in den Sinn; unwillkürlich drückt er das messingene Kreuz ans Herz, das er stets auf der Brust getragen! Aber da weiter, im Kreise der Wagen, tritt der blutige Opferpriester hervor, zwischen die Trophäen des Mordes tritt der demütige Geweihte des Herrn der Heerscharen. Ein Wald von rauschenden vaterländischen Fahnen umschattet ihn, und die Morgensonne streut des Himmels goldne Strahlen auf den Altar. Das dräuende Geschrei verstummte und stilles Gebet erhob sich aus allen Reihen. Zu Boden gesenkt sind der Kämpfer Bajonette und der Anführer Stirnen. Dir, o allerhöchster Gewaltherr! Dir, Verleiher des Sieges, Dir, unendliches Licht, ertönt des Priesters Gesang und brennt das duftende Rauchfaß. Und siehe da! Alles steht auf, Reihe an Reihe bewegt sich und das ganze Heer braust gleich den Wellen des aufgetürmten Meeres. Das Echo wiederhallt von dem hier nie gehörten ritterlichen Schall, o Rhein! Es tost dein gastfreies Ufer und die Brücke erzittert unter den Fußtritten der Krieger. Der Feind erblickt sie und eiligst davonfliehend, verschwindet er in fernen Staubwolken unseren Augen. …

Der Ton und selbst die Form dieser Verse erinnert völlig an die Dichtungen des Wincenty Reklewski, Antoni Gorecki und anderer Dichter jener Zeit, obgleich diese die russische Literatur gar nicht kannten. Durch die oben angeführten Strophen blickt viel Ernstes, Feierliches, Religiöses. Batjuškov als Literat hat eine vollendetere Form, ist jedoch nicht so originell, einfach und wahr, als Gorecki und Reklewski; zu oft wird man daran erinnert, daß er der Reihe der Schriftsteller und der mit Literatur sich befassenden Leute angehöre, und sich von der Übersättigung nicht befreien könne, die er durch die Lektüre der Klassiker, des Tasso und der lateinischen Dichter sich zugezogen.

392 Batjuškov, op. cit., S. 210–212.

906

Teil II

Ganz eigentümlich aber erscheint in ihm das tiefe, religiöse Gefühl. Zu jener Zeit sprachen Diplomaten und Monarchen oft von der Religion, aber das echt religiöse Gefühl kommt nur noch in den slavischen Dichtern, Batjuškov, Gorecki und anderen, vor. Dies war noch keine Religion, wohl aber ein Vorgefühl der Religion, eine ihrem Umfang nach unbestimmte Religiösität, welche Erscheinung in der Tat auch wichtig ist. Nachdem auf dem Wiener Kongress Europa geordnet war, kehrte der Zar Alexander393 trübsinnig und unschlüssig nach Petersburg zurück. Das englische Kabinett war zufrieden, denn es war ihm ja gelungen, Frankreich einen Damm in den Weg zu bauen; die deutschen Monarchen überlegten, wie sie den Volksenthusiasmus zu ihrem eignen Vorteil gebrauchen könnten; besonders freute sich Österreich, dem Systeme des Status quo immer treu, über diese Politik; aber der Zar Alexander ließ sich durch keinen Schein täuschen, der ganze Ausgang des Kampfes stellte sich seinem Blick als eine moralische und religiöse Begebenheit dar und weckte alles, was er in tiefster Seele Slavisches und Christliches trug, er wurde gottesfürchtig von ganzem Herzen und wußte gar nicht mehr, woran er sich bei der bestehenden Politik halten sollte. Einerseits sah er die Unmöglichkeit ein, die russische Kirche dem Katholizismus zuzuführen, andererseits wußte er wohl, daß sie, gesunken wie sie ist, durch keine Vernunftgründe gerechtfertigt sein und weder ein Brennpunkt von Kraft, Leben uud Tat werden, noch ein streng logisches Urteil aushalten könne. Unterstützte er nun wieder den Papst, so traf er auf manche Beweggründe, der römischen Kirche nicht zu trauen; denn oft hatte er wahrgenommen, daß das Heilige Kollegium mehr Gewicht auf die Verhandlungen über die Grenzen des Landes als auf die Zusicherungen in Religionsangelegenheiten lege. Überhaupt aber mißtraute er Klemens Lothar von Metternich. Der Fürst Metternich stellte ihm alle Mängel, Abgeschmacktheiten und die offenbare Unmöglichkeit der Einführung philosophischer Systeme ins Leben, sehr klar vor; er bewies das Eitle und Fade der Philosophie so, daß man ihm nichts entgegnen konnte; indessen blickte aus des Ministers Worten nebenbei ein trügerischer, hinterlistiger Gedanke dergestalt, daß der russische Zar am Ende einsah, das österreichische Kabinett wolle lediglich seine religiösen Gefühle ausbeuten. Madame Krüdener394 und ihre Freunde, alles deutsche Pietisten, machten einen tiefen Eindruck auf die Seele Alexanders. Beim Beginn seiner Regierung

393 Vgl. Hans-Jobst Krautheim: Alexander I. (1801–1825). In: Die russischen Zaren: 1547–1917. Hrsg. Hans-Joachim Torke. Redaktion und Aktualisierung der dritten Auflage: Ricarda Vulpius. München 2005. 394 Vgl. A.M. Pypin: Gospoža Kridener. In: Vestnik Evropy, 1869, Nr. 8–9, S. 589–633.

28. Vorlesung (7. Juni 1842)

907

war er nur von Diplomaten und hohen Würdenträgern umgeben, selbst die Martinisten hatten bei ihm keinen Zutritt; aber jetzt fand die Religiosität ihr Organ im Auslande, in der Person der Madame Krüdener, in vielen protestantischen Ministern, wie auch in einigen russischen Herren. Der Kaiser ehrte die Aufrichtigkeit dieser Enthusiasten. Madame Krüdener erfaßte die mysteriöse Seite des Kampfes zwischen dem Norden und Süden. Wie Deržavin und andere damalige Mystiker, sah sie in diesem Kampf das Ringen zweier entgegengesetzten Prinzipien, wollte aber Alexander einreden, daß er das Prinzip des Guten vergegenwärtige und der weiße Zar sei, wie ihn die finnischen Völkerschaften nannten, Napoleon hingegen das Prinzip des Bösen, der schwarze Genius! Sie vergaß alle Vorzüge Napoleons, alles, was er zum Besten und zur Ordnung der Kirche getan; sie konnte ihm seine Macht nicht verzeihen. Überhaupt hegten alle Religiösen jener Zeit dasselbe Gefühl, die Macht Napoleons beleidigte sie. Die Religion, seit Urzeiten zur Bettlerin an den Stufen des Thrones, zur ewigen Sklavin, zum unaufhörlichen Knien verurteilt, ward an diese ihre Erniedrigungen gewöhnt; man fing endlich an zu glauben, jeder mächtige Mann sei unreligiös und die Gewalt käme nur vom Satan. Auf diese Weise haben selbst aufgeklärte Leute die Macht des Kaisers Napoleon mit der des Geistes der Finsternis verwechselt. Dies System der Madame Krüdener wandten die französischen Legitimisten, vertreten in der Person des Grafen de Maistre, geschickt genug zu ihren Absichten. Der Graf schrieb, das Schiff „Bellerophon“, worauf man den großen Gefangenen gebracht, habe endlich die Chimäre gefressen. Seiner Meinung nach, war Napoleon ein Ungeheuer, eine Chimäre. Der Kaiser Alexander befand sich nach seiner Rückkehr in Petersburg im alten Kreise der Diplomaten, Generale und Administratoren. Er schämte sich schon der Madame Krüdener und wagte nicht, sie an seinem Hof zu empfangen; er wußte weder seinem Kabinett noch seinem Rat zu erklären, was in seiner Seele vorgegangen. Er vermied und entfernte von sich die religiösen Enthusiasten, mit denen er sich auf dem Wiener Kongress umgeben; zugleich aber begann er die Anhänger des Liberalismus zu beschützen, erließ großmütig für Litauen eine Amnestie, zog den Fürsten Czartoryski und viele andere Polen in seine Nähe, bewies sich dem Land der Polen gnädig und gedachte selbst die Rechte seiner Bauern zu schirmen. In dieser Richtung, durch den neuen französischen Liberalismus geleitet, wußte er diesen mit der von den Pietisten empfangenen Eingebung nicht zu vereinen, und ebenso wenig die französisch-politischen Gefühle mit den religiös-christlichen zu einem System zusammenzuschmelzen. In dieser Bedrängnis schlug er einen prekären Mittelweg ein und berief die längst vergessenen Martinisten in seine Nähe. Zum letzten Male erscheinen diese auf dem Schauplatze der Regierung.

908

Teil II

Der Fürst Aleksandr Nikolaevič Golicyn395, ein schlichter, rechtschaffener, frommer und strenger Mann, erhielt das Steuerruder des öffentlichen Unterrichts. Er umgab sich mit Martinisten, welche unter Paul I. verfolgt, bis jetzt zurückgezogen lebten. Die Bekenner dieses Namens und Systems suchten die Regierung mit religiösem Geiste zu beseelen und verbreiteten in dieser Absicht manche sehr begierig gelesene Bücher unter dem Volk, sodaß die Beliebtheit derselben selbst den Behörden des russischen Reiches Schrecken erregte. Unglücklicherweise verbargen sich unter der eben erst im Kabinette auftauchenden Religiosität sogleich falsche Nachahmer, scheinheilige, unmoralische Menschen, welche plötzlich Bewunderer der religiösen Formen wurden und den Mystizismus predigten. Der Repräsentant dieser Herren war Magnickij396, ein verrufener Ränkeschmied und Verschwender. Bald brachten diese das religiöse Streben des Kaisers Alexander in Mißkredit. Andererseits verteidigten einige Archaisten, wie der General Arakčeev397 und der Admiral Šiškov398, die das System Peter des Großen gänzlich wiederherstellen wollten, diese Begriffe, um sie als Vorwand zu benutzen, die Fremden, Franzosen, Deutsche, Finnländer, welche die Vorzimmer der Ministerien füllten, zu verdrängen. Die beleidigte öffentliche Meinung verurteilte sie alle ohne Ausnahme. Echt religiöse Männer, wie Golicyn, Heuchler, wie Magnickij, die altrussische Partei mit Šiškov an der Spitze und der Kaiser Alexander waren samt und sonders Gegenstände des allgemeinen Unwillens. In der ganzen, neuen Generation brach ein entschiedener Haß gegen das Herrscherhaus der Romanov aus. Jetzt zum ersten Mal begann man Mißvergnügen zu verbreiten und Verschwörungen zum Sturz der Dynastie anzuzetteln, ohne an deren Statt etwas vorbereitet zu haben. Man beabsichtigte jetzt erst, eine unter der ganzen jüngeren Generation durchgreifende Revolution zu bewirken, eine der französischen gleich – man wollte die bestehende Ordnung umwerfen – um zu gelangen – wohin? Dies wußte man nicht. 395 Aleksandr Nikolaevič Golicyn (1773–1844). Vgl. Ju.E. Kondakov: Knjaz’ A.N. Golicyn. Pridvornyj, činovnik, christianin. Monografija. Sankt-Peterburg 2014. 396 Michail Leont’evič Magnickij (1778–1855). Kurator der Universität Kazan’. Seine Reformen führten zur Zerschlagung der Universität und Vertreibung aller deutschen Professoren; er setze sich für das französische Bildungssystem ein. Vgl. Michael Silnizki: Geschichte des gelehrten Rechts in Rußland. – 1. Jurisprudencija an den Universitäten des Russischen Reiches 1700–1835. Frankfurt am Main 1997, S. 239–242. 397 Aleksej Andreevič Arakčeev (1769–1834). Vgl. M. Jenkins: Arakcheev. Grand Vizier of the Russian Empire. London 1969; V.A. Tomsinov: Vremenščik (A.A. Arakčeev). Moskva 1996. 398 Aleksandr Semenovič Šiškov (1754–1841). Präsident der Russischen Akademie und Minister für Volksbildung, bekämpfte Karamzins „novyj slog“ (neuer Stil); vgl. seinen Traktat: Rassuždenie o starom i novom sloge rossijskogo jazyka. SPb. 1803.

28. Vorlesung (7. Juni 1842)

909

Die Literaten, beinahe alle bei der Regierungsverwaltung angestellt oder als Generale und Offiziere in der Armee dienend, traten der Verschwörung bei. Im Jahr 1820 stellte sich die ganze russische Literatur auf die Seite der Opposition und nahm gegen die Regierung ein drohendes Schweigen an. Rußland gibt in diesem Zeitabschnitt ein sonderbares Schauspiel. Ein mächtiger Monarch, von ganz Europa gepriesen, der nichts mehr bedurfte, als einen Ring oder eine Dose einem Schriftsteller ins Ausland zu senden, um ein Gedicht zu seinem Lob zu erhalten, oder in den englischen und französischen Zeitungsblättern die schmeichelhaftesten Weihrauchdüfte zu genießen: derselbe gewaltige Alleinherrscher konnte in seinem Land nicht einmal den geringsten Aufsatz von einer ausgezeichneten Feder, nicht einmal ein paar Verse von einem russischen Dichter zu seinem Lob und zum Preis seiner Politik erringen. Man suchte jetzt Leute, die bisher in Rußland ganz unbekannt waren, auf und foderte sie auf, etwas zum Lob des Kaisers in irgendeinem Buch oder in einer Zeitung zu schreiben, und nicht einmal dieses konnte man bewirken. Die öffentliche Meinung hätte jeden, der dieses zu tun gewagt, verurteilt. Während also die ganze Literatur eine ausgedehnte, unerbittliche Opposition bildet, erschallt aus ihrer Mitte eine Stimme, die alle anderen übertönt und eine neue Periode eröffnet, nämlich die Aleksandr Puškins. Das erste Gedicht399, welches dieser Dichter dem Publikum lieferte, atmet düsteren Jakobinismus, grausamen Haß gegen Alles, gegen ganz Rußland. Bald wurde der Name Puškin zum Losungswort aller Mißvergnügten. Von Petersburg bis Odessa und in den Kaukasus trug, übersetzte und sang man in allen Heereslagem seine Ode „Kinžal“ („Dolch“), welche übrigens keine weiteren Vorzüge besaß, als daß jeder seine eigenen Gefühle darin fand. Bald ward die Literatur gänzlich vernachlässigt. Sie wurde noch in den Schulen gelehrt, ihre Grundsätze aus den Büchern vorgetragen; jedoch allmählich verschwand sie vor Puškin. Lomonosov und insonderheit der greise, ruhmessatte Deržavin ahnten wahrscheinlich nie, daß sie je ein Puškin zur Vergessenheit verdammen werde. Zugleich traten junge Dichter, wie Žukovskij, ein Mann von großen Vorzügen, und Batjuškov, in die zweite Reihe zurück. Man lobte ihre Form und Dichtung, sie waren beliebt, doch weckten sie kein Feuer mehr, nur Puškin fachte dies an, er, der das kaiserliche, von Franzosen dirigierte Lyzeum kaum verlassen hatte. Seine Erziehung ward in Hinsicht der klassischen Wissenschaften ziemlich vernachlässigt, er hatte aber viel gelesen, 399 „Vol’nost’“ (Freiheit), 1817; zu Lebzeiten nur in Abschriften bekannt; Publikation erst 1856. Vgl. Reinhard Lauer: Aleksandr Puškin. Eine Biographie. München 2006, S. 71–72. Andreas Ebbinghaus: Puškin und Rußland: zur künstlerischen Biographie des Dichters. Wiesbaden 2004.

910

Teil II

namentlich in französischen Werken; nicht minder las er häufig die Schriften Žukovskijs, der die altslavische Dichtung wieder ins Leben rufen wollte; vor allem bewunderte er aber Byron. Dieser entzündete in ihm die poetischen Anlagen. Zuerst wiederholte er alles, was er nur in der russischen Literatur vorgefunden. Er schrieb Oden in Deržavins Ton, aber viel schöner; ahmte gleich Žukovskij das Altrussentum der Vorzeit nach, übertraf ihn aber in der Vollendung der Form, am meisten auch an Umfang seiner Schöpfungen; endlich ahmte er Byron nach und entlehnte ihm sowohl Form als Wesen. Puškins Helden erinnern an Lara, den Korsaren und an sonstige, in den Gedichten des genialen Briten bekannte Gestalten. Dies ist eine unwillkürliche, aber notwendige Laufbahn; jeder Schriftsteller muß vorerst die ihm vorangegangenen Schulen durchwandern, muß über die Leitersprossen der Vergangenheit steigen, bis er sich zu der Zukunft emporschwingt. Wie Puškin den Byron, so ahmte er auch, ohne daranzudenken, den Walter Scott nach. Man sprach damals allgemein von dem Orts-Kolorit, von der Geschichtlichkeit und der Notwendigkeit, die Geschichte in Romane und Gedichte einzuführen. Zwei Werke Puškins: „Cygany“ („Die Zigeuner“) und „Mazepa“400 schwanken zwischen jenen beiden Mustern. Einmal ist er hier Byron, das andere Mal Walter Scott, er selbst aber ist er noch nicht. Seine eigentümlichste Dichtung, „Evgenij Onegin“, ein Roman, der in allen slavischen Ländern immer mit Freuden gelesen werden und ein ewiges Denkmal jener Periode bleiben wird, hat denselben Zuschnitt wie Byrons „Don Juan“. Letzteren nahm Puškin zum Vorbild für seinen „Evgenij Onegin“. Dieses Werk fing er in seinen Jünglingsjahren an, fügte von Zeit zu Zeit einen Abschnitt hinzu und brachte ein Gedicht in acht Gesängen zu Stande, welches durch die Anmut der Einfalt und des Stiles hinreißend ist. Er ist nicht so reich, so fruchtbar wie Byron, er schwingt sich nicht zu seiner Höhe und greift nicht so tief ins menschliche Herz, aber einfacher, gerader, in der Form mehr vollendet als dieser, erreicht er ihn oft und übertrifft ihn nicht selten. „Onegins“ Inhalt ist ungemein einfach. Zuerst treten zwei junge Männer, verliebt in zwei Mädchen, auf, bald fällt der eine im Zweikampf und der andere kommt erst ganz am Ende des Romans wieder zum Vorschein. Überaus schwierig war es, aus einem so armen, unbedeutenden Stoff ein reichhaltiges, großes Gedicht zu schaffen; doch bei seiner Kenntnis des häuslichen Lebens auf dem russischen Boden, bei der Darstellung der gewöhnlichen Vorfälle fand Puškin Gegenstände genug zu seinen Gesängen, die bald Lust-, bald Trauerspiel und bald dramatischer 400 Ursprünglicher Titel des Poems „Poltava“ (1829) über den ukrainischen Hetman Ivan Mazepa.

28. Vorlesung (7. Juni 1842)

911

Roman sind. Besonders merkwürdig ist bei alle dem die seltene Biegsamkeit und Form des Stils. Es ist ein prächtiges Gemälde, dessen Anordnung und Färbung fortwährend sich ändert; der Leser gewahrt gar nicht, wie er aus dem Ton einer Ode zum Epigramm heruntersinkt und unbemerkt sich hebend, auf eine beinahe mit der Ekstase eines Heldengedichts erzählte Episode gelangt. Dieses ganze Gedicht Puškins durchweht eine weit tiefere Sehnsucht, als bei Byron. Man sieht hier, daß für den Dichter alles Schöne und Große der Erde jeden Reiz verloren. Nachdem Puškin so viele Romane durchgelesen, so viele Gefühle im Kreise seiner jungen Freunde, der feurigsten Liberalen, empfunden, fühlte er endlich überall das Elend, und dieses Gefühl drückte sich unwillkürlich in seiner dichterischen Schöpfung ab. Die Heldin des Romans, das von des Dichters Einbildung geschaffene Ideal, ist Ol’ga, ein junges, holdes, russisches Mädchen, auf dem Lande erzogen. Sie liebt feurig, kräftig, mit aller Einfachheit poetischer Liebe; sie verliert ihren Liebhaber im Zweikampfe auf eine Schauder erregende Weise. Nachher wird sie die Gemahlin eines Offiziers und lebt zufrieden und glücklich. Neben ihr tritt eine andere Figur401 auf den Schauplatz, fast ähnlich der Franzeska Byrons, mit leidenschaftlichem Herzen, romantischen Ideen, sie liest nur Romane, schwärmt, phantasiert, eilt allem nach, was groß ist, will originell werden und trifft ihr Ideal in einem jungen Dandy, gewissermaßen einem Byronisten, der sein ganzes Leben hindurch sich selbst und andere langweilt, heftige Zerstreuungen sucht und Karten spielt. Verlassen und verstoßen von diesem Liebling, wird sie Gattin eines bejahrten Generals; jener ewige Abenteurer, gleichsam ein russischer Child-Harold, erkennt sie später, glücklich und in den Salons bewundert, zu Petersburg wieder, er entbrennt in Liebe; nun aber behandelt sie ihren Bewunderer kalt und stößt ihn mit der ganzen Verachtung einer Frau der höheren Gesellschaft von sich. Puškin scheint bei der Abfassung der ersten Abschnitte noch keinen bestimmten Gedanken gehabt zu haben, wie das Ganze aufzulösen sei; denn unmöglich hätte er die Liebe dieser jungen Leute, die in trauriger und prosaischer Weise enden sollte, so zart, rein und mächtig geschildert. In seinem „Onegin“ leuchtet Puškin ganz und gar durch. In der Schilderung jenes gelangweilten Byronisten gibt er in wenigen Versen sein eignes Gemälde. Dies war, sagt er, ein den Reformen geneigter Mensch, ungezwungen-originell, kalten und bitteren Geistes.402 So war Puškin. Bei der Schilderung des Dichters aber 401 Tat’jana Larina. 402 Gemeint ist Strophe XLV (1. Kapitel): „Условий света свергнув бремя, / Как он, отстав от суеты, / С ним подружился я в то время. / Мне нравились его черты, / Мечтам невольная преданность, Неподражательная странность / И резкий, охлажденный

912

Teil II

beschreibt er seine eigenen Täuschungen. Dieser in Deutschland erzogene Russe, der lange Haare trägt, Kant und Schiller bewundert, der Enthusiast ohne Endzweck, der Schwärmer, der über den Ausdruck „Ideal“ mit der Feder in der Hand einschläft, stellt eine gewisse Epoche aus dem Leben Puškins dar. Sonderbar auch, daß er sich in diesem Gedicht seine Todesart selbst vorhersagte; gleich dem jungen Vladimir Lenskij, der am Anfang des Romans im Zweikampf bleibt, fiel auch er auf diese Weise, einer unbedeutenden Sache wegen, von Freundes Hand. Der das ganze Gedicht beherrschende Gedanke ist die Verhöhnung und Niederkämpfung alles dessen, was man Mode, was man in der höheren Gesellschaft guten Ton nennt. Puškins zwei Helden, sonst herzliche Freunde, schlagen sich im Zweikampf bloß deswegen, weil der eine das Unheil seines Lakayen, eines Franzosen, fürchtet, der andere aber, um einem hohen Beamten damit einen Gefallen zu tun; dieser langweilt sich nämlich auf dem Lande, möchte gern Zeitvertreib im Duell haben und zugleich durch die Teilnahme daran von sich sprechen machen. Die beiden Frauenzimmer erliegen endlich auch der Herrschaft der Salons. Wir werden uns hier bei den lyrischen und dramatischen Leistungen Puškins nicht aufhalten, das Charakteristische, das Slavische, Volkstümliche derselben nicht erforschen; denn unsere Absicht ist hauptsächlich, das verborgene Band zwischen der slavischen und europäischen Literatur zu entschleiern und den Hauptgedanken dieser Literaturen hervorzuheben. In der Zeit, als Puškin seine Dichtungen schrieb, waren seine Freunde für die Verschwörung gegen die russische Regierung tätig. Laßt uns also einige Worte über diese in Europa wenig bekannte Verbindung sagen. Sie hatte zwei Herde403, den einen zu Petersburg, den anderen in Südrußland, von wo aus Verbindungen mit Polen angeknüpft wurden. Man führte ум. / Я был озлоблен, он угрюм; / Страстей игру мы знали оба: / Томила жизнь обоих нас; / В обоих сердца жар угас; / Обоих ожидала злоба / Слепой Фортуны и людей / На самом утре наших дней.“. In: A.S.  Puškin: Evgenij Onegin. Roman v stichach. In: A.S. Puškin: Polnoe sobranie sočinenij v 10 tomach. Leningrad 1977–1979, tom 5 (1978), S. 23–24; (Der Last der Konventionen entronnen, / Wie er vom leeren Treiben fern, / Hab ich ihn da zum Freund gewonnen, / Ich mochte manches an ihm gern, / Den Hang, in Träume abzugleiten, / Die nichtkopierten Seltsamkeiten, / Des kühlen Witzes scharfe Wehr. / Ich war verbittert, mürrisch er; / Die Leidenschaft erfuhrn wir beide; / Das Leben schien uns beiden leer; / Nichts wärmte unsre Herzen mehr; / Wir wähnten uns nur noch vom Neide / Fortunas und der Welt gejagt, / Als unser Morgen kaum getagt.). – Alexander Puschkin: Jewgenij Onegin. Roman in Versen. Deutsch von Rolf-Dieter Keil. Gießen 1984, S. 53. 403 „Severnoe obščestvo“ (Nordgesellschaft) mit N.M. Murav’ev, N.I. Turgenev, S.P. Trubeckoj, K.F.  Ryleev, A.I.  Odoevskij, A.  Bestužev-Marlinskij; vgl. Memuary dekabristov. Svernoe

28. Vorlesung (7. Juni 1842)

913

die Sache offen und frei; was aber immer in gutem Angedenken bleiben wird, das ist die Rechtschaffenheit der Verbündeten. Über fünfhundert Personen der verschiedensten geselligen Ordnungen, Verhältnisse und Stufen waren tätig bei dieser zehn Jahre lang unter der wachsamsten und argwöhnischsten Regierung fortdauernden Verbindung, und keiner hat sie verraten. Viele Offiziere und Beamte versammelten sich zu Petersburg in Wohnungen, welche die Aussicht gradezu auf die Straße hatten; man beratschlagte bei offnen Fenstern, und nie hat die Polizei den Grund dieser Zusammenkünfte erfahren; die öffentliche Meinung war stärker als alle Schrecken der Regierung. Bei diesen Beratungen kamen alle Verschworenen überein, daß die Regierung gestürzt, ja selbst die ganze Zarenfamilie ausgerottet werden müsse. Man sang Lieder grausigen Inhalts, von so mongolischem und finnischem Charakter, daß die Polen, welche dergleichen russischen Versammlungen beiwohnten, trotz aller von der Regierung erlittenen Unbill, dieselben doch nicht ohne Schauder anhören konnten. Indessen wußte man zuletzt nicht, womit oder in wessen Namen das Werk anzufangen sei, „Was werden wir auf der Gasse rufen?“ fragte ein Verschworener, die ganze Schwierigkeit des Vorhabens vortrefflich bezeichnend. Was werden wir dem Volke sagen, um uns demselben verständlich zu machen? Werden wir rufen, es lebe die Freiheit! Wir Russen haben kein Wort dafür; unser svoboda bedeutet vielmehr die Zeit des Ausruhens, den Augenblick des Zeitvertreibs, und weniger das, was die Freiheit in den westlichen Ländern ist. Sollen wir rufen: Es lebe die Konstitution! Wer wird verstehen, was Konstitution ist?404

Die tiefe Bedeutung dieser Äußerung verstand man damals nicht zu begreifen; ausgedehnte Entwürfe wurden gemacht, Rat bei den deutschen Junten eingeholt wegen der künftigen Regierungsform; aber niemand bestimmte die Zeit und Stunde des Ausbruchs. Die polnischen Verschworenen405 schickten ihre Sendlinge an die russischen, und bei dieser vermeintlichen Verständigung hinterging man sich obščestvo. Red. V.A.  Fedorov. Moskva 1981. „Južnoe obščestvo“ (Südgesellschaft) mit P.I. Pestel’ (1793–1826), A.P. Jušnevskij, S.I. Murav’ev-Apostol, V.L. Davydov und S.G. Volkonskij; vgl.: Pavel Pestel’: Russkaja pravda. Moskva 1993; Die Dekabristen. Dichtungen und Dokumente. Hrsg. Gerhard Dudek. Leipzig 1975; A.S. Alekseev: Dekabristy. Мoskva 2002. 404 Zitat nicht ermittelt. 405 Die Kontaktstelle war die „Gesellschaft der vereinten Slaven“ (Obščestvo Soedinennych Slavjan – Stowarzyszenie Zjednoczonych Słowian) – gegründet 1822 in Novgorod Volynskij (Ukraine) von den Brüdern Petr Ivanovič und Andrej Ivanovič Borisov und Julian Lubliński (alias Kazimierz Motosznowicz) mit dem Ziel, den russischen Zar zu

914

Teil II

gegenseitig. Die Polen verheimlichten ihren Vertrauten nicht im mindesten, ihr ganzer Zweck wäre dabei, in Rußland einen Aufstand zu erregen, um aus dieser günstigen Gelegenheit Vorteil zu ziehen; die Russen wiederum gestanden ihren Freunden, daß sie, ungeachtet der den Polen versprochenen Unabhängigkeit, dennoch bald nach dem Sturz der Dynastie nicht ablassen würden, Polen als russische Provinz zu behalten. Selbst unter den Russen fehlte Eintracht. Die sogenannte nordische Verbindung wollte sich der südlichen entledigen; Pestel’406 dagegen, eines der Häupter des südlichen Bundes, welcher dabei die größte Rolle spielte, dachte daran, die Petersburger Anführer zu entfernen. So betrogen sich auch die Russen gegenseitig, denn die ganze Verschwörung fußte nur auf einer negativen Idee, auf dem Hass. Niemand gestand, was er liebte, was er wünschte; Niemand bezeichnete den Mann zur Leitung des Ganzen; Niemand wollte den Tag zum Ausbruch bestimmen; allein Niemand verriet die Sache. Der Verräter, der Angeber, war ein Ausländer, der Brite Sherwood407, welcher der Verbindung beigetreten war; er berechnete, mehr vom Verrat als von der Treue gewinnen zu können und setzte den General Jan de Witt von allem in genaue Kenntnis. Der Graf Jan Witt408, Sohn eines polnischen Generals und einer geborenen Griechin, wußte nicht, welcher Nation er angehörte, welche Religion er bekannte, und war so ein rechtes Abbild der in Rußland eingenisteten Fremdenpartei. Dazumal stand er an der Spitze der Polizei im Süden des Reichs und war schon vor Sherwoods Anzeige über die Verschwörung benachrichtigt; es geschah dies durch einen Agenten, dessen Namen kein einziges Amtsschreiben, keine Berichterstattung der Untersuchungen angibt. Dieser Verräter, dieser durchtriebenste Spion unter allen bekannten Helden seiner Art, schlauer selbst als der in Coopers Roman, hieß Boszniak.409 Früher öfters wegen Diebstahl und anderer Verbrechen zum Kerker verurteilt, später entlassen, heimlich zum Kollegial-Assessor ernannt, gab er sich gewöhnlich das Ansehen eines Literaten, und begleitete den Grafen de Witt überall als Naturforscher. Er sprach mehrere Sprachen geläufig, schlich sich in Gesellschaften ein und

406 407

408 409

stürzen, Polen zu befreien und eine slavische Föderation zu bilden. Vgl. Milica Vasil’evna Nečkina: Obščestvo soedinennych slavjan. Moskva-Leningrad 1927. Pavel Ivanovič Pestel’ (1793–1826). John Sherwood (1798–1867); in Rußland – Ivan Vasil’evič Šervud, war Offizier bei den ukrainischen Ulanen und hatte Kontakte zur „Südgesellschaft“; vgl. Julia Mahnke-Devlin: Britische Migration nach Russland im 19. Jahrhundert. Integration, Kultur, Alltagsleben. Wiesbaden 2002, S. 259ff. Jan Witt (1782–1841). Aleksander Boszniak (1787–1831); vgl. Zbigniew Fras, Włodzimierz Suleja: Poczet agentów polskich. Wrocław u.a. 1995, S. 23ff.

28. Vorlesung (7. Juni 1842)

915

erforschte sehr geschickt alle Geheimnisse. Als der Graf von ihm über die Verschwörung unterrichtet worden, beeilte er sich dennoch nicht mit dem Bericht an die Regierung, denn er kannte einerseits Arakčeev, der die Staatsangelegenheiten leitete, sehr gut, und andererseits auch die Absichten und Mittel der Verschworenen; als aber die Denunziation Sherwoods an ihn gelangte, mußte er einen Rapport nach Petersburg einsenden. Dies geschah im Augenblicke der Thronbesteigung des Zaren Nikolaus  I.  Die  Verschworenen waren also mit Gewalt dazu getrieben, in die Fußtapfen aller derartigen früheren Staatsstreiche, die in Rußland seit dem Pseudo-Demetrius stattgefunden, selbst das edelmütige Vorhaben der Dolgorukijs410 mit eingerechnet, zu treten. Man mußte notwendig irgendjemanden aus der kaiserlichen Familie wählen, zum Throne führen und sich hinter dessen Namen verbergen. Als es demnach verlautete, der Thronerbe Konstantin entsage dem Thron, ergriff man diesen Umstand, beschloß loszubrechen, und zwar im Namen des Großfürsten Konstantin zu den Waffen zu rufen. Sonst hätte die Verschwörung wohl noch andere zehn Jahre gedauert. Hier nahmen die Verbündeten wiederum die Lüge zur Hilfe, denn sie hatten ja nie den Gedanken gehabt, den Großfürsten Konstantin zum Zaren zu wählen; der Enthusiasmus erlosch mithin sehr bald und die weiteren Folgen sind genugsam bekannt. Der Zar Nikolaus  I. wußte von der Petersburger Verschwörung gar nichts und meinte, nur einige Bataillone riefen aus eigner Eingebung seinen Bruder zum Kaiser aus. Diese Unwissenheit bewirkte, daß er kalten Bluts den Empörern entgegentrat und sie nach Umzingelung durch größere Truppenmassen mit einigen Kartätschenschüssen zur Ruhe zwang. Auch der im Süden durch Murav’ev411 begonnene Aufruhr mißlang, und was noch mehr ist, wovon vielleicht niemand etwas weiß, die Verschworenen kämpften dort gegeneinander. Die nämlich, welche in der Abteilung des Generals Geismar412 standen, der den Empörern den Weg verrannte, hofften, von unbegreiflichem Schrecken durchdrungen, durch Aufopferung ihrer Gefährten Vergebung zu erlangen und wurden ihre Sieger. Der General Geismar gestand aber hierauf niemandem Verzeihung zu. Auf diese Art endete eine Verschwörung, die in einem edlen Gedanken, in der Absicht einer Verbesserung der Lage der slavischen Völker, gebildet, zu ihrem Grundsatz keine Hauptidee finden konnte. Diese geheimen Gesellschaften bestanden aus der edelsten, tüchtigsten, feurigsten und in ihren 410 Vgl. 10. Vorlesung (Teil II). 411 Sergej Murav’ev-Apostol (1796–1826). 412 Friedrich Caspar von Geismar – Fedor Klement’evič Gejsmar (1783–1848).

916

Teil II

Gefühlen reinsten russischen Jugend. Niemand derselben hatte weder eignen Vorteil noch persönliche Rache im Auge; alles Ungerade und Lügenhafte in den Schritten der Verschwörung kam nicht aus den Herzen, wohl aber aus der falschen, negativen Idee her. Den Haß als das Bundesband annehmend, mußten sie wechselseitig in Zwist, Hader und Haß geraten, ungeachtet aller Liebe, die sie für einander hegten. Nur durch ein Wunder ward Puškin mitten in diesem Unglück gerettet. Eben zu der Zeit befand er sich auf dem Lande. Nach erhaltener Nachricht von dem Tode des Kaisers Alexander fuhr er in die Hauptstadt. Unterwegs lief ihm ein Hase quer vorüber, dadurch wurde er schon betroffen, weil er abergläubisch war; bei den Slaven aber ist dergleichen eine böse Vorbedeutung. Er eilte jedoch weiter, bis er bald ein noch schlimmeres Wahrzeichen, ein altes Weib nämlich, wahrnahm, und zuletzt nach einem Augenblick noch einem Popen begegnete. Hier erst warf der Kutscher die Peitsche weg und bat seinen Herrn auf den Knien, umzukehren. Puškin folgte. Später erzählte er öfters halb scherzend, halb ernsthaft diesen Vorfall413; wesentlich aber war er ihm seine Rettung schuldig. Sonst wäre er mit vielen seiner Freunde gefallen, oder, wie so mancher, in die Bergwerke Sibiriens geschickt worden. Dies traurige Ende der Verschwörung übte jedoch auf Puškins Geist einen nachteiligen Einfluß, es benahm ihm die Kühnheit und Begeisterung. Von nun an beginnt er zu sinken. Er selbst gesteht zwar noch nicht, daß er im Irrtum gewesen, man ersieht es aber schon aus seinen darauf folgenden Gedichten. Zuweilen machte er sich in vertrauten Gesprächen sogar über seine alten Freunde, oder wenigstens über ihre Begriffe lustig. Übrigens wünschte er innigst, den Kaiser hassen zu können, vermochte sich aber nicht Gründe dafür auszuklügeln. Bald begann man ihn des Meineids anzuklagen. Nikolaus  I. berief ihn zu sich; seit Anbeginn Rußlands war dies der erste Fall, wo der Herrscher einen Menschen zu sprechen geruhte, dem keine Rangstufe zu dieser Auszeichnung das Recht gab. Nicht genug dies, nein der Kaiser entschuldigte sich beinahe wegen seiner Thronbesteigung vor Puškin und sagte, er glaube von Rußland gehaßt zu sein, weil man meine, daß er den Großfürsten Konstantin vom Thron entfernt habe; er rechtfertigte sich wegen dieses Vorwurfs; er trieb Puškin sehr zum Schriftstellern an und beschwerte sich über sein Stillschweigen; – „Und wenn du die Zensur befürchtest“, sagte er ihm, „so will ich selbst dein Zensor sein.“414 413 Vgl. dazu dazu das Kapitel „Die rettenden Hasen“ von Reinhard Lauer: Aleksandr Puškin. Eine Biographie. München 2006, S. 169–172. 414 Zitate nicht zu ermitteln. Vgl. dazu R.  Lauer, op. cit., S.  175–177 (Audienz beim neuen Zaren).

28. Vorlesung (7. Juni 1842)

917

Puškin ward dadurch tief gerührt und ging. Er erzählte seinen ausländischen Freunden – denn den Russen wagte er dies nicht zu gestehen – daß es ihm unmöglich sei, nach dem Gespräch mit dem Kaiser noch ferner sein Gegner zu bleiben. „Ach, wie gern wollte ich ihn hassen“ – wiederholte er; – „doch was soll ich anfangen? warum soll ich ihn denn hassen?“ Seit dieser Zeit ist er in seinen Dichtungen gleichsam prosaischer geworden, nun spottete er schon der Begeisterung, der Philosophie und der freien Ansichten. Man schrie, er habe sich der Regierung verkauft; dies erfüllte seine Seele mit Bitterkeit, er begann das Publikum zu hassen, beißende Epigramme gegen dieses und seine Freunde zu schleudern, und glaubte nun, von Jedermann verlassen, von Jedermann verraten zu sein; er geriet mit der ganzen Welt in Zwist. Dennoch hatte er sowohl als das Publikum Recht. Dieses verließ ihn weder aus Zorn noch aus Neid, sondern weil es in ihm keinen Stützpunkt mehr fand; es wollte nämlich in seinem Lieblingsdichter den Führer seines Gewissens oder vielmehr seiner Meinung haben, und so sagte es denn: In deinen früheren Gedichten prophezeitest du uns eine blutige Verschwörung, – diese ist auch erfolgt; später sagtest du die Enttäuschung voraus, den Sturz der feurigsten Vorstellungen, des romanhaften Aufschwunges, – dies Alles ist in Erfüllung gegangen; was weissagst du uns aber nun? was sollen wir jetzt beginnen? was erwarten? Puškin wußte hierauf schon keine Antwort, er war selbst in Verzweiflung, auch er warf einen fragenden Blick ringsum, wo er aber nur hinschaute, sah er das bare Nichts. Was sich nur irgend im Herzen der zivilisierten slavischen Gesellschaft vorfand, die politischen Begriffe der edleren russischen Jugend, die leidenschaftlichen, durch Lord Byron verbreiteten Schwärmereien, die Rückerinnerungen altertümlicher slavischer Zeiten, dies Alles hatte er schon zu Tage gefördert, in schöne Dichtung gehüllt und vor die Augen des Publikums gestellt; jetzt ward es nötig, einen Schritt weiter zu tun, und hierzu gebrach ihm die Kraft. Der deswegen ihn befallende Gram leuchtet in seinen letzten Werken überall durch. Hier erst sehen wir klar, warum und wie die russische Literatur der Neuzeit ein Ende nehmen mußte. In der Tat schloß sie mit Puškin. Es gibt freilich noch heut zu Tage in Rußland Schriftsteller von großen Talenten und erhabenem Geist; indessen möge jeder rechtschaffene und biedere Russe gestehen, ob es wohl in ihren prosaischen oder poetischen Schriften Neues, Treffendes gebe, das die Puškinschen Leistungen zu überleben im Stande wäre? Dieser von allen möglichen Parteigängern gehaßte und verfolgte Mann lebt nicht mehr, er überließ ihnen den freien Platz, und wen haben sie denn auf seinen verlassenen Thron zu setzen? Wollen sie etwa durch Witze herrschen; über alle ragt der Witz Puškins hervor. Wollen sie eine Ballade, ein Sonett schreiben; weit schönere finden wir bei Puškin. Also, wohin wollen sie sich wenden? Was

918

Teil II

anfangen? Mit diesen Ideen, die sie jetzt haben, kommen sie keinen Schritt vorwärts; die russische Literatur bleibt nunmehr für lange geschlossen. Wir sahen die slavischen Länder im wechselseitigen Ringen und Wettstreit. Zuerst eilte das Tschechenvolk voran; dann befand sich Polen, ihm nacheifernd, im 16. Jahrhundert auf gleicher Höhe, erzeugte sogar einige größere Männer; endlich gab es eine Zeit, wo das erwachte Rußland in der Poesie die Oberhand über Polen zu gewinnen begann. Deržavin und Karamzin bewiesen mehr Kraft, als die früheren Polen. Allein bis dahin folgte die geschriebene Dichtkunst, die ganze eigentliche Literatur, nur den Fußtapfen Europas, sie spiegelte nur das Lebensbild der europäischen, auf der Zivilisationsbahn voranschreitenden Völker ab. Dann erst war die Zeit für die Slaven herangerückt, hervorzutreten mit etwas Eigentümlichen, etwas Neues zu erzeugen, und in solch einem feierlichen Augenblicke konnte Rußland nichts mehr schaffen. Diese Meinung kommt nicht von uns. Der Fürst Vjazemskij415, einer der vorzüglichsten Kritiker Rußlands, sagt: „Das russische Volk erwartet eine Literatur. Bis dahin war die Literatur alles, was sie sein wollte, sie war französisch, deutsch, klassisch, romantisch, aber nie russisch.“416 Woher also und wie wird das ersehnte Neue kommen? Wir sahen schon, daß weder der Monarchen Schutz, noch des Publikums Beifall, noch alle sonst möglichen der Literatur gespendeten Aufmunterungen eine Idee oder einen noch so geringen Ideenkeim hervorzubringen im Stande waren. Wir sahen jedoch zugleich, daß die Martinisten, und zwar solche von ihnen, die weder Namen noch Ruf hatten, lediglich gestützt auf die religiöse Idee, in Rußland einen weit mächtigeren und fruchtbareren Einfluß bewirkten, als die Gewalt Peter des Großen oder Katharinas Zivilisationsbestrebungen auszuüben vermochten. Es bleibt also die Frage übrig, in welchem unter allen slavischen Ländern am wahrscheinlichsten die neue Idee hervortreten kann. Dieses wird der Gegenstand der künftigen Vorträge sein.

415 Petr Andreevič Vjazemskij (1792–1878). 416 Zitat nicht ermittelt.

29. Vorlesung (14. Juni 1842) Urteil des Fürsten Vjazemskij über die russische Literatur – Ursache des Hinsterbens dieser Literatur – Die Vitalität der polnischen Literatur – Kazimierz Brodziński. Seine wissenschaftliche Erklärung der polnischen Geschichte – Die polnischen Philosophen: Hoene-Wroński und seine philosophischen Schriften – Kritik seiner Ansichten – Bestimmung der Völker in Verbindung mit ihrem religiösen Charakter.

Wir nähern uns dem Schluss der diesjährigen Vorlesungen und kommen zu dem Punkt, wo das slavische Gefühl, der Begriff nämlich alles dessen, was der slavische Geist in sich trägt, mit dem europäischen Gedanken zusammentreffen soll. Bis dahin betrachteten wir die verschiedenen Völkerschaften, wie sie auf der literarischen Laufbahn sich nebeneinander fortbewegten; von nun an muß eins nach dem anderen auf seinem Platz gelassen werden und das polnische Volk allein wird uns weiter führen, dieses einzige Volk nämlich, das in den letzten Jahren die Wurzeln einer urtümlichen, ihm zugleich völlig eigenen Literatur getrieben, die Begründung einer neuen Philosophie unternommen und das Ziel seines Hoffens und Sehnens weit vorangesteckt hat. Auf diesem Wege werden wir den Blick noch auf einige Namen, auf einige Werke anderer slavischer Geschlechter werfen, welche gleichsam ihren Segenswunsch dem polnischen Geist darbringen. Wir haben schon die Ursachen angedeutet, warum nach unserem Erachten Puškin den Gang der unter dem Schirm Peter des Großen entstandenen russischen Literatur beschließt; zum Belege unsers Urteils wollen wir ein Bruchstück eines eben in Rußland erschienenen Werkes, dessen erste Bogen uns zugekommen sind, anführen. Es ist dies die Schriftsammlung des ausgezeichneten russischen Komödienschreibers Fonvizin417, mit einer Vorrede vom Fürsten Vjazemskij. Letzterer, der auch Dichter und zugleich, wie erwähnt, einer der vorzüglichsten Kritiker ist, gibt hier in einer Skizze das Bild der russischen Literatur und ihres Charakters. Hier werden wir sehen, wie unsere Begriffsund Beurteilungsweise hinsichtlich der russischen Schriftsteller, sowie unsere ganze Methode, die wir festgehalten, gleichsam amtlich durch einen im Ansehen stehenden Schriftsteller und Zeitgenossen bestätigt wird. Schade, daß wir nur einen geringen Teil dieser Vorrede in Händen haben; doch finden wir in 417 Deniz Ivanovič Fonvizin (1745–1792). Mickiewicz wußte nicht, daß es sich hierbei um Auszüge aus der Monographie von P. Vjazemskij über Fonvizin handelt; vgl. hier Fußnote 413. Über Fonvizin vgl. Reinhard Lauer: Geschichte der russischen Literatur. Von 1700 bis zur Gegenwart. München 2000, S. 83–87.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_071

920

Teil II

diesen wenigen Umrissen unsere angeführten allgemeinen Bemerkungen sehr genau und klar wiederholt. „Unsere literarischen Erzeugnisse“, sagt der Fürst Vjazemskij, „die lyrischen Schöpfungen Deržavins, die feurigen, mit philosophischem Geist und satirischer Kraft verfaßten Schriften, die treffenden Epigramme verschiedener Autoren, deren der Kritiker bis auf zehn zählt, endlich Puškins so mannigfaltige und dem Volkscharakter sich immer am meisten nähernden Werke, diese gesamte russische Literatur – wir wollen es offen heraussagen – kann der Undankbarkeit und Ungerechtigkeit gegen ihr eigenes Vaterland beschuldigt werden, denn sie stellt durchaus nicht das Leben ihres Volkes dar. Sie ist nur der Widerhall der sogenannten zivilisierten oder europäischen allgemeinen Salongesellschaft. Die echt russische Gesellschaft hat den Mund noch nicht aufgetan. Das russische Volk besitzt mehr Kraft, hat einen stärkeren Bau als seine bisherige Literatur; die russische Brust klingt wohltönender als der Stil dieser Bücher; neben der Gestalt eines unserer Landsleute haben diese Werke ein gar welkes und dürftiges Aussehen. Wir sind noch weit entfernt, den Platz als Literatur zu behaupten, den wir als Politiker schon errungen haben. Rußland muß man in der Geschichte seines Hofes, seines Heeres und seiner Verwaltung erforschen; dort wir man viele schöne Blätter entdecken und mit Verwunderung bemerken können, wie diese so schweigsame Gesellschaft doch ihr eigenes Antlitz und ihren eigentümlichen moralischen Charakter besitzt. Wer aber aus der Literatur Rußland kennen lernen wollte, verfiele leicht auf die Meinung, daß es noch nicht verdient, als Volk betrachtet zu werden, und dasjenige, was man russische Nation nennt, sei nur eine ausländische Ansiedlung zwischen slavischen Stämmen. Wo gibt es denn bei uns Leute, deren Gefühle mit denen Deržavins übereinstimmten, die mit Karamzin gleich dächten? Zeig mir eine, durch die Literatur aufgeklärte oder durch ihren Einfluß empfangene Meinung? Literaten in der wahren Bedeutung dieses Wortes haben wir keine.“418 418 Teilweise Zitierungen aus – P.A.  Vjazemskij: Fon-Vizin. In: Polnoe sobranie sočinenij knjazja P.A. Vjazemskago. Tom V. 1848 g. Izdanie grafa S.D. Šeremeteva. S.-Peterburg 1880, S.  2–3: „Некоторые наши явления литературные: великолепные оды Ломоносова; воспламененные философические и сатирические гимны Державина […]. Нет сомнения, русское общество еще вполне не выразилось литературою. Русский народ сильнее, плечистее, громогласнее своей литературы. В сравнении с ним она несколько тщедушна. Место, занимаемое им в литературном мире, не соответствует тому, коим завладел он в мире политическом. Вы должны искать русских следов в истории двора, в истории походов, в истории успехов гражданственности: блестящие страницы могут здесь удовольствовать требованию честолюбия народного и явить, что сие общество, хотя еще мало говорливое, имеет во многих чертах свою физиогномию, свою нравственную самобытность. Одно книжное знакомство с ним увлекло бы вас к заключению, что нет общества, а есть только

29. Vorlesung (14. Juni 1842)

921

Erst jetzt leuchtet ein, warum wir genötigt waren, die blutigen Palastrevolutionen weitläufig zu schildern, den Anfang und die Geschichte der russischen Armee sorgsam auseinanderzusetzen, obschon die anwesenden Russen sich oft beschwerten, daß wir die Zuhörer, statt mit der Analyse ihrer Literatur, lediglich mit dem Vortrag ihrer politischen und Militärgeschichte beschäftigten. Der Fürst Vjazemskij rechtfertigt uns wegen dieses Vorwurfs. Nur meint der Fürst, das Mißgeschick Rußlands rühre daher, daß es keine eigene, der Literatur ausschließlich sich widmende Klasse, die aus Profession Werke schriebe, keine eigentlich genannten Literaten besitzt. Einige russische Publizisten wollten, derselben Methode folgend, um das politische Dasein ihres Landes zu verbessern, ebenfalls einen dritten Stand schaffen. Die Trockenheit und Unergiebigkeit der russischen Literatur entspringt indessen aus einer viel entfernteren und tieferen Ursache. Die nordischen Länder schöpften, wie wir sahen, ihr moralisches und literarisches Leben durch das Organ der allgemeinen Kirche und der Literatur des Abendlandes. Frankreich überhäufte Rußland im letzten Jahrhundert mit vielen als musterhaft und klassisch gepriesenen Werken; man begnügte sich mit deren Übersetzung und Verbreitung unter der Lesewelt. Allein seit der Julirevolution trat in Frankreich eine allgemeine Erschütterung ein, und es begann die moralische Revolution. Seitdem gibts schon in diesem Land keinen Schriftsteller, den die gesammte Nation für musterhaft, für vorangehend und volkstümlich erachtete. Jedes literarische Erzeugnis wird hier vom politischen und religiösen Standpunkt aus gewürdigt; es haben sich literische Fraktionen gebildet. Selbst die Slaven sind hineingezogen worden in diesen Hader und mußten sich bald an die Seite der Klassiker, bald an die der Romantiker, der Humanisten, der St.-Simonisten, Republikaner und Legitimsten stellen. Das Jahr 1830 eröffnete in den nördlichen Ländern die Epoche der Reaktion. Schon begann man dort die französischen Werke streng zu untersuchen, die blinde Nachahmung zu verlassen; man wurde wankend und wußte nicht, was weiter zu tun, bei welchem Schriftsteller, in welchem Werke die Begeisterung zu finden sei. Daher jene Ungewißheit, das Mißtrauen in sich selbst, die Ohnmacht und endlich der Tod der russischen Literatur. In Polen hingegen blühte der Nationalgedanke, der viele Jahrhunderte hindurch bloß Bruchstücke von Gedichten und einzelne Verse erzeugte, auf народонаселение. Русское общество не воспитано на чтении отечественных книг: вы не можете найти людей, которые чувствовали бы по Державину, мыслили бы по Княжнину, коих мнения развились бы и созрели под влиянием таких-то или других русских авторов. Это неоспоримо. Какое может быть на народ влияние литературы, не имеющей эпопеи, театра, романов, философов, публицистов, моралистов, историков?“

922

Teil II

einmal in vollendeten und ausgezeichneten Werken empor; selbst die Philosophie, der poetischen Ideen sich bemächtigend, begann daraus Theorien zu entwickeln, und riß in dieser Weise selbst spekulative Geister auf den Weg der Zukunft mit sich fort. Man fing an, die Sozialphilosophie in Formeln zu fassen, und so scharte man gleichsam das Volk um eine einzige Idee, um eine Idee, welche, noch nicht in die Berechnungen des materiellen Daseins eingegangen, dennoch echt slavisch wegen der Masse der Bevölkerung, in der sie ruht, und den Fremden unbekannt ist. Den Gang und die Entwicklung dieser volkstümlichen Idee werden wir näher betrachten. Die Literaturgeschichte des polnischen Kongreßkönigreichs können wir übergehen, obschon sie auch reich an besondern Einzelheiten ist. In politischer Hinsicht war sie ein fortwährendes Ringen gegen Regierung und Zensur. Die Schriftsteller gewannen Beliebtheit beim Volke durch unbestimmte Anspielungen, die das Publikum zu verstehen wußte. Oft dienten ihnen nebeneinander gestellte Pünktchen, Anführungszeichen, große Buchstaben, kleinere oder liegende Lettern als Mittel, die Zensur zu umgehen. So druckte man z.B. das Wort VERGANGENHEIT (przeszłość) mit großen Anfangsbuchstaben, um an die vergangene Größe des Vaterlandes zu erinnern; die Zukunft (przyszłość) schrieb man kursiv und war bemüht, die Gegenwart, so oft man sie erwähnen mußte, beinahe ganz zu verhüllen. Den Worten Frankreich und Westen folgten fast immer Ausrufungszeichen, und selten sprach man von den Zwecken der Regierung ohne ein Fragezeichen. Alle diese dem Scheine nach knabenhaften Ausflüchte hielten dennoch die Aufmerksamkeit der Leser wach und erregten ihr Mißvergnügen. Lassen Sie uns, meine Herren, nur bei einem einzigen Schriftsteller dieser Epoche verweilen, der eine neue Periode anhebt, sich an die Vergangenheit anlehnend, zugleich auch die ferne Zukunft vorauszusehen scheint; wir wollen von Brodziński sprechen. Kazimierz Brodziński (1791–1835) war zuerst Soldat und begann seine literarische Laufbahn mit Gedichten in der Weise der Legionenlieder. Nach dem Sturz Napoleons trat er, sichtlich von Verzweiflung ergriffen, aus dem öffentlichen Leben zurück. Er traute dem Enthusiasmus (Seelenfeuer) des Volks nicht mehr, beschränkte sich völlig auf seine künstlich gemachten Kreise und faßte den Vorsatz, ein volkstümlicher, ein slavischer Dichter zu sein. Er stieg selbst in die Tiefen des Slaventums hinab, übertraf darin Karpiński und wurde so zu sagen ein Slave von der Donau. Mit besonderer Vorliebe besingt er des Landmanns Leben auf dem Feld und am Herd; zeichnet Landschaften und ahmt Volkslieder nach; mit einer Art Furcht sieht er die Erscheinungen auf dem Feld damaliger Kunst und mag gar nichts von Byron hören; der Gedanke an

29. Vorlesung (14. Juni 1842)

923

den Einfluß, den dies mächtige Genie auf das feurige Gemüt der Polen haben könnte, erschreckte ihn. Er wollte Polen ruhig, friedlich dem Pflug gewidmet sehen. Enttäuscht, geschreckt und bedrängt durch das Ende Napoleons, verurteilte er den Enthusiasmus, verdammte die Exaltation419, ohne zu wissen, welch großen Nachteil er dadurch der Volkssache stiftete. Das Publikum bewunderte seine in künstlerischer Hinsicht vortrefflichen Werke; die Literaten schätzten seine gründlichen gelehrten Abhandlungen420 ungemein, man rief ihn zum Haupt einer Schule aus, die in Ermangelung eines anderen Namens die romantische genannt wurde; allein die Masse des Volkes war taub für Brodzińskis Poesien, er erweckte im Land nicht die geringste Aufmerksamkeit, von den Lesern bald vollends verlassen, wurde er zuletzt für die Jugend ein Gegenstand mannigfaltiger Ausfälle, die, wenn auch oft ungerecht, dennoch aus ihrer Ahnung entstanden, daß ein gefährliches Prinzip in seinen Werken überhand nehme. Bald hätte er beinahe wie Puškin geendet, denn gleich diesem ward er verstoßen, verworfen und sogar vom Publikum geschmäht; allein die Revolution von 1830 gab ihm mit einem Male seine Schwungkraft wieder. Er erhob sich bis zu der löblichen Demut, seine Fehler zu bekennen und sich in seiner Seele, in seinem Gewissen vor dem Genius seines Volkes auf die Knie zu werfen. Für diese Reue verwilligte ihm der Himmel die Gnade, weit in die Zukunft zu blicken; er schrieb eine berühmte Abhandlung, die, in der „Versammlung der Freunde der Wissenschaft“ zu Warschau (Towarzystwo Przyjaciół Nauk) gelesen, mit wenigen Worten die Philosophie der Polen gründlich schilderte. Beim Anblick dieser unbedacht und tollkühn genannten Revolution, von edlem Feuer für die Nationalidee erglüht, sprach er, im Angesicht der Zuhörer, die ihn so oft gegen die Exaltation und den Enthusiasmus der Jugend deklamieren gehört, folgende Worte:

419 Kazimierz Brodziński (1791–1835); K.  Brodziński: O egzaltacji i entuzjazmie. In: K. Brodziński: Pisma rozmaite. Warszawa 1830, tom I, S. 257–318. 420 Kazimierz Brodziński: O klasyczności i romantyczności tudzież o duchu poezji polskiej. In: Pamiętnik Warszawski 1818, t. 10, S.. 356–381, 516–540; vgl. auch – Kazimierz Brodziński: Pisma estetyczno-krytyczne. T. 1–2. Hrsg. Z. J. Nowak, Wrocław 1964. Vgl. ferner – Michał Kuziak: Brodziński, Mickiewicz, Mochnacki: Der Alteritätsdiskurs der polnischen romantischen Kritik. Ein Erkundungsversuch. In: Romantik und Geschichte. Polnisches Paradigma, europäischer Kontext, deutsch-polnische Perspektive. Hrsg. Alfred Gall, Thomas Grob, Andreas Lawaty und German Ritz. Wiesbaden 2007, S. 173–182.

924

Teil II Tę ideę i to przeznaczenie postanowiłeś, narodzie (przed którym czcią przejęty się korzę), spełnić […]. Jesteś natchnionym, czujesz w sobie boskość […].421 O Volk! diese Idee und diese Bestimmung nahmst du dir vor zu vollziehen (ehrfurchtsvoll neige ich daher mein Haupt vor dir) […]. Du bist begeistert, du fühltst das Göttliche in dir […].

In derselben Abhandlung drückte er den Gedanken aus, den wir schon im Laufe des verflossenen Jahres anführten, später erwähnten und jetzt wiederholen müssen; denn diese wenigen Zeilen sind der Übergang zum wissenschaftlichen Begreifen der polnischen Geschichte. Brodziński bemerkte jetzt erst, was wahrhaft Großes, Volkstümliches und zugleich für die ganze Welt Gültiges sich in der Tiefe des Gedankens von Kopernikus befand. Seine Worte sind: Niegdyś każdy naród siebie uważał za cel i środek wszystkiego, tak jak ziemię uważano za środek świata, około którego wsuystko krąży. Kopernik odkrył system świata fizycznego, i naród polski (powiem to śmiało i z dumą narodową) sam przeczuł istotny ruch świata moralnego: on uznał, żer każdy naród być powinien cząstką całości i krążyć koło niej jak planety około swego ogniska; każdy potrzebną sforność i równowagę stanowi i tylko ślepy egoizm tego nie widzi. Naród polski, powtarzam, jest przez natchnienie filozofem, Kopernikiem w świecie moralnym. Nie zrozumiany, prześladowany, trwa w swojem, zyska wyznawów, i cierniowa korona jego, zmieni się w wieniec zwycięstwa i obywatelstwa.422 Einst sah sich jede Nation als Mittelpunkt und Ziel von allem, was sie umgab, ebenso wie man die Erde als den Mittelpunkt der Welt, um den alles kreise, betrachtete. Kopernikus enthüllte das System der physischen Welt, das polnische Volk – freimütig sage ich dies und mit Nationalgefühl – ahnte allein den wesentlichen Gang der sittlichen Welt; es erkannte, daß jedwedes Volk einen Teil des Ganzen bilden und um dies sittliche Weltall, wie die Planeten um ihren Brennpunkt, kreisen soll; jedwedes übt nötigen Halt und Gleichgewicht und nur die blinde Selbstsucht übersieht dies. Das polnische Volk – ich wiederhole es – ist durch Begeisterung ein Philosoph, ein Kopernikus in der sittlichen Welt. Verkannt und verfolgt, harrt es dennoch aus; es wird Mitbekenner gewinnen und seine Dornenkrone wird sich in den Kranz des Sieges und Bürgertums verwandeln.

Auf diese Weise hat Brodziński die politische Geschichte Polens wissenschaftlich erklärt. Wir erblicken hier aus der Ferne einen Strahl der Erkenntnis, welcher auf die noch dunkle Geschichte der polnischen Legionen und 421 Kazimierz Brodziński: Posłanie do braci wygnańców i Mowa o narodowości Polaków. Paryż 1850, S. 56–57 [http://reader.digitale-sammlungen.de]. 422 Brodziński, op. cit., S. 55.

29. Vorlesung (14. Juni 1842)

925

Emigrationen, auf die Geschichte des einzigen Volkes in Europa fällt, das nicht gebunden ist an die Scholle des Bodens, nicht an die Bedingungen, die ein Herrscherreich ausmachen, sondern, wie Kopernikus die Bestimmung der Erdkugel, sein Dasein vom Brennpunkte des Himmels abhängig gemacht hat. Hier kam der Begriff Brodzińskis mit dem polnischen Volksgeist überein. Merkwürdig, ja erstaunlich ist es, daß polnische Philosophen, die damals in aller Stille die großen Fragen der spekulativen Philosophie erforschten, denen die polnische Poesie und Brodzińskis Abhandlung unbekannt war, und die übrigens selbst wenig gekannt und beachtet wurden, auch auf eben diese Wahrheit gestoßen sind, und ihr System dem Gang der altertümlichen, vaterländischen Geschichte, dem Kopernikanischen Gedanken und den letzten in Polen vorgekommenen Ereignissen zufolge, in Formeln gesetzt haben. Wir werden hier nur über einen von allen diesen sprechen, der seine Philosophie französisch geschrieben, sein ganzes Leben in Frankreich verweilt, der aber in vieler Hinsicht den Slaven angehört! Wir meinen Wroński.423 Dieser Kämpfer unter Kościuszkos Fahnen siedelte sich nach dem Fall Polens in Paris an, wo er viele Werke herausgegeben hat; zu ihrer Zeit erregten dieselben in der gelehrten Welt großes Aufsehen, wurden aber im Übrigen wenig gelesen, da sie auch nur in wenig Exemplaren abgezogen waren. Es ist hier nicht unsere Sache, Wroński als Mathematiker und Mechaniker zu würdigen, wenngleich er sich vorzugsweise diesen Wissenschaften gewidmet hat. Er bewies von anderer Seite ein hohes praktisches Talent, indem er frühzeitig vorhersah, wohin es mit Europa kommen mußte. Nach der Julirevolution 1830, als einerseits einige Parteien Frankreich mit einer Wiederholung des Schreckenssystems bedrohten, und man andererseits der Legitimität wieder aufzuhelfen hoffte, jedermann aber den allgemeinen Krieg voraussah; verkündigte Wroński mit lauter Stimme, daß die Regierung, die sich einmal den Gesetzen des Fatalismus unterworfen, auch fatalistisch an dem Status quo halten müsse und keinen, wenn auch noch so geringen Schritt weder rechts noch links, weder vorwarts noch rückwärts zu tun vermögen werde. Der Beachtung denkender Männer wert sind auch einige Blätter eines anderen Werkes von Wroński, wo er die Dogmen zweier politischen, seit Aristoteles und Plato sich gegenseitig bekämpfenden Schulen in eine Formel 423 Józef Maria Hoëné-Wroński (1778–1853). L’œuvre philosophique de Hoené Wronski. Textes, commentaires et critique. Préface de Z.L. Zaleski [wybór, układ i komentarz F. Warrain], I–III, Paris 1933–1938; Vgl. – Adam Sikora: Hoene-Wroński: absolut i historia. In: A.  Sikora: Posłannicy słowa – Hoene-Wroński, Towiański, Mickiewicz. Warszawa 1967, S. 13–127; Lech Łukomski: Twórca filozofii absolutnej. Rzecz o Hoene Wrońskim. Kraków 1982; Hoene-Wroński: życie, matematyka i filozofa. Hrsg. Piotr Pragacz. Warszawa 2007.

926

Teil II

zusammenfaßt. Es ist unmöglich, in anderen Schriftstellern die Hauptfrage so klar, so gedrängt und so tief behandelt zu finden. Was uns jedoch am meisten angeht, ist, daß Wroński, ein Politiker und Philosoph, die Sendung Napoleons erkannt, das Beginnen eines neuen Zeitraums ergründet hat. Der Schrift, die er diesem Gegenstand widmete, gab er den Titel: Prodrom, d.h. Verkündigung des Messianismus424; diese Epoche begreift er nicht als eine politische Erschütterung, nicht als ein abgesondertes Ereignis, wohl aber als die Morgenröte eines neuen Tages; denn Messianismus bedeutet eine allgemeine Erneuerung. Napoleon trägt nach ihm das Merkmal eines auserwählten Mannes, eines Sendlings von oben, er ist ein Mann des Universums, der Mann des ganzen Erdballs. Wroński erforscht die politische und religiöse Bedeutung seines Herrschens und stellt sich keineswegs als Verfechter der Napoleonischen Dynastie dar. Diese zwei Dinge hat er sorgsam geschieden; in einer kleinen, wenig bekannten Schrift, unter dem Titel: „Le secret de la politique de Napoleon“425 (Das Geheimnis der Politik Napoleons), sagt er, Napoleons Werk müsse von dessen Nachfolgern dem Geist und nicht dem Fleisch nach weiter fortgeführt werden. Hierbei muß noch bemerkt werden, daß zur Zeit, als Wroński dies schrieb, eine zahlreiche, halb christliche, halb jüdische Sekte unter den Israeliten bestand, welche auch den Messianismus erwartete, und in Napoleon, wenn auch nicht den Messias, doch wenigstens dessen Vorläufer sehen wollte. Ein Mathematiker, ein spekulativer Philosoph, israelitische Theologen und polnische Dichter haben sich also in einem Punkte zusammengefunden. Wir werden nämlich sehen, daß die Poesien der Dichter Polens, die Reden seiner Prediger und die Resultate der strengen Analyse Wrońskis völlig mit einander übereinstimmen. In der nächsten Vorlesung werden wir Auszüge aus dem Werk eines unserer Dichter426 beibringen, die den Begriffen Wrońskis als Kommentar dienen und zugleich die Gedanken anderer polnischer Seher erklären werden. Inzwischen tut es Not, sich hier gegen dasjenige zu äußern, worin Wroński von den Nationalvorstellungen abweicht, ja ihnen sogar völlig widerspricht. 424 Józef Maria Hoene-Wroński: Prodrome du messianisme, révélation des destinées de l’humanité. Paris 183; polnische Übersetzung von Józef Jankowski – Prodom mesjanizmu. Lwów-Warszawa 1921; deutsche Übersetzung – Prodrom des Messianismus oder der Absoluten Philosophie. Übersetzt von Elsa Starostowa. Oldenburg 1931. 425 J.M. Hoene-Wroński: Le secret de la politique de Napoléon, comme base de l’avenir du monde. Paris 1840; polnische Übersetzung von Józef Jankowski – J.M.  Hoene-Wroński: Tajemnica polityczna Napoleona jako podstawa przyszłości moralnej świata. Warszawa 1919. 426 Gemeint ist das Poem „Wacława dzieje“ von Stefan Garczyński (siehe 30. Vorlesung).

29. Vorlesung (14. Juni 1842)

927

So würde es z.B. ihm, oder wenigstens seinen Schülern, den Schriftstellern, die seiner Schule angehören, zufolge, scheinen, daß Frankreich keine Zukunft mehr habe, daß seine Laufbahn schon geendet.427 Wir werden alsbald nachweisen, woher diese ihre unslavische und insbesondere unpolnische Meinung entspringt. Wollten sie die polnischen Werke zu Rate ziehen, namentlich den Volksglauben besser auffassen, wahrlich sie begingen solch eine Abtrünnigkeit nie. Ehe wir diese hochwichtige Frage vornehmen, haben wir im Allgemeinen die Gründe auseinanderzusetzen, auf welche die Slaven ihre Hoffnungen stützen und wie sie den künftigen Zustand Europas begreifen. Nachdem wir früher das sittliche und religiöse Bild der westlichen Länder gezeichnet und nebenbei die Hauptcharakterzüge der slavischen Völker nachgewiesen haben, verglichen wir diese beiden großen Gruppen der Menschheit. Erinnern wir uns nun, daß, diesem Vergleich gemäß, Frankreich und Polen, England und Rußland, Deutschland und Tschechenland, Italien nebst Spanien und die Ländergebiete an der Donau und in den Gebirgen einander entsprechen. Ganz Europa ist christlich. Sprechen wir nun von der allgemeinen Kirche, so heißt diese in Betreff der Gesetzgebung und Form, katholisch; in Rücksicht der Dogmenanwendung im Leben und Tun, rechtgläubig; wegen des allbelebenden Geistes aber christlich. Es sind dies drei Worte für eine und dieselbe Sache. Und spricht jemand z.B. von tätigen Tugenden, von der Nächstenliebe, so wird er nicht sagen, es sei dies die katholische Liebe des Nächsten oder die rechtgläubige, sondern die christliche. Ebenso sagen wir, dieser Mann war vom christlichen Geist beseelt, er war ein echt christlicher Ritter. Handelt es sich dagegen um ein Dogma, so sagen wir, dies ist ein katholisches Dogma, eine katholische Lehre, eine wesentlich katholische Vorstellung. Endlich nennen wir das Verfahren, das Handeln eines einzelnen Menschen oder eines Volkes mehr oder weniger rechtgläubig, je nachdem sie mehr oder weniger dem christlichen Geiste, den Gesetzen der Kirche entsprechen. Wenn wir folglich auf diese Weise erwägen, in wie weit sich ein europäisches Volk in Geist, Form und Taten entweder christlich, oder katholisch, oder rechtgläubig gezeigt, so werden wir die Geschichte eines jeglichen leicht verstehen und würdigen können. Frankreich wurde zu allen Zeiten das allerchristlichste Land genannt, seine Könige hatten den Titel der allerchristlichsten. Es gibt kein anderes, dem Mitgefühl mehr geneigtes Volk, als die Franzosen. Lebhaftigkeit, Kraft und Beweglichkeit zeichnen den französischen Geist aus. Frankreich stand an der Spitze der Kreuzzüge, Frankreich unternahm alle Neuerungen und Erneuerungen. 427 Vgl. Antoni Bukaty: Polska w apostazji, czyli tak zwanym rusosławizmie, i w apoteozie, czyli tak zwanym gallokosmopolityzmie. Paryż 1842.

928

Teil II

Spanien, das so zu sagen die Außenseite der Religion, das Formelle derselben, wie sich die Deutschen ausdrücken, kurz, die Form, Verfassung, Ordnung vorstellt, verstand immer sein eigenes Land und die eroberten besser zu organisieren, als Frankreich. Spanien, das die Legalität, die Macht der Ordnung vertrat, kämpfte mit dem Protestantismus und strengte sich am meisten gegen das Ketzertum an. Im Norden erblicken wir die nämlichen Züge als Unterscheidungsmerkmale der slavischen Völker; Rußland nennt sich rechtgläubig (православна), d.h. es sieht sich für das Volk an, das am meisten die echte Verehrung Gottes festhält, nicht den Geist, die kirchlichen Formen, sondern die Verehrung, das ist den Gebrauch äußerlicher Zeichen der Anbetung Gottes. Polen trägt den Namen rechtgläubig (prawowierna), d.h. eines rechtgläubigen Volkes, das den christlichen Geist und die katholische Form in der Politik sich zur Norm nimmt428; und in der Tat hat dieses Volk dem Heiligen Stuhl nie Veranlassung zu der geringsten Klage gegeben. Sehen wir also jetzt, wo das Schicksal der Zukunft Europas entschieden werden kann? Woher die Kraft hervorbrechen kann, die es weiter schwingen soll? Denn am Ende glaubt es ja doch Niemand mehr, daß Europa auf dem Fleck bleiben, daß es ewig ruhen könne; und unmöglich ist auch der Status quo in sittlicher, wissenschaftlicher und literarischer Hinsicht als unveränderlich anzunehmen. Zuversichtlich kann diese Triebkraft nur von Frankreich kommen. Wir sagen dies, uns auf den Glauben der Slaven, auf ihre Meinung berufend, ausgedrückt durch die Dichter, deren Worte wir später anführen werden. Frankreich wird die Kraft zur Erschütterung Europas, zur Eröffnung der Zukunft hergeben; den katholischen Völkern wird die Entfaltung des Dogmas verbleiben, aber seine Einführung ins Leben ist die Sache des slavischen Volkes, dieses Volkes nämlich, das voll Jugendfrische und Kraft schon im Titel des rechtgläubigen seine gesellschaftlichen Pflichten angedeutet findet, d.h. die Pflicht, die Wahrheit im wirklichen Leben angewandt zu sehen. Dann wird an Rußland die Reihe kommen, seine Gottesverehrung hier anzupassen und die sichtbare Außenseite der Wahrheit zu entfalten. 428 Im französischen Text lauten die beiden letzten Sätze: „Entre les nations slaves, la Russie s’appelle Prawoslawna, c’est-à-dire une nation qui suit le vrai culte: le cute, c’est la manière extèrieure d’adorer la Divinité. La Pologne avait le titre d’orthodoxe; elle appliquait l’esprit chrètien et la forme catholique à la conduit politique.“ – Adam Mickiewicz: Le Slaves. Cours professè au Collège de France (1842). Et publiè d’après les notes sténographiées. Tome troisième: Les pays slaves et la Pologne. Histoire et Littèrature. Paris 1849, S. 307. Zur Übersetzung von „pravoslanyj“ und „pravovernyj“ als „rechtgläubig“ vgl. – Słownik języka polskiego przez M. Samuela Bogumiła Linde. Tom IV. Lwów 1858, S. 465–466.

29. Vorlesung (14. Juni 1842)

929

Mit einer einfachen Betrachtung, durch die jedes vorurteilsfreie Gemüt sich angesprochen fühlen dürfte, wollen wir schließen. Inmitten selbst der Verirrungen der französischen Revolution konnte man Funken des echt christlichen Geistes gewahr werden. Einige rechtgläubige Schriftsteller und Philosophen wußten als Ursache dieser Revolution nichts anderes zu bezeichnen, als die Schwächung des Christentums in der Gesetzgebung und in den Sitten, und das in den Volksmassen erwachende Gefühl von der Notwendigkeit desselben. Vom Wahn ergriffen stürmte der französische Genius auf das Christentum los, er griff dessen Geist an; doch erscheint er in den Augen der Wahrheit vielleicht weniger schuldig, als derjenige, der den Revolutionen in Spanien und Deutschland voranging. Indem die Jakobiner die Priester mordeten, die Kirchen plünderten, nannten sie Christus einen Ohnehosen, einen Sansculotten429, sie gaben ihm einen unedlen Titel; damals aber war es der schönste, den man sich beilegte; sie erkannten Christus als ihren Mitbürger, als ihren Bruder an. Sehen wir einmal, wie jetzt die spanischen Revolutionäre mit ihm umgehen, wie sie das Dogma auf tausenderlei Art verdrehen, mit der Kirche einen heuchlerischen Krieg führen und ihre Zuflucht zu tausenderlei Spitzfindigkeiten verworrener Kontroversen nehmen. Die religiöse Reaktion wird immer in Frankreich viel leichter sein als in anderen katholischen Ländern. Um noch einen einfachen und schlagenden Beweis anzuführen, wie mächtig das französische Genie vom Mitgefühl beseelt ist, reicht es hin, nur anzudeuten, wie viele Überreste verschiedener Nationalitäten in Frankreich heute Asyl finden. Sowie in der St. Peterskirche zu Rom Beichtstühle für alle europäischen Völker und Sprachen offen stehen, ebenso gibt es hier in allen Ministerien besondere Abteilungen zur Bestreitung der Angelegenheiten der Portugiesen, Spanier, Italiener, Deutschen und Polen. Endlich wiederholen wir noch unsere frühere Bemerkung, daß die slavischen Völker nur Frankreich die einzige Stätte, wo die Wahrheit ihre laute Stimme erheben kann, zu verdanken haben. Hier, innerhalb dieser Wände, können Russen, Tschechen, Moldauer und andere den Vortrag ihrer Geschichte hören, darüber ihre Bemerkungen geben und der Antwort sicher sein; hier können sie ihre sittlichen und religiösen 429 Als Sansculottes (auch dt. Sansculotten, von franz. ohne Kniebundhose, Culotte, selbst abgeleitet von cul „Boden“, „Hintern“) wurden in der Zeit der Französischen Revolution die Pariser Arbeiter und Kleinbürger bezeichnet, die im Gegensatz zu den von Adligen getragenen Kniehosen (sog. Culottes) stattdessen lange Hosen trugen, wie sie zur Arbeit geeignet waren. Vgl. Albert Soboul: Französische Revolution und Volksbewegung. Die Sansculotten. Die Sektionen von Paris im Jahre II. Hrsg. von Walter Markov. Frankfurt am Main 1989.

930

Teil II

Aufgaben auseinandersetzen und erwägen; Frankreich hat die Zunge der slavischen Völker so zu sagen entsiegelt; Frankreich bewirkte sogar, daß selbst innerhalb der Grenzen Österreichs und Preußens slavische Lehrstühle430 errichtet wurden.

430 Universität Breslau – Professor für slavische Literatur: František Ladislaus Čelakovský (1799–1852) von 1841–1849; Wojciech Cybulski (1808–1867) – 1841 Privatdozent an der Berliner Universität, 1861–1867 Professor für slavische Philologie in Breslau. Vgl. W. Cybulski: Geschichte der Polnischen Dichtkunst in der ersten Hälfte des laufenden Jahrhunderts. 2 Bde., Posen 1880; vgl. Bernhard Woodrow Januszewski: Wojciech Cybulski: Działalność polityczna, pedagogiczna i naukowa. Wrocław 1974.

30. Vorlesung (17. Juni 1842) Dichterschulen. Die litauische und ukrainische Schule – Antoni Malczewski und sein Poem „Maria“ – Die polnische Dichtung und Philosophie haben ein Ziel – Stefan Garczyński und sein philosophisches Poem „Wacława dzieje“ – Hegels Philosophie – Die Anwendung des slavischen Begriffes „duch“ (Geist) – Was ist Genie?

Jetzt bleibt uns noch übrig, die Geschichte der zehn letzten Jahre vor der polnischen November-Revolution von 1830 zu überblicken. Dieser Zeitraum ist reichhaltig und schwer zu behandeln. Eigennamen, um die sich besondere Erscheinungen reihen könnten, kommen uns hier nicht vor. Damals sah Polen viele neue Schriftsteller bei sich auftreten, wozu die Provinzen den ersten Antrieb gaben; dies ist ein Schwung des Provinziallebens, das durch das politische gedämpft war, das volkstümliche Prinzip lebte in ihm auf und entfaltete sich unter der Oberfläche des Adeltums. Weil es sich hier um allgemeine Charaktere zur Entdeckung jener schönen Einheit handelt, in die sich die literarischen Schöpfungen und philosophischen Theorien zusammenfassen, so werden wir nur die Haupttatsachen beachten. Zwei Schulen begannen in der polnischen Literatur sich hervorzutun: die litauische und die ukrainische.431 Die litauischen Dichter führen zuerst das Geisterreich in die Literatur ein, und suchen in diesem Gebiet von allem, was in der Welt geschieht, die gemeinen Springfedern. Madame George Sand432 analysiert in ihrem Aufsatz Werke eines der Schriftsteller der litauischen 431 Den Begriff „Schulen der Poesie“ („szkoły poezji“) prägte Aleksander Tyszyński (1811–1880) in der Darstellung „O szkołach Poezji Polskiej“ (Über Schulen der polnischen Poesie), die Teil seines Romans „Amerykanka w Polsce“ (St. Peterburg 1837, część II, S.  17–108; List XII. Karista do Męża) sind. Darin unterscheidet er vier Schulen in der polnischen Literatur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis Anfang des 19. Jahrhunderts: 1. Die Litauische Schule (Adam Mickiewicz, Józef Korzeniowski, Antoni Odyniec, Stefan Witwicki, Alexander Chodźko, Julian Korsak), 2. Die Ukrainische Schule (Antoni Malczewski, Seweryn Goszczyński, Maurycy Gosławski, Józef Bohdan Zaleski, Tymon Zaborowski, 3. Die Puławer Schule (J.U. Niemcewicz, Franciszek D. Kniaźnin, Franciszek Karpiński, Franciszek Zabłocki, Jan Paweł Woronicz, 4. Die Die Krakauer Schule (Wojciech Bogusławski, Kazimierz Brodziński, Adam Naruszewicz, Jan Nepomucen Kamiński, Cyprian Godebski, Wincenty Reklewski, Franciszek Wężyk, Maksymilian Fredro, Kajetan Koźmian, Alojzy Feliński, Franciszek Ksawery Dmochowski). Vgl. ferner – Szkoła ukraińska w romantyzmie polskim. Szkice polsko-ukraińskie. Red. Urszula Makowska, Stanisław Makowski, Małgorzata Nesteruk Warszawa 2013. 432 Gemeint ist Mickiewicz selbst. Vgl. George Sand: Essai sur le drame fantastique – Goethe, Byron, Mickiewicz. In: Revue des Deux Mondes T. 20, 1839, S. 593–645; deutsche Übersetzung in: Gustav Karpeles: Goethe in Polen. Berlin 1890, S. 205–214.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_072

932

Teil II

Schule und spricht den Charakter derselben in der Bemerkung aus, daß die litauischen Schriftsteller den Brennpunkt aller Wirksamkeit in die Geisterwelt setzen, und daß sie die sichtbare Welt und die Menschen nur als Werkzeuge betrachten. Das nämliche Streben offenbart sich auch in der ukrainischen Schule. Diese geht zwar nicht so weit als die litauische, jedoch läßt sie den unaufhörlichen Einfluß der unsichtbaren Welt auf die sichtbare immer zu. In jedem Gedicht der beiden Schulen kann man zwei Seiten unterscheiden; die sinnlich wahrnehmbare nämlich und die sogenannte phantastische, d.h. die geistige. Die ukrainische Schule verläßt den Irrweg der früheren polnischen Poesie und sucht ihre Helden nicht mehr unter den politischen Männern, wohl aber preist sie die Führer des Volkes, fördert die bis jetzt in der Literatur unbekannten Namen zu Tage und wird sehr beliebt. Diese Richtung der Litauer und Ukrainer mißfiel der alten Schule, die vom Warschauer Publikum vertreten wurde. Die Kritik433 verschrie diese neue Literatur als einen Anfall des Barbarentums, und wirklich war dies auch ein Krieg gegen die Generation der Aufklärung, die schon morsch und dürre geworden war. Später werden wir namentlich von Józef Bohdan Zaleski und Seweryn Goszczyński als den vorzüglichen Schriftstellern dieser Epoche sprechen; jetzt aber können wir einen nicht übergehen, der zuerst unbeachtet blieb, dann als Haupt der neuen Dichterreihe erkannt wurde und uns nur ein kleines Werk hinterlassen hat, das heute noch als musterhaft und als das beste aller damaligen Schöpfungen schätzbar ist. Antoni Malczewski, ein junger Kämpfer der Nationalscharen im russischen Feldzug, brachte sein Leben nach dem Sturz Napoleons auf Reisen zu und starb in Warschau. Gleich Lord Byron suchte er Zerstreuung im Herumwandern auf fremdem Boden, er lebte in Frankreich, in der Schweiz und Italien. Während seiner Reisen las er fremde Schriftsteller und wurde, wie es scheint, am meisten von Byrons Dichtungen durchdrungen.

433 Zum Streit der „Klassiker“ und „Romantiker“ in der polnischen Literatur vgl.: Jan Śniadecki: O pismach klasycznych i romantycznych (1819). In: J.  Śniadecki: Pisma rozmaite. Tom IV. Wilno 1822, S. 1–37 [http://www.pbi.edu.pl]; Reaktion auf die Abhandlung von Kazimierz Brodziński: O klasyczności i romantyczności tudzież o duchu poezji polskiej. In: Pamiętnik Warszawski 1818, t. 10, S. 356–381, 516–540; vgl. ferner – Walka romantyków z klasykami. Hrsg. Stefan Kawyn. Wrocław 1960.

30. Vorlesung (17. Juni 1842)

933

Malczewskis Dichtung „Maria“434 ist aus einer wirklichen Begebenheit geschaffen.435 Der Graf Wacław, Sohn eines polnischen Magnaten, verliebt sich in die Tochter eines nicht reichen Edelmanns und läßt sie insgeheim sich zur Gattin antrauen. Der Woiwode, der Vater Wacławs, darüber ergrimmt, will dieses Ehebündnis zerreißen und trägt auf Scheidung an; andererseits verstößt der alte Miecznik (Schwerträger, ein Titel oder auch Amt in der Republik, vom Schwert, miecz, abgeleitet), der Vater Marias, ein polnischer Edelmann, nicht minder stolz als der Magnat, mit dem Selbstgefühl beleidigter Würde, den Tochtermann aus seinem Hause. Der Woiwode aber, der seinen Sohn nicht zum Bruch der Treue, die er, seiner geliebten Maria geschworen, zu bewegen vermag, ergreift ein grausames Mittel. Er gibt vor, gerührt zu sein und überströmt vor Wacław in Herzensergießungen, sucht Versöhnung mit dem Miecznik und schickt eben zur Zeit des Tatareneinbruchs den Sohn mit seinen Haustruppen gegen diese, damit er unter Anführung des Schwiegervaters sich durch ritterliche Taten seiner Tochter würdig zeige; gibt aber unterdessen den Dienern heimlichen Befehl, in das Haus des Miecznik zu dringen und Maria zu töten. Nach dem Sieg über die Tataren, eilt Wacław zuerst vom Schlachtfeld, seine Frau ans Herz zu drücken und findet sie tot. Dies ist der Inhalt des Gedichts. Seine Komposition erinnert an die Gestalten der Byronschen Schöpfungen, die Charaktere sind mit ungemeinem Talent gezeichnet und die Situationen von unermeßlicher Lebendigkeit; doch über alles ragt das tiefe Gefühl der ukrainischen Natur hervor und reißt den Leser hin. Nur einige Bruchstücke wollen wir hier als Probe von Malczewskis Schreibart anführen. Nehmen wir z.B. den Auftritt, in dem der Woiwode seinem Sohn zu verzeihen vorgibt, und den Tag dieser heuchlerischen Versöhnung mit ihm durch ein prunkvolles Gastmahl feiert: 434 Antoni Malczewski (1793–1826). Vgl. Elżbieta Feliksiak: „Maria“ Malczewskiego. Duch dawnej Polski w stepowym teatrze świata. Białystok 1997; Marie romantyków – metafizyczne wizje kobiecości. Mickiewicz – Malczewski – Krasiński. Hrsg. Jarosław Ławski. Białystok 2003; Michael Düring: Romantische Kollisionen – Anmerkungen zur Figurendarstellung in Antoni Malczewskis „Maria. Powieść Ukraińska“. In: Die Ukraine zwischen Ost und West. Rolf Göbner zum 65. Geburtstag. Hrsg. Ulrike Jekutsch und Alexander Kratochvil. Aachen 2007, S. 120–133 (= Ukrainistische Hefte. Heft 4); Marta Białobrzeska: Antoni Malczewski. Literackie mitologizacje biografii. Białystok 2016. 435 Vermutlich der Fall Gertruda Komorowska (1754–1771), die erste Frau von Stanisław Szczęsny Potocki (1753–1805), die am 13. 02. 1771 Opfer eines Verbrechens wurde; vgl. den Roman von Maria Pomezańska z Chłędowskich: Gertruda Komorowska.  3 Bde., Lwów 1857; Józef Ignacy Kraszewski: Opowiadania historyczne (1770–1774). Lwów 1876.

934

Teil II V Do późnej nocy w zamku zgiełk i tętent trwały; Do późnej nocy trąby i wiwaty grzmiały: Jeszcze stuk chodu słychać – lub ciężkie westchnienia, W przerwanym tępotaniu, wracają sklepienia. Nicht tam nie zawołany wnijść się nie poważy – Dawny wrócił obyczaj, wspaniała ochota, Długie się stoły śklniły od srebra i złota; I loch pański jak serce zdawał się otwarty – A stary węgrzyn płodził nie bez duszy żarty; I godząc huczne tony z wesołym hałasem, Muzyka z swą melodią przebiła się czasem. Do późnej nocy twarze – ostre – malowane – Przodków, w długim szeregu zebranych na ścianę, Zdały się iskrzyć nieraz martwymi oczami I śmiać się do pijących, i ruszać wąsami. VI W ustach mieszka wesołość – w oczach myśl zgadnienia – W głębi to, w głębi serca, robak przewinienia; A gdy jaka uciecha razem ludzi zbierze, I Pycha, i Pochlebstwo śmieją się – nieszczerze. Może tak w dawnym zamku, bo w rznięte podwoje Już Noc zaprowadziła ciemne rządy swoje; Już ucichli surmacze, Sen Szczęście osłania I puszczyk z wieży zaczął grobowe wołania; A jeszcze – w bocznym skrzydle obszernej budowy, Gdzie dzielny Wojewoda wzrok orli, surowy Pomarszczoną powieką w ustroniu przyciska, Jak w jaszczur kryją kamień, którym duma błyska – Tam jego myśl ukryta samotnie się żarzy – Tam może brnąć już w rozpacz, w niezwykłej niemocy, Depce burzliwym krokiem po ciemnościach nocy, Jak by w jej czarnym tchnieniu chciał gdzieś znaleźć rękę Krwawej, zgubnej przyjaźni – lub zgasić swą mękę! I gdy z gorących oczu Sen trwożny odlata, I gdy mu duszną była wysoka komnata, Otworzył wąskie okno – patrzał czas niejaki Na swoje liczne hufce, rozwinięte znaki, Co się do nakazanej zbierały wyprawy; Słuchał budzącej trąby i wojennej wrzawy: Prychają rącze konie, brzęczą w ruchu zbroje, Szumią skrzydła husarzy, chcą lecieć na boje. Dla nich wstające słońce w różowej pościeli Blaskiem złotych warkoczy widokres weseli I wznosząc świetne czoło, najpierwszym spojrzeniem

30. Vorlesung (17. Juni 1842)

935

W lśniącej stali swe wdzięki postrzega z zdziwieniem; Dla nich pachnący wietrzyk, co swój oddech świeży Dmucha na włosy dziewic i pióra rycerzy; Dla nich gwar małych ptasząt, w żywej słodkiej nucie, Co z mokrych rosą dziobków wyrywa uczucie: Nie dla niego – on nie chciał na widoku zostać – W niknących cieniach zamku zanurzył swą postać, Jak te straszące mary, które bojaźń nasza Widzi w bezsennej nocy – poranek rozprasza.436 Bis in die späte Nacht währte im Schloß Geräusch und Klang; Bis in die späte Nacht schallten die Hörner und die Lebehochs. Der alte Brauch und die Luft voll Herrlichkeit kehrte wieder, Gold und Silber blickten die langen Tafeln Und der herrschaftliche Keller war Wiedas Herz geöffnet; Der alte Ungarwein schuf geistreiche Scherze, Und der Musik brausende Töne stimmten bald mit dem heitern Jubel zusammen, Bald wurde er von ihren reizenden Melodien übertönt. Bis in die tiefe Nacht schienen die ernsten Bilder der Ahnen, Ringsum an die Wände gereihet, mit ihren toten Augen Blinzelnd, den Zechern zuzuwinken – und ihre Alten Schnurrbärte zu regen. Auf den Lippen thront der Jubel, in den Augen liegt erratender Blick In der Tiefe, ja in der Tiefe des Herzens, da nagt der Wurm der Schuld; Und versammelt irgendwo eine Lust die Menschen, Dann lächeln falsch der Stolz und die Schmeichelei. – So war es vielleicht auf der alten Burg. – Denn als Die Nacht allein schon ihr finsteres Reich auch dort einführte, Als die Hörner schon schwiegen, der Traum nur das Glück umschwebte, Und die Eule vom Turme ihren Grabesruf begann; Da schallten im Seitenflügel der grauen Burg, Wo einsam der Wojewode den strengen Adlerblick im faltenreiche Augenliede birgt, Wie der Stein, mit dem der Stolz prunkt, und den man in Vipernhaut einfaßt, Noch stampfende Tritte, zuweilen durch tiefe Seufze unterbrochen, Die des Zimmers Wölbung wiederschallt, Ungerufen tritt Niemand dort ein: Einsam glimmt dort und verborgen sein Gedanke; Hier kann er sich schon in Verzweiflung wühlen; schwach ist er, wie noch nie; Dennoch mit rauschendem Schritte, tritt er in nächtlicher Finsternis auf, Als wollte er in ihrem schwarzen Hauche einen Arm blutiger, Trügerischer Freundschaft ergreifen, oder seine Qualen stillen! Und als von seinen brennenden Augen der Schlaf scheu entflieht, Und das hohe Zimmer ihm zu schwüle wird, Öffnet er das enge Fenster – und betrachtet eine Zeitlang 436 Antoni Malczewski: Maria. Powieść ukraińska. Hrsg. Wacław Kubacki.Warszawa 1956. Pieśń I, S. 114–116. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe verkürzt zitiert.

936

Teil II Seine zahlreichen Reiterschaaren, die unter flatternden Fahnen Zum gebotenen Ausfluge sich gesammelt – Er horcht dem Schmettern der weckenden Trompete und dem Gewirr der Krieger. Die schnellen Rosse schnauben, die Waffen klirren im Getümmel. Der Husaren Panzerflügel rauschen ungeduldig zum Kampf zu fliegen. Die aus dem Rosenbett des Morgens aufstehende Sonne erheitert das Auge der Ritter. Mit dem Glanz ihres goldenen Haargeflechts, und ihre erlauchte Stirn hebend, Beschaut sie bewundert mit dem ersten Blicke ihre Reize Im schimmernden, blanken Stahle: Den Rittern wehen duftende Sephyre zu, die ihren frischen Atem Über das Haar der Jungfrauen und die Helmfedern hauchen; Ihnen zwitschern süßen Klang und Leben die kleinen Vögel, Die aus ihren taubenetzten Schnäbeln Jubel jauchzen, Nicht aber dem Wojewoden! – Er verlangte kein Licht Und verbarg seine Gestalt unter den fliehenden Nachtschatten der Burg. Jenen schreckenden Gespenstern ähnlich, die unsre Angst In schlaflosen Nächten schaut, und die der Morgen verscheucht.

Wacławs und besonders seines Schwiegervaters Charakter ist kräftig gezeichnet. Aus dem Angeführten kann man sich eine Vorstellung vom Stil des Dichters machen, dessen ganzes Gedicht wir hier nicht durchgehen wollen. Malczewski unterscheidet sich von Byron durch die religiösen Gefühle. Sein Roman verstößt sich nie gegen die Sitten, alle Personen sind hier edel, großmütig und nicht gottlos. Wenn manche der verstockte Hochmut irre führt, so bemerkt man doch in ihnen Gewissensbisse. Als der unglückliche Jüngling seine Gattin ertrunken findet, als er die Schilderung ihres Todes vernimmt, den Mörder errät, in diesem Augenblick, wunderbar schön und zart vom Dichter beschrieben, sieht man, wie […] w twarzy rycerza Czarna, czarniejsza chmura coraz się rozszerza; I znów nagle rozpaczą zaciemnione lica Zapał gniewu i wzgardy jak piorun oświeca: Aż w nim powstała wreszcie ta Ponurość dzika, Co patrzy w jeden przedmiot – w trumnę przeciwnika. Kruszy najświętsze węzły w ogniu swego piekła, Gdy i w najbliższym sercu trucizny dociekła! Aż w nim powstała wreszcie ta Chciwość szalona Krwi – krzyku – dzwonów – płomień popsutego łona, Co domowej niezgody rozpala pochodnię I w własnym swoim gnieździe – zbrodnią karze zbrodnię!

30. Vorlesung (17. Juni 1842)

937

[…] i płakał jak dziécie! Lecz niedługo – już serce zdradzone, pokłute Zepsuło się w truciźnie przez jedną minutę;437 […] im Antlitz des Ritters Eine trübe und immer schwärzere Wolke emporsteigt; Und wieder plötzlich das von Verzweiflung verfinsterte Antlitz Wie ein Ungewitter der Blitz des Zornes und Hasses beleuchtet; Bis endlich in ihm die düstere Wildheit erwacht, Die eins vor Augen nur hat – den Sarg des Gegners, Und die heiligsten Bande in der Glut ihrer inneren Hölle zersengt, Da sie in dem nächsten Herzen auch Gift entdeckte! Bis endlich in ihm die grause Gier erwacht, Die nur Blut – Geächze und Sturmgeläute fordert – diese Flamme Des vergifteten Busens, die des Hauskriegs Fackel zündet Und im eignen Reste – das Verbrechen mit Verbrechen ahndet. […] er weinte wie ein Kind; Aber nicht lange – denn schon war das verratene, durchbohrte Herz Verdorben in dem Gift eines einzigen Augenblicks.

Mitten im Ringen der Rache, Trauer und Verzweiflung steht Wacław noch einmal still, „in kurzem Sinnen vor Gott sich demütigend“ („To w krótkim zamyśleniu korząc się przed Bogiem“) – bevor Wtedy dobywszy miecza, co świsnął, a w cięciu Srogim będzie i w trupa zostanie ujęciu Wyszedł – […] Skoczył na koń – […].438 er rasch das Schwert zuckt, das Unheil saust und Im Hieb erbarmungslos sein und im Busen des Toten haften wird. Er ging hinaus – […] Schwang sich zu Roß […].

Ähnlich der Vater Marias, dieser stolze, hochmütige, unbeugsame Edelmann, jetzt nach dem Verlust seines einzigen Trostes, seiner einzigen Hoffnung auf Erden, denkt er nicht an Rache, stürzt nicht in Verzweiflung, sondern ergibt sich demütig in den Willen des Allmächtigen. Das erstaunte Volk fragt: 437 Antoni Malczewski: Maria, op. cit., Pieśń II, strofa XVII, S. 164–165, strofa XVIII, S. 166. 438 Antoni Malczewski: Maria, op. cit., Pieśń II, strofa XX, S. 168.

938

Teil II Czyjaż tam wzniosła postać wśrzód ciekawych grona Leży długim i martwym krzyżem rozścielona? Czyjaż tam pierś rycerska w kurzawie się wala? I z tą cichą pokorą, co się nie użala, Choć i najsroższych kaźni ciężkie dźwiga brzemię, W swej niemej pobożności jakby wbita w ziemię? Blady – jak łysk od gromnic, co mu na twarz wbiega, Smutny – jak śpiew umarłych, co się tam rozlega, Z poziomego zniżenia, gdzie go wiara tłoczy, Jak robak świętojański świecą jego oczy. Ah! to Pana Miecznika siwa, nędzna głowa; Niedawno żonę stracił – teraz córę chowa. Na to huśtał kołyskę, by w trumnie uśpili; Na to jej woził lamę, żeby całun szyli. I dziwno – jak nieczułym zdał się na pogrzebie, Jak by już dusza jego była z córką w niebie. I takim był i potem – ni żalu, ni skargi Nikomu nie zwierzyły wypłowiałe wargi; Ni łzów w hardym spojrzeniu nie było oznaki; Mniej z ludźmi, więcej z Bogiem, a zresztą – jednaki.439 Wessen ist die erhabene Gestalt, die da im Kreise der Neugierigen Unbewegt, wie ans Kreuz geheftet, wie tot darniederliegt? Wessen ist diese Ritterbrust, die da im Staube sich regt Und in stiller, lautloser Ergebung, trotz der grausamsten Marter, Deren Last sie trägt, in stummer Andacht verharrt, Wie ein Pfahl in die Erde geschlagen? Er ist blaß – wie der Kerzenschein, der sein Gesicht erhellt Er ist traurig – wie das Totenlied, das dort oben verhallt Von dem Erdboden, worauf ihn der Glaube fesselt; Wie Johanniswürmchen leuchten seine Augen, Ach! dies ist des gestrengen Schwertträgers graues, armes Haupt. Unlängst hat er die Gattin verloren, nun begräbt er seine Tochter; Hat er ihre Wiege geschaukelt, um sie im Sarge zu betten? Hat er ihr tatarische Seide zum Geschenke gebracht, um Totentücher zu nähen! Und wunderbar – so gefühllos ist er beim Begräbnis geworden, Als wäre schon seine Seele bei der Tochter im Himmel. Und so blieb er auch ferner – weder Leid noch Klage Vertrauten je die bleichen Lippen Jemandes Ohr; Nie sah man in seinem stolzen Blicke einen Thränentropfen: – Wenig mit Menschen, mehr mit Gott verkehrend – sonst aber – immer derselbe.

439 Antoni Malczewski: Maria, op. cit., Pieśń II, strofa XX, S. 168–169.

30. Vorlesung (17. Juni 1842)

939

Der letzte Vers ist wunderbar schön. Die Helden Byrons enden anders. Die erhabenste Schöpfung aber, das schönste Ideal in Malczewskis Gedicht ist Maria selbst, die Gemahlin Wacławs. In der Blüte ihrer Jahre und Liebe durch eine tyrannische Trennung des vielgeliebten Gemahls beraubt, lindert sie ihren Schmerz durch kindliche Anhänglichkeit an den Vater, sucht Trost im Evangelium, in jenem Buch, das dem Geist himmlisches Leben spendet. IX Pod starymi lipami Miecznik dumał stary I dźwigał w zwiędłej głowie utrapień ciężary: […] X Przy nim młoda niewiasta – czemuż, kiedy młoda, Tak zamglonym promieniem świeci jej uroda? Ni ją ubior udatny, ni ją stroją kwiaty; Czarne oczy spuszczone i żałobne szaty; A w twarzy smutek, czoło co schyla w cichości, Którego całym blaskiem – uśmiech Cierpliwości! Lub jeśli kiedy nagle, wpośrzód gęstych cieni, Jaka myśl czy pamiątka jej lica zrumieni, To tak mdłym, bladym światłem – jak gdy księżyc w pełni Niezwykłym życiem rysy posągu napełni. Piękna, szlachetna postać – do Aniołów grona Dążyła, ich czystości czarem otoczona; Ale trawiący oddech światowych uniesień Owiał pąk młodych uczuć i zwarzył jak jesień: To jeszcze jest na drodze, gdzie nią wicher miota, W ciężkich kajdanach ziemi dla nieba istota; Serce nosi uschnięte, a świeci jak zorza. Podobna do owoców umarłego morza, Pod których śliczną farbą, wśrzód trudu, mozoły, Podróżny widzi nektar, znajduje – popioły. Jakaś posępna słodycz w jej każdym ruszeniu; Ani łzy, ani żalu w jej mglistym spojrzeniu; O! nie – przeszłych już zgryzot nie widać tam wojny, Tylko znikłej nadziei grobowiec spokojny, Tylko się lampa szczęścia w jej oczach paliła I zgasła, i swym dymem twarz całą zaćmiła. XI Przy nim młoda niewiasta nad Księgą Żywota, Jak trwożna gołębica, pod jasności wrota Wzbijała ducha wiary; i skrzydły drzącemi

940

Teil II Szukała swego gniazda daleko od ziemi. A że nad przepych świata i blasków pozory Widniejsze pióra białe zniżonej Pokory, I drzy nić, którą serce do nieba związane: To kropla słodkiej rosy upadła w jej ranę. I wznosząc w górę oczy z tym tkliwym wyrazem, W którego jednym rzucie wszystkie czucia razem, Gdzie Przyszłość do Przeszłości po jasnym promieniu Biegnie jak czuła siostra łączyć się w spojrzeniu – I wznosząc w górę oczy – doznała – jak lubo Rozbłąkanej w swym żalu swego szczęścia zgubą, Gdy już z ziemskich i chęci, i strachu ochłódła, Tęsknić szlachetnej duszy do swojego źrzódła! […]440 Unter den alten Linden saß tiefsinnend der greise Miecznik, Und schwer auf seinem müden Scheitel trug er der Betrübnis Last. Neben ihm ein junges Weib – warum aber, da sie doch jung, Glänzt ihre Schönheit nur, wie durch Nebel strahlend? Weder in gewählter Kleidung, noch mit Blumen geziert; Die schwarzen Augen zu Boden gesenkt, im Trauergewand saß sie da; Und im Antlitz Kummer, von der ruhig geneigten Stirn Oder wenn bisweilen plötzlich, mitten in den dunkeln Schatten, Ein Gedanke oder eine Erinnerung blitzt, ihre Wangen rötet, Dann ist der Schein so matt, so bleich – wie wenn der Vollmond Auf der Bildsäule starre Züge ein mattes Leben haucht. Welch eine süße Trauer schwebt in jeglicher Gebärde, Doch weder Tränen noch Reue in ihrem Nebelblicke, Ach! nein – den Kampf vergangener Qualen sieht man hier nicht mehr, Nur das stille Grabmal der entschwundenen Hoffnung: Nur des Glückes Flamme, die einst in ihren Augen gebrannt, Und erloschen ist, – hat mit ihrem Rauch das ganze Antlitz verdunkelt. An des Vaters Seite mit dem Buch des Lebens saß das junge Weib, Und gleich einer schüchternen Taube, schwang sie des Glaubens Seelen–Fittiche Weit, hoch, bis zu den Pforten des Lichts: und weil, hoch, über der Erde Suchte sie auf diesen zitternden Flügeln schwebend ihr Nest. Und weil mehr denn alle Pracht der Welt und aller Schein des Glanzes Sichtbar sind die weißen Federn der gebeugten Demut, Und weil der Faden zuckt, der das Herz mit dem Himmel eint, So fiel ein süßer Tautropfen von dort in ihre Wunde. Und die Augen gen Himmel lenkend mit jenem zarten Ausdruck, Dessen einziger Blick alle Gefühle malt, Wo die Zukunft zur Vergangenheit auf hellem Strahl, Wie zwei liebende Schwestern im Blick sich zu umsahen eilen, Ja die Augen gen Himmel lenkend – empfand sie, wie lieblich

440 Antoni Malczewski: Maria, op. cit., Pieśń I, strofa IX–XI, S. 118–120.

30. Vorlesung (17. Juni 1842)

941

Es der edlen Seele ist, nach des Glücks Verlust, Im eignen Leid herumirrend, schon von irdischen Wünschen Und Schrecken befreit, sich nach ihrer Urquelle zu sehnen.

Dabei besitzt Maria einen kräftigen und erhabenen Charakter. Denn als kurz nach dem Trauungseid Wacław in den Tatarenkampf zieht, hält sie ihn nicht zurück, ihrer Furcht gebietend, spricht sie: Nieprawdaż, mój Wacławie? ty będziesz odważny, Stały, wytrwały, dzielny – ale i uważny. Nicht wahr, mein Wacław, Du wirst kühn sein, tapfer, ausharrend, wacker – aber auch bedachtsam.

Hierauf von böser Ahnung gepeinigt, will sie ihn begleiten, mit ihm die Gefahren teilen: Ah! – z jak okropną trąby zagrały żałobą! Oh! nie rzucaj mnie znowu! Oh! zabierz mnie z sobą!441 Ach, welche grause Trauer haben mir die Trompeten geschmettert! O! verlaß mich nicht noch einmal! O! laß mich mit dir ziehen!

Hier faßte Malczewski das wahre Ideal einer Polin auf; unsere Geschichte liefert viele Muster von dergleichen Frauen, die mit dem reinen und hohen Gefühl ihres Geschlechts Mut und Kühnheit vereinten. Dies ist keine nervenüberreizte, durch Romanlesen aufgeregte Schönheit, und auch wieder keine liebkosende Nymphe, keine leidenschaftliche Italienerin, auch nicht die mit Witz im Salon herrschende Französin; sie ist nur eine dem Vater ergebene Tochter, eine dem Mann ins Feuer zu folgen bereit stehende Gattin, eine Familienmutter. Die letzte polnische Revolution brachte einige Nachbilder dieses Ideals hervor. Schon haben wir gesehen, wie nur Tatsachen die Kraft besitzen, große Aufgaben zu lösen: wir haben gesehen, wie die polnischen Legionen die alte Standesordnung gebrochen, wie die Herrschaft Napoleons im Herzogtum Warschau und in dem davon gebildeten Königreich Polen Gleichheit herbeigeführt hat. Napoleon, wie wir früher erwähnten, verlangte zuerst Opfer; denn dies ist eine Notwendigkeit in menschlichen Dingen: wer ein Recht besitzen will, der muß ein Opfer bringen. Und so emanzipiert sich auch die polnische Frau. In Polen ist die Frau freier als irgendwo, dort ist sie geehrter und sich bewußt, 441 Antoni Malczewski: Maria, op. cit., Pieśń I, strofa XVII, S. 133–134.

942

Teil II

des Mannes Gefährtin zu sein. Dieses erreichte sie nicht durch Abhandlungen über die Rechte des weiblichen Geschlechts, nicht durch Verbreitung von Theorien, die zur Eroberung einer besseren gesellschaftlichen Stellung der Frau ausgedacht werden, sondern allein durch Weihe und Aufopferung. Die Polin verschwört sich mit ihrem Mann und ihren Brüdern gegen die Tyrannei, sie setzt sich Gefahren aus, den Gefangenen zu Hilfe eilend, sie wird vor des Feindes Gericht geschleppt, nach Sibirien verbannt. So manche Polin von hoher Abkunft erhielt auf öffentlichen Plätzen Züchtigung aus des Büttels Hand. Darum haben sie auch Mut, das Pferd zu besteigen und ganze Schwadronen in die Schlacht zu führen. Groß ist der Ruf des Namens der Gräfin Plater.442 Dieses junge zarte Mädchen, einer aristokratischen Familie angehörend, erhob die Fahne des Aufstandes in ihrem Bezirk, kämpfte in mehreren Schlachten, war in der Zahl derer, die dem Befehl der Generale entgegen, den preußischen Boden nicht betraten; sie scheute die Anstrengungen nicht, durch die Feinde mitten durchbrechend nach Warschau sich aufzumachen, und starb unterwegs in Elend und Mühsal. Außerdem kämpften noch viele andere Töchter Lithauens und Polens in den Nationalreihen gegen den Feind. Bekannt ist auch der Name443 einer anderen, in ganz Polen hochgeehrten Frau, welche zu jener Kriegszeit fortwährend in Militärhospitälern verweilte, und mit reinem Blick den Kriegern bei ihren Schmerzen während der chirurgischen Operationen Mut einflößte, auch später in die Verbannung ging, um den leidenden Landsleuten Trost und Hilfe zu spenden. Obschon in der Warschauer Gesellschaft sich einige Personen befanden, die gleichsam über diese weibliche Charakterstärke erschraken, vor dieser außerordentlichen Erscheinung zurückwichen, die ihrer Meinung nach nur eine Lächerlichkeit war, so hat doch im Gegenteil das ganze Volk dem Heldenmut dieser Frauen allgemeinen Beifall gezollt und sie zu schätzen gewußt. Im Feuer und auf dem Marsch hatten die Soldaten eine würdige Aufmerksamkeit für ihre Waffengefährtinnen; zur Rastzeit eilten sie, zuerst diesen ihre Laubhütten aufzuschlagen; und im ganzen Lager war kein Laut zu vernehmen, der ihr zartes Frauenohr beleidigt hätte. Wir wiederholen, daß die große Aufgabe der Gleichstellung und Emanzipation der Frau nirgends der Lösung näher ist als in Polen. Jetzt werden wir uns bei einem Dichterphilosophen aufhalten, der uns in die philosophische Geschichte des letzten Zeitabschnitts führen wird, und die 442 Emilia Plater (1806–1831). Vgl. Bogdan Zakrzewski: Emilia Plater. In: Życiorysy historyczne, literackie i legendarne. Red. Zofia Stefanowska und Janusz Tazbir. Warszawa 1980, S. 189–209. Ferner: Doris Liebermann: Die Partisanin. In: „Die Zeit“ vom 02.09. 2010, Nr. 36 [http://www.zeit.de/2010/36/Partisanin-Emilia-Plater]. 443 Klaudyna Potocka (1802–1836). Mickiewicz lernte sie in Dresden kennen.

30. Vorlesung (17. Juni 1842)

943

Poesie, die Politik und die Philosophie werden sich uns von jetzt an nur als verschiedene Seiten einer und derselben Frage darstellen. Dieser Dichter ist Stefan Garczyński.444 Er ist im Großherzogtum Posen im Jahre 1805 oder 1806, zur Zeit des Einmarsches der polnischen Legionen, geboren. Elf Jahre alt sah er nach dem Abmarsch der französischen und polnischen Heere die triumphierende Rückkehr der Preußen in sein Heimatland. Dieser politische Vorfall prägte sich für immer seinem Gedächtnis ein; er schwur mit einigen Altersgenossen den Deutschen ewigen Haß. Die Vorsehung aber wollte, daß er lange Zeit auf deutschem Boden und unter Deutschen lebte. Dieser große Dichter ahnte seinen Beruf nicht; er widmete sich der Philosophie, hörte alle berühmten deutschen Philosophen und gewann besonders Hegel445 lieb. Nach mehreren Jahren fleißigen Studiums, nachdem er alle philosophischen Theorien durchforscht, faßte er den Entschluß, eine polnische Philosophie zu gründen. Er fühlte sich damals unglücklich. Nach Deutschland mit dem Rest seiner religiösen Gefühle gekommen, verlor er sie dort in kurzer Zeit; er wurde ungläubig, und wähnte in der Hegelschen Philosophie die höchste und schönste Deutung des Christentums zu sehen, weil, wie bekannt, Hegel und seine Schüler beständig mit christlichen Formeln auftreten, weil die ganze Schule stets vom Wort, das seit dem Beginn war, und von der Erbsünde spricht, wenngleich alles dieses ganz etwas anderes bei ihnen bedeutet, als bei den rechtgläubigen Christen. Als aber Garczyński den Hauptgedanken der Hegelschen Philosophie erforscht, erkannte er, daß dieser Polen feindlich war. Diese Philosophie, die wir im Laufe des verflossenen Jahres446 ausführlicher behandelt haben, vergöttert den Menschen, vergöttert die menschliche Vernunft und gibt die Beweise für die Vernunft nur aus der menschlichen 444 Stefan Garczyński (1805–1833). Vgl. Tadeusz Pini: Stefan Garczyński między rokiem 1805–1830. In: Rok Mickiewiczowski. Księga pamiątkowa wydania staraniem Kółka Mic­ kiewiczowskiego we Lwowie. Opracował Adam Bieńkowski. Tom 1, S. 109–159; 1833 gab Mickiewicz in Paris seine Dichtungen in zwei Bänden heraus – vgl. dazu Tadeusz Pini: Mic­ kiewicz jako wydawca poezji Garczyńskiego. Lwów 1898; Zofia Stefanowska: Mickiewicz o „Wacława dziejach“ Garczyńskiego. In: Z. Stefanowska: Próba zdrowego rozumu. Studia o Mickiewiczu. Warszawa 1976, S. 217–244; Mirosław Strzyżewski: O mickiewiczowskiej nobilitacji poematu Stefana Garczyńskiego „Wacława dzieje“. Zapomniany krytycznoliteracki aspekt wykładów paryskich Adama Mickiewicza. In: Pamiętnik Literacki 1998, z. 1, S. 27–38. 445 Vgl. Walter Kühne: Die Polen und die Philosophie Hegels. In: Hegel bei den Slaven. Hrsg. Dmitrij Tschižewskij. Bad Homburg vor der Höhe 1961, S. 7–144 (1. Auflage – Reichenberg 1934); ferner – Der Streit um Hegel bei den Slawen. Hrsg. Jan Garewicz, Irena Michňáková, Karel Kosík. Prag 1967. 446 Vgl. die 41. Vorlesung (Teil I).

944

Teil II

Wirksamkeit, aus der äußeren, sichtbaren Tätigkeit; dem Eudämonismus huldigend, sieht sie in Deutschland und namentlich im preußischen Königreich447 den erhabensten Ausdruck der Vernunft und der Kraft des Menschen, oder mit ihren Worten gesprochen, den erhabensten Ausdruck der Gottheit. Wir wollen uns hierbei erinnern, daß nach diesem System sich Gott in den Menschen einverleibt, nicht anders als nur durch den Menschen denkt und handelt, sodaß man sagen kann, eine jede menschliche Erfindung bereichere einigermaßen das göttliche Wissen. Diese sonderbare Philosophie behauptet, daß, nachdem Gott den Sonnenball erschaffen, er ohne menschliche Vermittlung die Erdkugel nicht aussinnen konnte. Manche der Bekenner dieser Schule sagen ausdrücklich, daß die Erfindung der Dampfmaschinen zum Fortschreiten der Gottheit beigetragen habe, indem sie diese Gottheit auf pantheistische Art als ein ausgebreitetes, allgemeines Wesen ansehen, das kein Bewußtsein seiner Persönlichkeit hat, und sich notwendig in viele geringere Geister teilen, in den Menschen verkörpern muß, um zu dem Bewußtsein nicht nur seiner Weisheit, sondern selbst seines Daseins zu gelangen. Es scheint, daß zu jener Zeit, als Garczyński sich den Wissenschaften zu Berlin widmete, außer ihm niemand vorhanden war, der das Ganze der Hegelschen Idee umfaßt hatte. Darüber darf man sich nicht wundern, denn es ist schon bewiesen, daß in Frankreich, wo Hegel wenig und ohne Kopfhängen gelesen wird, seine Philosophie besser als in Deutschland begriffen worden ist, d.h. man hat hier ihren Grundgedanken, ihr Streben und die Folgen, welche sie bewirken könnte, schneller erraten. Da sie nämlich nichts weiter als eine weitläufige Logik ist, stieß sie in Frankreich auf unbarmherzige logische Denker, die geraden Wegs zum Ziel schreitend, sogleich ihre Quintessenz herauszogen; da aber die Polen in dieser Hinsicht große Ähnlichkeit mit den Franzosen haben, so durchschaute sie Garczyński trefflich, und hat sie sogar einigen deutschen Professoren gedeutet. Der berühmte Gans448 gibt ihm diese Anerkennung. 447 Das sagt z.B. Hegel über Preußen indirekt, indem er die „konstitutionelle Monarchie“ als die einzige, dem höchsten Rechtsbegriff entsprechende Staatsform anerkennt; vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundriss. Berlin 1833 (Dritter Abschnitt. Der Staat.  § 257–360; § 272: „Man muß daher den Staat wie ein Irdisch-Göttliches verehren und einsehen, daß, wenn es schwer ist, die Natur zu zu begreifen, es noch enendlich herber ist, den Staat zu fassen.“; […] § 273: „Die Ausbildung des Staates zur konstitutionellen Monarchie ist das Werk der neueren Zeit, in welcher die substantielle Idee die unendliche Forme gewonnen hat.“ – Zitat nach G.W.F.  Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Frankfurt am Main 1986, S. 434–435; vgl. auch die anonym erschienene Schrift „Hegel und Preußen“. Frankfurt am Main 1841. 448 Eduard Gans (1798–1839). Professor für Philosophie in Berlin, Hegel-Schüler; vgl. den Sammelband – Eduard Gans (1797–1839). Hegelianer – Jude – Europäer. Texte und

30. Vorlesung (17. Juni 1842)

945

Der letzte polnische Aufstand rief Garczyński von den Wissenschaften ab; nach dem verunglückten Kampf begab er sich ins Ausland und starb in seinem 27. Jahre. Vor seinem Tod jedoch veröffentlichte er zwei Teile eines Heldengedichts, das unter allen in slavischen Sprachen erschienenen Dichtungen dem Umfang nach das größte und in Rücksicht auf die Fiktion das am meisten philosophische ist. Es trägt den Titel „Wacława dzieje“ (Wacławs Taten).449 Das Leben eines Mannes in mannigfachen Wechselverhältnissen, die auf seinen sittlichen Zustand einwirken, macht den ganzen Gegenstand des Poems aus. Garczyńskis Held erinnert einigermaßen an die Helden Byrons: es ist ein vom Mißgeschicke verfolgter Jüngling, für den die Welt keine Lockungen mehr hat, welcher, im Schoß jeglichen Genusses vor Verzweiflung vergehend, in den Wissenschaften Zerstreuung sucht. Wir sehen in ihm Ähnliches, wie in Faust und Manfred; es ist aber weder die unbegrenzte Wißbegierde, noch die Leidenschaft, die ihn verzehrt; er trägt nicht die Schuld des Faust an sich, jagt nicht in der Welt wie Lara oder der Korsar einer Beute für seine Lüste nach; er ist unglücklich, weil er ein Pole ist, er ist unglücklich, weil er keinen sittlichen Grund für das Dasein seines Vaterlandes sieht, weil er in der Philosophie nur die Rechtfertigung und Vergötterung der Kräfte, durch die sein Vaterland gestürzt, gefunden hat. Ein solcher Gedanke sollte sich erst am Ende des Gedichts völlig enthüllen, scheint aber schon von Anfang durch. Wacław, der einsam auf dem Lande lebt, sich selten sehen läßt, erregt nur Entsetzen unter den Landleuten, wenn er zuweilen zu Pferde im schwarzen Anzug die Umgegend durcheilt. Einst – am feierlich traurigen Karfreitag – kam er in die Kirche, und am Grabe Christi einem bekannten Mönch begegnend, ließ er sich mit demselben in den ernstesten Religionsstreit ein; das ist der Anfang des Gedichts: Milczą dzwony pobożne wieżycy wysokiej, Jak usta skąpe w słowa, gdy myśl śród pamiątek. W strojny grób już złożono Zbawiciela zwłoki; Lud bieży grób odwiedzić – święcić Wielki Piątek.450

Dokumente. Hrsg. Norbert Waschek. Frankfurt am Main 1991. Ferner – Marek Nikodem Jakubowski: Gans und seine polnischen Schüler. In: Eduard Gans (1797–1839): politischer Professor zwischen Restauration und Vormärz. Hrsg. Reinhard Blänkner, Gerhard Göhler, Norbert Waschek. Leipzig 2002, S.  233–243. Die „Anerkennung“ von Gans ist nicht überprüft. 449 Stefan Garczyński: Wacława dzieje. Poema. In: Poezye Stefana Garczyńskiego. Tom 1–2. Paryż 1833. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe verkürzt zitiert. 450 Garczyński, op. cit., tom I, S. 7.

946

Teil II Es schweigen im hohen Turm die gottgeweihten Glocken, Wie wortkarge Lippen, wenn der Gedanke sich unter alten Denkmälern verloren. Schon hat man in das geschmückte Grab die Hülle Christi gelegt; Das Volk eilt zur Gruft herbei – den Karfreitag zu heiligen.

Alle entfernen sich zuletzt und niemand scheint mehr in der Kirche zu weilen, und doch vernimmt man ein Seufzen, vielleicht ist es ein von Leid und Kummer bedrängter Sünder, der allein zurückblieb, um noch länger die Marter dieses Tages zu beweinen. Es naht sich ein Geistlicher, kniet nieder und singt mit hinsterbender Stimme: A gdy na krzyż przybili – sługi wszystkie w tej chwili Suknie Pana porwali z pośpiechem, I dział każdy chce stroju – czy przez zgodę, czy w boju, Bo to u nich zabijać nie grzechem. Ale płaszcz tam był Pana, jakby chusta utkana, Bo nie tknięty ni igłą, ni nożem; Więc mówili do siebie: by go nie psuć w potrzebie Losy w koło na niego rozłożem. I co rzekli, to było – bo tak Pismo mówiło: Suknie łotrów rozszarpią mi zgraje, Ale na płaszcz los padnie, jeden tylko płaszcz skradnie. A tak dzisiaj to wszystko się staje.451 Und nachdem sie ihn ans Kreuz geschlagen, haben sogleich die Knechte Nach den Gewändern des Herrn in Eile gegriffen. Und einen Teil begehrt jeder – sei es friedlich, sei es erkämpfend; Denn der Mord gilt bei ihnen als keine Sünde. Allein des Herrn Mantel war wie ein Tuch gewebt, Weder von Nadel noch Schere berührt; Da sprachen sie: Um ihn nicht zu zerreißen, Wollen wir um ihn das Los werfen. Und wie sie sprachen, so geschah es – denn es stand geschrieben: Die Gewänder wird die Schar der Räuber mir abreißen, Aber auf den Mantel wird das Los fallen – ein Einziger wird den Mantel rauben. Und so geschieht dies Alles auch heute.

Ein gewaltsames, wildes Lachen unterbrach plötzlich den frommen Gesang. Ein junger Mann mit blassem Gesicht, gehüllt in einem schwarzen Mantel, nähert sich dem Priester; das Gespräch, welches sich zwischen ihnen 451 Garczyński, op. cit., tom I, S. 8–9. Vgl. Psalm 22, 19 und Johannes 19, 23 ff.

30. Vorlesung (17. Juni 1842)

947

entspinnt, ist einerseits ein stürmisches Losfahren gegen die Religion, andererseits ein Beschwören. Jedoch muß man sehen, woher dieser Ingrimm des Jünglings gegen die christliche Religion oder vielmehr gegen den Katholizismus, gegen die Priester rührt. Er fragt sie, was sie aus der Lehre Christi für die Welt gemacht, „wo ist das Wort, das Fleisch geworden?“ („gdzie jest Słowo, co się stało Ciałem?“)452 Dabei darf man nicht vergessen, daß, so oft die polnischen Dichter und Philosophen, besonders aber Garczyński, die Worte duch, dusza, geniusz gebrauchen, diese Ausdrücke bei ihnen die slavische Bedeutung haben. Den Geist, die Seele, den Genius (duch, dusza, geniusz) darf man für nichts anderes als für den unsichtbaren Menschen, der im Leibe wohnt, nehmen, ohne ihn in besondere Kräfte zu zerlegen, vielmehr ihn so betrachten wie das Volk, wenn es von Geistern spricht, die sich dem Menschen zeigen. KSIĄDZ (poznając nieznajomego) To ty, młodzieńcze, tutaj? MŁODZIENIEC Krzycz – żegnaj – przeklinaj, Duch stoi – jako waszych kościołów wieżyce, Choć deszcz leje – grzmią nieba – palą błyskawice, One stoją – nuż śmiało egzorcyzm zaczynaj. Tylko pomnij, że płaszcz mnie słów więcej nie mami, Że choćbyś drgał językiem jak wicher potokiem, Jam zawczasu ten potok zbadał myśli okiem I płaszcz twój czarodziejski zdarł myśli zębami. Że żartuję – KSIĄDZ Młodzieńcze! nie bluźń nadaremnie. Takież to odebrałeś nauki ode mnie, Na tożem cię wychował, ażebyś w kościele W dzień dzisiejszy, przy grobie Zbawiciela świata, Bluźnił wiarę najświętszą? MŁODZIENIEC Poznaj się w twym dziele! (z ironią) Tyś mój mistrz! 452 Garczyński, op. cit., tom I, S. 12. Vgl. Johannes 1, 14.

948

Teil II KSIĄDZ Słuchaj tedy – burzliwe są lata Młodości – wiele ludzi na zawsze w nich ginie. Jam to wiedział – jam ciebie chcąc zbawić jedynie, Chcąc ratować – MŁODZIENIEC (przerywając z zapałem) Na zawsze zgubił bez ochyby. Tlało we mnie przeczucie wolności szlachetnej I mocne miałem ramię, i do czynów dzielność; Tyś mi odgadł mą duszę – miałem w myślach szyby Do przejrzenia – tyś przejrzał i jak dąb stuletni Upadkiem strzaska drzewka – Bogaś, nieśmiertelność Spuścił na mnie, na duszę, myśl strzaskał ogromem: Wzgardziłem tym, co dawniej w oczach stało bóstwem, Ojczyzną i miłością, przyjaźnią i domem, Otoczyłem się waszą pokorą, ubóstwem; Jam wiarą waszą świętą jak tarczą się składał – I cóż stąd? jam nareszcie wiarę i was zbadał. Chcecie, pokory suknie zawdziawszy na pychę, Zamieniając pałace na ustronia ciche, W duszy gmachach zarządzać – i chatą, i tronem; Mieszkańców ich jak ptaków łapiąc w szpon sokoli, Sami zimni – bez serca – męczyć, gryźć do woli? Chcecie, martwi – spokojni jak klasztoru ściany, Na czas nieczuli jako na pył śmierci wianek, Patrzyć zimnawo na łzy, gdy kto łzami zlany Albo gdy ginie człowiek – wolny lud – kochanek? – Warn wolność, miłość niczym – płakać nie myślicie. Ileż razy wam w duszy złorzeczyłem skrycie! Wyrwałem się na koniec! – lecz czarowne słowo Wiary waszej i klątwy, i modlitw, i sztuki Wisiało, jak na włosie miecz, nad moją głową. Drżałem, żeby nie upadł! – dziś czas – dziś nauki – O! dzisiaj już inaczej – rozumiem was, mnichy – Dzisiaj – żarty to, żarty – wszystkich was zbadałem. W głos pytam: gdzie jest Słowo, co się stało Ciałem? W głos krzyczę: wiara wasza jest to dziecko pychy. […] Jezus Chrystus – znak krzyża – znak ofiar – znak święty! (z uniesieniem) Czemuż krwi Twojej krople na ludzi nie prysły I mózgów im nie spalą wieczystym zarzewiem? Ot Twój sługa – tyś cierpiał jak żaden z śmiertelnych, A ten śmierć Twoją święci w kantyczkach kościelnych I żyje, i szczęśliwy – spokojny […]

30. Vorlesung (17. Juni 1842)

949

Cóż za dziw, jeśli biedny człowiek przy upadku, Widząc i sił zniszczenie, i niemoc swych chęci – Jeśli cierpiąc, tysiące w koło męczeństw wkręci Albo wzniósłszy kark nad was, plunie na ostatku. KSIĄDZ Szalony, milcz na Boga! MŁODZIENIEC Milczyć? toć milczałem Długo i bardzo długo – dziś mówić przychodzi. Dziś krzyczeć będę, słyszysz, krzyczeć gardłem całem! Chciałbym po słów mych fali, na myśli mych łodzi, Z duszą moją żeglować i wpędzać się w dusze. Niechajby moja mowa jako bystra rzeka Wszystkie strumienie myśli korytem swym zlała! I zleje – bo ja myśleć – bo ja mówić muszę. Słuchaj, z duszą mą wpadnę w głąb serca człowieka I jak szkło młota gromem, wiara pryśnie cała. Mówić mu chcę wolności świętymi słowami, Mówić mu chcę niemowląt nieszczęśliwych łzami, Krzyczeć nad nim jak matka nad śmiercią dziecięcia, Gdy je spod piersi matce wyrwie ptak straszliwy; Zaklnę go na najświętsze uczucia zaklęcia, Na śmierć ojca, na przodków szereg nieszczęśliwy. Niech wszystkiemu zawierzy – wam jednym nie wierzy! Bo wy słudzy nikczemni, zamiast Boga słudzy, Wy, kiedy ludzie giną, męczeni są drudzy – Wy, jakby to nie ludzkie trafiało przygody, Choćbyście jednym słowem krwi wstrzymali strugi, Patrzycie zimnym okiem, jak giną narody, Ledwie trupom oddając ostatnie przysługi. Toż więc jest wiara wasza? na to macie władzę, Aby cnót się wyrzekłszy, dawać przykład zbrodni? Nikczemni ludzie! boskich przydomków niegodni! Od mleka matki waszej ziemi was odsądzę. […]453 DER PRIESTER (erkennt den Unbekannten) Bist du es, Jüngling? DER JÜNGLING: Schreie, bekreuzige Dich, fluche! Fest steht der Geist – wie Eurer Kirchen Turmbau. Wenn auch der Regen strömt – der Himmel donnert – und die Blitze sengen, Er steht – auf! beginn getrost die Geisterbannung! Nur eins wisse, daß nicht mehr der Worte Hülle mich blendet, 453 Garczyński, op. cit., tom I, S. 10–14.

950

Teil II Daß, zuckte auch Deine Zunge wie im Sturm der Strom, Ich im Voraus schon den Strom mit dem Auge des Gedankens durchwühlt, Mit des Gedankens Zahn Deinen Zaubermantel zerstückelt – Daß ich spotte … DER PRIESTER: Jüngling! lästere nicht umsonst! Solche Lehren hast Du also von mir erhalten? Hab deshalb ich Dich erzogen, auf daß Du in der Kirche, Am heutigen Tage bei des Welterlösers Grabe Dem heiligsten Glauben fluchest? DER JÜNGLING: Erkenne in Deinem Werke Dich! (Mit Ironie) Du bist mein Meister! DER PRIESTER: Höre denn stürmisch sind die Jahre Der Jugend – viele Menschen gehen da auf ewig zu Grunde, Das wußte ich – Dich habe ich, um einzig Dich, zu erlösen, Zu retten … DER JÜNGLING (mit Feuer ihn unterbrechend): Für immer unrettbar verloren. – Es glimmte in mir das Vorgefühl einer edlen Freiheit, Und einen mächtigen Arm hatte ich, und Kraft zu Taten; Du hast mir erraten meinen Geist – Scheiben waren in meinen Gedanken, Um durchzuschauen – Du schautest durch – und wie die hundertjährige Eiche Fallend die Blümlein zerknickt – so hast Du Gott, Unsterblichkeit Auf mich herabgewälzt, auf den Geist, den Gedanken hast du durchs Ungeheure zerschmettert Verachtet hab ich, was göttlich ehemals vor dem Auge stand, Vaterland, Liebe, Freundschaft und Haus, Mit eurer Demut und Armut hatte ich mich stets umgeben, Habe wie mit dem Schilde mich mit eurem heiligen Glauben geschirmt, Und was nun? Den Glauben und euch hab ich endlich ergründet. Ihr wollt, den Stolz mit der Demut Gewand umhüllend, Die Paläste mit stillen Klausen vertauschend, Herrschen in den Gemächern der Seele, die Hütte und den Thron beherrschen: Ihre Bewohner wie Vögel mit Falkenklauen ergreifend, Selbst kalt – herzlos – nach Belieben beißen und quälen, Ihr wollt, tot – ruhig, wie die Klostermauern, Gefühllos für die Zeit, wie der Totenkranz für den Staub, Gemächlich die Zähren betrachten, wenn jemand in Tränen zergeht, Oder wenn zu Grunde geht ein Mensch – ein freies Volk – ein Geliebter. Euch ist Freiheit und Liebe Nichts – an Zähren denkt ihr nimmer, Wie oft hab ich euch im Herzen geheim geflucht! Endlich riß ich mich los – doch das Zauberwort Eures Glaubens und Fluchs, der Gebete und Künste Hing wie ein Schwert am Haar über meinem Haupt. Gezittert hab ich, daß es nicht fiele! – Heute, heute ist die Zeit des Wissens, O! heute ists ganz anders – Mönche, ich verstehe euch – Heute – Scherz ists ja, nur reiner Scherz – Euch alle hab ich erforscht

30. Vorlesung (17. Juni 1842)

951

Und schrei aus vollem Halse: Wo ist das Wort, das Fleisch geworden? Und laut ruf ich: Euer Glaube ist ein Kind des Hochmuts. […] O, Jesus Christ! – des Kreuzes Zeichen – der Opfer Zeichen – das heiligeZeichen! Warum sind deines Blutes Tropfen nicht auf die Menschen gefallen, Und versengen ihnen nicht mit ewiger Glut das Gehirn? Sich deinen Diener – du hast gelitten, wie der Sterblichen keiner, Und dieser feiert deinen Tod mit Kirchengesängen, Und lebt und ist glücklich – ruhig … […] Was Wunder, wenn der elende Mensch im Falle, Der Kräfte Vernichtung und des Willens Ohnmacht erblickend, Wenn er selbst duldend Tausende aufs Rad der Pein flicht, Oder das Haupt über euch emporhebend, euch anspeit! DER PRIESTER: Wahnsinniger, schweig! bei Gott! – DER JÜNGLING: Schweigen? Habe doch lange geschwiegen; Ja, sehr lange – heute ist’s Zeit, zu reden, Heute will ich schreien, hörst du, aus vollem Halse schreien! Auf der Flut meiner Worte möcht ich im Nachen meiner Gedanken Mit meinem Geiste segeln, und hinein in die Seelen mich treiben; Ha! möchte meine Rede, wie der reißende Strom In sein Bett, alle Gedankenbahnen zusammengießen! Und sie wird’s – denn denken – denn reden muß ich. Höre! in des Menschen Herzenstiefe stürz ich mit meinem Geiste Und wie durch den Hammerschlag das Glas, zerspringt der ganze Glaube. Reden will ich zu ihm mit dem heiligen Worte der Freiheit, Mit der Säuglinge Tränen – der Unglücklichen, will ich zu ihm reden, Über ihn schreien wie die Mutter über den Tod ihres Kindes, Wenn vom Busen der Mutter ein grauser Adler es fortreißt; Beschwören werde ich ihn, bei des Gefühls allerheiligstem Worte, Bei des Vaters Hinsterben, bei der Vorfahren unglückseliger Schar, Allem mag er trauen, nur euch allein nicht glauben! Denn elende Diener seid ihr und nicht Gottes Diener, Ihr! wenn Menschen fallen, wenn man andere martert, Ihr! als ob dies nicht menschliches Schicksal betreffe, Und wenn mit einem Wort ihr hemmen könntet des Blutes Strom, Ihr schautet mit kaltem Blick Völker untergehen; Erweist ihr doch kaum den Leichen den allerletzten Dienst. Dies also ist euer Glaube? Habt ihr dazu die Macht, um Abzuschwören die Tugend und das Beispiel des Lasters zu geben? Elende Menschen! unwürdig der göttlichen Benennung – Wegtreiben werde ich euch von der Milch eurer Muttererde.

Dies ist der Grundriß des ganzen Gedichts. Im Namen der edlen und hohen Gefühle, im Namen der Liebe des Menschengeschlechts erhebt sich ein junger Pole gegen die Gestalt des Christentums, wie die Geistlichkeit sie ihm

952

Teil II

geschaffen; klagt über den trockenen, toten, logischen Vortrag der Lehre Christi, dringt auf ihre Entwicklung, ihre Anwendung; dadurch will er sein Volk und die Menschheit erretten, und da er bei den Priestern Widerstand findet, so flucht er ihnen. Wir werden später sehen, auf welchem Wege dieser Geist zum Christentum und zur Kirche zurückkehrt; jetzt wollen wir einige Verse anführen, die seine Lebensart schildern. Śpią wszyscy – w całej wiosce milczenie grobowe – Jeden jest tylko człowiek, który spać nie może. Oczy jego biegają niby czujne stróże Dzikich marzeń, które mu zawichrzyły głowę. Myśli jako na wieki potępione więźnie! Gdy wioska cała w miękkim spoczynku zagręźnie I sen, jak chmury niebo, zasuwa powieki, Podróżny go spotyka u spienionej rzeki Leżącego na brzegu; albo też u wzgórza, Gdzie rozpadlin bez liku, bystrej wody ścieki, On się w bystrzejszych myślach – dumaniach zanurza.454 Alle schlafen, im ganzen Dorf herrscht Grabesstille; Nur ein Mensch ist da, der nicht schlafen kann. Rasch bewegt sich sein Auge, wie der wachsame Späher Wilder Träume, die ihm das Haupt umstürmen. Seine Gedanken sind auf ewig verdammte Gefangene! Wenn das ganze Dorf in sanfte Ruhe taucht, Und der Schlaf die Augenlieder schließt, wie den Himmel die Wolken, Trifft ihn der Reisende am schäumenden Strome, Am Ufer liegend, oder beim Hügel, Wo zahllos der Boden geborsten, wo des Wassers reißender Fall, Dort versinkt er in zerwühlendes Denken und Sinnen.

So ist also dieser unglückliche Jüngling, den die Welt anekelt, welcher vor der Religion, deren Erklärung er lügenvoll sieht, und vor der Philosophie, die seinen geistigen Bedürfnissen nicht entspricht, Widerwillen empfindet, gezwungen sich in sich zurückzuziehen, in sich selbst einen Stützpunkt zu finden. Er wendet sich demnach an sein verborgenes Wesen, welches als ein Ausfluß der Gottheit etwas von der menschlichen Bestimmung wissen muß; er sagt, daß dieses Wesen, dieser innere Mensch, aufgeregt, herausgefordert, belehren wird, wie man das Rätsel des menschlichen Schicksals lösen und wo man die Kraft finden soll. Dieser Gedanke ist die Grundlage von Garczyńskis Gedicht und zugleich der Grundstein der slavischen Philosophie. Diesen Begriff vom Geist, 454 Garczyński, op. cit., tom I, S. 17.

30. Vorlesung (17. Juni 1842)

953

welchen Deržavin, Naruszewicz und andere Dichter gesucht, hat Garczyński deutlich ausgesprochen. Unlängst hat ein beredter Lehrer455 in einer berühmten Pariser Schule viele Stunden der Schilderung des Genies, des Verstandes und des Witzes gewidmet und angedeutet, wie oft die Menschen diese großen Kräfte mißbrauchen. Die philosophischen Bücher sind voll von Definitionen der Art: die Hälfte der Hegelschen Werke z.B. ist nichts weiter als eine fortlaufende Darstellung der menschlichen Geisteskräfte. Wäre es aber nicht einfacher, die Theorie oder vielmehr die Hauptwahrheit der slavischen Philosophie anzunehmen? Ja, wie soll man anders die Erscheinung genialer Menschen erklären? Man schreit gegen diese Menschen, man bemüht sich dem vorzubeugen, daß sich die Menschheit durch dieselben nicht abermals auf Abwege hinleiten lasse, auf welche sie schon so oft verführt worden; aber dabei fragt man dennoch: woher sie kommen, warum sie mit Genie begabt sind, warum es andere nicht haben, wie man es erwerben oder wie man es verlieren könne? Niemand weiß die Antwort, und dessenungeachtet preist jeder die genialen Menschen, behandelt mit Geringschätzung die nicht genialen, und dies ist die ganze sittliche Bedeutung der Philosophie. Der Begriff der Slaven stimmt in dieser Hinsicht mit den Überlieferungen des menschlichen Geschlechts zusammen. Sie nehmen an, was auch die Alten behauptet haben, daß jeder Mensch seinen im Organismus eingekerkerten Genius hat, und alle Unterschiede zwischen den Menschen lediglich die verschiedene Stufe der Selbstausbildung dieses Genius bewirkt. Als Beispiel werden wir die Raupe irgendeines Insekts nehmen, die Schmetterlingsraupe, mit welcher alle Philosophen, alle Dichter des Altertums die menschliche Seele verglichen.456 Einige von diesen Raupen suchen noch ein Blatt, um sich auf demselben zu verpuppen, andere schlafen in der halbtoten Puppe, bei anderen kann man das Zucken der Flügel bemerken, und einige verwandeln sich schon in Schmetterlinge und schweben zum Himmel hinauf. Ebenso die menschlichen Geister: die einen haben sich noch nicht herausgearbeitet, sind noch nicht zur allernötigsten Kenntnis gelangt, zur Kenntnis, wie 455 Victor Cousin (1792–1867), vgl. Victor Cousin: Über französische und deutsche Philosophe. Nebst einer beurtheilenden Vorrede des Geiheimrates von Schelling. Stuttgart und Tübingen 1834. Über V. Cousin vgl. die 12. Vorlesung (Teil IV). 456 In der Antike wurden die Bilder der Schmetterlinge als „ψυχές“ (ψυχή – Psyche, Seele) bezeichnet und als die Seelen der Toten aufgefaßt. Vgl. Johann Gottfried von Herder: Wie die Alten den Tod gebildet? In: J.G. von Herders sämmtliche Werke. Elfter Theil: Zur schönen Literatur und Kunst. Tübingen 1809, S.  427–494; Friedrich Creuzer: Symbolik und Mythologie der alten Völker. Erster Teil. Leipzig-Darmstadt 1819, S. 108ff.; vgl. auch Dorothea Forstner: Die Welt der christlichen Symbole. Innsbruck u.a. 1982 (4. Auflage).

954

Teil II

man sich vom Körper zu befreien habe, sind im tierischen Zustand, können sich noch nicht aus der Hülle herausreißen und fliegen; andere schon befreit, wahre Schmetterlinge, fliegen wie Meteore an uns vorüber, und setzen uns in Erstaunen durch Worte und Taten. Diese Wahrheit haben die Alten dadurch ausgedrückt, daß sie auf der Stirn der Psyche457, das ist der am vollständigsten befreiten Seele, einen Schmetterling als Symbol ihrer Freiheit setzten. So muß man Garczyńskis Poesie auffassen; er sagt, wenn wir unseren Geist befreiten, so würden wir Kraft, Weisheit und Macht finden. Noch einen Teil seiner Ode dürfen wir nicht vorübergehen, welche der Held des Gedichts an seinen Genius geschrieben hat. Geniuszu! ty jeden nie opuść mnie w życiu! Skrzydłem twym boskim obwiewaj mą duszę, A śpiewać będę i śpiewem poruszę Siły tajemne, choć w piekła ukryciu! […] Geniuszu! gdy burza ześle wiatry mściwe I niebo morzem ognia się zapali, Chcę jak rumaka schwycić fali grzywę I twoim skrzydłem popędzić na fali! Niechaj nadpowietrzne żagle Serce moje, duszę wzmogą; Wiatry zdepcę moją nogą, I do jarzma wiatry znaglę! Geniuszu! gdy ludzie uśpieni bezwładnie Od burzy legną, co zmysły ich głuszy, Śpiew ty mój natchnij, a z duszy do duszy, Jak słońce w oko, śpiew mój błyszcząc wpadnie. Wszystkie siły wstrząśnie na dnie, Wstrząśnie cały świat uśpiony, Jako lutni mojej strony, Kiedy nimi ręka władnie! Geniuszu! ty i piersi natchniesz zemsty pieśnią, I śpiew mój będzie czuły jak płacz matki, Mściwy, jak w piekle zemsty sobie nie śnią, I ludzie – niebo – staną mu na świadki: Jako sercu – myśl wysoka, Jako myśli – czynów dzielność, Jako czas – pieśniom proroka, 457 Vgl. Apuleius: Amor und Psyche (lateinisch-deutsch). Hrsg.Edward Brand, Wilhelm Ehlers. Düsseldorf 2002.

30. Vorlesung (17. Juni 1842)

955

Jako prawdzie – nieśmiertelność! […]458 Genius, du allein verlaß mich nicht im Leben! Mit dem göttlichen Fittich umwehe du meine Seele, Und singen werd ich und durch den Gesang geheime Kräfte bewegen selbst in der Hölle Tiefen. […] Genius! wenn der Orkan Rachestürme sendet Und im Feuermeer der Himmel entstammt; Will ich der Gewitterwolke Mähnen wie ein Roß ergreifen Und mit deinem Flügel auf dem Sturme jagen! Mögen hoch über den Lüsten die Segel Mein Herz, meine Seele erheben: Winde werd ich mit meinem Fuß zertreten Und Winde ins Joch zwingen. Genius! während die Menschen kraftlos durch den Sturm, Der ihre Sinne betäubt, eingeschlummert fallen, Beseele du meinen Gesang! Und von Seele zu Seele Wird funkelnd schießen mein Gesang, wie ins Auge die Sonne. Aufrütteln wird er jede Kraft in der Tieft, Aufrütteln wird er die schlafende Welt, Wie einer Zither Saiten, Wenn die Kraft sie beherrschet! Genius! Du wirst mit Rachegesang mir auch die Brust beseelen, Und so voll Gefühl soll mein Lied sein, wie der Mutter Schluchzen, Racheschnaubend, wie nicht einmal in der Hölle man Rache träumt; Ja die Menschen und der Himmel – sie sollen es ihm bezeugen. Wie dem Herzen der hohe Gedanke, Wie dem Gedanken der Tatenschwung, Wie die Zeit – dem Prophetengesange, Wie der Wahrheit – die Unsterblichkeit!

Nichts ist gedrängter als diese vier letzten Verse, welche den ganzen Raum umfassen, den die polnische Philosophie durchläuft. Garczyński sagt, daß des erhabenen Herzens Beweis der hohe Gedanke ist, daß der Gedanke, welcher ein erhabenes Herz zur Grundlage hat, mächtige Taten erzeugt, daß die Propheten, das Wissen mit der Ahnung vereinend, dem Gedanken Zeugnis geben und gegenseitig ihr Zeugnis von der Zeit erhalten. Alles hat also seinen Ursprung im Herzen. Längst schon hat ein französischer Schriftsteller geschrieben, daß 458 Garczyński, op. cit., tom I, S. 22–23.

956

Teil II

große Gedanken vom Herzen entspringen;459 hier aber basiert ein ganzes philosophisches System auf dem Herzen. Das Herz bedeutet nichts anderes, als den Sitz des Geistes, die Hülle des inneren Menschen. Die slavischen Dichter reden stets von Herzen, und vermeiden auf diese Art vom Kopf zu sprechen; denn der Kopf wird allgemein als der Sitz der Intelligenz angesehen, die Intelligenz aber und der Geist sind für sie nicht einerlei. Aus dem Geist entspringt demnach der Gedanke, aus diesem Geist fließt durch die Lippen der Propheten die Wahrheit, welche die Ewigkeit umfassen wird. Nie wurde eine so wichtige Strophe in so wenig Worte gefaßt, so erhaben dargestellt, wie in diesen vier Versen.

459 „Les grandes pensées viennent du cœur.“ – 87. Maxime von Luc de Clapier, Marquis de Vauvenarges (1717–1747); in: Introduction à la Connoissance de l’Esprit Humain, suivie de Réflexions et maximes. Paris 1746; Taschenbuchausgabe: Paris 1981; deutsche Übersetzung: Luc de Clapier, Marquis de Vauvenarges: „Grosse Gedanken entspringen im Herzen“. Seine Maximen. Hrsg. von Wolfgang Kraus. Zürich 1992.

31. Vorlesung (21. Juni 1842) Weitere Analyse des Poems von Garczyński – Übermäßige Entwicklung des Verstandes hemmt den Flug des Geistes – Die polnische Philosophie tendiert zu dieser Auffassung – Antoni Bukaty und seine philosophische Abhandlung „Polen in der Apostasie und Apotheose“.

Wir haben den Helden des Epos Garczyńskis im offenen Kampf mit der durch die Geistlichkeit repräsentierten Kirche verlassen. Er trug heißes Verlangen in sich, das Fleisch gewordene Wort möge auf Erden herrschen, und dieses getäuschte Verlangen erzeugte in ihm den Haß gegen alle religiösen Formen. Er bekennt, daß der Gedanke an Gott und Unsterblichkeit gleich dem Schwert des Damokles immer über ihm geschwebt habe; den Mut schöpft er nunmehr aus der Wissenschaft: O! dzisiaj już inaczej – rozumiem was, mnichy – Dzisiaj – żarty to, żarty – wszystkich was zbadałem O! heute ists schon anders – ich verstehe euch, Mönche – Heute! – Scherz ist’s ja, nur reiner Scherz! – ich hab euch alle durchschaut!

Später beginnt dieser Philosoph mit derselben Kühnheit, mit welcher er den Vorhang der Kirche zerrissen, die Geheimnisse der Wissenschaften zu ergründen, und nachdem er die Nüchternheit der Lehren, die Nichtigkeit der philosophischen Systeme erkannt, tritt er schaudernd zurück. Von dem Trieb seines Denkens fortgerissen, bemerkt er bald, daß er in Schwindel, in wirklichen Wahnsinn gefallen ist, und den zügellosen Verstand nicht mehr bändigen kann, bis er endlich gewahr wird, daß die Intelligenz allein allerdings nicht die Seele ausmacht; alsdann weist er im Einklang mit der Poesie und Nationalphilosophie dieser Macht ihren eigentümlichen Platz an; niemand hat es besser ausgedrückt, mit welcher Gefahr das Überwiegen des Verstandes bedroht. Nach ihm ist Satan der übermächtige Verstand, der die Seele aufreibt, und wenn ihre Unsterblichkeit ihr nur noch als kleiner Funke übrig geblieben, dann fällt sie erlöschend und unglücklich über alles her, was noch Leben hat, und strebt alles zu vernichten. Czuł to Wacław – czuł więcej – bo dumne nauki, Jako w białość papieru nasadzone druki, Splamiły mu niewinność – serce mu wykradły. Tak mówią, że na ludzką krew upiór zajadły Gdy ofiarę wybierze, z której soki pije,

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_073

958

Teil II Ofiara umrzeć musi – lecz zmarła ożyje I mordercy swojego postępując torem, Znów niewinnych krew chłepcąc, staje się upiorem. Tym jest rozum nabyty, alboli też raczej Tym przez rozum z krwi dusza wyssana człowieka; Jaka śmierci opieka, taka jej opieka; Komu serce drga w piersiach, temu nie przebaczy: Czujesz świata cudowność i myśl w świecie bożą? Nauki ci świat, Boga na części rozłożą; I poznasz błąd twój dawny – kiedy niebo gromy Ręką rzuca olbrzymią, błysk świeci po błysku, To chmury trą się z sobą – a co chmury, niebo, Fizycy wytłumaczą, wiedzą astronomy, Kochasz się – patrz, czy miłość przyniesie co w zysku, Gdy nie – miłość jest głupstwem, bo pieniądz potrzebą. Masz przyjaciół, ojczyznę? jeśli kraj cię wzywa, Rozpatrz się, jakie cele, korzyści i skutki; Czy co zaczną, dokończą, czy pora szczęśliwa; Czy po nagłej rozkoszy nie nadejdą smutki; Inaczej – niechaj inni krew swą marnie leją, Tobie lepszej przyszłości cieszyć się nadzieją!460 Dies fühlte Wacław, er fühlte mehr – denn die stolzen Lehren haben ihm, Wie die Schwärze der Schrift die Weiße des Papiers, So seine Unschuld befleckt, ihm das Herz geraubt. Man sagt, daß, wenn der nach Menschenblut lechzende Vampir Ein Opfer sich erkoren, er dessen Säfte ausschlürft, Daß dies Opfer jedoch, welches sterben muß, nach dem Tod auflebt Und die Bahn seines Mörders betretend, Wieder das Blut der Unschuldigen saugt und zum Vampir wird. So ist der gebildete Verstand, oder vielmehr Die des Bluts durch den Verstand beraubte Menschenseele; Wie der Tod seinen Pflegling schützt, so pflegt auch sie denselben. Wem das Herz noch in der Brust sich regt, dem verzeiht sie nicht. Fühlst du die Wunder der Welt und den Gottesgedanken in ihr? Gleich werden dir die Gelehrten den Gott und die Welt in Teile zerlegen, Und du deinen alten Irrtum einsehen. – Schleudert der Himmel Donnerkeile Mit seinem Riesenarm, zucken Blitze auf Blitze – Das sind Wolken, die sich reiben, was aber der Himmel, was die Wolken seien, Davon wissen ja die Astronomen, erklären dir die Physiker. Liebst du: – sieh zu, ob diese Liebe dir Gewinne bringt; Bringt sie Nichts – so ist sie ein Wahn; Geld ist Bedürfnis. Hast du Freunde, ein Vaterland, heischt es deine Hilfe, So überlege die Endzwecke, den Nutzen und die Folgen, Ob diejenigen, die etwas beginnen, auch beenden werden,

460 Garczyński, op. cit., tom I, S. 30–31.

31. Vorlesung (21. Juni 1842)

959

Die Zeit, ob sie günstig und ob nach plötzlicher Glückseligkeit nicht die Trauer folgt? Sonst mögen andere ihr Blut umsonst verspritzen, Du finde Trost in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft!

Wir haben also hier einen deutlichen Unterschied zwischen der stolzen Macht der Vernunft und der menschlichen Seele. Wacław przecież za dumny, aby na kształt węża Zatruwał jadem złego niewinności serce: Toć on sam w pomoc książki nie wziął lekkomyślnie! Kiedy blask wiary dawnej ściemnili mu księża, Myślił tedy, że z nauk iskrę po iskierce Zsypując znowu światłem jasnym duch zabłyśnie. Oszukał się okropnie! – rozumowań słowa Słyszał ciągle – w nich jakaś treść – ziarno – osnowa, A duszy ani śladu. – Czasem niecierpliwie Rzucając książkę z ręki wołał na głos cały: „Gdzież jest bóstwo, które ja w piersiach moich żywię? Przyjaźni zapał – miłość – wolności zapały I myśl, co człeka tworzy i różni od zwierza? Gdzie jest Bóg, stwórca świata?“ – Książki nie wiedziały! […] „Rozbrat więc z nimi wieczny“ – pomyślił – wykona. Wacław czucia i myśli na frymarkę nie ma; Raz jeszcze w świat ów martwy zatoczył oczyma Dzisiaj – i nic nie znalazł – dusza przesilona, Kurzem już żyć nie może, głupcom ku podziwie. Z pogardą więc pchnął stolik ręką niecierpliwie, […] Niechaj mól życie nędzne w starych księgach pędzi, Niech się w kartę zbutwiałą z ciekawością wżera, Moja ręka na próżno tysiąc ksiąg otwiera I warzy doświadczenia z tysiącznych narzędzi. Któż jak ja z potem czoła męczył się i czytał? Dziś gdym na równi z wami, gdybym się zapytał, Czegoście nauczyli i co sami znacie, Wstyd by wam czoło, serca i rozum wypalił, Jeśli wstyd znacie jeszcze – wam, gdybym się żalił! Zamknijcie księgi dumne i w nauk warsztacie Na każdej ścianie, każdej książkowej okładce, Zapiszcie jedną prawdę – wypadek zagadce; I ja z wami zapiszę: że człowiek zrodzony, By wszystkiego dociekał, sam niedocieczony!461

461 Garczyński, op. cit., tom I, S. 31–33.

960

Teil II Zu stolz war jedoch Wacław, um wie eine Schlange Mit dem Geist des Bösen die Unschuld des Herzens zu vergiften; Hat er ja doch selbst nicht aus Leichtsinn Bücher zu Hilfe gerufen! Als ihm zuerst die Priester die Glut seines Glaubens verdunkelten, Da hoffte er, daß aus den Wissenschaften, einen Funken nach dem anderen Zusammentragend, sein Geist wiederum im Glanz aufleuchten würde. Er hatte sich gräßlich getäuscht! – Fortwährend hörte er die Worte der Vemunft, In ihnen war ein Gehalt – ein Kern und Faden – Doch keine Spur von Seele. – Zuweilen unwillig Das Buch aus der Hand werfend, rief er mit lauter Stimme: „Wo ist die Gottheit, die ich in meiner Brust nähre? Wo das Feuer der Freundschaft und Liebe – die Begeisterung der Freiheit Und der Gedanke, der den Menschen bildet und ihn vom Tier unterscheidet? Wo ist Gott, der Schöpfer der Welten?“ – Die Bücher wußten es nicht. […] Scheidung von ihnen daher, ewige Scheidung, dachte er, und er wird es erfüllen; Wacław hat keine Gedanken, keine Gefühle zu verschwenden. Noch einmal blickte er heute in jene abgestorbene Welt – Und fand nichts – der überladene Geist Kann nicht mehr mit dem Staub leben, Aberwitzigen zur Verwunderung. Verachtend stieß er mit ungeduldiger Hand den Tisch von sich. […] „Möge die Motte ihr elendes Leben in alten Büchern zubringen, Möge sie sich voll Neugierde in die vermoderten Blätter hineinnagen, Meine Hand öffnet vergebens Tausende von Büchern, und Erwägt die Erfahrungen von tausend Werken. Wer hat, wie ich, im Schweiße des Angesichts sich abgemüht und abgelesen? Heute mit euch auf gleicher Höhe, wenn ich fragen würde, Was ihr gelehrt und was ihr selber wißt, die Scham Würde euch Stirn, Herz und Verstand ausbrennen, Wenn ihr die Scham noch kennt – und ich euch klagen wollte! Schlagt zu die stolzen Bücher, und schreibet in eurer Werkstätte Der Wissenschaft, auf jeder Wand, auf jedem Umschlagsblatte, Schreibt hier die eine Wahrheit – als Schlußwort des Rätsels; Ich schreibe sie mit euch: der Mensch ist geschaffen, Um nach allem zu forschen, selbst unerforscht zu bleiben!“

Zu solch einem Ergebnis gelangt, wo er in der Wissenschaft den Schlüssel zu dem wichtigsten Geheimnis, dem einzigen, das die Menschheit drückt, nicht findet, nämlich warum und weshalb der Mensch da sei, stößt er die Bücher und Wissenschaften von sich. Jedoch nicht genug damit; nein, vom Zorn hingerissen, stürzt er immer tiefer, überläßt sich allen Sophismen, will das Band der Verwandtschaft zerreißen, verliebt sich in seine eigene Schwester, zeigt die Rechtfertigung einer solchen Liebe aus der Bibel, erklärt sie mit seltenem Scharfsinn aus der Naturgeschichte der Pflanzen, kurz er eilt geraden Weges

31. Vorlesung (21. Juni 1842)

961

dem Verbrechen zu, erklärt der menschlichen Gesellschaft den Krieg und wird ein Opfer des Bösen. Was soll ihn jetzt retten? Etwa das Wissen, welches einigen Philosophen zufolge den Menschen zur Religion führt? Er hatte sich ja über alles belehrt, besuchte die berühmtesten philosophischen Schulen und verlor da den letzten Glaubensfunken. Oder etwa die religiöse Praxis? Er verwarf sie ja, faßte einen heftigen Haß gegen sie, weil sie das Gute verehrend die ganze Welt in der Gewalt des Bösen läßt. Wird daher sein Ende ähnlich dem des Manfred oder des Faust sein? Nicht also geschah es. Von den kalten, leeren Höhen unversehens unter das polnische Volk geraten, findet er zum ersten Male die Wahrheit. In dem Charakter, in den vaterländischen Gefühlen seines Volkes bemerkt er das Zeichen eines wirklichen Lebens; das Leben aber kann keine andere Quelle als die Wahrheit haben. Untersuchen wir dies Leben, so werden wir zur Wahrheit gelangen und durch diese zu Gott. Die Szene, in welcher der Dichter das erste Zusammentreffen des jungen Philosophen mit dem Volk schildert, ist eine der schönsten, der eigentümlichsten im ganzen Epos. Gerade als er im Zimmer mit sich selbst kämpfte, gelangte zu ihm von Außen her der entfernte Schall des Gesanges der Landleute, die abends am Osterfeiertage nach der Schenke gingen. Dieser Gesang machte auf ihn einen sonderbaren Eindruck. Er schlägt das Fenster zu, verläßt das Schloß und folgt auf einem Seitenweg der heiteren Schar. Die Schenkstube wird von nun an für ihn der Vorhof zur neuen philosophischen Schule. Indem er sich ans Fenster stellt, hört und sieht er dem Lärmen, dem Gelächter, der Musik, dem Tanz, den Neckereien und Spielen zu und wird zuerst zornig, dann neidisch, endlich wünscht er sich das Glück der schlichten Leute zu erklären. Sie vergnügen sich – spricht er – sie sind glücklich und zufrieden, denn „die Welt in ihrer Seele ist so klein, wie ihre täglichen Bedürfnisse.“ („Świat w duszy ciasny jak ich codzienne potrzeby“; S. 39). – Plötzlich wird dem Geiger zugerufen, einen Tanz aufzuspielen. Den „Kościuszko“ rief Einer, den „Dąbrowski“ Andere. Alle Wiederholten: WSZYSCY: Kościuszki – hej, zgoda, Tylko żwawo i ost – Rozmowy i kłótnie Ustały jak deszcz, kiedy zaświeci pogoda, Albo gdy kur zapieje, złych upiorów harce.462 462 Garczyński, op. cit., tom I, S. 39–40. Es handelt sich um den „Kościuszko-Marsch“; auch „Marsz Kościuszkowców“, benannt nach Tadeusz Kościuszko (1746–1817), dem Anführer des polnischen Aufstandes von 1794; vgl. Alex Storozynski: The Peasant Prince – Thaddeus Kosciuszko and the Age of Revolution. New York 2009. „Dąbrowski“ – gemeint ist die

962

Teil II ALLE: Wohlan, den Kosciuszko! Nur geschwind und recht wacker! – Geschwätz und Hader ließen nach, / Wie der Regen, wenn heiteres Wetter erglänzt, / Oder wie der Spuck böser Geister beim Morgenruf des Hahnes.

Dieser Philosoph sah bisdahin weiter nichts vor sich als einen ungeordneten Haufen von Menschen, die sich zu Lust und Scherz versammelt; aber jetzt hatte auf einmal ein Gedanke den ganzen Schwarm erfaßt, ein gemeinsamer Gedanke, der gewiß ein kräftiges Element in sich hatte, denn er verbannte plötzlich und mit einem Male alle Ausgelassenheit der Einzelnen. Na jednej stronie w myślach zatopione starce, Słuchając znanej nuty w milczeniu głębokiem, Spoglądali na młodzież smutnym, łzawym okiem, Dalej chór śpiewał nutę – lecz w tej nucie słowo Tak dziwnie w ustach brzmiało młodzi śpiewającej, Tak każdy ton był czuły i wolny, i drżący, Że wziąłbyś hymn wesela za pieśń pogrzebową Albo za pieśń rozstania i zimnej rozpaczy.463 Dort horchten Greise, in tiefes Schweigen versunken, der bekannten Melodie, und blicken auf die Jugend mit betrübtem, mir tränenvollem Auge. Da sang der Chor – aber im Lied tönte das Wort so wunderbar aus dem Munde der singenden Jugend, ein jeder Ton war so voll von Gefühl und Freiheit und war so bebend, daß das Lied der Lust wie Grabgesang erklang, wie ein Lied des Abschieds und der kalten Verzweiflung. […]

Diese Musik weckte wie mit einem Zauberschlag Erinnerungen in der Seele Wacławs, und entriß sie dem Starrtod, den Gedanken und Gefühlen wieder Leib und Leben gebend: Uczuł, że ma ojczyznę – wspomniał, że Polakiem. Er fühlte ein Vaterland – er gedachte, daß er Pole sei.

Ähnlich einem Ertrinkenden griff er nach diesem schwachen Halm, der ihm jetzt ein Rettungstau, ein aus der Vergangenheit kommender Hoffnungsstrahl wurde. Er lebte wie neu geboren auf: Dąbrowski-Mazurka“, benannt nach Jan Henryk Dąbrowski (1755–1818), der kommandierender General im Aufstand von 1794 war. Es ist die polnische Nationalhymne; den Text schrieb Józef Wybicki 1797 in Italien. 463 Garczyński, op. cit., tom I, S. 40.

31. Vorlesung (21. Juni 1842)

963

Tak słowo w dobrej ludziom powiedziane chwili, Jak trąba archanioła, stworzy ich, czym byli.464 So weckt ein Wort, zu günstiger Zeit gesprochen, Wie des Erzengels Posaunenschall die Menschen wieder auf.

Diese zwei Verse sind wunderschön. Um sie zu verstehen, wollen wir uns an das über die moralische Entwicklung der Menschheit Gesagte erinnern. Was heißt, einen Menschen aufwecken, dessen Fähigkeiten und Genius entfalten? Es ist nichts weiter als ihm zur Sprengung der Fesseln, welche ihm die Organisation angelegt, behilflich sein. Immer besitzt er schon einen gewissen Grad der Entwicklung, zu dem er gelangt ist; häufig jedoch gebricht es diesem Schmetterlinge in der Puppe an Kraft, seine Hülle zu sprengen. Alsdann kommt ein anderer, mehr entwickelter Genius ihm zu Hülse: durch seinen Einfluß, durch die Wärme aus seinem Herde vermehrt er die Kräfte des eingekerkerten Geistes, hilft ihm, sich von der Hülle befreien und verrichtet so einen Akt des Schaffens. Wir werden uns noch auf diese Verse berufen, wenn wir den Einfluß erwägen, den zuweilen ein Genius auf ein ganzes Volk ausüben kann, jenen Einfluß, der sich keineswegs durch Meinungen oder Lehrsätze verbreitet, sondern unmittelbar fast auf physische Art, in den oben angeführten zwei Versen so vortrefflich ausgedrückt ist, sich kund gibt. Ojczyzna! – krzyknął Wacław – o dzięki wam, dzięki Za znak życia nowego! – póki stanie ręki, Ręka do niej należy – póki myśli stanie, Myśli jej niechaj będą! – Zabłysło zaranie Świateł nowych – Bóg w nowej zabłysnął postaci, Nie w księgach go wynaleźć: On w żywocie braci Mieszka jak w swym kościele, jak w arce przymierza! Niebo rodzinne – oto świątyń jego wieża; Ziemia rodzinna – oto budowa kościoła; A w piersiach tron jest jego – w piersiach głos anioła! Posłyszałem – uczułem – rozumiem cię, Boże! Chcesz ofiar – ja mój żywot w ofierze położę, Przyszły i teraźniejszy – chcę jak lud na puszczy Łaknąć, byle ojczyźnie tym dopomóc można; Każda myśl moja będzie jako hymn pobożna, Język mój ustom, słowa samej czci poduszczy, W modłach noce przepłaczę, dni przemęczę w trudzie, Tylko niech kraj mój wolnym – wolni będą ludzie!465

464 Garczyński, op. cit., tom I, S. 40. 465 Garczyński, op. cit., tom I, S. 40–41.

964

Teil II Ach, Vaterland! – rief Wacław – o Dank euch! viel Dank für das Zeichen eines neuen Lebens! So lange diese Hand nicht erstarrt, Soll diese Hand ihm gehören – so lange der Gedanke nicht erstirbt, Soll er ihm geweiht sein! Das Tagen des neuen Lichts Hat sich blicken lassen! Gott ist in neuer Gestalt erschienen! Nicht in Büchern ist er zu finden! Er wohnt in den Herzen der Brüder, Wie in seiner Kirche, wie in der Bundeslade. – Der heimatliche Himmel – ist das Gewölbe seiner Heiligtümer! Der heimatliche Boden – der Bau seines Tempels. Im Herzen ist sein Thron – in der Brust habe ich die Stimme des Engels Vernommen, habe sie gefühlt – ich verstehe dich, o Gott! Du verlangst Opfer – meinen Geist will ich zum Opfer geben, Mein zukünftiges und das jetzige Leben – ich will wie das Volk In der Wüste hungern, wenn nur damit dem Vaterland Geholfen werden kann; jeder Gedanke soll fromm sein wie eine Hymne, Meine Zunge soll den Lippen Worte deines ewigen Lobes reichen, In Gebeten will ich die Nächte durchweinen, die Tage in Qualen zubringen, Nur möge mein Land befreit – gerettet sein die Menschheit.

So zeigte sich Gott diesem Menschen, der schon an Nichts mehr glaubte, ihn fast verleugnete, alle moralischen Wahrheiten verwarf, wieder in dem größten seiner Werke, in der Volkstümlichkeit. Der Gedanke, daß ein Volkstum inmitten der Slaven sein besonderes Merkmal trägt, seine eigentümliche Bestimmung hat, und dadurch für entfaltetere Seelen einen gewissen Reiz, gewisse Anziehungskraft für die Wahrheit, für die Gottheit besitzt, diesen Gedanken oder vielmehr dieses Gefühl haben schon öfters die Dichter und Propheten ausgedrückt, deren Worte wir früher anzuführen Gelegenheit hatten. Indem die Dichtkunst einen solchen nationalphilosophischen Begriff entwickelte, kleidete sie ihn auch immer in künstliche Formen ein; unterdessen führt, wie wir schon gesagt, die ausländische Philosophie dem poetischen und artistischen Fortschreiten des Volks, durch einen anderen so zu sagen umgekehrten Weg, dieselbe Wahrheit zu. Wir erwähnten einen der slavischen Philosophen, der sich im Westen befindet und für Ausländer schreibt; wir führten die mit unserem Volksglauben völlig übereinstimmenden Ansichten Hoene-Wrońskis von Messianismus der jetzigen Epoche und von der Sendung Napoleons an, nun wollen wir ein philosophisches Werk, in polnischer Sprache verfaßt, betrachten. Dieses wichtige Werk, neuerdings in Paris erschienen, trägt die Aufschrift: „Polska w apostazji, czyli tak zwanym rusosławizmie, i w apoteozie, czyli tak zwanym gallokosmopolityzmie“ (Polen in der Apostasie oder im sogenannten Russo-Slavismus, und in der Apotheose oder im sogenannten

31. Vorlesung (21. Juni 1842)

965

Gallo-Kosmopolitismus).466 Derselbe Verfasser hat schon früher eine Schrift über die polnische Revolution: „Sprawa Polski wywołana przez sąd miecza i polityki w roku 1830“ (Polens Sache vor dem Richterstuhl des Schwertes und der Politik im Jahre 1830)467 geliefert, welche wenig gelesen, jedoch dieselben Ideen, nur etwas undeutlich ausgedrückt, enthält, und die er jetzt mit mathematischer Genauigkeit gefolgert hat. Wir wollen hier den Hauptinhalt der ersten Schrift wiedergeben, nur frei von den wissenschaftlichen Formeln und der Sprache der Schule entkleidet. Auch werden wir sagen, was man davon zu wissen braucht, um das Heldengedicht des Garczyński und vieles von anderen Veröffentlichte zu begreifen. Der Verfasser dieses Buches betrachtet, indem er sein philosophisches System auf die Geschichte und auf die durch die spekulative deutsche Philosophie eröffneten Wahrheiten stützt, zuvörderst den ganzen Fortschritt der Menschheit. Ihm zufolge hatten die altertümlichen Völker, die er Elementarvölker nennt, nur das materielle Wohlsein zum Endzwecke. Nachdem sie nun bis zu einer gewissen Stufe die Befriedigung der physischen Bedürfnisse erlangt, begannen sie gegenseitig, sich anzufeinden und hieraus entsprang der Despotismus. Später zeigte sich eine andere Notwendigkeit. Man erkannte die Gefahr, mit welcher die Einbrüche der Übermacht drohten; man bemühte sich, zwischen dem Verlangen des Einzelnen und den Rechten der Gesellschaft eine Vermittlung aufzufinden, und hieraus entwickelte sich das politische Recht sowohl nach Innen wie nach Außen, was unser Philosoph den praktischen Verstand nennt. Elementarvölker oder solche der ersten Zeitperiode, die ein sinnliches Ziel verfolgten, sind die Inder, die Chinesen und Ägypter; Völker des zweiten Abschnitts, die einem gesellschaftlichen Ziel, einem moralischen nachstrebten, sind die Griechen und Römer, erstere nach Innen, letztere nach Außen zu. Wir führen dieses nur deshalb an, um das Folgende zu verstehen; denn wir werden die Erforschung mit der christlichen Epoche beginnen. Diese mit einem riesigen Opfer anhebend, gibt fortwährend den Philosophen Stoff 466 Antoni Bukaty: Polska w apostazji, czyli tak zwanym rusosławizmie, i w apoteozie, czyli tak zwanym gallokosmopolityzmie. Paryż 1842. Im Internet vgl. [http://www.pbi.edu.pl] und CBN Polona [http://www.polona.pl]. 467 Antoni Bukaty unter dem Pseudonym Krzysztof Pomian: Sprawa Polski wywołana przez sąd miecza i polityki w roku 1830. Część I. Paryż 1833. Im Internet: [http://www.pbi.edu. pl]. A. Bukaty ist auch der Verfasser einer Arbeit über den Philosophen Hoene-Wroński. Vgl. Antoni Bukaty: Hoene Wronski i jego udział w rozwinięciu ostatecznem wiedzy ludzkości. Wydawca L. Niedzwiecki. Paryż 1844 [http://www.pbi.edu.pl].

966

Teil II

zum Denken. Hegel drückte sie durch die dunkle Formel seines „Seins und Nichtseins“468 aus, indem er sagt, daß die wirkliche Idee in der römischen Welt zu ihrem Grenzziel gelangend, sich selber widersprechen mußte: auf solch eine trockene und lächerliche Art erklärt er das Christentum.469 Unser Philosoph sieht die Ankunft Christi als einen göttlichen Akt an, daß mit diesem zum erstenmal die Wahrheit, das Gute und Schöne sich auf Erden verkörperten; daß die bisdahin nur in irdischen Absichten wirkende und durch die Bedingungen der Natur zusammengehaltene Menschheit jetzt eine schaffende Kraft erhielt und die Herrin ihrer selbst wurde. Den ersten Funken dieser neuen, schöpferischen Kraft entzündete das Christentum: von da an soll der Mensch nicht mehr seine Pflichten, weder in den Meinungen der Menschen, noch in den Bedingungen der Natur, sondern in sich selbst suchen: über dieses Geheimnis soll er sich selbst befragen im Aufblick zu Gott; also ward er unabhängig von der Natur und der ganzen Menschheit. Unserem Philosophen gemäß könnte man sagen, Christus habe ein feierliches Veto wider alle Institutionen, wider die ganze Richtung der Menschheit gesprochen. Von allen zurückgestoßen, verlassen von seinen Schülern, sagte er: „Ich habe die Welt besiegt.“ Von diesem Augenblicke an zeichnet unser Verfasser dem Menschengeschlecht folgenden Gang vor. Zuerst wird sich die Gleichstellung des einzelnen Menschen mit seinem Volk fest begründen. (Wir sprechen hier von der allgemeinen Anwendung der christlichen Wahrheit, denn als Gefühl und als Theorie war sie schon von Anbeginn in einzelnen Menschen verwirklicht.) Zuerst soll also das Recht des Menschen in Betreff der Unabhängigkeit von seinem Volke festgestellt werden; alsdann die Begründung der Rechte des Volkes in Rücksicht auf das Dasein und die Unabhängigkeit angesichts anderer Völker. Gemäß dieser Ordnung soll der seinem Volke gleichsam einverleibte Mensch endlich eine legale, zivile, politische und religiöse Unabhängigkeit in Rücksicht auf die ganze Menschheit erhalten. Wir wollen jetzt untersuchen, welche Völker gerade in dieser Richtung vorgeschritten? Die romanischen Völker erbten die Ansichten der Römer und haben ihre irdische Herrschaft erweitert. Die Entdeckung von Amerika, die Unterwerfung der übrigen Welt war diesen Völkern von der Vorsehung bestimmt. 468 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830). Hrsg. Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler. Hamburg (8. Auflage) 1991. Vgl. – Erster Teil. Die Wissenschaft der Logik. 1. Abteilung: Die Lehre vom Sein. 469 Vgl. das Kapitel „Christentum“ in: G.W.F.  Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Hrsg. von Dr. Eduard Gans. Berlin 1837, S. 328–346.

31. Vorlesung (21. Juni 1842)

967

Die germanischen Völker, welche von der einen Seite durch die Romanen beengt wurden, von der anderen Seite her in den Slaven, die mit größerer moralischer Kraft begabt sind, ein Hindernis zu ihrer moralischen Ausbreitung fanden, mußten sich notwendig nur auf Lehrbegriffe und Spekulationen beschranken. Fügen wir noch hinzu, daß die romanischen und germanischen Völker nebenbei aus vielen von einander durch Interessen geschiedenen Zweigen bestanden. Der slavische Stamm bestand, wie wir schon öfters gesagt haben, aus Völkern eines Stammes, welche eine Sprache besaßen, die aus einem einzigen Wort entsprungen war, was unser Philosoph gleichfalls nach seiner Weise entwickelt. Dieses Geschlecht, das zuletzt auf dem Schauplatz der Politik erschien, ist dem zufolge bestimmt, die Forderung der dritten Epoche zu verwirklichen, d.h. es soll den Völkern das Recht des Bestehens, des Entfaltens und des Lebens in Rücksicht auf andere Völker, der christlichen Wahrheit gemäß, begründen. Mit einem Wort, dem slavischen Volksstamme ist die Bestimmung zugefallen, das Christentum in die Politik einzuführen. Die Vorsehung braucht seinen weltlichen Arm, daß er die materielle Welt zwinge, sich vor der Lehre Christi zu neigen. Diesen allgemeinen Gedanken festhaltend, erforscht der Verfasser die Geschichte Polens, und findet es in der Tat immer auf der oben bezeichneten Bahn. Er erklärt alles, was sonderbar und unbegreiflich in der polnischen Verfassung geschienen. Die Erklärung der Bedeutung des Liberum Veto, wie wir sie schon früher470 gegeben, findet sich erst hier durch eine philosophische Formel bestätigt. Polen gab einem jeden seiner Bürger ein unbegrenztes Recht, und stellte ihn gleich dem Volk; dieses Volk soll den Völkern dieselben Rechte in Rücksicht zur ganzen Menschheit bringen, bis die vierte Epoche kommt, wo jeder Mensch dieselben Rechte wie die ganze Menschheit genießen wird. Sowie der polnische Bürger, bloß auf das eigene Gefühl sich stützend, die Rechte, welche in politischen Bedürfnissen, Meinungen und Theorien ihre Grundlage finden, verwerfen konnte, so wird einst jeder einzelne Mensch berechtigt sein, die Wahrheit gegen die ganze Menschheit zu verteidigen. Auf dem Grund dieses Systems zieht der Verfasser die Folgerung, daß Polen ein Opfer durch seinen Tod bringen mußte. Nach ihm wird die Kraft des Menschen, die Selbstständigkeit des Geistes durch feindliche Kräfte und seine eigenen Schwächen aufgehalten. Hieraus entspringt die Notwendigkeit

470 Vgl. 5. Vorlesung (Teil II).

968

Teil II

der Elimination.471 Diese Auseinandersetzung nämlich ist nicht so wie die der andern Philosophen pragmatisch, sondern völlig mathematisch. Die Elimination (Aufhebung) löst hier das Rätsel des Opfers, welches die Philosophie bis jetzt nicht hinlänglich begreifen konnte. Unser Philosoph betrachtet die Menschheit als ein Problem, zu dessen Lösung man gewisse Ausdrücke eliminieren muß, und erst deren Evaluation472 wird die Ausgleichung der Reihenglieder herbeiführen. Kurz, er sieht das slavische Volkstum für ein Werk Gottes, für eine Kraft zum Realisieren einer großen Wahrheit, für eine zum Humanitätszweck erschaffene Kraft an. Hier begegnete sich die Philosophie mit der Poesie Garczyńskis. Öfters haben wir schon die Wichtigkeit der Tatsachen, sogar in Betreff der Ansichten und philosophischen Formeln, gezeigt, oftmals schon gesagt, daß die Theorie sich nicht zureichend formieren läßt, so lange sie keine Basis in der Menschheit und im historischen Element findet. Sowohl die positive als negative Theorie sucht auf Erden, in der Geschichte, in der menschlichen Gesellschaft einen Boden für sich. Was sonderbar scheint, ist dies, daß eine rein negative, eine völlig materielle Theorie der Politik, ein System der folgerichtigsten Vernichtung, auch von einem Polen, einem polnischen Apostaten473, geschrieben ist. Dieser Abtrünnige erkannte die Notwendigkeit, sich auf die russische Geschichte zu stützen; hierdurch aber, wie leicht einzusehen, hat er sich schlecht um Rußland verdient gemacht; denn er verriet das letzte Wort des Zarentums, das politische Geheimnis der philosophischen Idee desselben. In seiner Schrift, mit Bewilligung der russischen Regierung herausgegeben, beweist er, daß in der Politik das einzige Gesetz, „töten oder getötet zu werden“474, gelte. Deutlich gesprochen, führt diese Schrift geradezu auf den 471 Elimination vgl. Antoni Bukaty: Polska w apostazji, czyli tak zwanym rusosławizmie, i w apoteozie, czyli tak zwanym gallokosmopolityzmie. Paryż 1842, rozdział II. 472 Evaluation vgl. Bukaty, op. cit., rozdział III. Vgl. auch Adalbert Cybulski: Geschichte der polnischen Dichtkunst in der ersten Hälfte des laufenden Jahrhunderts. I. Band. Posen 1880, S. 72–73, der das (mathematische) Konzept von Bukaty erklärt. 473 Gemeint ist Adam Gurowski (1805–1866), der sich nach 1830 in der Emigration vom polnischen Freiheitskämpfer zum russophilen Panslavisten wandelte. Als Verrat an Polen gilt seine Schrift: „La vérité sur la Russie, et sur la révolte des provinces polonaises“, Paris 1834; von 1835–1844 Aufenthalt in Rußland, dort die preisgekrönte Abhandlung „La Civilization et la Russie“, St. Petersburg 1840 (deutsche Übersetzung – „Rußland und die Civilisation“. Leipzig 1841, Verlag von Heinrich Hunger); 1848 die Schrift „Le Panslavisme“, Florenz 1848; seit 1849 in den Vereinigten Staaten mit kontakten zum russischen Zaren tätig. Vgl.: Zygmunt Gross: Diabeł Asmodeusz w binoklach. Katowice 1968; Florian Stasik: Adam Gurowski (1805–1866). Warszawa 1977; Henryk Głębocki: „Diabeł Asmodeusz“ w niebieskich binoklach i kraj przeszłości. Hr. Adam Gurowski i Rosja. Kraków 2010. 474 Bukaty, op. cit., S. 45, der aus der Schrift von Gurowski (op. cit.) ungenau zitiert; vgl. dazu Maślanka (A.  Mickiewicz: Dzieła. Tom IX: Literatura słowiańska. Kurs drugi, op. cit.,

31. Vorlesung (21. Juni 1842)

969

Gedanken, daß alles, was man moralisch nennt, nur hohle Worte seien: die Kraft nur mache alles aus, und das russische Kaisertum, nachdem es schon so viele Völkerschaften verschlungen, hat doch wohl schon Beweise dieser Kraft abgelegt, und dies rechtfertigt hinlänglich sein Vorschreiten. Wehe den Besiegten! Die Kraft hängt übrigens von der Ländermasse und der Volkszahl ab, das russische Kaiserreich ist es aber eben, das die ausgedehnteste Länderstrecke und die größte Bevölkerung hat, folglich auch das Recht, Europa zu befehlen. Endlich war diese Regierung gerissen genug, die geistliche Gewalt an sich zu reißen und hierdurch noch dazu eine geistliche Macht zu werden. Auf diese Art ist Rußland nur allein vernünftig, weise, kraftvoll und gewaltig. In diesem Phänomen der Abtrünnigkeit, in dieser, seit Judas her, größten, höllischen Verleugnung des Heiligen sieht unser Philosoph einen Beweis des künftigen Lebens, denn sie ist die letzte Anstrengung des Bösen, das sich überwunden fühlt, die letzte Anstrengung der Vergangenheit, die ihren Fluch auf die Zukunft wirft. Denselben Gedanken werden wir in Garczyńskis Epos dramatisiert und poetisch ausgesprochen wiederfinden. Er wird uns auch die Begeisterung im Kampf mit den Ansichten des gelehrten Apostaten und Philosophen darstellen.

S. 532); bei Gurowski lautet dieser Satz: „Conquérir ou être conquis, voilà la grande formule politique.“ (Erobern oder erobert werden, das ist die große politische Formel) – in: A. Gurowski: La vérité sur la Russie, et sur la révolte des provinces polonaises“, Paris 1834, S. 29–30 (falsche Paginierung: auf Seite 29 folgt Seite 38).

32. Vorlesung (28. Juni 1842) Die Apostasie in Garczyńskis Poem – Die Aufgabe dieses Dichters ist, den Enthusiasmus mit der Vernunft zu vereinen. Die Lösung dieses Rätsels sieht er in der Tatsache des wiederhergestellten polnischen Volkstums – Garczyńskis letztes Wort – Einteilung der Dichter und Schriftsteller nach dem volkstümlichen Streben verschiedener slavischer Völker. Goszczyński und Zaleski – Was begreift der polnische Messianismus in sich? – Erklärung des Begriffs Opfer nach Franz von Baader – Theorien der polnischen Philosophen – Französische Philosophen: Buchez. Pierre Leroux – Schellings System – Der Kern des polnischen Messianismus: Personifizierung der Idee im Menschen.

Die Gegenwirkung des Materiellen gegen den Geist, d.h. das Ankämpfen aller Interessen und Richtungen der Vergangenheit und des Egoismus gegen den die Zukunft versprechenden Gedanken, haben wir Apostasie, die Verleugnung des Heiligen, benannt. Durch viele polnische Dichter wurde sie vorhergesagt, namentlich durch Garczyński, ehe noch die Philosophen sie als eine logische Bedingung der Entwicklung des Volkslebens begriffen hatten. Erinnern wir uns jener Volksszene, wohin Garczyński den Helden seines Gedichts geführt hat, damit sie als moralische Lehre dem Philosophen diene. Wir sahen da, wie um einen Klang, ein Volkslied herum, sich ein verschiedenartiger Menschenhaufen scharte. Dieses auf einen Augenblick durch Gefühl, Herz und Geist vereinte Volk war bereit, sich wie ein Mann zu erheben. Der junge Philosoph, am Fenster in Betrachtungen versunken, freute sich, das Geheimnis der Zukunft entdeckt, die Quelle, woher die einende, belebende Kraft sprudeln kann, gefunden zu haben. Die Szene schließt mit der Apostasie und Reaktion. Es trat ein fremder Mann ins Wirthshaus und nahm das Gastrecht in Anspruch: Z ubioru zdał się Polak – z wzrostu nie był mały, Wytartą miał bekieszę, pas u niej wytarty, Przecie śmiech wiecznie prawie do twarzy przyrosły, Oczy bystre – włos rudy – nos w górę zadarty Nie najlepsze świadectwo duszy jego niosły.475 Der Tracht nach schien er ein Pole – von mittlerem Wuchs, Sein Rock war abgetragen, der Gürtel abgerieben, Doch ein ewiges Lächeln, wie mit dem Gesichte verwachsen, Stechende Augen – rötliches Haar – und die aufgestülpte Nase Gaben seiner Seele eben nicht das beste Zeugnis.

475 Garczyński, op. cit., tom I, S. 42.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_074

32. Vorlesung (28. Juni 1842)

971

Es war ein seinem Volkstum entfremdeter (entnationalisierter) Pole. Als er die Gesellschaft, von himmlischer Begeisterung durchdrungen, erblickt, wagt er nicht geradezu dagegen aufzutreten; allmählich jedoch mengt er sich ins Spiel, streut von Zeit zu Zeit scherzhafte Wörtlein, erhebt sich bis zum Witzreißen, und hüllt seinen Geist in diese niedrigste und gewöhnlichste Form, welche Verwunderung bei der Menge weckt. Nachdem er auf diese Weise die erhabene Rührung verflacht, trennt er den Haufen, bemüht sich die Jugend von den Alten abzuziehen, erzählt den einen sinnloses Zeug, lacht über die übermäßige Vorsicht der anderen und ermutigt zu Scherz und Trunk. Alle drangen sich um ihn, und froh, ihn im Kreise zu sehen, fragen sie, woher er komme. Darauf er erwidert: Kto tam teraz ciekawy, jak się kto nazywa? Jan, Paweł – Niemiec, Polak – czyż to daje złoto? Imię spasłym nie czyni – więc lepiej z ochotą Wypić jeszcze!476 Wer ist denn jetzt neugierig, wie Jemand heißt? Hans, Paul – Deutscher oder Pole – gibt dies etwa Gold? Der Name macht nicht fett – drum lieber mit Jubel Noch einmal getrunken!

(Mittlerweile singt er mit gedämpfter Stimme gleichsam für sich, jedoch so, daß es Alle vernehmen können.): Gdzie dobrze urodzajna niwa, Pop ma litość, król z ludem przyjaźń zobopólną, Gdzie wszystko myśleć wolno, wszystko mówić wolno, A sędzia ubogiemu sprawiedliwość przyzna; Tam kraj mój – moje imię – rodzina – ojczyzna!477 Wo gut sein ist, ergiebig die Flur, Der Pfaffe Mitleiden hat, König und Volk gut Freund sind, Wo alles frei zu denken, alles frei zu sprechen, Und der Richter dem Armen Recht spricht, Da ist meine Heimat – mein Name – Familie und Vaterland.

Diese Strophe des Volksliedes ist ein kurzer Inhalt der Philosophie des Materialismus. Die Jünglinge, durch dieses so gezeichnete Bild des Vaterlandes betroffen, fragen ihn, ob irgendwo in der Welt sich solch ein Land befinde: 476 Garczyński, op. cit., tom I, S. 42–43. 477 Garczyński, op. cit., tom I, S. 43.

972

Teil II […] – „Czy jest? – odrzekł na to – Zapewne kiedy człowiek nigdzie nie wychodzi I życie spędzi między stodołą i chatą, Trudno, żeby go znalazł, i wy nie znajdziecie, Ale świat jest obszerny, dziwy różne w świecie! Wódki tylko, hej, wódki, cuda wam opowiem. […] Wy, prawda, biedni ludzie – wy nie wiecie o tem. Dla panów waszych z czoła pracujecie potem, Dla drugich! – a ci drudzy! – wściekłość mnie pożera! Każdy z nich próżniak, skąpiec, obłudnik, kostera, Robi z wami jak z młynkiem, co mu się podoba – Ależ prawda – was święta uczyła osoba, Choć świętość więcej grzeszy niż wy wszyscy razem, Że panów słuchać – wiecznym religii rozkazem – Że –478 […] Ob’s da ist? sagt er drauf, Gewiß, wenn nirgends der Mensch hinauskommt, Zwischen Scheune und Hütte sein Leben zubringt, Der kann es schwerlich finden! – Ihr findet es auch nicht; Doch weit ist die Welt, und der Wunder gibts gar viele! He! nur Schnaps her, Schnaps! und Wunder erzähle ich euch. Ihr freilich, arme Leute – ihr wisset nichts davon, Ihr plagt euch für eure Herrn im Schweiße des Angesichts, Für andere – und diese anderen! – Ha! Wut zernagt mein Herz! Falsch, Tagedieb, Geizhals und Spieler ist von ihnen Jeder, Nach Herzenslust verfährt er mit euch, wie mit einer Mühle. Doch freilich – euch hat es ja ein heiliger Mann gelehrt, – Wenngleich die Heiligkeit mehr sündigt als ihr alle, – Daß den Herrn zu gehorchen – der Religion ewiger Befehl ist, Daß …

Um diesen Gedanken weiter auszuführen, erzählt er eine Fabel von einer Ratte, die sich als einen Pfarrer verkleidete, und ihre Gefährten mit den Schwänzen die Glocke läuten, die Katholiken zur Messe rufen läßt, vom Volke Opferspenden annimmt. Anfangs erregte diese Erzählung allgemeines Gelächter; bald jedoch ahnte jeder, es stecke Verrat dahinter. Das Mißtrauen wurde rege, denn jeder Ausdruck dieser Volksfabel war überdacht und gesucht; man erkannte den Ankömmling aus Brandenburg, aus der „verbrannten Heide“, Zgorzelica, wie es die Polen nennen.479 Die Alten bemerkten zuerst, daß er, gegen die 478 Garczyński, op. cit., tom I, S. 43; 47. 479 Mickiewicz, der Garczyńskis „Poezje“ herausgab, vermerkt an dieser Stelle: „Kromer nazywa Zgorzelskiem Brandenburgią“ (Kromer bezeichnet Zgorzelskie Księstwo Brandenburg), ausgehend von Brand (ogień, pożar) und Burg (gród, zamek warowny) – S. Garczyński:

32. Vorlesung (28. Juni 1842)

973

Religion ihres Landes losgehend, den letzten Quell des Volktums versiegen machen wollte, und erhoben, wie es die Alten pflegen, ihr Geschrei zu spät. Sogleich aber ward die ganze Menge über den Fremdling empört, und nötigte ihn zur Flucht. Aber am stärksten von allen berührte diese Rede den jungen Philosophen: Wacław z całej powieści nie stracił sylaby, Odgadł ją – wyrozumiał – i zdradą ocenił, Chciał wołać – lecz głos jego przesilony, słaby Skonał w ustach. – Wzniósł rękę – ręka mdła upadła; Spojrzał – źreniczne oba ciemnią się zwierciadła, A twarz jego żar jakiś rozpalał, rumienił, To znowu jak z zapału ostudzona bladła. Von der ganzen Erzählung hatte Wacław keine Silbe verloren, Er erriet sie, verstand sie – und schätzte den Verrat ab, Schreien wollte er – doch seine Stimme überspannt und matt Erstarb auf seinen Lippen – er erhob die Hand – schwach fiel sie zurück, Er blickte hin – und finster wurden die beiden Augenspiegel, Eine unbekannte Glut brennt und rötet sein Gesicht, Das bald wieder erblaßt, wie von der Seelenhitze abgekühlt.

Er sah in dem räsonierenden Spaßmacher die treue Karrikatur seines Selbst, er erkannte, daß dieser gemeine Bauer, in der niedrigen Sphäre seines Wirkens, gerade dasselbe tat, was er in der Metaphysik und Philosophie, indem er alles leugnete, alles durch philosophische Formeln erklärte. So erblickte er den Abgrund, an dem er stand: I Wacław był podobnym do owych zbrodniarzy, Którym sędzia gdy wyrok z dziejów czyta zbrodni, Czucie winy, występku jako strach przechodni Siły zniszczy – wzrok stępi – i siądzie na twarzy.480 Jetzt glich Wacław jenen Verbrechern, Denen, wenn der Richter aus der Geschichte ihrer Missetaten das Urteil folgert, Das Gefühl der Schuld und des Lasters, wie ein vorüberziehender Schreckgeist, Die Kräfte lähmt – das Auge abstumpft – und auf dem Angesicht sich niederläßt. Poezje. Paryż 1833, tom I, S. 42. Zur Etymologie vgl. Martini Cromeri de origine et rebus gestis Polonorum libri XXX. Basel 1555; deutsche Übersetzung – Martin Cromers Bischoffs von Ermland Beschreibung des Königreichs Polen. Übersetzt von Andreas Schott. Danzig 1741. 480 Garczyński, op. cit., tom I, S. 50.

974

Teil II

Von Scham, Schmerz und Abscheu durchdrungen, donnerte er dem Verführer zu: Kto ci dał moc kupczenia twym nędznym rozumem? Trujesz ludzi pod barwą zabawy, usługi; Plamisz im czystość duszy, obudzając chęci, Których nigdy dopędzić, uiścić nie mogą, Jak złodziej drzesz się w serca – wyrywasz z pamięci Wszystko, co świętym mieli – świętość depczesz nogą! Szatanie czy człowieku! Wer hat Dir die Macht gegeben, mit Deinem elenden Verstandezu schachern? Du vergiftest die Leute, unterm Scheine des Vergnügens undGefallens; Befleckst ihrer Seelen Reinheit, indem du Gelüste weckst, Welche sie niemals stillen, nie befriedigen können. Wie ein Dieb schleichst du dich in die Herzen – reißest aus dem Gedächtnisse Alles, was sie heilig hielten – das Heilige trittst du mit Füßen! Bist du Satan oder Mensch?

Und er wollte sich auf ihn stürzen, aber schon war jener hinweggeeilt: Wiatr tylko gałęź drzewa przeginał z daleka, Słup głuchawo przy drodze skrzypił drogoskazu, A cień, do wytartego podobny obrazu, Mknął się nagle przed okiem i przepadł gdzieś drogą.481 Nur einen Baumast bog der Wind in der Ferne, Dumpf knarrte am Weg des Meilenzeigers Pfahl, Und ein Schatten, gleich einem verwischten Bild, Huschte plötzlich dem Auge vorüber und verschwand auf dem Weg.

Die Apostasie (Verleugnung des Heiligen) und der Materialismus erscheinen hier in der Gestalt des gemeinen Mannes; unser Dichter wird noch öfter auf sie zurückkommen und sie später in allen Formen darstellen. Der Vorgang im Wirtshaus, zweifellos schöner und tiefsinniger als die Szene „Auerbachs Keller in Leipzig“ in Goethes „Faust“482, gibt dem jungen Philosophen Anlaß zum Nachdenken und ändert ihn gänzlich um. Er verläßt seine unsittlichen Theorien, wirft die Bücher von sich und beschließt, sich zu bessern; bemerkt aber, daß er bisher nur geträumt und disputiert hat und sieht ein, daß es Not tut, zu handeln, daß nur die Tat die Lösung der Aufgabe geben kann. Er eilt 481 Garczyński, op. cit., tom I, S. 51–52. 482 Vgl. Jacek Lyszczyna: Faust ocalony: „Wacława dzieje“ Stefana Garczyńskiego. In: Postacie i motywy faustyczne w literaturze polskiej. Tom 1. Red. Halina Krukowska. Białystok 1999, S. 375–384.

32. Vorlesung (28. Juni 1842)

975

nach Warschau, wird Verschworener, tritt der geheimen Verbindung bei, welche während der Krönung Nikolaus I.483 die ganze kaiserliche Familie aus dem Wege zu räumen beabsichtigte. Erst inmitten der Beratung im Kreise der Verschworenen stößt er zum zweiten Male auf den sonderbaren Unbekannten, welcher schon als Philosoph und Staatsmann das Wort führt, um den patriotischen Aufschwung zu lähmen. Er durchforscht hier nach Art eines Historikers den Gang der Nationalgeschichte, er setzt die natürlichen und notwendigen Ursachen der Schwäche Polens auseinander, bemüht sich zu überzeugen, es sei unmöglich, auf einmal alles zu verbessern, was so viele Jahrhunderte hindurch verdorben; mit der Autorität eines Staatsmannes zeichnet er den Zustand von Europa, er zeigt, warum die Polen nicht auf fremde Hilfe rechnen dürfen; endlich dämpft er den Enthusiasmus der Verbündeten, wie einst die Begeisterung des Landvolks. Zum dritten Male tritt jener geheimnisvolle Mann in der Gestalt eines Theosophen, eines Forschers der verborgenen Geisterwelt, hervor. Hier sucht er die Quelle der religiösen Begriffe zu vernichten, und richtet seinen Angriff gegen die poetischen und philosophischen Hoffnungen Polens. Wie einst der Versucher die Reiche und Freuden der Erde dem Heilande zeigte, so nimmt jetzt der Unbekannte mit Wacław eine phantastische Reise vor, und enthüllt seinem Auge verschiedene „Bilder“.484 Er führt ihn zuerst in den Palast eines polnischen Großen, eines guten Patrioten, aber stolzen Mannes, er zeigt ihn als einen unerbittlichen Vater am Sterbelager seiner Tochter, welcher er verboten, den armen Geliebten zu heiraten, und indem er diese Szene mit schrecklichen, jedoch wahrhaften Farben gezeichnet, fragte er, ob ein solcher Mensch für die Einführung der Gleichheit kämpfen könne? In einer anderen Szene485 enthüllt er ein prächtiges Gastmahl, wo polnische Würdenträger sich an spitzfindigen Konstitutionsartikeln den Kopf zerbrechen, Generale sich abmühen, verschiedene Schattierungen der Soldatenehre zu bestimmen. Diese Menschen da, so beschäftigt mit Zerlegung einer Leiche, nämlich einer toten Formel, werden sie fähig sein, sich für eine Sache zu begeistern, die man nur mit dem Gefühl fassen kann? Mit einem Worte, der Ratte in Gräbern ähnlich, wie der Dichter von ihm sagt, strebt er in das Herz des enthusiastischen 483 Krönungsdatum: 24. Mai 1829. Zum Krönungs-Thema und zur Verschwörung vgl. Juliusz Słowacki „Kordian“ (1834); Mieczysław Ingolt: Myśl historyczna w „Kordianie“. Wrocław 1973, S. 229–234; ferner – Hans-Jürgen Bömelburg: Der Revolutions- und Aufstandsdiskurs in Polen (1789–1870). Ein politischer Richtungsbegriff zwischen nationaler und gesellschaftlicher Emanzipation. In: Revolution in Nordosteuropa. Hrsg. Detlef Henning. Wiesbaden 2011, S. 39–64 (= Veröffentlichungen des Nordost-Instituts: 6). 484 „Obrazy“ (Bilder) – als „Bilder“ überschriebene Szenen im zweiten Teil (Kapitel III). 485 Teil II, Kapitel III: „Obrazy“ (S. 77–86); hierauf folgen „Obraz pierwszy“ (1. Bild) bis „Obraz czwarty“ (4. Bild) – Seiten 86–100.

976

Teil II

Jünglings sich hineinzugraben, um ihm den Geist zu zernagen. Sein Ziel ist, ihn keineswegs im Träumen, im Vernünfteln, sondern im Handeln zu hindern. Der Unbekannte (Nieznajomy) spricht bei sich: Bądź co bądź – ja od czynów odstraszyć go muszę!486 Sei es, wie es sei – von den Taten muß ich ihn abschrecken!

Dies ist der schon erwähnte Gedanke der ganzen Dichtung: nämlich die Tat allein vermöge das Problem zu lösen. Diese große, schöne Dichtung ist unvollendet geblieben; in weiterem Handlungsverlauf beabsichtigte der Verfasser den Feind der Begeisterung zu schildern, wie dieser zu dem äußersten Mittel, zur Gewalt, greift. Garczyński ist der erste von den polnischen Dichtern, deren Wesen wir untersucht haben, welcher sich, als zu einer himmlischen Sendung berufen, ankündigt. Er schreibt nicht als Künstler, Poet oder Literat, sondern als einer, der den Kampf beginnt. Deshalb schildert er weitläufig die Schicksale seines Lebens, die Träume seiner Mutter. Es liegt ihm nichts daran, das Publikum für seine Person einzunehmen: er verschwindet selbst gänzlich von der Bühne; er will bloß dartun, daß nur Menschen, welche eine besondere Bestimmung erhalten haben, für die große Sache arbeiten können: O syna dziwnych losach sny prorocze wcześnie Ostrzegały Wacława matkę przed połogiem. […] Drugi raz sen był inny – śniła się jej łąka, Którą zdobiły kwiaty i ptaki, i trzody, Wszystko piękne, piękniejszy jednak pasterz młody, Siedzi obok kochanki i na lutni brząka. […] A z nim z chmur jakiś orzeł wyleciał straszliwy, Szpony nad nim zawiesił, okiem mu bił w oko, Pióra jego groźniejsze były od lwa grzywy, I olbrzymem się zdawał, choć wisiał wysoko. Widziała matka walkę – zwarli się zarazem, Jeden groził szponami, a drugi żelazem, Młodzieniec pierwszy strzelił i krew z orła boku Prysnęła nawałnicą jako deszcz z obłoku; I orzeł na dół zleciał, ale swoje pióra Jak wachlarz roztoczywszy przed obliczem słońca, 486 Garczyński, op. cit., tom I, S. 85.

32. Vorlesung (28. Juni 1842)

977

Skrył ziemię czarnym puchem od końca do końca, A w głowę dumną wroga wcisnął ostrz pazura.487 Von des Sohnes sonderbaren Schicksalen haben schon früh ahnungsvolle Träume Wacławs Mutter vor der Niederkunft Kunde gebracht. […] Der zweite Traum war anders – sie träumte von einer Wiese, Geschmückt mit Blumen, Vögeln und Herden; Alles war schön, doch schöner noch der junge Hirte, Der beim Liebchen sitzt und die Zither schlägt. […] Aus den Wolken schießt ein grimmiger Adler; – Der streckt die Krallen über ihn, bohrt den Blick in sein Auge, Schrecklicher sind seine Fittiche als eine Löwenmähne; Er scheint ein Riese, wenngleich hoch in den Lüften hängend. Die Mutter sah den Kampf – sie stürzten auf einander, Der eine droht mit den Klauen, mit dem Eisen der andere, Der Jüngling schießt zuerst und aus des Adlers Seite Entströmte stürmisch das Blut, wie aus der Wolke der Regen; Und zur Erde kracht der Adler – doch seine Fittiche, Wie einen Fächer dehnend, vor dem Sonnenantlitz, Verdeckte er mit schwarzem Gefieder den Boden, von einem Ende zum anderen, Und in des Feindes stolzes Haupt versenkt er die Schärfe der Klauen.

Der Dichter hätte den ganzen poetischen Reiz zerstört, und nur eine kalte Allegorie geschaffen, wenn er diesen Traum weitläufig entwickelt; seine Dichtung dient als Kommentar dazu. Die dem Materialismus nnd der irdischen Gewalt huldigende Philosophie ist jener Adler; diesen haben auch die Feinde Polens sich zum Abzeichen gewählt. Die Poesie und die Begeisterung, von ihr zum Kampf mit eigner Waffe herausgefordert, haben ihr den Todesstoß zu geben. Stefan Garczyński sagte zugleich auch seine Zukunft voraus: er starb kämpfend, sich über des Rätsels Lösung abmühend, dessen Wort noch niemand kannte. Dieses Rätsel war, die Begeisterung mit der Vernunft zu versöhnen; diejenige Begeisterung, welche Hoffnungen schafft, die nach der Zukunft trachtet, mit jener Vernunft, die ewig diese Hoffnungen zertrümmert, die alles durch die Gegenwart fesselt, deren Augapfel, wenn er sich zum Herd der Gefühle wendet, um ihn zu erforschen, sich verdunkelt und mit Tränen bedeckt, wie das Auge, das in die Sonne schaut (… jak źrenica na słońcu drażliwa / W łzach się

487 Garczyński, op. cit., tom I, S. 18–20.

978

Teil II

topi …“488). Als Bedingung dieser Versöhnung setzte er die Entwicklung einer großen Volkstümlichkeit; denn die Nationalität ist etwas Reales, etwas Materielles, entspricht durch ihr Dasein selbst den Anforderungen der Philosophie, und weil sie zugleich ohne Enthusiasmus nicht leben und nicht handeln kann, so würde solch eine Volkstümlichkeit, wenn sie zuerst befestigt, dann begriffen und verstanden wäre, den Streit zwischen Gefühl und Denken schlichten. Dies ist Garczyńskis letztes Wort: die Lösung dieses Streits wird dem Menschen das Gefühl seiner schöpferischen Kraft geben: Kto to przeczuł – ten walkę uczucia i myśli Zakończył – ten nie walczy – chce, myśli i tworzy. Jako w Ołtarzu w nim się obudził duch boży.489 Wer das erlebt, der hat den Kampf des Gefühls und des Denkens Beendet, der kämpft nicht, er will, er denkt und er schafft. Wie im Altar ist in ihm der Geist Gottes erwacht.

Unter allen Dichtern, von denen wir geredet, trägt Garczyński am meisten den Charakter der Polen. Der uns schon bekannten Vorstellung des nationalen Strebens der verschiedenen Völker gemäß wird einstens die Literaturgeschichte die russischen, tschechischen und polnischen Schriftsteller in Klassen einteilen, was jetzt den Leser befremden könnte. Wir haben z.B. gesagt, daß der geübteste Künstler, der berühmteste Schriftsteller, der größte unter den Literaten, Stanisław Trembecki, Rußland angehört, und zu den Schriftstellern des Zeitalters Katharinas gezählt werden kann. Žukovskij dagegen, ein berühmter russischer Schriftsteller, gehört ohne Zweifel seinem Charakter nach der litauischen Dichterschule an. Puškin ist manchmal echter Russe, manchmal Moskoviter, bisweilen Europäer. Unter den tschechischen Dichtern ist Kollár allein wahrer Tscheche; er besingt die Vergangenheit, nimmt die Gegenwart mit Ergebung hin, und wagt kaum an die Zukunft zu denken. Bei den Polen ist Seweryn Goszczyński sehr oft Russe.490 Die Gefühle und der in seinen Leistungen vorherrschende Ton stellen ihn zwischen Deržavin und Puškin; er ist zuweilen sogar mehr Moskoviter als Puškin in Hinsicht der Stimmung seiner Gedichte. Bohdan Zaleski ist ohne Zweifel der größte unter allen slavischen Dichtern. Er hat einen ganzen 488 Garczyński, op. cit., tom II, S. 128; ohne Titel mit dem Eintrag „Dnia 10 go Marca 1833 o godzinie 4 tej w Dreznie.“ 489 Garczyński, op. cit., tom II, S. 130. 490 Seweryn Goszczyński (1803–1876). Nach einigen Protesten der Zuhörer revidierte später Mickiewicz diese Ansicht; vgl. Zygmunt Wasilewski: Seweryn Goszczyński. Poznan 1923, S. 200.

32. Vorlesung (28. Juni 1842)

979

Blumenstrauß zum Schluss der dichterischen Spiele der Slaven ausgestreut, und wird immer diejenigen zur Verzweiflung bringen, welche die Kunst nur der Kunst wegen noch lieben wollten; denn alle Mittel hat er erschöpft, alle Rhythmen, alles, was im Kolorit das Glänzendste, in der Schattierung das Zarteste ist. Was soll nun also den Charakter der polnischen Volkspoesie bilden? Unsere Antwort darauf ist – das Messiastum – das Welterlösungsziel. Die polnische Literatur, Philosophie und Poesie sind messianistisch, und darum, weil alle Dichtungen Garczyńskis dieses Merkmal an sich tragen, haben wir in ihm den größten der polnischen Dichter erkannt. Zaleski verdankt auch die schönsten Erhebungen in seinen Werken dem Hauch des Messianismus, welcher in den Gedichten „Duch od Stepu“ (Der Geist aus der Steppe) und „Przenajświętsza Rodzina“ (Die allerheiligste Familie) atmet.491 Lassen sie uns jetzt zur philosophischen Frage zurückkehren; denn wir haben gesehen, daß auch die Philosophie ihrerseits mit dem Messiastum schließt. Was soll man hierunter verstehen? Welches Recht hat Polen, die Rolle der Welterlösung zu übernehmen, und was wird deren Charakter sein? Wir haben schon das System des philosophisch-mathematischen Werkes, welches eben unter dem Titel: „Polen in der russo-slavischen Apostasie und in der gallo-kosmopolitischen Apotheose“ erschien, auseinandergesetzt. Wenngleich dieser Titel sonderbar erscheinen mag, so liegt in ihm doch ein tiefer Gedanke. Wir haben die Theorie der Ausscheidung (Elimination) erklärt. Die drei Hauptpunkte der Philosophie, deren Keime wir in den Dichtungen, in der Geschichte und in den Schriften der polnischen Staatsmänner gefunden, sind folgende: Zuerst die Notwendigkeit des Opfers. Man kann nicht nur keine Tat, sondern sogar auch keine fruchtbare Geistesarbeit unternehmen, ohne irgendein Opfer zu bringen; dies ist die von der Gesamtheit der ausgezeichnetsten und volkstümlichsten polnischen Schriftsteller anerkannte und angenommene Grundwahrheit. Zweitens die christliche Sendung des Polenvolks; die Notwendigkeit seines Todes und seiner Wiedergeburt. Drittens die Allgemeinheit in diesem Messianismus, der allgemeine Endzweck seines Strebens.

491 Bohdan Zaleski (1802–1886). Vgl. Poezje Bohdana Zaleskiego. Hrsg. Edward Raczyński. Tom  1–2. Poznań 1841–1842; J.  B.  Zaleski: Wybór poezyj. Wstęp Barbara StelmaszczykŚwiontek. Wybór, komentarz Cecylia Gajkowska. Wrocław 1985; J.B. Zaleski: Wybór poezji. Hrsg. Aleksandra Wojda. Kraków 2003.

980

Teil II

Unter den ausländischen Philosophen haben sich nur allein die katholischen mit Auseinandersetzung dessen, was das Opfer sei, beschäftigt. Wir haben schon von der leeren Theorie Hegels gesprochen. Die erhabenste und tiefste hat Franz von Baader geschaffen; von ihr werden wir einige Worte sagen. Nach Baader492 kann sich alles, was da atmet, handelt, lebt, unmöglich mit etwas anderem ernähren, als mit dem Leben. Die verfaulte Pflanze, das tote Tier dient nicht als Nahrung. Ebenso der Mensch, der natürlichen Todes stirbt, d.h. ein Mensch, welcher sein ganzes Leben im Schonen und Entwickeln seines Daseins zugebracht, zu dem Endpunkt angelangt, wo seine Individualität durch die Universalität verschlungen wird, solch ein Mensch bedeutet nichts im Leben des Allgemeinen. Wenn er aber noch in der Blüte seiner Kraft, in der Fülle seines Lebens sich aufopfert, dieses Leben der Gesellschaft zum Heile hingibt, dann wird das, was in ihm übrig blieb, was ihn viele Jahre hindurch belebt hätte, ein Erwerb der Gesellschaft; es tritt in Verbindung mit ihren Kräften, führt ihr frisches, sittliches Leben zu. Baader findet diesen sittlichen Einfluß des Opfers nicht in der öffentlichen Meinung, nicht in dem Ruf, welchen ein großes Opfer verbreitet, sondern in einer ganz unmittelbaren, realen und wahren Wirkung, man kann sagen, in einem Hineinströmen einer viel tätigeren und mächtigeren Gewalt, als die Elektrizität und der Magnetismus ist. Die Theorie der polnischen Philosophen493 ist anders. Sie folgern die Notwendigkeit des Opfers auf diese Weise. Aller Zwist und Hader unter den Menschen und Völkern haben ihren Ursprung in der Eigenliebe. Das Ich und die Eigenliebe des Einen kämpft mit dem Ich und der Eigenliebe des Anderen. In solchem Fall muß man die Wahrheit finden. Wie aber kann man sie finden, ohne zuvor auf Egoismus und Persönlichkeit Verzicht zu leisten? Um also das Gerechte von dem Ungerechten in einem Streit zu unterscheiden, muß man seine eigne Sache, seine Persönlichkeit, sein Ich bei Seite setzen. Das Volk drückt dies durch ein gewöhnliches Sprichwort aus: Niemand kann in seiner eignen Sache Richter sein, er kann darüber kein Urteil fällen, bis er vergißt, daß sie seine eigne sei. Vom Erlöser und den Märtyrern an gerechnet, befestigte sich auch das Christentum ganz ohne Rücksicht auf irgendwelche Beziehungen zwischen seiner Lehre und den Interessen der zeitlichen Macht. Aber das in der großen Gesellschaft, die wir Kirche nennen, eingeführte Christentum wird noch von keiner Nationalität geehrt. Wir haben die von unserem Philosophen bezeichneten Merkmale der europäischen Nationalitäten kennen gelernt; die von ihm anerkannte 492 Vgl. Vom Segen und Fluch der Creatur. Drei Sendschreiben von Franz Baader an Herrn Professor Görres. Straßburg 1826. 493 Antoni Bukaty (op. cit.).

32. Vorlesung (28. Juni 1842)

981

Bestimmung Polens stützt sich besonders darauf, daß Polen die Taufe mit einem Male angenommen hat; seine Bekehrung war keine Reihe einzelner Bekehrungen, sondern ein gleichzeitiger Akt, Polen hat als Volk das Christentum angenommen, und als Nation es ins Leben eingeführt; daher hat es auch als Nation den Beruf, selbiges weiter zu entwickeln. Zum ersten Male wird die Frage über die Bestimmung der Völker zu einer Aufgabe der Philosophie unserer Zeit. Es verdient beachtet zu werden, daß der Protestantismus, der die geistliche Macht der weltlichen geopfert, die Bestimmung der Völker verleugnet hat; immer sprach er ihnen die Gemeinschaft des christlichen Lebens ab. Die innere Arbeit des Volkes, die diese poetischen Funken und philosophischen Theorien erzeugt, muß ungemein tief gewesen sein, da die Werke seiner einzelnen Glieder gleichsam wie aus Versehen so große Fragen berührten, und mit dem, was das Tiefste in der heutigen Philosophie ist, zusammenfließen. So z.B. verwirft Buchez494, der sich an die logische Methode haltende katholische Philosoph, die Lehre von der individuellen Glückseligkeit. Seiner Ansicht nach hat der Christ die Pflicht, seinen Nächsten zu erlösen, und indem er diesen Lehrsatz auf alle Nächsten überhaupt ausdehnt, umfaßt er die ganze Menschheit. Die polnische Philosophie verfolgt dasselbe Ziel, nur muß ihr zufolge der menschliche Geist zuvor, wie wir schon gezeigt haben, die Nationalität durchdringen, ehe er zur Allgemeinheit gelangt, und hieraus entspringt der Grundsatz des Bedürfnisses, die Landsleute zu erlösen. Peter Leroux495 erkannte die Notwendigkeit, die Politik auf religiöse Grundlagen zu stützen. Er sagt, Frankreich sei nicht nur eine Nation in der heidnischen Bedeutung des Wortes, sondern es sei die Religion. Lange vor ihm haben schon die polnischen Dichter und Philosophen dasselbe gesagt, indem sie jedoch Polen nicht als Religion vorstellten, sondern behaupteten, seine politische Frage müsse die Lösung aller übrigen politischen und religiösen Aufgaben nach sich ziehen. Schelling496 endlich, der größte der deutschen Philosophen, verkündet jetzt in Berlin seine lange Zeit geheim gehaltene Lehre, deren Wurzeln wir in den 494 Philippe Joseph Buchez (1796–1865). Vgl. sein Werk: Essai d’un traité complet de philosophie, du point de vue du catholicisme et du progrès. Paris 1838–1840 (3 Bände). 495 Pierre Leroux (1797–1871); zunächst Anhänger von Henri Saint-Simon, gründet mit George Sand die „Revue Indépendante“. Vgl. seine Aufsätze „Aux politiques. De la politique sociale er religieuse qui convient à notré époque“, in: La Revue Indépendante. Paris 1842, Bd. 2, S. 5–56, 60–143, 299–336; auch in: Pierre Leroux: Aux philosophes, aux artistes, aux politiques. Paris 1994; vgl. ferner: Bruno Viard: Pierre Leroux, penseur de l’humanité. Cabris (Sulliver) 2009. 496 Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling (1775–1854); F.W.J.  Schelling: Philosophie der Offenbarung. 1841/1842. Hg. Manfred Frank. Frankfurt am Main 1977, S.  87–325. Mic­ kiewiczs Rekurs auf Schelling, dessen „Philosophie der Offenbarung“ er nicht kannte,

982

Teil II

polnischen Dichtern finden. Er behauptet, das Christentum habe bis jetzt nur zwei Zustände, zwei Zeiträume seines Wirkens durchlebt. Der erste dieser Zeiträume war, wie er ihn nennt, die Epoche des Heiligen Petrus, d.h. die Zeit eines starken, selbstständigen synthetischen Glaubens, die bis zum 6. oder 7. Jahrhundert dauerte. Nach ihr ist die Epoche des Heiligen Paulus gekommen, die Zeiten des Streitens und der Doktrinen, welche die übrigen Jahrhunderte des Mittelalters bis zum Protestantismus umfaßt. Jetzt aber, sagt Schelling, werden wir die herankommende Epoche des Heiligen Johannes erblicken, die der Begeisterung und der Liebe. Erst etliche Monate sind es, seitdem diese Lehre ausgesprochen wurde; allen aber ist es bekannt, daß der berühmte Verfasser des Dramas „Irydion“497 sie schon poetisch und in Symbolen entwickelt hat. Pierre Leroux spricht dem Erlöser die Göttlichkeit498 ab, glaubt gar nicht an seine Auferstehung, erkennt aber dennoch der Lehre göttlichen Charakter zu. Wir wollen hier nicht auseinandersetzen, was in der Theorie von Leroux Falsches enthalten. Verwirft er die Auferstehung, so muß er auch das Evangelium verwerfen. Der Heilige Paulus gibt ihm in folgenden Worten ein furchtbares Dilemma: „Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist unsere Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich.“ (1. Korinther 15:14) Die Göttlichkeit des Christentums sieht aber Leroux in dem, was er Exaltation nennt. Erinnern wir uns jetzt an das, was wir von der Exaltation gesprochen haben. Haben wir denn nicht gesehen, daß sie die einzige Springfeder in der ganzen Geschichte stammt allerdings aus dem Aufsatz von Pierre Leroux „Du Christianisme“, in: La Revue Indépendante, 1842, Band III (juin), S. 585: „Il croit que ce Christianisne doit avoir trois phases successives de développement, et que deux de ces phases seulement sont accomplies. La première phase constitue l’ère catholique, et répond à S. Pierre; la seconde constitue l’ère protestante, et répond à S. Paul. Suivant Schelling, le Christianisme de S. Jean devrait maintenant commencer.“; ferner kannte Mickiewicz auch den umfangreichen Aufsatz von P. Laroux: „Du cours de la philosophie de Schelling“, in: La Revue Indépendante, 1842, Band III (Livraison de Mai), S. 291–348; ferner – Carl Ludwig Michelet: Entwicklunsggeschichte der neuesten Deutschen Philosophie mit besonderer Rücksicht auf den gegenwärtigen Kampf Schellings mit der Hegelschen Schule. Berlin 1843, 9.–10. Vorlesung, S. 155–218; vgl. auch Mickiewiczs 17. und 18. Vorlesung (Teil III). 497 Zygmunt Krasiński (1812–1859). [Z.  Krasiński]: Irydion. Paryż 1836; dt. Übersetzung – Z. Krasiński: Irydion. Deutsch von Albert Weiss. Leipzig 1881; auf Schelling wurde er durch seinen englischen Freund Henry Reeve (1813–1895) aufmerksam gemacht. Intensives Schelling-Studium erfolgte dann 1835 in Wien – vgl. Małgorzata Gerber: Zygmunt Krasiński und die Schweiz. Die helvetischen Eindrücke im Leben und Schaffen des Dichters. Berlin u.a. 2003 (= Studia Helvetica, Bd. 74), S. 42. 498 Vgl. P. Laroux „Du Christianisme“, op. cit., S. 607: „Le Verbe a parlé en Jésus, c’est-à-dire dans l’humanité et avec l’intervenstion de l’humanité, comme le comportait la condition de l’humanité à cette époque: voilá la vérite. Mais le Verbe est Jésus, voilà l’erreur.“

32. Vorlesung (28. Juni 1842)

983

Polens gewesen, daß alle Polen in den großen Zeiten des Wirkens nichts anders als Exaltierte waren? Also auch nach der Theorie der Ausländer muß man dem polnischen Volke dieses göttliche Merkmal zuerkennen, das erst die Philosophie endlich in der wahren Exaltation erblickt hat. Jetzt bleibt zu erörtern übrig, von welcher Natur der verkündete und von der slavo-polnischen Philosophie und Literatur als volkstümlich aufgefasster Messianismus sein werde. Sollen wir etwa in Polen den Aufgang einer neuen philosophischen Schule erblicken? Sollen wir hoffen, dem Westen eine Doktrin zu bringen? Oder soll man glauben, dieses Volk sei berufen, den Inhalt seiner Gedanken und Gefühle in einigen Worten zusammenzufassen? Keineswegs – nicht dieses ist die Bestimmung des polnischen Volkes. Im Altertum hat Griechenland mehrere Meinungen erzeugt, erfunden und verbreitet. Rom hat einige davon angenommen und in wirklich praktische Schulen verwandelt. Die Römer haben einen wahreren und stolzeren Stoizismus gezeigt, als Zeno selbst; die römischen Prokonsuln und Dichter waren vollendetere Epikuräer als Epikur selbst, und doch haben diese Meinungen und Schulen nichts gegründet. Das Volk Israel dagegen hatte keinen Beruf, mit Doktrinen in Rom und Athen aufzutreten; es war nicht seine Sendung, Schulen zu bilden, es zeugte nur den Menschensohn. Aus Doktrinen kommt nichts: die Doktrin ist nur die Denkungsart eines Menschen. Die Schulen dauern nicht lange: die Schule ist ja nur die Denkungsart eines mehr oder weniger zahlreichen Menschenkreises. Hat sich nur irgendeine Doktrin formuliert, so ist sie schon ein lebloses Ding. Ein Wesen aber, das nicht formuliert werden kann, das ausharrend, lebend und tätig ist, das ist der Mensch selber, das einverleibte Wort. Solch einen Menschen verkündigen und erwarten die oben erwähnten Dichter, einen Menschen, Który śród głosów mylnych, śród wrzasków tysiąca, Uchem duszy rozpozna przeznaczeń kół grzmienie, Wskoczy w rydwan wyroków i zajmie siedzenie, I po czasie przejedzie jako Przeznaczenie!499 Der mitten unter falschen Stimmen, unter tausenden Schreien Mit dem Ohr der Seele die Bestimmung der donnernden Schicksalsräder erkennt, Springt in den Schicksalswagen, nimmt den Sitz ein, Und fährt über die Zeit hin, wie das Schicksal.

499 Stefan Garczyński, op. cit., tom I, S. 102–103 (obraz czwarty).

984

Teil II

Wir bedauern, hier keine Auszüge aus den Schriften des tschechischen Philosophen Amerling500 geben zu können, der durch tiefe Naturforschung zu den nämlichen Resultaten gelangt ist. Amerling erkannte bei seinen Untersuchungen über den Urkeim der slavischen Nationalität, wie er sagt, die Notwendigkeit eines neuen volkstümlichen Berufs, die Notwendigkeit eines Menschenvolks.

500 Karel Amerling (1807–1884). Vgl seine Aufsätze „Člowěk, weliká pohádka“. In: Wlastimil. Přjtel oswěty a zábawy. 1840; vgl. Eva Hoffmannová: Karel Slavoj Amerling. Praha 1982.

33. Vorlesung (1. Juli 1842) Die Idee des polnischen Messianismus; das slavische Problem ist gleichzeitig ein europäisches – Kern der Geschichte slavischer Völker unter Berücksichtigung des Volksgeistes einer jeden Nation – Der russische Ton – Der polnische Ton, seit dem Mittelalter geschwächt – Der Napoleonische Ton ist höher als der russische – Unterschied zwischen der Hoffnung, welche die Philosophie des Westens zeigt, und der Hoffnung der Polen – Welche Fragen wird der polnische Messianismus lösen? – Weissagungen der Dichter. Prophetische Worte Brodzińskis.

Die durch die polnische Philosophie gesetzte Aufgabe des Messianismus501 ist eine slavische und zugleich eine europäische. Die russische Philosophie hat bis jetzt noch nichts hervorgebracht. Denn, wenn sie dem Volk Macht und materielles Wohl verspricht, so ahmt sie nur hierin die Sprache aller Regierungen nach. Einige Publizisten, über die allgemeine Schwächung der Staatsgewalten in Europa entsetzt, führen alle Ideen des Materialismus zu dem gemeinschaftlichen Mittelpunkt derselben, nämlich zu der in Rußland herrschenden Macht zurück; dies ist der einzige urtümliche Punkt der politischen Philosophie Rußlands. Sie trachtet, alles zu beherrschen, was nur irgend Materielles in Europa sich vorfindet, sie möchte gern alle Ideen der Schule des 18. Jahrhunderts und der jetzigen, auf Materialismus gestützten verschlingen. Das tschechische Wissen ist bis zu dem Punkte gedrungen, die Notwendigkeit einer volkstümlichen Sendung anzuerkennen, und dabei stehen geblieben. Die Polen haben seit dem l6. Jahrhundert diese Notwendigkeit undeutlich geahnt; die Dichter haben sie später als einen Wunsch ausgesprochen Als sie nun immer mehr ans Licht kam und, man kann sagen, schon handgreiflich ward, wurde sie von den Philosophen in Formeln gefaßt. Sie ist die Idee des Messianismus, auf einen Mann bezogen. Das polnische Messiastum erkennt seinem Volk die Sendung zu, die ein Mann repräsentieren soll. Um jetzt den Charakter dieser Welterlösung und die Rollen, welche in diesem großen Drama nach den Vorstellungen der Polen die anderen Nationen spielen werden, zu verstehen, wollen wir noch einmal in Kürze die von allen politischen Formeln schon abgesonderte Geschichte der Slaven zusammenfassen; wir werden hierbei nur dem volkstümlichen Geist dieser Völker unsere Aufmerksamkeit zuwenden. 501 Vgl. Andrzej Walicki: Mesjanizm Adama Mickiewicza w perspektywie porównawczej. Warszawa 2006; Jana-Katharina Mende: Das Konzept des Messianismus in der polnischen, französischen und deutschen Literatur der Romantik. Heidelberg 2020.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_075

986

Teil II

Wir wissen schon, daß dem slavischen Dogma und unserer Philosophie zufolge die Geister einzelner Menschen oder ganzer Völker sich durch nichts weiter unterscheiden, als durch die Stufe ihrer Entwicklung. Diese Entfaltung hängt von ihrem Willen ab, trifft aber auch oft auf günstige oder feindliche Umstände. Der Geist des tschechischen Volkes ward zuerst durch den Einfluß Europas berührt und von der intellektuellen Seite her angeregt; wir betrachten nämlich die Intelligenz immer nur als eines der Seelenorgane. Dieses Organ entwickelte sich bei den Tschechen überwiegend und anormal und schwächte die anderen Seelenkräfte. Sie haben ihr Leben zu früh aufgeweckt durch die Hussiten und andere Sekten, in den Kämpfen wider Europa verbraucht, und sind erlegen. Sie büßten ihre Fehler durch harte Unglücksfälle und ergaben sich zuerst ihrem Schicksal, sie sind die Ersten, die auf den Nationalegoismus verzichteten, von der Prahlerei abließen; ihre Magnaten hätten dem deutschen Kaisertum Monarchen gegeben, sie bemühten sich, die Grenzen zu verwischen, die ihre Volkstümlichkeit von der polnischen und russischen trennten. Zum Lohn für diese edle Uneigennützigkeit, für diese Aufopferung des Selbstgefühls ist ihnen die Ehre zu Teil geworden, daß sie im slavischen Wissen den Reigen führen, und daß ihnen von den Polen und Russen der Altersvorrang in der wissenschaftlichen Sphäre zugestanden wird. Der Geist der Völker der alten Rus’, in eine härtere Organisation gebannt, und lange Zeit unter dem Einfluss bald der Hunnen, bald der Normannen, bald anderer Völker niedergehalten, vermochte nicht frei zu werden. Die alte Rus’, stets in unabhängigen Gemeinden und in Fürstentümern, die nur wenig von Novogrod und Kiev abhingen, verbleibend, hatte kein politisches Dasein. Um es aus diesem Schlaf zu erwecken, um seinen Geist zu lösen, schickte die Vorsehung ihm den Schrecken, die Mongolen, zu. Dschingis-Khan, der zur slavischen Geschichte, folglich auch zur europäischen, gehört, kam in dieses Gebiet, um seine furchtbare Sendung zu erfüllen. Nach vielen Tagen und Nächten der Beratung mit Geistern in Fasten und Gebet stieg er von den Höhen der asiatischen Berge herab, erklärte sich zur Rache des Himmels bestimmt und ließ das gräßliche, tatarische „Hałła“502 erdröhnen, vor welchem zwei Weltteile erbebten.

502 „isz Hala = iż Hałła – Rufwort des osmanischen oder tatarischen Soldaten < osm. (ar.) inşallah – so Gott will, gebe es Gott; hoffentlich!“ – Stanisław Stachowski: Osmanischtürkische und tatarische Lehnwörter im Polnischen und ihre Bedeutung für die türkische Wortgeschichte. In: Laut- und Wortgeschichte der Turksprachen. Hrsg. Barbara KellnerHeinkele und Marek Stachowski. Wiesbaden 1995, S. 164.

33. Vorlesung (1. Juli 1842)

987

Man weiß aus der Geschichte seiner Einbrüche, welch Grausen dazumal alle Gemüter befiel. Man kann sagen, daß der mongolische Ton etwas in sich hatte, was alle Fassung und Kraft benahm, was in Starrheit versetzte. Die Waffen entsanken den Händen der Krieger, die Könige flüchteten weit weg, um das tatarische Kampfgeheul nicht zu hören. Die moskovitischen Großfürsten, lange unter das Mongolenjoch gebeugt, lernten ihnen zuletzt diesen Ton ab, und als sie nun selber „Hałła“ ausriefen, da erbebten zuerst das Fürstentum Moskva, dann die Nachbarlande. Und das gerade ist es, was wir den russischen Ton genannt. Wir werden uns sogleich bemühen, den polnischen Ton darzustellen; denn nicht die Worte sind es, die auf das Volk Eindruck machen, nicht der Sinn irgendeines Ausdrucks, sondern der Geist, in dem sie gesprochen. Der Geist ist hier der innere Gehalt und der Ton gibt ihm den Körper, das Leben. Das allgemein bekannte Sprichwort sagt: der Ton mache das Lied aus (c’est le ton, qui fait la chanson). Dieselben Worte, die vom Feldherrn an das Heer gesprochen hoch aufgenommen wurden, erscheinen lächerlich im Munde eines Kindes. Der Ton ist also das Wesen der Sache, das Leben. Man kann ihn nicht anderswoher als lediglich aus dem Geiste, der ein höheres Leben hat als der, welchen er beherrschen will, ertönen lassen. Einen solchen Ton hatte Dschingis-Khan und die russischen Großfürsten haben ihm denselben abgelernt. Möge es uns erlaubt sein, zur bessern Erläuterung dessen, was wir unter diesem Tone verstehen, eine unbedeutende Anekdote anzuführen, die jedoch unsere Frage aufhellen kann. Während des Rückzuges der russischen Heere im Jahre 1812 lag ein russischer Offizier erkrankt in einem Haus an der Straße. Eine Abteilung der Garde überfiel das Haus und fing an zu plündern. Der Eigentümer wendete sich an den Offizier mit der Bitte um Schutz, der auch sogleich den Befehl erteilt, vom Rauben abzulassen; die Soldaten indessen spotteten darüber. Da sagte der Offizier zum Wirt, er möge ihn mit dem Bett ans Fenster rücken und indem er seinen Kopf hinaussteckte, ließ er nur einen Ruf hören; er brachte aus dem Grund seiner Seele den von den russischen Großfürsten geerbten Ton hervor, den sie gleichsam ihren Untergebenen eingießen. Alle Soldaten, die ihn vernahmen, erstarrten vor Angst und wandelten sich in gehorsame Maschinen um. Er rief einen nach dem anderen herbei, schlug sie mit ohnmächtiger Hand, verbot ihnen, sich zu entfernen und sie standen wie angemauert vor seinem Bett. Die übrigen Soldaten dagegen, von seiner Stimme nicht erreicht, setzten ihre Plünderung fort. Die polnische Sprache, unter der sanften Wärme des Christentums entfaltet, hatte einen anderen Klang. In dem Ton der Polen befand sich etwas Ähnliches wie in dem der französischen Monarchie des Mittelalters, wie im Ton der

988

Teil II

Ritterzeiten. Aber das Mittelalter ward in seinem Lauf aufgehalten und Europa hatte eine andere Richtung genommen. Der christliche Ton begann sich zu schwächen und mit ihm zugleich auch der polnische. Die Polen haben ihn immer lebendig bewahrt; aber sie hatten nicht mehr Kraft genug, ihn bis zur hohen Macht des russischen zu stimmen. Noch jetzt erzählen die russischen Soldaten gleichsam zum Spott, wie der polnische Offizier sich vor der Front verneige und seine Soldaten ersuche, sie möchten doch so gnädig sein, Feuer zu geben. Sie haben nicht Unrecht, denn die Wahrheit, würde jemand mit ihrer ganzen Offenheit auftreten, müßte einen ebenso gewaltigen Eindruck machen wie der Zorn. Die Wahrheit und Liebe können allerdings so viel wirken, wie Zorn und Haß. Wir haben früher den Ton Deržavins mit dem der zeitgenössischen polnischen Dichter verglichen und eine Überlegenheit im Ton des russischen Schriftstellers gesehen.503 Ebenso haben wir den Ton Suvorovs mit dem seines glanzvollen Gegners Kościuszko verglichen.504 Unter allen polnischen Dichtern läßt sich diese russische Energie, diese gleichsam mit Entsetzen packende Kraft nur in dem Heldengedicht des bekannten Patrioten und berühmten Schriftstellers Goszczyński wahrnehmen.505 Daher sagten wir, daß, was seinen Ton betreffe, er eigentlich mehr Rußland angehöre, wobei aber seine patriotischen Neigungen und Begebenheiten, die er besingt, nicht berücksichtigt wurden. Bei einer solchen Schwächung Polens, als Europa nichts gegen Rußland zu stellen hatte, erschien Napoleon und gab einen kräftigeren Ton als der russische. Es war dies ein Ton des von seiner irdischen Hülle durch Enthusiasmus freigewordenen Geistes. Polen verstand diesen Laut, ermannte sich, lebte neu auf. Dieser Laut war es, dem die polnischen Bataillone folgten, vermittelst desselben waren Polen und die andern slavischen Lander an die Person Napoleons so unzertrennlich gefesselt. Öfters schon war man im Stande, die drohenden Regungen der russischen Monarchen nachzumachen. Die Generale und Offiziere Rußlands bemühten sich, die krächzende und in der Tat etwas schauerliche Stimme des Hauses Romanov nachzuahmen. Man beschrieb öfters den Eindruck, welchen die Stimme einiger Schreckensmänner auf die Zuhörer machte, z.B. eines Georges Couthon oder Jean Marat506, der nach Art der Klapperschlange zischend und 503 Vgl. 12.–13. Vorlesung und 19. Vorlesung (Teil II). 504 Vgl. 22. Vorlesung (Teil II). 505 Seweryn Goszczyński: Zamek Kaniowski (Das Schloß von Kaniów). Warszawa 1820; vgl. 5. Vorlesung (Teil III). 506 Georges Couthon (1755–1794), französischer Revolutionär; zusammen mit Robespierre Mitverfasser des sog. Schreckensgesetzes vom 22. Prairial, das die letzte Phase der

33. Vorlesung (1. Juli 1842)

989

durchdringend war. Aber in der Stimme Napoleons war dem nichts Ähnliches, war nichts Krächzendes und nichts Zischendes. Eine Stimme wie die seinige hatte noch niemand vernommen. Es war dies die Stimme, wie wir schon gesagt haben, eines vom Körper völlig unabhängigen Geistes. Während also im Slaventum keine Kraft sich fand, um Rußland die Waage zu halten, und man sie anderswo suchen mußte, d.h. während der Enthusiasmus der Polen und Tschechen nicht genug Kraft besaß, um ein Reich zu stürzen, welches der Schrecken in Rußland aufgebaut, kam, um diese Macht des Schreckens erbeben zu machen, der Enthusiast aus dem Abendland. Kehren wir jetzt zur Frage über den Messianismus zurück. Wir wissen bereits, daß das poetische und literarische Polen, welches als Organ des politischen Polens betrachtet werden kann, eine neue Epoche, einen neuen Zustand der Dinge erwartet. Der ungeheure Unterschied zwischen der polnischen und allen Philosophien des Westens in dieser Hinsicht beruht, wie wir kürzlich gesagt, darin, daß die europäische Philosophie vermeint, die Fortschritte in der Aufklärung, das Aufkommen irgendeiner neuen Doktrin, die Verbreitung gewisser Ansichten würden einen glücklichen Erfolg herbeiführen: Polen behauptet dagegen, nichts anderes könne denselben hervorbringen, als das Erscheinen eines Mannes, einer alles umfassenden Persönlichkeit. Wir müssen diese beiden Systeme vergleichen und sehen, welches von ihnen, philosophisch betrachtet, mehr durch Vernunftgründe unterstützt wird, die meiste Wahrscheinlichkeit für sich hat. Wir haben schon gesagt, daß alle Lehrsätze schnell vorüberwandeln, daß sie bald nach ihrer Aufstellung als unzureichend sich zeigen und verworfen werden. Wir wollen noch hinzufügen, daß in der Geschichte sich bis jetzt kein Beispiel von einer Verbesserung, von irgendeiner verbesserten Institution, einer wirklichen Reform findet, die durch eine Meinung entstanden wäre. Wir sprechen hier nicht von Protestationen und Verneinungen, sondern von Reformen, die etwas Positives bringen. Es gibt daher aus keiner Zeit ein Beispiel von Reformen dieser oder jener Schule, solcher oder anderer Lehre, welche die Menschheit dem wissenschaftlichen Fortschritt der Aufklärung zu verdanken hätte. Indessen ist die wichtigste und allgemeinste Einrichtung, das Christentum, aus einer besonderen Volkstümlichkeit hervorgegangen, in einem

Schreckensherrschaft (Grande Terreur) einleitete; beide wurden schließlich auch guillotiniert. Jean Marat (1743–1793), französischer Naturwissenschaftler und Politiker während der Französischen Revolution; vgl. das 1964 uraufgeführte Drama von – Peter Weiss: Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats. Drama in zwei Akten. Mit einem Kommentar von Arnd Beise. Frankfurt am Main 2004.

990

Teil II

göttlichen Menschen sich offenbarend. Dies also, was uns die Geschichte lehrt, spricht für die polnische Idee. Einige französische Philosophen, darunter auch Pierre Leroux, hegen die Hoffnung, daß die Bekanntschaft mit der Philosophie der Inder, und überhaupt der Völker des Morgenlandes endlich für Europa das so lange gesuchte Wort des Rätsels geben wird. Die Zeit der Wiedergeburt, sagt Leroux, vernichtete das Mittelalter; die indische Philosophie, sobald ihre tiefen Mythen erkannt, wird das Christentum oder wenigstens das, was in ihm Menschliches sich vorfindet, vertilgen.507 Diese Philosophen heißen also die Welt wer weiß wie viel Jahrhunderte auf die stufenartige Entwicklung warten, bis endlich die Lösung kommen wird, zu der wir jedoch gar keinen Keim sehen. Und nichts ist wiederum schwieriger, als die Notwendigkeit der Sendung einer Person zu beweisen; jede Waffe einer auf Allgemeinheit Anspruch machenden Logik muß sich hier an jeder der besonderen Logiken brechen; denn nichts beleidigt so sehr den menschlichen Stolz als die Pflicht, in seinem Nächsten einen Höheren anzuerkennen. Seit der Zeit des Mittelalters strebten alle Philosophien, alle Lehrbegriffe nur zum Umsturz großer Individualitäten auf Erden, und sogar im Reich der Erkenntnis, bedeutungsvoll sind die Worte Baaders508: Calvin habe durch das Leugnen der wirklichen Gegenwart Gottes im Sakrament eine Guillotine erfunden; denn er habe in Gedanken das Haupt der Kirche abgehauen und somit eine kopflose Regierung hingestellt. Für den Stolz eines jeden wäre es am angenehmsten, sich in einem hauptlosen Land zu befinden. Alle sind darüber einig, daß die Anführung des Heeres einem einzigen Führer anvertraut werden muß, und niemand mehr der Ansicht, der Kampf könne gelingen, ohne daß ein einziger Wille das Steuer führe; allgemein bekannt ist, daß kein Kunstwerk ohne Meister zu Stande kommt, daß kein Orchester ein Konzert spielen kann, ohne die Winke des Dirigenten zu beachten; und dennoch dauert die Meinung mit Hartnäckigkeit fort, es könne das größte Problem der Menschheit, das politische, das gesellschaftliche Problem durch eine Masse ohne Haupt, d.h. durch eine Menge zerstreuter Individuen, die kein Höchstes über sich haben, gelöst und verwirklicht werden. Augenscheinlich stammt dieses Mißtrauen gegen die Einzelnen hauptsächlich aus der bisherigen Untauglichkeit; unheilschwanger aber wäre es, dieses als Regel anzunehmen. 507 Vgl. Pierre Laroux: Du Christianisme. In: Le Revue Indépendante, Paris 1842, tome troisième, S. 577–691; auch in: P. Leroux: Du Christianisme et de son origine démocratique. Boussac 1848, S. 18–19. 508 In der Anhandlung von Franz von Baader: Vom Segen und Fluch der Creatur. Straßburg 1826, ist diese Äußerung von Calvin nicht zu finden; vgl. S. 46–47.

33. Vorlesung (1. Juli 1842)

991

Was ist im Grunde dies Zaudern, diese Ungewißheit der Massen, die weder wissen, wie, noch wohin sie ihre Politik lenken, oder auf welchen Ideen sie ihre Philosophie beruhen lassen sollen? Dieses Schwanken, diese Ungewißheit beweist, daß die Einzelnen dieser Masse noch nicht die Stufe der geistigen Entwicklung erreicht haben, die ihnen die Vorsehung bestimmt hat, daß noch keiner dieser Geister die höhere Wahrheit zu begreifen vermochte, welche eine gemeinsame Wahrheit für alle werden sollte. Woher kann diese Wahrheit kommen, wenn nicht von einem dazu erkorenen, einem über der ganzen Menschheit stehenden Geist. Wir glauben also, daß die polnische Philosophie und Literatur ein großes Recht habe, sich auf dieses Dogma zu stützen, und wie einst die Propheten Israels und sogar der Römer und Griechen auf die Erscheinung eines Vermittlers für die ganze Menschheit zu hoffen. Wir glauben, daß diese Ansicht die vernünftigste von allen sei und mit dem Schwert der Logik verteidigt werden könne. Welches werden nun die Bedingungen dieses Messianismus sein? Soll er nur Polen betreffen? Nein. Die polnischen Dichter und Philosophen sprechen ihm eine größere Rolle zu. Seine erste Bestimmung ist, die ganze slavische Frage zu entscheiden. Die von uns oben zur Untersuchung gezogenen Philosophen irren darin, wenn sie hoffen, daß diese Epoche Rußland seinen Untergang bringen wird, und zu verstehen geben, Rußland würde eine polnische Provinz werden. Die Dichter scheinen die Zukunft besser zu erraten. Nach ihnen sind „Eroberungen“ und „Provinzen“ aus dem Heidentum entlehnte Wörter und müssen aus dem Wörterbuch der künftigen Zeiten verschwinden. Gemäß der Ansicht der Polen soll also auch Rußland groß und glanzvoll sein, aber nach neuen Ideen eingerichtet. Es folgt dann eine zweite, sehr wichtige Aufgabe, mit der sich die polnische Philosophie beschäftigt. Der Messianismus soll auch die älteste, die schwierigste von allen Fragen, die des Volkes Israel entscheiden. Nicht ohne Grund wählte dieses Volk Polen zu seinem zweiten Vaterland. Das geistvollste unter allen Völkern auf Erden ist wohl fähig zu begreifen, was das Erhabenste in der Menschheit ist; allein bis dahin auf dem Weg seines Fortschrittes aufgehalten, hat es, indem es nirgends ein Ende der durch die Vorsehung ihm gegebenen Versprechungen ersehen kann, die Kräfte seines Geistes auf irdischen Wegen zersplittert und ist herabgesunken. Dessenungeachtet ließ es nicht ab, seinen Messias zu erwarten; und dieser Glaube ist wahrscheinlich nicht ohne Einfluß auf den polnischen Messianismus gewesen. Diese zwei Fragen fließen ineinander. Sowie man viele von den polnischen Schriftstellern einst in die Reihe der tschechischen, der südslavischen oder der russischen zählen wird, so gibt es auch einige, die gewissermaßen der israelitischen Poesie angehören. Unter

992

Teil II

den polnischen Israeliten ist sogar ein Dichter, der polnisch schrieb.509 Vergeblich suchte man bis jetzt die Sache dieses Volkes mit der Polens zu verbinden, indem man ihm Eigentum des Bodens und einen bessern materiellen Zustand versprach. Konnte aber dieses Volk die vielen Jahrhunderte erduldeten Elendes, seine ruhmvolle Vergangenheit für ein Stückchen Land verkaufen? Welch ein Unglück wäre dieses für die Welt, wenn der letzte Überrest dieses altertümlichen Geschlechts, des einzigen, das niemals an der Vorsehung gezweifelt, in Abtrünnigkeit verfiele! Eine dritte, sehr gewichtvolle Frage ist mit der polnischen verknüpft. Als wir die Geschichte dieses Landes erforschten, zeigten wir, welches Band sein Schicksal mit dem Geschick Frankreichs verbindet. Wir sahen heute, was in dem Auftreten Napoleons unerläßlich für die Slaven war. Das Slaventum, der ganze weite Norden trat durch Polen bei dessen Verbindung mit Napoleon in die Ehe, wie Brodziński sich ausdrückt, „des mächtigsten Genius mit der unglücklichsten Nation“ („największego mocarza i narodu najnieszczęśliwego“).510 Der polnische Messianismus kann von einer europäischen Bewegung nicht abgeschlossen sein, er kann Frankreich nicht unberührt lassen. Wir haben schon früher dargetan, warum und auf welche Weise die ganze Macht der Zukunft in Frankreich ruht. Dies Messiastum muß daher im Angesicht des Westens sein Wissen, seine Kraft und Weisheit beweisen. Wir fügen noch eine Bemerkung aus dem Werk des tschechischen Gelehrten Doktor Amerling hinzu. Indem er das Geheimnis des slavischen Keims durch die Betrachtung der Naturgeschichte zu entdecken sucht, vergleicht er die Entwicklung der einzelnen Menschen und Völker mit der Entwicklung der Pflanzen und Tiere. Er sagt, daß nach zwei niederen Ordnungen eine dritte höhere folge und die Eigenschaften der vorhergehenden in sich vereine. So z.B. nach zwei- und dreiblättrigen Pflanzen bietet sich für uns eine fünfblättrige usw. Diese weiter erklärte Beobachtung auf die Völker anwendend, behauptet er, daß nach zwei vorangegangenen Ordnungen die dritte den Charakter beider tragen müsse; sowie nach zwei in Epochen vorausgegangenen Personen man hoffen und vorhersagen könne, es werde eine dritte vorkommen, welche die Merkmale beider in sich vereinen wird. Diese Charakteristik des polnischen Messianismus wollen wir mit der Anführung von Bruchstücken einiger Dichter und Schriftsteller beschließen. Den Anfang können wir mit Trembecki machen, der gleichfalls verkündet:

509 Julian Klaczko [Jehuda Lejb] (1825–1906). Vgl. Zofia Trojanowiczowa: Ostatni spór romantyczny: Cyprian Norwid – Julian Klaczko. Warszawa 1981. 510 Kazimierz Brodziński: O narodowości Polaków. Warszawa 1831, S. 14.

33. Vorlesung (1. Juli 1842)

993

[…] przyjdzie taki, Który mu zbawiające przypomni Polaki.511 […] es werde einer kommen, / Der ihn an die Erlösung bringenden Polen erinnern wird.

Aber dies war wahrscheinlich lediglich ein flüchtiger Gedanke; nichts spricht dafür, daß es eine aus tiefem Gefühl herkommende Weissagung sein sollte. Weit mehr Aufmerksamkeit verdient jene Vorhersagung, mit welcher Cyprian Godebski sein Epos schließt: […] przeczucia me tuszą, Powstanie polski Maro z Jasińskiego duszą.512 […] Ahnungsgefühle sagen mir, / Es werde ein polnischer Maro mit dem Geist Jasińskis erscheinen.

Diese Zusammenstellung des Geistes Vergils mit dem Führer des litauischen Aufstandes unter Kościuszko ist auffallend. Es scheint, daß der Dichter hier den Polen nicht einen Schriftsteller verhieß, sondern daß sein Gedanke war: nur ein solcher Mann, ein solcher Krieger, der zugleich einen Dichtergeist besäße, könnte Polen retten. Unbezweifelt waren in dieser Hinsicht die größten Propheten: Garczyński, dessen Poesien wir oben angeführt, und Brodziński, ein berühmter Dichter, derselbe, der in seiner letzten Abhandlung die öfters von uns wiederholten Worte über Kopernikus ausgesprochen. Es ist noch eine kleine Schrift Brodzinskis auf uns gekommen, die voll Eingebung und Vorgefühl ist, und die Aufmerksamkeit der Landleute wohl verdient. Dort sagt er unter anderem: Natchnie PAN tego, kogo upatrzy: który wszystko, co zbawienne jest, skutecznie wypowie i tam zaprowadzi, gdzie myśli w czyny się wcielą Der HERR wird mit Kraft den erfüllen, welchen er sich ausersehen; dieser wird alles Heilbringende mit Erfolg aussagen und dort hinführen, wo die Gedanken in Taten übergehen. 511 Stanisław Trembecki: „Do moich współziomków“ (1789). In. St. Trembecki: Pisma wszystkie. Hrsg. J. Kott. Warszawa 1953, tom I., S. 184–187; Erstausgabe unter [http://www.pbi. edu.pl]. 512 Cyprian Godebski (1765–1809); vgl. C.  Godebski: Wiersz do legiów polskich. Warszawa 1805, S.  19. [http://www.dbc.wroc.pl]. Maro – Publius Vergilius Maro („Äneis“); Jakub Jasiński (1761–1794), General und Dichter; Held des Kościuszko-Aufstandes; vgl. Jakub Jasiński: Wiersze i poematy. Kraków 2002.

994

Teil II

In einer anderen Stelle wendet er sich an die Polen: Byłeś ludu mój nieznanym i ledwo wiedzącym o sobie, pełnym ducha bożego, zapomnianym jak ród Dawida, z którego przecież wyjść miało zbawienie, przeznaczonym na utrzymanie rozszerzenie onego krwią twoją. […] Szanuj każdy w sobie godność ojczyzny, jakaby MARII, do której Słowo Boże stało się. Ungekannt warst du, mein Volk, und kaum deiner selbst bewußt, voll des göttlichen Geistes, bestimmt, mit deinem Blute denselben zu erhalten und auszubreiten, vergessen wie Davids Geschlecht, aus welchem dennoch das Heil entsprießen sollte. […] Möge jeder in sich die Würde seines Vaterlandes ehren, sowie Marias, zu welcher das Wort Gottes geschah.

Weiter sagt er zu Polen: Nie dała ci jeszcze wola Najwyższa takiego pośrednika, co by całe rozumienie twoje splótł w jedność i na tablicy naznaczone od Boga powołanie twoje ku widzeniu i wykonaniu twemu wystawił. Noch hat der höchste Wille dir nicht einen solchen Vermittler gegeben, der dein ganzes Verständnis in Eins gebunden, und deinen von Gott bezeichneten Beruf dir zur Einsicht und Ausführung auf die Tafeln gestellt.

Endlich lenkt er die Aufmerksamkeit der Landsleute auf einige Anzeichen und heißt sie wachsam sein: Dni miesiąca Listopada pełne są tajemnic świętych. W nim obchodził lud Starego Zakonu wyjście Noego z arki, wyjście Mojżesza z niewoli egipskiej, wyjście Jonasza z brzucha wieloryba, wyjście Józefa z więzienia. W nim zaczyna się obchód przyjścia CHRYSTUSA na świat, w nim czczony jest Andrzej święty, którego Pan najpierw na ucznia swego wybrał – (a podług naszych podań najpierwszy apostoł Słowiańszczyzny). […] W wilię wreszcie św. Andrzeja podniósł na nowo lud polski krzyż Chrystusowy […]. Przyjście Mojżesza, tak jako przyjście CHRYSTUSA, poprzedzone męczeństwem dziatek: azaż car męczeństwem dzieci polskich nie zbliżył przepowiedzi zmian wielkich? Czuwajcież, wszystkie matki, wszyscy mistrze i kaznodzieje! Wszelka żywa duszo polska, pragnij i czuwaj: bo nie wiesz miejsca ani czasu, w którym powołana być możesz. Czuwaj każdy, czyś prostak, czy mędrzec, czyś mąż wielkiego serca, czy słaba niewiasta. Słuchaj, gdzie trawa rośnie; czuwaj na każdy wiatru powiew i rozpatruj drogi zbawienia, a przede wszystkim bądź duszą płonącą ku Bogu, który zsyła łaskę i drogi prawdziwe wskazuje.513

513 K. Brodziński: Posłanie do braci wygnańców i mowa o narodowości Polaków. Paryż 1850, S. 6–7, 29–31, 33.

33. Vorlesung (1. Juli 1842)

995

Die Tage des Monats November sind voll heiliger Geheimnisse. In dieser Zeit feierte das Volk des Alten Bundes das Aussteigen Noahs aus der Arche, den Auszug Moses aus der ägyptischen Gefangenschaft, des Jonas Befreiung aus dem Leibe des Walfisches, Josephs aus dem Kerker. In diesem Monat beginnt die Gedächtnisfeier der Ankunft CHRISTI; in ihm wird der Heilige Andreas verehrt, den der Herr zuerst als Jünger berufen (und der nach unseren Überlieferungen der erste Apostel im Slaventum gewesen). […] Am Vorabende endlich des Heiligen Andreas hat auch das polnische Volk von Neuem das Kreuz Christi erhoben. […] Der Ankunft Moses sowie der CHRISTI ist Kindermord vorangegangen; hat etwa der Zar durch das Hinmartern der polnischen Kinder die Vorhersage großer Änderungen nicht beschleunigt? Seid daher wachsam, alle Mütter, alle Volkslehrer und Prediger! Jedwede lebendige Seele dürste und wache; denn du weißt weder Ort noch Stunde, in der du berufen sein kannst. Wache jeder, sei er. einfältig, sei er weise; sei er ein Mann erhabenen Herzens oder ein schwaches Weib. Lausche, wie das Gras wächst; horche auf jedes Säuseln des Windes: vor allem entflamme deine Seele zu Gott, der allein die Gnade gibt und allein die richtigen Wege aufzeigt.

Teil III (1842–1843)

1. Vorlesung (6. Dezember 1842) Allgemeiner Charakter der gegenwärtigen polnischen Literatur – Sie ist philosophisch und befaßt sich mit sozialen Fragen – Die Grundidee der slavischen Philosophie. Offenbarung.

Meine Herren! Die innere in dieser feierlichen Zusammenkunft uns ergreifende Bewegung ist das Gefühl der Dankbarkeit und Liebe für Frankreich, welches wir gern unseren slavischen Zuhörern mitteilen möchten. Außerdem gestehen wir ihnen, daß dieses Gefühl umso lebhafter in uns wird, je mehr wir die Wichtigkeit und den Einfluß einsehen, welchen die Errichtung dieses Lehrstuhls auf die Literatur und auf die slavische Idee überhaupt ausübt. Die Worte, die von hier ausgehen, durch einige Schriftsteller aufgenommen, durch andere bekämpft, haben schon mehr denn eine der wichtigsten Fragen in Anregung gebracht. Selbst die Politik beginnt, sich um die literarischen Besprechungen der Slaven zu kümmern. Österreich z. B., dessen System stets gewesen im Stillen zu handeln, nie anders als erst nach vollbrachter Tat sich zu verlautbaren, Österreich läßt zum erstenmal seit Gründung seiner Monarchie Werke über Slaventum unter seinem beaufsichtigenden Schutz veröffentlichen.1 Es hat auch seine eigene Weise, das slavische Volkstum zu verstehen, und legt jetzt dies Begriffe Europa vor. Weit entfernt sind wir, uns diesen Erfolg zuzuschreiben. Nicht die Beschaffenheit jedoch, noch die Menge des Schnees macht der Lawine Gewalt und Größe aus. Ihre Masse und Gewalt hängt ab vom Ort, von wo der Kern fällt, um welchen sie sich sammelt, sie hängt insonderheit ab vom Zustand der Witterung und der Elemente. Wunderbar begünstigt wird aber unser Wort vom Zustand der Geister und dem Ort, von wo wir reden. Und was uns insbesondere Kraft gibt, das ist diese Freiheit, die wir hier zu Lande genießen; sie ist es, die uns erlaubt gerade heraus und ohne Rückhalt zu sprechen, wodurch denn auch endlich alle unsre Landsleute sich von unsrer Aufrichtigkeit überzeugen werden. Soll der Mensch in seinem Innersten erglühen, soll seine Seele den mächtigen Schwung erhalten, um ein lebendes, tatkräftiges Wort von sich zu geben, so ist ihm diese Freiheit unerläßlich. Über die Fragen, die wir hier besprochen 1 Vgl. Leon Thun: Über den gegenwärtigen Stand der böhmischen Literatur und ihre Bedeutung. Prag 1842. Graf Leo von Thun (1811–1888), österreichischer Politiker tschechischer Herkunft; Vertreter des „Austroslavismus“. In seiner 90 Seiten umfassenden Darstellung erwähnt er die Werke von K.  Amerling, J.  Dobrovský, V.  Hanka, J.  Jungmann, J.  Kollár, F.  Palacký, P.J. Šafařík. Zu Thun vgl. die 4. Vorlesung (Teil III).

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_076

1000

Teil III

haben, hätte man gelehrte Bücher schreiben, sie weitläuftig in den Tagesblättern abhandeln können, und doch wäre dies Alles nicht im Stande gewesen, denselben Eindruck zu machen; denn es liegt in dem mündlich gesprochenen, freien Wort ein unnennbarer, unbegreiflicher Zauber. Öfters schon sagten wir ihnen, daß auf der ganzen Erdkugel, von welcher der slavische Boden einen so großen Teil ausmacht, sich kein Ort vorfindet, ausgenommen innerhalb dieser Mauern, an welchem frei gesprochen werden dürfte. Das [hier] gesprochene Wort ist aber schon ein Anfang der Ausführung; es verkündet, daß bereits ein Gebiet für die Freiheit erobert ist, ein Erdteilchen, wo der slavische Gedanke sich verkörpert. Je freier wir uns jedoch hier fühlen, umso mehr Pflichten legt uns unsre Stellung auf, dieser Freiheit in unserm Gewissen ihre Grenzen zu setzen. Bekannt sind die Schwierigkeiten, mit denen wir in unserem einleitenden Vortrag kämpfen mußten. Wir durcheilten die Geschichte der Völker, welche nicht aufgehört haben sich unablässig zu befehden; im Augenblick selbst, wo wir hier sprachen, drangen bis zu uns aus den slavischen Landen der Henker wutschäumendes Geschrei und der Opfer schmerzliches Stöhnen, sodaß fürwahr wir alle unsre Kraft zusammennehmen mußten, um uns über diesem blutigen Boden zu erhalten, uns gegen die Zukunft zu erheben; in letzterer suchten wir Trost und haben die Hoffnung, daß diese Zukunft eine glücklichere fein wird, weil wir an den Sieg der Wahrheit glauben. In dieser Hinsicht wenigstens wird unser Beruf jetzt schon leichter; denn nachdem wir die Geschichte der Kämpfe unter den Slaven, die allgemeine Geschichte ihres Erdstrichs weit hinter uns gelassen, können wir nunmehr einige Einzelheiten berühren. Im Verlauf des diesjährigen Vortrags werden wir so viel Stunden als möglich den Forschungen widmen, welche diejenigen besonders interessieren können, die sich dem Studium der slavischen Literatur gänzlich weihen wollen. Die Gegenstände dieser Forschungen werden sein: die Urepoche der slavischen Geschichte, wir möchten sie die asiatische Epoche nennen; die der slavischen Mythologie; das Dogma der slavischen Gesellschaft und Regierung; dazu wollen wir einen Blick auf die urtümliche Gesetzgebung dieses Volkes hinzufügen; endlich über den Bau, oder eigentlich den architektonischen Teil der slavischen Sprache redend, werden wir die verschiedenen Systeme der Gelehrten, geschrieben in der Absicht, die Konstruktion dieser umfangreichsten und vollendetsten Sprache der Welt zu beleuchten, vor Augen stellen. Es wird dies als Einleitung in die allgemeine Grammatik der slavischen Sprachen dienen können.2 2 [Dieser letzte Teil der diesjährigen Vorlesungsreihe ist gänzlich für später verblieben. Anmerkung des Übersetzers]. Vgl. die 8. Vorlesung (Teil I).

1. Vorlesung (6. Dezember 1842)

1001

Indem die Geschichte der neuzeitigen slavischen Literatur weiter fortsetzen, werden wir die Auseinandersetzung der im Vortrag des verflossenen Jahres begonnenen Werke beenden und einige andere, namentlich polnische und tschechische, vornehmen. Hier noch ein Wort der Verständigung mit dem Publikum: vielemal hat man uns angeklagt und mit Bitterkeit vorgeworfen, daß wir, so zu sagen, die polnische Literatur der russischen unterordnend, uns gar zu viel mit den russischen Werken beschäftigten. Wir setzen uns nunmehr dem entgegengesetzten Vorwurf aus, dieweil wir uns fast ausschließlich mit der polnischen Literatur befassen, nur einzelne tschechische, serbische und russische Werke beifügend, solche jedoch rings um die polnische Idee gruppieren werden; und zwar darum, weil die slavischen Literaten, nachdem sie alle Gattungen nachgeahmt haben, die nur irgend im Ausland aufzutreiben waren, nur erst in der letzten Zeit dazu gelangt sind, eine Literatur zu schaffen, die ausschließlich ihnen angehört, eine Literatur, die wahrhaft originell ist; die Hauptwerke aber, die klassischen, die musterhaften Schöpfungen derselben, sind Leistungen der Polen und in polnischer Sprache geschrieben. Diese Literatur verdient die Aufmerksamkeit der Fremden, und freimütig gesprochen, meine Herren, ist sie die einzige der jetzt bestehenden Literaturen, welche verdient von ernsten Männern erwogen zu werden. Unter den sämtlichen modernen Literaturen ist sie allein eine ernste, erhabene, ernst sowohl dem Geist nach, der sie beseelt, wie dem Ziel, welchem sie unablässig zustrebt. Die von uns zu betrachtenden Werke sind nicht geschrieben worden, um an Buchhändler verkauft zu werden. Die Verfasser derselben befragen nicht die Meinung des Publikums, buhlen auch nicht um Popularität; der bedeutendste unter ihnen, welcher die „Un-Göttliche Komödie“ („Nie-Boska komedia“)3 geschrieben hat, nennt sich sogar nicht, was schon selbst im gegenwärtigen Zustand des europäischen Schrifttums etwas Neues ist. Außerdem trägt diese Literatur noch ein anderes Merkmal an sich, nämlich das Wahrzeichen der Wahrhaftigkeit. Jedes Werk ist zugleich eine Tat, es drückt die Überzeugungen, die innersten Gefühle desjenigen aus, der es verfaßt; der Mann lebt hier in feinem Werke, er ist im Stil und in Allem zu erkennen, so daß man ganz vorzüglich den Vers von Garczyński, welcher so wunderbar die heutige polnische Literatur bezeichnet, hier anwenden kann:

3 Zygmunt Krasiński (1812–1859), der die meisten seiner Werke anonym als „poeta bezimienny“ (Dichter ohne Namen, Anonymus) veröffentlichte.

1002

Teil III […] co czuje, myśli, to w życiu, to w czynach Odgadnąć, jako ojca z podobieństwa w synach, Jak wesołość w uśmiechu, jako żałość w oku.4 […] und was sie gedacht, gefühlt, – ist in Leben, in Taten / Zu erraten, wie der Vater am Antlitz der Söhne, / Wie der Frohsinn am Lächeln, die Betrübnis am Auge.

Diese ganze Literatur ist philosophisch und sozial. Die Verfasser tragen kein Verlangen, Systeme zu erfinden, oder solche, welche die Frucht einzelner Köpfe sind, weitläuftig zu besprechen und anzuempfehlen; sie wiederholen nur in ihren Werken die ausgeprägte große Stimme des Volkes, welche allgemein für die Stimme Gottes gilt. Ihre Werke sind der untrennbare Teil des großen, lebendigen, in den Eingeweiden des Volkes sich bewegenden Wortes. Darum bildet auch die neuere polnische Dichtung, die sich desgleichen den Jahrhunderten nach darstellen läßt, die Grundzüge einer erhabenen Philosophie, gerade so wie die alte lateinische, wie die uraltgriechische mit einem religiösen Charakter begabt war, was wir schon früher nachgewiesen. Sie reicht der Philosophie, die neben ihr wandelt, die Hand; um daher diese Poesie zu begreifen, werden wir öfters philosophische Fragen lösen müssen. Ungern bedienen wir uns hier dieses Wortes Philosophie, auch könnten wir uns wahrlich ohne dasselbe behelfen, d. h. ohne die Schulredensarten zu gebrauchen wären wir doch im Stande, das Wahre und Tiefe der polnischen Schriften zu erkennen zu geben; weil es jedoch einige polnische Schriftsteller gibt, welche die Volksüberlieferung verlassen und, den Verirrungen der deutschen Philosophen folgend, den Volksgeist verführen und verderben, so nehmen wir, um gegen sie zu kämpfen, ihre eigne Waffe auf. Mittlerweile fassen wir hier kurz zusammen, was schon vergangenes Jahr von uns die slavische Philosophie genannt worden ist, und was erst neuerdings die Polen formuliert oder in Regeln gefaßt haben. Hierbei werden Sie, meine Herren, einsehen, daß wir die Überlieferung und volkstümliche Wahrheit verteidigend, fast sämtliche Systeme und sämtliche Schulen gegen uns haben und sie werden bekämpfen müssen. Für diese Philosophie ist es zuvörderst eine Gewißheit und unerschütterliche Wahrheit, daß seit dem Anbeginn der menschlichen Gesellschaften es überall Dogmen und Überreste einer allgemeinen Offenbarung gab; daß die 4 Stefan Garczyński: Wacława dzieje. Poema. In: Poezyje Stefana Garczyńskiego. Tom  1. Paryż 1833, S. 107. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe verkürzt zitiert. Vgl. auch Mirosław Strzyżewski: O Mickiewiczowskiej nobilitacji poematu Stefana Garczyńskiego „Wacława dzieje“. Zapomniany krytycznoliteracki aspekt wykładów paryskich Adama Mickiewicza. In: Pamiętnik Literacki 1998, z. 1, S. 27–38.

1. Vorlesung (6. Dezember 1842)

1003

Menschen seit undenklichen Zeiten schon eine gewisse Masse offenbarter Wahrheiten besaßen, deren Quelle wir nicht wissen. Spater haben diejenigen, welche diesen Schatz aufbewahrten und alle ihre Kräfte daran setzten, ihn zu vergrößern und zu entwickeln, sich fähig gemacht, eine bei weitem vollkommnere und erhabenere Offenbarung, die Offenbarung Christi zu empfangen. Das Christentum hat bei den Slaven kein leeres Feld gefunden, es hat in das alte Leben ein neues geimpft. Diejenigen aber, welche die christliche Wahrheit aufnahmen, sie bewahrten und vergrößerten, machten sich auch fähig, die folgenden zur Vervollständigung des Christentums bestimmten Offenbarungen zu empfangen; d. h. deutlicher gesprochen, Offenbarungen, welche die weiteren Entwicklungen und Teile des Christentums sind, welches für immer die eine und allgemeine Offenbarung ist und bleiben wird. Nach dem geschichtlichen Hergang Polens, nach der Art, wie in diesem Land das Christentum der Politik angepaßt wurde, nach dem Gefühl seiner wahrhaft volkstümlichen Schriftsteller, schritt die Menschheit nie anders vor und wird auch nie anders vorschreiten, als nur durch eine Reihe von Offenbarungen. Wohl wissen wir, wie sehr es gelungen ist dieses Wort Offenbarung zu verflachen und zu entheiligen, wie jede Träumerei, jeder Gedankensprung für Offenbarung und einen Schritt vorwärts ausgegeben wird; dies rührt daher, weil man das Ziel der Menschheit aus den Augen verloren, weil man das Christentum verworfen hat. Für uns jedoch gilt das Wort Offenbarung als Bewegung des Geistes im christlichen Sinne. Was die nationale und volkstümliche Philosophie der Slaven von den Schulphilosophien gänzlich unterscheidet, ist, daß die ersten die Notwendigkeit der Disziplin, das Erfüllen der Bedingungen, die unerläßlich sind, um eine Offenbarung zu haben, anerkennt. Alle weltlichen Schulen seit Pythagoras haben diese grundsätzliche Wahrheit verkannt. Überall meinten sie, es genüge, einen wohlgeformten Schädel, ausgebildete Gehirnorgane zu besitzen, und sollte man dabei auch ein stolzer, leichtsinniger oder eitler Mensch sein, ja, wenn auch vom Verbrechen befleckt, so sei man doch im Stande, die Wahrheit von oben herab eben so gut zu empfangen, wie der ernste Einsiedler, der tugendhafte für sein Vaterland kämpfende Feldherr, oder wie der musterhafte Familienvater, der mit seiner Hände Arbeit Weib und Kind ernährt. Wir glauben, dass die erste Voraussetzung für den Empfang einer neuen Wahrheit darin besteht, dass man die alte Wahrheit praktiziert hat, dass man für ihre Verteidigung gehandelt und gelitten hat, mit einem Wort, dass man dieser Wahrheit Opfer gebracht hat. Schon allgemein beginnt man zu fühlen, daß, nachdem einzelne Männer große Wahrheiten der Welt geoffenbaret haben, nunmehr der Zeitpunkt kommt, wo ganze Völker berufen sind, solche zu empfangen und an die Verwirklichung derselben alle ihre Kräfte zu setzen, daß mithin, was früher das

1004

Teil III

Werk einzelner Individuen gewesen, jetzt die Aufgabe des Schaffens für die Völker geworden ist. Nach den oben entwickelten Begriffen ist leicht zu erraten, welche Völker es sind, auf die wir vorzüglich unsere philosophischen Erwartungen bauen dürfen; unfehlbar sind es diejenigen, welche für die Wahrheit wirken, ihretwegen leiden, sich derselben weihen. Hieraus aber läßt sich ersehen, warum wir Frankreich und die Franzosen als ein bei weitem mehr philosophisches Volk betrachten als die Deutschen, wenngleich doch Deutschland mit Lehrstühlen der Philosophie vollgepfropft ist, und eine so enorme Zahl philosophischer Werke dort jährlich erscheint; warum auch die Polen sich der Wahrheit näher befinden als die anderen slavischen Völker. Denn die Offenbarung des Herrn Jesu Christi wird für immer der Maßstab aller Offenbarungen sein, der Weg des Kreuzes für immer der einzige wahre Weg bleiben; bekannt ist aber, welches Volk seit lange diese Schmerzensbahn wandelt. Nicht beneiden mögen daher die slavischen Völker den polnischen Bruderstamm, daß er die erhabensten Wahrheiten erfaßt und ausgedrückt: gezahlt hat er dies mit gräßlichen Opfern. Diese Frage voriges Jahr berührend, zeigten wir schon, wie der Einfluß des französischen Genius den Polen half, ihre Philosophie zu formulieren. Zweimal betraten die französischen Heere den slavischen Boden: zu Karls des Großen und Napoleons Zeiten. Karl der Große impfte dem Slaventum die Idee des Königtums ein, diese brachte in der Folge große Umwälzungen hervor; von dem Einfluss, welchen die Person Napoleons, sein Genie und seine Taten auf den slavischen Geist hatten, gaben wir schon eine Vorstellung. Erklärlich ist nun, warum ein Teil der slavischen Länder auf Frankreich die Augen gerichtet hält. Es ist Volksglaube in diesen Landen, Frankreich habe die Bestimmung, noch einmal den Norden zu erschüttern, und daß diese feierliche Stunde den Augenblick abgeben werde, in welchem die Geschlechter des Westens mit denen des Nordens um die Eine allgemeine Idee, um die christliche Idee, welche ihren Vergegenwärtiger finden muß, sich vereinen werden. Wir wiederholen es, daß wir in diesem zum voraus verkündeten neuen Dogma nur die Entwicklung des christlichen Dogmas sehen. Ungeachtet aller Einwände der Philosophen wird die christliche Lehre nicht untergehen. Der Morgen endet nicht anders, als um Tag zu werden, und geht die Sonne auch für ein Land unter, so geschieht es nur, um einem anderen Erdstrich zu leuchten. Ebenso verhält es sich mit der Sonne des Christentums. Die Philosophie, wenn wir schon durchaus diesen Ausdruck gebrauchen sollen, die Philosophie also, welche die Enthüllung des Christentums, dessen Gedanke sein wird, wird sich mit der ganzen Macht der lebensvollen Triebkräfte, die in der Überlieferung der allgemeinen Kirche aufbewahrt sind, erheben.

1. Vorlesung (6. Dezember 1842)

1005

Diese Ideen und diese Erwartungen stets vor Augen habend, durchwanderten wir die Geschichte der slavischen Völker. Nach Möglichkeit bemühten wir uns dabei, ihnen den Geist dieser mannigfachen Volkstümlichkeiten vorzuführen, sie dem Genius Frankreichs vorzustellen. Wir bemühten uns, das geheime Wort, das die Völker bewegt, sie zu Taten treibt, die Worte, welche Tacitus das „Geheimnis des Imperiums“ (arcanum imperii)5 nennt, aufzufinden. Jegliches Volk besitzt für sich ein so wundervolles Wort. Im Mittelalter bewegte ein einziges, von einem Einsiedler6 gesprochenes ganz Europa; er fand damals die Losung für die Völker des Abendlandes. Alle Völker besitzen nebenbei auch Worte, die sie mit Entsetzen erfüllen. Da es Frankreich bestimmt ist, noch einmal im Norden tätig aufzutreten, so dürfte es wohl eifrig bemüht sein, die Geheimnisse der Macht desselben zu ergründen. Vielemal wurde uns vorgeworfen, besonders von Russen, als trachteten wir, die Nationalgeheimnisse Frankreich auszuliefern. Als ein römischer Feldherr7, nachdem er die Zuneigung der Soldaten gewonnen, sich zum Kaiser ausrufen ließ, da berieten sich noch die Gelehrten und die Senatoren über die Formen der Republik; Tacitus nur erkannte, das Ende der alten Ordnung sei gekommen, und sagte: […] evulgato imperii arcano posse principem alibi quam Romae fieri.8 […] nun war das Geheimnis des Imperiums offenbar geworden: dass es nämlich möglich war, Kaiser auch anderswo zu machen, als in Rom.

Einem Krieger glückte es damals, dasselbe zu entziffern, ein genialer Mann erkannte, daß die Göttin des Glückes es ausgeliefert hatte. Was wir von den Erwartungen der slavischen Völker und von seinem geheimnisvollen Band, das sie einst mit dem Westen einen wird, gesagt haben, das möge uns gegen die Beschuldigungen der Russen schützen. Unser ganzer Vortrag vom vergangenen 5 Publius CorneliusTacitus: Historien. Historiae. Lateinisch-deutsch. Hrsg. und übersetzt Joseph Borst. Mannheim 2010, Liber I, 4, S. 10–11. Vgl. Das folgende Zitat – unten. 6 Pierre l’Eremite – Peter der Einsiedler (um 1050–1115), Prediger, Initiator und Anführer des gescheiterten „Volkskreuzgugs“ von 1056. 7 Servius Suplicius Galba (vgl. Tacitus – Historiae). 8 Der Satz im Zusammenhang: „Neronis ut laetus primo gaudentium impetu fuerat, ita varios motus animorum non modo in urbe apud patres aut populum aut urbanum militem, sed omnis legiones ducesque conciverat, evulgato imperii arcano posse principem alibi quam Romae fieri.“ (Obwohl die Nachricht vom Ende Neros zunächst mit freudigem Jubel begrüsst wurde, überwogen doch nicht nur in der Hauptstadt unter Senatoren, Bürgern und Stadtsoldaten, sondern auch bei den Legionen und ihren Generälen zwiespältige Gefühle, denn nun war das Geheimnis des Imperiums offenbar geworden: dass es nämlich möglich war, Kaiser auch anderswo zu machen, als in Rom.) – Tacitus: Historiae. Liber I, 4.

1006

Teil III

Jahr war die Geschichte der blutigen Fehde zwischen den beiden unversöhnlichen Ideen, nämlich der russischen und der polnischen. Diese beiden Völker sind in gerade entgegengesetzter Richtung vorgeschritten, dennoch gibt es einen erhabenen Punkt, wo sie miteinander zusammentreffen können. Ohne die Russen dafür verdammen zu wollen, daß sie einer materialistischen Regierung gehorsamen und unterwürfig sind, einer Regierung, die sie selbst schon häufig genug eine grausenhafte genannt haben, wiesen wir die geschichtlichen Ursachen, die gewissermaßen fatale Notwendigkeit nach, welche sie zwang, Alles einer Idee zu opfern, der Idee der Alleinherrschaft. Die Berührungen Rußlands mit Asien, die Gefahr bringenden Reibungen von jener Seite her, die häufigen Einbrüche der Litauer und Normannen, tausend andere Verhältnisse, die wir nicht wiederholen mögen, öffneten dieser Idee die Bahn. Aus Asien kam sie im Gefolge der Mongolen. Die Gefahren sind verschwunden, die Idee dauert fort. Seinerseits brachte Polen auch eine Reihe erhabener Männer hervor, welche die volkstümliche Idee leiteten, Männer, die von der Vorsehung zu besondern Zeiten erweckt worden, doch empfanden die Polen erst in den letzten Zeiten ebenfalls das Bedürfnis, alle ihre Kräfte in einem einzigen Manne zusammenzuziehen, „Es fehlt uns der Mann“, war der klagende Feldruf der Polen seit Kościuszko bis Chłopicki. So opfert auf diese Art Rußland für den Zweck seiner Macht Alles der Alleinherrschaft, der Herrschaft eines Einzigen, vergegenwärtigt durch eine Dynastie; und so verlangt auch Polen einen Mann zu haben, der seine volkstümlichen Begriffe darstelle; wenngleich die Formen, in denen die russische Idee auftritt, die Bedingungen ihres Daseins schnurstraks den Formen der polnischen Idee zuwider sind. Die Form vergeht, die Idee währt fort; welcher Natur aber diese Idee sei, haben wir schon von fern angedeutet. Ähneln darf sie nicht im Mindesten den bisher in Rußland und Polen üblichen. Sie hat den Hoffnungen dieser Völker zu entsprechen, ohne die beiderseitigen Rechte auf freies, selbstständiges Dasein zu verletzen.

2. Vorlesung (13. Dezember 1842) Über den Messianismus – Der Fortschritt als eine Reihe von Offenbarungen – Religion und Volkstümlichkeit sind nur die Weiterentwicklung großer Individualität – Der Unterschied zwischen Weisheit und Philosophie – Äußerungen eines polnischen Dichters über die Poesie.

Ein slavischer Philosoph, dessen Werke wir noch zu betrachten haben, Pole von Geburt, Herr Trentowski9, stützt sein System darauf, daß die Gegenwart für den Menschen alles ausmache. Diesen Gedanken, welcher den Schein eines Paradoxon hat, drückte schon früher der Dichter Garczyński in den Worten aus: Teraźniejszy świat tylko jest wielki, jest boski, Przeszły, przyszły są niczym! […]10

Nur die gegenwärtige Welt, ist herrlich, ist göttlich; / Die vergangene, die zukünftige sind Nichts ![…]

Es muß dies wohl befremdend erscheinen, daß ein Dichter und ein Philosoph, von einem Volke stammend, das gegenwärtig keine glänzende Rolle spielt, in der Vergangenheit nur eine solche aufzuweisen hat, einzig und allein die bessere Zukunft in Anspruch nehmen kann, daß sie gerade in der Lobpreisung der Gegenwart zusammenkommen; diese Gegenwart bedeutet aber nach ihnen die Tat, das Leben, die Kraft, sie ist die Frucht der vorangegangenen Jahrhunderte, der Keim für die zukünftigen. Auf diese Art gelten alle jene schriftlichen Denkmäler, alle die Sammlungen, welche nur das Andenken von dem bewahren, was gewesen ist, alle die Überbleibsel der Vergangenheit, auf welche einige Völker so stolz sind, nichts, gar nichts in diesem slavischen Systeme; und zwar darum, weil diese ganze Vergangenheit sich vollständig im menschlichen Geiste vorfinden soll, welcher immer die Gegenwart ist. Ebenso die Zukunft, diese Zukunft, als philosophische zu verwirklichende Hoffnung, kommt nicht in Berechnung für das gegenwärtige wirkliche Leben, für das große Leben der 9

10

Bronisław F. Trentowski (1808–1869). Vgl. sein Werk: Grundlage der universellen Philosophie. Carlsruhe-Freiburg-Paris 1837, S. VI (Vorwort): „Die lebendige Gegenwart war die erste Lehrerin der Menschheit, gab den ersten Schriftstellern Stoff und erzeugte die ersten Bücher. Sie ist immer selbständig und die heilige Naphtaquelle der Selbständigkeit. […] Wem also das Wissen am Herzen liegt, der strebe nicht nur in toten Büchern, sondern auch in der lebendigen Gegenwart zu forschen, nicht nur ein Gelehrter, sondern auch ein Weltmann zu sein; […] dem wird es ein Leichtes, sich Selbständigkeit zu erringen. Die Gegenwart ist die göttliche, mithin selbständige, unaufhörlich zur Zeit werdende Ewigkeit; sie ist immer neu.“ Über Trentowski vgl. die 21. Vorlesung (Teil III). Garczyński, op. cit., S. 116 (cz. II, rozdz. VI – Scena zamkowa).

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_077

1008

Teil III

ganzen Menschheit; nur erst der menschliche Geist, indem er die gesamte Vergangenheit in sich resümiert, sie verwirklicht, beginnt in jedem Augenblicke die Zukunft. Es war zuvörderst unsere Pflicht, ihnen diese Wahrheit verständlich zu machen, weil wir berufen sind, hieselbst eine Philosophie, welche keine Schule hat, eine Literatur, die nur wenig geschriebene Werke zählt, darzustellen und zu entfalten. Unser Beruf befiehlt uns sogar, den geringen moralischen Wert von allem dem zu zeigen, was bisher Erinnerung, Denkmal und alles Dasjenige war, was für die Vergötterung des menschlichen Stolzes, für den Genuß seiner Eitelkeit aufgeführt worden ist. Gott spricht fortwährend, in jedem Augenblicke durch den menschlichen Geist, dieses Tun macht die Gegenwart aus. Mehrmals lenkten wir die Aufmerksamkeit unsrer Zuhörer besonders auf die Bedeutung der Gegenwart für die Slaven. Viele Male zeigten wir ihnen die Winke, die Zeichen, welche diese Völker den Völkern des Abendlandes machen: in ihnen bemerkt man nur das Begehren, den allgemeinen Willen nach Eintracht. Die Slaven drohen nicht mehr Europa mit einem Einbruch, sie fordern dasselbe zum Bündnis auf. Verschiedene slavische Völker haben schon seit längst in diesem Sinne gehandelt. Namentlich ein Volk unter ihnen, das polnische Volk, hat fast immer seine Philosophen und Dichter in dieser Beziehung überholt. Darum ist auch das geschichtliche Leben und Tun dieses Volkes ein viel wichtigerer Gegenstand der Erkenntnis, als selbst seine literarischen Erzeugnisse. Ebenso verhält es sich mit den übrigen slavischen Völkern. War der General Suvorov größer, erhabener als sein ihn besingender Dichter Deržavin, so darf man mit Recht sagen, daß auch der letzte polnische Aufstand bei weitem mehr Kraft gehabt, viel ausgeprägtere Charaktere erzeugt hat, als selbst die polnische Poesie vorhersagte, daß es sogar jetzt Tatsachen gibt, die viel höher reichen als alle unsere Philosophien und Literaturen. Beiläufig gesprochen, ist sogar die Gegenwart einer bedeutenden Zahl unserer Zuhörer hieselbst nicht zufällig, sondern sie hat eine innige Verkettung mit der Folgenreihe der politischen und literarischen Begebenheiten. Aus der gesamten Geschichte der slavischen Völker, namentlich aber aus dem nachgewiesenen geschichtlichen Hergang des polnischen Volkes, ergab sich die Zulassung des Messianismus11, d. h. der Reihe von Offenbarungen im 11 Über die Genese und Konzepte des polnischen Messianismus vgl. Józef Ujejski: Dzieje polskiego mesjanizmu do powstania litopadowego włącznie. Lwów 1931; Andrzej Walicki: Mesjanizm Adama Mickiewicza w perspektywie porównawczej. Warszawa 2006; Alfred Gall: Der polnische Messianismus – Sakralisierung als Säkularisierung. In: Geschichtsentwurf und literarisches Projekt. Studien zur polnischen Hoch- und Spätromantik. Hrsg. German Ritz. Wiesbaden 2010, S. 48–84.

2. Vorlesung (13. Dezember 1842)

1009

Sinne des Christentums, wie wir dieses schon früher bemerkten. Bevor wir uns an die Auseinandersetzung der oben genannten Schriftsteller machen, müssen wir noch einen Augenblick bei diesem Gegenstand verweilen. Schon vergangenes Jahr sahen wir, wie der Unterschied zwischen den Menschen von der verschiedenen Stufe ihrer Geistesentwicklung abhängt. Ein mehr entfalteter Geist hat natürlich die Sendung, die in dieser Hinsicht weniger entwickelten oder auf niedrigeren Stufen der Geistesentwicklung stehenden Menschen zu leiten. Es ist dies das Hauptdogma des Messianismus. Die Vorsehung gebraucht einen solchen Geist als sein Organ; Gott wendet keine anderen Mittel an, um zu den Menschen zu reden, er wählt sich dazu einen Menschen. Er verkörpert sich nicht in Schulen, zusammengesetzt aus Individuen verschiedenen Charakters und von verschiedenem moralischen Wert, drückt sich nicht in Büchern aus, deren Verfasser der Selbstsucht oder den irdischen Leidenschaften fröhnen können; er redet durch einen solchen Geist, der seine Gesetze befolgt, sich gebührend vervollkommnet, indem er allen dazu erforderlichen Bedingungen Genüge getan, die Proben bestanden, die Weisheit erlangt hat. Diesen uralten Lehrsatz kannten die Weisen des Altertums, deren Stelle später die Philosophen einnahmen. Keineswegs ist dies etwas Neues, nur tut es Not, daß es zu einem allgemein anerkannten Lehrsatz werde, und dieser ist es schon für die Philosophen und Dichter eines großen europäischen Volkes geworden, was wohl sehr bemerkenswert erscheint. Ein Geist daher, welcher arbeitet, sich erhebt, Gott ohne Unterlaß sucht, erhält schon hierdurch selbst ein höheres Licht, genannt das Wort, und wird der Verkünder einer neuen Wahrheit, un revelateur. Es stellt sich plötzlich vor die Augen des Menschen nicht ein System, sondern, wie wir dies schon gesagt, ein Wort, und darum auch hat man die allerschönste, die immer einzige Offenbarung, die christliche „das Wort“ genannt. Dies göttliche Licht, dem es an einem Worte genügt, um sich auszudrücken, entfaltet sich in der Folge, weil es ein lebendiges Wort ist; es entwickelt sich in Systemen, Schulen und vorzüglich in Taten; es bedarf keiner Beweise, keiner Raisonnements, es überzeugt durch sich selbst; es bespricht nicht weitläuftig seine Systeme, sagt sogar nicht von vorn herein, was es bewirken soll: es spricht und vollführt zu gleicher Zeit. Wir sehen jetzt, warum sich kein einziges Beispiel einer Diskussion, kein einziger Syllogismus, keine einzige Verheißung in ökonomischer, politischer oder sozialer Beziehung im Evangelium vorfindet, und doch hat dies Wort ungeheure Veränderungen in allen Zweigen des menschlichen Wissens erzeugt. Nach dem Muster dieser allgemeinen Offenbarung, welche, wenn man sich so ausdrücken darf, das Kapital des Menschengeschlechts ist, gibt es teilweise Offenbarungen: man kann sogar sagen (und dies werden wir einst, das soziale Dogma der Slaven betrachtend, beweisen), daß jedes Volk den Keim seines

1010

Teil III

Daseins aus einer Offenbarung genommen hat, daß jede Volkstümlichkeit auf einer besonderen Offenbarung beruht. Wie viele große Völker es auch gab, so entstand jedes durch einen Mann, durch einen Gedanken (Idee), und lebte nur deshalb, um diesen Gedanken zu vollführen. Die Philosophie, oder dasjenige, was Philosophie genannt wird, die Arbeit der Intelligenz (Vernunft), die sich jeder moralischen Regel entzieht und sich keiner von der Vorsehung für die Erlangung der Weisheit vorgeschriebenen Bedingung unterwerfen will, die da glaubt, es sei genügend, ein guter Kopf zu sein, zu raisonnieren und zu diskutieren, um die Wahrheit zu zeigen, eine solche Philosophie ist nach der obigen Betrachtungsweise lediglich eine Afterweisheit12 oder ein Plagiat der Offenbarung. Die Weisen verkünden große Sachen, die Weisen oder die Tugendhaften (denn das griechische Wort „σοφοί“ bedeutet sowohl das eine wie das andere), also die heiligen Männer entdecken große Wahrheiten; die Philosophen stellen sich, als täten sie dasselbe. Und so wird uns auch der Sinn der Fabel von Prometheus und Epimetheus klar. Prometheus langte vom Himmel das Feuer, er belebte mit diesem Feuer den Menschen, gab ihm das Wissen, schuf eine neue Ordnung der Dinge; Epimetheus, welcher den Bruder nachmachen, also nachäffen wollte, schuf nur den Affen. Es erscheint folglich von Zeit zu Zeit in der politischen Entwicklung eines Volkes ein Mann, welcher, von der volkstümlichen Überlieferung durchdrungen, dieselbe weiter fortsetzt, man bemerkt eine Reihe begeisterter Männer, die ihr Volk seiner Zukunft zuführen. Diese Begeisterung wird sogar, wie man dies aus einer tiefen Betrachtung der Geschichte schließen kann, immer starker werden. Lassen wir die Auseinandersetzung der Geschichte alter Völker bei Seite und werfen wir nur einen Blick auf die Christenheit selbst. Die christlichen Völker sind, nachdem sie den neuen Glauben angenommen, dennoch in der heidnischen Gesetzgebung verblieben. Das System der Kasten findet sich nicht im Evangelium. Der Begriff des Erbtums hat desgleichen keine Stelle in den Büchern des christlichen Glaubens. Die Kriege und Verträge sind jetzt bei weitem mehr barbarisch, als die Eroberungen und Verträge der Römer; sie befragten hierin wenigstens ihre Geistlichen, die salii13 genannt. Das Evangelium von den Einzelnen angenommen, ist noch nicht 12

„Afterweisheit“ steht im 19. Jahrhundert für „schlechte“ Philosophie; vgl. Wilhelm Traugott Krug: Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften: nebst ihrer Literatur und Geschichte, Band 3. Leipzig 1828, S. 210. Schopenhauer spricht von „Hegels Afterweisheit“; vgl. A. Schopenhauer: Über die Universitätsphilosophie“. In: A. Schopenhauer: Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften. Band 1. Berlin 1851, S. 153. 13 Salii (Waffentanzpriester); vgl. Jerzy Linderski: Salii. In: Der Neue Pauly (DNP). Stuttgart 2001, Bd. 10, Sp. 1249–1251.

2. Vorlesung (13. Dezember 1842)

1011

in das politische Leben der Völker übergegangen. Der römische Kodex dient nach wie vor den Gerichten zur Grundregel; das aristokratische, das feudale Gesetz des germanischen Stammes ist überall, wenigstens in den Reichen des Westens, zum öffentlichen Recht geworden; und alle diese Gesetze, alle diese Gebräuche schließen die Begeisterung aus, trotz dem, daß die Zukunft der Völker dennoch auf einem begeisterten Wort gegründet ist. Es rührt dies daher, weil Zeit dazu gehört, auf daß die neue Ordnung der Dinge die Stelle der alten einnehme. Indessen gewahren wir doch, wie nach der Einführung des Christentums in Gallien die Flamme der Begeisterung hier von Zeit zu Zeit auflodert, wie sie sich durch die Massen der Vorurteile, der alltäglichen Gewohnheiten hindurcharbeitet und emporleuchtet. Vor allem erblicken wir in der Jungfrau von Orleans ein solches Beispiel, ein Muster, den Typus der neuen Ordnung. Diese Erscheinung wäre weder von den Griechen, noch von den Römern begriffen worden. Sie war schon ein Erzeugnis des Christentums. Das einfache Landmädchen, das sich an die Spitze der Heere stellt, deshalb, weil sie den ausdrücklichen Befehl von Gott erhalten, das die amtlichen Gewalten zwingt, der Begeisterung zu gehorsamen, ist eine evangelische Person, sie ist die Ankündigung von dem, wie es einst in der Welt zugehen wird. Wir wollen hier nicht mehr Beispiele aus weniger bekannten Ländern anführen; wir übergehen den berühmten Schweizer Davel14, welcher auch voll Vertrauen auf die Begeisterung sich der Stadt Lausanne bemächtigte, aus derselben die Berner vertrieb und seinen Mitbürgern die Freiheit wiedergab, die sie jedoch zu genießen sich scheuend, wieder unter das fremde Joch zurückkehrten. Desgleichen werden wir keine Beispiele aus der Geschichte Polens anführen, welche im vorjährigen Kursus erwähnt worden sind. Wir glauben also und haben Beweggründe zu glauben, daß die christlichen Völker sich immer mehr der Realisierung des Evangeliums nähern, und daß dann diese höheren Geister, befähigt die göttliche Eingebung zu empfangen, berufen sein werden, Taten zu vollbringen, welche mit dem gegenwärtigen Zustand der Gesellschaften unvereinbar wären. Wir werden bei diesem Gedanken noch in anderer Beziehung verweilen, sobald wir nämlich das Gedicht betrachten, mit welchem wir den diesjährigen Vortrag der Literatur beginnen wollen. Dieselbe Offenbarung, welche die Völker vorwärts führt, rückt auch die Literatur weiter. Gewöhnlich gibt man ihr verschiedene Namen, z. B. sagend, daß, um zu schreiben, um Werke zu schaffen, man die Gabe dazu, man Talent besitzen müsse, was nichts anderes ist als bloß die Offenbarung. Es besteht daher im Bereiche der Literatur derselbe Kampf, wie in der Politik. So wie die 14

Jean Daniel Abraham Davel (1670–1723).

1012

Teil III

verschiedenen Kodexe, die Gesetzesbeschlüsse stets das Entfalten des Christentums hemmen, so unterdrücken auch den literarischen Fortschritt die Schulen, die Theorien, die Rhetorik, das Zeitungswesen. Alles dies hindert den Menschen, die Eingebung (Inspiration) zu empfangen. Darum auch gehen die großen Künstler nie aus den Schulen hervor, sondern sie schöpfen die schaffende Kraft aus dem großen Leben des Volks; anders wäre es schwer zu begreifen, woher große Künstler in Ländern entstehen, wo es weder Schulen, noch Zeitungen, nicht einmal Büchersammlungen gibt. Dem Gesagten zufolge können wir wiederholen, daß das Volk, welches am meisten durch die alte Ordnung der Dinge gelitten, das Volk, welches am meisten von den auf die Vergangenheit sich stützenden Mächten gedrückt wird, das polnische Volk, vorbereitet ist zum Empfange großer und wichtiger Offenbarungen. Wir werden zuvörderst von der Dichtung beginnen und eine Stelle aus dem Eingang des Poems betitelt „Nie-Boska komedia“ (Die un-göttliche Komödie) anführen. Sie wird uns zu erkennen geben, wie die Polen die Poesie begreifen. Dieser ohne allgemeine Überschrift gelassene Eingang ist ziemlich dunkel; der Verfasser wendet sich hier an die Poesie im Allgemeinen, an ihr Ideal, wie er es sich vorstellt: Gwiazdy wokoło twojej głowy – pod twoimi nogi fale morza – na falach morza tęcza przed tobą pędzi i rozdziela mgły – co ujrzysz, jest twoim – brzegi, miasta i ludzie tobie się przynależą – niebo jest twoim. – Chwale twojej niby nic nie zrówna. Ty grasz cudzym uszom niepojęte rozkosze. – Splatasz serca i rozwiązujesz gdyby wianek, igraszkę palców twoich łzy wyciskasz – suszysz je uśmiechem i na nowo uśmiech strącasz z ust na chwilę – na chwil kilka – czasem na wieki. – Ale sam co czujesz? – ale sam co tworzysz? – co myślisz? – Przez ciebie płynie strumień piękności, ale ty nie jesteś pięknością. – Biada ci – biada! – Dziecię, co płacze na łonie mamki – kwiat polny, co nie wie o woniach swoich, więcej ma zasługi przed Panem od ciebie.15 Sterne umgeben dein Haupt – unter deinen Füßen toben die Stürme der See – auf den Meereswellen treibt ein Himmelsbogen vor dir her und verteilt die Nebel – was du siehst, ist dein – Gestade, Städte und Menschen gehören dir – der Himmel ist dein – deinem Ruhm scheint nichts zu gleichen. 15

Zitat aus der anonym erschienenen „Un-göttlichen Komödie“ von Zygmunt Krasiński: „Nie-Boska komedia“. (2. Auflage) Paryż 1837, S. 1, nach der im Folgenden verkürzt mit Seitenangabe zitiert wird. Erstausgabe 1835. Mickiewicz benutzte die 2. Auflage. Zur Textgeschichte und Varianten vgl. Magdalena Bizior-Dombrowska: Dzieje tekstu. In: Zygmunt Krasiński: „Nie-Boska komedia“. Wydanie krytyczne pierwodruku z 1835 roku. Toruń 2015, S. 7–34.

2. Vorlesung (13. Dezember 1842)

1013

Du singest fremden Ohren unbegreifliche Wonnen – windest die Herzen zusammen und lösest sie gleich einem Kranze auf, ein Spielwerk deiner Finger – du erpressest Tränen – trocknest sie mit einem Lächeln und bannest aufs neue das Lächeln von den Lippen für einen Augenblick – für einige Augenblicke – zuweilen für ewig. – Selbst jedoch was fühlst du? – selbst jedoch was schaffst du? – was denkst du? – Durch dich fließt der Schönheitsstrom, du aber bist die Schönheit nicht. – Wehe dir, wehe – das Kind, das am Busen der Mutter weint – die Feldblume, die ihren Duft nicht kennt, hat mehr Verdienst vor dem Herrn denn du.

Nach dieser Schilderung der Macht der wirklichen Poesie folgt das Elendsbild der Poesie als Kunst. Skądżeś powstał, marny cieniu, który znać ó świetle dajesz, a światła nie znasz, nie widziałeś, nie obaczysz! Kto cię stworzył w gniewie lub w ironii? – Kto ci dał życie nikczemne, tak zwodnicze, że potrafisz udać Anioła, chwilą nim zagrząźniesz w błoto, nim jak płaz pójdziesz czołgać i zadusić się mułem? – Tobie i niewieście jeden jest początek. – Ale i ty cierpisz, choć twoja boleść nic nie utworzy, na nic się nie zda. – Ostatniego nędzarza jęk policzon między tony harf niebieskich. – Twoje rozpacze i westchnienia opadają na dół i Szatan je zbiera, dodaje w radości do swoich kłamstw i złudzeń – a Pan je kiedyś zaprzeczy, jako one zaprzeczyły Pana. Nie przeto wyrzekam na ciebie, Poezjo, matko Piękności i Zbawienia. – Ten tylko nieszczęśliwy, kto na światach poczętych, na światach mających zginąć, musi wspominać lub przeczuwaé ciebie – bo jedno tych gubisz, którzy się poświęcili tobie, którzy się stali żywymi głosami twej chwały. Błogosławiony ten, w którym zamieszkałaś, jako Bóg zamieszkał w świecie, nie widziany, nie słyszany, w każdej części jego okazały, wielki, Pan, przed którym się uniżają stworzenia i mówią: „On jest tutaj.“ – Taki cię będzie nosił gdyby gwiazdę na czole swoim, a nie oddzieli się od twej miłości przepaścią słowa. – On będzie kochał ludzi i wystąpi mężem pośród braci swoich. – A kto cię nie dochowa, kto zdradzi za wcześnie i wyda na marną rozkosz ludziom, temu sypniesz kilka kwiatów na głowę i odwrócisz się, a on zwiędłymi się bawi i grobowy wieniec splata sobie przez całe życie. – Temu i niewieście jeden jest początek. (S. 2–4) Woher stiegst du auf, eitler Schatten, der du das Licht verkündest und nicht kennst das Licht, es nicht gesehen hast, nicht sehen wirst! Wer hat dich geschaffen im Zorn oder in der Ironie? – wer gab dir das elende, so verführerische Leben, daß du einen Augenblick den Engel vorstellen kannst, ehe du in Kot versinkst, ehe du dich wie der Molch im Schlamm zu wälzen und in ihm zu ersticken gehest? – Du und das Weib hat einerlei Ursprung. Aber auch du leidest, wenngleich dein Schmerz nichts schafft, zu nichts taugt. Des allerletzten Armen Stöhnen ist gezählt unter die Töne der himmlischen Harfen. – Deine Verzweiflung und Seufzer sinken zu Boden, und Satan sammelt sie aus, fügt sie mit Frohlocken zu seinen Lügen und Trugbildern; – der Herr aber wird sie verleugnen, wie sie einst den Herrn verleugnet haben. Nicht deshalb klage ich gegen dich, o Poesie! Mutter der Schönheit und des Heiles. – Derjenige nur ist unglücklich, wer mitten unter begonnenen Welten,

1014

Teil III Welten, die untergehen sollen, deiner gedenken oder dich ahnen muß – denn nur diejenigen verdirbst du, die sich dir geweiht haben, die lebende Stimmen deines Preises geworden sind. Gebenedeiet ist derjenige, in dem du deine Wohnung aufgeschlagen, wie Gott in der Welt sie aufgeschlagen, unsichtbar, ungehört, in jedem seiner Teile herrlich, groß; der Herr, vor dem sich die Geschöpfe neigen, und sagen: „Hier ist er.“ – Ein solcher wird dich tragen, wie einen Stern an seiner Stirn, sich aber von deiner Liebe nicht durch den Abgrund des Wortes trennen. – Er wird die Menschen lieben und hervortreten als Mann unter seinen Brüdern – wer dich aber nicht bewahrt, zu frühzeitig verrät und ausliefert zum eitlen Kitzel den Menschen, dem streuest du einige Blumen aufs Haupt und wendest dich ab, er aber spielt mit den verwelkten und windet den toten Kranz sein ganzes Leben hindurch. – Dieser und das Weib hat einerlei Ursprung.

Noch später werden wir unsre Aufmerksamkeit einigen Ausdrucksweisen dieses schönen Ausschnitts zuwenden, der uns das hohe Gefühl der Poesie des polnischen Schriftstellers darstellt. Für ihn ist sie keine Kunst, kein Spiel: ausgemalt hat er hier das Bild der Macht der Poesie, der Macht des Geistes, welcher, nachdem er sich ganz in die Sphäre seiner Einbildung (Imagination) geworfen, auf diesem Himmelsbogen über Meere und Wolken herumschweift, alles zu besitzen vermeint, sich aber zu Grunde richtet dadurch, daß er diese Gabe des Himmels zu eitlem Spiel verwendet. Vor einigen Jahren hat, wie bekannt, in Frankreich sich sogar eine Schule gebildet, welche die Theorie dieser Wanderungen in der Zeit und dem Raum zur Einsammlung der Poesie ausbreitete, der Reihe nach die chinesische, arabische usw. durchlaufend. Der in Rede stehende Verfasser hält aber die Poesie für eine Eingebung von hoher Wichtigkeit; er befiehlt, sie wie einen Stern an der Stirn zu tragen und sich nicht durch den Abgrund des Wortes von ihr zu trennen. Sie aussprechen, niederschreiben, heißt ihm zufolge, sie vergeudet, sie verraten haben. Das niedergeschriebene Wort beweist das Unvermögen zu handeln. Die Griechen sogar begriffen die wahre Poesie nicht anders als Tat: die Poiesis [ποίησις] heißt im Griechischen das Tun, das Handeln. Was verlangt folglich unser Verfasser? Er will, daß die kräftigsten, erhabensten, der Gottheit am nächsten stehenden Geister nicht ihre Kräfte in eitlen Worten zersplittern, sondern sie ganz für das Handeln, für die Taten aufbewahren. Wehe ihnen, sollten sie bloß sprechen und schreiben; alsdann wären sie verdammt, ihr ganzes Leben mit etlichen verwelkten Blumen zu spielen. Dies ist der Gedanke des Eingangs der Un-göttlichen Komödie [Nie-Boska komedia].

3. Vorlesung (20. Dezember 1842) Wie die slavischen Dichter und Literaten ihre Sendung betrachten – Bohdan Zaleski, Aleksandr  S.  Puškin – Über geheime Verbindungen zwischen dem Geist slavischer Dichter der Gegenwart und dem Geist Byrons.

Wir sind zu der wichtigen Frage gelangt, wie die slavischen Dichter, Literaten, Schriftsteller ihren Beruf, ihre Pflichten verstehen. Weiß man, welches Ziel sich ein Feldherr oder ein Politiker gesetzt, welche Idee er von seinen Kräften hat, oder in wie weit er sich bei Kräften fühlt, so ist das Endergebnis seines Tuns leichter zu erraten. Der in der vorigen Stunde angeführte Eingang der „Ungöttliche Komödie“ zeigt uns an, von welch hohem Standpunkt die Slaven die Kunst und ihre Erzeugnisse betrachten, wie sie die Form und die Sache selbst, das Wort und dessen Inhalt für eins nehmen; wie alles bei ihnen ein einzig Wort umfaßt, die Tat. Gerade als der Verfasser dieser Dichtung seinen Eingang schrieb, kam der ausgezeichnete polnische Kritiker Grabowski16, die Werke der Neuzeit betrachtend, zu einem ähnlichen Endergebnis. Er beginnt seine Theorie vom Begriff Gottes und sagt, Gott sei als der höchste Schöpfer, als der einzig wahre Schöpfer zugleich auch der größte Dichter. Aus diesem Begriff folgert er die Schlüsse, welche er auf die Poesie anwendet. Betrachten wir nun einen anderen berühmten polnischen Dichter, den Józef Bohdan Zaleski, über den wir auch schon voriges Jahr gesprochen.17 Das Gedicht von Zaleski „Duch od stepu“ (Der Geist von der Steppe), gehört zu seinen Schöpfungen der zweiten Art (Manier), oder vielmehr der zweiten Potenz (Macht). Was man gewöhnlich in der Kunst Art, Manier, nennt, wollen wir lieber, dem Philosophen Trentowski18 folgend, Potenz, Macht nennen. Die erste, zweite, dritte Art, Manier des Dichters, oder Malers, bedeutet in der Schulsprache nur die verschiedene Schreib- oder Malart; Macht, Potenz, drückt jedoch zugleich das Sich-höher-Erheben, das Anwachsen der Kraft aus. Wir werden 16

Michał Grabowski (1804–1863); vgl. seine Abhandlung – O szkole ukraińskiej poezji. In: M. Grabowski: Literatura i krytyka. Pisma. Wilno 1840, tom 1, S. 1–100; hier S. 25 [http:// cyfrowa.chbp.chelm.pl]. 17 Vgl. 1. und 32. Vorlesung (Teil II). 18 Bronisław Ferdynand F. Trentowski: Grundlagen der universellen Philosophie. CarlsruheFreiburg-Paris 1837, S. 16: „[…] Kant wurde als ein Realist zweiter Potenz, und Fichte als ein Idealist der zweiten Potenz, der erste als ein vollkommenerer Locke, und der andere als ein vollkommenerer Leibniz erkannt.“ – Ausführlicher behandelt Mickiewicz Trentowskis philosophisches System in der 21. Vorlesung (Teil III).

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_078

1016

Teil III

eine Darstellung von diesem Gedichte geben, aus welchem man ersehen kann, welch tiefes Kunstgefühl die Slaven besitzen. Bekannt ist Platons Begriff der Schönheit. Dieser große Philosoph, der Erbe der aus der Offenbarung geschöpften Überlieferung der Weisen des Altertums, nimmt das, was die Schulen ideae innatae19, die eingeborenen Ideen nennen, an. Seine Meinung ist, die Geister hätten vor Annahme der körperlichen Hülle, in ihrem Entstehen schon im Schoß der Gottheit verweilt; so daß die ideae innatae deutlicher gesprochen, nichts anderes sind als nur Rückerinnerungen, dunkle für die Zeit und den Raum noch unentfaltete Rückerinnerungen. Diese Erinnerungen entfaltet und vervollständigt später der Geist während seiner irdischen Laufbahn, während seines irdischen Lebens. Dies ist ein bei weitem mehr fruchtbarer Gedanke als alle Systeme der deutschen Ästhetiker zusammengenommen! Wenn uns also die Schönheit eines Gegenstandes auffällt, so erfahren wir nach Platons Ansicht in diesem Augenblick das nämliche Gefühl, wie das, von welchem ein Verbannter beim Anblick einer fremden Gegend, die ihn an eine ähnliche in seinem Vaterland erinnert, durchdrungen ist; er stutzt, ehe er sich Rechenschaft ablegen kann, woher diese Rührung gekommen ist. Auf diese Art ist die Schönheit, – um nur von der Kunst zu reden, – die teilweise, vergängliche, irdische Schönheit eine undeutliche Erinnerung dessen, was der Geist schon früher ein Mal erfahren, oder was er einst noch erfahren soll, als bestimmt dazu, alle diese Gefühle zu umfassen und so das Ideal der Schönheit in sich zu verwirklichen.20 So ist das System Platons, das gewöhnlich in den Schulen durch die technische Sprache verfinstert und undeutlich gemacht wird. Zaleski geht von demselben Gedanken aus, und darum erscheint sein Gedicht, obgleich es nichts Klareres, nichts Durchsichtigeres gibt als seine Ausdrücke, dennoch dunkel, weil man den ganzen Inhalt desselben nicht eher fassen kann, als bis man diese umfangsreiche Idee Platons sich vergegenwärtigt und deutlich erkannt hat. Er beginnt mit der einfachen und naiven Beschreibung der Kindheit des Dichters, stützt seine Komposition auf die philosophische Idee und drückt sich überall klar und einfach, wie ein Dichter des Volkes aus; was übrigens beweist, daß die 19 20

Vgl. René Descartes: Meditationes de Prima Philosophia. Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Hamburg, 1992 (= Philosophische Bibliothek. Band 250a); lateinischdeutsche Ausgabe) – Meditatones III. Vgl. Plato – Hippias maior; deutsche Übersetzung – Platon: Hippias der Größere oder das Schöne. In: Platons sämtliche Werke. Übersetzt von Hieronymus Müller. Erster Band. Leipzig 1850, S.  37–94. Vgl. Władysław Tatarkiewicz: Geschichte der Ästhetik, Bd. 1: Die Ästhetik der Antike, Basel 1979; Umberto Eco: Die Geschichte der Schönheit. München 2004.

1017

3. Vorlesung (20. Dezember 1842)

erhabensten, philosophischen Konzeptionen mit der gewöhnlichen Volkssprache wiedergegeben werden können. Hier ist der Anfang seines Gedichts: I mnie matka-Ukraina, I mnie matka swego syna Upowiła w pieśń u łona; Czarodziejka – na rozświcie Napowietrzne, ptasie życie Przeczuwała na plemiona, I wołała rozczulona: „Piastuj dziecię me, rusałko! Mlekiem dum – i mleczem kwiecia, Pój do lotu mdłe to ciałko! Pięknej sławy mej stulecia Podaj do snu na obrazki, Barwą złotą i błękitną, Tęczą w okrąg niech rozkwitną Wszystkie mego ludu kazki!“21

Mich auch hat die Mutter Ukraine, Mich auch hat sie, ihren Sohn, Eingewindelt ins Lied am Busen, Die Zauberin, im Zwielicht; denn sie fühlte Mein ätherisches Adlerleben In der Zukunft fernen Geschlechtern, Und rief entzückt der Steppennymphe zu: „Nymphe, pflege Du mein Kindlein, Tränke mit dem Saft des Kosakenliedes, Mit dem Mark der Steppenblume, Seinen schwachen Leib zum hohen Fluge! Die Jahrhunderte meines schönen Ruhmes Reich ihm hin zu Traumesbildern Rein in Gold und Himmelbläue mögen Auferblühn ringsum wie Regenbogen Alle Sagen meines Volkes.“

Die Ukraine, in den Volksliedern einmal die Mutter, das andere Mal die Geliebte und dann wieder zuweilen die Stiefmutter genannt, nimmt hier das Kind auf. Nach diesem scheinbaren Eingange beschreibt er in Kürze sein Leben, sich zuvor erinnernd eines Daseins. Luby, dziwny, gdzieś przed laty, Irgendwo vor Jahren ein wundervolles, Żywot czysty i skrzydlaty, Reines, ätherisches und beflügeltes Leben, Pierworodny swój początek! (S. 110) In seinem göttlichen Ursprunge.

Dann vernimmt er die Stimme des Herren, der ihm verkündet: „Czas wypełnia się twej próby Zleć, iskierko, do otchłani.“ (S. 112)

„Deine Prüfungszeit erfüllt sich Fliege, Funke, in den Abgrund.“

Endlich der Flug zur Erde, das Traumbild seiner Zukunft, seiner Schicksale von Kindheit an, bis zu den Tagen der Pilgerschaft. Erst mit dem achten Vers oder vielmehr Gesang hebt das Gedicht selbst an, das ein Bild der Zeiten ist, welche der Geist des Dichters noch mit Augen, die nichts Irdisches an sich 21

Józef Bohdan Zaleski: Duch od stepu. In: J.B.  Zaleski: Wybór poezyj. Wstęp Barbara Stelmaszczyk-Świontek. Wybór i kommentarz Cecylia Gajkowska. Wrocław 31985, S. 107– 108. Nach dieser Ausgabe wird verkürzt zitiert.

1018

Teil III

haben, betrachtet. Hier erzählt er die paradiesische Erdenepoche, dann die uralte Geschichte und endlich die Geschichte des Christentums; er umfaßt die ganze Geschichte der Menschheit und bringt sie immer in Zusammenhang mit derjenigen der Ukraine, wo der Dichter geboren ist, wohin er stets mit seiner Erinnerung zurückkehrt; denn das in ein Wunder gehüllte Rätsel seines Daseins liegt auf dieser Steppenbahn, durch welche die Horden Asiens nach Europa vordrangen: Stepy – światoburców droga, Tam przechadzał się gniew Boga; (S. 109)

Steppen – der Weltstürmer Bahn, Hier erging sich der Zorn des Herrn,

Unter anderem finden wir dort eine sehr schöne Beschreibung, wie die dem Westen zueilenden Barbaren durch die Ukraine ziehen: „Roma!“ Okrzyk głuchy zrazu – Grzmi roznośniej od Kaukazu, Lik skrzydlaty, czy tabunny, Szerzy w stepach tętent, huki? Coś już wietrzą pańskie kruki! Barbarzyńcy, o! nieuki – Ostrogoty, Goty, Hunny: Z różnych plemion czerń zaciężna, Straszna w sile – a orężna!… Bliżej, bliżej – okrzyk dzwoni; „Ura ho! na popas koni, Do Panonii! do Panonii?“ W stal zakuty wódz na przedzie, Przez bezdroża jedzie – wiedzie – Konny posąg Al-hun-ryka, Niedźwiedzimi strzępi kudły! Suchożyły, w kość zachudły, Boży Gniew – twarz groźna, dzika; – Wzrok, co nigdy się nie zmyka, Bo powieki wrosły w czoło … Jako rzeka w skałach stroma, Pluszcze za nim gwar wokoło; „Roma! Roma! gdzie ta Roma?“ Konny posąg – wódz na przedzie, Nieprzystępny, głuchy, niemy, Przez bezdroża jedzie, wiedzie;

Rom! Ein dumpfer Lärm erhebt sich plötzlich von der Seite des Kaukasus; / Verbreitet etwa eine Flügel- oder Hordenschar in der Steppe das Dröhnen der Hufschläge? / Die Raben des Herrn wittern schon etwas! / Das sind die Barbaren, O! Ihr Banausen, / Ostrogoten, Goten und Hunnen: / schwarzgepanzerte Söldner aus verschiedenen Stämmen, / furchterregend und bewaffnet!… / Näher, näher klingt der Ruf; / „Hurra, für die Rast der Pferde / nach Pannonien! Nach Pannonien! / In Erz geschmiedet reitet der Anführer voran, / Über Unwege reitet er, der Reiterkoloß der Hunnen, / Mit Bärenhäuten bedeckt! / sehnig, bis auf die Knochen abgemagert, / der Zorn Gottes – das Gesicht wilddräuend – / mit einem Blick, der niemals weicht, / da die Augenbrauen in die Stirn gewachsen …/ wie der Fluß in die Felsenschlucht; / und hinter ihm tönt aus dem Stimmengewirr; / „Rom! Rom! Wo ist Rom? / Und der Reiterkoloß, der Anführer voran, / unnahbar, stumm und taub, / reitet über Unwege, führt: /

3. Vorlesung (20. Dezember 1842) Nagle staje. „Tu spoczniemy. Strona w stepach ta, czy nie ta? W nocy wskaże nam kometa! Roma – Roma – niedaleko …“ (Grzmi ku swoim wieść ponurą:) Tam – za siódmą tylko górą … Za dziewiątą tylko rzeką! Ale słońce mile świeci, Poigrajcie w piasku, dzieci!“ Na rozkazy wodza dziatwa – W prawo – w lewo – z dala – z bliska Wnet się roi na mrowiska! I zabawka lekka, łatwa Nie mitręży wcale siły. W ruchu tylko ręce, stopy: Znoszą skały pod mogiły. Ryją na sto mil przekopy … Ślad maluchny ich przechodu, Pamięć, czym był świat za młodu!… (S. 135–137)

1019 Plötzlich hält er an. / „Hier rasten wir. / In welche Richtung in der Steppe, in die oder in eine andere? / In der Nacht wird uns das der Komet zeigen! / Rom, Rom, ist nicht weit … / (Und für die Seinigen lautet die trübe Nachricht:) / Dort hinter dem siebenten Berg … / Hinter dem neunten Fluß! / Aber die Sonne scheint angenehm, / Kinder, spielt im Sand! / Auf Befehl des Anführers bewegt sich die Kinderschar / mal links, mal rechts, mal von fern, mal von nah; / Bald schwirren sie zu Ameisenhaufen zusammen! / Ein Vergnügen leicht, nicht schwierig, / schont die Kräfte gar. / In Bewegung nur Hände und Fersen: / Sie tragen Steine an die Hügel, / Heben Gräben meilenweit aus … / Eine kleine Spur ihres Durchgangs, / als Erinnerung an das, was die Welt in der Jugendzeit war!…

Nachdem der Dichter oder der Geist des Dichters die Geschichte des Altertums durchlaufen, fällt er durch Wolken von Tränen herab und findet sich von Tränen gesättigt, durchdrungen von Tränen, im heutigen Polen. Endlich schließt die Dichtung mit dem erhabenen Bild des auf dem Gipfel der Karpaten von den Geistern aller großen Könige, aller großen slavischen Feldherrn umringten, büßenden Polens. Dies prophetische Ende des Gedichts gehört schon einer anderen Gattung von Poesie an. Also Zaleski zufolge, macht nicht den Dichter aus, die Taten eines Herrschers zu lobpreisen, nicht die Begier nach Erwerbung des Ruhms, auch nicht die Liebe zur Kunst, sondern man muß dazu geboren, man muß zum Sänger, zum Seher seines Volkes, seines Landes berufen sein; ihnen aber singen heißt nichts anderes als den Gedanken Gottes, der auf dem Volk ruht, offenbaren. Im Übrigen sehen wir hier schon, daß der polnische Dichter die politische Geschichte seines Landes verläßt, daß er sich einen neutralen Boden erwählt, von der Verwandtschaft mit Bojan, jenem mythischen, dem ganzen Slaventum angehörenden Sänger spricht; daß er zum Dichter des slavischen Stammes wird.22 Unter den Russen wollte sich Puškin auch von seiner literarischen und dichterischen Laufbahn Rechenschaft ablegen, er wollte sich von vorn herein die 22 Über Bojan vgl. die 14. Vorlesung (Teil I).

1020

Teil III

Bahn stecken, die er zu durchlaufen hätte. An drei Stellen spricht er nämlich von dem Beruf des Dichters. In einem seiner Sonette („Sonet“), dann in einem Gedicht, betitelt „Prorok“ („Der Prophet“), und in einem Zwiegespräch („Poėt i tolpa“ – „Der Dichter und die Menge“), das wir alsobald anführen werden. Das übrigens recht hübsche Sonett spricht die vom Westen angenommenen Ideen aus, es stellt den Dichter vor als die Meinungen seiner Richter und Kritiker verachtend, bloß bedacht auf die Vollkommenheit des Werkes. Puškin vergöttert hier die Kunst. Später jedoch, in der schönsten Zeit seines Lebens, als er die ganze ihm inwohnende Kraft fühlte, schrieb er das Gedicht, betitelt „Der Prophet“, in welchem er sich bis zu der Höhe des Verfassers der „Un-göttliche Komödie“ erhebt. Alle Ausdrucksweisen dieser wunderschönen Poesie sind aus den heiligen Büchern geschöpft. Hier erst gesteht er, daß um zu singen, um Dichter zu sein (denn mit diesem Worte „singen“ bezeichnet man die Arbeit des Dichters) man gänzlich anders werden müsse. Er sagt nun, die Redeweise der hebräischen Dichter anwendend, daß, als er lechzend in dem dunklen Irrtal herumzog, ihm der sechsflügliche Seraph in den Weg trat, ihm Augen und Ohren öffnete mit dem Berühren seiner Finger, daß er ihm den Stachel der Eitelkeit und Heuchelei, die sündhafte Zunge herausriß, die Brust mit dem Schwert spaltete, das hüpfende Herz herausnahm und an dessen Statt eine brennende Kohle hineinlegte; von jener Zeit an aber hörte er den Flug der Engel im Himmel und den Gang der Meeresungeheuer in den Tiefen, er hat den Befehl Gottes erhalten, seines Willens voll die Länder und Meere zu durchziehen und mit dem Wort die Herzen der Menschen zu entzünden. Es war dies der Anfang einer neuen Zeit in Puškins Leben, doch gebrach ihm die Kraft, bis zu dem vorgefühlten Ziel zu gelangen; er war nicht im Stande sein inneres Leben und seine literarischen Arbeiten dieser großen Wahrheit gemäß einzurichten. Sie verblieb inmitten seiner literarischen Leistungen ohne Zusammenhang, ungewiß wie und woher dort hineingeraten. Diesen Vers hatte er nach Entdeckung der Verschwörung von 1825 geschrieben. Die Stimmung, in der er sich damals befand, ging bald vorüber, und damit beginnt sein moralisches Sinken. Immer war er noch unvergleichlicher Künstler in seiner Art, schon vermochte er aber nicht mehr etwas Ähnliches hervorzubringen, sogar scheint er im Auffassen der Poesie rückwärts gegangen zu sein. Gereizt von den Kritikern, betrübt darüber, daß man ihn nicht zu schätzen verstehe, schrieb er dem Publikum gleichsam im Zwiegespräch des Dichters mit der Menge eine scharfe Rüge, die sogleich folgt. Puškin betrachtet in derselben schon wieder die Poesie nur als Kunst, er fügt jedoch hinzu, sie sei zugleich ein Gebet.

1021

3. Vorlesung (20. Dezember 1842) Поэт и толпа

Procul este, profani Поэт по лире вдохновенной Рукой рассеянной бряцал. Он пел – а хладный и надменный Кругом народ непосвященный Ему бессмысленно внимал.

Der Dichter und die Menge Procul este, profani Leise schlug die Saiten seiner Leier Des Dichters kunstgeweihte Hand. Er sang – doch regungslos umstand, Nicht angesteckt von Gottesfeuer, Das Volk ihn frech und hirnverbrannt.

И толковала чернь тупая: „Зачем так звучно он поёт? Напрасно ухо поражая, К какой он цели нас ведёт? О чём бренчит? чему нас учит? Зачем сердца волнует, мучит, Как своенравный чародей? Как ветер, песнь его свободна, Зато как ветер и бесплодна: Какая польза нам от ней?“

Der Pöbel sprach mit blöden Blicken: „Was singt er liedbeseelten Munds? Will er uns das Gehör bestricken? Zu welchem Ziele führt er uns? Was klimpert er? Was will er lehren? Will er die Herzen uns betören, Erheitern, quälen das Gemüt? Sein Sang ist gleich dem Winde flüchtig, Drum ist er gleich dem Winde nichtig – Welchen Nutzen bringt sein Lied?“

Поэт Молчи, бессмысленный народ, Подёнщик, раб нужды, забот! Несносен мне твой ропот дерзкий, Ты червь земли, не сын небес; Тебе бы пользы всё – на вес Кумир ты ценишь Бельведерский. Ты пользы, пользы в нём не зришь. Но мрамор сей ведь бог!.. так что же? Печной горшок тебе дороже: Ты пищу в нём себе варишь.

Der Dichter Schweig, seelenloses Staubgeschlecht, Du Tagelöhner, feiler Knecht! Du lebst nur, daß dein Leib sich nähre! Wurm bist du, Sohn des Himmels nicht: Nur Nutzen suchst du – nach Gewicht Schätzt du das Bild vom Belvedere Was dir nicht nützt, das trifft dein Spott. Ist jener Marmor auch ein Gott – Steht höher doch bei dir im Preise Ein irdner Topf: er kocht dir Speise!

Чернь Нет, если ты небес избранник, Свой дар, божественный посланник, Во благо нам употребляй: Сердца собратьев исправляй. Мы малодушны, мы коварны, Бесстыдны, злы, неблагодарны; Мы сердцем хладные скопцы, Клеветники, рабы, глупцы; Гнездятся клубом в нас пороки. Ты можешь, ближнего любя, Давать нам смелые уроки, А мы послушаем тебя.

Der Pöbel Bist du des Himmels auserwählter, So gib uns auch, du Gottbeseelter, Zum Segen deine Gabe hin: Bekehre deiner Brüder Sinn! Arglistig sind wir, feig und niedrig, Undankbar, tückisch, sittenwidrig, Von blöder sklavischer Natur Und Hämmlinge des Herzens nur, Weil Lasterflammen uns verzehren. Liebst du den Nächsten in der Tat – So gib uns Rat, so gib uns Lehren, Und wir befolgen Lehr’ und Rat.

1022

Teil III

Поэт Подите прочь – какое дело Поэту мирному до вас! В разврате каменейте смело, Не оживит вас лиры глас! Душе противны вы, как гробы. Для вашей глупости и злобы Имели вы до сей поры Бичи, темницы, топоры; – Довольно с вас, рабов безумных! Во градах ваших с улиц шумных Сметают сор, – полезный труд! – Но, позабыв своё служенье, Алтарь и жертвоприношенье, Жрецы ль у вас метлу берут? Не для житейского волненья, Не для корысти, не для битв, Мы рождены для вдохновенья, Для звуков сладких и молитв.23

Der Dichter Hinweg! Nie dient des Pöbels Zwecken Des Dichters friedereiches Lied! Nie wird der Leier Ton euch wecken, Versteint im Laster das Gemüt! Ein Eckel seid ihr meinem Blicke! Für eure Dummheit, eure Tücke Habt ihr bis heute nicht entbehrt Gefängnis, Knute, Strang und Schwert – Und das schon ist ein großer Segen! Bringt nutzen auch das Straßenfegen – So wird doch nimmermehr, fürwahr, Ein Priester, den der Herr erlesen, Ergreifen einen schmutzigen Besen Und schänden Opfer und Altar! Nicht zu des Weltgewühls Bemeistrung, Nicht zu der Habgier Niederzwang – Geboren sind wir zur Begeisterung, Zum Preisgebet und Wonnensang!24

Dies ist die letzte Schranke der Idee Puškins; er erreichte nur das Gebet. Vorgenommen hat er sich, wie ein Opferpriester, wie ein Wächter am unantastbaren Altar der poetischen Begeisterung zu wachen. Dem ungenannten polnischen Verfasser der „Un-göttliche Komödie“, welcher glaubt, nicht bloß „zum Preisgebet und Wonnensang!“, sondern auch für den Kampf geschaffen zu sein, muß man mehr Kraft zugestehen. Übrigens ist dies bloß ein anderes Auffassen des Gebets. Früher schon sagte Garczyński: […] dusza nasza jest pacierzem.25

[…] unsere Seele ist ein Gebet. –

d. h. die Bewegung des Geistes auf dem Weg zu Gott ist ihm gemäß, wie dem ungenannten Verfasser der „Un-göttliche Komödie“ die Verwirklichung der Eingebungen Gottes, das Gebet. Auf diese Weise wird in jedes Teilchen der uns umringenden Welt etwas von Gott Kommendes gebracht, es wird unsere ganze Umgebung geheiligt; und zu solchem Gebet, zum Leben und zum Kampf ist die Poesie unserer Zeit berufen. 23 24 25

A.S.  Puškin. „Poėt i tolpa“. In. A.S.  Puškin: Polnoe sobranie sočinenij v desjati tomach. Tom vtoroj: Stichotvorenija (1823–1836). Moskva 1959, S. 234–235; zuerst unter dem Titel „Čern’“. Nachdichtung von Friedrich Fiedler. In: Alexander Sergejewitsch Puschkin: Gedichte, Poeme, Eugen Onegin. Berlin 1947, S. 104. Stefan Garczyński: „Ostatnie chwile samotnika“. In: S.  Garczyński: Poezje. Paryż 1833, Bd. 2, S. 23.

3. Vorlesung (20. Dezember 1842)

1023

Noch späterhin werden wir daraus unsere Aufmerksamkeit lenken, wie die slavischen Dichter die Poesie begreifen; was sie jedoch erhob, was ihnen den Weg erleichterte und im allgemeinen ihre Vorstellungen hierin aufhellt, das ist die dichterische Laufbahn Lord Byrons. Byron eröffnet die Ära der neuen Dichtung. Er war der Erste, welcher den Leuten zu fühlen gab, daß die Dichtung keineswegs ein eitles Spielwerk sei; daß es nicht genüge, Wünsche und Worte hören zu lassen, sondern daß man auch selbst so leben müsse, wie man schreibe. Darum auch sah man diesen reichen, in einem aristokratischen Lande erzogenen Mann das Parlament und Vaterland verlassen, um der griechischen Sache zu dienen. Dieses lebhafte, kräftige Gefühl der Notwendigkeit, sein Leben dichterisch zu gestalten und dadurch das Ideal der Wirklichkeit näher zu bringen, macht den ganzen poetischen Wert Byrons aus. Alle slavischen Dichter strebten auch diesem Ziele zu. Byron ist das geheime Band, welches die große Literatur der Slaven mit der des Westens verbindet. Man kann sogar sagen, daß bei den Völkern des Abendlandes die Reihenfolge der Zeugung großer Dichter unterbrochen worden, während mittlerweile die durch Byron geschaffenen Typen unter der Feder der Slaven sich vervielfältigen und eine immer mehr erhabene Gestalt annehmen. Viele derselben kannten nicht einmal die Werke des großen englischen Poeten; kaum erhaschten sie einige Klänge, einige abgerissene Worte seiner Verse, und dieses genügte ihnen. Die Kraft dieses Mannes war so groß, daß sie sich durch einige Worte äußerte, daß diese wenigen Worte hinreichten, die Seelen zu erschüttern, sie zu wecken, ihnen das Geheimnis ihres eignen Daseins zu enthüllen. Mit Byron beginnt die neue Epoche der Literatur, die neue Epoche der Poesie. Dieses Schrifttum, diese Dichtung berührt mit ihrer einen Seite die Philosophie, mit der anderen das wirkliche Leben. Bekannt ist, mit welchem Adlerblick Byron die politischen Aufgaben durchschaute, wie er stets sich bemühte, das Haupträtsel der menschlichen Geschichte zu lösen. In ihm sehen wir auch am meisten vergegenwärtigt jene Qualen des anomalen Daseins, das ziellose Sich-Hin-und-Herwerfen, jenes Verlangen nach etwas Außerordentlichem, die Sehnsucht nach der unbekannten Zukunft, was alles den Übergang aus dem 18. ins 19. Jahrhundert bezeichnet. Alles, was die Gemüter quälte, was in den Seelen der Jugend unseres Zeitalters vorging, alles Dies malte er treu in seinen Schriften und seinem Leben aus. In dieser Hinsicht ist er der Dichter des wirklichen Lebens. Ähnliche Gefühle, ähnliches Streben leuchten auch in den slavischen Dichtern durch.26 26

Vgl. Stefan Treugutt: Bajronizm. In: Słownik literatury polskiej XIX wieku. Red. Józef Bachórz und Alina Kowalczykowa. Wrocław-Warszawa-Kraków 1991, S. 70–72; Richard A. Cardwell: The reception of Byron in Europe. London 2004.

1024

Teil III

Wir sehen daher, daß, wie in der Politik, so auch in der Kunst, immer einzelne Männer den Epochen vorangehen, und wie sehr sich auch der Stolz der Menge dagegen sträubt, so muß sie sich dennoch bequemen, ihrer Spur nachzugehen, in ihre Fußtapfen zu treten, so wie Meerfahrer sich an den Weg derjenigen halten müssen, welche die ersten unbekannten Meere beschifften, ohne jedoch in der Freiheit, ihre Entdeckungen zu vervollkommnen und zu vergrößern, beschränkt zu sein. Die Bahn solcher Wegweiser verfolgen, heißt nicht etwa bloß, an ihren Formen sich festklammern, ihre Muster wiederholen, sondern von ihrem Geist die Begeisterung, die Eingebung nehmen, sich mit ihrem Geist durchdringen, erfüllen; und wir haben die Überzeugung, daß keiner berufen ist, im literarischen Fortschritt unseres Jahrhunderts vorwärts zu schreiten, wer nicht erkannt hat, was sich wahrhaft Großes, Wahres, was sich wirklich Erhabenes und Tiefes in Byron vorfindet. Auch Byron empfing seinerseits den Schwung von Napoleon. Für uns liegt es offen dar, daß der Lichtstrahl, welcher in Byron die Flamme zünden machte, vom Geist Napoleons ausging. Wie könnte man sich auch übrigens diese wunderbare Erscheinung erklären, eine solche Erscheinung inmitten der gealterten, nachahmungssüchtigen Literatur der Engländer des vorigen Jahrhunderts, die mit Thomson27 und dessen Schule endet? Wie sich nur vorstellen, woher dieser eigentümliche Dichter gekommen, der weder Vorbilder noch Nachfolger besitzt? Denn ungeachtet des großen Einflusses und Beispiels dieses Genius haben seine Zeit- und Landesgenossen nichts Ähnliches hervorgebracht; als er aber von ihnen geschieden, ihnen den Platz freigelassen hat, sank die Literatur der Engländer wieder zu derselben Niedrigkeit, in welcher er sie vorgefunden. Um sich zu überzeugen, daß die von Frankreich aus durch Napoleon bewirkte Erschütterung ihn aus der Bahn der schulrechten Arbeiten geschleudert hat, genügt es, seine ersten Verslein „The Hours of Idleness“ (1807) mit den großen Schöpfungen, die er auf seinen Wanderungen in Spanien, im Morgenland niederschrieb, zu vergleichen. Liest man seine Briefe aus Spanien, so ersieht man, wie ihm Napoleon stets vor Augen gestanden. Er war auch nur der Einzige, welcher Napoleon in etwas zu verstehen vermochte. Zwar verringerte er ihn bis zu der Gestalt eines Korsaren, eines Seeräubers; zwar bemerkte er in ihm nur die Kraft, mit der er sich die Menschen unterwarf; begriff aber auch, woher diese Kraft kam, beschrieb ganz vorzüglich seine Persönlichkeit und erriet, daß Napoleon über die ihm Gleichen herrsche, weil sein Geist in immerwährender Arbeit begriffen war, seine Gefühle nie zur Ruhe kamen. „[…] i suoi pensieri in

27

James Thomson (1700–1748). Vgl. J. Thomson: Die Jahreszeiten – The Seans. Übersetzt von Wolfgang Schlüter. Weil am Rhein-Basel 2003 (deutsch-englische Ausgabe).

3. Vorlesung (20. Dezember 1842)

1025

lui dormir non ponno“28 (Auch seine Gedanken können in ihm nicht zur Ruhe kommen) – schrieb er als Motto des Gedichts, in welchem er ihn malen wollte. Hieraus gewahren wir schon von fern, wie sich entlegene Länder und Literaturen allmählich einander nähern, und welch ungeheure Bewegung nur Ein Genius auf Erden bewirken kann. Napoleon trieb Byron an; Byrons Einfluß, selbst das Echo seines Ruhmes, weckte Puškin29, und zur selben Zeit scheinen die polnischen Dichter, die Sänger der Provinzialschulen, wie wir sie nannten, einer nach dem anderen dieselbe Bahn zu betreten, sich immer mehr dem wirklichen Leben zu nähern; sie scheinen desgleichen, sagen wir, ihren Ursprung Byron zu verdanken; denn an allen seinen literarischen Nachkommen sieht man, unbeschadet der einem jeden von ihnen zukommenden Selbstständigkeit und Urtümlichkeit, dennoch das Verwandtschaftsmal. Nicht behaupten wollen wir jedoch, es solle die Poesie und die Literatur für immer nur in der Tat, in der Handlung bestehen, es sei das Wort, dem ungenannten Verfasser der „Un-göttliche Komödie“ gemäß, immer Verrat, Vergeudung des Geistes, und das ganze schaffende Feuer des Geistes dürfe nur in die Tat übergehen. Diese Regel ist nicht als allgemeine Regel zu betrachten. Die Kunst wird immer bestehen, die Kunst ist eins der Bande, die den Menschen mit der unsichtbaren Welt vereinen. Es gibt sogar Zeitperioden, in welchen die edelsten Geister, die wackersten Männer sich der Kunst mehr als etwas anderm hingeben. Gewöhnlich geschieht dies nach Lösung der die Menschen angehenden Haupt- oder Lebensfragen; solche Fragen oder Lebensrätsel werden aber nur im kühnen Kampfe entschieden. Tritt die Welt in die Bahnen der friedlichen Fortentwickelung, so blüht die Kunst auf und verschönert das menschliche Leben; Augenblicke gibt es aber auch, wo die Anstrengungen anderswohin sich richten müssen, wo es Beruf eines jeden ist, seine ganze Tätigkeit zur Lösung etlicher großen Fragen, die über das Schicksal der gestimmten Menschheit entscheiden, anzuwenden. Wäre es anders, so gäbe es auch nicht einmal solche Epochen, in welchen die Welt gerade und gleichmäßig weitergehen kann. Es gibt Kunstperioden, in welchen die schaffende Kraft sich gänzlich in Gemälden, in der Sprache usw. offenbart; es gibt auch Zeitperioden, wo diese Kraft die Menschen erfaßt, die Massen erschüttert und bewegt. Eine solche Epoche rückt zusehends für die Slaven heran. Keinem ihrer Dichter ist es gegeben, die ganze Gestalt der Zukunft zu enthüllen; sie begreifen 28 29

Motto in Byrons „The Corsaire“ (1814) [„Der Korsar“] aus dem Werk von Torquato Tasso: Gerusalemme liberata (1575), canto decimo, Strophe LXXVIII, Vers 624; vgl. auch seine „Ode to Napoleon Buonaparte“ (1814). Vgl. Viktor Maksimovič Žirmunskij: Bajron i Puškin. Iz istorii romantičeskoj poėmy. Leningrad 1924 (Reprint: München 1970).

1026

Teil III

aber dieselbe immer vollkommener und mehr, sie drücken die Forderungen ihrer Völker immer besser aus, mit allen Kräften fördern sie die Zukunft zu Tage. So verfährt, zu diesem Ziele strebt die tschechische, die polnische und die russische Poesie. Die Kritik, welche in Friedenszeiten gewöhnlich den Künsten vorleuchtet, wird in einer Epoche wie die gegenwärtige fast immer von der Poesie überholt, sie folgt ihr auf der Spur. Gerade so geschieht es auch heute in Polen und in Rußland. Die Kritik muß dort nach jedem neu veröffentlichten Werk vorwärts gehen, sie muß einen höhern Standpunkt einnehmen, erhabenere Aufgaben beleuchten. Ihrerseits wird wiederum die Poesie, die Literatur im Allgemeinen von dem Instinkt der Massen, von der Lebenskraft der Völker, ihren volkstümlichen Forderungen noch mehr überholt und vorwärts getrieben. Nach jeder politischen Begebenheit müssen die Volksdichter und Literaten sich höher erheben, um den großem, umfassenderen Gesichtskreis zu begreifen, bis endlich Männer erscheinen, welche die Gesamtmassen überholen, sie in ihre Gewalt nehmen; vor ihnen hält die Kritik, Poesie, Literatur ebenso, wie das ganze Publikum, in Bewunderung still und unterwirft sich ihrer Macht. Napoleon war einer von diesen Männern. Schon öfters sprachen wir es aus, daß er eine hohe Stelle in der slavischen Geschichte einnimmt. Öfters sogar beschuldigte man die polnische Literatur des Götzendienstes für ihn. Byron war von ihm überwältigt. In einem Brief Byrons, geschrieben während des Krieges Frankreichs mit England vor der Schlacht von Waterloo, leuchtet der verborgene Wunsch durch, Napoleon möchte die Engländer besiegen.30 Ein solcher Wunsch im Busen eines stolzen Briten ist füglich unter die Geheimnisse zu zählen, die, arcana imperiorum genannt, einst vielleicht werden begriffen werden. Der stolzeste Engländer unterlag, von Bewunderung erfaßt. Hätte Napoleon stets seinem Sterne, der ihn in Italien und Ägypten führte, gefolgt, so kann man glauben, er hätte ebenso die Heer- und Flottenführer der Engländer besiegt, sie wären gezwungen, ihn zu bewundern; dieses unwillkürliche Gefühl hätte die kalte Berechnung aus der Bahn geworfen, es hätte den britischen Stolz entwaffnet.

30

Vgl. Letters and journals of Lord Byron: with notices of his life, by Thomas Moore. New York 1830, vol. 1, S. 361: „Napoleon! – this week will decide his fate. All seems against him; but I believe and hope he will win-at least, beat back the invaders. What right have we to prescribe sovereigns to France!“ [https://www.loc.gov/law/mlr/Lieber_Collection-pdf/ Letters-Journals-of-Lord-Byron.pdf].

4. Vorlesung (27. Dezember 1842) Ziel und Sendungskonzept der Poesie bei den Tschechen – Kollár – Auffassung der österreichischen Diplomatie über die slavische Bewegung bei den Tschechen – Was ist das österreichische Kaiserreich?

Je nachdem sich die Literaten Zweck und Ziel ihrer Arbeit setzen, kann man fast immer das Maß ihrer Kräfte, das Maß der Lebensfrische ihrer verschiedenen Volkstümlichkeiten erkennen. Bekannt sind uns schon in dieser Hinsicht die Vorstellungen und Begriffe der polnischen und russischen Dichter, es bleiben uns die tschechischen zu erwägen übrig. Die in der Vergangenheit versunkenen, der Gegenwart wenig Aufmerksamkeit schenkenden und sich nur nach der Zukunft sehnenden Tschechen haben einige ausgezeichnete Dichter. Der am meisten bekannte, der berühmteste unter ihnen ist Jan Kollár, ein Slovake von Geburt, wohnhaft in Ungarn.31 Schon sahen wir, wie das literarische Leben in Tschechien durch die Bemühungen der Magnaten und Gelehrten aufgeschürt worden ist, wie diese heilige Flamme fortwährend durch die Erzeugnisse namentlich der Gelehrsamkeit und Philosophie genährt wird; wir sahen also, daß dort die zivilisierten Stände ihr Volk geweckt haben; die Bewegung ging vom Adel aus, die Gelehrten, die Professoren führen sie weiter. Kollár gehört durch die Dankbarkeit für den tschechischen Adel der Vergangenheit, durch seine Beschäftigungen als Literat und Professor aber der Gegenwart an. Es ist äußerst schwierig, der Welt des Augenblicks sogar unmöglich, zu begreifen und zu fühlen, was sich wahrhaft Erhabenes, Dichterisches in Kollárs Poesien vorfindet. Die Engländer haben viele seiner Sonette übertragen; man hat sich große Mühe gegeben, seine Werke in literarischer Hinsicht auseinander zu setzen; man hat sie scharf getadelt und auch sehr gelobt, ohne jedoch den Geist Kollárs fassen zu können. Es ist dies ein neuer Typus in der Literatur der Gegenwart. Wir haben gesagt, daß die Tschechen uns das Muster von Gelehrten darstellen, wie sie einst sein werden, das Muster der bescheidenen, armen, fleißigen Gelehrtcn, die uns an den Eifer der Kirchenväter erinnern, die mit der nämlichen Liebe sich dem Volkstum hingeben, wie jene heiligen Manner dem Glauben, die nicht daran denken, die Früchte ihrer Arbeit zu 31

Jan Kollár (1793–1852). Vgl. die 1. Vorlesung (Teil I). Über J. Kollár vgl den Sammelband: Ján Kollár (1793–1993). Zbornik štúdií. Red. Cyril Kraus. Bratislava 1993; Leokadia Pośpiechowa: Problematyka czeska w wykładach paryskich A. Mickiewicza. In: „W ojczyźnie serce me zostało …“. W dwusetną rocznicę urodzin Adama Mickiewicza. Redakcja naukowa Jerzy Pośpiech. Opole 1998, S. 321–350.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_079

1028

Teil III

verkaufen. Wollten sie nur deutsch oder französisch schreiben, so könnten sie großen Ruhm bei den Fremden einernten; lieber ziehen sie jedoch das stille Verdienst, die Arbeit für ihre Landsleute vor. So sind die tschechischen Gelehrten. Kollár macht zwischen dem Charakter des Gelehrten und des Dichters den in der Mitte stehenden Typus aus. Er hat kein Vaterland, die Tschechen haben sich ihn angeeignet; doch ist er ein geborner Slovake, d. h. Slave, wohnt aber in Ungarn, wo er, von den anders sprechenden Ungarn verfolgt, mit dem Lande wenig Zusammenhang hat. Die Polen lesen ihn nicht, die Russen kennen ihn nicht einmal. Nachdem er alle westlichen und südlichen Länder des Slaventums bereist, hat er die Erinnerungen feiner Reisen in dem Werke, betitelt „Slávy Dcera“32, d. h. der Sláva Tochter, die Tochter des Slaventums oder die Tochter des Ruhms (denn die Wörter sind bedeutungsgleich), gesammelt und herausgegeben. Dies Werk hat eine ungewöhnliche Gestalt; es ist aus einer Menge Sonette, über sechshundert, zusammengesetzt. Indem er alle Helden des Slaventums besingt und alles erzählt, was sich Poetisches in den Rückerinnerungen an verschiedenen Orten Tschechiens und Polens vorfindet, bildete Kollár aus seinen Sonetten ein Ganzes, das selbst in wissenschaftlicher Beziehung Wert hat. Diese Sonette atmen ein gewisses petrarkisches Aroma, sie erinnern häufig an den Dichter Italiens; Kollárs Geliebte aber, indem sie sich immer mehr idealisiert, verwandelt sich endlich ganz in eine erdichtete Gestalt, in die Vorstellung des geliebten Vaterlandes. Seine Geliebte, die Laura, welche er besingt, die er beweint, zu der er sich sehnt, ist das Slaventum. Sehr irren würde man, hierin bloß ein poetisches Spiel zu erblicken: Kollár ergibt sich in allem Ernste diesem Gedanken; er macht Reisen, um die Denkmäler zu besichtigen, schließt Bekanntschaften mit den gelehrten Slovaken und Serben, weckt in ihnen die Gefühle für das gemeinsame Vaterland; er erwärmt, hebt den Mut in seinen von Türken, Deutschen und Ungarn geknechteten Brüdern. Sein Werk ist durchgängig ein patriotisches! In einem der Sonette33 sagt er, daß 32

Jan Kollár: Slávy Dcera. Lyricko-epická báseň w pĕti zpĕwjch. Budjinĕ 1824 (2. erweiterte Ausgabe – Pest 1832); deutsche Übersetzung (Auswahl) in: Blüthen Neuböhmischer Poesie, übertragen von Joseph Wenzig. Prag 1833, S.  17–68. Vgl auch Kollárs Kommentare zu seinem Werk – Jan Kollár: Výklad čili přímětky a vysvětlivky ku Slávy dceři. Pešť 1832 (Praha 1862). Über das Verhältnis Mickiewicz – Kollár vgl. Henryk Batowski: Przyjaciele Słowianie. Szkice historyczne z życia Mickiewicza. Warszawa 1956, S. 85–105. 33 „Slávy Dcera“, III. Gesang (Dunaj), Sonett-Nr. 356, deren Inhalt Mickiewicz hier zusammenfassend deutet. Zitate aus „Slávy Dcera“ – nach Ján Kollár: Dielo I.. Bratislava 2001. Im Folgenden wird nach der Internetfassung dieser Ausgabe zitiert. [http://zlatyfond.sme. sk/dielo/142/Kollar_Slavy-dcera]: „Tři dny smutné dávno tiše světím / s pláčem, s postem roku každého, / předně patnáctý den svatého / Víta v červnu, značný Serbska vzetím; // druhý, v kterém k Bílé hoře letím / v selzách, jest den října osmého, / desátý pak téhož samého / měsíce mi svátkem smutku třetím: // Totiž ten den, v němžto poraněný / padna

4. Vorlesung (27. Dezember 1842)

1029

er drei Trauertage im Jahre mit Beten und Fasten in der Stille heilige; der erste Tag ist geweiht der Schlacht auf dem Amselfeld, wo die Serben unterlagen, der zweite der Tschechen-Niederlage am Weißen Berge, der dritte dem Tage der Schlacht bei Maciejowice, wo Kościuszko, vom Pferde stürzend, ausrief: Finis Poloniae. Diese Worte sind kein leeres poetisches Bild, Kollár hat wirklich Tränen in den Augen, so oft er über das Unglück der Tschechen, Polen, Serben spricht; alle diese Völker tragt er in seinem Herzen, er liebt sie alle gleich mit der Parteilosigkeit eines tschechischen Gelehrten; überall und immer, wo er sich auch hinwendet, umfaßt er das ganze slavische Geschlecht. Dies Volk scheint ihm ein friedfertiger Strom, der langsam, aber kräftig seinem Ziel zufließt; begegnen ihm Berge im Lauf, so wendet er sich auf die Ebenen, um sie herum, gibt ihnen eine paradiesische Fruchtbarkeit und eilt mit stillem Gruße davon, dahingegen andere Völker, einem gewaltsamen Strom gleichend, nach vielem Geräusch und Toben hinter sich und ihren schmutzigen Gewässern nur Sümpfe, Trümmer und Elend nachlassen.34 Das Schicksal dieses Stammes betrauernd, ruft er mit schmerzlicher Wehklage aus: O Gott! o Gott! der du es so gut Mit allen Völkern gemeint, Wirds denn Keinen mehr auf Erden geben, Der uns Slaven Gerechtigkeit widerfahren ließe? […] O du Richter über alle Richter! Wir flehen dich: Was hat mein Volk verbrochen? […] Denn Unrecht, großes Unrecht geschieht ihm!

Diese Verse voller Kraft und Einfachheit klingen wunderschön im Tschechischen: Bože! Bože! který dobře mínil veždy s národy si všechněmi: Ach, už nikdo není na zemi,

34

z koně na zem zatoužil: / „Konec Polsku!“ Kościuszko ctěný: // k počtu těchto třech dnů černošatých / nyní se mi čtvertý přidružil: / Odchod Její odsud na Všech svatých.“ Zusammenfassung des Sonetts (Nr. 269), III. Gesang: „Slavský národ rovným se mi zdává / pokojnému býti potoku, / který ve zdlouhavém pokroku, / ale silně k cíli svému plává; // jestli hory v běhu nalezává, / teče rovinami po boku, / a tu ráje tvoří v homoku, / městům liché požehnání dává: //Naproti pak jiní národové / jsou zas valným proudem podobní, / třeskem, pleskem cesty troucím nové; // než když zmiznou vluny jejich mutné, / ach, tu po nich lidé chudobní, / louky bahna a vsi rumy smutné.“

1030

Teil III kdo by Slavům spravedlivost činil! […] o, ty soudce nade soudcemi, prosím: Cože tak můj národ zvinil? […] Křivda se mu, velká křivda děje35

Der letzte Ausdruck, „Unrecht, großes Unrecht geschieht ihm“, ist sprichwörtlich hinter den Karpaten geworden. Dann fragt der Dichter Gott, „wer schuldiger sei, wer mehr sündige, ob derjenige, der da leidet und duldet, oder der die Leiden verursacht?“ („Kdo zde hřeší? či kdo křivdu tu / dělá? či kdo tuto křivdu cítí?).36 Das heißt, ob das bedrückte Volk oder die drückende Regierung; denn einen Schuldigen muß es doch geben, es muß jemand vorhanden sein, der den Fluch der Erde zuführt, wo der Schmerz so allgemein und groß ist. Kollár ist es gelungen, seine idealen Dichtungen fast dramatisch zu machen. Der Ausländer begreift nicht leicht, wie man die Volkstümlichkeit unter der Gestalt einer Person besingen kann, und doch ist dies die bei den Polen und Tschechen übliche Form. Die polnischen Dichter stellen sehr häufig ihre Volkstümlichkeit in der Gestalt eines Mannes dar, bei den tschechischen Dichtern erscheint sie unter der Gestalt einer Frau. Wir werden noch später auf diese Vorstellungsart der Volkstümlichkeit zurückkommen, welche dem Scheine nach sonderbar ist, aber doch eine große Wahrheit in sich birgt. Wir sagten es schon, Kollár sei es geglückt, die Masse seiner poetischen Schöpfungen zu einem Drama zu verbinden, in welchem er die Vergangenheit der Slaven beweint, die Gegenwart schildert und sich nach der Zukunft des Slaventums sehnt. Zuweilen verlaßt ihn der Mut, er klagt, die Stimme in der Wüste zu sein37, er klagt, daß die Landsleute weder seine Sendung noch seine Bemühungen begreifen, daß die zivilisierte Kaste lieber die Bücher des Auslandes liest, das Volk die Liebesliedlein singt, sich lieber Volksfabeln erzählt, als seinen Sonetten ein williges Ohr leiht. Zuweilen erwacht in ihm das tiefe Gefühl der Kraft; er weiß dann, was ein Geist ausrichten kann, der stets einen Gedanken vor Augen hat und alle Folgen desselben übersieht. In einem seiner Sonette, wo er von der Übermacht spricht, die auf dem slavischen Geschlechte lastet, und von dem stillen Widerstande, der seinem Volke die bessere Zukunft bereitet, sagt er ungeschreckt von der Übermacht Österreichs:

35 Slávy Dcera, op. cit., III. Gesang, Sonett (Nr. 288). 36 Ebenda. 37 „Že jsem hlas jen v poušti volající“ – „Slávy Dcera“, op. cit., III. Gesang (Dunaj), Sonett-Nr. 323.

4. Vorlesung (27. Dezember 1842)

1031

často tichá pastuchova chyžka Häufig kann eine stille Hirtenhütte více pro vlast může dělati Mehr bewirken für das Vaterland nežli tábor, z něhož válčil Žižka.38 Als das Heereslager, von dem aus Žižka kämpfte.

– und erinnert zugleich die Landsleute an die einzige Bedingung des Gelingens: „Nur wenn wir wir den Glauben haben!“ („[…] jenom vίru mĕjme!“).39 Die Sammlung seiner Sonette ist in fünf Abteilungen oder Gesänge geteilt, die mit dem Namen der Flüsse bezeichnet sind. Die drei ersten Teile sind gleichsam die Ländergebiete an der Elbe, Donau und Saale, die in sein dichterisches Bereich eingehen; den vierten und fünften Teil versetzt er schon in die phantastische Welt des Lethe- und Acheronstromes; er macht aus ihnen hier das Paradies und die Hölle. Im Paradies versammelt er alle, die seiner Meinung nach irgendwie um das Slaventum sich verdient gemacht haben. Hier gewahren wir die Monarchen, die Helden, die Gelehrten und Schriftsteller aus jedem slavischen Volk, den Zaren Paul und den König Kasimir, die Zarin Katharina und die Königin Jadwiga, den Suvorov und Kościuszko40, die polnischen und russischen Dichter, die tschechischen Philologen und die blinden Sänger Serbiens. Fürwahr, viel Lethe-Wasser mußten sie zuvor getrunken haben, ehe sie, wie der Dichter sagt, die gegenseitigen Beleidigungen vergessen und mit einander die ewige Glückseligkeit unter den Fittichen der Gottheit Sláva (Ruhm) haben genießen können. Hier ist die schwächste Stelle seines Talents; er verliert sich in Kleinigkeiten, schart allerwärts geringfügige Einzelheiten zusammen und bildet aus ihnen gleichsam die allgemeine slavische Einheit, sein beliebtes Ideal des alle Slaven umfassenden Reichs. Und so schickt er wiederum in die Hölle zuerst die am meisten verhaßten Deutschen und Ungarn, dann alle diejenigen, die er für Feinde des slavischen Stammes oder für dessen Abtrünnige erkennt. Besonders kann er den Feinden alle die Schäden nicht verzeihen, welche sie den slavischen Denkmälern und Schriften verursacht haben. Aus diesem Grunde verdammt er die Franzosen, weil sie den Brand von Moskau hervorgerufen; er verflucht die Revolutionsmänner, weil sie die slavische Handschrift des „Evangeliums zu Reims“ verbrannten (wenngleich, beiläufig gesprochen, diese Handschrift nicht verbrannt wurde).41 Die Altertümer 38 Slávy dcera, op. cit., III. Gesang, Sonett-Nr. 241. 39 Slávy dcera, op. cit., III. Gesang, Sonett-Nr. 270 „[…] Neštiťme se však těch Herkulových / skutků, často sama velikost / předsevzetí dodává sil nových; // ani nade štěstím nezoufejme, / k Tatře i hor slavských všelikost / přeložíme, jenom víru mějme!“ 40 Slávy dcera, op. cit., IV. Gesang, Sonett-Nr. 402. 41 Vgl. Josef Dobrovský: Das slawonische Evangelium zu Reims. In: Dobrowskys Slavin: Bothschaft aus Böhmen an alle Slawischen Völker oder Beiträge zu ihrer Charakteristik, zur Kenntniss ihrer Mythologie, ihrer Geschichte und Alterthuemer, ihrer Literatur und

1032

Teil III

der Baukunst und Sprache, die Tempel, öffentlichen Gebäude, Bücher, alten Pergamente, beunruhigen aufs lebhafteste sein mit Liebe an denselben hängendes Herz; gern möchte er die slavische Vergangenheit bewahren, ihr eine materielle Kraft geben, um sich vor den Einfällen der zukünftigen Zeiten verwahren zu können; denn er ahnt, wie allem, was sie umgibt, als auch, was ihnen sich nähert, ein feindliches Streben innewohnt. Dies düstere Vorgefühl benimmt ihm häufig den Mut, führt ihn der Verzweiflung zu; sich dann wieder ermahnend, sucht er in dem Gedanken Trost, die materielle Kraft könnte Europa aufhalten, dem unglücklichen Stamme wieder aufhelfen. Alsdann ruft er den Slaven zu: „Man nennt euch ein Volk der Tauben“ (die Türken nennen die Slaven so); „warum seid ihr nicht so unter einander, warum liebt ihr euch nicht wie die Tauben? […] Slaven, o zerbrechliches Volk, vereint eure Kräfte […]. Slaven, o vielköpfiges Volk, schlimmer denn der Tod ist euer dumpfes, leeres, düsteres Leben!“42 In einem anderen Sonett sagt er: já bych ze všech jednu sochu ulil; Rusko bych sem v její hlavu skulil, dřík pak byli by v ní Lechové, ramena a ruky Čechové, Serbsko bych sem ve dvě nohy půlil;43

Aus ihnen möchte ich eine Bildsäule gießen; aus Rußland machte ich das Haupt, aus Polen die Brust, Tschechien diente statt der Arme, die Serben statt der Beine;

Siehe da die ganze Hoffnung Kollárs; sie beruht auf der materiellen Macht, nur nach dieser sehnt er sich. Und das ist gerade eine der Ursachen seiner Unbeliebtheit, seiner Nicht-Popularität; die volkstümlichen Begriffe der slavischen Völker sind viel erhabener, weiser, kräftiger, denn sie überholen die Poesie. Nie beliebten die Tschechen bei so materiellen Ansichten stehen zu bleiben; nie Sprachkunde; mit einem Anhange: böhmischer Cato. 2. verbesserte, berichtigte und vermehrte Ausgabe von Wenceslaw Hanka. Prag 1834 (1. Auflage 1808), S. 154–157; Evangeliaire slave de Reims, dit „Texte du Sacre“, facsimile publie par Jean-Baptiste Sylvestre, Paris 1843; Luis Leger: Introduction historique a l’Evangeliaire slavon de Reims, dit „Texte du sacre“, facsimile en heliogravure. Reims-Prague 1899; Lidija Petrovna Žukovskaja: Rejmsskoe evangelie. Istorija ego izučenija i tekst. Moskva 1978. 42 Auszüge aus – Slávy dcera, op. cit., III. Gesang, Sonett-Nr. 326: „[…] národem vás zovou holubičím, / než, ai, holuby jsou takové, / že milují hejno spolkové, / i vám tedy vlastnost tuto žičím: / Slavové, vy národ zlomkovitý! / síly sjednocené dělají, / než proud mělkne a schne roztočitý; / Slavové, vy národ mnohohlavý! / moudří horší smerti neznají, / než jest život hnilý, prázný, tmavý.“ (Man nennt euch ein Volk der Tauben; warum seid ihr nicht so unter einander, warum liebt ihr euch nicht wie die Tauben? Ich wünsche euch eben diese Eigenschaft: Slaven, o zerbrechliches Volk, vereint eure Kräfte, bevor der Schwung nachlässt und verblaßt; Slaven, o vielköpfiges Volk, schlimmer denn der Tod ist euer dumpfes, leeres, düsteres Leben!). 43 „Slávy Dcera“, op. cit., III. Gesang, Sonett-Nr. 271.

4. Vorlesung (27. Dezember 1842)

1033

hat die Allgemeinheit des Tschechenvolks auf Rußland seine Blicke gewandt, wenngleich es sich nicht bemüht hat, aus eigener Kraft sich zu erheben; wenngleich es lieber abwarten wollte, so hat es sich doch nie Rußland als den Hafen des Heils geträumt, geschweige denn den Slaven angepriesen. Daher rührt die Gleichgültigkeit für Kollárs Sonette; keiner will sie singen, denn sie sind nicht das treue Bild der Wünsche und Erwartungen des slavischen Volkes. Was noch auffallender ist, die Literaten und Staatskünstler haben sogar besser die Bedürfnisse und das nationale Streben der Tschechen erkannt als selbst Kollár; wir haben hiervon ein frisches Beispiel. Unlängst hat ein Magnat, der Graf Leo von Thun44, seiner Stellung nach der österreichischen Aristokratie angehörend, von Geburt aber ein Tscheche, ein Werk über den Slavismus der Tschechen geschrieben. Es ist dies das erste in Österreich mit Bewilligung der Regierung erscheinende politische Werk, welches sogar für eine Art Regierungsmanifest betrachtet wird. Die slavischen Gelehrten beurteilen und legen sich verschiedentlich die häufig dunkeln, doppelsinnigen Redeweisen aus; sie wollen die wirkliche Absicht der osterreichischen Regierung ergründen. Der Graf Leo von Tun bezeugt zuvörderst die unbestreitbare, wenngleich für ihn unbegreifliche Tatsache, daß das tschechische Volkstum erwacht sei. „Es erscheinen“, sagt er, „täglich neue Werke, ihr Einfluß auf die öffentliche Meinung ist nicht ohne Erfolg, das Volk beginnt Teil an ihnen zu nehmen und doch scheint die zivilisierte Klasse, der französisch und deutsch redende Adels- und Herrenstand nicht zu wissen, was neben ihm und unter ihm geschieht.“45 Der Graf nimmt sich nun vor, der Aristokratie über die Bemühungen der Literaten Rechenschaft zu geben; dies ist die scheinbare Absicht des Werkes. Die slavische Frage jedoch nach jeder Seite hin erörternd, verkündet er zugleich den Slaven, was sie von Österreich zu erwarten haben. 44

45

Leo Graf von Thun (1811–1888). Über Thun und Mickiewicz vgl. Henryk Batowski: Przyjaciele Słowianie. Szkice historyczne z życia Mickiewicza. Warszawa 1956, S.  105–112; Włodzimierz Szturc: Wokół sporu o „ideę czeską“ pomiędzy Adamem Mickiewiczem a Leonem Thun. In: Marek Dybizbański, Włodzimierz Szturc: Mitoznawstwo porównawcze. Kraków 2006, S. 216–226. Leo Graf von Thun: Über den gegenwärtigen Stand der böhmischen Literatur und ihre Bedeutung. Prag 1842. [Paraphrasierung des Vorworts S. III–V]: „eine ziemliche Menge böhmischer Bücher wird aufgelegt, worunter manche sich sowohl durch die Schönheit der Darstellung als durch inneren Gehalt vorteilhaft auszeichnen; ein Teil des gebildeten Publikums jauchzt diesen literarischen Erscheinungen freudig entgegen: und doch ist eine noch grösserer Teil, insbesondere unter jenen Ständen, die vorzugsweise berufen sind, leitend einzugreifen in das Schicksal ihres Volkes – ja es ist Mancher, der von reiner Vaterlandsliebe durchdrungen wirklich in dasselbe eingreift, – mit jener Art geistiger Regsamkeit und ihren Resultaten fast gänzlich unbekannt.“

1034

Teil III

Um diese Schrift zu verstehen, tut es Not, sich die Zusammensetzung des österreichischen Kaiserstaates zu vergegenwärtigen. Dieses Kaiserreich zählt, der amtlichen Statistik zufolge, 34 Millionen und einige Hunderttausend Seelen, im Grunde genommen hat es jedoch nicht mehr denn sechs Millionen Köpfe, nämlich sechs Millionen Deutsche halten achtundzwanzig Millionen Menschen eines anderen Stammes in Unterwürfigkeit; zieht man aber von diesen sechs Millionen noch die Zahl der Pflüger, Kolonisten, Ankömmlinge, Kaufleute usw., die gar keinen Teil an der Regierung nehmen, also wenigstens zwei Drittel ab, so bleiben am Ende nur zwei Millionen Österreicher, die diese ganze Masse beherrschen. Diese zwei Millionen, oder vielmehr deren Interessen und Meinungen, werden von ungefähr hundert Familien vergegenwärtigt, Familien, welche deutsch, ungarisch, tschechisch und anders slavisch sind, die fast durchgängig französisch reden, unter denen es sogar welche gibt, die nicht einmal Deutsch verstehen und die alle ihre Güter und Kapitalien außerhalb des Landes haben. Indem sie nun zu ihrem Dienst zwei Millionen Verwalter, österreichische Bürokraten und Söldlinge verwenden, herrschen sie durch dieselben über zweiunddreißig Millionen Menschen. Es ist dies eine Gesellschaft nach dem Muster der englisch-ostindischen Handels-Kompanie, die auch einen großen Landstrich inne hat. Gewöhnlich stellt man sich dieses österreichische Kaiserreich falsch vor, das nie ein deutsches, italienisches, noch slavisches Reich gewesen und nur eine wahre Sippschaft geworden ist, die sich das Ziel geseht hat, am Mark vieler bevölkerten und ausgedehnten Länder zu zehren. Wie ist es dahin gekommen? Heut zu Tage macht, den französischen Begriffen zufolge, die Regierungseinheit, die Geschlechtseinheit und die Bevölkerungszahl das politische Gewicht der Macht eines jeglichen Volkes aus; aber früher, die ganze Reihe der mittelalterlichen Jahrhunderte hindurch, fußte man keineswegs auf so kraß materiellen Begriffen. Alle christlichen Reiche, ja selbst, könnte man sagen, auch die des Heidentums, waren Vergesellschaftungen, um eine Idee herum gebildet. Rom war ein Verein; die Römer waren nur ein kleines Häuflein, sie machten kaum den hundertsten Teil der Bevölkerung Italiens aus, doch aber regierten sie Italien und durch Italien die Welt. Ebenso verhielt es sich mit Frankreich in den Jahrhunderten des Mittelalters. Franzosen waren Leute, welche die französische Idee, vergegenwärtigt durch Kirche und König, annahmen. Burgunder, Elsässer, Normannen gehörten zu Frankreich, sie kämpften unter derselben Fahne, für dieselbe Idee. Nur erst, als die Idee ermattete, verstand man sich nicht anders das Dasein eines Volkes zu erklären, man begann das Wesen desselben in die Herde der einschlächtigen Individuen zu setzen. Was man jetzt das deutsche Kaiserreich nennt, bestand aus vielen, sich nach verschiedenen Gesetzen regierenden Städten, Ländern,

4. Vorlesung (27. Dezember 1842)

1035

Fürstentümern, die mit einander, außer dem gemeinschaftlichen Oberherrn, welches der römische Kaiser war, d. h. außer dem die Idee des apostolischrömischen Kaiserreichs darstellenden Individuum, nichts Gemeinsames hatten. Sobald jedoch diese Idee von den Kaisern selbst verlassen und verleugnet worden, sobald sie nur daran zu denken begannen, ihre Grenzen zu erweitern, einzig aus die materielle Macht sich zu stützen, alsdann wurde die Regierung nur zu einer Verwaltung (Administration), der Kaiser nur das Haupt der Sippschaft, gebildet zum Aussaugen des Landes. Der Graf von Thun sagt mit Recht, der Kaiser habe, dem Titel des römischen Kaisers entsagend, aufgehört, ein Deutscher zu sein; er habe seitdem kein Volkstum. Schon zu Zeiten Josephs II. ließen sich die Folgen einsehen, welche das in Europa schnell einreißende System des Materialismus herbeiführen mußte. Joseph II., nachdem er das Vertrauen in die Würde und das Ansehen, das ihm der kaiserliche Charakter bot, verloren, suchte nach einer Stütze für sich in der materiellen Kraft. Anfänglich schwankte er zwischen dem slavischen und deutschen Geschlecht. Man sagt, daß in seinem Kabinet lange darüber beratschlagt wurde, ob er sich für einen Deutschen oder Slaven ausgeben sollte. Endlich erkannte man für das Beste, alles im statu quo zu lassen, d. h. beim Alten, das Reich zu regieren, die deutsche Sprache in der Verwaltung dazu gebrauchend, den Provinzen aber und Städten ihre alten Einrichtungen und Gesetze zu lassen, oder mit anderen Worten, man beschloß, sich in der Legalität einzuschließen, unter ihrem Schutz jedoch den deutschen Geist zu nähren und zu verbreiten. Die Legalität macht heutzutage die ganze Kraft Österreichs aus. Der Graf von Thun will in dieser Legalität auch für die Slaven eine Sicherheit gewahr werden. Er bemüht sich aufs äußerste, die Landsleute vor den dargebotenen Lockungen Rußlands zu sichern, verteidigt sogar die tschechische Literaten gegen den Verdacht des Moskovitertums, spricht daher ironisch: „Schon ist das Ziel gesteckt worden, welchem unsre Bemühungen zueilen sollen; wir wollen, so zu sagen, nichts weniger, als nur ein allgemeines Reich stiften, das Europa erzittern machte und das Dasein der benachbarten Reiche gefährde. Unmöglich ist jedoch, an die Vereinigung der Slaven unter ein Zepter zu denken; denn sobald das Volkstum eines der slavischen Völker durch ein anderes desselben Stammes angefeindet wird, hört jedes Gefühl der Brüderlichkeit unter ihnen auf, und sie betrachten sich als völlig fremd. […] Die Vereinigung des ganzen Slaventums unter dem Zepter Rußlands würde das Verderben der fünfundzwanzig Millionen Slaven sein, die diesem Kaiserreiche noch nicht angehören. […] Die Regierung Rußlands, in die Angelegenheiten Europas verwickelt, gezwungen, ihre materiellen Kräfte zu vergrößern, statt sich der sittlichen Bildung ihrer Untertanen zu ergeben, müßte im Gegenteil die Art der ausländischen Regierungen (den Geist der ausländischen Regierungen, hätte der Verfasser sagen

1036

Teil III sollen) annehmen. – Gelungen ist ihr dies, indem sie den hoffnungsvollen Keim der einheimischen Volkstümlichkeit ausgerottet und sich eine Menge schwieriger Aufgaben geschaffen hat, deren Wichtigkeit sich noch einst, je nach Maßgabe des Emporwachsens der moralischen Volksbedürfnisse wird fühlen lassen. (Wir behalten hier sogar das Doppelsinnige in diesen Ausdrücken bei, welche die Furcht Österrereichs bezeugen). Sollen etwa die slavischen Volker ihre uralte Volkstümlichkeit dem russischen Volke zum Opfer darbringen? Wollten sie etwa das engherzige Prinzip auf den Thron einer Monarchie setzen, die sich von Danzig, Ragusa und Kamčatka bis nach den tschechischen Gebirgen hin erstreckte?46

Der Meinung des Grafen zufolge haben die wie mit Bollwerken gegen Europa versehenen Tschechen zuerst die Schuldigkeit, sich das anzueignen, was die europäische Philosophie Großartiges und Tiefes in sich enthält, dann aber die benachbarten slavischen Völker aufzuklären; nämlich sie sollen die Vermittler sein zwischen dem Slaventum und dem Westen. Das ist alles, was er den Tschechen bestimmt; von den übrigen slavischen Völkern spricht er nicht einmal. Er glaubt, die Entwickelung des Slaventums stimme mit dem Interesse Österreichs überein und werde letzterm neue Kräfte geben. Noch werden wir Gelegenheit haben, einige Gedanken dieses Verfassers zu erörtern; jetzt aber stellen wir alles zusammen, was über die Dichtung, die Politik, d. h. wenn man sich so ausdrücken darf, alles, was über die volkstümliche 46

Die Stelle lautet bei Thun: „Doch nein! Es ist ja schon entdeckt, das Ziel der slawischen Sympathien: eine, die bestehenden politischen Verhältnisse Europas zerstörende, slawische Universalmonarchie soll die notwendige Folge der gemeinschaftlichen literärischen Bestrebungen der slawischen Völker sein. […] Die Vereinigung aller Slawen unter eine Regierung müsste aber die Gefahr solcher traurigen Kollision unvermeidlich herbeiführen; woraus sich ergibt, dass von der Sicherheit der nationalen Existenz der einzelnen slawischen Völker ihre Verteilung unter verschiedene Regierungen eben so gebieterisch gefordert wird, als von ihren ganz verschiedenen Interessen. Zumal die von gewissen Propheten verkündete Vereinigung unter den russischen Scepter müsste den 25 Millionen Slawen, die bisher ausserhalb seines Bereiches leben, nicht minder verderblich sein, als der Unabhängigkeit Deutschlands. […] Die russische Regierung aber, zu einer Zeit in die europäischen Welthändel hineingezogen, da die soziale Entwicklung ihrer Völker noch kaum begonnen hatte, sah sich genötigt, fast ohne Rücksicht auf die Eigentümlichkeiten der Regierten, die Verwaltungsformen anderer Staaten anzunehmen, und mittelst derselben vornehmlich dahin zu wirken, sich gegen aussen eine möglichst grosse Macht zur Verfügung zu stellen. […] Gleichförmigkeit in allen Teilen des Reiches ist das Prinzip der russischen Regierung. Und diesem Prinzip sollten slawische Völker ihre bisherigen Verhältnisse zum Opfer bringen geneigt sein, deren Geschichte so alt ist, wie die der übrigen Nationen Europas, die in ihrer sozialen Entwicklung mit diesen Schritt gehalten haben? Dieses engherzige Prinzip sollten sie zur Herrschaft über einen Staat erheben wollen, der von Danzig bis Ragusa, und von den böhmischen Wäldern bis an die Spitze von Kamtschatka reichen würde?“ – Leo Graf von Thun, op. cit., S. 71–72, 78–79.

4. Vorlesung (27. Dezember 1842)

1037

tschechische Diplomatie von uns gesagt worden ist. Kurz gefaßt drückt weder diese Dichtung, noch Politik oder Diplomatie die wahrhaften slavischen Bestrebungen aus; sie können diese nicht einmal ausdrücken. Wir wissen, mit wie vielen Schwierigkeiten die tschechischen Schriftsteller zu kämpfen haben. Nach so langem Drucke freut es sie schon ungemein, einige Verse in vaterländischer Sprache schreiben zu können; sie legen dem Reden ein gar zu großes Gewicht bei. Ihr Volkstum, das sie als erstorben betrachteten, das kaum einige Worte lispelte, scheint ihnen nun stets zuzurufen! „Sprecht, sprecht mehr!“ Freilich ist die Stimme ein Zeichen des Lebens; sehr irrig wäre es jedoch, zu glauben, daß, um einen Sterbenden zu beleben, es hinlänglich sei, ihn ohne Unterlaß reden zu machen. Geratener wäre es vielleicht sogar, ihm eine Zeit lang das Schweigen zu gebieten. Ungemein viel schreiben die Tschechen, sie geben ungeheure Werke heraus, deren Größe und Ausstattung fast ein literarischer Luxus ist; wenig hilft jedoch dies alles ihrer hauptsächlichen Aufgabe. Die Hauptsache für sie ist, dahin zu gelangen, daß sie selbstständig leben können, daß sie ein unabhängiges Volk werden, daß sie ihr Dasein auf der Erde bekräftigen, den Gedanken Tschechiens verkörpern, welches, möge man hiervon sagen, was beliebt, doch noch immer im Bereiche der politischen Träumereien schwebt. Das Ziel des unabhängigen Daseins müßte für die Tschechen eine Notwendigkeit erster Ordnung sein, welcher alle übrigen Interessen untergeordnet wären; aus der Vergangenheit aber werden sie nicht die nötige Kraft zur Hebung ihres Volkstums hervorkramen, Sie stützen sich mit Recht auf den slavischen Stamm; nur müßten sie ihre Aufmerksamkeit Erscheinungen zuwenden, die ihnen bis dahin entgangen sind, weil sie ihren Blick nur überall auf die materiellen Kräfte gegerichtet halten. Eitel ist auch ihr Hoffen auf die österreichische Legalität. Österreich zwingt freilich die Italiener nicht, Deutsch zu lernen, wie dies der Graf Thun als Beispiel anführt, und was übrigens zu bewerkstelligen unmöglich wäre; gestehen muß man aber auch, daß Österreich sie nicht fürchtet, wenngleich diese italienischen Provinzen große materielle Kräfte besitzen, und die Bevölkerung derselben ungewöhnliche Energie hat. Die österreichische Regierung weiß genau, daß jener Funke des geistigen Lebens, der die Völker zwingt, vorwärts zu gehen, ihrer Zukunft entgegen zu eilen, in Italien erloschen ist; daß dies Land nur etwa wieder durch Frankreich bewegt werden kann; deshalb, so lange Frankreich ruhig stehen bleibt, wird auch Österreich den Italienern ihre Akademien, Theater, Bücher und sogar ihre Gesetze lassen. Ebenso auch fürchtet Österreich in Tschechien weder die Museen, noch die Büchersammlungen und Volksgedichte; würden aber die Tschechen nur einen Laut von sich geben, beseelt von dem Geiste, der sich in der polnischen Literatur und Poesie kundgibt, gleich würde es sie mit seiner ganzen Last bedrücken. Alsdann aber zeigte sich, ob das dortige

1038

Teil III

Slaventum, nichts Anderes aufzuweisen habend, als seine Museen und Büchersammlungen, die Probe bestehen und in denselben Rettung finden würde, Österreich läßt die Tschechen gewähren, weil sie bis dahin ungefährlich sind, weil in ihnen der Eifer, die Liebe zum Volkstum, die Geduld wahrzunehmen ist – noch aber kein Zeichen des Volkslebens. Ebenso unangetastet läßt Österreich die ungarische Volkstümlichkeit, auf dem Erhalten der alten Ordnung beruhend, gewähren. Das Königreich Ungarn könnte das österreichische Kaiserreich über den Haufen werfen; es besitzt hierzu hinlängliche Kraft. Nie wird es dieses jedoch tun, denn was würde es nach dem Sieg anfangen, was könnte Ungarn an der Stelle des gestürzten Kaiserreichs aufbauen? Das Nichtvorhandensein einer lebenskräftigen Idee, eines lebendigen Gedankens, der Mangel an organischer Verkettung der Begriffe wird den Ungarn nie erlauben, etwas zu Stande zu bringen. Mittlerweile wollte doch dasselbe Österreich keine einzige Einrichtung in der kleinen von Polen abgerissenen Provinz bestehen lassen; stets verfolgt es dort Alles, was polnisch heißt. Die Polen unter dem österreichischen Szepter sind weniger gelehrt und schreiben weniger als die Tschechen, sie sprechen weniger als die Ungarn, haben kein einziges Regiment unter den Waffen; doch muß in ihnen etwas vorhanden sein, das die Regierung als gefährlich für sich ansieht. Ebenso hat auch die preußische Regierung den rheinischen Provinzen ihre Einrichtungen, Gesetze und selbst Napoleons „Code civil“ zu bewahren erlaubt, in dem Polen entrissenen Lande aber weder die alten Gesetze, noch diesen Kodex erhalten. Es rührt dies alles daher, weil in den Teilen Polens, die Österreich und Preußen einverleibt sind, ein Leben glimmt, das dem Dasein dieser Mächte ewig feind ist. Was dieses österreichische Kaiserreich, diese sonderbare Vergesellschaftung zweier Millionen Österreicher ist, die mehr denn dreißig Millionen verschiedener und meist slavischer Völker regieren, das begreift fast niemand, will niemand verstehen. Die französische Revolution, auf Tod und Leben mit Österreich im Kampf, dachte nie daran, die Slaven in Szene zu führen; sie strengte sich an, die Politik der alten Regierung Frankreichs befolgend, Irland gegen England in Bewegung zu setzen, und sah nicht, worin die gefährlichste Lage Österreichs bestehe, Napoleon, auf dem Gipfel seiner Macht, sobald er den Friedensvertrag zu Schönbrunn geschlossen, wodurch er Österreich für die Erhaltung der alten Sachlage Bürgschaft geleistet hatte, konnte ebenfalls schon das Geheimnis der slavischen Völker nicht mehr verstehen; er hatte ihnen nichts mehr zu sagen. Die Polen waren die Ersten, welche sich bemühten, in Betracht dessen die französischen Kabinette aufzuklären. Es muß sich im Pariser Archiv der auswärtigen Angelegenheiten der Plan, entworfen vom General Dąbrowski, verfinden, welcher die ganze Bevölkerung der Slaven genau berechnet hat und die Mittel angibt, durch welche sie in Bewegung zu

4. Vorlesung (27. Dezember 1842)

1039

setzen seien.47 Er entdeckte hierdurch eins von jenen Geheimnissen, das unter die arcana imperiorum gezählt werden kann; der geschlossene Frieden verhinderte indessen die französische Regierung, aus diesen Erkenntnissen Vorteil zu ziehen. Im ganzen Verlaufe der Kriege Frankreichs mit Österreich bewiesen aber die sich immer vermittelst der Slaven, welche die österreichischcn Regimenter verließen, von neuem füllenden polnischen Legionen, daß dies Kaiserreich fremde und feindliche Lebenskräfte in seinem Schoße habe. Die Tschechen müssen dies alles erwägen. Auffallen sollte ihnen auch, warum außer den Polen und Russen in dem durch Kollár geschaffenen Himmel48, der von Literaten und slavischen Dichtern gefüllt ist, es sonst keine wahren Kriegshelden gibt, warum die Kriege der Polen und Russen dieser Walhalla die Feldherren lieferten, die in ganz Europa berühmt sind. Sie sollten sich daher die Frage stellen: wie es kommt, daß es gerade die Polen waren, welche in der Zeit der Kriege der französischen Republik und des Kaiserreichs die Schwäche des österreichischen Staates erraten haben? Fragen dürften sie sich auch, warum sie selbst während des letzten Krieges mit Rußland eine sogar dichterische und moralische Neutralität behauptet haben? Fürchten sie in der Tat so sehr das russische Übergewicht, wie dies der Staatskünstler Leo von Thun aussagt, so gestehen sie schon hierdurch selbst, daß es nichts Anziehenderes für sie geben kann, als das Erwägen des polnischen Strebens.

47

Vgl. Leonard Chodźko: Histoire des Légions polonaises en Italie. Paris 1829, Bd. II, Anex XXXIII. 48 Kollár, der im Mai 1843 eine stenographische Abschrift der 4. Vorlesung erhielt, reagierte empört (vgl. Batowski, op. cit., S. 103–105), denn er erwähnt auch andere slavische „Helden“. In der späteren Ausgabe der „Slávy Dcera“ (Prag 1852), die mit neuen Sonetten aufgefüllt wurde, spricht er von „einem Gegenspieler aus Paris“ („Z Pařiže ten nevzájemnik polský“), den er neben Towiański in die Unterwelt verbannte (Ján Kollár: Dielo  I. Bratislava 2001, V. Gesang, dort Sonett-Nr. 538).

5. Vorlesung (10. Januar 1843) Wie trennt sich die slavische Poesie der Gegenwart von der Poesie der Vergangenheit? – Kollár – Goszczyński – Zaleski – Malczewski – Puškin.

Die slavische Gegenwart nimmt Abschied von ihrer Vergangenheit, dieselbe weder verdammend, noch anschwärzend. Jenes verächtliche Lächeln der Schulmänner und Afterweisen neuerer Zeit, mit welchem die anderen Literaturen sich von den vergangenen Jahrhunderten abwenden, bemerkt man nicht auf dem Antlitze des slavischen Schrifttums, wenigstens nicht in den Werken ihrer vorzüglichen Schriftsteller; im Gegenteil, mit Liebe und herzlicher Rührung betrachten sie die verflossene Geschichte ihres Stammes, mit innigem Leid beweinen sie nicht nur das Unglück, sondern selbst die Fehler ihrer Vorfahren. Wir wollen hier Kollárs „Předzpěv“ oder Vorgesang zu seinen Sonetten anführen. Es ist dies eines der schönsten seiner Gedichte und, wie es scheint, ganz zuletzt geschrieben. Hier können wir sehen, wie er von seinem Heimatland und den Erinnerungen, die auf ihm ruhen, spricht: Ai, zde leží zem ta, před okem mým selzy ronícím, někdy kolébka, nyní národu mého rakev. Stoj noho! posvátná místa jsou, kamkoli kráčíš, k obloze, Tatry synu, vznes se, vyvýše pohled. Neb raději k velikému přichyl tomu tam se dubisku, jenž vzdoruje zhoubným až dosaváde časům. Však času ten horší je člověk, jenž berlu železnou v těchto krajích na tvou, Slávie, šíji chopil. Horší nežli divé války, hromu, ohně divější, zaslepenec na své když zlobu plémě kydá. O, věkové dávní, jako noc vůkol mne ležící, o, krajino, všeliké slávy i hanby obraz! Od Labe zrádného k rovinám až Visly nevěrné, od Dunaje k heltným Baltu celého pěnám: krásnohlasý zmužilých Slavianů kde se někdy ozýval, ai, oněmělť už, byv k ourazu zášti, jazyk. A kdo se loupeže té, volající vzhůru, dopustil? kdo zhanobil v jednom národu lidstvo celé? Zardi se, závistná Teutonie, sousedo Slávy, tvé vin těchto počet zpáchali někdy ruky. Neb kreve nikde tolik nevylil černidlaže žádný nepřítel, co vylil k záhubě Slávy Němec. Sám svobody kdo hoden, svobodu zná vážiti každou, ten, kdo do pout jímá otroky, sám je otrok. Nechť ruky, nechťby jazyk v okovy své vázal otrocké,

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_080

5. Vorlesung (10. Januar 1843) jedno to, neb nezná šetřiti práva jiných. Ten, kdo trůny bořil, lidskou krev darmo vyléval, po světě nešťastnou války pochodmi nosil: Ten porobu slušnou, buď Goth, buď Skýta, zasloužil, ne kdo divé chválil příkladem ordě pokoj. Kde ste se octli, milé zde bydlivších národy Slávů, národy, jenž Pomoří tam, tuto Sálu pili? Sorbů větve tiché, Obodritské říše potomci, kde kmenové Vilců, kde vnukové ste Ukrů? Napravo šíře hledím, nalevo zrak bystře otáčím, než mé darmo oko v Slávii Slávu hledá. Rci, strome, chráme jejich rostlý, pode nímž se obětné dávnověkým tehdáž pálili žertvy bohům: Kde jsou národové ti, jejich kde knížata, města? jenž pervý v severu zkřísili tomto život. Jedni učíce chudou Europu plachty i vesla chystati a k bohatým přes moře vésti břehům. Kov tu jiní ze hlubin skvoucí vykopávali rudných, více ku poctě bohům nežli ku zisku lidem. Tam ti neourodné rolníku ukázali rádlem. by klas neslo zlatý, brázditi lůno země. Lípy tito, svěcený Slávě strom, vedle pokojných cest sadili, chládek by stlali vůkol i čich. Muž syny města učil stavěti, v nich vésti kupectví, a mlaď svou učili tkávati plátno ženy. Národe mistrovský, jakové pak máš za to díky? […] Národ i čest zmizeli, s jazykem bohové zde zanikli, jen sama zůstává příroda nezměněna. Les, řeky, města a ves, změniti své jméno slavenské nechtěli, než tělo jen v nich, ducha Slávy není. O, kdo přijde tyto vzbuditi hroby ze sna živého? Kým přiveden slušný k své bude vlasti dědic? […] Jak muselo v tom by studené být k národu serdce, jenž by tu selz jak nad kostmi milenky nelil. Avšak umlkni tichá, na budoucnost patři, žalosti, osluněným rozptyl mráčky myšlének okem. Najvětší je neřest v neštěstí láti neřestem, ten, kdo kojí skutkem hněv nebe, lépe činí. Ne z mutného oka, z ruky pilné naděje kvitne, tak jen může i zlé státi se ještě dobrým. Cesta křivá lidi jen, člověčenstvo svésti nemůže, a zmatenost jedněch často celosti hoví. Čas vše mění, i časy, k vítězství on vede pravdu, co sto věků bludných hodlalo, zvertne doba.49 49 Slávy dcera. „Předzpěv“. Zitiert nach – J. Kollár: Básně. Praha 1952, S. 15–19.

1041

1042

Teil III Ei, hier liegt dieses Land vor meinem tränenden Auge, einst die Wiege des Volks, heute der Meinigen Sarg. Stehe, Fuß, heilige Stätten, wo immer du schreitest, Sohn der Tatra bin ich, himmelwärts heb ich den Blick. Gerne kam ich zum großen Haine der Eichen herüber, welcher noch immer so trotzt Stürmen vernichtender Zeit. Schlimmer jedoch ist der Mensch, dessen eiserne Keule auf deinen Nacken nur hieb, Slava, in deinem Land. Schlimmer als Kriege, als wilde Gewitter, wütende Feuer, wenn sich, verblendet, der Mensch boshaft befrachtet sein Herz. Oh, Vergangenheit, als ringsum noch alles im Dunkel, oh, ihr Lande des Ruhms, leider der Schande zugleich! Ebenen zwischen treuloser Elbe zur untreuen Weichsel, von der Donau zur Gischt schäumenden Baltischen Meers. Schönstimmige, mannhafte Slaven, die sich mitunter erhoben – nun ist die Zunge verstummt vor dem Unheil und Haß. Wer nur hat dich beraubt, als Aufwärts! tönte der Ruf? Wer geschändet und raubt, schändet alle zugleich. Rot mußt du werden vor Scham, Teutonia, benachbart der Slava, durch deiner Hände Gewalt hast dich beladen mit Schuld. Nirgends ward so viel Blut vergossen, schwärzlich gerinnend, Deutscher tat es als Feind, als er die Slava verdarb. Nur, wer der Freiheit würdig, der weiß zu schätzen die Freiheit, der ist selber ein Sklav’, wer den andern versklavt. Jener, dem selber als Sklaven geknebelt Hände und Zunge, kann nicht erkennen das Recht, das der andere hat. Wer die Throne zerstörte, vergoß das Blut doch vergeblich, schleudert die Fackel des Kriegs in die leidvolle Welt. Wer bloß Unterwerfung im Sinn, ob Gote, ob Skythe, preisen wird er wie wild Friedhofsruhe zumeist. Wo seid ihr hin, ihr lieben Bewohner des Slawa-Imperiums, Pommern bis Saalestrand, wo ihr so fleißig gelebt? Stilles Sorbengezweig, Erben obodritischen Reichs? Wo sind der Wilzen Genossen, wo die Enkel der Ugren? Schaue nach rechts und wende nach links die schärferen Blicke, Slava, ich finde dich nicht bei den Slaven ringsum. Hain der Helden, unter den Bäumen wurde geopfert, lodert, den Göttern zum Ruhm ständig der heilige Brand. Wo sind die Vaterlandsfreunde, die Stammesfürsten, die Städte, die im Norden zuerst auferstanden zum Sein? Einzelne wichen vom armen Europa, mit Segel und Ruder steuerten sie über die See fort zu reicherem Strand. Schimmerndes Erz gewannen andre aus Tiefen der Gruben mehr zu göttlichem Ruhm als zu der Menschen Gebrauch. Ödland, noch leer, zeigt sich dem Bauer mit einfachem Pfluge, daß bald der Ähren Gold schmücke den Erdenschoß. Linden, der Slava geweiht, sie standen an ruhigen Wegen, Schatten spendend ringsum, streuend den würzigen Duft. Väter lehrten die Söhne Stadtbau, zu führen den Handel, und es lehrte die Frau weben das Linnen so weiß.

5. Vorlesung (10. Januar 1843)

1043

Meisterhaftes Volk, welchen Lohn erntest nun du? […] Das Volk, die Ehre und die Götter sind mit der Sprache verschwunden, nur unverändert blieb die Natur allein. Der Wald, die Flüsse, Stadt und Dorf wollten den slavischen Namen nicht aufgeben, weil in ihrem Körper der Geist der Slava wohnt. Und wer kommt hierher, um die Gräber aus dem lebenden Traum zu wecken? Wann kommen die Anständigen, damit jeder sein eigener Herr wird? […]

Kollár flüchtet sich also in die Karpaten und dort, unter der uralten Eiche über die slavische Vergangenheit mit inniger Liebe nachsinnend, endet er seine Poesien. Die Prophezeihung, ein Augenblick könne umstoßen, was Tausende von Jahren des Irrtums gebaut, ist sein letztes Wort. Die polnischen Dichter der letzten Zeiten, die Schöpfer der Provinzialschulen, nehmen desgleichen Abschied von der Vergangenheit, nur auf andere Weise als Kollár. Goszczyński z. B. schließt sein Gedicht, betitelt: „Das Schloß von Kaniów“ („Zamek kaniowski“), in dem er den letzten Kampf der Kosaken mit den Polen schildert, wie folgt: Gdy duch mój zwiedzał dnieprowe pobrzeże I na Kaniowa odpoczął ruderze, Jeszcze tam wkoło wyszukał on ślady Dnia okropnego ostatniej zagłady: Jeszcze po ścianach krew się czerwieniła, Gdzie żona, gnana morderców pogonią, Mytą w krwi męża chwytała się dłonią; Żadna wywabić nie mogła jej siła, Na miejscu startej inna wystąpiła, Ale nieszczęsne zabójczym ciało, W popiół przetlałe, z wiatrem się rozwiało. W porosłej miękką murawą uboczy Trafił na kołtun Kseninych warkoczy; Ale w nim drobny gnieździł się już ptaszek. Obok leżała z Nebaby ratyszcza Stal od płomienia w ciemny żużel zlana. A błądząc długo śród skostniałych czaszek, Odgrzebał torban między gruzem zgliszcza I jednę strunę z całego torbana. Ani lat, ani pogody koleje Nie mogły przyćmić złotego jej blasku; A wiatr, kochanek, z pobliskiego lasku Co noc z nią dawne odśpiewywał dzieje.50

50

Seweryn Goszczyński: Zamek kaniowski. Lipsk 1870, Tom 2, S. 106–107. Vgl. Anna Kurska: Seweryn Goszczyński wobec przeszłości, czyli o „Zamku Kaniowskim“. In: Prace

1044

Teil III Als mein Geist des Dnjeprs Gestade besuchte / Und auf Kanióws Trümmern ruhte, / Fand er noch dort rings herum die Spuren / Des letzten Tags der gräßlichen Vernichtung: / Noch rötete sich das Blut an den Wänden, / Nach welchen die Gattin, von der Mörderjagd getrieben, / Mit der im Blute des Gemahls gewaschenen Hand griff; / Keine Kraft vermochte es zu tilgen, / An der Stelle des ausgeriebenen trat neues hervor; / Aber der unglücklichen Mörderin Leib, / Verglimmt zu Asche, ihn verweheten die Winde. / Nebenbei auf dem mit weichem Grase bewachsenen Rasen / Traf er ein Knäuel von Ksenias Zopf; / In demselben nistete aber schon ein kleiner Vogel. / Bei Seite lag Nebabas Speer, / Der Stahl, durch Feuer in einen dunkeln Klumpen verwandelt. / Und, lange irrend zwischen den kahlen Schädeln, / Scharrte er unter den Brandschutten eine Theorbe51 / hervor, / Mit einer einzigen Saite auf dem ganzen Spiele. / Weder Jahre, noch Wechsel der Witterung / Vermochten ihren goldenen Glanz zu verdunkeln; / Der Wind aber, der Liebling des nahen Haines, / Sang allnächtlich mit ihr die alten Taten ab.52

Wir sehen hier den Dichter fast schon gleichgültig die Vergangenheit behandeln. In der Tat scheint es, als blicke sein Geist ohne Mitleid und Betrübnis aus jenen Kampf, den er schildert. Den Stolz des polnischen Großen, die Wut der Kosaken, die gräßlichen Gewalttaten und Metzeleien beschreibt er kaltblütig, als ginge ihn dieses fast nichts mehr an, als wäre er ein unparteiischer Zeuge; endlich vernichtet er Alles durch einen großen Brand. Wir sagten schon, Zaleski habe die Schaubühne der slavischen Poesie mit einem brillanten, vielfarbigen Feuerwerk geschlossen; Goszczyński hat, kann man sagen, unter ihr uraltes Gebäude Feuer gelegt. Verbrannt haben sie die alten Sagen, vom Lande der Geburt Abschied genommen, sich in die unbegrenzte, ungewisse Zukunft begeben, nur einen Faden, eine Saite, die sie mit der volkstümlichen polnischen Poesie eint, mit sich nehmend; der Erste blieb dem religiösen Gedanken derselben, der Zweite dem politischen treu. Um eine sinnliche Vorstellung des Fortschrittes der Dichter und Schriftsteller des Slaventums zu haben, denke man sich eine Menge Wanderer, die von verschiedenen Seiten des Gesichtskreises, ohne es selbst zu wissen, einem Punkt zueilen. Alle haben sie, ohne Ausnahme, die Vergangenheit verlassen; ob mit Verzweiflung im Herzen, ob mit Trauer oder sei es auch nur gleichgültig. Alle

51 52

Polonistyczne, 58 (2003), S. 19–35. Über S. Goszczyński vgl. Danuta Sosnowska: Seweryn Goszczyński. Biografia duchowa. Wrocław 2000. [Das ist das Instrument der Kosakensänger. Anmerkung  A.  Mickiewicz]. Die Theorbe (torban) ist eine Art Baßlaute mit einem verlängerten Hals, auf dem sich ein zweiter Wirbelkasten befindet. [Die Geschichte der Frau (Orlika) im Gedicht des Goszczyński, die den Mann morderte und selbst umkam, ist, kann man sagen, die Geschichte der Ukraine. Anmerkung des Übersetzers].

5. Vorlesung (10. Januar 1843)

1045

steigen sie bergauf, und wenngleich einige sich höher befinden, so sieht man doch voraus, daß sie sich auf dem Gipfel begegnen werden. Den Augenblick dieses Abschiednehmens von der Vergangenheit haben wir schon bezeichnet, die Losung dazu gab Byron. Der ihm Nächste, der polnische Dichter Malczewski, läßt auch noch einen Seufzer der Verzweiflung hören; er wirft sich gegen die ganze menschliche Gesellschaft und sieht nichts, was der Bemühungen auf Erden wert wäre, „wo das Wirken erhabener Gefühle nie glücken wird.“ (Gdzie rola wzniosłych uczuć zawsze się nie uda).53 Der dem Malczewski gleich folgende Puškin kehrt immerwährend auf verschiedene Weise zu demselben Gedanken zurück. Er klagt, daß alles, woran er nur in der Jugend gedacht, wonach er geseufzt, um das er sich abgemüht hat – Liebe, Freiheit, Ruhm – alles ihn getäuscht habe; daß er endlich nicht mehr sehe, was ihm zu wünschen übrig bleibe; daß er kein Ziel mehr vor sich habe: „Цели нет передо мною.“54 Von nun an schreibt er, nach eigner Aussage, nur, um sich in der langen Weile zu zerstreuen, um einige Blumen sich aufs Grab zu werfen. Die polnischen Dichter, nachdem sie aufgehört haben, die Vergangenheit zu besingen, fanden auf dem Wege der Religion und der Politik ein neues Wirkungsfeld, welches sich bald in den Poesien des Garczyński, Goszczyński und Zaleski aufhellte. Puškin gebrach es an Kraft, weiter zu gehen; für ihn gab es keine Zukunft mehr, wenngleich er sie zuweilen ahnte. Diese unsre Meinung über ihn finden wir jetzt sogar durch die Kritik in Rußland bestätigt. In einem Werk, das wir unlängst empfangen, spricht der berühmte Kritiker Polevoj55 über Puškins Poesien, als seien sie schon der Vergangenheit anheimgefallen, und fügt hinzu, der Weltgeist habe sie gefressen. Gerechter wäre es, zu sagen, dieselben seien vom Geiste des Gouvernements, den zu bekämpfen sie keine Kraft gehabt, ausgezehrt worden. Noch einige Strophen eines neuen russischen Dichters, Chomjakov56, führen wir an, welche in der periodischen Zeitschrift „Revue des deux mondes“ in 53 54

55 56

Antoni Malczewski: Maria. Powieść ukraińska. Hrsg. Wacław Kubacki. Warszawa 1956, (Pieśń II, Vers 1382), S. 166. A.S. Puškin: „Dar naprasnyj, dar slučajnyj“. In: A.S. Puškin: Polnoe sobranie sočinenij v desjati tomach. Tom II. Stichotvorenija (1823–1836). Moskva 1959, S.  208: „Цели нет передо мною: / Сердце пусто, празден ум, / И томит меня тоскою / Однозвучный жизни шум.“ („Vor mir liegt kein Ziel / Das Herz ist leer, untätig der Verstand, / und es quält mich mit seiner Langeweile / das eintönige Geräusch des Lebens.“). Nikolaj Alekseevič Polevoj (1796–1846). Vgl. N.A. Polevoj: Očerki russkoj literatury. SanktPetersburg 1839, Bd. I, S. 211–229. Aleksej Stepanovič Chomjakov (1804–1860). Religionsphilosoph und Dichter; Vertreter des russischen Slavophilentums. Vgl. dazu Katja Lebedewa: Russische Träume. Die Slawophilen – ein Kulturphänomen. Berlin 2008 (= Ost-West-Express, Bd. 4).

1046

Teil III

französischer Übersetzung neulich erschienen sind. Es ist dies ein Gedicht an Napoleon. Puškin schrieb auch ein solches über Napoleon; wir werden daher den Unterschied sehen können, welcher zwischen den Gefühlen dieser beiden Dichter obwaltet. Puškins Dichtung endet mit den Worten: Да будет омрачен позором Тот малодушный, кто в сей день Безумным возмутит укором Его развенчанную тень! Хвала! он русскому народу Высокий жребий указал И миру вечную свободу Из мрака ссылки завещал.57

Das Brandmaal der Schande möge dem auf die Stirn gedrückt sein, der sich unterstehen könnte, seinem des kaiserlichen Kranzes beraubten Schatten zu hohnlächeln. Preis sei ihm! Er hat Rußland seine große Bestimmung gezeigt, er hat aus der Finsternis seiner Verbannung der Welt die ewige Freiheit verkündet.

Vor allem sieht man hier noch das Gefühl der russischen Volkstümlichkeit; man wird an den Ton der Poesien des Deržavin erinnert. Nebenbei ist der schon nach der Zukunft visierende Gedanke zu bemerken, und zwar in den Worten: „Napoleon habe der Welt die Freiheit verkündet.“; aber Chomjakov begreift die Sache viel erhabener, viel allgemeiner. Er sagt: Еще о нем Не сила народов тебя подняла, Не воля чужая венчала, Ты мыслил и властвовал, жил, побеждал, Ты землю железной стопой попирал, Главу самозданным венцом увенчал, Помазанник собственной силы ! Не сила народов повергла тебя, Не встал тебе ровный противник; Но тот, кто пределы морям положил, В победном бою твой булат сокрушил, В пожаре святом твой венец растоптал И снегом засыпал дружины. Скатилась звезда с омраченных небес, Величье земное во прахе !.. Скажите, не утро ль с Востока встаёт? Не новая ль жатва над прахом растет? Скажите!.. Мир жадно и трепетно ждёт Властительной мысли и слова!..58 57 58

A.S.  Puškin: „Napoleon“. In: A.S.  Puškin: Polnoe sobranie sočinenij v desjati tomach. Tom I: Stichotvorenija (1814–1822). Moskva 1959, S. 163. A.S. Chomjakov: „Eščo ob nem“. In: A.S. Chomjakov: Stichotvorenija i dramy. Leningrad 1969, S. 120.

5. Vorlesung (10. Januar 1843)

1047

Noch über ihn Nicht Kräfte des Volkes erhoben dich einst, / Nicht fremder Wille dich krönte. / Du dachtest und herrschtest, siegtest allein. / Du tratest die Erde mit eisernem Bein. / Dein Haupt schmücktest selbst du im Strahlenschein, / Gesalbter aus eigenen Kräften! Nicht Kräfte des Volkes vernichteten dich. / Es fand sich für dich kein Rivale; / Doch der, der die Meere ans Ufer gebannt, / Schlug im Siegeskampf dir das Schwert aus der Hand. / Er schmolz deine Krone im heiligen Brand / Und schneite ein deine Truppen. Vom finsteren Himmel stürzte ein Stern, / Der irdische Ruhm liegt in Asche!… / Sprecht, zieht nicht der Morgen im Osten herauf? / Wächst nicht aus der Asche die Ernte neu auf? / So sprecht doch!… Die Welt wartet gierig darauf, / Gebieten soll’n Wort und Gedanke.59

Hier müssen wir erinnern, wie vergangenes Jahr dasselbe und fast in denselben Worten, als wir von Napoleon und seinem Einfluss auf die slavischen Völker redeten, von uns gesprochen worden ist. Nur geirrt haben wir uns, das Ende der russischen Dichtung ankündend; diese Dichtung erglüht jetzt von einem neuen Leben, es zeigt sich ein neuer Lebensfunke in ihr. Diese feierliche Anrede, gerichtet an den Schatten Napoleons, dies Flehen, er möchte Europa die Zukunft enthüllen, zeigt schon, daß die denkenden Russen von den Vorurteil der krassen Selbstliebe sich loswinden, daß sie die falsche, aber viel betretene Bahn des Irrtums, auf welcher das Gouvernement sie mit aller Gewalt festhalten will, verlassen, sich mit dem europäischen Streben vereinen, indem sie dem Mann Europas, dem Manne unseres Planeten den schuldigen Preis darbringen.60 So sind wir bis zu dem Augenblicke gelangt, in dem die slavische Poesie in allgemeiner Erwartung eines großen Gedankens, eines großen Ereignisses ist. Zum Schluß der Reihe dieser Beschreibungen, die wir als Einleitung zur Auseinandersetzung der bei Seite gebliebenen Werke voranschicken mußten, 59 Übersetzt von Katja Lebedewa – in: Katja Lebedewa, op. cit., S. 133. 60 Chomjakov meinte allerdings nicht Napoleon, sondern den Osten (vostok) – Rußland; vgl. Leon Płoszewski – in: Adam Mickiewicz: Dzieła. Wydanie narodowe. Tom XI: Literatura słowiańska. Kurs trzeci i czwarty. Warszawa 1955, S. 542. Es handelt sich um einen Übersetzungsfehler. Mickiewicz benutzte die französische Übersetzung des ChomjakovGedichts „Ešče ob nem“, die Xavier Marmier in der Zeitschrift „Revue des Deux Mondes“ (1843/1, S.  122) unter dem Titel „Napoléon“ übersetzte. Die  3. Zeile der letzten Strophe (Скажите, не утро ль с Востока встаёт? – Sprecht, zieht nicht der Morgen im Osten herauf?) übersetzte Marmier: „Dites-moi, un nouveau matin ne brille-t-il à l’horizon?“ – „Sagt, dämmerte nicht ein neuer Morgen am Horizont?“; die Verwechslung von Osten (vostok) mit Horizont führte somit zu einer falschen Prämisse, die auch mit der slavophilen Lehre von Chomjakov unvereinbar ist; vgl. Lebedewa, op. cit., S. 135–136.

1048

Teil III

wollen wir ein Gedicht Goszczyńskis geben, weil dieses die wunderbar nahe Verwandtschaft seiner Begriffe mit den Vorstellungen des zuletzt angeführten russischen Dichters zeigt. Przeznaczenie Geniusza Na toż powstają geniusze W wiecznej bytu zawierusze, Aby błysnęły kometą I potem zgasły bet śladu? Możnaż, aby Twórca ładu Bezcelną zamknął je metą? Tutaj, gdzie pyłek jest świata ogniwem. Oneż się tylko marnie zatracą, Z całych wieków pracą, Z plemion podziwem? „Chwała światłości i cnocie: Hańba złemu i ciemnocie“ Zawoła skielet mądrości, Groźny anioł-stróż przeszłości, Wielki prorok z doświadczenia, Który nad wieków prochami Liczy chwile kolejami Bytu zniszczenia. „Kto obecność pojąć pragnie, Ku przeszłości ducha nagnie, Ledwo drobny świat człowieka Zaczął swój obrót w światów kołowrocie, Dumny przy swojej lichocie, Z dróg wytkniętych wnet ucieka I gaśnie w ciemnocie“. Przecknęła mądrość w Twórcy osobie I tchnęła z boskich piersi, i geniusz w tej dobie Zszedł na ziemię otwarcie, I śmiertelnym przyniósł wsparcie. I już odtąd wiek po wieku, Jak tylko Bóstwo przygasza w człowieku, A ciało duszę ugniata, Wcielony geniusz zlata I, zapaśnik ludzkości imieniem Walczy z nocą i spodleniem, Aż wrogów duszy obali, [A świat tymczasem pomyka się dalej. Chwała wam, męże wyższego natchnienia! Że dusza żyje przez wasze zjawienia, Jak biciem krwi ciało żyje, Że przez nas śród tego cienia Zegar mądrości idzie i bije].61 61

Seweryn Goszczyński: Pisma. Tom  I: Zamek kaniowski. Poezyje liryczne. Lwów 1838 S. 169–170.

5. Vorlesung (10. Januar 1843)

1049

Die Bestimmung des Genius Erscheinen etwa dazu die erhabenen Geister (Genien), / Um, wie ein Komet, in dem ewigen Wirrwarr / Des Daseins für einen Augenblick aufzuleuchten / Und dann spurlos zu verlöschen? / Ist es möglich, daß der Schöpfer jeglicher / Ordnung / Sie in eine ziellose Schranke geschlossen? / Hier, wo jedes Stäubchen zur Kette des Weltalls gehört, / Sollten sie nur allein mit dem Wirken ganzer Jahrhunderte, mit der Bewunderung ganzer Geschlechter eitel verkommen? / „Preis dem Licht und der Tugend, / Schande dem Bösen und der Finsternis?!“ / Ruft dräuend das Skelett der Weisheit, / Der Vergangenheit drohender Schutzengel, / Der aus Erfahrung große Prophet, / Der über dem Staub der Jahrhunderte / Die Augenblicke nach den Wechselreihen / des Seins und der Vernichtung zählt. /,,Wer die Gegenwart begreifen will, / Den Geist der Vergangenheit zuwendet, / Sieht, wie kaum die kleine Welt des Menschen / Ihren Lauf im Kreis der Welten begonnen, / Und wie er, stolz auf seine Erbärmlichkeit, / Bald die gesteckten Bahnen verläßt / Und in der Finsternis; erlischt.“ / Es erwachte die Weisheit in des Schöpfers Person / Und atmete aus der göttlichen Brust; ein Genius / erschien im nämlichen Augenblicke, sichtbar auf der Welt, / Und brachte den Sterblichen Hilfe. / Von nun an aber, sobald die Gottheit im Menschen erlischt, / Der Körper die Seele bedrückt, / Fliegt Jahrhundert und Jahrhundert / ein verkörperter Genius herab, / Und ringt, Kämpfer der Menschheit, im Namen der Menschheit / mit der Finsternis und Niederträchtigkeit, / Bis er die Feinde der Seele gestürzt; / Die Welt aber rückt indessen weiter. / Preis Euch, Männer der höhern Begeisterung! / Die Seele lebt durch Euer Erscheinen, / Wie durch den Pulsschlag der Körper. / Preis Euch, daß mitten in dieser Dunkelheit / Der Weisheitszeiger fortrückt und schlägt!

Jetzt vielleicht erst ist es erlaubt, über den Kampf der Romantiker mit den Klassikern das Urteil zu fällen.62 Früher begriff man nicht, wie weitgreifend dieser Streit war, der in den französischen, polnischen und auch tschechischen Tagesblättern geführt wurde. Man ging darauf los, den ausschließlichen Besitz des Ruhmes den Vergegenwärtigern der alten Sachordnung zu nehmen. Es wurde ihnen weder Mangel an Gelehrsamkeit, noch Mangel an theoretischen Kenntnissen vorgeworfen; man bestritt nicht, daß sie auf legale Art dem Reich der Literatur vorstanden, daß sie das Recht hätten, selbiges zu verwalten; nur forderte man von ihnen Begeisterung, das heißt, man fragte nach dem Beweis, kraft wessen sie herrschten. Um zu herrschen, um zu regieren, war es nicht mehr hinlänglich, von einer schriftstellernden Familie herzustammen oder die Lehrjahre auf einer Schule zugebracht zu haben; es war erforderlich, Geist zu zeigen. Die Menschen wollten sich schon vor nichts mehr beugen, als einzig vor dem, was des Preises würdig war, was das Merkmal des Genies an sich trug. Man verweigerte dem Menschen das Recht, die Vernunft und das Gefühl 62

Vgl. 30. Vorlesung (Teil II); ferner – Stanisław Makowski: Romantyzm polski w Les Slaves. In: Prelekcje paryskie Adama Mickiewicza wobec tradycji kultury polskiej i europejskiej. Próba nowego spojrzenia. Red. Maria Kalinowska, Jarosław Ławski, Magdalena BiziorDombrowska. Warszawa 2011, S. 150–162.

1050

Teil III

seiner Nächsten zu lenken, sobald er nicht seine Erhabenheit in der Tat bewies und die außerordentliche, ihm inne wohnende Kraft bezeugte. Es bedeutete dies nichts weniger als das Ende der alten und den Beginn der neuen Welt. Diese Reform war mehr radikal, sie war tiefer als selbst die in der Politik unternommene. Wie bekannt, meinten die politischen Schulen, es sei hinreichend, die Massen zu der Besorgung ihrer eigenen Interessen zuzulassen, und daß sie dann selbst das ganze Rätsel lösen würden; die Schule der neuen Literatur, den alten Zustand der Dinge umstoßend, wenngleich gewiß, einst die Allgemeinheit beistimmen zu sehen, verließ sich doch nicht auf ihr Urteil, sondern holte aus sich selber, aus dem Innern des menschlichen Geistes die Kraft zur Lösung hervor. Was daher den Literaturanfang der letzten Zeit ausmacht, ist gerade jenes Sich-Berufen auf das Genie, auf die höhere Eingebung und was wir Messianismus genannt haben. Das Werk des anonymen Dichters, betitelt „Nie-Boska komedia“ (Un-göttliche Komödie), gehört schon der gegenwärtigen Epoche an. Der Dichter denkt sich schon eine Gesellschaft, durchdrungen von den oben bezeichneten Grundregeln, eine Gesellschaft, die, nachdem sie alle Bande der Vergangenheit gelöst, nach dem Geist, Genie sucht und ihm das Aufbauen der Zukunft anvertraut. Dieses Werk betrachtend, werden wir zeigen, worin der Verfasser der Volksüberlieferung treu geblieben und worin er sich verirrt hat, als er diesem Genius, der das neue Gebäude aufführen soll, einen Charakter beilegte, der nichts Slavisches an sich hat.

6. Vorlesung (13. Januar 1843) Historische und philologische Forschungen (I) Die anfängliche Geschichte der Slaven – Die Notwendigkeit, theoretische Ansichten mit Zeugnissen der Gelehrsamkeit zu belegen – Spuren des uralten Bestehens der Slaven in Europa – Wenden in Europa – Wenden am Rhein, Mösien, Etrurien, Pannonien und Kleinasien – Assyrer. Herkunft des Namens – Assyrische Götter und Göttinen – Die große Sünde slavischer Stämme – Nemrod, Bel, Ninus, Nebukadnezar – Die Zeit der Buße für die Slaven gekommen läuft ab. Charakter der Slaven.

Bis jetzt konnten wir in die Analyse der wichtigen Fragen, betreffend den Ursprung, die Sitten und Gesetze der Slaven, nicht eingehen. Die Auseinandersetzung dieser Dinge hätte die Reihenfolge der Entwickelung unsres Gegenstandes gestört; nur warfen wir einige Aufschlüsse in geschichtlicher, religiöser und gesellschaftlicher Beziehung hin und versprachen, dieselben später zu beweisen. Der gewöhnlichen Forderung, die materielle Beweise verlangt, muß nun genügt werden. Die Zeugnisse schriftlicher Denkmaler dienen den Meinungen zur Bekräftigung; so ist das Gesetz der Materie. Die Erudition (Gelehrsamkeit) macht das Material der Wissenschaft aus, und auf diese Weise können wir alles, was wir theoretisch ausgesprochen haben, selbst im Angesicht der Gelehrten rechtfertigen. Bestreben werden wir uns nur, alle diese wissenschaftlichen Fragen nach einem Mittelpunkt, zu dem Hauptgedanken unseres ganzen Vortrages hinzuleiten und die bevorstehenden Nachforschungen so zu ordnen, daß ihre Resultate sich dem Hergang der bisher erzählten Geschichte anreihen können. In dem Augenblicke, wo die slavische Literatur und Poesie der Vergangenheit ihr feierliches Lebewohl zuruft, wo die Gemüter sich ein künftiges Dasein denken, selbst dasselbe zu formulieren trachten, ist es nötig, auf das Altertum der Slaven einen Rückblick zu werfen, um eine allgemeine Vorstellung von der Laufbahn zu haben, auf welcher dieser ganze Stamm vorgeschritten ist. In einigen Worten wollen wir hier wiederholen, was über dessen europäische Altertümlichkeit von uns gesagt worden ist, dann sogleich nach Asien zu den Quellen der ältesten Geschichte, zu den Quellen aller Religionen und aller Überlieferungen übergehen und die nachher aus der Geschichte der Gegenwart erschlossenen Wahrnehmungen begründen. Bekannt ist schon, daß die Slaven in Europa sich seit undenklichen Zeiten befinden. Diese Wahrheit hat Pavol Jozef Šafařík in seinem enzyklopädischen Werk63 auf eine keinem Zweifel mehr unterliegende Art aufgehellt. Wir wollen 63

Pavol Jozef Šafařík: Slovanské starožitnosti. Praha 1837; deutsche Übersetzung: P.J. Schaffarik: Slawische Alterthümer. Übersetzt von Mosig Ährenfeld. Hrsg. Heinrich Wuttke. 

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_081

1052

Teil III

einige Ortsnamen anführen, die, nach Kollárs64 Ausdruck, dem Angriff der Fremden widerstehen, und einige Personennamen, die in den Blättern der griechischen und römischen Geschichte hervorragen. Šafárik erweist fürs Erste, daß alles, was die Alten von Eneten, Heneten, Weneten, Wenden gesprochen haben, auf die Slaven sich beziehe; diese Heneten oder Weneden aber hatten in Belgien, England und Frankreich, in den Departements der Vendée und Bretagne, ihre Wohnsitze.65 Noch zu den Zeiten der römischen Republik sah man sie am Gestade des adriatischen Meeres, zu den Zeiten Cäsars in Belgien. Die Stadt Venedig heißt im Slavischen Benatki (Benátky) oder Wenatki (Mleci). Cäsar66 erwähnt vieler Orte, die augenscheinlich slavische Namen haben, so z. B. unter anderem die Hauptstadt dieser belgischen Weneten oder Heneten, Oesoericum genannt, was, mit Ozirisko und Jezierak gleichlautend, im Slavischen einen Platz am See bedeutet. Schon damals wußte man, daß diese belgischen Weneten eine Ansiedelung der italienischen gewesen, und man hat das Gemeinsame zwischen diesen beiden Völkern, die durch ihnen ganz fremde geschieden waren, wahrgenommen. Wir übergehen viele andere Namen, die sichtbar weder keltisch, noch germanisch, noch römisch sind, die sich aber öfters im Slavischen wiederholen, wie z. B. Brest. Diese historischen Fragen gewinnen noch mehr Wichtigkeit, sobald es sich um die Beleuchtung der Altertümer des römischen Volkes handelt, dieses geheimnisvollen Volkes, von dem man nicht weiß, woher es gekommen, und das anfänglich kaum etliche Meilen Raum zwischen den Oskern, Volskern, Sabinern, Ombern, zwischen keltischen oder sonst anderen, bis jetzt unbekannten Völkerschaften besaß. Was aber die Osker, Volsker und Sabiner anbelangt, stimmen die Gelehrten nicht überein. Einer der ausgezeichnetsten

64 65

66

2 Bde., Leipzig 1843–1844; P.J. Schaffarik: Über die Abkunft der Slawen nach Surowiecki. Ofen 1828. Vgl. auch die Fortführung der Forschungen über slavische Altertümer durch Lubor Niederle: Slovanské starožitnosti. 4 Bände. Praha 1902–1924; Lubor Niederle: Život starých Slovanů. 3 Bände. Praha 1911–1934. J. Kollár: Slávy Dcera (Předspěv), op. cit. Schaffarik sagt: „In Belgien gab es keine Weneten; nur aus Versehen gibt Strabon an einer Stelle [Strabo IV, S. 195] die armorischen Weneten für Belgier aus, weil die ersteren nicht weit von der Granzen des belgischen Galliens wohnten.“ P.J.  Schaffarik: Slavische Altertümer, op. cit., Bd.  1, S.  260. In Fußnote  5 (S.  260) heißt es weiter: „[…] In Belgien wohnten die Moriner mit der Stadt Gesoriacum, die Surowiecki irrtümlich für Weneden hält.“; Der Name der Landschaft „Vendée rührt nicht von diesen alten Weneten her, […] sondern von dem gleichnamigen den südlichen Teil dieses Landes durchfließenden Flüßchen.“ (Fußnote 7, S. 260.); Strabonis Geographica. 10 Bände. Hrsg. Stefan Radt. Göttingen 2002–2011. Caesar: De bello Gallico, III, 7, 9 u.a.

6. Vorlesung (13. Januar 1843)

1053

Altertumsforscher, Karl Gottfried Müller67, der Verfasser eines für diesen Gegenstand wichtigen Werkes, behauptet, daß die Osker sich von den Latinern unterschieden, und daß ebenso die Sabiner eine von der latinischen ganz verschiedene Sprache redeten; nach seiner Mutmaßung näherte sich diese Sprache in etwas der etruskischen. Von dieser letztern wissen wir nicht viel; acht bis zehn Ausdrücke nur sind zu uns gekommen. Aber von der Sprache der Volsker und Sabiner blieb auch nicht die geringste Spur auf dem italischen Boden übrig. Und doch haben die Namen dieser Völker einen dem slavischen Ohr nicht fremden Klang. Volsci, Volski, Wilki ist eben dasselbe, was Kasni; Kasni aber ist die Übersetzung des Wortes Osci, Oski, was nach der Meinung römischer Schriftsteller so viel hieß als Prisci. Schon Francesco Maria Appendini68, ein ragusanischer Geschichtsschreiber, hat in einer slavischen Mundart die Erklärung dieses Wortes Kasni finden wollen und sah, daß es so viel bedeute als Prisci oder die Alten, die Früheren. Nicht genug damit; die berühmten, zu Gubbio unter dem Namen Tabulae Iguvinae im Jahre 1444 gefundenen bekannten Tafeln, welche die älteste lateinische Inschrift sind, die man je entdeckt hat, enthalten viele slavische Ausdrücke. Wie schade, daß Luigi Lanzi69 und Georg Friedrich Grotefend70, die diese Tafeln kommentierten, nicht die geringste Kenntnis der slavischen Sprache hatten; dieses Denkmal ist nicht hinlänglich erklärt; aber auf den ersten Blick bemerkt man darin die Worte: baran, mir, grab, grabo, zena, die gewiß weder keltisch, noch lateinisch, wohl aber slavisch sind. Hier haben wir einen Beweis, wie sehr die Kenntnis der slavischen Sprache zur Lösung manches schwierigen Zweifels beitragen könnte. Diese Osker, Sabiner und alle anderen um Rom herum wohnenden Völkerschaften waren den Weneten, die am adriatischen Meere neben den Lydiern wohnten, verwandt. Strabo71 hat die alte Überlieferung von der Übersiedlung der Lydier nach Italien aufbewahrt; viele Geschichtsschreiber jener Zeit haben 67

68 69 70 71

Karl Otfried Müller (1797–1840), Professor für Klassische Philologie in Göttingen; vgl. sein grundlegendes Werk – Karl Otfried Müller: Die Etrusker. Breslau 1828 [http:// arachne.uni-koeln.de]. Über K.O. Müller vgl. Klaus Nickau: Karl Otfried Müller, Professor der Klassischen Philologie 1819–1840. In: Die Klassische Altertumswissenschaft an der Georg-August-Universität Göttingen. Eine Ringvorlesung zu ihrer Geschichte. Hrsg. Carl Joachim Classen. Göttingen 1989, S. 27–50. Francesco Maria Appendini (1768–1837); vgl. F.M. Appeendini: Notizie istoricho-critiche sulle antichitá, storia e letteratura de’ Ragusei. 2 Bände. Ragusa 1802–1803, Bd. I, S. 57, Fußnote 1, in der auf kasno (kroatisch „spät“) verwiesen wird. Luigi Lanzi (1732–1810); vgl. L. Lanzi: Saggio di lingua etrusca e di altre antiche d’Italia. 3 Bde., Roma 1789. Georg Friedrich Grotefend (1775–1853); vgl. G.F. Grotefend: Rudimenta linguae oscae, ex inscriptionibus antiquis enodata. Hannover 1839. Bei Strabo, op. cit., nicht nachweisbar.

1054

Teil III

dies wiederholt. Diese Lydier und Weneten erscheinen später am Rhein, in Mösien, Illyrien, Pannonien. Mösien jedoch und Illyrien waren noch früher von den Slaven bewohnt. Schon im Livius stoßen wir auf Benennungen, die jedem Slaven verständlich sind, z. B.  Bylazora im heutigen Dalmatien72. Besonders aber aus Trajans Zeiten haben wir eine Menge Beweise dafür, die, von Šafařík gesammelt, in seinem Werke zu finden sind.73 Der aus den Handschriften des Kaisers Trajan schöpfende Geograph Priscian74 nennt die Städte Bersovia und Serbitia; letztere nennt wieder Plinius Servitium, die aber hundert Jahre vor ihm, zu den Zeiten des Augustus, Serbetium hieß. Kurz, wir stoßen auf eine Menge Namen von Städten, Flüssen, Seen und Bergen, die ein Pole oder Russe gleich erkennt, ihre Bedeutung versteht. Es genügt übrigens, die Denkmäler jener Zeiten, die Basreliefs der Trajanischen Säule75 zu betrachten, um die Antlitze der slavischen Fußgänger von den Gesichtern der neben ihnen sichtbaren Thraker, Parthen, Lesger und anderer asiatischen Reiter zu unterscheiden. Selbst der Name Mösien (Moesia) ist der slavischen Sprache entlehnt und bedeutet kurzweg das Land der Männer (kraina mężów). Die Slaven nannten sich untereinander gewiß Męże, Muże, Miże, d. h. Männer; die Griechen verwandelten dies in Mysoi, die Römer in Moesi. Ebenso auch der Name Pannonien (Pannonia); er kommt her von dem slavischen Worte pan und bedeutet ebensoviel als panowanie, państwo, die Herrschaft, das Dominium eines Herrn, was den Fremden der Name eines ganzen Landes schien. Daher rührt auch die Verwicklung dieser beiden Benennungen, so daß es schwer ist, in der altertümlichen Geographie Mösien von Pannonien zu unterscheiden. Šafařík führt noch aus einem byzantinischen Geschichtsschreiber76 die Erwähnung eines

72 73

74 75 76

Mazedonien. P.J. Šafařík: Slovanské starožitnosti. Praha 1837, S. 207 (§ 11); „Serbinum, Σέρβινον nach Ptolomaios und Serbetium, Servitium auf den peutingerischen Tafeln, im Itinerarium Antonii, bei Guido von Ravenna, zwei pannonische Städte, von denen die eine das heutige Srbec an der Sawa zu sein scheint. – Bersovia, eine Kolonie der Sarmatae Limigantes, peutingerischen Tafeln und bei Guido von Ravenna, nach Priscian, der diesen Namen in Trajans eigener Hand abschrieb, Berzobid, im Mittelalter das Städtchen Berz, an der heutigen Beraawa oder Brzawa im Banat.“ – Zitiert nach P.J. Schaffarik: Slavische Alterthümer. Leipzig 1843, Band 1, S. 207. Prisciani Institutionum grammaticarum liber XVIII. Hrsg. Martin Hertz. Band  1, Leipzig 1855, S. 205: „Traianus in I Dacicorum: ‚inde Berzobim, deinde Aizi processimus‘ […]“. „Auf der Trajanssäule sehen wir zu wiederholten Malen sarmatische Reiter.“ – Johannes Dierauer: Beiträge zu einer kritischen Geschichte Trajans. Leipzig 1868, S. 83, Fußnote 2. Vgl. Theophylaktos Simokates: Geschichte. Übersetzt und erläutert von Peter Schreiner. Stuttgart 1985.

6. Vorlesung (13. Januar 1843)

1055

Königs Mousikios, d.h. Mużyk an, welcher sich in der Stadt Miżak gegen den Anfall der Römer zu den Zeiten des Kaiserreichs wehrte. Mösien, Pannonien und Venedig bedeuten daher nichts anderes als Slaventum. Kehren wir nun zu den Lydiern zurück, die sich uns allerwärts unter den verschieden benannten Slaven zeigen, die aber, den alten Überlieferungen zufolge, aus Asien gekommen sind. Seit dem 6. Jahrhundert finden wir im ganzen Europa die Spuren ihres Aufenthalts, in Deutschland, in England, in Frankreich, wo es scheint, als wäre der Name geändert worden, während aber dasselbe Volk geblieben ist. Der berühmte deutsche Altertumsforscher Jakob Grimm hält sich bei diesem ihm unverständlichen Namen auf und sagt, es wäre wohl wichtig, die Worte lidus, litus, genus litorum77zu erklären, die in den sächsischen Gesetzesurkunden und früher noch im barbarischen Latein einmal eine besondere Klasse, das andere Mal Sklaven und auch wiederum Ackersleute bedeuten. Es findet sich ein merkwürdiges Buch über die Verwaltung des byzantinischen Kaiserreichs78, worin das Amt eines Vorgesetzten über die Lyter, praefectus laetorum, bemerkt ist. Grimm79 bekennt, dieses nicht zu verstehen; aber jedem Slaven wird es bald einfallen, daß lidus nichts anderes bedeute als lid, wie noch heute slavische Bewohner vieler Gegenden statt lud, das Volk, aussprechen; das Wort lud aber ist allgemein und bezeichnet das Volk, den gemeinen Mann, das einfache, ackerbauende Volk, sonst in ganz Europa den sogenannten Pöbel. Von diesem Ausdruck lid oder lud stammt das von den Altertumsforschern bis jetzt unerklärte Wort leudes80, welches später für gleichbedeutend mit feudum oder adeliger Besitzung genommen wurde, d.h. mit dem Besitz des Bodens und der Ackersleute slavischer Dorfgemeinden, welche sich keltische und germanische Herren untereinander zum Nießnutz übergaben, bis sie in diesen Ländern, wie einst in Griechenland, wo sich auch die Spuren ihres Daseins vorfinden, zu Grunde gegangen sind. Diese Lydi oder Ludi finden wir gleichfalls im nördlichen Slavenland, im sächsischen Meißen, im brandenburgischen Lusatien (Lausitz). Sie waren 77

78 79 80

Jacob Grimm: Deutsche Alterthümer. Göttingen 1828; Kap. IV – Der Knecht, Absatz 11, S. 305: „umständlicher zu handeln ist von dem ältesten und gangbarsten namen für den hörigen diener, womit schon in den lat. Gesetzen gleichsam ein mittelstand zwischen servus und liber bezeichnet wird.“ Vgl. Notitia dignitatum et administrationum omnium tam ciuilium quam militarium in partibus orientis et occidentis. Hrsg. Eduard Böcking. 2 Bände. Bonn 1839–1853. „Ich halte die lesart lid für unerklärbar.“ – Jacob Grimm: op. cit., S.  307; auf Seite  306 nimmt er Bezug auf „Notitia dignitatum“, op. cit. Vgl. dazu Walther Kienast: Die fränkische Vasallität: von den Hausmeiern bis zu Ludwig dem Kind und Karl dem Einfältigen. Hrsg. Peter Herge. Frankfurt am Main 1990, Kap. III: leudes und fideles.

1056

Teil III

daselbst kein abgesondertes Geschlecht, sondern machten mit den Milzenern und Lutizern (Lausitzern) ein und dasselbe Volk aus. Die Namen der Milzener, Lutitzer, Wilzen bezeichneten keine unterschiedenen Völker, sondern sie dienten nur den Gemeinden, in welche sich die Slaven unter einander teilten. Gehen wir nun weiter, überschreiten wir die Karpaten und setzen wir, ihrer Gebirgskette gegen das Schwarze Meer folgend, über die Meerenge, welche Europa von Asien scheidet. Am jenseitigen Ufer dieser Meerenge stoßen wir auf dieselben Namen, auf dasselbe Volk, das seit den ältesten Zeiten, seit den Zeiten Homers dort wohnt. Später bezeugen Strabo, Plinius und verschiedene andere Historiker seinen Aufenthalt in diesen Ländern. Nach Lelewel81 hatten zu Homers Zeiten die Mysyer (Moesi) Wohnsitze an der Mündung der Donau. Wir glauben, sie haben gleichzeitig und unter demselben Namen auch in Kleinasien gewohnt, woselbst sie geblieben. Daselbst finden wir auch die Kari (Carii), Karier. Kary heißt bei den Slaven so viel als schwarz; Kara heißt bei den Türken auch schwarz, die Orientalisten gestehen aber, daß dieses Wort fremdartig in den Sprachen des Morgenlandes klingt. Im Polnischen beziehen sich die Beiwörter kary und czarny auf eine und dieselbe Farbe; das Hauptwort kara aber bedeutet einmal die Strafe oder die Vergeltung eines Verbrechens, das andere Mal eine stypa, ein Festmahl bei einem Leichenbegängnis, wie wir dies in einem alten Schriftsteller finden.82 Die Karier, Lydier und Mysier waren ein und dasselbe Volk. Herodot, der älteste Geschichtsschreiber, sagt in seinem ersten Buche, daß die Gebrüder Lydus, Mysus und Karus die Patriarchen dieses Volkes waren.83 Die Griechen wußten nicht anders die Bedeutung dieser drei Namen in ihrer Sprache auszudrücken, die nur lud mężów karych oder czarnych, das Volk schwarzer Männer, war (wenn nämlich diese Wortforschung, was die Karier betrifft, die richtige ist). Mit diesem Volke mengen sich die Paphlagonier und Phrygier84 oder, wie man sie schreibt, Phrigii, zuweilen auch Brugii und dann wieder Bregii, was auf den slavischen Ausdruck breg, das Ufer, oder brzeg hinleitet, und es ist möglich,

81 82

83 84

Joachim Lelewel: Dzieła. Band III. Warszawa 1959, S. 218–221; ohne allerdings „Homers Zeiten“ zu bestätigen. Schaffarik, op. cit., Bd. 1, S. 252, mit Verweis auf Jornandes (Jordanes) – „strawa (slowak. Leichmal, jetzt kar, poln. stypa)“; vgl. Iordanis Romana et Getica. Hrsg. Theodor Mommsen. Berlin 1882; deutsche Übersetzung – Jordanes Gothengeschichte nebst Auszügen aus seiner Römischen Geschichte. Hrsg. Wilhelm Martens. Leizpig 1884. Vgl. Herodot: Historien. Griechisch-deutsch. Hrsg. Josef Feix. München 1963, Band  1 (Buch I.), S. 159. Vgl. Christian Marek: Geschichte Kleinasiens in der Antike. München 2010.

6. Vorlesung (13. Januar 1843)

1057

daß sie sich kurzweg die am Ufer wohnenden Bregowi, Brzegowi oder Brzeżani, wie später am baltischen Meere, nannten.85 Niemand hat noch bis jetzt die Geschichte Kleinasiens gut entwickelt. Dieses Kleinasien nimmt in der Geschichte des Altertums denselben Platz ein, wie in der neueren Geschichte die Gegenden, welche, einst Klein-Skythien genannt, später unter dem Namen Klein-Rußland und Klein-Polen jenes große Schlachtfeld der Völker Asiens und Europas in sich fassen. Ebenso war auch einst Kleinasien die große Bahn der Völkerwanderungen und die Wahlstätte großer Schlachten. Hierdurch zogen die Skythen hinter den Kaukasus nach Mittelasien; hier wurde der trojanische Krieg ausgefochten, hier landete Alexander der Große mit seinen Heerscharen zur Eroberung des Ostens, hier kamen die Waffenbrüder der Kreuzzüge zusammen. Dennoch gibt es nichts weniger Bekanntes als die Landesgeschichte dieser Gegenden. Die Gelehrten wissen gar nicht, zu welchen Nationen sie die Karier, Lydier, Paphlagonier, Kappadokier und Kylikier zählen sollen. Unlängst ist von dem gelehrten Professor Hisely86 zu Lausanne, Mitglied des belgischen Instituts, ein in Betracht gewissenhafter Gelehrsamkeit seltenes Werk erschienen, worin der Professor sich bemüht, die Landes- und Volksgeschichte Kleinasiens aufzuhellen. Nach seiner Meinung müssen diese Völker aus dem semitischen Stamm herkommen; er glaubt, sie seien armenisch, von dem Geschlecht Arams. Hisely schöpfte jedoch nur bei Schriftstellern Rat, welche die Geschichte dieser Völker nicht früher als von den mazedonischen Zeiten beginnen. Vor der Zeit Alexanders des Großen wissen sie nichts von ihnen. Strabo, obschon aus jenen Gegenden gebürtig, gesteht, gar nichts von ihrer älteren Geschichte zu wissen. Also nach griechischen und römischen Schriften, welche Hisely anführt, haben diese Völker, zuerst dem assyrischen Reich einverleibt, sich später davon abgerissen, sind dann in das persische Joch, nachher unter das mazedonische Zepter geraten und endlich im römischen Reich untergegangen. Zu den Zeiten der mazedonischen Eroberungen hieß man sie Syrier. Selbst gaben sie sich diesen Namen nicht; die Fremden jedoch nannten sie aus dem Grunde so, weil sie einst einen Teil des assyrischen Reiches ausgemacht hatten. 85

86

Vgl. J.P. Šafařík: Slovanské starožitnosti. Praha 1837, S. 899, der von Brežané spricht, die an der Havel angesiedelt waren; bei Helmold heißt es: „[…] Brizani et Stoderani, qui Havelberg et Brandenburg habitant […]“ – Helmold: Chronica Slavorum, liber I, 37. Vgl. auch A. Mickiewicz: Pierwsze wieki historii polskiej. In: A. Mickiewicz: Dzieła. Wydanie rocznicowe. Bd. VII. Warszawa 1996, ks. III (przypis do w. 92), S. 357. Johann Joseph Hisely (1800–1866); vgl. J.J. Hisley: Disputatio de historia Cappadociae, cui praemittuntur Descriptio Cappadociae et Disquisitio de Cappadocum origine, lingue, religione. Amsterdam 1836.

1058

Teil III

Erwägen wir nun die Namen der Syrier oder Assyrier, Syriens, Assyriens. Die ältesten slavischen Worte sind gewöhnlich aus drei Konsonanten zusammengesetzt. Bekannt ist, wie in der slavischen Sprache die Konsonanten hauptsächlich das Gerüst oder Material der Worte ausmachen, die Vokale aber nur deren Vollendung oder der Atem sind, und zwar so sicher, daß der Pole oder Russe ein in tschechischer Sprache mit bloßen Konsonanten geschriebenes Buch sehr leicht verstehen wird, sich die Zwischenräume nach seiner Art mit Vokalen füllend. Hier haben wir drei Konsonanten zu betrachten: s, r, b; denn jeder, dem nur die etymologische Lehre bekannt ist, weiß wohl, daß diese Laute oft in ganz andere übergehen, so s → t, r → l, b → w, so häufig, daß, nach der Bemerkung des Herrn Burnouf87, nicht selten in einem abgeleiteten Worte kein einziger Laut vom Stammwort übrig bleibt. So z. B. kommt das französische Wort jour vom lateinischen dies her, wenngleich diese beiden Ausdrücke keinen einzigen gemeinsamen Buchstaben haben. Aus den Lauten s, r, b kann man zusammensetzen Serb, Sorab, Surab, Turab und viele andere den Slaven beigelegte Namen. Daß dies aber die älteste Benennung der Slaven ist, dafür finden wir erstlich Belege in einem anonymen, unter dem Namen des Geographen von Ravenna88 bekannten Schriftsteller, dann bei dem Bayerischen Geographen89, der da sagt, alle die in seinem Werke mit besonderen Benennungen bezeichneten Völker stammen aus dem unermeßlichen Ländergebiet Sorab her. Dieser Geograph drückte hier wahrscheinlich die allgemein übliche Meinung dieser Völker über ihre gemeinsame Herkunft und Ursprung von Serb, Sorb oder Sorab aus.

87 88 89

Jean Luis Burnouf (1775–1844) oder sein Sohn Eugène Burnouf (1801–1852) – SanskritForscher und Indologen. Vgl. Ernst Windisch: Geschichte der Sankrit-Philologie und indischen Altertumskunde. Berlin u.a. 1992, S. 123–140. Ravennatis anonymi cosmographia. Hrsg. Moritz Pinder und Gustav Parthey. Berlin 1860 (Reprint: Aalen 1962). Dort taucht auf S. 217 bei der Aufzählung der Name Serbitium auf. Die aus dem 9. Jahrhundert stammende Handschrift der „Ostfränkischen Völkertafel“ des sog. Geographus Bavarus (auch „Descriptio civitatum et regionum ad septentrionalem plagam Danubii“) befindet sich auf zwei Seiten am Schluß eines Sammelbandes der Staatsbibliothek München (Clm 560, fol. 149v und fol. 150r). Reproduktion vgl. E. Herrman: Slawische-germanische Beziehungen im süddeutschen Raum. München 1965, S. 222. Dort taucht unter den Stammesnamen Surbi auf: „(8) Iuxta illos est regio, que vocatur Surbi, in qua regione plures sunt, que habent civitates 50.“ Die Bezeichnung Sorabi verzeichnen folgende Quellen – a) Annales Bertiniani a. 839. Hrsg. G. Waitz. Hannover 1883; b) Annales Fuldenses sive Annales regni Francorum orientalis. Hrsg. G.H. Pertz. Hannover 1891. Vgl. dazu – Helmut Preidel: Slawische Altertumskunde des östlichen Mitteleuropa im 9. und 10. Jahrhundert. Teil I. München 1961, S. 29–30; dort auch die Quellenübersicht.

6. Vorlesung (13. Januar 1843)

1059

Was bedeuten die Ausdrücke Serb, Sorb, Sorab? Nach Šafařík90 sind sie Slavisch. Ihm zufolge bedeutet Srb → serp, sierp, französisch serpe (Sichel), was, beiläufig gesprochen, auch ein slavisches Wort ist, wie zum größten Teil die Namen der Tiere und Ackerbau-Werkzeuge in Europa; ferner Serb, verwandt mit paserb, pasierb (Stiefsohn).91 Ser, Sur sind auch in Kleinasien als allgemeine Namen bekannt. Greifen wir nun tiefer bis in die alte Geschichte Assyriens. Assyrien unterschied sich von Syrien. Das assyrische Reich, mit den Hauptstädten Babylon und Ninive, begriff Mesopotamien, Chanaan oder das spätere Palästina, Persien, Arabien, eine gewisse Zeit hindurch selbst Ägypten und ganz Kleinasien bis zu der Meerenge, die es von Europa trennt. Dieses ungeheure Reich hieß zu Moses Zeiten Assyrien.92 Zu welchem Stamm gehörte und wo mag es geblieben sein, dieses in der Bibel so oft erwähnte schreckliche Volk Assur93, das so viele Völker und Königreiche erobert hatte? Die Assyrer waren weder Araber noch Hebräer, auch nicht Kanaaniter, mit denen sie im Gegenteil häufige Kriege führten. Sie waren auch nicht jene Bewohner Kleinasiens, die man später Syrier und Assyrer bloß aus dem Grunde nannte, weil sie einst dem assyrischen Reiche angehörten; es liegen uns geschichtliche Zeugnisse vor, daß sie sich öfters den assyrischen Monarchen widersetzt, dieselben sogar manchmal besiegt haben und stets die Gelegenheit suchten und wahrnahmen, sich von ihnen loszureißen. Sie waren weder Armenier noch Chaldäer. In der Heiligen Schrift haben wir Beweise von der Geschlechts- und Sprachverschiedenheit der Chaldäer. Die Assyrer sprachen nicht hebräisch. Erinnern kann man sich, daß der in Jerusalem von einem assyrischen oder chaldäischen Heerführer belagerte König Israels mit dem feindlichen Hauptmann assyrisch sprechen will, um von den Juden nicht verstanden zu werden. Wir finden auch im Buch Daniel, daß dieser König die Weisen von Chaldäa und Assyrien herbeiruft, auf daß sie ihm die geheime Inschrift erklären.94 90

Schaffarik: Slavische Alterthümer, op. cit., Bd. 1, S. 95–98, 165–181 (Abschnitt 9: Die ältesten Zeugnisse der Serben). 91 Über den Namen der Serben vgl. Heinrich Kunstmann: Die Slaven. Ihr Name, ihre Wanderung nach Europa und die Anfänge der russischen Geschichte in historisch-onomastischer Hinsicht. Stuattgart 1996, S. 40–44. 92 Vgl. Eva Cancik-Kirschbaum: Die Assyrer. Geschichte, Gesellschaft. München 2003. 93 Vgl. Hartmut Schmöckel: Ur, Assur und Babylon. Stuttgart 1962. 94 Altes Testament, Buch Daniel V, 1–29 (Das Gastmahl Belsazars); Daniel entziffert das an der Wand Geschriebene „Mene mene tekel u-parsin“ – „Mene: Gezählt hat Gott die Tage deiner Herrschaft und macht ihr ein Ende. Tekel: Gewogen wurdest du auf der Waage und zu leicht befunden. Peres: Geteilt wird dein Reich und den Medern und Persern gegeben.“ (Buch Daniel V, 26–28).

1060

Teil III

Endlich lesen wir auch im nämlichen Propheten, daß der König von Babylon seinen Hofleuten befohlen hatte, junge Israeliten im Chaldäischen zu unterrichten.95 Dies sind sichtbare Beweise, daß die assyrische Sprache von der chaldäischen, und diese beiden wiederum sich von der hebräischen unterschieden. Die Assyrer gründeten ein Reich, die Chaldäer überfallen es später und bilden das babylonische Königreich; sie werden aber in der Folge von den Medern besiegt. Es gibt noch, den Entdeckungen einiger Gelehrten neuerer Zeit zufolge, Überbleibsel der Chaldäer, aber Meder, Syrier und Assyrer finden sich schon nirgends mehr; Sur, Assur ist gänzlich zu Grunde gegangen. Unmöglich ist zu behaupten, daß die jetzigen Syrier dieselben Assyrer seien, vor denen einst die Welt zitterte. Das Häuflein der heute bestehenden Syrier ist eine religiöse Gesellschaft der Nestorianer96, gebildet aus verschiedenen Stämmen, welche im 6. Jahrhundert die syrische Sprache angenommen haben. Es gibt gar keine Spur, daß diese syrische Sprache diejenige der alten Assyrer ist. Diese nähert sich der chaldäischen, hebräischen und arabischen; wir sehen aber aus der Bibel, daß die alte assyrische Sprache von diesen allen ganz verschieden war. Übrigens sind die alten Assyrer ein Ackerbau treibendes Volk gewesen, welches das ergiebigste Land der Erde, das zwischen den Flüssen Tigris und Euphrat liegende Mesopotamien, bewohnte, da indessen die Araber immer ein wanderndes Leben geführt, die Israeliten ein nicht sehr fruchtbares Land inne gehabt und die Chaldäer sich mehr mit Handel denn mit Ackerbau beschäftigt haben. Unzweifelhaft ist es daher, daß der alte Sur, Assur untergegangen. Doch zu welchem Stamme hat er gehört? Wir glauben Beweise zu haben, daß er ein slavisches Volk gewesen. Schon der Professor Halling97 zu Breslau ist auf die Vermutung der Gemeinschaft der Assyrer mit den Syriern gekommen; er hat ihre Identität herausgefolgert. Griechische und römische Geschichtsschreiber, Strabo, Polybius, Plinius, unterscheiden die weißen Syrier von den schwarzen Syriern.98 Wahrscheinlich ist, daß die weißen die Masse der Bevölkerung ausmachten, die 95 Buch Daniel I: 1–4. 96 Vgl. Wolfgang Hage: Nestorianische Kirche. In: Theologische Realenzyklopädie. Band 24. Berlin 1994, S. 264–276. 97 Vgl. Karl Halling: Exercitationum Herodotearum specimen: De flava gente Budinorum dissertatio. Berlin 1834; K. Halling: Geschichte der Skythen und Deutschen bis zur Gegenwart. Bd. 1: Geschichte der Skythen. Asien. Berlin 1835. 98 Vgl. Strabons Erdbeschreibung in siebzehn Büchern. Übersetzt von Christoph Gottlieb Groskurd. Zweiter Teil. Berlin-Stettin 1831, XII. Buch, 3. Abschnitt, § 9, S. 467; Angaben bei Polybius und Plinius nicht vorhanden.

6. Vorlesung (13. Januar 1843)

1061

schwarzen aber Hebräer, Araber, semitische Völker gewesen sind, die dem assyrischen Reiche angehörten. Keine andere Möglichkeit gibt es, diese Einteilung zu erklären. Syrier, die heute gefunden werden, sind weiß; schwarze Syrier gibt es nicht mehr. Analysieren wir endlich den Namen jenes Sur, welcher, den alten Historikern zufolge, jenseits der Gebirge Taurus gewohnt hat – sur, tur, szur. Ein deutscher Gelehrter, Professor der Geschichte an der Universität zu Lwów (Lemberg), Hanusch99, behauptet, sur hieße nichts anderes denn tur oder Stier (französisch taureau). Tur hat auch in den Sprachen des Morgenlandes dieselbe Bedeutung, ist aber dort kein einheimisches Wort; bei den Slaven heißt bis jetzt der wilde Ochse so. In Polen und Rußland erinnern viele Ortsbenennungen an diesen Ausdruck, wie z. B. Turów, Turzyce, Turzec.100 Tur war das Sinnbild der Sonne; wir wissen, daß die Slaven zum Preis der Sonne Feste hielten, turzyce genannt. Augenscheinlich also, nach den Wahrnehmungen eines Appendini, Hanusch und anderer Altertumsforscher101, entspricht das Wort sur dem slavischen tur. In anderer Bedeutung genommen, in mehr allgemeiner Hinsicht, bedeutete sur das Männchen, so wie muża das Weibchen, wovon sich noch Spuren in den alten Übersetzungen der Bibel, in den Worten mężyna102 statt Weib, szczur und mysz (Ratte und Maus), die der gemeine Mann für das Weibchen der Ratte hielt, finden lassen; ebenso auch im Wort praszczur, der Urenkel, welches anzeigt, daß szczur einst so viel als Sohn bedeutete, welche Bedeutung jedoch untergegangen ist. Diese Ableitungen, die vielleicht unbegründet zu sein scheinen, erlangen eine größere Wahrscheinlichkeit, sobald wir die Eigennamen der assyrischen Götter und Göttinnen betrachten.103 Fast alle diese Namen sind Slavisch; 99 100 101 102

103

Ignaz Johann Hanusch war Tscheche [Ignác Jan Hanuš (1812–1869)]; Vgl. I.J.  Hanusch: Die Wissenschaft des slawischen Mythus im weitesten, den altpreussisch-lithauischen Mythus mitumfassenden Sinne. Lemberg-Stanislawów-Tarnow 1842, S. 194–196. Auch viele Familiennamen, wie z. B. Turski, Turowski usw. (Anmerkung des Übersetzters). Hanusch, op. cit., S. 195, mit Verweis auf Jan Kollár: Rozprawy o gmenách, počátkách i starožitnostech národu Slawského a geho kmeni. Budjn 1830, S. 177 (§ 21), der Appendini, op. cit., Bd. I, S. 56–62, zitiert. Vgl. die Bibelübersetzung von Jakub Wujek – Biblia to iest Księgi Starego y Nowego Testamentv: wedłvg łacinskiego przekładu starego, w kościele powszechnym przyietego, na polski ięzyk z nowu z pilnością przełożone […] Kraków 1599 [http://www.wbc.poznan. pl]: Genesis 2: 23 „A rzekł Adam: To teraz kość z kości moich, y ciało z ciała mego: te będę zwać Mężyna, bo z męża wzięta iest.“ Mickiewicz benutzte das Werk von John Selden (1584–1654); vgl.: Joannis Seldeni De diis Syriis syntagmata II: Adversaria nempe de numinibus commentitijs in veteri instrumento memoratis: accedunt fere quae sunt reliqua Syrorum; Prisca porro Arabum, Aegyptiorum, Persarum, Afrorum, Europaeorum item theologia, subinde illustratur.

1062

Teil III

jeder Slave erkennt dies auf den ersten Blick. So z. B. hat der Gott des Glückes, Gad, nach der Uraussprache God oder Got, dieselbe etymologische Wurzel als der Czorny God104, das böse Schicksal, das Fatum der Slaven. Baal, den die Kanaaniter, nach dem Zeugnis römischer Historiker, Bal nannten, der aber in der Sprache eigentlicher Assyrer Bel ausgesprochen wurde, ist Belbog, die slavische Hauptgottheit. Bel bedeutete niebo, der Himmel, Belbog war also der Gott des Himmels. Dem Baal-Phegor, das ist dem bóg gór (Gott der Gebirge) wurden Bildsäulen auf Bergen errichtet. Bel-Moloch empfing jene abscheuliche Anbetung, über die das Buch Moses berichtet. Man begoß seine Altäre mit Milch, das Übrige aber erklärt einhellig mit der Bibel das slavische Wort mlecz, moloko, moloch. Es findet sich sogar in Rom eine altertümliche Aufschrift, die zu den Zeiten der Kaiser aus Assyrien gebracht wurde, wo diese Worte stehen: Agli-belo kai Molocho-belo.105 Nebo war eine Gottheit, die das Himmelsgewölbe vorstellte; auch bei den Slaven heißt nebo und niebo dasselbe (Himmel). Wir übergehen eine Menge anderer Gottheiten mit slavischen Namen, wie z. B. Mornas, Marnas oder Marzanna, d. h. die Pest, der Tod, berühren auch nicht die Namen, welche später in die griechische Mythologie eingeführt wurden und die wir, umständlicher die griechische Götterlehre mit der slavischen vergleichend, besprechen werden; nur einige Worte noch über die bei den alten Syriern unter dem Namen Succoth Benoth bekannte Gottheit. Schriftsteller, die das Slavische gar nicht verstehen, wie John Selden106 und Johann Josef Hisely107, folgen der Auslegung römischer Schriftsteller und übersetzen das Wort succoth in siccus, was polnisch suchy (trocken) heißt. Bedenken wir, wie vielen Umwandlungen dies Wort im Munde der Griechen und Römer hat erliegen müssen, ehe es auf uns kam, so ist zu bewundern, daß wir es noch so leicht verstehen können.

104

105

106 107

London 1617 (Lipsiae 1672). [Im Internet: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/ bsb10412814?page=5]. Wörtlich übersetzt heißt Czorny God der schwarze Gott. Weihnachten oder die Woche zwischen Weihnachten und Neujahr nennen die Slaven vieler Gegenden God, Gody. (Anmerkung des Übersetzers). – Zu „Tjarnaglof“, „Čarnoglovъ“ vgl. Leszek Moszyński: Die vorchristliche Religion der Slaven im Lichte der slavischen Sprachwissenschaft. KölnWeimar-Wien 1993, S. 57 (Fußnote 233). Vgl. Joannis Seldeni De diis Syriis syntagmata, op. cit., Lipsiae 1672, S. 141; ferner Samuel Bochart (1599–1667) – Theologe und Orientalist; vgl. sein Werk: Geographia sacra pars altera Chanaan seu de coloniss et sermone Phoenicum. Cadomi (Caen) 1646, S. 811 mit Verweis auf Selden. Vgl. Selden, op. cit., Kap. 7, S. 233–241. Johann Josef Hisely: Disputatio de historia Cappadociae, cui praemittuntur Descriptio Cappadociae et Disquisitio de Cappadocum origine, lingue, religione. Amsterdam 1836.

6. Vorlesung (13. Januar 1843)

1063

Wir fügen hinzu, daß beinahe alle Namen der Könige Assurs slavisch sind und den Slaven ihre Bedeutung sich erklären laßt. Fast jeder von ihnen ist zweinamig, wovon der eine Name chaldäisch, der zweite slavisch ist. Der slavische Name endet immer mit car, Der erste König, welcher, aus Kleinasien gekommen, Assyrien angriff, hieß Kiacar. Spater finden wir einen Balsazar, d. h. Belizar, dessen Namen noch ein in der Geschichte des byzantinischen Reiches berühmter Feldherr trägt, ein Name, der durchaus nicht griechisch ist und sich sehr leicht im Slavischen erklären läßt. Wie Šafařík108 gezeigt, daß Justinian ein Slave gewesen, daß im östlichen Kaiserreiche es viele Slaven gab, so kann man auch folgern, daß Belizarius (der weiße Zar), ebenfalls von einem slavischen Geschlecht abstammend, den Namen jenes alten syrischen Königs Belizar trug. Dieses syrische Volk erfuhr wunderbare Wechselfälle des Schicksals. Zuerst Eroberer des ganzen bekannten Asiens, kommt es nachher unter das Joch der Chaldäer, dann der Meder, zuletzt der Perser, und verschwindet am Ende sogar von der Erde, die es bewohnte; nur sein Name bleibt als Brandmal der Schmach und Sklaverei zurück. Leicht zu beweisen ist es, daß dieser Name in allen Sprachen den Sklaven bedeutet. Persisch heißt ein Sklave bende, was nichts anderes denn Wenede (Wende) ist; arabisch al-assyr oder kurzweg Assyrer. Später bedeutete bei den Römern, zur Zeit der punischen Kriege, syrus so viel als Sklave. Lustspieldichter geben immer dem Sklaven den Namen Syrus oder Davus (Dacus). Möglich ist, daß Kleinasien alle Sklaven lieferte. Der größte Menschenmarkt bestand auf den Zykladen; namentlich war die Insel Delos berühmt dadurch, woselbst täglich bis zu zehntausend Personen verhandelt wurden. Alle diese Sklaven kamen von den Ufern Kleinasiens her; sie waren alle Syrier, Karier, Mysier, Paphlagonier, d. h. sie waren Slaven. Auch diese Insel Delos traf ein besonderes Schicksal. Nachdem sie sich durch diesen Handel bereichert hatte, wurde sie von den Römern mit Krieg überzogen und während desselben bis auf den Grund zerstört und ausgeplündert. Ihre ganze Bevölkerung wurde als Sklaven verkauft; sie selbst steht heute eine öde Wüste da. Außer den Sklaven, die von hier bezogen wurden, führte man noch in Italien die in Europa ansässigen und schon damals unterjochten Serben oder Serwen ein. Sehr wahrscheinlich ist es, daß dieser Name servus, der den Sklaven bezeichnete, ein Volksname war. Einen Beweis hierfür haben wir in dem früher angeführten Namen der Stadt, die Plinius Servitium und einer der neueren

108 Schaffarik: Slavische Alterthümer, op. cit., Bd. II, S. 160–161.

1064

Teil III

Schriftsteller Serbitia nennt.109 Im Mittelalter, wie dies allen bekannt ist, waren die esclavoni, sclavoni, sclavi, Sklaven, die man kaufte und verkaufte. So sind also diese früheren Herren Asiens, diese Gründer des ersten Reiches der Welt, die einen völlig zu Grunde gegangen, die anderen in Sklaven verwandelt worden. Jetzt erst kann man begreifen, was sich Geheimnisvolles, Grausenhaftes in der Geschichte dieses Stammes vorfindet. Er beging nämlich die größte Sünde gegen den Geist, er vergötterte den Menschen. Der Bibel gemäß erklärten sich Nimrod (Nemrod), der auf Erden mächtig zu werden begann, Bel und Ninus für Götter; dieses kräftige, ackerbauende und tapfere Volk aber erwies die göttliche Ehre nicht demjenigen, was im Menschen das Göttlichste ist, nicht dem Geist, sondern den Leidenschaften und Kräften des Körpers, den Eigenschaften, die einen Krieger, einen Jäger aus dem Menschen machen. Nimrod wurde der gewaltige Jäger vor dem Herrn genannt. Dieser Stamm ergab sich dem unbeschränkten Willen, den Gelüsten eines Einzigen und eroberte darum einen großen Teil der Welt, wurde das Vorbild der materiellen Macht, ein Gegner der Kraft des Geistes. Sur, Ussur bedeuten immer in der Heiligen Schrift den Gewaltigen, den Mächtigen der Erde. Wir erkühnen uns, hier eine Auslegung des Namens Nabukadnezar vorzunehmen, welchen die Araber Bakht-on-Nasr aussprechen und der das Glück und den Sieg bedeutet. Schreibt man diesen Namen mit slavischen Lettern „Nebuh-odno-car“, so wird er leicht verständlich und heißt im Russischen: „Nicht Gott, nur der Zar“ oder: „Es gibt keinen Gott, bloß einen Zar“.110 Wir geben diese Ableitung nicht als eine unumstößliche, aber doch wird jeder Pole und Russe hierin eine große Ähnlichkeit finden. Die Bibel jedoch stellt diesen König Nabukadnezar wirklich als das höchste Muster der Erdenmacht dar. Für solch eine Sünde wider den Geist wurde dies Volk am Geist und Leib bestraft. In Asien ging es völlig zu Grunde, und jenes Land, das ihm zum Wohnsitz diente, das fruchtbarste Land der Erde, wurde zu einer Wüste; noch heute ist Mesopotamien von Schutt und Sümpfen bedeckt. Dieses sollte wohl im Stande sein, die materialistischen Philosophen, welche glauben, der verschiedene Menschenglaube hänge von der Örtlichkeit ab, zu verwirren, weil im Gegenteil hieraus erhellt, wie der Zustand der Erde von dem Geist des sie bewohnenden Menschen abhängt. Das Geschlecht der Ur-Assyrer und Syrier, das, früher noch über den Bosporus gezogen, in Europa Wohnsitze genommen 109 Vgl. P.J. Schaffarik: Slavische Alterthümer. Leipzig 1843, Band 1, S. 207: „Serbinum, Σέρβινον nach Ptolomaios und Serbetium, Servitium auf den peutingerischen Tafeln, im Itinerarium Antonii, bei Guido von Ravenna, zwei pannonische Städte, von denen die eine das heutige Srbec an der Sawa zu sein scheint.“ 110 „Non est deus nisi Nabuchodonosor“ – (Das Buch Judit, 6: 2).

6. Vorlesung (13. Januar 1843)

1065

hat, scheint mit einer geringen Schuld belastet zu sein; auch gibt es in seinen Religionsfeierlichkeiten keine Spur jenes verabscheuungswürdigen Opfers, das Moses erwähnt. Der ältere Assur wurde zur Vertilgung, der jüngere zu einer dreitausendjährigen Sklaverei, zum fortdauernden Gehorsam gegen eine fremde Gewalt verurteilt; denn nie hatte der slavische Stamm Könige aus seinem Schoß, immer war er von fremden Völkern unterdrückt, immer gebot ihm ein Fremder. Glauben muß man jedoch, daß die Zeit dieser Buße schon endet. So viele Leiden bereiteten die Slaven vor, ohne Widerstand das Gesetz Christi anzunehmen und jetzt zu seiner allgemeinen Anwendung zu bringen. Im 6. Jahrhundert sind sie schon ihrer Gutherzigkeit, Gastfreundschaft und Demut wegen berühmt. Das Christentum bestärkte diese Tugenden in ihnen, sie wurden nur noch sanfter und gelassener; ließen sich leicht regieren, denn sie selbst besaßen eine Unlust, über andere zu herrschen, was öfters den Polen und Russen vorgeworfen wurde, welche gestanden, daß sie es lieber sähen, von Fremden regiert zu sein, als selbst zu regieren. So lange das Christentum sich nur auf die Ausübung der Tugenden von Einzelnen beschränkte, so lange konnten sie mit ihrer Sanftmut und Bescheidenheit, mit den Tugenden, welche die Märtyrer der früheren Kirche und des Mittelalters auszeichnen, nur eine untergeordnete politische Rolle spielen; jetzt aber, wo der Funke Christi die Menschenherzen mit Tatenfeuer entzünden soll, scheinen die slavischen Völker die Bestimmung zu haben, dieses Feuer zu verbreiten, dem mehr entwickelten Christentum zum Werkzeug zu dienen.111

111 Die sich hier anschließenden „Noty“ (Anmerkungen – etwa zwei Seiten) von A. Mickiewicz sind in der deutschen Übersetzung ausgelassen worden. Sie enthalten weitere Erklärungen zu antiken Landschaften (Lydia, Moesia, Caria) und ihren Bewohnern; dabei wird (ungenau) auch auf alte Quellen verwiesen (Herodot, Plinius, Jordanes, Joseph Hisley). Zu Mickiewiczs „Forschungen über slavische Altertümer“ vgl. Leon Płoszewski: A. Mickiewicz: Dzieła. Tom XI: Literatura słowiańska. Kurs trzeci i czwarty. Warszawa 1955, S. 567–568, der dort die Fragwürdigkeit der „etymologischen“ Forschungen hervorhebt. Vgl. auch – Olaf Krysowski: O metodzie porównawczej w tak zwanych pomysłach etymologicznych Adama Mickiewicza. In: Tekstualia 54 (2018), nr. 3, S. 79–92.

7. Vorlesung (17. Januar 1843) Historische und philologische Forschungen (II) Asiatische Slaven – Identität der altertümlichen Assyrer mit den Serben bzw. Slaven – Slavische Wortetymologien erklären syrische Anfänge – Thrakien. Kappadokien – Figuren auf der Trajanssäule – Die Sage von König Gordius und Piast – Slavische Typen auf altertümlichen Denkmälern – Koloß des Nordens – Statue des Skythen oder Schleifers – Karyatiden – Der sterbende Gladiator.

Um den Gegenstand über die asiatischen Slaven, der so verwickelt ist und die Anführung einer Menge von Namen erfordert, nicht zu unterbrechen, wollen wir ihn vielmehr jetzt ergänzen, obschon wir am wenigsten versprechen, denselben völlig zu erschöpfen. Zur Unterstützung unsrer Mutmaßungen, die gar kühn erscheinen mögen, werden wir Beweise hinzufügen, welche zu sammeln uns gelungen ist. Zuvörderst den Umstand betreffend, die alten Assurer oder Assyrer, Gründer des ersten Reichs der Welt, seien ein und dasselbe mit den Serben, Mysiern und Slaven gewesen, ist zu bemerken, daß die Geschichtschreiber Spuren alter Überlieferungen uns aufbewahrt haben, nach welchen Tur, Sur oder Tsur ein Bruder des Ninus, eines der ersten assyrischen Gewalthaber, gewesen ist. Diesen schätzbaren Überrest führt Cedrenus112 aus älteren Historikern an. Tur, turos, bedeutete bei den Griechen eben so viel als wacker, tüchtig, verwegen. Homer nennt Mars den Turos-Ares, d. h. Mars der tapfere, der schreckliche, der stierhafte.113 Diesen Beinamen legten auch die slavischen Dichter ihren Helden bei: „Слава Игорю Святъславличю, Буй Туру Всеволоду, Владимиру Игоревичу!“ („Ruhm Igor’, dem Svjatoslav-Sohne, dem wilden Stier Vsevolod, Volodimir, dem Sohn Igor’s!“) heißt es im „Igor’-Lied“.114 Außerdem betrachten Plinius115 und Strabo116 die Turier oder Tyrier für eins mit den Syriern, in der Geschichtsschreibung117 aber findet sich selbst eine alte Überlieferung, daß 112 Georgios Cedrenus (griechisch: Γεώργιος Κεδρηνός), byzantinischer Geschichtsschreiber (11. Jahrhundert). Werkausgabe: Georgius Cedrenus. Hrsg. Immanuel Bekker.  2 Bände, Bonn 1838–1839. Vgl. Riccardo Maisano: Kedrenos, Georgios. In: Lexikon des Mittelalters. Band 5. München-Zürich 1991, Sp. 1093. 113 Homer: „Ilias“ – 5. Gesang, Verse 289, 454; 7. Gesang, Vers 241. 114 Slоvо o polku Igoreve. In: Biblioteka literatury Drevnej Rusi. Red. D.S. Lichačev, L.A. Dmitriej, A.A. Alekseev, N.V. Ponyrko. Tom 4: XII vek. Sankt-Peterburg 1997, S. 42. 115 Plinius: Historia naturalis (4. Buch, Kap. 34). 116 Vgl. Strabonis Geographica (5. Buch, Kap.  2), der die Turier für Etrusker hält. Vgl. Maślanka 1998 (Bd. X), S. 367. 117 Vgl. Herodot: Historien, Buch I, 94, der nicht von Turos, sondern Tyrrenos spricht.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_082

7. Vorlesung (17. Januar 1843)

1067

jener Turos, der Bruder des assyrischen Königs Ninus, nach Europa übergegangen war und in den thrakischen Ländern, d. h. in Pannonien und Mösien starb, was beweist, daß den Alten die Brüderschaft der europäischen Mysier mit den ninivilischen (asiatischen) Assyrern wohl bekannt war. Bei Aufzählung der assyrischen Gottheiten übergingen wir zwei der Venus beigelegte Namen. Seldenus führt in seiner Abhandlung der syrischen Götter eine Stelle von Photius an, wo dieser sagt, die Syrier hätten die Venus unter dem Namen Babia, wie auch unter dem Namen Dercelo verehrt.118 Die Venus Babia nahm die neugeborenen Kinder in ihren Schutz. Die Bedeutung der Ausdrücke Baba, Babić entspricht noch heute im Polnischen völlig diesem Begriff, da baba die Hebamme und Babii das Kindabnehmen heißt. Das Wort Derceto hat seine Wurzel in d, c, r, daher kommt dcer, cer, dcera, docera, dorceto, derceto. Die Griechen setzten hierzu Vokale nach ihrer Weise, es ist dies jedoch augenscheinlich ein slavisches und kein griechisches Wort. Die Ableitungen von cr, cur lassen sich noch heute in den slavischen Sprachen antreffen. Im Polnischen z. B. haben wir córka die Tochter, was nach den Grundregeln der slavischen Etymolgie voraussetzen läßt, daß es ein Wort cór, der Sohn, gegeben hat. Und wenngleich dies cór verloren gegangen ist, so bewahrt sich seine Spur dennoch in sir, sur, serb und in dem davon abgeleiteten sierota, die Waise. Bis auf den heutigen Tag hat noch keiner der Gelehrten die syrischen Altertümer mittelst der slavischen Etymologie zu erklären versucht. Noch werden wir Einiges über Dakien und Mösien, die bekannten römischen Provinzen sagen, die wir den Slavenländern einverleibt haben, worin auch Šafařík119 übereinstimmt, ohne aber zu wissen, wofür er die dort wohnenden Daker und Thraker halten soll. Ihre Überreste findet er in den Krowyzern, Trybalern und anderen Völkern slavischen Namens; da er jedoch nicht wagt, sie der bloßen Namensähnlichkeit wegen unter die slavischen Völker zu zählen, so glaubt er, sie seien ein abgesondertes Volk gewesen, dem er aber keine bestimmte Abstammung einzuräumen weiß. Seiner Ansicht nach sind die aus den Gebirgen des Epirus durch die Kelten verdrängten Daker und Thraker nach den beiden Donauufern gekommen und Niemand weiß, wohin und wie verschwunden. Die Völker vergehen nicht so spurlos. Nach Herodot war das Volk der Thraker sehr zahlreich, kam der Bevölkerung Indiens gleich, konnte daher nicht plötzlich verschwinden. Wohl machte diese Bevölkerung, welche 118 Joannis Seldeni De diis Syriis syntagmata II, op. cit., Kap. 4 (De Venere Syriaca, S. 279–297), hier S. 296. Dort der Verweis auf „Damascius Vita Isidorii“ des Patriarchem Photios in seiner Bibliotheca; vgl. die Edition – Damascii vitae Isidori reliquiae. Hrsg. Clemens Zintzen. Hildesheim 1967. 119 Schaffarik: Slavische Altertümer, op. cit., Band 1, S. 31, 467–476 (Abschnitt 20. „Die Völker thrakischen Stammes“).

1068

Teil III

von den Römern unter dem Namen der Daker und von den Griechen unter dem der Geten begriffen wurde, ein und dasselbe Volk mit den Slaven aus; nur befand sich unter demselben, ein Häuflein anderen Volkes, das die Slaven Thraken nannten, welches sich selber nicht diesen Namen gab; und wir wissen auch nicht, welche eigne Benennung es hatte. Es scheint, als würde es nicht schwer fallen, seine Herkunft zu erweisen. Es war dies ein Reitervolk aus dem Stamm der Meder. Plinius120 sagt, die Meder hätten seit den ältesten Zeiten in Thrakien gewohnt. Dieser kleine, kriegerische Haufen der Meder, welcher dem in Persien unter dem Namen der Farsi121 fortdauerndem Geschlechte, dem Stamme der Asen, dessen Überbleibsel sich auf dem Kaukasus vorfinden, angehört, regierte die slavische Bevölkerung Dakiens und unterschied sich von derselben. Darum auch gewahrt man, wie wir dies schon aussprachen, auf der Trajanssäule unter den Kriegsgefangenen Leute von zweifacher Rasse; die einen haben etwas Kaukasisches an sich, die anderen sind geradezu Slaven. Diese Meder nannten die Slaven Thraken, d. h. Krieger; Draka (драка) heißt russisch der Kampf; drat’sja (драться) sich schlagen, kämpfen. Die von den Slaven im Epirus bewohnte Stadt Dyrrhachium heißt Dratsch.122 Diesen Namen führen auch berühmte slavische Feldherren, so jener Drasco123, der im Bündnisse mit Karl dem Großen die Sachsen bekämpfte. Endlich wird auch der Vogel, der im Polnischen derkacz, französisch roi des cailles, Wachtelkönig, in den Slavenländern aber drač oder dergač (дергач) heißt, von dem dortigen einfachen Volk für den Führer oder Befehlshaber der Wachteln gehalten; hiedurch nur könnte man vielleicht seine französische Benennung erklären, anders weiß man nicht woher sie gekommen. Wir wären selbst geneigt zu glauben, daß auch das französische Wort dragon, vom lateinischen draco herstammend, mit diesem zugleich slavischen Ursprungs und von dem nämlichen Wurzelworte drat’sja (драться) abgeleitet ist, da die Slaven öfters ihren Draken, d. h. Kriegern den Namen der Drachenungeheuer beilegten (smoki). Von anderswo wissen wir, 120 Gaius Plinius Secundus Maior: Historia naturalis libri XXXVII, liber VI, 114: „Necessarium est hoc in loco signare et Medorum situm terrarumque faciem circumagere ad Persicum mare, quo facilius dein reliqua noscantur. namque Media, ab occasu transversa oblique Parthiae occurrens, utraque regna praecludit. habet ergo ipsa ab ortu Caspios et Parthos, a meridie Sittacenen et Susianen, Persida, ab occasu Adiabenen, ab septentrione Armeniam.“ 121 „Der persische Stamm. Die Völker dieses Stammes nennen sich selbst Farsi und waren in der Geschichte unter dem Namen der Parther bekannt.“ – Schaffarik: Slavische Alterthümer, op. cit., Band 1, S. 30. 122 Dratsch, Dracz, Drač (heute Durrёsi in Albanien); vgl. Schaffarik: Slavische Alterthümer, op. cit., Band II, S. 189. 123 Drasco (Drazko) – Obodriten-Fürst (gestorben um 809); vgl. Schaffarik, op. cit., Band II, S. 517–520.

7. Vorlesung (17. Januar 1843)

1069

daß sie ihre Nachbarn, die ihnen Furcht einflößten, Smoki (Drachen) nannten, die Deutschen aber aus Verachtung Niemcy, d. h. die Stummen. Dieselben Namen finden wir auch in Kleinasien. Hisely, der Verfasser des oben erwähnten Werkes über diese Länder, hat, so eigentlich gesprochen, nur die Geschichte Kappadokiens geschrieben, d. h. die Geschichte nur eines kleinen Königreichs, von den Römern durch Zusammenwerfen verschiedener Völkerschaften, ohne Rücksicht auf deren Verwandtschaften und Feindseligkeiten, in eine Staatseinheit gebildet. Es befanden sich in diesem Königreich auch Armenier und Perser, die Grundlage der Bevölkerung machten jedoch die Slaven aus. Hisely, unbewußt dessen, daß die Karier und Lyder mit den Kappadokiern ein Volk seien, sonderte deren Geschichte ab, und konnte deshalb zu keinem Resultat gelangen. Die Kappadokier schienen ihm ein armenisches Geschlecht zu sein. Wir haben jedoch einen Beweis, der diesem geradezu entgegengesetzt ist, und zwar in einem Werke, das ihm unbekannt gewesen, nämlich die Geschichte Armeniens, erschienen in Kalkutta, von dem Geistlichen Michael Camich herausgegeben und von John Avdal übersetzt, wo ältere Schriftsteller, namentlich der armenische Chronikenschreiber Katani, angeführt werden, welcher etwa hundert Jahre vor Christo gelebt hat.124 Es sind dort unter den Urahnen der Armenier Mosoch und Lech genannt. Sonderbar ist jedoch, in einer asiatischen, zu Kalkutta gedruckten Chronik die Spur dessen zu sehen, was so vielemal selbst die slavischen Gelehrten in Europa von der Verwandtschaft des Lech, Czech und Rus als Volksmärchen betrachten wollten. Dieselbe Chronik sagt, im Jahre 3030 vor Christo habe ein armenischer Feldherr Kappadokien erobert und daß der König dieses Landes Musik hieß, seine Residenz aber in der Stadt Mizak hatte, die später Mazaka genannt wurde; ebenso finden wir aber im 6. Jahrhundert nach Christo an der Donau einen König Mužyk, von dem kein Zweifel mehr obwaltet, daß er ein Slave und seine Hauptstadt Mižak war. Dann begegnen wir der Erwähnung eines gewissen Mozik und der Stadt Varsevia, Varsavia. Nachher stoßen wir auf einen Feldherrn Namens Mužik, auf einen zweiten Namens Muž, dann wieder auf einen Muszitar (mouchitar), Mužy-car, dessen Hauptstadt Miža, später Cäsarea, Kaisarea (Kia-Carea) genannt, eine sehr altertümliche Stadt war, die augenscheinlich slavisch gewesen ist. Dieser armenische Historiker spricht von dem ungeheuren Ingrimm der Armenier gegen die Kappadokier125, was 124 Vgl. Michael Chamich: History of Armenia: from B. C. 2247 to the year of Christ 1780, or 1229 of the Armenian era. Translated from the original Armenian by Johannes Avdall. 2 Bde. Calcutta 1827. 125 [Ihm zufolge tilgten sie auf alle mögliche Art die Sprache der Kappadokier und bemühten sich, ihre eigne einzuführen. Daß die Sprache der Kappadodier von der griechischen, armenischen und persischen verschieden war, dafür sind Beweise: 1) In der Biographie

1070

Teil III

schon hinlänglich Hiselys Mutmaßungen widerlegt, so wie endlich die Menge slavischer Namen, die er uns selbst in seiner Abhandlung und der beigefügten Landkarte bei Auszählung aller Namen Alt-Kappadokiens angibt. Unter anderen sind diese: Sinahora, der blaue Berg; die Flüsse Sirus, Carus; die Berge und Burgen Nora, die Höhle, Schlucht, Zimara, eine Winterhöhle dasselbe, was Ismara, Gora sira im nördlichen Griechenland; Zela (ziele), Kraut; Comana, steiniger Berg, ein Felsengebirge, was aber an viele dergleichen Benennungen in Polen erinnert, wie z. B. Kamień, der Stein, die Stadt Kamieniec, weil sie auf einem felsigen Berge steht usw; Zahora, hinterm Berge; Carpatium erinnert an die Karpaten; Lebeden, ein Hafen an der Mündung eines Flusses, berühmt durch die Menge der sich dort aufhaltenden Schwäne; der Schwan heißt in vielen slavischen Mundarten lebed; Kastabulo, das auf die slavische Benennung Kostoboki führt; ebenso Doki, Amadoker126 häufig an den Karpaten gefunden, die wahrscheinlich aber auch nichts anderes bedeuten sollen als Männer, weil, obgleich das Wort Dok verloren gegangen, doch eine Spur desselben im Diminutiv doczka, die Tochter, das Mädchen, geblieben ist. Es mag den Sohn, den Mann bezeichnet haben. Der letzte Beleg ist die in diesen Gegenden Mösiens dem Jupiter unter dem Namen Zeus in Dakia, dem dakischen Jupiter, erwiesene Ehre, was so viel bedeutet als Zeus Ouenasios, der venetische Jupiter. Hisely jedoch, hat sich fruchtlos abgemüht, die im Strabo hierüber angeführte Stelle zu beleuchten, weil er nicht gewußt hat, daß Dak, Venet und Henet ein und dasselbe bedeuten. Wir übergehen viele andere Erwähnungen und Beweise. So z. B. finden wir bei den Daken die Stadt Enchelea127; Encheleae bedeutete aber auch uralte Bewohner Nordgriechenlands. Bochart128 zufolge soll dies ein morgenländisches Wort sein, das den Sklaven bedeutet; diese uralten Einwohner waren die zu Sklaven gemachte Bevölkerung. Morze Karpackie, das Karpatische Meer, Kleinasien gegenüber, entspricht dem Eigennamen der karpatischen Gebirge des Apollonius von Tyana von Philostrates, in welcher der Lebensbeschreiber die von Apollonius in kappadokischer Sprache geschriebenen Werke erwähnt; 2) in der bei Photius aufbewahrten Zitation, wo von der koppadokischen Sprache die Rede ist, ζωυή τώυ Καππαδόχωυ. Anmerkung des Übersetzers]; vgl. Philostratos: Das Leben des Apollonios von Tyana. Hrsg. Vroni Mumprecht. München 1983 (griechischer Text mit deutscher Übersetzung). 126 Vgl. Schaffarik, op. cit., Band 1, S. 215. 127 Plinius Secundus: Historia naturalis, lib III, 25; vgl. Robert Estienne: Thesaurus lingue latinae in IV tomos […]. Basileae 1740, Bd. 2, S. 206. 128 Samual Borchart: Geographia sacra pars altera Chanaan seu de coloniss et sermone Phoenicum. Cadomi (Caen) 1646, S. 503, der von von den Encheleae als „populi illyrici“ spricht; kein Hinweis auf Sklaven.

7. Vorlesung (17. Januar 1843)

1071

Góry Karpackie (Karpaten).129 Die Konsonanten k, r, p sind hier die slavischen Wurzellaute; hiervon stammen ab: Karp, Chrob, Chrobat, Karpaty, Karpadoki. Karp und Korp sind weder morgenländisch noch lateinisch.130 Die asiatischen Kappadokier waren dieselben Kappadoki, die an den Karpaten unter den Namen Karpadoken wohnten und kein abgesondertes Volk von den Mysern ausmachten. Der Name jenes phrygischen Königs Gordius, von dem eine uralte Sage besteht, hat desgleichen einen slavischen Klang, Gordius, Gordi. So mancher Herrscher erhielt von den Slaven den Beinamen Gordy, der Kühne, der Tapfere, der Unbeugsame. Nach einer alten Überlieferung hat dies Volk Kleinasiens, einst zur Wahl ihres Königs versammelt, den Orakelspruch erhalten, denjenigen zu wählen, welcher der Erste vor Sonnenaufgang sich auf dem Wege zeigen würde. Man begegnete einem Bauern im Wäglein und rief ihn zum Könige aus: Dieser König ließ zum Andenken an den Stand, aus welchem er erhoben ward, den Wagen und Pflug neben dem Thron im Tempel aufstellen.131 Die nämliche Überlieferung finden wir in der polnischen und tschechischen Geschichte vom Piast.132 Der König Bauer ist eine Person, die hier in vielen Volkserzählungen handelnd auftritt. Diese Überlieferung kam mit den Slaven aus Asien; die Begebenheit aber, die ihr den Anfang gegeben, wiederholte sich wahrscheinlich öfters. Darum ist auch diese Sage nie erloschen und bis auf die letzten Zeiten der polnischen Republik bezeichnete immer Piast, d. h. der Bauer, der Landmann, einen König aus dem Volke. Unter den Geschichtsschreibern, die für den vorliegenden Gegenstand Aufklärungen liefern können, verdienen Aufmerksamkeit zuvörderst Joachim Lelewel133, welcher es zuerst wagte, die Slaven für die Ureinwohner ihrer 129 Vgl. dazu Schaffarik, op. cit., Band I, S. 487: „Der Name der Karpathen ist entweder aus nach dem Namen der Insel Karpathos (Κάρπαδος) gräcisirt oder schon früher von den benachbarten Kelten verändert worden; er ist aus dem slawischen chrib, chr’b, d. h. Gipfel, Berg, entstanden und bildet somit einen neuen Beweis für das Alterthum der Slawen an den Karpathen.“ Über das Tatra-Gebirge vgl. dort S. 288. 130 Vgl. dazu Schaffarik, op. cit., Band I, S. 213, der römische Inschriften anführt: „G. Valerius a Carpis liberatus“; „Victoria Carpica“ (anno 248) – auf einer Münze des Kaisers Philipp Arab. 131 Dieser Bauer war Gordias (Gordios), der zum König von Phrygien wurde; er soll auch der Schöpfer des „Gordischen Knotens“ sein, den erst Alexander der Große mit seinem Schwert löste, indem er ihn zerschlug. Vgl. Fritz Graf: Gordios 1. In: Der Neue Pauly (DNP). Band 4. Stuttgart 1998, Sp. 1146–1149. 132 Über „Piast“ vgl. Julian Maślanka: Literatura a dzieje bajeczne. Warszawa 1990, S. 16–19; Eduard Mühle: Die Piasten. Polen im Mittelalter. München 2011. 133 Joachim Lelewel: Wiadomości o narodach aż do wieku dziesiątego we wnętrzu Europy będących. In: J. Lelewel: Pisma pomniejsze geograficzno-historyczne. Warszawa 1814.

1072

Teil III

Länder anzuerkennen, dann Šafařík, welcher es geschichtlich durch die Sammlung und Auslegung aller in den griechischen und römischen Schriftstellern vorgefundenen Spuren bewiesen hat.134 Jedoch der größte, der erhabenste Geschichtsschreiber unter allen Slaven ist unfehlbar der Graf Jan Potocki.135 Er gehört zu jener Generation aus den Zeiten des Stanisław August, deren trauriges Ende wir früher besprochen haben. Nachdem er den Sturz Polens überlebt, suchte er Trost im Aufspüren der Urquellen seiner Landesvergangenheit, in diesem Sinne unternahm er weite Reisen in Asien und Afrika, er nahm sich sogar vor bis nach China zu wandern. Nur teilweise Abhandlungen, in der Eile aufs Papier geworfene Erkenntnisse und Vermutungen, ungeordnete Notata sind von ihm übriggeblieben. Er beging viele Fehler, kannte mehrere für die slavische Geschichte sehr wichtige Schriftsteller nicht, auch sind seine Schriften ohne bestimmten Plan, ohne einen gewissen Zweck; demungeachtet ist er der erste Schriftsteller selbst in ganz Europa, welcher den Wert der mündlichen Überlieferung erkannte. Noch vor Niebuhr136, der sich bei den italienischen Landleuten, bei den Marktweibern nach Romulus und Remus erkundigte, erwog Potocki im tatarischen Zelt die Geschichte der Skythen und wurde gewahr, daß die Tataren und Skythen eines Gechlechts gewesen. Tief empfunden und oft wiederholt hat er die Wahrheit, daß es unmöglich sei, anders die Vergangenheit zu begreifen, als nur durch die fleißige Betrachtung der Gegenwart. Ihm auch gehört der Nachweis, daß die Welt, noch bevor wir ihre Geschichte kennen, schon von Menschen bewohnt war, daß, was die Historiker von einer Barbarei der Urzeiten, von Wüsteneien und unzugänglichen Waldungen faseln, dies alles falsch sei; daß vor dem Einbruche der Skythen, vor der Ankunft der Kelten nach Europa, 2000 Jahre vor Christo, Europa schon bevölkert gewesen ist, und sich in Italien, Frankreich wie in Mesopotamien eine ackerbauende Bevölkerung aufhielt, von welcher er eine zweite unterscheidet, bekannt in den uralten Überlieferungen unter den Namen 134 J.P. Šafařík: Slovanské starožitnosti. Praha 1837; deutsch – P.J. Schaffarik: Slawische Alterthümer. Übersetzt von Mosig Ährenfeld. Hrsg. Heinrich Wuttke. 2 Bde., Leipzig 1843–1844; P.J.  Schaffarik: Über die Abkunft der Slawen nach Surowiecki. Ofen 1828; darin Übersetzung und Analyse des Buches von Wawrzyniec Surowiecki (1769–1827) – Śledzenie początku narodów słowiańskich. Warszawa 1824, im Internet unter http://books.google.de. 135 Jan Potocki (1761–1815). Forschungsreisender, Historiker und Romancier. Über J. Potocki vgl. den dreisprachigen Sammelband: Jan Potocki (1761–1815). Grenzgänger zwischen Disziplinen und Kulturen. Hrsg. Erik Martin, Lena Seauve, Klaus Martin. Berlin 2019; bekannt geworden ist J. Potocki vor allem durch seinen multiperspektivischen Roman Le manuscrit trouvé à Saragosse (Die Handschrift von Saragossa), an dem er von 1797 bis 1815 arbeitete; vgl. Lena Seauve: Labyrinthe des Erzählens. Jean Potockis Manuscrit trouvé à Saragossa. Heidelberg 2015. 136 Bertold Georg Niebuhr (1776–1831); vgl. seine Römische Geschichte. 3 Bde., Berlin 1811–1832.

7. Vorlesung (17. Januar 1843)

1073

Hüne oder Riese (Olbrzym).137 Potocki hat die Wissenschaft aus der literarischen Studierstube ins Freie geführt, er besuchte Länder, sprach mit ihren Einwohnern, beobachtete die Völker; aus den Orten ergründete er die Geschichte, was kein Historiker getan hat. Lelewel kennt die Geschichte nicht anders als aus den Büchern; für Karamzin hat, was nicht geschrieben steht, nie auf Erden stattgefunden. Je nach dem, was wir über das slavische Altertum gesagt haben, könnte man noch dessen Spuren in den Denkmälern der Kunst aufweisen, der Kunstgeschichte einen Abschnitt, gewidmet dem Betrachten der Dinge in Bezug auf das Slaventum hinzufügen. Die Slaven selbst haben keine Schöpfung dieser Art gezeugt; aber doch findet man unter den Kunstschöpfungen Griechenlands und Roms Werke, die eine besondere Abteilung ausmachen, man findet Typen (Muster), die durchgängig weder hellenisch noch italisch sind und die, schicklich geordnet, den Slaven, wie wir meinen, den Inhalt ihres allgemeinen Geschicks, die politischen Wechselfälle ihres Stammes vorstellen können. Ein Ideal der uralten Macht der Slaven betreffend, so findet sich keins in der Kunst vor; nirgends hat man Nabuchodonozors Bildsäule entdecken können. Nur in der Bibel, in den Büchern der Propheten ist das Ideal dieses die Welt bedrückenden Reiches gezeichnet, ein Ideal, das für die Kunst zu kolossal, zu materiell ist. Daniel stellt es vor in der Gestalt eines Riesen mit goldnem Haupt, silberner Brust und Füßen von Lehm. Wunderbar ist nur, daß vielen Geschichtsschreibern und vielen Dichtern der neueren Zeit es eingefallen, die Macht Rußlands mit diesem Götzen zu vergleichen. Selbst Leute, die nicht gewohnt sind die Bibel zu lesen, wiederholen diese Vergleichung; sogar in der diplomatischen Redeweise wird Rußland gewöhnlich der Koloß des Nordens genannt. Dies gibt zu denken. Denn zugegeben, der Anblick von Rußlands Macht ruft schon durch sich selbst dies Bild hervor, so war doch Rom nicht weniger mächtig. Niemand jedoch hat es unseres Wissens einen Koloß genannt. Die Monarchie Karls des Großen erstreckte sich auch weit und breit, sie hatte fast ganz Europa inne und stellte sich doch nie dem Gedanken in dieser kraß materiellen Gestalt dar; kein Dichter, kein mittelalterlicher Ménestrel hat je Karl den Großen mit einem Koloß verglichen. Bemerken wir auch noch dieses, daß Kollár, der gewiß nicht die Absicht gehabt, sein geträumtes Slavenreich mit dem Nabuchodonozorischen zu vergleichen, daß er vielmehr dieses in der Apotheose oder Vergötterung zeigen wollte, dennoch auf dasselbe biblische Bild verfiel und seinem Götzen Rußland zum Haupt, Polen 137 Vgl. Olbrzym (mit Epenthese) – altpolnisch Obrzyn, aus urslavisch *obrъ (stark), türkisch abar, in: Aleksander Brückner: Słownik etymologiczny języka polskiego. Kraków 1926– 1927, S. 378.

1074

Teil III

zur Brust, Tschechien und Serbien zu den Armen gab.138 Sollte das eintreten, würden die Slaven wieder die Welt beherrschen. Diesem Gedanken liegt die Idee zugrunde, daß es hinreichend sei, ein starkes und bevölkerungsreiches Volk zu sein, um ganze Nationen zu beherrschen. Die Begier, eine materielle Kraft zu erlangen, hat Kollár das vom babylonischen König gesehene Bild eingegeben. Das ist auch der Beweis für die ewige Wahrheit der Heiligen Schrift und bezeugt die geheimnisvolle Verbindung zwischen bestimmten Ideen und Formen. Die Vorstellung von einer rein materiellen politischen Macht manifestiert sich immer in einer Koloß-Gestalt: Nabuchodonozor bleibt ewig ihr Symbol. Wie kann man jedoch eine politische Verwirklichung eines Staates anstreben, dessen Symbol in keiner bestimmten Form faßbar ist und in keinem Werk der Bildenden Künste zur Darstellung gelangte? Ich wiederhole, eine Statue von Nabuchodonozor existiert nicht. Überliefert sind dagegen Statuen seiner Untergebenen. Wir wollen uns mit ihnen befassen. Wir erkennen in ihnen die Geschichte des Volkes srb (der Slaven)139, das zuerst als Besieger Asiens seinen Herrschern als Instrument der Vernichtung diente, um dann, selbst besiegt, zum Sklaven der Völker und schließlich zum Erlösungsopfer zu werden. Für alle diese Phasen hinterließ uns die Kunst Denkmäler, auf die wir Rechte anmelden; und nur wir allein können sie erklären. In der Kategorie der Denkmäler der Erlösungsopfer steht an erster Stelle die berühmte Statue des Schleifers (Arrotino); auch der Barbar oder der Skythe als Sklave genannt. Es ist dies eine der schönsten Schöpfungen griechischer Bildhauerkunst. Das Original befindet sich in der Kunstkammer zu Florenz, wovon aber ein wohlgetroffener, vortrefflicher Bronzeabguß auch im Pariser Tuileriengarten zu sehen ist. Diese Bildsäule stellt einen gebückten Menschen vor, der, auf den Unterbeinen sitzend oder vielmehr zu sitzen scheinend, sein

138 Sonett-Nr. 271 (2. Quartett): „Rusko bych jsem v jejich hlavu skulil, / dřík pak byli by v ní Lechové, / ramena a ruky Čechové, / Srbsko bych jsem ve dvě nhy půlil;“ – Jan Kollár: Slávy Dcera. In: J. Kollár: Básně. Praha 1952, S. 160. 139 Nach Schaffarik ist die älteste Bezeichnung der Slaven aus nichtslavischen Quellen „Winden“, nach einheimischen (slavischen) Quellen – „Serben“; vgl. Schaffarik: Slawische Alterthümer, op. cit., Bd. I, Kap. 7 „Die ursprünglichen Namen der Slawen: Winden und Serben“, S.  65–69; 92–100, ferner Kap.  9 „Die ältesten Zeugnisse über die Serben“ (S. 165–181). Vgl. dazu Adam Mickiewicz: Pierwsze wieki historii polskiej. In: A. Mickiewicz: Dzieła. Tom VII: Pisma prozą. Część III. Pisma historyczne. Wykłady lozańskie. Warszawa 1955, S. 13, 287.

7. Vorlesung (17. Januar 1843)

1075

breites Messer auf dem Stein schleift. Erst Winckelmann140 (oder Visconti)141 erriet des Meisters Gedanken und sagte, dieser Sklave wetze das Messer, um jemandem damit einen qualvollen Tod zu geben oder sonst eine Grausamkeit zu begehen142; von der Zeit an stellte man ihn Marsyas gegenüber, so daß beide Kunstwerke in der Aufstellung jetzt ein Ganzes ausmachen. Bekannt ist aus der Mythologie, daß Marsyas von Apollo verurteilt war, lebendig geschunden zu werden. Erinnern wir uns nun, daß die Mythe von Marsyas, welchem Apollo die Haut abziehen läßt, aus Kleinasien, aus Phrygien oder Lykaonien herrührt; und wir können noch hinzufügen, daß dieses Lykaonien nichts anderes als Lutizien, das Land der Lutizer (Wilzen)143 gewesen. Dort wurde Lykaon (Λυκάων) in einen Wolf (wilk) verwandelt, dort ist das Nest der Sage von den Wolfsdrachen (wilkodraki) und Werwölfen144 (wilkołaki). Herodot sagt auch, es gäbe unter den Neuren145 Leute, die jährlich sich für etliche Tage in Wölfe verwandelten. Er wiederholt diese Fabel mit Mißtrauen. Die Neuren waren ein nordischer Slavenstamm. Heute noch kann man in unseren Gegenden oft nicht nur Geschichten über Werwölfe (wilkołaki) hören, sondern auch Jägern begegnen, die behaupten, einen Werwolf gesehen oder selbst getötet zu haben. Der Mythos vom Marsyas, den man die Haut vom Körper abzog, ist, da er aus derselben Gegend wie der Lykaon-Mythos stammt, genuin slavisch. Betrachten wir nun die Statue des vermeintlichen Vollstreckers des ApolloUrteils. Auf den ersten Blick erkennt man in ihm ein der klassischen Kunst fremdes Muster, den Typus des Barbaren. Die Archeologen bezeichnen ihn in

140 Johann Joachim Winckelmann (1717–1768). Vgl. Johann Winckelmanns sämtliche Werke. Hrsg. Joseph Eiselein. Band  6: Geschichte der Kunst des Altertums. 1763–1768. Donaueschingen 1825, S. 138–140. 141 Ennio Quirino Visconti (1751–1818). Vgl. sein Werk – Iconographie grecque ou recueil des portraits authentiques des empereurs, rois, et hommes illustres de l’antiquité. 3 Bände. Paris 1808. 142 Vgl. dazu: Arnold Hermann Ludwig Heeren: Über die Statue des Schleifers. In: A.H.L. Heeren: Vermischte Schriften. Historische Werke. Dritter Teil. Göttingen 1821, S. 185–197, der auch auf Winckelmann u.a. eingeht. 143 Vgl. Schaffarik: Slavische Alterthümer, op. cit., Bd. II, S. 549–587 (Kapitel – „Die Lutizer oder die Weneten“). 144 Vgl. Werwölfe und andere Tiermenschen. Dichtungen und Dokumente. Hrsg. Klaus Völker. Frankfurt am Main 1994. 145 Herodot: Historien, op. cit., 4. Buch, 105: „Denn die Skythen und die Hellenen, die da in Skythenland wohnen, erzählen von ihnen, daß in jedem Jahr einmal jeder Neurer ein Wolf wird auf wenige Tage und dann nimmt er wiederum seine alte Gestalt an. Ich glaube ihnen das zwar nicht, aber sie sagens nichts desto weniger und schwören noch darauf.“

1076

Teil III

der Regel als einen Barbaren oder als einen skythischen Sklaven.146 Die letzte Bezeichnung ist falsch. Die Skythen gehörten zum uralischen (mongolischen)147 Völkerfamilie. Wir sind davon überzeugt, daß der Schleifer als Typus einen Slaven darstellt: seine ganze Gesichtsphysiognomie ist slavisch; sein Gesicht, selbst mit dem Zirkel gemessen, gibt den Winkelgrad an, welcher den Kunstverständigen148 zufolge das slavische Gesicht von dem keltischen und griechischen unterscheidet. Die Nationalität des Schleifers unterliegt somit keinem Zweifel; wichtiger und schwieriger zu bestimmen ist die Bedeutung des Werks, die Idee, die es versinnbildlicht. Hier versagen gelehrte und exakte Analysen, hier ist künstlerische Intuition gefragt. Wer auch immer der Kenner war, der zuerst in der Statue des Schleifers den Henker erkannte, gewann diese Einsicht nicht aufgrund archeologischer Daten, sondern über die Intuition. Zu dieser Einsicht muß man intuitiv gelangen, um sie zu überprüfen und zu ergänzen. Auf den ersten Blick bemerkt man in der Statue des Schleifers weder in Gestalt, Blick noch Antlitz etwas Wildes oder Grausames, wir empfinden jedoch gleichzeitig, daß es kein gewöhlicher Handwerker ist, daß er sein Messer wetzt für etwas anderes als für seine alltägliche Arbeit; er scheint mit dem Werkzeug weniger beschäftigt zu sein als mit dem, wofür er es einsetzen soll. Während seine Hände das Messer unbewußt am Schleifstein führen, hebt er sein Haupt, um irgendeinen Gegenstand zu sehen, und seine vernebelten und stummen Augen irren eher umher als daß sie gezielt schauen. Sein Haupt ist wohlgeformt, seine Stirn allerdings etwas hohl, kahl und mit Falten bedeckt. Die Kopfhaltung, die kahle Stirn und die eingefallenen Wangen zeigen auf einen Menschen, der lange schweigen und leiden mußte. Das stille Leiden offenbart sich in der Haltung, in der Geste und konzentriert sich irgendwie auf seinen Lippen. Unvergleichlich ist der Ausdruck dieser Lippen, die leicht geöffnet, aber stumm vor Schmerz, sich um irgendein Lächeln unaussprechlichen Leidens bemühen. So sieht jener slavische Folterknecht aus, der mitleidend den irren Blick auf sein Opfer zurückhält, den der Gedanke, daß er martern 146 Le gemme antiche figurate di Leonardo Agostini. 2 Bde., Roma 1657, 1669, Bd. II (1669), S. 21–22. 147 Nach Schaffarik gehörten die Skythen zur „mongolischen Familie“; vgl. Schaffarik, op. cit., Bd. I, S.  267–288, der die Klassifizierung der menschlichen Rassen nach Blumenbach (op. cit.) und Cuvier (op. cit.) anführt und dann seine eigene vorlegt (S. 27). Neuere Arbeiten vgl. Heinrich Kunstmann: Die Slaven, op. cit.; Hermann Parzinger: Die Skythen. München 2004. 148 Vgl. Johann Friedrich Blumenbach spricht hier vom „cranio Casacci Donensis“, von dem „Schädel eines Don-Kosaken“ – vgl. J.F. Blumenbach: Specimen historiae naturalis antiquae artis operibus illustratae eaque vicissim illustrantis. Goettingae 1808, S. 12; Sonderdruck aus „Commentationes Societatis Regiae Scientiarum Gottingensis“, Bd. XVI (1808), Phys., S. 169–198. Im Internet unter [http://www.gdz.sub.uni-goettingen.de].

7. Vorlesung (17. Januar 1843)

1077

muß, erschaudern läßt, der im stillen Lächeln verrät, daß er der grausamen Notwendigkeit nicht ausweichen kann; so unterwirft er sich gleichwohl derselben, traurig, entsetzt, aber gehorsam. Unter den vielen Tausenden von Bildsäulen, die man in Italien gesammelt findet, gibt es keine einzige, die solchen Schmerz, solche Betrübnis und Unterwerfung ausdrückte, die aber nebenbei auch etwas so sehr Trauriges und Unheil verkündendes an sich hätte. Es ist der Ausdruck einer Empfindung, für die es in den westlichen Sprachen kein Äquivalent gibt, die sich aber oft bei einem Russen manifestiert, wenn er das Wort „слушаю-с“149 sagt. Die Bildsäule, von der wir gesprochen, stellt die Geschichte jener Slaven dar, die, den Königen von Babylon und Ninive gehorchend, die schrecklichen Urteile der Vorsehung erfüllten; betört und betäubt, selbst nicht wissend, wessen Werkzeug sie waren, schärften sie den Stahl zum Quälen und Morden ihrer Opfer. Wenn man die Figur des Schleifers aufmerksam betrachtet, kann mit Leichtigkeit eine ganze Gruppe von Statuen und Reliefs entdecken, die die zweite Epoche der Assur-Geschichte darstellen, die Epoche des besiegten Assur, der als Kriegsgefangener versinnbildlicht wird. Dem Typus des Kriegsgefangenen, allgemein in italischen Denkmälern dargestellt, sogar, sofern aus Zeichnungen zu entnehmen, in ägyptischen und indischen Denkmälern, begegnen wir am häufigsten in Rom. Er ist anscheinend der einzige Typus, der in dieser Stadt zur Darstellung gelangte und vervollkommnet wurde. Die Ursache dafür ist leicht zu erklären. Die überwiegende Mehrheit der Kriegsgefangenen, die am Ende des Imperium Romanum nach Rom gebracht wurden, waren Slaven. Man modellierte sie gerne auf Siegessäulen und Triumphbögen, da ihre hochgewachsene und athletische Gestalt den Siegesfeiern eindrucksvollen Glanz verlieh. Der Slave wurde für die Künstler zum Modell des Kriegsgefangenen, zum Ideal der physischen Kraft, versklavt durch die moralische Macht. Die Kunst rettete auf diese Weise seine ganze Schönheit, man könnte sagen, seine physische Würde. Er wird immer hochgewachsen, von kräftiger Statur und athletisch dargestellt; obwohl er nicht gefesselt ist, läßt sich dennoch erkennen, daß er ein Sklave ist; seine Haltung ist erzwungen: er geht gesenkten Hauptes und darf die Augen nicht nach oben richten. So sehen Slaven auf zahlreichen Denkmälern aus, vor allem auf der Trajanssäule, auf der sie sich gänzlich von den Parthern, Medern und anderen Reitern unterscheiden. In der Kunst begegnen wir allerdings noch einem anderen Typus des besiegten Syriers, einem Typus, der eigentlich nicht zur Bildhauerkunst gehört, 149 Слушаю-с: etwa „zu Diensten“, „zu Befehl“; vgl. Anatolij Georgievič Balakaj: Slovar’ russkogo rečevogo ėtiketa. Moskva 2007, S. 501.

1078

Teil III

sondern in der Architektur als Ornament dient; man nennt sie Karyatide(n), eine Art der Bildsäule(n). Die Karyatiden versinnbildlichen letztendlich die Erniedrigung der slavischen Rasse. Die Karyatide ist ein Sklave (servus) oder eine Sklavin (serva), die jegliche moralische Empfindung verloren haben und willenlos und erstarrt vor uns stehen; sie stellen einen Menschen dar, der nur noch ein Bau-Teil ist. Die lebenden Muster, nach denen man die Karyatiden modellierte und perfektionisierte, konnte man in Rom leicht finden; schwere Lasten und Sänften tragend, durchliefen sie die Straßen der Stadt. Es waren jene Myser, die Katull als „robuste Handelsware“150 Asiens bezeichnet; es waren jener Kappadokier, deren König – nach Horaz151 – nichts anderes als seine Untertanen zu verkaufen hatte: die Kappadokier waren schon dermaßen abgestumpft, daß sie die von den Römern gewährte Freiheit ablehnten und es vorzogen, von ihrem Herren verkauft zu werden; das waren vor allem die Karer, die Homer152 riesig und stark nannte. Mit dieser seit Homer überlieferten Eigenschaft dienten sie den Römern als Sänftenträger. Bald nahm sich ihrer die Architektur an und benutzte sie als Säulen-, Bogen- und Portalträger. Etymologisch verweist der Ausdruck Karyatide auf Kar. So ist es! Der unglückliche Kar, der Slave, der sich nach einer Reihe furchtbarer Metamorphosen zum Schluß in eine Säule verwandelte. Auf diese Weise versteinert, nahm sich seiner die Kunst an, um ihn an Mauern zu befestigen oder ins Mauerwerk einzusetzen. Die Künstler erniedrigten Kar, indem sie den am wenigsten organischen Teil seines Körpers hervorheben, die Knochen. Von seinem menschlichen Körper verschonten sie nur das, was einer Säule am ähnlichsten ist, den kräftigen und dicken Halsnacken. Dieser Halsnacken, in den der angedrückte und flache Kopf gleichsam hineinwächst und in ungewöhnlich ausgewachsene Arme ausbreitet, bildet die sog. Karyatide: das ist der Mensch als Postament. Das Kapitel über die slavische Archeologie beschließen wir mit dem schönsten Typus, den die Bildhauerkunst jemals schuf, den Typus des Sklaven als Opfer, symbolisch dargestellt in der Skulptur des sterbenden Gladiators.153 Diese berühmte Bildsäule des Kapitolinischen Museums zu Rom, von den Künstlern als bewunderungswürdiges Werk geschätzt, erweckte für sich nicht die Aufmerksamkeit des verflossenen Jahrhunderts, das mit allen den Venus und Cupidos gar zu sehr beschäftigt war. Erst im laufenden Jahrhundert fängt ihre Berühmtheit an und macht jetzt im Kapitol den Hauptgegenstand der 150 Nicht ermittelt. 151 Nicht ermittelt. 152 Vgl. Homer: „Ilias“, 2. Gesang, Vers 867: „Nastes führte die Karen, ein Volk barbarischer Mundart“. 153 Gemeint ist die Skulptur des „sterbenden Galliers“ (Galata morente).

7. Vorlesung (17. Januar 1843)

1079

Sehenswürdigkeiten aus; sie ist immer von einer Menge schauender Fremden umgeben, die in des Künstlers erhabenen Geistesschwung einzugehen scheinen. Wer kennt nicht Byrons schönen Vers darüber? Byron begriff besser als Winckelmann, Visconti und alle Kenner, was dieser Gladiator vorstelle, mit staunenswertem Geistesblick las er in ihm die Vergangenheit eines ganzen Volkes; ohne je slavische Länder besucht zu haben, erkannte er in ihm einen Slaven. Tödlich verwundet liegt er mitten im römischen Zirkus; sein Blut beginnt in Tropfen zu rinnen, ähnlich den – wie Byron sagt – dicken, aber seltenen Regentropfen, die vor einem Gewitter fallen. Man sieht, es kümmere ihn nicht, was um ihn herum geschehe; er schaut die Anwesenden nicht an, äußert weder Zorn noch Schaam, ist natürlich und scheint zugleich in einer Verzückung zu sein, er sinnt – wie desgleichen Byron sagt – über sein Land.154 Sein ganzer Geist rafft sich zum Abflug zusammen und in diesem feierlichen Augenblicke kommt ihm die heimatliche Erde an der Donau, von der man ihn einst fortgerissen, in den Sinn. Die Kunst des Altertums hat nichts geliefert, was mehr tragisch wäre. Zaleski sah in ihr desgleichen das slavische Merkmal und sagte: […] Bystro w konającego twarz gladyjatora Patrzałem, aż mi żyła w skroń nabiegła sina, I w krwi całej zagrało: hurra! Słowianina, Zamierzchłych gdzieś stuleci brat ożył w posągu, Jęknął – co czuł i cierpiał w żałosnych dni ciągu;155

[…] Scharf in das Gesicht des sterbenden Kämpfers / Sah ich, daß mir die / Schlafader blau anquoll, / Und im ganzen Geblüt schallte des Slaven Hurra! / Ein Bruder verfallener Jahrhunderte lebte auf im Bilde, / Er stöhnte aus – was er gefühlt und erlitten in der Reihe jämmerlicher Tage;

Dieser Gladiator ist jedoch noch Heide; sein Blick ist nicht an den Himmel geheftet, an seiner Stirn strahlt nicht Siegesfreude der Märtyrer; unter allen 154 Vgl. George Noël Gorden Byron: Childe Herold’s Pilgrimage, IV. Gesang, Strophen 140–141, die keine „slavischen“ Indices enthalten: “ CXL. / I see before me the Gladiator lie: / He leans upon his hand – his manly brow / Consents to death, but conquers agony, / And his drooped head sinks gradually low – / And through his side the last drops, ebbing slow / From the red gash, fall heavy, one by one, / Like the first of a thunder-shower; and now / The arena swims around him: he is gone, / Ere ceased the inhuman shout which hailed the wretch who won. / CXLI. / He heard it, but he heeded not – his eyes / Were with his heart, and that was far away; / He recked not of the life he lost nor prize, / But where his rude hut by the Danube lay, / There were his young barbarians all at play, / There was their Dacian mother – he, their sire, / Butchered to make a Roman holiday – / All this rushed with his blood […]“. 155 Józef Bohdan Zaleski: „Przechadzka poza Rzymem do Hamilkara  N.“. In: J.B.  Zaleski, Wybór poezyj, op. cit., S. 199–200.

1080

Teil III

Gesichtern der alten Bildhauerkunst nähert sich aber dieses einzige am meisten dem christlichen Typus, es stellt Gesichtszüge der schon zur Annahme des Christentums reifen Slaven vor. Vielleicht kann jemand einwenden, daß ich meine archeologischen Behauptungen nicht hinreichend begründet habe. Aus diesem Grund beziehe ich mich nunmehr von der Geschichte auf die Wirklichkeit, von der Vergangenheit auf die Gegenwart. Ich werde die Slaven fragen, ob es wahr ist, daß es gegenwärtig in unseren Ländern lebende Modelle dieser von mir erörterten altertümlichen Skulpturen gibt? Denn, und das habe ich wiederholt hervorgehoben, die ältesten Epochen der Geschichte leben bei uns neben der Gegenwart. Die Zeiten der Assyrer, Kappadokier und Römer existieren auf der slavischen Erde nebeneinander. Nicht nur ein russischer Soldat könnte als perfekte Vorlage für den Schleifer dienen oder sein Pendant darstellen. Auf den Wegen im Norden kann man zwangsrekrutierten polnischen und litauischen Verbänden begegnen, die nach Asien getrieben werden: sie sind den Reliefs auf der Trajanssäule erschreckend ähnlich. Wer in die sibirischen Gruben herabsteigt, trifft dort die Karyatiden. Ich verzichte auf die Weiterführung dieser Gegenüberstellungen; zu schmerzhaft wäre es für mich, noch einmal über den sterbenden Gladiator zu sprechen.

8. Vorlesung (24. Januar 1843) Die Poesie verbindet zwei Pole der Geschichte eines Volkes – Falscher Messianismus – Analyse der „Un-göttlichen Komödie“ – Was ist Wirklichkeit? – Das prophetische Drama – Der Kampf der Vergangenheit mit der Zukunft – Graf Henryk, der Held des Dramas.

So lange ein Volk noch nicht verschwindet, so lange ein Geschlecht auf Erden dauert, begegnet sich stets seine Vergangenheit durch die Gegenwart mit der Zukunft. Aus der Tiefe der ältesten Zeiten versetzen wir uns daher in die gegenwärtigen und behalten immer dieselben Aufgaben vor Augen. Wir haben uns bemüht, die uralte Geschichte der Slaven erforschend, die Ursachen des namenlosen Unglücks dieses ganzen Stammes zu entdecken, jetzt werden wir den Blick darauf wenden, wie sie, mit der Gegenwart ringend, sich eine bessere Zukunft erkämpfen. Die Poesie, das Gefühl, die Bewegung des Geistes, dieser Hauch unseres unsterblichen Wesens, erschüttert durch jede Rührung im geschichtlichen Leben eines Volkes oder eines Geschlechts die Enden seiner Kettenringe. Nach der Betrachtung von Assurs Schicksalen kehren wir zum Messianismus zurück. Schon wissen wir durch den polnischen Philosophen156, über welchen wir vergangenes Jahr gesprochen, daß der Messianismus ohne Apostasie, d. h. Verleugnung des Göttlichen oder ohne Abfall, Verrat nicht vorkommen kann. Dieses Untreuwerden, dieser Verrat ist nichts anderes als nur der Widerstand des bestehenden Daseins gegen das, welches vorrückt. Zu diesen Erscheinungen des Messianismus muß noch hinzugefügt werden der falsche, d. h. der sich so stellende, sich ungerecht diesen Namen gebende Messianismus, welcher freilich auch während des Entfaltens der neuen Wahrheit stattfinden muß. Dieser zeigt uns die Bahnen der kräftigen Geister, welche auch der Zukunft entgegen gehen, die aber irre gegangen sind. In Betracht dessen könnte man alle Werke der neueren Dichtung und Philosophie hierher zählen. Über dieselben nachdenkend, ist es nicht schwer zu bemerken, was in ihren Bestrebungen und Formeln, die sie uns darreichen wollen, sich Irrtümliches vorfindet. Mit der vollständigen Auseinandersetzung eines der vorzüglichsten Werke dieser Art, welches im Jahr 1834 erschienen ist und den Titel „Nie-Boska komedia“ („Die Un-göttliche Komödie“ führt, wollen wir uns nun befassen. Nicht gern möchten wir dieses Werk ein phantastisches Drama nennen. Gewöhnlich werden diejenigen Dramen so genannt, welche Szenen und 156 Antoni Bukaty, op. cit. (vgl. 31. Vorlesung. Teil II).

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_083

1082

Teil III

Personen außerordentlicher Natur darstellen, in denen der Verfasser aus den Grenzen des alltäglichen Lebens, aus dem Bereich der prosaischen Wirklichkeit hinauszutreten scheint. Unterdessen ist jedoch nichts mehr phantastisch, als gerade dasjenige, was die Menschen die Wirklichkeit heißen. Denn was ist wohl bedinglicher, veränderlicher und vergänglicher als gerade diese sogenannte Wirklichkeit oder diese sichtbare Welt, die stets im Vorübergehen begriffen ist, entweder schon war oder erst noch sein soll und, man kann sagen, nie gegenwärtig ist, von welcher nur so viel übrig bleibt, als dem Geist gelungen aufzubewahren. Der Geist nämlich ist es, welcher auffassend, festhaltend, die vergänglichen Bedingungen der sichtbaren Welt feststellend, ihr einigermaßen ein wirkliches Dasein verleiht; Begriffe, Vorstellungen, Institutionen und Werke, die einzigen wesentlichen Dinge schafft, welche, im Geiste aufgenommen und durch ihn gehend, die einzigen lebenden Überlieferungen des Menschengeschlechts ausmachen. Jegliches Werk daher, das uns rührt, das uns neues Leben gibt oder ein früheres Leben in uns weckt, gehört der Wirklichkeit an. Die Schriftsteller des Auslandes sagen aus, die polnische Poesie sei eine im hohen Grade wesentliche, eine wirkliche, wir aber kennen kein Werk, das mehr wesentlich wäre, welches die Aufgaben der Gegenwart kräftiger berührte, als gerade das, von welchem wir sprechen. Die Zeit, der Ort, die Personen der „Un-göttliche Komödie“, alles dies ist vom Dichter geschaffen. Das Drama spielt in einer gehofften, nicht fernen, doch aber noch nicht vorhandenen Zeit. Der Dichter ist der erste Verfasser, welcher wagte, ein prophetisches, vorhersagendes Drama zu schreiben, Personen und Ereignisse darzustellen, die einst eintreffen sollen. Die Handlung geschieht aber in Polen und ihre Zeit ist unseren Tagen nicht sehr fern; denn die Individuen sprechen nach unserer Art, sie haben unsere Vorurteile, unsere Gewohnheiten; wir können es sehen, daß sie unserer Generation und dem polnischen Volke angehören, wenngleich ihnen der Verfasser kein Landesmerkmal aufprägt, nichts mit dem sogenannten Ortskolorit überzieht. Man bemerkt dort weder Kleider noch andere Einzelheiten, die äußerlich ein Volk vom anderen unterscheiden; es ist dies einigermaßen eine Sammlung Menschen, an denen wir nur erkennen, daß sie Europäer sind, eine europäische Gesellschaft wohlerzogener Männer und Frauen. Daß diese Leute Polen sind, läßt sich besonders durch den auffallenden Kontrast erkennen, welcher zwischen dem Zustand der Gesellschaft, den wir eigentlich mehr fühlen als sehen, und dem Charakter der Personen obwaltet. Diese Personen würden in einer anderen Gesellschaft, in einer andern Zeit eine gar sehr liebe und ehrbare Gesellschaft ausmachen, in einem Volke aber, das durch die ganze Last einer schmerzlichen Vergangenheit niedergedrückt ist, in einem Volke, aus dessen Schoß die Zukunft aufblühen soll, haben alle diese im Drama handelnden

8. Vorlesung (24. Januar 1843)

1083

Personen mit ihren Vorurteilen, mit ihrer engherzigen Urteilsweise, vielmehr das Aussehen von Karikaturen. Inmitten einer solchen Gesellschaft zeigt sich uns ein einziger Mann, dem Geist nach schon der Zukunft angehörig, ein Mann, der im Geist kräftig, feurig, verzehrt von der Begier, den Willen der Vorsehung zu ergründen, der im niederen Bereich des alltäglichen Lebens nicht frei atmen kann. Dieser Held des Dramas wirft auf alles ihn Umgebende einen gewissen Wiederschein höllischer Flammenglut; die untergeordneten Individuen erscheinen neben ihm fast wie bläuliche Geistererscheinungen. Sein Charakter faßt alle Charaktere in sich, welche durch die Dichter der neueren Zeit, sowohl polnische wie tschechische, dargestellt worden sind. Er ist der Korsar Byrons, aber der bekehrte Korsar; er ist der Graf Wacław Malczewskis, der jedoch schon dem Alltagsleben sich zugewandt hat; er ist jener zweite Wacław Garczyńskis157, der Philosoph Wacław, welcher aber nach einer neuen Bahn sucht. Aus der Lage des Baterlandes entwickelt sich auch die seinige. Polen ist in der „Un-göttliche Komödie“ – dies muß man wissen, um das Werk zu verstehen – nicht das uns bekannte Polen, nicht unser geschichtliches, geographisches Polen; sondern, würde man sich z. B. vorstellen, daß plötzlich durch ein Zusammenwirken verschiedener Ereignisse, in Folge irgend eines Kongresses oder anderer äußeren Verhältnisse wegen dasselbe ganz und unabhängig dastände, ohne jedoch eigene Lebenskraft im Innern zu besitzen, beseelt einzig und allein vom fremden, europäischen Leben und sich nur kraft der in Europa entfalteten Gefühle und Vorstellungen bewegend: so würde ein solches Polen gänzlich demjenigen des Verfassers entsprechen. Leicht begreiflich ist, wie in einem solchen Polen gerade die wackersten Männer, die Männer, deren Geist sich am höchsten emporgeschwungen, auf keine Weise ihre Vergangenheit mit der Zukunft zu vereinen vermögend, sich gänzlich aus der Bahn geschleudert sehen würden, ähnlich den Führern Griechenlands, die, berühmt während des Aufstandes, jetzt ein betrübtes, seines Zweckes beraubtes Dasein fristen. Der Held der „Ungöttliche Komödie“ bewegt sich leider in einem solchen Polen. Von Geburt ist er ein Magnat, ein mächtiger polnischer Edelmann. Der polnische Adel, welcher den Schicksalen des Vaterlandes vorgestanden, wurde auch zuerst in den Knäuel der religiösen und sozialen Fragen verwoben. Unser Held fühlt, der erste, die Seelenqualen hieraus und weiß es sehr wohl, daß auf ihm die Lösung alles dessen lastet; er weiß es, daß er, der erste, die Schranken öffnen muß. Der Anlage nach ist er Dichter und zwar ein Dichter nach dem gewöhnlichen Verständnis des Volkes, das jeden so nennt, der in Gefühl und Handlung nicht die breitgetretene Bahn einhält, der sich nach einer über die gewöhnlichen 157 Über Garczyńskis „Wacława dzieje“ – vgl. die 31. und 32. Vorlesung (Teil II).

1084

Teil III

Motive und Regeln des alltäglichen Lebens der Menschen erhabenen Wahrheit richtet. Die erste Szene des Dramas ist, kann man sagen, der Schluß der romantischen und sozialen polnischen Poesie unsers Jahrhunderts. Der Held des Werkes, Graf Henryk, jener mächtige Herr und Dichter, quält sich zuvörderst mit Lösung der religiösen und sozialen Fragen, am Ende verliert er die Hoffnung, irgend einmal ins Reine zu kommen; er will alles sein lassen und auf die Bahn des alltäglichen Lebens zurückkehren, dem eitlen Nachgrübeln entsagen und sich mit der Wirklichkeit befassen. Zu diesem Zweck beschließt er sogar sich Pflichten aufzulegen, sich unter das Joch der Gesetze zu fügen. Wir gewahren ihn in dem Augenblick, wo er sich verheiraten will. Den Eingang des Stücks macht ein Gespräch unsichtbarer Geister, der guten nämlich und der bösen; die einen wollen ihm auf dem Pfad der Pflichterfüllung behilflich sein, die anderen trachten, ihn auf die Wege des Irrtums zu führen. ANIOŁ STRÓŻ: Pokój ludziom dobrej woli – błogosławiony pośród stworzeń kto ma serce – on jeszcze zbawion być może. – żono dobra i skromna, zjaw się dla niego – i dziecię niechaj się urodzi w domu waszym.158 DER SCHUTZENGEL: Friede den Menschen guten Willens – gesegnet unter den Geschöpfen, wer ein Herz hat – er kann noch erlöst werden! Gute und bescheidene Gattin erscheine für ihn! Und ein Kindlein werde in eurem Hause geboren.

Mit diesen Worten, die einst von den Hirten vernommen wurden: Friede sei den Menschen, die eines guten Willens sind, mit den Worten, die eine neue Epoche verkündeten, fängt das Drama an. In den großen Weltperioden können nur Menschen, die einen guten Willen haben, Menschen, welche aufrichtig nach der Wahrheit suchen, dieselbe begreifen. So ist auch die Zeile zu verstehen: gesegnet sei unter den Geschöpfen, der ein Herz hat; weil die Zahl der Menschen, die das Herz nicht vergeudet haben, gewöhnlich in solchen Epochen gering ist. Zur Kräftigung eines solchen Mannes befiehlt der Engel einer Gattin, für ihn zu erscheinen und einer reinen, schuldlosen Seele, unter ihnen zu wohnen: ein Kindlein werde in eurem Hause geboren. Nun erst treiben ihn auch ihrerseits die bösen Geister vorwärts, aber auf einen falschen Weg; sie bemühen sich durch eine dichterische Vorstellung der Vergangenheit, durch die Begier des Stolzes, des weltlichen Ruhmes und durch verdunkelte Erinnerungen der glücklichen Zeiten, die man gern auf Erden 158 [Zygmunt Krasiński]: Nie-Boska komedia, op. cit., S.  5. Im Internet zugänglich unter: [https://polona.pl/item/nie-boska-komedyia,OTc1NTMyMDU/10/#item].

8. Vorlesung (24. Januar 1843)

1085

wieder aufbauen möchte, ihn irre zu führen. Drei Systeme, das poetische, das pantheistische und anthropotheistische oder das den Menschen vergötternde stellen sich hier nebeneinander auf; alle Arten der Verführungen werden angewandt. CHÓR ZŁYCH DUCHÓW: W drogę, w drogę, widma, lećcie ku niemu! – Ty naprzód, ty na czele, cieniu nałożnicy umarłej wczoraj, odświeżony w mgle i ubrany w kwiaty, dziewico, kochanko poety, naprzód. W drogę i ty, sławo, stary orle wypchany w piekle, zdjęty z palu, kędy cię strzelec zawiesił w jesieni – leć i roztocz skrzydła, wielkie białe od słońca, nad głową poety. Z naszych sklepów wynidź, spróchniały obrazie Edenu …

(aus dem materiellen Zustand des Glücks, von dem viele Philosophen träumten) Z naszych sklepów wynidź, spróchniały obrazie Edenu, dzieło Belzebuba – dziury zalepiem i rozwiedziemy pokostem – a potem, płótno czarodziejskie, zwiń się w chmurę i leć do poety – wnet się rozwiąż naokoło niego, opasz go skałami i wodami, na przemian nocą i dniem. – Matko naturo, otocz poetę! (S. 5–6) DER CHOR DER BÖSEN GEISTER. Auf, auf, Geister! eilet zu ihm. Du voran, du an der Spitze, Schatten der gestern verstorbenen Beischläferin, erfrischt im Nebel, geschmückt mit Blumen, vorwärts, du Jungfrau, des Dichters Geliebte. Auf, in den Weg auch du, Ruhm! Du alter, in der Hölle gestopfter Adler, erhebe dich von dem Pfahl, an welchen dich im Herbst der Jäger aufhing, fliege ihm zu und breite die Schwingen, die mächtigen, von der Sonne weißgeglänzten, über dem Haupte des Dichters aus. Aus unseren dunklen Gewölben tritt auch du, Edens vermodertes Bild, hervor, du, Belzebubs Machwerk; die Löcher leimen wir zu, überziehen sie mit Firnis – dann aber wickle dich, zauberisches Leinen, zur Wolke ein und fliege dem Dichter zu – dort entfalte dich plötzlich vor ihm, umringe ihn mit Felsen und Wässern, abwechselnd mit Nacht und Tag – Mutter Natur, umgib den Dichter!

Der Dichter traut sich die Vergangenheit an, er schließt die Ehe mit einem guten, stillen, frommen Weib, das ihn nicht verstehen kann, und wenn er ihr zuruft: „O! ewig, ewig sollst du mein Lied sein!“ („o, wiecznie, wiecznie będziesz pieśnią moją“) antwortet sie ihm: „Ich werde dir eine treue Gattin sein, wie die Mutter mir geheißen, wie das Herz mir befiehlt.“ („Będę wierną żoną tobie, jako matka mówiła, jako serce mówi“).159 Mit dieser Gattin bringt er Tage, Monate, 159 Nie-Boska komedia, op. cit., S. 6.

1086

Teil III

Jahre zu, versunken in das alltägliche Leben. Dieser eingekerkerte Geist ist der Prometheus der alten Sage; plötzlich aber erwacht er. Der Verfasser stellt hier vor seinen Helden jenes Gespenst seiner Geliebten, jenes Ideal, geschmückt mit allen Reizen seiner Jugendträume, das ihn aus dem Schlummer weckt. Der Graf ruft: Przeklęta niech będzie chwila, w której pojąłem kobietę, w której opuściłem kochankę lat młodych, myśl myśli moich, duszę duszy mojej. (S. 10) Verflucht sei der Augenblick, in welchem ich ein Weib mir angetraut, in welchem ich die Geliebte der Jugendjahre verlassen, den Gedanken meiner Gedanken, die Seele meiner Seele.

Die Frau unterbricht ihn: Co się stało – czy już dzień – czy powóz zaszedł? – Wszak mamy jechać dziesiaj po różne sprawunki. (S. 10) […] Was ist geschehen? Ists schon Tag? Ist der Wagen schon vor? Wir sollen ja heute verschiedener Einkäufe wegen ausfahren. […] MĄŻ Od dnia ślubu mojego spałem snem odrętwiałych, snem żarłoków, snem fabrykanta Niemca przy żonie Niemce – świat cały jakoś zasnął wokoło mnie na podobieństwo moje – jeździłem po krewnych, po doktorach, po sklepach, a że dziecię ma się mi narodzić, myślałem o mamce. – (Bije druga na wieży kościoła) – Do mnie, państwa moje dawne, zaludnione, żyjące, garnące się pod myśl moją – słuchające natchnień moich – niegdyś odgłos nocnego dzwonu był hasłem waszym. Boże, czyś Ty sam uświęcił związek dwóch ciał? czyś Ty sam wyrzekł, że nic ich rozerwać nie zdoła, choć dusze się odepchną od siebie, pójdą każda w swoją stronę i ciała gdyby dwa trupy zostawią przy sobie? (S. 12) DER MANN. Vom Tage der Trauung an schlief ich den Schlaf der Erstarrten, den Schlaf der Vielfresser, den Schlaf des deutschen Fabrikanten neben seiner deutschen Gattin! Die ganze Welt ist um mich herum in Schlaf versunken wie ich. Ich fuhr aus zu Verwandten – zu Ärzten – in die Läden; und weil ein Kind mir soll geboren werden, so dachte ich an eine Amme. (Es schlägt zwei Uhr auf dem Kirchturm) – Zu mir, zu mir, ihr meine alten, bevölkerten, lebenden, unter meinen Gedanken sich bergenden Reiche – meinen Eingebungen gehorchend – einst war ja der nächtliche Glockenlaut eure Losung. O, Gott! hast du denn selbst den Bund zweier Körper geheiligt; hast du selbst ausgesagt, nichts könne sie trennen, auseinander reißen, wenn auch die Seelen sich abstoßen, auseinander gehen und die Leiber wie zwei Leichname neben sich lassen?

8. Vorlesung (24. Januar 1843)

1087

Er spricht wieder zum Schatten der Geliebten: Znowu jesteś przy mnie – o moja – o moja, zabierz mnie z sobą. – Jeśliś złudzeniem, jeślim cię wymyślił, a tyś się utworzyła ze mnie i teraz objawisz się mnie, niechże i ja będę marą, stanę się mgłą i dymem, by zjednoczyć się z tobą. – […] ŻONA Dzisiaj, wczoraj – ach! mój ty Boże, i przez cały tydzień, i już od trzech tygodni, od miesiąca słowa nie rzekłeś do mnie – i wszyscy, których widzę. mówią mi, że źle wyglądam. – MĄŻ na stronie Nadeszła godzina – nic jej nie odwlecze. – (głośno) Zdaje mi się, owszem, że dobrze wyglądasz. ŻONA Tobie wszystko jedno, bo już nie patrzysz na mnie, odwracasz się, kiedy wchodzę, i zakrywasz oczy, kiedy siedzę blisko. – Wczoraj byłam u spowiedzi i przypominałam sobie wszystkie grzechy – a nie mogłam nic znaleźć takiego, co by cię obrazić mogło. – MĄŻ Nie obraziłaś mnie. – ŻONA Mój Boże – mój Boże! MĄŻ Czuję, że powinienem cię kochać. – ŻONA Dobiłeś mnie tym jednym: „powinienem“ – Ach! Lepiej wstań i powiedz: „nie kocham“ – przynajmniej już będę wiedziała wszystko – wszystko. (S. 15–17) Wieder bist du bei mir, o du meine – o du meine; nimm mich mit! Bist du ein Phantom, habe ich dich erdacht, hast du dich aus mir herausgeschaffen und offenbarst dich mir jetzt: o so möge ich auch ein Schatten sein, möge ich zu Nebel und Rauch werden, um mit mir mich zu vereinen. […] DIE GATTIN Heute, gestern, ach, du mein Gott! und die ganze Woche und schon seit drei Wochen, seit einem Monat sprachst du kein Wort zu mir; und alle, die ich spreche, sagen mir, ich sehe übel aus. DER MANN Es scheint mir im Gegenteil, du siehst gut aus. DIE GATTIN Dir ist alles eins; denn du siehst mich nicht mehr an, wendest dich ab, wenn ich hereintrete, und verbirgst die Augen, wenn ich dir in der Nähe weile; gestern ging ich beichten und erinnerte mich aller Sünden, konnte aber nichts der Art finden, was dich beleidigen könnte. DER MANN Du hast mich nicht beleidigt. DIE GATTIN Mein Gott! – mein Gott! DER MANN Ich fühle, daß ich dich lieben sollte.

1088

Teil III DIE GATTIN Den Todesstoß gabst du mir durch dies einzige „Ich sollte.“ – Ach! so stehe lieber auf und sprich: „Ich liebe dich nicht.“ Wenigstens werde ich dann alles wissen – alles.

Am Ende des so geführten Gesprächs tritt von neuem der Schatten der Geliebten auf und lockt den Mann zu sich; als ihn aber die Gattin aufhalten will, fährt er sie an: Kobieto z gliny i z błota, nie zazdrość, nie potwarzaj – nie bluźń – patrz – to myśl pierwsza Boga o tobie, ale tyś poszła za radą węża i stałaś się, czym jesteś. – (S. 19) Weib aus Lehm und Kot, beneide nicht, verleumde nicht, lästere nicht! Schau zu, dies ist der erste Gedanke Gottes von dir, du aber folgtest dem Rat der Schlange und bist geworden, was du bist.

Nach diesen Worten verläßt der Mann die Gattin und jagt dem geliebten Gespenst nach. In dieser seiner Wanderung durch Wälder, Berge, Schluchten und Täler hat der Dichter das Bild des abenteuerlichen Lebens dargestellt. Schon sieht er am Rande des Abgrundes und soll in denselben stürzen, als ihm der Engel die Rettung verkündet, denn in diesem Augenblicke wird die Taufe seines Sohnes vollzogen. Um die Schönheit der Grundlage in diesem Drama zu fassen, muß man stets die Gestalt der auftretenden Vergangenheit, neben der Person, welche die Zukunft vorstellt, aufsuchen. Die Vergangenheit zeigt sich hier mit allem dem, was sie am meisten Kaltes, Totes in ihren Formen hat. Zuerst hatten wir eine Trauung, jetzt folgt die Taufe. Es versammeln sich die zu diesem Begängnis gebetenen Gäste. PIERWSZY GOŚĆ Dziwna rzecz, gdzie hrabia się podział. – DRUGI GOŚĆ Zabałamucił się gdzieś lub pisze. – PIERWSZY GOŚĆ A Pani blada, niewyspana, słowa do nikogo nie przemówiła. TRZECI GOŚĆ Chrzest dzisiejszy przypomina mi bale, na które zaprosiwszy, gospodarz zgra się w wilią w karty, a potem gości przyjmuje z grzecznością rozpaczy. – CZWARTY GOŚĆ Opuściłem śliczną księżniczkę – przyszedłem – sądziłem, że będzie sute śniadanie, a zamiast tego, jako Pismo mówi, płacz i zgrzytanie zębów. – KSIĄDZ Jerzy Stanisławie, przyjmujesz olej święty? OJCIEC I MATKA CHRZESTNA Przyjmuję.– (S. 20–23)

8. Vorlesung (24. Januar 1843)

1089

DER ERSTE GAST Sonderbar, wo doch der Graf geblieben. DER ZWEITE GAST Er hat sich irgendwo verweilt oder schreibt. DER ERSTE GAST Und die Gräfin ist bleich, hat nicht ausgeschlafen, sie hat kein Wort zu Jemandem gesprochen. DER DRITTE GAST Die heutige Taufe erinnert mich an jene Bälle, zu welchen der Wirt, nachdem er die Gäste eingeladen, den Abend zuvor alles Geld beim Kartenspiel verliert und dann die Gäste mit der Artigkeit der Verzweiflung aufnimmt. DER VIERTE GAST Ich habe die niedliche Prinzessin verlassen; bin gekommen, in der Meinung, ein herrliches Frühstück zu finden, statt dessen aber treffe ich, wie die Schrift sagt, auf Heulen und Zähneklappern. DER PRIESTER Georg Stanisław, begehrst du das heilige Öl? DER TAUFPATE UND DIE TAUFPATIN Ja!

Die Zeremonie wird wie gewöhnlich verrichtet, unterdessen tritt die Mutter, wie vom Scheintod erwacht, mit wankenden Schritten zu dem Kind, legt ihm die Hände aufs Köpfchen und spricht feierlich: Błogosławię cię, Orciu, błogosławię, dziecię moje. – Bądź poetą, aby cię ojciec kochał, nie odrzucił kiedyś. – MATKA CHRZESTNA Ale pozwólże, moja Marysiu. – […] KSIĄDZ Bój się pani hrabina, Boga. – ŻONA Przeklinam cię, jeśli nie będziesz poetą. – (S. 23) Ich segne dich, Orcio, ich segne dich mein Kind, werde ein Dichter, damit der Vater dich liebe und nicht einst verstoße. DIE TAUFPATIN Aber erlaube doch, Marie. […] DER PRIESTER Frau Gräfin! fürchten sie Gott. DIE MUTTER Ich verfluche dich, wirst du nicht Dichter.

Alles ist beendet, die Gäste gehen verwundert und verwirrt auseinander, der Taufpate bleibt an der Wiege des Kindes:

1090

Teil III Jerzy Stanisławie, dopiero coś został chrześcijaninem i wszedł do towarzystwa ludzkiego, a później zostaniesz obywatelem, a za staraniem rodziców i łaską Bożą znakomitym urzędnikiem – pamiętaj, że Ojczyznę kochać trzeba i że nawet za Ojczyznę zginąć jest pięknie. (S. 23) Jerzy Stanisław, eben bist du ein Christ geworden und in die menschliche Gesellschaft aufgenommen, später wirst du ein Bürger des Staats und mit Hilfe der Eltern und der Gnade Gottes ein hoher Würdenträger werden. Denke daran, daß man das Vaterland lieben muß und es sogar schön ist, für das Vaterland zu sterben.

So wurde die Taufe begangen. Alle haben hier das Ihrige getan. Die Gäste kamen, die einen des Frühstücks wegen, die anderen sich zu zerstreuen; der Priester, welcher früher das unglückliche Paar einsegnete, sprach jetzt die Sakramentalworte, die Stirn des Kindes mit heiligem Wasser besprengend; der Taufpate trat mit einer Anrede hervor, die er vielleicht schon hundertmal in ähnlichen Fällen wiederholt hatte. Nur die Gräfin allein erweckt Interesse. Sie gibt dem Sohn den Segen, mit dem Wunsch, daß er ein Dichter werde, d. h. ein Mensch, welcher Gefühl hat, welcher in seinem Inneren arbeitet. Dies Eine nur macht den Leser stutzig. Die Kritiker warfen der ganzen Szene Gleichgültigkeit und Flachheit vor, wir sehen sie aber für sehr schön an, schon selbst der Einfachheit wegen. Es folgt sogleich die zweite Szene, welche nicht minder einfach und wohl getroffen ist, wo der Graf von seiner Irrwanderung nach Hause kehrt, welche Szene die Geschichte des häuslichen Lebens dieses unglücklichen Mannes beschließt. MĄŻ Gdzie pani? SŁUGA JW. pani słaba. – MĄŻ Byłem w jej pokoju – pusty. – SŁUGA Jasny panie, bo JW. pani tu nie ma. MĄŻ A gdzie? SŁUGA Odwieźli ją wczoraj … MĄŻ Gdzie? SŁUGA Do domu wariatów. (Ucieka z pokoju)

8. Vorlesung (24. Januar 1843)

1091

MĄŻ Słuchaj, Mario, może ty udajesz, skryłaś się gdzie. żeby mnie ukarać? Ozwij się, proszę cię, Mario – Marysiu. – Nie – nikt nie odpowiada. – Janie – Katarzyno! – Ten dom cały ogłuchł – oniemiał. Tę, której przysiągłem na wierność i szczęście, sam strąciłem do rzędu potępionych już na tym świecie. – Wszystko, czegom się dotknął, zniszczyłem i siebie samego zniszczę w końcu. – Czyż na to piekło mnie wypuściło, bym trochę dłużej był jego żywym obrazem na ziemi? Na jakiejże poduszce ona dziś głowę położy? – Jakież dźwięki otoczą ją w nocy? – Skowyczenia i śpiewy obłąkanych. Widzę ją – czoło, na którym zawsze myśl spokojna, witająca – uprzejma – przezierała – pochylone trzyma – a myśl dobrą swoją posłała w nieznane obszary, może za mną, i błąka się. biedna, i płacze. (S. 28–38) DER MANN Wo ist die Herrin? DER DIENER Die gnädige Frau ist krank. DER MANN Ich war in ihrem Zimmer, es ist leer. DER DIENER Gnädiger Herr, die gnädige Frau ist nicht hier. DER MANN Und wo ist sie? DER DIENER Man hat sie gestern fortgefahren … DER MANN Wohin? DER DIENER Ins Irrenhaus. (Läuft aus dem Zimmer.) DER MANN Höre Marie, vielleicht verstellst du dich, vielleicht hast du dich versteckt, um mich zu bestrafen, gib einen Laut von dir, ich bitte dich! Marie – Mariechen. Nein, niemand antwortet! Jan! – Katharina! – Dies ganze Haus ist taub und stumm geworden. Diejenige, der ich Treue und Glück zugeschworen, habe ich selbst gestürzt in die Reihe der schon auf dieser Welt Verdammten. Alles, alles, was ich berührte, habe ich zerstört und werde mich am Ende auch selbst vernichten. Hat denn die Hölle mich dazu losgelassen, damit ich etwas länger als ihr lebendes Bild auf Erden verweile? Auf welches Kissen wird sie heute ihr Haupt legen, welche Töne werden sie des Nachts umringen: das Geheul, die Gesänge der Irren. Ich sehe sie, die Stirn, auf welcher immer der Gedanke des Friedens – des Willkommens – der Zuvorkommenheit thronte – hält sie gesenkt – ihren guten Gedanken hat sie in unbekannte weite Fernen geschickt, vielleicht mir nach und irrt jetzt, und weint, die Arme.

1092

Teil III

Der Graf Heinrich stürzt zur Tür hinaus, fordert ein Pferd und jagt dem Irrenhaus zu. Dieses Haus nimmt in der Zusammenstellung des Dramas einen bedeutenden Platz ein. Die alte, langweilige, erkaltete, dem Scheine nach glückliche Gesellschaft soll sich schon auflösen; den Gedanken der neuen Gesellschaft hat der Dichter im Aufwallen und Trüben, ähnlich den Quellen der Feuerberge, die sich plötzlich verdunkeln, wenn ein Ausbruch bevorsteht, in dieser Szene gezeigt, wo die Ausrufungen und die Worte der Eingesperrten sich Luft machen, wie der Rauch aus den Felsenriffen vor dem Erscheinen der Flamme. Was nur irgend die zukünftige Gesellschaft Gewaltsames, Schreckliches, Satanisches in sich haben könnte, dies alles stellt hier als schon im Keimen begriffen das Irrenhaus vor. Die Stimmen, welche sich während dieser Szene von oben und unten, von der rechten und linken Seite hören lassen, stellen die politischen und religiösen Parteien der heutigen Gesellschaft dar. GŁOS ZNAD SUFITU W łańcuchy spętaliście Boga. – Jeden już umarł na krzyżu. – Ja drugi Bóg, i równie wśród katów. – GŁOS SPOD PODŁOGI Na rusztowanie głowy królów i panów – ode mnie poczyna się wolność ludu. – GŁOS ZZA PRAWEJ ŚCIANY Klękajcie przed królem, panem waszym. – […] (S. 32) EINE STIMME VON DER DECKE HERAB In Ketten habt ihr Gott geschmiedet! Einer ist schon am Kreuze gestorben. – Ich bin ein zweiter Gott und auch unter Henkern. EINE STIMME AUS DEM FUSSBODEN HERAUF Aufs Schaffot die Häupter der Könige und Großen! Von mir fängt die Freiheit des Volkes an. EINE STIMME HINTER DER RECHTEN WAND Kniet nieder vor eurem König.

Diese Stimmen hört man im Zimmer der Kranken. MĄŻ Czy mnie poznajesz, Mario? ŻONA Przysięgłam ci na wierność do grobu. – MĄŻ Chodź – daj mi ramię, wyjdziemy. – ŻONA Nie mogę się podnieść – dusza opuściła ciało moje, wstąpiła do głowy. – MĄŻ Pozwól, wyniosę ciebie. –

8. Vorlesung (24. Januar 1843)

1093

ŻONA Dozwól chwil kilka jeszcze, a stanę się godną ciebie. – MĄŻ Jak to? ŻONA Modliłam się trzy nocy i Bóg mnie wysłuchał. – MĄŻ Nie rozumiem cię. – ŻONA Od kiedym cię straciła, zaszła odmiana we mnie –„Panie Boże“, mówiłam i biłam się w piersi, i gromnicę przystawiałam do piersi i pokutowałam, „spuść na mnie ducha poezji“, i trzeciego dnia z rana stałam się poetą. – MĄŻ Mario! – ŻONA Henryku, mną teraz już nie pogardzisz – jestem pełna natchnienia – wieczorami już mnie nie będziesz porzucał. – MĄŻ Nigdy, nigdy. – ŻONA Patrz na mnie. – Czy nie zrównałam się z tobą? – Wszystko pojmę, zrozumiem, wydam, wygram, wyśpiewam. – Morze, gwiazdy, burza, bitwa. – Tak, gwiazdy, burza, morze – ach! wymknęło mi się jeszcze coś – bitwa. – Musisz mnie zaprowadzić na bitwę – ujrzę i opiszę – […] (S. 33–35) DER MANN Erkennst du mich, Marie? DIE GATTIN Ich schwöre dir Treue zu bis ans Grab. DER MANN Komm, gib mir den Arm, wir wollen hinausgehen. DIE GATTIN Ich kann mich nicht heben, die Seele hat meinen Leib verlassen, sie ist in den Kopf gestiegen. DER MANN Erlaube, ich werde dich hinaustragen. DIE GATTIN Gönne mir noch einige Augenblicke und ich werde deiner würdig sein. DER MANN Wie so? DIE GATTIN Seitdem ich dich verloren, ist eine große Veränderung in mir vorgegangen. „Herr Gott! – sprach ich und schlug mich an die Brust und setzte mir die geweihete Kerze an die Brust und büßte, – laß auf mich den Geist der Poesie herunter.“ Und den dritten Tag des Morgens wurde ich ein Dichter . DER MANN Maria!

1094

Teil III DIE FRAU Henryk, jetzt wirst du mich nicht verachten, ich bin voller Begeisterung! – Du wirst mich abends nicht mehr allein lassen. DER MANN Nie, nie. DIE GATTIN Sieh mich an! – Bin ich dir nicht gleich geworden? Alles werde ich begreifen, verstehen, aussprechen, aufspielen, aufsingen. – Das Meer, die Sterne, die Stürme, den Kampf. – Ja, Sterne, Stürme, Meere ach! – Noch etwas ist mir entschlüpft – ja die Schlacht – Du mußt mich in die Schlacht führen – ich will sie sehen und beschreiben. […]. DER MANN Marie, vielleicht willst du unseren Sohn sehen. DIE GATTIN Ich habe ihn fortgeschickt in die Welten, ihm Flügel angesetzt, auf daß er alles in sich einsauge, was schön ist, was gräßlich und erhaben. – Er wird einst zurückkehren und dich erfreuen. – Ach!

Während dieses Gesprächs hören die Stimmen nicht auf, sich dareinzumischen. Als der Graf nach einem Augenblick besserer Hoffnung wieder schmerzlich den traurigen Zustand seiner Gattin fühlt, lassen sich ihre Rufe vernehmen. GŁOS SPOD POSADZKI Trzech królów własną ręką zabiłem – dziesięciu jest jeszcze – i księży stu śpiewających mszę. – […] ŻONA Tamten dziwne cierpi obłąkanie – nieprawdaż? MĄŻ Najdziwniejsze. ŻONA On nie wie, co gada, ale ja ci ogłoszę, co by było, gdyby Bóg oszalał. (bierze go za rękę) Wszystkie światy lecą to na dół, to w górę – człowiek każdy, robak każdy krzyczy: „Ja Bogiem“ – i co chwila jeden po drugim konają – gasną komety i słońca. – Chrystus nas już nie zbawi – krzyż swój wziął w ręce obie i rzucił w otchłań czy słyszysz, jak ten krzyż, nadzieja milionów, rozbija się o gwiazdy, łamie się, pęka, rozlatuje w kawałki, a coraz niżej i niżej – aż tuman wielki powstał z jego odłamków – Najświętsza Bogarodzica jedna się jeszcze modli i gwiazdy, Jej służebnice, nie odbiegły Jej dotąd – ale i Ona pójdzie, kędy idzie świat cały. […] MĄŻ Źle tobie? ŻONA W głowie mi ktoś lampę zawiesił i lampa się kołysze – nieznośnie. – (S. 35)

8. Vorlesung (24. Januar 1843)

1095

DIE STIMME VON UNTEN Drei Könige habe ich mit eigener Hand erschlagen, noch bleiben zehn – und hundert Priester, welche die Messe singen. […] DIE GATTIN Dieser hat einen sonderbaren Irrwahn, nicht wahr? DER MANN Den sonderbarsten. DIE GATTIN Er weiß nicht, was er spricht, ich aber will dir erklären, was geschehen würde, wenn Gott in Wahnsinn verfiele. (Faßt ihn bei der Hand.) Die Welten alle, sie gehen nach unten, sie gehen nach oben – jeder Mensch, jedes Würmchen schreit: „Ich bin Gott“ – und enden jeden Augenblick, einer nach dem anderen; es erlöschen die Kometen und Sonnen, Christus erlöst uns nicht mehr, sein Kreuz hat er in beide Arme gefaßt und in den Abgrund geworfen. Hörst du, wie dieses Kreuz, die Hoffnung der Millionen, sich an den Sternen bricht, spaltet, zerschellt, in tausend Stücke stäubt und immer tiefer und tiefer fliegt, bis eine große Wolke aus seinen Splittern entstanden. Die allerheiligste Mutter Gottes betet nur noch allein, und die Sterne, ihre Diener, haben sie noch nicht verlassen, aber auch sie wird hingehen, wohin die ganze Welt strebt. […] DER MANN Dir wird übel? DIE GATTIN Jemand hat mir im Kopf eine Lampe aufgehängt, und die Lampe schwankt so – unerträglich.

Schließlich stirbt die Kranke in den Armen des Mannes. Aus der traurigen Ehe ist nur ein Kind geblieben, ebenfalls für ein nicht langes Leben bestimmt, da es durch die Glut der ziellosen Einbildungskraft, die seine physischen Kräfte verzehrt, aufgerieben wird. Es ist eine Triebsprosse der kränklichen, dem Verscheiden nahen Gesellschaft. Hier schließt der erste Teil des Stücks. Da dieses Drama nicht geschrieben ist, um im Theater aufgeführt zu werden, finden sich in ihm häufig Beschreibungsszenen, vom Verfasser dargestellte Bilder. Zu den schönsten unter ihnen gehört das Bild dieses Kindes, welches gerade den zweiten Teil als Prolog eröffnet: Czemu, o dziecię, nie hasasz na kijku, nic bawisz się lalką, much nie mordujesz, nie wbijasz na pal motyli, nie tarzasz się po trawnikach, nie kradniesz łakoci, nie oblewasz łzami wszystkich liter od A do Z? – Królu much i motyli, przyjacielu poliszynela, czarcie maleńki, czemuś tak podobny do aniołka? – Co znaczą twoje błękitne oczy, pochylone, choć żywe, pełne wspomnień, choć ledwo kilka wiosen przeszło ci nad głową? – Skąd czoło opierasz na rączkach białych i zdajesz się marzyć, a jako kwiat obarczone rosą, tak skronia twoje obarczone myślami? – A kiedy się zarumienisz, płoniesz jak stulistna róża i pukle odwijając w tył wzroczkiem sięgasz do nieba – powiedz, co słyszysz, co widzisz, z kim

1096

Teil III rozmawiasz wtedy? – Bo na twe czoło występują zmarszczki, gdyby cieniutkie nici płynące z niewidzialnego kłębka – bo w oczach twoich jaśnieje iskra, której nikt nic rozumie – a mamka twoja płacze i woła na ciebie, i myśli, że jej nie kochasz – a znajomi i krewni wołają na ciebie i myślą, że ich nie poznajesz – twój ojciec jeden milczy i spogląda ponuro, aż łza mu się zakręci i znowu gdzieś przepadnie. – […] Tymczasem wzrastasz i piękniejesz – nie ową świeżością dzieciństwa mleczną i poziomkową, ale pięknością dziwnych, niepojętych myśli, które chyba z innego świata płyną ku tobie – bo choć często oczy masz gasnące, śniade lica, zgięte piersi każdy, co spojrzy na ciebie, zatrzyma się i powie: „Takie śliczne dziecię.“ – Gdyby kwiat, co więdnie, miał duszę z ognia i natchnienie z nieba. gdyby na każdym listku, chylącym się ku ziemi. anielska myśl leżała miasto kropli rosy, ten kwiat byłby do ciebie podobnym, o dziecię moje – może takie bywały przed upadkiem Adama. (S. 41–44) Warum, o Kind, tummelst du dich nicht auf deinem Steckenpferde? Warum spielst du nicht mit der Puppe, mordest nicht die Fliegen, spießest nicht die Schmetterlinge auf, wälzest dich nicht auf dem Rasen herum, stiehlst keine Leckerbissen, begießest nicht mit Tränen alle Buchstaben von A bis Z? Du König der Fliegen und Schmetterlinge, Freund des Polichinell, kleiner Satan, warum ähnelst du so sehr einem Engel? Was bedeuten deine blauen Augen, gesenkt, wenngleich lebhaft, voller Erinnerungen, obschon dir kaum einige Frühlinge übers Haupt gezogen? Weshalb stützest du die Stirn auf die weißen Händlein und scheinst zu sinnen? So wie die vom Tau gebeugte Blume, so sind deine Schläfen mit Gedanken belastet. Und steigt dir die Röte auf, so glühest du wie die hundertblättrige Rose, wirfst die Locken nach hinten, richtest die Blickchen nach dem Himmel. Sage, was hörst du, was siehst du, mit wem sprichst du dann? Denn auf deine Stirn treten Falten, wie dünne Fädlein vom unsichtbaren Knäuel fließend; denn in deinen Augen glänzt ein Funke, den niemand begreift. Deine Mutter aber weint und ruft dich und glaubt, du liebst sie nicht. Deine Bekannten und Verwandten reden dich an und sie glauben, du erkennst sie nicht. Nur dein Vater schweigt und blickt finster, bis ihm eine Träne hervorquillt und wieder verschwindet. […] Unterdessen wächst Du heran und wirst schöner, nicht mit jener milchigen, erdbeerartigen Frische der Kindheit, sondern mit der Schönheit wunderbarer, unbegriffener Gedanken, die vielleicht nur aus der anderen Welt dir zustießen; denn obgleich du oft erlöschende Augen, bleiche Wangen, eine eingefallene Brust hast, so hält doch jeder, der dich ansieht, vor dir still und sagt: „Welch schönes Kind!“ Hätte jede Blume, die verwelkt, eine Seele von Feuer und Himmelsbegeisterung, läge auf jedem sich zur Erde neigenden Blättchen der Gedanke eines Engels statt des Tautropfens, diese Blume würde dir gleichen, o du mein Kind! Vielleicht gab es solche vor Adams Sündenfall.

Dieses Kind tritt schon in den jungen Jahren aus der gewöhnlichen Bahn. Der Dichter zeigt es uns an der Seite des Vaters auf dem Friedhof, in einer Szene am Grab der Mutter.

8. Vorlesung (24. Januar 1843)

1097

MĄŻ Zdejm kapelusik i módl się za duszę matki. – ORCIO Zdrowaś Panno Maryjo, łaskiś Bożej pełna, Królowa niebios, Pani wszystkiego, co kwitnie na ziemi, po polach, nad strumieniami … MĄŻ Czego odmieniasz słowa modlitwy? – Módl się jak cię nauczono, za matkę, która dziesięć lat o tej właśnie godzinie skonała. ORCIO Zdrowaś Panno Maryjo, łaskiś Bożej pełna, Pan z Tobą, błogosławionaś między Aniołami i każdy z nich, kiedy przechodzisz, tęczę jedną z skrzydeł swych wyziera i rzuca pod stopy Twoje. – Ty na nich, jak gdyby na falach … MĄŻ Orcio! – ORCIO Kiedy mi te słowa się nawijają i bolą w głowie tak, że proszę papy, muszę je powiedzieć.– MĄŻ Wstań, taka modlitwa nie idzie do Boga. – Matki nie pamiętasz – nie możesz jej kochać. – ORCIO Widuję bardzo często mamę. – MĄŻ Gdzie, mój maleńki? – ORCIO We śnie, to jest, niezupełnie we śnie, ale tak, kiedy zasypiam, na przykład zawczoraj. – MĄŻ Dziecko moje, co ty gadasz? ORCIO Była bardzo biała i wychudła. – MĄŻ A mówiła co do ciebie? ORCIO Zdawało mi się, że się przechadza po wielkiej i szerokiej ciemności, sama bardzo biała, i mówiła: Ja błąkam się wszędzie, Ja wszędzie się wdzieram, Gdzie światów krawędzie, Gdzie aniołów pienie, I dla ciebie zbieram Kształtów roje, O dziecię moje! Myśli i natchnienie. I od duchów wyższych, I od duchów niższych Farby i odcienie, Dźwięki i promienie

1098

Teil III Zbieram dla ciebie, Byś ty, o synku mój, Był, jako są w niebie, I ojciec twój Kochał ciebie. – […] MĄŻ Czyż myśl ostatnie przy zgonie towarzyszą duszy, choć dostanie się do nieba – możeż być duch szczęśliwym, świętym i obłąkanym zarazem? (S. 44–49) DER MANN Ziehe dein Hütchen und bete für die Seele der Mutter. ORCIO Gegrüßet seist du, Jungfrau Maria, voller Gnaden, Königin des Himmels, Gebieterin von alledem, das da blüht auf Erden, den Fluren, den Gewässern! DER MANN Warum verwechselst du die Worte des Gebets? Bete, wie man dich gelehrt hat, für die Mutter, die, heute sinds gerade zehn Jahre, zu dieser Stunde verschied. ORCIO Gegrüßet seist du, Jungfrau Maria, voller Gnaden! Der Herr ist mit dir, gebenedeit bist du unter den Engeln und jeder von ihnen zieht, wandelst du vorbei, einen Himmelsbogen aus den Flügeln und streut ihn unter deine Füße. Du schreitest über sie wie über die Wellen … DER MANN Orcio! ORCIO Aber Papa, ich bitte dich, diese Worte kreisen mir und schmerzen im Kopfe so, daß ich sie aussprechen muß. DER MANN Steh auf! Solch ein Gebet dringt nicht zu Gott! An die Mutter erinnerst Du Dich nicht. Du kannst sie nicht lieben! ORCIO Ich sehe sehr häufig die Mutter. DER MANN Wo das, mein Kleiner? ORCIO Im Schlafe, d. h. nicht ganz im Schlaf, sondern so, wenn ich einschlummere, z. B. vorgestern. DER MANN Was redest du, mein Kind? ORCIO Sie war sehr bleich und mager. Es schien mir, als erginge sie sich, ganz weiß schimmernd, über einer großen und breiten Finsternis und sagte: Allenthalben schweife ich herum, Allenthalben dringe ich ein, Wo der Welten Ende, Wo der Engel Gesänge,

8. Vorlesung (24. Januar 1843)

1099

Und sammle für dich auf, O du, mein Kind! Zahllose Formen, Gedanken und Eingebungen. Und von den höheren Geistern Und von den niederen Geistern Sammle ich für dich Farben und Schatten, Töne und Strahlen, Damit du, o mein Söhnchen! Geist wie die im Himmel, Und dein Vater Dich liebe. […] DER MANN Wie, folgen denn die letzten Gedanken beim Verscheiden der Seele nach, auch wenn sie in den Himmel kommt? Kann der Geist glücklich, heilig und zugleich irre sein?

Es gibt nichts Wehmütigeres als dieses Drama. Der Dichter, der es geschrieben, konnte keinem anderen Volke entsprossen sein, als jenem seit vielen Jahrhunderten leidenden; darum ist es auch so durchweg polnisch. Der Schmerz entfaltet sich hier nicht rauschend in beredten Phrasen, zerfließt auch nicht in rührende Klagelieder; die Stellungen der Individuen und Sachen sind kaum aufgezeichnet, die ganze traurige Erzählung nimmt kaum hundert Zeilen, nicht über ein paar Blätter ein. Aber jedes Wort ist gleichsam ein Tropfen, gepreßt aus der Bürde des Leidens und der Betrübnis. Die Personen ziehen vor uns vorüber wie die Schatten der Zauberlaterne; wir werden ihre Gesichter kaum gewahr und das nur von der Seite, selten von vorn; sie reden uns an, einige Worte im Vorbeigehen uns zuwerfend. Wollen wir aber diese Worte erwägen, sie auseinandersetzen, so können wir das vollständige Bild erhalten; wir können, nachdem wir die Person einmal gesehen, erraten, was sie früher gewesen und ferner tun soll. Solche z. B. sind die Gäste, die Taufpaten und der Priester bei der Taufe. Alles dies malt ganz vorzüglich eine Gesellschaft, die auseinanderfällt, die vermodert ist. Derjenige, welcher die geistige Lebenskraft vorstellen sollte, spielt hier eine untergeordnete, nichtssagende Rolle; er macht das Zeichen des Kreuzes, spricht die Formeln des Rituals ab, und das ist sein ganzes Geschäft. Er hat nicht erwogen, ja nicht einmal daran gedacht, welch geheimes Band, welches Verhältnis zwischen dieser für die Zukunft berufenen Seele, die noch eine lange Laufbahn vor sich hat, und jener anderen, die in der Vergangenheit stecken geblieben ist, von den Reizen derselben sich hat blenden lassen, obwalten kann. Mit geschlossenem Auge des Geistes auf dies Kind blickend, das schon in der Wiege sich wirft und ringt, dessen Charakter

1100

Teil III

und Bestimmung sein Vater erraten, gar nicht einmal begreifend diesen Kampf der Zukunft mit der Vergangenheit, nur die oberflächlichen Formen des Zeremoniells kalt erfüllend, hat sich der Geistliche selbst vernichtet, sich selbst aus der Gesellschaft gestoßen. Der Graf, die Hauptperson des Dramas, ein höherer Regungen fähiger Mensch, mit der höheren Welt in Berührung, ist hier als der letzte Vergegenwartiger der Vergangenheit dargestellt. Schon reicht er in die Zukunft hinüber, kann sich aber nicht von der Welt trennen, die ihm unter den Füßen vergeht, weil, wie er selbst von sich gesagt, ihm die „Gnade [Gottes] auf die Vernunft, nicht aufs Herz gefallen“160 ist; sein Herz glühte einst, aber die Vernunft siegte über das Herz. Von der Zeit an kann er seine Gedanken und Gefühle nicht in Einklang bringen. Hier sind seine eignen Worte: Pracowałem lat wiele na odkrycie ostatniego końca wszelkich wiadomości, rozkoszy i myśli, i odkryłem – próżnię grobową w sercu moim. – Znam wszystkie uczucia po imieniu, a żadnej żądzy, żadnej wiary, miłości nie ma we mnie – jedno kilka przeczuciów krąży w tej pustyni – o synu moim, że oślepnie – o towarzystwie, w którym wzrosłem, że rozprzęgnie się – i cierpię tak,. jak Bóg jest szczęśliwy, sam w sobie, sam dla siebie. (S. 53) Abgemüht habe ich mich viele Iahre, um die allerletzte Ursache alles Wissens, der Wonne und des Gedankens zu entdecken. Was habe ich gefunden? Eine Grabesleere in meinem Herzen. Auswendig weiß ich alle Gefühle herzuzählen, sie zu besprechen, selbst aber habe ich kein einziges Begehren, keinen Glauben, keine Liebe in mir. Nur einige Vorgefühle schweifen in dieser Wüste umher: von meinem Sohn, daß er erblinden; von der Gesellschaft, in der ich aufgewachsen, daß sie auseinanderfallen wird; und ich leide in dem Maße, wie Gott glücklich ist, in mir selbst, für mich selbst.

Dieser Mensch ist von nun an verurteilt, als ein tätiger Kämpfer gegen die Zukunft aufzutreten, zur Strafe, weil er die Gefühle für das letzte Ziel, für das letzte Resultat des Handelns, zu welchem die Menschen berufen sind, genommen. – Er meinte, daß es, um zu kämpfen und zu siegen, genügend sei, sich im dichterischen Geist einen Helden zu schaffen und ihn im Buch oder auf der Bühne figurieren zu lassen, uneingedenk, daß unser Gedanke – wie es der Dichter Garczyński ausgedrückt hat – stets wie die Sehne des Bogens zum Handeln gespannt sein muß:

160 „[…] łaska Twoja na rozum spadła, nie na serce moje […]“. Nie-Boska komedia, op. cit., S. 49.

8. Vorlesung (24. Januar 1843)

1101

Ale nie – któż w uczuciu cel sobie zasadza! Myśli w zapale twórczym jak napięte łuki Tam czyn, tam strzałę pędzą, gdzie sięgnie ich władza!161 Aber nein, wer setzt sich das Ziel im Gefühl! Die Gedanken sinds, die im schaffenden Feuer, wie der gespannte Bogen Dort die Tat, dort den Bolzen treiben, wohin ihre Gewalt reicht.

161 Stefan Garczyński: Wacława dzieje. Poema. In: Poezja Stefana Garczyńskiego. Tom  1. Paryż 1833, S. 108.

9. Vorlesung (31. Januar 1843) Der Adler als Symbol politischer Macht – Einleitung zum dritten Teil des Dramas – Pankracy als Anführer der neuen Epoche – Zwei Gegenspieler: der Held der Vergangenheit und der Held der Zukunft – der falsche Messias – Seine Begegnung mit dem Grafen – Affinitäten zu Danton und Robespierre – Der amerikanische Philosoph Emerson – Der allgemeine Geist – Der Geist als lebendige Tradition, nach der Polen streben soll.

Der Held der „Un-göttliche Komödie“, nachdem er alles verloren und vernichtet hat, was ihn an die Erde fesselte, wirft sich nun in den Kampf; er will für sich die Zukunft erkämpfen. Der Dichter zeigt ihn uns während des Gewitters in den Felsen herumirrend, wo er mit der Natur spricht, in ihren Erscheinungen die Vorherverkündigung seiner Schicksale sucht. Früher widerstand er den bösen Leidenschaften, erlag ihren Verführungen nicht; dies jedoch nur durch die Gnade, d. h. die Verdienste anderer, die Gebete seiner Gattin. Anstatt sich aber zu bessern, innerlich zu ändern, betrat er wieder die Wege des Irrtums und fällt jetzt erst in die Netze des Bösen; er ließ sich vom Satan des Hochmuts verlocken, der ihm in Gestalt des schwarzen Adlers mit dem Geschwirre der Schwingen, ähnlich dem Pfeifen von tausend Kugeln in der Schlacht, erscheint. Der Adler ist das Sinnbild der politischen Macht; er nimmt ihn für die Vorherverkündigung seines Ruhmes und seiner Macht, er beschließt in sich, nach der Gewalt zu ringen, im Herrschen über andere, im Niedertreten der Menschen Freude zu suchen. ORZEŁ Nie ustępuj, nie ustąp nigdy – a wrogi twe, podłe wrogi twe pójdą w pył. – MĄŻ Żegnam cię wśród skał, pomiędzy którymi znikasz – bądź co bądź, fałsz czy prawda, zwycięstwo czy zaguba, uwierzę tobie, posłanniku chwały. – Przeszłości, bądź mi ku pomocy – a jeśli duch twój wrócił do łona Boga, niechaj się znów oderwie, wstąpi we mnie, stanie się myślą, siłą i czynem. – (S. 55–56) DER ADLER Weiche nicht, weiche nie! Und deine Feinde, deine erbärmlichen Feinde sollen zu Staub werden. DER MANN Lebe wohl zwischen den Felsen, unter welchen du verschwindest! Bist du Wahn oder Wahrheit, Sieg oder Vernichtung, gleich viel, ich will dir glauben, Bote des Ruhmes. Vergangenheit, stehe mir bei! Ist aber dein Geist in den Schoß Gottes wiedergekehrt, so winde er sich los, trete in mich, werde Gedanke, Kraft und Tat.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_084

9. Vorlesung (31. Januar 1843)

1103

Im Namen der Vergangenheit also das Schwert gegen die Zukunft ziehend, wirft er in diesem Augenblick mit dem Fuß eine Viper in den Abgrund. In dieser sieht er die Erhebung des Volkes, die schon von Ferne schallt. Nach der Anrede des Adlers richtet er nun seine Worte zur Viper: Idź, podły gadzie – jako strąciłem ciebie i nie ma żalu po tobie w naturze, tak oni wszyscy stoczą się w dół i po nich żalu nie będzie – sławy nie zostanie – żadna chmura się nie odwróci w żegludze, by spojrzeć za sobą na tylu synów ziemi, ginących pospołu. – Oni naprzód – ja potem. Błękicie niezmierzony, ty ziemię obwijasz – ziemia niemowlęciem, co zgrzyta i płacze – ale ty nie drżysz, nie słuchasz jej, ty płyniesz w nieskończoność swoją. – Matko naturo, bądź mi zdrowa – idę się na człowieka przetworzyć, walczyć idę z bracią moją. (S. 56) Geh, elendes Gewürm! So wie ich dich niedergetreten und kein Zeichen der Trauer deinetwegen in der Natur erscheint, so werden auch sie alle in den Abgrund gehen und keine Betrübnis über sie wird bleiben, kein Ruhm ihnen nachhallen; keine Wolke wird sich in ihrem Lauf abwenden, um auf so viele zusammen umkommende Erdensöhne hinzublicken. Sie alle zuerst, ich nachher. Du, unermeßliche Bläue des Himmels, umgibst die Erde. Die Erde ist wie ein Kind, das da weint und knirscht. Du aber erzitterst nicht, du hörst sie nicht, du schwimmst in deine Unendlichkeit. Lebe wohl, Mutter Natur! Ich gehe, mich in einen Menschen umzuwandeln, ich gehe, mit meinen Brüdern zu kämpfen.

Wir übergehen hier die Szene der Beratung des Grafen und des Taufpatens mit dem Arzt über das schon von der Blindheit getroffene Kind, eine Szene, welche an jene erinnert, in welcher die Lady Macbeth nach dem begangenen Verbrechen im Traum herumgeht und die Hände vom Blut des Gemahls rein waschen will. Sie bekommt einen besonderen Charakter der Gräßlichkeit durch die Einführung des Arztes, welcher über das moralische Leiden nur wie ein Mann der Kunst urteilt. Während der Arzt Shakespeares die Quelle der Krankheit errät und aufrichtig gesteht, in menschlicher Hand finde sich kein Heilmittel dafür, legt der Dichter in der bei weitem grausigen Szene der „Ungöttliche Komödie“ das Brandmaal der Schande auf die Medizin unserer Tage, als auf eine Wissenschaft, die sich nicht einmal die Mühe gibt, den Quellen des moralischen Leidens der Menschen und der Gesellschaft nachzuforschen, die alles durch Nerven und Muskeln erklären will und mit der technischen Benennung der Krankheit endet. Während der geblendete Knabe aussagt, was ihm vor den Augen der Seele schwebt, der Vater die Vorsehung befragt, wann und

1104

Teil III

wodurch dieses Kind eine solche Strafe verdient hat; während er mit Schmerz und Verzweiflung ringt und Gott fragt, warum sein Kind diese Strafe auferlegt bekam, fügt der Arzt, nachdem er gesehen, daß die Augenlider gesund, das Weiße im Auge schön rein und alle Muskeln und Teile in Ordnung sind, ruhig hinzu: „Vielleicht sind Sie neugierig, den Namen der Krankheit zu wissen? […] sie heißt griechisch amaurosis.“ („Może Pan ciekawy nazwiska tej choroby? […] Zowie się po grecku, amaurosis.“ – S. 59). Nur ein Wesen erscheint hier mit noch nicht verfälschtem, nicht ertötetem Gefühle, die Amme des Kranken, welche im Gebet zu der allerheiligsten Jungfrau von Tschenstochau sagt: „Nimm mir die Augen und gib sie ihm!“ („weź mi oczy i daj jemu.“ – S. 63) Es ist eine einfache Landfrau inmitten dieser für erhaben gehaltenen Gesellschaft, welche die überlieferten Gefühle des Volkes atmet. Selten trifft man etwas Durchgreifenderes, etwas Innigeres als die in den Worten des Vaters ausgedrückten Gedanken, die er beim Abschiednehmen vom Sohn, bei diesem Zerreißen des letzten Ringes, durch welchen jener Mensch noch an seiner Familie, noch an der Erde hing, spricht: Niech moje błogosławieństwo spoczywa na tobie – nic ci więcej dać nie mogę, ni szczęściá, ni światła, ni sławy – a dobija godzina, w której będę musiał walczyć, działać z kilkoma ludźmi przeciwko wielu ludziom. – Gdzie się ty podziejesz, sam jeden i wśród stu przepaści, ślepy, bezsilny, dziecię i poeto zarazem, biedny śpiewaku bez słuchaczy, żyjący duszą za obrębami ziemi, a ciałem przykuty do ziemi – o ty nieszczęśliwy, najnieszczęśliwszy z aniołów, o ty mój synu? – (S. 67) Möge mein Segen über dir ruhen! Nichts mehr kann ich dir geben, weder Glück, noch Licht, noch Ehre, und es schlägt die Stunde, wo ich kämpfen, wo ich mit einer Hand voll Menschen gegen viele Menschen werde wirken müssen. Was wird aus dir werden? Verwaist, blind, kraftlos, allein zwischen tausend Abgründen, ein Kind und Dichter zugleich, armer Sänger ohne Zuhörer, mit der Seele außer den Schranken der Erde lebend und doch durch den Leib an die Erde gekettet. O du unglücklicher, unglücklichster der Engel, o du mein Sohn!

Hiermit schließt der zweite Teil des Dramas. Der Dichter versetzt uns nun in eine andere Welt. Zwischen dem zweiten und dritten Akt ist ein Zeitraum verflossen, unbekannt wie groß; es sind Ereignisse vorgefallen, die wir nur mutmaßen können. Die alte Gesellschaft mit ihren Gewohnheiten, Gesetzen und Vorurteilen ist schon vernichtet; wir finden uns mitten in der neuen Gesellschaft; wir sollen die endliche Entscheidung des Kampfes erblicken, den Triumph der Sieger, das Verderben der Besiegten. Der Verfasser fängt nach seiner Weise mit einer Einleitung an.

9. Vorlesung (31. Januar 1843)

1105

Do pieśni – do pieśni! Kto ją zacznie, kto jej dokończy? – Dajcie mi przeszłość zbrojną w stal, powiewną rycerskimi pióry. – Gotyckie wieże wywołam przed oczy wasze – rzucę cień katedr świętych na głowy wam. – Ale to nie to – tego już nigdy nie będzie. Ktokolwiek jesteś, powiedz mi, w co wierzysz – łatwiej byś życia się pozbył, niż wiarę jaką wynalazł, wzbudził wiarę w sobie. Wstydźcie się, wstydźcie wszyscy mali i wielcy– a mimo was mimo żeście mierni i nędzni, bez serca i mózgu, świat dąży ku swoim celom, rwie za sobą, pędzi przed się, bawi się z wami, przerzuca, odrzuca – walcem świat się toczy, pary znikają i powstają, wnet zapadają, bo ślisko – bo krwi dużo – krew wszędzie – krwi dużo, powiadam wam. – Czy widzisz owe tłumy, stojące u bram miasta wśród wzgórzów i sadzonych topoli – namioty rozbite – zastawione deski, długie, okryte mięsiwem i napojami, podparte pniami, drągami? – Kubek lata z rąk do rąk – a gdzie ust się dotknie, tam głos się wydobędzie, groźba, przysięga lub przeklęstwo – On lata, zawraca, krąży, tańcuje, zawsze pełny, brzęcząc, błyszcząc, wśród tysiąców. – Niechaj żyje kielich pijaństwa i pociechy! – Czy widzicie, jak oni czekają niecierpliwie – szemrzą między sobą, do wrzasków się gotują – wszyscy nędzni, ze znojem na czole, z rozczuchranymi włosy, w łachmanach, z spiekłymi twarzami, z dłoniami pomarszczonymi od trudu – ci trzymają kosy, owi potrząsają młotami, heblami – patrz– ten wysoki trzyma topór spuszczony – a tamten stemplem żelaznym nad głową powija; dalej w bok pod wierzbą chłopię małe wisznię do ust kładzie, a długie szydło w prawej ręce ściska. […] Teraz szum wielki powstał w zgromadzeniu – czy to radość czy rozpacz? – Kto rozpozna, jakie uczucie w głosach tysiąców? – Ten, który nadszedł, wstąpił na stół, wskoczył na krzesło i panuje nad nimi, mówi do nich. – Głos jego przeciągły, ostry, wyraźny – każde słowo rozeznasz, zrozumiesz– ruchy jego powolne, łatwe, wtórują słowom, jak muzyka pieśni – czoło wysokie, przestronne, włosa jednego na czaszce nie masz, wszystkie wypadły, strącone myślami – skóra przyschła do czaszki, do liców, żółtawo się wcina pomiędzy koście i muszkuły – a od skroni broda. czarna wieńcem twarz opasuje – nigdy krwi, nigdy zmiennej barwy na licach – oczy niewzruszone, wlepione w słuchaczy – chwili jednej zwątpienia, pomieszania nie dojrzeć; a kiedy ramię wzniesie, wyciągnie. wytęży ponad nimi, schylają głowy, zda się, że wnet uklękną przed tym błogosławieństwem wielkiego rozumu – nie serca – precz z sercem, z przesądami, a niech żyje słowo pociechy i mordu! – To ich wściekłość, ich kochanie, to władzca ich dusz i zapału – on obiecuje im chleb i zarobek: – Krzyki się wzbiły, rozciągnęły, pękły po wszystkich stronach – „Niech żyje Pankracy!“ (S. 69–73) Auf zum Lied, auf zum Lied! Wer wird es anfangen, wer beenden? Gebt mir die Vergangenheit, in Stahl gerüstet, geziert mit den Federbüschen der Ritter. – Die gotischen Türme will ich euch vor die Augen zaubern, den Schatten der heiligen Dome euch auf die Häupter werfen. Dies ist es jedoch nicht, dies wird es schon nimmermehr sein.

1106

Teil III Wer du auch bist, sage mir, woran glaubst du? Und doch könntest du eher das Leben lassen als einen Glauben erfinden, einen Glauben in dir wecken. Schämt euch, schämt euch alle, ihr Kleinen wie Großen; denn trotz euch, ungeachtet ihr mittelmäßig und erbärmlich, ohne Herz und Hirn seid, eilet dennoch die Welt zu ihrem Ziel. Sie reißt euch mit fort, treibt euch vor sich her, spielt mit euch, wirft euch herum, verstößt euch. Die Welt kreist ihren Tanz fort, die Paare verschwinden, sinken plötzlich, denn es ist glatt, es fließt viel Blut – Blut überall – ich sage euch, viel Blut. Bemerkst du jene an den Toren der Stadt zwischen Hügeln und gepflanzten Pappeln stehenden Haufen? Die Zelte sind aufgeschlagen, die Bretter gelegt, lange Bretter, bedeckt mit Fleisch und Getränken, gestützt mit Blöcken und Stangen. Der Pokal geht von Hand zu Hand; wo er aber die Lippen berührt, bricht ein Laut, eine Drohung, ein Schwur oder Fluch hervor. Er aber eilt, kehrt wieder, kreist, tanzt, immer voll, klingend, funkelnd unter Tausenden. Es lebe der Kelch des Trunkes und Jubels! Bemerkt ihr, wie sie ungeduldig harren, unter einander murren, sich zum Schreien vorbereiten? Alle sind sie elend, mit Schweiß an der Stirn, verwildertem Haar, in Lumpen gehüllt, mit verbrannten Gesichtern, mit Händen, von der Arbeit gehärtet. Diese halten Sensen, jene drohen mit Hammern, Hobeln; siehe, dieser Hochgewachsene hält ein gesenktes Beil, jener schwingt den eisernen Ladestock über den Köpfen der andern. Da an der Seite unter der Weide steckt ein nicht großer Junge Kirschen in den Mund und hält in der rechten Hand eine lange Schusterahle. […] Jetzt entsteht ungeheures Geräusch in der Versammlung. Ist es Freude, ist es Verzweiflung? Wer erkennt, welches Gefühl es ist in den Stimmen der Tausende? Der, welcher ankam, tritt auf den Tisch, springt in den Sessel, herrscht über sie und spricht zu ihnen. Seine Stimme ist gedehnt, scharf, deutlich. Du unterscheidest, begreifst jedes Wort. Seine Bewegungen sind langsam, leicht; sie begleiten die Worte wie Musik das Lied. Seine Stirn ist hoch, breit, kahl; kein einziges Haar aus dem Schädel; alle sind sie ausgefallen, verjagt von den Gedanken. Die Haut ist ihm an den Schädel getrocknet, an den Wangen schmiegt sie sich gelblich zwischen Knochen und Muskeln ein, und von den Schläfen an umringt kranzförmig der schwarze Bart das Gesicht; nie wird man Blut, nie eine veränderte Färbung desselben gewahr. Seine Augen sind unbeweglich auf die Zuhörer geheftet; nicht ein Augenblick des Zweifels, der Verwirrung ist an ihm bemerkbar; sobald er aber den Arm erhebt, ihn ausstreckt, über sie hin ausspannt, neigen sich die Köpfe; es scheint, als würden sie bald niederknien vor dieser Segnung der großen Vernunft – nicht des Herzens. Nieder mit dem Herzen, mit den Vorurteilen; es lebe aber das Wort des Jubels und des Mordes! Das ist nun ihr Wahn, ihre Liebe, das ist der Lenker ihrer Seelen und ihrer Begeisterung. Er verspricht ihnen Brot und Verdienst. Ein Geschrei hat sich erhoben, verbreitet, nach allen Seiten hin ausgelassen: „Es lebe Pankracy!“

Ehe wir bei dieser Szene verweilen, ist es noch erforderlich, das Verfehlte in den vorhergegangenen zu zeigen. Hierbei kann es nicht unsere Absicht sein, auf die Abwägung der Einzelheiten in Betreff der Kunst uns einzulassen; nur das Ganze des Werkes umfassend, wollen wir die Fehler gegen die Moral aufweisen.

9. Vorlesung (31. Januar 1843)

1107

So ist z. B. unter anderen der Charakter jener Gattin, welche die Vergangenheit vorstellen soll, falsch gedacht; sie ist eine gute, sanfte, religiöse Frau, die deshalb leidet, weil sie, wie der Verfasser sagt, keinen Geist der Poesie besitzt, weil sie sich nicht zu der Höhe der Gedanken ihres Gemahls emporschwingen kann, und wird ein Opfer dieser für sie unpassenden Stellung. Eine solche Erscheinung kann nicht vorkommen in der Welt. Die Romanschreiber können sich wohl Charaktere von Personen schaffen, die entweder durchaus gut oder durchweg böse sind; Gott ist jedoch nicht so grausam. Zuweilen benimmt er freilich den Menschen die Kraft zu handeln, läßt ihnen aber immer die Mittel, sich zu heben, sich zu bessern; ein guter, aufrichtiger, seine Niedrigkeit fühlender Mensch tritt selbst schon hierdurch eine Stufe höher und hat die Kraft, sich noch weiter zu erheben. Die Niedrigkeit ist immer nur freiwillig; der Mensch verhärtet sich gegen das Höhere, kündigt ihm den Krieg an, will es zu seinem Niveau herabziehen, und das gerade erklärt uns jene Hartnäckigkeit, mit welcher die Vergangenheit sich der Zukunft entgegensetzt. In der zuletztangeführten Szene hat der auftretende Führer der Menge, das Haupt der sich neu bildenden Gesellschaft einige Züge, die vortrefflich aufgefaßt sind. Der Dichter hat in ihm alle die Merkmale der negativen Bestrebungen in den europäischen Revolutionen, in den Reformen, die im Gehirn der Philosophen ausgebrütet worden sind, vereinigt. Sein Gesicht selbst entspricht schon diesem Charakter. Die breite Stirn, der kahle Kopf, der kalte und sichere Blick, das jeder Rührung unzugängliche Antlitz erinnern uns an die Bildnisse der meisten Führer in den Zeiten des Terrorismus. Alles ist hier treffend gewählt, selbst bis auf den Namen. Pankracy bedeutet im Griechischen eine Sammlung oder eine Gesamtheit der materiellen Kräfte. Das Wort Kratia (κρατία) hat in allen aus dem Griechischen stammenden Wörtern immer die Bedeutung der politischen, der äußern Macht, so wie das Wort energeia (ἐνέργεια) die innere Kraft bedeutet. Daher auch Aristokratie, Demokratie. Also nicht ohne Ursache nannte der Verfasser seinen Helden Pankracy. Sehen wir nun, für was dieser ideale Führer der neuen Epoche seine Brüder und Untergebenen hält. Er spricht zu sich selbst: PANKRACY Pięćdziesięciu hulało tu przed chwilą i za każdym słowem moim krzyczało: –„Vivat“ – czy choć jeden zrozumiał myśli moje? – pojął koniec drogi, u początku której hałasuje? Ach! – servile imitatorum pecus.162 (S. 79) 162 Paraphrasierung der Horaz-Verse: „O imitatores, servum pecus, ut mihi saepe / Bilem, saepe iocum vestri movere tumultus!“ – in: Epistolarum liber I, epistola XIX. „O Du Sklavengeschlecht, Nachahmer, wie habt ihr mir oft schon / Galle, schon oft auch Lachen erregt mit eurem Gelärme!“

1108

Teil III Einige Fünfzig lärmten hier vor einer Weile und schrien „Vivat“ nach jedem meiner Worte. Hat aber nur einer meine Gedanken verstanden? Hat er das Ende des Weges begriffen, an dessen Anfang er lärmt? O servile imitatorum pecus!

Diesem Gewalthaber gegenüber bietet noch ein einziger Nebenbuhler aus dem Schoß der alten Gesellschaft, der Held des Gedichts, der Graf Heinrich, die Stirn. Umringt von den Überresten seiner Kaste, mit einer Hand voll ihm treuer Landleute verteidigt er den letzten Platz der Vergangenheit in einem befestigten Schloss, das der Dichter nach dem Süden Polens in jenes Gebiet verlegt, wo die Kämpfe zwischen Asien und Europa, den Polen und den Türken ausgefochten wurden, wo man einst die berühmten Wälle der Heiligen Dreieinigkeit erhob. Auf diesem Platz soll nun der Kampf entschieden, der Sieg vollbracht werden. Der neue Führer, der falsche Messias, Pankracy, begehrt jedoch nach einer Zusammenkunft mit seinem Gegner; er schickt einen Vertrauten an ihn ab, um ein geheimes Zwiegespräch ihn bittend. Der mit dieser Sendung beauftragte getaufte Jude fürchtet für sich selbst, und ein anwesender junger Freund, Leonard, läßt Mißtrauen blicken. PRZECHRZTA A jak mnie każe zamknąć lub obije? – PANKRACY To będziesz męczennikiem za wolność ludu. – […] LEONARD Ty nas zdradzasz. – PANKRACY Jak zwrotka u pieśni, tak zdrada u końca każdej mowy twojej – nie krzycz, bo gdyby nas kto podsłuchał … LEONARD Tu szpiegów nie ma, a potem cóż?… PANKRACY Nic – tylko pięć kul w twoich piersiach za to, żeś śmiał głos podnieść o ton jeden wyżej w mojej przytomności. – (przystępuje do niego) – Wierz mi – daj sobie pokój. – LEONARD Uniosłem się, przyznaję – ale nie boję się kary. – Jeśli śmierć moja za przykład służyć może, sprawie naszej hartu i powagi dodać, rozkaż. – PANKRACY Jesteś żywy, pełen nadziei i wierzysz głęboko – najszczęśliwszy z ludzi, nie chcę pozbawiać cię życia. (S. 80, 82–83) DER GETAUFTE Und läßt er mich nun einsperren oder durchhauen?

9. Vorlesung (31. Januar 1843)

1109

PANKRACY So wirst du ein Märtyrer für die Freiheit des Volkes. […] LEONARD Du verrätst uns! PANKRACY Wie der Reim im Lied, so ist Verrat am Ende jeder deiner Reden. Sprich nicht so laut, denn hätte uns jemand gehört … LEONARD Hier gibt es keine Spione, und was wäre auch dann? PANKRACY Nichts – nur fünf Kugeln in deine Brust, weil du es gewagt, in meiner Gegenwart deine Stimme einen Ton höher zu erheben. LEONARD Ich habe mich vergessen, ich gestehe es, fürchte aber die Strafe nicht. Kann mein Tod als Beispiel dienen, kann er unserer Sache Bestand und Ansehen geben, so befiehl. PANKRACY Du bist jung, voller Hoffnung und glaubst innig; Du glücklichster der Menschen, ich will dich nicht des Lebens berauben.

Zu den am besten aufgefaßten Charakterzügen dieses nach falschen Grundsätzen handelnden Mannes gehört der, daß er selbst nicht den Glauben und die Hoffnung hat, die er anderen aufdrängt, so daß, obgleich er seinen jugendlichen Schüler einen Eiferer, Schwärmer schilt, er ihn dennoch dieser schätzbaren Eigenschaften wegen am Leben erhält. Bald werden sich die beiden Gegner, die Repräsentanten zweier verschiedenen Ordnungen, zweier Welten – derjenigen, die schon vergeht, und derjenigen, die nach dem Verständnis des Dichters eintreten soll – einander begegnen. Pankracy, nachdem er allein geblieben, denkt hierüber folgendermaßen nach: Dlaczegóż mnie, wodzowi tysiąców, ten jeden człowiek na zawadzie stoi? – Siły jego małe w porównaniu z moimi – kilkaset chłopów, ślepo wierzących jego słowu, przywiązanych miłością swojskich zwierząt … To nędza, to zero. – Czemuż tak pragnę go widzieć. omamić? – Czyż duch mój napotkał równego sobie i na chwilę się zatrzymał? – Ostatnia to zapora dla mnie na tych równinach – trza ją obalić, a potem  … Myśli moja, czyż nie zdołasz łudzić siebie jako drugich łudzisz – wstydź się, przecię ty znasz swój cel; ty jesteś myślą – panią ludu – w tobie zeszła się wola i potęga wszystkich – i co zbrodnią dla innych, to chwałą dla ciebie. – Ludziom podłym, nieznanym nadałaś imiona – ludziom bez czucia wiarę nadałaś – świat na podobieństwo swoje – świat nowy utworzyłaś naokoło siebie – a sama błąkasz się i nie wiesz, czym jesteś. – Nie, nie, nie – ty jesteś wielką! – (S. 67–68) Warum steht mir, dem Führer von Tausenden, dieser eine Mensch im Wege? Seine Kräfte sind gering in Vergleich mit den meinigen – einige Hundert

1110

Teil III Bauern, die seinem Wort blind glauben, ihm mit der Liebe der Haustiere zugetan sind  … Das ist ja eine Erbärmlichkeit, eine Null. Warum begehre ich denn so, ihn zu sehen, ihn zu betören? Hat etwa mein Geist einem mir Ebenbürtigen begegnet und eine Zeit lang stillgestanden? Es ist dies die letzte Schranke für mich auf diesen Ebenen; sie muß niedergeworfen werden. Aber was dann?… O du mein Gedanke, wirst du denn nicht im Stande sein, dich selbst zu narren, wie du andere narrst? Schäme dich, du kennst ja dein Ziel, du bist ja der Gedanke, der Gebieter des Volkes, in dir hat sich der Wille und die Kraft aller vereinigt, und das, was für andere ein Verbrechen wäre, ist Ehre für dich. Niederträchtigen, ungekannten Menschen hast du Namen gegeben, Leuten ohne Gefühl hast du einen Glauben gemacht; Du hast die Welt nach deinem Vorbild, eine neue Welt hast du um dich herum geschaffen, und du selbst irrst umher und weißt nicht, was du bist. – Nicht doch, nicht doch, du bist groß.

Dieses Selbstgespräch ist wunderschön, das schönste vielleicht nach Hamlets Monolog, und insbesondere voller Wahrheit. Wenn wir uns erinnern, so hat jeder der Männer, die große Umwälzungen in der Welt vornahmen, bloß durch eine blinde Notwendigkeit dazu getrieben, sich immer mit seinen eignen Zweifeln herumgeschlagen. Cromwell bemühte sich stets, seine Zweifel zu verheimlichen, konnte aber seinen inneren Unfrieden nicht beherrschen; darum begehrte er auch so häufig, den König Karl bei dessen Lebzeiten zu sehen, und als er ihn hatte hinrichten lassen, besuchte er öfters das Grab, um sein totes Antlitz zu schauen. Danton, wie bekannt, redete sich selbst öfters auf eine Schauder erregende Weise an. Es findet sich auch irgendwo in Denkbüchern, daß Robespierre in den Augenblicken des größten Wohlergehens deshalb sehr litt, weil seine Köchin nie an die Wirklichkeit, besonders aber an den Bestand dieser Macht glauben wollte. Diese Leute, von der Vorsehung einzig zum Zerstören benutzt, trugen in sich selbst den beißenden Wurm, der ihnen ihr trauriges Ende verkündete und sogar vorzufühlen gab. Pankracys Charakter vereinigt alle diese Charaktere in sich, er ruft uns Cromwell, Danton, Robespierre ins Gedächtnis zurück; nur ist er überschätzt und falsch aus dem Grunde, weil ihn der Verfasser einzig und allein mit der Vernunftskraft ausgestattet hat. Die Vernunft allein reicht nie aus, die Menschen zu unterjochen, die Menge hinzureißen. Bemerkenswert ist nur, daß der polnische Dichter einem niedrigen, nichts aufzubauen vermögenden Menschen die größte Vernunft zuerkannte. Es stimmt dieses, wie sich jeder daran erinnern kann, mit dem System der polnischen Philosophie163 überein, und gerade jetzt ersehen wir aus einem in London wieder gedruckten Werk, das eben zu uns gelangt ist und welches durchzublättern wir kaum die Zeit gehabt haben, daß in weiten 163 Józef Maria Hoene-Wroński; vgl. 39. Vorlesung (Teil II).

9. Vorlesung (31. Januar 1843)

1111

Fernen sich ein denkender Mensch gefunden hat, welcher, mit diesem Systeme nicht bekannt, dennoch mit ihm gänzlich übereingekommen, auf dieselben Ideen geraten ist. Dieser Verfasser ist der Amerikaner Emerson.164 Sein Werk werden wir öfters anführen, weil sich darin Abschnitte befinden, welche absichtlich zur Erklärung der polnischen Philosophen und Dichter bestimmt zu sein scheinen. Nach Emerson ist ebenfalls der Geist die Urquelle, der Herd eines jeglichen Tuns. Dieser Geist wirkt entweder durch die Vernunft oder durch das Gefühl, er erzeugt die Philosophie oder die Dichtung; aber in den niederen Sphären seines Wirkens offenbart er sich zuerst durch den Verstand, durch die fast tierische Verständigkeit, Klugheit, dann durch die Spekulation oder die Vernunft erhebt sich in der Folge zur Dichtung und erscheint endlich als Weisheit. Auf der Stufenleiter der Menschheit stehen daher am niedrigsten die verständigen oder klugen Leute, höher die vernünftigen, noch höher die Dichter, am höchsten die wahren Weisen. Emerson glaubt, daß, wie in der Natur die ein- und ausstrahlenden Fluida, z. B. der Magnetismus, das Licht, die Elektrizität niedrigere, nur mehr subtil gewordene Kräfte sind, ebenso auch die Intelligenz (Vernunft) eine solche niedrige Kraft ist, nur erhoben zur dritten oder vierten Potenz. Der menschliche Geist kann die Erde, den Dampf, die Elektrizität, die Intelligenz zu seinen Werkzeugen brauchen, sie zu seinen Zwecken verwenden; nur muß er sich dem zu nähern trachten, was der Philosoph den allgemeinen Geist nennt, nämlich Gott. Der Charakter des Helden der Vergangenheit, des Grafen Henryk, wenngleich vorzüglich, ungemein treffend gezeichnet, hat doch auch eine falsche Seite. Er ist ein Pole, denkt aber, fühlt und handelt wie ein Ausländer. Als polnischer Edelmann tritt er in der Sache des Christentums, des Katholizismus als in der Sache des Adels auf, begreift aber diese Sache nur nach ausländischen Mustern, wie er sie in den ausländischen Büchern gelesen. Stets kreisen ihm die gotischen Türme, die Dome des Mittelalters, die Schlösser und Taten der irrenden Ritter im Kopf herum; in diesem allen findet sich nichts Slavisches, 164 Ralph Waldo Emerson (1803–1882). Zur Rezeption und Übersetzung der Schriften von Emerson durch Mickiewicz vgl. Leon Płoszewski in: Adam Mickiewicz: Dzieła, tom XIII: Pisma różne. Warszawa 1955, S. 233–247; ebenso – Marta Skwara: Mickiewicz i Emerson: prelekcje paryskie. In: Pamiętnik Literacki 1994, z. 3, S. 104–122, die den Forschungsstand referiert und alle Zitierungen aus den Schriften von Emerson in Teil III (Vorlesungen 9, 11, 14 und 19) und Teil IV (Vorlesungen 3, 10, 12, 13) überprüft. Beide Forscher betonen, daß es sich bei den Zitierungen in der Regel um freie Übersetzungen und Zitat-Paraphrasen handelt. Über Emerson vgl. ferner – die Monographie von Wiesław Gromczyński: Codzienność i absolut w filozofii Ralpha Waldo Emersona. Łódź 1992; Dieter Schulz: Amerikanischer Transzendentalismus. Ralph Waldo Emerson, Henry David Thoreau, Margaret Fuller. Damstadt 1997.

1112

Teil III

nichts Polnisches, ja sogar nichts, was wesentlich katholisch wäre. Der christliche Geist hat bei seinem Fortgang diese herrlichen Denkmäler zurück gelassen, jedoch nur als Wegweiser für die kommenden Geschlechter, nicht aber als Zufluchtsstätten eines ewigen Stillstandes. Dieser Geist hat nicht in Büchern die strategischen Vorschriften der Kreuzzüge, die Pläne der Kathedralkirchen gefunden, sondern, stets die Eingebung von oben herab schöpfend, schuf er die Institutionen und die Wunder der Baukunst. Darf er nun nicht weiter gehen, soll er schon für immer an die einmal von ihm hervorgebrachten Gestalten in den sozialen und steinernen Gebäuden angeschmiedet bleiben? So zu denken, hieße den Buchstaben für den Geist, die Form für den Inhalt selbst nehmen. Unser Verfasser begreift das Christentum, den Katholizismus so, wie ihn Chateaubriand begriffen hat, der, wie bekannt, nur die poetische Seite des Christentums auffaßte; er besang die kahlen Köpfe der Einsiedler, die tausendfarbigen Lichter der bogenartigen Fenster, die Mauern der Kathedralen, die Rüstungen der Ritter und wollte, ein malerisches Bild der Religion aufstellend, ihr die Gemüter des Publikums zuwenden. Diese irrige Weise ist in Lächerlichkeit ausgeartet, die Verteidigung der heiligen Sache ist jetzt ein Gegenstand der Tagesblätter, Broschüren und kleinen Traktätlein geworden. Nicht so begriffen den Katholizismus jene alten Polen, welche der Graf häufig als seine Ahnen anruft. Die Slaven haben ihre Kathedralen noch nicht gebaut, sie haben ihre Kreuzzüge noch nicht gemacht; lächerlich wäre es, ihnen diese Verlassenschaft des Mittelalters aufzudrängen. Es sind dies freilich großartige und schöne Denkmäler; die Völker des Westens haben gerechte Ursache, stolz auf sie zu sein und eine Aufmunterung in ihnen zu sehen. Frankreich z. B. könnte aus der Geschichte der Kreuzzüge das Maß seiner moralischen Macht entnehmen, die Deutschen sollten ihre Kathedrale zu Köln wohl würdigen und sich vor diesem Denkmal der Vergangenheit demütigen; Polen aber hat auf nichts anderes hinzublicken, als auf die in seinem Schoß lebende Überlieferung, auf den Geist. Der polnische Geist ist – wie Graf Henryk von sich aussagt – „der Sohn von hundert Geschlechtern, der letzte Erbe ihrer Gedanken und ihres Heldenmutes, ihrer Tugenden und Fehler“ („syn stu pokoleń, ostatni dziedzic waszych myśli i dzielności, waszych cnót i błędów.“ – S. 119).

10. Vorlesung (7. Februar 1843) Das Treffen beider Anführer – Der Monolog des Grafen vor dem Treffen – Das Gespräch während des Treffens – Origineller und großartiger Einfall, diese beiden sich feindlichen Systeme in die Personen zweier Männer einzuverleiben – Die Macht auf der Seite des Pankracy – Die Wahrheit steht über beiden.

Wir führen hier fast die ganze letzte Szene des dritten Teiles von dem Drama an, wo die beiden Häupter der sich gegenüber stehenden Parteien, diese beiden Verkörperungen aller Fragen, welche in der Philosophie, Literatur und Gesellschaft sich heftig bekämpfen, zusammenkommen. Wir sahen früher, daß die neue Welt, wie sie sich der Dichter geschaffen, d. h. die bloß durch Begierden, Vernunft und Übermacht sich bewegende, keinen anderen Hemmschuh als die äußere Gewalt anerkennende Welt, schon die alte Gesellschaft in ihrer kleinen Zahl überfallen und zusammengepreßt hat. Ihr letzter Verteidiger, der letzte Graf, der letzte polnische Große widersteht noch. Das Haupt der neuen Ordnung, Pankracy oder der Allgewaltige, begehrt den Grafen Henyrk zu sprechen. Er kann sich in seinem Kopf nicht zusammenreimen, wie es möglich ist, daß es noch einen Menschen auf Erden gibt, der ihn nicht fürchtet und welcher mit gutem Glauben an den alten Überlieferungen zu halten scheint. Diesen außerordentlichen Mann möchte er gern in der Nähe kennen lernen; er möchte ihn gern überzeugen, für seinen Glauben gewinnen. Man sieht offenbar, daß er keine Ruhe haben wird, so lange eine lebende Seele bleibt, die sich seinen Vorstellungen widersetzt. Der Graf, die Ankunft seines furchtbaren Gegners erwartend, spricht mit sich selbst. Das Theater stellt einen langen Alkoven im alten Schloss vor, dessen Wände mit Ritter- und Frauengemälden geziert sind. Es ist Nacht. MĄŻ Niegdyś o tej samej porze, wśród grożących niebezpieczeństw i podobnych myśli, Brutusowi ukazał się geniusz Cezara. – I ja dziś czekam na podobne widzenie. – Za chwilę stanie przede mną człowiek bez imienia, bez przodków, bez anioła stróża. – co wydobył się z nicości i zacznie może nową epokę, jeśli go w tył nie odrzucę nazad, nie strącę do nicości. – Ojcowie moi, natchnijcie mnie tym, co was panami świata uczyniło – wszystkie lwie serca wasze dajcie mi do piersi – powaga skroni waszych niechaj się zleje na czoło moje. – Wiara w Chrystusa i Kościół Jego, ślepa, nieubłagana, wrząca, natchnienie dzieł waszych na ziemi, nadzieja chwały nieśmiertelnej w niebie, niechaj zstąpi na mnie, a wrogów będę mordował i palił, ja, syn stu pokoleń, ostatni dziedzic waszych myśli i dzielności, waszych cnót i błędów. Bije dwunasta. Teraz gotów jestem. –

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_085

1114

Teil III Wstaje. SŁUGA ZBROJNY wchodząc Jw. panie, człowiek, który miał się stawić, przybył i czeka. – MĄŻ Niech wejdzie. (S. 118–119) DER MANN Einst zu ähnlicher Stunde, mitten unter drohenden Gefahren und ähnlichen Gedanken erschien dem Brutus der Genius Cäsars. Auch ich harre heute auf ein solches Gesicht. Nach einer Weile wird vor mir ein Mensch stehen, der keinen Namen, keine Vorfahren, keinen Schutzengel hat, der sich aus dem Staub emporgeschwungen und vielleicht eine neue Epoche beginnen wird, stoße ich ihn nicht zurück, schleudere ich ihn nicht zurück in das Nichts. O meine Väter, begeistert mich mit dem, was euch zu Herren der Welt gemacht! Alle eure Löwenherzen gebt mir in die Brust! Das würdevolle Ansehen Eurer Haupter möge sich auf meiner Stirn verbreiten! Der Glaube an Christus und seine Kirche, der blinde, unerbittliche, heiße Glaube, die Begeisterung eurer Taten auf Erden, die Hoffnung des unsterblichen Ruhmes im Himmel möge sich über mich ergießen, und meine Feinde werde ich morden und sengen, ich, der Sohn von hundert Geschlechtern, der letzte Erbe eurer Gedanken und eures Heldenmutes, eurer Tugenden und Fehler. Nun bin ich fertig. DER DIENER Gnädiger Herr, der Mensch, welcher sich stellen sollte, ist gekommen und wartet. DER MANN Er trete herein! (Diener tritt ab)

Diese Szene erinnert an eine geschichtliche Begebenheit. Karl XII., nachdem er den polnischen König August, den Sachsen, vom Throne gestürzt, erdreistete sich, zu ihm nach Dresden zu kommen, ohne jemanden bei sich zu haben, ja selbst ohne Wissen seines Gefolges. August verwunderte sich sehr, seinen Todfeind bei sich zu erblicken, erlaubte ihm jedoch, in Frieden zu ziehen. PANKRACY wchodząc Witam hrabiego Henryka. – To słowo „hrabia“ dziwnie brzmi w gardle moim. – Siada, zrzuca płaszcz i czapkę wolności i wlepia oczy w kolumnę, na której herb wisi. MĄŻ Dzięki ci, żeś zaufał domowi mojemu – starym zwyczajem piję zdrowie twoje. – (Bierze puchar, pije i podaje Pankracemu) Gościu, w ręce twoje! – PANKRACY Jeśli się nie mylę, te godła czerwone i błękitne zowią się herbem w języku umarłych. – Coraz mniej takich znaczków na powierzchni ziemi.

10. Vorlesung (7. Februar 1843)

1115

Pije. MĄŻ Za pomocą Bożą wkrótce tysiące ich ujrzysz. – PANKRACY puchar od ust odejmując Otóż mi stara szlachta – zawsze pewna swego – dumna, uporczywa, kwitnąca nadzieją, a bez grosza, bez oręża, bez żołnierzy. – Odgrażająca się, jak umarły w bajce powoźnikowi u furtki cmentarza – wierząca lub udająca, że wierzy w Boga – bo w siebie trudno wierzyć. – Ale pokażcie mi pioruny na waszą obronę zesłane i pułki aniołów spuszczone z niebios. – MĄŻ Śmiej się z własnych słów. – Ateizm to stara formuła – a spodziewałem się czegoś nowego po tobie. – PANKRACY Śmiej się z własnych słów. – Ja mam wiarę silniejszą, ogromniejszą od twojej. – Jęk przez rozpacz i boleść wydarty tysiącom tysiąców – głód rzemieślników – nędza włościan – hańba ich żon i córek – poniżenie ludzkości ujarzmionej przesądem i wahaniem się, i bydlęcym przyzwyczajeniem – oto wiara moja – a Bóg mój na dzisiaj – to myśl moja – to potęga moja – która chleb i cześć im rozda na wieki. – Pije i rzuca kubek. MĄŻ Ja położyłem siłę moją w Bogu, który ojcom moim panowanie nadał. – PANKRACY A całe życie byłeś diabła igrzyskiem. – Zresztą zostawiam tę rozprawę teologom, jeśli jaki pedant tego rzemiosła żyje dotąd w całej okolicy – do rzeczy – do rzeczy! MĄŻ Czegóż więc żądasz ode mnie, zbawco narodów, obywatelu – boże? PANKRACY Przyszedłem tu, bo chciałem cię poznać – po wtóre ocalić. – MĄŻ Wdzięcznym za pierwsze – drugie zdaj na szablę moją. – PANKRACY Szabla twoja – szkło, Bóg twój – mara. – Potępionyś głosem tysiąców – opasanyś ramionami tysiąców – kilka morgów ziemi wam zostało, co ledwo na wasze groby wystarczy – dwudziestu dni bronić się nie możecie. – Gdzie wasze działa, rynsztunki, żywność – a wreszcie, gdzie męstwo ? … Gdybym był tobą, wiem, co bym uczynił. – MĄŻ Słucham – patrz, jakem cierpliwy. – PANKRACY Ja więc, hr. Henryk, rzekłbym do Pankracego: „Zgoda – rozpuszczam mój hufiec, mój hufiec jedyny – nie idę na odsiecz Świętej Trójcy – a za to zostaję przy, moim imieniu i dobrach, których całość warujesz mi słowem.“ – Wiele masz lat, hrabio? MĄŻ Trzydzieści sześć, Obywatelu. PANKRACY Jeszcze piętnaście lat najwięcej – bo tacy ludzie niedługo żyją – twój syn bliższy grobu niż młodości – jeden wyjątek ogromowi nie szkodzi. – Bądź

1116

Teil III więc sobie ostatnim hrabią na tych równinach – panuj do śmierci w domu naddziadów – każ malować ich obrazy i rżnąć herby – a o tych nędzarzach nie myśl już więcej. – Niech się wyrok ludu spełni nad nikczemnikami. – Nalewa sobie drugi puchar. Zdrowie twoje, ostatni hrabio! MĄŻ Obrażasz mnie każdym słowem, zda się, próbujesz, czy zdołasz w niewolnika obrócić na dzień tryumfu swego. – Przestań, bo ja ci się odwdzięczyć nie mogę. – Opatrzność mojego słowa cię strzeże. – PANKRACY Honor święty, honor rycerski wystąpił na scenę – zwiędły to łachman w sztandarze ludzkości. – O! znam ciebie, przenikam ciebie – pełnyś życia, a łączysz się z umierającymi, bo chcesz się oszukać, bo chcesz wierzyć jeszcze w kasty, w kości prababek, w słowo „ojczyzna“ i tam dalej – ale w głębi ducha sam wiesz, że braci twojej należy się kara, a po karze niepamięć. – MĄŻ Tobie zaś i twoim cóż inszego? – PANKRACY Zwycięstwo i życie. – Jedno tylko prawo uznaję i przed nim kark schylam – tym prawem świat bieży w coraz wyższe kręgi – ono jest zgubą waszą i woła teraz przez moje usta: „Zgrzybiali, robaczywi, pełni napoju i jadła, ustąpcie młodym, zgłodniałym i silnym.“ Ale – ja pragnę cię wyratować – ciebie jednego. – MĄŻ Bodajbyś zginął marnie za tę litość twoją. – Ja także znam świat twój i ciebie – patrzałem wśród cieniów nocy na pląsy motłochu, po karkach którego wspinasz się do góry – widziałem wszystkie stare zbrodnie świata ubrane w szaty świeże, nowym kołujące tańcem – ale ich koniec ten sam, co przed tysiącami lat – rozpusta, złoto i krew. – A ciebie tam nie było – nie raczyłeś zstąpić pomiędzy dzieci twoje – bo w głębi ducha ty pogardzasz nimi – kilka chwil jeszcze, a jeśli rozum cię nie odbieży, ty będziesz pogardzał sam sobą. Nie dręcz mnie więcej. Siada pod herbem swoim PANKRACY Świat mój jeszcze nie rozparł się w polu – zgoda – nie wyrósł na olbrzyma – łaknie dotąd chleba i wygód – ale przyjdą czasy  … – (wstaje, idzie ku Mężowi opiera się na herbowym filarze) – Ale przyjdą czasy, w których on zrozumie siebie i powie o sobie: „Jestem“ – a nie będzie drugiego głosu na świecie, co by mógł także odpowiedzieć: „Jestem.“ – MĄŻ Cóż dalej? PANKRACY Willkommen, Graf Henryk! Dieses Wort „Graf“ klingt sonderbar in meiner Kehle. (Setzt sich, wirft den Mantel und die Freiheitsmütze ab und heftet seinen Blick auf eine Säule, an welcher ein Wappen hängt) DER MANN Dank dir für das meinem Hause geschenkte Zutrauen. Nach altem Brauch trinke ich auf deine Gesundheit, Gast. (Nimmt den Kelch, trinkt und reicht ihn dem Pankracy)

10. Vorlesung (7. Februar 1843)

1117

PANKRACY Irre ich nicht, so heißen diese blauen und roten Sinnbilder da in der Sprache der Toten ein Wappen. Immer weniger sieht man dieser Bilderchen auf der Erdoberfläche. (Trinkt) DER MANN Mit Gottes Hilfe wirst du deren bald Tausende erblicken. PANKRACY Das nenne ich mir den alten Adel, immer des Seinigen sicher, immer stolz, hartnäckig, blühend in Hoffnung und doch ohne Groschen, ohne Waffen, ohne Soldaten. Immer drohend, wie der Verstorbene in der Fabel dem Fahrmann beim Pförtchen des Friedhofes, glaubend oder sich stellend, als glaube er an Gott; denn an sich selbst zu glauben, ist unmöglich. Aber so zeigt mir doch die zu eurem Beistand gesendeten Blitze und die vom Himmel gestiegenen Legionen der Engel. DER MANN Lache über deine eigenen Worte. Der Atheismus ist eine alte Formel, ich erwarte aber etwas Neues von dir. PANKRACY Lache über deine eigenen Worte. Ich habe einen kräftigeren, kolossalen Glauben denn der deinige ist. Das Stöhnen der Tausende und abermals Tausende, durch den Schmerz erpreßt, der Handwerker Hunger, der Landleute Elend, die Schande ihrer Gattinnen und Töchter, die Erniedrigung der Menschheit, unterjocht durch Vorurteil, Wanken und tierische Dressur: dies ist mein Glaube! Mein Gott für heute, dies ist mein Gedanke, meine Macht, die ihnen Brot und Ehre in Ewigkeit austeilen wird. (Trinkt und wirft den Becher weg) DER MANN Meine Kraft habe ich auf Gott gesetzt, der meinen Vätern die Herrschaft zugeteilt. PANKRACY Und warst doch dein Leben lang des Teufels Spielball, übrigens überlasse ich diese Abhandlung den Theologen, wenn sich noch irgendein Pedant dieses Handwerks in der ganzen Gegend vorfindet, zur Sache, zur Sache. DER MANN Was begehrst du also von mir, du Erlöser der Völker, du Bürger Gott? PANKRACY Fürs erste kam ich, dich kennen zu lernen, fürs zweite, dich zu retten. DER MANN Dank dir für das Erste, das Zweite überlaß meinem Schwert. PANKRACY Dein Schwert, dein Gott, ein Gespenst. Verdammt bist du von der Stimme von Tausenden, umschlossen von den Armen von Tausenden; einige Morgen Landes sind euch geblieben, die kaum für eure Gräber ausreichen, nicht zwanzig Tage könnt ihr euch wehren. Wo sind eure Geschütze, Kriegsrüstungen, Nahrungsmittel und endlich, wo ist der Mut?… Wäre ich an deiner Stelle, ich wüßte, was ich täte. DER MANN Ich höre; siehe wie geduldig ich bin. PANKRACY Ich also, der Graf Henryk, würde zu Pankracy sagen: „So sei es, ich entlasse meine Schar, meine einzige Schar; ich ziehe nicht zum Entsatz der ‚Heiligen

1118

Teil III Dreieinigkeit‘, dafür aber bleibe ich im Besitz meines Namens und meiner Güter, deren Erhaltung du mir mit deinem Wort garantierst“. Wie alt bist du, Graf? DER MANN Sechsunddreißig, Bürger. PANKRACY Höchstens noch fünfzehn Jahre; denn solche Leute leben nicht lange, dein Sohn ist aber dem Grab näher als der Jugend; eine Ausnahme schadet dem ungeheuren Ganzen nicht. Bleibe also für dich der letzte Graf auf diesen Ebenen, herrsche bis zum Tode im Hause der Vorfahren, laß ihre Bilder malen und ihre Wappen schneiden. Aber an jeneElenden denke nicht mehr. Das Urteil des Volkes erfülle sich an diesem Erbärmlichen. (Schenkt sich den zweiten Becher ein). Auf dein Wohl letzter Graf. DER MANN Du beleidigst mich mit jedem Wort, es scheint als versuchtest du, ob dirs nicht gelingen möchte, mich in einen Sklaven zum Tag deines Triumphs umzuwandeln. Höre auf, denn ich kann dir nicht entgelten. Die Vorsicht meines gegebenen Wortes schirmt dich. PANKRACY Die heilige Ehre, die ritterliche Ehre ist auf dem Wahlplatz erschienen, – ha! Das ist ein verfaulter Lumpen in der Standarte der Menschheit. O! Ich kenne dich, ich verfluche dich, du bist voll Lebens und vereinigst dich mit den Sterbenden, weil du noch glauben willst an die Kasten, an die Knochen der Urgroßmütter, an das Wort Vaterland und so weiter; aber in der Tiefe des Geistes weißt du selbst, daß deinen Brüdern die Strafe gebührt, und nach der Strafe das Vergessen. DER MANN Dir und den deinigen aber etwas anderes? PANKRACY Der Sieg und das Leben; nur ein Gesetzt erkenne ich an und neige meinen Nacken vor ihm, durch dies Gesetz geht die Welt in immer höhere Kreise; es ist euer Verderben und ruft jetzt durch meinen Mund: Gealterte, Wurmstichige, der Speisen und des Trunks satte, macht Platz den Jüngeren, Hungrigen und Starken! Aber ich will dich retten, dich allein. DER MANN Möchtest du elend umkommen für dieses Mitleid mit mir? Ich kenne auch deine Welt und dich; in den Schatten der Nacht sah ich auf die Tänze der Menge, auf deren Nacken du in die Höhe steigst; ich sah alle die alten Missetaten in frische Gewänder gehüllt, in neuem Tanz wirbelnd; aber ihr Ende ist dasselbe, wie vor den Tausenden von Jahren: Unzucht, Gold und Blut! Du aber warst nicht da, du geruhtest nicht zwischen deine Kinder zu treten, denn du verachtest sie im Geiste; noch einige Augenblicke und, verläßt dich die Vernunft nicht, so wirst du dich selber bald verachten. Quäle mich nicht weiter! (Setzt sich unter seinem Wappen nieder) PANKRACY Meine Welt hat sich noch nicht im Raum verbreitet, das ist wahr, noch ist sie nicht zum Riesen erwachsen; bis jetzt begehrt sie noch Brot und Bequemlichkeit; es werden aber Zeiten kommen, Zeiten werden kommen, wo sie sich

10. Vorlesung (7. Februar 1843)

1119

begreifen und von von sich aussagen wird: „Ich bin“; und keine zweite Stimme wird es in der Welt geben, die auch antworten könnte: „Ich bin!“ DER MANN Was weiter?

Hier zeichnet Pankracy ein herrliches Bild des künftigen Glückes, nach den allgemein bekannten pantheistischen Ideen. Diejenigen wenigstens, welche die Schriften der Furieristen und St.-Simonisten gelesen, können sich diesen gebenedeieten Zustand denken, welchen Pankracy träumt. Er endet damit, daß die ganze Erde eine einzige blühende Stadt, ein einziges glückliches Haus, eine einzige Werkstatt des Reichtums und der Industrie ausmachen wird. MĄŻ Słowa twoje kłamią – ale twarz twoja niewzruszona, blada, udać nie umie natchnienia. – PANKRACY Nie przerywaj, bo są ludzie, którzy na klęczkach mnie o takie słowa prosili, a ja im tych słów skąpiłem. Tam spoczywa Bóg, któremu już śmierci nie będzie.– Bóg pracą i męką czasów odarty z zasłon – zdobyty na niebie przez własne dzieci, które niegdyś porozrzucał na ziemi, a one teraz przejrzały i dostały prawdy – Bóg ludzkości objawił się im. MĄŻ A nam przed wiekami – ludzkość przezeń już zbawiona. – PANKRACY Niechże się cieszy takim zbawieniem – nędzą dwóch tysięcy lat, upływających od Jego śmierci na krzyżu. – MĄŻ Widziałem ten krzyż, bluźnierco, w starym, starym Rzymie – u stóp Jego leżały gruzy potężniejszych sił niż twoje – sto bogów, twemu podobnych, walało się w pyle, głowy skaleczonej podnieść nie śmiało ku Niemu – a On stał na wysokościach, święte ramiona wyciągał na wschód i na zachód, czoło święte maczał w promieniach słońca – znać było, że jest Panem świata. – PANKRACY Stara powiastka – pusta jak chrzęst twego herbu. – (Uderza o tarczę.) Ale ja dawniej czytałem twe myśli. – Jeśli więc umiesz sięgać w nieskończoność, jeśli kochasz prawdę i szukałeś jej szczerze, jeśliś człowiekiem na wzór ludzkości, nie na podobieństwo mamczynych piosneczek, słuchaj, nie odrzucaj tej chwili zbawienia. Krwi, którą oba wylejem dzisiaj, jutro śladu nie będzie – ostatni raz ci mówię – jeśliś tym, czym wydawałeś się niegdyś, wstań, porzuć dom i chodź za mną. – MĄŻ Tyś młodszym bratem szatana.– (wstaje i przechadza się wzdłuż) – Daremne marzenia – kto ich dopełni? – Adam skonał na pustyni – my nie wrócim do raju. PANKRACY (na stronie) Zagiąłem palec popod serce jego – trafiłem do nerwu poezji.

1120

Teil III MĄŻ Postęp, szczęście rodu ludzkiego – i ja kiedyś wierzyłem – ot! macie, weźcie głowę moją, byleby … Stało się.– Przed stoma laty, przed dwoma wiekami polubowna ugoda mogła jeszcze … Ale teraz, wiem – teraz trza mordować się nawzajem – bo teraz im tylko chodzi o zmianę plemienia. – PANKRACY Biada zwyciężonym – nie wahaj się – powtórz raz tylko „biada“ – i zwyciężaj z nami. – MĄŻ Czyś zbadał wszystkie manowce Przeznaczenia – czy pod kształtem widomym stanęło ono u wejścia namiotu twojego w nocy i olbrzymią dłonią błogosławiło tobie – lub w dzień czyś słyszał głos jego o południu. kiedy wszyscy spali w skwarze, a tyś jeden rozmyślał – że mi tak pewno grozisz zwycięstwem, człowiecze z gliny, jako ja, niewolniku pierwszej lepszej kuli, pierwszego lepszego cięcia? PANKRACY Nie łudź się marną nadzieją – bo nie draśnie mnie ołów, nie tknie się żelazo, dopóki jeden z was opiera się mojemu dziełu, a co później nastąpi, to już wam nic z tego.– (Zegar bije). Czas szydzi z nas obu. – Jeśliś znudzony życiem, przynajmniej ocal syna swego. MĄŻ Dusza jego czysta, już ocalona w niebie – a na ziemi los ojca go czeka. – (Spuszcza głowę między dłonie i staje). PANKRACY Odrzuciłeś więc? (Chwila milczenia). Milczysz – dumasz – dobrze – niechaj ten duma, co stoi nad grobem. MĄŻ Z dala od tajemnic, które za krańcami twoich myśli odbywają się teraz w głębi ducha mojego! – Świat cielska do ciebie należy – tucz go jadłem, oblewaj posoką i winem – ale dalej nie zachodź i precz, precz ode mnie! – PANKRACY Sługo jednej myśli i kształtów jej, pedancie rycerzu, poeto, hańba tobie – patrz na mnie! – Myśli i kształty są woskiem palców moich. – MĄŻ Darmo, ty mnie nie zrozumiesz nigdy – bo każden z ojców twoich pogrzeban z motłochem pospołu, jako rzecz martwa, nie jako człowiek z siłą i duchem. (Wyciąga rękę ku obrazom). Spojrzyj na te postacie – myśl ojczyzny, domu, rodziny, myśl, nieprzyjaciółka twoja, na ich czołach wypisana zmarszczkami – a co w nich było i przeszło, dzisiaj we mnie żyje – Ale ty, człowiecze, powiedz mi, gdzie jest ziemia twoja? – Wieczorem namiot twój rozbijasz na gruzach cudzego donu, o wschodzie go zwijasz i koczujesz dalej – dotąd nie znalazłeś ogniska swego i nie znajdziesz, dopóki stu ludzi zechce powtórzyć za mną: „Chwała ojcom naszym!“ DER MANN Deine Worte lügen; aber dein bleiches, unbewegliches Gesicht vermag nicht einmal die Begeisterung auszudrücken.

10. Vorlesung (7. Februar 1843)

1121

PANKRACY Unterbrich mich nicht, denn es gibt Leute, die mich auf den Knien um solche Worte gebeten haben, ich aber geizte mit diesen Worten bei ihnen. Dort ruht Gott, dem schon kein Tod drohen wird! Der Gott, durch die Mühen und Qualen der Zeiten seiner Verhüllungen beraubt, bezwungen im Himmel durch die eigenen Kinder, die er einst in der Welt herumgeworfen, die ihn aber jetzt durchschaut und sich die Wahrheit herabgeholt haben, der Gott der Menschheit hat sich ihnen offenbart. DER MANN Uns aber vor Jahrhunderten; die Menschheit ist schon durch ihn erlöst. PANKRACY So möge sie sich ergötzen an einer solchen Erlösung, an dem Elend der zweitausend Jahre, die seit seinem Tod auf dem Kreuz dahingingen. DER MANN Ich sah dies Kreuz, Lästerer, im alten, alten Rom; an seinen Füssen lagen die Trümmer gewaltiger Kräfte als die deinigen. Hundert Götter wie die deinen wälzten sich im Staub, nicht wagend, das zertreten Haupt gegen ihn zu erheben; er aber stand auf den Höhen, die heiligen Arme nach Ost und West ausstreckend, die heilige Stirn in den Strahlen der Sonne badend; es war zu sehen, daß er Herr der Welt sei. PANKRACY Eine alte Mär, eitel wie das Rasseln deines Wappens. (Er schlägt an den Schild) Ich aber las früher in deinen Gedanken. Vermagst du also in die Unendlichkeit hinüber zu reichen, liebst du die Wahrheit und hast du sie aufrichtig gesucht, bist du ein Mann nach dem Muster der Menschheit, nicht nach dem Vorbild der Ammenmärchen, so höre, verwirf nicht diesen Augenblick des Heils; vom Blut, das wir heute vergießen werden, wird morgen keine Spur bleiben; zum letzten Mal sage ich dir, bist du, wofür du dich einst ausgabst, so stehe auf, verlaß dies Haus und folge mir. DER MANN Des Satans jüngster Bruder bist du! (Steht auf und ergeht sich längst der Stube) Eitle Träume, wer wird sie erfüllen? Adam endete in der Wüste, wir kehren nicht wieder ins Paradies. PANKRACY Ans Herz habe ich ihn gegeriffen, an den Nerv der Poesie habe ich getroffen. DER MANN An den Fortschritt, das Glück des Menschengeschlechts habe auch ich einst geglaubt. Hier ist mein Haupt, nehmt es hin, wenn nur … Es ist geschehen, vor hundert Jahren, vor zwei Jahrhunderten konnte noch ein beidseitiger friedlicher Vertrag … Aber jetzt, ich weiß es, jetzt muß man sich gegenseitig morden; denn heute gilt es ihnen bloß um den Wechsel des Stammes. PANKRACY Wehe den Besiegten, wanke nicht; wiederhole nur einmal „wehe“ und siege mit uns! DER MANN Hast du erforscht alle Pfade der Bestimmung, ist sie dir erschienen des Nachts in sichtbarer Gestalt am Eingang deines Zeltes und hat dich gesegnet mit der riesigen Hand, oder vernahmst du ihren Ruf am Tage, als alle in der

1122

Teil III Mittagshitze schliefen und du nur allein nachdachtest: daß du mir so sicher mit dem Siege drohst; Mensch aus Lehm geschaffen wie ich, Sklave der ersten besten Kugel, des ersten besten Hiebs? PANKRACY Tröste dich nicht mir eitler Hoffnung; denn so lange einer von euch meinem Werk widersteht, ritzt das Blei mich nicht, berührt das Eisen mich nicht; was aber später geschehen wird, daraus erwächst euch schon nichts. (Die Stunde schlägt) Die Zeit spottet über uns beide; bist du lebensmüde, so rette wenigstens Deinen Sohn! DER MANN Seine Seele ist rein, sie ist schon gerettet im Himmel; auf Erden aber erwartet ihn das Schicksal des Vaters. PANKRACY Du hast also verworfen?…. Du schweigst, denkst nach; nun gut, möge der denken, der am Grabe steht. DER MANN Bleib fern von den Geheimnissen, die außer den Kreisen deiner Gedanken jetzt in der Tiefe meines Geistes vorgehen. Die Welt des Fleisches gehört dir; mäste sie mit Speisen, tränke sie mit Wein und Blut, greife aber nicht weiter und fort, fort von mir! PANKRACY Diener eines Gedankens und seiner Gestalten; du Ritter-Pedant, Dichter, Schande dir! Siehe auf mich! Die Gedanken und Formen sind Wachs in meinen Fingern, DER MANN Umsonst, du wirst mich nie begreifen; denn jeder deiner Väter ist begraben worden, zusammen mit dem Haufen als tote Sache, nicht als ein Mann von Geist und Kraft. (Streckt die Hand gegen die Gemälde aus.) Sieh auf diese Gestalten. Der Gedanke des Vaterlandes, des häuslichen Herdes, der Familie, der dir feindliche Gedanke ist aufgezeichnet in jeder ihrer Stirnfalte; was aber in ihnen gelebt und durchgewährt, lebt heute in mir. Du aber Mensch, sage mir, wo ist dein Haus? Wo ist dein Land? Des Abends schlägst du dein Zelt auf, auf den Trümmern eines fremden Hauses, des Morgens brichst du es ab und ziehst weiter; bis jetzt hast du noch keinen Herd gefunden und wirst ihn nicht finden, so lange hundert Leute mit mir wiederholen wollen: „Ehre sei unseren Vätern.“

Pankracy, nachdem er einen höhnenden Blick auf die Bilder geworfen, beginnt in satirischer Weise den Lebenswandel und die ruchlosen Taten eines jeden der Gemalten zu erzählen, er macht die skandalöse Chronik vieler Familien: bei dem letzten Gemälde hält er sich mit fröhlichem Gedanken auf und fügt hinzu: […] Lubię tego w zielonym kaftanie – pił i polował z bracią szlachtą, a chłopów wysyłał, by z psami gonili jelenie. – Głupstwo i niedola kraju całego – oto rozum i moc wasza. – Ale dzień sądu bliski i w tym dniu obiecuję wam, że nie zapomnę o żadnym z was, o żadnym z ojców waszych, o żadnej chwale waszej. –

10. Vorlesung (7. Februar 1843)

1123

MĄŻ Mylisz się, mieszczański synu. – Ani ty, ani żaden z twoich by nie żył, gdyby ich nie wykarmiła łaska, nie obroniła potęga ojców moich. – Oni wam wśród głodu rozdawali zboże, wśród zarazy stawiali szpitale – a kiedyście z trzody zwierząt wyrośli na niemowlęta, oni wam postawili świątynie i szkoły – podczas wojny tylko zostawiali doma, bo wiedzieli, żeście nie do pola bitwy. – Słowa twoje łamią się na ich chwale, jak dawniej strzały pohańców na ich świętych pancerzach – one ich popiołów nie wzruszą nawet – one zaginą jak skowyczenia psa wściekłego, co bieży i pieni się, aż skona gdzie na drodze. – A teraz czas już tobie wyniść z domu mego. – Gościu, wolno puszczam ciebie. – PANKRACY Do widzenia na okopach Świętej Trójcy. – A kiedy wam kul zabraknie i prochu … MĄŻ To się zbliżym na długość szabel naszych. – Do widzenia. – PANKRACY Dwa orły z nas – ale gniazdo twoje strzaskane piorunem. (Bierze płaszcz i czapkę wolności.) Przechodząc próg ten, rzucam nań przeklęstwo należne starości. – I ciebie, i syna twego poświęcam zniszczeniu. – MĄŻ Hej, Jakubie! ( Jakub wchodzi) Odprowadzić tego człowieka aż do ostatnich czat moich na wzgórzu. (S. 119–133) PANKRACY […] Diesen da im grünen Rock, den mag ich gern; er trank und jagte mit seinen Brüdern, den Edelleuten und sandte die Bauern aus, um mit den Hunden Hirsche zu jagen. Die Dummheit und das Mißgeschick des Landes, das ist eure Vernunft und Kraft. Aber der Tag des Gerichts ist nahe, und an diesem Tag verspreche ich euch, keinen von euch, keinen von euren Vätern, keine eurer Ehren zu vergessen. DER MANN Du irrst dich, bürgerlicher Sohn; weder du, noch einer von den deinigen würde leben, hätte sie nicht aufgefüttert die Gnade, nicht geschirmt die Macht meiner Väter. Sie verteilten Getreide unter euch während der Hungersnot, bauten auch Spitäler während der Pestluft; als ihr aber aus einer Viehherde zu Kindern ausgewachsen wart, baueten sie euch Kirchen und Schulen, nur während des Kriegs ließen sie euch zu Hause, da sie wußten, daß ihr nicht für die Schlachtfelder taugt. Deine Worte zerschellen an ihrem Ruhm, wie einst die Pfeile der Heiden an ihren heiligen Panzern; sie werden nicht einmal ihre Asche aufrühren, sie werden vergehen wie das Gebell eines tollen Hundes, der so lange läuft und schäumt bis er irgendwo am Weg verreckt. Jetzt aber ist’s schon Zeit für dich aus meinem Haus zu gehen, Gast, ich entlasse dich frei. PANKRACY Zum Wiedersehen auf den Wällen der Heiligen Dreieinigkeit. Sobald euch aber Blei und Pulver ausgeht … DER MANN So nähern wir uns auf die Länge unserer Schwerter, auf Wiedersehen.

1124

Teil III PANKRACY Zwei Adler sind wir; dein Nest ist jedoch vom Blitze zersplittert. (Nimmt den Mantel und die Freiheitsmütze) Diese Schwelle übertretend, werfe ich den Fluch auf sie, der dem Alter gebührt. Und dich und deinen Sohn weihe ich dem Verderben. DER MANN He, Jakub! Führt diesen Menschen bis zu meinen letzten Posten auf der Anhöhe.

Erinnern wir uns jetzt dessen, was wir einst gesagt von dem ungemein tragischen Charakter der letzten Epoche der polnischen Geschichte, von den tiefen Qualen jener Männer, die damals an der Spitze der Angelegenheiten des Landes gestanden, und welche die Ersten in Europa berufen waren, die Fragen zu berühren, welche bald die Welt erschüttern sollten.165 Die damaligen polnischen Herren hielten häufig ähnliche Gespräche. Die Fürsten Czartoryski, Andrzej Zamojski, der König Stanisław August sprachen öfters über die politischen und sozialen Angelegenheiten mit den russischen Gesandten, welche letztere auch eine Art Pankrazen waren, dies nur nach ihrer Weise. Der Verfasser der „Un-göttliche Komödie“ gehört zu einer Familie166, die tätigen Anteil an dem allen gehabt; und der nationale Schmerz hat sich durch ihn Luft gemacht, er hat in ihm ein beredtes Organ gefunden. Könnte man wissen, was Sulla und Marius167 mit einander gesprochen, als ein wunderbarer Zufall sie unter ein Dach führte, vielleicht fände sich in ihrem Gespräch mehr denn ein Gedanke der obigen Szene wiederholt; denn derselbe Kampf währt vom Anbeginn der menschlichen Gesellschaft fort, nur ändern die streitenden Parteien Gestalt und Sinnbilder. Pankracy und der Graf stellen uns nicht Pompeius und Cäsar168, sondern vielmehr den Marius und Sulla, Cäsars Vorgänger, dar. Der Graf möchte gern den Sulla nachmachen. Es ist bekannt, wie dieser wunderbare Mensch, den Überlieferungen und Sitten des alten Roms leidenschaftlich ergeben, das Gebäude der Republik von 165 Vgl. Teil II (11. Vorlesung). 166 Dazu gehört nur ein Teil der Familie, der Urgroßvater Michał Hieronim Krasiński (1712–1784), der General der Konföderation zu Bar war, und sein Bruder Adam Stanisław Krasiński (1714–1800), der zu den Anführern der Konföderierten gehörte; Krasińskis Vater dagegen, Wincenty Krasiński (1782–1858), der General unter Napoleon und dann in den Diensten des russischen Zaren stand, stellt eine durchaus ambivalente Gestalt in der polnischen Geschichte dar. Vgl. dazu – Maria Janion: Zygmunt Krasiński. Debiut i dojrzałość. Warszawa 1962. Zbigniew Sudolski: Krasiński. Opowieść biograficzna. Warszawa 1977; Z. Sudolski: Wincenty Krasiński i współcześni. Studia i materiały. Warszawa 2003. 167 Vgl. Plutarch: Große Griechen und Römer. Hrsg. Konrad Ziegler. 6 Bände. Zürich 1954–1965. 168 Vgl. Ernst Baltrusch: Caesar und Pompeius. Darmstadt 2004.

10. Vorlesung (7. Februar 1843)

1125

allen Seiten her untergraben sehend, es unternahm, dieselbe nach echt römischer, heidnischer Art zu retten; er beschloß bei sich, die alte Ordnung der Dinge wieder herzustellen, indem er alles ausrottete, was sich ihr widersetzen könnte. Und in der Tat begann er die in den Annalen der Welt bekannten Metzeleien (Conscriptionen); nachdem er aber die Schilderhebung mit Blut überströmt hatte und damit fertig war, wußte er nicht mehr, was zu tun, wohin die Schicksale des Vaterlandes zu lenken. Als es ihm schon an Gegnern gebrach, legte er das diktatorische Seil in die Hände des Senats nieder, und dem waffenlos einsam Abziehenden wagte niemand einen Vorwurf zu machen; den Beweis der eignen Uneigennützigkeit hatte er abgelegt, zugleich aber auch die Gebrechlichkeit des alten Roms klar gezeigt. Unfehlbar wäre dasselbe geschehen mit dem durch den Grafen vergegenwärtigten Gedanken, hätte er den Sieg davongetragen. Andererseits fühlt Pankracy, dieser schwertumgürtete Robespierre zu Ross, dieser Marius, auch das Mangelhafte und das Unzulängliche seines Systems und daher möchte er alles tun, um nur den Grafen Henryk nach sich ziehen, ihn zu sich verlocken zu können; denn nur in diesem Fall wäre er in seinem Gewissen beruhigt. Diese beiden Systeme, verkörpert in zwei Personen, sich gegenüber zu stellen, ist ein großer und tiefer Gedanke. In der Tat geschieht es auch nie anders; zuvor entscheidet sich alles im Geiste, ehe sich der Sieg auf Erden verwirklicht. Die Gegner haben sich hier vor dem Kreuzen ihrer Schwerter, so zu sagen, im Geiste gemessen und schon ist zu sehen, wie der Kampf im Felde ausfallen wird. Der Graf wird hartnäckig seine Standarte verteidigen, aber Pankracy hat den Fuß in sein Haus gesetzt, sich zurückziehend hat er den Fluch darauf geworfen, bei ihm ist die Kraft, er wird das Übergewichr bekommen. Die Wahrheit jedoch befindet sich in keinem der beiden Lager, sie schwebt über ihnen in der Höhe, und darum wird auch der Sieg keiner Seite zum Vorteil gereichen.

11. Vorlesung (21. Februar 1843) Letzte Szene des polnischen Dramas. Der Kampf. Beschreibung des Schlachtfeldes. Der Angriff und der Tod des Grafen Henryk. Triumph der neuen Leute. Pankracy und Leonhard im Gespräch. Der Tod des Pankracy – Zur Frage des polnischen Messianismus – Die vom Autor falsch dargestellte Judenfrage in Polen – Der Autor begriff nicht den Charakter des polnischen Bauern – Der slavische Stamm, berufen zur Schaffung einer neuen Ordnung in der Geschichte der Menschheit – Ähnlichkeit der „Un-göttlichen Komödie“ mit den „Denkwürdigkeiten“ von Kordecki – Emersons Ansichten.

Es bleibt uns der letzte Teil des Dramas durchzusehen übrig; später werden wir die Eindrücke, welche dies erhabene und schöne Gedicht macht, zusammen darstellen. Wir verließen die kämpfenden Parteien, als sich ihre Führer gesprochen hatten, in Erwartung der entscheidenden Schlacht. Die Szene eröffnet eine beschreibende Einleitung. Der Verfasser zeichnet uns das Feld der Begebenheiten, malt die Aussicht der Gegend, die im gegenwärtigen Zustand der Malerkunst kein Pinsel wiederzugeben im Stande wäre. Es ist dies ein bei weitem ernsteres und breiteres Bild als alle von Jacob van Ruisdael169, düsterer als alle von Salvator Rosa.170 Vor dieser politischen Überflutung, welche sogleich die letzte Zuflucht der Vergangenheit erreichen soll, kommt dem Dichter die Sintflut, welche einst die Erde überströmte, in den Sinn, es erwacht in ihm die Erinnerung an dieselbe. Od baszt Świętej Trójcy do wszystkich szczytów skał, po prawej, po lewej, z tyłu i na przodzie leży mgła śnieżysta, blada, niewzruszona, milcząca, mara oceanu, który niegdyś miał brzegi swoje, gdzie te wierzchołki czarne, ostre, szarpane, i głębokości swoje, gdzie dolina, której nie widać, i słońce, które jeszcze się nie wydobyło. – Na wyspie granitowej, nagiej, stoją wieże zamku, wbite w skałę pracą dawnych ludzi i zrosłe ze skałą jak pierś ludzka z grzbietem u Centaura. – Ponad nimi sztandar się wznosi, najwyższy i sam jeden wśród szarych błękitów. – Powoli śpiące obszary budzić się zaczną – w górze słychać szumy wiatrów – z dołu promienie się cisną – i kra z chmur pędzi po tym morzu z wyziewów. – Wtedy inne głosy, głosy ludzkie, przymieszają się do tej znikomej burzy i niesione na mglistych bałwanach roztrącą się o stopy zamku. – 169 Jacob van Ruisdael (um 1628–1682), niederländischer Landschaftsmaler. 170 Salvator Rosa (1615–1673), italienischer Maler und Dichter.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_086

11. Vorlesung (21. Februar 1843)

1127

Widna przepaść wśród obszarów, co pękły nad nią. – Czarno tam w jej głębi, od głów ludzkich czarno – dolina cała zarzucona głowami ludzkimi, jako dno morza głazami. Słońce ze wzgórzów na skały wstępuje – w złocie unoszą się, w złocie roztapiają się chmury, a im bardziej níkną, tym lepiej słychać wrzaski, tym lepiej dojrzeć można tłumy płynące u dołu. Z gór podniosły się mgły – i konają teraz po nicościach błękitu. – Dolina Świętej Trójcy obsypana światłem migającej broni i lud ciągnie zewsząd do niej, jak do równiny Ostatniego Sądu. (S. 137–139). Von den Türmen der Heiligen Dreieinigkeit bis zu den Gipfeln der Felsen, nach rechts, nach links, von hinten und von vorne liegt ein schneeiger, bleicher, unbewegsamer Nebel, ein Gespenst des Ozeans, der einst seine Ufer gehabt, wo heute das Tal, das nicht zu sehen ist. Auf der nackten Granitinsel stehen die Türme des Schlosses, eingerahmt in den Felsen durch die Mühen vergangener Geschlechter und verwachsen mit dem Felsen, wie die Menschenbrust mit dem Rücken des Zentauren. Über ihnen am höchsten und ganz allein erhebt sich die Standarte in der grauen Himmelsbläue. Allmählich beginnt die schlafende Umgebung zu erwachen! In der Höhe hört man das Brausen der Winde, aus der Tiefe drängen sich die Strahlen, und Brüche der Wolken treiben auf diesem Meer der Dünste. Alsdann mischen sich andere Stimmen diesem vergänglichen Sturm bei, und auf den nebligen Wellen getragen, zerschellen sie an dem Fuße der Festung. Sichtbar wird ein Abgrund inmitten der Räume, die über ihm geborsten. Schwarz ists dort in seiner Tiefe, schwarz von Menschenköpfen. Das ganze Tal ist voll geworfen mit Menschenköpfen, wie der Meeresboden mit Steinen. Die Sonne steigt von den Höhen auf die Felsen; im Gold prangen, im Gold verschwimmen die Wolken; je mehr sie aber schwinden, desto lauter hört man das Schreien, desto deutlicher sieht man die wogenden Menschenmassen. Von den Bergen erheben sich die Nebel und verschwinden jetzt in der nichtigen Bläue des Himmels. Das Tal der Heiligen Dreieinigkeit ist von funkelnden Waffen besät, und das Volk zieht von allen Seiten hin wie in das Tal des Jüngsten Gerichts.

Dies äußere Bild ist düster und großartig. Währenddessen rufen im Schloss die Herren, die Senatoren, die Geistlichkeit und der Adel den Grafen Henryk zu ihrem Oberbefehlshaber aus. Der Erzbischof weiht ihn mit dem Zeichen des

1128

Teil III

Kreuzes, gibt ihm das Schwert, einst gesegnet von der Hand des Heiligen Florian. Der neu ernannte Führer zwingt kraft seines Charakters und seiner Begeisterung alle zum Gehorsam und läßt den Eid leisten, daß sie mit allen Kräften den Glauben und Ruhm der Väter verteidigen, daß sie sich, sollten sie auch vor Hunger und Durst umkommen, nicht von der Schande werden beflecken lassen, daß sie in keine Unterhandlungen mit dem Feind eingehen, von keinem einzigen der Gott gebührenden und ihrer eignen Rechte ablassen werden. Allein indem dies noch geschieht, bemerken wir auch schon die ganze offen auftretende Fäulnis, die sich im Schoß der alten Gesellschaft barg. Der Stolz, der Neid, die Selbstsucht streuen Hader und Mutlosigkeit aus. Zuerst bei der Wahl des Grafen zum Feldherrn beneiden ihn die einen, die anderen verleumden ihn; es werden Stimmen vernommen: (Veto!) – Ich erlaube es nicht. Später nehmen ihn die angesehensten Großen bei Seite, fragen ihn, welche Hoffnungen er habe, gestehen ihre Befürchtungen und, nachdem sie eben geschworen, kämpfend zu fallen, sagen sie, dies Alles wäre gut für den gemeinen Haufen, sie aber, sie müßten untereinander die Sachen klar sehen; sie lenken die Gedanken auf Unterhandlungen. Der Graf, durch nichts wankend gemacht, antwortet dem so ratenden Fürsten, er habe schon den Tod verdient, und läßt ausrufen: wer sich unterstehe von Ergebung zu reden, der solle mit dem Tod bestraft werden; an die verschiedenen Abteilungen der bewaffneten Macht teilt er Befehle aus und geht, seinen Sohn, jenes unglückliche, des Gesichts beraubte Kind, zu sehen. Hier versetzt uns der Dichter wieder in die übernatürliche Welt. Orcio führt den Vater in die unterirdischen Burgverliese, wo Ketten, vermoderte Knochen der früheren Opfer, zerbrochene Werkzeuge der Qualen auf dem Boden verstaubt herumliegen. Dort, erfaßt vom Gesicht aller der Ungerechtigkeiten, die den Untertanen von ihren Herrschern und Großen zugefügt wurden, erzählt er ihm diese grausigen Szenen und, einen Schatten unter den Verbrechern gewahrend, fügt er hinzu: ORCIO To drugi ty jesteś – cały blady – spętany – oni teraz męczą ciebie – słyszę jęki twoje. (S. 154) ORCIO Dies bist du selbst, ein zweites du, ganz bleich, gebunden; sie martern dich jetzt, ich höre deine Seufzer.

Die dem Grafen Unheil verkündende Vorhersage endet ein Stimmenchor in der Ferne:

11. Vorlesung (21. Februar 1843)

1129

CHÓR GŁOSÓW Za to, że nic nie kochał, nic nie czcił prócz siebie, prócz siebie i myśli twych, potępion jesteś – potępion na wieki. (S. 155) STIMMENCHOR Weil du nichts geliebt, weil du nichts geehrt, außer dich selber, dich und deine Gedanken: bist du verdammt, verdammt auf ewig.

Der Graf überwindet sich jedoch selbst, er rafft alle Kräfte zusammen, nimmt das Kind auf die Arme und eilt auf seinen Posten. Schon aber hat im Schloß die Mutlosigkeit überwogen, überall wird gerufen: Brot, Rettung, Verträge; und zwischen dem im Geiste gefallenen Haufen steht auch schon der Bote des Feindes, ein alter Bekannter des Grafen, der Taufvater seines Sohnes, jetzt gerade angekommen mit dem Versprechen der Begnadigung für alle diejenigen, welche sich der Gnade des Pankracy ergeben würden. Der tapfere Führer antwortet allen mit Würde, er wirft den Ältesten ihre Niederträchtigkeit vor; nachdem er eine Waffenabteilung herbeigerufen, befiehlt er ihr auf den Boten weisend: Na cel mi wziąć to czoło zorane zmarszczkami marnej nauki – na cel tę czapkę wolności, drżącą od tchnienia słów moich na tej głowie bez mózgu. (S. 159–160) Nehmt mir aufs Korn diese Stirn, gefurcht mit den Falten der eitelen Gelehrsamkeit, nehmt euch zum Ziel diese Freiheitsmütze, auf dem hirnlosen Schädel zitternd vom Hauch meiner Worte.

Der erschrockene Bote macht sich davon, der Graf geht von einem Soldaten zum anderen und trachtet, sie durch die Erinnerung der schon miteinander überstandenen Gefahren, der erteilten Wohltaten zu rühren, sie durch Freigebigkeit zu gewinnen; nachdem er auf diese Weise die Empörung in der Festung wieder gedämpft hat, befiehlt er dem treuen Diener, eine Abteilung zu nehmen und alle, denen er begegnen würde, auf die Schanzen zu treiben. Banquiers, Grafen, Fürsten usw., damit sie das Schloß verteidigen oder wenigstens mit Ruhm fallen. Der Kampf währt unterdessen immer schrecklicher fort. Den Belagerten gebricht es endlich an Ladungen, von allen Seiten dringen die Stürmenden auf die Wälle. Das unausbleibliche Verderben gewahrend, befiehlt der letzte Repräsentant und letzte Verteidiger des alten Polens (nach den Begriffen des Verfassers), seinen Sohn herbei zu bringen, auf daß er ihn noch einmal umarme. In seinen Armen wird das Kind von einer Kugel getroffen. Er hält ihm die Säbelklinge vor die Lippen und sieht, der Hauch sei zugleich mit dem

1130

Teil III

Leben entflohen. Einige Schritte weiter fällt der treue Diener tötlich verwundet und verscheidet, den Herrn seines Starrsinns wegen verfluchend. Nichts mehr auf Erden besitzend, was er zu verteidigen oder zu hoffen hätte, wirft der unglückliche Held, den ihm nun unnützen Säbel von sich und stürzt sich gleichfalls mit einem Fluch auf den Lippen in den Abgrund. Die neuen Menschen, wie sie der Verfasser nennt, drängen sich haufenweise ins Schloß, sie erobern den letzten Punkt auf Erden. Pankracy erscheint wieder auf der Bühne. Umringt von dem Gefolge der Freunde und Schüler spricht er das Todesurteil über die ihm der Reihe nach vorgeführten Gefangenen. Der Verfasser ahmt hier den Stil der Revolutionstribunale nach. Sobald ein Fürst oder ein Graf nach der Reihenfolge ankommt, fragt Pankracy: „Dein Name?“ und fügt dann hinzu: „zum letzten Male sprachst du ihn aus“ („ostatno raz go wymówiłeś“) oder „gestrichen aus der Liste der Lebenden“ („Wymazane spośród żyjących“ – S. 169). Doch beunruhigt sich dieser Sieger im Augenblicke des völligen Triumphs noch wegen seines Gegners: Gdzie Henryk? – czy kto z was nie widział go żywym lub umarłym? – Wór pełny złota za Henryka – choćby za trupa jego! (S. 170) Wo ist Henryk? Sah ihn nicht jemand von euch, tot oder lebendig? Einen Beutel voll Gold für Henryk, auch nur für seine Leiche!

Endlich bringt ihm der Führer einer Abteilung Nachricht von ihm und erzählt einfach sein Ende folgender Art: […] ku stronie zachodniej szańców zaraz na początku wejścia naszego do fortecy i na trzecim zakręcie bastionu ujrzałem człowieka rannego i stojącego bez broni przy ciele drugiego – kazałem podwoić kroku, by schwytać – ale nim zdążyliśmy, ów człowiek zeszedł trochę niżej, stanął na głazie chwiejącym się i patrzał chwilę obłąkanym wzrokiem – potem wyciągnął ręce jak pływacz, który ma dać nurka, i pchnął się z całej siły naprzód – słyszeliśmy wszyscy odgłos ciała spadającego po urwiskach – a oto szabla znaleziona kilka kroków dalej. – PANKRACY (biorąc szablę) Ślady krwi na rękojeści – poniżej herb jego domu. To pałasz hrabiego Henryka – on jeden spośród was dotrzymał słowa. – Za to chwała jemu, gilotyna wam. (S. 171–171) […] gegen das westliche Ende der Schanzen, gleich beim Anfang unseres Eingangs in die Festung und auf der dritten Krümmung der Bastion erblickte ich einen Menschen, verwundet und ohne Waffen am Leichnam eines zweiten stehend; ich befahl, den Schritt zu verdoppeln, um ihn zu fassen, ehe wir jedoch angelangt waren, trat jener Mann etwas niedriger auf einen schwankenden Felsenstein und blickte eine Weile verstört vor sich hin, dann streckte

11. Vorlesung (21. Februar 1843)

1131

er die Arme aus, wie ein Schwimmer, der untertauchen will, und warf sich mit aller Kraft hinab; wir hörten alle den Wiederschall des an den Felsvorsprüngen anprallenden Körpers, und hier ist der Säbel einige Schritte weiter gefunden. PANKRACY (nimmt den Säbel) Spuren des Blutes auf dem Handgriff; weiter unten das Wappen seines Hauses. Dies ist der Säbel des Grafen Henryk; er allein unter euch hat Wort gehalten. Ehre sei ihm dafür, euch die Guillotine!

Nachdem alle auseinander gegangen, die erhaltenen Aufträge zu vollziehen, und der Hauptanführer mit seinem vertrauten Leonard allein geblieben ist, redet ihn dieser an: LEONARD Po tylu nocach bezsennych powinien byś odpocząć, mistrzu – znać strudzenie ná rysach twoich. PANKRACY Nie czas mi jeszcze zasnąć, dziecię, bo dopiero połowa pracy dojdzie końca swojego z ich ostatnim westchnieniem. – Patrz na te obszary – na te ogromy, które stoją w poprzek między mną a myślą moją – trza zaludnić te puszcze – przedrążyć te skały – połączyć te jeziora – wydzielić grunt każdemu, by we dwójnasób tyle życia się urodziło na tych równinach, ile śmierci teraz na nich leży. – Inaczej dzieło zniszczenia odkupionym nie jest. – (S. 172) LEONHARD Nach so vielen schlaflosen Nachten solltest du ausruhen, Meister; man sieht die Ermüdung in deinen Zügen. PANKRAZ Kind, noch ist für mich nicht die Zeit einzuschlafen; denn erst die Hälfte der Arbeit wird mit ihrem letzten Seufzer erfüllt sein. Sieh auf diese Räume, auf diese unermeßlichen, sie stehen zwischen meinen Gedanken und mir. Diese Wüsten müssen bevölkert, die Felsen durchbrochen, die Seen vereinigt, der Boden unter alle verteilt werden, auf daß zweimal so viel Leben sich auf diesen Ebenen erzeuge, als jetzt Tod auf ihnen liegt. Sonst ist das Werk der Vernichtung nicht wieder gut gemacht (gesühnt).

So sucht dieser Mann, der die Schicksale der kommenden Geschlechter in seiner Hand hält, für sich einen Trost, das Glück, mit welchem er die Welt begaben will, sich nach den Ideen der Fourieristen und Ovenisten vorstellend171; er freut sich, daß er die Welt sattfüttern, einem jeden Menschen ein Stückchen Land zuteilen, ihm Eigentum geben und hierdurch alle seine Bedürfnisse 171 Über Charles Fourier (1772–1837) vgl. die 19. und 22. Vorlesung (Teil III); Robert Owen (1771–1858); Franziska Bechtel: New Harmony. Das Experiment und sein Vermächtnis. Baden-Baden 2014.

1132

Teil III

befriedigen wird. Unwillkürlich spricht aber währenddessen der Freund den Namen Gott aus, er sagt: LEONARD Bóg Wolności sił nam podda. – (S. 172) LEONHARD Gott der Freiheit wird uns Kraft dazu geben.

Dieses Wort verwirrt zum erstenmal den Allgewaltigen, es erschüttert ihn innerlich. PANKRACY Co mówisz o Bogu – ślisko tu od krwi ludzkiej. – Czyjaż to krew? – Za nami dziedzińce zamkowe – sami jesteśmy, a zda mi się, jakoby tu był ktoś trzeci. – LEONARD Chyba to ciało przebite. – PANKRACY Ciało jego powiernika – ciało martwe – ale tu duch czyjś, panuje – a ta czapka – ten sam herb na niej – dalej, patrz, kamień wystający nad przepaścią – na tym miejscu serce jego pękło. – LEONARD Bledniesz, mistrzu. – PANKRACY Czy widzisz tam – wysoko – wysoko? – LEONARD Nad ostrym szczytem widzę chmurę pochyłą, na której dogasają promienie słońca. – PANKRACY Znak straszny pali się na niej. – LEONARD Oprzyj się na mnie – coraz to bardziej rumieniec schodzi ci z twarzy. PANKRACY Milion ludu mnie słuchało – gdzie jest lud mój? LEONARD Słyszysz jego okrzyki – pyta się o ciebie – czeka na ciebie. – Zdejm oczy z tej skały –źrzenica twoja dogorywa na niej. PANKRACY Stoi niewzruszony – trzy gwoździe, trzy gwiazdy na nim – ramiona jak dwie błyskawice. LEONARD Kto – gdzie – zbierz siły! PANKRACY G a l i l a e e , v i c i s t i ! – (stacza się w objeciu Leonarda i kona). [S. 173–175]

11. Vorlesung (21. Februar 1843)

1133

PANKRACY Was sprichst du von Gott? Es ist hier schlüpfrig von Blut, von Menschenblut! Wessen Blut ist das? Hinter uns sind die Schloßplätze, wir sind allein, und doch scheint mir, als wäre hier ein Dritter zugegen. LEONARD Etwa diese durchbohrte Leiche! PANKRACY Der Leichnam seines Vertrauten, ein toter Körper; hier herrscht aber jemandes Geist – und diese Mütze – auf ihr dasselbe Wappen – weiter, sieh den Stein, der über dem Abgrund vorragt! Hier brach sein Herz. LEONARD Du erbleichst, Meister! PANKRACY Siehst du dort? – hoch! hoch! LEONARD Über dem scharfen Felsgipfel sehe ich eine gesenkte Wolke, beleuchtet von der untergehenden Sonne. PANKRACY Ein schreckliches Zeichen brennt auf ihr. LEONARD Lehne dich auf mich, es schwindet dir immer mehr das Blut aus dem Gesicht! PANKRACY Eine Million des Volkes gehorchte mir; wo ist mein Volk? LEONARD Du hörst seine Rufe; es verlangt nach dir, harret deiner. So wende doch die Augen von diesem Felsen, dein Blick erstirbt auf ihm. PANKRACY Er steht unbeweglich; drei Nägel, drei Sterne auf ihm, die Arme wie zwei Blitze. LEONARD Wer? wo? fasse dich! PANKRACY G a l i l ä e r, d u h a s t g e s i e g t ! (Er sinkt in Leonards Armen und stirbt.)

Dieser Schluß des Dramas ist herrlich; wir kennen bis jetzt nichts Gleiches. Die Wahrheit war weder bei dem Grafen, noch bei Pankraz, sie schwebte über ihnen und trat jetzt herunter, um sie beide zu richten. Der Besiegte fiel, sich selbst verfluchend, der Sieger empfand im ersten Augenblick des Triumphes, daß er nur ein Werkzeug der Vernichtung gewesen. Es erschien ihm ein Zeichen am Himmel, ihm nur allein sichtbar, und zur Stunde, als er dies Zeichen begreift, fällt er tot zu Boden nieder, die Worte des römischen Kaisers wiederholend, welcher nach unfruchtbaren Bemühungen, das Christentum zu stürzen, mit den Worten verschied: „Galilaee, vicisti!“ (Galiläer, du hast gesiegt!).172 172 Die letzten Worte des römischen Kaisers Flavius Claudius Iulianus (331–363), auch Iulianus Apostata, der Abtrünige, genannt, weil er sich vom Christentums abwandte

1134

Teil III

Der Triumph des Galiläers ist daher in der Tat das einzige Ziel dieses Dramas. Man klagte den Verfasser von zwei verschiedenen Seiten an. Die einen warfen ihm vor, er habe einen ungeheuren Haß gegen alle Begriffe des Fortschrittes ausatmen wollen, er habe bis zur Verzerrung die Sprache der Neuerer nachgeahmt, dagegen aber den Charakter des ihnen gesetzten Widerstandes verschönert und erhoben. Die anderen empörten sich über das, was in seinem Helden die Religion zu schmälern scheint.173 In der Tat aber ist dies Werk, diese Dichtung nichts mehr, als das Aufseufzen eines genialen Mannes, welcher die ganze Schwierigkeit, das Ungeheure der sozialen Aufgaben einsieht, aber noch keine Kraft in sich fühlt, sich noch nicht genügend erhoben hat, um ihre Lösung gewahr zu werden. Wir sagten schon, dies in Rede stehende Drama sei dem Inhalte nach durchgängig volkstümlich. Der Verfasser hat hier alle Punkte des polnischen Messianismus berührt, er hat das Volk Israel, das slavische Volk, den Adel und die Geistlichkeit auf die Szene gebracht; nur hat er jeden dieser Typen gekrümmt oder verfälscht. Was zuvörderst die Israeliten betrifft, so hat er, man kann sagen, eine Schuld gegen dies Volk auf sich geladen, indem er sie darstellt, als gelte es ihnen bloß darum, den Adel, die Bauern und das Christentum zu verderben. Er hat in den Mund der Repräsentanten Israels Worte gelegt, die nur Haß, Verachtung und Verrat gegen die Christen atmen. Möglich ist, daß sich noch verblendende Eiferer in einzelnen jüdischen Sekten finden, die in Finsternis und Vorurteil versunken, ohne Zweifel so reden, wie er sie in seinem Chor der Neugetauften dargestellt hat; ungerecht jedoch wäre es, das gesammte Volk Israel so zu beurteilen.174 Es ziemt sich sogar nicht, die Urteile Gottes der Art auszulegen; denn und die heidnische Religion aktualisierte. Er starb infolge einer schweren Verwundung im Krieg gegen die Perser. Bei Theoderet von Cyrus heißt es: „Jener aber soll, so wird erzählt, als er die Wunde empfangen, sogleich seine Hand mit Blut gefüllt, dieses in die Luft geschleudert und ausgerufen haben: „Du hast gesiegt, o Galiläer!“ So habe er mit einem und demselben Worte seine Besiegung eingestanden und zugleich eine Gotteslästerung ausgestoßen. So verblendet war er.“ – Des Bischofs Theodoret von Cyrus Kirchengeschichte. Aus dem Griechischen übersetzt und mit Einl. und Anmerkungen versehen von Andreas Seider. (= Des heiligen Bischofs Theodoret von Cyrus ausgewählte Schriften Bd.  2; Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Band  51). Kempten-München 1926, Drittes Buch (361–363), Kap. 25: Der Tod des Kaisers Julian in Persien. Zitiert nach der Internetfassung: [http://www.unifr.ch]. 173 Anonym, in: Korespondent Emigracji Polskiej, 1838, tom I, S. 75. 174 Vgl. dazu Maria Janion: Der Gründungsmythos des polnischen Antisemitismus. In: Europäische Gesellschaft und der Hollocaust. Erweiterte Beiträge zu einer Veranstaltung im Jüdischen Historischen Institut Warschau am 30. September  2004 aus Anlaß des 75. Geburtstages von Feliks Tych. Herausgegeben im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung von

11. Vorlesung (21. Februar 1843)

1135

ohne Ursache geschah es auch nicht, daß dies Volk seit Jahrhunderten in Polen wohnt, und daß sein Schicksal so innig mit dem Schicksal des polnischen Volkes verbunden ist. Ebenso hat er den Charakter unserer Landsleute, den Charakter des slavischen Volkes im Allgemeinen nicht verstanden und ihn verleumdet, ihm die Chöre seiner Lakaien und Metzger als Organ gebend. Alle Schriftsteller ohne Ausnahme, von Jornandes und Prokopius an, bis auf Herder, erkennen diesem Volk erhabene Eigenschaften des Herzens zu.175 Was dasselbe namentlich von den übrigen Völkern unterscheidet, ist diese Geisteswärme, dies Seelenfeuer, das wir die Liebe nennen, die in seinen Sitten, Gewohnheiten und Neigungen überall durchleuchtet; sie ist die Ursache, daß dies Volk so von Herzen gastfrei ist, daß es so an Gesang und Musik hängt. Ein solches Volk ist also nicht im Namen der Mordtheorien, nicht durch Erwecken der Begier nach Blut und einem Stückchen Land als Eigentum von der Stelle zu rühren und zu bewaffnen. Ein großer Teil des gemeinen Volkes im Slaventum genießt sogar ein sehr glückliches physisches Dasein; schon früher erwähnten wir, daß die Kosaken und selbst die Bewohner Sibiriens176 in Betracht dessen ein bei weitem glücklicheres Leben führen, als die Handarbeiter und Tagelöhner des Westens. Hätte der Verfasser die Geschichte besser erforscht, oder vielmehr, hätte er sich höher erhoben, einen erhabeneren Gesichtskreis gewonnen, er würde durch Eingebung erraten haben, was dieses Volk nötig hat. Es ist ihm notwendig, seiner Natur gemäß regiert zu werden, durch die Liebe regiert zu werden. Diese zahlreichen Millionen machen gegenwärtig eine weit ausgedehnte mit ihren Herrschern unzufriedene Partei aus, weil sie fühlen, daß diese keine wahre Zuneigung für sie haben. Der tschechische reiche, des Lesens und Schreibens kundige Landmann kann die Österreicher nicht leiden, weil er weiß, daß dies Besorgtsein um sein materielles Wohl nur aus der Regierungsberechnung resultiert, ihn zu mästen, um zu einem Werkzeuge der Unterjochung anderer Völker dienen zu können. Kein einziges moralisches Band verbindet ihn mit dem Herrn. Der russische Bauer fängt auch schon an, den Gedanken seiner Regierung zu begreifen. Am Ende wird diesem Bauern, dessen Söhne, unters Gewehr gestellt, Europa bedrohen, der Trost des Nationalsstolzes überdrüssig; er erkennt, daß er seinem Herrn nur zur Kriegsmaschine dient. Das Bedürfnis einer menschlichen Regierung, also einer liebenden und geliebten, Friedhelm Boll und Peter Hengstenberg. Warschau 2004, S. 13–55; [http://library.fes.de/ pdf-files]. 175 Über Jornandes (Jordanes) und Prokopios von Cäsarea vgl. die 18. Vorlesung (Teil II), über Herder – die 5. und 6. Vorlesung (Teil I). 176 Vgl. die 11., 23. und 24. Vorlesung (Teil II).

1136

Teil III

ist gegenwärtig für die Slaven allgemein geworden. Sie haben sich überzeugt, keine Regierungsform könne das Böse und Falsche in den Herzen der Gewalthaber ausgleichen noch verdecken. Dieser Stamm hat die Bestimmung, ohne eine neue Regierungsdefinition zu machen dennoch eine in den Annalen der Menschheit durchgängig neue Regierung zu schaffen. Die Definition der Regierungsform betreffend, die aus der slavischen Geschichte und Dichtung gezogen werden kann, beschränkt sich darauf: die Despotie ist nicht die Gewalt eines Einzigen, sondern vielmehr die Gewalt ohne Liebe, die lieblose Gewalt. Einer oder viele, die Versammlung oder die gesammte Masse, mit einer so oder anders beschriebenen Konstitution, kann Despot sein, sobald sie diejenigen nicht liebt, welche sie regiert. Der Verfasser ist hierin den Vorstellungen einiger polnischen Publizisten, unter anderen dem Grafen Jan Potocki177 gefolgt, welcher, wie gesagt, für die Zukunft des Slaventums fürchtete, indem er den Aufstand der Massen gegen die zivilisierten Stände vorhersah. Demungeachtet finden wir in der „Ungöttliche Komödie“ eine Menge wahrhaft volkstümlich aufgefaßter Charaktere, welche durchaus nicht den Mustern des Westens entnommen sind, wo nichts Ähnliches vorzufinden ist. Besonders stellt uns Pankracy den Typus eines solchen Vernichters dar, wie wir sie schon öfters aufgewiesen, als wir von den Mongolen178 redeten. So viel wir urteilen können, hat der Verfasser die asiatische Geschichte nicht gelesen, er hat wenigstens über dieselbe nicht nachgedacht, besitzt aber eine überlieferungsartige Kunde derselben. Welch tiefer Gedanke ist in den Worten Pankracys: Nie draśnie mnie ołów, nie tknie się żelazo, dopuki jeden z was opiera się mojemu dziełu. (S. 130) Weder Blei noch Eisen berührt mich, so lange einer von euch meinem Werk widersteht.

Wie kräftig fühlt er die Rolle, zu welcher die Vorsehung ihn berufen! Beispielen eines ähnlichen Gefühls begegnet man in der mongolischen Geschichte. Einer der Nachkommen Dschingis-Khans, Oktaj oder Kublaj, erkrankte auf der Jagd. Unterdessen brachten ihm die Jäger einen lebendig eingefangenen Wolf. Zur größten Verwunderung aller, befahl der Khan ihn sogleich loszulassen, sobald aber das Tier, von einer anderen Jägerabteilung getroffen, gekostet wurde, erschütterte ihn dies innerlich und er verkündete, seine letzte Stunde herannahen zu fühlen. Den Wolf freilassend, wollte er 177 Vgl. die 18. Vorlesung) (Teil II). 178 Vgl. die 2. und 3. Vorlesung (Teil I).

11. Vorlesung (21. Februar 1843)

1137

den Willen der Vorsehung ergründen; er wollte erfahren, ob es ihm vergönnt sei, auch nur ein einziges Geschöpf zu verschonen. In solchem Fall hoffte er, ein neues Leben beginnen zu können, eine neue Laufbahn vor sich zu haben; in dem Tode des Tieres aber das Zeichen gewahrend, daß ihm die Kraft zum Verzeihen nicht gegeben, daß er nur zum Vernichten bestimmt sei und keine Kräfte mehr dazu in sich fühlend, erkannte er, sterben zu müssen. Spuren solcher Vorgefühle, die das enge Band zwischen der unsichtbaren Welt und dem zur Vollführung irgend einer Sache bestimmten Menschen zeigen, sind zahlreich in der Geschichte der Mongolen; wenige dergleichen findet man in der Geschichte des Westens, weil die zum Aufbauen gesandten Menschen seltener sind und ihre Geheimnisse besser verbergen. Hier kann man aber an die allgemein bekannten Worte des Kaisers Napoleon erinnern, welcher inmitten eines gräßlichen Kanonenfeuers zu den seinetwegen besorgten Grenadieren sagte: „Noch ist die Kugel nicht gegossen, die mich töten soll.“ Gar viele Züge gibt es in unserem Drama, die mit gleicher Durchdringlichkeit eines wahrhaften Seherblicks aufgefaßt sind. Ohne Zweifel hat der Verfasser auch nicht die Denkwürdigkeiten des Geistlichen Kordecki179 gelesen, ein sehr seltenes Buch, das wir im Vortrag des vergangenen Jahres erwogen; sein Gedicht stellt sich jedoch neben demselbm wie ein entgegengesetztes Bild derselben Gattung dar; es scheint das Contrefait eines anderen Helden in gänzlich gleicher Lage zu sein. Kordecki und der Graf verteidigen das letzte Bollwerk, die letzte auf dem heimischen Boden gepflanzte Fahne. Jener ist ebenso wie dieser von den Seinigen verlassen, er muß sie mit eigener Kraft zum Kampf zwingen. Aber der Geistliche ist ruhig und tapfer, denn er fühlt in sich die Stimme des Gottes, welchem er dient, und sieht die glänzende Zukunft seines Landes vorher; der Graf im Gegenteil gerät in Verzweiflung, weil er nichts liebt, nichts ehrt außer sich und seine Gedanken. Die Denkwürdigkeiten des Kordecki sind eine Epopöe, die den Sieg des Glaubens besingt; die „Un-göttliche Komödie“ (Nie-Boska komedia) ist ein Verdammungsurteil für die Ausgeburten des menschlichen Denkens. Unberührt wollen wir für jetzt die Frage des poetischen Wunderbaren lassen, weil hierüber vieles zu sagen wäre, wir aber noch später Gelegenheit haben werden, diesen Gegenstand zu erschöpfen. Nicht enthalten können wir uns jedoch, an dieser Stelle ein kleines Bruchstück des früher erwähnten Werkes von dem Philosophen Emerson anzuführen, welches wunderbar mit der polnischen Nationalidee im Einklang steht und sehr treffend das Bedürfnis unserer Zeilen schildert. Im vorjährigen Kursus sagten wir, das hauptsächliche Dogma, auf welchem die polnische Nationalität im besonderen und die 179 Vgl. die 4. und 5. Vorlesung (Teil II).

1138

Teil III

slavische Volkstümlichkeit im allgemeinen beruhe, sei der Glaube an die stete Einwirkung der unsichtbaren Welt auf die sichtbare. Die Volkstümlichkeit nehmen wir aber hier in der vollsten Ausdehnung und Bedeutung des Wortes, als die Quelle jeglicher Wahrheit, jeglicher Kraft und Macht des Volkes. Dieses schien hier vielleicht jemandem eine exzentrische Folgerung aus der polnischen Geschichte zu sein, obgleich wir uns bemühten, sie durch geschichtliche Beweise zu bekräftigen und den Fortschritt dieses Gedankens nachzuweisen, welcher sogar offen in der slavischen Dichtung und Philosophie auftritt. Hören wir nun den amerikanischen Philosophen! Emerson ist kein Anhänger der philosophischen Schulen des Westens, im Gegenteil verlacht und bekämpft er sie. Ebenso scheint er keiner Sekte der Kirche anzugehören. Er ist ein selbstständiger, praktischer Philosoph, gleichsam ein amerikanischer Sokrates. Die Worte, welche wir hier anführen werden, sind seiner zu Boston in einer Zusammenkunft der reformierten Handarbeiter gehaltenen Rede entnommen, die im Jahre 1841 in dem wenig bekannten amerikanischen Tageblatt, „The Dial“ genannt, veröffentlicht wurde, wovon einige Nummern uns zufällig in die Hand fielen. Der Redner spricht seine Landsleute, die doch in der ganzen Welt für das am meisten praktische und materialistische Volk gelten, wie folgt, an: „Gestehen wir es nur, daß dies Leben, zu welchem wir jetzt gekommen sind, ein gemeines und niedriges Leben ist; daß gewisse Pflichten, denen wir Genüge leisten sollten, gewisse Berufe, die den Hauptzweck des menschlichen Daseins ausmachen, bei uns so außergewöhnlich geworden sind, daß sich kaum das Andenken an dieselben in alten Büchern und verdunkelten Überlieferungen vorfindet; daß keiner von uns ein Prophet, ein Dichter, ein schöner und vollkommener Mann ist, und wir solchergestalt begabte Männer sogar nicht gesehen haben; daß gewisse Quellen der wahrhaften menschlichen Weisheit vernachlässigt, in Schutt begraben liegen, am Ende ganz unter uns verkommen sind bis auf den Namen; daß die Gesellschaft, in deren Schoß wir leben, kaum erlauben würde, davon reden zu lassen, es sei Pflicht eines jeden Menschen, seine Seele für die Offenbarung der Weisheit Gottes empfänglich zu machen und den gewöhnlichen Gang des alltäglichen Lebens zu erheben durch Berührung mit der Welt des Geistes. Sobald aber dies alles wahr ist, was wir auch eingestehen müssen, wer unter meinen Zuhörern, wer unter den denkenden und ehrlichen Männern kann es dann leugnen, daß uns die Pflicht obliegt, unser Leben so einzurichten und seinen Lauf so zu wenden, daß wir im Stande sein werden, mit der geistigen Welt in nähere Berührungen zu treten und uns mehr handgreifliche Andeutungen von oben herab zu verdienen?“180 180 Zitat-Paraphrase aus: Ralph Waldo Emerson: Man the Reformer. A Lecture read before the Mechanics’ Apprentices’ Library Association, at the Masonic Temple. Boston, January 25, 1841. In: The Dial, 1841, I, S.  523–538. Im Internet: https://emersoncentral.com/texts/ nature-addresses-lectures/lectures/man-the-reformer/. Im Jahre 1848 veröffentlichte Mickiewicz diesen Artikel anonym in „La Tribune des Peuples“ in freier Übersetzung; vgl. A. Mickiewicz: Dzieła, tom XIII: Pisma różne, op. cit., S. 28–65.

11. Vorlesung (21. Februar 1843)

1139

Gibt es also jemanden, welcher auf diese Art die Amerikaner anredet, die ihr Landsmann des Mangels der zwei Kardinaltugenden anklagt, der Hoffnung und der Liebe, wie müßten füglich die Politiker und die Philosophen zu den Slaven reden, denen doch jedermann eine so innige Liebe und Hoffnung zuerkennt. Welche Verantwortlichkeit würde sich wohl auf diejenigen wälzen, die diese Völker noch mit den Formeln der erstarrten Gesellschaft bewegen und betören wollten, einer Gesellschaft, die gerade nur deswegen an diesen Formen modelt, weil sie selbst nicht diese Tugenden besitzt, weil sie in sich den Mangel einer inneren Kraft fühlt. Wie große Schuld wäre es, zu diesen Völkern, die einen unverdorbenen Glauben, große Volksüberlieferungen und das menschliche Gefühl so rein, so innig bewahren, die Stimme zu erheben, ohne ihnen von Gott, der Religion und der Liebe zu sprechen.

12. Vorlesung (3. März 1843) Historische und philologische Forschungen (III) Slavische Mythologie – Allgemeine Überlegungen über mythologische Forschungen – Das litauisch-slavische mythologische System, das als das vollständigste anerkannt wird – Das Werk Norks über die syrischen Götter – Inspiration als Quelle aller Religionen – Magnetismus – Somnambulismus – Doktrinen und Künstler als Verfälscher aller Mythologien – Wert der rein erhaltenen religiösen Überlieferung der Slaven.

Wir haben nun zu rechtfertigen, was wir vor drei Jahren ausgesprochen, daß nämlich die Erforschung der slavischen Dinge ganz und gar den bisherigen Zustand des mythologischen Wissens ändern wird. Zur Bekräftigung unserer Meinung, die vielleicht sonderbar erscheinen konnte, liegen uns schon fremde Schriftsteller vor. Einer von den deutschen [tschechischen] Gelehrten, der Professor Hanusch zu Lemberg, gab im vergangenen Jahr ein Werk über die slavische Mythologie heraus, in welchem er, nachdem er alle bekannten mythologischen Systeme, das indische, persische und griechische auseinandergesetzt, gesteht, daß das slavische oder vielmehr litauisch-slavische das vollkommenste, tiefste und umfangreichste ist.181 Mittlerweile auf diese Ansicht uns stützend, wollen wir in der Kürze die Geschichte der wissenschaftlichen Arbeiten für diesen Gegenstand schildern und zwar, um zu begreifen, warum die bis auf den heutigen Tag nicht beachtete Mythologie der Slaven auf einmal den höchsten Rang unter allen einnimmt. Zu Anfang des Christentums haben die Kirchenväter und auch die Gelehrten das Entstehen der Mythen als durch den Einfluß der bösen Geister bewirkt sich erklärt. Diese allgemein angenommene Ansicht dauerte bis zu den sogenannten Zeiten der Wiedergeburt der Wissenschaften. Seit dem 16. Jahrhundert begannen die Historiker und Philosophen von neuem die Überlieferung und die uralte Poesie zu erwägen und in ihnen die Aufhellung mancher dunklen Stellen, sowohl der Geschichte als auch der alten Sagen suchend, lenkten sie zugleich die Aufmerksamkeit auf den wesentlichsten Teil der Mythologie, nämlich auf die Religionsbegriffe. Allgemein jedoch sah man in den Schulen des 16. und 17. Iahrhunderts die Mythologie als eine Sammlung von Fabeln, verdunkelten Sagen und Erdichtungen, erzeugt in der Einbildungskraft der Dichter und Mythographen an; man wollte sie kennen lernen, einzig und allein um die alten Schriftsteller zu verstehen, legte ihnen nicht den mindesten Wert bei und behandelte endlich diese ganze Lehre, namentlich in Frankreich, nur als eine Art Spielzeug. 181 Vgl. die 6. Vorlesung (Teil III).

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_087

12. Vorlesung (3. März 1843)

1141

Erst mit dem 18. Jahrhundert berührte der täglich anwachsende Geist der Philosophie auch die Fragen der Mythologie. Die Deutschen und Franzosen betrachteten diesen Gegenstand von verschiedenen Standpunkten aus. In Deutschland teilte man die Mythen in astronomische, geschichtliche und volkstümliche Überlieferungen und legte jede Abteilung nach einer besonderen Methode aus; in Frankreich achtete man nicht sehr darauf, ob sie so oder anders ausgelegt wurden, genug nur, wenn in irgend einer Art die uralte Sage mit Hilfe der neueren Begriffe erklärt war. Und so z. B. erklärte man sich, was selbst in den für die Schulen bestimmten Büchern wiederholt wird, daß der Krieg des Saturn mit den Titanen gewiß irgend eine politische Revolution in einem Land Griechenlands andeute, wo der König Jupiter den König Saturn vom Throne stürzt und selbst wieder von den Fürsten, Titanen genannt, gestürzt werden soll. Um das Jahr 1812 beginnt die neue Epoche für das mythologische Wissen. Noch gegen Ende des vorigen Jahrhunderts versuchte der berühmte deutsche Philologe Christian Gottlieb Heyne182 zuerst in seiner Auflage des Apollodor, dann in seinen Forschungen und Denkwürdigkeiten die Geschichte vieler Mythen zu schreiben. Er bemerkte z. B., daß die Vorstellung von der Hölle zahlreichen Veränderungen unterlag, bemühte sich vor allem, den Ort zu bezeichnen, wo dieser Mythus entstanden ist und später zu zeigen, wie er sich entfaltete und ausbildete. Jedoch diese Art der Sachenanschauung, wenngleich sehr urtümlich und neu, gewann damals die Aufmerksamkeit der Gelehrten nicht für sich. Erst zwei oder drei Jahren vor dem denkwürdigen 1812 machte die Symbolik Creuzers183, ein Werk, das auch ins Französische übersetzt ist, bei weitem mehr Aufsehen. Creuzer gab der Mythologie eine neue Definition. Ihm gemäß ist sie das Panorama der Religionsmeinungen und Begriffe, macht eine große Ganzheit aus, denn aus alle diesen zerstreuten Sagen bricht ein allgemeiner Gedanke, eine ursprüngliche Religion hervor.

182 Christian Gottlob Heyne (1729–1812). – Ch.G. Heyne: Apollodori Atheniensis Bibliothecae Libri Tres et Fragmenta. Göttingen 1803 (Reprint: Hildesheim 1972); über Heyne vgl. Ulrich Schindel: Heyne, Christian Gottlob. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 9, S. 93–95; ferner: Fee-Alexandra Haase: Christian Gottlob Heyne (1729–1812). Bibliographie zu Leben und Werk. Heidelberg 2002. 183 Friedrich Creuzer (1771–1858). F.  Creuzer: Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen.  4 Bde., Leipzig-Darmstadt 1810–1812 (Reprint – Hildesheim: Olms 1973); vgl. auch – Werner Paul Sohnle: Georg Friedrich Creuzers „Symbolik und Mythologie“ in Frankreich. Eine Untersuchung ihres Einflusses auf Victor Cousin, Edgar Quinet, Jules Michelet and Gustave Flaubert. Göppingen 1972.

1142

Teil III

Lange schon vor Creuzer sagten einige Philosophen dasselbe. Unter anderen bewies A.J. Saint-Martin184, daß alle Mythologien nur ein sich Wiederholen sind, daß sie alle einer Quelle entsprießen. Aber die Werke Saint-Martins hatten keine Leser, sie waren namentlich nicht jenem Teil des Publikums zugänglich, welchen man den Mittelstand der Gelehrtenwelt nennen könnte. Die gewöhnlichen Literaten und Professoren wußten nicht einmal, daß dieser tiefdenkende Schriftsteller je existiert habe. Aber Creuzer, voll der ausgedehntesten Erudition, mit Zitaten beladen, in der uralten Literatur bewandert, trat in die Öffentlichkeit, ausgerüstet mit jener gewöhnlichen Gelehrsamkeit, welche in der Regel die Gemüter so stark anspricht. Schwer ist es, sich den Eindruck zu denken, welchen sein Werk in Deutschland machte. Die Gelehrten griffen zur Feder, in der Absicht, das von ihm aufgestellte System niederzukämpfen. Man behauptete, seine Ansichten beleidigten das deutsche Wissen; endlich kam es zu einer ungeheuern Erbitterung gegen ihn. Woher diese Erbitterung kam, das wußten weder Johann Heinrich Voß185, das Haupt der Opposition, noch seine Kollegen, die Professoren, auch keiner der Schulmänner selbst. Creuzer berührte eine neue Frage: er wollte beweisen, wies wenigstens darauf hin, das Altertum sei nicht so barbarisch und finster gewesen, wie dies die Gelehrten gewöhnlich aussagten; ferner, daß man in den entlegensten Zeiten erhabenere und tiefere Begriffe von Gott gehabt als in dem Heidentum des 3. und 4. Jahrhunderts nach Christo; das aber untergrub das System des gleichmäßig steten Fortschrittes, zu welchem sich die Protestanten bekennen, und benahm den poetischen und mythologischen Werken, welchen die gewöhnliche Gelehrsamkeit einen großen Wert beigemessen hatte, alles Ansehen. Der instinktmäßige Haß der Gelehrten war ein Zeichen, daß Creuzer eine Bahn getroffen hatte, die der Geistesrichtung des Protestantismus zuwider lief. Später behandelten Goerres186, Kanne187 und andere Gelehrten die 184 Antoine-Jean Saint-Martin (1791–1832). A.-J. Saint-Martin: Mémoires historiques et géographiques sur l’Arménie. 2 Bde., Paris 1818–1819. Vornamensvarianten: Jean Saint-Martin; Martin, Antoine Jean Saint-Martin; Antoine-Jean Saint-Martin. 185 Johann Heinrich Voss (1751–1826). Vgl. J.H. Voss: Antisymbolik. Stuttgart 1824–26; ferner – Der Kampf um Creuzers Symbolik. Eine Auswahl von Dokumenten. Hrsg. Ernst Howald. Tübingen 1926. 186 Johann Joseph Goerres (1776–1848). J.J. Goerres: Mythengeschichte der asiatischen Welt.  2 Bde., Heidelberg 1810. 187 Johann Arnold Kanne (1773–1824). J.A.  Kanne: Mythologie der Griechen. Erster Teil. Leipzig 1805; System der indischen Mythe oder Chronus und die Geschichte des Gottmenschen in der Periode des Vorrückens der Nachtgleichen. Leipzig 1813; Erste Urkunden der Geschichte oder allgemeine Mythologie. 2 Bde., Baireuth-Hof 1815. Vgl. auch – Dieter Schrey: Mythos und Geschichte bei Johann Arnold Kanne und in der romantischen Mythologie. Tübingen 1969.

12. Vorlesung (3. März 1843)

1143

Mythologie schon mehr in allgemeiner Hinsicht; namentlich aber bemühten sie sich, den Ursprung eines jeden Mythus zu entdecken. In solcher Reihenfolge erschien der Augenblick, wo die slavische Mythologie zum Vorschein kommen mußte. Bis dahin hatten alle Mythen nur so viel Bedeutung in den Augen der Gelehrten, wie viel ihnen die Poesie oder die Kunst gab. Darum dünkte ihnen auch die Mythologie der Griechen die vollkommenste zu sein, die einzige, welche die Aufmerksamkeit der Gelehrten und des Publikums verdiene; und da die Slaven weder in Poesie noch in Kunst irgend etwas erzeugt, was auf ihre mythologischen Begriffe Bezug hätte, so erweckten sie nur wenige Aufmerksamkeit. Jetzt aber, da man die geographischen Wege, auf welchen die uralten Menschenbegriffe sich in der Welt verbreiteten, aufzuzeichnm begann, konnte man den ungeheuern Flächenraum des Slaventums durchaus nicht umgehen. Zwei ausgezeichnete Werke erschienen neulich in Bezug auf diesen Gegenstand. Das eine oben erwähnte von Hanusch, das andere von Nork188 über die syrischen Gottheiten. Wir wollen zuvörderst dies letztere betrachten, später werden wir zu dem erstem zurückkehren. Indem sich Nork bemühte, die Götternamen dieser Syrer zu erklären, die nach den angeführten Beweisen so eng mit den Slaven verbunden zu sein scheinen, schuf er ein völlig neues System der Mythologie. Dieses System wird, so viel wir meinen, die Gestalt der Wissenschaften, welche sich mit dem Altertum befassen, ganz umändern. Für die Quelle aller Mythologien, für den Schatz aller Reichtümer Europas in dieser Beziehung sieht er Indien an. Diese Ansicht ist nicht neu, denn fast alle Gelehrten, auch Goerres und Kanne, Schlegel189 und Hammer-Purgstal190 stimmen hierin überein. Selbst die geographische Lage bekräftigt die Mutmaßung, daß die Indier das älteste Volk der Welt seien. Der sanfte Himmel, die fruchtbare Erde geben dort den Menschen alle Leichtigkeit des Daseins. Doch nicht genug damit; in allen übrigen Mythologien, in der griechischen, skandinavischen, slavischen finden wir auffallende Ähnlichkeit mit der indischen. Außerdem hat die heutige Philologie das hohe Altertum der Sanskritsprache erwiesen. Ein Gegenstand, für welchen sich in der Sanskritsprache sehr häufig viele Worte vorfinden, hat in den europäischen Sprachen zuweilen nur ein einziges; 188 Friedrich Nork, Pseudonym von Josef Ferdinand Friedrich Korn (1803–1850); vgl. F. Nork: Die Götter Syriens. Mit Rücksichtnahme auf die neuesten Forschungen im Gebiete der biblischen Archeologie. Stuttgart 1842. 189 Friedrich Schlegel: Über die Sprache und Weisheit der Indier. Ein Beitrag zur Begründung der Alterthumskunde. Heidelberg 1808. 190 Joseph Hammer-Purgstal (1774–1856) österreichischer Orientalist. Vgl. J.  HammerPurgstal: Geschichte der schönen Redekünste Persiens. Wien 1818.

1144

Teil III

die Worte des Sanskrit aber mit den europäischen vergleichend, kann man sich fast immer überzeugen, daß sie eine und dieselbe Sache bedeuten, nur die Arten der Aussprache sind in Europa ärmer und weniger klangvoll. Die Indier haben nichts von dem europäischen Altertum entnommen, sie aber gaben Griechenland und Ägypten ihre Weisen und Priester. Bekannt ist aus der Geschichte, daß die berühmten griechischen Philosophen die Länder am Ganges besuchten. Außer diesen wissenschaftlichen Beweisen sucht Nork noch andere höheren Ranges auf. In den Büchern Indiens kann man zweifellos die Spur der wirklichen Inspiration seiner Schriftsteller gewahr werden. Sie waren weder durch einen einzigen Menschen noch in einer einzigen Zeit geschrieben, sie sind aus Bruchteilen von verschiedenen Zeiten zusammengesetzt. Schon dieses allein bekräftigt der tiefen Bemerkung Norks gemäß ihr Altertum und ihre Heiligkeit. Der Mensch ist nicht im Stande fortwährend im Zustand der Inspiration zu sein; unmöglich ist es, ein umfangreiches Werk zu schreiben, das von Anfang bis zu Ende Eingebung wäre. Die heiligen Bücher der Inder sind eine Sammlung von den Propheten hinterlassener Bruchstücke, die von den Philosophen gesammelt und erläutert wurden. Die Männer, welche ihr Volk mit diesen Büchern beschenkten, wandten alle ihre Kräfte daran, die Hilfe Gottes zu erlangen und sich vor dem Einfluß der Welt zu bewahren, sie beobachteten in dieser Absicht strenge Vorschriften. Bekannt ist die Lebensart der Priester Brahmas: nirgends hatte das Altertum so scharfe und so erläuterte Grundsätze. Aus diesen Ursachen betrachtet Nork191 die Religion der Inder als die der Wahrheit zunächstkommende. Diese Meinung werden wir weiter unten beurteilen, jetzt aber sehen wir, wie er die Sache durchführt. Seiner Ansicht nach erfüllten schon die hebräischen Priester nicht alle von Brahma geforderten Bedingungen; statt fortwährend nach solchen Vorschriften zu leben, wie sie der Brahmanismus angab, und die aus der tiefen Erkenntnis der göttlichen Dinge geschöpft waren, begnügten sie sich in den Zeiten Moses und später, einige Stunden im Tempel zuzubringen und meinten, auf diese Weise die Wahrheit zufällig, plötzlich, irgendeinmal erhaschen zu können. Sich überdies in die Politik mischend, in der Absicht zu regieren, setzten 191 Vgl. Nork, op. cit., Einleitung, S. XII–XIII: „Welches unter den vielen sich göttlicher Offenbarung rühmenden Völkern hat das meiste Anrecht auf Glaubwürdigkeit? Die Antwort könnte nur, wie folgt, lauten: Jene Nation, welche für das hohe Alter ihrer heiligen Bücher die meisten und überzeigendsten Beweisgründe vorzubringen vermag, und zugleich durch ihre Lebensweise die Zustände des magnetischen Hellsehens, ohne welche die auf übersinnliche Weise zu erhaltend Kenntnis der dem gewöhnlichen Menschen verborgenen Dinge nicht erlangt werden kann, hervorruft. Beiden Anforderungen entspricht, und überdies in der ausgedehntesten Bedeutung des Wortes, nur die Indier.“

12. Vorlesung (3. März 1843)

1145

sie sich der Zerstreuung des Geistes aus, da im Gegenteil erforderlich war, ihn gesammelt, konzentriert zu halten, um stets mit dem Himmel im Einverständnis zu bleiben. Dieses Merkmal der Augenblicklichkeit, der nicht vollständigen Anstrengung oder Unreife, der nicht völligen Aufmerksamkeit, das er in der Bibel wahrnimmt, scheint ihm überhaupt der Fehler späterer Religionen zu sein. Der Reihe nach zu den skandinavischen Völkern übergehend, wirft er ihnen Unkenntnis des wahrhaft religiösen Wissens vor, weil ihre Geistlichen, nachdem sie sich dem Müßiggang ergeben, das Vorhersehen und Vorhersagen der Zukunft den Frauen überließen, wie es z. B. bei den Germanen der Fall gewesen. Nork kennt daher nichts Vollkommeneres als die Glaubensregeln und die Institutionen der Inder. Woher aber ist dies alles entsprungen? Hat es sich aus den Erdichtungen und der Spiegelfechterei der Priester entwickelt, wie das 18. Jahrhundert behauptete? War es möglich, daß auf Märchen gestützt sich eine so dauerhafte und kräftige Gesellschaft bilden konnte? Ist es nur wahrscheinlich, daß aus Lügen Gesetze, Einrichtungen und Kasten entsprossen seien, die sich bis auf den heutigen Tag halten? Unser Verfasser sagt geradezu, daß alle die erhabenen Wahrheiten, welche in den Büchern der Vedas, in den Puranas und den übrigen indischen Quellen enthalten, von der Gottheit durch Eingebung, durch Begeisterung erteilt worden sind. Zur Bekräftigung dessen faßt er die Meinungen vieler Gelehrten in eine systematische Ganzheit zusammen und bemüht sich, die Mythologie nicht nach den Büchern, sondern vielmehr nach den Erscheinungen zu erklären, die im gegenwärtigen Leben anzutreffen sind; er beruft sich auf die über den tierischen Magnetismus192 und Somnambulismus193 gemachten Beobachtungen. Diese Art der Behandlung des Gegenstandes wird die bisherigen Vorträge der Schulen, die sich einzig auf 192 Der Begriff „tierischer (animalischer) Magnetismus“ geht auf Franz Anton Mesmer (1734–1815) zurück, der in seiner Doktorarbeit „Dissertatio physico-medica de planetarum influxu“, Wien 1766, die Frage untersuchte, inwieweit Anziehungskräfte der Planeten das menschliche Nervensystem beeinflussen. In seinem „Sendschreiben an einen auswärtigen Arzt über die Magnetkultur“ (1775) beschrieb er dann die heilsame Wirkung magnetischer Kräfte auf tierische und menschliche Organismen. In einem Wiener Krankenhaus praktizierte er nach dieser (umstrittenen) Heilmethode, die auch „Mesmerismus“ bezeichnet wird. Vgl. dazu – Jutta Gruber: Angst und Faszination. Eine Neubewertung des animalischen Magnetismus Franz Anton Mesmers. Berlin 2011. 193 „Wir haben durch die Erfahrungen im Gebiete des Somnabulismus die Ueberzeugung gewonnen, dass die menschliche Seele, wenn die Bande, die freie Bewegung hinderten, durch Krankheit oder andere abnorme Zustände gelockert sind, übersinnlicher Wahrnehmung fähig sind. […] Auffallend ist ferner wie zu allen Zeiten alle Völker dieselbe Traumsprache reden, d.  h. in Träumen gewisse Ideen mit denselben Bildern bezeichnen.“ – Nork, op. cit., S. V–VI.

1146

Teil III

die Bücher stützen, aus ihnen endlich ganz vertreiben. Derselben Art waren die Vorsichtsmaßregeln und Mittel, wie man sie heute anwendet, um in einen außerordentlichen Zustand zu kommen oder andere in einen solchen zu versetzen, wie der Umgang mit den einen Personen, das Vermeiden der anderen; mit einem Worte, diese ganze Methode war, Norks Meinung zufolge, schon vor Jahrtausenden in Indien bekannt und von den alten Weisen – unbekannt, zu welcher Zeit – genau beschrieben. Jetzt erst läßt sich die Institution der Brahmanen, jener Menschen, die bestimmt waren so zu leben, auf daß sie stets mit Gott in Berührung bleiben könnten, begreifen. Ihre ganze Gesetzgebung ist aus dieser Quelle geflossen und außer der inneren Überzeugung, daß sie eingegeben war, besitzt sie keine andere Sanktion. Um ähnliche Sachen zu erzählen und zu behaupten, fügt Nork hinzu, reicht es nicht hin, sie in Beschreibungen gelesen zu haben, „man muß sie erlebt haben.“194 Die Erscheinungen dieser Eingebungen zeugen für sich selbst; aber die Gesetze, die Wahrheiten, die Maximen, offenbart durch die Inspirierten, machen nur einen Teil der Gesetzgebung und umfangreichen Literatur der Indier aus. Es kamen späterhin Zeiten, in welchen man ihnen Erläuterungen, Auseinandersetzungen, Doktrinen anhängte, es kamen die von den ersten Brahmanen vorhergesehenen Zeiten des Verfalls. In diese Kategorie des verfälschten Wissens setzt Nork die Religionslehre der Israeliten und im Allgemeinen alle Schulen Europas, mythologische sowohl als wissenschaftliche. Es ist dies die Stelle in seinem Werk, wo er sich gröblich irrt, wie wir dies später beweisen werden. Aus dem jedoch, was er in seinen Forschungen über Indien sagt, strahlt ein Licht, welches die slavische Mythologie sehr aufhellen wird. Die religiösen Meinungen der europäischen Völker betrachtend, teilt er dieselben in zwei Hauptteile. Fürs erste glaubt er, daß in unbekannten Zeiten noch vor der geschichtlichen Epoche, vom Ganges ab eine Ansiedlung ausgegangen war, sich nach Norden wandte, Persien, Baktrien, Assyrien und die westlichen Länder bevölkerte, und da er dort überall den Dienst des Feuers oder der Gottheit unter der Gestalt der Flamme antrifft, so schließt er hieraus, daß diesen Völkern die Kaste der Sivaiten oder Schivaiten ihren Ursprung gab. Eine andere solche Ansiedlung aus der Kaste der Wischnuiten oder Wodanen, d. h. der die Gottheit unter Gestalt des Wassers Verehrenden, soll die mongolischen Steppen überschritten und erst hinter dem uralischen Gebirge in Mitteleuropa stillgehalten haben. Bemerkenswert ist, daß früher, noch vor Nork, wenngleich auch nicht seit langer Zeit, die polnischen Forscher diese Budiner vs. Wudinen oder Wodanen 194 Zitat nicht gefunden.

12. Vorlesung (3. März 1843)

1147

schon für Protoplasten der Slaven gehalten haben. Es behaupten dies unter anderen Kucharski und Ossoliński195. Der Litauer Narbutt196 sagt, daß der Name Wende mit dem Namen Wodan und Budin im Zusammenhang zu stehen scheint. Auf diese Art also kommt das ganze Rätsel der mythologischen Forschungen mit der Aufgabe des Ursprungs der Slaven zusammen und unmöglich ist es, auf den Grund der allgemeinen Mythologie zu gelangen, ehe man nicht zuvor erforscht hat, woher und auf welchem Wege dieser Stamm nach Europa gekommen ist. Wie geschieht es nun aber, daß die Slaven, welche kein einziges Poem, kein Bild, kein mythologisches Werk erzeugt haben, daß sie gerade die so ausgedehnten und reichen Mythologien aufklären und ergänzen sollen. Es kommt dies daher, weil alle diese Mythologien des Altertums von den Künstlern, Gelehrten und allerhand Schulen der Doktrinenmacher verfälscht und verunstaltet worden sind, so daß wir in Bezug darauf dasselbe sagen können, was Nork in Betracht der Gesetzgebung gesagt hat. Der inspirierte Künstler erzeugt die göttliche Form, er gibt dem Gefühl, von welchem er beseelt war, den Leib, diese Form macht auf die Menschen Eindruck. Aber der Künstler, welcher hierdurch eine gewisse Fingergeläufigkeit, eine Art Übung erlangt hat, wartet nun nicht mehr die neue Eingebung ab, sondern im Vertrauen, so viel Formen als ihm beliebt von sich geben zu können, schafft er sich Götter und Göttinnen bei erkaltetem Gefühl. Auf diese Weise verfertigt er Spielwerke, statt einem tiefen und wahren Gefühl die Hülle zu geben, er vergnügt sich selbst und das Publikum. Was machen die Kommentarienschreiber, den inspirierten Grundsätzen kalteAuslegungen anhängend? Sie tun dasselbe, was die Künstler mit dem Einrichten ihrer Werkstätten, die Kunst zu einem theoretischen Handwerk umwandelnd, sie erniedrigen die wirkliche Religion. Der Mensch, inspiriert von dem großartigen Anblick der Natur, ergießt seine Gefühle im Lobpreisen der Sonne, des Mondes, der Waldgebirge und die ihm wiederfahrene Rührung teilt er den Zuhörern oder Lesern mit. Die Zuhörer 195 Andrzej Kucharski (1795–1862), polnischer Slavist; Publikationen zum Slovenischen und Sorbischen in verschiedenen Zeitschriften; Monographie: A.  Kucharski: Najdawniejsche pomniki prawodawstwa słowiańskiego. Warszawa 1838; der Verweis konnte nicht ermittelt werden; Józef Maksymilian Ossoliński (1748–1826); vgl. sein Werk: Wiadomości historyczno-krytyczne do dziejów literatury polskiej. 1.–3. Band, Kraków 1819–1822, 4. Band, Kraków 1859; über die Budiner vs. Wudiner, Band II, S. 487–494; vgl. auch Schaffarik: Slavische Altertümer, op. cit., Bd. I, S. 184–194, der Ossoliński zitiert (S. 189) und auf Herodot verweist. 196 Teodor Narbutt (1784–1864), polnischer Historiker. Vgl. sein Werk: Dzieje starożytne narodu polskiego. Tom II: Śledzenie początków narodu litewskiego i początki jego dziejów. Wilno 1837; S. 88–146.

1148

Teil III

und Leser, statt diesen Hymnus als das Mittel zu brauchen, um sich selbst zu diesem Gefühl zu erheben, statt ihre Augen der Sonne, dem Monde und jenen Bäumen, die den Dichter begeisterten, zuzuwenden, ergießen sich bloß in Lob oder häufig nur in vieles Gerede über sein Werk. Allmählich stumpft auch die Poesie den Glauben ab, denn es ist leichter, schöne Verse zu fühlen und zu bewundern, als die Eingebung selbst aus den Wundern der Natur zu schöpfen. Ebenso verhält es sich mit der Baukunst und mit jeder anderen Kunst. Hierin besteht gerade für uns Slaven das Glück; wir haben diese Sünden noch nicht begangen, die Wunder Gottes haben wir nicht nachgeäfft, wir schufen keine Meisterwerke ohne Inspiration. Von der Volkspoesie redend, zeigten wir schon diesen ihren unendlichen Vorzug, daß nämlich jeder ihrer Reime wahrhaft Eingebung ist; sie machen keine Folge, keine Ganzheit aus, aber alle tragen das göttliche Merkmal an sich. Was die Kunst betrifft, so bestand diese fast gar nicht bei uns. Daher haben wir keine falschen Überlieferungen; unsere Glaubensüberlieferung ist weniger entfaltet, sie ist weniger verkettet und überhaupt nicht so glänzend wie die griechische, ägyptische, indische; wir wiederholen es aber, daß sich derselben nichts Falsches beigemischt hat, oder wenn dieses geschehen ist, so doch nur äußerst wenig. Hanusch, dessen neu herausgekommenes Werk wir oben erwähnt haben, indem er über die Slaven nachdenkt, erkennt ihnen diesen Vorteil zu; er sagt: „Es haben nämlich die Slawen, durch jene Umstände veranlaßt, den Reichtum ihrer geistigen Kräfte in Kunst und Wissenschaft nicht vergeudet […].“197 Die Kunst verdrängen wir nicht. Meisterwerke schaffen ebenso wie Institutionen erheben, ist eine Art der Religion und sogar der Sache Gottes zu dienen; aber das ist gewiß, daß alle Völker bis jetzt sowohl in der Kunst, wie in den politischen Gesetzgebungen Treulosigkeiten begingen, indem sie zu den von Gott kommenden Eingebungen auch die Früchte nur eigner Triebe beifügten. Griechenland stellt uns davon ein Beispiel auf. Italien ist ein schlagendes Zeugnis dafür. In welchem Land findet man wohl mehr Kirchen und Gemälde, doch kann man nicht sagen, die Italiener seien das religiöseste Volk auf Erden. Die Vorsehung hat folglich die Slaven für andere Zeiten bewahrt. Auch sie werden gewiß Künstler besitzen, jedoch nur Künstler, welche nach den neuen Begriffen und Grundregeln, die weder den Griechen noch Römern bekannt waren, schaffen werden. Eine Verantwortlichkeit wird auf ihnen lasten, die um so größer sein wird, je mehr sie die Pflicht haben werden, nur so mit dem Marmor und der Leinwand umzugehen, wie das slavische Volk mit seiner Sprache und Leier, d. h. nicht eher Meißel und Pinsel in die Hand zu nehmen, bis sie 197 Hanusch, op. cit., S. 14.

12. Vorlesung (3. März 1843)

1149

die wirkliche Eingebung in sich fühlen. Diese Wahrheiten waren dem Altertum bekannt, nie aber wurden sie so klar ausgesprochen wie jetzt. Was also heutzutage die slavische Überlieferung so schätzenswert macht, ist, daß sie unverdorben geblieben ist, während andere stets verfälscht wurden. Nehmen wir z. B. an, daß ein von einem Bildhauer verfertigtes Bild alle in Bewunderung versetzt, so übertreibt ein anderer Bildhauer, um noch mehr zu gefallen, die Eigenschaften dieses Bildes, er macht seine Anhängsel. Hierdurch entsteht nun ein neues Gebilde, es gestaltet sich die Form eines neuen Mythos, und so verwischt öfters die Kunst die ursprüngliche Glaubensvorstellung. Im Slaventum jedoch gab es weder Pyramiden, noch Bildsäulen, noch poetische Erdichtungen; die Überlieferung hat dort nur einige Ausdrücke, nur einige Schilderungen und Erinnerungen bewahrt, aber jedes Wort derselben enthält eine große und erhabene Wahrheit. Wir sehen daher, warum das Erkennen der religiösen Begriffe dieses Volkes, die bis dahin vernachlässigt und verachtet waren, jetzt ungemein wichtig geworden ist. In der Tat, will jemand die Methode Norks und der jetzigen Gelehrten befolgen, will er in dem, was gegenwärtig ist, den Schlüssel für die Vergangenheit aufsuchen und durch dasjenige, was am meisten im Menschen lebt, die Bücher und Denkmäler erklären, so muß er, um die griechischen und indischen Sagen erläutern zu können, sich an die lebende Überlieferung wenden; diese aber ist bei unserem Volk.

13. Vorlesung (7. März 1843) Historische und philologische Forschungen (IV) Slavische Mythologie. Fortsetzung – Der Sonnenkult. Norks Theorie – Das Dogma aller alten Religionen – Brahmanismus, hebräischer und christlicher Glaube – Geist und Tradition – Was ist Tradition?

Gehen wir weiter in unserem Gegenstand der slavischen Mythologie. Was wir hier Mythologie nennen, ist nichts anderes, als die ursprüngliche Religion dieses Volkes; der Glaube macht aber, wie mit Fug und Recht Professor Quinet198 sagt, den wesentlichen Kern der Völker aus. Die Politik, die Künste, alle die Formen, unter welchen sich die menschliche Gesellschaft ausspricht, sind die Früchte dieses Kernes. Man kann nie ein Volk kennen lernen, sobald man nicht zuvor bis zu seinen Göttern gelangt ist. Wir müssen daher die berührte mythologische Aufgabe bis auf den Grund erforschen. Die Schriftsteller erkennen heute einstimmig Asien als die Wiege aller religiösen Überlieferungen, aller Offenbarungen an. Nork und Hanusch nehmen in ihren Werken über die syrischen Gottheiten und über die slavische Mythologie dieses Axiom an. Was also das Wesentlichste in der Religion der Indier ist, müssen wir jetzt hervorholen, damit wir im Stande sein können, nachzusehen, wie sich dieses mit den Völkern in der Welt verbreitete und wie es sich entfaltete. Das erste Dogma aller Offenbarungen des Altertums ist die Einheit und die Allgemeinheit Gottes. Hierin stimmen die heutigen Gelehrten alle überein. Die Theorien des vergangenen Jahrhunderts, welchen zufolge sich der Mensch vermöge der abstrakten Begriffe gleichsam bis zu dem Gottbegreifen erheben sollte, sind schon verworfen worden. Quinet sagt in seinem Werk, betitelt: „Le Génie des religions“ („Der Geist der Religionen“), ganz treffend, daß, wenn die Menschen damit angefangen hätten, wie dies Jean Jacques Rousseau haben will, über dasjenige zu diskutieren, was sie beginnen sollen, sie gewiß, ohne etwas angefangen zu haben, noch bis auf den heutigen Tag redeten.199 Erinnern wir hier an diese verlassene Weise des Begreifens der Dinge, so geschieht es nur, weil, wie zum Unglück, noch viele slavische Literaten sich mit derselben

198 Edgar Quinet (1803–1875); französischer Historiker, den Mickiewicz vom Collège de France kannte; vgl. die Einleitung zu seinem Werk: Le Génie des religions. Paris 1842. 199 Edgar Quinet: Œuvres complètes. Paris 1857, Bd. 4, S. 28. Über Quinet und Mickiewicz vgl. Wiktor Weintraub: Profecja i profesura. Mickiewicz, Michelet i Quinet. Warszawa 1975, S. 128–159 (Kapitel – „Quinet i towianizm“).

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_088

13. Vorlesung (7. März 1843)

1151

gern amüsieren, was man leicht aus den in Polen und Rußland neu erschienenen Werken ersehen kann. Wir kehren nun zu dieser Haupttatsache zurück, daß seit Jahrtausenden die eine und allgemeine Gottheit gekannt war. Woher und auf welchem Wege hat das Menschengeschlecht diese höchste Wahrheit erfaßt? Hierin sind die Meinungen verschieden. Der allgemeinen Überlieferung zufolge offenbarte sich Gott dem Menschen mit lebender Stimme, d. h. zu seinem Geist redend, gab er die Kunde von sich. Nach anderen hat die Natur, den Menschen mit Gefühlen der Bewunderung, der Wonne und Bestürzung erfüllend, in ihm das tiefere Gefühl der Liebe Gottes geweckt. Aber alle philosophischen Mythologen stimmen darin überein, daß der Mensch diesen Begriff erlangte in einem Augenblick der Erhebung, in einem Augenblick der Bestürzung, der unwillkürlichen Erschütterung, die der Einfluß der Urnatur auf ihn machte. Dieser Begriff, dieser Glaube zeigt sich später unter verschiedenen Formen, Der allgemeine und alleinige Gott, unzugänglich den Sinnen und selbst der Vernunft des Menschen, teilweise begriffen in den Formen, fängt an, sich zu teilen und zu vervielfältigen. Vor allem erkennt ihn der Mensch in seinen großen Werken, im Licht, in der Sonne, dem Mond. Der Dienst der Sonne und des Mondes findet sich wirklich in allen Mythologien vor. Hieraus stellte sich endlich im vorigen Jahrhundert die Meinung fest, daß der Kultus dieser beiden Himmelskörper der Schlüssel zu allen mythologischen Systemen sei. Die bekannte kurze Mythologiensammlung von Charles François Dupuis200, die zu ihrer Zeit in so großem Ansehen stand, führt alles auf diesen einen Gedanken zurück. Man ersah, daß die zwölf Herkules-Arbeiten den Sonnendurchgang durch die Zodiak-Zeichen bedeuten; daß derselbe indische Mythos Vishnu gleichfalls auf die Sonne Bezug habe; daß die ganze Mythologie der Phönizier sich auf diese Gottheit beziehe. Endlich wurde das Urteil gesprochen, daß alles, was wir nur irgend von der slavischen Mythologie wissen, nichts mehr sei, als bloß der Preis der Sonne und des Mondes. Es sind dies Meinungen, die heute fast allgemein von den Gelehrten angenommen sind.201 Wir haben aber eine bei weitem wichtigere Sache aufzuklären, nämlich: Warum verehrte man und wie verehrte man die Sonne und den Mond? Die Philosophen, verächtlich das Altertum und die Völker anblickend, sagen gewöhnlich, daß sich hierin die natürliche Dankbarkeit der ursprünglich einfältigen Leute gegen so wohltuende und angenehme Himmelskörper 200 Charles François Dupuis (1742–1809); vgl. sein Buch: Origine de tous les cultes ou Religion universelle. Paris 1794. 201 Vgl. Anneliese und Peter Keilhauer: Die Bildsprache des Hinduismus. Die indische Götterwelt und ihre Symbolik. Köln 1986.

1152

Teil III

ausdrückte. Man hat, über diesen Gegenstand sich verbreitend, viele Bücher zusammengeschrieben. Hätten die Verfasser derselben jedoch etwas besser die Natur beobachtet, so würden sie sich nicht in diese weitläufigen Auseinandersetzungen eingelassen haben. Danken denn etwa die Tiere der Sonne dafür, daß sie sie erwärmt? Und doch gibt es unter ihnen solche, die sehr fähig sind, den Dank zu fühlen und ihn zu zeigen. Der Hund z. B. leckt die wohltuende Hand seines Herrn, er erkennt ihn von weitem; sobald er seiner nur gewahr wird, läuft er ihm entgegen und hüpft vor Freuden. Tut er wohl etwas Ähnliches beim Anblick der Sonne? Jener Frühgesang der Vögel, welchen man dichterisch den Sonnengruß genannt hat, ist nur das Echo ihrer Freude; sie blicken nicht einmal nach der Sonne. Betrachten wir endlich dieses uns wohlbekannte slavische Volk; finden wir nur einen einzigen Menschen unter demselben, der beim Anblick der Sonne Dankbarkeit oder Angst in sich verspürte? Diese ganze Theorie ist ein gelehrter Unsinn. Führen wir hier noch die Worte Quinets an, der im Namen der Urvölker diese eingebildeten Philosophen anredet: Sagt uns doch nur, woher sind außer dem Bereich eures historischen Wissens diese riesigen Denkmäler entstanden, diese ägyptischen Pyramiden, diese indischen Tempel? Begann der Mensch als Kind auf solche Weise die Baukunst und bestand sein ABC-Buch nur in den Büchern Moses und der „Ilias“; so macht doch etwas Ähnliches, ihr Weisen, gealtert in den Wissenschaften!202

In den ältesten Philosophen und Dichtern könnte man eine Menge der erhabensten und tiefsten Wahrheiten aufweisen. Schon selbst das im Abendland vorzugsweise gekannte griechische Altertum stellt in dem mythischen Dichter Orpheus einen Beweis auf, daß es seit undenklichen Zeiten Menschen gab, welche große Geheimnisse der göttlichen Dinge besaßen. Dies alles überzeugt nur zu sehr, daß die Urvölker unmöglich bloß aus dem Gefühl der Dankbarkeit allein der Sonne und dem Mond eine solche Ehre erwiesen haben, und daß die Gründet der ursprünglichen Gesellschaften viel erhabener und tiefer die geschaffene Welt begriffen. Nötig ist es jedoch, die Ursache dieses allgemeinen Kultus zu erklären, der sich bei allen bekannten Völkern der Erde wahrnehmen läßt, und, was noch 202 Vgl. das Zitat bei Edgar Quinet: Le Génie des religions, op. cit., S. 32: „Jetez vos regards le plus loin qu’il vous sera possible dans l’horizon du passé, qu’apercevez-vous, que trouvezvous à l’extrémité des siècles par-delà toute chronologie? des huttes de feuillage? des abris de roseaux? tout au contraire, de grands monumens, et comme de grandes pensées debout qui bravent tous les âges. Les pyramides d’Égypte, les temples de Thébes, ceux de Persépolis, les monumens de Mycénes, voilà les premières huttes du genre humain; et, dans un autre ordre de choses, les livres de Moïse, les poèmes d’Homére, voilà les livres avec lesquels cet enfant apprend à lire.“

13. Vorlesung (7. März 1843)

1153

wichtiger, warum man sich nicht mit bloßen Verneigungen und Danksagungen begnügte, sondern gewisse Gebräuche erfüllte, und das nur an den dazu bestimmten Tagen und Monaten. Nork läßt in Bezug darauf einen sehr treffenden Gedanken blicken, oder zieht vielmehr, indem er die von anderen zuvor entdeckten Tatsachen annimmt, aus ihnen die Theorie, ordnet und erklärt sie vermittelst einer Wahrheit. Bekannt ist, wie in den Erscheinungen des Magnetismus und Somnambulismus, in welchen die menschliche Seele zu einer höhern Stufe des Hellsehens gelangt, der Einfluß des Mondes und der Sonne eine wichtige Rolle spielt. Mit den in dieser Hinsicht jetzt gemachten Erfahrungen die alten Gebräuche und Zeremonien der Inder vergleichend, die den Zweck haben, sich die Gunst dieser Planeten zu erwerben, d. h. sich mit ihrer Kraft zu stärken, bemerkte man, daß dieser Kultus nichts anderes gewesen ist, als nur das Mittel, den Geist zu erheben, ihn in einen Zustand der näheren Berührung mit der Gottheit zu versetzen. In der Tat, betrachtet man auf diese Art die Dinge, so kann man Aufklärung über alle religiösen Gebräuche des Altertums erhalten. Die Inder teilen die Menschen ein in Sonnen- und Mondmenschen. Die ersten besitzen nach ihnen die Fähigkeit, sich bis in die höchsten Regionen des Weltalls mit klarem Blick zu erheben und stets mit der Gottheit in Berührung zu bleiben, ohne dabei aufzuhören, in der gewöhnlichen Sphäre des irdischen Daseins zu wachen und zu wirken; die Mondmenschen hingegen können die überirdischen Sphären nur im Traum durchschauen, d. h. in einem Zustand, den man einen magnetischen oder somnambulischen nennen könnte, wo der Mensch weder von dem, was er tut, noch von dem, was er tun sollte, sich klar Rechenschaft geben kann. Dieses erklärt uns jene im Altertum gebräuchlichen Sonnenbäder oder Insolationen. Man setzte sich der Sonnenwärme aus, um durch dieses physische Mittel die innere Kraft in sich zu wecken; wie wir schon sagten, den Gedanken Garczyńskis in „Wacława dzieje“ folgend, bemühte man sich, „die schlummernde Raupe im Menschen zu erwärmen.“203 Man erging 203 Diesen Gedanken entwickelt Mickiewicz in der 30. Vorlesung (Teil II) bei der Analyse der Poesie von Stefan Garczyński selbst: „Als Beispiel werden wir die Raupe irgendeines Insekts nehmen, die Schmetterlingsraupe, mit welcher alle Philosophen, alle Dichter des Altertums die menschliche Seele verglichen. Einige von diesen Raupen suchen noch ein Blatt, um sich auf demselben zu verpuppen, andere schlafen in der halbtoten Puppe, bei anderen kann man das Zucken der Flügel bemerken, und einige verwandeln sich schon in Schmetterlinge und schweben zum Himmel hinauf. Ebenso die menschlichen Geister: die einen haben sich noch nicht herausgearbeitet, sind noch nicht zur allernötigsten Kenntnis gelangt, zur Kenntnis, wie man sich vom Körper zu befreien habe, sind im tierischen Zustand, können sich noch nicht aus der Hülle herausreißen und fliegen; andere schon befreit, wahre Schmetterlinge, fliegen wie Meteore an uns vorüber, und setzen uns in Erstaunen durch Worte und Taten. Diese Wahrheit haben die Alten dadurch

1154

Teil III

sich desgleichen im Mondlicht, um der Sinnenwelt sich zu entziehen und in jenen Zustand der prophetischen Träume zu gelangen, deren Beschreibungen wir in den Poesie, des Nordens antreffen. Die Religionsgebräuche und die Zeremonien der alten Völker waren also nicht gänzlich ein solcher Unsinn und eine solche Dummheit, wie dies gewöhnlich scheint. Alle ohne Ausnahme hatten einzig und allein den Zweck, den menschlichen Geist frei zu machen, ihn zu erheben, ihn sehender, reiner und kräftiger zu machen. Erst wenn diese Wahrheit angenommen wird, ist es möglich, jeden Religionskultus auf eine gewisse Zeit zu beziehen und dessen Geschichte zu schreiben. Hier trennen wir uns schon von den deutschen Schriftstellern, namentlich aber von Nork. Nork, indem er das höchste Altertum und die größte Vollkommenheit der indischen Religion anerkennt, bemüht sich, aus dieser die Religion der Hebräer als eine abgeleitete und schwächere herauszufolgem, der christlichen aber gedenkt er nicht einmal. Ihm zufolge könnte man glauben, daß alle religiösen Institutionen und Mythologien, je mehr sie sich vom Brahmanismus, gleichsam von ihrer Quelle, entfernen, desto mehr verkrüppeln und an Kraft verlieren. Dem ist nicht also; im Gegenteil geschieht es umgekehrt, und wenn wir das bewiesen haben werden, so wollen wir Nork als letzte Antwort die Wichtigkeit der slavischen, am spätesten auf die Weltbühne tretenden Überlieferung entgegenstellen. Was wollten die Brahmanen erreichen? Worein setzen sie noch heute das ganze Ziel ihres Daseins? Sie wollen sich den Vergänglichkeiten der Welt, dem Mammon, den Netzen des Irrtums entziehen und im Schoß der Gottheit ausruhen. Die brahmanische Regel ist das vollständigste System, die vollendetste Sammlung aller Mittel und Arten der Erleichterung des Weges zur Vollkommenheit, der Bewahrung des Menschen vor dem Bösen. Indem aber dergestalt eine Menschenklasse, welche einst von einem uns unbekannten Offenbarer die Wahrheit erhalten, sich dieser Offenbarung ganz für sich freut, schließt sie sich von dem übrigen Teil des Menschengeschlechts ab. Nie ist der Brahmanismus204 tätig wirkend für die Zivilisation der Welt aufgetreten; das Glück allein genießend, nach welchem umsonst die anderen Völker jagen, jeden fremden Einfluß zurückstoßend, erhält er bis jetzt seine Volkstümlichkeit unangetastet ausgedrückt, daß sie auf der Stirn der Psyche, das ist der am vollständigsten befreiten Seele, einen Schmetterling als Symbol ihrer Freiheit setzten. So muß man Garczyńskis Poesie auffassen; er sagt, wenn wir unseren Geist befreiten, so würden wir Kraft, Weisheit und Macht finden.“ Insofern ist die obige Stelle kein Zitat. Vgl. dazu L. Płoszewski (A. Mickiewicz: Dzieła. Tom XI: Literatura Słowiańska. Kurs trzeci i czwarty. Warszawa 1955, S. 578–579). 204 Vgl. dazu – Axel Michaels: Der Hinduismus. Geschichte und Gegenwart. München 2006.

13. Vorlesung (7. März 1843)

1155

und denkt nicht daran, hinter den Bergen und Flüssen, welche Indien seit Jahrtausenden von den anderen, als unrein bezeichnetenVölkern trennen, irgend einmal hervorzutreten. Bei weitem erhabener war schon die hebräische Offenbarung. Wir wollen uns in dieser Hinsicht bloß an die philosophischen Rücksichten halten, weil diejenigen, welchen wir antworten, die Besprechung auf einem anderen Feld vielleicht nicht annehmen würden. Schon selbst nach Nork waren die Hebräer Männer, welche zur Erkenntnis des einen und allgemeinen Gottes nicht nur eine gewisse ausschließliche Kaste, sondern das ganze Volk zu bringen trachteten. Die Taten des auserwählten Volkes sind vor allem anderen eine Geschichte des fortwährenden Kampfes der Sehenden, d. h. der Propheten, der Offenbarer, mit der Masse des Volkes. Die Masse verfällt immerwährend in die alten Irrtümer, sie kehrt zu den weniger vollkommenen Religionen zurück, klammert sich an die Gebräuche der Brahmanen, der Perser und anderer Völker fest, sucht die Eingebung bei der Sonne, dem Mond, aus Bergen und in den geweihten Hainen; die Propheten und die begeisterten Könige hingegen zeigen dem Volk den alleinigen, unendlichen Gott und zwingen die Hebräer dazu, daß jeder von ihnen in sich selbst, in seinem Geist das Mittel finde, sich zu ihm zu erheben, nicht aber zu jenen fremden und physischen Mitteln greife. Kann man wohl jenem Brahmanen, welcher für jeden Tag im Jahr vorgeschriebene Morgen- und Abendbeschäftigungen hat, welcher, statt den gefallenen Menschen aufzusuchen, um ihn zu erheben, ihn vermeidet, sich sorgfältig von ihm abschließt: kann man ihn wohl mit jenem Volkspropheten vergleichen, der sich zwischen die Menge drängt, sich den Beleidigungen, den Qualen und selbst dem Tod aussetzt, um nur den Gedanken Gottes oder den Willen Gottes zu erkennen zu geben? Fürwahr, die Auseinandersetzung der Offenbarungsquellen beiseite lassend, können wir dennoch glauben, daß jedem Unbefangenen die Erhabenheit der hebräischen über die indische Religion als offenbare Tatsache einleuchten wird. Aber ungemein höher noch erhob die christliche Offenbarung das Dogma und den Religionskultus. Jenen Tempel, in welchem das ganze hebräische Volk zusammenkam, die Begeisterung zu schöpfen, sich zu Gott zu erheben, erhabenere Gedanken, reinere Gefühle aufzunehmen, diesen alleinigen Tempel hat das Christentum in der Welt vervielfacht. Der christliche Offenbarer hat allen Bedingungen, welche die Philosophie auflegt, nicht nur entsprochen, sondern er hat noch für sie selbst unzugängliche Geheimnisse aufgestellt. Die von uns erwogenen Schriftsteller verlangen, die allgemeine philosophische Weise verfolgend, in dem offenbarten Gesetz eine Zusammensetzung von Bruchteilen zu sehen; sie blicken mit Recht mißtrauisch auf ein System von Gesetzen, das nach einem gewählten Plan gefolgert ist, sie haben deswegen

1156

Teil III

das Gesetz Moses in Verdacht. Christus, der Herr, schuf aber kein System von Gesetzen, schrieb nicht einmal ein Bruchstück derselben; er hinterließ bloß die wesentlichste, die inhaltsreichste und zugleich die der Vernunft unzugänglichste Sache; er hinterließ sich selbst, sein Leben, sein Beispiel. „Kommt her, folgt mir nach!“205 – dies ist das einzige Gesetzbuch, das er der Welt gegeben; und er berief hierbei die Menschen zu einer bei weitem schwierigeren Arbeit, als die brahmanische und levitische206 gewesen, zu einer Arbeit, die sich gänzlich im menschlichen Geist konzentriert. Moses stellt den Menschen über die Natur, er macht ihn unabhängig von der Erde und von allen den Mitteln, welche der Planeteneinfluß oder die Rücksicht auf die guten und bösen Tage darreichen konnte; das Christentum stellt ihn unabhängig von der Hilfe anderer Menschen dar; es befiehlt ihm, immerwährend nur aus sich selbst die Kraft zu schöpfen und in sich selbst auch die Quelle der Wahrheit zu suchen. Unzweifelhaft ist dies das erhabenste Dogma und zugleich die am schwierigsten zu begreifende Wahrheit. Aber neben dem Dogma besteht noch ein zweiter Teil der Religion, dessen Bedeutung wir hier aufklären müssen, nämlich die Überlieferung (Tradition). Dieser Gegenstand verbindet sich innig mit unseren Forschungen über slavische Altertümer, und sobald wir später den ganzen Fortgang unsres Vortrages in eine kurze Übersicht zusammenfassen werden, wird es sich ergeben, wie viel darauf beruht, vollständig zu wissen, was wir unter Überlieferung verstehen sollen. Der innere Begriff, das Fühlen der Wahrheit gibt uns noch nicht die Kraft zum Tun, zum Handeln. Um aber diese Wahrheit nach außen zu offenbaren, ist noch etwas mehr erforderlich; es ist nötig, sie in andere übergehen zu lassen. Und gerade die solchergestalt vom Menschen zum Menschen gehende Wahrheit ist die Tradition. Gewöhnlich benennen die Lehrer und Interpreten verschiedener Religionen mit diesem Namen alle Erzählungen, alle Erinnerungen der Begebenheiten, die sich schriftlich oder mündlich unter dem Volk bewahren und auf seinen Glauben beziehen. Nichts ist falscher, irrtümlicher als diese Auffassung der Dinge. Die Überlieferung ist nicht der Wiederhall, nicht der wiederholte Klang, noch die Sammlung der gehörten Dinge, weil wir auf solche Weise jede Fabel, jede Volks- oder poetische Legende als Überlieferung anerkennen müßten; die Überlieferung ist das unmittelbare Geben der Wahrheit. Das Wort Tradition kommt von dem lateinischen Zeitwerte tradere, welches übergeben, darreichen, jemandem etwas von Hand zu Hand geben bedeutet.

205 Evangelium des Matthäus 4: 19. 206 Leviten – eigene Gruppe im religiösen Judentum, allein im Tempeldienst tätig; benannt nach dem Stammvater Levi (Altes Testament – Genesis 29: 34).

13. Vorlesung (7. März 1843)

1157

Und auf welche Weise geben wir die Wahrheit anderen? Geschieht dies etwa, indem wir sie bloß wiederholen, erzählen? Gewiß nicht; es geschieht dies, indem wir in andere die Wonne hinübergießen, welche jeder aus dem Fühlen der Wahrheit erfährt, indem wir sie mit dem Feuer durchdringen, von welchem wir selbst erglühen, indem wir mit ihnen dasselbe tun, was die Sonne mit der Natur macht. In der Art die Überlieferung fortpflanzen, sie weiter führen; das können nur Männer, welche selbst des Lebens und der Kraft voll sind. Die Römer, dies am meisten praktische Volk, begriffen jegliche Art der Überlieferung nicht anders, sogar im Gerichtswesen. Beim Kauf oder Verkauf, beim Zeugnisablegen vor Gericht waren die Parteien verpflichtet, alles durch einen Akt, d. h. durch ein Zeichen, sei es auch nur durch eine Handbewegung, welche den Willen oder die Tat vorstellte, zu bekräftigen. Es war nicht genügend, daß der Zeuge erzählte, er mußte außerdem gleichsam noch die ganze Szene, bei der er gegenwärtig gewesen, wiederholen. In dieser Bedeutung muß man auch die Tradition begreifen, wenn man von den Künsten redet. Sagt jemand z. B., daß in dieser oder jener Stadt, in dieser oder jener Schule eine gute Tradition des Gesanges fortwährt, verstehen wir etwa darunter nur die dort aufbewahrten musikalischen Papiere? Nein; es will dies vielmehr so viel sagen, daß diese Sänger, einer von dem anderen übernehmend, unter sich die Methode, das Gefühl, den Ton ihres Meisters bewahrt haben. Ebenso sprechen wir von der Militärtradition, daß sie in diesem oder jenem Reich, um diese oder jene Zeit aufgehört habe, wenngleich das Reich besteht und selbst auch dieselben Namen aller seiner Regimenter hat, nur daß es ihm an jenen mächtigen Feldherren gebrach, welche die Kraft besaßen, ihre Eingebungen zu vollführen, welche – wie der Dichter Garczyński sagt – den Befehl geben konnten und zugleich auch die „Kraft samt dem Befehl.“ („siła z rozkazem“)207. Also ein solcher Mann, welcher fähig ist, den Befehl und die Kraft zum Vollbringen desselben zu geben, eignet sich zum Verbreiten der Tradition. Die Tradition ist folglich nichts anderes, als die wesentliche Form der Wahrheit, die wirkliche Gestalt des Lebens; die Erzählungen aber, die Fabel, Erdichtungen, Träumereien sind die falschen Formen, die lügenhaften, die Verzerrungen der Wahrheit. Die Tradition ist die übertragene Wahrheit, übergeben durch Männer, welche fähig waren, sie zu fühlen und zu erfüllen; also ist jede lebende Wahrheit ein Beweis, daß es einen Menschen gegeben, der sie ausgesagt hat. Es ist keine Wahrheit da, wo kein Mensch ist, der sie übergibt. So wie es keinen Krieg ohne Krieger, keine Musik ohne Musikanten geben kann, 207 Garczyński: Wacława dzieje, op. cit., tom 1 (1833), (Kap. II, Teil V), S. 109.

1158

Teil III

so gibt es auch keine Wahrheit ohne ihren Verkünder, keine Religion ohne die Institution zum Erhalten derselben, keine wahrhaft lebende Institution ohne die Überlieferung, d. h. ohne die Reihenfolge von Männern, welche überliefern (qui tradunt) welche von Hand zu Hand die Wahrheit geben. Und hier muß man tief in Demut die Stirn beugen vor dem größten der Geheimnisse unter der Menschheit, vor der Art, welche der christliche Offenbarer wählte, um die Reinheit seiner Lehre zu bewahren, indem er die Sakramente festsetzte, welche die ganze Basis derselben ausmachen. Nicht nur verhieß er wie Moses, Propheten und Bekenner nach sich zu senden, sondern er versprach, selbst seinen Jüngern immer gegenwärtig zu sein, nicht bloß im Geist und in der Wahrheit, sondern selbst persönlich in Fleisch und Blut auf dem Altar, gegenwärtig wie die Sonne, welche sich in allem abspiegelt, was glänzt, und alles durchdringt; und auf diese Art die Wahrheit nicht bloß durch Eingebungen zu erteilen, sondern ihr selbst Leib und Blut zu geben, jeden Augenblick bereit zu sein, sie mit seinem Wink zu unterstützen, sich inmitten der Menschen lebend und wirkend wie ein Mensch zu befinden. Es ist dies die einzige Religion, deren Tradition verkörpert ist. Wohl ist dies ein schwieriges und eigentlich gesprochen, dem menschlichen Begriff ein unzugängliches Geheimnis. Vermag man es aber nicht zu begreifen, so folgt daraus nicht, daß man es schon verwerfen darf. Diejenigen, welche mit Verachtung und Hohnlächeln von diesen allerheiligsten Sachen reden, sollten sich lieber in die religiösen Aufgaben nicht einmischen; besser täten sie, anderswo ihre Beschäftigung zu suchen. Wir sahen also, wie gleich im Beginne der menschlichen Gesellschaft die innere Rührung, die Erschütterung, das Hineintreten in einen Zustand des Entzückens Gott dem Menschen zu fühlen gab; dann sahen wir, durch welche Mittel man sich später in diesem glücklichen Zustand zu erhalten bemühte. Die Inder, die Chinesen, alle Völker des Altertums schufen sich Institutionen, deren Zweck es war, die Menschen zu Gesetzgebern, zu Geistlichen und Richtern zu befähigen. Später zeigt sich ein Volk, berufen zu einer erhabeneren Rolle, zu einer umfangreicheren Tätigkeit, Die Weisen und Priester dieses Volkes, sich nicht mehr auf die Selbsterlösung beschränkend, trachten danach, dem ganzen Volk diese Bahn zu öffnen. Eine solche Reihe der immer höheren Offenbarungen krönt endlich die höchste Offenbarung, die Offenbarung Christi. Aus diesem allen kann man sich den reinen Begriff des religiösen Kultus machen. Im Allgemeinen ist ein jeder solcher Kultus nichts mehr, als nur die Sammlung der Mittel zur Vervollkommnung, zur Erhebung und zur Kräftigung des menschlichen Geistes. Wollen wir uns nun erinnern, was wir von dem Verderbnis der Mythologie durch Kunst und Poesie gesagt, so ist leicht

13. Vorlesung (7. März 1843)

1159

vorauszusehen, in was die menschliche Neigung zum Mißbrauch den Religionskultus verwandeln könnte; sie wäre im Stande, es dahin zu bringen, daß man aus dem Kultus nicht das Mittel zum Ziel, sondern den Zweck selbst machen würde. Nachdem die Menschen, auf solche Art verfahrend, zuerst diese Sonne, welche erwärmte und zu Gott erhob, und den Mond, welcher die tierische Seele des Menschen in höhere Regionen einführte, nachdem sie später alle Kräfte der Natur vergöttert hatten, vergöttern sie endlich sich selbst, und zwar nicht bloß ihre menschliche Natur, sondern selbst ihre Einfälle, ihre Doktrinen. Und da das slavische Volk aus dem Grunde, weil es seine Tradition nie durch Poesie noch durch Kunst verfälscht hat, heute schätzenswerte Vorräte für die Aufklärung der uralten Sagen darbietet, dabei einen durch Doktrinen unverdorbenen Religionsbegriff besitzt, so kann man sogar philosophisch folgern, daß es diesem Volk bestimmt sei, mehr denn andere die Wahrheit zu fühlen und sie kräftiger zu verbreiten.

14. Vorlesung (14. März 1843) Historische und philologische Forschungen (V) Slavische Mythologie. Fortsetzung – Mythologische Konzepte von Hanusch und Dankovský – Slavische Namen griechischer Götter – Das religiöse Empfinden der Slaven – Das Merkmal der Erwartung – Emersons Ansichten – Erkennen und Erfüllen der Verpflichtungen.

Haben wir eine allgemeine Vorstellung von dem, was Mythen, Überlieferungen und religiöse Zeremonien sind, so werden wir nun hiernach die slavische Mythologie betrachten. Bewiesen haben wir, daß der Begriff des alleinigen Gottes in allen Mythologien durchleuchtet und ihr Grundboden, ihre Basis ist; hinlänglich haben wir, so viel wir glauben, bewiesen, daß sich alle Religionen in einem Punkt begegnen; alle haben sie den Zweck, die treffendsten Mittel zu der Entfaltung, zu der Erhebung des Geistes zu der Gottheit, zu dem alleinigen Gott darzureichen. Dieses vor Augen behaltend, gehen wir weiter. Nach den ältesten Begriffen, den indischen, nach den Offenbarungen der Weisen, der Sehenden, der anfänglichen Lehrer ist die allerhöchste Gottheit nie sichtbar, unbegreiflich, unzugänglich; in der Welt vermag der Mensch sie nur wahrzunehmen und zu erkennen. Diese Gottheit, für immer dem Menschen verdeckt, heißt im Sanskrit Atma Parabrahma, der Gott über die Götter; verkörpert in der sichtbaren Welt erscheint sie im sternbesäeten Himmel und im Tageslicht als Brahma, in der Luft als Indra, in den Gewässern als Vishnu, im Feuer oder Urstoff der Lebenskraft als Shiva. Noch muß man wissen, daß die Gottheit, sich so offenbarend, immer die zweifache Gestalt annimmt, die männliche und die weibliche, und so z. B. hat der als Brahma sichtbare Gott die Indra zur Gattin. Wir werden hier nicht alle Namen der indischen Mythologie aufzählen. Auf diese Doppelheit, die sich in der ganzen Natur erblicken läßt, im tierischen Organismus, im elektrischen Fluidum, in den Kräften, welche man die tätigen und passiven nannte, haben einige neuere deutsche Philosophen, unter anderen Schelling208, ihr ganzes System gestützt. Den Keim dieser Philosophie finden wir in der uralten Überlieferung. Hanusch unternahm es, um diesen Gedanken herum alle slavischen Überlieferungen zu sammeln und zu ordnen; auf diese Weise baute er ein Ganzes aus ihnen. Sein Werk hat sehr großen Wert, zuvörderst in Betracht der Gelehrsamkeit, zweitens, weil, wie es uns scheint, die Zusammenstellung treffend ist, wenngleich ihm in Rücksicht 208 Vgl. F.W.J.  Schelling: Philosophie der Mythologie in drei Vorlesungsnachschriften; 1837/1842. Hrsg. Klaus Vieweg. München 1996.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_089

14. Vorlesung (14. März 1843)

1161

der Details vieles fehlt. Nebenbei hat ein anderer Gelehrter, der Professor Gregor Dankovský209 in Preßburg, eine Abhandlung über die griechische Mythologie veröffentlicht, in welcher er diese Mythologie mit Hilfe der slavischen aufzuhellen sucht. Diese beiden Verfasser arbeiteten an der Aufstellung eines Systems, und sogleich werden wir zeigen, was in demselben der Aufmerksamkeit am würdigsten ist. Eine der ältesten und am besten gekannte Mythologie, die indische, eine zweite, ebenfalls alle und noch bekanntere, die griechische, atmen erst Leben, sie werden erst verständlich, so zu sagen populär, sobald man zur Erläuterung derselben die slavische Sprache anwendet. Weil jedoch die etymologischen Auseinandersetzungen hier die Hauptrolle spielen, so wird es nötig sein, zuvörderst in der Kürze zu zeigen, wie weit man überhaupt auf diesem Weg vorschreiten darf. Mit Recht verglich man die Etymologie210 mit der Chemie; bekannt ist jedoch, daß es eine zweifache Chemie gibt, nämlich eine, welche sich mit der Zersetzung und Zusammensetzung der toten Körper beschäftigt, und eine andere, welche man die organische nennt. Diese letztere geht bloß bis zu einem gewissen Punkt. Die Pflanzen z. B. zersetzend, erhält sie aus ihnen die sogenannten organischen Stoffe, die sich von den eigentlichen chemischen Bestandteilen dadurch unterschieden, daß man sie schon mit den Sinnen erkennen kann, wie z. B. den Zucker, die Salze u.s.w. durch den Geschmackssinn, ohne die chemischen Reagentien in Anwendung zu bringen. Will jemand den chemischen Prozeß weiter fortsetzen, so begegnet er wieder der toten Natur, er findet bloß Gase und kommt zu nichts. Ebenso ist auch die Sprache ein organisches Wesen. Wir dürfen sie so lange auseinandersetzen, so lange ihre Bestandteile bloß mit den Sinnen sich abwägen lassen. Die etymologischen Resultate sind so weit wirkliche Resultate, als sie dem Volk verständlich sind; die weitere Zersetzung oder Auseinandersetzung führt bloß zu leeren Klängen, zu nichts bedeutenden Tönen, d. h. zu den Bestandteilen der toten Natur.

209 Gregor Alojz Dankovský [Dankowszky] (1784–1857). Vgl. Gregor Dankowszky: Die Götter Griechenlands, die zum Theil bei den alten, zum Theil bei den jetzigen Slaven noch leben, in ihrer eigentlichen und sinnbildlichen Bedeutung dargestellt: nebst einem griechischslavischen Etymologikon der Namen der Griechischen Gottheiten. Preßburg 1841; ferner – G. Dankovský: Die Griechen als Stamm- und Sprachverwandte der Slawen. Historisch und philologisch dargestellt. Pressburg 1828; G.  Dankovský: Die Griechen als Stamm- und Sprachverwandte der Slawen. Preßburg 1828. 210 Vgl. dazu Stefan Willer: Poetik der Etymologie. Texturen sprachlichen Wissens in der Romantik. Berlin 2003.

1162

Teil III

Hanusch und Dankovský211 finden beide die Einhelligkeit, sogar die Identität zwischen der slavischen Mythologie und der ältesten, der indischen; bekannt ist aber, daß die Griechen Religionsbegriffe aus dem Hindustan entnahmen und sie nach ihrer Art umgestalteten. Und so z. B., heißt das höchste, unsichtbare Wesen Mahan Atma oder anders noch im Sanskrit, in der persischen Mythologie Zervane Akerene, was auch die unsichtbare Gottheit bedeutet, bei den Slaven [polnisch] Bóg und Wid. Die anderen slavischen Benennungen sind untergegangen, in diesen aber finden wir die Spur jenes allgemeinen Begriffs, den Begriff der allerersten Ursache und des höchsten Wissens; bo drückt als Konjunktion in slavischen Sprachen die Ursache aus; wied, wiedza – das Wissen. Die Gottheit aber, welche sich schon sichtbar in der runden Form des Himmelsgewölbes zeigt, heißt bei den Slaven [polnisch] Krąg, bei den Indiern Brahma, bei den Griechen Kronos (Κρόνος). Diese Wörter begegnen sich offenbar. Kronos, der älteste griechische Gott, der Erzeuger aller anderen Götter, zuvörderst als der Himmel gesehen, Uranos (Οὐρανός), stellt sich auf der Erde im Ozean dar. Das griechische Okeanos (Ὠκεανός) rührt wahrscheinlich von dem slavischen oko, das Auge, her; denn in den hellenischen Mundarten kann man die etymologische Wurzel dieses Wortes nicht finden. Das Wort Kronos, lateinisch coelum, welches Kelum ausgesprochen wurde und von dem griechischen χοῖλου stammte, hat zur Wurzel das slavische [polnisch] Koło. Die zweifache Offenbarung der Gottheit im Himmel und in der Natur stellen also bei den Slaven die Worte [polnisch] krąg und około vor, bei den Griechen Kronos und Okeanos, bei den Indern Brahma und Indra oder die Luft, der Sitz aller Meteore, welche man slavisch vihar, wicher, im illyrischen Dialekt ihra212 nennt, was im Westen Griechenlands Hera (Ἥρα) ausgesprochen wurde, die Griechen der Neuzeit aber iri aussprechen. Der Gott in der Bedeutung des Brahma heißt bei den Slaven Dzień, das Licht, der ganze Gesichtskreis mit allem, was sich wahrnehmen läßt; bei den Griechen Zeus (Ζεύς), Zen (Ζῆν) – gesprochen Dzeus, Dzen, denn so sprach man den Namen des Jupiter aus. Dankovský führt philologische Beweise aus den griechischen Schriftstellern an, daß man die Worte Zen (Ζῆν) und dzień für ein und dasselbe nahm.213

211 Die folgenden Ausführungen referieren G. Dankovskýs: Die Götter Griechenland, op. cit., die wissenschaftlich unhaltbar sind. 212 Bei Dankovský, op. cit., S. 10: Vihéra. 213 Vgl. Dankovský, op. cit., S. 97: „Das polnische Nennwort männlichen Geschlechts dzień δζἠν, Tageslicht, 2) Tag, 3) Leben, ging bei den Griechen in zjén ζἠν über, bei den Slowaken in djén δἠν […]. Die Griechen umwandelten überdies das zjén ζἠν in zeŷ ζεῠ […]. Durch die Anhängung des S […] entstand Zeus Ζεύς.“

14. Vorlesung (14. März 1843)

1163

Derselbe Brahma zeigt sich in seinem weiteren Hervortreten ins Offenbare als der Gebieter der Gewässer, bei den Griechen Ποσειδῶν (Poseidon) was Dankovský von dem Worte cedzić ableitet. Fügen wir noch hinzu, daß die Gattin, die Ehehälfte jenes Gottes Kronos Rhea (Ῥέα) hieß, so wird diese Bedeutung sich der Wahrheit sehr nähern. Rhea schrieb man mit dem Aspirationszeichen neben dem Buchstaben R, und es scheint keinem Zweifel zu unterliegen, daß dieses Zeichen ihm den Laut „Rz“ gab, wie bei den Tschechen „ř“; im Tschechischen bedeutet řeju fließen, sickern; hieraus im Polnischen rzeka, der Fluß. Die Göttin Thetis (Θέτις) bedeutet die allgemeine Flüssigkeit (polnisch – ciecz). Wenn daher die Griechen sagten, der unsichtbare Gott, der rundgewölbte Kronos, habe mit seiner Gattin Rhea alle Götter erzeugt, so wollten sie dadurch nichts anderes sagen, als daß er sich anfänglich in der Gestalt der Flüssigkeit offenbarte. Dieses ist der Sinn jenes Mythos, wie denn auch Ποσειδῶν nach Dankovský das Wasser bedeutet. Endlich zeigt sich uns Kronos in der Gestalt der Erde, Demeter (Δημήτηρ). Es gab sogar eine uralte slavische Gottheit, Děda-matěr, die Urmutter.214 Bei den Griechen ist Δημήτηρ (Demeter) dasselbe, was bei den Römern Ceres. Noch können wir den Namen des Gottes der Hölle, des lateinischen Pluto, anführen, welcher griechisch Ἅιδης (Haidas – Hades) hieß und noch jetzt im illyrischen Dialekt Huidas genannt wird.215 Hiervon stammen ab: hydzić, hydny, d. h. der Abscheuliche, der Häßliche (französisch hideux). In der indischen Mythologie, deren Einzelheiten wir nicht wiederholen wollen, haben wir dieselbe Reihenfolge der Offenbarung der Gottheit. Brahma zeigt sich im Himmelsgewölbe, in den Gewässern, in der Erde und der Hölle. Dankovský macht auf diese Weise eine Menge Namen der griechischen Gottheiten verständlich. Er teilt sie in viele Klassen ein, welche man nicht alle mit Hilfe der griechischen Etymologie erklären kann. Es gibt unter ihnen einige, die sich ganz und gar nicht auslegen lassen, und Platon konnte in seinen Gesprächen216 nicht erraten, woher sie gekommen seien. Dankovskýs Meinung 214 „Aus dem böhmischen děda, Grossmutter, Ahnfrau, und dem slowakischen matěr μάτηρ, Mutter, entsteht durch Zusammensetzung dědamatěr, die Urmutter. Die Griechen verkürzten das ursprüngliche děda δἠδα in dâ δᾶ und dě δῆ, sie sagten Damatěr Δαμάτηρ und Děmětěr Δημἠτηρ.“ – Dankovský, op. cit., S. 89. 215 Dankovský, op. cit., S. 79: „Das Stammwort dieses Namens ist das slowenische huid, hager, mager. Aus huid wird gebildet das slavische Nennwort männlichen Geschlechts Huidas, der Hagere, Magere, 2. Der arge, schmlimme, böse, strenge Geist, 3. Der schreckliche Geist, der Teufel […].“ 216 Vgl. Platon: Kratylos. In: Platon: Sämtliche Werke 2 – Menon, Hippias I, Euthydemos, Meinexenos, Kratylos, Lysis, Symposion. Hrsg. Walter F. Otto, Ernesto Grassi und Gert Plamböck. Hamburg 1957, S, 123–182; Über Rhea, Kronos, Tethys, Poseidon, Pluton, Hades vgl. S. 144ff.

1164

Teil III

zufolge gehören sie zu den slavischen. Wir werden hier einige dieser slavischgriechischen Namen aufzählen. Diese sind: Aglaja, Haidas (Hades), Apollon, Hephaistos, Zeus, Helios, d. h. die Sonne (heute noch heute bei den Kärntern vijelios und bei den Griechen der Neuzeit ilios (ἵλιος) genannt), Elektra, Hera, Nemesis (ein Name, welcher bis jetzt noch in der tschechischen Gerichtssprache eine gerichtliche Strafe bedeutet und von nemisa217 herrührt), Poseidon, Tartaros, Okeanos usw. Nach dem, was wir früher gesagt, ist es sehr möglich, daß einst in sehr alten Zeiten Kolonien des Volkes, das wir heute Slaven nennen, von den Höhen Asiens ausgegangen waren und, sich allmählich in Europa verbreitend, nach Griechenland diese Mythen und Wörter hineingetragen haben, welche später der griechische Genius verdrehte und nach seiner Art gestaltete. Platon218 sagt, daß die uralten Gottheiten Griechenlands denen der Barbaren ähnlich gewesen seien; an einer andern Stelle sagt er auch, daß die alte Sprache Griechenlands viele Ähnlichkeit mit der barbarischen hatte; daß die Frauen zu seiner Zeit eine Zunge redeten, die von dem kultivierten Griechischen sich so sehr unterschied, wie die Sprache der Barbaren von der rein attischen. Unter Barbaren verstand er wahrscheinlich die makedonischen Slaven, die Slaven an der Donau und das in Attika wohnende einfache slavische Volk, deren Ursprache durch die stete und emsige Arbeit der Griechen, namentlich der Athener, immer mehr neue Wendungen und Ausdrucksarten annahm und sich endlich in eine ganz fremde Sprache umwandelte, die nichts Gemeinsames mit der alten hatte. Noch könnte man hier erwähnen, was wir von den uralten Mythen des Orpheus und Musaios gesagt haben, welche, wie es scheint, dem Slaventum angehören. Wir verweisen übrigens auf Schaffariks219 Werk, wo der Verfasser mit Hilfe der slavischen Sprache die Namen der Berge und Flüsse des nördlichen Griechenlands erläutert. Unter den Religionen des Altertums treten neben der indischen Mythologie die zendsche, pharsische oder persische auf. Ihr Ausgangspunkt ist ebenfalls der Begriff von einer um sichtbaren göttlichen Einheit, nur daß bei den Indern sich diese Gottheit allen Lebenselementen einverleibt, überall offenbar und fühlbar wird, sich in der ganzen ungeheuern Fülle der geschaffenen Dinge entfaltet; bei den Pharsen aber offenbart sie sich in zwei einander entgegengesetzten und stets mit einander kämpfenden Urstoffen; daher das Licht und 217 Dankovský, op. cit., S. 65. 218 Platon: Kratylos, op. cit., S. 152: „Ich denke nämlich, daß die Hellenen, zumal die in der Nähe der Barbaren wohnenden, gar viele Worte von den Barbaren angenommen haben.“ 219 P.J. Schaffarik: Slawische Alterthümer, op. cit., Bd. 1 (IV. Abschnitt), S. 486–523.

14. Vorlesung (14. März 1843)

1165

die Finsternis, die Wärme und die Kälte, die nützlichen und schädlichen Tiere, die heilenden und giftartigen Pflanzen. Dieser Kampf wird erst aufhören mit der Ankunft des Mithra oder zur Zeit der Offenbarung eines Dritten, welcher jene ergänzen und in den Schoß der ewigen Wahrheit zurückführen wird. Wir erwähnen dies, weil, der Meinung neuerer Gelehrten zufolge, die Slaven auf ihrer Wanderung durch Asien nach Europa gewiß die Perser berühren mußten und in ihren Sagen die Spuren von den Vorstellungen derselben bewahrt haben. Wenn wir also in der slavischen Mythologie dieselbe Grundregel wie in der indischen erblicken, wenn sich in derselben einige unbezweifelte Formen der persischen Mythologie wahrnehmen lassen, was macht dann ihren eigenen Charakter aus? Hanusch220 meint, dieser Charakter sei die Vereinigung oder das Band aller anderen Mythologien, sie sei pantheistisch wie die indische, nehme zugleich die Zweifachheit wie die persische an und strebe nach der Harmonie wie die griechische. Wir glauben, daß man einen ganz anderen Weg einschlagen muß, um alle diese Mythologien abzusondern, und der slavischen unter ihnen die geeignete Stelle anzuweisen. Die Offenbarung beginnt bei den Indern, wie wir dies sagten, mit der inneren Rührung, verursacht durch den Zauber der Natur, mit jener entzückenden Wonne, welche uns das Gefühl der Anwesenheit Gottes verschafft; alle Vorschriften und Gebräuche haben bei ihnen später bloß das Ziel, den Menschen von der Welt loszureißen, ihm die Rückkehr in den Schoß Gottes, in den Schoß der Einheit zu erleichtern. Man findet dort weder eine Geschichte der Gesetzgebung, noch den Namen des Gesetzgebers; alles ist zusammengesetzt aus einer Menge, unbekannt wann und von wem zurückgelassener Bruchstücke, aus einer Unzahl von Meinungen, Gesetzen, Gefühlen, teilweisen Schilderungen, die sich allmählich zu dem Ganzen einer Lehre zusammenreihen. Ganz anders verhält sich die Sache bei den Persern. Gleich beim Beginn ihrer Sagen zeigen sich die Namen der Offenbarer, eines Djemschid ( Jamshid)221, eines Zarathustra, welche ankündigen, daß sie der unmittelbaren Offenbarung vom Himmel teilhaftig geworden sind. Dieses macht das unterscheidende Merkmal dieser beiden Mythologien aus. Die indische, ohne Daten, ohne Epochen, gleichsam eine Reihe Volkserzählungen, von den Göttern und der geschaffenen Welt redend, verwandelt sich mit der Zeit fast in eine Träumerei. Aus diesen poetischen Träumereien erzeugen sich später philosophische Träumereien, philosophische Systeme, die sehr den deutschen ähneln. Es sind dies Arbeiten müßig gehender Leute, die nie daran denken, irgendetwas von dem, 220 I.J. Hanusch: Die Wissenschaft des slawischen Mythus, op. cit., S. 34–47. 221 Persischer König (mythische Figur).

1166

Teil III

was ihnen in den Sinn kommt, zu realisieren. Die Perser erfüllen im Gegenteil augenblicklich ihren Glauben mit dem Schwert. Der Zweck ihrer Eroberungen war, wie Quinet im oben erwähnten Werke sagt, dem Lichte den Sieg zu verschaffen.222 In dieser Absicht trachteten sie, nachdem sie Asien überfallen hatten, die bösen Menschen auszurotten, die schädlichen Pflanzen zu vernichten, die kalten Länder zu erwärmen, mit einem Wort, sie wollten nach den Begriffen, die sie von demselben hatten, allenthalben die Herrschaft des Guten dort einführen. Sehen wir nun, welcher Zusammenhang zwischen den oben erwähnten und den slavischen Vorstellungen besteht. Die uralten Slaven, ebenfalls jenes Gefühl, welches, wie es scheint, den erhabeneren Geistern angeboren ist, das Bewußtsein von dem Vorhandensein Gottes und der von ihm erschaffenen Welt, und dieselbe Sprache besitzend, welche Vorderasien gesprochen, ließen sich weder in Träumereien, noch in Vernunftgrübeleien ein. So wie die Poesie und die Kunst ihre Gebräuche und Sagen nicht entstellte, so verdarb auch die Träumerei und das Philosophieren ihre wesentlichsten religiösen Lebenskeime nicht; sie haben ihr religiöses Gefühl rein aufbewahrt. Während der Brahmane die endlosen Erzählungen von der Gottheit zusammensetzte, bemühete sich der Slave, die von Gott erhaltene Wahrheit dem alltäglichen Leben anzupassen, sein religiöses Gefühl zu zeigen, dieses im häuslichen, im ackerbauenden, im Gemeindeleben zu vollführen. Ebenso haben die Slaven, während der persische Seher am Ende unerhörte Dinge von den Göttern und Genien erzählte, die urtümliche Überlieferung in Märchen verwandelte, nie die verruchte Frechheit gehabt, von Dingen zu sprechen, von denen sie nichts wußten, obgleich sie auch den Kampf des Guten mit dem Bösen in der Natur fühlten. Sich bemühend, das Gute zu vermehren, das Böse zu vermeiden, ließen sie sich nicht in die faselhaften Auseinandersetzungen der Kämpfe zwischen dieser und jener Naturkraft, zwischen diesem und jenem Tier ein. Aber alle diese heidnischen Offenbarungen unterscheiden sich noch viel mehr, ja gänzlich von der großen hebräischen Überlieferung, die mit dem Christentum endet. Die Inder hatten bloß ein undeutliches Vorgefühl, welches übrigens sehr weit reichen kann. Es ist eine schon nachgewiesene Sache, daß sie die Möglichkeit der Inkarnation Gottes, der Fleischwerdung Gottes, die Möglichkeit des unmittelbaren Einflusses der unsichtbaren Welt auf die sichtbare ahnten; dieses jedoch beweist nicht im mindesten, daß sie diese hohen Wahrheiten klar eingesehen haben. Machen wir einen Vergleich. Der Dichter z. B., welcher 222 Quinet, op. cit., IV. Buch.

14. Vorlesung (14. März 1843)

1167

den Krieg geahnt, die Muster der Helden geschaffen, ihre Taten beschrieben hätte, wäre er etwa schon der Gesetzgeber? Wohl kann er die Zukunft erraten, nicht aber sie aufstellen, d. h. er kann einen Roman schreiben, nicht aber ein Epos. Immer wird sein Voraussehen nur ein Fühlen, ein Ahnen, ein Träumen sein, nicht aber die Wirklichkeit; dies ist die indische Mythologie, dies sind alle Mythologien der Völker, die man Heiden nennt. Einen ganz andern Charakter tragen die Offenbarungen der Hebräer, des Abraham, des Moses an sich. Es sind dies keine fabelhaften Erzählungen. Wir finden in ihnen wunderbare Sachen, haben aber die Zeitangaben der Begebenheiten, die Namen der Männer, die Zahl der Jahre nach den Geschlechtern; der Himmel eint sich hier innig mit der Erde, der Geist mit dem Körper, Gott mit dem Menschen. Ungeachtet dessen, was die Philosophen über die Wahrhaftigkeit der Bücher des alten Bundes gesprochen, legen diese Bücher von sich selbst Zeugnis ab. Warum besitzt keine andere Literatur etwas Ähnliches? Gesammelt würden die Volkserzählungen der Slaven eine so kolossale Mythologie wie die indische ausmachen, aber die Slaven haben ihnen nie religiösen Wert beigelegt. Die Perser haben ihre Überlieferungen, die gar sehr den hebräischen ähneln, in eine Menge poetischer und phantastischer Erdichtungen verwickelt. Der Berg, auf welchem ihr Prophet das Gesetz entgegennahm, ist ein Berg mit goldenen Höhlen; die Sterne kommen dort zum Ausruhen zusammen. Diese Verzierungen gibt es nicht in der Beschreibung des Berges Sinai von Moses; die Reisenden sehen ihn heute so, wie ihn uns die Bibel darstellt. Würde man diese Unterschiede erwägen, man mischte gewiß nicht alle Offenbarungen in eine zusammen, noch betrachtete man die Offenbarung Abrahams und Moses für einen Fortschritt der indischen Offenbarungen. Alle diese Vorgefühle und Ahnungen, alle diese Voraussetzungen verkündigten von fern die Wahrheit, die sich auf Erden zeigen sollte; sie aber selbst war bei einem Volk und offenbart hat sie ein Mensch, der Leib gewordene Gott. Daher betrachten wir die ältesten Mythologien, welche den Zeiten Abrahams vorangehen, bloß als Ahnungen; wir möchten sie nicht einmal Mythologien nennen. Es sind dies Volkserzählungen, ähnlich denen, welche die Slaven bei sich Skazki oder Baśnie (Märchen), nennen, in welchen man auch ein kraftiges und tiefes Gefühl der göttlichen Wahrheiten antreffen kann. Die späteren Mythologien aus den Zeiten Abrahams sind aber nur ein Verdrehen oder Nachahmen der wirklichen und unmittelbaren Offenbarungen. Ein solches ist die Offenbarung Zarathustras; denn obgleich einige Gelehrten ihn vor Abraham setzen, so ist doch dieser Altersvorrang, den Beweisen, auf die wir uns stützen, zufolge sehr zweifelhaft. Ein solches ist die Offenbarung Buddas und aller jener Propheten, welche neben Moses ebenso auftreten, wie Mahomed an der Seite des Heilandes. Allen diesen falschen Offenbarungen geben wir

1168

Teil III

den Namen Mythologie in der eigentlichen Bedeutung dieses Wortes. Eine solche Mythologie ist auch die ägyptische und griechische. Die Slaven machen die einzige Ausnahme in dieser Hinsicht; sie bewahrten die ursprüngliche Überlieferung, das einfache Gefühl Gottes rein; sie vergeudeten nicht diesen heiligen Schatz in eitlen Musearbeiten der Vernunft, noch der Einbildung; sie ließen nicht zu sehr diesen Kräften den Zügel schießen. Darum gibt es auch bei ihnen, eigentlich gesprochen, keine Mythologie, es finden sich nur Vorräte von patriarchalischer Religion, so gesund und kräftig wie nirgends in der Welt; es gibt bei ihnen keine erdichteten Schilderungen von den Abenteuern und den Verwandtschaften der Götter, und daher auch – wie wir dies im Vortrag223 des ersten Jahres auseinandersetzten – gibt es nicht einmal einen Urstoff des aristokratischen Elements in der Gesellschaft. Darum hat auch dieses in kein System verwickelte, von den Künstlern und Sophisten nicht irre geführte Volk so leicht das Christentum angenommen. Darum unterscheidet es sich auch heute von den übrigen Völkern; es trägt sein besonderes Gepräge. Dieses Merkmal, dieses sein Gepräge ist die Erwartung: der slavische Stamm harrt noch. Hanusch sagt mit Recht, daß es nicht äußere Veranlassungen, nicht politische Begebenheiten waren, welche diesem Geschlecht nicht erlaubten, eine Rolle in der Geschichte zu spielen, sondern daß Gott ihm von Anbeginn das Merkmal der Passivität aufgedrückt habe. Alle Zeiten hindurch, bis auf heute, war es immer passiv; sein Raum ist ungeheuer auf der geographischen Karte, bedeutet aber in der Geschichte der Literatur, der Künste und der Politik wenig, d. h. in einer Geschichte, wie man sie heute begreift, in einer zusammengereimten und geschriebenen. Derselbe Hanusch fügt jedoch hinzu, dieses Geschlecht, welches so lange gelebt hat, muß auch seine Geschichte haben. Diese Geschichte liegt aufbewahrt in seinem Geist.224 Hier bietet sich uns eine äußerst interessante Frage dar. Wir sind von einer anderen Seite wiederum zu dem Erwägen der slavischen Zukunft gelangt. Die allgemeine Stimme verkündigt den Slaven die Nähe des Augenblicks, in welchem sie tätig auf die Weltbühne treten sollen, die Stimme Fremder, nicht ihre eigne; denn in dieser ganzen Angelegenheit führen wir mit Fleiß nur die Meinungen der Ausländer an, damit man uns nicht des Eingenommenseins verdächtige. Sollen sie also tätig auftreten, so darf man fragen, was sie wohl in einer Welt, wie die heutige ist, zu tun hätten, in dieser Welt der 223 Vgl. die Vorlesungen 5 und 6 (Teil I). 224 Vgl. Hanusch, op. cit., Kapitel: Von der Stellung der Slawen in der Kulturgeschichte, S. 9–16.

14. Vorlesung (14. März 1843)

1169

Wissenschaften, der Künste, der Industrie, ihnen so fremd und so zuwider? Was wird hier dies ackerbauende Volk tun, welches außer dem ländlichen kein anderes Leben kennt, fast keine anderen Werkzeuge zu handhaben versteht als die zum Ackerbau nötigen, welches noch nicht einmal die Einteilung der Arbeit bei sich eingeführt hat, sich selbst zugleich Künstler, Handwerker und Philosoph ist? Wozu soll es in dem Augenblicke berufen sein, wo die Welt der Vernunft huldigt, wo sie uns täglich mit neuen Wundern ihrer Entdeckungen und Erfindungen in Erstaunen setzt? In der Tat verwirrt dies auch nicht wenig die Schreiber der Reformen für die Slaven, und darum möchten sie alle gern zuvor die Slaven zivilisieren, sie mit dem europäischen Firnis überziehen, d. h. aus ihnen Kaufleute, Krämer, Industrielle, mit einem Worte Engländer, Deutsche, Franzosen machen. Um zu zeigen, wie irrig, ja wir erdreisten uns zu sagen, wie verrucht alle diese Bemühungen sind, wollen wir noch einige Zeilen des amerikanischen Philosophen anführen. In Nord-Amerika, in diesem Hauptsitz der Industrie, der Eisenbahnen, der Bankbillets und Arbeitsteilung seufzt unser praktischer Philosoph nach dem ackerbauenden Landleben. Er beweist, daß die Art, in welcher bis jetzt die europäischen Völker gelebt, die Nutzanwendung, welche sie von dem Christentum gemacht, dieselben in einen elenden Zustand, der ihnen nicht einmal erlaubt, die Wahrheit zu fühlen, gebracht hat. Verleiht das Christentum dem Menschen die Herrschaft über die Erde, indem es ihren untergeordneten Rang aufweist, so geschieht dies nicht etwa bloß, um in ihm die Begierde zur Beherrschung der Elemente zu wecken, und verkündet es die Gleichheit unter den Menschen, so geschieht dies nicht, um sie zum Neid und zur Mitbewerbung anzuspornen. Sehen wir, was Emerson in einer zahlreichen Versammlung zu Boston sagt: Ist der von den vorangegangenen Geschlechtern uns hinterlassene Reichtum so besudelt, nun, so sprechen wir doch lieber nicht mehr darüber, wie großen Anteil ein jeder an demselben hat, sondern erwägen wir vielmehr, ob es nicht edler wäre, ihm ganz zu entsagen, zu den Urverhältnissen des Menschen mit dem Boden und der Natur zurückzukehren und, sich alle dem entziehend, was verrucht und unrein ist, mannhaft zu der allgemeinen Arbeit, je nach den Kräften eines jeden, und das mit unserem eignen physischen Schweiß, beizutragen. Aber es möchte mir wohl jemand entgegnen: „Wie! du willst also, daß wir dem unendlichen Vorteil entsagen, welcher aus Arbeitsteilung hervorgeht, daß jeder seine Stiefeln selbst nähe, sich die Werkzeuge selbst mache usw.? Dies hieße ja freiwillig in den barbarischen Zustand zurückfallen.“ Was mich betrifft, sagt Emerson weiter, so bekenne ich, eine solche Veränderung würde mich nicht ärgern, nicht bedauern möchte ich, wenn einige Artikel des Luxus und des Wohllebens seltener werden, ja wenn sie auch vielleicht gänzlich schwinden würden, gäben wir nur dem ackerbauenden Leben den Vorrang in der Überzeugung, daß

1170

Teil III diese Lebensart dem Menschen die Erfüllung seiner Hauptpflichten erleichtert, daß wir dadurch edlere Gefühle, reineres Wohlgefallen erlangten.225

Wenn also eine Gesellschaft, welche unter allen die Berechnung auf die höchste Stufe geschraubt hat, dieser bloß den materiellen Aussichten zugewandte Zustand der Dinge schon anekelt, mit welchem Schmerz muß man es nun wahrnehmen, wenn die vermeintlichen Reformatoren des Slaventums demselben die höchste Glückseligkeit in dem Befolgen der Bahn jener gealterten Gesellschaften versprechen. Die Frage ist jetzt den Slaven ganz anders gestellt. Es handelt sich hier weder um Regierungsformen, noch um Theorien der Staatswissenschaft, sondern nur einzig darum, zu entscheiden, welcher Weg am geradesten der Wahrheit zuführt, welche Lebensart dem Vorhaben der Vorsehung am besten entspricht; ob diejenige, die wir in den industriellen, kaufmännischen, erobernden Ländern sehen, oder die, deren Muster unser ackerbauendes Volk darbietet, ein Volk, nur mit dem Landbau beschäftigt, der einzigen Arbeit, welche, den Büchern der Weisheit zufolge, der Himmel segnet, das in seiner Mythologie nicht einmal eine Gottheit des Krieges besitzt. Umsonst ist es, einem solchen Volk Lockungen in irgendwelchen europäischen Formeln aufzustellen. Wir wiederholen es und bestehen auf dem, was wir vor zwei Jahren226 ausgesprochen, daß nämlich, sobald man von der Kultur der höheren Klassen und der Volksbarbarei in den slavischen Ländern spricht, die Sache sich ganz und gar umgekehrt verhält. Im Slaventum sind es diese zivilisiert genannten Stände, diese schriftstellernden Klassen, welche sich wirklich der Barbarei zuneigen; das gemeine Volk aber, der Bauer, der dumme und finstere genannt, ist gerade, unserer innigsten Überzeugung nach, für das Empfangen der Wahrheit der am vorteilhaftesten Gestellte. Was befiehlt dem Menschen das Christentum? Die Losreißung von der Welt, vom Mammon, eine beständige und wirklich nützliche Arbeit. Wo finden wir aber jemanden, der diesem allen so streng Genüge leistete, als unser slavischer Landmann? Ist er nicht zugleich der Brahmane und der wahrhafteste Christ? Man sagte ja schon, daß während des letzten Krieges227 Polens mit Rußland einzig und allein das Volk seine Schuldigkeit getan hat. Diejenigen aber, die es reformieren wollen, sagen von sich selbst, daß sie die ihrige nicht getan haben. Wozu dient nun aber dieses Leben, wozu ist es uns verliehen, wenn nicht dazu, unsere Pflicht erfüllen zu lernen? Wie es sich zeigt, lehren eben diese 225 Fortsetzung der Zitat-Paraphrase aus der 11. Vorlesung (Teil III) aus „Man the Reformer“ von R.W. Emerson; vgl dazu auch Marta Skwara: Mickiewicz i Emerson, op. cit., S. 113–114. 226 Vgl. 17. Vorlesung (Teil II). 227 Novemberaufstand von 1830.

14. Vorlesung (14. März 1843)

1171

schwierige Wissenschaft weder Bücher noch Kunstwerke. Wozu soll uns nun dies alles dienen, was soll uns diese Kultur, diese Zivilisation, die nicht dem Hauptzweck zuführt, die uns nicht lehrt, unsere Schuldigkeit zu tun? Wäre es daher nicht geratener, von dem anzufangen, zuerst so leben zu lernen, wie diejenigen leben, die ihre Schuldigkeit zu tun wissen, die fremden Formeln zu verlassen und bei jenem alten Volk in die Schule zu gehen, welches das schätzenswerteste Wissen besitzt, die Wahrheit zu fühlen und sie zu erfüllen.

15. Vorlesung (24. März 1843) Historische und philologische Forschungen (VI) Litauische Mythologie. Zur Geschichte der Litauer – Indische Herkunft der Litauer – Charakter dieses Volkes: polonophil vs. russophob – Wirkung im Norden – Ursachen gegenwärtiger Untätigkeit.

Unseren Vortrag über slavische Mythologie werden wir mit den Beobachtungen verbinden, welche uns von der litauischen dargereicht worden sind. Hiermit enden alle Ethnographen und Mythographen der Gegenwart, welche durch den Verlauf ihres Gegenstandes tief ins Slaventum hineingezogen werden. Sie sind nicht eher im Stande, den ganzen Inhalt der Religion der Slaven zu erfassen, als bis sie in die Altertümer und Überlieferungen der Litauer eingedrungen sind. Demnach also fand sich bei diesem am wenigsten in Europa bemerkbaren Volk und in dieser unter den europäischen Sprachen am wenigsten schriftstellernden der Schlüssel zu so vielen Aufgaben. Schon früher zeichneten wir in kurzem Abriß die Geschichte der Litauer. Ein Häuflein dieses den Slaven und Finnen fremden Volkes, abgesondert von ihnen durch eine Kette von Seen, Morästen und Wäldern, gedrängt ans baltische Meer zwischen die Mündungen der Weichsel, des Niemen (Memel) und der Düna (Daugava), lange unbekannt und sich still verhaltend, erscheint plötzlich auf der Schaubühne des Slaventums mit erobernder und gesetzgebender Kraft; es erobert viele Fürstentümer des Rus’, verheert Polen, schließt später mit demselben einen Bund, stellt eins der größten Reiche im Norden fest und verschwindet wieder von der Schaubühne. Es scheint, als versinke es unter die Erdoberfläche, alle seine Berührungen mit den Ostslaven und Polen vergessend und bloß seine Sprache und Überlieferungen mit sich nehmend. Die litauische Sprache ist heute für eine der ältesten unter denen auf dem Kontinent Europas anerkannt. Bopp228 und von Bohlen229 haben dies hinlänglich bewiesen. Baron Eckstein230 sieht dieselbe für die älteste nach dem 228 Franz Bopp (1791–1867), deutsche Linguist und Sanskritforscher. Vg.: F. Bopp: Über das Conjugationssystem der Sanskritsprache. Frankfurt am Main 1816; Vergleichende Grammatik des Sanskrit, Zend, Armenischen, Griechischen, Lateinischen, Litauischen, Altkirchenslavischen, Gothischen und Deutschen. 6 Abteilungen. Berlin 1833–1862. 229 Peter von Bohlen (1796–1840), Professor für orientalische Philologie an der Universität Königsberg; vgl. P.  Bohlen: Über die Verwandtschaft der lithauischen mit der Sanskritsprache. In: Historische und literarische Abhandlungen der Königlichen Deutschen Gesellschaft. Hrsg. Friedrich Wilhelm Schubert. I. Sammlung. Königsberg 1830, S. 113–140. 230 Ferdinand d’Eckstein (1790–1861) publizierte in der Zeitschrift „Le Catholique“, Paris  1 (1836), einen Beiträg über litauische Poesie; vorher über die serbische (1826, I, Nr. 2 und II, Nr. 6) – vgl. 20. Vorlesung (Teil I). © Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_090

15. Vorlesung (24. März 1843)

1173

Sanskrit und für die am wenigsten geänderte an. In den litauischen Sagen erhält sich der Urgedanke, die Seele der ganzen Überlieferung. Weil es aber der litauischen Sprache an schriftlichen Denkmälern gebricht, so halten sich die Gelehrten wegen der Erläuterung und der Auseinandersetzung dieser Überlieferungen an die slavische Sprache. In dieser Weise verfahren Hanusch und Dankovský. Und so ist der unsichtbare, unerforschte, allgemeine Gott der Inder, Parabrahma, bei den Litauern Pramžimas231; in seinem allgemeinsten Kundwerden, in seinem Tun begriffen aber heißt er diēvas, das bedeutet im Litauischen Gott.232 Dieses Wort wäre aber schwer zu verstehen, besäßen wir nicht das slavische Wort dziej, dziać. Dankovský233 erklärt daher ganz vortrefflich das griechische Ζεύς (welches die Griechen Dzejs aussprechen) durch das Wort dziej, welches sich als Stammwort in den polnischen dobrodziej, kołodziej vorfindet. Θεός, Ζεύς, Dziej bedeutet also die Gottheit, welche schon als handelndes Wesen sich in der Welt offenbart. Es scheint dieses die beste Erklärung dieser Namen zu sein, über welche man so viel diskutierte. Die slavische Sprache reicht die Worte zur Aufklärung der ganzen Hierarchie der sichtbar gewordenen Gottheit dar; die Geschichte aber, die Herausfolgerung, die Überlieferung dieses sich Vermehrens der Götter ist bei den Litauern. Nirgends weiter setzen die religiösen Begriffe ein so umfangreiches und so vollkommenes Ganzes zusammen. In dem, was früher die Schriftsteller des Westens über Litauen geschrieben haben, und in dem, was sich heute noch in den Überlieferungen des Volkes erhält, lassen sich Vorräte von Vorstellungen, die in verschiedenen Weltgegenden zerstreut sind, wahrnehmen. Es gibt dort Spuren von brahmanischen Meinungen über die Natur der Menschenseele, über ihren Zustand nach dem Verlassen des Körpers, über die dienstlichsten Mittel zu ihrer Erlösung; es gibt auch Überreste vom zendschen Glauben, von Glaubenssätzen der Kriegerkaste, von Verehrern des Feuers und des Wassers, von dem Kampf dieser beiden Elemente, von dem Beruf der Sonnensöhne zur Ausrottung der Kinder der Finsternis; es gibt Gebräuche, die diesen erwähnten Vorstellungen entsprechen, wie auch andere, bestimmt zur Heiligung des häuslichen Lebens, welche uns die ähnlichen bei den Griechen und Römern ins Gedächtnis rufen und erklären. Mit einem Wort, diese Mythologie vom indischen Brahmanismus angefangen, umfaßt die persischen Sagen, die griechische und römische Tradition, endlich alle alle Praktiken des Aberglaubens, 231 Vgl. Hanusch, op. cit., S. 234. 232 Zu diēvas, im Litauischen Gott, lateinisch deus, vgl.: Leszek Moszyński: Die vorchristliche Religion der Slaven im Lichte der slavischen Sprachwissenschaft. Köln-WeimarWien 1992, S. 40–41; ferner – Aleksander Brückner: Starożytna Litwa. Ludy i bogi. Hrsg. Jan Jaskanis. Olsztyn 1979 (1. Auflage: Warszawa 1902), S. 12 und 117. 233 Dankovský, op. cit., S. 97.

1174

Teil III

welche in Europa stattgefunden haben. Diejenigen, welche neugierig wären, die Einzelheiten in dieser Beziehung zu erfahren, verweisen wir zu den ausschließlich diesen Gegenstand behandelnden Werken234; einzeln werden wir hier weder die Gottheiten, noch die Mythen besprechen, nur wollen wir die Aufmerksamkeit einigen Begriffen zuwenden, wie z. B. dem der Unsterblichkeit der Seele. Die alten Litauer glaubten, die Seele könne, sobald sie den Leib verlassen habe, entweder in eine andere Gestalt übergehen, sei es eine menschliche oder tierische oder sogar pflanzenartige, je nach ihrer moralischen Vorbereitung; habe sie sich aber gehörig vervollkommnet, so könne sie gerade in den Himmel gehen. Solche große Geister, vollkommen entfaltet, verlassen die Erde und begeben sich auf dem Weg der Milchstraße zu dem Sitz der Glückseligen in der Gegend des Nordens. Sobald ein Mensch geboren wird, erscheint sogleich ein neuer Stern. Die Parze [Klotho] befestigt an denselben den Faden seines Lebens, spinnt ihn so lange fort, als ihm zu leben bestimmt ist, und schneidet ihn beim Tode durch. Wir können hier erwähnen, daß die Benennungen der griechischen Parzen ganz und gar slavisch sind.235 Die Sterne der Kinder und Menschen von kurzem Leben sind klein und ohne Glanz, diejenigen, welche wir fallende Sterne nennen, verkünden einen gewaltsamen Tod, die fixen aber gehören den Göttern und Helden. Wir führen diese Einzelheiten an, weil sie in keiner anderen Mythologie zu finden sind. Den Kultus der Verstorbenen, den Dienst der Vorfahren haben die Litauer mit vielen anderen Völkern des Altertums gemein, nirgends aber findet man ihn so kräftig eingewurzelt und so rein als bei ihnen. Erinnern wir uns noch einiger Dinge aus der geschichtlichen Überlieferung dieses Volkes. Zuvörderst, was bemerkenswert ist, betrachtet es sich selbst nicht als aus dem Land herstammend, welches es bewohnt, sondern als fremd, als eingewandert aus einer unbekannten Gegend des Morgenlandes. Dieselbe Überlieferung sagt auch, daß, als nach der Sintflut mehrere Personen durch ein 234 Teodor Narbutt: Dzieje starożytne narodu litewskiego. Tom  I: Mitologia litewska. Wilno 1835 [http://www.pbi.edu.pl]; Konrad Schwenck: Die Götter der Preussen und Lithauer. In: Die Mythologie der asiatischen Völker, der Ägypter, Griechen, Römer, Germanen und Slaven. Hrsg. Konrad Schwenck. Band VII: Die Mythologie der Slawen. Frankfurt am Main 1853, S. 63–132; vgl. auch – Algirdas Julius Greimas: Of Gods and Men: Studies in Lithuanian Mythology. Bloomington (Indiana) 1992. 235 Bezug auf Dankovský, op. cit., S.  116–117, der das Wort Moiren (lateinisch Parzen), slavisch deutet: „Das Stammwort dieses Namens ist das krainerische Nennwort múia, bei den Wenden múia und móia, Mühe, Anstrengung, Beflissenheit, opera, labor, studium.“ (S. 116).

15. Vorlesung (24. März 1843)

1175

Wunder gerettet waren, die älteste von ihnen sich auf ähnlicher Art, wie Deukalion und Pyrrha236, vermehrte, über die Knochen der großen Mutter (Natur), d. h. über Steine springend. Von dieser stammt das litauische Geschlecht ab, und aus dem Grund dieses Altervorrangs hegten die anderen Völker immer Haß gegen dasselbe; sie verfolgten und bedrückten es allerwärts. Was seine Taten anbetrifft, so beginnen diese mit den zwei mythischen Namen Brutenes und Wejdawutis.237 Brutenes war der Hohepriester und gab zuerst die Glaubenslehre, erzählte die Herkunft der Götter, entdeckte die Geheimnisse der Natur. Wejdawutis war ein Krieger und versammelte das Volk unter seine Gewalt; er gründete gleichsam ein Königreich. Diese beiden Häupter endeten nach vielen Jahrhunderten glücklichen Herrschens das Leben durch freiwilligen Tod auf dem Scheiterhaufen. Ihre Nachfolger starben fast alle diese Todesart, was uns an die Sitte der Inder erinnert; es ist dies die brahmanische Überlieferung. Später, in den Chroniken des Mittelalters, finden wir die Spuren zweier Kasten, die diesem Geschlecht vorstehen. Die eine machen die Priester aus, unter der Oberhoheit des Hohenpriesters oder Kriwe-Kriwejto238, dadurch verschieden von den Brahmanen, daß sie wählbar sind; die zweite stellen die Krieger vor, genannt die Witi oder Withingi.239 Unbekannt ist, woher dieser Name gekommen. Die Witi sollten aus Skandinavien gekommen sein, jedoch auch dort werden sie für Ankömmlinge angesehen. Es war dies irgendeine sehr altertümliche, den Skandinaviern und Litauern gemeinsame Kriegerkaste, deren gegenseitige Berührungen übrigens so häufig waren, daß die Skandinavier endlich die preußischen Litauer gänzlich unterjochten und selbst ihre ganze kriegerische Kaste ausmachten. Vom einfachen Volke sagt die Überlieferung nichts. So standen die Sachen, als um das Jahr 1150 nach Christo mit einem Mal aus diesen Schlupfwinkeln sich angreifende und erobernde Verbände rührten. Die Ursache dieser Bewegung ist nicht hinlänglich aufgeklärt. Man vermutet, daß einerseits die Bedrückung der Kreuzritter, andererseits der günstige Augenblick zu Überfällen während der tatarischen Überschwemmungen dieses Geschlecht zum Handeln antrieben und weckten; diese Ereignisse fallen aber schon in eine spätere Zeit, und außerdem sieht man in dieser ganzen Wirksamkeit deutlich, daß derselben ein religiöser Lebensstoss den Antrieb gab. 236 237 238 239

Vgl. Ovid: Metamorphosen. Liber I, 7. Deukalion und Pyrrha (1, 313–415). Vgl. Narbutt, op. cit., Bd. I, S. 242 und 411–434 (Dodatek). Vgl. Narbutt, op. cit., Bd. I, S. 238ff. Vgl. Schaffarik, op. cit., Bd. I, S. 432–433 (Fußnote 1 und 2); „Dem Namen der Withinger verwandt d. h. aus gleicher Wurzel hervorgegangen ist das slawische witěz (victor), das schon in uralter Zeit sich bildete […].“ (S. 433).

1176

Teil III

Schon mehrere Mal sprachen wir gegen das krasse Vorurteil jener Gelehrten, welche alle Überfälle der Barbaren auf fremde Länder bloß ihrer Begier und Raubsucht zuschreiben. Quinet240 sagt mit Recht, daß man den ganzen Kampf der Perser mir den Griechen, jener berühmte Feldzug des Xerxes gegen den Peloponnes und Athen sich unmöglich erklären kann, läßt man nicht einen religiösen Beweggrund zu; es war dies gleichsam eine Kreuzfahrt, unternommen von den Verehrern des Ormuzd241 gegen Völker, welche, ihrer Meinung nach, abergläubisch waren. Die Tataren sogar, jene Erzplünderer, überfielen die Welt nicht in der Absicht, Reichtümer zu erwerben. Aus ergiebigen Ländern, aus der Mitte zivilisierter asiatischer Völker drangen sie in unzugängliche Wälder und Sümpfe ein; sie nahmen übrigens keinen Dank (Tribut) an, sie verheerten alles, hielten sich für gesendet, die Schuldigen zu bestrafen. Schwieriger ist es, zu erraten, welchen Gedanken die litauischen Heerführer hatten. Wir wissen jedoch, daß sie die Gefangenen verbrannten und ersäuften, dieselben den Gottheiten des Feuers und Wassers opfernd. Gewiß mußten die Glaubensmeinungen der kriegerischen Kaste um diese Zeit gereift sein, und sie trugen ihre Frucht. Diese Kaste wurde plötzlich von dem Begehren ergriffen, ihren Glauben weit und breit in die Welt zu tragen, oder wenigstens die ihr feindlichen Andersglaubenden weit von sich zu treiben. Nur so läßt sich die wunderbare Kraft dieser Männer begreifen. An der Spitze geringer Häuflein, anfänglich bloß aus Litauern bestehend, geschwellt in der Folge durch die Konskriptionen aus der slavischen Bevölkerung und einigen tatarischen Horden, eroberten sie die Städte, die Republiken und Fürstentümer der Rus’, verheerten ohne Unterlaß die benachbarten polnischen Länder, erreichten die Tataren in entlegenen Steppen. Ringold242, ein Herr kaum einiger heutigen Bezirke, Gebieter von nicht mehr denn 200 000 Untertanen, hatte schon große Länder erobert. Seine Nachfolger, Witen und Gedymin, wurden übermächtige Gebieter im Norden.243 Die Nachkommen Gedymins bis zu den Jagellonen verfolgten die von ihren Vorfahren betretene Bahn mit demselben abenteuerlichen Charakter, mit demselben Vertrauen auf sich selbst verbreiteten sie ihre unerhörte Macht von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer, von der Narev, dem Dnjester bis nach der Volga. Dreimal lehnten sich ihre Heere an die Mauern Moskaus; nur das Nordlicht beobachtend, jagten sie hinter den Tataren her 240 241 242 243

Vgl. Quinet, op. cit., 4. Buch. Ormuzd (Ahura Mazda), persicher Schöpfergott. Ringold, erster litauischer Großfürst (verstorben 1228). Vgl. Manfred Hellmann: Das Großfürstentum Litauen bis 1596. In: Handbuch der Geschichte Rußlands. Hrsg. Manfred Hellmann. Band  I/II. Stuttgart 1989, S.  717–851; Mathias Niendorf: Das Großfürstentum Litauen. Studien zur Nationsbildung in der Frühen Neuzeit (1569–1795). Wiesbaden 2006.

15. Vorlesung (24. März 1843)

1177

in ihren Feldlagern hinter dem Dnjepr und, nachdem sie den Perekop überschritten hatten, verheerten sie die Halbinsel Krim und machten sich dieselbe tributpflichtig. Wenn uns die Herrscher der Polen kein einziges Beispiel des Verbrechens und der häuslichen Mordtat hinterlassen haben, so ist im Gegenteil die Geschichte der litauischen Fürsten voll von Verrat und gegenseitigem Mord. Es waren dies grausame, gewaltsame Menschen; sie besaßen nicht die Liebe zum Heimatland wie die Piasten; ähnlich den Häuptern der Normannen im Westen, kannten sie kein Vaterland. Das Vaterland war für sie allenthalben; wo sie nur irgend hinkamen, da war ihr Haus, wo sie ihre Fahne aufgesteckt hatten, da begannen sie eine neue Dynastie, eine neue Geschichte. Nirgends dachten sie daran, ihre Volkstümlichkeit aufzudrängen, im Gegenteil nahmen sie leicht das örtliche Volkstum an, das der Rus’ und das polnische; jedem Land aber impften sie ihre kriegerischen Eroberungsbegriffe ein. Dies ist der allgemeine Abriß dieser kriegerischen Kaste, welche den Namen Litauens im ganzen Norden verbreitete. Dieses auf der Landkarte kaum bemerkbare Ländchen ist in der Geschichte riesenhaft geworden. Diese Kaste besetzte einerseits mit ihren Fürsten Polock, Pskov, Novgorod, Tver’, Tula, Wolhynien, Kiev, andererseits gab sie Polen die denkwürdige Dynastie der Jagellonen. Die litauischen Fürsten in Rus’, späterhin von den Nachkommen Rjuriks gedrückt, machten jedoch lange Zeit die der moskovitischen Politik sich widersetzende Gegenpartei aus und endeten ihre Rolle mit Michail Glinskij244 unter der Herrschaft Ivan des Schrecklichen. Die Jagellonen bildeten die Politik ihres Gepräges aus, sie gaben den Begriffen Polens einen neuen Antrieb, dem Dasein Polens eine neue Grundlage. Aber das litauische Volk erntete hiervon keinen Vorteil; es wurde weder wohlhabender, noch mächtiger. Heute nimmt es denselben Sitz ein, den es damals inne gehabt, und dieser schmälerte sich sogar ansehnlich. In Preußen fortwährend im Verschwinden begriffen, zählt es dort kaum 400 oder 500 000 Seelen der Bevölkerung; eingeengt zwischen die slavischen Sitze, macht es vielleicht im Ganzen zwei Millionen Litauer, Letten und Kuronen aus. Das häusliche Leben dieses Volkes gleicht sehr dem slavischen; es unterscheidet sich aber etwas von den Slaven im physischen Körperbau. Der Litauer hat einen etwas geringen Wuchs, die Stirn nicht so offen, die Augen kleiner und gleichsam nebelig, die Farbe blasser, der Gesichtsausdruck stiller und tiefer; seine Züge erinnern sehr an die, welche wir in den Abbildungen der Inder wahrnehmen. 244 Fürst Michail L’vovič Glinskij (um 1470–1534); vgl. 30. Vorlesung (Teil I).

1178

Teil III

Die gemeinsamen Sitten dieser beiden Völker haben sich bei den Litauern viel reiner aufbewahrt. Nirgends wird die Gastfreiheit so heilig gehalten, wie bei ihnen. Beide Völker lieben gleichmaßig die Natur; nur wenn der Slave gleichsam in Freuden vergeht über ihre oberflächlichen Reize, dringt der Litauer mit dem Gefühl in ihr inneres Leben ein. Narbutt beobachtete, daß das litauische Volk eine besondere Vorliebe, gemischt mit einer religiösen Verehrung, für Blumen habe.245 Bei jeder kirchlichen Feierlichkeit, bei jeder häuslichen Zeremonie dienen besondere, einmal diese, das andere Mal jene Blumen zur Weihe oder zum Anzug. In seinen Erzählungen und Liedern gibt es eine Menge Legenden vom Anfang oder von der Bedeutung verschiedener Blumen und Kräuter. Was noch zu den interessanten und diesem Volk viel Ehre bringenden Beobachtungen gehört, ist dies, daß in der ungemein reichhaltigen Sammlung seiner Lieder es kein einziges gibt, welches schamlos oder nur unanständig wäre. Unanständige, unedle Worte sind in der litauischen Sprache gar nicht vorhanden. Diese Sprache, welche in sich etwas Heiliges, ewas Priesterhaftes hat, leidet dieselben nicht, sie kann sie nicht heimisch machen; sind indessen einige vorhanden, so sind sie nur entlehnt und nie in einer ehrbaren litauischen Familie gebräuchlich. Fassen wir nun kurz zusammen, was von uns gesagt worden, so wird es leicht sein, sich die Herkunft und die Rolle dieses semitischen Volkes zu erklären. Einige Ethnographen behaupten, wie wir schon erwähnten, das Nest aller europäischen Geschlechter sei Indien; daß die kriegerische Kaste der Inder, von den Brahmanen wegen beabsichtigter Einführung eines anderen Religionskultus zurückgestoßen, das Land verließ und der Stamm jener nicht zahlreichen, aber berühmten Bevölkerung, Asen genannt, wurde, von welcher ein Zweig im Morgenland blieb, wo er immer unter dem Namen der Meder, Perser und Lesger der herrschende war, nach Mitteleuropa aber unter dem Namen Lechen und Tschechen vordrang; der zweite Ast, welcher nach Nord-Europa wanderte, zeigte sich in den sogenannten Söhnen des Odin, in den Withingen246, und machte im allgemeinen den Adel des indo-germanischen oder deutschen Stammes aus. Dieselben Ethnographen entdeckten noch Spuren anderer indischer Kastenauswanderungen, der Shudras und sogar der Parias.247 Die zahlreich herumirrenden Zigeuner haben mit den Parias viele gemeinsame Merkmale. Ziehen wir daher in Betracht, wie deutlich sich die religiösen Überlieferungen Hindustans in den Sagen des litauischen Volkes ausprägen; welch enges Band zwischen dem Sanskrit und der litauischen Sprache obwaltet; wie 245 Narbutt, op. cit., Bd. I, S. 59–60. 246 Vgl. Schaffarik, op. cit., Bd. I, S. 432. 247 Shudras und Parias bilden die unterste Schicht im indischen Kastensystem.

15. Vorlesung (24. März 1843)

1179

hier und dort sich eine gleiche Zusammensetzung der Gesellschaft zeigt; wie diese priesterhafte, im hohen Grade entfaltete und vollendete Hierarchie bei den Litauern etwas Brahmanisches an sich hat; wie jene Withingi der kriegerischen Kaste der Inder entsprechen; wie endlich die geringere Volksklasse stets unterwürfig und unbeweglich blieb: so werden wir aus diesem folgern können, daß der litauische Stamm eine Ausnahme in der Geschichte der Auswanderungen indischer Bevölkerung macht; er umfaßt in sich alle Teile derselben. Es gab verschiedene Auswanderungen aus Indien. Brahmanen ließen sich am Nil nieder und gründeten die ägyptische Priesterkaste. Es sind Beweise vorhanden, welche die Ankunft besonderer Ansiedelungen, einmal priesterlicher, dann kriegerischer und hierauf wieder die des gemeinen Volkes, in Griechenland bezeugen; in Litauen aber sieht man den Bruchteil eines ganzen Volkes, angekommen mit seinen Priestern, Kriegern und seiner Gemeinde. Eine auf diese Weise zusammengesetzte Gesellschaft konnte besser als die übrigen sich aller Überfälle erwehren. Darum besitzt sie auch noch heute ihre Überlieferungen und spricht ihre Sprache, die selbst von den Einwohnern Hindustans vergessen ist und sich nur in ihren heiligen Büchern aufbewahrt findet; darum beobachtet sie ihre Sitten im häuslichen wie im öffentlichen Leben. Weil das Sanskrit die Muttersprache fast aller europäischen Sprachen ist, so muß natürlicherweise die litauische mit denselben eine Verwandtschaft haben; aus diesem Grund meinte man lange Zeit, sie wäre nur eine Zusammensetzung und Sammlung verschiedener Wörter, namentlich slavischer und germanischer. Man überzeugte sich jedoch endlich, daß sie ein eignes Leben besitze, das gänzlich von der finnischen, germanischen, slavischen und jeder anderen Sprache verschieden sei. Aber ohne Zweifel mußte eine große Ähnlichkeit zwischen derselben und der alten griechischen Sprache obwalten, welche die Kriegerkaste der Goten aus dem Morgenland hineintrug: mit der slavischen aber steht sie in engem Zusammenhang; sie ist bestimmt, derselben viele philosophische Aufklärungen zu geben. Das litauische Volk besitzt, wie wir sagten, den Schlüssel zu allen slavischen Fragen. Eine Volkstümlichkeit besitzt es nicht, es hat kein Volksdasein, denkt nicht einmal daran, dieses zu beanspruchen; die Begriffe Volk, Vaterland finden sich in seiner Sprache nicht, es weiß nicht einmal, ob es andere Völker gibt. Die Russen nennt es Gudas, was wahrscheinlich Goty, die Gothen, bedeutete, die Polen Lankas, wie es scheint, ein Name asiatischen Ursprungs; denn irren wir nicht, so werden die Bewohner Ceylons (Sri Lankas) von den Indern genannt. Zweimal jedoch leuchtete es schon in der Geschichte durch sein inneres Leben vor. Das erste Mal gab es dem Norden jenen Antrieb, welcher in der Rus’ erst zur Zeit Iwan des Schrecklichen aufhörte und in Polen mit dem letzten Jagellonen erlosch, das zweite Mal, während des letzten Krieges Polens mit Rußland,

1180

Teil III

begann es gegen die Russen einen Krieg des wahrhaft allgemeinen Aufgebots, einen Volkskrieg auf Leben und Tod, und dieses sogar, ohne von seinen Herren aufgefordert zu sein. Was also verbindet es mit diesen Polen, deren Geschichte es nicht kennt, deren Sprache es nicht versteht? Warum marschierte es haufenweise gegen die Russen? Es ist dies eine der Fragen, welche das große Rätsel des Slaventums betreffen. Wir wissen es nicht zu erklären, warum Lankas in den litauischen Liedern immer den wackeren, den edlen Ritter vorstellt und warum der Name Gudas dem Litauer Abscheu und Besorgnis erregt. Es wäre vielleicht nötig, der Erklärung dieser Zuneigung und dieses Widerwillens halber tief auf den Grund der Überlieferung dieses Volkes zu dringen; so viel nur ist gewiß, daß das innere Band desselben mit Polen ein tiefes Geheimnis ist, und der Geschichte ist es noch nicht gelungen, dasselbe zu entschleiern; das äußere Band aber ist die katholische Religion. Dieses Volk ist mit Leib und Seele dem Katholizismus ergeben; anders konnte es aber nicht einmal kommen. Wie sollte es den Protestantismus annehmen, welcher die Verehrung der Heiligen oder der höheren Geister verwirft, wenn es sogar nicht aufhört, das Andenken der verstorbenen Vorfahren festlich zu ehren, wenn der Allerseelen-Tag, das Fest der Ahnen (Święto Dziadów), bei ihm die größte Feierlichkeit ist? Wie konnte es nur aufhören, an die Verbindung der unsichtbaren mit der sichtbaren Welt zu glauben, wenn es fortwährend ihren Einfluß um sich herum fühlt? Dieser Glaube ist so allgemein, daß der neueste litauische Geschichtschreiber, Narbutt, wenn er die Volksmeinungen von den die Elemente beherrschenden Geistern, z. B. von Nymphen oder Undinen, anführt, mitten in diesen, wie aus „Tausend und Einer Nacht“ herausgenommenen Erzählungen häufig auf einmal abbricht und hinzufügt: „Aber wozu diese allgemein bekannten Sachen wiederholen?“248 Schon daraus ist leicht zu folgern, daß einem solchen Volk keine andere Religion zusagen konnte, als nur diejenige, welche keine der großen Fragen, die sich der Erwägung des Menschen darbieten, zurückweist. Gewiß ist, daß die Religionsvorstellungen am Ganges sich üppiger entfalteten; sie erzeugten dort den Brahmanismus stellten eine kräftige Kriegerkaste auf, faßten das Volk in eng beschriebene Schranken; bei den Slaven, wie wir schon sagten, am reinsten aufbewahrt, nicht getrübt von den Einfällen der Philosophen und den Erdichtungen der Poeten, drangen sie in das private, häusliche, ländliche Leben ein; bei den Litauern gingen sie auch ins politische über. Die Slaven hatten, dem zufolge, was wir von ihnen wissen, unter sich keine höheren Kasten, sie machten keine politische Gesellschaft aus, sie bildeten eine Menge einzeln zerstreuter Gemeinden; die Litauer, weil sie ein 248 Narbutt, op. cit., Bd. I, S. 38–39.

15. Vorlesung (24. März 1843)

1181

Zusammenfluß der Priester-, der Kriegerkaste und des gemeinen Volkes sind, bildeten einen politischen, kräftig zusammengefügten und von dem Einfluss sehr weit gesponnener Religionsbegriffe durchdrungenen Körper. Kennt man die Geschichte des Slaventums, so ist leicht wahrzunehmen, warum Litauen nur wie zufällig handelnd auftrat und warum nach seinem augenblicklichem Emporleuchten die Masse des Volkes wieder in eine vollständige Unbeweglichkeit zurückfiel. Ohne hier die sozialen und politischen Fragen zu berühren, werden wir nur kurz sagen, daß es diesem Volk unmöglich war, sich tätig in Auseinandersetzungen zu mischen, welche bis jetzt den slavischen Boden mit Blut röteten. Es bewegte sich einmal, um die Throne der Rus’ und Polens mit seinen Fürsten zu besetzen; sobald aber diese Dynastien sich ihrem Volkstum entfremdeten, sobald sie aus der Art schlugen, wurde es ihnen gänzlich fremd. Es bewegte sich nachher, um dem polnischen Volk sein Mitgefühl zu zeigen. Wie ist aber von ihm zu verlangen, sich für die Monarchie, die Republik oder irgendeine andere Regierungsform zu schlagen, wenn es diese Worte nicht einmal versteht, sie nicht in seiner Sprache besitzt. Dieses Volk gehört also zu der Zahl der Völker, welche einen günstigen Augenblick erwarten.

16. Vorlesung (4. April 1843) Das slavische Drama – Über das Drama im Allgemeinen – Das griechische und das christliche Drama – Puškins „Boris Godunov“, Milutinovićs „Tragedia Obilić“ und die „Un-göttliche Komödie“ – Fragen der Auf führbarkeit slavischer Dramen – Über das Wunderbare – Descartes (l’admiration) – Milutinović.

Wir wollen heute den ersten Teil der diesjährigen Vorlesungsreihe schließen. Bis jetzt folgten wir stets der Poesie, und widmeten ihr unsere historischen und mythologischen Forschungen; von nun an werden wir uns hauptsachlich mit der Geschichte der Philosophie, mit der Geschichte des slavischen Gedankens befassen; wir werden nun die Poesie und die Forschungen vom philosophischen Gesichtspunkt aus bettachten. Mit zweifacher Stimme haben wir alsdann die slavische Vernunft angeredet, die Vernunft, welche öfters mit der Geschichte ihres Volkes im Widerspruch und selbst mit der Eingebung des Himmels im Streit ist. Die Geschichte und die Poesie werden uns, wie wir hoffen, mehr als eine Gelegenheit darbieten, diese Vernunft des Falschen zu überführen. Das als „Un-göttliche Komödie“ betitelte Werk, welches wir unlängst erwogen und das wir uns gleichsam zum literarischen Standpunkt bei der Besichtigung der poetischen Bewegung im Slaventum gewählt haben, ließ uns insbesondere den Stand des Dramas erkennen; wir haben aber über das Drama noch einige Worte allgemeiner Art zu sagen. Das Drama249 ist die kräftigste Realisierung der Poesie durch die Kunst und es erscheint fast immer gegen das Ende der Epochen. Man muß zweierlei in ihm unterscheiden: seine Bearbeitung und seine Vorstellung. Zu der Vorstellung der Schöpfung eines Dichters sind ein Theater, Schauspieler, Dekorationen und Maschinerien erforderlich, alle möglichen Arten der Kunst müssen der Poesie zu Hilfe kommen, um sie vor dem Publikum auf die Schaubühne treten zu lassen. Wir sagten eben, das Drama bezeichne das Ende einer Epoche, also verkündigt es eine neue. Hat der ein Volk belebende Gedanke schon seine Vergegenwärtiger in der Wirklichkeit gefunden, hat er die Helden erzeugt, so bemüht er sich alsdann, das Andenken ihrer Taten mit Hilfe der 249 Zur Konzeption des Dramas in der 16. Vorlesung vgl. – Jan Ciechanowicz: O różnych sposobach czytania „Lekcji teatralnej“ Mickiewicza. In: Pamiętnik Literacki, 1990, z. 2, S.  21–34; Maria Prussak: Przygody „Lekcji XVI“ czyli o pożytkach tekstologii. In: Teksty Drugie, 1995, nr 2 (32), S.  31–40; Marek Dybizbański: Mityczny teatr Lekcji XVI. In: Prelekcje paryskie Adama Mickiewicza wobec tradycji kultury polskiej i europejskiej. Próba nowego spojrzenia. Red. Maria Kalinowska, Jarosław Ławski, Magdalena BiziorDombrowska. Warszawa 2011, S. 212–232.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_091

16. Vorlesung (4. April 1843)

1183

Kunst zu verewigen; er schafft das Drama. Die Kunst ist bestimmt, um uns so auszudrücken, die sich vernachlässigenden Gemüter zum Handeln anzuspornen. Zu Anfang einer jeden Epoche wählt sich das begeisterte Wort die erhabensten Geister (Genien), um ihr den Antrieb zu geben; aber die Masse des Volkes bleibt noch lange unbeweglich, und alsdann benutzt die Kunst alle Mittel, sie zu erwärmen; sie nimmt in dieser Absicht ihre Zuflucht zur Baukunst, zur Malerei, sogar zum Tanz; sobald sie in Komödie, in Farce ausartet, verfällt sie und verschwindet. Das Drama, in der großartigsten und umfangreichsten Bedeutung dieses Wortes genommen, muß alle Lebenselemente der wahrhaft volkstümlichen Poesie in sich vereinen, ebenso wie das politische Gebäude eines Volkes das Bild aller seiner politischen Bestrebungen sein muß. In der überlieferten griechischen Kunst, in den Tragödien des Äschylos und Sophokles sehen wir die lyrische Poesie der Urzeiten, wir sehen das sich wiederholende Epos in den Chören, wir haben im Munde der in Szene geführten Personen, in den Anreden jener Achilles- und Odysseusgestalten, sogar einiger dem Volk schon aus Homer bekannten Götter, die Triebsprossen der politischen Beredsamkeit, welche in kurzem auf den öffentlichen Plätzen ertönte. Nirgends war das Drama so zur Reife gelangt, so vollständig erzeugt, als bei den Griechen. Im Christentum machte man sich nach der Heldenzeit, nach den Kreuzzügen ebenfalls an das Drama und es erschienen große Skizzen desselben in den Mysterien. Das Theater, welches die Szenen der Geburt des Herrn und ähnlicher Geheimnisse darstellt, umfaßte die ganze in den Vorstellungen der Christen befindliche Welt: den Himmel mit den Scharen der Engel und Heiligen, die Erde, die das Feld des Wirkens ausmachte, die Hölle unter der Gestalt des dem Satan verfallenen Fraßes, woher jedes verkörperte Böse entsprang, vom Verrat an bis zur Verdammung. Die Schriftsteller, später durch die Muster der Griechen und Römer irre geführt, allmählich den christlichen Himmel und die Hölle verwerfend, versetzten endlich das Drama in die Salons und Boudoirs, wo es bis heute eingepfercht blieb. Es ist zu erwarten, das christliche Drama werde noch mehrere Reihenfolgen erfahren; die Mysterien enthalten die wesentlichen Rudimente desselben. Die spanischen Dramen und die des Shakespeare haben einige Teile dieses weitgesponnenen Inhalts ausgearbeitet; aber die dramatische Kunst der Franzosen aus den Zeiten Ludwigs XIV. wird man wahrscheinlich als etwas Fremdartiges, als das Erwachen des Heidentums während der Entfaltung des christlichen Drama ausstoßen. Wir müssen hier wiederum das Wunderbare berühren. Schon früher entwickelten wir, vom Epos redend, daß das Wunderbare durchaus nicht etwa eine Kunstfeder in der Poesie sei, bloß aufgenommen, um die Aufmerksamkeit

1184

Teil III

der Leser zu spannen, um das Poem interessanter zu machen, sondern daß es den wesentlichen Teil einer jeden Schöpfung, die nur etwas Leben in sich hat, ausmacht. Die Naturalisten sagen, daß, sobald man irgendeine Pflanze, irgendein organisches Wesen zerlegt, man endlich zu etwas Unenträtseltem, zu etwas Wunderbarem gelange. Dieses Etwas, das sich nicht begreifen läßt, das wunderbar ist, ist gerade der lebenskräftige Urstoff. Ebenso auch in der Poesie. Jede poetische Schöpfung hat in ihrer Tiefe jenes organische geheime Leben, schulgerecht das Wunderbare genannt, welches, je nach dem Zuschnitt des Gedichts sich erhebend, in einzelnen Versen und Liedern nur gleichsam als leichter Hauch aus den höheren Regionen durchleuchtet, im Epos und im Drama schon die sichtbare Gestalt der Gottheit annimmt. Aus dem von uns Gesagten kann man folgern, wie schwer es ist, ein slavisches Drama zu schreiben, ein Drama, welches alle Lebensstoffe der volkstümlichen Poesie umfaßte, die sich nirgends so zahlreich und mannigfaltig zeigen. Dieses Drama müßte lyrisch sein und zugleich an die zauberhaften Klänge der Volkslieder erinnern; es müßte die Schilderungen nachahmen, deren vortreffliches Muster wir bei den Serben und Montenegrinern haben; es müßte uns dabei in die überirdische Welt versetzen. Erinnern wir uns jetzt, wie die verschiedenen Völker verschiedene Weisen des poetischen Begreifens der überirdischen Welt und verschiedene Mittel, mit ihr in Berührung zu treten, haben. Wir sagten schon, das keltische Geschlecht sei namentlich mit dem Doppelsehen oder dem doppelten Gesicht begabt, und die Erscheinungen dieser Eigenschaft spielen die Hauptrolle in den alten Poesien der Kelten, sogar in einigen neueren Volksschöpfungen; daß der germanische Stamm, der so viel Berührungspunkte mit dem keltischen hat, die Gabe des näheren Umgangs mit den Geistern besitze, worüber sich eine Unzahl von Sagen in den frommen Legenden und den Beschreibungen der Erscheinungen des Magnetismus vorfindet; daß der slavische Stamm namentlich an Vampire (upiory) glaube und sich sogar eine Theorie aus den Begriffen von dieser Sache gebildet habe. Dieser Glaube, nimmt man ihn philosophisch, ist nichts anderes, als nur der Glaube an die Individualität des menschlichen Geistes, im allgemeinen eines jeden Geistes, und nirgends findet er sich so tief eingewurzelt als bei den Slaven, weshalb denn auch bei ihnen niemals irgend eine pantheistische Meinung Anklang finden wird; der nationale Instinkt wird sie jedesmal zurückstoßen. Wir wissen aus der Geschichte und Mythologie, daß die Verehrung der verstorbenen Vorfahren einen wichtigen Teil der alten slavischen Religion ausmachte und daß der Allerseelen-Tag von allen Feiertagen am festlichsten begangen wurde. Findet man auch heute unter dem Volk solche, die in Folge der Berührungen mit den zivilisierten Klassen aufhörten, die religiösen Zeremonien zu begehen, und den Katechismus bis aufs letzte

16. Vorlesung (4. April 1843)

1185

Wort vergessen haben, so gibt es doch keinen Einzigen, der nicht an das selbstständige Dasein der Seele nach dem Tode glaubte. Um daher ein Drama zu schaffen, welches von dem ganzen Slaventum, von allen Abgliederungen des slavischen Volkes für sein eigen, für volkstümlich anerkannt werden könnte, muß man den ganzen Raum der Poesie, vom Lied bis zum Epos, durchmessen, alle die lebenskräftigsten Gefühle und Begriffe berühren; man muß mit einem Griff die vieltönigen Saiten, die in der Brust des Slaven wiederhallen, erklingen lassen. Ein solches Drama gibt es noch nicht. Wir sprachen nicht von der Menge der polnischen dramatischen Werke, welche mehr oder weniger den ausländischen Mustern nachgeahmt sind; wir legten die in der slavischen Literatur sehr geachtete „Arijadna“ von Gundulić250 bei Seite, welche nichts anderes ist, als ein Libretto der italienischen Oper; auch übergingen wir die tschechische Dramen „Virginie“ und „Angelina“ von Turinský251, noch neuerdings in Prag veröffentlicht, welche ungeachtet der Vorzüge des Stils im übrigen doch nur zur Hälfte französische, zur Hälfte spanische Stücke sind. Nur drei Schöpfungen ragen über diese Masse der verschiedenen Nachahmungen hervor: Puškins „Dimitrij“252 oder, wie er es nannte, die Komödie über Boris Godunov, „Tragedia

250 Ivan (Đivo) Gundulić (1589–1638) – kroatischer Barockdichter; Gundulićs Drama „Arijadna“ (Ariadne), Ancona 1633, basiert auf der Übersetzung des Librettos von Ottavio Rinuccini zu der Oper „Arianna“ (1608) von Claudio Monteverdi; vgl. Rafo Bogišić: Uvod u studij Gundulićevih melodrama. In: R.  Bogišić: Književne rasprave i eseji. Split 1979, S. 115–134. 251 František Turinský (1797–1852); Dramen – „Angelina“ (1821), „Virginie“ (1841); vgl. František Batha: František Turinský (1797–1852). Praha 1968. 252 Mickiewiczs „Umbennenung“ des Dramas „Boris Godunov“ (1831) von A.S.  Puškin zu „Dimitrij“ ist unklar, zumal die Figur des „Pseudo-Demetrius“ (Lže-Dmitrij) im Drama mehrfach kodiert ist und in den Figuren Grigorij, Otrep’ev, Samozvanec, Griška, Dimitrij, Lžedimitrij, car’ Dimitrij Ivanovič als Gegenspieler von Boris Godunov agiert. In der ersten Version (1825) lautete der Titel des Dramas „Комедия о царе Борисе и о Гришке Отрепьеве“ (Komödie über den Zar Boris und Griška Otrep’ev); in der zweiten – „Драматическая повесть. Комедия о настоящей беде Московскому Государству, о Царе Борисе и о Гришке Отрепьеве. Летописи о многих мятежах и пр. Писано бысть Алекс[андр] Пушкиным в лето 7333 на городище Ворониче“ (Kömödie über die wahrhafte Not des Moskoviter Staates, über den Zaren Boris und über Griška Otrep’ev. Verfaßt von Gottes Knecht Aleks[andr], Sohn des Sergej Puškin im Jahre 7333 in der Stadt Voronič) – A.S.  Puškin: Polnoe sobranie sočinenij. Moskva-Leningrad 1937–1949. Т. VII, S. 290; infolge zensuraler Eingriffe dann 1831 als „Boris Godunov“. Zur Editionsgeschichte des Dramas, das N.M. Karamzin gewidmet ist, vgl. S.A. Fomičev: Predislovie. In: A.S. Puškin: „Boris Godunov“. Sankt-Peterburg 1996, S. 5–22.

1186

Teil III

Obilić“253, eine Tragödie des serbischen Dichters Milutinowić, und das polnische Drama „Nie-Boska komedia“. Über Puškins Drama sprachen wir schon einige Worte.254 Übrigens ist es der Form nach auch eine Nachahmung der Schillerschen und Shakespeareschen Dramen; nur hat Puškin noch eine Sünde mehr begangen, weil er die ganze Handlung in die irdische Szene einengte. In seinem Prolog gibt er den Einfluß der unsichtbaren Welt zu fühlen, später jedoch vergißt er dies gänzlich und macht das Ganze zu einer politischen Intrige. Milutinovićs Drama erhebt sich höher. Diese schätzenswerte Schöpfung führt wunderbar die „Un-göttliche Komödie“ ins Gedächtnis zurück. Milutinović erfaßte nur einen Ton, den Ton des serbischen Liedes; er handhabt ihn aber meisterhaft. Überall erinnert sein Stil an den der Rhapsoden von der Donau. Schon im Vorwort finden wir eine Erwähnung von den Geistern der Vorfahren; die Szenen vollziehen sich später teils im Himmel, teils auf der Erde; die Welt des Himmels ist jedoch nur nach den serbischen Volksbegriffen vorgestellt. Der Dichter hat nichts an ihnen verändert, sie nicht im mindesten veredelt; er zog nicht einmal aus den Offenbarungen, die sich in den Kirchenbüchern seines Landes vorfinden, Vorteil; die Engel führt er geradezu so ein, wie wir deren Bilder hier in den früher angeführten Poesien gesehen haben. Die Erdenszene entfaltet sich auf einem weiten Raum. Milutinović nahm sich zum Inhalt den einzigen Gegenstand der Volkspoesie, die Schlacht auf dem Amselfeld. Das Drama beginnt auf dem Schloss der serbischen Fürsten, wird in der Kirche des Sobor fortgesetzt und endet im Zelt des türkischen Sultans, am Sterbelager Murads, getötet vom Helden des Dramas, Miloš Obilić.255 Murad erinnert uns hier an die in der „Un-göttliche Komödie“ bekannte Person des Pankrazy, jenes erpichten Vernichters der slavischen Vergangenheit. Er erreicht auch sein Ziel, er unterjocht Serbien, und stirbt im Augenblick des Sieges, nicht einmal Zeit genug gewinnend, die prophetischen Worte zu beendigen, die ihm auf den Lippen erstarren.

253 ТРАГЕДІА ОБИЛИЋЪ матично сочинѣниіе Симеона Милутиновиђа Сарайліе у Лайпцигу [Leipzig] 1837 [http://www.bsb-muenchen-digital.de]. Über Simeon (Sima) Milutinović Sarajlija (1791–1847) vgl. auch 21. Vorlesung (Teil I). Vgl. Fran Ilešić: Adama Mickiewicza „Wykłady“ i serbskiego poety Simy Milutinovića „Tragedia Obilić“ (1837). Warszawa 1934 (= Sprawozdania posiedzeń Towarzystwa Naukowego Warszawskiego, XXVI / 1933, Wydz. I.); konnte nicht eingesehen werden; vgl. Henryk Batowski: Przyjaciele Słowianie. Szkice historyczne z życia Mickiewicza. Warszawa 1956, S. 73–78. 254 Über Puškin vgl. 28. Vorlesung (Teil II), 3. Vorlesung (Teil III). 255 Miloš Obilić (um 1350–1389), Sohn des Königs Vukašin; vgl. Thomas  A.  Emmert: Miloš Obilić and the Hero Myth. In: Serbian Studies, 10 (1996), 2, S. 149–163.

16. Vorlesung (4. April 1843)

1187

Das polnische Drama steht über alle, es ist mehr volkstümlich und zugleich auch mehr slavisch. Erstlich entspricht seine übernatürliche Welt nicht nur den poetischen Vorstellungen des gemeinen Mannes, sondern selbst den Begriffen, zu welchen unser Jahrhundert gelangt ist, wenngleich wir nebenbei im Chor der niedrigern Geister auch das wahrhafte Bild der Ahnenfeier (Święto Dziadów) haben; dann berührt es in der Erdenszene alle Aufgaben, welche das Slaventum erschüttern, und schließt mit einer großen Prophezeiung. Nicht hinlänglich ist es jedoch, ein Drama zu schreiben, noch muß man es in Szene setzen. Wir wollen aber nicht sobald die Vorstellung eines slavischen Dramas erwarten; kein einziges jetzt bestehendes Theater würde z. B. für die „Un-göttliche Komödie“ ausreichen. Teilweise jedoch könnte man sie aufführen, ließe man nämlich einige Gewohnheiten der gegenwärtigen Szene bei Seite. Es wäre z. B. nötig, zwischen die Schauspieler den Dichter selbst einzuführen. Die Prologe, welche den hauptsächlichsten Teil dieses Stückes ausmachen, müßte der Dichter dem Publikum mündlich neben den gleichzeitig gezeigten Panorama-Bildern erzählen. Der Himmel und die Hölle könnten am Ende von den heutigen Opern entlehnt werden. Allgemein sind auch die Bühnen auf dem Weg der dramatischen Bewegung weit zurückgeblieben. In Frankreich würde vielleicht nur der Cirque Olympique256 der Kunst, die von wirklicher Bedeutung wäre, entsprechen; dort wäre es allenfalls möglich, Heldenstücke und Massen des Volkes, welche heute eine so wichtige Rolle im sozialen Leben spielen, in Szene zu bringen. Das Slaventum wird gewiß lange noch warten, ehe sich alles, was zu dem Aufführen seiner Dramen erforderlich ist, zusammenfindet, ehe die Baukunst, die Malerei, welche schon ans Panorama geht, und die verschiedenen anderen Künste sich so werden vervollkommnet haben, daß sie alle Hilfsmittel darreichen, mit denen es einst seine alten Taten wird beleben können. Vorläufig sollten die Verfasser des slavischen Dramas gar nicht einmal an Theater und an Szene denken. Dieses Rates sollten sie sich häufig erinnern; denn einerseits erkalten die Polen dadurch, daß sie kein Volkstheater haben, und andererseits legen die Tschechen ihren vier Wänden mit Kulissen und Brettern, das Nationaltheater genannt, einen gar zu großen Wert bei. Ohne Zweifel sind dies notwendige Dinge, aber doch nicht die hauptsächlichsten, sondern nur die untergeordneten. Tieck257, ein deutscher Schriftsteller, spricht hierüber 256 Vgl. 3. Vorlesung (Teil II). 257 Ludwig Tieck (1773–1853); vgl. L. Tieck: Bemerkungen, Einfälle und Grillen über das Deutsche Theater, auf einer Reise in den Monaten Mai und Junius des Jahres 1825. In: L. Tieck: Dramaturgische Blätter: Nebst einem Anhange noch ungedruckter Aufsätze über das deutsche Theater und Berichten über die englische Bühne: geschrieben auf einer Reise im Jahre 1817, Band 2. Breslau 1826, S. 205–340; Abschnitt „Dekorationen“, S. 297–306.

1188

Teil III

in einem seiner Werke und beweist, daß der theatralische Prunk, namentlich aber, was die Dekorationen und die Verzierungen des Lokals betrifft, schon den Verfall des Dramas anzeigt. Erfaßt die Begeisterung des Dichters die Einbildungskraft der Zuhörer nicht, zaubern ihnen seine Worte nicht goldene Wände und rufen sie ihnen nicht stets andere Bilder in der Tiefe des Schauspiels vor die Seele, so taugt entweder das Stück nichts oder das Gefühl des Publikums ist verflacht und gänzlich abgestumpft. Die phantasiereichsten Szenen Shakespeares wurden in alten und verlassenen Gebäuden, ohne Dekorationen und Maschinerien, aufgeführt; einige derselben spielte man zuerst in Ställen und Schoppen. Die Zauberkraft des englischen Verfassers geht aber auch so weit, daß sie selbst dem seine Stücke Lesenden Lichter und Schatten, Ritter und Geister, Burgen und Schlösser vor die Augen der Seele bringt, so daß es ihm am Ende scheint, als befände er sich wirklich mitten unter Schauspielern auf der Bühne. Wir wiederholen daher, daß es sehr nützlich wäre, wenn die jetzigen Dramaturgen diesen Rat nicht unbeachtet ließen und die Rücksichten, welche sie noch fesseln, abschüttelten, auch der Begier, ihre Stücke bald in Szene gesetzt zu sehen, entsagten. Beim Schluß dieses Gegenstandes werden wir noch hinzufügen, daß sich die dramatischen Schriftsteller ein sehr heilsames Beispiel an den Volkserzählern, an den slavischen Landleuten, wenn sie Fabeln erzählen, nehmen könnten. Bei keinem Volk der Welt gibt es so reichhaltige und zugleich so wunderbare Erzählungen, gewiß horcht auch kein Publikum so neugierig, mit solcher Spannung und Aufmerksamkeit zu, als jene kleine Gesellschaft, die den armen Bauer umringt, wenn er in seiner Hütte eine Fabel erzählt. Ebenso wie so mancher griechische Poet, wie Aristophanes, wie auch einige Verfasser der religiösen christlichen Szenen, tritt der Erzähler fast immer selbst in den geschilderten Begebenheiten auf; er spielt einen Teil seines Dramas ab. Zuweilen gibt er zu verstehen, daß das Wichtigste, was geschehen ist, von ihm vollbracht worden, und daß ohne ihn dort nichts stattgefunden hätte; zuweilen rührt er auf eine sehr einfache Weise plötzlich seine Zuhörer. Vielen Polen und Russen muß die Fabel bekannt sein, in welcher der Held derselben den wunderbaren Vogel258 aufzusuchen geht und nur eine Feder von ihm findet, die er im Durchflug verloren, die aber einen solchen Glanz hat, daß, als er sie ins Zimmer bringt, die ganze Stube wie von einer Fackel erleuchtet ist. Hier zündet gewöhnlich der Erzähler eine Hand voll Späne unversehens an; diese 258 Gemeint ist das Märchen „Жар-птица“ (Der Feuervogel). Vgl. Natalija Valentinovna Budur: Žar-ptica. In: Skazočnaja ėnciklopedija. Red. N.V. Budur. Moskva 2005, S. 151; vgl. auch Julian Krzyżanowski: Literatura ludowa w prelekcjach paryskich. In: Pamiętnik Literacki, 1956, zeszyt specjalny, S. 217.

16. Vorlesung (4. April 1843)

1189

auflodernde Flamme erschüttert alle Anwesenden und läßt sie den entsprechenden Eindruck lebhaft fühlen. In einer anderen Fabel, in welcher von dem kristallenen Berg259 verzauberten Prinzessinnen die Rede ist und dem Ritter aufgegeben wird, die seinige herauszufinden, was ihm jedoch unmöglich, da sich alle wie Sterne gleichen, macht der slavische Erzähler Fenster oder Tür auf und zeigt seinen Zuhörern den hinter durchsichtigen Wolken von Sternen funkelnden Winterhimmel, der besser als jede gemalte Theaterleinwand einen kristallenen Berg vorstellt. Wir führen diese Beispiele an, um die Meisterschaft der Bauern in der Kunst der Dichter von Geburt zu zeigen. Sie besitzen jene köstlichste Eigenschaft, daß sie immer bereit sind zu bewundern, sich zu entzücken. Ein französischer Philosoph260 sagt, der Mensch unterscheide sich nur dadurch vom Tier, daß er fähig sei zu bewundern; dieses ist der Meinung vieler heidnischen Philosophen schnurstracks entgegen, weil sie gerade darin den Vorzug setzen, nichts zu bewundern (nil admirari).261 Das slavische Volk besitzt im hohen Grade die Fähigkeit des Bewunderns, die sich gewiß nicht erst durch etwas hervorrufen läßt; und was besonders bemerkenswert ist, derselbe polnische oder russische Bauer, welcher durch eine Volksfabel in Entzücken gerät, wird sich zwar wundern, wenn er die Paläste, die Werke der Baukunst, die theatralischen Dekorationen betrachtet, ohne daß jedoch alle diese Dinge im Stande wären, ihn hinzureißen, ihn zu entzücken; vor allem spricht ihn das Wort, der Gedanke, das in Worten ausgedrückte Gefühl an. Dies ist das poetische Kennzeichen der Slaven. In eine kurze Übersicht das bisher Gesagte zusammenfassend, wiederholen wir erstens: das slavische Drama, auf welches zuerst Puškin und Milutinović gekommen sind, erscheint schon in der „Un-göttlichen Komödie“ 259 Unter „kristallener Berg“ (szklana góra) ist das Märchen „Der Zauberberg“ gemeint. Vgl. das Stichwort „szklana góra“. In: Słownik bajki polskiej. Tom 1–3. Red. Violetta Wróblewska. Toruń 2019 [https://bajka.umk.pl/slownik/lista-hasel/haslo/?id=171]. 260 Über den Begriff „l’admiration“ (Verwundern, Bewundern, Erstaunen) vgl. René Descartes: Die Leidenschaften der Seele. Französisch-deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Klaus Hammacher. Hamburg 1996; (Original – Les Passions de l’âme, 1649) –  § 69 (sechs Leidenschaften: „Das Verwundern, die Liebe, der Haß, das Begehren, die Freude und die Traurigkeit“), § 70 („Das Verwundern ist eine plötzliche Überrasschung der Seele, welche mit Aufmerksamkeit die Gegenstände betrachten macht, welche die Seele selten und außerordentlich erscheinen. Es entsteht also zuerst durch den Eindruck im Gehirn, der den Gegenstand als selten und deshalb der sorgsamen Betrachtung wert darstellt; dann durch die Bewegung der Lebensgeister, die durch diesen Eindruck mit grosser Gewalt nach dem Ort im Gehirn treiben, wo er ist, um ihn zu verstärken und zu erhalten.“). 261 Vgl. Horaz: Epistulae. Liber I, 6: „Nil admirari prope res est una, Numici, / solaque quae possit facere et seruare beatum […].“

1190

Teil III

viel erhabener, als alle bis jetzt gekannten europäischen Dramen, es berührt viele Nationalelemente, ist aber noch nicht vollständig und hat noch weit zu gehen, ehe es das wird, was es einst sein soll; zweitens: ein solches Drama darf man sobald nicht erwarten; die Dichter aber, welche zu dem Ausarbeiten desselben berufen sind, sollten sich von der Wahrheit innig durchdringen lassen, daß weder das Theater, noch die Dekorationen es sind, auf welchen die dramatische Kunst beruht, sondern im Gegenteil, daß alle diese Zutaten aus dem poetischen Gedanken hervorgehen müssen; endlich: die Verfasser dürfen nur sehr gewissenhaft, gottesfürchtig, wie sich die Schule ausdrückt, die übernatürliche Welt gebrauchen. In dieser Hinsicht hat die christliche Kunst am meisten gesündigt. Homer ist hierin bis jetzt, wenn man sich so ausdrücken darf, am meisten christlich. Bei ihm geschieht alles zuerst im Himmel, in der Welt der Geister, nachher tritt es aus die Erde, wird vollbracht durch die Menschen; diese Menschen aber sind keineswegs blinde Werkzeuge, es steht ihnen frei, der höheren Eingebung zu folgen oder sie auch von sich zu weisen, und das macht das ganze Geheimnis ihres Wohlergehens oder Elends aus. Daher sind auch die Helden Homers viel natürlicher, wir begreifen sie viel besser als die Helden des Tasso oder der Romane und Gedichte neuerer Zeit. Die homerischen Streiter haben glückliche und unglückliche Tage, sie haben Augenblicke der kühnen Tapferkeit und wiederum der Furchtsamkeit, für sie selbst unbegreiflich. Öfters verliert einer von ihnen, von der beschützenden Gottheit verlassen, plötzlich den Mut, und er gesteht dies offenherzig, flieht sogar von dem Kampfplatz. Dies ist ganz natürlich. Einer der tapfersten Marschälle Napoleons sagte: J’ai été ce jour-là courageux (Diesen Tag war ich kühn).262 Er schämte sich nicht, dadurch zu verstehen zu geben, daß ihm nicht jeden Tag eine gleiche Tapferkeit zu Gebote stand, daß er nicht immer gleichmäßig im Innern gestimmt war. Was soll man aber zu Walter Scotts oder Coopers Romanen sagen, welche das geheime Band zwischen Himmel und Erde nicht kennen und in denen wir alle diese Mac-Ivors und Richards263 zu jeder Zeit gleich kühn, tapfer, unerschüttert sehen? Cooper hat noch mehr als Walter Scott diesen Fehler. Betrübend ist es zu denken, wie nach so vielen Jahrhunderten noch keiner von den Poeten in der Erkenntnis der großen Geheimnisse der Menschheit den Homer erreicht hat, ohne noch davon zu reden, wie in unseren Zeiten so unwürdig das Wunderbare besudelt wird, wie man die Dinge der höheren Welt so frech zum eitlen Spielwerk gemacht hat.

262 Zitat nicht ermittelt. 263 Historische Romanfiguren in Scotts „Wawerley“ (1814) und „Ivanhoe“ (1819).

16. Vorlesung (4. April 1843)

1191

Bei dieser Gelegenheit möchten wir den slavischen Dichtern raten, sich an dem unten angeführten „Vorwort“ des Milutinović ein Beispiel zu nehmen. Es ist dies gleichsam ein Brief an seinen verstorbenen Freund Jefta Popović264, mit der Widmung des Stückes. Er hatte ihm einmal während seines Lebens versprochen, ein slavisches Drama zu schreiben. Nachdem er sein Werk beendigt, redet er ihn einfach, aufrichtig und innig an: Steige herab aus der unsichtbaren Welt deines Verweilens und komm, mit mir mein Drama zu lesen. Bringe mit dir unsere slavischen Helden, den Jug Bogdan, alle Nemanićen und den Obilić. Vergiß besonders den Obilić nicht und sage mir, ob ich den Geistern unserer Vorfahren in irgendetwas zu nahe getreten bin; ob meine Worte ausdrücken, was sie einst gesprochen; ob ich ihre Taten nicht verdreht habe.265

Mit einer solchen Aufforderung sollte jedes ernste Drama, welches ja gleichsam die Gestalten der Helden und Heiligen aus den Gräbern hervorruft, beginnen.

264 Jefta (Jevtimije) Popović (1791–1832), Verfasser der in Oktaven geschriebenen epischen Dichtung „Milošijada“ (Budim 1829). Vgl. Reinhard Lauer: Volksepik und Kunstepik. Syntheseversuch in der serbischen Literatur zwischen 1790 und 1830. In: Jugoslawien. Integrationsprobleme in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. Klaus-Detlev Grothusen. Göttingen 1984, S. 196–219. 265 Gedankliche Wiedergabe der Schlußverse aus dem Vorwort von Simeon Milutinović: Tragedia Obilić, op. cit., S. VIII: „[…] Надъ гробомъ ти Сербче чита желю, / Но и ты ê изъ свіета вѣчна / Посве волног’ призри очма духа, / Но и съ другим’ покойницма Сербма, / Особито съ истим’ Обилиђемъ, / Пакъ дояв’ ми шта онъ мысли за ню, / Та све дусма і᾽ собштаванѣ можно. / Слова м᾽ одржъ іошъ у фалу имай / А за дично твое Свеславіе […].“

17. Vorlesung (2. Mai 1843) Philosophische Fragen – Philosophie und der slavische Geist (duch) – Zur Geschichte der europäischen Philosophie – Descartes, Spinoza, Kant, Fichte, Hegel.

Das erste Jahr der Vorlesungsreihe schlossen wir mit der Zusammenfassung der religiösen, sozialen und philosophischen Fragen und dies besonders in Bezug auf das Slaventum. Dieses Jahr umfaßte die politische und literarische Geschichte des Nordens, bis zum Westphälischen Frieden. Auch konnte man schon dort wahrnehmen, wie der materialistische Geist des 18. Jahrhunderts und der deutsche, in der Hegelschen Philosophie ausgesprochene Geist, vermöge der natürlichen Zuneigung, sich Rußland zuwandten, in diesem Reich eine ihren Theorien entsprechende Verwirklichung bemerkend; und wie auch gegenseitig die russische Politik im Hegelianismus die Erklärung ihrer schon zurückgelegten Bahn und die Rechtfertigung ihrer Vorhaben für die Zukunft antraf. Polen blieb dazumal gleichgültig oder es hielt sich vielmehr auf der Defensive, mitten unter allen diesen philosophischen Systemen, welche rings um dasselbe heranwuchsen. Im zweiten Jahr der Vorlesungsreihe sahen wir, die Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte streifend, wie sich die polnische Idee, ihre Verwirklichung anstrebend, in einigen philosophischen und poetischen Werken manifestierte.266 Für jetzt haben wir die ganze Reihenfolge des geistigen und literarischen Fortschrittes des Slaventums zusammenzufassen und müssen zu diesem Ende die philosophische Frage von Grund aus berühren. Zunächst werden wir die Geschichte des europäischen Gedankens, repräsentiert durch Frankreich und Deutschland, durcheilen. Indem wir dann diese geschichtliche Übersicht aufschieben, werden wir zu unseren Forschungen über das Slaventum zurückkehren und, die sozialen Institutionen der Slaven betrachtend, uns wieder im Angesicht aller Europa beunruhigenden Aufgaben finden. Endlich bleibt uns dann übrig, die verschiedenen Arbeiten der menschlichen Vernunft abzuschätzen und zu sehen, wie weit der slavische Genius gekommen ist. Dieses wird uns, so viel wir glauben, in den Stand setzen, die größere philosophische Erhabenheit Frankreichs und Polens, welche die Engländer und Deutschen bestreiten, sogar in theoretischer Hinsicht zu begründen. Der deutsche Gedanke hat sich gänzlich in die Philosophie vertieft, er ist nirgends anders vorzufinden; die Deutschen selbst haben diese Philosophie 266 Vgl. 30.–33. Vorlesung (Teil II) über Garczyński, Bukaty.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_092

17. Vorlesung (2. Mai 1843)

1193

für die Frucht ihrer ganzen inneren Arbeit anerkannt und angenommen; der französische Gedanke hat sich im Gegenteil mit dem Schreiben philosophischer Werke nie sehr beschäftigt, und wenn dieses geschah, so verwendete er nur wenig Mühe darauf; diese Werke sind zu den Arbeiten des französischen Genius gleichsam nur die Zugaben. Demungeachtet sehen wir jedoch, wie die deutsche Philosophie jetzt gezwungen ist, ihre alten Formeln zu verlassen und in die Fußtapfen des französischen Gedankens zu treten, wie sie sogar schon jetzt von dem heutigen Frankreich die Ausdrucksarten entlehnt. Polen endlich hat in seinem Fortschreiten zu der Zukunft kaum einige kleine Schriften hingeworfen, und doch wird sich zeigen, daß diese kleinen Schriften die theoretische Philosophie der deutschen Schulen weit übertreffen. Die Geschichte des europäischen Gedankens zeichnend, werden wir nichts Neues sagen, nur dasjenige zum Teil wiederholen, was aus den Zeitschriften267 in Deutschland, welche über diese Art Arbeiten Rechenschaft ablegen, bekannt ist und das jüngst erschienene Werk benutzen, in welchem der berühmte Berliner Professor Michelet sehr ausführlich die Geschichte der deutschen Philosophie in ein Ganzes zusammenfaßt.268 Vom slavischen Standpunkt aus werden wir einige Bemerkungen über den Einfluß der Vergangenheit auf das Entstehen der philosophischen Begriffe hinzufügen und nachweisen, daß die Religion und das Volkstum des Philosophen hierzu sehr viel beiträgt. Die Geschichte der neueren Philosophie beginnt nach der allgemein angenommenen Ansicht mit René Descartes (Carthesius)269, welcher um das Ende des 16. Jahrhunderts geboren wurde und seine Werke im Anfang des 17. veröffentlichte. Descartes tritt der erste aus den Schranken der mittelalterlichen Schulen; er will die Wahrheit schon nicht mehr im Syllogismus, in den der aristotelischen Philosophie entlehnten und der christlichen Philosophie 267 Vgl. die Beiträge von Pierre Leroux: Du Dieu, ou de la vie considérée dans les êtres particuliers et dans l’Être universal. In: Le revue indépendante, Paris 1842, livraison d’April, S. 17–89; Du cours de philosophie de Schelling; Aperçu de la situation de la philosophie en Allemagne. In: Le revue indépendante, Paris 1842, livraison de Mai, S. 291–348; dieser Band war Schelling gewidmet; Adolphe Lèbre: Crise actuelle de la philosophie allemande. In: Revue des Deuxs Mondes, 1843, T. 1: janvier à mars, S. 4–42. 268 Karl Ludwig Michelet (1801–1893), Hegel-Schüler; vgl. Carl Ludwig Michelet: Geschichte der letzten Systeme der Philosophie in Deutschland von Kant bis Hegel.  2 Teile. Berlin 1837–1838 (Reprint: Olms, Hildesheim 1967); Mickiewicz orientierte sich hauptsächlich an der Edition der Berliner Vorlesungen aus dem Sommersemester 1842 von Carl Ludwig Michelet: Entwickelungsgeschichte der neuesten Deutschen Philosophie mit besonderer Rücksicht auf den gegenwärtigen Kampf Schellings mit der Hegelschen Schule. Berlin 1843. 269 René Descartes (1596–1650); vgl. Hans Poser: René Descartes. Eine Einführung. Stuttgart 2003.

1194

Teil III

angepaßten Formen suchen; er beruft sich auf sich selbst. Cogito, ergo sum270, ich denke, also bin ich, habe folglich die Gewißheit, daß ich bin; dies ist seine Hauptannahme. Ich und das Dasein dieses Ichs erscheinen hier ungetrennt oder unnennbar. Aus diesem Hauptvordersatz folgert er später die Beweise des Daseins der äußeren Welt, welches, wie bekannt, einige Skeptiker bezweifelten, und endlich das Dasein des Geistes und das Dasein Gottes. Was hier originell, was hier urtümlich erscheint, was Epoche macht, das ist diese Kühnheit, alles aus sich herauszuholen, dieses sich gänzlich Losreißen von der Vergangenheit. Etwas später hat Spinoza271, nachdem er das karthesianische System begriffen, dasselbe in einer andern Richtung entfaltet. Weil er bemerkt, daß der Mensch nur insoweit handelt als er sich auf etwas stützt, das er für gewiß, für wahr hält und daß er, wenn er sich hierin irrt, eine irrtümliche Tat vollbringt, aus welcher für ihn das Leiden entspringt: so bemüht er sich, dem Menschen die Bahn des Wirkens der Wahrheit gemäß zu stecken. Weil er aber überzeugt ist, daß die Begriffe, welche wir uns von den Außendingen machen, irrtümlich sein müssen, daß diese, da sie nur endliche, vergängliche Sachen sind, in ihren sich stets ändernden Verhältnissen, wesentliche Wahrheiten dem Geist nicht zeigen können und folglich der Mensch der Gefahr ausgesetzt ist, ohne Unterlaß für die Wahrheit zu leiden, rät er ihm an, aus dieser Welt des Wahnes, der Endlichkeit hinauszutreten und sich an das zu binden, was wirklich, was ewig, was wesentlich ist. Es gibt aber nichts Wesentliches, nichts Wahres außer Gott. Nicht nur die Außenwelt, sondern selbst unsere Neigungen, Gefühle sind nur vergängliche Gestalten des Daseins, und in dem Maße als wir zu Gott wiederkehren, machen wir uns von allen diesen Trieben, die das Leiden mit sich bringen, frei. Mit einem Wort, der Mensch strebt, durch diese geistige Anstrengung aus der geschaffenen Welt sich hinauszureißen, oder sie vielmehr in sich zu verschlingen und auf diese Art wieder Gott entgegen zu tragen. Gott und das Erschaffene machen nur Eins aus, oder streng gesprochen, es gibt kein Erschaffenes.

270 René Descartes: Die Prinzipien der Philosophie. Lateinisch–Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Christian Wohlers. Hamburg 2005 (= Philosophische Bibliothek  566), (1) De principiis cognitionis humane [1.007]. 271 Baruch (Benedictus) de Spinoza (1632–1677), niederländischer Philosoph; vgl. Benedictus de Spinoza (1677): Die Ethik – Ethica. Lateinisch – Deutsch. Nach der Edition von Carl Gebhardts „Spinoza Opera“. Überarbeitung der Übersetzung von Jakob Stern (1888). Nachwort von Bernhard Lakebrink. Stuttgart 2007. Mickiewiczs Anmerkungen zu Spinozas „Ethik“ vgl. A. Mickiewicz: Dzieła. Tom XIII: Pisma różne. Warszawa 1955, S. 145–163; vgl. auch die 24. Vorlesung (Teil III).

17. Vorlesung (2. Mai 1843)

1195

Dieses ist der allgemeine, zur Zeit, als er ihn vortrug, nicht ganz begriffene Gedanke des Spinoza, welcher erst im vergangenen Jahrhundert unter den Deutschen wieder aufwachte. Die Philosophie beginnt eigentlich mit Kant; Fichte und Hegel führen sie weiter. Kant272 stellt sich die nämliche Aufgabe, welche Descartes und Spinoza lösen wollten; er sucht ebenfalls nach der Vernunftwahrheit. Den Irrtum der Philosophen, welche alles begreifen und erklären wollen, sieht er ein; er sagt geradezu von vorn herein, der menschliche Verstand sei nur im Stande, die Verhältnisse der endlichen Dinge, die äußeren Formen der sichtbaren Welt zu erkennen und sich aus denselben einen gewissen Vorrat der Vernunftschätze zu sammeln, dies sei sein einziger Erwerb; aber das Wesen der Dinge, das Geheimnis ihres Daseins, das noumenon273, wie er es nennt, sei demselben unzugänglich. Das Begreifen herrscht nur über der sichtbaren Welt, es ordnet die empfangenen sinnlichen Eindrücke unter Kategorien des Raumes und der Zeit274, macht sich auf diese Weise aus denselben zwei Begriffe; so oft es aber darauf ankommt, aus der sichtbaren Welt herauszutreten, sich an die Vernunft zu wenden, welche allein nur nach den Grundsätzen sucht und sich 272 Immanuel Kant (1724–1804). Vgl. Otfried Höffe: Immanuel Kant. 7. Auflage. München 2007. 273 „Erscheinungen, sofern sie als Gegenstände nach der Einheit der Kategorien gedacht werden, heißen Phaenomena. Wenn ich aber Dinge annehme, die bloß Gegenstände des Verstandes sind, und gleichwohl, als solche, einer Anschauung, obgleich nicht der sinnlichen (also coram intuitu intellectuali), gegeben werden können, so würden dergleichen Dinge Noumena (Intelligibilia) heißen.“ – Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernuft (1781). Hamburg 1965, S.  298; polnische Übersetzung von Roman Ingarden – I.  Kant: Krytyka czystego rozumu. 2 Bde., Warszawa 1957. Der Begriff stammt von Platon. „Für Platon sind nur die Verstandeswesen (noumena) im eigentlichen Sinne wirklich, während die Sinnenwesen (phaenomena), bloßer Schein sind. Durch Kant wird dieses Verhältnis in einer gewissen Weise umgekehrt, denn in der Erörterung der Möglichkeiten der Erkenntnis spielt der Begriff des Noumenon nur noch eine kritische Rolle. Dabei unterscheidet Kant zwischen den Noumena in negativer und in positiver Hinsicht. Ein Noumenon in negativer Bedeutung ist ein Ding, welches durch die Abstraktion von unserer Anschauung zustande kommt. Kant nennt solche Gegenstände Ding an sich und meint, dass wir wegen unseres Angewiesenseins auf sinnliche Erfahrung keine Erkenntnis von solchen noumenalen Gegenständen haben können. In positiver Bedeutung sei ein Noumenon hingegen ein Objekt, welches in einer nicht sinnlichen Anschauung gegeben werden kann. Da wir aber über keine nicht sinnliche, intellektuelle Anschauung verfügen, können wir uns nach Kant auch keine Vorstellung von den Eigenarten solcher Noumena in positiver Bedeutung machen. Nur für Wesen, die über eine intellektuelle Anschauung verfügen, wäre es möglich, solche Noumena in positiver Bedeutung zu erkennen.“ – Handwörterbuch Philosophie. Hrsg. Wulff D. Rehfus. Göttingen 2003 (Stichwort Noumenon). 274 Über die Kategorien Raum und Zeit vgl. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hamburg 1965 (I. Transzendentale Elementarlehre. Erster Teil. Die transzendentale Ästhetik, §§ 2–8), S. 66–93.

1196

Teil III

Vorstellungen (Ideen) schafft, befindet sich der Mensch im vollständigsten Zweifel. Die Vernunft führt das Begreifen auf den Weg der Wahrheitsforschung, sie zeigt die demselben gesteckten Grenzen und reicht nicht weiter. Wohl kann sie über sich selbst nachdenken, die Geheimnisse des Begreifens ergründen, sie vermag endlich in die Tiefe des menschlichen Ich einzudringen, kann aber nicht sicher sein, daß die Außenwelt, daß die Gegenstände den Vorstellungen, welche sie sich gebildet hat, entsprechen. Kurz und verständlich gesprochen, können wir dies so ausdrücken: mit Hilfe unserer Vernunft sind wir im Stande, Himmel und Erde zu messen, die Schnelligkeit der Gestirne zu berechnen, die Farben und Formen zu beschreiben; sobald wir uns aber davon überzeugen wollen, daß es einen Gott gibt, daß wir einen unsterblichen Geist besitzen, verläßt uns die Vernunft und reicht uns kein Mittel hierzu, weil dieselbe alle diese hohen Fragen für und wider entscheidet, uns also im Zweifel läßt. Derjenige Teil von Kants Arbeiten, wo er die Unzulänglichkeit der Vernunft zur Lösung dieser erhabenen Fragen nachweist, ist der hauptsächliche und der urtümliche. Er stellt dort die Reihenfolgen der streng logischen Folgerungen nebeneinander, welche gleichmäßig für und gegen das Dasein des Geistes reden, ebenso die Endlichkeit wie die Unendlichkeit der Welt beweisen, welche zu gleicher Zeit den Deismus, den Pantheismus und Atheismus predigen. Nach Kant sind dieser Art Begriffe, wie der Begriff Gottes und der Unsterblichkeit des Geistes, seine von ihm sogenannten Postulate275 der praktischen Vernunft; er teilt nämlich die Vernunft ein in die praktische und theoretische. Dieselbe Vernunft wird, wenn sie handelt, praktischer Verstand, sie offenbart 275 „Sie gehen alle vom Grundsatz der Moralität aus, der kein Postulat, sondern ein Gesetz ist, durch welches Vernunft mittelbar den Willen bestimmt, welcher Wille eben dadurch, daß er so bestimmt ist, als reiner Wille, diese notwendige Bedingungen der Befolgung seiner Vorschrift fordert. Diese Postulate sind nicht theoretische Dogmata, sondern Voraussetzungen in notwendig praktischer Rücksicht, erweitern also zwar die spekulative Erkenntnis, geben aber den Ideen der spekulativen Vernunft im allgemeinen (vermittelst ihrer Beziehung aufs Praktische) objektive Realität, und berechtigen sie zu Begriffen, deren Möglichkeit auch nur zu behaupten sie sich sonst nicht anmaßen könnte. – Diese Postulate sind die der Unsterblichkeit, der Freiheit, positiv betrachtet (als der Kausalität eines Wesens, sofern es zur intelligiblen Welt gehört), und des Daseins Gottes. Das erste fließt aus der praktisch notwendigen Bedingung der Angemessenheit der Dauer zur Vollständigkeit der Erfüllung des moralischen Gesetzes; das zweite aus der notwendigen Voraussetzung der Unabhängigkeit von der Sinnenwelt und des Vermögens der Bestimmung seines Willens, nach dem Gesetze einer intelligiblen Welt, d.i. der Freiheit; das dritte aus der Notwendigkeit der Bedingung zu einer solchen intelligiblen Welt, um das höchste Gut zu sein, durch die Voraussetzung des höchsten selbständigen Guts, d.i. des Daseins Gottes.“ – I. Kant: Kritik der praktischen Vernunft. In: I. Kant: Werke in zwölf Bänden. Hrsg. Wilhelm Weischedel. Band 7. Frankfurt am Main 1977, S. 264 (VI. Über die Postulate der reinen praktischen Vernunft überhaupt).

17. Vorlesung (2. Mai 1843)

1197

sich als Wille, der zur Tat antreibt, und ist alsdann gezwungen, das Dasein der unsterblichen Seele und Gottes des Vergelters, in welchem wir die künftige Glückseligkeit finden werden, zuzulassen; denn die Glückseligkeit beruht auf dem Vollbringen moralischer Handlungen im Einklang mit den Grundsätzen der reinen Vernunft. Weil es aber unmöglich ist, in diesem Leben irgend einmal zu solcher Vollkommenheit zu gelangen, und keine von uns vollbrachte Tat den Postulaten der reinen Vernunft entsprechen kann, so ist zu folgern, daß es irgendein anderes Leben gibt, wo die Ausübung der Vernunft den Erfordernissen der Vernunft entsprechen wird. Dieser Zustand heißt die zukünftige Glückseligkeit.276 Noch einen anderen Beweis für das zukünftige Leben folgert er aus der Schöpfung, aus der Berechnung, um uns so auszudrücken. Er findet nämlich, daß der praktische Verstand, jedesmal, wenn er sich praktische Vorstellungen macht, dieselben einem gewissen Ziel zuwendet. So z. B. hat die Kunst ihr Ziel, die organischen Wesen haben ihre Zwecke; das Tier, als organisches Wesen, ist sich selbst Ziel, es trägt das Ziel in sich selbst. Dies alles dient dem Menschen, es muß daher der Mensch der philosophischen Analogie zufolge Gott dienen. Kant findet keine anderen Beweise für das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit des Geistes.277 Kurz gesagt, er deckt die Unzulänglichkeit der Vernunft in diesen Dingen auf und gibt fast den Rat, sich damit nicht zu befassen. Seine Ethik oder Moral beschränkt sich gänzlich auf das Erfüllen und Hochachten der Gesetze278, sie verlangt nichts weiter vom Menschen. 276 Über die Kategorie der Glückseligkeit vgl. I. Kant: Kritik der praktischen Vernunft, op. cit., S. 238–242 (Von der Dialektik der reinen Vernunft in Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gut). 277 Vgl. I. Kant: Kritik der reinen Vernuft. Hamburg 1965, S. 561–596 (Transzendentale Elementarlehre, Zweiter Teil, Zweite Abteilung, 3. Hauptstück: 3.–6. Abschnitt über den ontologischen, kosmologischen und teleologischen Beweis vom Dasein Gottes). „Beweise vom Dasein Gottes wollen vom Begriff eines notwendigen Wesens auf die Existenz desselben schließen; namentlich tut dies der ontologische Beweis, auf den die übrigen, der kosmologische und der teleologische, zurückgeführt werden müssen, nachdem sie scheinbar von der Erfahrung ausgingen. Denn der kosmologische schließt von der Zufälligkeit der Dinge dieser Welt überhaupt auf ein notwendiges Wesen: der teleologische von der bestimmten Zufälligkeit der Zwecke in der Welt auf ein notwendiges, diese Zwecke mit Bewußtsein in sich tragendes Wesen. Allen dreien liegt aber zu Grunde, daß, weil ein notwendiges Wesen alle Vollkommenheiten oder Realitäten in sich tragen müsse, ihm die Existenz oder das Sein nicht fehlen könne; denn dieses sei auch auch eine Realität. […] Gott kann also nicht in dem Kontext der Erfahrung gegeben werden, sondern die Idee des absoluten Wesens ist nur eine in uns notwendige.“ – Carl Ludwig Michelet: Entwickelungsgeschichte der neuesten Deutschen Philosophie mit besonderer Rücksicht auf den gegenwärtigen Kampf Schellings mit der Hegelschen Schule. Berlin 1843, S. 35–36. 278 Vgl. „Postulate der reinen praktischen Vernunft überhaupt“ in: I.  Kant: Kritik der praktischen Vernunft, op. cit., S. 264, die hier in Fußnote 274 zitiert werden.

1198

Teil III

Fichte279, der Nachfolger Kants, entwickelt seine Idee weiter und bestrebt sich, sie durchzuführen. Kant bewies die Unzulänglichkeit der Vernunft meistens dadurch, daß es unmöglich ist, die Dinge an sich selbst zu erkennen; Fichte fragt sich nun schon, sind denn die Dinge an sich selbst, und was ist eine Sache an sich, vom menschlichen Ich getrennt? Die Außenwelt und alles, was nicht Ich ist, erklärt er durch das Ich, denn alles, was vorhanden ist, betrachtet er für nichts weiter als nur für die Ausdehnung des Ich. Auf diese Art also, sobald unser Ich erwacht, bemerkt es sogleich, kein Nichts zu sein, es verneint das Nichts und hierdurch setzt es sich oder stellt sich auf. Wir haben also hier das Ich gedoppelt: das eine stößt das Nichts ab, das andere setzt sich. Hierin besteht eine doppelte Tat. Sobald sich nur dieses Ich selbst fragt, was es sei, nimmt es schon einen Anfang, es wird; es verneint später diese beiden sich entgegengesetzten Ur-Elemente, das Ich und das Nicht-Ich, von dem einen zum anderen übergehend, exeundo, und macht ein Dasein aus. Ist dieses Ich erwacht, so wird es gewahr, daß es etwas zu vollführen, sich zu bewegen habe, und hierdurch bemerkend, nicht unendlich zu sein, findet es in dieser Entdeckung eine Schranke, eine seinem Dasein gezogene Grenze. Diese Grenze ist das Begreifen der Außendinge. Das Ich, nachdem es in Erfahrung gebracht, daß es nicht alles ist, trachtet, die angetroffene Grenze zu überschreiten; nachdem es erkannt hat, daß der Gegenstand nichts weiter ist, als nur die Entfaltung der Gesetze, die in ihm selbst bestehen, bemeistert es sich seiner, breitet sich über ihn aus und überschreitet gleichsam auf diese Art diese Schranke; ohne aber noch die ganze Unendlichkeit durchschritten zu haben, ist es wieder gezwungen, anzuhalten. Mit einem Wort, das Ich schafft sich ein Ideal und strebt ihm nach; hat es dasselbe erreicht, muß es sich sogleich ein zweites schaffen und 279 Johann Gottlieb Fichte (1762–1814). Mickiewicz referiert hier die Grundsätze der Wissenschaftslehre aus Fichtes Werk „Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie, als Einladungsschrift zu seinen Vorlesungen über diese Wissenschaft“. Weimar 1794 (zweite, erweiterte Auflage Jena-Leipzig 1798; neue Ausgabe: J.G.  Fichte: Über den Begriff der Wissenschaftslehre. Hrsg. Edmund Braun. Stuttgart 2005). Fichte akzeptiert die kritische Philosophie Immanuel Kants, verwirft aber seine Theorie des Dinges an sich und lehnt die Trennung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft ab. Ausgangspunkt der frühen Wissenschaftslehre von 1794 ist das Ich, das sich durch eine ursprüngliche Tat selbst setzt und damit gleichzeitig die Objektwelt als seinen Gegenstand und sein Produkt erzeugt (1. Grundsatz – Identität: A=A; Ich=Ich). Existenz und Handeln sind damit identisch. 2. Grundsatz: Dem Ich entgegengesetzt ist das Nicht-Ich (A ist nicht gleich – A): „Keine Welt ohne Selbst und kein Selbst ohne Welt.“ 3. Grundsatz: Synthese – „Durch die Entgegensetzung im Ich hört Ich auf, sich selbst gleich zu sein, und ist gleich Nicht-Ich; denn Nicht-Ich ist im Ich.“ – C.L. Michelet: Entwickelungsgeschichte der neuesten Deutschen Philosophie, op. cit., S. 67; Gerhard Gamm: Der Deutsche Idealismus. Eine Einführung in die Philosophie von Fichte, Hegel und Schelling. Stuttgart 2012, S. 50–53.

17. Vorlesung (2. Mai 1843)

1199

rückt auf diese Weise der Unendlichkeit entgegen. Wir wollen versuchen, dieses durch einen einfachen Vergleich verständlich zu machen. Nehmen wir z. B. an, ein Kolonist kommt des Abends in eine Gegend, die er nie gesehen und bemerkt das Land von dem untergehenden Lichtkreis erhellt; dieses wird so ungefähr die Grenze sein, welche sein Ich um sich herum zeichnet. Er erkennt sich für den Herren dieser Gegend, beschließt, sie kennen zu lernen und sogar zu bebauen. Des Morgens beim Aufgehen der Sonne bietet sich aber seinem Blick eine noch viel ausgedehntere Länderaussicht dar; nachdem er sie durchforscht, macht er sich die Vorstellung von dem, was noch hinter derselben sich vorfindet, und unterdessen zeigt ihm die aufsteigende Sonne wiederum einen neuen Gesichtskreis, dessen er sich ebenfalls bemeistern, bemächtigen will, und auf diese Weise rückt er in die Unendlichkeit vor, nur mit dem Unterschied, daß die Erde und Sonne bei Fichte nichts anderes sind als nur das entfaltete Ich selbst, und daß in dem Maße, als wir eine Gegend kennen lernen, die Sonne immer höher aussteigt, um uns eine andere zu zeigen, wir auch stets neue Kraft fühlen, weiter zu gehen. Das Ich, von Begriff zu Begriff gehend, schreitet ohne Ende fort. Zur Erläuterung der Systeme von Schelling280 und Hegel281 wollen wir hier noch einige Worte hinzufügen: In dem Vorhergegangenen sahen wir schon, wie die geschaffene Welt verschwand, wie Gott nur noch als unbekanntes Land, welches die Philosophie zu entdecken und zu erobern sucht, verblieb. Bis dahin fand dieses alles in dem Ich statt, und die Philosophen, von diesem Ich redend, hatten immer sich

280 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854). Vgl. Manfred Frank: Eine Einführung in Schellings Philosophie. Frankfurt am Main 1985 (2. Auflage 1995); Xavier Tilliette: Schelling: Biographie. Aus dem Französischen von Susanne Schaper. Stuttgart 2004. 281 Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1830). Vgl. Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2003. Mickiewiczs (signifikantes) Hegel-Erlebnis geht auf den Sommer des Jahres 1829 in Berlin zurück: „Damals lebte noch Hegel, ihn hörte die ganze Universitätsjugend, mit dem größten Eifer vor allem die Polen. […] Mickiewicz wurde auch in eine seiner Vorlesungen geführt. Es war Logik, die Entwicklung der Begriffe Verstand und Vernunft der Gegenstand des Vortrags. Hegel hatte einen schlechten Vortrag – man mußte sich erst an denselben gewöhnen. Mickiewicz war nicht sehr oder vielmehr gar nicht davon eingenommen und zog den Schluß, daß ein Mann, der so unklar spreche und sich eine Stunde abquäle die Bedeutung zweier Begriffe zu entwickeln, sich wohl selbst nicht verstehen möchte. […] Überhaupt zeigte Mickiewicz schon damals Abneigung gegen die Philosophie. Ich erinnere mich, als ich einmal bei ihm war, dass er mir sagte: Sperre einen Philosophen nachts in die Kirche oder in eine finstere Keller-Grube ein, oder lasse ihn über einen Kirchhof gehen, und du wirst sehen, wie er beten und sich bekreuzigen wird.“ – Adalbert Cybulski: Geschichte der polnischen Dichtkunst in der ersten Hälfte des laufenden Jahrhunderts. I. Band. Posen 1880, S. 299–300.

1200

Teil III

selbst, obgleich unmerklich, im Sinne; Schelling282 riß aber dieses Ich auch selbst aus seiner persönlichen Verhüllung. Die Wahrheit macht nach Schelling die Identität des Dinges an sich mit dem Ich aus, also des Kantschen noumenon mit dem Ich. Ist das Ich und das noumenon eins und dasselbe, so ist diese Identität die Wahrheit, sie ist das von Schelling, sogenannte Absolutum oder die absolute Wahrheit.283 Aber dieses Absolute findet sich weder in dem, der erwägt, nachdenkt, noch in der beobachteten Sache, sondem nur, so einfach gesprochen, irgendwo zwischen ihnen, oder vielmehr überall, denn es umfaßt das Ich und den Gegenstand. Einen gewöhnlichen Vergleich anwendend, könnte man sich vielleicht folgender Art die Sache verständlich machen. Ein Mensch z. B. sieht in den Spiegel und erblickt sein Bild vollkommen ähnlich; diese vollkommene Ähnlichkeit macht die Wahrheit aus; doch ist aber diese Wahrheit weder im Menschen noch in seinem Bild, sie findet statt, unbekannt wo, in der Idee. Auf diesen Grund und Boden, der sich nicht bezeichnen läßt, auf dieses von Schelling geschaffene Absolutum stellte sich nun Hegel und fing an zu bauen. Von ihm herab blickt er auf die Schöpfung, die ihm übrigens zu nichts mehr notwendig ist und formuliert ungefähr folgender Art seine Vorgänger. Der Mensch und die Welt verschwinden hier schon gänzlich; man muß sich in eine ideale Leerheit, wo es noch keine Schöpfung, selbst keinen Gott gibt, versetzen, womöglich in ein Nichts. Dieses Nichts wird also nach Hegel284, in 282 Vgl. F.W.J. Schelling: System des transzendentalen Idealismus (1800). Hrsg. Horst D. Brandt und Peter Müller. Hamburg 2000; Schellings Philosophie behandelt ausführlich C.L. Michelet: Entwicklungsgeschichte der neuesten Deutschen Philosophie, op. cit., 7. Vorlesung (Schellings ursprüngliche Philosophie. Das Absolute und seine Erkenntnisart), Fortsetzung 8.–10. Vorlesung (S. 117–218), auf die sich Mickiewicz stützte. 283 Über das Absolute in Schellings Identitätsphilosophie bezieht sich Mickiewicz auf C.L.  Michelet: Entwickelungsgeschichte der neuesten Deutschen Philosophie, op. cit., S.  132–134: „[…] denn eben weil das Absolute selbst die absolute Identität des Subjektiven und Objektiven ist, so muß die intellektuelle Anschauung, als das Subjekt, und das Absolute als Objekt identisch sein. Er sagt also: Es gibt einen Punkt, wo die absolute Erkenntnisart und das Absolute selbst zusammenfallen. Das ist die ewige Wahrheit. […] Die absolte Identität ist absolute Totalität, die ich Universum nenne; was außerhalb der absoluten Identität ist, nenne ich ich in dieser Rücksicht ein einzelnes Sein.“ Michelet faß hier zusammen die §§ 1–43 aus Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie (1801). In: Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings sämtliche Werke. I. Abt., Bd. 4, Stuttgart-Augsburg 1859, S. 105–212. 284 Vgl. G.W.F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830). Hrsg. Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler. Hamburg 2011, §§ 84–111 (Die Lehre vom Sein): § 87 „Dieses reine Sein ist nun die reine Abstraktion, damit das Absolut-Negative, welches, gleichfalls unmittelbar genommen, das Nichts ist.“ […] § 88 „Das Nichts ist als dieses unmittelbare, sich selbstgleiche, ebenso umgekehrt dasselbe, was das Sein ist. Die Wahrheit des Seins sowie des Nichts ist daher die Einheit beider; diese Einheit ist das Werden.“ – S. 107, 108.

17. Vorlesung (2. Mai 1843)

1201

dem Augenblick als es gewahr wird, daß es ein Nichts ist, zu Etwas, es wird ein Sein. Das Nichts und das Sein sind also eins und dasselbe. Es sind dies die zwei Seiten der einen und derselben Sache, die zwei Teile derselben: der positive und der negative. Das Sein verneint das Nichts; dieses hat aber auch das Recht, das Sein zu verneinen und deshalb sind sie beide positiv und negativ zu gleicher Zeit. Aus diesem allen entspringt endlich das Dasein, welches sich in der Unendlichkeit offenbart und sich im Menschen als Geist konzentriert. Nehmen wir noch einmal die gewöhnliche Sprache zu Hilfe, so können wir dieses etwa wie folgt ausdrücken. Gott ist irgend ein Nichts, das sich weder fühlt noch das Bewußtsein seines Daseins hat, bis es endlich, auf einmal erwachend, mit der an sich selbst gerichteten Frage, wie es bestehe, beginnend, sich im nämlichen Augenblick in die Unendlichkeit zerstreut. Alle Eigenschaften und alle Kategorien Gottes entfalten sich nun unendlich; dieser Zustand ist jedoch nur ein Übergang. Die Unendlichkeit teilt sich in die Endlichkeit, und der unendliche Gott erscheint in den endlichen Dingen, in ihnen kommt er zu dem Bewußtsein seiner selbst. So z. B. könnte die Sonne, wenn sie lebend wäre, nicht ihr Antlitz schauen, sondern spiegelte sich ganz in der zahllosen Menge der Tropfen des Ozeans ab. Hegels Gott ist eine Sonne dieser Art, die sich nicht anders sehen kann; die ganze Welt ist die unendliche Masse von diesem Sonnenlicht, der Mensch ein Tropfen, in welchem sich die Gottheit wiedersieht und erkennt. Für die gänzliche Vollkommenheit dieses Vergleichs wollen wir nicht einstehen; es war unsere Absicht, nur so viel als möglich dies alles verständlich zu machen. Dem sei jedoch wie ihm wolle, so ist gewiß, daß diesen philosophischen Vorstellungen zufolge der menschliche Geist der einzige Gott ist; der Geist des einzelnen Menschen die einzige Einheit, die sich selbst begreift. Logisch gefolgert ist Gott als der Schöpfer in der ganzen geschaffenen Welt; einfach die Sache ausgedrückt, ist Gott als der Geist im Menschen, offenbart sich aber am kräftigsten im menschlichen Gedanken. Dies ist der ganze Schlüssel der Philosophie und das Endresultat, zu welchem der europäische Gedanke gekommen ist. Das herrlichste Sich-Offenbaren der Menschheit ist der Gedanke; es gibt nichts Heiligeres, nichts Erhabeneres, nichts Göttlicheres als den Gedanken! Was ist aber dieser Gedanke? Ist er etwa das Fühlen, das Gefühl? Nicht doch, nach Hegel ist dies bloß ein verworrener Gedanke. Auch ist er nicht das, was die Slaven Duch, die Deutschen Geist nennen; er ist, so eigentlich gesprochen, nur das Denken, die Tätigkeit, welche die Lateiner durch das Wort pensare (abwägen auf der Schale) ausdrückten, das was die Franzosen durch peser sagen wollen; Denken sei somit in der Vernunftwelt dasselbe, was das „Sich bewegen“ physikalischer Körper in der Außenwelt bedeutet. Die französische

1202

Teil III

Sprache hat eine treffende logische Definition von diesem Wort: der Gedanke ist die Bewegung des Verstandes285; Denken und Sich-Bewegen will aber noch gar nichts sagen, weder in Betracht der Richtung, noch der Kraft, noch des Ziels. Kann man aber nun wohl behaupten, daß die Bewegung der Vernunft, ohne Ziel und Plan, schon die heiligste Sache auf Erden sei. Es wäre dies dasselbe, als wollte man sagen, die Bewegung in der äußeren körperlichen Welt, und zwar die erste beste Bewegung, sei das Herrlichste, das Entzückendste in der Natur. Siehe da die ganze Frucht dieser philosophischen Mühen. Ihren Wert abzuwägen und zu zeigen bleibt uns nun übrig. Und hierbei werden wir sehen, daß, wenn die Slaven sich nicht beeilten, sich in den Streit der Philosophen zu mischen, ihre Systeme aufzufangen, dies nicht daher kam, daß sie dieselben nicht verstanden, sondern weil sie sahen, daß in ihnen sich nichts vorfand, was mit dem Wesen ihres Geistes im Einklang wäre, und weil der Gedanke Gottes, der auf diesem Stamm ruht, ihn nach einer anderen Seite hin trieb. Richten wir nun unsere Aufmerksamkeit einigermaßen darauf, zu ergründen, woher diese philosophischen Arbeiten entsprungen sind. Gewöhnlich werden sie für die Summe des Fortschrittes der menschlichen Vernunft oder des vernünftigen Gedankens ausgegeben und als solche vorgetragen, und zwar ohne Rücksicht auf Zeit, Raum, Volkstum, Stammesanlagen, persönliche und Landesanlagen ihrer Autoren, wovon man uns hiervon gänzlich zu abstrahieren befiehlt. So jedoch verhält sich die Sache nicht. Wir sehen, daß die Philosophie seit dem Westfälischen Frieden [1648], seit dem das große religiöse Leben allenthalben abstirbt, aufwächst und sich entfaltet. Früher bewegte sich die ganze Christenheit wie ein Mann. Von den vereinzelten teilweisen Sektenbestrebungen reden wir vor der Hand nicht, sondern von einer solchen Bewegung, wie die Kreuzzüge, die Entfaltung der Künste in Italien und Frankreich, die allgemeine Bildung der Orden und Verbrüderungen. Alles dies schien aus einem Mann hervorzugehen. Erst nach der Reformation hört diese allgemeine 285 Gustav Siegfried übernimmt hier den Verweis auf das Zitat: „Tout mouvement de l’intelligence s’appelle pensée.“ von Joseph Marie Degerando (siehe: Literatura słowiańska wykładana w kolegium francuzskim przez Adama Mickiewicza. Tłumacznie Felixa Wrontowskiego. Wydanie trzecie, nowo poprawione. Rok trzeci, 1842–1843. Tom III. Poznań 1865, S.  199). Joseph Marie Degérando (1772–1842), französischer Schriftsteller und Philosoph, Verfasser einer Geschichte der Philosophie – Histoire comparée des systèmes de philosophie relativement aux principes des connaissances humaines. Paris 1804, 3 Bände; (2. Auflage, Paris 1847, 4 Bände); Das Zitat muß aus der französischen Darstellung stammen; Zitat nicht ermittelt. Deutsche Übersetzung: J.M.  Degérando: Vergleichende Geschichte der Systeme der Philosophie mit Rücksicht auf die Grundsätze der menschlichen Erkenntnisse. Aus dem Französischen von Wilhelm Gottlieb Tennemann. 2 Bde., Marburg 1806.

17. Vorlesung (2. Mai 1843)

1203

Bewegung auf. Die Christenheit, wir wiederholen noch einmal das kühne Wort Baaders, geht von der einen Seite der katholischen, in Versteinerung286, von der anderen der protestantischen, in Fäulnis über; der christliche Geist und die Volksgeister wissen nicht mehr, wohin sie sich wenden sollen, und legen sich auf das Aufsuchen eines neuen Lichts. Es beginnt mit der Zeit für die wackersten Männer, für die kräftigsten Geister eine schwere Arbeit. Descartes hat sein System nicht aus den Büchern des Aristoteles, des Plato oder eines Anaximenes287 geschöpft, sondern, im Heere dienend, selbst Augenzeuge der Religionskriege und Teilnehmer an denselben, jeden Tag dem Blutvergießen im Kampf des Katholizismus mit dem Protestantismus zuschauend und nicht im Stande zu entscheiden, welche Partei das Recht für sich hatte, stieß er die theologischen Fragen von sich und nirgends Zuflucht findend, mußte er in sich gehen.288 Da sprach er es aus: ich denke, folglich bin ich; also muß ich auch wissen, wie und warum ich etwas tun soll. Schon gleich im Anfang bemerkt man hier die Richtung des französischen Geistes, die Begier sich auf den Grundsatz der moralischen Gewißheit zu stützen. Descartes war ein Mann der Tat, obgleich er nicht weitläuftig die Religion abhandelte, so zog er doch seinen Degen in ihrer Sache; obgleich er vor allem Mathematiker war, so kann man dennoch aus seiner Philosophie bemerken, woher sie entstanden, nämlich aus der Notwendigkeit zu wissen, was von Gott und der Menschheit zu halten sei. Von Descartes angefangen bis auf Buchez, Leroux und Lamenais zeigt sich dieses Bedürfnis ohne Unterlaß.289 Buchez endlich hat das karthesianische System formuliert, dasselbe so weit vorrückend, daß ihm zufolge jede Gewißheit, selbst die Vernunft-Gewißheit, auf dem Grundsatz der moralischen Gewißheiten beruht.290 286 Vgl. Franz von Baader: Vorlesungen über speculative Dogmatik.  2. Heft. Münster 1830, S. 13: „Lediglich also, um die Lösung dieses Problems unserer Zeit, so viel an uns ist, auch in der Religionswissenschaft zu fördern, in welcher bekanntlich seit dem Eingehen der scholastischen Philosophie das spekulative und historische oder empirische Element sich immer mehr trennend, ersteres endlich in die Destruktivität, letzteres in Versteinerung ausartete […].“ Mickiewicz verweist auf den Begriff „Versteinerung“ schon in der 41. Vorlesung (Teil I). 287 Vgl. Die Milesier: Anaximander und Anaximenes. Hrsg. von Georg Wöhrle. BerlinBoston 2012. 288 Descartes war 1619–20 Teilnehmer im Dreißigjährigen Krieg (1618–1648); vgl. Rainer Specht: René Descartes. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. 10. Auflage. Reinbek bei Hamburg 2006. 289 Über Pierre Leroux (1797–1871) und Félicité de Lamenais (1782–1854) vgl. die 23. Vorlesung (Teil III). 290 Philippe Buchez (1796–1865), französischer Historiker und Politiker; vgl. P. Buchez: Essai d’un traité complet de philosophie, du point de vue du catholicisme et du progrès. 3 Bde., Paris 1838–1840, Bd. 2, S. 74–80.

1204

Teil III

Aus Tatlust also trachtete der französische Genius sich aufzuklären; woher entstand aber Spinozas System? Spinoza war ein Jude. Hatte er in den Zeiten gelebt, als man die Juden marterte, verbrannte, gewiß er hätte sich an jenen Jehova gewendet, welcher seine Ahnen schirmte, er hätte die Notwendigkeit eines mächtigen, persönlichen, sich in die Angelegenheiten der Welt einmischenden Gottes, der auch den elendiglich Bedrückten zu befreien vermag, gefühlt; aber in den Tagen des allgemeinen Unglaubens und der Gleichgültigkeit brauchte er einen solchen Gott nicht mehr. Die unangenehme Lage jedoch, in welcher die Israeliten sich überall befanden, zwang Spinoza nur, sich zu erklären, um es selbst zu wissen, was er hier zu bedeuten habe und wozu er auf dieser Welt lebe. Und nicht vermögend, in irgendeinen Dienst, weder Zivilnoch Militärdienst zu treten, mußte er sich ein System ausdenken, das ihm erlaubte ruhig zu sitzen, zu nichts zu gehören. Er schuf sich daher einen Gott, in welchem er wohnte und in welchem er gegen die Christen, so wie gegen die Geschichte Recht zu haben vermeinte; denn dieser Gott verpflichtete ihn zu gar nichts, er legte ihm weder das Beten, Kämpfen, noch Arbeiten auf. Der arme Mann dachte Wunder wie viele philosophische Rätsel zu lösen, indem er doch auf diese Weise nur die Frage seines eigenen Daseins entschied. Sehen wir nun zu, woraus sich die deutsche Philosophie erzeugt hat. In den protestantischen Ländern bemächtigten sich die Herrscher der ganzen Gewalt, alle Versammlungen und politischen Verhandlungen nahmen ihr Ende; der Wertstreit zwischen den Theologen, anfangs sehr eifrig geführt, ermüdete endlich die Gemüter und man verwarf die Theologie gänzlich. Die wohlhabenden Stände, die Klassen der Leser und Sprecher, hatten somit schon nichts Ernstliches mehr zu tun. Viele protestantische Pastoren, die weder an Luther, Calvin noch an den Erlöser selbst glaubten, also ihre Zeit nicht mit Beten zubringen konnten, andererseits auch keine Synoden noch Kapitelversammlungen mehr hatten, wo es notwendig war, über wirkliche Dinge zu beraten, warfen sich in das Reich der abstrakten Begriffe. Man wich auf diese Art auf allen Standpunkten der Arbeit aus dem Weg; denn allerdings ist es viel schwieriger zu zeigen, wie die Religion christlich zu erfüllen sei, als Systeme zu machen, welche uns von der Erfüllung der religiösen Pflichten freisprechen. In einer solchen Zeit schien es dem aus Gnaden seiner Vorfahren, der Deutschen, in einem slavischen Land, in einem Land, das ihn nährte, zur Zahlung seines Gehalts Abgaben trug, angestellten Kant, dem Kant, welcher in einer einst durch die Sorge eines der katholischen Bischöfe gegründeten Schule ausgelernt hatte, der die Bücher, gesammelt durch die Mühen der protestantischen Pastoren, gemächlich nachschlug, der unter dem Schirm eines Königs, der für ihn Krieg führte, einer behaglichen Ruhe genoß, von den Leibern der Soldaten, welche Königsberg verteidigten, gedeckt war, dem Kant, welcher folglich so viel wie

17. Vorlesung (2. Mai 1843)

1205

jeder von uns der Vergangenheit schuldete: ihm schien es plötzlich, als sei er von irgendwo auf die Erde gekommen, als wäre er nichts schuldig, nicht nur Gott, sondern selbst seinem Land und seiner Stadt. Diesen falschen Begriff zur Grundlage machend, wollte er Gott und die ganze Schöpfung erklären. Kant hat in dem Bereich des Gedankens Ähnlichkeit mit den letzten Großmeistern des Kreuzritter-Ordens, welcher von dem religiösen Eifer erhoben, von den Päpsten beschenkt, von den Monarchen geschirmt, sobald er reich und mächtig wurde, sich die Frage stellte, warum er da sei, es auch sogleich mit Papst, Kaiser, König von Polen verdarb und selbstständig sein wollte. Von der Zeit an begann die neuere Geschichte Preußens, und Michelet hat recht, wenn er sagt, daß diese ganze Philosophie eigentlich preußisch291 ist, daß sie nirgends anders als in Preußen sich hat erzeugen können, und daß dieses Land allein bestimmt ist, dieselbe zu vervollkommnen und zu beenden.

291 Vgl. Carl Ludwig Michelet: Geschichte der letzten Systeme der Philosophie in Deutschland von Kant bis Hegel. Erster Teil. Berlin 1837, S.  11: „Durch äußere Macht nicht nur, sondern vornehmlich durch die Kraft des Geistes zeichnet sich endlich der preußische Staat vor allen norddeutschen Staaten aus. Preußen hat sich dieser Philosophen angenommen und sie fast zu seinem ausschließlichen Besitz gemacht, indem deren Urheber ihn teils durch Geburt angehörten und nie das preußische Gebiet verließen, wie Kant; teils, verketzert und von fremden Lehrstühlen verdrängt, in Preußen allein einen Schutz für die freie Äußerung ihrer Ansichten fanden, wie Fichte; oder endlich, wie Hegel, zur Förderung wahrer Wissenschaftlichkeit aus dem Süden zu uns herübergerufen wurden.“

18. Vorlesung (9. Mai 1843) Widerstand in Deutschland. Herder, Jacobi, Friedrich Schlegel – Einfluß von St. Martin und de Maistre – Schelling und Hegel – Hegelianer – Michelet – Cieszkowski.

Die philosophische Bewegung des deutschen Gedankens, hat unter den Deutschen selbst einen Widerstand gefunden, welcher allmählich zur Reaktion wurde. Noch als Spinoza die Persönlichkeit des Menschen aufhob, sie vernichtete, indem er sogar alle Neigungen des menschlichen Geistes für die Zufälligkeiten der einen Substanz, d. h. Gott betrachtete, stellte ihm Leibniz292 ein System entgegen, welchem zufolge jede Menschenseele und sogar jeder nicht materielle Keim irgend einer Sache, eine Monade, eine gewisse Art Ganzes, das unsterblich und göttlich ist, ausmacht. Gott aber sei nur die Urmonade, welche Ordnung und Einklang oder die Harmonie aller dieser Monaden aufrecht erhält. Leibniz trat also schon mit einer Verteidigung der Persönlichkeit auf; aber erst bei dem Auftreten der Kantschen Philosophie empörte sich alles in Deutschland, was noch irgend Christliches sich dort vorfand. Bevor wir zu den Resultaten der Bewegung des deutschen Gedankens kommen, durcheilen wir in der Kürze die Geschichte dieses Widerstandes. Herder293, einer der größten Männer Deutschlands, mit erhabenem Naturgefühl begabt, mit der Geschichte des Menschengeschlechts genau bekannt, war der Erste, der sich gegen die Philosophie Kants erhob; er konnte in derselben außer Formeln, die sich weder den Phänomenen der Schöpfung, noch den geschichtlichen Ereignissen anpassen ließen, nichts finden. Diese Philosophie verächtlich behandelnd, nannte er sie einen Wortkram.294 Herder suchte Gott in der Menschheit. Dieses Wort Menschheit führte er ein. Ihm zufolge ist nicht der Gedanke allein das Wesen des Menschen, sondern es macht der ganze, vollständige Mensch die Idee aus, stellt das Muster der Vollkommenheit dar, nach welcher man streben muß. Die Teilchen – daß wir uns so ausdrücken – dieses 292 Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716). Vgl: G.W. Leibniz: Monadologie und andere metaphysische Schriften. Französisch-Deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Ulrich Johannes Schneider. Hamburg 2002. 293 Johann Gottfried Herder (1744–1803). Vgl. Rudolf Haym: Herder: nach seinem Leben und seinen Werken dargestellt. 2 Bände. Berlin 1880–85. 294 „Mit einer nichtssagenden Wortformel (√-1) konnte er ein ganzes Wörterbuch dunkler Formeln einleiten, die alle so wenig als jene erste Wortformel bedeuten. Sie sind Gestalten, wie sie auf dem Brocken erscheinen sollen, scholastische Phantasmen, die man ehedem mit dem ausdrückenden Namen Wortkram nannte.“ – J.G.  Herder: Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft (1799). Berlin 1955, S. 133. Vgl. Paul Flocke: Die Differenzen zwischen Kant und Herder. Nordhausen 2008.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_093

18. Vorlesung (9. Mai 1843)

1207

Musters sieht man zerstreut in den einzelnen Menschen; alle zusammen umfaßt sie die Menschheit; daher gibt es nichts, was erhabener, heiliger wäre, als die Menschheit.295 Jacobi296 griff die Philosophie von einem anderen Standpunkt aus an; die offenbarte Religion festhaltend, begann er den Streit in philosophischer Sprache. Bei euch gibt es keinen Gott, sprach er zu Fichte und Schelling. Euer Gott ist noch im Werden und wird nie werden. Dieser Gott, welcher nach eurer Philosophie aus der Einheit durch die Vielheit, um Ganzheit zu werden, gehen muß, ist kein vollständiger Gott. Ihr wollt aus einer unvollkommenen Sache eine vollkommene schaffen. Wir Christen glauben anders; wir sehen die Vollkommenheit für die Quelle und den Urstoff aller Begriffe und aller Dinge an. So nahm auch Jacobi die Kategorien Kants an, er stimmte der Unzulänglichkeit der menschlichen Vernunft zur Erkenntnis Gottes bei. Die Vernunft geht immer von den Ursachen zu den Folgen, vom Endlichen zum Endlichen und kann das Unendliche nie erlangen. Man muß also, anderswo diese Unendlichkeit suchen: sie ist in Gott, und der Mensch kann nur, indem er sich im Geist zu Gott erhebt, sie begreifen. Gott tritt in Berührung mit dem Menschen und durch diese Berührung erkennt der Mensch Gott. Solchergestalt machte Jacobi Gott schon der Menschheit zugänglich. Friedrich Schlegel297 rückte das System Jacobis noch weiter vor. Schlegel ein Dichter, Geschichtsschreiber und Staatsmann, nachdem er Deutschland bereist, Frankreich längere Zeit beobachtet hatte, bemerkte endlich, was sich in der deutschen Philosophie moralisch und politisch Gefährliches vorfand. Er sah ein, daß das mittelalterliche Gebäude Deutschlands, das deutsche Kaiserreich unwiderruflich gefallen war, und fand unter diesen Trümmern keinen einzigen Gedanken, welcher dem ganzen germanischen Stamm gemeinsam werden konnte. Diese Betrachtungen rissen ihn zuerst von dem Protestantismus los; er neigte sich anfänglich den Begriffen Saint-Martins und de Maistres zu, später wurde er katholisch. Ihm zufolge ist das menschliche Ich der 295 Vgl. J.G. Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–91). 2 Bde., Berlin-Weimar 1965. 296 Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1813); Zur Auseinandersetzung mit Fichte und Schelling vgl. F.H.  Jacobi: Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung. Leipzig 1811 (2. Auflage 1822); Schellings Erwiderung – vgl. F.W.J. Schellings Denkmal der Schrift von den göttlichen Dingen u. des Herrn Friedrich Heinrich Jacobi und der ihm in derselben gemachten Beschuldigung eines absichtlich täuschenden, Lüge redenden Atheismus. Tübingen 1812; ferner den Sammelband – Der Streit um die Göttlichen Dinge (1799–1812) mit Texten von Goethe, Hegel, Jacobi, Novalis, Schelling, Schlegel u.a. und Kommentar. Hrsg. Walter Jaeschke. Hamburg 1999. 297 Friedrich Schlegel (1772–1829). Vgl. Jure Zovko: Friedrich Schlegel als Philosoph. Paderborn 2010.

1208

Teil III

Widersacher Gottes. Dieses Ich, sich vervollkommnend, seine Kräfte und sein Wissen ausbildend, erkennt endlich seine Unzulänglichkeit an. Das Gelangen bis zu diesem Punkt ist für den Fortschritt notwendig; hat das menschliche Ich sich selbst verneint, sich selbst vernichtet, so beginnt erst im Menschen der Keim des göttlichen Ichs sich zu entfalten; der Mensch vereint sich alsdann mit Gott. Nach Schlegels Meinung haben die Völker des Altertums, namentlich die morgenländischen, schon diese traurige Reihenfolge des Vernichtens ihres Ichs erfahren, aber die europäischen Völker müssen dieses noch erwarten: Europa hat seit den Zeiten des Mittelalters, seit den Kriegen der Guelfen mit den Ghibellinen eine irrige Bahn eingeschlagen.298 Das sich Erheben der Kaiser gegen die Päpste macht die erste Epoche dieses Kampfes der Individualität gegen die Allgemeinheit aus; der Protestantismus treibt dieses sich Entfalten des Ichs ungemein vorwärts, die französische Revolution stößt es noch weiter dem Abgrund entgegen. Die Geschichte dieses Ichs macht bei Schlegel die Geschichte des Antichristes aus. Die einzigen Verteidiger der wahren Gewalt waren, wie er behauptet, die Jesuiten, doch sind sie von der allgemeinen Flut verschlungen worden. Er hofft aber, daß die Geschichte der Wahrheit Gerechtigkeit wird widerfahren lassen, und daß endlich das Ich gezwungen sein wird sich zu ergeben, oder daß es, von dem Geist der Gesellschaft überwältigt, den kürzeren ziehen wird. Ihm zufolge liegt es der Menschheit nun ob, sich ein neues Ideal der Gewalt zu schaffen, ein Ideal der Regierung. Bis dahin hatte sie der Reihe nach die väterliche, priesterliche und königliche Gewalt erfahren; jetzt wird sich die Gewalt der Väter und Priester in den Königen vereinigen; die absoluten Könige werden die Gottheit auf Erden vorstellen. Schlegel ist bei weitem mehr offener Absolutist als Graf de Maistre; er findet für die Menschheit kein Heil, außer in der Alleinherrschaft; die Monarchen mögen sein wie sie immer wollen.299 Seine Werke fanden jedoch wenig Anhang in Deutschland. Schelling endlich, Schelling, einer der Gründer der deutschen Philosophie, erschien neulich wieder als der furchtbarste Feind und Vernichter seiner eigenen Arbeit, er betrat den Lehrstuhl in Berlin mit einem System, welches alle die bis dahin gemachten Systeme niederreißen soll. Wir werden hier zuerst an

298 Im mittelalterlichen Italien nannte man seit etwa 1240 die „Parteigänger des Reiches Ghibellinen, die des Heiligen Stuhles Guelfen. Die schwarzen Guelfen oder Welfen waren ursprünglich die Anhänger der deutschen Fürstenfamilie der Welfen. […] Zu den Parteigängern der Ghibellinen zählte vor allem der Adel, während die Großkaufleute auf der Seite der Guelfen standen.“ – Klaus Zimmermanns: Toscana. Köln 1980, S. 30. 299 Mickiewicz referiert hier die Ausführungen von C.L. Michelet: Entwickelungsgeschichte der neuesten Deutschen Philosophie, op. cit., S. 90–91.

18. Vorlesung (9. Mai 1843)

1209

seine frühere300 Auffassungsweise der Dinge erinnern. Die allgemeine Welt, das Universum, die Unendlichkeit oder das sogenannte Absolute bedeuten bei ihm eines und dasselbe, was das Dasein und das Wissen; diese Identität findet jedoch nur im Universum, in dem Absoluten statt, offenbart sich aber auch in jedem Teilchen desselben, in allem Endlichen, und man kann sagen, das Leben, welches die ganze Welt erfüllt, teilt sich in zwei Ströme, von denen der eine in der Einheit der menschlichen Seele, im Geiste des einzelnen Menschen endet, der andere die Sache, die Allgemeinheit der Dinge ausmacht.301 Schelling schöpfte aus der Physik den schaffenden Gedanken seines Systems. Gerade zur Zeit, als er dieses System aufstellte, beschäftigte man sich sehr mit der elektro-galvanischen Säule, die Beobachtungen, welche man vermittels der Versuche mit der Elektrizität302 machte, führten zur Entdeckung ihrer beiden entgegengesetzten Pole. Und in der Tat können wir uns auch eine Vorstellung von dem Begriffe Schellings machen, wenn wir als Beispiel eine elektrisierte metallene Kugel nehmen. Wird dieser Kugel irgendein Gegenstand von der einen oder anderen Seite genähert, so zeigt sich uns die negative oder positive Elektrizität; diese Elektrizität ist aber ebenso gut wie in der Kugel, so auch in jedem Teilchen derselben eine zwiefache, eine negative und positive; allenthalben zwischen ihren beiden Polen findet ein gewisser Indifferenzpunkt statt. Denn würden wir ein Stückchen nach dem anderen von diesem Metall abhauen, so hätte doch jedes Stückchen seine positive und negative Seite. Und 300 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie (1801). In: Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings sämtliche Werke. I.  Abt., Bd.  4, StuttgartAugsburg 1859, S.  105–212. Vgl. Reinhard Lauth: Die Entstehung von Schellings Identitätsphilosophie in der Auseinandersetzung mit Fichtes Wissenschaftslehre: (1795–1801). Freiburg (Breisgau)-München 1975. 301 Bezug: §§ 1–43 in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie (1801), op. cit., S. 114–130: „§. 1. Erklärung. Ich nenne Vernunft die absolute Vernunft, oder die Vernunft, insofern sie als totale Indifferenz des Subjektiven und Objektiven gedacht wird. […] §. 2. Außer der Vernunft ist nichts, und in ihr ist alles. […] §. 3. Die Vernunft ist schlechthin Eine und schlechthin sich selbst gleich. […] §. 8. Die absolute Identität ist schlechthin, und so gewiß, als der Satz A = A ist. […] §. 21. Die absolute Identität kann nicht unendlich sich selbst erkennen, ohne sich als Subjekt und Objekt unendlich zu setzen. […] §. 23. Zwischen Subjekt und Objekt ist [überhaupt] keine andere als quantitative Differenz möglich […].  §. 32. Die absolute Identität ist nicht Ursache des Universums, sondern das Universum selbst. Denn alles, was ist, ist die absolute Identität selbst (§. 12). […] §. 34. Die absolute Identität ist dem Wesen nach in jedem Teil des Universum dieselbe; denn sie ist ihrem Wesen nach völlig unabhängig von dem A als Subjekt und als Objekt . […] §. 43. Die absolute Identität ist nur unter der Form aller Potenzen. […].“ 302 Vgl. § 86 und folgende über Licht, Schwerkraft, Kohäsion – in: F.W.J. Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie (1801), op. cit.

1210

Teil III

gerade so stellt der menschliche Geist einen Pol, die Unendlichkeit vor; die äußeren Gegenstände den zweiten, die Endlichkeit; der ganze Begriff beruht aber auf der Vereinigung dieser beiden Elemente, d. h. der Begriff der Wahrheit, die Wahrheit, das Absolute liegt im Universum. Dieses Absolute, diese Wahrheit kann man weder im Menschen, noch in der Natur finden; die Natur wird durch den Menschen erklärt, der menschliche Geist durch die Natur, und nur in der diese zwei Seiten der Schöpfung vereinigenden Idee läßt sich die Wahrheit fassen. Das war Schellings altes System. Nachdem er es erschaffen hatte, schwieg er vierzig Jahre.303 Man war der Meinung, daß er an der Vervollkommnung seines Systems arbeite, bis er endlich auf einmal das Schweigen brach und erklärte, sein altes System sei mangelhaft, einseitig, es stelle bloß die negative Seite des ganzen Systems dar, welches er nun ergänzen oder vielmehr von Grund aus umbauen wolle. Schrecken ergriff die preußischen Philosophen304; sie hatten nämlich auf das Schellingsche System die Hegelsche Schule und alle die vorangegangenen gebaut. Sobald nun aber Schelling verkündete, daß das Stockwerk, welches dem Hegelschen Tempel zur Unterlage diente, bloß das Gerüste gewesen sei, daß es dort weder Ziegel noch Mauersteine gebe, daß er sich daran mache, es auseinander zu werfen und an seiner Stelle das wirkliche Gebäude aufzuführen, so wurden alle auf sein System gegründeten philosophischen Arbeiten auf einmal mit dem Niederreißen bedroht. Dem nun zufolge, was Schelling jetzt vorträgt, war die ganze Philosophie, von Spinoza und Kant bis auf sein erstes System mit einbegriffen, nur negativ. Der menschliche Geist ist nicht im Stande, das Dasein zu fassen, er weiß von dem Dasein, kann es aber nicht begreifen. Der menschliche Geist hat ein Dasein; und da er wahr ist, so kann er von oben herab vorhersehen, daß auch die Sachen ebenso bestehen müssen; er besitzt die Fähigkeit, dieses von vornherein a priori zu entscheiden; er weiß aber nicht, ob auch die Sachen wirklich sind, und um sich hiervon zu überzeugen, muß er seine Zuflucht zu 303 Schelling, der als Hegel-Nachfolger nach Berlin berufen wurde, sagte in der 1. Vorlesung (15.11. 1841): „Es sind jetzt vierzig Jahre, da gelang es mir, ein neues Blatt in der Geschichte der Philosophie aufzuschlagen; die eine Seite desselben ist jetzt vollgeschrieben; gern hätte ich einem anderen überlassen, das Fazit, das Resultat derselben zu ziehen, das Blatt umzuwenden, und eine neue Seite anzufangen.“ – F.W.J. Schelling: Philosophie der Offenbarung 1841/42. Herausgegeben und eingeleitet von Manfred Frank. Frankfurt am Main 1977, S. 89. 304 Vgl. dazu die „Dokumente zu Schellings erstem Vorlesungszyklus in Berlin“ in: F.W.J. Schelling: Philosophie der Offenbarung, op. cit., S.  495–581 (u.a. mit Beiträgen von Michail Bakunin, August Cieszkowski, Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach, Józef Gołuchowski, Sören Kierkegaard, Pierre Leroux, Karl Marx, Karl Ludwig Michelet, Karl Rosenkranz, Arnold Ruge).

18. Vorlesung (9. Mai 1843)

1211

der Erfahrung nehmen. Also der Geist kann erfahren, daß die Sachen sind, er kann sich aber nicht überzeugen, daß sie sind, oder, wie dieses Schelling in seiner Art ausdrückt, der Geist kennt das quid, er kennt aber nicht das quod.305 Um das Dasein zu begreifen, muß man zuvörderst das innere und auf einmal vollständige, alle logischen Beweise schon in sich schließende Gefühl des Daseins haben, man muß die von Schelling genannte intellektuelle Anschauung306 besitzen, eine Art Aufleuchten des Geistes, in welchem man das eigne Dasein gewahrt und zugleich die Überzeugung von demselben gewinnt. Dieses Faktum bedarf also keiner Beweise, und aus ihm entspringt das ganze System Schellings; daß aber dieses geistige Aufleuchten, von ihm später der Glaube307 genannt, ein Organ sei, welches nicht jedem gegeben ist, und namentlich, daß derjenige, welcher es nicht vermag, mit Hilfe dieses augenblicklichen 305 Zur negativen Philosophie zählt Schelling die reine Vernunftwissenschaft. Das rein Rationale vermag es jedoch nicht, an die Wirklichkeit heranzukommen, denn die Vernunft lehrt nur, was (quid) die Dinge seien, nicht aber daß (quod) sie seien: „An allem Wirklichen ist zweierlei zu erkennen oder von ihm auszugehen: quid sit und quod sit = was ein Seiendes ist und daß ein Seiendes ist. Jenes macht, daß ich einen Begriff davon habe, dieses, daß ich seine Existenz weiß, d. h. daß ich sie erkenne. Wohl kann ein Begriff ohne ein Erkennen möglich sein, aber nicht umgekehrt, ein Erkennen ohne Begriff. Das Erkennen ist ein Wiedererkennen (dessen, was schon im Begriff enthalten ist). […] Die Vernunft ist aber nichts Anderes als die unendliche Potenz des Erkennens. Als solche hat sie einen Inhalt […]. Welches ist dieser Inhalt? Da allem Erkennen ein Sein entspricht, so entspricht der unendlichen Potenz des Erkennens die unendliche Potenz des Seins. Dies ist der eingeborne Inhalt der Vernunft, aus welchem sich der Begriff des Gegenstandes zu entwicklen hat, dessen Existenz die Philosophie bewiesen muß.“ – F.W.J. Schelling: Philosophie der Offenbarung, op. cit., S. 99–100. 306 Mickiewicz übersetzte „intellektuelle Anschauung“ mit „perception intelectuelle“. Beim „frühen“ Schelling heißt es: „Die intellektuelle Anschauung ist das Organ alles transzendentalen Denkens. Denn das transzendentale Denken geht eben darauf, sich durch Freiheit zum Objekt zu machen, was sonst nicht Objekt ist; es setzt ein Vermögen voraus, gewisse Handlungen des Geistes zugleich zu produzieren und anzuschauen, so daß das Produzieren des Objekts und das Anschauen selbst absolut Eines ist, aber eben dieses Vermögen ist das Vermögen der intellektuellen Anschauung.“ – F.W.J. Schelling: System des Transzendentalen Idealismus (1800). In: F.W.J. Schelling: Sämmtliche Werke. 1. Abteilung, Band 3. Stuttgart-Augsburg 1857, S. 369. Später, 1841–42, heißt es: „Fichte verlangte zum Anfang ein unmittelbar Gewisses, das Ich, dessen er sich durch intellektuelle Anschauung als eines unmittelbar Gewissen versichtert glaubte. […] Ich suchte mit Fichte nicht abzubrechen, sondern von Fichte aus zum allgemeinen Begriff der Indifferenz von Subjekt und Objekt den Weg zu finden […]. Versteht man aber darunter eine Anschauung, die dem Inhalt des Subjekt-Objekts entsprechend ist, so kann man von einer intellektuellen Anschauung sprechen, nicht des Subjekts, sondern der Vernunft selbst.“ – F.W.J. Schelling: Philosophie der Offenbarung, op. cit., S. 124–125. 307 Vgl. F.W.J. Schelling: Philosophie der Offenbarung, op. cit., S. 176–208; ferner – Wilhelm G. Jacobs: Gottesbegriff und Geschichtsphilosophie in der Sicht Schellings. Stuttgart-Bad Cannstatt 1993.

1212

Teil III

Aufleuchtens das Dasein der Dinge bis auf den Grund zu begreifen, auch schon nicht fähig ist Philosoph zu werden, hat ungemeines Ärgernis unter den deutschen Philosophen erregt; sie beschuldigten Schelling, er habe Gott weiß, welchen Unsinn erdacht.308 Wir werden uns hier nicht über das neue System von Schelling verbreiten, welches noch nicht im Druck erschienen ist.309 Von Hegel und Fichte redend, folgten wir dem Vortrag anderer Schriftsteller, weil sie deren Begriffe besser formulieren, als wir dieses tun könnten; da wir aber Schellings neues System nicht selbst gelesen haben, wollen wir uns auch nicht auf die Auseinandersetzungen seiner Gegner verlassen.310 Genügend ist es zu wissen, daß Schelling ein Christ geworden und daß er sich bemüht, die Offenbarung philosophisch zu erklären. Die Hauptpunkte seines Systems, in welchen er von der Tendenz der deutschen Philosophie abweicht, sind diese: erstens ist es nötig, ein philosophisches Organ zu besitzen, zweitens muß man einen guten Willen zum Erkennen der Wahrheit haben und endlich muß man ein Weiser sein. Schwer ist die Wut zu beschreiben, in welche die Anhänger der alten Hegelschen Schule gerieten, als diese unerhörten Behauptungen ausgesprochen wurden. Wie! schrien sie, bedarf man denn des guten Willens, um eine wahre und offenbare Sache zu lernen? Wozu soll hier der gute Wille? Verlangen wir etwa guten Willen von jemandem, damit er begreife, daß zwei Dreiecke sich gleichen, welche dieselbe Basis und gleiche Winkel haben? Ist daher der sich gut oder schlecht aufführende Mensch nicht in eben dem Grad fähig, die mathematischen Aufgaben zu lösen? Die Hegelsche Methode, welche nach Hegel die reine Wahrheit ist und zugleich das Mittel, diese Wahrheit zu beweisen, reicht durch sich selbst zur Überzeugung eines Menschen, der nicht auf den Kopf gefallen ist, aus. Verlangt man, der Mensch soll einen guten Willen haben, so ist dies dasselbe, als wolle man ihn wiederum in die Finsternis der religiösen Philosophie versenken. 308 Vgl. dazu Anhang  I und III in F.W.J.  Schelling: Philosophie der Offenbarung, op. cit.; ferner – Julius Frauenstädt: Schellings Vorlesungen in Berlin. Darstellung und Kritik der Hauptpunkte derselben mit besonderer Beziehung auf das Verhältnis zwischen Christenthum und Philosophie. Berlin 1842. 309 Von Schellings Berliner Vorlesung über die Philosophie der Offenbarung gibt es kein Original; es existieren verschiedene, zum Teil dubiose Nachschriften; die relativ zuverlässige ist die sog. Paulus-Nachschrift; vgl. dazu Manfred Frank: Einleitung des Herausgebers, in: F.W.J. Schelling: Philosophie der Offenbarung, op. cit., S. 46–52; vgl. auch – F.W.J. Schelling: Urfassung der Philosophie der Offenbarung. Hrsg. Walter E. Ehrhardt. Teilbände 1–2. Hamburg 1992. 310 Vgl. Pierre Leroux: Du cours de philosophie de Schelling; Aperçu de la situation de la philosophie en Allemagne. In: Le revue indépendante, Paris 1842, livraison de Mai, S. 291– 348; C.L. Michelet: Entwickelungsgeschichte der neuesten Deutschen Philosophie, op. cit.

18. Vorlesung (9. Mai 1843)

1213

Es ließe sich jedoch diesen Philosophen, und unter anderen dem Berliner Michelet311, welcher in ähnlicher Art Schelling bekämpft, entgegnen: warum konnte die Hegelsche Methode, wenn sie so von Grund aus und gänzlich wahr ist, bis dahin nicht die allgemeine Überzeugung für sich gewinnen? Lassen wir es zu, daß die Ausländer, die Franzosen, die Slaven gar zu dumm sind, um sie begreifen zu können; was soll man nun aber von Jacobi, Schlegel und namentlich von Schelling selbst sagen? Wie! also Schelling, welcher selbst die Grundlagen dieser Methode gebaut hat, ist jetzt nicht im Stande, dieselbe zu verstehen? Wenn er sie aber begreift und doch verwirft, woher kam ihm dieser Starrsinn, warum will er sie durchaus nicht annehmen? Vielleicht nur aus Böswilligkeit. Nun, so ist ja aber der böse oder gute Wille in der Philosophie kein so gleichgültiges Ding. Bei der Aufweisung dieses Streitpunktes, welcher zwischen den Zuhörern Schellings und den Hegelianern zum Vorschein kommt, werden wir stehen bleiben. Im übrigen ist die Hegelsche Schule schon von selbst in Parteien zerfallen312, die sich die Namen der rechten Seite, der linken Seite und der Mitte, wie in den französischen Kammern geben, und öfters, um nur den Deutschen selbst begreiflich zu machen, was unter ihnen vorgeht, müssen sie zu der politischen Sprache Frankreichs ihre Zuflucht nehmen. Sie sagen z. B., Kant mache die gesetzgebende Versammlung (assemblée constituante) aus; Fichte stelle das Comité des öffentlichen Wohles (comité du salut public) vor. Die einen vergleichen ihn mit dem Comité, die anderen mit Napoleon. Ferner habe Hegel der 311 Carl Ludwig Michelet (Hegel-Schüler, Professor für Philosophie in Berlin) – im Unterschied zu Jules Michelet (1798–1874), Professor für Geschichte am Collége de France, der mit Mickiewicz befreundet war; über Jules Michelet vgl. Wiktor Weintraub: Profecja i profesura. Mickiewicz, Michelet, Quinet. Warszawa 1975; ferner – Dorothea Scholl: Zwischen Historiographie und Dichtung – Jules Michelet. In: Poeta philologus: eine Schwellenfigur im 19. Jahrhundert. Hrsg. Mark-Georg Dehrmann und Alexander Nebrig. Bern-New York 2010, S. 139–160. 312 Nach Hegels Tod (14. November 1831) kam es zu einer Spaltung der Hegelianer in eine „Rechte“ (orthodox-theistische), gemäßigte und „Linke“ (Junghegelianer), pantheistische oder geradezu naturalistische ein, deren Organ die „Hallischen Jahrbücher“ (1838–43) waren. Zur „Rechten“ bzw. zur „Mitte“ (Althegelianer) gehörten Georg Andreas Gabler, Eduard Gans, Karl Friedrich Göschel, Hermann Friedrich Wilhelm Hinrichs, Karl Rosenkranz, Johann Eduard Erdmann, Kuno Fischer, Carl Ludwig Michelet u.a., zur Linken Arnold Ruge, Bruno Bauer, August von Cieszkowski, Max Stirner, David Friedrich Strauß, Ludwig Feuerbach, Friedrich Engels, Karl Marx, Ferdinand Lassalle u.a. Die „Übergänge“ waren fließend, zumal einige Philosophen später eigene philosophische Konzepte entwickelten. Zur Hegelrezeption bei den Slaven (Polen, Russen, Slovaken, Tschechen, Kroaten, Serben, Bulgaren) vgl. – Hegel bei den Slawen. Hrsg. Dmytro Čyževs’kyj. Reichenberg 1934 (2. Auflage: Bad Homburg vor der Höhe 1961); ferner – Der Streit um Hegel bei den Slawen. Hrsg. Jan Garewicz und Irena Michňáková. Praha 1967.

1214

Teil III

deutschen Philosophie die konstitutionnelle Charte gegeben, und er sei ihr legitimer Herrscher gewesen. Die anderen behaupten statt dessen, Schelling sei der Bourbon, welcher die Legitimität wieder herzustellen trachte; einige halten ihn dagegen für Napoleon, der von Elba aus landen und die Konstitution umstoßen will.313 Wir wiederholen es, die Deutschen verstehen sich selbst nicht mehr unter einander, nur, wenn sie sich französisch ausdrücken. Ehe wir an die Geschichte der Realisierung philosophischer Begriffe gehen, was uns auf den slavischen Boden führen wird, machen wir hier die allgemeine Bemerkung, daß der Widerstand gegen den rein deutschen Gedanken immer von Männern der Tat und der Einbildungskraft, die sich noch in Deutschland vorfanden, ausgegangen war. Alle Dichter hatten einen Widerwillen gegen diese Philosophie. Jean Paul z. B. verlachte das Kantsche Formulieren der Kunstmeisterschaft in seinem Werk über die schönen Künste.314 Jacobi war viel gereist, hatte sich eine Zeitlang in Genf aufgehalten; er kannte die Bewegung der Ideen Europas; die Gefahr, welche Deutschland bedrohte, sah und fühlte er vorher, mischte sich sogar in die Politik. Friedrich Schlegel hat lange und bitter der Erniedrigung Deutschlands wegen gelitten; seiner Erhebung wegen wollte er es von neuem dem Katholizismus zuführen, geriet aber andererseits wieder Österreich in die Hände und, nachdem er den falschen Glauben von dessen Minister erkannt hatte, verlor er endlich den Mut und starb betrübt, fast in Verzweiflung. Alle diese Männer hatten das Gefühl der Wirklichkeit, 313 Mickiewicz referiert hier C.L.  Michelet: Entwickelungsgeschichte der neuesten Deutschen Philosophie, op. cit., S. 221, wo Michelet „unsere harm- und blutlose Revolution in der Philosophie mit der Französischen Staatsumwälzung“ vergleicht. 314 Vgl. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik nebst einigen Vorlesungen in Leipzig über die Parteien der Zeit. 2. Auflage. Stuttgart-Tübingen. Bd. 1, 1813, S. 27–28: „§ 4 Nähere Bestimmung der schönen Nachahmung der Natur: In dieser Ansicht liegt zugleich die Bestimmung, was schöne (geistige) Nachahmung der Natur sei. Mit einer trockenen Sacherklärung der Schönheit reicht man nicht weit. Die Kantische: „das sei schön, was allgemein ohne Begriff gefalle“ legt in das „Gefallen“, das sie vom Angenehmsein absondert, schon das hinein, was eben zu erklären war. Der Beisatz „ohne Begriff“ gilt für alle Empfindungen, so wie auf den andern „allgemein“, den noch dazu die Erfahrung oft ausstreicht, ebenfalls alle Empfindungen, ja alle geistige Zustände heimlich Anspruch machen. Kant, welcher eigensinnig genug nur der Zeichnung Schönheit, der Farbe [Fußnote] aber bloß Reiz zugestand, nimmt seine Erläuterungen dazu immer aus den zeichnenden und bildenden Künsten hervor. Was ist denn poetische Schönheit, durch welche selber eine gemalte oder gebildete höher aufglänzen kann? Die angenommene Kluft zwischen Natur-Schönheit und zwischen Kunst-Schönheit gilt in ihrer ganzen Breite nur für die dichterische; aber Schönheiten der bildenden Künste könnten allerdings zuweilen schon von der Natur geschaffen werden, wenn auch nur so selten als die genialen Schöpfer derselben selber. Übrigens gehört einer Poetik darum die Erklärung der Schönheit schwerlich voran, weil diese Göttin in der Dichtkunst ja auch andere Götter neben sich hat, das Erhabene, das Rührende, das Komische etc.“

18. Vorlesung (9. Mai 1843)

1215

der Gewißheit, an welchem die scholastische Philosophie gänzlichen Mangel litt, sie wollten dieser Philosophie irgendein Leben, irgendeine Wirkungskraft einstoßen. Zu verwundern ist es nur, daß kein einziger deutscher Geschichtsschreiber, noch Philosoph den Einfluß der französischen Ideen auf die scholastische Philosophie gewürdigt hat. Und doch ist es eine unbezweifelte Tatsache, daß Louis Claude de Saint-Martin, namentlich aber de Maistre, Schlegel, Jacobi, ja selbst Schelling vorwärts trieben. Schlegel setzte, der erste in Deutschland, Saint-Martins Werke in Umlauf, er selbst schöpfte sehr vieles aus ihnen. Schelling studierte die Schriften Böhmes315, eines deutschen Schuhmachers, welcher, obgleich er nie ein Buch gelesen hatte, doch ein sehr weitgreifendes theosophisches System erschuf, dessen Ergänzung und Entfaltung Schelling bei Saint-Martin fand, so daß man, so viel es nämlich erlaubt ist, über Schellings System zu urteilen, mutmaßen kann, daß es nur eine Mischung der Begriffe Böhmes und Saint-Martins ist. Schleiermacher, einer der religiösen Philosophen, welcher die ganze Philosophie auf das Gefühl basiert, atmet gleichfalls einen ausländischen Einfluß; lange Zeit hindurch war er Mitglied der Böhmischen Brüder und ist dergestalt von einem Strahl slavischen Lebens, ausgehend von Jan Hus, berührt worden.316 Schleiermacher hat nur das eigene, daß er zur Zeit, als andere Systeme aufstellten, die Kirche bauen wollte. Die Unfähigkeit der einzelnen Menschen zum Auffinden der absoluten Wahrheit kannte er. Ihm zufolge offenbart sich Gott im Gefühl. Statt also Religion zu lehren, soll man die religiösen Gefühle in den Menschen wecken. Also jeder Mensch kann Priester sein. Schleiermacher steigerte den Protestantismus bis zu dieser letzten Folgerung. Jeder Mensch muß Priester sein und seine eigne Religion haben, weil jeder einen Teil der Gottheit, welcher sich in seinem eignen Gefühl offenbart, in sich trägt. Gott also ist eine gewisse Kirche, zusammengesetzt aus einer zahllosen Menge 315 Über Schelling und Jacob Böhme, dessen Gedanken der „ewigen Natur“ und „Centrum naturae“ Schelling über Baader (vor dem Zerwürfnis) in München kennen lernte, vgl. Marie-Elise Zovko: Natur und Gott: das wirkungsgeschichtliche Verhältnis Schellings und Baaders. Würzburg 1996; ferner – Wilhelm G. Jacobs: „… diesen Vorzug haben die theosophischen Systeme, daß in ihnen wenigstens eine Natur ist.“ Schelling und die Theosophie. In: Die Realität des Inneren: der Einfluß der deutschen Mystik auf die deutsche Philosophie. Hrsg. Gerhard Stamer. Amsterdam 2001, S. 141–153. 316 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834). Vgl. F. Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter den Verächtern. Synoptische Studienausgabe der Textfassungen 1799, 1806 und 1821. Hrsg. Niklaus Peter, Frank Bestebreurtje und Anna Büsching. Zürich 2012; Joachim Boekels: Schleiermacher als Kirchengeschichtler: mit Edition der Nachschrift Karl Rudolf Hagenbachs von 1821/22. Berlin 1994 (Kapitel: 4.3.4.5. – Geschichte der Böhmischen Brüder).

1216

Teil III

göttlicher Individualitäten. Diese versammelte und von dem geweckten religiösen Gefühl erwärmte Menge schafft die allgemeine Wahrheit, sie erzeugt das Dogma. Seiner Meinung nach gibt es kein Dogma, die menschliche Gesellschaft soll erst dieses Dogma einst ausarbeiten.317 In Schleiermacher, Schlegel und Schelling beginnt die neue Idee der deutschen Philosophie zu tagen, die Idee der Gesellschaft (association)318, und sie wird am Ende die Hegelsche Schule begraben; die Hegelianer haben nämlich keine Formel, welche das Sich-Vergesellschaften der Menschen erklärt, sie fühlen nicht einmal das Bedürfnis einer solchen. Schleiermacher vereint die Gesellschaft um das religiöse Gefühl herum; Schlegel leitet von der katholischen Kirche die Grundgesetze derselben her und beobachtet, wie sie sich in der Geschichte entfaltete; Schelling endlich strengt sich an, zwischen der religiösen und politischen Gesellschaft Frieden zu stiften. Die Gesellschaft ist also heute die große Aufgabe der deutschen Philosophie zur Lösung übergeben. Wie wir früher Kant mit Albertus, dem Herzog von Preußen verglichen haben319, welcher, als er aus einem Großmeister oder Vorgesetzten des Kreuzritter-Ordens ein Herrscher wurde, sogleich mit der Kirche und dem Königtum es verdarb, so können wir jetzt Fichte und alle Philosophen seiner Schule, jenem Markgrafen von Brandenburg an die Seite stellen, welche, nur ihr eignes Ich vor Augen behaltend, sich auf Kosten der Kirche und der benachbarten Reiche zu vergrößern trachteten. Hegel gleicht dem König Friedrich Wilhelm III., welcher nach der Teilung Polens schon ruhig sitzen zu können glaubte, als mit einemmal von Frankreich her ein Ungewitter über ihn losbrach. Schelling und der jetzige preußische König machen nur einen einzigen Menschen aus, einen Menschen, der sich damit abquält, die Grundlage für das 317 Vgl. Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers. 1. Band. 1. Halbband: 1768–1802; 2. Band: Schleiermachers System als Philosophie und Theologie. Hrsg. von Martin Redeker. Berlin 1970. 318 Gesellschaft – hier im Sinne von „społeczność“ (G e m e i n s c h a f t ): „Kreis von Menschen, die gesellig beisammen sind.“ (Duden – Deutsches Universalwörterbuch. Mannheim 2011). C.L.  Michelet, den Mickiewicz hier referiert, spricht in Bezug auf Schleiermacher vom Sozialitäts-Prinzip, das Gemeinschaft impliziert: „In der Ethik faßt Schleiermacher daher die Geselligkeit als die Tendenz, die Schranken der Persönlichkeit zu durchbrechen und der Repräsentant der Gattung zu werden, aber eben mit seiner Eigentümlichkeit. Das ist in der Tat das wahre Sozialitäts-Prinzip, das seine Wurzeln in der Wirklichkeit erst jetzt nur kaum zu schlagen vermag. […] Nur wenn der Einzelne die Menschheit als eine lebendige Gemeinschaft der Einzelnen anschaut und erbaut, ihren Geist und ihr Bewußtsein in sich trägt, und in ihr das abgesonderte Dasein verliert und wiederfindet, nur dann hat er das höhere Leben und den Frieden Gottes in sich. Diese Gemeinschaft, das Selbstbewußtsein der Menscheheit im Einzelnen, ist die Kirche.“ – C.L. Michelet: Entwickelungstendenzen der neuesten Deutschen Philosophie, op. cit., S. 97. 319 Dieser Vergleich wurde nicht vorgenommen.

18. Vorlesung (9. Mai 1843)

1217

Dasein Preußens zu finden. Ohne Zweifel ist der preußische König unter allen diesen Philosophen derjenige, welcher am meisten arbeitet. Wenn die Hegelsche Schule mit kindischer Freude ausruft, sie besitze schon alle religiösen und politischen Geheimnisse und glaubt, es handle sich nur noch darum, wie man dieselben anpasse, kennt der preußische König die ganze Schwierigkeit der Lage seines Reichs; er weiß es wohl, daß in diesem Reich sich ein lithauischer Stamm vorfindet, welcher von seinen Vorfahren längere Zeit hindurch gräßlich bedrückt war; er weiß, daß die hauptsächlichsten preußischen Einrichtungen aus den alten polnischen Institutionen geflossen sind; daß die übrigen das Merkmal des 18. Jahrhunderts an sich tragen, was eine fortwährende Reibung unter ihnen verursacht; er ist sich bewußt, Ländergebiete und Provinzen zu besitzen, in welchen die französischen Ideen und sogar die französischen Gesetze Wurzel gefaßt haben; daß endlich das slavische gegen den Norden hin lastende Element an seinem Königreich rüttelt und es mächtig beunruhigt, er weiß, daß man so viele Keime verschiedener Volksleben mit einer schalen philosophischen Formel nicht zusammenhalten kann. Die Geschichte der deutschen Philosophie im Norden schließt mit einem polnischen Namen; der Berliner Michelet, dessen Werken wir im obigen Vortrag gefolgt sind, endet sie mit der kurzen Auseinandersetzung des Systems von August Cieszkowski.320 Andererseits, im südlichen Deutschland, wo Bronisław Trentowski321 die katholischen Provinzen bewegt, erscheint am Schluß der Geschichte dieser Philosophie ebenfalls ein polnischer Name. Diese beiden Menschen kann man für zwei ihrem Volkstum untreu gewordene Slaven betrachten, für Slaven, die sich in Sklaven des deutschen Gedankens verwandelt haben. Es ist dies vielleicht das erste Beispiel einer solchen freiwilligen Untertanenschaft. Verzweifelt haben sie an der moralischen Kraft des eignen Volkstums, das Vertrauen verloren zu der slavischen Vernunft, aber demungeachtet, daß sie mit aller Gewalt, deutsch zu werden sich bemühen, findet sich in ihnen etwas Lebenskräftiges, das ihnen den Antrieb gibt, ohne daß sie es selbst wissen. 320 August Cieszkowski (1814–1894), polnischer Hegelianer und Hegel-Kritiker. Vgl. Carl Ludwig Michelet: Entwickelungsgeschichte der neuesten Deutsche Philosophie, op. cit., S.  394–398; Werke – August von Cieszkowski: Prolegomena zur Historiosophie (1838). Mit einer Einleitung von Rüdiger Bubner und einem Anhang von Jan Garewicz. Hamburg 1981; A. Cieszkowski: Gott und Palingenese: erster kritischer Teil. Berlin 1842; August Dołęga Cieszkowski: Vater unser [Ojcze nasz]. Übersetzt von Friedrich Griese. Einleitung Stefan Leber (Bd. 1). 3 Bände. Stuttgart-Warszawa 1996; Andrzej Walicki: Dwa mesjanizmy. Mickiewicz i August Cieszkowski. In: A. Walicki: Filozofia polskiego romantyzmu. Kraków 2008, S. 83–171. 321 Vgl. die 21. Vorlesung (Teil III).

1218

Teil III

Trentowski, nachdem er das frühere System Schellings und das Hegelsche für die zwei Seiten einer und derselben Sache genommen hat, glaubt er die ganze Sache schon gefunden zu haben und träumt nun von seiner künftigen Thronbesteigung, d. h. er hofft einst Schellings und Hegels Platz in Deutschland einzunehmen. Cieszkowski läßt sich hin und wieder in seinen kleinen veröffentlichten Schriften mit Worten hören, die für die deutsche Philosophie sehr gefährlich klingen, und man kann mutmaßen, daß das große Ansehen, welches er in Berlin erworben hat, herrührt von dem Schrecken, welchen er den Philosophen einflößt.322 Seiner Meinung nach ist die Philosophie schon so weit vorgerückt, daß sie endlich etwas tun müßte. Aus allen Kräften dringt er auf die Tat, er behauptet, die menschliche Vernunft sei schon hinlänglich ausgebildet, um auf einmal die Wahrheit zu fassen und sie zur Tat zu machen.323 Diese beiden Männer scheinen bestimmt zu sein, in die geheimen Kabinetts der deutschen Philosophie Verwirrung zu bringen. Die Philosophen verachten den Haufen, sie nennen ihn Straßen-Politiker oder Kannegießer, ebenso achten sie die Tagesblätter nicht, welche ihnen Verkuppelungen scheinen; aber diese beiden Polen, welche ihre ganze Politik auf den Fingern herzusagen wissen, erlauben ihnen nicht ruhig zu schlafen. Sie gleichen hierin jenen Polen, welche, nachdem sie den Glauben an die Volkssache verloren haben, ausländische Dienste nehmen; sie folgen der österreichischen oder russischen Fahne, und, wenngleich den größten Eifer zeigend, verbreiten sie doch einen gefährlichen Geist im Heer. Es sind dies Leute, die ungeachtet ihres ganzen Willens nicht Sklaven werden können. Da wir nun bis zu dem Augenblicke gekommen sind, wo die Philosophie die unbedingte Notwendigkeit einsieht, die Gesellschaft philosophisch zu erklären und die Formel der politischen Reiche zu geben, wollen wir ihre Geschichte aufschieben und die folgenden Stunden den Forschungen der slavischen Begriffe über das Eigentum, den Forschungen über die erste Gesellschaft, die 322 Zur Wirkungsgeschichte in Deutschland vgl. – Jan Garewicz: August Cieszkowskis Einschätzung bei den Deutschen in den dreissiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts. In: Der Streit um Hegel bei den Slawen. Hrsg. Jan Garewicz und Irena Michňáková. Praha 1967, S. 79–115; ferner den Sammelband – Hrabia August Cieszkowski w kre̜gu niemieckiej i polskiej tradycji filozoficznej. Red. Marek Kozłowski. Łódź 1999. 323 Die „Philosophie der Tat“ entwickelte Cieszkowski in dem Werk „Prolegomena zur Historiosophie“ (1838). Vgl. Adam Żółtowski: Graf August Cieszkowskis „Philosophie der Tat“. Die Grundzüge seiner Lehre und der Aufbau seines Systems. Posen 1904; Walter Kühne: Graf August Cieszkowski ein Schüler Hegels und des deutschen Geistes. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geisteseinflusses auf die Polen. Leipzig 1938 (Reprint: Nendeln 1968); André Liebich: Between Ideology and Utopia: The Politics and Philosophy of August Cieszkowski. Dordrecht 1979.

18. Vorlesung (9. Mai 1843)

1219

Gesellschaft der Erdeigentümer im Slaventum widmen; später werden wir die politische Gesellschaft betrachten, und alsdann zu den Systemen des Trentowski und Cieszkowski, welche den Systemen von Hegel und Schelling entsprechen, wiederkehrend, zugleich auch das System Ludwig Królikowskis324 auseinandersetzen, welcher sich in seinem Bestreben mit Jacobi und Schleiermacher begegnet. Trentowski, Cieszkowski und im Allgemeinen alle slavischen Philosophen kennen die eigene Literatur nicht, namentlich aber kennen sie das Volksleben nicht. Sie freuen sich schon ungemein, wenn es ihnen glückt, in der deutschen Philosophie einer Formel zu begegnen, welche sie durch ihre Tiefe in Verwunderung setzt. Sie rufen dann ihren Landsleuten zu, etwas ganz Neues und Unschätzbares gefunden zu haben. So z. B. scheint ihnen die Hegelsche Definition des Geistes325 das non plus ultra einer philosophischen Form zu sein. Dieser Geist soll etwas sein, das die Einheit des Universums ausmacht, in der Mitte desselben ruht, ein gewisser Herd desselben ist, nur von sich selbst immer denkt, sich selbst das Ziel des Daseins ist, in sich selbst sich abspiegelt; und weil es der Ausdruck, oder vielmehr der Inhalt, das Mark der Welt ist, so strahlt es aus seinem Inneren und belebt die ganze Schöpfung. Diesen Geist oder diesen Gedanken, von Hegel Geist genannt, hat schon, noch ehe Hegel geboren war, der polnische Dichter Adam Naruszewicz [1733–1796] vollkommen beschrieben. In keinem deutschen Werk finden wir eine genauere Definition des Hegelschen Geist, als in diesen wenigen Zeilen einer Ode des Naruszewicz an Stanisław August: 324 Vgl. die 24. Vorlesung (Teil III). 325 Vgl. G.W.F.  Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830), op. cit., Dritter Teil: Philosophie des Geistes § 377–§ 577. Cieszkowski setzt sich mit Hegel und C.L. Michelet in seinem Werk „Gott und Palingenese“ (1842) auseinander. Vgl. dazu Walter Kühne: Die Polen und die Philosophie Hegels. In: Hegel bei den Slaven. Hrsg. Dmytro Čyževśkyj. Bad Homburg vor der Höhe 1961 (1. Auflage – Reichenberg 1934), S. 62: „Seinen Standpunkt der Philosophie der Tat und des Geistes stellt Cieszkowski als slavische Philosophie der deutschen gegenüber. Dem absoluten Idealismus Hegels ordnet er den absoluten Spiritualismus über. Cieszkowski kommt wiederholt auf die tätige Intuition als Erkenntnis der dritten Stufe, der Synthese, des Absoluten zu sprechen. Sie bringt die eigentlichen Erkenntnisfortschritte zustande, die spekulative Dialektik weist nur in der Sphäre der Gedanken nach, was ihr aufgegangen ist. Indem die tätige Intuition die Synthese von Wahrnehmung – Vorstellung und Begriff ist, trägt sie in sich die Möglichkeit, was ihr aufgegangen ist, auch dem unmittelbaren Bewußtsein nahezubringen, im Vorstellungsleben zu verkörpern. In seinem Sinne ist Gott als die absolute Persönlichkeit nur durch tätige Intuition zu erfassen als das große Ich, in welchem alle Ichs zum Wissen der Identität ihres Wesens kommen, wie er mit Novalis, dessen lebendige Intuition er lobt, sich ausdrückt.“

1220

Teil III By samej dając pochop myśli, tę jedynie Miał za rzecz swego dzieła, za cel i naczynie – (tj. metodę). Wtenczas, ze swej natury wyzuwszy się prawie, W równej duchom nadziemskim postawie; […]326 Gäbe man dem Gedanken allein die Schwingen, nähme man ihn für den einzigen Gegenstand seines Wirkens, für das Ziel und die Methode; Alsdann legte er die irdische Natur ab, er würde, in gleicher Form mit den überirdischen Geistern […].

Nur der Unterschied waltet hier ob, daß Naruszewicz einen solchen Geist für den Beobachter, so zu sagen Historiker hält, nicht aber für den Schöpfer der Welt; ein solcher Geist begreift die Welt, er schafft sie aber nicht. Es ist dies nicht der Geist, sondern bloß der Gedanke. Die deutsche Philosophie wird weder bei den Franzosen, noch bei den Slaven jemals stark Wurzel fassen; leicht ist dies einzusehen. Ehe sich noch Hegel zeigte, gab es schon in Frankreich und in Polen Hegelianer, es fanden sich dort Männer, welche das schon längst in Ausübung brachten, was Hegel und dessen Anhänger in der Theorie erzeugten. Darum waren es auch gerade Franzosen und Polen, welche die ersten den Hegel begriffen, unserer Meinung nach sind sie sogar die einzigen, welche ihn gänzlich durchschaut haben. Als wir vor zwei Jahren327 es aussprachen, daß die Polen und Franzosen das Hegelsche System enthüllten, konnte dieses vielleicht paradox erscheinen, und doch bekräftigt heute diese Wahrheit der deutsche Philosoph Carl Ludwig Michelet in seinem Werk.328 Wer würde es glauben wollen, daß Hegel nach zehn Iahren des Vortrags der Philosophie vom Lehrstuhl zu Berlin seine Zuhörer im Zweifel darüber gelassen hat, ob er das Dasein eines persönlichen Gottes, der unsterblichen Seele 326 Adam Naruszewicz: Do Stanisława Augusta Króla Polskiego W. Książęcia Lit. O pożytku z nauk, nadgrodą w kraju rozkrzewionych; z okazyi odebranego z rąk J.K. Mości medalu. In: A. Naruszewicz: Dzieła. Warszawa 1778, tom I: Liryka, księga II, oda 10, S. 122; dort lautet der von Mickiewicz etwas veränderte Text: „By samym dawszy pochop myślom, te jedynie Miał za rzecz swego dzieła, za cel i naczynie – (tj. metodę). Wtenczas już, wyzuwszy się ze skażonej prawie Natury, w równej duchom nadziemnym postawie;“ […] 327 Vgl. die 31. Vorlesung (Teil II) über Antoni Bukaty, 32. Vorlesung (Teil II) über Philippe Joseph Buchez, Pierre Leroux und Adolphe Lèbre. Vgl. die Beiträge von Pierre Leroux: Du cours de philosophie de Schelling; Aperçu de la situation de la philosophie en Allemagne. In: Le revue indépendante, Paris 1842, livraison de Mai, S. 291–348; Adolphe Lèbre: Crise actuelle de la philosophie allemande. In: Revue des Deuxs Mondes, 1843, T. 1: janvier à mars, S. 4–42. 328 C.L. Michelet: Entwickelungsgeschichte der neuesten Deutschen Philosophie, op. cit.

18. Vorlesung (9. Mai 1843)

1221

und der unsichtbaren Welt zuließ, oder ob er dies verwarf? Doch hat er ja Philosophie vorgetragen und nicht Chemie, Physik oder Naturgeschichte. Hat er aber nichts Gewisses über Gott, die Unsterblichkeit der Seele und die unsichtbare Welt ausgesagt, wobei hielt er sich denn zehn Jahre lang auf? Der Berliner Michelet sagt mehr, er sagt, daß sogar die vertrauten Freunde Hegels, seine vertrauten Schüler, welche später selbst Häupter von philosophischen Schulen wurden, nach langen Privatgesprächen mit ihm, die einen durch die eine Tür ihn mit der Überzeugung verließen, er glaube, die anderen zur anderen Tür hinaustraten mit der größten Gewißheit, daß er gar nicht, weder an einen persönlichen Gott, noch an die Unsterblichkeit der Seele und das, was gewöhnlich Himmel und Hölle genannt wird, glaube.329 Hegel diplomatisierte, wie Michelet behauptet, sich nicht getrauend seinen Gedanken zu entdecken. Dieser Gedanke läßt sich jedoch klar in seinen Werken erblicken; genügend ist es, nur etwas über dieselben nachzudenken, um sich zu überzeugen, daß er an keines der obigen Dogmen glaubte. Was aber höchst merkwürdig erscheinen muß, ist dieses, daß die so grundgelehrten Deutschen, selbst Professoren der Philosophie nicht im Stande waren, dieses Geheimnis, in schwere und verworrene Redensarten gehüllt, zu entziffern, da unterdessen nur französische Zeitungsschreiber und einige polnische Jünglinge, nachdem sie kaum etliche seiner Schriften durchgelesen, es auf der Stelle errieten.

329 „Viel trug zu dieser Meinung bei, daß Hegel die hauptsächlichsten Dogmen, die Persönlichkeit Gottes und die Unsterblichkeit der Seele, öffentlich unerörtert ließ oder immer nur ganz flüchtig berührte; so daß aus mündlichen Unterredungen ein Teil der Schule seine Orthodoxie, ein anderer seine Heterodoxie herausgebracht zu haben glaubte.“ – C.L.  Michelet: Entwickelungsgeschichte der neuesten Deutschen Philosophie., op. cit., S. 225.

19. Vorlesung (16. Mai 1843) Historische und philologische Forschungen (VII) Der Begriff des Eigentums bei den Griechen, Römern und Slaven – Slavische Gebräuche und Sitten – Anmerkungen zum Saint-Simonismus und Fourierismus.

Die öffentliche Gesetzgebung und das Strafgesetz der gegenwärtigen Staaten wird von den verschiedenen religiösen und philosophischen Schulen verschiedentlich beurteilt; aber jener Teil der Gesetzgebung, welcher das Eigentum regelt, wird von beinahe allen Publizisten, allen Philosophen für sehr gelungen, ja fast für vollkommen gehalten. Das Interesse, an das Eigentum gebunden, hat in allen Codices die Oberhand. Schon zu den Zeiten Iustinians330 nahmen die Artikel, welche das Eigentum regelten, zweimal so viel Raum ein, als diejenigen, welche die Rechte der Personen feststellten; der heutige französische Zivil-Codex ist fast ganz ihnen gewidmet. In der ersten Ausgabe desselben nimmt alles, was die Personen, den Zivilstand, die Ehen anbelangt, kaum etliche zehn Seiten ein, während der Rest des Buches über das Eigentum einnimmt und einige hundert Seiten umfaßt, unter dem Titel: Des differentes manières dont on acquiert la propriété (Von den verschiedenen Arten der Eigentumserwerbung). Das letzte Resultat, bis zu welchem die praktische Vernunft in Frankreich gekommen, drückte sich in diesen Worten des Code civile aus: Eigentum ist das Recht, eine Sache auf unbeschränkte Weise zu benutzen und darüber zu verfügen, vorausgesetzt, daß man davon keinen durch die Gesetze oder Verordnungen untersagten Gebrauch mache.331

Diese Formel des französischen Codex entspricht ganz und gar dem philosophischen Theorem der deutschen Schulen. Der Mensch wurde für den absoluten Herrn seines Eigentums anerkannt. Da nach Fichte332 das Eigentum nichts weiter ist, als nur die Verbreitung des Ich, und diese beiden Sachen keine sich entgegengesetzten Dinge sind, 330 Codex Iustinianus; vgl. Hartmut Leppin: Die Gesetzgebung Iustinians – der Kaiser und sein Recht. In: Karl-Joachim Hölkeskamp, Elke Stein-Hölkeskamp (Hrsg.): Erinnerungsorte der Antike. Die römische Welt. München 2006, S. 457–466. 331 Code civile (Livre II, Titre II, Article  544) – im Internet unter: [http://www.legifrance. gouv.fr]: „La propriété est le droit de jouir et disposer des choses de la manière la plus absolue, pourvu qu’on n’en fasse pas un usage prohibé par les lois ou par les règlements.“ 332 „Wir sind unser Eigentum: sage ich und nehme etwas zweifaches in uns an: einen Eigentümer und ein Eigentum. Das reine Ich in uns, die Vernunft, ist Herr unserer Sinnlichkeit,

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_094

19. Vorlesung (16. Mai 1843)

1223

sondern nur die Ausbreitung der einen und der nämlichen Sache, so hat das menschliche Ich die Bestimmung, sich der ganzen Welt zu bemächtigen. Nach Hegel333 erscheint das vernünftig freie Ich, sobald es sich setzt, in der Person, sobald es sich entwickelt, in den Gesetzen, deren Außenseite das Eigentum ist; das Eigentum ist nichts weiter als das realisierte Gesetz. Dem Hegelschen System zufolge kann der Mensch, nachdem er sich selbst in seinem Eigentum erblickt, dasselbe genießen, er kann sich durch dasselbe offenbaren, kann sich stets als dessen Mitte und Herd fühlen, wie Gott im Universum. Diese Anschauungsweise der Sachen entspricht der Art, wie der germanische Stamm, den unternehmenden Geist der Franzosen nicht besitzend, das Eigentum begreift und es zu genießen pflegt. Aber gerade zur Zeit, als die Philosophie die französische Gesetzgebung erklärt und rechtfertigt, im Augenblick, wo nach der Verkleinerung in Teilchen und Befreiung des Eigentums aus den Fesseln des Feudalismus, der Korporationen der Untertanschaften, es allen scheint, daß man schon in dieser Beziehung die vollkommenste Stufe erreicht hat, erheben sich hier und da Stimmen gegen das Eigentum und die dasselbe ordnenden Gesetze. Es entstehen namentlich in Frankreich philosophische Schulen, welche die einen das Eigentum bis auf ihre Grundbasis selbst aufheben, die anderen sie der Art regeln wollen, daß die bisherige Gesetzgebung ganz und gar umgestoßen wäre.334 Man darf nicht glauben, daß alle diese Begriffe bloß aus dem Ingrimm der armen, handarbeitenden Klassen gegen die Klasse der Besitzer, Eigentümer herrühren, oder bloß aus dem Elend, welches neidisch die Reichtümer ansieht, oder daß sie bloß der Deckmantel der politischen Leidenschaften sind, welche aller unserer geistigen und körperlichen Kräfte; sie darf sie als Mittel zu jedem beliebigen Zweck gebrauchen.“ – Johann Gottlieb Fichte: Beiträge zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution [1793], in: J.G.  Fichte: Werke. Erster Ergänzungsband: Staatsphilosophische Schriften. Hrsg. Von  H.  Schulz und R.  Strecker. Leipzig 1919, S. 82. Weiterentwicklungs des Eigentumsbegriffs erfolgt in den „Grundlagen des Naturrechts“ – Eigentum bedeutet bei Fichte nunmehr nicht das Recht an einem Gegenstand, sondern das Recht auf Handlungsmöglichkeit – vgl. Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre [1796]. Hrsg. F.  Medicus. Hamburg 1979; vgl. ferner – Johann Braun: Freiheit, Gleichheit, Eigentum. Grundfragen des Rechts im Lichte der Philosophie J.G. Fichtes. Tübingen 1991. 333 Hegel befaßt sich mit dem Eigentumsbegriff in: G.W.F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830), § 488ff; ausführlicher – G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Frankfurt am Main 1986, § 41–71. 334 Vgl. Pierre-Joseph Proudhon: Theorie des Eigentums. Übersetzt von Lutz Roemheld. Mit einer Einleitung von Gerhard Senft. Kiel 2010; französisch – Qu’est-ce que la propriété? (1840); Luis Jean Joseph Blanc: Organisation der Arbeit. Berlin 1899; französisch – Organisation du travail [1839].

1224

Teil III

ihre Absichten in verführerische Theorien einhüllen wollen: die Quelle des Übels liegt viel tiefer. In Amerika, wo der Boden selbst den Gewerbfleißigen zu sich ruft, wo sich der Mensch überall niederlassen, die ungemessenen Wälder und Täler als sein Eigentum betrachten kann, in diesen noch unbesetzten Gebieten erheben sich schon dieselben Rufe. Der amerikanische Philosoph, indem er die moralischen Bedürfnisse des Menschen vor Augen behält, rät den Mitbürgern, das Eigentum abzuschaffen, demselben zu entsagen. Was hier das Wesentlichste ist, das ist, die Sanktion dieser Rufe in der lebenden Überlieferung zu finden. Diese Überlieferung hat sich noch bei einem Volk der Welt erhalten, bei einem alten Volk, welches, viele Jahrhunderte hindurch der rationellen Richtung Europas widerstehend, seinen uralten Sagen treu geblieben ist, wir reden von den Slaven. Wir erwähnten schon früher, daß, wie einerseits sich eine Menge der römischen Sitten und römischer Zeremonien mir Hilfe der slavischen Überlieferung erklären, sich gegenseitig ebenso in der ältesten Geschichte Roms für gar manche dunkle Stelle der slavischen Geschichte Aufklärung finden läßt. Die Begriffe der Völker des Morgenlandes über das Eigentum werden wir hier nicht behandeln. Der berühmte deutsche Rechtsgelehrte Gans335, Verfasser des als klassisch anerkannten Werkes über das Erbrecht, stützt sich auf diese Grundidee; alle Gesetzgebungen, die Rom vorangegangen sind, haben dies allgemeine Merkmal gehabt, daß der Mensch in denselben noch nicht selbstständig und frei erscheint, sondern in die Natur der Gottheit mit einbegriffen ist, und daß erst Rom, namentlich aber das plebejische Element Roms, dem Menschen die Persönlichkeit gab. Gans betrachtet alle Gesetzgebungen, selbst die später folgten, wie z. B. die Mahomedanische, für minder vollkommen als die Iustinianische. Wahr ist in seiner Theorie, daß die Religion bei den morgenländischen Völkern und im Allgemeinen bei den Völkern des Altertums mit der Gesetzgebung innig verbunden war. Sehen wir nun zu, wie die Griechen das Eigentum begriffen. Zuvörderst wurde jedes Gebiet für das Erbe irgendeines Gottes betrachtet. Die Beweise und Beispiele dessen sinden wir in Homer, Pindar und allen Dichtern des Altertums, auch in Kallimachus, dem alexandrinischen Dichter, einem gelehrten Mann, welcher aber der alten Überlieferung treu geblieben ist und dem Altertum folgte. Er sagt ganz deutlich, der Vater aller Götter und Menschen, 335 Eduard Gans: Das Erbrecht in weltgeschichtlicher Entwicklung. Eine Abhandlung der Universalrechtsgeschichte. Bd. 1: Das römische Erbrecht in seiner Stellung zum vor- und nachrömischen. Berlin 1824; Bd. 2: Das römische Erbrecht in seiner Stellung zum vor- und nachrömischen. Berlin 1825; Bd.  3: Das Erbrecht des Mittelalters. Stuttgart 1829; Bd.  4: Das Erbrecht des Mittelalters. Stuttgart 1835; Neudruck aller vier Bände: Aalen 1963. Über Eduard Gans vgl. 30. Vorlesung (Teil II).

19. Vorlesung (16. Mai 1843)

1225

bestimme bei der Geburt eines jeden Gottes oder einer Göttin zum Eigentum oder zur Ausstattung ihnen eine gewisse Stadt oder Landschaft. So gehörte Athen der Minerva, die anderen Städte den anderen Göttern. Die Menschen, welche auf solchem Gebiete, dem Eigentum eines Gottes, ansäßig waren, bearbeiteten die Erde zu dem Zweck, daß diese Gottheit eine Wohnung und Nahrung haben könnte, d. h. einen Tempel und Opfer, sie selbst betrachteten sich nur für die Verzehrer der Überbleibsel. Die Meinung, als bedürfe Gott der Nahrung, der Opfer, war im Altertum allgemein. Gewiß haben die ersten Lehrer der Geheimnisse und die Weisen einen viel erhabenem Begriff von der Gottheit gehabt, dem Volk aber trugen sie die Sache so vor, und selbst in der Bibel finden wir den Ausdruck: „Und es roch der Herr den lieblichen Duft […]“336; „Das ist ein Feuer zum süßen Geruch dem HERRN.“337 Auf diese Weise dem Volk die Überzeugung einflößen, daß es nichts mehr sei, als der Nutznießer, der Arbeiter auf dem göttlichen Boden, hieß schon an sich, es von der Erde losreißen. Die Griechen verließen in dem sich schnellen Entfalten ihrer Zivilisation diese Vorstellungen bald. Wir sehen jedoch, daß zu den Zeiten Hesiods die Regierung oder wer das Land vergegenwärtigte, in gewissen Tagen des Jahres, und das ziemlich häufig, noch dem ganzen Volk öffentliche Gastmähler gab. Hesiod338 rät seinem Bruder, diese Gastmäler nicht zu versäumen, weil es eine gute Tat ist, sich bei ihnen zu befinden, und dabei, fügt er in seiner kindlichen Einfalt hinzu, kostet es nichts. Die Regierung veranstaltete also dem Volk Gastmähler, sie sättigte es im Namen des Gottes. Die Griechen aber, nachdem sie sich dem Rationalismus zugewandt hatten, welcher ihre Überlieferung bald erstickte, bemächtigten sich des Bodens zuerst im Namen der Republik und dann zum Vorteil des Privatinteresses. Schon zu Perikles Zeiten sah sich das Volk für den höchsten Herrn alles Grund und Bodens an und war durch keine Überlieferung, durch kein Gesetz gebunden. Bald fiel auch Griechenland in Trümmer. Der nämliche Begriff des Eigentums war allen italienischen Völkern gemeinsam. Vor der Gründung Roms finden wir Spuren, daß in Fällen großer Gefahren selbst ganze Getreideernten, ganze Weinlesen den Göttern dargebracht wurden. Keiner durfte etwas davon anrühren. Was mehr ist, schon in den Zeiten der römischen Republik wurden die Nahrung und der Trunk, an welche der

336 Altes Testament – 1. Buch Mose 8: 21. 337 Altes Testament – 3. Buch Mose 1: 9. 338 Hesiod: Werke und Tage. Übersetzt und herausgegeben von Otto Schönberger. Stuttgart 2004.

1226

Teil III

Mensch ein angeborenes Recht zu haben scheint, nicht als Sachen betrachtet, die ihm durchaus zukommen. Wie die öffentlichen Gastmähler göttliche Gastmähler waren, und wie zuweilen die Gottheit ganze Ernten, ganze Weinsammlungen verzehrte, dem Besitzer nichts übrig lassend, ebenso war auch jedes Mahl eine Opferung. Der Mensch, nachdem er seine Götter gesättigt hatte, verzehrte die Überbleibsel. Das Andenken dessen ist in den Libationen (Trankopfer) verblieben, welche bei allen Völkern des Altertums gemacht wurden. Niemand ging zur Tafel bloß um seinen Leib zu sättigen, niemals versammelte man sich zum Mahle des Vergnügens wegen; man setzte sich zu Tisch, in der Absicht, einen religiösen Akt zu vollbringen. Wie das Land Eigentum des die ganze Nation beschützenden Gottes war, ebenso war auch jedes Privatbesitztum, das Haus und was zu ihm gehörte, Eigentum der Familiengötter, d. h. der Geister der Ahnen. Diese Begriffe verwischten sich bei den griechischen und italienischen Völkern, Rom aber bewahrte sie alle auf. Rom war eine Art Judäa unter diesen Völkern, Nachdem es einmal die politische und gesetzgebende Offenbarung erhalten, wie die Juden das Gesetz durch Moses, änderte es keine Silbe daran. Später dehnte es sich über Italien, Griechenland und die ganze Welt aus, und ließ dennoch nie von dem Grundelement seiner Gesetzgebung, welches Eduard Gans339 göttlich nennt, ab. Von der Zeit der Zwölf Tafeln angefangen bis auf Iustinian und selbst bis auf die letzten byzantinischen Kaiser, ist die ganze römische Gesetzgebung nur die Entwicklung des einen und desselben Gedankens, es ist die Vervollkommnung der Vorschriften, die in den zwölf Tafeln enthalten sind. Es ist dies eine wunderbare Erscheinung in den Annalen der Weltgeschichte! Außer der religiösen Gesetzgebung Moses besteht kein einziges Beispiel von ähnlicher Dauer einer Gesetzgebung, Nach der römischen Vorstellung war Rom ein Gott oder eine Göttin, denn letzteres wissen wir nicht mit Gewißheit, so wie selbst der wahre Name dieser Gottheit unbekannt ist, aus Ursachen, die wir später erläutern werden. Dem sei nun wie ihm wolle, so war diese Gottheit der Eigentümer des ganzen römischen Bodens, sie allein nur hatte die Herrschaft, das dominium. Dieser Boden befand sich in den Händen der Gesellschaft, welche der Gottheit diente, welche das Geheimnis besaß, wie man den Schutz dieser Gottheit erflehen und erhalten, wie man den Willen derselben erkennen und erfüllen könne. Diese Einwohner hießen patres oder patricii, Patrizier, und jeder von ihnen hatte ein kleines, gleichmäßiges Grundeigentum. Die Menschen, welche sich als Ansiedler neben ihnen niederließen, erhielten ebenfalls einen Teil des Bodens, 339 Vgl. Eduard Gans: Naturrecht und Universalrechtsgeschichte. Vorlesungen nach G.W.F. Hegel. Herausgegeben und eingeleitet von Johann Braun. Tübingen 2005.

19. Vorlesung (16. Mai 1843)

1227

der von niemandem eingenommen war, ohne aber Pflichten gegen die Gottheit einzugehen. Der Art also wurde das ganze Territorium irgendeines Landes oder einer Stadt – denn überall waren die Einrichtungen den griechischen, italienischen und römischen Vorstellungen gemäß, einander gleich – zuerst als das Eigentum des Gottes oder der Göttin betrachtet und teilte sich dann in Eigentum von dreierlei Gattung. Der eine Teil, für den besonderen Nutzen der Gottheit aufbewahrt, gehörte keinem der einzelnen Einwohner an, die beiden anderen machten die Privatbesitztümer der Patrizier und Plebejer aus. Der Boden, welcher ausschließlich für den Dienst der Gottheit geweiht war, blieb unter der gemeinschaftlichen Verwaltung des ganzen Patriziats, er machte das Kommuneigentum aus. Die Patrizier befaßten sich durchaus nicht allein mit seiner Bebauung, sie konnten ihn an Plebejer verpachten; nur die Einkünfte von denselben gingen in die Hände des Patriziats, welches verpflichtet war, hiervon die Gottheit zu unterhalten und dem Volk öffentliche Gastmähler zu geben. Was das Privateigentum anbelangt, so hatten sowohl Patrizier, wie auch Plebejer förmlich gleiche Teile des Bodens. Ein schlagender Beweis hiervon sind die Trümmer Herculaneums, wo es scheint, als hätte es keine Armen gegeben, so gleichmäßig sind alle Häuser. Es finden sich unter ihnen größere und kleinere, jedoch immer im festen Verhältnis um zweimal, dreimal, viermal. Die engeren Wohnungen dienten für die Sklaven, aber im übrigen hatten alle, die der Reichen oder Armen, ein Maß, welches man schon unter Titus nicht mehr zu beobachten anfing, worauf jedoch, noch während Scipio lebte, streng gehalten wurde. Man kann sich hier an den Vers des Horaz erinnern, in dem er sagt, daß bei den alten Römern das Privateigentum klein gewesen ist, das gemeinschaftliche groß: „Privatus illis census erat brevis, commune magnum.“340 Die Patrizier, dieses Gemeindeland verwaltend, bereicherten sich mit der Zeit, weil die Ausgaben für den Dienst der Gottheit, einmal in den Gesetzen festgestellt, immer dieselben blieben, die Einkünfte aber je nach Maßgabe der Vervollkommnung des Ackerbaues sich vergrößerten. Dieser Boden wurde folglich für sie eine Quelle des Gewinns, für die Plebejer aber ein Gegenstand des Neides, woraus die Wünsche nach den agrarischen Gesetzen entstanden sind. Es handelte sich dort nicht im mindesten um eine neue Teilung der Privateigentümer, denn diese waren allgemein gleich, und häufig besaß der reiche Patrizier nicht mehr Land als jeder Plebejer, nur begehrte man die Teilung des Gemeindebodens, man wollte, es möchte den Plebejern freistehen, sich auf ihm niederzulassen, und aus den Ländereien, welche in den Händen des Patriziats waren, Vorteil ziehen zu dürfen. Das Recht, ein Teilchen des 340 Horaz: Carmina (II, 15).

1228

Teil III

Gemeindebodens zu halten, hieß Ius Quiritium oder das Eroberungsrecht.341 Die Regierung verlieh es, und man konnte sich desselben nicht anders entäußern als mit Erlaubnis der Regierung oder des Prätors, d. h. vor dem Prätor. Der Prätor verrichtete hierin nicht die Funktion des Notars, des Zeugen; er gab die Sanktion. Hier haben wir die wahre Bedeutung der Ausdrücke res manicipi und res non manicipi. Die res manicipi war die von der Republik erworbene Sache, welche man ohne das Erfüllen der gesetzlich vorgeschriebenen Formen nicht veräußern konnte; res non manicipi war jedes andere Eigentum, jedes bewegliche und unbewegliche Vermögen, welches jeglicher verkaufen konnte, ohne zu der Erfüllung irgend einer religiösen Zeremonie verpflichtet zu sein. In ihren Eroberungskriegen verfuhren die Römer auf eine sehr logische Weise. Wie oft sie es beschlossen hatten, sich irgendeines Landes zu bemächtigen (wir sprechen hier, bloß die Sache des Eigentums vor Augen behaltend), trachteten sie zuerst die Gottheit dieses Landes in ihre Hände zu bekommen. Es hieß dieses den Genius des fremden Volkes besiegen. Es wurde geglaubt, daß die Patrizier allein nur das Geheimnis, wie dieses zu vollführen sei, besaßen; das war die Ursache, warum das Volk ihnen immer gehorsam sein mußte, und dieses veranlaßte, daß sie nie den wahren Namen der Gottheit Roms verrieten, auf daß kein Fremder, noch selbst das römische Volk ihn anflehen und für sich gewinnen könne. War nach der Meinung der Patrizier die fremde Gottheit schon gewonnen, alsdann griff man zu den Waffen, man erklärte den Krieg. Im Fall des Widerstandes von Seiten der Gottheit griff man nach Einnahme der Stadt mit Sturm zuerst nach deren Bildsäule und brachte dieselbe nach Rom hinüber. Auf diese Art versammelten sich fast alle Götter im Pantheon. Sobald aber nur der Gott irgendeines Landes in Rom eingesetzt war, ging sogleich sein Eigentum, d. h. der Boden, welcher zu seinem Unterhalt diente, unter die Verwaltung der römischen Republik über. Die Römer entrissen nie ihren Feinden die Privatgüter, jedem Eigentümer ließen sie seine Privatländereien, nur den Gemeindeboden nahmen sie für die Sache der Gottheit Roms. Die Priester und Patricier zogen von ihnen die Einkünfte für die Republik. Dieses erklärt uns jene dunklen Ausdrücke, über welche man viele Kommentare geschrieben, die nicht hinlänglich zu sein scheinen. Gajus342 sagt, daß es außerhalb Rom kein dominium gebe, niemand der Herr seines Bodens sei, daß es nur Pächter gebe – denn in der Tat war Rom nur allein, der Gott Roms, wahrer Eigentümer aller Ländereien – daß es außerhalb Rom keine sacra gebe, d. h. Länder den Göttern geweiht, sondern nur religiones, d. h. Länder, die den Geistern der Vorfahren geweiht waren. 341 Vgl. Ulrich Manthe: Geschichte des römischen Rechts. 2. Aufl. München 2003. 342 Vgl. Die Institutionen des Gaius. Hrsg. Ulrich Manthe. Darmstadt 2004.

19. Vorlesung (16. Mai 1843)

1229

Man kann folgern, daß es in den ersten Jahrhunderten der Republik nicht frei stand, auch das Familieneigentum zu verkaufen. Wie konnte dieses jemand verkaufen, wenn er verpflichtet war, von demselben die Geister der Ahnen zu unterhalten, und der Senat mit solcher Strenge über die ewige Dauer der Opferungen wachte, wie bei uns die Bischöfe darauf sehen, daß die Fundationsmessen gelesen werden. Da die Familie von diesen Opfern sich nicht freimachen konnte, so war sie auch nicht im Stande den Boden zu verkaufen. Dieser Boden ging in der Erbschaftsfolge zuweilen auf einen anderen über, der Erbe mußte aber zugleich auch die an denselben haftenden Lasten übernehmen. Die Pflicht, die guten und bösen Geister zu unterhalten (denn es gab die einen sowohl als die anderen), war so beschwerlich, daß der Verwandte öfters lieber seinem Erbfolgerecht entsagen, als dasselbe annehmen wollte, und das plebejische Eigentum hatte viel großeren Wert. Es bildete sich sogar bei den Römern das Sprichwort aus: Dieses ist ein glückliches Erbe, es sind keine Opfer dabei.343 Aus dem, was wir gesagt, folgt, daß das römische Patriziat zuvörderst den gemeinsamen Boden für den Unterhalt des Gottes Rom verwaltete; zweitens, daß jeder Patrizier einen kleinen Privatboden für den Dienst der Ahnen besaß. Dieses machte den Stand eines Patriziers sehr beschwerlich, es umschrieb sein Leben mit einer Menge Formalitäten, welche er einhalten mußte. Die Plebejer waren in dieser Beziehung viel freier, sie begehrten jedoch der Rechte des Patriziats teilhaftig zu werden. Man muß hier noch diese wichtige Bemerkung hinzufügen, daß bei allen Erwerbungen, bei allen Ankäufen darauf am meisten gehalten wurde, die Gewißheit zu haben, daß das Eigentum gut erworben sei und daß es Glück bringen werde. Hierauf beruht die römische Gesetzgebung, und auch heute noch wird in den slavischen Ländern der Bauer kein Stück Vieh an einem für unglücklich gehaltenen Tag kaufen und keinen Handel schließen, ohne gewisse zeremonielle Worte auszusprechen, ohne Zeugen, ohne Handschlag, wie dieses bei ihnen heißt. Ebenso glaubten die Römer allgemein, daß die Patrizier selbst nur das Geheimnis besäßen, diese Akte zu erfüllen. Der Plebejer konnte ohne sie weder etwas kaufen noch verkaufen; die Patrizier aber wollten nie die Quelle ihrer Wissenschaft entdecken, sie wollten nie zeigen, worin das Geheimnis beruhe, nie das Mittel lehren, durch welches man dasselbe tun könne; sie boten bloß die Formel dar, nicht aber ihren Geist. Ähnlich waren sie hierin den Rabbinern des Alten Testaments. Da nun die einen alles mit oberflächlichen Formen abmachten, die anderen aber, ohne sich den schwierigen Bedingungen des Patrizierlebens unterziehen zu wollen, also auf 343 Sine sacris hereditas.

1230

Teil III

unbillige Art in die Geheimnisse zugelassen zu sein verlangten; so entstand hieraus jener hartnäckige Kampf, welcher mit der Erschöpfung beider Seiten, mit ihrer gemeinsamen Sklaverei, dem Despotismus, enden mußte. Als Beweis dessen, was wir gesagt, kann man die Anekdote anführen, welche Festus344 erzählt. Zwei Patrizierfamilien, die Potizier und Pinarier, besaßen das Geheimnis der Vieheinsegnung. Von allerwärts lief man ihnen zu und entrichtete ihnen den Zehnten. Als nun Rom ausgedehnte Länder erobert hatte, begannen diese Familien, die Eigentümerinnen des zehnten Teils der Haustiere im ganzen Reich, für die öffentliche Sicherheit gefährlich zu werden; dessenungeachtet fiel es niemandem ein, dieselben ihres Eigentums, der öffentlichen Wohlfahrt wegen, wie man heutzutage spricht, zu berauben. Erst Cato trat mit ihnen im Namen der Republik in Unterhandlungen und kaufte das Geheimnis für eine enorme Summe; sobald aber das Mittel einmal entdeckt war, wendete sich niemand mehr an sie wegen des Segens; alles verlachte sie, und so wurde die Republik nur durch Hinterlist die Gebieterin dieses Eigentums. Auf diese Art hatte also das Eigentum die religiöse Zeremonie zur Basis, die Zeremonie war aber nach der römischen Definition nichts weiter als der seiner Wirksamkeit wegen bekannte Gebrauch, welchen man öfters erprobt hatte, und der denjenigen jedesmal sich hilfreich erwies, die ihn beobachteten. So viel hatten wir über das Eigentum bei den Römern zu sagen; hinzufügen könnten wir etwa, daß sie diesen Namen, Eigentum, nicht kannten. Bei den Galliern gehörte der Boden den Klanen, nie den einzelnen Personen. Der Vater, der ältere Bruder, das Haupt und der Herrscher des Geschlechts hielt dies Eigentum in seiner Hand und teilte den Verwandten die Einkünfte desselben nach Wohlgefallen zu; es gab bei ihnen jedoch kein Gemeindeland, wie bei den Römern. Was die Einrichtungen in dieser Hinsicht bei den Germanen anbelangt, das wollen wir später, wenn wir von dem Adelseigentum im Slaventum reden werden, sagen; jetzt werden wir nur den Zustand der Dinge bei den slavischen Völkern betrachten. Bekannt ist uns schon, daß in der ganzen Geschichte der Slaven es keine Spur der Offenbarung, keine Erwähnung der lebenden Gottheit, irgendeines Organs der Gottheit gibt. Das Eigentum konnte daher keiner in der slavischen Mythologie bekannten Gottheit gehören. Die Erde, der Boden, war nach der slavischen Vorstellung das Eigentum desjenigen Menschenhaufens, derjenigen 344 Vgl. Sextus Pompeius Festus: De verborum significatu quae supersunt cum Pauli epitome. Hrsg. Emil Thewrewk. Budapest 1889, S.  300; Paolo Pieroni: Marcus Verrius Flaccus de Significatu verborum in den Auszügen von Sextus Pompeius Festus und Paulus Diaconus. Einleitung und Teilkommentar (154,19–186,29 Lindsay). Frankfurt am Main 2004.

19. Vorlesung (16. Mai 1843)

1231

Gesellschaft vieler Familien, welche wir die Gemeinde (gromada), nennen. Eine neue Gemeinde konnte nicht anders entstehen, als nur nach dem Willen Gottes. In den alten Denkmälern, in den Liedern des Volkes und in dem schätzbaren Wörterbuch des Vuk Stefanović345 finden sich viele der Einzelheiten zerstreut, aus welchen man die Ganzheit der slavischen Überlieferung in dieser Hinsicht zusammenstellen kann. Gibt es in einer Niederlassung mehrere Familien, welche mehr Personen als sieben (siemja)346 zählen, trifft eine ergiebigere Ernte ein, welche die gewöhnliche um zweimal oder viermal übersteigt (denn dieses kann man nicht mit Bestimmtheit wissen, die Greise verraten das Geheimnis nicht); so erkennt der Rat der Greise an, daß eine neue Ansiedlung zu gründen sei. Nach welcher Seite hin, wie weit und wo diese Ansiedlung stattfinden soll, alles dieses wird mit Hilfe der dazu dienenden Zeremonien bestimmt, nichts hängt von der menschlichen Willkür ab. Der Hauptbegriff der Slaven in Betreff dessen ist dies, daß es dem Menschen nicht erlaubt, ja daß es Sünde ist, ein Eigentum am Boden zu haben. Aus diesem Begriff entfaltet sich ihre ganze Gesetzgebung. Das Bebauen des Bodens betrachten sie für sich als besondere Gnade, als besondere und nur zeitliche Vergünstigung. Darum beraten sie auch und forschen vor der Besetzung des Bodens erst nach, ob es sich mit dem Willen Gottes vertrage; sie verrichten verschiedene Zeremonien, bringen Opfer, damit ihnen diese Sünde keine Strafen zuziehe. Jeder Niederlassung geht bei ihnen der Exorzismus voran. Nach dem Begründen der Niederlassung wird der Boden derselben in zwei Teile geteilt; von dem einen bekommt jeder Wirt sein Teilchen, der andere gehört der Gemeinde. Die bäuerlichen Äcker können weder verkauft noch vertauscht werden und haben immer ein gewisses, festgesetztes Maß, welches kleiner oder größer ist, je nach der Menge des bebauungsfähigen Bodens. In den südlichen Gegenden Polens besitzt der Bauer zweimal so viel Land, als in den nördlichen Gebieten und in Litauen, aber das einmal angenommene Verhältnis ändert sich nie. Ein hinzugefügtes Stückchen Land würde schon dem Bauer Unglück bringen. Jenen Gott Terminus, welchen die Römer an den Grenzen ihrer Besitztümer aufstellten, trägt das slavische Volk in seiner Brust. Die bäuerlichen Aecker sind weder durch Zäune noch Gräben abgeteilt, nur ein schmaler Saum, [poln.] miedza, begrenzt sie unter einander. An diesen darf man nicht rühren; wehe demjenigen, der ihn durchpflügen würde; erlaubt ist jedoch, und selbst verdienstlich, das Gras auf demselben durch das Vieh

345 Vuk Stefanović Karadžić: Srpski rječnik. Wien 1818. 346 Unklar: semja (russ. Familie) oder siedem (pol. Sieben)?

1232

Teil III

abweiden zu lassen. Bei solchem Zustand der Dinge hört man fast nicht einmal von einem Beispiel der Grenzstreite unter den Landleuten. Ihre Hütten sind ebenfalls alle nach einem Maßverhältnis gebaut. Ist eine Hütte im Dorf zu bauen, so bestimmt der für den Priester gehaltene Greis, welcher alle Geheimnisse der Überlieferung besitzt, den Tag und die Zeit zum Fällen des Baumes im Wald. Der Baum muß immer dieselbe Höhe haben und das Gebäude dieselbe Größe. Man kann zwei Gebäude besitzen, darf sich aber nicht mit dem einen ausdehnen. Eine schätzbare Überlieferung ist dies, sie setzt der menschlichen Begierde eine Grenze. Eine solche Wohnung reicht für eine Familie, zusammengesetzt aus sechs oder sieben Personen, aus; sie ist aber besser oder schlechter gebaut, je nach dem Vermögen des Wirts und der Leichtigkeit, sich das Material zu verschaffen. Brennt eine Hütte ab, so wird schon niemand an dieser Stelle eine zweite bauen. Den zu derselben gehörenden Acker wird irgend jemand zum Bebauen nehmen, der Sitz aber bleibt eine [poln.] pustka, eine Leere, und es gibt solcher Pustkas, die seit undenklichen Zeiten nicht bewohnt sind. Verläßt der vom Herrn gedrückte Landmann die Hütte, so wird keiner der Nachbarn die Wirtschaft nach ihm übernehmen wollen. Ein Gebrauch hoher Moralität, welcher jeden Gedanken der Konfiskation entfernt und dem Menschen verwehrt, aus fremden Elend Vorteil zu ziehen. Das Gemeindeland, das Land der gromada, wird durch die gemeinsame Arbeit der ganzen Niederlassung und zu ihrem allgemeinen Nutzen bebaut. Die Pflichten der Landleute sind in dieser Beziehung nach der urtümlichen Einrichtung der slavischen Dörfer vielfach gewesen. Sie mußten eine gewisse Zahl Tage im Feld arbeiten, die Ernte einfahren und noch verschiedene Schenkungen zum Unterhalt der Sicherheitswache, d. h. des Militärs zur Verteidigung der Gemeinde geben. Man trug daher zahlreiche und nicht geringe Lasten, zog aber aus ihnen einen gemeinschaftlichen Vorteil. Erst während der Gestaltung der Reiche im Slaventum, nach der Ankunft der Normannen in der Rus’, der Tschechen und Lechen in Tschechien und Polen nahm der Adel die Stelle der Wachen in den Gemeinden ein und trat in der Folge in den Genuß aller Rechte, welche die Gemeinden besaßen. Anfänglich reichten ihnen die slavischen Ackersleute alles mit Lust dar, denn die kriegerischen Pflichten des Adels in jener Zeit waren sehr schwierig, und öfters wollte der Bauer oder Stadtbewohner nicht das Adeltum annehmen, um nicht zum Kriegführen verpflichtet zu sein; weil man sah, daß keiner aus dem Ritterstand auf dem Bett starb; nicht jeder aber wünschte sich eine solche Auszeichnung. Später, als diese Besitzer der Gemeindeäcker den Kriegsdienst von sich abwälzten, alle Rechte der Gemeinden aber beibehielten, erblickte man in ihnen unerträgliche Herren. Es ist eine irrige Ansicht, daß die adeligen Eigentümer den Landleuten die Herrschaftstage und die Abgaben aufbürdeten; im Gegenteil verringerte man

19. Vorlesung (16. Mai 1843)

1233

überall diese Lasten, sie wurden jedoch nur um so drückender, weil sie, anstatt zu dem allgemeinen Vorteil der Gemeinden zu gereichen, bloß den Herrn bereicherten, welcher mit den Landleuten nichts Gemeinsames hatte und die Frucht ihrer harten Arbeit in schlechten Possen und Völlerei verschwendete. Es gibt daher jetzt im Slaventum ein zwiefaches Eigentum des Bodens: das bäuerliche, welches seinem Wesen nach sich in nichts geändert hat, und das herrschaftliche, über welches wir insbesondere, das öffentliche Recht betrachtend, sprechen werden. Beschließen wollen wir unsern Gegenstand mit der Bemerkung, daß heute, während sich die furchtbar drohende Frage über das Eigentum erhebt, es ein großes Glück für die Slaven ist, eine so natürliche und einfache Einrichtung desselben zu besitzen. Der ungeheuer weite Raum von der Oder bis zu den Grenzen Sibiriens bietet nichts anderes dar, als nur ein Schachbrett kleiner Gemeinden, mit Eigentum überall von derselben Natur, mit einem Volk, das überall denselben Begriff von ihm hat. Im Westen, wo das Eigentum so eng mit dem Dasein des Menschen verbunden ist, wo der Eigentümer es öfters bedroht, ja sogar gänzlich vernichtet sieht, durch ein Ereignis, welches in der Kaufmannsgilde in Philadelphia oder Washington stattgefunden, bietet die Lösung dieser Frage Schwierigkeiten ohne Ende; im Slaventum gibt es nichts Ähnliches. Die neuern Schulen, welche sich vornahmen, das Eigentum umzuformen, sind auf keinen einzigen Gedanken geraten, welcher sich anwenden ließe, und überall sind sie im Streit mit der Geschichte. Alle erkennen sie den Menschen für den absoluten Herrn des Eigentums an. Die Saint-Simonisten347 wollten, wie bekannt, das Eigentum Teilen und einem Jeglichen das seinen Fähigkeiten entsprechende Teilchen geben; dies hieße, den gegenwärtigen Zustand nur noch viel schlimmer machen, es würde darauf hinauskommen, einer kleinen Zahl von Spekulanten das Eigentum in die Hände zu liefern. Die Fourieristen348 haben noch bis jetzt nicht angefangen, ihre theoretischen Auffassungen zu realisieren, und betrachtet man die Bedingungen, welche sie zu dieser Realisation fordern, so kann man hoffen, daß sie dieselbe nie beginnen werden. Es möchte wohl zuvörderst nötig sein, zu erwägen, ob auch der Mensch wirklich der Herr der Natur ist. Die Saint-Simonisten hatten einiges Vorgefühl der Wahrheit, als sie sagten, daß der Mensch einen Bund mit der Natur 347 Vgl. Hegelianismus und Saint-Simonismus. Hrsg. Hans-Christoph Schmidt am Busch. Paderborn 2007. 348 Charles Fourier: Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen. Hrsg. von Theodor W. Adorno. Eingeleitet von Elisabeth Lenk. Frankfurt am Main-Wien 1966; Ch. Fourier: Über das weltweite soziale Chaos. Ausgewählte Schriften zur Philosophie und Gesellschaftstheorie. Hrsg. von Hans-Christoph Schmidt am Busch. Berlin 2012.

1234

Teil III

eingehen müsse, dieselbe aber nicht bloß zu seinem Vorteil ausbeuten dürfe. Denn nähme man den obigen Grundsatz mit allen seinen Folgerungen an, wie ließen sich dann wohl einige Beschränkungen des französischen Codex das Eigentum betreffend, rechtfertigen? Mit welchem Recht könnte man z. B. jemandem verbieten, sein Vermögen in Narrenspossen zu verschwenden, oder sein Haus abzubrennen, die ganze Ernte auf seinem Feld zu vernichten, wenn es ihm so gefiele? Ohne Zweifel wäre er dem Recht nach Herr genug, das zu tun; würde ihm jedoch das Gewissen nichts dagegen zu sagen haben? Die Begriffe der Völker des Altertums waren in dieser Beziehung viel moralischer; ihre religiösen Vorschriften dehnten den Schutz nicht nur über den Sklaven, sondern auch über das Tier und den Baum aus. Das Gesetz Moses, das menschlichste von allen Gesetzen, welche das Altertum regierten, befiehlt Sorge zu tragen für die Tiere, für die Pflanzen und bestimmt sogar für die Erde Ausruhezeiten. In dieser Vorschrift Moses gibt es eine viel erhabenere Philosophie, als in allen Formeln der deutschen Philosophie. Allgemein fangen heute die Menschen an zu fühlen, daß zwischen dem Menschen und der sogenannten Natur ein innigeres Band obwaltet, als man bisher glaubte. Der öfters von uns erwähnte amerikanische Philosoph Emerson stellt sich auch diese Fragen: was ist das Tier? was ist der Baum?349 Bei den Griechen galt es für eine gute Tat, einen kranken Baum zu heilen; es war ein Verbrechen, die Quelle zu verunreinigen. Bekannt ist jenes Epigramm der griechischen Anthologie350, welches sagt, daß eine Quelle versiegt war, nachdem sich ein Räuber die Hände darin gewaschen hatte. Bei den Slaven, obgleich einen großen Teil ihrer Zeremonien das Geheimnis deckt, sieht man ähnliche Meinungen.351 Der slavische Bauer betrachtet den Baum für ein lebendes Wesen und hat seine gewissen Regeln, wie mit demselben zu verfahren sei. In den waldreichen Gegenden wird er nie einen kranken Baum fällen oder das schon faulend darnieder Liegende zur Feuerung nehmen; dieses erscheint in den Augen der neueren Spekulanten sonderbar und eine im Volk eingewurzelte Sorglosigkeit. Erinnern wir uns jedoch an jenen allgemeinen Gebrauch im Altertum, welcher verbot, ein krankes Tier den Göttern zu opfern, und verlangte, daß es ganz und gesund sei; der Feuerherd ist aber auch eine gewisse Opferstätte. Die Römer, mit dem Feinde kämpfend, 349 Vgl. dazu Marta Skwara: Mickiewicz i Emerson, op. cit., S. 114, die hier „Reminiszenzen“ aus den Essays „The Over-Soul“ und „Nature“ vermutet. 350 Anthologia Graeca. Griechisch-deutsch. Hrsg. Hermann Beckby. 4 Bände.: Bd. 1 (Buch I– VI), Bd.  2 (Buch VII–VIII), Bd.  3 (Buch IX–XI), Bd.  4 (Buch XII–XIV). 2. Auflage München 1965; vgl. Buch IX, 257 (Epigramm von Apollonides). 351 Vgl. Wilhelm Lettenbauer: Der Baumkult bei den Slaven: vergleichende volkskundliche, kultur- und religionsgeschichtliche Untersuchung. Neuried 1981.

19. Vorlesung (16. Mai 1843)

1235

sagten nie, sie schlügen sich für das Eigentum, sondern pro aris et focis352, für ihre Altäre und ihre Herde. Wir wissen aus der poetischen Überlieferung, daß das Dasein der Bäume mit dem Dasein von Geistern verbunden ist, was uns die griechischen Dryaden und Hamadryaden353 ins Gedächtnis zurückführt. Das Tier ist auch mit dem slavischen Bauer vergesellschaftet, es ist sein Gehilfe, sein Freund. Ähnliche Szenen, wie das Weinen der Landleute über dem gefallenen Ochsen, beschrieben von Vergil354, wiederholen sich fast täglich bei uns. Diese Zuneigung gegen die Tiere ist schon bei den zivilisierten Völkern verschwunden; in England bemüht man sich fruchtlos, es wieder zu beleben und durch Regierungsakte die Tiere vor dem Mißbrauch zu schützen. Die Despotie des Menschen beginnt gewöhnlich damit, sich dem Nächsten fühlen zu lassen; denn in seinen täglichen Berührungen mit dem Nächsten ist es einmal die Begierde, das anderemal der Hochmut, welche ihn stets aufreizen, über ihn die Oberhand zu erringen. Die Sklaverei ist ein sehr altes Ding aus Erden; aber das Sich-Zuerkennen der absoluten Gewalt über das Tier, den Baum, den Boden, über die ganze Natur, die Vorstellung, daß der Mensch von diesem allen die Mitte, der Gott, der absolute Herr sei: dies ist erst ein Gedanke der neueren Zeiten. In ihm hat sich der philosophische Übermut bis auf den Grund entlarvt und hat, wie wir es ausgesprochen, das Eigentum der Gefahr zugeführt; denn eine solche Despotie muß durchaus eine Reaktion gegen sich hervorrufen.

352 Lateinisches Sprichwort: pro aris et focis (Für Altar und Herd, Hof). 353 Dryaden – Baumgeister, Nymphen der Eichbäume; Hamadryaden – Baumnyphen, „Seelen“ der Bäume; vgl. Nymphen in: Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Hrsg. Wilhelm Heinrich Roscher. Band 3,1, Leipzig 1902, Sp. 500–567. 354 P. Vergilius Maro: Georgica, Bd. 1: Einleitung, Praefatio, Text und Übersetzung. Hrsg. Manfred Erren. Heidelberg 1985, liber III, 515–519: […] „ecce autem duro fumans sub uomere taurus / concidit et mixtum spumis uomit ore cruorem / extremosque ciet gemitus. it tristis arator / maerentem abiungens fraterna morte iuuencum, / atque opere in medio defixa reliquit aratra.“ (Schau, der unter dem Zwange der Schar aufdampfende Pflugstier / Taumelt dahin und speit mit Schaume gemengetes Blut aus, / Weil sein letztes Geächz er verhaucht. Der bekümmerte Bauer / Geht, abspannend den Stier, der den Tod des Genossen betrauert, / Und in der Mitte des Werks verließ er die haftende Pflugschar).

20. Vorlesung (23. Mai 1843) Historische und philologische Forschungen (VIII) Eigentum und Erbeigentumsrecht bei den Germanen, Galliern und Slaven – Starosteien in Polen – Eigentumsfragen des polnischen Adels – Czartoryski – Zigeuner – Adam Müller und das Kapital.

Wir erhielten einen Brief355 ohne Unterschrift mit Vorwürfen, als hätten wir die französische Gesetzgebung, das Eigentum betreffend, in voriger Stunde beleidigt. Der Verfasser des Briefes stellt uns verschiedene Gesetzesbeschlüsse vor Augen, welche in gewissen Fällen dem Eigentümer nicht gestatten, sein Eigentum zu mißbrauchen; unter anderem weist er die königliche Feststellung (Ordonnanz) auf, welche geradezu verwehrt, das Getreide im Feld zu vernichten; er führt dann eine Menge anderer Artikel und Vorschriften an. Hierauf antworten wir erstens, daß alle diese Feststellungen, Gesetzesbeschlüsse, Artikel und Vorschriften die Überbleibsel der früheren Gesetze sind; zweitens, daß wir hier nicht besondere Gesetzesbeschlüsse, sondern den Geist der ganzen Gesetzgebung vor Augen hatten. Wir sprachen nämlich über das allgemeine Streben der europäischen Gesetzgebung zum Absolutismus, welches der französische Codex in den Worten ausspricht: „Das Eigentum ist das Recht, die Sachen zu genießen, wie es gefällt.“356 Gegen diese Definition erhoben wir uns, historische Tatsachen und überlieferte Gewohnheiten, welche noch bei den slavischen Völkern fortdauern, anführend. Kehren wir zu den besonderen Einrichtungen, das bäuerliche und adelige Eigentum357 im Slaventum betreffend, zurück. Aus dem, was wir aufgehellt haben, ist leicht einzusehen, daß man bei den Slaven weder Erbe noch Vererbung kannte. Der Bauer erbte bloß das Vieh und die Wirtschaftswerkzeuge. So war es seit vielen Jahrhunderten und so ist es dem Wesen, der Sache nach 355 Angaben nicht ermittelt. 356 Im Code civile (Livre II, Titre II, Article 544): „La propriété est le droit de jouir et disposer des choses de la manière la plus absolue, pourvu qu’on n’en fasse pas un usage prohibé par les lois ou par les règlements.“ (Eigentum ist das Recht, eine Sache auf unbeschränkte Weise zu benutzen und darüber zu verfügen, vorausgesetzt, daß man davon keinen durch die Gesetze oder Verordnungen untersagten Gebrauch mache). [http://www.legifrance. gouv.fr]. Vgl. 19. Vorlesung (Teil III). 357 Vgl. dazu – Joseph Hube: Geschichtliche Darstellung der Erbfolgerechte der Slaven. Zum Druck befördert und mit einem Nachtrag vermehrt von Romuald Hube. Ins Deutsche übertragen von Jan Konstanty Żupański. Posen 1836; polnisch – Józef Hube: Wywód praw spadkowych słowiańskich. Warszawa 1832. Mickiewicz stützt sich auf dieses Werk auch in der 6. Vorlesung (Teil I); 20. Vorlesung (Teil II).

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_095

20. Vorlesung (23. Mai 1843)

1237

noch bis jetzt unter den Landleuten. In diesem sehr einfachen Gesetz findet sich jedoch ein Punkt, der schwer zu erklären ist, nämlich der, daß nach dem Tode des Vaters nicht der älteste, sondern der jüngste Sohn für den Wirt der Hütte gilt. Die älteren Brüder verlassen die Hütte und siedeln sich auf dem Gemeindeboden an, der jüngste übernimmt die Wohnung mit dem zu derselben gehörenden Acker. Um zu erfahren, woher dieses besondere Gesetz rührt, muß man die Überlieferung des slavischen Volkes kennen. So wie, jenen uralten Meinungen zufolge, es sich nicht geziemte, Land zu besitzen, dieses sich anzueignen, ebenso wurde die Ehe für Sünde gehalten; es war dies eine nur unter gewissen Bedingungen erlaubte Handlung, welcher ein Exorzismus vorangehen mußte. Aus diese Weise wurde die erste Frucht der Ehe, gleichsam als mit Fluch beladen, betrachtet, und die slavische Gesetzgebung, statt den älteren Söhnen den Vorrang zu geben, stieß sie im Gegenteil zurück und nahm die jüngsten in Schutz. Diese Gewohnheit scheint mit den ältesten Überlieferungen des Morgenlandes im Einklange zu sein. Bekannt ist, wie nach ihnen das erste Ehepaar und der Erstgeborene dieses Gespanns die ersten Verbrecher waren. Spuren einer solchen Überlieferung bemerken wir nirgends bei den Völkern des Abendlandes, wenngleich auch einige gallische Familien, namentlich der Stamm Rohan358, eine ähnliche Ordnung in der Erbfolge hatten. Wir müssen hier hinzufügen, daß bei den Slaven der erste Wurf vieler Tiergattungen gewöhnlich vernichtet wird. Unbekannt ist uns, ob dieses in anderen Ländern stattfindet. Die gallische Erbfolgeordnung berührend, will Montesquieu359 die Ursache dieses Umstandes darin sehen, daß, da die erwachsene Jugend eines jeden Klans sich immer neben ihren Führern im Kriege stellen mußte, es daher natürlicherweise folgte, den Jüngsten zu Hause zu lassen, damit er die Wirtschaft besorge. Gewiß kommt Montesquieu die Ehre zu, daß er die Gesetzgebungslehre den Händen der Routine-Menschen entrissen, daß er sich bemüht hat, die Gesetze und Feststellungen zu erklären, dieselben aus der Geschichte und den Sitten eines jeden Volkes ableitend; er reicht aber nicht über die alltäglichen Rücksichten hinaus; er sucht nach den Ursachen bloß in den physischen Bedürfnissen, in den Ortsverhältnissen, in der Lebensart und selten nur achtet er auf die religiösen Beweggründe, während es gewiß ist, daß die 358 Quelle unbekannt; zur Rohan-Familiengeschichte vgl. Alain Boulaire: Les Rohan – „Roi ne puis, duc ne daigne, Rohan suis!“. Paris 2001. 359 Charles-Louis de Secondat, Baron de la Brède et de Montesquieu: Vom Geist der Gesetze. Auswahl, Übersetzung und Einleitung von Kurt Weigand. Stuttgart 1993; Original: De L’esprit des Loix (1748), vgl. Panagiōtēs Kondylēs: Montesquieu und der Geist der Gesetze. Berlin 1996.

1238

Teil III

am schwierigsten zu lösenden Aufgaben der Völker, welche an ihren Boden gebunden zu sein scheinen, von den großen religiösen Aufgaben herrühren. Diese der Erstgeburt feindliche Überlieferung, die sich schon im übrigen Slaventum verwischt, erhält sich noch bei den Lausitzern, den Serben und den Donauslaven. In ihrer Sprache sogar, wie Vuk Stefanović Karadžić bezeugt, heißt der Erstgeborene, der erste Sohn der Sünde: prvi po grijehu.360 Gehen wir zu dem adeligen Eigentum über. Die Adelskaste, welche die germanischen und skandinavischen Völker beherrschte, leitete ihren Ursprung, ähnlich wie die in vielen Ländern des Morgenlandes herrschende, unter dem Namen der Asen bekannte Kaste, geradezu von den Göttern ab. Diese Halbgötter betrachteten sich für bestimmt, die Menschen von niedrigerer Herkunft zu regieren, nicht aber, das Land zu bebauen; nie dachten sie an Landeigentum. Nachdem sie sich auf den Trümmern des römischen Reiches festgesetzt hatten, ließen sie das Eigentum des Bodens den unterjochten Völkern, nahmen bloß von ihnen Schenkungen (Tribute) zu ihrem Unterhalt und zu der Bestreitung der Kriegskosten. Auch behielten sie sich das Jagdrecht vor. Im Allgemeinen waren dies viel gelindere und menschlichere Herren als die römischen Präfekten und präsides, deren Raubgier gegen Ende des Kaiserreichs sprüchwortlich wurde. Die von dem Adel in Besitz genommenen Gebiete machten die Feuda aus. Die Feudalhäupter waren nicht die Eigentümer ihrer Ländereien; sie konnten dieselben ohne die Erlaubnis des höchsten Hauptes, welches das Reich vorstellte, weder verkaufen, noch in andere Hände geben. Nach dem 360 „Mit diesem Gebrauch scheint jener nahe verwandt zu seyn, wonach der leibliche Sohn (po grijehu Sin) der Sohn nach der Sünde genannt wird; im 21sten Liede des 2ten Bandes der serbischen Volkslieder wird auch den Vater (Roditelj, Erzeuger) das Wort po grijehu (nach der Sünde) beigelegt. Wahrscheinlich stammt dieser Gebrauch von der bekannten Mönchsmeinung her, daß auch eheliche Vermischung eine Sünde sey.“ – [Vuk Stefanović Karadžić]: Montenegro und die Montenegriner. Ein Beitrag zur Kenntnis der europäischen Türkei und des serbischen Volkes. Stuttgart-Tübingen 1837, S.  96 (der Beitrag erschien anonym); das 21. Lied ist „Kosovska djevojka“ (Das Mädchen von Kosovo), dort heiß es: […] „Koga tražiš po razboju mlada? / Ili brata, ili bratučeda? / Al’ po greku stara roditelja?“ (Wen Mädchen suchst du nach der Schlacht / einen Bruder oder einen Sohn des Bruders? / Oder suchst du den greisen Erzeuger durch Sünde?). In der Fußnote heißt es: „Po greku (po grijehu) roditelj znači pravi otac. Ovdje se pokazuje znak narodnoga mišljenja, da je grijeh i ženiti se. Ja sam slušao od oca jednoga velikog gospodara gde govori za svoga sina : ‚On je moj po grijehu sin, ali ga meni sad valja slušati.‘ (Erzeuger durch Sünde bedeutet richtiger Vater. Hier gelangt das volkstümliche Denken zum Ausdruck, demgemäß auch heiraten eine Sünde sei. Ich hörte von einem staatlichen Herren über seinen Sohn sagen: ‚Er ist mein Sohn durch die Sünde, aber nun muß ich auf ihn hören.‘) – vgl. Vuk S. Karadžić: Srpske narodne pjesme. Bd. II. Hrsg. Radmila Pešić. Beograd 1988, dort Nr. 51 (Kosovska djevojka). Vgl. auch die 17. Vorlesung (Teil I); ferner – Jevto M. Milović: Talvj erste Übertragung für Goethe und ihre Briefe an Kopitar. Leipzig 1941, S. XVIII–XIX.

20. Vorlesung (23. Mai 1843)

1239

Erlöschen einer Familie verlieh man deren Länder einer anderen, mit denselben Bedingungen in Betreff des Landesdienstes. Mit der Zeit veränderte sich jedoch das Wesen der Feudalbesitzungen ansehnlich, sei es durch den Einfluß der römischen Gesetzgebung, sei es, daß es im Interesse der Könige war, das Feudalwesen aufzuheben. In Frankreich gab es vor der Revolution noch viele Feudalgüter und Privilegien; aber der Städter und Landmann, längst zum Kriegsdienst, zur Landesverteidigung herangezogen, fragte murrend: „Mit welchem Rechte haben die Häupter der Ritterschaft die ungeheuren, von allen Abgaben freien Ländereien noch inne, während das auch zum Kriegsdienst verpflichtete Volk allein nur für abgabepflichtig betrachtet wird und den herrschaftlichen Diensten unterworfen ist?“ Ein solcher Zustand der Dinge mußte sich durchaus ändern; das entartete Eigentum bereitete seinen Eigentümern selbst den Untergang. Nach der Revolution haben die großen Eigentümer statt des erwarteten Verlustes im Gegenteil noch durch die Veränderung gewonnen; aus Feudalbesitzern sind sie Eigentümer geworden und erblicken sich von allen Fesseln frei, welche ihr Besitztum beschränkten. Im Slaventum gingen die Sachen ganz anders zu.361 Alle Gemeinde- oder Gromada-Äcker waren, wie wir sahen, Allgemeineigentum; sie wurden in der Folge Eigentum des Reiches. Während der Entstehung Polens nahm diese Ländereien der Adel ein, die milites, die Leute ritterlichen Standes, verpflichtet zur Verteidigung nicht der einzelnen Ansiedlungen, nicht der Gemeinden, sondern des ganzen Reiches. Es war dies ein großer Vorteil; auf einmal stand eine Kriegsmacht da, fähig, die ganze Masse der einzelnen Eigentümer zu schützen. Bis zu dem Ende des 10. Jahrhunderts und etwas länger noch wurden alle Gemeindeäcker der Ritterschaft dem Adel nur pachtweise überlassen. Der Besitzer konnte sie weder verkaufen, noch jemandem schenken oder teilen. Die Könige verliehen jedoch zuweilen ausnahmsweise Privilegien, und auf diese Art entzogen sich immer mehr Nationalgüter dem allgemeinen Landesrecht 361 Über die slavische Rechtsgeschichte (Eigentum und Erbe) vgl. Wacław Aleksander Maciejowski: Pamiętniki o dziejach, piśmiennictwie i prawodawstwie Słowian. 2 Bde., Peterzburg-Lipsk 1839; W.A.  Maciejowski: Slawische Rechtsgeschichte. In vier Teilen. Aus dem Polnischen übersetzt von Franz Joseph Buss und Mikołaj Nawrocki. StuttgartLeipzig 1839 (polnisch: W.A.  Maciejowski: Historia prawodawstw słowiańskich. T.  1–4, Warszawa-Lipsk 1832–1835); Valtazar Bogišić: Pravni običaji u Slovena. Zagreb 1867; auch in V. Bogišić: Izabrana djela. Beograd-Podgorica 1999; Stanisław Ciszewski: Żeńska twarz. Kraków 1927; Polen – Joachim Lelewel: Początkowe prawodawstwo polskie cywilne i kryminalne do czasów Jagiellońskich. Warszawa 1828; Urkundensammlung zur Geschichte des polnischen Rechts: Jus Polonicum, codicibus veteribus manuscripts et editionibus quibusque collatis. Editit Joannis Vincentius Bandtkie. Varsaviae 1831.

1240

Teil III

und verwandelten sich in Privateigentum. Das erste Beispiel, welches wir von der Teilung eines solchen Bodens haben, findet sich in einem Diplom362 aus dem 11. Jahrhundert. Der Eigentümer (Erbe) konnte keine Teilung ohne einen Familierat unternehmen, und die Sitte, den Rat der Agnaten zu befragen, erhielt sich in Polen und Livland bis in das 18. Jahrhundert. Das einzige Teilchen der Gemeindeländer, welches in seinem Wesen unverändert geblieben ist, sind die Güter, genannt Starosteien.363 Diese Art Güter unterscheidet Polen von den übrigen slavischen Ländern. Die Starosteien sind große, lebenslängliche Besitzungen. Die Republik gab sie gewöhnlich angesehenen Männern zur Verwaltung und zum Nutzbrauch, als Entschädigung für dem Landesdienst gemachte Auslagen und als Mittel, dem Lande ferner zu dienen. Diese Güter konnten weder geteilt werden, noch, mit Ausnahme seltener Fälle, durch Erbfolge auf die Nachkommen übergehen. Die Starosteien nahmen fast den vierten Teil Landes vom alten Polen ein; später änderte man die Natur auch dieses Eigentums. Im  16. Jahrhundert nannte man sie das Brot der um das Vaterland Wohlverdienten (panis bene merentium), d. h. man machte aus ihnen schon eine Belohnung, während sie früher nur eine Entschädigung und Beihilfe waren. In den Starosteien können wir noch das alte Wesen aller Gemeindeländer oder der jetzt sogenannten adeligen erblicken. Immer waren sie das Eigentum der Republik, des Volkes; die Regierung verlieh sie bloß als Mittel, dem Land zu dienen. Wir werden dieses noch, über das öffentliche Recht redend, mit neuen Beweisen bekräftigen. Leicht ist es einzusehen, wie alle Versuche, das Eigentum nach ausländischen Gesetzen einzurichten, dem slavischen Volke zum Schaden gereichen mußten. Bekannt ist die Geschichte dieser Versuche. Der französische Codex civil, ins Großherzogtum Warschau364 eingeführt, erklärte die Landleute für 362 „In diesem Diplom [1088] haben die drei Brüder Lubomirski das Andenken der unter sich vollzogenen Vermögensteilung verewigt.“ – Joseph Hube: Geschichtliche Darstellung der Erbfolgerechte der Slaven. Posen 1836, S. 61; dort auch der lateinische Text des Diploms (S. 61–62); die Authentizität des Dokuments ist sehr umstritten. 363 Starostei (Starostwo) – seit dem 14 Jahrhundert in Polen eine territoriale Verwaltungseinheit (etwa Landkreis-Ebene), an deren Spitze der vom König direkt ernannte Starosta (Staroste) stand. Vgl. Franz Joseph Jekel: Pohlens Staats-Veränderungen und letzte Verfassung. Teile 1–6. Wien 1803; Teil 2 – § 22: Der Adel. Entstehung desselben, Woywoden, Kastellane, Starosten (S. 3–16). 364 Konstytucja Księstwa Warszawskiego (Konstitution des Großherzogtums Warschau vom 22. Juli 1807) – Art.  4. Znosi się niewolę. Wszyscy obywatele są równi przed obliczem prawa. Stan osób zostaje pod opieką trybunałów (Die Leibeigenschaft ist abgeschafft; alle Bürger sind gleich vor dem Gesetz; der Stand der Personen ist unter dem Schutze der Gerichtshöfe). Text in – Konstytucje Polskie w rozwoju dziejowym 1791–1982. Red.

20. Vorlesung (23. Mai 1843)

1241

frei, d. h. er gab ihnen die Freiheit, von dem einen Herren zum anderen überzugehen, wenn der eine hart und beschwerlich war, sich einen gnädigen zu suchen; aber dieser Herr, dieser Edelmann wurde als der Eigentümer nicht nur jenes Gemeindelandes, welches, dem Wesen der polnischen Gesetze gemäß, nicht sein ewiges Eigentum war, sondern sogar für den Eigentümer der bäuerlichen Äcker, die ihm ganz und gar nicht gehörten, anerkannt. Doch pries man diese Gesetzgebung als einen ungewöhnlichen Fortschritt. Ohne Zweifel hat der französische Codex civil Polen großen Vorteil gebracht, indem er die rechtlichen Verhältnisse klarer darstellte und vereinfachte; auch vereint sich seine Einführung mit dem Einflusse eines neuen Elementes, welches die nationalen Kräfte geweckt und entfaltet hat; aber in Hinsicht des Eigentums hat dieser Codex viel Böses zu Tage gefördert, und dieses Böse kann sich noch verschlimmern. Es fanden sich unter den Eigentümern solche, die schon jetzt mit ruhigem Gewissen glauben, sie seien von der Sorge frei, über den physischen und moralischen Zustand der Landleute zu wachen. Es gibt einige, die, der Berechnung des Vorteils folgend, fremde Ansiedler, die gewöhnlich wirtschaftlicher und arbeitsamer als der polnische Bauer sind, einführen und gar nicht daran denken, daß sie auf diese Weise den slavischen Stamm ausrotten, daß der fremde Ansiedler nie die Liebe zur nationalen Sache haben und seinem Herrn nicht folgen wird, ihr das Leben zu opfern. Einst erwähnten wir, von den slavischen Gemeinden redend, welche Lehre uns das Beispiel der englischen und schottischen Klane in dieser Hinsicht gibt.365 Die Häupter dieser Klane, die älteren Brüder ihrer Landsleute, nach dem gallischen Recht die Führer ihrer Personen und Güter, verwandelten sich nach der Einführung der englischen Gesetzgebung zuerst in Feudalherren, dann in Erbeigentümer, und dieses hielt man für Fortschritt, für Schritte, die der Freiheit entgegenführten, weil das arme Mitglied des Klans auf diese Weise die persönliche Freiheit errang. Was folgte jedoch hieraus? Diese älteren Brüder, als sie Herzöge, Fürsten, Parlamentsmitglieder wurden, vergaßen bald das moralische Band, welches sie mit der Bevölkerung des gemeinsamen Stammes vereinte; sie betrachteten dieselben nur als die Masse ihrer Zinsträger, und später, als der nicht so sparsame und fleißige gallische Stamm ihnen weniger Einkünfte brachte, begannen sie Ausländer einzuführen, das Land den Fremden zu verkaufen oder dasselbe in Schafweiden umzuwandeln, es lieber sehend, wie dasselbe feinwollige Böcke als die brüderliche Bevölkerung nährt. Dies gab M.  Adamczyk, S.  Pastuszka. Warszawa 1985; Constitution des Herzogthums Warschau vom 22. Jul. 1807, in: Die Constitutionen der europäischen Staaten seit den letzten 25 Jahren. Hrsg. Karl Heinrich Pölitz. Band 2. Leipzig 1817. 365 Verweis nicht feststellbar.

1242

Teil III

dem gallischen Geschlecht den letzten Stoß. Ebenso käme es auch in Polen, würden die Eigentümer die Vorstellungen gänzlich annehmen, welche durch den französischen Codex civil eingeführt sind. Im Großherzogtum Posen366 hat sich wiederum etwas anderes zugetragen. Die preußische Regierung, indem sie dem Adel das Eigentum der Gemeindeländer ließ, teilte die bäuerlichen Äcker und gab einem jeden Bauer ein Teilchen für immer. Der Landmann aber, in einer Einrichtung, die seiner Natur zuwider ist, abgeschieden von der Gemeinde, findet sich außer Stande, den Forderungen der Regierung zu genügen. Unfähig, die Groschen zu sparen, belustigt er sich im Gegenteil bei jeder Gelegenheit gern, hat nichts, um die Abgabe auf den Termin zu zahlen, und besitzt auch schon keinen Vormund mehr, welcher ihn vertreten oder beschützen möchte. Auf diese Weise bleibt er ohne Rettung, wenn der unerbittliche Beamte des Fiskus eintrifft, ihm Werkzeuge, Haus, Acker wegnimmt und alles einem Deutschen oder Juden, welcher darauf spekuliert, verkauft. Die Heuchelei der preußischen Regierung erleichtert durch alle möglichen Mittel den Ausländern solche Ankäufe und erschwert sie den Insassen. Was noch mehr, es ist ausdrücklich dem des Eigentums verlustig gegangenen Bauer verboten, einen Grundbesitz beim Edelmann für Arbeitstage zu nehmen, weil man vorhersah, daß die Natur der Sache die alte Ordnung schon selbst bald wieder herstellen würde. Dieses Verfahren hatte zur Folge, daß sich jetzt eine im Slaventum nie gekannte Klasse der Proletarier in den Tagelöhnern bildet. Die Herren bauen kleine Hütten für diese sich herumtreibende Bevölkerung und füllen sie mit den sogenannten Häuslern (zagrodnik, chałupnik)367, welche vom täglichen Erwerb leben. Es gibt allerdings Ausnahmen; man kann hier und da einen Bauer finden, welcher

366 Großherzogtum Posen – Nach dem Wiener Kongress 1815 geschaffene preußische Provinz Posen, bis 1846 „Großherzogtum Posen“ (Wielkie Księstwo Poznańskie), geht auf das im Zuge der Zweiten Teilung Polens 1793 errichtete Departement Südpreußen zurück, das dem preußischen Generaldirektorium unterstand. 1920 wurde die Provinz mit Ausnahme weniger westlicher Gebietsteile an die Republik Polen abgetreten. Vgl. Christian Meyer: Geschichte des Landes Posen. Posen 1881 (Reprint: Neustadt an der Aisch 2000). 367 Häusler (chałupnik), auch Kossäthen (Köter, Köther, Kötter) genannt, besaßen eine Kate (einen Kotten) und eine achtel bis bis zu einer halben Hufe Land, mußten aber als Tagelöhner zusätzlich arbeiten, um auszukommen; Büdner (zagrodnik) besaßen nur Haus und Garten. Zur sozialen ländlichen Hierarchie in Preußen vgl. – August Freiherr von Baxthausen: Die ländliche Verfassung in den einzelnen Provinzen der preußischen Monarchie. Erster Band. Königsberg 1839, S. 337ff.; ferner – Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bände. Leipzig 1854–1961, Bd. 11 (Stichwort: köter). Vgl. auch – Samuel Bogumił Linde: Słownik języka polskiego. 16 Bde., Lwów 1854–1860 (Stichwort: chałupnik und zagrodnik).

20. Vorlesung (23. Mai 1843)

1243

reicher und aufgeklärter geworden ist, aber die Spur der slavischen Gemeinde verschwindet immer mehr, und es mehrt sich das Proletarierwesen. Die Österreicher haben in ihren polnischen Provinzen die Gemeinden fast in demselben Zustande erhalten, in welchem sie dieselben vorgefunden; nur setzten sie deren Fortentwickelung Schranken, sie erstickten alles Leben in ihnen. Von allen slavischen, unter fremder Herrschaft sich befindenden Ländern sind diejenigen am besten gediehen, die den Türken anheimgefallen sind.368 Unter allen Besiegern des Slaventums zeigten sich die Türken als die menschlichsten, und die Slaven schulden ihnen eine wahre Erkenntlichkeit. In ihrem Reich sind bis auf den heutigen Tag die Gemeinden Eigentümer des Bodens; alle Verhältnisse des Menschen zu dem Boden haben ihre Einfachheit, ihre Heiligkeit bewahrt, und man kann erwarten, daß in der allgemeinen Reorganisation, welcher der slavische Stamm unwiderruflich entgegenschreitet, diese Völker am wenigsten dulden werden. Die Hauptaufgabe für den slavischen Stamm in Betreff des Eigentums ist also: die Gemeinden wieder herzustellen, wo sie untergegangen, sie weiter zu entwickeln, wo sie noch bestehen. Ungeachtet des Einflusses der fremden Doktrinen und Vorstellungen hat der polnische Adel die Überlieferung des wahren Titels ihrer Landeigentümer bewahrt; immer betrachtete er dieselben als Eigentum des Vaterlandes. Dieses erklärt uns jene wunderbare Leichtigkeit, mit welcher seit Jahrhunderten bis auf die letzten Zeiten die reichsten polnischen Herren ihre Güter und Paläste verließen. Während der Regierung Königs August von Sachsen wurde, als man die Konföderation zu Tarnogród gegen ihn schloß, einer der großen Herren aufgefordert, ihr Marschall zu werden. Schon hatte er testamentartig seine Güter verschrieben und lebte still und eingezogen auf einem Gut, das er für sich behalten. Was tut er nun in dem Augenblick, wo er zu einer öffentlichen und sehr gefährlichen Sache berufen wird? Das Erste ist, er zerreißt sein Testament, er nimmt von neuem sein ganzes Vermögen in die Hand, um es der Gefahr auszusetzen. Das ist eine historische Tatsache. Sie entsprang aus dem tiefen Gefühle, daß im Augenblicke, wo es galt, die Republik anders einzurichten, als sie bis dahin war, es dem Bürger derselben nicht geziemte, über sein Vermögen, so wie es ihm gefallen, zu verfügen. Der Marschall der Konföderation von 368 Vgl. Valtazar Bogišić: Pravni običaji u Slovena. Zagreb 1867; auch in V. Bogišić: Izabrana djela. Beograd-Podgorica 1999; Ami Boué: La Turquie d’Europe: ou, Observations sur la géographie, la géologie, l’histoire naturelle, la statistique, les moeurs, les coutumes, l’archéologie, l’agriculture, l’industrie, le commerce, les gouvernements divers, le clergé, l’histoire et l’état politique de cet empire. 4 Bände. Paris 1840; deutsche Übersetzung – A. Bué: Die europäische Türkei. 2 Bde., Wien 1889.

1244

Teil III

Tarnogród369 bewies durch diese Tat, daß man die Pflicht kannte, einer großen Sache ein großes Opfer zu bringen. Wir könnten viele andere Beispiele ähnlicher Aufopferung für die öffentliche Sache anführen. Der kaukasische Adel hat ähnliche Vorstellungen über das Eigentum. Der reiche, Geld besitzende Mensch ist bei ihnen in Verachtung. So war es auch bei den Polen; die Beispiele hiervon hatten wir sogar in den Herrschern. Der große Dichter Kochanowski warf den Herren Luxus vor, welcher bloß auf dem zahlreichen Dienstgefolge beruhte, und, jene Zeiten erwähnend, wo der Edelmann nichts als sein Pferd und seine Rüstung besitzen durfte, endet er seinen Vers mit dem Gebet: […] Bodajby zawsze tak uboga Polska została, a pohańcom sroga!370

Bleibe doch, Polen, immer so arm Und den Heiden furchtbar!

Die Sitte gebietet dem kaukasischen Edelmann, alles herzugeben, um das ihn jemand bittet. Der Kaufmann und der gemeine Mann sind dazu nicht verpflichtet, aber der Edelmann darf nichts abschlagen. In Folge dieser Verpflichtung sah man lesginische371 und tschetschenische Fürsten von den Ausländern so weit beraubt, daß sie von Almosen leben mußten. Überbleibsel dieser Gewohnheit finden sich noch heute bei den Polen. Lobt jemand ein Pferd, ein Werkzeug oder irgendeine andere Sache sehr, so hält sich der Edelmann oder Eigentümer dieser Sache für verpflichtet, ihm dieselbe zu übersenden. Während in anderen Ländern die Lobeserhebungen in die Reihe der Komplimente gehören, schärfen die Eltern den Kindern ein, sich derselben sehr zu enthalten, denn sie gelten für eine Art Beanspruchung irgendeines Geschenks. Das Geld wurde so sehr für eine des Edelmannes unwürdige Sache betrachtet, daß selbst noch gegen Ende der polnischen Republik ein Edelmann von altem Schlag, durchdrungen von allen Vorurteilen und noch alle Eigenschaften des alten Adels besitzend, der reichste Herr der Christenheit, der berühmte Fürst Radziwiłł372, welcher immer mit einem zerrissenen Kuntusch beklei369 Es war Stanisław Ledóchowski (1666–1725), der die Konföderation von Tarnogród gegen den König anführte. Vgl. den Sammelband – Konfederacja tarnogrodzka i jej tradycje. Hrsg. Ryszard Szczygieł. Tarnogród 1995; Mieczysław Ledóchowski: Aby pozostał nasz ślad: dzieje rodu Ledóchowskich. Wrocław 2002. 370 Die Stelle lautet bei Jan Kochanowski: „Bodaj tak oboga / Dziś Polska była i poganom sroga!“ – Jan Kochanowski: Do Stanisława Wapowskiego (Fraszki III, 24). 371 Lesgier (auch Lesginer) – Volk im Kaukaus (zwischen Dagestan und Aserbaidschan). 372 Karol Stanisław Radziwiłł (1734–1790). Sein Name erscheint stets in der Form: Karol Stanisław Radziwiłł ‚Panie Kochanku‘ (Karol Stanisław ‚Mein lieber Herr‘ Radziwiłł). Vgl. J. Michalski: Radziwiłł Karol Stanisław zw. Panie Kochanku (1734–1790). In: Polski Słownik Biograficzny. T. 30. Wrocław 1987, S. 248–262.

20. Vorlesung (23. Mai 1843)

1245

det war und die Mütze mit dem ersten besten Edelmann, dem er begegnete, austauschte, nie mehr als einen Dukaten bei sich trug. Verausgabte er ihn, so holte er sich einen zweiten bei seinem Schatzmeister; denn es wäre, wie er sagte, Schande für das Haus Radziwiłł, trüge er die Taschen mit Gold gefüllt. Gezwungen, das Land zu verlassen und sich lange im Ausland herumzutreiben, nahm er auch nicht mehr als einen Dukaten mit; aber dieses Goldstück wurde mit Fleiß gegossen und soll, wie die Angabe sagt, die Größe eines Wagenrades gehabt haben. Nachdem er es auf der Börse niedergelegt hatte, stellte er auf selbiges bis zu der entsprechenden Summe des Wertes Wechsel aus. Es war dies auch eine Art, die überlieferten adeligen Begriffe vom Eigentum zu formulieren. Der polnische Adel erhebt sich jedoch zu diesen Gefühlen nur in den seltenen Augenblicken der allgemeinen Begeisterung, wenn eine große kriegerische Erschütterung oder vaterländisches Unternehmen denselben aus den Gewohnheiten des Alltagslebens, aus den ausländischen Vorstellungen und Doktrinen hinausreißt. Wir haben diese Einzelheiten angeführt, weil sie die für die Slaven so wichtigen Aufgaben angehen und, wie wir meinen, auch jeden Fremden interessieren sollten. Auf dem polnischen Boden wohnen viele verschiedene Geschlechter und Völker, denen die gegenwärtigen Begriffe vom Eigentum schwerlich aufzudringen sind. Wir sprachen schon von den Juden.373 Der den Messias stets erwartende Jude kann sich in der Tat an kein Land binden, Grundbesetzer werden, bis er entweder die Erfüllung seiner Hoffnung erblickt oder dem Judentum entsagt. Alle Begriffe und Theorien der Philosophen, welche die Juden reformieren wollen, zerschellen an diesem uralten Gedanken. Neben dem Volk Israel besteht noch ein anderes wunderbares Volk, dessen Ursprung und Ziel niemand weiß, ein Volk, das zahlreich in den südlichen Gegenden Frankreichs, in Spanien und in der Türkei herumirrt und welches in Polen Cygany (Zigeuner) genannt wird. Es findet sich keine Spur vor, wann dieselben die slavischen Länder betreten haben, Polen jedoch sehen sie für ihr Hauptquartier an und, was wohl nur Wenigen bekannt ist, sie hatten sogar daselbst ihren König. Dieser Zigeunerkönig, dessen Zepter zu gleicher Zeit mit dem Zepter Polens zerfiel, residierte in der Stadt Mir und erhielt die Investitur von den Fürsten Radziwiłł, den Eigentümern dieser Stadt.374 Seine rechtliche Gewalt erstreckte sich bloß auf die Zigeuner, welche in den Gütern der Radziwiłł-Familie verweilten, 373 Verweis nicht feststellbar. 374 Mir (heute Weißrußland); seit 1568 im Besitz der Familie Radziwiłł. Nach der dritten Teilung Polens kam die Stadt Mir 1795 als Teil des Russischen Reichs unter die Herrschaft des

1246

Teil III

geachtet wurde er aber auch von den anderen. Kein Monarch in seinem Reich hatte gehorsamere und ergebenere Untertanen, er richtete und strafte ohne Appellation, und von allen Seiten trug man ihm Geschenke und Tribut zusammen. Die Zigeuner unterscheiden sich von allen in Europa bekannten Geschlechtern; ihr moralisches Merkmal scheint der gänzliche Mangel an religiösem Gefühl zu sein. Von Anbeginn ihres Aufenthaltes unter uns hat man schon reiche, kühne, tapfere Zigeuner gesehen, bis jetzt sah aber noch niemand einen gottesfürchtigen Zigeuner. Es ist ihnen gleichgültig, die Religion eines Landes, nach dem sie kommen, anzunehmen und sie wieder von sich zu werfen, sobald sie den Fuß über die Grenze setzen. Man wandte ihrertwegen schon verschiedene Mittel an, man versuchte, sie von Kindheit an zu erziehen, in die Schule zu schicken; alles war umsonst. Der junge Zigeuner, zuweilen durch Fähigkeit unter seinen Mitschülern hervorragend, verschwand aus der Mitte seiner Kameraden auf einem gestohlenen Pferd, sobald er nur seine Kräfte fühlte. Ein Zigeunerlied sagt, der Zigeuner ähnelt der wilden Gans; er wohne nur so lange unter den Hausgänsen, bis die Zeit des Abzugs komme. Auch Walter Scott375 hat dieses Lied angeführt, was beweist, daß die Zigeuner dasselbe überall singen. Ebenso schwierig ist es, ihnen eine Vorstellung vom Eigentum des Bodens beizubringen. In vielen Gegenden gab man ihnen angebaute Wohnsitze mit Acker und Zubehör; nie konnten sie an einem Orte sitzen bleiben. Das Dach hat für sie etwas Unerträgliches; sie lagern lieber unter freiem Himmel, treiben sich in Wüsteneien herum. Öfters begegnet man ihren lagernden Haufen in Strauchbuden, bis oben verschneit, unter welchen Männer, Frauen und Kinder bunt durcheinander auf der Streu herumliegen, immer frisch und lustig; denn etwas Unerhörtes wäre ein trauriger Zigeuner. Die Traurigkeit durchzieht zuweilen sein Gemüt, sie bleibt jedoch nicht darin haften. Die Resignation kennt er gar nicht, und hierdurch unterscheidet er sich gänzlich vom Slaven; er achtet das Leben wenig. Hieraus entsprang auch das Sprüchwort: „Ein Zigeuner läßt sich für seine Gesellschaft aufhängen“ („Dla kompanii da się cygan powiesić“).376 Unlängst hatte man in Ungarn einen dieser armen Kerle auf den Pfahl gespießt. Als er sich nun in grausamer Marter quälte, traten zu ihm zwei Geistliche, ein katholischer und ein orthodoxer, in der Absicht, ihn zu trösten und zu bekehren. Mit der größten Aufrichtigkeit antwortete er ihnen, er sei Moskauer Zaren. Vgl. Lech Mróz: Dzieje Cyganów-Romów w Rzeczypospolitej XV–XVIII wieku. Warszawa 2001; Jerzy Ficowski: Cyganie w Polsce. Dzieje i obyczaje. Gdańsk 2000. 375 Konnte nicht ermittelt werden. 376 Vgl. Przysłowia i mowy poroczne ludu polskiego na Szląsku. Zebrał Józef Lompa. Bochnia 1858 [http://www.pbi.pl].

20. Vorlesung (23. Mai 1843)

1247

bereit, dessen Glauben anzunehmen, welcher ihm eine Pfeife Taback geben würde, damit er rauchend sterben könne. Dieses Volk ist zu Allem fähig; es besitzt Mut, Geschick, Verstandesschärfe, nur gelingt es niemand, es an Gott glauben zu machen. Wie soll man es nun mit ihm anfangen, um es auf der Erde anzusiedeln, und wie sollte es nicht die Philosophen beschämen, daß hier alle ihre Formeln nicht Rat geben können? Denn soll es die Erziehung sein, welche alles ausmacht, und wollte man in dieser Hinsicht, wenngleich ungerechter Weise, Polen oder Rußland Sorglosigkeit im Aufklären der Zigeuner vorwerfen, so sehen wir sie ja in Frankreich umringt von Zivilisation und Aufklärung, mit allen im Angesicht des Gesetzes gleichgestellt; war aber je Einer von ihnen Wähler oder Gewählter, kümmern sie sich nur im mindesten um die politischen Streitigkeiten und Landeszerwürfnisse? Wir lasen unlängst in einem Zeitungsblatt, daß in der Deputiertenkammer ein besonderer Gesetzesvorschlag, die Zigeuner betreffend, gemacht werden solle. Wir glauben, daß dieses Gesetz ebenso unfruchtbar bleiben wird, wie die übrigen. Umsonst will man irgend etwas mit diesem Volk beginnen, so lange es nicht bekannt ist, woher es kommt und wohin es geht, was es erwartet; so lange wir nicht die Lösung seines religiösen Rätsels wissen. Es gab eine Zigeunerin, eine reiche Dame, in Moskau, welche die Gattin eines angesehenen und sehr gebildeten Mannes war.377 Dieser Frau fehlte es gewiß nicht an allen Mitteln der Aufklärung und Kultur. Und was half dies? Ungeachtet dieser Vorzüge sah sie in den üppigen Salons, inmitten der gewähltesten Gesellschaft der Hauptstadt, neben den russischen Damen doch immer nur so aus, wie z. B. hier im botanischen Garten die Gazelle neben den Ziegen; sie blieb immer so, wie sie war, als sie aus dem Zigeunerlager heraustrat. Wir schließen wiederholend, daß die Frage des Eigentums mit der religiösen Frage innig verbunden ist und daß augenscheinlich die Epoche heranrückt, in welcher das Eigentum neu eingerichtet werden muß. Diese Epoche begegnet sich gerade, wie zur erwünschten Zeit, mit der allgemeinen Erwartung der Völker. Die ganze Welt fühlt das Bedürfnis des neuen Lichtes von oben, des Lichtes, welches unsere Verhältnisse mit Gott und jedem Geschöpfe beleuchtet, uns das tiefere, festere Band, das Gott mit dem Menschen und der Natur verbindet, kennen lernen möchte. Nur dann erst, wenn dieses Licht aufleuchtet, wird es möglich sein, in neuer und hinreichender Art das Verhältnis des Menschen zum Eigentum zu bezeichnen. Die Völker, welche dieses Verhältnis weniger verdrehten, werden weniger zu leiden haben. 377 Evdokija Ivanovna Golicyna, geb. Izmailova (1780–1850); auch „princesse Nocturne“ genannt. Vgl. I.S.  Čistova: Puškin v salone Avdot’i Golicynoj. In: Puškin. Issledovanija i materialy. Leningrad 1989. Tom 13, S. 186–202.

1248

Teil III

Die fremden Gesetzgebungen haben den slavischen Völkern großen Schaden gebracht; aber zum Glück für sie faßten die Vorstellungen der Staatsökonomen keinen festen Fuß in ihren Ländern. Die allgemeine Regel der Staatsökonomie steht dem Slaventum feindlich gegenüber, weil sie gänzlich aus dem Materialismus entspringt. Wohl wäre es eine sehr schöne Sache, wenn die Staatsökonomen jene erhabenen Wahrheiten, welche das Volk in seinem Busen trägt, klar und verständlich für jedes, auch das gewöhnlichste, Gemüt dargelegt, wenn sie auf diese Weise der menschlichen Vernunft die Schickungen der Vorsehung zugänglich gemacht hatten; bis jetzt rührten sie aber auch nicht einmal daran. Kam es ihnen denn irgendeinmal in den Sinn, darüber nachzudenken, warum das schlecht erworbene Eigentum dem Eigentümer kein Glück bringt? Bei allen Völkern ist dies eine angenommene staatsökonomische Gewißheit, bei den Slaven sogar sprichwörtlich, nur den Staatsökonomen ganz fremd. Für Say, Ricardo, Malthus gilt jedes Eigentum gleich.378 Unter den Philosophen versuchte nur ein einziger, Franz Baader, diese große Wahrheit durch eine Folgerung in spekulativ-logischer Weise zu bekräftigen. Er zeigt, daß das schlecht erworbene Eigentum zur Unfruchtbarkeit verurteilt bleibt, und daß folglich alle seine Früchte sich in Unglück verwandeln müssen.379 Wir können hier nicht in die detaillierte Auseinandersetzung der Meinung Baaders eingehen, die Staatsökonomen sollten sie aber in Betracht ziehen. Nur 378 Jean Baptiste Say (1767–1832); französischer Ökonom – vgl. seine „Abhandlung über die Nationalökonomie, oder, Einfache Darstellung der Art und Weise, wie die Reichtümer entstehen, verteilt und verzehrt werden“ – Jean Baptiste Say: Traité d’économie politique ou simple exposition de la manière dont se forment, se distribuent, et se consomment les richesses. 2 Bde., Paris 1803 (Reprint Frankfurt am Main-Düsseldorf 1986); über Say vgl. William  J.  Baumol: Jean-Baptiste Say und der „Traité“: Vademecum zu einem frühen Klassiker der ökonomischen Wissenschaften. Frankfurt am Main-Düsseldorf 1986; Gérard Minart: Jean-Baptiste Say (1767–1832) – Maître et pédagogue de l’Ecole française d’économie politique libérale. Paris 2004; David Ricardo (1772–1823), englischer Wirtschaftswissenschaftler – David Ricardo: On the Principles of Political Economy and Taxation. London 1817; deutsche Übersetzung: David Ricardo: Über die Grundsätze der politischen Ökonomie und der Besteuerung. Marburg 2006; über Ricardo vgl. Gerhard Stapelfeldt: Der Liberalismus. Die Gesellschaftstheorien von Smith, Ricardo und Marx Freiburg i. Br. 2006; Thomas Robert Malthus (1766–1834), englischer Ökonom; vgl. T.R. Malthus: Principles of political economy. London 1820; T.R. Malthus: Eine Abhandlung über das Bevölkerungsgesetz oder eine Untersuchung seiner Bedeutung für die menschliche Wohlfahrt in Vergangenheit und Zukunft, nebst einer Prüfung unserer Aussichten auf eine künftige Beseitigung oder Linderung der Übel, die es verursacht. 2 Bände. Jena 1924– 1925; über Malthus vgl. – Helmut Winkler: Malthus – Krisenökonom und Moralist. Innsbruck 1996. 379 Vgl. den Aufsatz von Franz von Baader: „Jede unrechtliche Besitzergreifung verletzt nicht nur den Besitzer, sondern auch das Besitztum.“ In. F. von Baader: Philosophische Schriften und Aufsätze. Bd. 2. Münster 1832, S. 407–410.

20. Vorlesung (23. Mai 1843)

1249

auf diese Weise könnte man, wenn wir durchaus eine Theorie der Staatsökonomie besitzen sollen, aus derselben eine nützliche Lehre ziehen; denn diese Lehre würde die Menschen der Routine, die Leute, welche sich aus Profession mit diesem Gegenstand befassen, die eingebildeten Gelehrten zwingen, dasjenige durch die Wissenschaft zu erkennen, was das Volk durch den Glauben weiß. Der nicht gewöhnliche, wenngleich wenig gekannte deutsche Staatsökonom Adam Müller380 betrat schon eine ähnliche Bahn. Über das Kapital im allgemeinen redend, behauptet er, das Geld sei nicht der Reichtum, ja nicht einmal das Zeichen des Reichtums, und wie die verschiedenen Nervensysteme im Menschen nicht die Seele, auch nicht einmal das Zeichen der Seele, sondern nur ihre Werkzeuge sind, ebenso dient jedes Kapital nur als Werkzeug irgendeiner wirkenden Kraft. Dieser Begriff, der die Folge eines langen Aufenthalts Müllers in Polen381 war, widerspricht gänzlich den Begriffen, welche in dieser Hinsicht allgemein angenommen sind; und doch ist nur diese Art des Begreifens der Dinge fähig, ein Licht auf die Geschichte der slavischen Volker zu werfen und die Regierungen in Betracht der Zukunft dieser Völker aufzuklären. Wie darf man einige der europäischen Regierungen anklagen, daß sie nicht ihre Schuldigkeit eingesehen haben, sich in die Angelegenheiten des Slaventums zu mischen, da sie doch in Folge dessen, was ihnen die Geschichtsschreiber, die Staatsökonomen und Rechtsgelehrten über diese Lander erzählten, sich ihren Zustand der Dinge durchaus ganz und gar anders vorstellen müssen, als er in der Tat ist? Folgt man den in Europa allgemein verbreiteten Ideen, so scheint es, als gäbe es gar keine slavischen Völker, so scheinen sie kein Dasein, keine Geschichte zu haben, namentlich aber nichts zu besitzen, was die heutige politische Ökonomie für Reichtum anerkennt. 380 Adam Heinrich Müller (1779–1829), Studium der Recht- und Staatswissenschaften in Göttingen; deutscher Ökonom und Philosoph, Vertreter der politischen Romantik (Wiener Romantikerkreis); vgl. A.H. Müller: Versuche einer neuen Theorie des Geldes: mit besonderer Rücksicht auf Großbritannien. Hamburg 2011 (1. Ausgabe 1816); vgl. Alois Hartmann: Sinn und Wert des Geldes in der Philosophie von Georg Simmel und Adam (von) Müller: Untersuchungen zur anthropologisch sinn- und werttheoretischen und soziopolitischkulturellen Bedeutung des Geldes in der Lebenswelt und der Staatskunst. Berlin 2002. 381 Adam Heinrich Müller hielt sich nach dem Studium in den Jahren 1803–1805 zunächst auf dem Gut Pożarowo in Südpreußen seines Göttinger Studienfreundes Zygmunt Kurnatowski (1778–1858), wo sein Werk „Die Lehre vom Gegensatz“, Berlin 1804, entstand; anschließend verrichtete er auf dem Rittergut Lewitz (Lewice), Provinz Posen, Sekretärsund Hofmeisterdienste beim Landrat Boguslaus Peter von Haza-Radlitz (1769–1817), dessen Frau Sophie er später nach erfolgter Scheidung heiratete; Zygmunt Kurnatowski nahm 1806 am großpolnischen Aufstand teil und wurde später Generalmajor; seit 1823 im Dienste des russischen Zaren Nikolaus I.; im Novemberaufstand von 1830 bekämpfte er die Aufständischen.

21. Vorlesung (2. Juni 1843) Trentowskis philosophisches Konzept als Versuch, die Systeme von Schelling und Hegel zu verbinden – Schwächen dieses Konzepts – Verweis auf die „Un-göttliche Komödie“ und die Schweiz.

Unsere Vorlesungen über die deutsche Philosophie muß man als die Einleitung betrachten, welche zum Zweck hat, das Verständnis des Philosophischen, was sich im Leben der slavischen Völker kundgibt, zu erleichtern. Sobald wir zur Untersuchung der gesellschaftlichen und politischen Ideen dieser Völker übergehen werden, wird es sich zeigen, warum wir ihnen einen so hohen Rang in der philosophischen Sphäre beilegen; diese Idee aber ist der Schlußstein des Gewölbes in unserem System. Das Wort System wenden wir nur ungern an, denn in der Tat haben wir kein System. Wir sprechen hier nicht selbst, sondern die Geschichte und die slavischen Volkstümlichkeiten reden durch uns. Ein solches politisches und religiöses, sich aus dem slavischen Geist offenbarendes System wird der Mittelpunkt sein, in welchem alle Ergebnisse unseres Vortrages zusammenkommen werden. Schenken wir unsere Aufmerksamkeit noch zwei Philosophen, Polen von Geburt, welche für die Deutschen schreiben und demnach den Übergang aus dem Slaventum nach dem Westen ausmachen, welche die sich feindlich gegenüberstehenden beiden Gedanken, den deutschen und den slavischen, einander nähern. In der Zwischenzeit vom Tode Hegels bis zum kürzlichen Wiedererscheinen Schellings versuchten es mehrere Philosophen, ihre neuen Systeme aufzustellen. Einer der bedeutenderen Versuche dieser Gattung ist die Arbeit Trentowskis. Werfen wir einen Blick auf dieselbe. Trentowski382 bemüht sich, die beiden philosophischen Systeme, das System Hegels und Schellings (wir sprechen hier von Schellings erstem 382 Trentowskis philosophischer Weg führte von Warschau (bei Krystyn Lach Szyrma) über Königsberg (bei dem Kant-Nachfolger Johann Friedrich Herbart) nach Heidelberg (1832) und schließlich 1833 nach Freiburg (Breisgau), wo er dann ansässig wurde und als Privatdozent tätig war. Promotion über „Grundlage der universellen Philosophie“. CarlsruheFreiburg-Paris 1837; Habilitation: De vita hominis aeterna: commentatio adnotationibus Germanis illustrate. Freiburg (Breisgau) 1838; beide Werke schenkte er Mickiewicz; weitere Werke – B.F. Trentowski: Vorstudien zur Wissenschaft der Natur oder Übergang von Gott zur Schöpfung. Nach den Grundsätzen der universellen Philosophie. 2 Bde., Leipzig 1840; polnisch – Wstęp do nauki o naturze. Warszawa 1978. Vgl. – Władysław Horodyski: Bronisław Trentowski (1808–1869). Kraków 1913; Walter Kühne: Die Polen und die Philosophie Hegels. In: Hegel bei den Slaven. Hrsg. Dmytro Čyževśkyj. Bad Homburg vor der

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_096

21. Vorlesung (2. Juni 1843)

1251

System), einander zu nähern und sie in eins zu vereinen; er möchte uns gern glauben machen, daß diese Vereinigung einen gänzlich neuen Standpunkt zum Auffassen der Dinge, eine neue Basis für die allgemeine Philosophie abgeben wird. Er verfährt hierin wie folgt. Seiner Meinung nach befinden sich alle Philosophen, welche bis jetzt das Wesen, das Dasein und das Geheimnis des menschlichen Gedankens erklären wollten, zu gleicher Zeit in der Wahrheit und im Irrtum; denn sie sind einseitig, sie sind entweder Idealisten oder Realisten. Auf diese Weise wollte Leibniz den Idealismus, Locke den Materialismus begründen, Kant aber, obgleich er sich viel höher erhob, blieb gleichsam (so viel man aus dem an dieser Stelle dunklen Gerede Trentowskis entnehmen kann) nur ein Leibniz und Locke der zweiten Ordnung (Macht); er vermochte doch nicht, allseitig zu sein. Späterhin teilte sich die Philosophie wiederum in zwei Äste, in das System Fichtes und das erste System Schellings, ein Natursystem, das die materielle Seite darstellte. Diese Äste vereinen sich später mit einander, oder vielmehr das Kantsche System der zweiten Ordnung und das Fichtesche, die ideale Seite vorstellende System werden eins im Schellingschen. Endlich bilden Schelling und Hegel noch einmal zwei besondere Systeme, schon zur dritten Ordnung erhoben, welche Trentowski in eins zusammenfließen lassen will. Alle diejenigen, welche zu ihrem Ausgangspunkt die Realität genommen, welche für die einzige Quelle des Wissens die sinnlichen Eindrücke halten, haben bei Trentowski Recht, denn die Vernunft schreitet von der Sache zum Begriff; er sagt, „nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu“383, nichts findet Höhe 1961 (1. Auflage – Reichenberg 1934), S. 20–43; Tadeusz Linkner: Mickiewicz – Trentowski. Dyskusje o mitologii. In: Przegląd Artystyczno-Literacki, VI (1998), 1–2, S.  22–35; Gabriela Brudzyńska-Němec: „Ein hellenistisches Kind zur Erziehung in Deutschland“. Der Philosoph Ferdynand Trentowski. In: Grenzüberschreitende Biographien zwischen Ost- und Mitteleuropa Wirkung – Interaktion – Rezeption. Hrsg. Tobias Weger. Frankfurt am Main-Berlin-Bern u.a. 2009, S. 93–114 (= Mitteleuropa – Osteuropa, Bd. 11); Ewa Starzyńska–Kościuszko: Koncepcja człowieka rzeczywistego. Z antropologii filozoficznej Bronisława Ferdynanda Trentowskiego. Olsztyn 2004; Ewa Starzyńska-Kościuszko: Bronisław F. Trentowski – „polski Hegel“, „polski Schelling“ czy „polski Krause“? In: FiloSofija 2005, Nr. 1 (5), S. 47–64; pädagogische Schriften – B.F. Trentowski: Chowanna, czyli system pedagogiki narodowej jako umiejetności wychowania, nauki i oświaty, słowem wykształcenia naszej młodzieży. 2 Bde., Poznań 1842: vgl. dazu – Wiesław Andrukowicz: Szlachetny pożytek. O filozoficznej pedagogice Bronisława  F.  Trentowskiego. Szczecin 2006; über die Freimaurerei – B.F. Trentowski: Die Freimaurerei in ihrem Wesen und Unwesen. Leipzig 1873. 383 Bronislaus Ferdinand Trentowski: Grundlage der universellen Philosophie. CarlsruheFreiburg-Paris 1837, S. 7; polnisch – B.F. Trentowski: Podstawy filozofii uniwersalnej; Wstęp do nauki o naturze; z oryg. niemieckiego przełożył Michał Żułkoś-Rozmaryn; przejrzał i przypisami opatrzył Jan Garewicz; wstępem poprzedził Andrzej Walicki. Warszawa 1978.

1252

Teil III

sich im Wissen, was nicht zuvor vom Sinn wahrgenommen wurde. Dieses ist der reellste Weg des Wissens. Auf diese Weise erhalten wir die erprobten Gewißheiten. Das Erkennen der Verbindung der Folgen mit den Ursachen durch die Erfahrung ist eine einfache und gewöhnliche Lehre. Von diesem Gesichtspunkt aus zur Moral übergehend, finden wir den Begriff des Nützlichen und beschränken uns auf das alltägliche, praktische Leben. Also dieser Teil der menschlichen Wissenschaften beschäftigt sich mit der Materie (Substanz), mit dem Objekt (Gegenstand). Die Substanz mit der Objektivität vereinend, machen wir eine Erfahrung, wir gelangen zur praktischen Moralität. Allen denen, welche sich zu ihrem Hauptgrundsatz den Geist genommen, gibt Trentowski ebenfalls Recht; denn der Geist ist der Beweggrund einer jeden Bewegung, oder er ist das primum mobile, die erste Ursache, die Kausalität.384 Wie in jene Kategorie bloß die Erscheinungen, so gehören in diese die Ursachen und Folgen, die Kausalität (Ursächlichkeit). Hier entwickelt sich der moralische Begriff von der Pflicht, die Vorstellung des Edlen, Erhabenen, der Vorstellung des Nützlichen entgegengesetzt. Die ersten dieser Philosophen, d, h. die positiven, reellen, die sich mit der Erkenntnis, der Natur und der menschlichen Geschichte befassen, erziehen die Mehrheit des Volkes, die anderen widmen sich den göttlichen, den moralischen Wissenschaften. In die Reihe dieser letzteren stellt er einige Poeten.385 Jedoch die einen wie die andern irren sich, denn man muß diese beiden Quellen vereinen, oder vielmehr eine dritte aussuchen, welche Trentowski in der von ihm sogenannten Wahrnehmung findet. Diese Wahrnehmung des Trentowski läuft gänzlich auf die Schellingsche Anschauung hinaus, nur ist sie zur zweiten Ordnung erhoben. Rührt uns z. B. eine Naturerscheinung, so fühlen wir uns geweckt, es arbeiten unsere Gemütskräfte, und wir kommen zu dem Augenblick, in welchem wir die inneren Bande zwischen dieser Erscheinung und unserem Geist auffassen, oder wo das Äußere und das Innere sich in der Einheit berühren. Dieser Augenblick ist die Wahrnehmung, das Nehmen der Wahrheit.386 Wir sind alsdann sicher, eines der Geheimnisse des Daseins, 384 Trentowski, op. cit., S. 148–153 (Kausalität). 385 „Corneille, Racine, La Fontaine und andere ältere französische Dichter sind realistisch oder empirisch; ihre Kunst geht noch am Gängelbande der Erfahrung und der Geschichte mit Wohlbehagen. Schiller hingegen ist idealistisch oder metaphysisch; er macht die Himmelblüte des deutschen Geistes aus. Goethe endlich ist wirklich und philosophisch, ist ein Wahrnehmungsdichter. Corneille verursacht eine schöne Salonenlangeweile, Schiller flößt Feuer ein, Goethe belehrt in jeder Zeile.“ – Trentowski, op. cit., S. 303. 386 Trentowski, op. cit., S. 193: „Die Wahrnehmung macht die dritte und letzte Erkenntnisquelle aus, beruht auf der erwachten Selbständigkeit aus, eint in sich die rezeptive Erfahrung mit der spontanen Vernunft, und ist die äußere sowohl, als auch die innere, oder die

21. Vorlesung (2. Juni 1843)

1253

eine lebenskräftige Wahrheit begriffen zu haben. Diese Wahrheit lebt in uns, sie wächst, entflammt sich, es ist dies ein göttlicher Funken. Aus dieser Wahrnehmung leitet Trentowski Formeln ab, die wir hier anzuführen nicht nötig haben, und mit ihrer Hilfe strebt er, das Hegelsche System mit dem erstem von Schelling zu vereinigen, sie beide in eins zu verschmelzen. Nachdem er also auf diese Art hier die Substanz, dort die Kausalität entlehnt hat, macht er aus ihnen seine Kongruenz (Kongruität)387; ferner aus der Objektivität und Subjektivität bildet er sich die Objekt-Subjektivität und Konjektivität388; endlich entwickelt ihm zufolge die Wahrnehmung, als Quelle und Schöpferin der Philosophie, alle moralischen Gefühle von Gott, von der Freiheit389, welche er den höchsten philosophischen Begriff, die Vereinigung unserer Wahrheit und unseres Wissens mit der Wahrheit und dem Wissen Gottes, die Verwirklichung unserer Gottheit in Gott nennt. Dies ist im Skelett das System des Trentowski. Viel wichtiger und einfacher wird es aber sein, zu untersuchen, wie er uns Gott, die Unsterblichkeit der Seele und den Menschen, sei es einzeln oder in der Gesellschaft betrachtet, darstellt. Alsdann werden wir die ganze Nichtigkeit seines Systems erkennen. Trentowski nimmt die allerletzten Ergebnisse, welche aus den Hegelschen Vernunftschlüssen resultieren, und die Schlüsse, zu welchen Schelling in seinem ersten System gelangt ist, an. Er kennt keinen persönlichen Gott, umso weniger noch eine selbststandige menschliche Seele. Die Unendlichkeit, das All, die allgemeine Welt hat bei ihm ebenso, wie bei den vorhergegangenen Philosophen, zwei Seiten, oder sie offenbart sich unter zwei Gestalten: der äußeren Natur und des Geistes, der Bejahung und der Verneinung; denn ihm zufolge ist die Materie die Bejahung (Positivität), der Geist die Verneinung (Negativität); beides bringt jedoch in Einklang, vereint in sich ein wahrnehmender Philosoph, der Mensch. Folglich hat hier ebenso, wie bei Hegel, Gott kein Selbstbewußtsein, er kennt sein Dasein nicht; erst wenn er sich zum die volle, lebendige, götliche, ihr Selbstbewußtsein und ihre Selbsterkenntnis erlangende Wahrheit. Ihre Vorläuferin ist die Anschauung.“ 387 Trentowski, op. cit., S. 226–233. 388 Trentowski, op. cit., S. 234, 236: „In der Wahrnehmung schmelzen die Objektivität und die Subjektivität in Eins zusammen, und es tritt in ihr die Wahrheit als die ObjektSubjektivität, oder als die Konjektivität auf. […] Die Konjektivität ist, zwar nur im logischen, jedoch immer wahren Sinne, die sich seit Ewigkeit im Unversum manifestierende Wahrheit. Alle Sonnen und Erdenbälle sind nichts anderes, als große Konjekte, d. h. sie haben die Objektivität und die Subjektivität in ihrem Wesen.“ 389 Über den Begriff Freiheit vgl. Trentowski, op. cit., Abschnitt 37, S. 259: „Ist der Mensch das Selbstbewußtsein Gottes, so ist er auch das Selbstbewußtsein der Freiheit; und ist das Selbstbewußtsein die höchste Offenbarung Gottes, so ist der Mensch die höchste Freiheit.“

1254

Teil III

Menschen macht, erblickt er in ihm sich selbst; der Mensch bleibt also immer der letzte Ausdruck Gottes.390 Trentowski hat uns nichts Neues gesagt; was bei Hegel die höchste Stufe dieser Göttlichkeit, der Gedankenschwung, die Bewegung der Vernunft ist, macht bei Trentowski das Gefühl der Eintracht, welche zwischen der äußeren Natur und dem Geiste obwaltet, aus. Gar zu gern möchte er uns Gott etwas poetischer darstellen als Hegel; er wirft sogar Hegel vor, sein Gott sei eine sonderbare Mißgeburt des Gedankens, da er außer der steten Umwandlung, außer der steten Spazierfahrt aus dem Geist in die Materie und aus der Materie in den Geist kein anderes Dasein habe; er geht ein in die Materie, um sich zu erblicken, und sobald es ihm zuwider ist sich anzuerkennen oder zu verneinen, wird er wieder Geist. Trentowskis Begriff von Gott läßt sich sehr gut mit der Daguerreotypie391 vergleichen. Die Allheit ist die sichtbare Natur, der Geist ist die reine Tafel des Apparats, sie ist die Verneinung, es findet sich nichts auf ihr aufgezeichnet, nichts aufgeschrieben, sondern es reflektiert sich auf derselben nur das Dasein der Objekte, namentlich des Menschen, und dieser ganze Apparat zusammengenommen ist Gott. Auf diese Art soll hier auch die Unsterblichkeit der Seele nachgewiesen sein; denn die Spur des Durchgangs eines jeden Menschen durch das Gefilde der allgemeinen Geschichte prägt sich auf dieser Tafel ab; denn alle menschlichen Seelen bleiben auf ewig in Gott ausgeprägt. Diese Seelen hören mit dem Tode auf, wirklich zu leben. Trentowski sagt, daß sie ein reales Leben haben; unter Realität verstehen aber die Deutschen etwas anderes. Sie haben nur ein formelles Leben, nicht aber ein wirkliches, sie können nicht mehr wirken, aufeinander Einfluß haben und namentlich können sie nicht mehr mit den Seelen der lebenden Menschen Umgang pflegen. Will man kurz, ohne Umschweife den Gedanken Trentowskis ausdrücken, so muß man sagen, diese Seelen bestehen gar nicht; es bleibt nur das Andenken derselben in der Geschichte, in den Büchern, in den Köpfen der Leser dieser Bücher. So haben z. B. Alexander der Große, Cäsar, Napoleon kein anderes Dasein, keinen anderen Himmel oder Hölle, als nur die Schränke in den Bibliotheken, wo die über sie und von ihnen selbst geschriebenen Werke liegen. Jede Feuersbrunst kann dieses vergängliche Dasein verzehren, ihre Seelen für immer vernichten.

390 „Gott ist der größte Weise, denn er schickt sich in jeden Menschen und läßt jeden für sich in ihn schicken.“ […] „Der Mensch ist die sich selbst fühlende und sich selbst erkennende Trialität, ist Gott als der Sohn auf der höchsten Stufe seiner Entwicklung.“ – Trentowski, op. cit., S. 259, 285. 391 Daguerreotypie – Photographie-Verfahren, das der französische Maler Louis Jacques Mandé Daguerre zwischen 1835–1839 entwickelt hat. Vgl. Wolfgang Baier: Geschichte der Fotografie. 2. Auflage. München 1980.

21. Vorlesung (2. Juni 1843)

1255

Trentowski ist jedoch auf sein System sehr stolz; er behauptet, dasselbe gebe sowohl Gott, als auch die Unsterblichkeit der Seele und das letzte Gericht, die Belohnung und ewige Strafe, zu erkennen. Was noch sonderbarer, er erdreistet sich zu sagen, daß sein System christlich, daß Christus der Herr ein wahrnehmender Philosoph392, weder ein theoretischer noch praktischer, sondern ein genetischer Philosoph gewesen sei; daß er in dem tiefen inneren Gefühl der Gottheit und der Natur zwei entgegengesetzte Systeme vereinigt und das Leben erzeugt habe. Gleich daneben jedoch stimmen seine Begriffe von der Weisheit und der Philosophie ganz und gar nicht mit dieser Prätension an das Christentum überein. Ihm zufolge muß man, um Philosoph zu sein, durchaus ein Gelehrter aus Büchern sein. Zuweilen enthüllt sich ihm die Tiefe des im Leben des Volkes enthaltenen Philosophischen; an irgend einer Stelle hat er die Meinung aufgestellt, das gemeine Volk besitze in seinen Sagen eine erhabene Philosophie, bald jedoch vergißt er dies und behauptet von neuem, daß man, um zur Erkenntnis zu gelangen, das ganze Meer der Wissenschaften austrinken, alle Bücher durchlesen müsse. Kann man wohl dem Offenbarer des Christentums eine größere Schmach antun? Geziemt es sich, ihn zu einem Vernunftredner ähnlicher Gattung, wie die deutschen Doktoren und Professoren, zuzustutzen? Wo hat der Welterlöser Bibliotheken durchgelesen, das Meer der Wissenschaften ausgetrunken? Fürwahr, die neuere Philosophie hat nach allen ihren Lästerungen keine größere mehr gegen das Christentum aushauchen können, als indem sie mit demselben sich verbinden, dasselbe in die Reihe ihrer elenden Systemchen, die von den Deutschen täglich aufgebaut und niedergerissen werden, einschließen will. Trentowski und viele andere Philosophen nehmen nicht ohne Ursache das Christentum zum Deckmantel. Dies ist die allgemein von den Schülern der protestantischen Schulen angenommene Taktik. Sie entspringt aus der tiefen Verachtung, die sie gegen das Volk hegen. Volk heißt bei ihnen allgemein alles, was nicht Philosophie auf Universitäten studiert hat. Dieser Pöbel, dieser 392 „Der wahrnehmende Urheber der christlichen Religion, der die Dreieinigkeit Gottes lehrte und sich kühn Gottessohn nannte, hat sich zum Leuchtstern der Menschheit gemacht und seinen Worten die Allgegenwart zugesichert. Von seiner total-unmittelbaren und lebendigen Gewißheit ausgehend, konnte er ein Herold der Wahrheit werden, und sowohl in den Sphären der Erkenntnis, als in denen des Handelns die einzig und allein wahre Helle verbreiten. Er ist weder praktisch noch theoretisch, sondern überall synthetisch. Es ist in der Tat kaum begreiflich, daß die wahrnehmende Philosophie nicht schon längst im Christentum erschien, das sie doch beinahe seit zwei Jahrtausenden in ihm beußtlos lebte und von den Kanzeln tönte. Die wahrnehmende Philosophie ist allein christlich und muß, sobald sie nur eine vollendetere Bearbeitung bekommt, zum wahren Verständnis der christlichen Religion und zu ihrem Triumph unendlich viel beitrage.“ – Trentowski, op. cit., S. 285.

1256

Teil III

Haufen braucht nicht viel zu wissen; man muß ihn in Finsternis, in Vorurteil lassen; es ist sogar nötig, sich zu stellen, als teilte man seinen Irrglauben. Die protestantischen Doktoren verteidigen daher von der Kanzel Wahrheiten, über welche sie bei sich spotten; sie sprechen über die christlichen Geheimnisse, welche sie nachher in ihren literarischen Salons rationell auseinandersetzen und vernichten. Ebenso gehen auch die Philosophen zu Werke. Trentowski z. B. äußert sich dahin, daß er, wäre er Professor393 zu Warschau, ganz Polen bekehren würde; denn nicht nur alle christlichen Wahrheiten würde er beweisen, sondern selbst alle Geheimnisse der Religion in Vernunftformeln wie auf der flachen Hand darlegen. Wir wollen hier nicht die ganze Unverschämtheit dieses leichtfertigen Großsprechers aufweisen. Er hat wirklich die Überzeugung, die Warschauer Jugend und Bevölkerung werde ihm nachlaufen, um sich vor den Altären niederzuwerfen, die Gebräuche zu erfüllen, über welche er später in seinen Schriften spottete. Das ist eine große Unkenntnis dessen, was Volk heißt, und namentlich ähnelt das slavische Volk in dieser Beziehung sehr dem französischen. Nicht so leicht ist es zu betrügen; es besitzt einen wunderbaren Instinkt, das Falsche zu erraten. In Frankreich unterließ das Volk vor der Revolution die Ausübung der Religion, als die Mehrzahl der Geistlichkeit den Glauben an dasjenige verloren hatte, an was zu glauben sie dem Volk befahl, und bald warf es sich mit Erbitterung auf die Priester. Ein solches Ende würde auch dem Philosophen werden, welcher das slavische Volk zu verführen beabsichtigte. Trentowski hat jedoch die Philosophie vervollkommnet; es besteht in ihm ein praktisches Streben. Er, der Erste, wendet die Philosophie der Politik und Ethik an. Unter den Werken Hegels finden sich Bände, gewidmet der Staatswissenschaft, wie er sie nennt; er sprach auch über die Ethik. Es sind dieses jedoch Teile der Moralwissenschaft, die mit dem Ganzen seines Systems 393 „Gdybym był wtedy tem, czem dziś jestem, i gdyby mi dano katedrę filozofii, wywiódłbym uczniom wszystkie prawdy chrześciańskie z ich własnej samodzielnej jaźni, nauczył kochać je gorąco, i pokazał w końcu, że prawdy te znajdują się w biblii, które potępiliście dla tego, żeście mądrości jej niepojęli. Zreformowałbym młodzież w przeciągu lat trzech, a z nią, jak naturalna, i kraj cały. Dowiódłbym wszystkiego, nawet dziewiczości Maryi!“ (Wenn ich damals das wäre, was ich heute bin, und hätte mir man den Lehrstuhl für Philosophie gegeben, hätte ich den Schülern alle christlichen Wahrheiten aus ihrem eigenen selbsttätigen Ich abgeleitet, ihnen beigebracht, sie zu lieben und hätte schließlich gezeigt, daß diese Wahrheiten aus der Bibel stammen, die ihr nur deswegen bekämpft, weil ihr sie nicht verstanden habt. Innerhalb von drei Jahren hätte ich die Jugend reformiert und mit ihr, versteht sich, das ganze Land. Ich hätte alles bewiesen, sogar die Jungfräulichkeit Marias!“ – B.F.  Trentowski: Chowanna, czyli system pedagogiki narodowej jako umiejetności wychowania, nauki i oświaty, słowem wykształcenia naszej młodzieży. Poznań 1842, Band II, S. 629 [http//:www.pbi.edu.pl].

21. Vorlesung (2. Juni 1843)

1257

keinen Zusammenhang haben, die sich von demselben trennen lassen. Bei Trentowski aber strebt der philosophische Gedanke nach der Verwirklichung. Nachdem er seine Begriffe über den Geist und die Materie entwickelt hat, endet er mit der Abhandlung über das Dasein der Reiche und die Pflichten des Menschen. Seiner Meinung nach erzeugt das System der Idealisten die Republik, das System der Materialisten den Despotismus, und aus der Vereinigung dieser beiden Systeme entspringt der konstitutionelle Zustand, die allerletzte Frucht des Nationallebens. Ebenso werden die Leute, welche vor allem nach der Erweiterung der äußeren Macht des Reiches streben, zu Eroberern; die Leute dagegen, welche einzig an die materielle Benutzung der Landesmittel denken, machen die sklavische, die servile Partei aus; diejenigen aber, welche die Interessen ihres Volkes mit den Interessen der anderen Völker in Einklang zu bringen trachten, bilden die Diplomatie, das letzte Resultat des Lebens der Völker untereinander.394 So wie einerseits in seinem politischen Streben etwas ist, was die deutsche Philosophie weckt, ebenso besitzen auch andererseits sein Stil und seine Auffassungen eine gewisse Kraft, ein gewisses Leben, es leuchtet in ihm etwas Polnisches durch; nur das sieht er nicht, daß er schon längst überholt ist, daß, indem er kaum zu der Einsicht des Bedürfnisses, die philosophischen Wahrheiten zu realisieren, gelangt, die Berliner Schule sich mit dem Verwirklichen derselben, wenigstens im Schrifttum, befaßt und daß die philosophischen Schulen des Slaventums diesen Abschnitt des Weges weit hinter sich gelassen haben. Es scheint ihm, als hätte er den höchsten Gipfel der Philosophie erstiegen; hierin irrt er sich, denn er hat nur bemerkt, was ihr fehlt, und selbst die scholastischen Philosophen haben ihn um viele Jahre überholt. Im Allgemeinen bemühen sich alle deutschen Philosophen, selbst Trentowski nicht ausgenommen, nur darum, den Zustand, wie er ist, zu rechtfertigen und zu erklären. Auf das Hegelsche Axiom:

394 „Der Antagonismus zwischen der Erfahrung und der Vernunft, welcher die erkennende Menschheit bis jetzt entzweite und noch immer entzweit, ist die Grundursache aller in ihr ausbrechenden Antinomien. […] Die Servilen, die ganz mit Unrecht Aristokraten genannt werden, sind die erste Partei. Es sind lauter Erfahrungsmänner, kluge, arglistige und fuchsartige Köpfe, sind Repräsentanten der rezeptiven Notwendigkeit. […] Die Terroristen sind die zweite Partei. Es sind lauter Männer, Jünglinge und Knaben, in welchen die mehr oder weniger ausgebildete und isolierte Vernunft erwacht, und welche die spontane Apodiktizität zu ihrer Führerin haben. Sie träumen sich die willkürlichsten Systeme, nach denen sie die Menschheit zu regieren und sie zu beglücken wünschen. […] Ein Empiriker, wenn er zum Diadem kömmt, erschafft den Despotismus der Notwendigkeit, betrachtet den Menschen als einen Apparat zu Versuchen […]. Ein Metaphysiker widerum, wenn er sich auf den Thron erhoben hat, erschafft den Despotismus der Apodiktizität, läßt nur seine Spontaneität überall walten […].“ – Trentowski, op. cit., S. 266–269.

1258

Teil III Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.395

stützen sich alle ihre Systeme. Eine leichte und angenehme Arbeit ist es allerdings, die Entwickelung der politischen Vorstellungen geschichtlich darzulegen, die etwaigen verwickelteren Stellen der Gesetzgebung oder Konstitution aufzuhellen und dabei den Zustand der Dinge, durch Mühen und Sorgen anderer begründet, ruhig zu genießen. An diesem gebenedeiten Zustand hängen sie mit ganzer Seele und möchten gern keinen Schritt vorwärts tun. Finden wir in ihren Werken Ideale des geselligen Daseins, so sind diese jedesmal den ausländischen Originalen, den Schöpfungen, welche in Frankreich oder in Polen entstanden, entnommen. Das Ideal Hegels war die konstitutionelle Monarchie396, eine solche, wie sie Frankreich unter Karl X. hatte. Mit seinem Geist konnte er nichts erreichen, was über diese Form erhaben gewesen wäre; er fügte derselben nur noch einige Überbleibsel aus den Institutionen der polnischen Republik, die sich in Preußen erhielten, hinzu und riet Preußen, gewisse fremde Einrichtungen von der Art, wie dies z. B. die Majorate397 sind, anzu395 Korrigierte Wiedergabe des Zitats nach G.W.F.  Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. (1821). Frankfurt am Main 1986, S.  24 (Vorrede). Dieser Satz wird von Gustav Siegfried und in allen polnischen Editionen der „Literatura słowiańska“ von A. Mickiewicz falsch zitiert: „wszystko, co jest rozumne, istnieje, a wszystko, co istnieje, jest rozumne“ (Alles, was vernünftig ist, ist wirklich, und alles, was wirklich ist, ist vernünftig). Das Wort „alles“ (wszystko) steht bei Hegel nicht. Vgl. dazu auch Jan Garewicz: August Cieszkowskis Einschätzung bei den Deutschen in den dreissiger und vierziger Jahren des XX. Jahrhunderts. In: Der Streit um Hegel bei den Slawen. Hrsg. Jan Garewicz und Irena Michňáková. Praha 1967, S. 90. 396 Vgl. G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. (1821), op. cit., § 273, S. 435–440; ferner – Hans Boldt: Hegel und die konstitutionelle Monarchie. In: Verfassung und Revolution. Hegels Verfassungskonzeption und die Revolution der Neuzeit. Hrsg. Elisabeth Weisser-Lohmann und Dietmar Köhler. Hamburg 2000, S. 167–209. 397 Über Majorate vgl. G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. (1821), op. cit., S. 475–476: „§ 306: Für die politische Stellung und Bedeutung wird er näher konstituiert, insofern sein Vermögen ebenso unabhängig vom Staatsvermögen als von der Unsicherheit des Gewerbes der Sucht des Gewinns und der Veränderlichkeit des Besitzes überhaupt – wie von der Gunst der Regierungsgewalt so von der Gunst der Menge – und selbst gegen die eigene Willkür dadurch festgestellt ist, daß die für diese Bestimmung berufenen Mitglieder dieses Standes des Rechts der anderen Bürger, teils über ihr ganzes Eigentum frei zu disponieren, teils es nach der Gleichheit der Liebe zu den Kindern an sie übergehend zu wissen, entbehren; – das Vermögen wird so ein unveräußerliches, mit dem Majorate belastetes Erbgut. Zusatz. Die Begründung des Majorats liegt darin, daß der Staat nicht auf bloße Möglichkeit der Gesinnung, sondern auf ein Notwendiges rechnen soll. […] Wo indessen politische Institutionen fehlen, ist die Gründung und Begünstigung von Majoraten nichts als eine Fessel,

21. Vorlesung (2. Juni 1843)

1259

nehmen. Ein solches Machwerk schien ihm schon ein für die Ewigkeit vollkommener, keiner Veränderung unterliegender und geradezu dem göttlichen Gedanken entfließender Zustand der Dinge zu sein; er schrieb einen ganzen Band voller Beweise von dessen Göttlichkeit und reiner Vernunftlogik. Als er nun eben damit beschäftigt war, die Konstitution der französischen Restauration vernünftig zu erklären und zu begründen, brach die Juli-Revolution aus und veränderte, ja man kann sagen, warf dieselbe ganz über den Haufen. Es zeigte sich, daß das System, welches für die Ewigkeit gemacht sein sollte, keine dreitägige Probe überstand; Hegel mußte es flicken und sich von neuem nach Vernunftgründen bemühen, um die konstitutionelle Charte von 1830 zu rechtfertigen.398 Hierzu reichte ihm schon weder die Kraft noch die Zeit aus. Selbst sein Freund Michelet399 sagt, daß Hegel die Nachricht von der JuliRevolution in Zorn und Traurigkeit versetzte; nie konnte er derselben ohne Galle gedenken. Bald kam der Aufstand Polens, allen süßen Träumen Hegels den Rest gebend. Ihm schien es nämlich, die Menschheit hätte schon nichts weiter zu tun, als nur die Glückseligkeit des Daseins zu genießen, welches sie in den Formen der französischen Monarchie, des russischen und österreichischen Kaiserreichs errungen hat, deren Muster aber und Typus die preußische Monarchie war. Es haben also weder Hegel noch Trentowski eine Entdeckung, eine Neuerung in der Politik gemacht; sie denken nicht einmal daran, daß die deutschen Staaten das Bißchen Freiheit, welches sie genießen, Frankreich und zum Teil Polen schuldig sind. Der gegenwärtige Zustand der Dinge vieler dieser Reiche wurde nach dem Sturz Napoleons und größtenTeils nach dem Muster der französischen Konstitution eingeführt. Der französische Codex civil wirkte ebenfalls stark auf die Gesetzgebung der deutschen Länder ein, namentlich der Provinzen, die zu Preußen gehören. Daß aber in diesen Veränderungen sich etwas wahrhaft Deutsches vorfände, daß der Fortschritt deutscher Philosophie zur Änderung der Lage Deutschlands in irgend etwas beigetragen hätte, ist durchaus nicht zu bemerken. die der Freiheit des Privatrechts angelegt ist, zu welcher entweder der politische Sinn hinzutreten muß oder die ihrer Auflösung entgegengeht.“ 398 Vgl. „Charte Constitutionelle“. Verfassung des Königreichs Frankreich vom 4. Juni 1814 mehrfach durch (einfaches) Gesetz geändert; durch die „Erklärung der Deputiertenkammer, die Erledigung des französischen Thrones und die Abänderungen in der Verfassungsurkunde betreffend“ vom 7. August 1830 (am selben Tage neu bekannt gemacht). Die Verfassung wurde im Laufe der Julirevolution 1830 dahin gehend geändert, dass das Parlament gestärkt und die Exekutive geschwächt wurde. [http://www.verfassungen.eu]. 399 „und die Juli-Revolution sah er nur mit ängstlichen Vorahnungen und mißmutigen Rückblicken sich vollenden.“ – C.L.  Michelet: Entwickelungsgeschichte der neuesten Deutschen Philosophie, op. cit., S. 224.

1260

Teil III

Die Anstrengung Trentowskis, die Systeme Hegels und Schellings in eins zu verschmelzen, ist, unserer Ansicht gemäß, eine vollkommen eitle und nutzlose Arbeit; ebenso werden auch die Bemühungen der Berliner Philosophen, die wir später betrachten wollen, zu nichts führen und mit nichts enden. Trentowski fühlt das Falsche, die Leerheit ebenso bei den Idealisten wie bei den Materialisten; er möchte gern die Philosophie höher erheben, sie populär machen, doch weiß er nicht, worin das lebenskräftige Element derselben liegt. Er weiß es nicht, daß, um die Menschen zur Eintracht zu führen, es nicht genügend ist, ihnen etwas vorzuphilosophieren, sondern daß man ihnen eine höhere Kraft zeigen muß, die zugleich ihren Geist fortreißt und die Vernunft überzeugt; daß es nicht genügt, Bücher zu schreiben und Systeme zu veröffentlichen, sondern daß man die Wahrhaftigkeit dieser Systeme durch die Kraft, durch das Leben beweisen muß.400 Erinnern wollen wir an dieser Stelle, wie diese Frage in der „Un-göttliche Komödie“ entschieden wird. Die beiden feindlichen Systeme, verkörpert in zwei Männern, reiben sich dort an einander. Der Vergegenwärtiger der Idealisten und der Verteidiger des Materialismus kämpfen bis zum Niedersinken. Der Dichter gibt aber für die Beendigung des Kampfes keine neue Formel an, sondern er führt ein Zeichen, das am Himmel erscheint, ein. Ein ähnliches Beispiel besitzen wir auch in der Geschichte. Während des Bürgerkrieges in der Schweiz, als zwei Parteien, die eine unter Anführung der Berner Aristokratie das System des Materialismus, wie Trentowski sagen würde, aufrecht haltend, die andere unter der Fahne der Republikaner des Waadtlandes die Idealisten vorstellend, schon auf dem Punkt standen, auf einander loszustürzen, als die Führer schon das Zeichen des Kampfes gegeben hatten: erschien plötzlich unter ihnen der unverhoffte Vermittler, welchen die Historiker deus ex machina nennen, und mit einem Wort entwaffnete er alle. Es war dieses der Bote mit einem Tagesbefehle von Napoleon. Der erste Konsul redete die Schweizer so an: „Helvetier! Drei Jahre lang verhandelt ihr miteinander, ohne in irgendetwas euch verständigen zu können; ihr werdet euch weitere drei Jahre lang totschlagen, ohne euch besser zu verständigen. Bei eurem Unglück kann und darf ich nicht gefühllos bleiben; ich werde euer Vermittler sein.“401 Dieses Wort reichte aus. Auf diese Weise nur schlichten sich 400 Über das zunächst freundschftliche und dann kritische Verhältnis zwischen Mickiewicz und Trentowski vgl. Andrzej Walicki: Filozofia narodowa Bronisława Trentowskiego a mesjanizm Mickiewiczowski. In: A.  Walicki: Filozofia a mesjanizm. Warszawa 1970, S.  89–166; Małgorzata Turczyn: Bronisław Trentowski a Mickiewicz – zarys rozważań. In: W cieniu Mickiewicza. Hrsg. Jacek Lyszczyna und Magdalena Bąk. Katowice 2006, S. 265–280. 401 Zitat nicht ermittelt.

21. Vorlesung (2. Juni 1843)

1261

die Streitigkeiten; es muß aber derjenige, der sich zum Vermittler stellt, zuvor die Beweise seiner größeren Erhabenheit an den Tag gelegt haben. Die deutschen Philosophen sehen nicht, daß der Kampf längst schon aus dem Bereich der Bücher und Schulen hinausgegangen ist; daß dasjenige, worauf die deutsche Philosophie erst jetzt verfällt, bereits ganze Völker, namentlich die Franzosen und die Slaven, seit Jahrhunderten ohne Unterlaß realisieren; daß man nunmehr, um dem Kampf der Gemüter ein Ende zu machen, das Werk der Verwirklichung, begonnen durch die politischen Völker, vorwärts zu rücken habe.

22. Vorlesung (6. Juni 1843) Philosophische Anarchie – Fragen der Religion – Philosophische Schulen in der Hegelnachfolge – Cieszkowskis Konzeption.

Wie es schon eine in der Geschichte nachgewiesene Tatsache ist, daß Frankreich nicht anders als durch Polen einen ernstlichen Krieg im Norden unternommen, oder ein wichtigeres Bündnis mit demselben eingegangen, so scheint es auch im Bereiche des Wissens, als würde die im Norden stattfindende philosophische Bewegung Frankreich nicht anders wirklich berühren, als bis sie erst Polen wirklich durchdrungen hat. Deshalb können die Schriften der Polen über die deutsche Philosophie den Franzosen sehr zu statten kommen. Schade, daß Trentowskis Werke nicht ins Französische übersetzt worden sind; er faßt in einer kurzen Übersicht die Resultate der Arbeiten vieler deutschen Schulen der Philosophie sehr klar zusammen. Was aber eine bei weitem wichtigere Sache für diejenigen wäre, die sich mit Philosophie befassen, das ist das Studium der Schriften Cieszkowskis, um zu sehen, welche Stellung in Deutschland dieser mächtige und, unserer Meinung nach, der einzige Geist, welchem eine große, philosophische Laufbahn offen steht, eingenommen hat. Wir müssen uns wiederum nach den nördlichen Gegenden, nach Preußen, versitzen und einen Blick auf den gegenwärtigen Zustand des Streites unter den Philosophen werfen, die sogenannte philosophische Anarchie betrachten. Hegel vermied mit großer Angst die religiösen Fragen. „Interessant würde es sein“, sagte er im angeführten Brief [1807], „wenn der Punkt der Religion zur Sprache käme; und am Ende könnte es wohl dazu kommen. Vaterland, Fürsten, Verfassung usw. scheinen nicht der Hebel zu sein, das Deutsche Volk emporzubringen; es ist die Frage, was erfolgte, wenn die Religion berührt würde. Ohne Zweifel wäre nichts so zu fürchten, als dies.“402

Ehe er jedoch noch von dieser Welt Abschied nahm, berührte schon die auf sein System sich stützende Schule, einige seiner eignen Behauptungen entwickelnd, die Religion. Einerseits brachten die Theologen, andererseits die Politiker diese Bewegung zu Stande, welche bald allgemein wurde. Von einem Punkt zum anderen gehend, bemerkte man endlich, daß der Mittelpunkt aller dieser Fragen, Gott und die Unsterblichkeit der Seele, das ewige Rätsel sei. Diese Geheimnisse, sorgfältig in philosophische Formel gewickelt und von 402 C.L.  Michelet: Entwickelungsgeschichte der neuesten Deutschen Philosophie, op. cit., S. 226.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_097

22. Vorlesung (6. Juni 1843)

1263

ihnen immer mit Angst vermieden, sind heute zum allgemeinen Gegenstand der öffentlichen Diskussionen geworden. Diejenigen, welche noch an Gott und die Unsterblichkeit der Seele403 glauben, welche dieses Dogma nicht für sich selbst (wir kennen keinen einzigen Philosophen, der an diese Sachen wirklich glaubt), aber wenigstens für das Volk bewahren möchten, nennen sich Konservative und teilen sich in Legitimisten und reine Konservative, welche Gott aufrecht erhalten wollen. Hineingezogen in die Reaktion sind sie durch solche Schulen wie die Schlegelsche, und man wirft ihnen sogar Umtriebe gegen die philosophische Freiheit vor. Diejenigen, welche das Hegelsche System weiter führen, es vor jeder Realisation schützen, sich sehr in Acht nehmen, das Feld der Theologie und Politik zu betreten, werden betrachtet, als stellten sie die Mitte, das Zentrum der philosophischen Kammer vor und teilen sich wiederum in die rechte Mitte und die linke Mitte. Der Repräsentant der rechten Mitte ist der Berliner Michelet.404 Selbst diese Darstellung der Parteien geben wir nach seinem Werk.405 Marheinecke406 und viele andere, weniger angesehene Professoren, am meisten aber Michelet selbst, geben sich für die Partei aus, welche der Partei Passy-Dufaure407 in der französischen Deputiertenkammer entspricht. Alle oben erwähnten Parteien nehmen Hegel für ihre Charte an; es gibt aber noch eine außerparlamentarische Partei, die selbst die äußerste Linke (l’extrême gauche), von Strauß408 vergegenwärtigt, überholt, eine Partei der 403 Vgl. Carl Ludwig Michelet: Vorlesungen über die Persönlichkeit Gottes und die Unsterblichkeit der Seele oder die ewige Persönlichkeit des Geistes: Gehalten an der FriedrichWilhelms-Universität zu Berlin 1840. Berlin 1841 (Reprint: Bruxelles 1968). – August Cieszkowski: Gott und Palingenese. Erstes kritisches Sendeschreiben an den Herrn Professor Michelet. Auf Veranlassung seiner Vorlesungen über die Persönlichkeit Gottes und Unsterblichkeit der Seele. Berlin 1842. 404 C.L.  Michelet: Hegel, der unwiderlegte Weltphilosoph: eine Jubelschrift. Leipzig 1870 (Neudruck: Aalen 1983); vgl. Matthias Moser: Hegels Schüler  C.L.  Michelet. Recht und Geschichte jenseits der Schulteilung. Berlin 2003. 405 Vgl. C.F. Michelet, op. cit., S. 307–400; vgl. auch 18. Vorlesung (Teil III). 406 Philipp Konrad Marheinecke (1793–1880); Philipp Konrad Marheineke: Einleitung in die öffentlichen Vorlesungen über die Bedeutung der Hegelschen Philosophie in der christlichen Theologie: nebst einem Separatvotum über Bruno Bauers Kritik der evangelischen Geschichte. Berlin 1842 (Nachdruck: Frankfurt am Main 1983); vgl. Albrecht Titus Wolff: Spekulative Ekklesiologie: das Verständnis der Kirche in der Dogmatik von Philipp Konrad Marheineke. Frankfurt am Main-Berlin; Bern-New York-Paris-Wien 1998. 407 Hippolyte Passy (1793–1880), französischer Ökonom und Politiker; Jules Dufaure (1798– 1781), französischer Politiker; beide werden von C.L. Michelet als liberale Konservative mit der rechten Mitte der Hegelianer verglichen. – C.F. Michelet, op. cit., S. 318–319. 408 David Friedrich Strauß (1808–1874). D.F. Strauß: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. 2 Bde., Tübingen 1835–1836; D.F. Strauß: Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen

1264

Teil III

Terroristen, welche mit den Philosophen aufs Reine kommen und ihre Doktrinen kurz ausdrücken will. „Gesteht es doch offen ein“, redet diese Partei die Hegelianer an, „daß ihr weder an Gott, noch an die Unsterblichkeit der Seele glaubt, daß ihr Atheisten seid. Warum denn nur so viel Umschweife? Es ist ja an der Zeit, mit der Kirche zu enden, die Kirche samt der Theologie und allen diesen veralteten Erfindungen fortzuwerfen.“409

Diese Partei repräsentieren Bruno Bauer und Ludwig Feuerbach.410 Über diese Ungeduld darf man sich nicht wundern, sobald man die Flachheit, die Untauglichkeit und den Stumpfsinn der Mitte gewahr wird. Wir sagten, daß es Sitte der vorhergegangenen protestantischen Doktoren gewesen ist, die Verehrung Gottes dem Volk anzupreisen, selbst aber im Stillen darüber zu lachen; die neuen Philosophen sind aufrichtiger, religiöser, wenngleich sie auch nicht glauben, wie z. B.  Schleiermacher411, welcher nicht nur nicht an die Authentizität des Evangeliums, sondern selbst nicht einmal daran glaubt, daß Christus der Herr auf Erden war. Diese Frage ist für ihn nur eine untergeordnete, geschichtliche, gar nicht notwendige Frage. Doch aber folgert er die Nützlichkeit der religiösen Feiertage logisch heraus und möchte sie gern für das Volk aufbewahren; er gibt den Rat, den Geburtstag des Herrn und noch ein anderes Fest, vielleicht Ostern, zu feiern. Er sagt, daß am Geburtstag des Heilandes das Volk über die Erwachung des religiösen Lebens im Menschen nachdenken würde, was gleichsam eine Fleischwerdung, eine Offenbarung Gottes Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft dargestellt. TübingenStuttgart 1840–1841. Vgl. C.L. Michelet, op. cit., S. 389–392. 409 Zitat nicht ermittelt. 410 Bruno Bauer (1809–1882); B. Bauer: Die Posaune des Jüngsten Gerichts über Hegel den Atheisten und Antichristen. Ein Ultimatum. Leipzig 1841; vgl. den Sammelband – Bruno Bauer: (1809–1882); ein „Partisan des Weltgeistes“? Hrsg. von Klaus-M. Kodalle und Tilman Reitz. Würzburg 2010. Ludwig Feuerbach (1804–1872) – Grundsätze der Philosophie der Zukunft, Zürich und Winterthur 1843 (Kritische Ausgabe, Frankfurt am Main 1983, 3. Auflage); Josef Rattner und Gerhard Danzer: Die Junghegelianer. Portät einer progressiven Intellektuellengruppe. Würzburg 2005. 411 F. Schleiermacher entwickelte 1817 die sog. „Fragmentenhypothese“ (Diegesen-Hypothese), die im Unterschied zur Urevangeliumshypothese (G.E. Lessing) und der Traditionshypothese (J.G. von Herder, Johann Carl Ludwig Gieseler) davon ausgeht, daß die Evangelien aus einer großen Zahl ursprünglich selbständiger kleiner Sammlungen von Einzelgeschichten zusammengestellt worden sind. – Vgl. Friedrich Schleiermacher: Sämmtliche Werke. Abteilung I, Bd. 2: Über die Schriften des Lucas und andere theologische Schriften. Berlin 1836; Abteilung II, Bd. 5: Predigten über das Evangelium Marci und den Brief Pauli an die Kolosser. Erster Theil. Berlin 1835; Bd. 6, Predigten über das Evangelium Marci und den Brief Pauli an die Kolosser. Zweiter Theil. Berlin 1835.

22. Vorlesung (6. Juni 1843)

1265

ist, und bietet noch andere ähnliche Sachen der Betrachtung dar.412 Es würde dies ganz und gar damit Ähnlichkeit haben, wenn man während des Einzugs der Überreste Napoleons in Paris dem Volk gesagt hätte, daß die Leiche des Kaisers sich gar nicht in dem triumphartig gezogenen Sarg befände, daß es sogar zweifelhaft sei, ob er irgend einmal gelebt habe. Nun fragen wir, ob auch das Volk alsdann zum Begräbnis zusammengekommen, ob es dem Zug gefolgt wäre? Und doch stellen die sogenannten religiösen Philosophen nicht anders die sakramentalen Zeremonien dar. Wir sahen, wie unverschämt Trentowski prahlte, daß er den Warschauer Studenten die makellose Empfängnis klar und verständlich machen würde.413 Man muß es daher verzeihen, wenn Bruno Bauer414 und seine Schüler zynisch genug sind zu sagen, daß es für sie nur zwei Sakramente gibt: die Taufe, d. h. ein kaltes Bad, und das heilige Abendmahl, d. h. ein Stück Fleisch mit einem Krug Bier; denn die geistige Philosophie der Deutschen drückt sich jetzt bereits in dieser Sprache aus. Inmitten dieser Parteien, inmitten dieser philosophischen Kammer (weil sich die Deutschen im Parlamentspielen gar sehr gefallen und sich mit immer neuen Namen der französischen Parteien in der Deputiertenkammer beschenken) hat Cieszkowski Lamartins415 Rolle für sich angenommen. Selbst seine Gegner erkennen ihm diese Stellung zu. Zuerst gab er bloß seine „Historiosophie“416 heraus, in welcher er jedoch schon die Geschichte auf eine andere als Hegelsche Art betrachtet; später veröffentlichte er ein 412 Mickiewicz referiert hier C.L.  Michelet, op. cit., S.  97–98 (über Schleiermacher); vgl. F.  Schleiermacher: Über die Religion. Rede an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799). Stuttgart 2010; F.  Schleiermacher: Die Weihnachtsfeier. Ein Gespräch (1806). Zürich 1989. 413 Wenn ich damals das wäre, was ich heute bin, und hätte mir man den Lehrstuhl für Philosophie gegeben […] Ich hätte alles bewiesen, sogar die Jungfräulichkeit Marias!“ – B.F. Trentowski: Chowanna, czyli system pedagogiki narodowej jako umiejetności wychowania, nauki i oświaty, słowem wykształcenia naszej młodzieży. Poznań 1842, Band II, S. 629; vgl. 21. Vorlesung (Teil III)). 414 Bruno Bauer: Kritik der evangelischen Geschichte der Synoptiker.  2 Bde., Leipzig 1841; Bd. 2, § 13 Die Taufe Jesu. 415 „Wie etwa Lamartine, welcher bis jetzt, d. h. so lange er nicht auf einen anderen Platz gelangt, auf der äußersten Rechten sitzt, und zu den Konservativen gezählt wird, diese Benennung aber keinesweges in stationärer, geschweige denn in rückgängiger Bedeutung anzunehmen gesonnen ist, so nehme ich gleichfalls einstweilen meinen Platz in philosophischer Hinsicht auf der rechten Seite, und bin bereit, in der vollen und progressiven Bedeutung des Wortes ein Konservativer zu heißen.“ – August Cieszkowski: Gott und Palingenese. Erster, kritischer Teil. Erstes kritisches Sendeschreiben an den Herrn Professor Michelet. Auf Veranlassung seiner Vorlesungen über die Persönlichkeit Gottes und Unsterblichkeit der Seele. Berlin 1842, S. 11. 416 August von Cieszkowski: Prolegomena zur Historiosophie (1838). Mit einer Einleitung von Rüdiger Bubner und einem Anhang von Jan Garewicz. Hamburg 1981.

1266

Teil III

Sendeschreiben in Gestalt eines Briefes an den Berliner Michelet.417 Dieses Sendeschreiben wird als eine Kriegserklärung an alle Philosophen betrachtet. Scheinbar gibt es in demselben nichts Angreifendes, es ist bescheiden wie ein ministerielles Programm abgefaßt. Cieszkowski erklärt sich, parlamentarisch zu sein; er akzeptiert die Charte Hegels, ist folglich dynastisch. Dabei läßt er jedoch sehr kühne Vorschläge blicken; er streut hier und da Worte aus, die augenscheinlich sehr überdacht und nicht ohne gewisse Absicht sind, deren Bedeutung die deutschen Philosophen noch nicht zu bemerken scheinen. Endlich, wenngleich er sich bis jetzt nur als Kritiker hat vernehmen lassen, kündigt er ein dogmatisches Werk an, welches die Auseinandersetzung seiner Begriffe enthalten soll. Aus dem bekannt gewordenen Schriftchen kann man schon sein Streben erraten und, sobald er in demselben ausdauert, große Resultate versprechen. Sich der von den Deutschen sogenannten spekulativen Sprache bedienend, welche in Auseinandersetzungen ähnlicher Art durchaus erforderlich ist, wirft er der deutschen Philosophie vor, daß sie bis jetzt nicht im Stande gewesen ist, die Individualität, Subjektivität und Persönlichkeit zu verstehen, folglich auch nicht fähig war, Gott und die Unsterblichkeit der Seele zu begreifen. Erstlich muß man es Cieszkowski Dank wissen, daß er gleich von Anbeginn das Zentrum der Frage trifft, daß er von Gott und der Seele angefangen hat. Ihr begreift, sagt er zu den Philosophen, die Allgemeinheit als die ideale Seite und die Besonderheit als die materielle Seite der Dinge und wollt aus ihnen die Einheit zusammensetzen. Euch zufolge stellt sich jeder einzelne Gegenstand, der Baum, das Tier, als der allgemeine Begriff des Baumes, des Tieres dar. Sehe ich diesen Gegenstand vor mir stehen, so erkenne ich ihn, weil ich an ihm die Merkmale gewahr werde, welche dieser oder jener Gattung organischer Wesen zukommen. Die Einheit ist folglich bei euch nur der Behälter, der Herd, in welchem sich die Allgemeinheit abspiegelt; durch sich selbst hat sie kein wirkliches Dasein, oder vielmehr, es bleibt immer ihre besondere Einheit von der Allgemeinheit verschlungen. Dies ist der alte Streit der Nominalisten und Realisten.418 Nicht im mindesten rückt ihr in der Bezeichnung der Einheit 417 August Cieszkowski: Gott und Palingenese, op. cit.; Bezug – Carl Ludwig Michelet: Vorlesungen über die Persönlichkeit Gottes und die Unsterblichkeit der Seele oder die ewige Persönlichkeit des Geistes: Gehalten an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin 1840. Berlin 1841 (Reprint: Bruxelles 1968). 418 „Was diesen Gegensatz besonders anbetrifft, so wiederhole ich, daß er bis jetzt nichts weniger als geschlichtet ist, und daß er für die Gegenwart eine sehr große Bedeutung hat. Dieser Gegensatz ist eben der, durch welchen die mittelaltrige Philosophie so sehr über die des Altertums emporragt und in die neuere eingreift.“ – A.  Cieszkowski: Gott und Palingenese, op. cit., S. 29 (Fußnote). Vgl. auch – Texte zum Universalienstreit. Hrsg.

22. Vorlesung (6. Juni 1843)

1267

auf diese Weise vorwärts; ihr gebt bloß die allgemeine Vorstellung, die sich in eurem Begriff vorfindet, und die Vorstellung des Gegenstandes, der vor euren Augen steht, bildet aber keineswegs die Vorstellung von dem selbstständigen und wirklichen Wesen. Mit diesem System weitergehend, habt ihr es Gott und der Seele angepaßt, was zur Folge hat, daß sich Gott und die Seele immer in Idealität und Realität trennen, und die Philosophie in ihnen nicht die Selbständigkeit und das Leben begreifen kann.419 Cieszkowski bemüht sich daher, zuerst die Vorstellung von der Individualität, dann von der Subjektivität und Persönlichkeit aufzustellen.420 Wir werden hier nicht die ganze Reihe seiner Vernunftfolgerungen durchgehen, und selbst die letzten Resultate derselben erzählen wir lieber in anderen Worten als der Philosoph, weil sie uns seine Gedanken klarer auszudrücken scheinen. Unseren Philosophen zufolge erscheint also die Individualität in ihrer niedrigsten Stufe als organisches Wesen; dies ist schon eine Offenbarung des Geistes. Das organische Wesen wird zusammengesetzt aus dem Geist und der Materie, die sich einander das Gleichgewicht halten. Der Geist strebt, die Materie zu überwältigen, vermöge seiner Kraft erhält er ihre Ganzheit; allein die Materie gewinnt über den Geist die Oberhand und alsdann stirbt das Individuum, es verkommt. Wir haben also hier die Vorstellung des selbständigen Lebens, welches die Offenbarung des Geistes in der Materie ist. Von diesem Leben niedrigen Grades, von dieser von Cieszkowski sogenannten Individualität höher steigend, treffen wir die Persönlichkeit, den Menschen, an. Cieszkowski spricht über den Menschen nicht, er stellt bloß die Formel auf, man kann sie jedoch durch das Wort Mensch ersetzen. Zwischen der Individualität und der Persönlichkeit waltet der Unterschied ob, daß Hans-Ulrich Wöhler. 2 Bde., Berlin 1992; Alain de Libera: Der Universalienstreit. Von Platon bis zum Ende des Mittelalters. München 2005. 419 Der ganze Absatz ist eine Zusammenfassung des Abschnitts (§ 4 – Logisch-metaphysische Erörterungen) aus A. Cieszkowski: Gott und Palingenese, op, cit., S. 20–32 (Auseinandersetzung mit C.L. Michelets Vorlesungen über die Persönlichkeit Gottes und die Untersblichkeit der Seele, op. cit.); kann als Zitat nicht markiert werden. 420 „Die Individualität also ist das Natürliche, Gleichgültige, Nebeneinanderbestehende, Spröde, Zufällige, Beschränkte, das einzelnste Einzelne, das mit der Materialität nicht nur behaftete, sondern ihr selbst unterliegende, also an sich geistig Seiende, wodurch eben diese niedrigste Stufe de Geistes mit der höchsten Natur zusammenfällt. […] Die Subjektivität ist aber das Erwachtsein, das Zu-sich-gekommene, das Reflektierte in sich, aber eben dadurch Gebrochene und Zerspaltene, das im Ich sich seiende, aber sich damit sogleich ein Nicht-Ich, und dann ein Du Setzende […] überhaupt das innerlich denkende Geistige. […] Die Persönlichkeit aber schließt beide in sich ein und schwingt die vorhergehenden Einseitigkeiten zu einer höheren konkreten Gestalt empor. […] Die Persönlichkeit ist das vom Ansich, durch das Fürsich, zum Aussich fortschreitende, und sich selbst entwickelnde Tun des Geistes.“ – A. Cieszkowski: Gott und Palingenese, op. cit., S. 40–42.

1268

Teil III

sich in letzterer schon das Bewußtsein seiner selbst vorfindet. Das organische Wesen hat seinen Mittelherd, kann ihn jedoch nicht finden, es weiß nicht, wo derselbe liegt; der Mensch hat das Bewußtsein seiner selbst, seiner Mitte. So ist also die Philosophie der Deutschen nicht weiter gekommen, als nur bis zu der Anerkennung des Gewissens; sie betrachtet dieses Gewissen als die allerhöchste, als die göttliche Tätigkeit im Menschen. Wir sahen früher, daß, dieser Philosophie gemäß, Gott von sich nichts weiß, sich erst erkennt, indem er sich in dem menschlichen Gedanken erblickt. Cieszkowski deckt den deutschen Philosophen421 ihren ungeheueren Irrtum sehr gut auf, ihnen beweisend, daß sie Gott und das All (die Ganzheit) nicht begreifen, daß sie nur die Allgemeinheit, d. h. eine Seite Gottes, gleichsam die niedrigste Stuft, verstanden haben. Der allgemeine Gedanke, sagt er, hat kein Bewußtsein seiner selbst; er spiegelt sich in dem Gedanken eines jeden Menschen ab. Das in den organischen Wesen verbreitete Leben bildet keine präzise Individualität, es spiegelt sich in jedem Individuum ab. Es gibt aber etwas Höheres als dieses organische Leben, etwas Erhabeneres als diesen allgemeinen Gedanken. Der Gedanke ist, streng gesprochen, nicht unser eignes Erzeugnis, nicht die Frucht unserer eignen geistigen Arbeit. Es spiegelt sich in demselben ebenso, wie in der Sehkraft, die Außenwelt ab; die Sehkraft ist aber ebenfalls nicht unser eignes Erzeugnis. Sie hängt von der Tätigkeit des Lichtes und des Geistes ab. Schließen wir die Augen, so hören wir auf zu sehen, es sehen aber andere; ebenso, wenn wir zu denken aufhören, denken andere für uns, und der Gedanke dauert, ohne Unterlaß in den Menschen herumkreisend, fort; die Sonne ist er jedoch nicht.422 Was die deutschen Philosophen in den Irrtum brachte, war jene kühne Aussage Herders, daß ein Mensch Gott nicht begreifen könne, es begriffen ihn aber alle Menschen zusammengenommen.423 Hierin besteht das Falsche, denn Herder hätte sagen sollen: die Allgemeinheit aller Geschöpfe, nicht aber alle Menschen. 421 Gemeint ist Karl Friedrich Göschel (1784–1862), Hegelianer auf dem „rechten Flügel“; vgl. K.F. Göschel: Von den Beweisen für die Unsterblichkeit der menschlichen Seele im Lichte der speculativen Philosophie“. Berlin 1835; dazu Cieszkowski: „Was ist das für ein Beweis? Wenn es auch Göscheln gefallen hat, Gott das Bewußtsein so cavalièrement abzusprechen, was geht dies uns an? Wir könnten ihm allenfalls nur Glück wünschen (obgleich es bei ihmkeineswegs so arg gemeint ist); und müßten uns angelegen sein lassen, das Bewußtsein Gottes zu restituieren.“ – A. Cieszkowski: Gott und Palingenese, op. cit., S. 73. 422 Der ganze Absatz ist eine Zusammenfassung des § 7 (Sterblichkeit der Individualität und Subjektivität des Geistes) aus – A. Cieszkowski: Gott und Palingenese, op. cit., S.42–47; kann als Zitat nicht markiert werden. 423 Zitat nicht ermittelt. Vermutlich in – J.G. Herder: Gott. Einige Gespräche über Spinozas System nebst Shaftesburys Naturrhythmus. Gotha 1787.

22. Vorlesung (6. Juni 1843)

1269

Daher setzen auch die Deutschen Gott immer nur in den menschlichen Gedanken, wogegen Cieszkowski sich erhebt, indem er sagt, daß nicht der Gedanke, nicht das Erkennen der Dinge die allerhöchste Sache im Menschen sei. Hier beschwert er sich selbst über die Schwierigkeit, seine Begriffe auszudrücken, weil er kein gänzlich entsprechendes Wort für dieselben finden kann. Die deutschen Wörter Geist, Hauch, Wind, das lateinische spiritus scheinen ihm entweder gar zu sehr materiell oder geistig zu sein; er mochte lieber das pneuma424, aer, die Luft, das Ausatmen nehmen, was zu gleicher Zeit eine organische und auch eine geistige Tätigkeit ausdrückt. Gelangt man schon bis zu diesem Punkt, so wird es einem wahrhaft leichter zu Mute. Wir sehen, daß Cieszkowski gefunden hat, worin die Hauptverwickelung besteht; er hat den Knäuel der ganzen Aufgabe erfaßt. Er fühlt, wie viel es hier auf den Ausdruck ankommt, wie von dem Begriff des Geistes die ganze Philosophie abhängt. Warum bemerkte er es nicht, daß unser slavischer Ausdruck „duch“ ihm am besten entsprechen würde? Duch ist ein Wort, welches allen geforderten Bedingungen entspricht, und früher oder später wird die Philosophie gezwungen sein, dasselbe zu adoptieren; denn die bis dahin angewandten Wörter sind entweder gemißbraucht worden, sie sind verflacht, oder sie haben ihre Bedeutung verändert. Es geht den Wörtern wie den Titeln, welche, lange Zeit geachtet und achtungswert, zuweilen lächerlich werden und sich verflachen, selbst in dem Maße, daß ein Volk für seine Ehrenwürden ausländische Titel leihen muß. Hätte Cieszkowski das Wort duch angewendet, er hätte gleich auf einmal die ganze Frage entwickelt; doch besitzt er den tiefen Begriff der Sache selbst. Duch ist weder der Geist, noch das Selbstbewußtsein, sondern die um einen Grad höher entwickelte Persönlichkeit. Das organische Wesen besteht in sich selbst, der Geist durch sich selbst, der geistige Mensch aus sich selbst; derjenige, welcher in sich den Geist gefühlt hat und schon ein geistiges Leben beginnt, besteht für sich selbst, durch sich selbst und aus sich selbst. Die Formel aus sich selbst, zum ersten Mal von Cieszkowski angewandt, ist äußerst wichtig; der Geist schöpft die ganze Kraft aus sich selbst.425 Alsdann aber, und dieses 424 „Die neueren Sprachen haben mit diesem Ausdruck eine zu große Dosis Idealität verbunden, während das griechische πνεῦμα eben diese tiefe und spekulative Vereinigung des Ideellen mit dem Materiellen besitzt (Geist, Wind, Luft, Hauch, Spiritus, flatus), womit auch die Bewegung, die Aktivität angedeutet ist.“ – A. Cieszkowski: Gott und Palingenese, op. cit., S. 32–33. 425 „Der Geist hat die Natur weder außer sich, noch sich nur gegenüber, sondern in sich, er ist deren Grund, Wahrheit, Tätigkeit. Darum ist sein Verhältnis zu ihr kein antithetisches, sondern synthetisches. Ohne Natur, ohne Materie, ohne Leiblichkeit gibt es keinen Geist. […] Der Geist ist also Selbsttätigkeit, nicht aber die Tätigkeit selbst. Die reine Tätigkeit,

1270

Teil III

hätte Cieszkowski klarer entwickeln sollen, sind die Materie oder die äußeren Individualitäten, das Denken oder der allgemeine Gedanke nur die Mittel für ihn; er erhebt sich, ergießt sich, erkennt sich und begreift die ganze Natur. Der Geist ist nicht geschaffen, um mit der Materie zu kämpfen, wie dies Fichte meint; um sich mit der Natur in irgend einem vagen Absoluten zu verschmelzen, wie dies Schelling behauptet; auch nicht, um in seiner Vernunftlogik mit dem Zusammenhang, welcher zwischen der Natur und dem Gedanken obwaltet, zu spielen: sondern er ist geschaffen, um sich Gott zu nähern, sich zu erheben und auf dieser Bahn zu wachsen, vorwärts zu gehen. Cieszkowskis Definition des Geistes ist vorzüglich und schließt den Keim eines ganzen Systems in sich. Daher kehrt er auch, nachdem er zuvor bewiesen, daß die Unsterblichkeit, wie sie die Berliner Philosophen begreifen, ein Unsinn sei, daß eine solche gar nicht bestehe, zu seinem Hauptsatz zurück und folgert dieselbe auf eine andere Weise heraus. Ihr gebt uns, sagt er, viele Arten der Unsterblichkeit426, die aber alle nichts taugen. Zuvörderst Eure Unsterblichkeit des Leibes, welcher, sich zersetzend, in andere Körper übergeht, ist keine Unsterblichkeit, weil hier die Einheit zu Grunde geht; der Leib selbst schwindet zu gleicher Zeit mit derselben. Was bedeutet ferner wohl Eure Unsterblichkeit des Gedankens? Im Schlaf verlieren wir öfters das Bewußtsein unserer selbst, und warum sollten wir dasselbe nicht umso mehr sterbend verlieren können? Dieser Gedanke wird in den allgemeinern Gedanken verschlungen. Sollte er noch von dort einst vergrößert und vervollkommnet auf Erden zurückkehren, so wäre dies allerdings etwas; da er aber für immer in diesen allgemeinen Abgrund versinken soll, was folgt für uns daraus? Die Unsterblichkeit Cäsars und Napoleons, sich bloß in ihren Memoiren erhaltend, würde gewiß niemand anziehen. Die Unsterblichkeit der Bildsäulen, der Trost großer Männer, daß sie in den Brustbildern aus Marmor und Bronze auf Erden bleiben werden, ist desgleichen eitel und leer. Die Unsterblichkeit der Taten, der durch uns bewirkte Einfluß auf das Andenken, die Vorstellungen und die Handlungen anderer Menschen ist nicht unsere eigene, persönliche das ist eben nur das Allgemeine, das metaphysische Tun, nicht aber das konkrete Selbst, welches an und für sich wird und aus sich wirklich wirkt. Die Selbsttätigkeit ist wohl der Begriff, die Bestimmung, der Zweck des Geistes.“– A. Cieszkowski: Gott und Palingenese, op. cit., S. 32, 36. 426 Auf C.L. Michelet „Vorlesungen“ bezogen – „Die erste Unsterblichkeit ist die des Andenkens, des Ruhms, überhaupt des geistigen Eindruckes, den der abgeschiedene Geist zurückläßt. […] Ihre zweite Unsterblichkeit ist die des Gedankens, der Idee, überhaupt der Tätigkeit des Geistes. […]“ – und schließlich die dritte Kategorie: ideale Ewigkeit: „Sie definieren die wahre Ewigkeit als das Bewußtsein des Entsprechens von Realität und Begriff. Aber merken Sie denn nicht, daß dies eine formale und nur logische Definition ist?“ – A. Cieszkowski: Gott und Palingenese, op. cit., S. 100–103.

22. Vorlesung (6. Juni 1843)

1271

Unsterblichkeit. Ich überlasse euch daher alles flache Land der Individualität des Gedankens und ziehe mich zur Verteidigung der Persönlichkeit in die Feste zurück, aus welcher man dieses ganze Land wieder erobern kann.427 Der menschliche Geist, im Körper und auf andere Körper wirkend, entwickelt sich selbst und die äußere Natur. Jede Frucht seiner Arbeit bleibt für ihn, nicht als etwas in seinem Gedanken Niedergelegtes, sondern als etwas, das sein ganzes Wesen durchdrungen (imprägniert) hat. Was der Mensch nur irgend in moralischer Beziehung auf Erden ausrichtet, das schwindet nicht mit seinem Tod, auch nicht mit dem Tod der Menschen, auf welche er die Wirksamkeit ausgeübt, sondern es bleibt in seinem Geist als die Spur des Durchgangs unter den Menschen und zugleich als Gefühl der schon einmal erprobten Kraft zurück. Das Wesen unserer unsterblichen Einheit ist also die Frucht des Geistes, das, was wir für und durch uns selbst, die ganze Kraft aus uns selbst hervorholend, ausgearbeitet haben. Dieses macht eigentlich das Wesen unseres Geistes und unser Recht zur Unsterblichkeit aus, das uns niemand mehr nehmen kann. Die Männer, welche diesen Grad erstiegen haben, können nicht an ihrer Unsterblichkeit zweifeln, ebenso wie diejenigen, welche marschieren, nicht zweifeln, daß sie die Kraft haben, die Füße zu bewegen. Was der Geist erkennt, was er aus seiner Tiefe schöpft, das kommt weder vom Gedanken, noch von den äußeren Eindrücken her, sondern, wie Cieszkowski es nennt, aus der Intuition.428 Schon längst hat die Philosophie das Bedürfnis gefühlt, dem Wissen eine neue Quelle anzuweisen, wozu weder die Sinne, noch selbst der Gedanke ausreichen. Darum hat auch Schelling seine Anschauung429 oder sein Aufleuchten des Geistes erfunden, was jedoch etwas Unklares, Unbezeichnetes ist; es

427 Der ganze Absatz ist eine paraphrasierende Zusammenfassung von § 7 (Sterblichkeit der Individualität und Subjektivität des Geistes) und § 8 (Unsterblichkeit der Persönlichkeit Gottes) aus A. Cieszkowski: Gott und Palingenese, op. cit., S. 42–47; 47–55; kann als Zitat nicht markiert werden. 428 A. Cieszkowski: Gott und Palingenese, op. cit., S. 53: „Der Mystizismus hat aber seine Wurzel in der tätigen Intuition (welche uns nicht nur ein besserer Ausdruck, sondern auch eine höhere Auffassung der intellektuellen Anschauung zu sein scheint).“ 429 Bei Schelling heißt es: „Fichte verlangte zum Anfang ein unmittelbar Gewisses, das Ich, dessen er sich durch intellektuelle Anschauung als eines unmittelbar Gewisses versichtert glaubte. […] Ich suchte mit Fichte nicht abzubrechen, sondern von Fichte aus zum allgemeinen Begriff der Indifferenz von Subjekt und Objekt den Weg zu finden […]. Versteht man aber darunter eine Anschauung, die dem Inhalt des Subjekt-Objekts entsprechend ist, so kann man von einer intellektuellen Anschauung sprechen, nicht des Subjekts, sondern der Vernunft selbst.“ – F.W.J.  Schelling: Philosophie der Offenbarung (1841/42), op. cit., S. 124–125.

1272

Teil III

will dies noch nichts sagen. Trentowski ersann die Wahrnehmung430, polnisch nennt er sie prawdobranie, das Nehmen der Wahrheit; sie kann eben so gut fehlen wie treffen; eine Gewährleistung ihrer Unfehlbarkeit hat sie in sich nicht, während uns unterdessen die Intuition (intus itio)431 das Mittel, die Wahrheit zu erhalten, zu gleicher Zeil fühlen und auch begreifen läßt; intus itio ist nämlich das Insichgehen. Je tiefer der Mensch in seinem Geist sucht, desto mehr Wahrheit holt er aus demselben hervor, weil er sich um so mehr der Mitte nähert, durch welche er mit Gott in Berührung steht. Zum ersten Male findet sich das Wort Insichgehen, Intuition, in der deutschen Philosophie schon in der spekulativen Sprache angewandt, wenngleich Cieszkowski keine Definition desselben gibt, und, was noch mehr ist, es nicht philosophisch rechtfertigt. Ebenso berührte er nur im Vorbeigehen eine andere, sehr erhabene und fruchtbare Wahrheit. Er sagt, die heidnische Geschichte habe die Menschheit bis zur Entwicklung der Individualität des Menschen (und was wir die Persönlichkeit niederen Grades nennen würden) gebracht, einer Individualität, welche auf dem Sich-Stellen, Setzen und dem Erkennen ihrer Selbstständigkeit beruht; das Christentum entfaltete, indem es den Menschen höher erhob, die von ihm sogenannte Subjektivität (was wir die Persönlichkeit höheren Grades nennen würden, wo der Mensch sich schon als moralisches Wesen erkennt). Bemerkenswert ist, daß Cieszkowski den erhabensten Ausdruck dieses Begriffs im christlichen Märtyrertum darstellt, und obgleich er sagt, derselbe sei nur das Resultat des Gefühls, nicht des Gedankens gewesen (weil ihm der Gedanke noch immer vor Augen steht und mehr als alles gilt), so betrachtet er jedoch das Märtyrertum, d. h. das der Wahrheit dargebrachte Opfer alles dessen, was vergänglich, für den letzten Ausdruck einer Epoche des Christentums. Es handelt sich nun darum, fügt er hinzu, einen Schritt vorwärts zu tun, die Eroberung, den Sieg durch den Geist zu vollbringen; sich für die Wahrheit nicht mehr kreuzigen zu lassen, sondern die Kraft zur Niederkämpfung, Niedertretung der Falschheit hervorzuholen, die Welt dem Geiste durch den Geist und durch die Kraft des Geistes zu erobern.

430 Trentowski: Grundlagen der universellen Philosophie, op. cit., S. 193: „Die Wahrnehmung macht die dritte und letzte Erkenntnisquelle aus, beruht auf der erwachten Selbständigkeit aus, eint in sich die rezeptive Erfahrung mit der spontanen Vernunft, und ist die äußere sowohl, als auch die innere, oder die die volle, lebendige, götliche, ihr Selbstbewußtsein und ihre Selbsterkenntnis erlangende Wahrheit. Ihre Vorläuferin ist die Anschauung.“ 431 Intuitio (mittellateinisch), unmittelbare Anschauung, Eingebung, kommt von „intueri“ – ansehen, betrachten. Vgl. Duden. Deutsches Universalwörterbuch. 7. Auflage. Mannheim 2011.

22. Vorlesung (6. Juni 1843)

1273

Auf diese Art entwirren wir einige in seinen Formeln verwickelte Aussprüche. Er hat demnach das gegenwärtige Streben des christlichen Geistes, welcher sich mit dem Dulden für die Wahrheit allein nicht begnügen kann, begriffen. Noch gibt es andere, nicht minder interessante Aussichten in diesem Schriftchen, deren Entfaltung wir jedoch lieber dem Verfasser selbst überlassen wollen. Namentlich würden wir ihn ersuchen, die angedeutete Bemerkung, daß die heutige deutsche Philosophie, die Hegelsche, eigentlich nicht über das Aristotelische System hinausgegangen ist, zu entfalten. Es ist dies eine große und ergiebige Wahrheit, weil diese Philosophie doch nichts weiter ist als nur eine Scholastik. Er nennt sie eine zur zweiten Macht erhobene Scholastik; es sei! Erhoben zur zweiten Macht minus, d. h. unter den Gefrierpunkt.432 Noch findet sich eine zweite, sehr tiefe und für die Slaven sehr wichtige Wahrheit, welche Cieszkowski berührt hat. Das Bewußtsein, sagt er, […] sei das Aphelium des philosophischen Sternes. Wohlan, das geben wir gern zu, aber ist denn der philosophische Stern der Hauptstern des Universums? Ist er der Focus der geistigen Milchstraße? Dies ist die Frage.433

Diese Frage hat er unentwickelt gelassen. Es handelt sich hier jedoch um nichts mehr und nichts weniger, als den Hochmut der Philosophen vom Thron herabzustürzen, welche ihr Bewußtsein für den Stern, die Sonne, den Mittelpunkt der ganzen Menschheit betrachten. An dieser Stelle müssen wir eine Bemerkung machen. Öfters schon hat man Kant mit unserem Philosophen Kopernikus verglichen. Gewöhnlich wird gesagt, Kant habe der Welt den Lauf um den Gedanken herum, der das Licht ausmacht, gezeigt, ebenso wie Kopernikus den Kreislauf der Himmelskörper um die Sonne herum erwiesen habe. Diese Behauptung kann man fast in jedem Werk deutscher Philosophen finden. Nicht die mindeste Wahrheit findet sich in diesem Vergleich und wir weisen ihn mit Verachtung zurück. Die deutsche Philosophie will im Gegenteil jegliche Bewegung des menschlichen Geistes um dessen Sonne herum anhalten und ihn gänzlich an die Erde bannen; sie hat sogar den Fortschritt der strengen Wissenschaften in Deutschland aufgehalten. Man könnte sagen, daß selbst der Gedanke bei ihnen die Bahn 432 A. Cieszkowski: Gott und Palingenese, op. cit., S. 26: „Wir haben diesen ganzen Passus mitgeteilt, denn er ist so charakteristisch, daß wir im äußersten Fall gar nicht weiter zu gehen, und nur denselben zu entwickeln brauchten, um die ganze Einseitigkeit des Standpunktes dieses sogenannten absoluten Idealismus darzutun, welcher hier in seinem ontologischem Grund, weiter nichts ist als ein vervollkommneter scholastischer Realismus, der, dem abstrakten Nominalismus einiger neueren Denker gegenüber, ebenfalls noch eine Abstraktum, eine Einseitigkeit ist.“ 433 A. Cieszkowski: Gott und Palingenese, op. cit., S. 44.

1274

Teil III

verloren hat, welche er einst betrat, um zu den Himmelskörpern (Planeten, Kometen) zu gelangen. Der Materialismus französischer Gelehrter ist viel kühner in dieser Hinsicht; er erforscht mehr und fordert mehr als die deutsche Philosophie. In Frankreich macht man wenigstens Vermutungen darüber, was es wohl auf dem Mond, auf den Planeten geben könne; bekannt sind die kühnen Hypothesen eines Fourier434 hierüber. In Deutschland endet alles mit schalen Definitionen. Hegel zum Beispiel, über die Kometen redend, sagt, es sei dies eine Möglichkeit des Wassers.435 Was lernen wir wohl daraus? So oft er über die Sterne, die Sonne zu sprechen ansängt, macht er Alles immer mit ähnlichen Ausdrücken ab, wie z. B. negatives oder positives Licht, Einheit der Kräfte, der Schwere und der Wärme436 usw. Was aber auf diesen Sternen, auf dieser Sonne vorgeht, das hat er sich nie gefragt. Seit dem Augenblick, wo die Deutschen ausgerufen haben, Gott offenbare sich nur im Menschen, der menschliche Gedanke sei der Gipfel von allem in der Welt, gibt es für sie auf allen Weltteilen keine geistigen Wesen mehr. Die unzähligen Sterne, Monde, Kometen wurden bei ihnen zum Flitteranhängsel der Erde; gern möchten sie der Welt nicht um die Sonne, sondern um ihren philosophischen Lehrstuhl den Kreislauf geben. Inmitten einer solchen Verblendung hat zuerst Cieszkowski es versucht, durch seinen obigen Vorschlag den deutschen Gedanken von der Erde abzureißen. Hier begegnete er einer sehr hohen Aufgabe, denn schon verfallen mehrere Astronomen auf die Vermutung, daß es im Universum eine noch viel größere und erhabenere Bewegung gibt als die der Planeten um unsere Sonne; daß wahrscheinlich unser ganzes Planetensystem um eine unsichtbare Mitte herum kreist, welche Cieszkowski die geistige Sonne437 nennt. Einige 434 Vgl. Charles Fourier: Théorie des quatre mouvements et des destinées générales: prospectus et annonce de la découverte. Leipzig 1808; deutsch – Ch. Fourier: Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen. Hrsg. Theodor W. Adorno, übersetzt von Elisabeth Lenk. Frankfurt am Main 1966. 435 Übernommen von Michelet: Entwicklungsgeschichte, op. cit., S. 289: „Der Komet, als der Körper des ausschweifenden Gegensatzes, ist eine leichte Dunstmasse, die oft auch wieder zerstäuben mag, – eine Möglichkeit des Wassers.“ Hegel spricht über Kometen in seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, op. cit., § 270, S. 236: „Der Komet erscheint als ein formeller Prozeß, eine unruhige Dunstmasse.“ 436 G.W.F.  Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, op. cit., Zweiter Teil. Die Philosophie der Natur (§§231–338) 437 Cieszkowski spricht vom „Sonnenlicht des Denkens“ vgl. – A.  Cieszkowski: Gott und Palingenese, op. cit., S. 71 (Fußnote): „Ein Lichtfunke jener Intuition mag bisweilen den Weltgeist viel weiter führen, als das lang und breite Räsonieren und Spekulieren. Freilich ist die genetische und dialektische Legitimation vor dem Richterstuhl der Spekulation bereits eine unerläßliche Bedingung geworden, und der hellste Lichtfunke erlischt und wird durch die Finsternis verschlungen, sobald er sich nicht in das Sonnenlicht des Denkens ergießt.“

22. Vorlesung (6. Juni 1843)

1275

Astronomen meinen sogar, daß die an der Milchstraße gemachten Beobachtungen uns zu der Bezeichnung der Himmelsgegend, in welcher diese Mitte liegt, führen könnten. Wer weiß, ob nicht dem polnischen Gedanken überlassen ist, so wie er einst die Aufgabe des Sonnensystems gelöst hat, so auch gegenwärtig die noch viel erhabenere Aufgabe zu lösen. Was wir aber namentlich von Cieszkowski zu verlangen haben, das ist, er möge tief erkennen, was der Geist, was die Intuition ist. Möge er nicht glauben, daß er durch Vernunftgründe und Bücherschreiben seine Gegner, die Philosophen, besiegen könne. Er erzählt selbst, daß er sein ganzes System in einem Augenblicke, wo er zu Venedig438 in einer Gondel die Lagunen auf und nieder schwamm, erfaßt habe, d. h. er hat einen Augenblick der Erhebung gehabt, welche er Durchdrungensein nennt.439 Er möge also trachten, seinen Geist in dem Zustand zu erhalten, in welchem er damals war, als so große Wahrheiten sich ihm enthüllten; er möge nicht glauben, daß man durch die Arbeit des Kopfes, durch die Anstrengung des Gedankens zu ähnlichen Resultaten, zu einem ähnlichen Durchdrungensein gelange. Die Intuition ist ein Strahl der Sonne, der Gedanke, die logische Spekulation sind die prismatischen Gestalten dieses Strahls (les spectres solaires). Dieser Strahl kann mit Hilfe des Prismas zerlegt oder reflektiert werden; um aber zu wirken, braucht er das Prisma nicht. Unser Philosoph wird wahrscheinlich erraten, daß es etwas Wichtigeres zu tun gibt, als Bücher zu schreiben und neue Systeme vorzuschlagen. Zum Schluß fügen wir die Bemerkung hinzu: Cieszkowski gesteht es ein, daß Jesus Christus mit einem Male den Fortschritt der Philosophie des Altertums schloß und den menschlichen Geist um einen Grad höher erhob.440 Erwäge er doch, wie dieses geschah. Erhob sich der menschliche Geist höher, so geschah dies, weil eine Macht aus die Erde niederstieg, die fähig war, ihm die Kräfte zu einer neuen Erhebung zu Gott zu verleihen; denn soviel ist wenigstens offenbar, daß die Änderung, welche das Christentum hervorgebracht, aus keiner 438 „Sie erinnern sich, teuerster Freund, gewiß noch des Briefes, den ich vor zwei Jahren am Pfingstfeste aus Venedig an Sie schrieb, nachdem ich in der St. Markuskirche und auf dem Lido über die Persönlichkeit des Heiligen Geistes nachgedacht hatte. Sie erinnern sich auch, wie dringend ich Sie darin zur Herausgabe Ihrer Vorlesungen aufforderte […].“ – A. Cieszkowski: Gott und Palingenese, op. cit., S. 7. 439 In dem vorangehenden Zitat bei Cieszkowski nicht belegt; „Durchdrungensein“ – interpretative Erklärung von Mickiewicz. 440 A.  Cieszkowski: Prolegomena zur Historiosophie, op. cit., S.  25: „Christus dagegen hat das Element der Innerlichkeit, der Reflexion, der Subjektivität, in die Welt gebracht. Die Sinnlichkeit hat er zum inneren Bewußtsein überhaupt, das Recht zur Moralität erhoben; darum ist Christus der Mittelpunkt der verflossenen Zeit, weil er es ist, der die Radikalreform der Menschheit herbeigeführt und das große Blatt der Weltgeschichte umgeschlagen hat.“

1276

Teil III

Schule geflossen, nicht die Folge der Entwickelung irgendeines philosophischen Systems gewesen ist. Cieszkowski gesteht ferner ein, daß der Geist jetzt wiederum einen Schritt zu tun, d. h. sich zu realisieren, hat; daß der Intuition oder dem Insichgehen die extra-itio oder foras-itio, das Aussichherausgehen, folgen muß. Konnte er dieses wohl ohne Hilfe einer neuen Macht zu Stande bringen. Soll diese extra-itio oder foras-itio etwa nur darauf beruhen, neue Bücher zu schreiben, neue Systeme aufzustellen? Dies hieße auf der Bahn der alten Epoche weiter gehen, nicht aber die neue Epoche beginnen. Sollte der ganze Beweis dieser Erhebung des Geistes etwa in einer Syllogismenarbeit bestehen? Ist der Geist um einen Grad erhoben, so zeigt er auch ein um einen Grad erhobenes Leben; dieses Leben muß sich beweisen, um sich herum neues Leben verbreitend. Die polnische Philosophie frage sich daher, ob sie diese Kraft besitze. Möge sie selbst in sich gehen, denn die Postulate, die Wünsche, Erwartungen und selbst philosophischen Definitionen machen noch kein philosophisches Tun aus; und besitzt sie diese Kraft nicht, so ist ihre erste Schuldigkeit, zu suchen, zu raten, wo sich dieselbe befinde.

23. Vorlesung (13. Juni 1843) Kriterien der Gewißheit der Wahrheit nach de Maistre, Lamennais, Leroux, Emerson und Cieszkowski – Was ist Volkstum?

Erwägen wir noch einige Resultate der deutschen Philosophie, Resultate, welchen die philosophische Schule nicht so großen Wert beilegt, als sie es uns zu verdienen scheinen, und die wir erkennen müssen, weil gerade hierin die deutsche Philosophie und die Philosophie Frankreichs und der slavischen Länder sich begegnen. Welches ist denn nun die Endmeinung der Philosophen über das Kriterium der Wahrheit, d. i. über die Möglichkeit, daß der Mensch zur Überzeugung gelange, dieses oder jenes Gefühl sei das richtige, diese oder jene Meinung die wahre, weil es doch ohne eine solche Überzeugung keine Handlung gibt, wir aber von der Anwendung der Philosophie im Leben reden wollen? Diese Frage des Kriteriums betreffend, läßt uns die scholastische Philosophie (wir bezeichnen mit diesem Namen alle jene auf die Hegelsche Methode gebauten Philosophien und lassen für den Augenblick die religiösen Schulen bei Seite) in dieser Hinsicht im Unklaren. Für dieselbe gibt es nur eine einzige Gewißheit, eine einzige Sicherheit, die Methode; diese allein ist für sie die Wahrheit. Sobald es sich aber um die Anwendung dieser Methode in den politischen Einrichtungen, selbst im häuslichen Leben handelt, so finden wir die Anhänger Hegels ganz und gar von entgegengesetzter Meinung, was beweist, daß diese Fragen dem Meister vollkommen gleichgültig waren, daß er sie nicht gelöst hat. Viel Rühmens macht man davon, in der Schule die Hegelsche Methode mit Erfolg den Naturwissenschaften, der Jurisprudenz und der Ästhetik angepaßt zu haben;441 dies alles beschränkt sich jedoch nur auf die Einführung einiger Formeln der Hegelschen Schule in die Wissenschaften, und, so viel wir wissen, gibt es keinen einzigen Chemiker, Physiker, Juristen oder Künstler, welcher irgend einen Vorteil aus der Entwicklung der Hegelschen Methode gezogen hätte. Bevor wir weiter gehen, wird es nötig sein, sich zuvörderst eine einfache und verständliche Idee von dieser Methode zu machen. Dann erst können wir 441 „So hat Hennig und besonders Schulz in den Naturwissenschaften, Gans in der Jurisprudenz, Hennig und ich in der Moral, Weiße, Rötscher und Hotho in der Ästhetik weiter gearbeitet. Vor allem aber haben in der Theologie eine Menge Männer den spekulativen Gedanken fortzubilden unternommen: Daub, Marheineke, Baur, Rosenkranz, Strauß, Vatke usw. […]“ – C.L. Michelet: Entwickelungsgeschichte der neuesten Deutschen Philosophie, op. cit., S. 310.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_098

1278

Teil III

ihre Anwendung in der Geschichte, im Studium des politischen Lebens sehen. Diese Methode, wir sagten es schon, ist nichts anderes, als die Scholastik, erhoben zur zweiten Ordnung, nämlich zur zweiten Macht minus; sie ist jedoch identisch mit der Methode des Aristoteles, und wir haben ein treffendes Bild derselben, sobald wir sie mit der uns bekannteren Methode vergleichen, mit der Methode der Rhetoren, wenn diese nämlich anfangen, über die Poesie und die gehaltenen begeisterten Reden zu sprechen. Allgemein bekannt ist, daß jede Rede mit einem Exordium anhebt, daß es eine Exposition gibt, eine Auseinandersetzung, endlich eine Peroratio. Jeder dieser Teile ist zusammengesetzt aus Figuren, um zu verzieren, um Gestalt und Farbe zu geben, wie die Rhetoren sagen; aus Figuren, deren es verschiedene Gattungen gibt: Redefiguren, Gedankenfiguren, Wortfiguren usw. Zur Zeit, als diese Wissenschaft blühte, zählte man sechs- oder siebenhundert Figuren, die auswendig zu lernen waren. Sind jedoch diese Beobachtungen der Rhetoren wahr? Es finden sich unter ihnen einige, die sehr tief, sehr fein sind. Allerdings befolgt das Gefühl oder der Gedanke, sich in Worten entwickelnd, gewisse Regeln; diese Regeln, diesen Hergang des Gefühls, des Gedankens haben die Rhetoren klar dargestellt, ist ihre Methode selbst aber das Schaffende? Keineswegs. Kein einziger großer Redner ist in der Schule der Rhetoren gebildet worden. Wenn es aber unmöglich ist, mit Hilfe der Rhetorik einen Demosthenes oder Cicero zu schaffen, was soll man sich dann noch von den Büchern der Rhetoren versprechen? So also ist auch diese Methode von der Entwickelung eines ernsten und wahrhaft poetischen Lebens erstickt worden. Die Methode Hegels analysiert die Arbeit der Vernunft, die sich im Syllogismenmachen gefällt. Diese Auseinandersetzungen sind subtil, tief, sie werden jedoch nie das Vernunftreden, auf gut Deutsch vernünftig reden, lehren. Unterdessen hat aber die Methode des Aristoteles lange Zeit allen Angriffen widerstanden, sie ist sogar nicht untergegangen, sie hat sich umgeformt, verwandelt. Ebenso wird auch Hegels Methode lange Zeit bestehen und nur damit endigen, daß sie sich umwandeln wird. Diese Methoden können nicht untergehen; sie sind, so zu sagen, die notwendigen Monstrositäten, die unnatürlichen Zustände des menschlichen Gedankens. Es gibt Zeitperioden, in welchen die schaffende Kraft still steht, und alsdann machen sich die Geister an das Durchwühlen, Durchstöbern der Form; dies ist sogar eine notwendige und zu gewissen Zeiten sehr nützliche Beschäftigung. Ebenso gibt es auch, selbst in den Zeiten des Schaffens, Köpfe mit stark entwickelter Vernunft und trockener, verdorrter Seele, die sich mit aller Gewalt der Gefühle erwehren, die den Einwirkungen des Enthusiasmus unzugänglich, die verdammt sind, nie die Kunst fühlen zu können. Diese Wesen werden dann viel leichter von Seiten der Vernunft angezogen; unfähig, dem Redner zu folgen, wägen sie lieber

23. Vorlesung (13. Juni 1843)

1279

seine Perioden ab, sie finden Gefallen daran, seine Worte und Redefiguren zu beurteilen. Auf diese Art gewöhnen sie sich allmählich, die äußeren Formen der Kunst zu würdigen, und endigen zuweilen damit, auch die Schönheit derselben zu fühlen. Was die französische Philosophie anbelangt, so hat sie sich vor allem mit dieser Frage des Kriteriums beschäftigt, und in den letzten Zeiten herrscht diese Frage vor allen übrigen. Herr de Maistre442 versetzt das Kriterium in die Kirche, in das Papsttum. Ihm zufolge können die großen Fragen nicht anders gelöst werden, als nur durch eine päpstliche Entscheidung. Herr Lamennais443 nimmt einige dieser Behauptungen de Maistres an, nur beruft er sich durchaus auf die allgemeine Zustimmung. Er sagt, eine Sache sei nur insofern wahr, als die Allgemeinheit der Menschen sie für wahr anerkenne, weil jeder Mensch ein angeborenes Gefühl der Wahrheit besitze. Hieraus folgt, daß man die größtmöglichste Zahl von Menschen zu den Verhandlungen berufen muß, weil nur so die wichtigsten Fragen entschieden werden können. Nach dem System des Herrn Lamennais wird der Papst nicht als der Schöpfer der Wahrheit, der Gewißheit betrachtet, sondern nur als eine Art Vorsitzender, welcher die Stimmen zählt, die Entscheidungen der Allgemeinheit der Bürger, die er einmal die Kirche, das andere Mal die Christenheit und dann wieder das Menschengeschlecht nennt, konstatiert. Mittlerweile läßt uns jedoch diese Art, nach der Wahrheit zu suchen, in einer großen Verlegenheit, da wir nicht die Gelegenheit haben, die Meinungen der Allgemeinheit der Menschen zu befragen, und doch jeden Augenblick genötigt sind, etwas zu tun.

442 Joseph Marie de Maistre (1753–1821). Vgl. J.M. de Maistre: Vom Papst. Ausgewählte Texte. Berlin 2007; ferner – Wilhelm Schmidt-Biggemann: Politische Theologie der Gegenaufklärung. Saint-Martin – de Maistre – Kleuker – Baader. Berlin 2004; vgl. auch die 22. und 27. Vorlesung (Teil II). 443 Hugues Félicité Robert de Lamennais (1782–1854). Vgl. Félicité de Lamennais: Essai sur l’indifference en matière de religion. 4 Bde., Paris 1823; vgl. Andreas Verhülsdonk: Religion und Gesellschaft: Félicité Lamennais. Frankfurt am Main u.a. 1991; war mit Mickiewicz befreundet; vgl. Friedrich Wilhelm Carové: Zur Beurtheilung des Buches der polnischen Pilgrime von Mickiewicz, der Worte eines Gläubigen des Abbé  F.  de  Lamennais, und der Gegenschriften von Abbé Bautain, Faider u.a., Zürich 1835; Manfred Kridl: Mickiewicz i Lamennais. Studium porównawcze. Warszawa 1909; M. Kridl: Two Champions of a New Christianity – Lamennais and Mickiewicz. In: Comparative Literature 4 (1952) 3, S. 239–267.

1280

Teil III

Herr Leroux444 hat diese Frage höher gestellt. Er besetzt die Stelle der allgemeinen Beistimmung mit der allgemeinen Vernunft (raison universelle). Nachdem er über die Religionen und die Geschichte der Völker nachgedacht hat, findet er überall Spuren ähnlicher Meinungen über die großen Fragen, welche die Menschheit teilen, über Gott, über das Dasein der Seele und die moralischen Pflichten. Ihm zufolge sollte man sich nur darum bemühen, alle diese Überbleibsel zu vereinen und aus denselben eine Meinung zu bilden, welche diejenige des Menschengeschlechts vorstellen würde. Hinsichtlich der Gewißheit, die uns als alltägliche Lebensregel dienen sollte, schließt Herr Leroux die Autorität der nationalen Meinung nicht aus. Die Rolle wahrnehmend, welche Frankreich in der Christenheit gespielt hat, sieht er mit Recht in der Geschichte Frankreichs einen Beweis der erhabenen und besonderen Sendung, zu welcher dieses Volk berufen zu sein scheint; in dem Sinn nennt er das französische Volk eine Religion (une nation-religion)445; er beurteilt sogar die moralischen Fragen von dem französischen Standpunkt aus, glaubend, diese Art des Aburteilens sei der Wahrheit viel entsprechender. Dies ist schon eine Wahrheit, die der Philosophie zum Vorteil gereicht, nämlich die Einsicht von der äußersten Wichtigkeit einer Meinung oder eines Urteils, welches ein Volk über eine moralische Frage abgibt. Nach Herrn Leroux befindet sich Frankreich zum Erkennen der Wahrheit in den günstigsten Umständen. Was uns betrifft, so glauben wir auch, daß die Philosophen der verschiedenen Völker sich durchaus unterscheiden müssen, wenn auch nicht in dem Wesen der Dinge selbst, so doch wenigstens in der Zahl der Wahrheiten, die sie zu erschwingen fähig sind. Der deutschen Philosophie entgehen jedoch diese Wahrheiten. Dessen ungeachtet haben die Berliner Philosophen neuerdings die durch Hegel vergegenwärtigte Scholastik für eine preußische Philosophie446 aner444 Pierre Leroux (1797–1871); vgl. P. Leroux: De l’Humanité, de son principe, et de son avenir, où se trouve exposée la vraie définition de la religion et où l’on explique le sens, la suite et l’enchaînement du Mosaïsme et du Christianisme, Paris 1840; vgl. Bärbel Kuhn: Pierre Leroux – Sozialismus zwischen analytischer Gesellschaftskritik und sozialphilosophischer Synthese: ein Beitrag zur methodischen Erforschung des vormarxistischen Sozialismus. Frankfurt am Main u.a. 1988; Bruno Viard: Pierre Leroux, penseur de l’humanité. Cabris 2009. 445 Vgl. Pierre Leroux: Aux politiques. De la politique sociale er religieuse qui convient à notré époque“, in: La Revue Indépendante. Paris 1842, Bd. 2, S. 5–56, 60–143, 299–336; auch in: Pierre Leroux: Aux philosophes, aux artistes, aux politiques. Paris 1994; ferner – Bruno Viard: Pierre Leroux, penseur de l’humanité. Cabris 2009. 446 Vgl. Carl Ludwig Michelet: Geschichte der letzten Systeme der Philosophie in Deutschland von Kant bis Hegel. Erster Teil. Berlin 1837, S. 11: „Preußen hat sich dieser Philosophen angenommen und sie fast zu seinem ausschließlichen Besitz gemacht, indem deren

23. Vorlesung (13. Juni 1843)

1281

kannt, was auch wahr ist; denn an einem anderen Orte, in einem anderen Volke hätte eine solche Philosophie sich nie erzeugen, geschweige denn entwickeln können. Was die Methode oder die Art des Verbreitens der Wahrheit anbelangt, so werden die französischen Philosophen angeklagt, keine zu besitzen. Dies ist gerade ihr Vorzug; sie suchen das Leben zu verbreiten, daher können sie sich in keine Formeln der Schule fügen. Vor dreihundert Jahren beschuldigten die Scholastiker auch Bacon447; sie sagten, er wäre kein Philosoph, und warum? Weil er nicht die Formen des Syllogismus anwandte. Leroux sagt uns nichts Positives über die Art, wie man diese allgemeine Meinung ergreifen könne; er belehrt uns nicht, wie wir verfahren mussen, um uns diesem allgemeinen Volk zu nähern, dessen Eingebungen und Emanationen er überall sieht. Emerson, der amerikanische Philosoph, ähnelt in seinen religiösen Meinungen dem Herrn Leroux sehr. Er glaubt ebenfalls an das Dasein einer AllSeele448, welche die Seelen der Individuen in sich aufnimmt. Emerson, der viel tiefer als Leroux ist, sucht uns vor allem die Notwendigkeit zu fühlen zu geben, die äußerste Wichtigkeit von dem, daß jeder sich in dem Zustand zu erhalten strebe, in welchem es eine Möglichkeit gibt, mit der All-Seele in Verbindung zu sein; er sucht uns von den Vorurteilen zu befreien, von den überkommenen Meinungen, selbst von allen Neigungen, uns in uns selbst zu kommentieren, damit wir einen lebendigen Glauben an Gott haben und seinen Eingebungen Urheber ihn teils durch Geburt angehörten und nie das preußische Gebiet verließen, wie Kant; teils, verketzert und von fremden Lehrstühlen verdrängt, in Preußen allein einen Schutz für die dreie Äußerung ihrer Ansichten fanden, wie Fichte; oder endlich, wie Hegel, zur Förderung wahrer Wissenschaftlichkeit aus dem Süden zu uns herübergerufen wurden.“; bereits in der 18. Vorlesung (Teil III) erwähnt. 447 Francis Bacon (1561–1626); „Der Syllogismus besteht aus Sätzen; die Sätze bestehen aus Worten; die Worte sind die Zeichen der Begriffe. Sind daher die Begriffe, welche die Grundlage der Sache bilden, verworren und voreilig von den Dingen abgenommen, so kann das darauf Errichtete keine Festigkeit haben. Alle Hoffnung ruht deshalb auf der wahren Induktion.“ – Aphorismus  14; vgl. Francis Bacon: Neues Organon: lateinischdeutsch. Hrsg. von Wolfgang Krohn. 2 Teilbände. Hamburg 1990. 448 Vgl. Emersons Essay The Oversoul (Die All-Seele) in: Ralph Waldo Emerson: Die Natur. Ausgewählte Essays. Hrsg. Manfred Pütz. Stuttgart 1982, S. 182: „Der oberste Richter über die Irrtümer der Vergangenheit und der Gegenwart und der einzige Prophet dessen, was sein muß, ist jene große Natur, in der wir so ruhen, wie die Erde in den sanften armen der Atmosphäre liegt; jene Einheit, jene All-Seele, in der das Einzeldasein jedes Menschen enthalten ist und mit allen anderen vereint wird. […] Wir leben in Aufeinanderfolge, in Abschnitten, in Teilen, in Partikeln. Unterdessen ist die All-Seele im Menschen; das weise Schweigen, die universelle Schönheit, mit der jedes Teil und Partikel gleichermaßen verbunden ist; das ewige Eins-Sein.“

1282

Teil III

ein aufmerksames Ohr leihen. Doch aber vereinsamt er uns gar zu sehr, indem er befiehlt, man solle die Zeit, den Raum, das Volk vergessen. Emersons Mensch hängt irgendwo zwischen Himmel und Erde, während Herr Leroux uns wenigstens auf das Volkstum zu stützen erlaubt. Sehen wir nun, welche Stellung zwischen diesen beiden Richtungen Cieszkowski einnimmt, welcher in einigen Formeln die Gefühle und Meinungen mehrerer polnischen Dichter, Geschichtsschreiber und Staatsmänner ausdrückt. Cieszkowski ist bis zu dem Fühlen des Geistes gelangt. Der Mensch, welcher sich bis zu der Stufe erhebt, daß er sich unmittelbar und intuitiv unsterblich fühlt, der zu der Stufe gelangt, wo er überzeugt ist, ein Kind Gottes zu sein, sich zu Gott zu erheben: dieser Mensch allein nur kann ein Gefühl der moralischen Gewißheit haben, d. h. er allein nur kann fühlen, was moralische Gewißheit ist. Dies ist eine Wahrheit, die dem hohen Altertum sehr wohl bekannt war und welche Cieszkowski übrigens sehr klar dargelegt hat; demungeachtet kennen sie die heutigen Philosophen nicht. Auf diese Weise leuchtet es wohl ein, daß alle über das Kriterium der Wahrheit geschriebenen Bücher und alle in den Schulen vorgetragenen Systeme durchaus unnütz sind, sobald der Mensch sich nicht durch eigne moralische Arbeit bis zu der Höhe erhebt, wo er den Gesichtskreis der Unsterblichkeit erblicken kann. Die erste Bedingung zu dem Erringen des Gefühls der moralischen Gewißheit ist also die Erhebung und die Arbeit des Geistes. Dieses erklärt uns das, was Schelling449 das Organ der Wahrheit nennt, worüber er sich nicht weiter ausläßt; das, was die anderen Philosophen den guten Willen zum Philosophieren nennen; das, was die Kirche die Gnade, und das, was Cieszkowski hier die Frucht der geistigen Arbeit450 des Menschen nennt. Wir sagten, dies wäre eine sehr alte Wahrheit und zugleich eine, welche die Philosophen nur allein nicht wissen. Wer von unseren Zuhörern sprach es nicht schon tausendmal aus, daß er an diesem oder jenem Tage sich in einer glücklichen Geistesstimmung befunden, und daß hingegen in einem anderen Augenblicke es ihm unmöglich war, irgend etwas hervorzubringen, oder es ihm äußerst schwierig wurde, nur den Gedanken eines andern zu begreifen. 449 Vgl. F.W.J. Schelling: System des Transzendentalen Idealismus (1800). In: F.W.J. Schelling: Sämmtliche Werke. 1. Abteilung, Band 3. Stuttgart-Augsburg 1857, S. 369: „Die intellektuelle Anschauung ist das Organ alles transzendentalen Denkens.“; vgl. auch 18. Vorlesung (Teil III). 450 A. Cieszkowski: Gott und Palingenese, op. cit., S. 48: „Das, wozu der Geist selbst es an und für und aus sich gebracht hat, das, wozu er sich durch seine Tätigkeit gemacht, durch seinen Willen bestimmt hat, dies ist seine eigene, eigentlichste, und also eigentümlichste Bestimmung, – dies ist nicht von außen gesetzt, nicht nur in ihm selbst reflektiert, sondern wirklich durch ihn und aus ihm entwickelt.

23. Vorlesung (13. Juni 1843)

1283

Wenn also schon das Leben eines Menschen aus Augenblicken besteht, die einen so sehr verschiedenen Wert haben, wie kommen nun die Philosophen zu dem Glauben, alle Menschen seien, ohne Unterschied der Meinung, der moralischen Erziehung, des innewohnenden Wertes, gleich fähig, die allerhöchsten Wahrheiten in allen Augenblicken ihres Lebens zu begreifen. Dem Hochmut hier auf die Finger zu klopfen, heißt schon der Wissenschaft selbst einen großen Dienst leisten. Späterhin werden wir die Anwendung dieser Wahrheit auf die politischen Fragen sehen. Gewiß nur ist, daß einzig und allein diese Auffassung des Geistes im Stande ist, uns begreiflich zu machen, was die moralische Gewißheit sei. Sobald der Mensch, nachdem er lange Zeit auf einem Weg, sei es auf dem wahren oder dem falschen, fortgeschritten, sich mit einem Male zu dieser Höhe erhebt und den Ausgang der Laufbahn erblickt, die er kaum begonnen hat, den Ausgang, gegen welchen er schon fatalistisch fortgerissen ist, so macht diese Auffassung für ihn die unmittelbare Wahrheit aus, die von den Alten das Fatum genannt wurde, welche das Volk Ahnung, das böse oder das gute Vorgefühl nennt, welche in den Schilderungen der Geschichtschreiber451 einmal als Cäsars Phantom, das andere Mal als Banquos452 Schatten und dann wieder als Xenophons453 Traum figuriert, die aber jedesmal dem Menschen selbst die Kraft des Zweifelns benimmt. Daher kam es auch, daß derselbe, der durch seine Einmischung unter die deutschen Philosophen die Definition des Geistes um einen Schritt vorwärts brachte, auch zugleich dem Gange der scholastischen Philosophie der Deutschen ein Ende machte, und daß sein Name454 die Geschichte dieser Philosophie schließt, wenngleich sein Streben bis jetzt nicht einmal von den Historiographen dieser Philosophie verstanden wird. Er sagt, die deutsche Philosophie ist von nun an geschlossen; geschlossen in dem Sinne, daß es unmöglich ist, die Hegelsche Methode noch mehr

451 Cäsars Phantom – Marcus Iunius Brutus, der an der Ermordung Cäsars teilnahm; vgl. Plutarch: Römisches Heldenleben. Coriolan, die Gracchen, Sulla, Pompeius, Cäsar, Cicero, Brutus. Hrsg. Wilhelm Ax. 6. Auflage. Stuttgart 1959; vgl. auch William Shakespeare „Julius Cäsar“. 452 Banquo (Banco) Figur aus William Shakespeares „Macbeth“. Macbeth läßt Banquo ermordern; Banqous Geist erscheint später Macbeth und bringt ihn kurzzeitig um den Verstand. 453 Xenophons Traum vgl. Xenophon: Anabasis: der Zug der Zehntausend. GriechischDeutsch. Hrsg. von Walter Müri. 4. Auflage. Mannheim 2010, III. Buch, 1. Kapitel, 11. 454 Vgl. C.L. Michelet: Entwickelungsgeschichte der neuesten Deutschen Philosophie, op. cit., S. 394–398.

1284

Teil III

zu vervollkommnen.455 Cieszkowski sagt hiermit, diese Methode sei bereits tot, man könne sie schon als etwas Klassisches betrachten. Und ebenso, wie die Jahrhunderte des Mittelalters, selbst die der neuern Zeit, die klassischen Schöpfungen bewunderten, sich aber zu den romantischen Erzeugnissen hingezogen fühlten, ebenso auch wird derjenige Teil der Menschheit, welchem die Arbeit der Vernunft, der Intelligenz zur notwendigen Beschäftigung geworden, den Arbeiten der deutschen Philosophen alle Ehre widerfahren lassend, doch nach einem anderen System suchen. Cieszkowski erkennt hierin die Wichtigkeit der Völker an. Das Volk, welches der Poesie des Mittelalters als Organ gedient hat, das romanische Volk, gab auch der romantischen Philosophie seinen Namen. Das Volk, welches nun berufen ist, der Philosophie des Geistes zu dienen, ist nach Cieszkowski das slavische Volk, so daß wir nach der schon gebildeten deutschen oder vielmehr preußischen Philosophie jetzt die neue Epoche der slavischen Philosophie456, der Philosophie des Geistes und des Lebens, beginnen. Demungeachtet nannten wir Cieszkowski einen Sklaven des deutschen Gedankens, weil er bis jetzt sich noch nicht von der Methode losgerissen hat, weil er noch an die Möglichkeit glaubt, dasjenige zu retten, was er die Hegelsche Dynastie, die Parlamentscharte der deutschen Philosophie nennt.457 Wir werden ihn so lange Sklave nennen, als er in dieser Stellung verharrt. Es ist Zeit, daß er den Deutschen freimütig sage, die Hegelsche Dynastie bestehe nicht 455 „Die absolute Methode ist erreicht und diese ist der Kern der Philosophie, darum hiesse es wirklich die Grösse der weltgeschichtlichen Bedeutung Hegels verkennen, nicht in ihm wenigstens (nach Weisses Anwendung des Talleyrandschen Witzwortes) den Anfang des Endes der Philosophie zu sehen, wie in Aristoteles, wenn nicht deren eigentlicher Anfang, so wenigstens das Ende des Anfangs zu setzen ist. Ja, in Hegel hat das Denken seine wesentliche Aufgabe gelöst, und wenn auch dessen Entwicklungslauf damit keineswegs beendigt ist, so wird es jedoch von seinem Apogeum zurücktreten und partiell dem Anfang eines anderen Sterns weichen. Gerade so wie die Kunst, indem sie die klassische Form erreicht hatte, über sich selbst hinaus ging, und sich in die romantische Kunstform auflöste […].“ – August von Cieszkowski: Prolegomena zur Historiosophie. Berlin 1838, S. 101. 456 „Da die Benennung der romantischen Kunst aus der Benennung des Völkerstammes entnommen ist, welcher Träger derselben in der Weltgeschichte war, so könnte man die neu anbrechende Philosophie die s l a v i s c h e nennen, im Unterschied von der deutschen Philosophie, welche als Philosophie immer die klassische bleiben wird.“ – A. Cieszkowski: Gott und Palingenese, op. cit., S. 78 (Fußnote). Über die kommende „slavische Philosophie“ vgl. auch Karol Libelt: Filozofia i krytyka. Tom I: Samowładztwo rozumu i Objawy filozofii słowiańskiej. Drugie wydanie. Poznań 1874, Kapitel III und IV, S. 79–195; ferner – Andrzej Walicki: Próba syntezy: Karola Libelta „filozofia słowiańska. In: A. Walicki: Filozofia polskiego romatyzmu. Kraków 2009, S. 329–402. 457 Vgl. dazu Andrzej Walicki: Dwa mesjanizmy: Adam Mickiewicz i August Cieszkowski. In: A. Walicki: Filozofia polskiego romatyzmu. Kraków 2009, S. 83–171.

23. Vorlesung (13. Juni 1843)

1285

mehr, sie habe kein Leben mehr, und daß das Parlament der deutschen Philosophie ganz und gar unmächtig ist. Nehmen wir es für wahr an, daß wir kein anderes Mittel besitzen, uns der Wahrheit, der Moralität einer Handlung vergewissern, als unseren Geist zu erheben, so wären nun die wichtigsten zu lösenden Fragen die: Welches sind die Mittel, ihn zu erheben? Was kann außer uns und in uns zu unserer Erhebung beitragen und in diesem Zustand uns erhalten? Fragen, die gänzlich von den Philosophen der Schulen vernachlässigt waren. Erinnern wir uns jetzt an das, was wir bei der Zergliederung der mythologischen458 Systeme gesagt haben. In den verschiedenen Kulten sahen wir die Gesamtheit der geeigneten Mittel, den Menschen zu erheben und ihn in den Zustand zu versetzen, wo es ihm möglich wird, die Wahrheit zu empfangen. Daß der Mensch einer solchen Erhebung fähig werde, bedarf er großer Hilfsmittel und muß sich viel Mühe geben. Wie werden wir uns nun dem zufolge das Volkstum vorstellen? Befähigt uns das Erfüllen des Kultus zu der Empfängnis der Wahrheit, erleichtert uns dies die Erwerbung derselben, so ist die Einrichtung des Volkstums nichts anderes, als nur die Gesamtheit der Hilfsmittel zur Anpassung dieser errungenen Wahrheit, oder, mit anderen Worten gesprochen, das Volkstum ist dem Menschen gegeben, damit er der im Tempel errungenen Wahrheit auf der Erde den Sieg verschaffe. Wohl ist dies eine große und schwierige Arbeit, welche ungeheure Hilfsmittel und hundertjährige Mühen voraussetzt. Darum ist aber auch ein Mensch ohne Volkstum kein vollständiger Mensch; er kann vielleicht die Wahrheit wissen, ist aber nicht fähig zum Handeln. Von diesem Gesichtspunkt aus werden wir später die Institutionen der polnischen Volkstümlichkeit betrachten.

458 Vgl. 13. Vorlesung (Teil III).

24. Vorlesung (20. Juni 1843) Ludwik Królikowski und das System der religiösen deutschen Philosophie – Schwächen dieses Systems – Kann ein Philosoph eine Gesellschaft aufbauen?

Die Schulen der deutschen Philosophie, genannt die religiösen, werden in einem von einem polnischen Philosophen geschaffenen Systeme resümiert, in dem System des Ludwik Królikowski459, welcher die polnische Philosophie der Emigrierten repräsentiert. Schon sprachen wir einige Worte über die Religionsphilosophie; erwägen wir nun aufs neue die wesentlichen Fragen, das heißt: das Kriterium der Wahrheit, das diese Philosophie aufstellt, das Mittel, wodurch sie das Resultat ihres Nachdenkens dem wirklichen Leben anzupassen sucht, und endlich die sozialen Dogmen, welche sie angibt. Früher schon wußte Friedrich Schlegel460 kein anderes Mittel, uns aus der Ungewißheit zu ziehen, als nur, daß er anriet, ein neues Erzeugnis des menschlichen Geistes abzuwarten; dieses Erzeugnis sollte nichts anderes sein als das neue Königtum. Er sah das Menschengeschlecht, besonders aber die europäische Menschheit auf dem Weg der Schöpfung eines Königtums vorgeschritten, welches alle Attribute der Vaterschaft und des Papstums vereinen, und im Stande sein wird, uns die Bahn des Fortschrittes vorzuzeichnen. Da es jedoch zu den Zeiten Schlegels kein solches Königtum gab, und wir bis heute kein Beispiel desselben sehen, so hat Schlegel nichts gelöst. Andererseits setzte Schleiermacher461 die Gewißheit in das individuelle Bewußtsein, das protestantische Prinzip auf diese Weise übertreibend. Er glaubte, die Menschen verständigten sich vermöge ihres Gedankens, weil nach ihm der einfachste Ausdruck des Gedankens – was ein Syllogismus ist – sich auf gleiche Art in allen Intelligenzen bilde; die Menschen unterscheiden sich aber 459 Ludwik Królikowski (1799–1879). Herausgeber der Zeitschrift – „Polska Chrystusowa“: pismo poświęcone zasadom spółecznym wydawane staraniem Ludwika Królikowskiego. Paryż 1842, 1843, 1846, in der er hauptsächlich eigene Beiträge über Fragen der Religion veröffentlichte. Vgl. L.  Królikowski: Wybór pism. Wstępem opatrzył A.  Sikora, wyboru dokonała H. Temkinowa, Warszawa 1972; L. Królikowski: Wizje społecznego świata. Pisma wybrane. Wybór i wstęp Adama Sikory. Warszawa 1980. 460 Friedrich Schlegel: Philosophie des Lebens. In funfzehn Vorlesungen gehalten zu Wien im Jahre 1827. Wien 1828; vgl. darin die 13. Vorlesung: Von dem Geist der Wahrheit und des Lebens in seiner Anwendung auf die öffentlichen Verhältnisse; Staatsverfassung und dem christlichen Rechtsbegriff. 461 Vgl. Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799). Stuttgart 2010; vgl. dort: Zweite Rede – Über das Wesen der Religion.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_099

24. Vorlesung (20. Juni 1843)

1287

durch die Gefühle, diese Gefühle sind folglich nichts anderes als das Mittel, durch welches wir die Gottheit begreifen. Die Gefühle der Menschen zusammengenommen bilden also, so zu sagen, die Gottheit. Erwecken wir folglich im Menschen das Gefühl, lassen wir ihn sprechen, handeln; auf diese Weise entwickeln wir das Individuum. Das so entwickelte Individuum wird Kirche. Nach Schleiermacher wäre die beste Methode (weil die Methode auch vom Kriterium abhängt) die des Dialogs; man muß die Menschen sprechen machen, man muß sie hören. Es wäre dies die sokratische Methode; nur ist der kleine Unterschied dabei, daß Sokrates kraft seines Geistes die Geister der dazwischen Redenden freimacht und aufweckt, da hingegen Schleiermacher und die deutschen Philosophen behaupten, daß mittelmäßige Menschen, sobald sie sich sprechen und einander unterhalten, dazu gelangen werden, die Wahrheit zu entdecken. Solger462, ein religiöser Philosoph, geht von dem Prinzip aus, daß sich in den Menschen ein urtümliches Gefühl ihrer Abhängigkeit von der Gottheit vorfindet und dieses Gefühl ist es, auf welches sich die Religion und die Philosophie stützen. Dieses Gefühl besteht im Bewußtsein. Das individuelle Bewußtsein ist eine teilweise Manifestation des allgemeinen Bewußtseins. Sobald sich unser Bewußtsein erweitert und mehr oder weniger allgemein zu werden fähig ist, alsdann erringt es das Gefühl des Glaubens. Dieser Zustand, in welchem unser Bewußtsein, so zu sagen, das allgemeine Bewußtsein vertritt, heißt der Glaube; er offenbart sich durch die Handlung oder die Tätigkeit, und der Mensch ist alsdann fähig, sich selbst Rechenschaft von diesem Zustand zu geben. Die Philosophie genügt sich selber nach Solger, sie bedarf keiner Religion; sie muß aber zuerst ein System schaffen, dann es vergessen, sich, so zu sagen, vernichten, um von neuem Tat zu werden.463 Solger konnte die philosophische Untätigkeit, welche die Deutschen auszeichnet, mit den Bedrängnissen der Zeit nicht zusammenreimen und riet daher dem Menschen an, zwei äußerst verschiedene Handlungen zu verrichten, zuerst eine Philosophie aufzustellen und dann sie zu vergessen. Die religiösen Philosophen der Hegelschen Schule stehen um vieles niedriger als ihre Vorgänger, so daß man in Betracht des Kriteriums und der 462 Karl Wilhelm Ferdinand Solger (1780–1819); Philosoph und Philologe; lehrte neben Fichte, Hegel und Schleiermacher an der Berliner Universität. 463 Vgl. K.W.F. Solger: Erwin. Vier Gespräche über das Schöne und die Kunst. 2 Bde., Berlin 1815 (Reprint 1970); Philosophische Gespräche. Berlin 1817; Vorlesungen über Ästhetik. Hrsg. K.W.L. Heyse. Leipzig 1829 (Hamburg 2017); über Solgers Philosophie vgl. C.L. Michelet: Entwickelungsgeschichte der neuesten Deutsche Philosophie, op. cit., S. 219–239; Grundzüge der Philosophie  K.W.F.  Solgers. Hrsg.Anne Baillot, Mildred Galland-Szymkowiak. Wien-Zürich-Berlin-Münster 2014.

1288

Teil III

Methode nicht einmal etwas findet, was erwähnungswert wäre. Im Übrigen ist auch die Hegelsche Methode bekannt. Da aber die Hegelianer sich über alles hermachen, in der Absicht zu überzeugen, daß ihre Philosophie alle Systeme umfasse; so sagen sie auch, diese Methode begreife diejenige Solgers und die dialektische Methode in sich. Sie sagen nämlich, es sei gewiß, daß, wenn die verschiedenen Individuen oder Personen, welche die verschiedenen Charaktere der Menschheit vorstellen, einander ihre Gedanken und Gefühle mitteilen würden, sie dann dazu gelangten, ein vollkommenes System aufzustellen; statt der Personen oder Individuen aber sind es die Kategorien, welche im Hegelschen System sprechen. Es heißt aber die philosophischen Kunstausdrücke ganz sonderbar mißbrauchen, wenn man uns überzeugen will, diese von Hegel gemachten Kategorien seien verschiedene Persönlichkeiten. Wenn es Persönlichkeiten wären, so würden sie uns, da sie kein Leben haben, wie gespensterartige oder leichenhafte Persönlichkeiten vorkommen, so daß hier Herders Randglosse am rechten Orte wäre, welcher, von Kants Logik und Dialektik redend, sagte, dies seien zwei Kadaver, die sich fräßen; es ist Ugolinos und Ruggieris Geschichte aus Dantes „Göttlicher Komödie“.464 Von diesem Mangel des Kriteriums der Gewißheit rührt die Unmacht der deutschen Philosophie her. Unaufhörlich ruft sie aus, man müsse eine neue philosophische und politische Gesellschaft bilden, bis jetzt sehen wir jedoch nicht einmal den Anfang derselben. Ludwig Królikowski vereint fast alle diese Systeme, von denen wir gesprochen. Seine Methode erinnert an diejenige Solgers und zuweilen an diejenige des Trentowski durch die Lebhaftigkeit ihres Fortschrittes. Das Kriterium betreffend, nimmt er eine Stellung mitten zwischen Cieszkowski und den deutschen religeösen Philosophen ein. Zuvörderst glaubt er, jeder Mensch besitze im Grunde seines Gewissens einen göttlichen Keim. Dieser göttliche Keim, welchen er den heiligen Geist nennt, kann sich entwickeln; er kann das Gefühl seines Daseins und seiner Kraft erringen, und alsdann wird der Mensch unsterblich. Hierin ist Królikowski ganz und gar mit Cieszkowski einverstanden, welcher, so zu sagen, vielen Menschen die Unsterblichkeit oder wenigstens den Geist abspricht. Dieser göttliche Keim ist also nichts anderes als der Geist, der Duch des Cieszkowski. Von der Stufe der Entwicklung dieses göttlichen Prinzips hängt aber die Kraft, die Intensität des geistigen Lebens ab. Królikowski sagt auch, dieser Keim sei das Ideal, das Muster. Dieser einfache Ausdruck ist sehr gut gewählt, er legt den Gedanken des Philosophen 464 Graf Ugolino und Erzbischof Ruggieri – (historische) Figuren aus Dantes „Göttlicher Komödie“; vgl. darin den 32. und 33. Gesang (Inferno); Bezug zu Herders „Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft (1799)“. Berlin 1955, konnte nicht ermittelt werden.

24. Vorlesung (20. Juni 1843)

1289

viel verständlicher dar. Dieses Muster ist es folglich, nach welchem sich der Mensch bilden soll, welches er stets vor den Augen seiner Seele gegenwärtig haben muß. Von dieser Idee des Musters ausgehend, hat Królikowski einige schöne Zeilen über das Gebet, im Polnischen modła465 genannt, geschrieben, was nichts anderes ist als nur die in der Absicht unternommene Arbeit, unser Inneres diesem göttlichen Muster nachzubilden. Das Gebet ist demzufolge weder ein Schreien noch ein unfruchtbarer Wunsch, sondern eine fortgesetzte Arbeit, die ihre Regeln und ihren Zweck hat. Was dieses betrifft, so stellen wir ihn sogar über Cieszkowski. Unser Berliner Philosoph gibt uns zwar eine große und geschickte Definition von dem, was die slavischen Völker fühlen, wenn sie vom „Duch“ reden; er sagt uns jedoch nicht die Weise, diesen „Duch“ zu erlangen, er gibt uns kein Mittel an, sich bis zu dieser Stufe der Kraft, bis zu dieser Höhe des Lichtes zu erheben, welche das Recht des Menschen zum unsterblichen Dasein ausmacht; Królikowskis System besteht dagegen nur aus einer Reihe von Mitteln, den geistigen Urkeim zu entwickeln. Betrachten wir die Art seines Verfahrens. Zu allererst stellt Królikowski, den volkstümlichen Überlieferungen und den durch unsere Staatsmänner und Dichter ausgesprochenen Ideen, die wir schon mehr denn einmal entwickelt haben, folgend, als erste Bedingung der Entwicklung das Opfer fest. Ja er verlangt mehr; er legt dem Menschen sogar die Buße auf.466 Und in der Tat, will jemand einen niederen Grad verlassen und sich auf der Stufenleiter des geistigen Lebens erheben, so ist doch wohl zuvörderst nötig, gegen diesen niedrigeren Grad Widerwillen zu hegen, sich zu reinigen, um von demselben sich zu befreien. Die Buße hat keine andere philosophische Bedeutung, Die scholastische Philosophie der Deutschen findet diese Behauptung fremdartig, und dies kommt daher, weil sie durch seltsamen Hochmut verblendet nicht einmal 465 „Wyraz modlitwa pochodzi od dawnego wyrazu modła, który znaczy: postać, kształt, wzór […]. Podług tego modlić się znaczy zupełnie to samo, co kształcić, co przechodzić ze stanu dzikości, barbarzyństwa i pogaństwa, do stanu wzoru doskonałego, do którego nas Chrystus powołał […]. Modlić się więc, jestto wzorować się na obraz i podobieństwo Boże.“ (Der Ausdruck Gebet (modlitwa) stammt vom alten Wort modła, das Figur, Gestalt, Muster bedeutet. […] Demzufolge bedeutet beten dasselbe wie gestalten, vom Zustand der Wildheit, Barbarei und Heidentum zum Zustand des vollkommenen Musters überzugenen, zu dem uns Christus berief […]. Beten heißt also, das Ebenbild Gottes nachahmen.) – L. Królikowski: O modlitwie. In: Polska Chrystusowa. Paryż 1842, zeszyt 1, S. 9. 466 „Oczyszczajcie serca wasze przez pokutę! Oświęcajcie umysły swoje przez wyrzeczenie się samych siebie, i przez doskonałą miłość braterską, czyli POŚWIĘCENIE.“ (Reinigt eure Herzen durch Buße! Heiligt eure Sinne durch Selbstverzicht, durch vollkomene Bruderliebe, d. h. durch OPFER) – L. Królikowski: O modlitwie, op. cit., S. 114.

1290

Teil III

das Wort Buße ertragen kann, wie auch schon vor mehr denn hundert Jahren Spinoza467 mehrere Blätter geschrieben hat, in der Absicht zu beweisen, wie sehr dieses Gefühl der Reue und der Buße eines Menschen unwürdig sei. Das Opfer anbelangend, so ist es nur eine notwendige Folge von dem, was die Philosophen die Reue und Buße nennen. Ein Opfer bringen heißt gerade alles das aufgeben, was uns an den niedrigen Grad fesselte. Da es aber dem Królikowski hauptsächlich darauf ankommt, zu handeln, so setzt die Tat auch ein tätiges Opfer voraus. Er schlägt daher als erste Bedingung eines Philosophen vor, gänzlich alle sozialen Vorteile aufzugeben, die Familie, das Eigentum, das Volkstum zu verleugnen, kurz alles, was irgend eine Individualität in der engen Bedeutung dieses Wortes ausmacht; mit der Aussicht jedoch, dieses alles, was er verläßt, in der neugebildeten Gesellschaft wiederzufinden, wo es ihm dann auch sogar erlaubt ist, dasjenige lieb zu haben und zu verteidigen, was er früher verlassen hatte. Um zu begreifen, was sich in dieser Idee Unvollständiges befindet, muß man zuerst Królikowskis Idee über die Individualität erwägen.468 Er glaubt nämlich, daß der göttliche Geist, dieser geistige Keim, das Leben der Menschengattung ausmacht; daß aber der Mensch, die Entfaltung dieses Keimes vernachlässigend oder selbst ihn zu vernichten trachtend, eine Monstrosität bildet; daß diese Monstrositäten nichts hervorbringen können und daß sie wie Krankheiten vergehen, während die Gattung nicht aufhört zu wachsen. Dieser Mangel an Arbeit oder diese falsche Arbeit ist es also, welche ihm zufolge die Individualität bildet. Wir sehen folglich, daß er hierin viel niedriger als Cieszkowski sieht, weil er die Individualität nicht geistig begriffen hat. Cieszkowski hat Recht, wenn er sagt, daß die menschliche Individualität mit dem Beginn des geistigen Lebens anfange, daß der Mensch, welcher ein Kind Gottes zu sein fühlt, sich also hierdurch von der ihrer selbst unbewußten Masse oder Gattung losmacht, nur alsdann erst ein geistiges Individuum zu sein anfängt. Je mehr er sich von nun an zu Gott erhebt, desto mehr gewinnt er 467 Benedictus de Spinoza: Die Ethik – Ethica (1667). Lateinisch – Deutsch. Nach der Edition von Carl Gebhardts „Spinoza Opera“. Revidierte Übersetzung von Jakob Stern (1888). Nachwort von Bernhard Lakebrink. Stuttgart 2007; vgl. Kapitel IV Über die menschliche Knechtschaft oder die Macht der Affekte, S. 551: „ „Reue ist keine Tugend oder entspringt nicht aus der Vernunft; vielmehr ist der, welcher eine Tat bereut, doppelt elend oder unvermögend.“ 468 „[…] osobnictwo jest jego [człowieka] śmiercią duchową, a doskonałe zespolenie się braterskie z drugimi jest jego żywotem.“ ([…] die Individualität [des Menschen] ist sein geistiger Tod, während die vollkommene brüderliche Vereinigung mit anderen sein Leben bedeutet). – L. Królikowski: O modlitwie, op. cit., S. 45.

24. Vorlesung (20. Juni 1843)

1291

bei jeder erklommenen Stufe das kräftigere Gefühl seiner Individualität, weil Gott, der die Allgemeinheit und überhaupt alles ist, auch zugleich die allergrößte und allmächtigste Individualität und Persönlichkeit ist. Diese schöne Darstellung oder Definition der Persönlichkeit schließt das Opfer nicht aus. Der Mensch (den man nicht mit der Persönlichkeit verwechseln muß) geht durch Tausende von Ichs, ohne irgendje seine Persönlichkeit zu verlieren; das Ich ist der Inbegriff der Neigungen und Interessen unseres Individuums in einer gewissen oder gegebenen Stellung desselben; die Persönlichkeit ist die reine Frucht unserer geistigen Arbeit. Auf diese Art also macht diese Grundlage des Systems, welche Królikowski angenommen hat, das heißt, die Buße und das Opfer, den Menschen fähig, ein geistiges Leben zu beginnen, sich mit dem Geist Jesu Christi zu vereinen, weil es kein anderes wahres Leben gibt als nur dasjenige, welches von Gott durch Christum den Herrn kommt. Und da es im Evangelium geschrieben steht, daß zwei Menschen, sich im Namen Jesu Christi vereinend, sicher sein können, mit dem Welterlöser in Verbindung zu stehen, so nimmt Królikowski gerade diese Vereinigung für den Kern der künftigen Gesellschaft; und hier ist es wirklich, wo er die wahrhafte Schwierigkeit der Aufgabe berührt; denn die religiösen Philosophen Deutschlands haben zur Bildung der Assoziationen Theorien vorgeschlagen, ohne irgendje zu wissen, wo der Grundstein dieses Gebäudes zu legen sei. Demungeachtet könnte man jedoch hier dem Verfasser sehr wichtige Einwürfe machen. Nach ihm hat die eigentliche Kirche, die tätige Kirche bis jetzt noch nicht bestanden; unterdessen war jedoch jene Verheißung, welche zwei Menschen, vereint im Namen Jesu Christi, außergewöhnliche Hilfsmittel versprach, bekannt. Warum hat also diese Kirche bis jetzt nicht bestanden? Dieses hätte uns der Philosoph erklären sollen. Wie, nach 1800 Jahren ist er, der Erste, dazu gekommen, die Bedeutung dieses Wortes zu begreifen! Er gibt ja hier keine neue Erklärung. Der Philosoph hat, das Prinzip des geistigen Lebens, den göttlichen Keim in jedem Menschen anerkennend, nicht genug über die außerordentliche Mannigfaltigkeit der Entwickelung dieses Keimes nachgedacht. Er sagt selbst, daß wir alles, was wir sind, unserer Mutter, das heißt dem Vaterland, der Gesellschaft, in welcher wir gelebt haben, schulden. Wie sich aber die Gesellschaften und noch mehr die Volkstümlichkeiten von einander unterscheiden, ebenso bieten auch die Individuen, je nach ihren verschiedenen Stellungen, tausendfältige Abstufungen der Merkmale des Geistes dar. Wie ist es daher möglich vorauszusetzen, daß, nähme man ganz zufällig eine Zahl Menschen zusammen und vereinige sie im Namen Jesu Christi, man hierin den Beginn einer Kirche finden könnte? Selbst dieses Opfer, welches der

1292

Teil III

Philosoph als notwendige Bedingung aufstellt, kann von sehr verschiedener Natur sein, verschieden, je nach dem Vorhaben dieser Individuen, je nach ihrer Kraft zu fühlen, je nach ihrer Befähigung sich zu Gott zu erheben. Die einmal solchergestalt konstituierte Kirche soll dann zur Grundlage die Brüderlichkeit469 nehmen. Hier folgt Królikowski von neuem den Eingebungen der polnischen Idee. Allgemein bekannt ist, daß nirgends wo anders das Gefühl der Brüderschaft so stark entwickelt war, als in diesem Land; der Name selbst, den sich die Bürger gaben, ist kein anderer als Bruder. Die Vervollkommnung dieser Brüderschaft wird, der Meinung des Philosophen zufolge, die Individuen mit allen Tugenden bereichern, das Individuum aber ist durch sich selbst nichts; es ist unfähig, etwas zu vollführen; es kann nur wünschen und leiden. Alle Verheißungen Jesu Christi gelten der Kirche, man muß also von der Bildung der Kirche beginnen. Diese Kirche wird notwendigerweise mächtig, voll Kraft, Weisheit sein, sie wird Gott ähneln. Endlich werden alle Gaben des heiligen Geistes in dieser Kirche vorhanden sein. Królikowski fügt hinzu, daß man zur Basis unseres Nachdenkens nicht die sichtbaren Dinge, sondern die unsichtbaren nehmen müsse. Dies ist ein schöner und wahrer Vorschlag. Unter dem Namen des Unsichtbaren begreift er alle die Bestrebungen der Menschen; er begreift die Zukunft, das Ziel, welchem die Menschheit zustrebt; dahingegen alle die Institutionen, alle die bis jetzt gemachten Gesetze nur immer die Vergangenheit im Auge hatten. Królikowski verwünscht die Vergangenheit, er betrachtet sie als eine mit Fluch beladene Sphäre, als ein Sodom470, welchem man niemals die Blicke zuwenden muß. Er muntert uns auf, fortwährend der Zukunft entgegenzugehen; und im Einklang mit den Ideen der Philosophie und der polnischen Poesie sagt er, daß die Gegenwart immer so viel von der Vergangenheit in sich enthält, als nötig ist, um der Zukunft entgegenzueilen. Er formuliert hier dasjenige, was wir unter Überlieferung verstehen, und wovon wir noch einmal reden werden, die polnische Volkstümlichkeit betrachtend. Er sagt nämlich, es sei notwendig, daß diese Kirche von der lebenden Überlieferung ausgehend der Zukunft zustrebe. In dieser Wiedervereinigung wird das Recht des liberum veto erhalten. Królikowski, 469 Vgl. dazu Andrzej Walicki: Problem religii w ideologiach „Polski odradzającej sie“; od deizmu do mesjanizmu. In: A.  Walicki: Filozofia polskiego mesjanizmu. Kraków 2009, S. 43–46. 470 „Przeszłość już niepowrotnie w przepaść wieczności zapadła […] i nikt z niej życia dla siebie ani dla drugich zaczerpnąć nie zdoła! Jest to Sodoma, z której nas Ojciec miłosierny przed zagładą wyprowadza […].“ (Die Vergangenheit ist unwiderruflich in den Abgrund der Ewigkeit gefallen […] und niemandem wird es gelingen, das Leben für sich und andere hervorzuholen! Sie ist [die Stadt] Sodom, aus der uns der barmherzige Vater vor dem Untergang herausführt […].“ – L. Królikowski: Polska Chrystusowa, op. cit., S. 236.

24. Vorlesung (20. Juni 1843)

1293

hierin im Einverständnis mit den am meisten vorgerückten polnischen Philosophen, verteidigt diese so sehr verschrieene Einrichtung; er betrachtet sie als die vollkommenste Gewährleistung unserer moralischen Rechte, indem ein jeder dadurch immer die Möglichkeit oder die Fähigkeit, besitzt, in dieser Gesellschaft für oder gegen die Gesellschaft zu handeln, je nachdem er das Fortschreiten derselben der Wahrheit gemäß oder auch ihr nicht entsprechend findet. Endlich werden die so vereinigten Menschen alle „Priester und Könige“471 sein. Dies ist wiederum eine polnische Idee; denn mehr als einmal haben die Kanzelredner zu diesem Volke gesagt, daß es ein Volk von Priestern und Königen wäre. In der Erwartung, daß die Kirche sich bilde, muß man das Böse, d. h. die alte Ordnung der Dinge bekämpfen und nach der Zukunft sich sehnen. Aber Królikowski spricht sich nicht deutlich über die hauptsächlichen Dogmen der christlichen Kirche aus. Man kann keine klare Einsicht davon haben, wie er das Dogma des zukünftigen Lebens und der Ewigkeit begreift. Es scheint selbst, als wollte er, ähnlich den deutschen Philosophen, die Menschheit auf Erden einschließen, und als liebte er es nicht, seine Blicke von unserer Erdkugel abzuwenden. Er verdammt sogar diejenigen, welche von der künftigen Glückseligkeit, von der Glückseligkeit des anderen Lebens sprechen, als müßte diese Glückseligkeit notwendigerweise diejenige, welche mit unserem irdischen Zustande vereinbar ist, durchaus ausschließen.472 Hätte der Philosoph damit angefangen, eine solche Gesellschaft zu gründen, wiese er uns das Muster vor, fürwahr, wir würden ihn von dieser ganzen theologischen Diskussion freigesprochen haben, da wir alsdann aus den vollbrachten Tatsachen und Handlungen einer solchen Gesellschaft im Stande wären, die Folgerungen zu ziehen; steht er aber als Philosoph und Gründer eines neuen 471 Neues Testament – Die Offenbarung des Johannes 5, 10: „und du hast sie für unsern Gott zu Königen und Priestern gemacht.“ 472 „Wszyscy antychryści przemawiają, podobnie jak Chrystus, w imię Boga, w imię Prawdy, Sprawiedliwości, dobra pospolitego i szczęśliwości wiecznej. Ale antychryści każą ludzkości szukać doskonałego szczęścia poza ziemią i poza grobem; a to dlatego, aby z królestwa swego dzisiejszego, nie byli zmuszeni coś ustąpić. […] Chrystus zaś przeciwnie, tu na ziemi każe szukać Raju – Królestwa bożego i jego Sprawiedliwości.“ (Alle Antichristen reden – wie Christus – im Namen Gottes, der Wahrheit, der Gerechtigkeit, des Allgemeinwohls und des ewigen Glücks. Aber die Antichristen sagen der Mernschheit, sie solle das vollkommene Glück jenseits der Erde und jeneseits des Grabes suchen, und das deswegen, damit sie nicht gezwungen werden, aus ihrem heutigen Königreich etwas abzugeben. […] Christus sagt das Gegenteil, hier auf Erden solle der Mensch das Paradies, Gottes Reich und seine Gerechtigkeit suchen.“ – L. Królikowski: O modlitwie, op. cit., S. 151.

1294

Teil III

Systems auf, so muß er wohl notwendigerweise damit anfangen, die Fragen zu lösen, welche jetzt die religiöse deutsche Philosophie beschäftigten, die er aber ohne Lösung läßt. Dessen ungeachtet werden wir jedoch keinen Augenblick anstehen, dem Królikowski einen hohen Rang unter den religiösen Philosophen einzuräumen, und zwar darum, weil er es versuchte, das soziale Dogma zu formulieren und die Pflichten einer Kirche zu definieren, und weil er sich mit der wesentlichen und schließlichen Frage der Philosophie beschäftigt hat. Hätten diese drei Philosophen, deren Werke wir auseinandergesetzt haben, besser begriffen, was die Individualität und die Persönlichkeit ist, gewiß, sie hätten auch mehr die Volkstümlichkeit gewürdigt. Nicht aus den Büchern der Deutschen, noch aus den Systemen der Deutschen hat Cieszkowski das Dogma über den Geist („Duch“) gezogen und das Vorgefühl einer neuen Philosophie bekommen; sondern, weil er Mitglied einer ausgebreiteten Gesellschaft gewesen, die seit längst von den religiösen und politischen Begebenheiten bearbeitet war, so brachte er inmitten unter die deutschen Philosophen einen Funken des Lebens und der Kraft mit sich. Dieses Überbleibsel von Leben und Kraft ist es auch, welches bei Trentowski seinen von Formeln strotzenden Büchern noch einige Farbe gibt. Dieses nationale Feuer, dieser Gedanke, welchen Królikowski selbst als vorhersagend, als prophetisch ansieht, dieser volkstümliche Gedanke bearbeitet ihn, ohne daß er es selbst weiß, und läßt uns die Individualität und den Volkscharakter erkennen in dem Schriftsteller, welcher fortwährend gegen die Individualitat und gegen die Volkstümlichkeit zu Felde zieht. Im volkstümlichen Gefühle, erhoben zu einem, der Höhe dieser Fragen entsprechenden Grade, ist es auch nur möglich, die Lösung derselben zu finden. Schon sprachen wir es aus, das kleine Buch von Cieszkowski betrachtend, daß es nicht genügt, die Erfordernisse (postulata), die philosophischen Wünsche (desideria) zu verlautbaren, sondern daß die Lösung von der Kraft des Menschen abhängt, der sich damit beschäftigt. Wir machen dieselbe Beobachtung bei dem in Rede stehenden polnischen Philosophen. Ist es ihm denn unmöglich zu sehen, daß Jesus Christus, dessen Namen er auf jedem Seitenblatt seines Buches anruft, seine Gesellschaft nicht nach dieser oder jener Doktrin, nicht nach dieser oder jener Idee gebildet hat? Der Philosoph sagt selbst, das Evangelium sei nicht bloß ein Rat, sondern es sei ein Befehl; dessenungeachtet weiß er doch nicht, wie derjenige, der das Wort spricht, auch die Macht hat, zu gleicher Zeit die Kraft zu dem Erfüllen desselben zu geben, und daß diese Kraft gerade das wahre Leben ausmacht; er sollte doch wissen, daß die Kirche vor dem geschriebenen Evangelium bestanden hat; das mündliche Evangelium ist ungefähr dreißig Jahre den ersten von den Evangelisten

24. Vorlesung (20. Juni 1843)

1295

geschriebenen Blättern vorangegangen. Reißt man aber auf diese Art aus dem Ganzen der Geschichte des Christentums einige Blätter heraus, in der Absicht auf diesen Blättern eine Gesellschaft zu gründen, so verwirrt, verdunkelt man nur noch mehr die Ideen derjenigen, die sich mit den politischen und religiösen Aufgaben beschäftigen. Nochmals wiederholen wir hier die so oft von uns angeführten Worte Garczyńskis: „dać rozkaz i siłę z rozkazem“ – d. h., es genügt nicht, den Befehl zu geben, sondern man muß mit demselben zu gleicher Zeit die Kraft geben, ihn auszuführen.473 Befindet man sich jetzt allgemein in der Erwartung großer Reformen, haben die der alten Überlieferung am meisten ergebenen Geister, wie der des Joseph de Maistre, die Möglichkeit von dem, was sie ein drittes Emporleuchten oder den dritten Ausbruch des Christentums nannten, geahnt und vorhergesehen, so wird sich dieses Emporleuchten doch wohl wahrscheinlich nicht durch die Veröffentlichung einiger Büchlein kundtun; poetisch charakterisiert ist dieser Ausbruch in dem Buch der Apokalypse, wo von der Erscheinung gesprochen wird, die gleich einem leuchtenden Blitzstrahl vom Morgenland bis nach dem Abendland geht und von welchem die Augen aller getroffen werden. Bei dieser Gelegenheit wollen wir ihnen einige Zeilen des Joseph de Maistre anführen, welcher nichts weniger als ein Träumer oder Neuerer war: Attendez que l’affinité naturelle de la religion et de la science les réunisse dans un seul home. L’apparition de cet home ne saurait être éloignée, peut-être meme existe-til déjà. (Ceci était écrit dans les premières années de ce siècle.) Vela seut mettra fin au XVIIIe siècle, qui dure toujours. Le genie peut être remplacé par l’esprit révélateur. Alors on parlera de notre stupidité actuelle, comme nous parlons de la superstition du moyen-âge. Alors toute la science changera de face; il sera démontré que les traditions antiques sont toutes varies. Et plus loin: Puisque de tous côtés une foule de voix s’écrient: Venez, Seigneur! Peuton s’étonner que les homes s’élancent das cet avenir majestueux?474 Wartet ab, bis die natürliche Verwandtschaft der Religion und der Wissenschaft sie in einem einzigen Mann vereine. Die Erscheinung dieses Mannes kann nicht mehr fern sein, vielleicht existiert er schon selbst. (Dieses war geschrieben in den ersten Jahren unseres Jahrhunderts). Dieses allein nur wird dem 18. Jahrhundert, das noch immer fortdauert, ein Ende machen. Das Genie kann durch den offenbarenden Geist vertreten werden. Alsdann wird man über unsere jetzige Dummheit ebenso reden, wie wir uns über die Vorurteile des Mittelalters auslassen. Alsdann wird die ganze Wissenschaft den Gesichtsausdruck verändern; es wird erwiesen sein, daß alle die uralten Überlieferungen wahr sind; denn von allen Seiten her werden Beweise und 473 Vgl. 13. Vorlesung (Teil III). 474 Joseph de Maistre: Les Soirées de Saint-Pétersbourg, ou Entretiens sur le Gouvernement Temporel de la Providence. In: J. de Maistre: Œvres completes, t. 5, Lyon 1884, S. 231.

1296

Teil III Menschen aufstehen, die ausrufen: Komm, o Herr! mit den Männern, die dieser majestätischen Zukunft zueilen.

Diese Worte des de Maistre: „Komm, o Herr!“ sind wiederholt worden von Cieszkowski, welcher zum großen Ärgernis der deutschen Philosophie sein Werk mit den Worten: Veni Creator Spiritus! (Komm, o heiliger Geist!)475 beginnt und endet. Wir tadeln nicht diejenigen, welche sich wie de Maistre dieser majestätischen Zukunft zuwenden, aber man muß die ganze Schwierigkeit einer ähnlichen Aufgabe erkennen; und traut sich jemand zu, eine Gesellschaft und vor allem eine Kirche gründen zu können, was nichts anderes heißt als eine Epoche zu beginnen; so lese er zu wiederholten Malen die schönen Worte des de Maistre nach, wo er von einem Mann des Genies und von einem offenbarenden Geist spricht, und stelle sich jeder Philosoph, welcher diese Arbeit vornimmt, vor Gott die Frage: Bin ich dieser geniale Mensch (homme de génie), bin ich dieser Offenbarer?

475 A. Cieszkowski: Gott und Palingenese, op. cit., S. 5 und 115.

25. Vorlesung (27. Juni 1843) Zusammenfassendes über die politische Geschichte slavischer Staaten – Die Beschaffenheit des russischen Reichs – Das Wesen der polnischen Volkseinrichtungen – Das moralische Ende alter slavischer Staaten. Der neue Geist.

Die politischen Institutionen eines Staates geben uns, als das Erzeugnis des Volksgeistes, das Maß seiner Stärke ab. Wir sagten, daß man diese Einrichtungen auch für die Gesammtheit der Hilfsmittel und Verfahrungsarten hatten muß, welche sich der Volksgeist zu seinem eignen Gebrauche schafft, um sich stufenweise zu dem Ziele, das ihm die Vorsehung gesetzt hat, emporzuheben. Von diesem Gesichtspunkte aus, die Institutionen der slavischen Völker beschauend, sehen wir in der Geschichte ihrer Entwickelung einen ununterbrochenen Kampf zwischen dem Geist, der sich frei macht, der sich zu erheben sucht, und der Materie, die diesen Geist der Erde zuzieht, oder ihn in gewissen gegebenen Formen gefangen zu halten trachtet. Rufen wir nun dasjenige ins Gedächtnis zurück, was wir im Allgemeinen über diese weit ausgebreitete Rasse gesagt haben. Sie erscheint gegen das 6. Jahrhundert und zwar dergestalt, als hätte sie fast schon das Ideal des häuslichen und des Gemeindeglückes realisiert. Die Fruchtbarkeit des Bodens, die Milde der Volkssitten, die Anhänglichkeit an die uralten Überlieferungen hinsichtlich der Verwaltung des Eigentums, endlich das Zusammentreffen einer Reihe von Verhältnissen, die wir nicht wieder aufzählen wollen, ließen dieses Volk einen wahrhaft glücklichen Zustand erringen. Im Genuss dieses Glückes sprang und hüpfte es, so daß es die Zeitgenossen sprichwörtlich den Sclavus saltans476 nannten. Es wollte sich jedoch nicht weiter entwickeln, es beschränkte sich darauf, dieses Glück zu genießen. Der Mensch ist aber nicht bloß für das häusliche Leben und für das Gemeindeleben geschaffen. Um die Slaven aus ihren unzugänglichen Schlupfwinkeln zu ziehen, kommen nun die Fremden, die Söhne Odins, die Reitervölker des Kaukasus, und zwingen sie, sich zur Würde von Bürgern zu erheben; die Slaven werden die Glieder eines Staats; es bilden sich Fürstentümer, kleine Königreiche. Der Widerstand erscheint indessen von neuem; der slavische Geist will für immer in der Form dieser kleinen Staaten kleben bleiben; das Volk der Rus’ wollte aus seinen Fürstentümern nicht heraustreten, die Serben vergessen die Gemeinschaft der Herkunft mit den Slaven des Nordens, die Einwohner der kleinen Königreiche und Fürstentümer Polens, stolz auf ihre Freiheit und die 476 Vgl. 7. Vorlesung (Teil I).

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_100

1298

Teil III

Fortschritte, welche sie Dank dem Einfluss der katholischen Kirche gemacht hatten, blicken mit Verachtung auf ihre Mitbrüder herab. Alles ist vereinzelt, alles ist klein, alles ist Unordnung und Verwirrung. Die Vorsehung trifft von neuem diese Rasse und zwingt sie vorwärts zu gehen. Mongolen steigen von den Höhen Asiens herab und legen das Feuer an diese slavischen Fürstentümer, sie lassen die Einwohner, die sich in den Höhlen verbergen, in Rauch ersticken, verbrennen die Städte, jagen die Bevölkerungen vor sich her und zwingen sie, sich zu vereinen, sich zu erkennen, nach einem Stützpunkt gegen diesen graufenhaften Einbruch zu suchen. Andererseits tritt ein unbekanntes Volk, die Litauer, aus seinen dunkeln Wäldern hervor; es fällt zu gleicher Zeit die polnischen Länder und die Fürstentümer der Rus’ an und setzt überall Dynastien ein. Nach diesem großen Wetterleuchten sehen wir mit einemmal drei große Einheiten entstehen: die der Tschechen, der Polen und der Russinen. Wir haben die Ursachen angeführt, warum wir gezwungen sind, die Fürstentümer an der Donau, die Montenegriner und die Slaven des Südens bei Seite zu lassen, welche seit langer Zeit aufgehört haben, eine politische Rolle zu spielen, und wir dürfen uns für den Augenblick nur mit den zwei großen Volkstümlichkeiten, den Volksthümlichkeiten der Russen und der Polen befassen. Tief im Norden, mitten unter diesen durch die Mongolen zerbröckelten Fürstentümern, erhebt sich eine neue Macht, das Großfürstentum Moskau. Sein Verfahren, sein Zweck, seine Pläne, seine Kräfte, alles dies konzentriert sich in dem Geist der großen Männer, die in diesem Lande auf einander folgen; man könnte sagen, der Geist des Attila, des Dschingis-Khan, des Tamerlan verkörpert sich einer nach dem anderen in den Dynastien, welche das Großfürstentum Moskau (das Großfürstentum, welches wir das finnisch-russische genannt haben)477 beherrschen: ein großer Geist, hart, übermütig, immer sicher seiner selbst, aus sich selbst alle Hilfsmittel ziehend. Sich nicht damit begnügend, die Fürstentümer des Nordens überwältigt zu haben, erscheint er noch als gemeinsamer Feind der Finnen und Slaven; er frißt alles um sich herum auf: die Familiee, die Fürstentümer, die Völkerschaften. Das, was früher die Slaven aufrüttelte, der Schall des litauischen Horns, die tatarischen Allah, ist nun vertreten durch ein Befehlswort, ukaz. Dieses Wort übt auf die Slaven des Nordens denselben Einfluß aus; es macht sie vor Schreck erstarren, es treibt sie vorwärts, es erlaubt der Rus’ nicht, sich in den geographischen Grenzen ihres Staates einzuschließen; sie müssen sich auf die Tataren werfen, sich nach der Donau herunterlassen, sie müssen gegen Polen marschieren. Der Geist des Herrschers regiert, der Geist des Herrschers ist der Hebel jeder Tat, ist ihr Ziel. Alles, was lebt, muß dienen; das Wort dienen, der Dienst, kommt nun an die 477 Vgl. 22. Vorlesung (Teil I).

25. Vorlesung (27. Juni 1843)

1299

Tagesordnung. Derjenige, der seinem Herrscher nicht dient, wird als Sklave betrachtet, er gehört nicht zum Staat. Der Herrscher seinerseits ist dem Staate zu nichts verpflichtet; er ist durch kein konstitutionelles Übereinkommen gebunden, er kann über seinen Thron verfügen, ihn an einen Fremden verschenken; er kann die Form seiner Regierung ändern. Wir führten schon das Beispiel des Großfürsten Ivan des Schrecklichen478 an, welcher aus eigner Machtvollkommenheit einen Tataren zum Großfürsten von Moskau machte und ruhig auf seinem Schloss als Privatmann sitzen blieb, von wo aus er Rußland durch seinen Geist regierte, bis zu dem Augenblicke, als es ihm gefiel, diesen Großfürsten seiner Schöpfung zu stürzen. Erinnern wir uns auch an das Beispiel des Zaren Peters des Großen, welcher, selbst noch Großfürst, seinen Stellvertreter, den Prinzen Romadanowski479, zum Kaiser ernannte. Streng genommen hätte der Kaiser zu jener Zeit seinem Reiche selbst die Form einer Republik geben können, er hätte können ohne Leibwache und Truppen bleiben, und wäre dessenungeachtet doch immer Mannes genug gewesen, diese Schöpfung über den Haufen zu werfen, weil sich damals die Kraft, die ihm hätte wiederstehen können, noch nicht auf dem slavischen Boden vorfand. Der Kaiser ist seinen Untertanen zu nichts verpflichtet; er hingegen hat das Recht, alle öffentlichen Dienste zu fordern. Er betrachtet sie als eine Schuldigkeit, er belohnt sie nicht. Wir müssen hierin selbst die Unwissenheit der Schriftsteller des Westens aufdecken, welche, dieses Reich immer nach ihren Ideen beurteilend, seine Macht zu bezweifeln scheinen, indem sie es einmal für sehr arm halten, das anderemal daran denken, daß es in seinem Vorschreiten durch die Bojaren, eine Kaste, die nicht besteht, aufgehalten werden wird. Deshalb müssen wir sie daran erinnern, daß in der mongolischen Idee es nicht der Kaiser ist, welcher den Truppen den Sold zahlt, sondern umgekehrt, die Soldaten zahlen dem Herrscher den Sold, der Zahlende in Rußland ist nicht der Herrscher. Darum wird auch, die Entschädigung, welche man den Domestiken und Soldaten gibt, nicht Sold, sondern Жалованье, genannt; d. h. eine Gnade, eine Gunst; so eigentlich gesprochen, ein Geschenk der Mildtätigkeit. Dies ist eine milde Tat, mit welcher der Kaiser seine Untertanen erfreut. Die Institutionen bestehen also in Rußland nicht, es ist dies ein geistig regiertes Land. Mehrere ausgezeichnete Publizisten bemerken dies schon. Ein französischer Schriftsteller in seinem Werk über Rußland, sagt positiv:

478 Vgl. 31. Vorlesung (Teil I). 479 Vgl. 18. Vorlesung (Teil II).

1300

Teil III Es gibt dort etwas, das ganz und gar nicht vom Menschen herrührt, es ist da ein moralischer Einfluß, dessen Quelle sich anderswo befindet als in den engen Berechnungen der Politik.480

Dieses furchterregenden Geistes hat sich die Vorsehung zur Bestrafung der Fehler dieser Rasse und zu ihrer Vervollkommnung bedient, weil sie dieselbe dadurch zwingt, stets auf ihrer Hut zu sein, stets im Innern zu arbeiten, den Gedanken ihres Herrschers zu erraten und sich nach ihm zu richten. Daher ist auch der russische Soldat von allen slavischen Einwohnern des Nordens am besten entwickelt; er ist der Gebildetste und Fähigste, große Sachen zu begreifen und auszuführen. Von seinem Herrscher zieht er eine moralische Kraft. Polen mit seinen so verschiedenartigen Institutionen, die sehr außergewöhnlich erscheinen müssen, bildet die Gegenpartei des russischen Systems, und dies in dem Grade, daß wir, selbst von den mythischen Zeiten beginnend, seit jenem Bauern als König481, welcher auf einem Fest durch die Ausrufungen seiner freien und freudigen Mitbürger gewählt wurde, kein einziges Individuum in diesem Land sehen, welches die Schicksale des Reichs allein entschiede. Wir gewahren keine Dynastie, deren Bestimmung mit der des Landes verbunden wäre. Wir suchen selbst umsonst nach einem Mittelpunkt der Handlung. Nichts geschieht hier durch die Individuen, Alles macht sich durch die Kollegien. Der politische Keim des polnischen Volkes ist ein Kollegium, eine Versammlung, ein Sejmik (Landtag). Die Geschichte Polens ist eine Reihenfolge von Handlungen verschiedener Sejmiks, die sich entweder mit einander versammeln oder abgesondert, häufig widersprechender Ansichten sind, selten feindselig, die, so zu sagen, ohne ein festgesetztes Ziel handeln. Es gibt jedoch einen moralischen Mittelpunkt, welcher in dem besteht, was man das große Kollegium oder das freie Kollegium oder Versammlung nennt; dies ist der Sejm (Reichstag). Sehen wir nun, welches die Attribute dieses Sejms sind und welche Art des Verfahrens diese Versammlung hatte. Sie ähnelt keiner politischen Versammlung, sie ist von derselben Natur als die Konzilien der Kirche, sie entwirft sogar keine Gesetze, gibt seine Reglements 480 Zitat aus der Rezension über das Buch von Armand Domergue: La Russie pendant les guerres de l’ empire: 1805–1815. Souvenirs historiques de M.  Armand  Domergue, exregisseur du Théâtre Impérial de Moskou et l’un des quarante exilés par le Comte Rostopchin. 2 Bde., Paris 1835, erschienen in „La Gazetta de France“ (8. 11. 1835). 481 Vgl. Brigitte Schultze: König für einen Tag (Z chłopa król). Ein Stoff, Thema und Motiv in polnischer und in transkultureller Perspektive. In: Polen unter Nachbarn. Polonistische und komparatistische Beiträge zu Literatur und Sprache. XII. Internationaler Slavistenkongreß in Krakau 1998. Herausgegeben von Hans Rothe und Peter Thiergen. Köln, Weimar, Wien 1998, S. 301–342.

25. Vorlesung (27. Juni 1843)

1301

heraus, sie besitzt keine ausübende Kraft. Sie versammelt sich, um eine gewisse Frage zu lösen und die Moralität derselben zu bestimmen. In den ersten Zeiten bediente sie sich dieser Formel: Wer anders handeln würde, sei verflucht! Ging es darum, den Krieg zu erklären, so untersuchte das große Kollegium, ob man das Recht habe, diesen Krieg zu führen. Es beauftragt die Landboten, in dieser Hinsicht eine bis in die geringsten Einzelheiten eingehende strenge Nachforschung zu halten; so kam es mehrmals, daß Anerbietungen von Städten und Völkerschaften zurückgewiesen wurden, welche sich Polen einverleiben wollten, weil man aufdeckte, daß es keine rechtmäßige Ursache gab, sie ihren bisherigen Besitzern zu entreißen. Diese moralische Frage einmal entschieden, hört auch das Tun des Sejms auf. Alsdann ist jedermann berufen, je nach seinen Kräften und Mitteln die Entscheidung durch den Krieg zu bewerkstelligen. Jeder freie Mensch hatte bei den Polen das Recht, die Ausländer zu bekriegen, jedoch nur unter der Bedingung, daß er die schwere Verantwortlichkeit, die hieraus entstehen könnte, auf sein Gewissen nehme. Die Republik erlaubte den Krieg. Wenn sich das Ausland beklagte, gestattete sie ihm zuweilen, ihre Krieger bis in die Länder der Republik zu verfolgen, es fand jedoch keine Auslieferung statt. Sobald der Sejm entschieden hatte, daß es gerecht und notwendig sei, den Krieg zu führen, so war jeder durch sein Gewissen berufen, gegen den Feind zu marschieren. Den Sejm betrachtete man, wenn er regelrecht versammelt wurde, als beseelt vom Heiligen Geist. Dies ist ein grundsätzliches Dogma der polnischen Konstitution. Jedes Individuum hatte das Recht, sein veto entgegen zu setzen, den Fortgang des Sejms aufzuhalten; eine außerordentlich merkwürdige Tatsache ist es aber, daß während mehrerer Jahrhunderte es keiner wagte, dieses Recht zu gebrauchen. Der König wurde vom Sejm gewählt, nach der Eingebung des Heiligen Geistes. Jeder freie Mensch (wir wenden nicht das Wort szlachcic [Adliger] an, weil dies bei den Ausländern eine falsche Vorstellung hervorruft; man vergleicht jedesmal den polnischen Adel mit dem französischen oder englischen; das Gegenteil ist der Fall, man muß sich einen türkischen Spahi482 oder einen franc-homme483 aus der Zeit der Merowinger denken), jeder freie Mann konnte gewählt werden, aber es war verboten, seine Ansprüche laut zu machen, Parteigänger zu suchen, Zuflucht zu dem zu nehmen, was man Überredung, Machenschaften oder Intrige nannte. Alles das wurde für Sünde gehalten. Der König also erwählt, wurde als das Band 482 Spahi (oder Sipahi) – osmanische Rittersoldaten, die nach Beendigung des Militärdienstes das Recht auf Landbesitzt hatten. 483 Franc-homme: freie Menschen mit Besitz; aus deren Reihen entstand Adelsstand; der Terminus geht auf Pierre de Fontaines (Petrus Fortunatus) zurück, der Rechtsberater Ludwigs IX. war. vgl. Le conseil de Pierre de Fontaines ou Traité de l’ancienne jurisprudence française. Hrsg. Ange Ignace Marnier. Paris 1846, Chap. III, 5, 13.

1302

Teil III

zwischen der Religion und der Politik betrachtet. Man glaubte, daß er dem Volk den Segen bringe, man verlangte, daß er heilig und gut sei. Die Heiligkeit war die erste Bedingung; die Tätigkeit, die Energie, die Gewandtheit waren untergeordnete Eigenschaften. Der König konnte niemandem etwas Böses tun; er konnte niemanden beleidigen, und selbst in den häuslichen Bürgerkriegen sprachen seine politischen Feinde über ihn mit Respekt, kniend oder wenigstens die Mütze ziehend. In der Tat hat die polnische Geschichte den Königen keine Verbrechen vorzuwerfen. Dieser Respekt für den König war in der Meinung des Volks tief eingewurzelt. Der König verteilte alle Gnaden, er hatte nicht einmal nötig zu strafen. Zygmunt Stary (Sigismund der Alte) sagte zu den erstaunten Gesandten, als sie sahen, daß er ohne Leibwachen herumgehe und sich unter die Volkshaufen mische: „Es gibt keinen einzigen Menschen in der Republik, an dessen Busen ich nicht ruhig schlafen könnte.“484 Kommen wir wieder auf die politischen Gesetze. Sobald die Moralität des Krieges durch den Sejm entschieden war, so zog der König, wenn er in Person kommandieren wollte, mit seinem kleinen Haufen von Haustruppen zu Felde, besuchte die großen Herren, die reichen Leute und den Adel und machte sie mit der Entscheidung des Sejms bekannt. Alle Männer von gutem Willen zogen nun in den Krieg. Man erzählt vom König Stefan Batory, daß er, gegen Moskau zu Felde ziehend, bei einem Herrn anlangte. Er hoffte von demselben Hilfe, der Herr jedoch war in Versprechungen karg. Der König zog unbefriedigt von dannen. Den anderen Tag sah er aber auf dem Schloßplatz ein Regiment schwerer Reiterei gut beritten und gerüstet, an der Seite desselben aber einen Feldwagen stehen, mit Geld zur Bezahlung des Soldes gefüllt; am Torweg traf er auf ein zweites Regiment leichter Kavallerie und unterweges noch auf ein drittes Regiment Infanterie, alles gut gekleidet und ausgerüstet auf Kosten dieses Herrn, und daneben gefüllte Wagen mit Geld auf die Dauer des Feldzuges. Auf diese Weise vereinte der König ungefähr hunderttausend Mann Kriegsvölker, mit welchen er Rußland bekämpfte.485 Ging der König nicht selbst in den Krieg, so waren es die Oberfeldherren, welche dieselben Mittel anwandten, um Soldaten zu sammeln. Alles hing auch hier vom guten Willen ab. Die Finanzen wurden ebenso verwaltet. Die Idee, daß durchaus alles Geld im Land durch den Schatz gehen müsse, und daß es der normale Zustand einer Gesellschaft sei, tagtäglich Abgaben von den Menschen zu berechnen: diese Idee ist in Polen unbekannt gewesen. Der Sejm votierte nur freiwillige und für 484 Zitat nicht ermittelt. 485 Begebenheit aus den Memoiren von Ignacy Domeyko: Moje podróże (Pamiętniki wygnańca). Wrocław 1962, Bd. I, S. 204.

25. Vorlesung (27. Juni 1843)

1303

eine Zeit dauernde Beiträge. Wenn diese festgestellt waren, so fanden sich am häufigsten reiche Leute, welche die ganze Summe im Voraus zahlten, die Quittung empfingen, nach Hause zurückgingen und von ihren Mitbürgern sich das Geld zurückerstatten ließen. Es gab keine von dem Schatz bezahlten Amtsstellen, keine besoldeten Beamten noch Amtsgehilfen. Hatte z. B. die Republik nötig, Gesandte ins Ausland abzuschicken, so wendete sie sich an die reichen und mächtigen Männer und beauftragte einen derselben diese Sendung zu übernehmen; sie aber waren verbunden, nicht bloß alle Ausgaben auf eigne Kosten zu bestreiten, sondern selbst den Herrschern Geschenke zu geben und zu gleicher Zeit alle die Geschenke, welche sie von den Herrschern erhielten, der Republik zu überreichen. Es gab Familien, die durch Gesandtschaften zu Grunde gerichtet waren, wie die des Fürsten Zbaraski.486 Einen solchen Dienst betrachtete man aber als verdienstvoll im Angesichte der Republik und selbst als das Seelenheil desjenigen, der ihn unternahm, befördernd; so hatte man auch die Gewohnheit, im Sterben ansehnliche Summen Geldes oder Ländereien der Republik und dem Könige zu verschreiben. Die Besorgung der Gerichtspflege ging von derselben Idee aus. Sei es, daß die Sejmiks oder die kleinen Kollegien, sei es, daß die Tribunale über das Recht in einer Sache entschieden hatten, so wendete sich der Gerichtsbote, welcher den Charakter eines Waffenherolds trug, an alle Männer von gutem Willen, um das Gerichtsurteil des Tribunals in Ausübung zu bringen. Er forderte zuvor den Schuldigen auf, ihm freiwillig zu gehorchen, und man findet in der Geschichte Polens Beispiele, daß sich sehr mächtige Männer der Gerechtigkeit selbst auslieferten. Ja sogar, was mehr ist, selbst Schwerverbrecher, die sich sogar im Auslande befanden, kamen, sich vor den Richter zu stellen, um enthauptet zu werden. Man sperrte sie nicht ein, man ließ sie ruhig, ihnen bloß Zeit gebend, sich für den Tod vorzubereiten; denn ein Edelmann, welcher dem Urteil des Tribunals sich entzogen hätte, wäre als infam und als ein Feigling betrachtet worden. Die öffentliche Meinung hatte ihn verfolgt, so wie sie heute diejenigen verfolgt, welche sich einem Zweikampf entziehen. Ohne diese religiöse Weihe (sanction) ist die Geschichte Polens eine Verwirrung, unmöglich zu entwirren. Ein reicher Mann, welcher zehn bis zwölftausend Haustruppen hielt, verurteilt von einem kleinen Bezirkstribunal zum Wiedererstatten dieses oder 486 Vermutlich Krzysztof Zbaraski (1580–1627), der 1622–24 in diplomatischer Mission in Konstantinopel war, um polnische Gefangene für die Summe von 30 000 Talaren auszulösen; vgl. das epische Gedicht von Samuel Twardowski: Przeważna legacyja, Jaśnie Oświeconego Książęcia Krzysztofa Zbaraskiego […] od […] Zygmunta III […] do […] cesarza tureckiego Mustafy w roku 1621. Na pięć rozdzielone punktów. Z dodatkiem […] stanu pod ten czas, rządow, ceremonij i zwyczajow poganskich, Kraków 1633 (Kritische Ausgabe von Roman Krzywy -Warszawa 2000).

1304

Teil III

jenes Stückchen Landes, wurde von dem Gerichtsboten aufgefordert, und häufig führte ihn dieser ab und setzte ihn in den Turm. Hätte sich dieser Mensch geweigert zu gehorchen, was er wohl tun konnte, so würde er vom Geistlichen nicht die Sündenvergebung bekommen haben; der Priester gab den Gesetzen der Republik die Weihe. In einer Sache, die allgemein begriffen wurde, wo es eine schreiende Ungerechtigkeit gab, stieg jeder zu Pferde, und man bestrafte den Schuldigen auf der Stelle. War die Angelegenheit aber verwickelt, dunkel, konnte die öffentliche Meinung das Wahre vom Falschen nicht unterscheiden; so mußte man den Prozeß von neuem beginnen, man mußte zu neuen Mitteln Zuflucht nehmen, um die öffentliche Meinung aufzuklären. Welches war nun das Streben aller dieser Institutionen, was war der innere Gedanke derselben? Es war dies: den Geist des Menschen zu entwickeln, ihn ohne Unterlaß wach zu erhalten, ihn seine Würde fühlen zu machen, in jedem Augenblick ihn seine Pflichten begreifen zu lehren. Ein freier Mensch bei den Polen konnte nicht alle Schwierigkeiten von sich ab und auf den Reichstag oder die Versammlungen wälzen; war die souveräne Entscheidung einmal kund getan, so mußte er sie von neuem erwägen, den Wert, die Gerechtigkeit derselben erkennen, um seiner Überzeugung gemäß eine Regel des Verfahrens zu finden. Auf diese Art wurde er aus eigenem Willen Richter, Soldat, Vollstrecker; und diese Pflichten währten gerade so lange, als sein guter Wille ausreichte. Nirgends anders in der Welt gibt es ein Beispiel von einer so großen, den Individuen gelassenen Freiheit. Wir kennen keine Institution, die besser geeignet wäre, den Menschen für die Freiheit zu bilden, ihn stets über die materiellen Interessen zu erheben. Das Geld, welches er dem Staat gab, war ein jeden Tag sich wiederholendes Opfer; nachdem er es gegeben hatte, empfand er das köstliche Gefühl, seinem Vaterland einen Dienst geleistet zu haben; die Feldzüge, welche er gegen den Feind mitmachte, wurden für dem Staat erwiesene Dienste und auch für fromme Werke angesehen, so wie es die Kreuzzüge gewesen. Selbst in den Regierungsformen gab es eine große und schöne Mannigfaltigkeit. Der große freie Reichstag ließ das veto zu; jedoch konnte man je nach den Umständen einen konföderierten Sejm versammeln, welcher alsdann wie das englische Parlament und die französischen Kammern verfuhr; er gab die Stimme ab und die Mehrheit der Stimmen verpflichtete die Minderheit. Es gab alsdann kein – veto. Dann konnten sich die Kammern abgesondert versammeln, wie dies jetzt in England und Frankreich angenommen ist, und dann auch wieder unter Umständen konnten sie sich zusammen vereinen und nur eine Kammer ausmachen; so daß diese Regierungsform, je nach den Bedürfnissen, ein englisches Parlament oder eine französische Kammer, eine Art religiöses Konzilium oder eine wahrhaft politische Kammer, zuweilen auch eine Diktatur werden konnte. Es gab Zeitperioden,

25. Vorlesung (27. Juni 1843)

1305

in welchen alle Institutionen aufhörten zu fungieren. Sobald der König starb, wurde Polen durch eine diktatorische Regierung gelenkt; alsdann legte die Republik Trauer an, und es gab keine Freiheit mehr, weil es der König war, welcher nach dem allgemeinen Volksglauben das Bestehen der Freiheit gewährleistete; man ernannte alsdann zeitliche Tribunale mit durchgängig anderen Attributen, welche alle Angelegenheiten summarisch aburteilten, über das Leben und Vermögen aller Bürger verfügen konnten und von deren Urteil es keine Appellation gab, sie wurden sądy kapturowe487 genannt. Ebenso erteilte man den Generalen das diktatorische Recht; der Hetman von Litauen oder von Polen, welcher die Truppen kommandierte, wurde beauftragt, die ganze Republik vorzustellen; er hatte das Recht, über Leben und Tod zu entscheiden; er konnte Adelstitel verteilen; in gewissen Fällen durfte er sogar in Zivil- und Kriminalsachen entscheiden. Wir haben das Ideal des polnischen Staates gezeichnet; Polen jedoch war weit entfernt, dasselbe zu realisieren. Es hatte in dieser Hinsicht ungeheure Schwierigkeiten; das ganze Europa schritt in entgegengesetzten Ideen vorwärts; Europa wurde materialistisch, scholastisch, formell, metaphysisch; es konnte dieses so vielfällige, verschiedenartige Leben nicht begreifen; es nannte dasselbe Verwirrung (confusion)! Sie erschütterte Polen. Um dieses Ideal zu verdeutlichen, wollen wir Ihnen sagen, was den polnischen Ideen zufolge ein König sein muß. Nach dem berühmten Wort des Kaisers Paul von Rußland: „Gibt es in Rußland keinen mächtigen Mann, als nur denjenigen, zu welchem der Kaiser spricht, und diese Macht währt auch nur so lange als das Wort, das er vernimmt; wendet sich der Kaiser ab, so wird der mächtige Mann eine Null.“488 Bei den Polen war der König derjenige, durch welchen der göttliche Geist redete, und sein Königtum währte nur so lange, als ihn dieser Geist beseelte. Polen hat dieses Ideal nicht verwirklicht, es ist dazu gelangt, ein lebenslängliches Königtum zu schaffen und Ämter lenbenslänglich zu besetzen; sie temporär zu machen, dazu gewann es nicht Zeit. Die Konstitution trug in sich selbst eine ungeheure Schwierigkeit; sie verlangte von den Bürgern unaufhörliche moralische Anstrengungen, unerhörte Anstrengungen; sie setzte von den Menschen voraus, als wären sie stets großmütig oder wollten es sein, immer weise oder es zu werden trachtend, stets sich aufopfernd und bereit sich aufzuopfern. Diese Konstitution war, wie wir es schon sagten, 487 Sądy kapturowe (wörtlich: Kapuzen-Gerichte) – während der Thronvakanz einberufene Gerichte, die anfallende Strafverfahren durchführten; als Zeichen der Trauer trugen die Richter schwarze Kapuzen; vgl. Aleksander Brückner: Cywilizacja i język. Szkice z dziejów obyczajowości polskiej. Warszawa 1901, S. 105. 488 Zitat nicht ermittelt; bereits auch in der 5. Vorlesung (Teil II).

1306

Teil III

äußerst schwierig für die Polen, sie konnte nicht wahren. Man darf sich hierüber nicht einmal verwundern; alle einfachen und wenig entwickelten Sachen haben eine viel längere Dauer, die zyklopische Architektur und die der Ägyptier haben die Umwälzungen der Reiche überlebt und widerstehen selbst der Kraft der Elemente; sie sind massiv und einfach, der Geist erscheint dort nicht; die Architektur der Griechen, schon von der Erde mehr befreit, stellt uns entwickeltere Formen dar, sie wird eine größere Dauer als die des Mittelalters haben, die in die Lüfte aufzufliegen scheint, und es ist wohl bekannt, daß, nachdem man eine solche Architektur geschaffen hat, es unbedingt nötig ist, daß der Geist ohne Unterlaß in einem fort über ihre Erhaltung wache. Die Sache verhält sich ebenso mit den organischen Körpern: das niedrigere Tier berührt die Erde mit einer breiten Basis, der Mensch bedarf schon einer materiellen Anstrengung, einer moralischen Kraft, selbst um sich nur aufrecht zu halten; verliert er das Selbstbewußtsein, so fällt er augenblicklich von selbst, er wird zu einem niedrigeren Tier. Nach der Geschichte Polens ist es aber erwiesen, daß dies Volk zu der Schöpfung einer Regierung, einer Gesellschaft des freien Geistes (spontanéité) und des guten Willens vorschritt. Man kann durchaus nicht den Gedanken, die Idee dieses Landes bekommen, wenn man die Geschichtschreiber liest, welche alles durch die Brille der Vorurteile des Auslandes betrachten; ja man findet sogar wenig Aufklärung in der geschriebenen Gesetzgebung, weil sie von Formeln, die dem Ausland entlehnt sind, überfüllt ist; man findet sie nur ganz in den Erzählungen des Volkes, in den Poesien des Volkes, in den Anekdoten, im Leben ausgezeichneter Individuen. Wir wollen noch hinzufügen, daß man keine bessere Idee vom Stand der Gewalten dieses Landes haben kann, als nur, indem man einige Seiten im Werk von Swedenborg489 nachliest und zwar, wo er von dem Reich der Geister spricht; in diesem Königreiche gibt es keine geschriebenen Gesetze, sagt er, es ist ein Königreich der Gebräuche (des usages), wo die Geister immer aufmerksam sind, sich gegenseitige Dienste zu leisten und jeden Augenblick neue Beziehungen (rapports) zu erhaschen, welche ohne Unterlaß abwechseln, und aus denselben die Frucht zu ziehen; und es ist auch nicht ohne Fug und Recht, daß ein polnischer Philosoph, Królikowski, frei aussprach, das künftige Polen sei berufen, keine geschriebenen Gesetze zu haben. Hätte er auch nichts mehr gesprochen als 489 Emanuel Swedenborg (1688–1772); Zitat nicht ermittelt; vermutlich aus E.  Swedenborg: Arcana coelestia. 8 Bände. London 1749–1756; deutsche Übersetzung: Himmlische Geheimnisse. Zürich 1998–2000; vgl. Martin Lamm: Swedenborg. Eine Studie über seine Entwicklung zum Mystiker und Geisterseher. Zürich 2012; Friedemann Stengel: Aufklärung bis zum Himmel. Emanuel Swedenborg im Kontext der Theologie und Philosophie des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2011.

25. Vorlesung (27. Juni 1843)

1307

nur dies einzige Wort, schon wäre seine Spur ehrenwert zwischen den polnischen Publizisten gezeichnet. Nachdem die slavische Rasse lange Zeit gewirkt hatte, einen Zustand der Dinge, so erhaben und so schwierig, zu schaffen und zu erhalten, erlag sie in den Polen von neuem der Versuchung des Genusses; der König wollte die Liebe seiner Untertanen und diese den Monarchen Europas unbekannte Sicherheit genießen; die reichen Leute genossen ihr Vermögen und ihre Beliebtheit; der Adel endlich machte in den letzten Zeiten der Sachsenkönige, nach dem Ausdruck eines englischen Verfassers490, aus Polen ein einziges Fest und eine einzige Kirmes; man trank, man beglückwünschte sich, man sprang vor Freuden und Hoffnung; während dieses frohlockenden Genusses vergaß man aber gänzlich das Schicksal der armen und arbeitsamen Klassen; der Adel machte selbst seinem Dasein ein Ende, indem er allen denen, welche nicht von Adel waren, den Eintritt in die Republik verschließen wollte, er strebte darnach eine Kaste zu werden; dann aber mußte, wie einst die Gemeinde und später das Fürstentum, so auch jetzt die Republik fallen und abwarten bis es der Vorsehung gefiel, einen neuen Ruf ergehen zu lassen. Während also die Tschechen und die Bewohner der Donauländer, seit langem schon aufgehalten in ihrer Entwickelung, getreulich ihre häuslichen und Privattugenden aufbewahrend, eine bessere Ordnung der Dinge abwarten, fängt in den beiden Staaten, die seit so langer Zeit miteinander gekämpft haben, der Geist, der sie bis dahin beseelte, an, schwach zu werden; jener grausenhafte Geist, jener souveräne Geist Rußlands hat nicht mehr dieselbe Kraft; der Geist der Tschechen und der Polen hat schon die Masse des russischen Volks durchdrungen; ein General, vollstreckt er auch noch den unerbittlichen Befehl des Herrschers, so beginnt er doch schon die Notwendigkeit zu fühlen, diesen Befehl in seinem eignen Gewissen zu rechtfertigen, er glaubt nicht mehr an die moralische Unfehlbarkeit des Kaisers, zuweilen sucht er selbst diesen Befehl zu mäßigen; und diese geringe Mäßigung, welche jeder Befehlshaber, jeder Beamte in seinen Dienst hineinbringt, beweist schon eine ungeheuere Veränderung, die in Rußland vorgeht. Andererseits wäre es aber auch umsonst und überflüssig zu glauben, daß das alte Polen wiederhergestellt werden könnte, mit diesem Königtum, das durch eigene Schuld untergegangen ist, und diesem Adel, der sich selbst entleibte. Darum kann man schon ganz und gar überzeugt sein, daß der große Kampf zwischen den drei mythischen Brüdern dem Czech, Lech und Ruß geendet ist; alle drei sind sie bereits tot; umsonst ist die Arbeit derjenigen, die noch jetzt ihre Nachkommen, die einen gegen die anderen aufreizen wollten, im Namen 490 Nicht ermittelt; auch in der 11. Vorlesung (Teil II).

1308

Teil III

bloß ihres alten Volkshasses. Nur Menschen, die an der Vergangenheit haften geblieben sind, rechnen noch auf dies Mittel; wir wiederholen es aber, daß diese drei Patriarchen bereits tot sind, und daß alle Blicke der slavischen Völker im Himmel und auf Erden nach jemandem suchen, der das Erbe übernehmen möchte. Alle großen Staaten des Altertums und der neueren Zeiten sind durch große Männer geschaffen worden. Was ist es aber, ein großer Mann, und warum ist er groß? Dies ist er, weil wir alle, die wir klein sind, uns in seiner Größe teilweise wiederfinden. Jeder Araber fühlte in Mahomet seine eignen Leidenschaften und die Ergießungen seiner Seele. Weshalb war Napoleon so groß? Deshalb, weil jeder Franzose in der Energie, in dem freien Geistesschwung (spontanéité) dieses Mannes dasjenige erkannte, was das wahrhafte Wesen des französischen Genius ausmacht und auch das, was jedes Individuum in sich selbst teilweise empfand. Wer nur irgend die Wichtigkeit der slavischen Frage kennt, die Frage der zahlreichsten und materiell der stärksten Rasse, der wird nicht erwarten, sie durch die politischen Berechnungen gelöst zu sehen. Die großen Staaten sind geschaffen worden durch große Männer, und ihr Entstehen ist von Wundern und Erstaunlichem umgeben. Die Ankunft eines neuen Geistes unter die Slaven muß alle diese mysteriösen Merkmale tragen. Es ist dies eine religiöse Rasse, es ist dies eine einfache Rasse, gut und kräftig. Es muß der neue Geist, welcher den Ruf an ihre Sympathien wird ergehen lassen, alle die Eigenschaften des häuslichen Lebens, des Gemeindelebens und die politischen dieser Rasse vorstellen. Es muß in diesem Geiste der Tscheche sich als der Bruder des Polen und des Russen erkennen. Wo ist aber die Wiege dieses Geistes? Wir werden es freimütig heraussagen, sollten wir selbst unseren Mitbrüdern, den Russen und den Tschechen, und den an der Donau mißfallen, die wir in gleicher und aufrichtiger Liebe umarmen; ja freimütig wollen wir es sagen, diese Wiege ist auf der Karte der slavischen Länder gezeichnet. Mögen sie nach derselben suchen, die Geschichte aller Länder erwägend. Diese Wiege kann nirgends anders sich finden als inmitten des Volks, das von allen slavischen Völkern am meisten gelitten hat, welches Europa am nächsten berührt hat, welches Europa am meisten schuldig ist und welches Europa am meisten gedient hat. Das polnische Volk hat alle diese charakteristischen Merkmale. Nicht seine Heldentaten sind es, welche ihm diesen Vorrang erwarben, sondern sein langes und grausames Leiden. Erinnert euch an die Worte des polnischen Propheten und Dichters Brodziński, „daß das allergrößte Genie die allerunglücklichste Nation ehelicht.“491 Er sprach von Napoleon und Polen, alsdann möge man aber auch 491 „największy mocarz świata poślubił naród najnieszczęśliwszy“ – Zitat-Paraphrase aus Kazimierz Brodziński: O narodowości Polaków. Warszawa 1831, S. 14.

25. Vorlesung (27. Juni 1843)

1309

raten, welch ein Geist aus einer solchen Ehe entsprießen muß, man suche ihn zu erkennen; denn seine Sendung wird er erfüllen, sei es mit euch, sei es ohne euch oder selbst trotz euch. Und was wird dieser Geist den Völkern des Abendlandes bringen, weil die Zeiten vergangen sind, wo die Völker sagten: jeder bei sich, jeder für sich?492 Worin würde der Völkerfortschritt bestehen, bestrebten sie sich nicht, eine religiöse, politische und soziale Einheit aufzubauen? Die Slaven haben das Gefühl dieser Notwendigkeit erlangt, sie haben aber noch nicht die Kraft, es zu verwirklichen. Wir wollen sie an jene Vorlesungen erinnern, wo wir ihnen zu zeigen gesucht haben, daß alle Bewegung und alle Kraft in Frankreich seinen Sitz hat. Frankreich aber, belastet von der Schwere der Interessen ganz Europas, besessen von einer langen und glorreichen Vergangenheit, die ein zähes Leben hat, angefallen von den Interessen der Gegenwart, welche die Zukunft nur mit Schrecken sehen: Frankreich wird es schwer, seine eigene Größe zu begreifen; es hat noch nicht das Maß seiner eigenen Macht erlangt. Die Männer der Kraft, die Männer des freien Geistes von Frankreich, indem sie die Augen um sich herum werfen, suchen umsonst nach einer Stütze und nach dem Hebel der Handlung. Wir wollen schließen, uns dem Genius Frankreichs, dem Genius aller derjenigen Männer, die von der Zukunft nicht verzweifelt haben, zuwendend. Wir versprechen ihnen, selbst ohne Scheu, daß irgendeiner von unseren Mitbürgern uns widersprechen würde; wir versprechen ihnen, daß sie in der slavischen Rasse die Stütze, die Aufmunterung und das Werkzeug finden werden. Diese Rasse mögen sie betrachten als die künftigen Träger und Heerscharen dieses WORTES, das die neue Epoche schafft.

492 Gemeint ist die Äußerung von André Marie Jean Jacques Dupin (1783–1865): „chacun chez soi, chacun son droit“ (Jeder bei sich [im Lande], jeder hat sein Recht), die in Frankreich sinnentstellt in Umlauf gebracht wurde („Chacun chez soi, chacun pour soi“ – Jeder bei sich, jeder für sich). Dupin kritisierte diese Umdeutung als Ausdruck nationalen Egoismus in den Kommentaren zur französischen Verfassung; vgl. Constitution de la République Française: Accompagnée de notes sommaires explicatives du texte, et suivie de diverses pièces et de quelques discours prononcés dans la discussion du projet, par M. André-Marie-Jean-Jacques Dupin. Paris 1849, S. 110–111; Mickiewicz bezieht sich darauf auch in der 2. Vorlesung (Teil IV).

Teil IV (1843–1844)

1. Vorlesung (22. Dezember 1843) Über den slavischen Geist und über dessen Bündnis mit dem französischen Geist. Eine Warnung für den Westen. – Was bringen die Slaven Neues? – Was kann die Basis des Völkerbundes sein?

Meine Herren! In der Fortsetzung unseres Vortrags gereicht es uns zur Aufmunterung, eine Tatsache bemerken zu können, die den Gegenstand desselben dem Publikum dieses Landes weniger fremd macht: diese Tatsache ist das Interesse, welches in den Sphären der höheren Politik, der Literatur und selbst im Publikum alles dasjenige zu wecken anfängt, was die Bewegung der slavischen Völker betrifft. Die Reisen in Rußland, die Reisen, in Österreich, die Werke über die Politik und die Zukunft Österreichs, die Werke über Preußen folgen sich nach einander und finden zahlreiche Leser. Die Verfasser dieser Veröffentlichungen stimmen fast alle in gewissen Hauptpunkten überein. Alle erkennen sie an, daß im nördlichen und Mitteleuropa sich Veränderungen vorbereiten, welche nicht ohne Einfluß auf Europa und somit auf die Bestimmungen der ganzen Erdkugel bleiben können. Alle diese Verfasser erkennen es desgleichen für dringend notwendig an, Frankreich mit diesem Zustande der Dinge bekannt zu machen, Frankreich aufzufordern, die Stellung einzunehmen, welche ihm im Einklange mit seinen sichtbaren wie auch jenen Kräften, die noch verborgen sind, gebührt, mit Kräften, die sich nur von Männern erraten lassen, die zu ihrem Führer viel mehr den Instinkt der Zukunft als die Routine der Vergangenheit nehmen. Bemerkenswert ist, daß ein deutscher Schriftsteller, der eben eins dieser wichtigen Werke über Österreich1 veröffentlicht hat, Frankreich die erste Rolle in der Wiedereinrichtung Europas anweist. Wir widmeten die drei vorhergegangenen Jahre, um so zu sagen, dem französischen Gedanken den Weg gegen jene unbekannten Regionen, wo sich die Zukunft vorbereitet, zu bahnen. Wir haben gezeigt, daß das Vorgefühl der nahen Auflösung des österreichischen Kaiserreichs, dieses einst so mächtigen und für Frankreich so drohenden Reiches, daß die Ungewissheit, welche man in den Bewegungen Preußens sieht, daß der Waffenlärm, welchen Rußland schlägt, um die Welt und sich selbst über die eignen Gefahren zu betäuben, daß alle diese Erscheinungen von einer einzigen Ursache herrühren, von dem Geisteserwachen der slavischen Rasse. 1 Viktor Franz von Andrian-Werburg: Österreich und dessen Zukunft. Hamburg 1841 (21843).

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_101

1314

Teil IV

Diese Rasse will leben; sie fängt zu leben an, und ihr Leben ist unvereinbar mit dem Bestehen der Staaten, welche die slavische Rasse beherrschen. Dieses Leben ist bestimmt, sich in der Zukunft zu entfalten, und die Regierungen, die auf dem ungeheuern, von Slaven besetzten Flächenraum lasten, stammen von der Vergangenheit her, sie sind auf der Vergangenheit basiert und klammern sich jetzt mit dem Starrsinn der Verzweiflung an diese Vergangenheit fest. Es war äußerst schwierig, die Bestrebungen der slavischen Bevölkerung, ihre Bedürfnisse und ihre Wünsche zu erkennen zu geben, und zwar, weil die slavischen Geschlechter, geteilt unter einander, überwacht von den Regierungen, sich nicht anders mitteilen können, als nur Werke der Philosophie und Poesie gegenseitig sich zuwerfend. Diese Bücher gelangen nur bruchstückweise in die Länder des Westens; zudem muß man aber noch tief in die Geheimnisse ihrer inneren Zerwürfnisse und ihrer Hoffnungen eingeweihet sein, um diese Bruchstücke, die jenen sibyllinischen Blättern2 gleichen, welche der Wind von den Höhlen forttrug und die man sorgfältig ordnen musste, um dort die Zukunft zu lesen, entziffern zu können. Diese Rasse, sie selbst hat noch nicht das Bewußtsein ihrer Bestimmung. Sie verlangt in dieser Hinsicht nach Hilfe, diese Hilfe kann ihr nur vom Westen kommen. Die Zeit ist sogar noch nicht vorhanden, um über die Slaven alles zu sagen. Die Vorsehung verbirgt die volkstümlichen Geheimnisse, die wichtigsten für den entscheidenden Augenblick des Tuns, und es ist nicht erlaubt, dieselben zum Gegenstand der Neugierde für das Publikum zu machen.

2 Vgl. die Beschreibung der Seherin Sibylle, die Äneas aufsuchen soll, in Vergils „Äneis“, liber III, 440–452: „Trinacria finis Italos mittere relicta. / huc ubi delatus Cumaeam accesseris urbem / diuinosque lacus et Auerna sonantia siluis, insanam uatem aspicies, quae rupe sub ima / fata canit foliisque notas et nomina mandat. / quaecumque in foliis descripsit carmina uirgo / digerit in numerum atque antro seclusa relinquit: / illa manent immota locis neque ab ordine cedunt. / uerum eadem, uerso tenuis cum cardine uentus / impulit et teneras turbauit ianua frondes, / numquam deinde cauo uolitantia prendere saxo / nec reuocare situs aut iungere carmina curat: / inconsulti abeunt sedemque odere Sibyllae.“ (Wirst aus Trinakrien du siegreich nach Italien kommen. / Wenn dorthin du gelangt und Kymes Stadt du genaht bist / Mit den geweihten Seen und dem waldumrauschten Avernus, / Wirst du die Seherin schaun, die verzückte, die tief in der Felskluft Zukunft singt und Namen und Schrift auf Blätter verzeichnet / Jeglichen Spruch, den die Jungfrau hier auf Blätter geschrieben, Bringt sie in Ordnung sofort und lässt in der Kluft ihn verschlossen. / Ruhig auch bleibt dort alles am Platz in gehöriger Ordnung. Doch, wenn die Angel man dreht und der Wind nur leise die Blätter / Rührt und die offene Tür in Verwirrung das flüchtige Laub bringt, / Kümmert sie weiter sich nicht, ob die Wölbung der Kluft sie durchflattern, / Greift sie nicht, ordnet sie nicht und vereint nicht wieder die Sprüche. / Ratlos ziehet man fort und verwünscht das Geklüft der Sibylle). Zitat nach: [https://www.gottwein.de/Lat/verg/aen03.php].

1. Vorlesung (22. Dezember 1843)

1315

Nachdem wir diesen ersten Teil unserer Aufgabe erfüllt, nachdem wir uns alle Mühe gegeben, den Slaven, was vorgeht und was in den verschiedenen Fraktionen ihrer Bevölkerung sich vorbereitet, zu erkennen zu geben, nachdem wir uns bemüht haben, ihnen die Geheimnisse ihrer Zukunft aufzudecken, endeten wir damit, sie aufzufordern, sich anzustrengen das zu begreifen, was in der Errichtung dieses Lehrstuhls Bedeutungsvolles liegt. Für jetzt verlassen wir die partiellen Angelegenheiten, die lokalen Interessen der slavischen Länder; wir beginnen einen anderen Teil unseres Vortrags; wir müssen nunmehr dasjenige, was das Wesentlichste, das Innerste, das Heiligste im Berufe Desjenigen ist, der sich Organ großer Völker zu nennen wagt, erfüllen. Zeit ist es, jenem Rufe zu entsprechen, der uns aus den slavischen Ländern zugekommen ist, in welchem man uns aufforderte, die Einzelheiten aufzugeben, den slavischen Geist erscheinen, ihn zum Genius der Großen Nation reden zu lassen und die Geheimnisse desselben zu erklären. Auch müssen wir auf die Frage, welche an uns zu richten, Frankreich das Recht hat: „Slaven, was bringt ihr neues? Womit kommet ihr auf die Schaubühne der Welt?“ antworten: Die Antwort auf diese Frage, die wir schon längst in unserem Gewissen lasen, finden wir bereits angedeutet in dem, was um uns her vorgeht und wir sind selbst durch äußere Rücksichten getrieben, hierauf mit allem Freimut zu antworten. Betrachten wir die Verfasser, von denen wir ihnen gesprochen, hören wir die Publizisten des Westens, wie sie von allen Seiten her die Gefahren verkünden, welche vom Norden kommen, und vergleichen wir mit der Größe, mit der Unendlichkeit dieser Gefahren den Ton, in welchem man über sie spricht, so fühlen wir uns fürwahr wie von Schreck erstarrt für den Westen. Daß sich doch diese Publizisten nicht bis zu der Höhe der Stimmung einer so großen Angelegenheit erheben können; sie verkünden ihnen den Fortschritt einer grauenhaften Macht, und das mit dem kalten Blute der Mediziner, welche uns vor einigen Jahren den Gang jener furchtbaren Seuche3 meldeten, wie diese die Steppen Asiens durchschritt, die Bevölkerungen niederwürgend und in unsern Städten die schwarze Fahne aufsteckend. In diesen Veröffentlichungen, in diesen Aufrufen, in diesen Warnungen fühlt man nicht einmal jene Glut, die einem tapfern Volke das Vorgefühl einer künftigen Schlacht gibt, sei es einer moralischen oder physischen, Man verspürt weder in den Schriften, noch in den Worten jenen Ton, der die innere Kraft beurkundet.

3 Gemeint ist die Cholera, die 1827 in Indien ausbrach und über Rußland um 1831 nach Europa gelangte.

1316

Teil IV

Unsere Schuldigkeit ist es daher, ihnen zu beweisen, daß diese Glut, diese Entrüstung, daß alle diese Zeichen der Kraft bei einem großen Volk vorhanden sind. Bedroht die der Feind von jener Seite, so finden sie daselbst auch Bundesgenossen, diese Verbündeten fordern sie auf, und sie können diesem Bunde vertrauen. Bis heute, wir wissen es, basierten sich die Verträge der Völker und der Reiche nur auf dem, was man das materielle Interesse, das Handels-, das KriegsInteresse nennt. Man gründete sie zuweilen auf die Gleichmäßigkeit der Regierungsformen. Wird es jedoch immer so bleiben? In den Beziehungen unsers Privatlebens schließen wir kein Bündnis, dessen unsere Seele gewiß wäre, als nur unter der Bedingung, in dem Individuum, das uns zu demselben auffordert, den gleichen Lebenskeim der uns beseelt, zu entdecken, dieses auf eine spontane Weise zu fühlen, und was nicht von unserm Willen abhängt, daß der Mensch, dessen Freund oder Waffenbruder zu werden wir im Begriffe stehen, auch unser Bruder im Geist ist. Folglich, weil wir so gewissenhaft in der Wahl unserer besondern Bündnisse sind, wie könnten wir nur fortfahren das Interesse des Angenblicks für die einzige Basis der Verträge unter den Völkern zu halten? So wird es nimmermehr sein: man müßte sonst zum mindesten das Evangelium ableugnen, und aus unseren Seelen all das Leben reißen, das es in dieselben hineingelegt, die Völker werden unbedingt berufen sein, ihre Bündnisse auf die eine innere Wahrheit zu gründen. Dann haben die slavischen Völker im Allgemeinen, und Polen insbesondere, das Recht, von uns zu verlangen, daß wir ihnen ein lebendes Zeugnis des Interesses und der Liebe, die diese Völker für Frankreich haben, ablegen; sie haben das Recht, von uns zu verlangen, daß wir alle unsere Kräfte zusammennehmen und aus der Tiefe unserer Seelen einen Funken, einen Strahl ziehen, der ihnen zum unmittelbaren Beweise für das Vorhandensein einer großen Flamme und eines großen Lichts diene. Es handelt sich darum, sie fühlen zu lassen, daß der Kern unsers moralischen Lebens, als Volk betrachtet, derselbe ist wie derjenige, welcher die Basis der französischen Nationalität ausmacht. Und es ist uns nicht mehr erlaubt, dieses bloß durch Bücher zu erweisen, durch Auseinandersetzen der Systeme, sorgfältig dasjenige nachsuchend (wie wir bis dahin getan), was in den Veröffentlichungen des Westens dem Publikum den Gang gegen die Zukunft erleichtern und ihm das Mittel geben könnte, das im Streben unsers Volkes enthaltene Heilige, Große und Starke zu begreifen. Der hauptsächliche Beweis, welcher alle übrigen umfaßt, ist derjenige, den wir hier in uns, in unserer Person, in unserer Seele und Gewissen darbringen. Wir kennen selbst auf Erden kein zweites Publikum, das man dermaßen anreden könnte. Die Franzosen allein sind fähig zu begreifen, daß das Wort, daß der Ton, daß der Ausdruck (accent) dasjenige ist, was nie trügt, daß der

1. Vorlesung (22. Dezember 1843)

1317

Ausdruck der Beweis von dem ist, was man spricht. Wir müssen daher, tief in uns gehend, die Zuhörer fragen: Fühlen sie, daß dasjenige, was wir sagen, wir in unserer Seele und Gewissen gesagt haben? Fühlen sie, daß jedes unserer Worte aus unsern Eingeweiden gezogen ist? Antwortet ihnen aber ihr Geist: Ja! so sind sie verpflichtet, diesem alle ihre Aufmerksamkeit zu schenken, und wir werden selbst alle Mittel anwenden, um sie zu wecken, um sie anzuziehen: sollten wir selbst den Gewohnheiten unsers Auditoriums Gewalt antun, ja sollten wir durch Schreien enden, so werden wir keinen Augenblick ansiehen und schreien. Dieses Schreien rührt nicht von unserer Persönlichkeit her, selbige zum Opfer zu bringen sind wir entschlossen, diese Rufe kommen aus der Seelentiefe eines großen Volkes, aus der Tiefe seiner ganzen Überlieferung. Nachdem sie durch meinen Geist gegangen, fallen sie mitten unter sie, wie Pfeile, die noch von Blut und Schweiß dampfen. Nur indem wir die Realität des Lebens durch das Leben beweisen und ihnen das wirkliche Vorhandensein der Kraft, auf welche sie zählen können, offenbar vor Augen legen, dürfen wir auf Ihre Sympathien rechnen; alsdann auch werden sie erkennen, von welchem Werte die Sympathie eines so fernen und so wenig bekannten Volkes sein kann. In dem Augenblicke der Ermüdung oder der Gefahr, wie vielemal stärkt uns da nicht die Erscheinung eines Freundes, der Zuruf eines uns zur Hilfe eilenden Soldaten. Auf diese Art weckt das Leben wieder Leben. Es ist dies das letzte Resultat des Lebens, der Individuen und der Völker. Die Individuen, sagt der lateinische Dichter, gehen schnell vorüber, sich die Fackel des Lebens, lampada vitae4, überreichend. Ebenso geht es mit den Völkern zu. Der Mann, dem es gegeben ist, diese Fackel, diesen Kelch des Lebens in die Höhe zu heben, muß ihn rein und hoch halten, auf daß er sich mit allem dem, was irgend Lebendes und Mächtiges im Volke vorhanden ist, füllen kann, Er muß sich alsdann vergessen. Sich vergessen ist wenig gesagt: verschwinden muß er persönlich aus der Mitte seiner Zuhörer. Nur wer dieses Opfer bringt, kann hier seinen Beruf erfüllen! Alles, was wir in unserer Seele von Feuer, von Liebe und Kraft haben fassen können, sind wir berufen hier zu ergießen. – Wohlan denn! wir heben diesen Kelch, einen feierlichen Trunk dem Genius des großen Volkes, dem Genius 4 Vgl. Lucretius: De rerum natura, liber II, 77–79: „augescunt aliae gentes, aliae minuuntur, / inque brevi spatio mutantur saecla animantum / et quasi cursores vitai lampada tradunt.“ (Ein Volk steiget empor, ein anderes sinket danieder; / Die jetzt lebende Welt ist nicht in kurzem dieselbe: / So wie die Läufer der Bahn nimmt einer die Fackel vom andern). – Titus Lucretius Carus: Über die Natur der Dinge. Lateinisch und deutsch. Hrsg. und übersetzt von Josef Martin. Berlin 1972.

1318

Teil IV

Frankreichs darbringend; und, nach diesem Opfer; hat man das Recht, diesen Genius aufzufordern. Nur auf diese Art können wir uns auf ihre Sympathien berufen. Ohne dieses Mitgefühl würde es uns unmöglich werden, jene Gemeinschaft des Geistes unter uns festzustellen, ohne welche das Leben zwischen dem der spricht, und denen die zuhorchen, nicht frei herumkreisen kann. Wir haben kein Recht, ihnen diese Sympathie abzuverlangen. Wir müssen sie verdienen, wir müssen sie erringen. Nur unter der Bedingung ist es uns erlaubt, an sie das Wort zu richten. Ebenso wie wir schon längst das Gefühl vergaßen, das uns von unsern slavischen Mitbürgern hätte trennen könnem ebenso vergessen wir heute unser Volkstum und unsere Herkunft. Mit den Augen eines Franzosen und in unserem Geist jene Kraft, die der slavische Genius herbeibringt, mit dem Wissen, das den Westen regiert, zu vereinen suchend, werden wir von nun an die slavische Frage betrachten. Gelingt es uns nicht ihre Sympathie zu erlangen, so wird unsere Schuldigkeit sein, aus der Mitte unserer Landsleute denjenigen zu rufen, der sich besserer Franzose, besserer Slave fühlt, der mehr Kraft oder mehr Wahrheit in sich trägt als wir, wir werden ihn auffordern, unseren Platz einzunehmen, denn diese Stellung kann nicht aufgegeben werden. Erkannt haben wir sie zu Anfang als Sinnbild der Bundeslade für die künftige Vereinigung der slavischen Geschlechter; sie wurde später die Tribüne, von welcher die historische Wahrheit sich hat können hören lassen: von heute an wird sie zu einem militärischen Streitposten, zu einer Kriegsschanze, die der Genius Frankreichs dem slavischen Geist, dem Bundesgenossen des französischen Volks anvertraut.

2. Vorlesung (26. Dezember 1843) Über das wahre Leben und über das scheinbare Leben – Die Doktrinäre im Allgemeinen – Durch welches Mittel kann sich die slavische Rasse für Frankreich besonders begreiflich machen? – Die Intuition.

Meine Herren! Bemerkt hat man in ihren politischen Versammlungen, seit der großen Revolution, Individuen, die Monate und zuweilen Jahre lang, ohne das Wort zu verlangen, bloß durch Zeichen und Ausrufungen verkündeten, daß sie die Gefühle teilten, von denen die Versammlung bewegt war. Ihr inneres Leben schritt mit mehr Kraft und Schnelligkeit voran, als die Auseinandersetzungen der Versammlung. Eine Zeit kam endlich, wo diese schweigsamen Männer sich gezwungen fühlten, der Reihe nach zu reden, weil sie in den Reden ihrer Kollegen nicht mehr die innere Stimme ihres Gewissens wiedererkennen konnten. Dasselbe geschieht bei den Völkern: eine große Rasse, ein großer Teil der Menschheit, findet sich in der Lage dieser stummen Personen. Ihre Philosophie und ihre Poesie sind nichts mehr denn Zeichen der Beistimmung, Gebärden der Aufmunterung, von ferne den Völkern des Westens gegeben, diese Zeichen aber werden immer seltener und seltener, denn sie konzentriert sich, sie bereitet sich vor das Wort zu verlangen. Als Dolmetscher des inneren Lebens der slavischen Rasse sehen wir uns endlich verlassen (désertes) sowohl von der Poesie, wie auch von der Philosophie. Inmitten dieses Stillschweigens kam uns eine Schöpfung zu, ein anonymes Werk, das jedoch zu erhaben ist, um nicht die Quelle erraten zu lassen, der es entfließt. Anonym wie die Mehrzahl der slavischen Werke dieser Epoche, wurde es selbst ohne Wissen des Verfassers veröffentlicht. Durch solchen vorsehungsartigen Verrat zum Allgemeingut geworden, macht das Erzeugnis das Programm unseres gegenwärtigen Kurses aus. Es ist betitelt das „Gastmahl“ („Biesiada“5). 5 Schrift von Andrzej Towiański (1799–1878). In: A.  Towiański: Wybór pism i nauk. Hrsg. Stanisław Pigoń. Kraków 1922, S. 53–69 (= Biblioteka Narodowa. Seria I. Nr. 8); neue Ausgabe – Andrzej Towiański: Biesiada. Wielki period. Red. Magdalena Siwiec. Kraków 2002. Deutsche Übersetzung der „Biesiada“ unter Berücksichtigung der Textvarianten vgl. Marlis Lami: Andrzej Towiański (1799–1878). Ein religiöser Reformer im europäischen Kontext seiner Zeit. Göttingen 2019, S. 241–254. Vgl. auch Stanisław Pigoń: „Biesiada“ A. Towiańskiego (i jej komentarz w IV kursie „Prelekcji paryskich“ Adama Mickiewicza). In: Biblioteka Warszawska, rok 1914, tom I, S. 510–544; (Wiederabdruck in: S. Pigoń: Z epoki Mickiewicza. Lwów 1922, S. 241– 309); Wiktor Weintraub: Poeta i prorok. Rzecz o profetyzmie Mickiewicza. Warszawa 1982, S. 344–432. Über den Towiański-Forschungsstand vgl. Kwirina Ziemba: Sprawa Pana Andrzeja w stanie badań ostatnich lat trzydziestu (1967–1997). In: Adam Mickiewicz. Kontext und

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_102

1320

Teil IV

Unter den Philosophen werden wir nur noch den Polen Cieszkowski6 und den Amerikaner Emerson7 anführen; diese werden uns helfen, dasjenige, was in dem eben erwähnten Erzeugnisse den Gewohnheiten des Publikums gar zu fremd sein würde, zu begreifen. Auch werden wir zwei polnische Gedichte anführen: das eine betitelt der „Tagesanbruch“ („Przedświt“)8 und das andere „Cezaras Traum“ („Sen Cezary“).9 Um aber zu wagen, ihnen die Vorarbeit mitzuteilen, die wir zu diesem Programm machen müssen, um zu wagen, ihnen auch nur eine Zeile dieses Erzeugnisses vorzulesen, sehen wir uns gezwungen, zuvörderst die Methode, welche alle die politischen und religiösen Auseinandersetzungen des Westens beherrscht, die Methode der Analyse, das Feld der Gebräuche, der angenommenen Gewohnheiten und Schulregeln aufzugeben. Nicht hätte man gewagt vor etwa zwanzig Jahren, hier ein ausländisches Gedicht vorzutragen, zum Beispiel eine Tragödie Shakespeares, weil der Leser zuvor gefragt hätte, welcher Schule man angehöre, und ob man Klassiker oder Romantiker wäre, ob man von Boileaus Schule sei. Glücklicher Weise hat in dieser Hinsicht das Publikum Fortschritte gemacht, und es war uns erlaubt, öffentlich die Leistungen der blinden serbischen Bettler10 und der litauischen Hirten vorzulesen. Hier aber rühren wir an einen viel wichtigeren Gegenstand, an einen Gegenstand, in welchem sich alle die Interessen alle die Fragen der Epoche konzentrieren: wir können das Feld, uns von den Doktrinen und Doktrinärs des Westens dargeboten, nicht annehmen. Das Erzeugnis, dessen Titel wir ihnen angekündigt haben, ist eine Kriegserklärung gegen jede Doktrin, jedes rationale System. Denn was ist eine Doktrin und was ist ein Doktrinär?

Wirkung. Materialien der Mickiewicz-Konferenz in Freiburg (Schweiz) 14.–17. Januar 1998. Hrsg. Rolf Fieguth. Freiburg (Schweiz) 1999, S. 155–180. 6 Über August von Cieszkowski (1814–1894) vgl. Walter Kühne: Graf August Cieszkowski ein Schüler Hegels und des deutschen Geistes. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geisteseinflusses auf die Polen. Leipzig 1938 (Reprint: Nendeln 1968); Andrzej Walicki: Dwa mesjanizmy. Mickiewicz i August Cieszkowski. In: A. Walicki: Filozofia polskiego romantyzmu. Kraków 2008, S. 83–171. Über Cieszkowski vgl. die 18., 22.–23. Vorlesung (Teil III). 7 Vgl. Marta Skwara: Mickiewicz i Emerson: prelekcje paryskie. In: Pamiętnik Literacki 1994, z. 3, S. 104–122. 8 Zygmunt Krasiński: „Przedświt“. Opracował Juliusz Kleiner. Kraków 31924 (= Biblioteka Narodowa. Serja 1; 18). 9 Zygmunt Krasiński: „Sen Cezary“. In: Poezye Zygmunta Krasińskiego. Tom II. Lipsk 1863, S. 209–221. Vgl. die 4. Vorlesung (Teil IV). 10 Gemeint sind die Guslaren, die in Begleitung ihres Instruments, der „gusla“, ihre Lieder vortrugen. Zur serbischen Heldendichtung vgl. die 16.–21. Vorlesung (Teil I). Über „litauische Hirten“ gibt es keine Erwähnungen mehr.

2. Vorlesung (26. Dezember 1843)

1321

Von der genauen Kenntnis dessen, was Doktrin ist, hängt viel mehr ab, als wir gewöhnlich glauben. Sehen wir also zu, was das Forschen nach der Wahrheit und was die Doktrin ist. Jede neue Wahrheit verlangt von Seiten des Menschen eine neue Anstrengung, um sich zu ihr zu erheben, jede neue Wahrheit, das heißt jedes Teilchen eines neuen Lebens, verlangt von Seiten des Menschen das Aufgeben, das Opfer eines Teilchens des alten Lebens. Unmöglich kann man sich eine Stufe höher erheben, ohne den niedrigeren Grad zu verlassen oder ohne gewaltsam von demselben fortgerissen zu sein. Alles, was die Zukunft ankündigt, trennt uns von der Vergangenheit, daher kommt es auch, daß jede Wahrheit die Tochter des Schmerzes ist, daß jede Wahrheit Schmerzen erzeugt; darum auch lebt und besieht jede Wahrheit nur durch Arbeit, welches auch eine Art Schmerz ist. Das Evangelium hat die Wahrheit mit jenen Talenten11 verglichen, welche wir nicht anders bewahren, als nur dadurch, daß wir sie geltend machen. Was tut die Doktrin und was ist ein Doktrinär? Es ist dies gerade der Mensch, der uns die Wahrheit unfruchtbar machen will, denn er trachtet danach, uns von jeglicher Arbeit loszusprechen. Von dem Augenblicke; als man sich glücklich und in seinem Innern erhoben fühlt, eine Wahrheit errungen zu haben, kommt auch sogleich die Doktrin, ihnen zu sagen, daß sie nicht mehr zu arbeiten brauchen, daß sie schon alles besitzen, daß sie mit Hilfe dieses einzigen Lichtstrahles sich ihren Weg durch die ganze Schöpfung beleuchten können und von nun an nur zu genießen, nur ihre Reichtümer zu sammeln und sie gut anzubringen haben, daß alles bereits gefunden sei, daß es sich nur noch darum handle, die Einzelheiten, die Spezialitäten zu vervollkommnen. Die Doktrin gibt Formeln an die Hand. Diese verführerischen Worte treffen den Menschen und enden allmählich damit, ihm alles Leben zu entreißen. So sehen wir nach den Aposteln und Wundertätern die Theologen und die Kasuisten kommen; und alsdann endet man selbst damit zu sagen, daß die Wunder und die Gaben des heiligen Geistes, der einzige Beweis vom Dasein des Geistes, der Menschheit nicht mehr nötig sind, daß die Menschheit nur das Handbuch der Theologie zu öffnen braucht, um daselbst zu erfahren, was nur irgend über Himmel und Erde, über die Welt der Gegenwart und die der Zukunft zu wissen ist. So kommen nach den großen Gesetzgebern die Gesetzeskundigen und die Advokaten mit ihren Formeln und ganz fertig gebackenen Redensarten. So desgleichen kommen nach den großen Heerführern, nach den begeisterten Männern diejenigen Leute, welche die Doktrin der behaglichen Ruhe, des 11

Vgl. das Gleichnis vom anvertrauten Geld (Neues Testament – Matthäus, 25, 14–30).

1322

Teil IV

Bei- sich-Seins (du chez-soi)12 predigen. Ein solcher Menschenschlag verkündet fast immer den Verfall des menschlichen Geistes. So hat die griechische Welt geendet, so endet die abendländische Welt. Eine Doktrin nimmt man gar leicht an, weil sie der Seele nichts kostet, weil sie dem Geiste kein einziges Opfer der Eigenliebe abverlangt. Ein Doktor sagt ihnen: Sie werden große Sachen erfahren, schöne Sachen, sie werden weise und mächtig werden, und nicht gezwungen sein, eine ihrer Überzeugungen zu opfern, ja nicht einmal zu modifizieren. Indem sich nun jeder auf diese Weise alle die Behaglichkeit seiner Selbstsucht bewahrt, macht er sich für das Aufsuchen des Wissens auf, sicher seiend, dasselbe zu erringen und für seine persönlichen Genüsse auszubeuten. Der Westen geht in seinen Doktrinen unter. Würde die Rasse, welche auf die Weltbühne tritt, nur kommen, um ein Buch zu eurem ungeheuren Chaos von Büchern hinzuzufügen, hätte sie nur ein System inmitten eurer Unzahl von Systemen aufzustellen, alsdann brächte sie nichts mit, sie finge ihr Dasein vom Ende an. Dem ist nicht so. Sie nimmt keines eurer Systeme an. Sie hat keines euch vorzuschlagen. Die Frucht, die köstlichste und die reifste, welche vom Lebensbaum dieses Volkes fällt, hat nichts Gemeinsames mit dem, was man ihnen gewöhnlich als philosophisches und literarisches Erzeugnis darbietet. Die Schöpfung, über welche wir arbeiten wollen, geht von jener erhabenen Sphäre aus, von den Philosophen in ihrer Sprache Intuitionen genannt, von jener Sphäre, die durch einen polnischen Philosophem Cieszkowski13, als die einzige Quelle jeder Wahrheit für die Zukunft angezeigt worden ist. Ein amerikanischer Philosoph, Emerson14, ist zu demselben Resultat gekommen. 12

13

14

Bezug zur Äußerung von André Marie Jean Jacques Dupin (1783–1865): „chacun chez soi, chacun son droit“ (Jeder bei sich [im Lande], jeder hat sein Recht), die in Frankreich sinnentstellt in Umlauf gebracht wurde: „Chacun chez soi, chacun pour soi“ (Jeder bei sich, jeder für sich). Dupin kritisierte diese Umdeutung als Ausdruck eines nationalen Egoismus in seinen Kommentaren zur französischen Verfassung; vgl. Constitution de la République Française: Accompagnée de notes sommaires explicatives du texte, et suivie de diverses pièces et de quelques discours prononcés dans la discussion du projet, par M. André-Marie-Jean-Jacques Dupin. Paris 1849, S. 110–111. Mickiewicz bezieht sich auf diese Äußerung auch in der 25. Vorlesung (Teil III). Vgl. August Cieszkowski: Gott und Palingenese. Erstes kritisches Sendeschreiben an den Herrn Professor Michelet. Auf Veranlassung seiner Vorlesungen über die Persönlichkeit Gottes und Unsterblichkeit der Seele. Berlin 1842, S. 53: „Der Mystizismus hat aber seine Wurzel in der tätigen Intuition (welche uns nicht nur ein besserer Ausdruck, sondern auch eine höhere Auffassung der intellektuellen Anschauung zu sein scheint).“ „We grant that human life is mean; but how did we find out that it was mean? What is the ground of this uneasiness of ours; of this old discontent? What is the universal sense of want and ignorance, but the fine inuendo by which the soul makes its enormous

2. Vorlesung (26. Dezember 1843)

1323

Um uns aber in diese Region zu erheben, um in derselben wie in unserer Heimat zu wohnen und kühn in der Sprache des alltäglichen Lebens die erhabensten und heiligsten Geistesanschauungen (intuitions spirituelles) auszudrücken, waren wir gezwungen, einen feierlichen Ruf an das französische Gefühl des Publikums, an dessen mitfühlenden Geist zu machen. Ist dieses Gefühl einmal erwacht, so werden sie erkennen, daß man ihnen nichts Neues bringt. Man erinnert nur das französische Genie an das, was das Innerste seines Wesens ist. Es ist dieses das am meisten geistesanschauliche (intuitive) Genie. Die Intuition, die leichte Fassungskraft dessen, was jeder Augenblick bringt, was man aus jedem Augenblicke ziehen könnte, macht die Spontaneität (die Geistesfreiheit) des französischen Genius aus. Lassen sie sich nicht irreführen von der Doktrin, die ihnen unaufhörlich die Spezialitäten auftischt, als wäre die gegenwärtige Jugend nur berufen, die geringfügigen Einzelheiten der Industrie zu vervollkommnen. Niemand bewundert wohl mehr, als wir, die Wunder der Industrie und ihre ungeheure Kraft, welche mit Besitznahme der ganzen Erdkugel enden wird; hier aber gilt eine viel höhere Frage, es handelt sich darum zu wissen, welches der Geist sein wird, der alle diese ungeheuren Hilfsmittel der Industrie verwenden, der die Welt beherrschen wird. Die Arsenale haben keine Meinung, die Arsenale stehen dem Sieger zu Gebote. Die Geister der Völker sind im Kampf. – Wer wird Sieger sein? wem wird die Herrschaft zufallen und in Folge dessen der Besitz und die Leitung aller dieser Mittel der materiellen Macht? Wird es der Geist Englands oder Rußlands sein, der uns beherrscht, oder wird’s der Geist Frankreichs sein? Frankreich ist gezwungen nachzudenken, es ist aufgefordert, diese wichtige Frage zu lösen. Franzosen! welches wird der mächtige Geist sein, der sich aller dieser Kunstwege, aller dieser Maschinen, aller dieser Fahrzeuge bemächtigen wird? Die Völker des Nordens verlangen von euch keine Ingenieure, sie verlangen von euch keine Maschinenbauer. Französische Jugend! Der Norden besteht darauf, in einem Franzosen den Vergegenwärtiger der großen, freien und edlen Ideen, der Bewegung zu sehen. Nur in dieser Eigenschaft ehrt er euch, nur in dieser Eigenschaft wendet er euch seine Blicke zu und baut seine Hoffnungen auf euch. Und die Worte, welche der römische Dichter an seine Landsleute claim?“ – Ralph Waldo Emerson: The Over-Soul [1841]. In: The complete works of Ralph Waldo Emerson: Essays. 1st series. [Vol.  2.]. Boston-NewYork 1903–1904, S.  267. – (Wir gestehen ein, daß das menschliche Leben unbedeutend ist, aber wie haben wir herausgefunden, daß es unbedeutend ist? Was ist die Ursache dieses unseres Unbehagens; dieser alten Unzufriedenheit? Was ist das universale Gefühl von Mangel an und Unwissenheit anders als die feine Andeutung, durch die die Seele ihren ungeheuren Anspruch stellt?) – R.W. Emerson: Die All-Seele. In: R.W. Emerson: Die Natur. Ausgewählte Essays. Hrsg. Manfred Pütz. Stuttgart 1982, S. 181.

1324

Teil IV

richtete, ihnen sagend, sie möchten den Griechen die Künste und die Handwerke überlassen, und daß ihr Handwerk für sie „das Regieren sei“: imperio regere Romane memento15, die nämlichen Worte werden wir nicht aufhören dem Genius Frankreichs zuzurufen. Das Geheimnis dieser Macht, welche wiederzufassen ihr verbunden seid, falls ihr euch nicht untreu werden wollt, dieses Geheimnis ruhet in der Tiefe eurer Seelen, während alle Doktrinen ohne irgend eine Ausnahme und alle Systeme nur bezwecken, euch aus diesem Heiligtum heraustreten zu machen und auf dem Wege der Einzelheiten und Geringfügigkeiten irre zu führen. Alle die materiellen Kräfte der Industrie haben zu jeder Zeit demjenigen gehorcht, der die Hauptfrage der Menschheit gelöst hat. Ein römischer Centurio, unwissend und grob, aber stolz, weil er die Lösung der erhabensten politischen Frage des Altertums vorstellte, dieser Hauptmann ließ die Schüler der größten Meßkünstler und Mechaniker Griechenlands, die Schüler eines Archimedes und Euklid, zu sich kommen und zwang sie mit Stockhieben, ihm die Kriegsstraßen und Kriegsmaschinen zu bauen. Aus jenen wundervollen Städten, deren Trümmer man noch heute anstaunt, ließ er die Architekten Etruriens fortreißen und zwang sie mit demselben Stock, ihm die Tempel und Triumphbogen Roms zu bauen; und warum tat er dieses, weil er das Recht erlangt hatte, zu befehlen und zu regieren, das erhabenste Recht, welches nur als Vergeltung demjenigen gegeben wird, der alles aufgeopfert hat, um sich bis zu der Höhe zu erheben, von welcher aus man die Frage der Zeit lösen kann. Franzosen! Ihr besitzt etwas von diesem römischen Genie. Man beschuldigt euch, die Einzelheiten sehr zu vernachlässigen; man verwundert sich, wie ihr zuweilen jemanden, der nicht sein Leben in den Büros zugebracht hat, zum Minister bestellt; man nimmt Ärgernis daran, daß ihr zum Oberkommando Generale beruft, die nicht in den Militärschulen aufgewachsen sind. Wohl habt ihr Recht, so zu verfahren; ihr bleibt dem Volksgeiste treu, weil ihr einseht, daß mehr Kraft und Licht dazu gehört, das Wort der Zeit und der Stellung zu sagen, als alles das zu lernen, was sich in den Handbüchern der österreichischen und preußischen Bürokratien vorfindet. Ferner kann sich auch nur auf diesem Felde des Enthusiasmus und der Intuition die slavische Rasse dem Frankreich, das da heranrückt, zu verstehen geben. Die slavische Rasse kennt eure Dichter, eure Redner und eure Kriegsführer; sie braucht am Ende nur eure Reisenden, eure Enzyklopädisten und diejenigen zu betrachten, die ihr eure Fachmänner

15 (Unvollständiges) Zitat aus Vergils „Äneis“ (VI, 851): „Tu regere imperio populos Romane, memento.“ (Du aber, Römer, gedenke die Völker der Welt zu beherrschen).

2. Vorlesung (26. Dezember 1843)

1325

nennt. Und doch wiederholen wir, daß nur auf diesem Felde wir uns zu verstehen geben können. Wir bringen euch nichts Neues. Führen wir das Beispiel eines der praktischsten Männer des heidnischen Altertums an, eines der größten Taktiker Griechenlands, des Xenophon. Sie wissen, daß er in seinem frühern Leben nie Soldat gewesen, daß er sich zufällig als Reisender inmitten der zehntausend Griechen befand, die in der Tiefe Asiens von den Feinden belagert waren. Wie kam es nun, daß er eines schönen Morgens als Führer dieser Armee erwacht, und wie faßte er den Plan, sie zu retten, jenen wunderschönen Rückzug, der noch heute das Staunen der neuern Taktiker erregt, bewerkstelligend? Er selbst erzählt es: „Ich hatte, sagt er, einen Traum, ich begriff diesen Traum und lief zu den Führern und Soldaten. Unter der Eingebung dieses Zeichens von oben, sagte ich ihnen, was ich für nötig glaubte. Sie machten mich zu ihrem Führer.“16 In einem Augenblick lernte Xenophon seinen Beruf, seine Pflichten und alle die Geheimnisse seines Handwerks als Oberbefehlshaber. Der Art war es auch, daß eure großen Männer des Mittelalters und der neueren Zeiten, daß einige Diplomaten des Konvents, daß Napoleon die Interessen von ganz Europa und der ganzen Erdkugel begriffen. Glauben sie nicht, daß diese künstlichen Mittel, welche gegenwärtig die Berührungen unter den Völkern zu erleichtern scheinen, glauben sie nicht, daß diese Mittel die Völker einander nähern. Durchaus nicht; nur der Geist nähert sie einander. Nie waren die Völker moralisch mehr geteilt, mehr zerbröckelt, mehr von einander getrennt. Wir wollen ihnen dafür einen geschichtlichen Beleg geben. In jenen Jahrhunderten, die man barbarisch nennt, beschäftigte sich einer Ihrer Monarchen; Karl der Große von seiner Hauptstadt an den Ufern des Rheins ohne Unterlaß mit den Interessen der Bevölkerungen, die an der Weichsel und Oder lebten.17 Es bestehen Verträge, geschlossen mit den Stämmen dieser Bevölkerungen und 16

17

Zusammenfassung der Ereignisse aus Xenophons „Anabasis“: „(11) Als nun jene Ratlosigkeit eingetreten war, war auch er [Xenophon] mit den anderen bekümmert und konnte nicht schlafen. Als er aber doch ein wenig eingeschlummert war, hatte er einen Traum. Es kam ihm vor, als ob unter einem Donnerschlag der Blitz in sein väterliches Haus einschlage und dieses dadurch ganz in Flammen auflodere. (12) Heftig erschrocken wachte er sogleich auf und erklärt sich den Traum einerseits als ein günstiges Zeichen […]. (15) Darauf erhob er sich und berief zunächst die Lachoden des Proxenos zusammen. Als sie zusammengekommen waren, sprach er […]. (25) […] die Führer forderten ihn danach alle auf, die Leitung zu übernehmen […].“ – Xenophon: Anabasis: der Zug der Zehntausend. Griechisch-Deutsch. Übersetzung, Einleitung und Anmerkungen von Helmuth Vretska. Stuttgart 2009, S. 81–83 (III. Buch, 1. Kapitel, 11–25). Vgl. Einhard: Vita Karoli Magni. Lateinisch-deutsche Übersetzung. Anmerkung und Nachwort von Evelyn Scherabon Firchow. Ditzingen 1986; vgl. auch die „Fränkischen

1326

Teil IV

mit Frankreich. Er kannte selbst die Einzelheiten ihrer Verwaltung; er kannte die Geheimnisse ihrer Zwiste. Um sich davon zu überzeugen, brauchen sie nur Ihre Chroniken des Mittelalters nachzuschlagen. Nun fragen wir sie aber, wissen wohl Ihre Politiker und Staatsmänner bei allen den Mitteln, welche ihnen die geographischen Karten und die diplomatischen Beziehungen an die Hand geben, wissen sie wohl so viel über den Norden als Karl der Große? Die Antwort ist leicht, denn es beurkundet sich das diplomatische Wissen durch das politische Tun, Euer politischer Einfluß auf jene Gegenden gleicht aber gegenwärtig einer Null. Derselbe Karl der Große; als er einen Blick auf den Ozean geworfen und einige normannische Fahrzeuge bemerkt hatte, brach in Tränen aus, zum großen Erstaunen seines Hofes, der von diesem plötzlichen Schmerze nichts begriff. Dem Kaiser reichte jedoch ein Augenblick hin, um zu begreifen, daß diese leichten Kähne Vorboten eines großen Überfalls waren, welcher auch bald Frankreich zu erschrecken und zu verheeren begann.18 Woher schöpfte er dieses Wissen und diese Macht, welche seine Tätigkeit auf einen so ungeheuren Raum erstreckten? Dieses kam, weil er tief in sich ging und von dort her auch die Kraft schöpfte, sich hoch zu erheben. Der größte eurer Feldherrn und der größte Krieger neuerer Zeiten, eines Tags befragt, welches die Bedingungen seien, von denen ein Sieg abhänge, antwortete, ein Sieg hänge ab von einem moralischen Funken, von diesem Augenblick des Insichgehens (der Intuition), das er einen moralischen Funken nannte.19 Auf diese Art führt euch alles, was nur irgend Großes und Schönes in eurer Geschichte

Reichsannalen“ – Annales regni Francorum: inde ab A. 741. usque ad A. 829: qui dicuntur Annales Laurissenses Maiores et Einhardi. Hrsg. Georg Heinrich Pertz. Hannover 1895. 18 Vgl. Notker der Stammler: Taten Kaiser Karls des Großen (Notkeri Balbuli Gesta Karoli Magni imperatoris). Hrsg. Hans  F.  Haefele. Berlin 1959 (= Scriptores rerum Germanicarum, Nova series 12; Monumenta Germaniae Historica), liber II, 14, S. 77–78: Religiosus autem Karolus, iustus et timoratus, exurgens de mensa ad fenestram orientalem constitit; et inestimabilibus lacrimis perfusus, cum nullus eum compellare praesumeret, tandem aliquando ipse bellicosissimis proceribus suis de tali gestu et lacrimatione satisfaciens: […]. – (Der fromme Karl aber, gerecht und gottesfürchtig, stand vom Tisch auf und stellte sich ans Fenster nach Osten hin und weinte lang und schwer, und da niemand zu ihm zu sprechen wagte, gab er endlich seinen Kriegern und Helden Rechenschaft über dieses sein Gebaren und sein Weinen). 19 Äußerung Napoleons im Gespräch mit seinen auf der Insel St. Helena mitgefangenen Generälen – vgl. Emmanuel de Las Cases: Mémorial de Sainte Hélène, ou journal ou se trouve consigné, jour par jour, ce qu’a dit et fait Napoléon durant dix-huit mois. 5 Bände. London-Paris, 1823; siehe Band 2, S. 15; deutsch – Denkwürdigkeiten von Sanct-Helena, oder Tagebuch, in welchem alles, was Napoleon in einem Zeitraume von achtzehn Monaten gesprochen und gethan hat, Tag für Tag aufgezeichnet ist. Von dem Grafen von Las Cases. Aus dem Französischen übersetzt. Stuttgart-Tübingen 1823–1826.

2. Vorlesung (26. Dezember 1843)

1327

vorhanden ist, jener Sphäre zu, welche wir die der Intuition genannt haben, das heißt, gegen die innere Sphäre des Geistes. In unseren ackerbauenden Ländern wissen wir aus Erfahrung, daß die Getreidegattungen nach einer bestimmten Zeit ausarten, und, um sie zu erfrischen, sucht man nach Samen in einer Gegend, die das Vorrecht besitzt, immer die gesündeste und die schönste Getreidefrucht hervorzubringen. Häufig schon sprachen wir von dieser gefeierten Gegend, von dieser Erde, wie die Dichter sagen, bestellt durch das Fußstampfen der Bataillone, angefeuchtet vom Regen warmen Blutes und besät mit Pfeilen und Kugeln.20 Nach dieser so heimgesuchten Gegend ist’s, daß man den Samen suchen geht, um die Vegetation der bestkultivierten Ackerländer zu erfrischen. In dem allgemeinen Reich der Geister gibt es desgleichen eine geheimnisvolle Gegend, die man aufsuchen muß, um dort den Samen zu empfangen, aus welchem man die Macht, das Leben und das Wissen aufblühen zu machen im Stande wäre. Gegen dieses Gebiet vorzuschreiten, fordern die Erzeugnisse des slavischen Geistes euch auf. Wir Slaven, wir haben nur das frischere Andenken des Landes, aus welchem wir kommen, dieses allen Menschen gemeinsamen Landes, dieses Landes, das die Seele bewohnt. Die zuletzt Gekommenen auf die Schaubühne der Welt, erinnern wir uns noch an die Lagen und Aussichten unserer ursprünglichen geistigen Heimat; und erkennt ihr in uns eure Brüder, so wollen wir euch die Mittel erleichtern, unseren gemeinschaftlichen Vater zu erkennen, das Haus kennen zu lernen, das er bewohnt. Wir nennen euch so dieses innere Gebiet, diese innere Sphäre, wohl bekannt den Philosophen des Altertums, dem Pythagoras, dem Plato; wohl bekannt dem Volk unseres Landes, dessen Geist sie zu bewohnen nicht aufhört; bekannt desgleichen euren großen Männern, aber seit längst verlassen und verleugnet von den Doktrinen und Systemmachern des Westens. Fassen wir das von uns Gesagte kurz zusammen: haben wir ihr Wohlwollen und ihre Sympathie angerufen, so geschah es, weil wir die Schwierigkeiten fühlten, denen wir bei dem Durchmessen des ungeheuren Zwischenraumes, welcher die leblosen Doktrinen der Gegenwart von dem Gebiete trennt, wo allein nur das Leben und die Wahrheit entspringt, begegnen würden. Dieser Zwischenraum kann nur durch einen Geisteserguß (par un élan) überschritten werden. Wir fühlten, daß wir das Erzeugnis, von welchem wir ihnen gesprochen als ein gewöhnliches Werk nicht vortragen könnten, daß wir dasselbe nicht anders lesen könnten, als nur indem wir uns in die höchste philosophische und 20

Vgl. 3. Vorlesung (Teil I) über das „Igorlied“.

1328

Teil IV

religiöse Sphäre erheben. Auch müssen wir zuvor die Bedingungen angeben, denen man sich unterwerfen muß, falls man die Wahrheit aufrichtig sucht. Die erste Bedingung ist das Aufgeben alles dessen, was uns zerstreut, alles dessen, was uns in Folge der bestehenden Doktrin irreführt; es ist das sich gänzliche Freimachen von aller Doktrin und von dem Joche der Doktrinäre. Nur in dieser Stimmung des Geistes wäre es möglich, das Wort, das auf andere Weise als diejenige, die man gewöhnlich anwendet, um sich der Wahrheit zu bemächtigen, gefaßt wurde, zu begreifen. Der Mann der Vergangenheit sucht die Wahrheit mit Stolz; öffnet er ein Buch, so geschieht es mit verächtlichem Hohnlächeln; und er sucht daselbst nach Sachen, die seine Eigenliebe nicht verletzen, und vor allem, die ihn zu nichts verpflichten, weder etwas zu tun, noch etwas zu versuchen, oder etwas aufzuopfern. Er forscht nach einer bequemen Wahrheit, nach einer leichten sich einschmeichelnden Wahrheit. Aber in den Gegenden, bewohnt von unserer Rasse, sind die Teilchen der Wahrheit, die zu uns gelangen, mit dem Schweiß des Geistes errungen. Dort wohnen Millionen von Menschen, einem wohl bekannten Volk angehörend, einem Volk, das der ältere Bruder Europas, der ältere Bruder aller gebildeten Völker ist, dem jüdischen Volk, welches aus der Tiefe seiner Synagogen nicht aufhört, seit Jahrhunderten die Rufe auszustoßen, denen nichts in der Welt wiederähnelt, diese Rufe zu Gott, deren Überlieferung die Menschheit sogar verloren hat. Gibt es daher etwas, das fähig wäre, der Welt die Wahrheit vom Himmel wieder zuzuführen, würden es nicht eher diese Bitten sein, in welchen der Mensch sein ganzes Leben konzentriert und aushaucht? Diese Unglücklichen, die seit Jahrhunderten weinen und beten, sind die wohl nicht viel sicherer die Wahrheit zu fassen, als ein ruhiger Gelehrter, oder ein Mensch, der sich damit aufklärt, daß er täglich die Zeitungsblätter durchliest? Unsere Länder sind von einem zahlreichen Volk von Landleuten bewohnt, das unter Stockhieben sterbend, gebückt zur Erde, welche es nicht aufhört zu bebauen, Gott um Hilfe anruft. Diese Hilfe verlangen auch alle großen Intelligenzen des Westens; nachgesucht wird sie selbst von den Doktrinären, wenngleich ohne ihr Wissen und Willen. Die Erde bedarf der Hilfe. Eine neue Epoche bedarf einer neuen Dosis der universellen Wahrheit. Jetzt überlassen wir ihnen zu beurteilen, welches wohl der Ort ist, an welchem diese Wahrheit sich manifestieren könnte, welches wohl die Art ist, die ihnen am sichersten scheinen würde, um sie zu finden. Es sind dies die Worte, Früchte einer langen und schmerzlichen Volksarbeit, die wir ihnen anzuvertrauen im Begriffe stehen, tief überzeugt, daß in diesen Worten Lichtstrahlen vorhanden sind, fähig die Gegenwart und die Zukunft zu beleuchten. Das mächtige Genie der Völker des Westens findet sich in der Lage des Reisenden, welcher, um sich zurecht zu finden, nur das Erhaschen eines Blitzstrahles bedarf.

3. Vorlesung (9. Januar 1844) Merkmale einer Epoche, welche zu Ende geht – Unterschiede zwischen den Männern der Vergangenheit und den Männern der Zukunft – Über den Enthusiasmus – Was ist das Volk?

Meine Herren! Wir rechnen darauf, daß das Programm unseres Kurses ausmachende Erzeugnis von Versuchen (essais) vorangehen und begleiten zu lassen, welche den Anhang zu unseren Studien im vergangenen Jahr21 darstellen werden. Unter anderem machen wir einen Versuch über das religiöse Leben der katholischen Kirche und der östlichen Kirche in den slavischen Ländern, über die Beziehungen zwischen diesem Leben und demjenigen, das sich in Frankreich entfaltet, und über die Bedingungen, unter welchen Frankreich auf die Mitwirkung der slavischen Völker zählen kann; einen Versuch über dasjenige, was man unter Symbol, Ahnung, hoher Poesie und Offenbarung verstehen darf; einen Versuch über den Einfluß, welchen die Natur des Nordens auf den Geist der slavischen Völker ausübt; einen Versuch über die Barbarei im allgemeinen und über den Einfluß der Barbaren auf das Mittelalter und auf die zivilisierten Völker. Wir sprachen von der Intuition; später wollen wir die Philosophie der Intuition von Cieszkowski erörtern, die wir mit derjenigen von Emerson vergleichen werden. Fahren wir nun fort die Merkmale eines Intuitionswerkes zu zeichnen; später werden wir, und was viel wichtiger ist, die Mittel zu entdecken suchen, welche dem Menschen helfen, sich in die hohe intuitive Sphäre zu erheben, um uns klarer auszudrücken, fangen wir von den bekannten Sachen an, sprechen wir von der Kunst, suchen wir uns Rechenschaft zu geben von den Eindrücken, welche die Kunst auf uns bewirkt. Man nennt göttlich jede große Kunstschöpfung, man fühlt und setzt in derselben einen geheimen, und so zu sagen; übernatürlichen Einfluß voraus; diesen Einfluß nimmt man als notwendige Bedingung in einer Kunstschöpfung an. Was mehr ist: um die Kunst zu fühlen, um sich beim Anblick eines Denkmals zu entflammen, muß man desgleichen eine gewisse, einigermaßen passive Begeisterung verspüren, welche den Geist der Zuschauer in unmittelbare Berührung mit dem Geist des Künstlers versetzt. So ist der Eindruck, welchen der Kenner davonträgt, nur eine intuitive Mitteilung mit dem Künstler. Über den Kunsteindruck darf man, selbst nach dem Sprichwort der Schulen, nicht rechten: es ist unmöglich, über den 21

Vgl. Teil III, Vorlesungen Nr. 6–7, 12–15, 19–20 über slavische Altertümer.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_103

1330

Teil IV

Geschmack zu streiten. – Gott sei Dank, daß doch wenigstens die Kunst dem Raisonnement entrissen, welches die Krankheit der Zeit ist. Machen wir noch die Bemerkung, daß diese passive Begeisterung, die Liebe zum Schönen, früher eine sehr seltene Erscheinung gewesen, daß sie viel häufiger wird, und daß die Zahl der Liebhaber von Tage zu Tage sich vermehrt; dieses beweist uns, daß sich die Menschenbusen erweitern und daß sich ihre Seelen erheben. Bewundert die Masse die Leistungen der modernen Kunst nicht, welche ihrem Ideal untreu bleiben, so wird die Masse mehr denn jemals fähig, die Natur zu bewundern. Auf allen Wegen treffen sie gegenwärtig Touristen an, die nach den Lagen und Landschaften suchen, das Volk strömt Ihren Theatern zu und sucht nach Heroismus zum mindesten in den Büchern, da es denselben nicht mehr in der Wirklichkeit findet. Das Gefühl der Bewunderung für die Kunst, für die Natur, für den Heroismus kommt von einer und derselben Quelle her, von der Intuition, und die Philosophie ist jetzt gezwungen, daselbst zu schöpfen. Es muß eine Zeit kommen, wo das von uns angeführte Sprichwort, welches besagt, daß man über den Geschmack nicht streitet, auf die hohen politischen und philosophischen Wahrheiten angewandt werden wird. Den Menschen wird man das Recht lassen, sie zu bekämpfen, sich als Feinde der Wahrheit gegenüber zu stellen, man wird aber nicht geruhen ihnen auf ihre den scholastischen Formeln entnommenen Einwürfe zu antworten. Die großen Männer aller großen schöpferischen Epochen, diejenigen, welche die Gesetzgebungen hervorgebracht, die Siege erfochten, die Bruchteile der hohen Philosophie und die Meisterwerke der Kunst in der Welt ausgestreut, alle diese Männer ähneln sich wieder; alle haben sie unter dem Einflusse desselben Geistes gehandelt; und der Einfluß, welchen sie auf die Menschen ausgeübt, war immer derselben Natur: er bot dieselben Charaktere dar. Sehen wir nun, wie Edmund Burke, der berühmte Kritiker, den Einfluß charakterisiert, welchen das Erhabene in der Kunst auf uns ausübt: „Sind wir“, sagt er, „von dem Erhabenen betroffen, so fühlen wir ein gewisses Frösteln. Unsere Brust schwillt an, unsere Augenlider erweitern sich.“22 22

Edmund Burke (1729–1797). Zitat in dieser Form nicht nachweisbar. Vgl. E. Burke: A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful (London 1757). Vgl. Teil I, 3., 4. und 7. Abschnitt: „Alles, was auf irgendeine Weise geeignet ist, die Ideen von Schmerz und Gefahr zu erregen, das heißt alles, was irgendwie schrecklich ist oder mit schrecklichen Objekten in Beziehung steht oder in einer dem Schrecken ähnlichen Weise wirkt, ist eine Quelle des Erhabenen; das heißt, es ist dasjenige, was die stärkste Bewegung hervorbringt, die zu fühlen das Gemüt fähig ist. […] Die Leidenschaft, die von dem Großen und Erhabenen in der Natur verursacht wird, wenn diese Ursachen am stärksten wirken, heißt Erschauern. […] die niederen Wirkungen heißen Bewunderung,

3. Vorlesung (9. Januar 1844)

1331

Diejenigen, welche unter dem Einfluss eines solchen Eindruckes sind, erinnern unwillkürlich in ihrer Stellung an die Denkmäler der Kunst. Der Art ist also der Einfluß des Erhabenen in der Natur und in der Kunst auf diejenigen, die es fühlen. Was wird nun den Charakter des Absterbens einer Epoche, die zu Ende geht, ausmachen? Gerade der Mangel an Kraft, die fähig wäre, in den Menschen solche Gefühle zu wecken. Und so, als die Gesetzgeber des alten Roms; als die Redner und Lenker der Regierung nicht mehr jene Glut, jene Kraft des Lebens besaßen, welche sich in die Ferne ergießen und selbst auf den Gesichtern ihrer Soldaten und der Versammlungen, denen sie vorsaßen, widerspiegeln konnte; da war es auch, daß das Ende der römischen Welt gekommen und daß man, zum großen Staunen der alten Welt, neuen Männern begegnete, welche eine neue Kraft, das Christentum, voll des Lebens, plötzlich mitten in die absterbende Gesellschaft hineinwarf. Muß man begeistert sein, um ähnliche Resultate hervorzubringen, so muß man auch, um sie wiederzufühlen, eine Seele besitzen, erhaben und fähig, den begeisterten Männern in ihrem Flug gegen die Zukunft zu folgen. Es ist das nötig, was Schelling23 ein besonderes Organ nannte. Schelling hat Augenblicke des Insichgehens, der Intuition gehabt. Er hat die Unmöglichkeit eingesehen,

23

Verehrung und Achtung.“ – E. Burke: Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen. Übersetzt von Friedrich Bassenge. Neu eingeleitet und herausgegeben von Werner Strube. Hamburg (2. Auflage) 1989, S. 72, 90. W. Strube in der Einleitung: „Was das Erhabene angeht, so hat Burke allein den Typus des ‚Furchtbar-Erhabenen‘ fixiert […]. Was das Schöne angeht, so hat Burke allein den Typus des Niedlichen und Zierlichen fixiert und nicht etwa die ‚edle Einfalt und stille Größe‘ klassischer Skulpturen […].“ (S. 19). Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: System des transzendentalen Idealismus. Tübingen 1800 (§ 4. Organ der Transzendental-Philosophie): „1. Das einzig unmittelbare Objekt der transzendentalen Betrachtung ist das Subjektive (§ 2); das einzige Organ dieser Art zu philosophieren also der innere Sinn, und ihr Objekt von der Art, daß es nicht einmal so wie das der Mathematik Objekt der äußern Anschauung. […] Gleichwohl beruht ebenso, wie die Existenz einer mathematischen Figur auf dem äußern Sinn beruht, die ganze Realität eines philosophischen Begriffs einzig auf dem innern Sinn. Das ganze Objekt dieser Philosophie ist kein anderes als das Handeln der Intelligenz nach bestimmten Gesetzen. Dieses Handeln ist nur zu begreifen durch eigne unmittelbare innere Anschauung, und diese ist wieder nur durch Produktion möglich. Aber nicht genug. Im Philosophieren ist man nicht bloß das Objekt, sondern immer zugleich das Subjekt der Betrachtung. Zum Verstehen der Philosophie sind also zwei Bedingungen erforderlich, erstens, daß man in einer beständigen innern Tätigkeit, in einem beständigen Produzieren jener ursprünglichen Handlungen der Intelligenz, zweitens, daß man in beständiger Reflexion auf dieses Produzieren begriffen, mit Einem Wort, daß man immer zugleich das Angeschaute (Produzierende) und das Anschauende sei.“ Zitiert nach – Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Werke. Auswahl in drei Bänden. Hrsg. Otto Weiß. Leipzig 1907, Band 2, S. 24–25.

1332

Teil IV

sie die Berliner fühlen zu lassen. Darum sagte er, daß, um Philosophie zu studieren, man ein philosophisches Organ besitzen müsse. Dieses Wort hat die allgemeine Entrüstung der deutschen Philosophen hervorgerufen; und das nicht ohne Grund, denn die Klasse von Menschen, aus welcher sich die deutschen Philosophen rekrutieren, ist dieses Organs bar und ledig, oder wenigstens ist es bei ihnen zusammengeschrumpft, dermaßen vermindert, daß nur noch eine Art Elementarrudiment desselben übrig bleibt. Die Berliner24 fühlen seinen Mangel; darum werden sie auch wild gegen alles, was Begeisterung, was instinktmäßige Exaltation ist; kurz gegen alles, was dem anatomischen Seziermesser der Scholastik entschlüpft und im Menschen ein Organ des höhern Lebens voraussetzt. Ergänzen können wir in dieser Hinsicht die Beschreibung Burkes durch unsere eigenen Beobachtungen, gemacht in den öffentlichen Versammlungen. Sind gegenwärtig die populären Versammlungen selten, so haben sie nur das Publikum gut zu beobachten, welches die fremden Universitäten und die öffentlichen Säle in Frankreich füllt; sie werden erkennen, daß dieses köstliche Organ nicht allen Völkern gegeben ist, und, daß selbst in der einen Nation nicht alle Männer es im gleichen Maße besitzen. Suchen sie den Typus auf, welchen Edmund Burke von den Männern gezeichnet hat, die fähig sind das Erhabene zu fühlen. In den deutschen Hörsälen werden sie Stirnen begegnen, die von Formeln beladen, ermüdet, gebückt zur Erde, sehr ähnlich sehen einem Feld, das mit Mohnköpfen besetzt ist. Man erkennt daselbst die Intelligenzen ganz in der Arbeit des Gehirns verschlungen, und das trocken gelassene Herz ist nur noch für die Eindrücke des tierischen Lebens empfänglich. Gewahren sie dort hin und wieder noch eine Art Freude, sobald man diese oder jene abstrakte Formel begriffen hat, so gleicht diese Bewegung, diese hirnartige und sanguinische Rührung gar sehr derjenigen, die man an den Börsespielern sieht. Es ist die Freude des Gewinns: nichts geht in die Tiefen der Seele ein. Was haben sie dagegen mehr denn einmal in den öffentlichen Versammlungen und selbst in den gelehrten Hörsälen Frankreichs gesehen? Erschüttert ein aufrichtiges, lichtstrahlendes und gewaltiges Wort die Zuhörer, so sehen sie jedesmal sich 24 Über Schellings Spätphilosophie (Berlin 1841–1846), den Streit um Hegel und die „HegelSchulen“ vgl. Carl Ludwig Michelet: Entwickelungsgeschichte der neuesten Deutschen Philosophie mit besonderer Rücksicht auf den gegenwärtigen Kampf Schellings mit der Hegelschen Schule. Berlin 1843, Kapitel:  7.–9. Über Schellings Berliner Vorlesung; vgl. Manfred Frank: Einleitung des Herausgebers. In: Schelling: Philosophie der Offenbarung 1841/42. Hrsg. Manfred Frank. Frankfurt am Main 1977, S.  9–85; vgl. auch Piotr Roguski: Schellings Philosophie der Offenbarung und der polnische Messianismus (Mickiewicz, Krasiński). In: P. Roguski: Aufsätze zur polnischen und deutschen Romantik. München 1996, S. 57–65.

3. Vorlesung (9. Januar 1844)

1333

die Brust erheben, die Augen erglänzen und jene Gebärde, so angeboren der französischen Jugend, welche aber Burke nicht beschrieben hat, diese unwillkürliche Bewegung der rechten Hand, die nach einer Waffe zu suchen scheint, und was ein Volk der Tat verkündet. An dieser Gebärde, an dieser Bewegung erkannten unsere Väter und unsere Brüder die französischen Soldaten auf den Schlachtfeldern im Gemenge unter so vielen Völkern. Diese Rührung enthüllt das, was das Tiefste und das Göttlichste im Charakter des Menschen ist; sie beurkundet das Dasein des Organs großer Gefühle, die Quelle der großen Taten. Also, um die Kunst zu fühlen, um die Philosophie zu begreifen, und selbst um die Zukunft zu fassen, muß man durchaus diesen göttlichen Ton aus unserem Innern, das er bewohnt, hervorziehen; man muß sich durchaus in den Zustand versetzen, den wir eben beschrieben. Ein Volk, dermaßen empfänglich die erhabenen Sachen im Flug zu begreifen, sich an denselben zu entflammen, sie zu vollführen, schuldet diese Eigenschaften einer langen Überlieferung von Aufopferungen, von Kämpfen, von überstandenen Mühsalen. Selbst wäre es nicht im Stande, diese Eigenschaften in sich zu bewahren und zu vervollkommnen, erinnerte es sich nicht und träte es nicht jeden Augenblick in diesen Zustand, in diesen überlieferten Herd, um den elektrischen Funken zu empfangen, der von so ferne kommt, und ihn allem dem mitzuteilen, was sich uns nähert. Nur indem wir uns bis zu dieser Höhe erheben, werden wir im Stande sein, unsere Feinde und unsere Verbündeten zu erkennen, wir werden alsdann auch die Männer der Gegenwart und die der Zukunft unterscheiden. Ein Individuum, unfähig sich bei dem Gedanken der großen und göttlichen Dinge zu entflammen, dieses Individuum ist nicht von unserem Volk, dieses Individuum ist nicht Franzose, es ist nicht Pole, noch reiner Slave. Durchmusterte man mit diesem Lichtstrahl die gegenwärtige Gesellschaft, leicht würde man sich für die Zukunft zurechtfinden. Die Menschen der vergangenen Epoche, deren vertrocknete Seele nicht mehr fähig ist, sich zu entflammen, wenden alle ihre Mittel an, um diejenigen, die vorangehen, aufzuhalten. Ihre Gebärde ist eine Gebärde des Zurückhaltens; sie macht das grelle Gegenbild zu der Bewegung des freien Geistesergusses, jener Falkengebärde aus, die wir eben beschrieben. Nimmt euch in Acht! Wagt euch nicht vor! Entflammet euch nicht! Es ist dies die Gebärde eines Dahinsterbenden, der; statt sein Auge dem Himmel zuzuwenden, sich an alle diejenigen, die ihn umringen, festklammert, als wollte er sie mit in die Grube ziehen. Der Enthusiasmus, die außergewöhnliche Bewegung der Seele, welche den Menschen über ihn selbst erhebt, hat dennoch nichts Mystisches, nichts

1334

Teil IV

Phantastisches in sich. Die Künstler sind nicht die einzigen fähigen, ihn zu fühlen; eure Generale, eure Soldaten haben ihn auf den Schlachtfeldern gefühlt; sie selbst verspüren ihn, die Bücher lesend. Das Verbrechen der Männer der Vergangenheit besteht aber darin, daß sie sagen, alles dies sei schön als Poesie, als Kunst, daß alles dies erlaubt sei in den Augenblicken des Kampfes, daß aber, insofern es sich um das Ernsteste, das Wichtigste, das Heiligste, insofern es sich um das Aufsuchen der Wahrheit, der hohen Philosophie, der religiösen und politischen Gesetzgebung handelt, daß für alle diese großen Fragen dieser Funken, von dem wir reden, überflüssig, unnütz, diese Flamme gefährlich sei, daß man den Enthusiasmus aus dem Tempel und den Stätten der gesetzgebenden Versammlungen bannen müsse. So hört das kalte Heidentum nicht auf, das christliche Leben zu bekämpfen, dieses wird jedoch mit dem Sieg enden. Der Enthusiasmus ist’s gewesen, welcher das Christentum geschaffen, welcher es bis auf den heutigen Tag erhalten hat; und dessen Herd besteht, zum großen Erstaunen vielleicht der Gesetzesausleger, in den Herzen derjenigen, die am entferntesten von der christlichen Wahrheit zu sein scheinen. Dieser Enthusiasmus wird sich mit Kraft in die Gesetzgebung wieder einführen und im Tempel wieder Sitz nehmen, diese Flamme, nach welcher das Volk dürstet und deren Bedürfnis es fühlt, kann allein nur das Leben in der gegenwärtigen Kirche anfachen, weil der Enthusiasmus den Menschen sich selbst wiedergibt, weil er ihn mit dem Volke identifiziert. Ungemein wichtig ist es, eine richtige Idee von dem, was wir Volk nennen, zu haben; möglich ist es, nicht zum Volk zu gehören; selbst den Kittel des slavischen Bauers, oder die Bluse des französischen Landmanns tragend; andererseits kann man Volk sein, selbst in goldgewirkten Kleidern. Volk heißt der Mann, welcher leidet, das ist der Mann, welcher aufstrebt, der geistesfreie Mann, der Mann, welcher nicht mit kleinen, ganz fertigen Systemen beladen ankommt. Und siehe da, warum das Volk in den entscheidenden Augenblicken so schnell und auf eine so unfehlbare Weise die Wahrheit auffaßt. Der Mensch, welcher diese Eigenschaften verloren hat, dessen Herz nicht mehr höher schlagen kann, die Worte vernehmend, die aus dem Munde eines Gracchen oder eines heiligen Paul kommen, dieser Mensch da ist nicht Volk. Wohl vermag er sich in die Menge zu mischen; man wird ihn jedoch an seinem glanzlosen Blick, an seiner mit Formeln beladenen Rede für einen Menschen der Vergangenheit erkennen. Nicht dieser Gattung von Menschen gehört die Zukunft an. Da bis auf den heutigen Tag niemand dem Volk die Nahrung darreichte, welche seinen Geist leben machte, und da niemand half, ihn zu entwickeln, so war es ihm äußerst schwierig, sich in diesen Zustand der geistigen Anschauung zu versetzen, von wo aus man klar sieht und die Wahrheit

3. Vorlesung (9. Januar 1844)

1335

begreift. Es mußte den Widerstand seiner physischen Organisation besiegen, die Gewohnheiten seines alltäglichen Lebens brechen; es gelangte dahin nur in seltenen Augenblicken, unterstützt von außerordentlichen Umständen. Dies waren seine Augenblicke der Freiheit. Donner, Blitz und Kanonenschläge mußten kommen, das Geschrei der öffentlichen Versammlungen war nötig, um die Seelen des Volkes aus der Betäubung zu ziehen; denn die Doktoren des Gesetzes, die Gelehrten ihren Beruf vergessend, haben es seinen eigenen Kräften überlassen. Es ist nun aber die Zeit gekommen, wo das Ideal vor die Augen des Volks gestellt werden muß, das Ideal, welches ihm helfen wird sich zu erheben, sich zu entflammen, sich in dem Zustande, von welchem wir reden, zu erhalten; dieser Zustand ist der wahrhaftige Beginn der Freiheit. Der Mensch, welcher die Kunst fühlt, welcher sich entflammt, indem er in seine Seele ein erhabenes Wort hineinfallen läßt, der Mensch, welcher sich seinem Vaterland aufopfert, kann keine dieser Regungen fühlen, ohne zugleich einen Strahl der Wahrheit, einen Strahl der Intuition, einen Strahl der Gottheit in sich aufzunehmen; alsdann fühlt er sich frei, er vergißt sich, seine Individualität verschwindet; darum sieht er die Wahrheit und vollführt sie auf Erden; denn er ist bereit, sein Geld zu opfern, um das Meisterstück zu besitzen, das er bewundert, sein Leben zu wagen, um den Sieg seinem Land zu sichern, er ist bereit, alles hinzugeben, um die Wahrheit zu besitzen. Er fühlt sich in diesem Augenblicke ein vollständiger Mensch. In diesem Sinne muß man jenes Wort im Evangelium verstehen: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen“.25 Wir fügen hinzu, daß der Mensch, welcher das Unglück gehabt, diese innere Flamme durch Stolz zu ersticken, oder sie durch Nachlässigkeit ausgehen zu lassen, der Mensch, welcher nicht mehr das Erhabene und Großmütige wiederfühlen kann, daß dieser Mensch unfähig ist, frei zu sein. Man mag ihn schön mit aller Art konstitutionellen Verfassungen beschenken, immer wird er Sklave bleiben. Die erste Bedingung des Mannes der Gegenwart ist, wir wiederholen es, sich zu entflammen und sich zu erheben; nur indem er diese Bedingung erfüllt; wird es ihm möglich sein, die Menschen der Vergangenheit niederzukämpfen, nur alsdann wird es ihm gelingen, den Grundstein des Gebäudes der freien Gesellschaft in sich zu legen, zu erkennen seine wahrhaften Freunde und Feinde. Warum bedrücken wohl die Epochen des Sinkens die Menschheit, und warum fühlen dann die Menschen die Zukunft vor? Es kommt daher, weil in diesen Epochen die ausgedorrten Klassen, die in der Tat niedrigeren Klassen, dasjenige bedrücken, was Erhabenes, Großes und Heiliges in der Gesellschaft sich vorfindet. Dasselbe geschieht mit den Völkern. Die Völker, unfähig, das 25 Neues Testament – Johannes 8: 32.

1336

Teil IV

heilige Feuer zu nähren, regieren, verwalten die Erdkugel. Die erste Flamme, in Frankreich oder in den slavischen Ländern entzündet, wird die Macht dieser Völker purzeln machen. Um die Routine-Menschen zu bewältigen, rief die französische Revolution die Leidenschaften auf; sie ließ auf die Bedrücker jene Menschen los, welche man das Recht hat, mit Löwen und Tigern zu vergleichen, jene Menschen, die in sich den Instinkt reißender Tiere trugen; denn um die Menschen, die sich auf das stützen, was das Erbärmlichste ist, auf die Klugheit und auf die Furcht, klein zu bekommen, gibt es kein besseres Mittel, als ihnen selbst Furcht einzujagen. Die Zeit der Leidenschaft ist aber jetzt vorüber; ein leidenschaftliches Wort, und schäumte es selbst vor Wut, wie aus dem Gebiß einer ergrimmten Bestie, wäre es selbst rot von Blut, nicht würde es Einfluß mehr auf das Volk haben. Das Volk verlangt mehr und besser: es verlangt von den Männern ein erhabeneres und tieferes, ein göttliches Wort; und weil es in den vorhergegangenen Epochen eine Kunst gegeben, die man göttlich nannte, weil es Heilige gab, die man desgleichen göttlich nannte, so will es auch Häupter haben, an welchen man diesen göttlichen Charakter wieder erkennen, und eine Gesetzgebung, die man als göttlich anerkennen könnte. Dies ist das allgemeine Bedürfnis der Epoche; dies ist ein dringendes Bedürfnis der slavischen Völker, und nirgends wird es tiefer empfunden, als bei diesen guten, gefühlvollen, tiefen, tapferen und religiösen Völkern. Wir haben in den vorhergegangenen Jahren auseinandergesetzt, wie die Philosophie, die Poesie, die Politik gemeinschaftlich bei diesen Völkern vorschritten; wie alle diese Mühen der Menschheit dahin strebten, zuvörderst kräftige Männer zu erzeugen, sie zu dem emporzuheben, was Emerson26 selbst den allerhöchsten Augenblick des Menschen nennt, zu dem Augenblick, in welchem der Mensch seine Souveränität vor Gott beurkundet, zu dem Augenblick der Eingebung. 26

Gedankliche Anknüpfung an R.W. Emerson: Die All-Seele. In: R.W. Emerson: Die Natur. Ausgewählte Essays. Hrsg. Manfred Pütz. Stuttgart 1982, S. 181–203; „Die Seele erkennt und offenbart die Wahrheit. […] Wir bezeichnen die Verkündigungen der Seele, ihre Manifestationen ihrer eigenen Natur, mit dem Begriff Offenbarung. Diese sind immer begleitet von der Empfindung des Erhabenen. Denn diese Vermittlung ist ein Einfließen des göttlichen Geistes in unseren Geist. […] Aufgrund der Beschaffenheit unserer Natur begleitet ein gewisser Enthusiasmus das Bewußtsein des Individuums von jener göttlichen Anwesenheit. Art und Dauer dieses Enthusiasmus ändern sich mit dem Zustand des Individuums; von Ekstase, Trance und prophetischer Inspiration […]. Eine gewisse Neigung zum Wahnsinn hat immer das Aufgehen des religiösen Sinnes im Menschen begleitet […]. Die Verzückungen des Sokrates, die „Vereinigung“ des Plotinus, die Vision des Porphyrius, die Bekehrung des Paulus, die Morgenröte des Jakob Böhme, die Konvulsionen des Georg Fox und seiner Quäker, die Erleuchtung Swedenborgs sind von dieser Art.“ (S. 190–192).

3. Vorlesung (9. Januar 1844)

1337

Um nun zu beweisen, daß wir ihnen keine leeren Theorien vorgeschlagen, kamen wir nicht bloß auf Bücher oder Handschriften gestützt, hier an: den Menschen haben wir zum Text genommen und die Bücher bloß zum Kommentar; und wir sind gekommen, durch ganze Völkerschaften unterstützt. Wir haben ausgesagt, daß alles, was sich nur Erhabenes in der Philosophie, Intuitives in der Poesie, Kräftiges in den volkstümlichen Bestrebungen vorfindet, daß alles dieses sich gegen Frankreich hinrichtet; daß Frankreich in der Tat die Hauptstadt und das Zentrum jeder Handlung geworden ist. Wir sind im Stande, es ihnen zu beweisen, uns selbst auf das Publikum dieses Hörsaals berufend. Die Männer, welche sie hier sehen, ihrem Vaterland entrissen, haben ganz Europa durchschritten, um bis nach dieser Hauptstadt zu gelangen, getrieben von denselben Gedanken, durch dieselben Meinungen, durch dieselben Gefühle, welche ihre Philosophen, ihre Theologen und ihre Dichter begeisterten. Die polnische Emigration ist die allerletzte und die größte Geschichtsdarlegung der slavischen Völker. Im Allgemeinen fliehen die Menschen die Gegenwart; jedesmal schicken sie sie den Büchern und Geschichtswerken zu: und doch ist es nur, indem man sich selbst erforscht, daß der Mensch dazu kommen kann, die ganze Geschichte der Vergangenheit seines Landes zu lesen. Unsere Schuldigkeit ist es daher, ihnen die Gegenwart klar darzulegen, diese Gegenwart selbst als Beweis und als Zeuge von dem, was wir voranstellen, aufzurufen. Menschen, die Repräsentanten des Geistes ihrer Völker sind, die einen gewaltsam getrieben, die anderen aus instinktiver Neugier in ihr Land gekommen, ähneln jenem Pilger aus den Volkserzählungen, der zu einer geheimnisvollen Lampe, zu der Lampe, in welcher ein mächtiger Geist haust, gelangt.27 Allein es fehlt ihm das Wort, fähig ihn zur Tat zu treiben, denn es muß ja durchaus die Hand eines Weisen, eine mächtige und befreundete Hand, diese Lampe berühren und dem gefesselten Geiste das geheime Losungswort zu hören geben.

27

Vgl. die Erzählung Aladins Wunderlampe aus „Märchen aus 1001 Nacht“.

4. Vorlesung (9. Januar 1844) Die Lage der Kirche – Rom und die Polnische Revolution – Die Ursache, warum der Klerus die moderne Literatur der Polen zurückstößt – Ein apokalyptisches Polen: das Gesicht am Weihnachtsabend – Die Päpste getrennt von der Überlieferung – Worin besteht das Heilmittel für die Schwäche der Kirche?

Meine Herren! Diejenigen, welche den politischen und den literarischen Fragen, gegenwärtig so innig mit einander verbunden, bis auf den Grund nachgehen, werden natürlicherweise dazu geführt, die Stellung der französischen Kirche gegenüber den anderen religiösen Gemeinschaften Europas zu erwägen. In der Möglichkeit eines neuen Brandes glauben ernste Männer aller Meinungen, daß Frankreich großen Vorteil aus seinem Charakter des sehr christlichen Volkes ziehen, daß es die Sympathien der Katholiken anderer Völker anrufen könnte. Was uns betrifft, so haben wir noch andere sehr trifftige Gründe, diese Frage nicht unberührt zu lassen; wir wollen uns in keine Einzelheiten einlassen; es reicht uns hin zu sagen, daß das religiöse Leben der Völker Europas fast überall das nämliche ist, daß Frankreich erkennen könnte, was in anderen Ländern vorgeht, die Erscheinungen erwägend, die es unter Augen hat. Sagen wir es freimütig: der niedere Klerus, der russische sowohl wie auch der polnische, ähnelt mehr, als man es vielleicht glaubt, den katholischen Priestern Spaniens, Italiens und vieler Provinzen Frankreichs. Dieser Klerus, weniger unterrichtet als die Priester des Südens von Europa, einfach und häufig derb, hat dessenungeachtet den Schatz des Glaubens unangetastet aufbewahrt. Die hohen Würdenträger der Kirche des Nordens ähneln in vieler Hinsicht den Bischöfen und Kardinälen Italiens. Die niedere Geistlichkeit verlangt ihren Glauben zu entfalten; bei ihr ist derselbe mit einbegriffen, sie möchte ihn gern besser kennen, sie will ihn verwirklichen. Die hohe Geistlichkeit verwaltet die Kirche, vor allem die Interessen der verschiedenen Gouvernements im Auge habend. Aber die östliche Kirche, stumm und gelähmt, hat den russischen Priestern nichts zu geben. Andererseits besitzt die katholische Kirche, die so vieles zu geben hätte, keine Agenten, sie findet keine Werkzeuge, die fähig wären, den Geist der Bekehrung, dessen Geheimnis sie besitzt, in die Ferne zu tragen. Auf diese Weise ist in den hohen Regionen der Kirche des Nordens das religiöse Wirken gleich Null. Die Literaten, die Philosophen, zuweilen die religiösen Fragen auseinandersetzend, üben keinen Einfluß mehr aufs Publikum; jedermann hat die Polemik satt. Die kirchliche Literatur der Morgenländer, welche derjenigen der Kalvinisten oder Lutheraner ähnelt, kann mit dem Wort von Lamennais charakterisiert werden: Brechen erregende Literatur (littérature nauséabonde),

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_104

4. Vorlesung (9. Januar 1844)

1339

welcher die philosophische und religiöse Literatur der Katholiken durch eine kleinmütige, zänkische (une littérature tracassière) entspricht.28 Was die Tat betrifft, daran denkt man dort nicht; niemand fällt es ein, die Schismatiker zu bekehren; der heilige Stuhl würde sogar einen derartigen Versuch nicht gutheißen. Man schickt Missionare nach China und Cochinchina29, weil das heilige Kollegium die Macht dieser heidnischen Machthaber nicht fürchtet; doch würde es sich sehr in Acht nehmen, einen Missionar in die Staaten des russischen Kaisers zu schicken; dessenungeachtet beschreibt es den Zustand dieser Kirche als beweinenswert, als unmöglich zu beschreiben: status plorandus potius quam describendus.30 In solchem Zustande der Dinge sind es Laien, Privatleute, die der Kirche auszuhelfen suchen; sie eilen Frankreich zu. Polen, Dalmatien, Illyrier bilden religiöse Verbrüderungen; es gibt geweihte Männer, welche, nachdem sie ihrem Vaterland gedient, die Waffen niederlegen und in die Orden treten, um in der Religion das Mittel zu suchen, der Menschheit zu dienen. Sie finden in diesem Land eine herzliche Aufnahme und alle Hilfsmittel der philosophischen und literarischen Ausbildung. Sie finden alles, ausgenommen das Wesentlichste, die Tatkraft, den Geist der Tat; sie finden nirgends dasjenige, was die ursprünglichen Kirchen mit dem Wort der Apostel empfingen: den Geist, diesen Geist, der so sichtbar und so handgreiflich in ihren Schülern war, daß die Heiden, die Philosophen, die Magier öfters Gold boten, um nur ein Teilchen dieser wunderbaren Kraft zu kaufen. Umsonst würde man 28 Stelle ungeklärt. Félicité Robert de Lamennais (1782–1854). 29 Südvietnam und Teile Kambodschas. 30 Nach  J.  Maślanka (A.  Mickiewicz: Dzieła. Tom XI: Literatura słowiańska. Kurs czwarty. Warszawa 1998, S.  214) paraphrasiertes Zitat von Gregor XVI anläßlich der Verfolgung der katholischen Kirche durch russische Behörden und der Aufhebung der mit Rom unierten Kirche in Litauen und Weißrußland; polnische Fassung vgl. – Odezwa Jego Świątobliwości Grzegorza XVI z Bożey Łaski Papieża miana w tajemnym konsystorzu dnia 22 listopada 1839 r. Rzym 1840 (12 Seiten); dort S. 6; [https://www.wbc.poznan.pl/dlibra/publication/565390/edition/479963/content]. Überliefert ist auch eine Zitatvariante bei Jean-Joseph Gaume: Histoire de la société domestique chez tous les peuples anciens et modernes, ou Influence du christianisme sur la famille, Bruxelles1844, S. CCLXIII, Fußnote 1, in der Äußerung des Kardinals Bartolomeo Pacca (1756–1844), dem ranghöchsten Mitglied des Kardinalskollegiums: „Pour dépeindre, dit le cardinal Pacca, l’état de la religion catholique dans le Nord, et surtout en Russie et dans l’infortunée Pologne, je ne trouve aucunes paroles que celles des souverains Pontifes, quand ils préconisent en consistoire les sièges épiscopaux des infidèles: Status plorandus non describendus, état qu’on ne peut exprimer que par des larmes!“ (Um – sagt Kardinal Pacca – den Zustand der katholischen Religion im Norden, in Russland und im unglücklichen Polen darzustellen, finde ich keine anderen Worte als die der souveränen Päpste, wenn sie im Konsistorium die episkopalischen Sitze der Ungläubigen predigen: Status plorandus non describendus, ein Stillstand, der nur durch Tränen ausgedrückt werden kann!).

1340

Teil IV

auch heute irgendwo nach diesem Geist suchen; die Wahrheit verpflichtet uns selbst zu sagen, daß im Unterricht und in den Methoden die Kirche sich von den Laien hat überholen lassen. Als zur Zeit der Restauration an der Sorbonne und in diesem Kollegium es einige Männer versuchten, die Fragen der hohen Philosophie populär zu machen, und damit endeten, im Publikum eine große Bewegung der Neugier zu erregen, klagte man sie an, die Routine zu verlassen, keine Methode zu besitzen. Doch haben sie einen ungeheuren Dienst den Wissenschaften geleistet; sie fanden gerade die wahre Methode wieder, sie brachten Leben hinein; weil sie sich in das Leben Frankreichs einmischten, so bewegten sie sich damals auch mit Frankreich, und man fühlte in ihren Worten diese Leben und diese Bewegung wieder. Die Kanzel ahmte ihre Art zu sprechen nach; sie schuf die Konferenzen31, nie aber wollte sie bis an die Quelle gehen, an welcher die Kraft entquoll; nie hat sie geruhet, an der inneren Arbeit des Volks Teil zu nehmen, immer mißtrauete sie das Leben in der Masse des Volks zu schöpfen. Sie besitzt daher die Formen des Unterrichts, noch aber keineswegs diesen Geist, der schon selbst die Schulen der Restauration beseelte, und auf der Bahn, die sie fortgeht, wird sie ihn nie bekommen. Dasselbe gilt vom Stil. Jedermann bemerkt es schon, daß der Stil überall viel einfacher und wahrer wird. Man äfft heutzutage nicht mehr die pompösen Phrasen eines Massillon und Bossuet32 nach. Der Stil derjenigen Schriftsteller, die an der Tagesordnung sind, hat in seinem Vorrücken zur Einfachheit selbst denjenigen der Konferenzen überholt. Hinreichend ist, diese verschiedenen Systeme des Stils mit der Sprache des Evangeliums zu vergleichen, um sich zu überzeugen, welches die Stilart ist, die sich am meisten der Wahrheit nähert. Könnte man es leugnen, daß die Tagesbefehle der großen Armee bei weitem mehr dem Wort Jesu Christi und der Apostel wieder ähneln, als die Diskussionen, die wir gegenwärtig in den Kirchen und in den Schulen hören? Weil man, um solche Worte hervorzubringen, welche wie die Bulletins widerhallen möchten, eine große Kraft besitzen muß, man muß leben mit dem Leben der Massen, man muß die Gefühle atmen, die die Völker beseelen. Der amtliche Klerus hat sich aber von diesem Leben getrennt, wahr ist es, daß er uns von einer neuen Epoche spricht; uns Versprechungen macht, die Worte der Poeten und der Seher unserer Epoche nachahmt; nie aber wird er einwilligen, sich vor dem Geist zu neigen, der sie diktiert hat; er will es nicht bemerken, 31

[Konferenzen sind in der Kirche bei geschlossenen Türen von Eingeweihten besuchte Unterredungen und Diskussionen, welche die Priester seit einiger Zeit in Frankreich eingerichtet haben, seit der Julirevolution, und die sie leiten. Anmerkung des Übersetzers.] 32 Jean-Baptiste Massillon (1663–1742), französischer Prediger; Jacques-Bénigne Bossuet (1627–1704), französischer Schriftsteller, Prediger und Theologe.

4. Vorlesung (9. Januar 1844)

1341

daß er von allen Seiten überholt ist. Ist nun aber für einen Künstler, für einen Krieger dieser Akt der inneren Demut eine Bedingung des Fortschritts, wenn es nicht möglich ist, die Art eines großen Malers fassen, ohne die seinige aufzugeben, ohne sich vor dem Geist des Meisters verneigt zu haben, wenn es nicht möglich ist, den Fußstapfen eines großen Generals zu folgen, ohne zuvor im Geist das Genie bewundert zu haben, das ihn geführt, – wie werdet nun ihr, religiösen Männer, im Stande sein, das Leben wieder zu fassen und euch in alle die Bedingungen des Lebens wieder zu versetzen, da ihr es doch verweigert, diesen Akt der Demut, der euch selbst von dem Gott, dem ihr dient, anbefohlen, zu vollziehen? Dieser auf sich selbst bauende Hochmut, welcher leben zu können glaubt durch Nachäffung des Lebens, rührt daher, daß die Würdenträger der Kirche, daß die schriftstellernden Klassen der Kirche sich den Bedingungen nicht unterzogen haben, die von uns für das Erkennen der Wahrheit sogar schon in den niederen Sphären der Kunst und der Politik als die wesentlichsten anerkannt worden sind. Diese Klassen haben den Weg des Kreuzes schmählich aufgegeben; sie haben nicht leiden wollen, immer suchten sie dem Leiden zu entschlüpfen, sie flüchteten sich lieber in die Bücher, in die Theologie, in die Doktrinen; weil, wie wir es wissen, viel leichter ist und weniger kostet, zu schreiben und zu vernünfteln, als mit Freimut zu reden und für die Verteidigung der Wahrheit sich Gefahren auszusetzen. Nur der Schmerz gebiert die Kraft. Hätte man die Wehen des französischen Volkes mit empfunden, so kennte man auch die Schmerzen der fremden Völker, und man hätte sich in einer gemeinsamen Sympathie vereint. Alsdann hätte die Kirche das Wort gefunden, das fähig gewesen wäre, die ganze Christenheit zu erschüttern und sie an ihren alten Bund mit der Kirche zu erinnern. Aber der Klerus misstraute immer jeder Bewegung, jedem Volksleben; misstraut hat er der Julirevolution, verdammt hat er die volkstümliche Bewegung der Polen. Während das unwissende Volk, während die Nationalgarde Gelübte tat für Polen, haben da die Bischöfe nur ein einziges Wort gesprochen, geboten sie nur eine einzige Bitte? Und doch war es nicht in den Büchern, auch nicht in den Journalen, daß sie die Erklärung der geheimnisvollen Bande, welche so kräftig das siegreiche Frankreich an das leidende Polen fesselten, hätten finden können. Viel tiefer, als wir anderen Laien dies tun können, in das Geheimnis dieser nationalen Sympathien eingehend, die Quelle entdeckend, an welcher sie ihren Ursprung nehmen, erkennend, was sich eminent Christliches in der Bewegung des französischen Geistes für Polen vorfand, hätten die Priester sich derselben beigesellen können, um sie zu leiten. Sie hätten sie sogar hervorrufen müssen. Sie hatten aber nichts den Polen zu geben als Gebete? Nun wohlan! So mussten sie aus ihrer Seele ein neues Gebet hervorlangen,

1342

Teil IV

ein Gebet eines großen Volkes, das für ein Volk bittet. Da war es an der Zeit, wo sie aus ihrer Seele ein neues Gebet ausstoßen durften. Man beschuldigt die Kirche, keine Gebete mehr zusammenzusetzen zu wissen. Wir sind darauf zurückgeführt, diejenigen wiederzulesen, die man in den Jahrhunderten des Glaubens verfasst hat, als wäre schon jeder Glaube bereits erloschen. Würdenträger der Kirche, unsere Väter und unsere älteren Brüder, ihr hättet uns ein neues Gebet gelehrt, das der Ausdruck der neuen Bedürfnisse des Christentums gewesen wäre. Aber, wir wiederholen es, ihr entschlüpft dem Leiden und setzt euch in das Niveau der Philosophen zurück, die ja nur in der Absicht ihre Arbeiten unternahmen, und deren Handwerk es ist, sich dem Leiden zu entziehen, hinter sich hohle und rauschende Redensarten hinwerfend. Wir haben diese Volksleiden gesehen, wir haben euch einige Schilderungen derselben gelesen, wir werden euch noch welche lesen. O! Hättet ihr gesehen die ganze Bevölkerung33 einer großen Stadt, der Hauptstadt der Litauer, während man die Patrioten niederschoß, eine ganze Bevölkerung ohne Unterschied des Alters, des Geschlechts, und selbst ohne Unterschied des Glaubens (da man in dieser Masse auch Israeliten und Orthodoxe sah), diese ganze Bevölkerung auf Knien und die Augen dem Bild der Heiligen Jungfrau zugewendet, der einzigen Hoffnung, die noch diesem Volk übrig blieb, hättet ihr wiedergefühlt diesen so gewaltigen Schmerz, daß er sogar Ungläubige und Schismatiker ergriff und sie zur Erden vor dem Bild niederwarf, das seit der Zeit der Gegenstand allgemeiner Verehrung geworden; hättet ihr wiederempfunden diesen Schmerz, welcher die russischen Soldaten zurückhielt und sie weinen machte, diese Soldaten, welche doch die polnischen Waffen nicht besiegen konnten; hättet ihr gesehen die russischen Offiziere schluchzend, die Musik das Spielen verweigernd, weil sie keine Kraft dazu besaß: – französische Priester, ihr hättet die Wirksamkeit eines nationalen Gebets, vom Schmerz eingegeben, begriffen. Ihr klagt die Diplomaten der französischen Regierung an, die Sache der Polen verraten, ihnen keine Hilfe gesandt zu haben!… Hättet ihr Glauben in die Wirksamkeit des Gebets, so würde euch genügt haben einen Seufzer in ganz Frankreich, ein herzzerreißendes Geschrei auszustoßen, euch im Geist zu dem Schmerz des Volks zu gesellen, das unter dem Kreuz niederfiel; ihr hättet vielleicht den Arm des Würgengels aufgehalten. Doch nein! Lieber mißtrautet ihr Polen, und jetzt sprecht ihr: „Wir wußten nicht, was die polnische Revolution war; wir haben uns geirrt.“ Der heilige Stuhl, der Papst hat dies zu wiederholten 33

Die Szene bezieht sich auf die Ereignisse in Wilno (15. Februar 1839) nach der Erschießung des Aufständischen Szymon Konarski; vgl. dazu Lucjan Siemieński: Pobyt na Litwie i ostatnie chwile Szymona Konarskiego. In: Noworocznik Demokratyczny. Paryż 1842, S. 211–234. [http://www.wbc.poznan.pl].

4. Vorlesung (9. Januar 1844)

1343

Malen ausgesprochen: „Ich habe mich geirrt, ich kannte nicht die Natur der Bewegung; ich war von der Diplomatie besessen.“34 Und siehe da, worin das Unglück unserer Zeit besteht: daß nämlich ihr, die ihr alles dieses vorherfühlen und vorherwissen solltet, ihr, deren Pflicht es war, uns zu lehren dieses zu fühlen und zu wissen, ihr irrtet euch und ihr wußtet nichts! Wir könnten eine Menge von Beispielen solcher anführen, welche voraus alle die glücklichen oder unglücklichen Ereignisse für die Kirche gewußt haben, ohne irgendein menschliches Mittel zu besitzen, um es zu erfahren. Auf welche Weise wußten sie es? Nennt es Intuition, Instinkt oder Prophezeiungsgabe, so bleibt nur gewiß, daß sie diese Gabe besaßen, und daß ihr sie nicht mehr innehabt.35 Und siehe da, woher die ungeheure Schwierigkeit kommt; es klar darzulegen, was Intuition sei, denn, hättet ihr eure Schuldigkeit getan, so hätte man höchst wahrscheinlich über Intuition weder gesprochen noch diskutiert; man hätte sie ausgeübt. Und, wir wiederholen es, diese Gabe erringt man nur durch den Schmerz, durch das Leiden. Welches ist gegenwärtig der Zustand der Kirche? Welches ist der Einfluß dieser von allen Mächten der Erde schöpferischesten Macht? Inwiefern fließt sie noch auf das Betragen der Menschen, auf ihr politisches Leben, auf die großen Bewegungen der Völker, auf die Berechnungen der Kabinette ein? Dieser Zustand der Kirche müßte fürwahr das Herz derjenigen, die ihr dienen, vor Schmerz übergehen machen. Und sehen wir wohl diesen Schmerz? Während die Cholera die Bevölkerung von Paris heimsuchte, sahen sie die Familienväter sich begegnen, bleich, zitternd und bevor sie noch sprachen, sich schon an den Blicken die gute oder die unglückliche Tagesneuigkeit erraten; und kehrten sie in ihre Häuser zurück, so konnte man schon aus ihren Bewegungen, an der Art wie sie die Füße stellten, wissen, welche Botschaft sie ihren Kindern, ihren weinenden Gattinnen brachten. Die Kirche sagt uns, die Pest des Unglaubens 34 Angebliche Äußerung von Gregor XVI. gegenüber Władysław Zamojski in sinngemäßer Wiedergabe; vgl. Louis Lescoeur: L’Église catholique en Pologne sous le gouvernemnt russe. Paris 1860, Kapitel III, Abschnitt VII: Gregoire XVI et l’insurrection polonaise, S. 54–61. [http://www.bsb-muenchen-digital.de]; polnische Quelle: Władysław Zamojski: Jenerał Zamoyski 1803–1868. Tom III (1832–1837), Poznań 1914, S. 437. [http://fbc.pionier. net.pl]. 35 [Die heilige Margarethe von Schottland sagte lange vor der Begebenheit die Siege der Polen über den Deutschen Orden und den Sturz dieses Ordens vorher. Der Kaplan des Jan Sobieski, nachdem er die Messe am Tag der Schlacht bei Wien gefeiert, anstatt zu sagen: Ite missa est, sprach mit erhobener Stimme: Vicisti Joanne! Johannes du hast gesiegt! Er wußte es. Anmerkung von A. Mickiewicz]. Vgl. dazu den Kommentar von Julian Maślanka (A.  Mickiewicz: Dzieła. Tom XI: Literatura słowiańska. Kurs czwarty. Warszawa 1998, S. 215–216), der hier eine Verwechslung vermutet und auf die Offenbarungen der heiligen Brigitta (um 1303–1373) verweist.

1344

Teil IV

höre nicht auf unter dem Volk zu wüten, die Kirche sagt uns, die Seelen seien erkrankt an einer tödlichen Krankheit, die einen Tod nach sich zieht, welchen sie ewig glaubt. Nun fragen wir aber jeden, der guten Glaubens ist, sieht er wohl auf den Gesichtern der Leute, welche die Kirche vorstellen, sieht er wohl in ihren Gebärden, in ihren Bewegungen diesen Schmerz, welchen man bei den Familienvätern wahrnahm? Und doch wohnen ja die Priester der gänzlichen Vernichtung ihrer geistigen Familie bei. Ist es nun aber für einen Menschen, der in Kunst etwas schaffen, der in der Politik Neuerungen einführen will, von unbedingter Notwendigkeit, sich an das Volk zu binden, mit den Seelen der Massen, die da leiden, die der Zukunft entgegenarbeiten, sich zu vereinen, welches sollte wohl der Schmerz derjenigen sein, welche die Kirche vorstellen? Ein Schmerz, unmöglich zu beschreiben, welchen Louis-Claude Saint-Martin36 den prophetischen Schmerz nannte und der sich gänzlich von dem individuellen Schmerz und dem Schmerz der Künstler unterscheidet; ein Schmerz, den man für Millionen erduldet! Ein Mensch, der nur an sein eignes Wohlergehen denkt, ist unfähig, diesen Schmerz zu fühlen. Die Parteimänner, welche ihr eignes Schicksal vergessen und aus der Tiefe des Gefängnisses die Hoffnungen und die Bewegungen ihrer Gleichgesinnten zu erfahren suchen, der Soldat, welcher auf dem Schlachtfeld seinen Schmerz vergißt, um nach den Neuigkeiten über den Feind zu fragen: diese Männer da sind viel näher der Zukunft, als alle die Theologen und Würdenträger der Kirche, und, wir wagen es zu sagen, sie sind Jesu Christo viel näher. Bemerkenswert ist, daß es ein Franzose; Herr Buchez37 war, welcher zuerst versucht hat, die Doktrin des allgemeinen Heils durch die Logik zu erweisen. Warum nahm diese Doktrin nicht ihren Anfang in der Hauptstadt der 36

37

Vgl. Louis-Claude Saint-Martin: Œuvre posthumes, t. 1. Tours 1807, S.  245. [Deutsche Übersetzung in: Des französischen Philosophen L.Cl. de St. Martin nachgelassene Werke. Aus der Urschrift und mit Anmerkungen von W.A. Schickedanz. Münster 1833, S. 35–36 (Nr. 80): „Der Mensch wird nur glücklich, wenn die Fackel des lebendigen Schmerzes sich in ihm entzündet, dann erst beginnt seine geistige Geburt. Dann wird es geschehen, daß er nach Weise der Propheten vom Morgen bis an den Abend schreit und wehklagt über sein Schicksal und über das Schicksal der menschlichen Nachkommenschaft. Er legt sich nieder unter Seufzern, er verbringt die Nacht unter Tränen. Noch weinend steht er auf, und jeden Tag trägt er die Bitterkeit in seinem Herzen. Das ist die harte Prüfung, welche zu bestehen der Mensch der Wahrheit sich gefaßt machen muß. Solange sie noch nicht vorhanden ist, darf er sich noch nicht als schon geboren ansehen.“] – Mickiewicz übersetzte diesen Aphorismus in: A.  Mickiewicz: Dzieła. Tom XIII: Pisma różne. Tom opracował Leon Płoszewski. Warszawa 1955, S. 9. Philippe Joseph Buchez (1796–1865). Vgl. sein Werk: Essai d’un traité complet de philosophie, du point de vue du catholicisme et du progrès. Paris 1838–1840 (3 Bände).

4. Vorlesung (9. Januar 1844)

1345

christlichen Welt, die nichts mehr zu tun weiß als zurückzustoßen und zu verdammen? Diese Laute des prophetischen Schmerzes fühlt man in allen großen Schriftstellern Polens, man begegnet ihnen in der ganzen modernen Literatur der Polen. Sie wissen jetzt eine der Ursachen, warum wir gezwungen waren, weitläufig von dem Gefühl zu reden, mit welchem man den Erzeugnissen dieser Literatur sich nähern muß; dieses ist auch die Ursache, warum der Klerus diese Literatur stets zurückgestoßen hat; mehrere dieser prophetischen Werke sind der Kirchenbehörde amtlich als mit Ketzerei gefüllt, als gefährlich angezeigt worden. Hätte der Klerus einiges Mitgefühl für die Leiden Polens, so würde er am ehesten den ganzen Wert des Werkes begriffen haben, von dem wir ihnen einige Bruchstücke vorlesen wollen. Es ist ein Poem38, veröffentlicht vor etwa vier Jahren, welches zu der Klasse der prophetischen Werke gehört. Teile davon, die uns hier besonders interessieren, tragen den Titel „Sen Cezary“ („Cesaras Traum“)39 und „Legenda“ („Legende“). In einem Poem werden darin zu Anfang die Unglücksfälle Polens beschrieben. Der Sieg hat sich schon auf die Seite des Feindes geneigt. Die Armee und das polnische Volk sind auf den Untergang gefaßt. I każden z nich wzniósł w górę dziecię swoje i rzekł: Leć do Boga, sieroto! – A zdało mi się, że na chwilę zbladł księżyc i znad nich głów się odsunął – i przepaść jakaś lazurowa wydrążyła się w niebie i w nią wleciały owe wszystkie maleńkie, jak rój małych aniołków – wlecieli i zniknęli – i zamknęło się niebo, i znów księżyc roziskrzył się krwawym blaskiem, i walka na nowo się rozpoczęła na ziemi. Da hob jeder sein Kind auf und sagte: Fliege zu Gott, du Waisenkind! – Und es schien mir, als hätte sich für einen Augenblick der Mond verfinstert und an ihren Köpfen vorbeizogen – eine weite blaue Öffnung machte sich am Himmel auf und alle Kinder flogen in sie wie eine Schar kleiner Engel – sie flogen hinein und verschwanden – der Himmel schloß sich und wieder erstrahlte der Mond im blutroten Licht, und der Kampf begann von neuem auf Erden.

38

Anonym veröffentlicht unter dem Titel: Trzy myśli pozostałe po śp. Henryku Ligenzie zmarłym w Morreale 12 kwietnia 1840 roku. Nakładem Stefana Szczęsnego, Bogdana Mielikowskiego. Paryż 1840; Ligenza und Mielikowski sind erfundene Namen. Die Edition enthält drei Werke (1) „Syn cieniów“ (Sohn der Schatten) – in Versen, (2) „Sen Cezary“ (Cesaras Traum) – in Prosa, (3) „Legenda“ (Legende) – in Prosa; vgl. dazu Maria Janion: Krasiński – Mielikowski – Ligenza. In: Pamiętnik Literacki, 1980, z. 3, S. 109–127. 39 Cesara – Albano de Cesara: Hauptfigur aus dem Roman von Jean Paul „Titan“ (Berlin 1800– 1803, vier Bände).

1346

Teil IV

Jedermann weiß, welches der Ausgang war! A gdym oczy obrócił ku ziemi, ujrzałem tłumy narodów przechadzające się jako dawniej; na miejscu, gdzie owa garstka poległa, już trupów ni krwi, ni broni nie było – murawa zieleniała […]. I zdjął mnie strach, że tak cicho na tak wielkiej mogile!40 Und als ich die Augen auf die Erde richtete, sah ich Völkerscharen, die wie einst bewegten; auf der Stelle, an der eine handvoll Menschen starb, waren keine Leichen, kein Blut, keine Waffen – die Wiese war grün […]. Ich war entsetzt, daß auf einem so gewaltigen Grab eine solche Stille herrscht.

Die polnischen Soldaten durchziehen wie eine geisterartige Legion die Völker Europas und richten ihren Weg nach Rom zu. Die schwarze Legion der Pilger, sich auf Säbel statt auf Stöcke stützend, die Standarte Jesu Christi vor sich hertragend, richtet ihren Weg dem Dom des heiligen Petrus zu. Die Römer fragen sie, wer sie seien. – „Erkennt ihr uns nicht mehr auf dieser Welt?“ („Azaż nikt nas nie poznał na świecie?“) sagen die Pilger. Jawohl, antwortet das römische Volk, „ihr seid die letzten christlichen Ritter“ („wyście ostatnie bohatery ziemi“).41 Jedoch haltet ein und ruhet aus. – Nicht doch, antwortet die Schar der Pilger, wir haben Eile anzukommen. Wo ist der heilige Petrus? – Sie treten in die Kirche; sie hören daselbst die Weihnachtsgesänge. Es wird dieses das letzte Weihnachtsfest sein, denn die Stimme eines unsichtbaren Engels, und welche niemand hört, ausgenommen diese Legion, verkündet, daß Christus in dieser Nacht geboren werden soll, um nicht mehr zu sterben, um für immer unter den Menschen zu wohnen. Es folgt die Weihnachtszeremonie. Als der Papst unterm Glockengeläut des Kapitols die Mitternachtsmesse beendet hat, sieht man inmitten der Kardinäle einen unbekannten Mann erscheinen, welchen der Dichter den Kardinal nennt, der Mann ist in Purpur gekleidet, er unterscheidet sich in Haltung, Manier und Stimme gar sehr von den Kirchenfürsten, die; wie der Dichter sagt, der Taten und Mühen eitel leere graue Haare tragen. 40

41

Zygmunt Krasiński: „Sen Cezary“. In: Pisma Zygmunta Krasińskiego. Wydanie Jubileuszowe. Tom IV. Kraków-Warszawa 1912, S.  256, 258. Der ganze Abschnitt und die sich anschließenden Ereignisse bestehen aus Zitat-Paraphrasen aus „Sen Cezary“ und „Legenda“, die Mickiewicz hier zu einer Handlungseinheit verbindet. Zygmunt Krasiński: „Legenda“. In: Pisma Zygmunta Krasińskiego. Wydanie Jubileuszowe. Tom IV. Kraków-Warszawa 1912, S.  272. Vgl. Arkadiusz Bagłajewski: Mickiewiczowska interpretacja Legendy Krasińskiego w prelekcjach paryskich. In: Prelekcje paryskie Adama Mickiewicza wobec tradycji kultury polskiej i europejskiej. Próba nowego spojrzenia. Praca zbiorowa pod redakacją Marii Kalinowskiej, Jarosława Ławskiego i Magdaleny Bizior-Dombrowskiej. Warszawa 2011, S. 163–179.

4. Vorlesung (9. Januar 1844)

1347

Der junge Mann, in Purpur gekleidet, ist voller Majestät und Kraft; er repräsentiert die Kirche der Zukunft. Er allein erkennt die Legion der Pilger. Er verkündet ihr, und er verkündet dem ganzen in diesem Dom der Hauptstadt der geistigen Welt versammelten Volke, „die Zeiten hätten sich erfüllt“ (Czasy dopełniły się“).42 Mit einem Zeichen gebietet er dem Volk Stillschweigen: er richtet sich dem Grab zu, in welchem das Haupt der Apostel ruht; er ruft ihn bei seinem Namen und befiehlt ihm aus dem Grab zu steigen. In diesem Augenblick, sagt der Dichter: Z każdej lampy nad grobem rzucił się język ognisty i wieniec płomieni rozkołysał się nad ciemnicą grobu – a z dna tej ciemnicy podniosło się ciało, z rękoma ku sklepieniom – i stojąc po piersi zanurzone w grobie, krzyknęło: „Biada!“ A za tym krzykiem zdało się nam wszystkim, że sklepienia kopuły pierwszy raz się porysowały. A kardynał rzekł: „Piotrze, czy poznajesz mnie?“ A ciało odpowiedziało: „Głowa twoja ostatniej wieczerzy spoczęła na piersi Pańskiej i tyś nigdy nie umarł na ziemi.“ A kardynał odparł: „A teraz kazano mi, bym wśród ludzi zamieszkał i ogarnął świat, i przytulił go do piersi, jako Pan głowę moją ostatniego wieczora.“ A ciało odparło: „Czyń, jako ci kazano jest!“ Wtedy kardynał skinął znowu jak książę potęgi – a ciało powtórzyło: „Biada mi!“, i zapadło z strasznym łoskotem, jakby w otchłań, nazad w grób swój – i rwać się lepiej jeszcze w górze zaczęły sklepienia. […] Cały kościół giął się w podrzutach jak ciało umierające, ale on wzniesioną dłonią zatrzymywał rozdarte sklepienia nad ludem i patrzał, aż wyjdzie ostatni z ludu. A przechodząc, rzekł do szlachty polskiej: „Ludzie, idźcie za mną!“ Nic nie odpowiedzieli. On jeszcze głowę odwrócił i rzekł: „Idźcie za mną!“ Oni się nie ruszyli. A gdy dochodził bramy, pędząc lud przed sobą jako pasterz, raz ostatni jeszcze ręką skinął ku nim. Lecz oni podnieśli tylko szable w górę, jakby na ich ostrzach wstrzymać chcieli spadające chmury, i zawołali razem: „Nie opuścim starca tego. – Samemu gorzko jest umierać – a kto z nim umrze, jeśli nie my? Wy idźcie wszyscy – my nie umiemy uciekać!“43 Aus jeder Lampe über dem Grab trat eine feurige Zunge hervor und ein Feuerkranz entflammte in der Finsternis des Grabes – und vom Boden dieser Finsternis erhob sich ein Leib; – und die Hände zum Gewölbe ausstreckend und bis zur Brust im Grab stehend, schrie es aus: „Wehe!“ Und nach diesem Aufschrei schien es uns allen, daß sich das Gewölbe der Kuppel zum ersten Mal zu spalten beginnt. Und der Kardinal sprach: „Peter, erkennst du mich?“ Und der Leib antwortete: „Dein Haupt hat während des letzten Abendmahls am Busen des Herrn geruht und du bist auf Erden niemals gestorben.“ Und 42 43

Zygmunt Krasiński: „Legenda“, op. cit., S. 279. Zygmunt Krasiński: „Legenda“, op. cit., S. 279, 281.

1348

Teil IV der Kardinal erwiderte: „Und nun hat man mir befohlen, unter den Menschen zu wohnen und die Welt zu beherrschen und sie an meiner Brust ausruhen zu lassen wie es einst der Herr beim letzten Abendmahl tat.“ Und der Leib erwiderte: „Tue, wie es dir befohlen!“ Da nickte der Kardinal wieder wie ein Fürst der Macht, und der Leib wiederholte: „Wehe mir!“, und fiel mit entsetzlichem Krach wie in einen Abgrund in sein Grab zurück; und oben begann sich das Gewölbe der Kuppel noch stärker zu spalten. […] Die ganze Kirche bog sich unter den Erdstößen wie ein sterbender Körper, er aber hielt mit erhobener Hand das reißende Gewölbe der Kuppel schützend über das Volk und wartete schauend bis der Letzte des Volkes herauskommt. Und als er an dem polnischen Adel vorbei kam, sagte er: „Leute, folgt mir!“ Sie antworteten jedoch nicht. Noch einmal wandte er sich zu ihnen und sagte: „Geht mit mir!“ Sie bewegten sich nicht. Als er sich dem Tor näherte und das Volk vor sich wie ein Hirte hertrieb, gab er ihnen das letzte Mal noch ein Winkzeichen. Doch sie strecken ihre Säbel nach oben, so als wollten sie mit den Säbelspitzen das herabfallende Gemäuer anhalten, und sie riefen zusammen: „Wir werden diesen Greis nicht verlassen. Es ist bitter alleine zu sterben, und wer soll mit ihm sterben, wenn nicht wir? Geht nur alle, wir können nicht fliehen!“

Es beginnt nun das Schauspiel der Vernichtung. […] cztery kręcone filary ołtarza pękły jak ścięte drzewa i runęły – i baldakin spiżowy runął – i kopuła cała, jak zstępujący świat, biało spadała na ziemię. I wszystkie portyki, i pałac Watykanu, i kolumny dziedzińca łamały się i rwały, w proch się sypiąc – i obie fontanny jak dwa białe gołębie przypadły do ziemi, konając […].44 […] Die vier gewundenen Säulen des Altars zerbarsten wie gefällte Bäume und stürzten ein, auch der kupferne Baldachin, und das ganze Kuppelgewölbe fiel wie eine sich auflösende Welt weiß auf die Erde. Und alle Säulenhallen und alle Paläste des Vatikans, alle Kolumnen des Palasthofes brachen ein und zerbarsten zu Staub; und beide Fontänen fielen wie zwei weiße Tauben sterbend auf die Erde.

Mit diesem majestätischen Bild endet das Poem. Hätten die Würdenträger der Kirche; unsere älteren Brüder, unsere geistigen Väter, das Gefühl des Mannes gehabt, welcher fähig war; ein solches Gesicht zu bekommen und es zu beschreiben, fürwahr sie reihten diese Schrift unter die Zahl derjenigen, welche die Kirche der Zukunft verkünden und ihr vorangehen. Diese Legion der Pilger stellt nicht bloß die polnischen Legionen dar, wenngleich sie die geistige Überlieferung ihrer geheimnisvollen Wanderungen enthält; sie vergegenwärtigt auch jene unzählbare Heerschar der Männer, welche nach der Kirche der Zukunft suchen. Alle richten sie ihre Schritte gen Rom, alle müssen sie durch Rom gehen; alle müssen sie in diesen Dom eintreten; sie 44

Ebenda, S. 282.

4. Vorlesung (9. Januar 1844)

1349

werden jedoch in dessen Ruinen nicht untergehen; mit ihren Schwertern werden sie diese Kuppel aufhalten. Und zwar die Rettung derselben wird weder den materiellen Waffen, noch den Waffen der Einzelnen gelingen, sondern die Geister der Völker werden sie retten. Die Geister der Völker werden diese dem Einstürzen nahe Kuppel aufhalten. Sie werden dieselbe dem Himmelslicht öffnen, auf daß sie wiederähnle dem Pantheon, dessen Kopie sie ist; auf daß sie von neuem werde der Dom des Weltalls, das Pantheon, der Pankosmos und das Pandämonium, der Tempel aller Geister; auf daß sie uns gebe den Schlüssel aller Überlieferungen und aller Philosophien. Dies war die Pflicht der Priester, der Kirchenwürdenträger, uns dorthin zu führen. Und so hätten sie, nach den Beängstigungen des prophetischen Schmerzes, auch im Angesicht des versprochenen Landes jene Wonnen gefühlt, welche zu beschreiben es uns weder gegeben noch erlaubt ist. Alsdann hätte ihre Seele, sich selbst durchschauend und durchdringend, das „enge Tor“45 gefunden, von welchem das Evangelium sagt, daß es zum Himmel führt, diese Pforte, an welche schon längst die Völker nicht aufgehört haben zu klopfen, denn die großen Völker und die großen Männer Europas haben nie aufgehört für die Kirche zu arbeiten. Das Blut von Kościuszko, Joubert, Marceau46 und das Blut ihrer Krieger ist für die Sache der allgemeinen Kirche nicht verloren gegangen. Dieses Blut fließt in den Adern des leidenden Volkes, es spricht ihm, es diktiert ihm Axiome, Wahrheiten des Evangeliums. Michelet, welcher durch die Liebe zur Kunst, durch das lebhafte Bedauern der schönen Dinge und Menschen des Mittelalters geleitet, einige begeisterte Seiten über diese Zeitperiode schrieb, Michelet sagt irgendwo, das Mittelalter habe uns stechende Erinnerungen übermacht: des souvenirs poignants.47 Welch köstliches Wort: des souvenirs poignants! Der Priester, der Theologe und 45

Vgl. Neues Testament – Matthäus 7, 13–14: „Geht durch das enge Tor! Denn das Tor ist weit, das ins Verderben führt, und der Weg dahin ist breit und viele gehen auf ihm. Aber das Tor, das zum Leben führt, ist eng und der Weg dahin ist schmal und nur wenige finden ihn.“ 46 Bartholémy-Catherine Joubert (1769–1799); François-Séverin Marceau-Desgraviers (1769– 1796) – französische Generale. 47 „À l’époque où cette histoire est parvenue, au dixième siècle, nous sommes bien loin de cette lumière des temps modernes. Il faut que l’humanité souffre et patiente, qu’elle mérite d’arriver … Hélas! à quelle longue et pénible initiation elle doit se soumettre encore! quelles rudes épreuves elle doit subir! Dans quelles douleurs elle va s’enfanter elle-même! Il faut qu’elle sue la sueur et le sang pour amener au monde le moyen âge, et qu’elle le voie mourir, quand elle l’a si longtemps élevé, nourri, caressé. Triste enfant, arraché des entrailles même du christianisme, qui naquit dans les larmes, qui grandit dans la prière et la rêverie, dans les angoisses du cour, qui mourut sans achever rien; mais il nous a laissé de lui un si poignant souvenir, que toutes les joies, toutes les grandeurs des âges modernes ne suffiront, pas à nous consoler.“ – Jules Michelet: Histoire de France – Moyen Âge; (Vol. 2 / 10). Zitat nach [http://www.gutenberg.org/ebooks/38244]; keine Seitenangabe.

1350

Teil IV

der Philosoph finden in den Geschichten des Mittelalters und in den Diskussionen der Schulen dieser Epoche Phrasen oder Redensarten, welche sie nur noch stolzer auf ihre Wissenschaft machen. Wir anderen, wir finden daselbst stechende Rückerinnerungen, Andenken, die uns wie Dolchstiche wecken, die uns wie feurige Pfeile vorwärts treiben. Erst wenn die Priester dieses Gebiet des prophetischen Schmerzes, des prophetischen Gesichts werden durchschritten haben, wird es ihnen gelingen, dasjenige zu werden, was sie in der Epoche der Zukunft sein müssen, nämlich große und geachtete Männer müssen sie sein. Sagen es die Dichter, gesteht es selbst das Publikum, man müsse etwas von Gott in eine poetische Strophe setzen, um dieselbe als wirkliche poetische Begeisterung geltend zu machen, haben wir außerdem bewiesen, daß man in der gegenwärtigen Zeit vieles von Gott Kommende in die politischen Konstitutionen setzen muß, um sie als ein göttliches Werk den Völkern annehmbar zu machen, was sollen wir nun von den Priestern sagen? – Die Kirche ist der größte aller Staaten. Sie berührt mit einer Seite die unsichtbare Welt, das Reich der Geister, und mit der anderen Seite stößt sie an die stumme, beseelte oder unorganische Welt, über welche uns die Kirche noch nicht mehr als das erste Wort gegeben hat. Keineswegs ist es die Wissenschaft, welche diese Fragen löst. Derselbe Geist, der uns zu der höheren Region erhebt, läßt uns noch die organischen Gesetze der niederen Regionen entdecken. Die Philosophen des Altertums haben uns eine Masse Bücher über die Politik und die Moral vermacht. Nie taten sie etwas für die Sklaven; das Schicksal, den Stand, die Leiden, die Hoffnungen der Sklaven begriffen sie nicht. Die Heiligen des Christentums, diese Männer, die Ersten, welche mit Engeln gesprochen, haben auch das Mittel gefunden, sich den Sklaven begreiflich zu machen. Die Sphäre erweitert sich gegenwärtig ungemein. Die Menschheit ist berufen, höher gen Himmel zu steigen und tiefer in die Geheimnisse der Natur zu dringen. Fühlten die Priester ihre Sendung, so würden sie große Männer werden und die Politik, die Moral lenken, über welche wir jetzt ihr Urteil nicht für voll ansehen. Die Intuition (das Insichgehen) ist durchaus nichts Neues für die Kinder der Kirche. Die anfängliche Kirche handelte öfters unter der Eingebung des Augenblicks, durch unwillkürliche Ergießungen (par des élans spontanés)), und auf eine Weise, die wir intuitiv nennen. Lesen sie das römische Brevier vom vergangenen Monat. Ambrosius48, römischer Beamter, Soldat, kommt 48

Ambrosius von Mailand (339–397; Daten aus – Breviarium Romanum ex decreto Sacrosancti Concilii Trident. Restitutum,  S. PII V.  Pontificis  Max. Jussu Editum, Clementis VIII. et Urbani VIII. Auctoritate Recognitum, cum Officiis Sanctorum novissime per Summos Pontifices usque ad hanc diem concessis, in Quator Anni tempora divisum. Pars

4. Vorlesung (9. Januar 1844)

1351

nach Mailand, um die Unruhen beizulegen. Ein Kind ruft, man müsse ihn zum Erzbischof ernennen, das Volk wiederholt diesen Ruf. Man nimmt Ambrosius, man erhebt ihn auf Händen, man macht ihn zum Erzbischof. Dieser Mann war sogar noch nicht getauft; er wurde die Zierde der Kirche, einer der Kirchenväter. Ließ man ihn wohl die theologischen Examina durchmachen? Schickte man ihn an die Büros, an die Kommissionen, wie man dies heut zu Tage mit Männern tut, die von Religion reden? Keineswegs, ein Kind fühlte in dem Mann, der noch nicht getauft war, den künftigen Kirchenvater; und das Volk antwortete auf die Stimme des Kindes. Der heilige Eusebius49, dessen Leben in dem Brevier von demselben Monat Dezember zu lesen ist, welcher in seiner Diözese von niemandem gekannt war, wurde desgleichen durch das Volk mit einmal zum Bischof ernannt. Simul ut viderunt et probaverunt (sobald sie ihn sahen, erkannten sie ihn für würdig).50 Der heilige Petrus Chrysologus51 wurde von dem Papst Sixtus dem Heiligen für den Mann erkannt, den er einmal im Traum gesehen, und man machte ihn zum Erzbischof. Die Völker haben die Überlieferung der höheren Eingebung, der Begeisterung bis zu dem Grad verloren, daß sie nicht mehr im Stande sind, die früheren Wahlen der Könige von Polen zu begreifen, sie erinnern sich nicht einmal, daß einst dieselben Dinge in der Kirche stattfanden! Die Überlieferung dieses höheren Lebens ist seit längst für die amtliche Kirche verloren gegangen. Das einzige Mittel, das dem Priester übrigbleibt, um die Männer der Zukunft zu begreifen, ist, seinen Geist im Volksgeist, der von allen Seiten die Kirche überholt und überschwemmt hat, zu verjüngen (retremper). Die Völker verlangen keineswegs die Kirche umzustoßen, sondern sie erhoben zu sehen. Vor der Julirevolution gab es eine Armee in Frankreich; niemand wollte sie vernichten noch würgen, nur rief man ihr zu: Empfangt den neuen Geist, welcher sich in den Eingeweiden des französischen Volkes regt, führt uns der Zukunft entgegen. Die Armee weigerte sich dem Volke zu folgen; sie wurde gebrochen, nichts destoweniger besteht jedoch eine Armee: die frühere wurde durch eine jüngere und lebenskräftigere ersetzt. Die Völker rufen der Kirche zu, sie möchte den neuen Geist empfangen. Wir führten ihnen diese Verse von Garczyński an:

49 50 51

Autumnalis. Vindobonae 1833, S. 421–422; vgl. auch Ernst Daßmann: Ambrosius von Mailand. Leben und Werk. Stuttgart 2004. Eusebius, Bischof von Caesarea (260/262–339/340); vgl. Friedhelm Winkelmann: Euseb von Kaisareia. Der Vater der Kirchengeschichte. Berlin 1991. Vgl. Breviarium Romanum, op. cit., S. 447. Petrus Chrysologus (um 380/400–450), Bischof von Ravenna – vgl. auch Breviarium Romanum, op. cit., S. 417.

1352

Teil IV Krzyczą nad nim jak matka nad śmiercią dziecięcia, Gdy je spod piersi matce wyrwie ptak straszliwy; […] Sie schreien über ihn wie die Mutter über den Tod des Kindleins, Das ihr der Raubvogel von der Brust entriß.

Und diese Schreie sind Są dźwiękiem różnych śpiewów, pieśni tajemniczej, Którą długo tworzyły całe pokolenia, Którą echem tajemnym, późny wnuk dziedziczy.52 Sind der Klang verschiedener Gesänge, eines geheimnisvollen Liedes, Das in langer Zeit die ganze Generation schuf, Deren geheimnisvolles Echo der spätere Enkel teilhabend vererbt.

Wenn ihr diesen neuen Geist empfängt, so werdet ihr zugleich begreifen, warum es so schwer ist, das Volk an den Fuß des Kreuzes zurückzuführen, es mit Jesus Christus wieder zu versöhnen. Schwer ist es, weil ihr das Ideal von Jesus Christus gänzlich verfälscht habt. Jedesmal stellt ihr ihn bettelnd vor; ihr glaubt, daß es genüge, ihm ewig abzubitten, ihm zu schmeicheln, ohne etwas für ihn zu tun. Wo habt ihr es gelesen, daß der Menschensohn irgend je gebettelt hat? Sprach er nicht im Gegenteil mit Kraft? Trieb er nicht die Pharisäer aus dem Tempel? Nein, nie hat er gebettelt, nie sprach er einschmeichelnde Worte. In Formeln drückte er sich nie aus, Diskussionen setzte er nie auf. Mit dem Bösen vertrug er sich nie. Wir haben ihnen die Gebärde beschrieben, welche die Männer, die berufen sind, eines Tages zu handeln, auszeichnet, die Gebärde der Männer, die den Volksgeist aufrechthalten. Häufig sahen wir diese Gebärde, wir haben sie zu fassen und wiederzugeben vermocht. Wie aber das Ideal der neuen Kinder der Kirche beschreiben? Befragen sie die Denkmäler der Kunst. Daselbst stellt man ihnen die erlauchten Häupter des Heiligen Petrus, des Heiligen Paulus, des Heiligen Stephan mit einem Charakter dar, in welchem Milde, Kraft und Größe zusammen ausgedrückt sind. Ihre Häupter, vom Heiligenschein umgeben, leuchten wider, und sie sehen Lichtstrahlen aus ihren Händen entspringen. Finden sie jetzt wohl unter den Leuten, welche die Kirche bedienen, ähnliche Gesichter, ohne selbst von diesen Zeichen der übernatürlichen Gnade zu reden? Jene starken, gewaltigen Männer, deren Wort die Bataillone erschütterte, die Henker erblassen machte, die Fluten der barbarischen Völker teilte; 52

Stefan Garczyński: Wacława dzieje. In: Poezye Stefana Garczyńskiego. Tom I. Paryż 1833, S. 14, 18.

4. Vorlesung (9. Januar 1844)

1353

jene Männer ohne Ruhe und Rast, getrieben von einer unsichtbaren Macht zu der Eroberung ihnen selbst dem Dasein nach unbekannter Länder, glichen viel mehr den Kriegern und Generalen der Grande Armée, als sie andererseits den Leuten, die sich ihre Nachfolger nennen, nicht ähnlich sehen. Der Heilige Stephan sah mit festem und stolzem Blick auf seine Henker herab. Nicht ließ er die Augen nieder. Im Gegenteil sah er den Himmel sich öffnen und den Menschensohn ihn zu sich rufen.53 Es gibt kein Heilmittel für dieses allgemeine Übel, das die Krankheit Frankreichs, Polens, Russlands, Spaniens und Italiens ist; es gibt kein Heilmittel als in unerhörten Anstrengungen. Es ist notwendig, daß die Männer, welche bis zu diesem Punkt ihrem Beruf nicht nachgekommen sind, damit anfangen, sich zu demütigen, daß sie sich innerlich abdanken; und fühlen sie sich nicht berufen, große und gewaltige Männer zu sein, so mögen sie sich nicht mehr die Soldaten des größten und des gewaltigsten aller Geister nennen, die Soldaten Jesu Christi. Wenden sie sich doch lieber den Arbeiten des gewöhnlichen Lebens zu, sprechen sie uns nicht mehr im Namen der Religion, welche gegründet durch Wunder, nicht anders als nur durch Wunder bestanden hat. Die katholische Kanzel hat dermaßen Angst vor den Ausrufungen der Protestanten, sie fühlt sich dermaßen schwach im Angesicht der Philosophen, daß sie nicht mehr zu reden wagt von jenen Männern, die wundermäßig durch ein Wort heilten, die man so häufig sich in die Luft erheben, die Flüsse durchschreiten, über dem Meere gehen sah. Diese Kirche, deren Dasein selbst ein Wunder ist, vermeidet es von Wundern zu reden, die Priester wagen nicht mehr öffentlich davon zu sprechen. Nun wohlan; ungeachtet ihrer Priester und selbst gegen die Priester wird diese Kirche gerettet sein; und weil sie es nicht wagen zu sagen, so wollen wir es aussprechen: sie wird durch ein Wunder gerettet werden. Ihr aber, Priester, nicht eher werdet ihr uns in einem und demselben Gefühl der Liebe zusammen vereinen, nicht eher, als bis ihr alle Proben überstanden, die dem Menschen auferlegt, nicht eher, als bis ihr euch wie ein Wurm gewunden, an eueren Eingeweiden gezerrt, in der einzigen Absicht, sie zu erweitern. Erst alsdann werdet ihr jenen gewaltigen und leuchtenden Gesichtern der ursprünglichen Kirche wieder ähneln, und dann werdet ihr auch die eben vorgelesenen Seiten begreifen; ihr werdet erraten, wo der Geist des in Purpur gekleideten Mannes ist und was die Gebärde bedeutet, die er in der Eigenschaft des Erdengebieters macht. 53

„In jenen Tagen blickte Stephanus, erfüllt vom Heiligen Geist, zum Himmel empor, sah die Herrlichkeit Gottes und Jesus zur Rechten Gottes stehen und rief: Ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen.“ – Neues Testament: Apostelgeschichte 7, 55–56.

5. Vorlesung (23. Januar 1844) Ursachen des Widerwillens der Kirche gegen den neuen Geist Frankreichs und Polens. – Was wird die Poesie in der Zukunft sein? – Die neuen Heiligen, die neuen Reliquien. Warum kennt die Kirche sie nicht? – Die letzte Phase der polnischen Literatur. Ist sie ketzerisch?

Meine Herren! Diese Tatsache, daß ein katholisches Volk in dem gräßlichsten Augenblick des Kampfes, unternommen für die Aufrechterhaltung seines religiösen Volkstums, von der amtlichen Kirche verlassen wurde, diese andere Tatsache, daß alle Schriften der modernen Literatur dieses Volkes, als mit Ketzerei gefüllt, verdächtigt werden, verbinden sich mit der großen religiösen Frage, die gegenwärtig sowohl in den politischen Versammlungen, als auch in den Büchern der Philosophen besprochen wird. Man muß viel tiefer in die Ursachen eingehen, welche die amtliche Kirche verhindern, mit dem, was das Lebenskräftigste und Reellste in der katholischen Bewegung ist, zu sympathisieren, und welche sie jedesmal verhindern werden, den bestehenden Geist Frankreichs und Polens zu fühlen. Bekannt ist ihnen, wie dasjenige, was man die religiöse Reaktion nennt und was man die verstärkte religiöse Aktion nennen müsste, von den letzten Jahren des verflossenen Jahrhunderts herdatiert und daß sie in Frankreich begonnen hat. Laien waren es, welche das erste Signal dieses Wirkens gaben: fast alles Männer des Leidens, Männer der Tat. Chateaubriand, lange Zeit umherirrend und flüchtig, de Maistre, proskribiert, Lamennais, ebenfalls gezwungen ein Asyl in fremdem Lande zu suchen, wurden notwendigerweise durch die innere Geschichte ihres Lebens darauf hingeführt, nach den Prinzipien des modernen Lebens der europäischen Völker zu suchen.54 Viktor Hugos poetische Traurigkeit, Michelets Liebe zur Kunst ließen ihnen die Geheimnisse der gothischen Kunst entdecken. Herr Buchez, nachdem er im politischen Treiben Mißgeschicke und Verdruß erfahren, kehrte in den

54 François René de Chateaubriand (1768–1848) verbrachte nach der Revolution mehrere Jahre in England; Joseph de Maistre (1753–1821) lebte fast 14 Jahre in Petersburg; vgl. J. de Maistre: Die Abende von St. Petersburg oder Gespräche über das zeitliche Walten der Vorsehung. Hrsg. Jean J. Langendorf und Peter Weiß. Wien 2008; Félicité Robert Lamennais (1782–1854) war nicht im Exil, wurde aber 1840 wegen seiner Broschüre „Le Pays et le gouvernement“ (Paris 1840) zu einer einjährigen Gefängnisstrafe verurteilt; vgl. Andreas Verhülsdonk: Religion und Gesellschaft: Félicité Lamennais. Frankfurt am Main-BernNew York-Paris 1991.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_105

5. Vorlesung (23. Januar 1844)

1355

Schoß der Kirche wieder, oder, um sich wahrer auszudrücken, flüchtete sich unter die Fittiche der katholischen Logik.55 Keiner dieser Männer ging aus dem Seminarium hervor; mehrere wußten nie etwas von Theologie; und dessenungeachtet ist die moderne Kirche dennoch gezwungen sich auf diese Männer zu stützen. Es sind dieses die einzigen Quellen, an welchen sie noch einige Kraft schöpft. Setzen wir nun aber den Fall voraus, daß diese Männer nie etwas geschrieben hätten; daß sie, statt Philosophen, statt Schriftsteller zu werden, Soldaten, Männer des Volks geworden wären, daß sie die Zeit, auf das Schreiben der Bücher verwandt, ganz und gar in Nachdenkem in inneren Arbeiten, in Schlachten zugebracht hätten: ohne Zweifel würden diese Männer nicht aufgehört haben Katholiken zu sein; vor Gott, der alles sieht, stellten sie fortwährend die lebende Kirche vor, und dessenungeachtet fänden sie sich gegenwärtig im geraden Widerspruch mit der amtlichen Kirche; sie wären im Lager der Julimänner, oder in demjenigen der polnischen Streiter. Siehe da die Geschichte der Völker Europas und namentlich die des polnischen Volks, das wenig geschrieben, aber nicht aufgehört hat, nachzudenken, zu leiden, zu kämpfen, und das nun berufen ist, die Frucht seiner langen Leiden aufzuweisen, denn glauben darf man nicht, daß in der Zeit, in welcher die Tempel in Frankreich und Italien geschlossen waren, in welcher man die Religion in Polen verfolgte, die katholische Kirche nicht bestanden hätte. Das Opfer dauert fortwährend. „Der Opferkelch, sagt de Maistre, wird immer auf Erden dargebracht und erhoben.“56 Und jedes Mal, befindet sich der Kelch der Altäre in unwürdigen Händen, so ist es der Busen der edlen Männer, welche ihr Blut als Opfer vergießen, um die Menschheit zu erlösen: hörte das Opfer nur einen Augenblick auf, so würde das Christentum und folglich auch die Menschheit aufhören. Auf diese Art erwachte bei den Slaven nach unerhörten Leiden eine unerwartete Literatur. Sie hat einen durchgängig neuen Charakter, welcher, selbst in Betreff der Kunst, Ihre ganze Aufmerksamkeit verdient. Diese Literatur, sie ist erzeugt worden auf eine bis jetzt ungewöhnte Weise. Sie erhebt Fragen, die man nie in den Schulen besprochen hat, ja die man nicht einmal in denselben vermutete. Wir wollen ihnen ein Beispiel von dem, was wir voraussetzen, angeben. 55

56

Vgl. Victor Hugo: Notre-Dame de Paris. Paris 1831; Jules Michelet: Histoire de France, op. cit., Bd. II; Philippe Joseph Benjamin Buchez (1796–1865) – vgl. 32. Vorlesung (Teil II); ferner – Armand Cuvillier: P.-J.-B. Buchez et les origines du socialisme chrétien. Paris 1948, S. 27 über die Rückkehr zum Katholizismus. Zitat nicht ermittelt.

1356

Teil IV

Als wir nach der letzten Sitzung den Saal verließen, trat zu uns ein erst seit kurzem in Paris eingetroffener Fremder57, um uns zu berichten, daß die Poesie des ungenannten Verfassers58, und die wir ihnen zuletzt vorgelesen, gedruckt vor etwa vier Jahren, mit Bestimmtheit gesprochen, keine Poesie sei, sondern daß sie eine wirkliche Vision war, die niedergeschrieben wurde von einem Mann, welchen der in Rede stehende Fremde sehr gut kenne. „Ich habe, sagt er, den Dichter gesehen, im Augenblicke, als er noch unter dem Eindrucke dieser schreckhaften Vision gewesen, ich habe ihn sehr aufgemuntert, sie niederzuschreiben. Das Werk entstand auf diese Weise.“ Wir antworteten diesem Fremden, daß, wenngleich uns die Entstehungsgeschichte des Poems nicht bekannt sei, wir doch, ungeachtet der Verwirrung und des Nichtzusammenhangs in der Art des Erzählens und des Stils, in dem Werk das Gepräge der Wahrheit erkannt hätten, die es über die Erzeugnisse der reinen Einbildung erhebt. Nun fragen wir sie aber, werden wohl die Poesien gegenwärtig auf diese Weise verfaßt? Mittlerweile stehen wir jedoch keinen Augenblick an zu versichern, daß dieses die einzig mögliche Poesie in der Zukunft ist, daß es nicht mehr erlaubt sein wird im Namen einer göttlichen Eingebung zu reden, ohne sie in der Tat gefühlt zu haben, daß man denjenigen Menschen, welcher sich erlauben würde, wie dieses noch jetzt geschieht, uns von Engeln, Teufeln und von Geheimnissen der Natur vorzureden, ohne sie wirklich im Geist gesehen zu haben, als infam und ehrlos betrachten wird, und daß, durch die Prüfung der gegenwärtigen Literatur des Nordens, einem jeden Leser das Mittel gegeben sein wird, in einem Gedicht das, was wahrhaft, was göttlich, was begeistert, von dem, was falsch, von dem, was nur nachgeäfft ist, von dem endlich, was man jetzt Poesie nennt, zu unterscheiden. Auf diese Art wird die Poesie wieder werden, was sie zu den Zeiten der Propheten gewesen, was sie zu den Zeiten des Orpheus und Musäus war59, und sie wird alsdann auch das Recht haben, die Aufmerksamkeit und die Achtung der Menschen in Anspruch zu nehmen. Von allen uns bekannten Verfassern hat der einzige französische Schriftsteller Louis-Claude de Saint-Martin diese Wahrheit eingesehen; er sagt, daß man

57 Person ungeklärt; vermutlich der Dichter Konstanty Gaszyński (1809–1866), der mit Z.  Krasiński befreundet war, so Juliusz Kleiner: Zygmunt Krasiński. Dzieje myśli. Lwów 1912, tom I, S.  322; vgl. allerdings dazu Arkadiusz Bagłajewski: Mickiewiczowska interpretacja „Legendy“ Krasińskiego w prelekcjach paryskich, op. cit., S. 171 (Fußnote 19), der die von Juliusz Kleiner stammende Vermutung in Frage stellt. 58 Zygmunt Krasiński: „Nie-Boska komedia“. Vgl. 8.–11. Vorlesung (Teil III). 59 Vgl. 16. Vorlesung (Teil I).

5. Vorlesung (23. Januar 1844)

1357

nicht eher Verse schreiben dürfte, bis man ein Wunder getan.60 Nur den Ausdruck hätte er ändern und sagen sollen, daß man nicht eher Verse schreiben dürfte, das heißt, jene Sprache anwenden, die in den Schulen die Sprache der Götter genannt wird, als bis man einem Sich-Kundgeben beigewohnt, das alle Merkmale der unmittelbaren Anwesenheit Gottes an sich hätte, einem Vollziehungsakt jener Macht, welche der Philosoph Franz Xaver von Baader die „exekutive Macht“61 der Religion nennt. Darum ist, wir wiederholen es, von allen Literaturen diejenige der Polen die einzige, wir wollen nicht sagen katholische, denn die französische Literatur ist durchgängig mehr oder weniger katholisch, da sie Fragen berührt, welche die allgemeine Kirche beschäftigen, da sie die Dogmen der Kirche zu realisieren trachtet; sondern von allen Literaturen ist diejenige der Polen die einzige, welche ein priesterliches Gepräge hat. Diese Literatur ist es auch, die von der amtlichen Kirche denunziert und mit einem Anathema belegt wurde! Wie konnte es auch anders kommen, da ja die amtliche Kirche in den Verfahrungsweisen die sie anwendet, um die Werke, die Worte und die Gewissen zu prüfen und zu richten, das heißt dasjenige, was das am meisten Spontane, was das am mindesten Faßliche ist, da die Kirche, sagen wir, in der Prüfung aller dieser Sachen sehr weit hinter der bürgerlichen Gesellschaft zurückgeblieben ist und viel weiter noch hinter den Verfahrungsarten, die man hier zu Lande befolgt, wenn man über Kunstsachen ein Urteil fällen will; denn sie wissen es ja, daß, wenn man auch den Formalistem, den Richtern, den Schreibern, den Büros die zivilen Angelegenheiten oder die das Eigentum betreffenden anvertraut, doch wenigstens der christliche Geist schon so viele Fortschritte gemacht hat, daß die gebildeten Gesellschaften, daß Frankreich, die Ehre und das Leben der 60

61

Die Zitat-Paraphrase geht auf den Aphorismus von Louis-Claude de Saint-Martin zurück: „On ne devroit faire des vers qu’après avoir fait un miracle, puisque les vers ne devroient avoir d’autre objet que de le célébrer.“ (Louis-Claude de Saint-Martin: Ouevres posthumes, t. 1. Tours 1807, S. 199); Mickiewicz übersetzte diese Sentenz in: A. Mickiewicz: Dzieła. Tom XIII: Pisma różne, op. cit., S. 8. vgl. dazu Wiktor Weintraub: Poeta i prorok, op. cit., S. 107–108 und 187. Franz von Baader: Fermenta cognitionis: Proben religiöser Philosopheme älterer Zeit. Sechstes Heft. Leipzig 1825, (Abschnitt 24), S. 90–92: „Dieser Glaube (der sich in Furcht oder Hoffnung äußert, den wir aber in einzelnen Fällen bis zu jener Infallibilität gesteigert sehen, vor welcher die Menschen und die Natur Respekt zeigen) ist aber kein anderer, als der an die exekutive Macht (die alle Regionen, und somit auch die äußere Naturregion duchschlagenede Effectivität) jenes Gesetzes, welches eben so unabhängig von den Menschen für und wider sie, und wenn schon öfters, doch nicht immer, nicht notwendig bloß durch sie sich als exekutive Macht kund gibt und geben kann, als dasselbe Gesetz (derselbe Gesetzgeber) sich unabhängig von den Menschen ihrem Willen bloß innerlich als Gesetz im eigentlichen Sinne des Worts kund gibt.“

1358

Teil IV

Bürger den Händen der Routine-Menschen entrissen; das Leben und die Ehre der Bürger sind unter den Schutz des Geschworenengerichts gestellt. Was ist das Geschworenengericht? Es sind dieses Bürger, meistenteils unwissend, die nie den Kodex gelesen, die fast nicht einmal zuhorchen, was der Advokat vorträgt, die aus Intuition urteilen, die gehalten sind zu besitzen, und öfters wirklich diese Gewissenskraft besitzen, welche den Verbrecher erzittern macht, welche bis auf den Grund seiner Seele sieht und ihn zwingt, sich durch einen unwillkürlichen Blick, durch den Ton seiner Stimme zu verraten. Die Jury hat nur diesen Ton zu fühlen, diesen Blick zu prüfen; und sie spricht ihr Urteil. Es ist dieses von allen die schwierigsie Art zu richten. Sie kann nur von Männern ausgeübt werden, die inmitten einer Gesellschaft, seit längst schon durch den christlichen Geist bearbeitet, leben, durch Männer, die sich bis zu der Stufe der Geistesentwicklung erhoben haben, die es ihnen möglich macht, intuitive Augenblicke zu bekommen. Die Kunstakademien, urteilen sie über Gemälde und Statuen, so schicken sie dieselben keineswegs an ihre Büros, an ihre gewöhnlichen Kommissionen, sondern sie treten in eine Jury zusammen. Die amtliche Kirche ist nun aber noch bis auf den heutigen Tag aus den Büros und den Kommissionen nicht herausgegangen. Ein ganz gewöhnlicher Mensch, der nicht einmal den Eindruck erfährt, welchen der Anblick des Tribunals und die hohe Wichtigkeit der Sache in einem Mitglied des Geschworenengerichts zuwege bringt, ein Kontorist der Kirche, macht sich an das Abschätzen der Worte, der Gedanken eines Redners oder eines Dichters, er prüft eine begeisterte Schrift und zieht aus derselben Mutmaßungen und Syllogismen. Nach seinem Gutdünken macht er hieraus den Rapport an die Bürokraten der Kirche! Wir haben ihnen erzählt, wie in der ursprünglichen Kirche das Volk in einem Augenblick des sich Luft machenden Enthusiasmus einen Mann, der nicht einmal getauft war, zu der Würde des Erzbischofs ausrief und erhob; wir führten ihnen mehre Beispiele solcher Wahlen an. Für jetzt wollen wir sie an eine Begebenheit erinnern, woraus sie werden urteilen können, welch ungeheurer Zwischenraum die amtliche Kirche der Gegenwart von derjenigen der ersten Zeiten trennt, von derjenigen der Zeiten des Lebens, des Enthusiasmus und der Tat. Viele unter ihnen haben wahrscheinlich die Bekehrungsgeschichte von Ratisbonne62 gelesen. Dieser Israelit tritt durch einen vorsehungsartigen 62 Alphons-Marie Ratisbonne (1812–1884); in diese Bekehrungsgeschichte gehört auch sein Bruder Théodore-Marie Ratisbonne (1802–1884); vgl. Conversion de M.M.A. Ratisbonne. Relation authetique par Th. de Bussières […]. Paris 1842; deutsch – Theodor Baron von Bussière: Authentischer Bericht über die Bekehrung des Herrn Alphons Maria

5. Vorlesung (23. Januar 1844)

1359

Zufall in eine Kirche zu Rom; mit einem Mal von einem Gesicht berührt, fällt er auf die Knie. Man findet ihn in Tränen zerfließend; in sich selbst stellt er den Beweis der Wirklichkeit dessen vor, was er zu erzählen nicht im Stande war. Er verlangt die Taufe. Man schickt ihn an die Theologen, man sagt ihm, er kenne noch nicht den Katechismus. Er besteht auf seinem Begehren: es währte ihm zu lange, in den Schoß dieser so wunderreichen Kirche einzutreten! Es werden ihm die Konzilienbeschlüsse entgegengesetzt, man sagt ihm, er kenne nicht das Symbol der Apostel. „Aber um Gottes willen, antwortet dieser Mensch, ich habe ja gesehen, eben sah ich ja, die Königin der Engel und der Apostel; in einem Augenblicke habe ich alles gelernt.“ Umsonst, die Priester konnten von alledem Nichts begreifen. Was ein Beweis ist, daß gewiß keiner von ihnen jemals diesen Augenblick gehabt, in welchem der Mensch sich gänzlich vergisst, in welchem er ganz hingerissen wird. Ein Protestant, ein amerikanischer Philosoph, Emerson, schrieb einen Essay, um zu erklären, was dieser Augenblick sei; und er glaubt, daß derjenige Mensch, zu dem Gott nur ein einziges Mal gesprochen, daß dieser Mensch schon alles wisse.63 Wie wollen sie nun, daß man irgendetwas von der Vision begreift, die wir ihnen gelesen, von der Vision, geschrieben unter einem ähnlichen Eindruck, wie diejenige, welche Ratisbonne erfuhr? Wie darf man sich nur verwundern, daß auch das Poem „Przedświt“64 (Morgendämmerung) verdammt wird, wo der Verfasser fortwährend von der unsichtbaren und übernatürlichen Welt spricht? Später sollen sie die Ursachen hören, warum wir das Erzeugnis, genannt „Biesiada“65 (Das Gastmahl), als gänzlich außerhalb der Gewohnheiten des Begreifens und des Urteilens der amtlichen Kirche betrachten. Die Geschichte erzählt uns Beispiele von Monarchen, die in den Tagen ihres Mißgeschicks von ihren Ministern und von ihren Günstlingen verlassen wurden, denen aber das Volk treu blieb. Dasselbe findet statt mit dem christlichen Geist. Die Völker haben gelitten, die Völker sind auf dem Weg des Kreuzes

63 64 65

Ratisbonne. In deutscher Sprache herausgegeben von Michael Sitzel […] nebst einem Brief des Herrn Alphons Maria Ratisbonne an den Herrn Pfarrer von Notre Dame des Victoires, den Stifter der Erzbruderschaft des hochheiligen und unbefleckten Herzens Mariä zur Bekehrung der Sünder. Augburg 1842; ferner – David August Rosenthal: Convertitenbilder aus dem neunzehnten Jahrhundert. III. Band, 1. Abteilung: Frankreich und Amerika. Schaffhausen 1869; darin über Theodor Ratisbonne: S. 141–162; Alphons Ratisbonne: S. 194–236. Vgl. Ralph Waldo Emerson: Die Natur. Ausgewählte Essyas. Hrsg. Manfred Pütz. Stuttgart 1982; Kapitel „Die All-Seele“, S. 179–203; vgl. 2. Vorlesung (Teil IV). [Zygmunt Krasiński]: Przedświt. Paryż 1843 (anonym). Vgl. die 14. Vorlesung (Teil IV).

1360

Teil IV

vorgerückt, die Völker sind auch im Besitz von Mysterien und Hoffnungen, welche zu fühlen und zu begreifen die amtliche Kirche unfähig ist. Darum hat sie uns angeklagt, eine neue Religion einführen zu wollen, vergessend, daß selbst das Christentum keine neue Religion gewesen, sondern gekommen war, um für immer und auf ewig alle Religionen zu erklären und zu ergänzen. Wir besitzen und wir verhehlen es nicht, Heilige, die ihr Männer der amtlichen Kirche nicht kennet; wir verehren gewisse Reliquien, deren Dasein ihr nicht mutmaßt. Ist es wohl die Schuld der Polen oder der Franzosen, daß die Völker, in der Zeit vorrückend, gezwungen waren neue Namen eurer Litanei der Heiligen hinzuzufügen? Die Geschichte steht ja nicht still, und warum ist die Litanei stehen geblieben? In den ersten Zeiten gab es hundert Heilige für einen Tag. Seit Jahrhunderten sehen wir fast keine mehr, und doch haben wir das Bedürfnis anzubeten (d’adorer), wir fühlen das Bedürfnis, uns zu erheben. Die Priester schreiben allgemeine Geschichten und Geschichtsauszüge für das Volk. Gibt es nun aber wohl eine vollständigere, eine mehr großherrliche, eine mehr nährende Geschichte, als der erhabene Gesang, die Litanei aller Heiligen genannt; unseres Wissens gibt es keine. Es ist die Anrufung aller der großen Geister, die irgendeinmal unseren Weltteil durch ihre Tugenden und durch ihre Taten erleuchtet und die Menschheit vorwärts gerückt haben. Es steht jedem frei, einen Krieger, eine heilige Jungfrau, einen Märtyrer, einen Einsiedler, einen Mönch anzurufen. Jeder kann je nach seinen Bedürfnissen, je nach seinem Streben, eine Seele finden, die bereit ist ihm zu helfen und zu raten. Ein einfacher Mann, ein Mann des Glaubens und der Tat, braucht keine Galerien und Museen, welche die aufgeblasenen Gemüter der Welt erhitzen. Er hat sich nur bei sich einzuschließen und mit einem Wort kann er diese ganze himmlische Galerie aufrufen; er kann sich mit derselben umringen: glauben sie aber nicht, daß es leicht ist, dieses Wort auszusprechen. Schon haben die Priester vergessen uns zu helfen, das große Anrufungswort auszusprechen, weil sie uns zuvörderst hätten lehren müssen, die Heiligen anzurufen, die der Erde am meisten genähert sind, diejenigen, die wir am besten begreifen können, mit welchen es uns viel leichter ist, in Umgang zu bleiben. Denn beten, was heißt das wohl? Ist es etwa was anderes, als seinen Geist erheben, ihn der Art zu entflammen, daß man ihn zu dem Niveau jener großen Geister bringt, die uns in der Laufbahn des Lebens vorangegangen sind, und ihn befähigen, einige Worte des Trostes und des Rates von dorther zu ziehen? Wir machen dasselbe Ding im gewöhnlichen Leben. Es ist dieses durchaus kein Mystizismus. Wollen wir zum Beispiel einen Gelehrten verstehen, wollen wir aus seinen Lehren Vorteil ziehen, so sind wir gezwungen, so zu sagen, die Heiligen niedrigerer Ordnung zu verehren, wir müssen zuerst in den Schulen lernen, um unsere Intelligenz stufenweise bis zu dem Niveau derjenigen,

5. Vorlesung (23. Januar 1844)

1361

welche die Wissenschaft und die Kunst beherrschen, zu erheben. Männer der amtlichen Kirche, ihr habt die ganze religiöse Überlieferung unterbrochen, und ihr verwundert euch nun, daß die Polen Litaneien haben, in welchen man Vladislav (Władysław III.), den letzten Verteidiger, gefallen zu Varna für die Sache der Christenheit, anruft, in welchen man Johann III. (Jan III.), in welchen man unseren Bauer-Diktator Kościuszko anruft; ihr verwundert euch noch mehr, daß wir Polen den Napoleon verehren und anrufen, das mächtigste Genie, den Gatten des unglücklichen Volkes, wie ihn unser Prophet Kazimierz Brodziński66 nennt. Habt ihr uns wohl über die Mysterien dieser Verehrung befragt, welche zurückzustoßen, sie als illusorisch zu betrachten ihr euch begnügt? Jede Verehrung also, die sich nicht auf gerichtliche Urkunden stützt, ist wohl illusorisch? Für den Fall rüttelt ihr aber selbst an den Grundfesten des Katholizismus. Und was wisst ihr wohl von dieser Verehrung Napoleons? Wie könnt ihr nur etwas davon begreifen? Seid ihr diesem Mann auf dem Feld seiner Arbeiten gefolgt? Habt ihr zum wenigsten jene ungeheueren Knochenhäuser von Jena; von Montebello, von Auerstedt, wo die Gebeine so vieler Tausende von Märtyrern ruhen, die für die Sache des Christentums litten und starben, besucht. Besuchtet ihr, die ihr doch die alten Kapellen besucht, das Feld zu Waterloo, dieses Golgatha des modernen Europa? Byron, der Engländer, der Feind Frankreichs, hat, dieses Feld besuchend, vom Ortsanblick plötzlich betroffen und berührt vom Geiste, der da weilt, in einem Augenblicke der Intuition ausgesprochen: „Dieses Schlachtfeld war seit einer ganzen Ewigkeit her vorbereitet, um der Schauplatz einer großen Begebenheit zu werden.“ In diesem erhabenen Worte hat Byron, ohne es zu wissen, dasjenige wiederholt, was die Mystiker von Golgatha ausgesagt. „Dort war es, spricht derselbe Byron, wo der ruhmvolle Adler, durchbohrt von den Pfeilen der Monarchen, gefallen ist.“67 Und dort war es, wo mit dem Ruhm Frankreichs 66

Anders bei Kazimierz Brodziński: O narodowości Polaków. In: K.  Brodziński: Mowy i pisma patriotyczne oraz o powołaniu i obowiązkach młodzieży akademickiej. Hrsg. Ignacy Chrzanowski. Kraków 1926 (= Biblioteka Narodowa seria I, nr 94), S.  87, der schreibt: „Napoleon uzbroił wnet Europę przeciw Rosji i drugą polską wojnę nazwał bój, który […] zgubił największego mocarza i naród najnieszczęśliwszy.“ (Napoleon bewaffnete fast ganz Europa gegen Rußland und bezeichnete den zweiten polnischen Krieg als eine Schlacht, in der der größte Herrscher und das unglücklichste Volk eine Niederlage erlitten haben). 67 Zitat-Paraphrase aus Byrons „Childe Harold’s Pilgrimage“ (III. Gesang, XVIII. Strophe); dort wird der Adler allerdings nicht „von den Pfeilen der Monarchen“, sondern der „Völker“ durchbohrt. – „And Harold stands upon this place of skulls, / The grave of France, the deadly Waterloo! / How in an hour the power which gave annuls / Its gifts, transferring fame as fleeting too! / In ‚pride of place‘ here last the eagle flew, / Then tore with bloody

1362

Teil IV

die Hoffnung Italiens und Polens fiel. Und ihr verwundert euch, daß dieses Feld als das moderne Golgatha, als der am meisten mit den Geistern des Jahrhunderts gefüllte Ort, betrachtet wird. Wir waren gezwungen darüber zu sprechen, weil die von euch, Männer der amtlichen Kirche, verabscheute Schrift68 datiert ist von dem Feld zu Waterloo, weil sie in der Ferm Gros-Caillou eingegeben war, in diesem Haus, wo das letzte Hauptquartier des Kaisers war, wo er die letzte Nacht zugebracht, diese letzte Nacht, die auch die letzte für die Größe Frankreichs, für das Glück Polens, für Italiens Hoffnung gewesen … Dorthin ist es, wo die Propheten und die religiösen Männer Polens gehen, um sich zu begeistern; und hättet ihr begriffen die Geheimnisse dieses Kultus, so würdet ihr uns das große Geheimnis der katholischen Kirche, dasjenige der Reliquienverehrung erklärt haben, ihr hättet es den Völkern auf eine leichte und beinahe tastbare Weise klar und verständlich gemacht. Ihr begnügt euch aber mit dem Verdammen; erklären mögt ihr nichts; mit Sachen, die wunderbar sind, beschäftigt ihr euch nicht. Gibt es eine Anhöhe am Meeresufer, welche die Diamantnadel der Seefahrer in Bewegung setzt, welche die Winde anzieht oder sie hervorbringt, gleich bemühen sich die Physiker, dieses Phänomen zu erklären. Ihr aber, habt ihr euch wohl mit dieser moralischen, nur vor kurzem stattgefundenen Erscheinung befasst, mit diesem unerschöpflichen Interesse, das eine ganze Bevölkerung dem Leichenwagen des Kaisers folgen machte, das sie noch heute der Invalidenkirche zuzieht? Was treibt wohl die Menschen dorthin? Ist es die Neugierde? In dem Fall würden sie doch lieber ins Theater gehen oder Bücher lesen. Gehen sie etwa dorthin, um ein Denkmal zu bewundern? Es gibt dort aber kein Denkmal. Und doch findet sich daselbst eine unerklärbare Kraft, welche die Menschen in Bewegung setzt, welche zu den Menschen spricht, welche sie anzieht. Hättet ihr uns diese Kraft erklärt? Dafür aber wäre es nötig gewesen, zuerst dahin zu gehen. Und hättet ihr sie uns erklärt, diese Macht. O! Wie würde euch alsdann die Verehrung der Reliquien und der Heiligen einfach klar geworden sein.

68

talon the rent plain, / Pierced by the shaft of banded nations through: / Ambition’s life and labours all were vain; / He wears the shattered links of the world’s broken chain.“ „Biesiada“ (Das Gastmahl) von Andrzej Towiański – unter dem Werktitel befindet sich das Datum „17. Januar 1841“; die Schrift enstand nach Gesprächen zwischen Towiański und dem General des Novemberaufstandes Jan Zygmunt Skrzynecki (1786–1860), die bei Besuchen der Schlachtfelder von Waterloo und des letzten Hauptquartiers von Napoleon vom 24.12. 1840 bis 10. Januar 1841 geführt wurden. Vgl. dazu Stanisław Pigoń: „Biesiada“ A. Towiańskiego (i jej komentarz w IV kursie „Prelekcji paryskich“ Adama Mickiewicza). In: S. Pigoń: Z epoki Mickiewicza. Lwów 1922, S. 241–309; vgl. auch Fußnote 5 in diesem Band (Teil IV).

5. Vorlesung (23. Januar 1844)

1363

So begriff man sie in Zeiten, als die befreundete Kirche wirkte, als sie mit dem allgemeinen Leben des Volks lebte. Die polnischen Gesandten baten eines Tages den Papst Pius V., den letzten der Päpste, welcher im Ruf der Heiligkeit gestorben, um Reliquien für ihr Volk. „Meine Kinder, antwortete ihnen der Papst, was braucht ihr der Reliquien? Nehmet eine Handvoll eurer Erde, gebildet ist sie ganz aus Knochenteilchen der Männer, die für die Sache der Kirche gestorben sind, denn sie bekämpften die Ungläubigen, durchnäßt ist sie ganz vom Blut der Märtyrer.“69 Dieser Papst hat, ohne es zu wissen, die Worte eines berühmten Liedes, des berühmtesten ältesten Gesanges der slavischen Völker wiederholt. Dieser Papst vollbrachte aber auch Sachen, die heutzutage sonderbar erscheinen würden. Am Tage der Schlacht bei Lepanto70, der letzten großen Schlacht der Kreuzfahrer, rief er seine Prälaten und seine Bettler zu sich und verkündete ihnen einen Sieg, den er, der Papst, in diesem Augenblicke davongetragen wisse.71 Gewiß hätte er nicht gesagt, wie der gegenwärtige Papst: „Ich wußte die Verfolgungen der Kirche nicht, ich erfahre sie so eben aus den Zeitungen.“ Diese Phrase, in welcher von den Zeitungen gesprochen wird, findet in dem Breve: „Je viens d’apprendre par les journaux“ – „ich erfahre so eben aus den Zeitungen“, sagt der Papst. Nun weiß aber doch jedermann, daß die Kirche nur dazu besteht, um uns zu belehren, wie man die Neuigkeiten auf einem anderen Weg als den der Zeitungen erfahren soll, nur dazu, um uns diese Weisheit der Kinder Gottes zu lehren, durch welche man in die Gemeinschaft der Heiligen tritt und durch welche man weiß, was die anderen Menschen nicht wissen; durch dieses Ahnen ist es auch, daß man zur Macht gelangt, par cette préscience on 69

Das Zitat ist historisch nicht belegbar; nach J. Maślanka (A. Mickiewicz: Dzieła. Tom XI: Literatura słowiańska. Kurs czwarty. Warszawa 1998, S. 221) gehört diese Äußerung eher in den Bereich der Legende, an die sich Mickiewicz aus K. Brodzińskis „O narodowości Polaków“ (op. cit., S.  83) anlehnt: „Kiedy oddawszy sztandary pogańskie papieżowi, Pawłowi V, w prostocie o relikwie go prosili, rzekł im: ‚Czyż każda garść ziemi waszej nie jest relikwią męczeńską?‘“ (Als sie die heidnischen Fahnen Papst Paul V. übergaben, baten sie ihn einfach um Reliquien, worauf er sagte „Ist nicht jede Hand voll eurer Erde eine Märtyrer-Reliquie?“); der Papst war allerdings nicht Paul V., sondern Pius V., der sein Amt von 1566–1572 ausübte. 70 In der Seeschlacht von Lepanto (7. Oktober 1571), die der Papst Pius V. organisierte, besiegten die christlichen Mittelmeermächte die Osmanen. 71 Über Pius V. vgl. Leopold von Ranke: Fürsten und Völker von Süd-Europa im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert: Vornehmlich aus ungedruckten Gesandtschafts-Berichten. [Abt. 1]: Die römischen Päpste, ihre Kirche und ihr Staat im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert. Erster Band. Berlin 1834, S. 376: „Und so kam es zu dem glücklichsten Schlachttag bei Lepanto – den die Christen je gehalten. So sehr lebte der Papst in diesem Unternehmen, daß er an dem Tage der Schlacht in einer Art von Entzückung den Sieg zu sehen meinte.“

1364

Teil IV

acquiert la puissance.72 So nur kann man Bacons Ausspruch begreifen, daß das Wissen zugleich auch die Macht sei, que la science est que en méme temps la puissance. Nämlich das Vorherwissen (le préscience), das religiöse Wissen ist es, das zugleich auch die Macht (la puissance) ist. Ihr könnt also nicht begreifen die Verehrung der großen Männer Polens und die Verehrung dieses universellen Mannes, der euch helfen würde die großen Geister der katholischen Kirche zu begreifen; ihr erlaubt es aber, Männer der amtlichen Kirche, einen Kultus dem Zar Nikolaus I. darzubringen! Wie soll man sich das erklären? Es ist allgemein bekannt, daß der Zar Nikolaus einen Katechismus unter dem Titel „Katechizm o czci cesarza Wszech Rossyi […]“73 (Katechismus zu Ehren des Kaisers von ganz Rußland) hat veröffentlichen lassen. Dieser Katechismus ist von den Bischöfen74 gutgeheißen worden, und der Heilige Stuhl hat bis auf den heutigen Tag nicht protestiert. Er wurde vor einigen Jahren in der Zeitschrift „Revue des Deux Mondes“ mit den Bemerkungen von Lamennais wiedergedruckt.75 Hieraus sieht man, daß es erlaubt ist, einen Kultus dem Kaiser von Rußland darzubringen, daß es aber verbrecherisch ist, den Kaiser Napoleon zu verehren. Jetzt solltet ihr selbst im Stande sein zu begreifen, warum diese Verehrung in Polen entstehen mußte. Weil man daselbst kraft der Knutenhiebe den neuen Kultus einführt und so auch den Menschen jenen Erzengel wieder ins Gedächtnis ruft, der allein nur vermag den Drachen niederzutreten. In Polen mußte daher diese Verehrung Napoleons entstehen; und der nationale Geist, vergegenwärtigt in diesem Lande von den Männern der Tat, ruft immer kräftiger die sich in Frankreich bewegenden Lebensfragen ans Licht und bringt zugleich Frankreich unverhoffte Lösungen derselben. 72

73

74 75

Francis Bacon (1561–1626) – Novum Organum (1620); vgl. F. Bacon: Neues Organon (lateinisch/deutsch), Teilband 1. Hrsg. Wolfgang Krohn. Hamburg 1990, 1. Buch, 3, S. 81: „Scientia et potentia humana in idem coincidunt, quia ignoratio causae destituit effectum. Natura enim non nisi parendo vincitur: et quod in contemplatione instar causae est, id in operatione instar regulae est.“ (Wissen und Können fällt bei dem Menschen in Eins, weil die Unkenntniss der Ursache die Wirkung verfehlen lässt. Die Natur wird nur durch Gehorsam besiegt; was bei der Betrachtung als Ursache gilt, das gilt bei der Ausführung als Regel.) Katechizm o czci cesarza Wszech Rossyi, czyli Objaśnienie czwartego przykazania boskiego w stosunku do zwierzchności krajowéj za najwyższym rozkazem dla użycia po szkołach i kościołach rzymsko-katolickich wiejskich wydrukowany. Wilno 1832. [Biblioteka Narodowa. Signatur: I 479.189]; 12 Seiten. Wiederabdruck in „Pielgrzym Polski“ vom 12. April 1833 und in „Pamiętnik Emigracji Polskiej“ in der Ausgabe vom 24. April 1833; konnte nicht eingesehen werden. Darunter vom Bischof Andrzej (Jędrzej) Kłągiewicz (1767–1841). Angabe nicht richtig, kein Wiederabdruck; in der Zeitschrift „Revue des Deux Mondes“ (1834, Bd. 3) geht Lamennais nur flüchtig auf den „Katechismus“ ein.

5. Vorlesung (23. Januar 1844)

1365

Ohne uns also über die Flüche und Anatheme zu entsetzen, mit welchen die Routine der Vergangenheitsmänner und die Blindheit derjenigen uns verfolgen wird, die, der Kirche zu dienen vermeinend, die ärgsten Feinde des Christentums sind, werden wir aus der Rücksicht, daß der Tod des Lebens Feind ist, unsere Aufgabe verfolgen. Die Reliquien hören nicht auf zu wirken. Die großen Geister hören nicht auf, ungeachtet der Ausrufungen der amtlichen Kirche das Volk zu schützen, die wahrhafte kämpfende Kirche hört nicht auf, den Sieg zu hoffen; und dieses euch zu beweisen ist gerade die lebende Generation berufen.

6. Vorlesung (30. Januar 1844) Die Wichtigkeit der slavischen Überlieferung im Hinblick auf Geschichte und Kunsttheorie – Die Schwierigkeit, den Fremden die religiöse und philosophische Sprache der Slaven begreiflich zu machen – Vom Geist und von dem Reich der Geister – Typen der Kunst. Die gegenwärtige Epoche verlangt neue Muster – Napoleon ist das Erzmuster der neuen Kunst.

Meine Herren! Die Einheit, welcher zuzustreben die verschiedenen europäischen Rassen nicht aufhören, die Einheit, welche man vorfühlt und von allen Seiten her ansagt, wird wahrscheinlich nicht in der Bildung eines materiellen Agglomerats, einer Art Amalgams oder chemischer Zusammensetzung, in welcher alle die moralischen Merkmale, alle die grundsätzlichen Prinzipien der Völker untergehen würden, bestehen. Dessenungeachtet träumen die Despoten und die Philosophen eine ähnliche Einheit; das Gefühl der Völker stößt sie zurück: es wäre dieses nicht die Einheit, deren ideales Muster uns das Christentum gegeben. Das Christentum befaßte sich zuvörderst mit den moralischen Bedürfnissen der Völker; es sprach später ihre Intelligenzen an, ihnen alle die Überlieferungen ihrer religiösen und geschichtlichen Vergangenheit aufhellend. So half es ihnen die Wahrheit der Zukunft zu fühlen und zu begreifen, diese wurde am Ende universelles Sinnbild. Europa nahm sie an und arbeitete an ihrer Realisierung, häufig ohne es selbst zu wissen. Aber in der Realisierung der christlichen Wahrheit hat jedes Volk je nach seinen Kräften und je nach der Stufe seiner moralischen Entwicklung gehandelt. Die gegenwärtige Epoche wird die Summe dieser teilweisen Arbeiten darstellen. Man wird erkennen, was jedes Volk für das Wohl der Menschheit zuwege gebracht hat. Einsichtlich wird werden, daß die religiösen, daß die politischen und artistischen Meinungen aller Völker integrierende Teile der Geschichte Europas bilden. Die Geschichte Frankreichs wird ihre Ergänzung in der Geschichte der Slaven, namentlich in derjenigen der Polen finden. Verwundern dürfte man sich nicht einmal darüber. Wie viele Mal erfahren wir nicht von einem Fremden unsere eigene Geschichte? Die Annalen der Vergangenheit liefern uns zahlreiche Beweise für diese Wahrheit. Die Griechen und die Römer erfuhren von dem Volke Israel76 den Teil, welchen sie an der allgemeinen geschichtlichen Bewegung genommen hatten. Bis zu der Einführung des Christentums besassen die Griechen 76

Vgl. Josephus Flavius: Der Jüdische Krieg und Kleinere Schriften. Übersetzt und mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Dr. Heinrich Clementz. Mit Paragraphenzählung nach Flavii Josephi Opera recognovit Benedictus Niese (Editio minor). Wiesbaden 2005.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_106

6. Vorlesung (30. Januar 1844)

1367

und die Römer nur Nationalgeschichten; das Christentum gab den Gedanken zur allgemeinen Geschichte; der christliche Geist unserer Epoche wird nun diesen Gedanken zu einer zweiten Macht erheben. Die Völker haben in der Realisierung des Christentums verschiedene Wege verfolgt, die Früchte ihrer Mühen, deren Einheit man fühlt, bieten daher auch der Vernunft Merkmale der Verschiedenheit und selbst des Widerspruchs. Hierauf machten wir schon aufmerksam, als wir die religiöse Frage besprachen; alle die großen Staaten Europas nehmen das christliche Dogma an, wie sehr man aber in den Formen des kirchlichen Kultus und selbst in dem, was man die innere Verehrung nennen könnte, abweicht, haben wir schon gesehen. Diese oder jene moralische Erscheinung, dieses oder jenes religiöse Buch erbaut ein rechtgläubiges Volk und verursacht den anderen ebenfalls rechtgläubigen Völkern Ärgernis. Die Unordnung wächst mit der Verschiedenheit der Sprachen. Das Latein, das seit Jahrhunderten den Theologen und Philosophen eine Art Nationalsprache gewesen, ist nun nichts mehr als eine Mundart, bestimmt für den Gebrauch der Kanzlei zu Rom. Jedes Volk hat sich seine eigene religiöse und philosophische Sprache geschaffen. Und es gibt eine ungeheure Schwierigkeit, in ein fremdes Idiom die Ausdrucksweisen irgendwelcher Sprache übergehen zu machen, ohne dieselben zu entstellen. Vergangenes Jahr77 legten wir ihnen die verschiedenen Arten aus, wie die Slaven, die Franzosen und die Deutschen das Wort der Geist (l’Esprit, Duch) verstehen. Hieraus wurde einsichtig, daß eine philosophische Formel, von der Vernunft dieser drei Völker für wahr anerkannt und angenommen, dennoch in ihren Seelen ganz verschiedene und schnurstracks zuwiderlaufende Ideen hervorbringen kann. Wir haben heute eine dieser Ausdrucksarten zu erklären, die, wenngleich sie sehr gewöhnlich bei den Slaven, dennoch sehr schwer den Fremden begreiflich zu machen sind. Unser Gegenstand führt uns darauf. Die erste Zeile des „Gastmahls“ („Biesiada“) spricht vom „ersten Schritt [der Heiligen Sache] in die äußere Sphäre, die bisher gänzlich im Reich der Geister war.“78 Unmöglich kann man nur eine einzige Schöpfung der modernen slavischen Literatur lesen, ohne zuvor zu begreifen, was bei uns unter den Worten: das Reich der Geister, das Tun der Geister, das Werk der Geister verstanden wird. In den in Frankreich veröffentlichten religiösen Werken suchten wir umsonst nach Erklärungen, die uns behilflich sein könnten, die Sache dem französischen Publikum verständlich zu machen. Wir fanden daselbst nur 77 78

Vgl. 17. Vorlesung (Teil III). A. Towiański: Biesiada, op. cit., S. 53: „[…] w kroku pierwszym wyjścia w krainę zewnętrzną, będącą dotąd w całości w krainie Duchów.“

1368

Teil IV

logische Formeln, das heißt etwas, dem lebenden Geist am entferntesten Stehende, weil hier vom lebenden Geist die Rede ist; und wir erinnern sie, daß die Slaven den Geist mit der Vernunft nicht vermengen wie dieses fast alle Theologen und Philosophen der Schule tun. Wir werden daher, um den Sinn dieser slavischen Ausdrucksweisen hoher Spiritualität: Reich der Geister, Wirken der Geister festzustellen, Ausdrucksweisen, die zu gleicher Zeit populär und tiefsinnig sind, unsere Zuflucht zu der Theorie der Kunst nehmen. Inmitten der Zersetzung aller der den Geist betreffenden Dinge bewahrt die Kunst nur noch allein ein gewisses Merkmal von Geistigkeit (Spiritualität). Sie besitzt ihren Zauber und ihre Geheimnisse, welche zu erklären der Vernunft nicht gelungen ist. Für gewisse Menschen ist die Kunst noch ein Kultus, der einzige Kultus, den sie auszuüben wagen! Die großen Künstler, diejenigen selbst, die den Materialismus anbeten, bewahren in ihrem Innern das Gefühl oder das Andenken der grundsätzlichen Wahrheiten des Glaubens. Sie glauben an das individuelle Bestehen der Seele, an deren Unsterblichkeit und ununterbrochene Tätigkeit. Erlaubt ist es den Philosophen und Ideologen, an diesen Wahrheiten zu zweifeln; die Künstler sind gehalten daran zu glauben. In ihren Statuen und in ihren Gemälden stellen sie uns nicht die Form irgendwelcher unbekannter, universeller und panthischer Seele dar, sondern sie bemühen sich, uns die individuellen Geister, die Geister der Individuen, in ihrer konkreten Form, sehen zu lassen. Die Geister, wo weilen sie? Wo ist das Reich, das sie bewohnen, bevor sie in die Werkstatt des Künstlers niedersteigen? Und warum läßt sie der Künstler dort herabsteigen? Die Antwort auf diese Fragen würde uns von der Pflicht freisprechen, die erste Zeile des „Gastmahls“ weitläuftig zu kommentieren, diese Antwort bleibt uns jedoch die Kunsttheorie bis jetzt noch schuldig. Man kennt hinreichend die verschiedenen Systeme der Theoretiker, welche es versucht haben, den Zweck und die Motive der Kunst zu erklären. Hier ist nicht der Ort, diese Systeme auseinanderzusetzen. Erinnern wir uns nur, daß man ihre Unzulänglichkeit erkannt hat. Allgemeine Stimme ist es nun, daß die Kunst keineswegs nur eine Nachahmung79 sei, wie gewisse Theoretiker dieses geglaubt und gelehrt haben; um die äußere Form der Individuen nachzumachen, würde es hinreichen, sie in Wachs zu formen und ihnen ihre 79

Zur Theorie der Nachahmung (Mimesis, Imitatio) vgl. Władysław Tatarkiewicz: Geschichte der sechs Begriffe: Kunst, Schönheit, Form, Kreativität, Mimesis, ästhetisches Erlebnis. Aus dem Polnischen von Friedrich Giese. Frankfurt am Main 2003; ferner – Anna Martuszewska: „Mimesis“. In: Słownik literatury polskiej XIX wieku. Red. Józef Bachórz und Alina Kowalczykowa. Wrocław-Warszawa-Kraków 1995, S. 551–552.

6. Vorlesung (30. Januar 1844)

1369

gewöhnlichen Kleider anzuziehen. Die Kunst ist nicht ein Andenken an die Wirklichkeit: sie schafft Gegenstände, an welche sich kein Mensch erinnert, sie gesehen zu haben. Endlich ist die Kunst auch nicht die Gewandtheit, einen generischen Typus zusammenzusetzen, die verschiedenen Teile desselben, entliehen den Gattungen und Individuen, vereinend: dieses wäre nur eine Arbeit materialistischen Flickwerkes oder intellektueller Abstraktion, und ein Meisterwerk ist gerade das am meisten Konkrete, was es nur auf Erden geben kann. Wo nun den Typus, das Ideal eines Meisterwerks finden? Dieses Ideal existiert nur in dem Reich der Geister. Einige Philosophen des Altertums, Pythagoras, Plato, haben dieses gewusst, alle großen Meister haben es gefühlt, die modernen Theoretiker fangen an, es zu bemerken. Die Kunst hat dieses Ideal in eine sichtbare Form einzuhüllen; sie muß uns den Geist des Individuums zu fühlen und zu sehen geben, indem sie ihn von der ihn verdunkelnden irdischen Hülle freimacht und ihm eine Form gibt, die nichts anderes, als nur der innerste Ausdruck seines Wesens ist, eine Form, die dieser Geist während seines Daseins auf Erden hätte haben können und haben müssen. Um dermaßen einen Geist in seiner natürlichen Form zu zeigen, muß man ihn gesehen haben! Jawohl, man muß ihn gesehen haben! Die Kunst ist folglich nur eine Art der Geisteraufrufung: die Kunst ist eine geheimnisvolle und heilige Tätigkeit. Saint-Martin, der, so wenig bekannt in Frankreich, aus so vielen Gründen den slavischen Ländern angehört, hat zuerst ausgesagt: die Kunst ist nichts anderes denn eine Vision, die Künstler sind Männer, die, häufig ohne ihr Wissen, versehen sind mit der Gabe, Visionen zu erkennen.80 O ganz gewiß! Und setzten wir diese Gabe bei ihnen nicht voraus, wie könnten wir glauben, daß die Gesichter der Helden und der Heiligen, die sie uns in ihren Werkstätten sehen lassen, auch wirklich den Geistern der großen Individuen, seit Jahrhunderten von der Erde verschwunden, angehören? Welches Mittel besäße der Künstler, um sich selbst in seinem Innern zu überzeugen: daß das irdische Abbild dem unsichtbaren Originale ähnelt? Die Kunst ist und kann nichts andres sein, als die Darstellung einer Vision. Das Talent des Künstlers, was wäre es aber? Dasjenige, was wir Talent, was wir Himmelsgabe nennen; das, was die Künstler in sich fühlen und was sie sich nicht hinlänglich zu erklären bemühen, ist nichts andres, denn das Band, das den Geist des Künstlers an die unsichtbare Welt fesselt; es ist das Vorrecht, mit der unsichtbaren Welt in Berührung zu bleiben. Der polnische Dichter Malczewski sagt: 80

Zitat nicht ermittelt. Vgl. dazu Wiktor Weintraub: Poeta i prorok, op. cit., S. 351.

1370

Teil IV I drży nić, którą serce do nieba związane: To kropla słodkiej rosy spadła po niej w ranę.81 Und es zittert der Faden, der das Herz mit dem Himmel verbindet; Da fiel am Faden ein Tropfen süßen Taus in die Wunde.

Wie schwach auch der Faden sein mag, vermöge dessen die moderne Kunst noch am Himmel hängt, so besteht er dennoch: weder der Analyse, noch der Diskussion ist es gelungen, ihn ganz zu zerreißen. Die von uns so eben entwickelten Ideen haben wir in der volkstümlichen slavischen Überlieferung, die mit der universellen im Einklang steht, geschöpft, und diese Ideen haben das meiste für die Schöpfung unserer großen literarischen Erzeugnisse beigetragen. Die Kunst existiert bei den Slaven nicht in der plastischen Form, sondern die von unseren volkstümlichen und religiösen Dichtern geschaffenen Typen haben als Übungsmuster den Bildhauern und den Malern dienen müssen. Wir glauben, daß, befragte man die Überlieferung und die Poesie der Slaven, so würde man gewisse Fragen der hohen Kritik bald lösen können. Zum Beispiel: besser, als es bis dahin geschehen ist, könnte man die Scheidelinie ziehen, welche die Skulptur von der Malerei trennt, man könnte jeder dieser Künste ihr wahres Ideal zeigen, ihren Zweck und Wirkungskreis bestimmen. Betrachten wir von diesem Gesichtspunkt aus zuvörderst die Skulptur. Wir sagten schon, die Kunst stelle die Geister der Individuen vor. Die Skulptur ist von allen Künsten diejenige, welche den Geistern die am meisten konkrete Form gibt, und sie wendet dazu alle Arten Stoff an; von der Tonerde angefangen bis zum Granit, von der Bronze bis zum Gold. Und dessenungeachtet hängen dennoch weder die Form, noch der Stoff von der Willkür des Künstlers ab. Der Marmor oder die Bronze, das Nackte oder die Draperie, eng und weit, alles dieses muß dem innersten Wesen des Geistes, den man darstellen will, entsprechen. Der Instinkt der Künstler errät häufig die Gesetze der geistigen Welt und ihre Beziehungen zu der Materie; Pflicht der Religion wäre es, sie zu wissen und klar darzulegen. Und in der Tat läßt auch die religiöse und poetische Überlieferung Geisterhierarchien zu und sie bekleidet die Individuen einer jeden Hierarchie mit verschiedenen Formen und Attributen, je nach dem Grade, den sie inne haben. Sehen wir die Beispiele. Die niedrigen Geister, welche, nachdem sie den Körper verlassen, dennoch tierische Gefühle bewahrt haben, erscheinen, unserer Überlieferung zufolge, unter verzerrten und phantastischen Formen; die Geister der Menschen, die noch dulden, da sie nicht gänzlich von der Erde sich losmachen können, tragen Formen und 81

Antoni Malczewski: „Maria“. Opracował i wstępem poprzedził Wacław Kubacki. Warszawa 1956, S. 120 (Pieśń I, 233–234).

6. Vorlesung (30. Januar 1844)

1371

Attribute, welche sie während ihres irdischen Lebens charakterisierten. Ihre Leiden decken sie mit einem dunklen oder schwärzlichen Aussehen. Da hingegen die Helden und die Glückseligen, welche nur fromme Menschen besuchen, immer glänzend weiß und rein erscheinen: sie sind jedesmal einsam. Fügen wir noch hinzu, daß alle diese Erscheinungen nur in der Nacht statthaben können: die Mondshelle ist das einzige Licht, das sie beleuchtet. Wohl wissen wir, daß die Gelehrten sich erlauben diese volkstümliche Geistertheorie als Fantasmagorie zu behandeln. Möchten sie jedoch nur eine Tatsache erwägen. Diese Tatsache ist, daß alle die großen Meisterwerke der alten und neueren Bildhauerkunst ganz genau den Erfordernissen dieser Theorie entsprechen und daß sie sich auf diese Art im vollkommenen Einklang mit dem, was das Volk allgemein glaubt, finden. Pausanias sagt, für die Bildsäulen der Götter und der Helden hätte man vorzugsweise den weißen Marmor und das Elfenbein angewandt, und sie an den dunkeln Orten der Tempel oder der heiligen Haine aufgestellt.82 Die berühmtesten Meisterwerke der griechischen Kunst sind monoform (einförmig); alle tragen sie den Charakter der Majestät und der Heiligkeit an sich. So ist auch die Bildsäule von Michelangelo, Moses darstellend, wahres Muster der prophetischen Erhabenheit und Macht, mit einem Wort, das größte Meisterwerk christlicher Bildhauerkunst, Wir erinnern uns, in einem französischen Blatt Betrachtungen über die Anwendung des Marmors und der Bronze in der Skulptur vor einigen Tagen gelesen zu haben. Der Verfasser deutet die nämlichen Ideen an, nur tut er dieses in furchtsamer und zweifelnder Weise. Noch wollen wir zu bemerken geben, daß die Draperien der berühmten Statuen, sowohl der alten wie der neuern, sich alle, so zu sagen, wieder ähneln, und daß sie nach einem gleichförmigen Systeme angeordnet zu sein scheinen. Die Bildhauer ziehen jedesmal die einfachen Draperien vor, sie vermeiden das Manierliche, das Weite und das Detaillierte. Diesen Abscheu der Skulptur vor dem Pittoresken haben uns die Theoretiker nicht hinlänglich erklärt. Und doch ist die Ursache davon sehr einfach: weil sich nämlich das Pittoreske nur bei Sonnenlicht gut ausnehmen kann, die Bildsäule aber, in der Einfachheit ihrer Anordnung, die Mondshelle voraussetzt. Daher besucht man auch die vatikanische Bildsäulengallerie zu Rom nur bei Fackelbeleuchtung. Was nun aber am meisten auffällt, ist, daß alle die Helden und die Heiligen so zu sagen, ein und dasselbe Kostüm tragen, als bewohnten sie alle ein Land. 82

Pausanias (um 115 n. Chr. – 180 n. Chr.), vgl. sein Werk: Ελλάδος περιήγησις; deutsche Übersetzung – Pausanias: Beschreibung Griechenlands. Neu übersetzt und mit einer Einleitung und erklärenden Anmerkungen versehen von Ernst Meyer. Zürich 1954. Stelle nicht gefunden.

1372

Teil IV

Sehr vieles hat man über dieses Kostüm, über diese Draperie geschrieben, welche man in den Schulen das griechische oder römische Kostüm zu nennen fortfährt. Tatsache ist nur, daß es weder griechisch noch römisch ist. Dasselbe ist überliefert, man fühlt dieses; man ist es einer ersten Offenbarung schuldig. Zu sehen ist es auf einigen Kunstdenkmälern der Inder und der Ägypter. Beschrieben ist es in der Bibel. Erinnere man sich nur an die Frau von Endor83, die den Geist des Propheten heraufbeschwört, sie fährt erschrocken zurück, weil sie die Götter aus der Erde treten und Samuel einen langen weißen Mantel tragen sieht. Pausanias84 versichert, daß die allerältesten Bildsäulen der Götter und Göttinnen nie nackt, sonfern immer mit einer Art Toga oder Tunika bekleidet waren. Das Nackte ist erst eine Erscheinung späterer Zeiten, als die Künstler darauf fielen, ihre Muster auf Erden, in den gymnastischen Spielen und Gynaeceen85 aufzusuchen. Dieses Kostüm ist in einem deutschen Werke, von der berühmten Seherin von Prevorst86 weitläuftig beschrieben, als unabänderliches Attribut einer gewissen Hierarchie der Geister. Wir finden seine Beschreibung endlich in der Überlieferung und in allen religiösen Poesien der Slaven. Welches auch die Meinungen der Gelehrten darüber sein mögen, so sind sie zum wenigsten genötigt einzugestehen, daß die Form, unter welcher sich unseren Blicken oder unserer Einbildung ein Geist offenbart, keineswegs willkürlich ist, da sie doch überall eine und dieselbe bleibt. Setzen wir die Prüfung des Glaubens der Völker in ihrer Beziehung zur Kunst fort. Von der Skulptur, die ihre Basis auf Erden hat, erheben wir uns in die höheren Regionen. Die Geister, welche nichts Irdisches mehr an sich haben, erscheinen in den Lüften; dem Licht näher, sind sie gekleidet in die Formen hinreißender Schönheit und glänzender Farben: es ist dieses so recht eigentlich das Land der Vision, die unversiegbare Quelle der Malerei. Man begreift nun, warum die echte Malerkunst nur erst mit dem Christentum beginnen konnte. Nur den Christen war es gegeben, himmlische Gesichter zu sehen. Sie zuerst erzählten von denselben. Die erhabenste, die umfassendste von allen Visionen findet sich enthalten auf den letzten Seiten der heiligen Bücher, in der Apokalypse, und das letzte große Gemälde der christlichen Kunst, dasjenige von Michelangelo [Das Jüngste Gericht], stellt die Apokalypse vor. Die Künstler blieben lange Zeit, häufig ohne es zu wissen, dem Volksgefühl, das nur die 83 84 85 86

Altes Testament. 1. Buch Samuel, 28, 7–14. Pausanias, op. cit., I. Buch, 18. Kapitel. Stelle nicht gefunden. Griechisch – Gynaikeion (γυναικεῖον): Frauentrakt im Wohnhaus der Griechen. Friederike Hauffe (1801–1829); vgl. dazu Justinus Kerner: Die Seherin von Prevorst: Enthüllungen über das innere Leben des Menschen und das Hereinragen einer Geisterwelt in die unserige. Kiel 2012 (Erstausgabe in zwei Bänden: Stuttgart-Tübingen 1829); sie besuchten u.a. Franz von Baader, Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling, Friedrich Schleiermacher.

6. Vorlesung (30. Januar 1844)

1373

Wahrheit ist, treu. Die schönsten Gemälde sind diejenigen, deren Handlung in den Lüften stattfindet: so die Sixtinische Madonna zu Dresden, Madonna di Foligno von Raffael, Mariä Himmelfahrt von Tizian, die Extase des heiligen Paulus von N. Poussin, die Verklärung des Herrn (Transfiguration) von Raffael usw. Das Schwächerwerden des christlichen Geistes, die Kraft lähmend, welche die Seelen dem Himmel entgegentrug, hielt auch den Schwung des Künstlergenies auf. Nachdem sie den Zutritt zu diesem unsichtbaren Museum, wo die wahren Muster weilen, verloren, endete man damit selbst deren Dasein zu leugnen. Die Künstler durchstöberten kreuz und quer umsonst die Erde, nach Mustern suchend, die würdig wären, verewigt zu werden. Um diesen Mangel an Inspiration vollends zu verdecken, schuf man sich Theorien und Systeme, ganz seltsam die Regionen, die Typen und die Attribute durcheinander mischend. In einem solchen Zustand der Dinge ist es ein Glück, daß zum wenigsten ein Volk besteht, welches nicht nur das Dasein des Landes der wahren Kunst weiß, sondern auch den Weg kennt, der zu demselben führet. Begreifen wird man nun, warum die Slaven bis daher in der plastischen Kunst sich nicht versucht haben. Sie scheinen selbst nicht berufen zu sein, an dieselbe irgend Hand anzulegen. Was dürfte sie wohl antreiben, den Kopien nachzulaufen, da sie doch das vollkommene Organ besitzen, welches sie fähig macht, die Originale zu sehen? Diese Andenken an die unsichtbare Welt, die man in Marmor haut, in Bronze gießt, die man auf die Leinwand bringt, um sie vor dem Vergessen zu bewahren, erhält das slavische Volk alle lebend in seinem Inneren. Für dasselbe sind dies keine Rückerinnerungen, sondern es ist die Wirklichkeit, das in der Gegenwart Vorgehende. Das Volk verbringt sein Leben im Erzählen, im Besingen der Begebenheiten, die unter der Erde, in den Lüften, die im Himmel vorgehen. Nur weil man die Wunder dieses lebendigen Glaubens der Slaven nicht begriffen hat, so glauben gewisse neuere Aufklärer diesen Ländern große Dienste zu erweisen, dorthin einige Bildsäulen und einige Gemälde schaffend. Griechische und römische Bildsäulen inmitten eines Volkes, das mit seiner Einbildung die Regionen umfaßt, die der heilige Johannes beschrieben und Michelangelo ausgemalt hat. Die Kunst wendet tausenderlei Mittel an, um in den Seelen der Abendländer das Gefühl, den Instinkt des Wunderbaren zu wecken. Bei uns reicht die Natur dafür aus. Diese jungfräuliche, majestätische und wild-ernste Natur, die jeden Tag neue Reize und neue Schrecknisse entfaltet, hat einen doppelten Charakter der Heiligkeit und des erhabenen Schreckens. Wir haben ihnen die Beschreibung des Nordlichts und der Stürme87 Polens vorgelesen, das ein

87

Vgl. die 24. Vorlesung (Teil II) – über das Tagebuch von General J. Kopeć.

1374

Teil IV

französischer Reisender, Herr Hubert Vautrin, das Vaterland der Winde nannte.88 Wir wünschten im Stande zu sein, in poetischen Strophen ihnen den Eindruck der Nordwinde wiedergeben zu können, dieser grausigen Winde, die, von den Höhen Mittelasiens herabstürmend, unsere Wälder erschüttern und dieselben häufig umwerfen und zu Grunde richten. Das Volk vernimmt in diesen Winden das Wiehern unsichtbarer Rosse, bestiegen von den Geistern der Mongolen und Lithauer, der alten Landeseroberer. Die Stimme einer solchen Natur erschüttert die kräftigsten Organisationen und, der Trompete des Erzengels gleich, ruft sie die längst verstorbenen Geister ins Leben zurück. Jeder echte slavische Landmann ist Spiritualist (ein geistiger Mensch). Den Charakter der französischen Nation hieße es jedoch sehr mißkennen, wollte man ihre Künstler zwingen, mit dem Leben der slavischen Landleute zu leben, keine anderen Muster zu haben, als in der religiösen Vision. Sie haben eine andre Sendung zu erfüllen, und das Ideal ist ihnen viel näher, als sie es glauben. Das Christentum, weil es bis jetzt nur die Familien und die Körperschaften geheiligt, so hat sich auch die Kunst nur bemüht, die Tugenden des Privatlebens und die Heldentaten des religiösen Aposteltums zu bekränzen; die Kunst war klösterlich und häuslich. Nachdem sie alle Formen des Familienlebens, alle Ansichten des klösterlichen Lebens erschöpft hatte, war sie gezwungen stillzuhalten; sie hatte keine Muster mehr; ihre Laufbahn war, so zu sagen, geendet. Die Geister der heiligen büßenden Nonnen, die Gespenster der grausamen Barone haben aufgehört, die Zellen zu besuchen; sie weilen nicht mehr in den Türmen und Burgverließen der Schlösser. Es schließen sich die Klöster, immer mehr verschwinden von der Erdoberfläche die gotischen Türme der Schlösser. Das Christentum ermuntert die Menschheit, eine neue Stufe der Heiligkeit zu ersteigen. Das Christentum bestrebt sich gegenwärtig die politischen Staaten, die Völker, zu heiligen. Es ruft die Völker auf, neue Heilige, Volksheilige zu zeugen. Ein solcher Heiliger muß uns nicht nur erbauen, indem er uns in seiner Person an alle die Tugenden des ursprünglichen Christentums erinnert, sondern er hat auch die Aufgabe, uns zu stärken, indem er uns in seiner Individualität das Ideal der Kraft und des vernünftigen Tuns, das die gegenwärtige Epoche auszeichnet, darstellt. Die alten Heiligen der christlichen Kirche ähneln in dieser Beziehung den Halbgöttern und den Helden der Mythologie, dem Herkules, Perseus, Jason; sie hatten keine Nationalität: sie waren weder Jonier noch Dorier. Man wußte nicht einmal tatsächlich ihren 88

Hubert Vautrin (1742–1822), war von 1777–1781 in Polen als Hauslehrer in der Fürstenfamilie Branicki tätig; vgl. sein Werk: H.  Vautrin: L’Observateur en Pologne. Paris 1807, 1. Kapitel: Du climat, de la nature du sol et de ses productions, S. 21–22, 25, 27.

6. Vorlesung (30. Januar 1844)

1375

Ursprung. Nach dieser Ära der Halbgötter kam die Epoche der Volkshelden. Rom stellt diese Epoche dar. Zu Rom war es, wo sich das religiöse und nationale Heldentum der Heiden vollkommen entwickelte. Es erscheint daselbst schon als Gebieter der Welt. Ebenso wird es, seien sie dessen sicher, mit dem christlichen Heldentum geschehen, weil es berufen ist, die Welt zu regieren. Um ihnen besser dieses neue religiöse Streben begreiflich zu machen, stützten wir uns auf die Geschichte des Heidentums. Gewiß ist es nicht unsere Schuld, wenn diese Geschichte allgemein besser als die der Kirche ausfällt. Und überdies sind auch die Gesetze des Fortschritts für alle Geister dieselben. Der christliche Geist ist aufgefordert seine Staatsmänner, seine Volkshelden zu erzeugen. An Frankreich ist es zuvörderst, daß dieser Ruf ergeht. Frankreich stellt in der Christenheit die Tat, die Realisation vor. Zu fühlen, zu begreifen und zu realisieren, diese drei sich auseinanderfolgenden Verrichtungen machen sich in einer französischen Seele in einem einzigen Augenblick, und sie brechen hervor, wie ein einziger innerer Lebensakt. Ein Nationalakt, in welchem die Seele von ganz Frankreich wie ein Mann hervorleuchten würde, wird eine neue Epoche beginnen, das Gebären der neuen Kunst verkünden. Erst nachdem man große Taten vollbracht haben wird, darf man auch erwarten, große Denkmäler entstehen zu sehen. Die Kunst erwartet neue Typen, sie wird sie haben, der Erztypus neuer christlicher Kunst besteht schon: Frankreich war es, das ihn gezeugt hat. Wir sagten, der christliche Geist finde seit längst schon auf Erden keine anderen Organe mehr, als die Seelen der Männer des Leidens und der Tat. Um dies zu beweisen, genügte es, die Arbeiten der neueren christlichen Denker in ihrem Gedächtnis wieder wach zu rufen. Wie aber beweisen, daß die berühmten Generale, deren Namen wir angeführt, und die Soldaten, die sie befehligt, wahrhaft von dem christlichen Geiste beseelt waren? Generale und Soldaten, sie lebten nur um zu wirken; sie gaben sich nicht die Mühe, die Theorie ihrer moralischen Gefühle auszuarbeiten; sie ließen der Nachwelt die Sorge, die Motive ihrer Taten zu erklären. Sie haben häufig als Feinde der amtlichen Kirche gewirkt, wenngleich ihr ganzes Leben nur aus dem Kampf bestand, das Evangelium zu begründen. Unbekannt ist uns, welches ihre Ideen über Jesus Christus waren; wir wissen aber, wie der größte unter allen diesen Männern das Christentum begriff. Unserer Meinung nach, gibt es keinen Kommentar des Evangeliums, der zu vergleichen wäre mit demjenigen, welchen wir auf einigen Seiten von Napoleon diktiert finden. Man kann sie in einem neuen Werke des Herrn Robert-Antoine Beauterne, zusammengesetzt nach den Noten des Generals Charles Tristian de

1376

Teil IV

Montholon, lesen.89 Napoleon hat die göttliche Natur Jesu Christi besser begriffen und erklärt, als dieses je ein Theologe tun wird; und zwar weil auch der Welterlöser kein Theologe war, weil er nur dafür lebte, um zu wirken. Napoleon war aber seit Jesus Christus derjenige unter den Christen, welcher am meisten gewirkt, am meisten gearbeitet, am meisten realisiert hat auf Erden. Jede Sekunde seines Lebens (sagt Maltitz)90 war eine Tat. – Wie macht er sich nun an die Prüfung der Natur Jesu Christi? – Er prüft sich selber; er hatte das Bewußtsein seiner Kraft und der Größe seiner Sendung; er hat die Dreistigkeit, sich im Geist Jesu Christo zu vergleichen. Sehen sie das Resultat dieses Nachdenkens: „Jesus Christus war nicht ein Mensch. Ich wußte es, wie hoch sich der Mensch erheben kann […]. Ich besitze die Gabe, die Menschen zu elektrisieren; je nachdem sie sich aber von mir entfernen, verlieren sie diese Kraft.“91 Er erkennt an, nicht die Gabe zu besitzen, in den Herzen der Menschen bleibende Herde der Kraft zu begründen. Der Heiland allein nur hat bis jetzt diese Gabe gehabt. Napoleon hellt uns hier die Worte des Evangeliums, gerichtet an die Samaritanerin, auf; der Heiland sagt, „wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, wird niemals Durst haben; vielmehr wird das Wasser, das ich ihm gebe, in ihm zur sprudelnden Quelle werden, deren Wasser ewiges Leben schenkt.“ (Joh. 4,14),

oder, um die Sprache der neuern Zeit zu reden, derjenige, welcher den Funken Gottes empfangen und ihn in seiner Seele aufbewahren wird, wird in seinem Innern dasjenige, was Napoleon den Herd der Elektrizität nannte, sich begründen fühlen. Napoleon trug in seinem Geist und realisierte in seiner Person die ganze Vergangenheit des Christentums. Gewaltig im Worte wie der heilige Peter oder 89 Robert-Antoine Beauterne: Conversations religieuses de Napoléon […] 1840; [Charles Tristan de Monthelon]: Mémoires pour servir à l’histoire de France, sous Napoléon écrits à Sainte- Hélène par les généraux qui ont partagé sa captivité et publiés sur les manuscrits entièrement corrigés de la main de Napoléon. écrits par le général comte de Montholon. Paris 1823–1825 (8 Bände); deutsche Ausgabe – Charles Tristan de Montholon: Geschichte der Gefangenschaft auf Sankt-Helena vom General Montholon dem Gefährten des Kaisers in seiner Verbannung und dessen Testamentsvollstrecker. 2 Bände. Leipzig 1846. 90 Gotthilf August Freiherr von Maltitz (1794–1837), schrieb Gedichte und Dramen; war polonophil eingestellt; vgl. sein Werk: „Polonia“. Gedicht. Paris 1831; 35 Seiten. Äußerung nicht ermittelt. 91 Mickiewicz paraphrasiert diese Äußerungen aus dem V. Kapitel („De la divinité de JésusChrist“) aus Robert Antoine Beauterne: Conversations religieuses de Napoleon. [Ausgabe] Paris 1841: „Je connois les hommes, et je vous dis que Jésus n’est pas un homme.“ (S. 37); die anderen Sätze konnten nicht ermittelt werden.

6. Vorlesung (30. Januar 1844)

1377

der heilige Paul, einfach und erhaben-ernst in seinem Leben, wie es die Vorgesetzten der ursprünglichen Kirche waren; majestätisch, wie ein Bischof des Mittelalters, fühlte er jedoch voraus, daß, um Oberhaupt der gegenwärtigen Menschheit zu sein, es nicht mehr genüge, die ganze Vergangenheit zu besitzen: daß die Menschheit eines Herdes bedurfte, welcher im Stande wäre, in den Seelen die Flammen der neuen Liebe und der neuen Kraft, der kämpfenden Liebe und der siegreichen Kraft, zu entzünden. Napoleon hat es in der letzten Zeit seines Lebens, während seines Märtyrertums auf Sankt-Helena begriffen. Die christliche Kirche erblühte nicht aus den Doktrinen der Theologen: sie entquoll den Wunden des Gottmenschen; sein Blut machte sie leben. Indem sich der Dichter Garczyński an den Priester wendet, ruft er aus: Czemuż krwi twojej krople na ludzi nie prysły, I mózgów im nie spalą wieczystym zarzewiem?92 Warum besprengen nicht die Tropfen deines Blutes die Menschen, Und verbrennen ihre Hirnschädel mit ewigem Feuer?

Möchten doch die Worte des leidenden Napoleon, wollen wir hinzufügen, in die Intelligenzen der Ideologen eindringen! In den Seelen der Christenheit keimen sie schon. Das irdische Leben Napoleons ist zu Ende. Als Führer einer politischen Partei, als Stifter einer Dynastie besteht er nicht mehr. Und dessenungeachtet wer wird es hier wagen, das Dasein und die ununterbrochene Tätigkeit seines Geistes zu leugnen. Die gottesfürchtigen Männer, die Krieger, die Staatsmänner ziehen ihn ohne Unterlaß zu Rache, seine Werke und seine Taten erwägend. Ein solches Nachdenken ist es nicht etwa ein wahrhaftes Gebet? Die begeisterten Künstler haben die Sendung, sich bis zu der Höhe, bis in die Region zu erheben, welche dieser große Geist innehat, ihn anzurufen und ihn uns sichtbar darzustellen. Napoleon ist der Erztypus der neuen Kunst.93

92

Stefan Garczyński: Wacława dzieje. In: Poezje Stefana Garczyńskiego. Tom I. Paryż 1833, S. 12. 93 Über den Napoleon-Kult vgl. Jacek Leszczyna: „Bóg jest z Napoleonem, Napoleon z nami“: mit Napoleona w literaturze polskiej XIX wieku. Katowice 2009.

7. Vorlesung (7. Februar 1844) Was ist das Wort? Die amtliche Kirche hat die Idee und die Tradition des Wortes verloren. Das Wort faßt den Geist und den Leib des Menschen in sich, es ist der ganze Mensch. Wie wird es erzeugt und wie wirkt es? – Von der Gabe der Sprachen. Diese Gabe ist der amtlichen Kirche entzogen worden; sie ist aber nicht von der Erde verschwunden. Von den Worten, die außerhalb der christlichen Kirche versucht wurden – Die Warnung, welche die Slaven den Philosophen des Westens über die Gefahren der friedfertigen Träumereien schuldig sind.

Meine Herren! Wie verschieden auch die Formen der geistigen Manifestation sein mögen, werden sie Bücher, Denkmäler oder Kunstwerke genannt, so sind es doch augenscheinlich nur die Mittel, deren sich die Geister bedienen, um die einen den anderen zu erscheinen; es sind dies nur die Zeichen, welche sie anwenden, um sich mitzuteilen und einander zu nähern: denn nie wenden sich die Bücher und die Bildsäulen an unsere Sinne, sondern jedes Mal reden sie unseren Geist an. Die Verfasser und die Künstler, indem sie sich vermöge der Poesie oder Kunst manifestieren, tun doch nichts mehr, als daß sie einem Bedürfnis gehorchen, demjenigen, unseren Geistern sich mitzuteilen. In der Natur besteht nichts vereinsamt. Es gibt gewisse Vorzüge und gewisse Kräfte, die der Geist weder erringen, noch in sich entwickeln kann, als nur indem er sich mitteilt, indem er sich mit Geistern von derselben Natur verbindet: alsdann erheben sie sich gegenseitig durch ihre gemeinsamen Anstrengungen. Die Gemeinschaft der Geister, dieses Dogma des Christentums, ist zu gleicher Zeit die erste Bedingung des ganzen Fortschritts. Die kollektiven Geister, das heißt, die politischen Staaten, gehorchen dem nämlichen Gesetz. Gibt es Völker, die sich gegenseitig mehr zu einander als zu den übrigen, durch eine geheimnisvolle Sympathie angezogen fühlen; empfinden sie das Bedürfnis, ihre Ideen und ihre Geistesschöpfungen unter sich auszutauschen, so ist dieses ein Beweis, daß sie gewisse Nationalpflichten nur gemeinsam werden vollziehen können. Von diesem Gesichtspunkt aus haben wir die Denkmäler der slavischen Literaturen in ihrem Vorrücken nach dem Westen zu beobachtet. Wir haben ihre philosophischen und religiösen Werke geprüft, dieselben als eine Art moralische Manifeste der neuen Generation betrachtend. Wir gaben ihnen später die Stimmung ihrer Poesie, jener kriegerischen Musik der geistigen Heerscharen, zu hören. Wir hoffen bald ihre Fahne zu gewahren und sie mit der ihrigen fraternisieren zu sehen. Die Geister, sagten wir, müssen sich nähern und in einander übergehen, um sich gegenseitig neue Kräfte und neue Tugenden mitzuteilen. Und da die Kirche, deren Amt es gewesen, die Geister zu erheben und

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_107

7. Vorlesung (7. Februar 1844)

1379

sie zu nähern, seit längst untätig verharrt und selbst häufig diesem Beruf, diesem vorsehungsartigen Streben sich widersetzt, so sind heutzutage die Völker berufen, diese neue Arbeit zu übernehmen. Der christliche Geist, nachdem er die besonderen Körperschaften und die vereinzelten Staaten gebildet hat, muß nun eine neue Anstrengung machen, um sie der Einheit entgegenzuführen. Die Schrift, betitelt das „Gastmahl“ („Biesiada“), berührt alle diese Fragen. Erklären mußten wir ihnen zuvor, warum wir über Gegenstände von so hoher Wichtigkeit das Urteil der Männer der amtlichen Kirche zurückweisen. Wir wollen noch hinzufügen, daß das Wissen und die Literatur der amtlichen Kirche in ihrer Sprache nicht einmal Worte besitzt, um die Ideen der gegenwärtigen Zeit auszudrücken. Erstaunenswert ist es gewiß, denn vorher waren es gerade die religiösen Schriftsteller und Kanzelredner, welche die Sprachen und namentlich die französische bereicherten (dasselbe gilt vom Polnischen); sie schufen oder führten fast alle Worte ein, sie stellten alle Ausdrucksweisen, deren man sich für die Bedürfnisse des moralischen Lebens bedient, fest; gegenwärtig fährt die Geistlichkeit fort, zu schriftstellern und zu predigen, aber sie schafft nichts mehr. Im Gegenteil, alles, was sich in der Sprache als Neuzeitiges vorfindet, alles, was die Bedürfnisse oder die neuen Instinkte, die neuen Gefühle oder Hoffnungen ausdrückt, ist erschaffen worden von den Laien. Alle die Sakramentalworte der Epoche wurden gefunden, wurden gebildet außerhalb des Bereichs der amtlichen Kirche: das Wort Fortschritt (progrès) verwendet zum erstenmal Louis Claude de Saint-Martin94 in dem Sinne, den wir ihm beilegen, und Condorcet95 hat es als Grundlage eines 94

95

Vgl. Louis-Claude de Saint-Martin: Œuvres posthumes, op. cit., S. 250, Nr. 73: „Quel progrès pouvons – nous faire? Que pouvons-nous espérer, tant que nous n’avons pas reçu le baptême de l’esprit? La nature entière languit tant qu’elle est privée de la vive chaleur de son soleil.“ […]; deutsche Übersetzung – „Welche Fortschritte können wir machen, und was können wir auch nur hoffen, solange wir die Taufe des Geistes nicht empfangen haben! Die ganze Natur schmachtet, solange sie der lebendigmachenden Kraft der Sonne entbehrt.“ Mickiewicz übersetzte die ganze Sentenz (vgl. A. Mickiewicz: Dzieła. Bd. XIII: Pisma różne, op. cit., S. 9). Marie Jean Antoine Nicolas Caritat de Condorcet (1743–1794) – französischer Philosoph, Mathematiker und Politiker; vgl. J.A.N.  de  Caritat de Condorcet: Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain. Paris 1795; dt. Übersetzung: Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes. Hrsg. Wilhelm Alf. Frankfurt am Main 1976. Concordet unterscheidet 10 Epochen des Fortschritts: 1. Epoche: Die Menschen vereinigen sich zu Stämmen; 2. Epoche: Die Hirtenvölker und der Übergang zur Stufe der Ackerbauvölker; 3. Epoche: Fortschritte der Ackerbauvölker bis zur Erfindung der alphabetischen Schrift; 4. Epoche: Fortschritte des menschlichen Geistes in Griechenland bis zur Aufteilung der Wissenschaften im Zeitalter Alexanders des Großen; 5. Epoche: Der Fortschritt der Wissenschaften seit ihrer Teilung bis zu ihrem Niedergang; 6. Epoche: Niedergang der Aufklärung bis zu ihrer Erneuerung zur Zeit der Kreuzzüge;

1380

Teil IV

Systems entfaltet, die Brüderschaft der Völker, Fraternité des peuples, wurde zum erstenmal von der französischen Revolution als politisches Prinzip ausgerufen, die Begeisterung, Exaltation, als bezeichnend den Zustand des Geistes, in welchem derselbe hohe Wahrheiten begreift, wurde zum erstenmal in dieser Bedeutung von Herrn Pierre Leroux96 begriffen, das Insichgehen, Intuition, als Ausgangspunkt der gesamten spekulativen Philosophie, von Cieszkowski97 logisch erwiesen und von Emerson98 auf eine klar verständliche Weise dargelegt. Vorläufig wollen wir bei diesen wenigen Worten der Laiensprache stehen bleiben. Jedermann sieht, welch unermeßliches Feld von Ideen sie in sich fassen! Dennoch aber bilden diese Worte und die Ideen, welche sie ausdrücken; am allerhöchsten nur erst das ABC-Buch des neuen Wissens, wenn es nämlich erlaubt ist, die neue Entfaltung des allgemeinen Wortes so zu benennen. Wie soll man nun aber von den Geheimnissen dieses Wortes zu Leuten reden, die halsstarrig darauf bestehen, die ersten Elementarkenntnisse desselben nicht zu beachten? Wir haben ihnen heute zu beweisen, daß die amtliche Kirche nicht einmal mehr weiß, was das Wort ist, daß sie vollständig die Idee und die Überlieferung des lebenden Wortes verloren und die Völker der Versuchung ausgesetzt hat, das Wort mit Worten (la parole avec le mot) zu vermengen, Sachen, die man zur Zeit der ursprünglichen Kirche nicht durcheinander mischte. Die Sache ist für jedermann höchst wichtig; insbesondre sind wir anderen, wir Slaven, daran beteiligt. Slaven99 – bedeutet das Volk des Wortes, la parole, oder, besser gesprochen, le verbe. Dieses Volk bewahrt bis auf den heutigen Tag die reine Überlieferung der Idee des Wortes, die bei ihm diejenige der Heiligkeit und der schöpferischen Macht in sich begreift. Es glaubt bis jetzt, daß ein Wort hinreicht, um die moralischen oder physischen Stürme herbeizuführen oder sie zu vertreiben, um den Geist zu beschwören oder den Zauber zu brechen, unter welchem er zurückgehalten ist, um die Menschen leiden zu lassen oder sie zu heilen, um sie zu waffnen oder zu entwaffnen. Es bleibt bei allen Völkern ein verworrenes Andenken an diese uralte Macht des Wortes;

96 97 98 99

7. Epoche: Von den ersten Fortschritten der Wissenschaften nach ihrer Wiederherstellung im Abendland bis zur Erfindung des Buchdrucks; 8. Epoche: Von der Erfindung des Buchdrucks bis zu der Zeit, in der Wissenschaft und Philosophie sich vom Joch der Autorität freimachten; 9. Epoche: Von Descartes bis zur Entstehung der französischen Republik; 10. Epoche: Von den künftigen Fortschritten des menschlichen Geistes. Vgl. Pierre Leroux: Du Christianisme. In: Le Revue Indépendante, Paris 1842, tome troisième, S. 577–691. Vgl. die 22. Vorlesung (Teil III). Vgl. dazu Marta Skwara: Mickiewicz i Emerson: prelekcje paryskie, op. cit., S. 118. Vgl. Heinrich Kunstmann: Die Slaven: ihr Name, ihre Wanderung nach Europa und die Anfänge der russischen Geschichte in historisch-onomastischer Sicht. Stuttgart 1996.

7. Vorlesung (7. Februar 1844)

1381

da jedoch die Diener Gottes dieselbe nicht mehr ausüben, so glaubt man sie verloren, oder für alle Ewigkeit dem bösen Geiste ausgeliefert. Jede außerordentliche Wirkung des Wortes flößt den Unwissenden einen abergläubischen Schreck ein und reizt den Unglauben derjenigen, welche noch Charlatane oder Schwarzkünstler damit befassen können. Die Slaven im Gegenteil, wenngleich sie das Tun des Bösen im Ganzen anerkennen, glauben jedoch, daß der Geist, welcher durch Moses und die Wundertäter gewirkt, noch nicht seine Allgewalt auf Erden verloren hat. Bei uns werden die außerordentlichen Wirkungen des Wortes; so oft sie sich für die Menschheit heilsam erweisen, für Beweise der Gegenwart des heiligen Geistes gehalten. Dieses volkstümliche Gefühl hat den echten slavischen Denkern erhabene Theorien des Wortes eingeflößt. Zeigen sie uns in irgendeinem philosophischen oder theologischen Werk eine Definition des Wortes, vergleichbar derjenigen, welche vor etwa dreißig Jahren [Stanisław] Potocki, ein polnischer Denker, gegeben hat. Wir haben zwar den Text von Potocki gerade nicht zur Hand, wir erinnern uns aber vollständig an den Sinn: Er sagt; „das Wort ist eine Kugel, geschaffen aus zwei Halbkugeln, von denen die eine unsichtbar, die andere materiell ist, die eine himmlisch, die andere irdisch.“100 Es ist die Seele und der Körper; mit einem Wort, der ganze Mensch. Die Rhetorik und das Wörterbuch werden sich gewiß gegen eine solche Definition empören. Das französische Wörterbuch sagt, das Wort ist eine Darstellung des Gedankens, „une représentation de la pensée.“101 Würde man nicht ebenso gut sagen können, das Wort sei eine Art Schatten, welchen zu werfen der Gedanke allein nur das Vorrecht hat? Das Volk, meine Herren, begreift das Wort anders; seine Sprache nähert sich bei weitem mehr der Wahrheit als diejenige der Bücher. Wird zum Beispiel gesprochen, man habe sein Wort gegeben, man habe sein Wort nicht gehalten oder es verfälscht, denkt da wohl jemand an die Vorstellung des Gedankens? Sich auf sein Wort verpflichten, will in der Sprache der Volksmänner so viel sagen, als sich selbst verpflichten. Das französische Volk setzt die polnische Theorie instinktmäßig ins Werk. Für dasselbe ist das Wort und der ganze Mann eins und dasselbe.

100 Stanisław Kostka Potocki (1755–1821); vgl. S.  Potocki: O wymowie i stylu. 4 Bände. Warszawa 1815 [http://www.pbi.edu.pl]; Zitat in dieser Form nicht nachweisbar; dort (Bd.  1, S.  1, 3) ähnliche Formulierungen, aber ohne den Vergleich „das Wort ist eine Kugel“ – „słowo jest kula“. 101 Dictionnaire universel de la langue française, avec le latin et les étymologies […]: suivi d’un complément Manuel encyclopédique et de grammaire, d’orthographe, de vieux langage, de néologie. Par Pierre Claude Victor Boiste. 6. Auflage. Paris 1823, S. 484 (Parole) – „représentation de la pensée.“

1382

Teil IV

Um uns von der Wahrheit dieser Ausdrucksweise zu überzeugen, brauchen wir nur uns selbst in jenen seltenen Augenblicken zu prüfen, in welchen uns eine innere, tiefe, aufrichtige und uneigennützige Liebe, eine patriotische Rührung, eine göttliche Eingebung beseelt und zum Sprechen treibt. Was ist es, das in uns dann vorgeht? Wir fühlen in den Tiefen unsers Wesens sich ein Feuer entflammen, dieses Feuer durchdringt und umfaßt in einem Augenblick unseren ganzen Organismus, es bringt ihn, so zu sagen, ins Schmelzen, und der Geist zieht alsdann aus unserer so geschmolzenen Organisation eine Quintessenz, einen Extrakt, aus welchem er die lichtvolle und leichte Kugel, das Wort genannt, bildet, die uns verlässt, ohne sich von uns zu trennen, verschwindet und doch so lange währt als der Geist, der sie geschaffen, das heißt, sie ist unzerstörbar. Das Wort ist folglich der Leib und der Geist, zusammgeschmolzen durch das dem Menschen innewohnende göttliche Feuer. Wie soll es nun geschehen, daß ein an die Scholle seines materiellen Eigennutzes gebundener Egoist, daß ein stolzer Gelehrte, verzehrt von den unergiebigen Arbeiten der Vernunft, die Kraft hätten ein solches Wort zu schaffen? Woher sollen sie hinreichendes Feuer holen, um ihre kalte und ausgemergelte Organisation bis zu dem Grad zu schmelzen, daß es möglich wird, aus derselben die Formen zu ziehen, die würdig wären, den Geist zu kleiden? Daher kommt es auch, daß die Männer, welche das Wort schaffen und es geben, viel seltener sind, als man glaubt; ja, selbst die Zahl derjenigen, welche es zu schaffen versuchen, ist gering. Die Völker unterscheiden sich in dieser Beziehung wesentlich von einander. Man sagt, und dies ist eine Wahrheit, daß in Frankreich fast jeder Mensch beredt ist, das heißt, jeder Franzose fühlt den Wert des lebenden Wortes, er begreift die Macht desselben und versucht es hervorzubringen. Mehr denn einmal zeigten wir die Ursache hiervon an. Eine ununterbrochene Reihe heldenmütiger Unternehmungen, ritterlicher Aufopferungen, moralischer und intellektueller Kämpfe haben die Gemüter in Frankreich geweckt und hören nicht auf sie ohne Unterlaß zu bewegen. Um in einer solchen Mitte leben zu können, ist der Mensch gezwungen, jeden Augenblick alle seine Fähigkeiten und alle seine Mittel in Anspruch zu nehmen. Mehr denn irgendwo anders gibt es solche Männer in Frankreich, die sich der Sache, welche sie vornehmen, ganz hingeben; wahrhaft erhaben sind diese Männer darin, daß sie das Vorhandensein eines mysteriösen Behälters der Kraft schon vorgefühlt haben, darin, daß sie nach einem übernatürlichen Hebel, von welchem sie wissen, daß er besteht und dessen sie sich gern bemächtigten, gesucht haben und noch suchen: sei es, daß sie wirken oder daß sie sprechen, so trachten sie vollständige Menschen zu sein. Man wird gegenwärtig die schönen Verse Garczyńskis „Wacława dzieje“ (Venzeslavs Geschichte) begreifen. Der vollständige Mensch

7. Vorlesung (7. Februar 1844)

1383

ist nur derjenige, der in dem Augenblick der Eingebung den Geist seines Jahrhunderts begreift, dem jener geheimnisvolle Antrieb als Schöpfung des Wortes sich in der ganzen Welt ausbreitet, zum Leib wächst; und er sieht diesen Leib, in der Einsamkeit, in der Masse, Tag und Nacht, und ist die Hälfte dieses Leibes. Tylko ten, kto w natchnieniu wiek swój porozumie, Komu ów tajny popęd jak stworzenia słowo W świat się cały rozłoży, rozrośnie się w ciało; I on to ciało widzi – w samotności – tłumie W dzień i w nocy – i tego ciała jest połową […].102

Ist es nun der Instinkt, welcher dem Wort seine Form gibt, so ist auch natürlich, daß es die Vollkommenheit besitzt, welche jedes instinktive Werk auszeichnet, und daß es in seinem Tun die Unfehlbarkeit des Instinkts hat. Garczyński spricht hier bloß vom Künstler; dasjenige aber, was er sagt, kann auf den Menschen im Allgemeinen bezogen werden. Auf solche Art vermögen wir nur insofern das Wort zu schaffen, als wir die schöpferische Kraft in uns wecken, indem wir das entwickeln, was die Dichter unseren sympathischen Instinkt nennen, und was nichts anderes, denn die Liebe zu Gott ist, und indem wir uns in Stand setzen, göttliche Eingebungen zu bekommen, in Gemeinschaft mit Gott zu bleiben. Warum nun die amtliche Kirche, selbst in ihrer Eigenschaft der Verteilerin des Wortes, verdammt ist unfruchtbar zu sein, ist jetzt leicht einzusehen. Freilich ist es wahr, daß wir von der Errichtung neuer religiöser Orden und Kongregationen sprechen hören. Diejenigen aber, welche sie kennen, wissen sehr wohl, daß dieses keine neuen Schöpfungen, sondern nur ganz einfach blasse Kopien und Nachahmungen des Altertums sind, ohne Kraft und ohne Tugend. Wäre es erlaubt, für einen so ernsten Gegenstand eine gewöhnliche Ausdrucksweise zu gebrauchen, so könnte man sie geschichtliche Romane der Kirche nennen. Die Enthaltsamkeit, das Beten und das Predigen haben nichts Neues an sich; bekannt ist uns deren ganze Wichtigkeit, und, um sie auszuüben, hat man keiner speziellen Kongregationen nötig. Ein neuer Orden wäre derjenige, der seinen Mitgliedern neue Pflichten auferlegte, ihnen zugleich helfend die Arbeiten zu erfüllen, den Gefahren Trotz zu bieten, welche über den Kräften des individuellen Menschen unserer Zeit stehen: denn jede Epoche hat ihre eigentümlichen moralischen Bedürfnisse und Gefahren. Es wäre dies zum Beispiel ein nützlicher und ganz neuer Orden, dessen Mitglieder das Gelübde täten, in die Krämerläden zu gehen, um das Evangelium zu predigen, 102 Stefan Garczyński: „Wacława dzieje“. In: Poezye Stefana Garczyńskiego. Tom I, Paryż 1833, S. 100 (cz. II, Obraz czwarty).

1384

Teil IV

die Kaufleute zu ermahnen, das tägliche Brot des Tagelöhners nicht zu stehlen, sein Brot, sein Salz und seinen Wein nicht zu vergiften. Gibt es wohl Kongregationsmitglieder, die versucht hätten in die Boutiquen der Literaturmacher zu dringen und diesen oder jenen Verfasser von Romanen, Belletristen oder Zeitungsschreiber im Namen Gottes aufzufordern, seinen verräterischen Handel einzustellen. Wo sind die Priester, die hinreichend Mut besäßen, vor den Schranken der Deputiertenkammer zu erscheinen und sie kraft ihres Wortes zu zwingen, Gesetze zu geben, welche der Nation würdig wären, der Nation, welche die ältere Tochter der Kirche und der ältere Bruder der Völker ist. Hätte man diese Art des Predigens versucht, gewiß, man hätte erkannt, worin jetzt die Schwierigkeit liegt, Gott zu dienen. Eine solche Aufgabe verlangt bei weitem mehr moralischen Muts und Energie als deren erforderlich ist, um nach Cochinchina103 das Evangelium predigen zu gehen. Die Männer der amtlichen Kirche opfern, wir wissen es, ihr materielles Wohlsein, ihre Güter und häufig selbst ihr Leben auf, doch haben sie nicht hinreichend bedacht, daß alle diese Opfer, wie schwer sie auch zu anderen Zeiten den Menschen gewesen, jetzt schon, Dank sei es dem Fortschritt des Christentums, leicht und sogar gewöhnlich geworden sind; ja, man betrachtet sie selbst unter gewissen Umständen für Pflicht. So setzen z. B. die Minister und die Führer der politischen Parteien jeden Augenblick ihr materielles Wohlsein aufs Spiel, um nur ihren Meinungen treu bleiben zu können. Was das Leben anbelangt, so scheint es noch weniger beachtet zu werden. Die öffentliche Meinung brandmarkt den Menschen, welcher einen Zweikampf zurückweist. Ein Kriegsgericht schießt den Soldaten ohne Barmherzigkeit nieder, der seine Fahne verläßt (die Helden Homers flohen vom Kampfplatz, ohne sich Schande zuzuziehen). Sie erinnern sich auch, mit welchem Mut die Sektionsmänner in den Zeiten der Straßenaufläufe einem fast unvermeidlichen Tode entgegengingen.104 Betrachten sie noch die Selbstmorde, die häufig aus so sehr geringfügigen Ursachen erfolgen, und sie werden sich überzeugen, daß man heutzutage nicht mehr nötig hat, die Lebensverachtung den Leuten zu predigen, vielmehr sollte man sich lieber bemühen, ihnen den ganzen Wert des Lebens fühlen zu lassen. Doch gibt’s eine Art Opfer, unserer Epoche eigen, vor welchem der tapferste, entschlossenste und großmütigste Mann, wie von Entsetzen erfasst, zurückbebt. Dieses Opfer, meine Herren, ist das Aussetzen unseres geistigen Ichs, dies ist, wenn wir unser geistiges Ich dem Gelächter des Haufens, dem Hochmut 103 Südvietnam und Teile Kambodschas. 104 Juniaufstand von 1832 französischer Republikaner gegen die Regierung König Louis Philippes I. von Frankreich.

7. Vorlesung (7. Februar 1844)

1385

des Hasses, den Angriffen der Intelligenzen und Leidenschaften aussetzen. Reden wir aber von dem Opfern unseres Ichs, so meinen wir darunter keineswegs das Auseinanderfegen unserer Meinungen und Gefühle durch Schriften oder von Ferne hin angedeutet, auch nicht das etwaige Verbreiten derselben im Stillen unter unsere Freunde. Nein, das ist es nicht. Unter dem Opfer des Geistes verstehen wir das Tun des Menschen, welcher, nachdem er die Wahrheit empfangen hat, sich mit derselben identifiziert, sie trägt, sie offenbart, ihr als Organ, Bollwerk und Kriegsmacht dient, die verfolgenden Blicke der Menge, das Geschrei und die Pfeile der Feinde erträgt. Von allen Opfern ist dies das edelste und schmerzlichste. Nur die sehr vorgerückten Völker sind im Stande, den ganzen Wert und die ganze Schwierigkeit desselben zu fühlen. Bekannt ist, daß die tapfersten und großmütigsten Völker, die Franzosen und die Polen, gerade auch diejenigen sind, welche vor dem lächerlichen Erscheinen die meiste Furcht haben, daher auch bei ihnen der bürgerliche Mut eine der seltensten Sachen ist. Wohl ist dieses des Nachdenkens würdig; es steckt da drunter eines der Geheimnisse unserer Zeit. Das Lächerlichmachen ist nämlich heute die beliebte Waffe des Jahrhunderts. Sie ist es, die in den Geistesangelegenheiten über alles entscheidet; so mußte es aber auch kommen. Sie sehen hier die materielle, brutale Macht, von einigen noch für die wirkliche angesehen, dieser unsichtbaren aus dem Bereich der nichtmateriellen Welt herkommenden Sache weichen. Ein Tropfen des Gifts, von einem niedrigen Gewürm ausgearbeitet, in seinen Gebißwerkzeugen niedergelegt und durch den Biß mitgeteilt, ist in seiner Wirkung viel schrecklicher als der Biß eines Löwen: häufig tötet er unfehlbar. Es gibt nun aber gewisse Geister, welche durch ein analoges Verfahren wie das der Reptilien, stillschweigend in ihrem Geist ein noch viel feineres Gift ausarbeiten und mit demselben ihr Lächeln durchdringen, das unsichtbare Gift teilt sich den Geistern durch ihr Lächeln mit und lähmt ihre Bewegung. Je mehr der Mensch geistig geworden, desto empfindlicher ist er für die Wirkung dieser neuen Waffe des Bösen. Schon Sieger der Erde, ist er nun berufen eine neue Anstrengung zu machen, um auch im Geiste zu siegen. Von dem Augenblick, wo er sich nicht als Redner oder Advokat, sondern als Streiter für die Wahrheit hinstellen wird, von dem Augenblick an wird er sich unverwundbar fühlen. Die Schlangen und Ottern werden, wie die Schrift sagt, keine Kraft mehr haben, ihm zu schaden.105 Die amtliche Kirche besitzt diese Geistesunverwundbarkeit nicht und gegenwärtig kann sie nicht einmal darnach ringen, ohne zuvor einer gänzlichen 105 „Seht, ich habe euch die Vollmacht gegeben, auf Schlangen und Skorpione zu treten und die ganze Macht des Feindes zu überwinden. Nichts wird euch schaden können.“ – Lukas 10, 19 (Neues Testament).

1386

Teil IV

Umwandlung zu unterliegen. Die Priester tragen das religiöse Wort nur noch in Häuser, wo sie sicher sind, gut aufgenommen zu werden; aus Mitgliedern der kämpfenden Kirche, was sie doch sein sollten, haben sie sich, verzeihen sie uns den Ausdruck, zu Handelsreisenden des Katholizismus gemacht. Auf diese Art sehen sie sich keiner einzigen Gefahr aus. Reden sie mit Mut von ihren Kanzeln herab, so kommt dies daher, daß man gewohnt ist, das Predigen als ihre Spezialität zu betrachten. Niemanden fällt es ein, sie daselbst in ihren von der Gesetzlichkeit geschirmten Festungen anzugreifen. Begegnen sie aber demselben Priester, welchen sie von der Kanzel herab gegen den Unglauben haben losziehen hören, in einem Salon, so werden sie ihn daselbst den Vorurteilen der Ungläubigen den Hof machen sehen, den Namen Christi wird er nicht auszusprechen wagen, die meiste Mühe wird er sich geben, seinen Charakter als Geistlicher sei es unter den gemeinen oder unter den polierten Formen des Weltmanns zu verbergen, als dächte er nur daran, sich zu verwischen, sich und seine Religion vergessen zu machen. Wenngleich Schüler Desjenigen, welcher gesagt hat, das Feuer auf Erden106 heruntergebracht zu haben, und der da will, daß dieses Feuer flamme, wenngleich Soldaten Desjenigen, der das Schwert brachte und der da will, daß gekämpft107 werde: so fürchten sie sich doch, sie zittern und verkriechen sich. Ist man nun aber bis zu dem Punkt Sklave des Anstandes und Herkommens geworden, so hat man auch alle Kraft verloren und ist unfähig, mehr auf die Massen zu wirken; nun haben sich auch die Würdenträger der Kirche hierin schon seit längst beschieden. Was gibt es wohl Gemeinsames mehr zwischen ihnen und den Völkern? Wer von ihnen, meine Herren, kennt die Namen der Kardinäle? Und doch sind sie die Fürsten der allgemeinen Kirche, die Beschützer der Völker? Die Titel der Marschälle Frankreichs aus den Zeiten des Kaisertums umfassen die ganze militärische Geschichte jener Epoche, die Titel der Kirchenfürsten sollten uns doch wohl desgleichen die Geschichte ihrer Kämpfe, ihrer Arbeiten und geistigen Siege darstellen und an dieselben erinnern. Sie tragen den Purpur, der Purpur bedeutet aber in der symbolischen Sprache der Kirche das Märtyrertum. Möge uns nun Jemand sagen, ob er auch nur vom Redenhören etwas von dem Märtyrertum eines Kardinals in den letzten Zeiten weiß? Fehlt es etwa an Gelegenheit, für die Kirche zu leiden? Gewiß nicht. Das Märtyrerverzeichnis der Polen ist sehr reichhaltig und vermehrt sich noch tagtäglich. Was tut die amtliche Kirche dazu? Sie veröffentlicht 106 „Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen. Wie froh wäre ich, es würde schon brennen.“ – Lukas 12, 49 (Neues Testament). 107 „Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“ – Matthäus 10, 34 (Neues Testament).

7. Vorlesung (7. Februar 1844)

1387

diplomatische Noten und läßt Bücher drucken. Sie hat nicht mehr den Mut, den Verfolger zu verfluchen, sie wagt nicht mehr die Völker aufzurufen. Übrigens wie soll sie auch nur die Völker des Nordens anreden? Die Zeitungsblätter und diplomatischen Noten gelangen bis dorthin nicht, auch verstehen die Würdenträger der Kirche die Sprache jener Völker nicht. Und doch! Wäre die Kirche im Stande, das wahre Wort zu schaffen, so stehen wir keinen Augenblick an, zu versichern, daß sie alsdann der Bücher und Zeitungsblätter sehr gut entbehren könnte; auch hätte sie nicht nötig, die Sprachen zu erlernen. Die Apostel wußten sie sehr gut zu reden. Der heilige Andreas, welcher der Erste war, der die Slaven bekehrte108, war ein Israelit. Der heilige Kyrill und der heilige Method109 waren Griechen, der heilige Otto110 war ein Deutscher von Geburt. Und doch wurden sie von den Slaven verstanden! Hier wird es am rechten Orte sein, eines der großen Geheimnisse des Wortes zu entfalten. Um aber von diesen Sachen öffentlich zu reden, müssen wir, meine Herren, eine Anstrengung machen. Die wunderbaren Wirkungen des Glaubens sind, in unseren Zeiten, so selten, die Kirche verkennt sie dermaßen, das Publikum hört so wenig von ihnen sprechen, daß man große Gefahr läuft, als Verfinsterer, als Sonderling und Neuerer zu erscheinen, wenn man auch nichts mehr tut, als nur die Christen an die Sachen erinnert, welche in den Zeiten der ursprünglichen Kirche alle Menschen sehr einfach fanden. Man gewahrt alsdann, welch gräßlicher Zwischenraum uns von diesen Zeiten trennt. Wo finden sie gegenwärtig Männer in der Kirche, welche die Gabe der Zungen besäßen? Die jetzigen Gelehrten begreifen nicht einmal mehr, was diese Gabe des Heiligen Geistes ist. Die Priester beschränken sich zu sagen, daß diese Gabe einstens bestanden hat, daß sie aber überflüssig geworden ist. Eine Gabe des Heiligen Geistes überflüssig geworden! Es wäre viel einfacher zu sagen, daß sie verloren gegangen ist, und zwar dermaßen verloren, daß man schon zu zweifeln begonnen hat, ob sie je bestanden. Eine wunderbare Tatsache, die sich nicht mehr wiederholt und deren Verschwinden man nicht hinreichend erklärt, wird 108 Vgl. dazu – Die Nestorchronik. Die altrussische Chronik, zugeschrieben dem Mönch des Kiever Höhlenklosters Nestor, in der Redaktion des Abtes Sil’vestr aus dem Jahre 1116, rekonstruiert nach den Handschriften Lavrent’evskaja, Radzivilovskaja, Akademičeskaja, Troickaja, Ipat’evskaja und Chlebnikovskaja und ins Deutsche übersetzt von Ludolf Müller. München 2001, S.  8–9 (Vorgeschichte  42–62); ferner – N.M.  Karamzin: Istorija gosudarstva Rossijskogo. Tom 1, glava II. [http://az.lib.ru]. 109 Vgl. Die Lehrer der Slawen Kyrill und Method: die Lebensbeschreibungen zweier Missionare. Aus dem Altkirchenslawischen übertragen und herausgegeben von Joseph Schütz. S[ankt] Ottilien 1985. 110 Vgl. Ebo von Michelsberg: Der Pommernapostel Otto von Bamberg. Das Leben des Bischofs und Bekenners (Vita Ottonis Episcopi Bambergensis). Herausgegeben und übersetzt von Lorenz Weinrich. Schwerin 2012.

1388

Teil IV

allerdings verdächtig, man betrachtet sie als fabelhaft. Auf dieseArt werden alle Tatsachen des Evangeliums zuerst bezweifelt, weil man sie nicht erklären kann und folglich in das Reich der Fabeln verwiesen. Die natürliche Folge von allem dem war, daß man am Ende selbst an das Dasein des Heilands nicht mehr glaubte! Und es gibt kein anderes Mittel, die Wirklichkeit dieser Tatsachen zu beweisen, als wenn man das Geheimnis wiederfände, sie von neuem zu erzeugen. Der Philosoph Baader111 hat besser denn alle die Theologen das Geheimnis der Zungengabe begriffen. Er sagt, die Apostel hätten nicht nötig gehabt, die verschiedenen Sprachen und Idiome anzuwenden, um sich den Männern der verschiedenen Völker verständlich zu machen; eine einzige geistige Sprache reichte dafür aus. Dies ist wahr, weil das regelrecht geschaffene Wort allgemein ist und es für alle Zeiten bleiben wird. Läßt es sich hören, so ist es nicht mehr der Mund, welcher zu dem Ohr spricht; nein, der Geist spricht alsdann zum Geist, und der Geist desjenigen, der da zuhorcht, gibt der empfangenen Idee die Form, oder die Hülle, deren er sich herkömmlich zu dem Ausdruck seiner eigenen Gedanken bedient. Wir können fest versichern, daß der heilige Peter und der heilige Paul eine Sprache redeten, die, hörten wir sie, uns noch heute das schönste, reinste und gewaltigste Französisch scheinen würde, denn mit dem Ton der Stimme dieser Gottesmänner träte in uns ein solcher Strom des Lebens und der Kraft, daß unsere Seele augenblicklich die Fähigkeit erlangen würde, den inneren Sinn, die göttliche Absicht dieser Worte zu fassen, und unsere Vernunft befähigt würde, sich sogleich selbst diese Laute ins Französische zu übersetzen. Dies sind wunderbare Tatsachen, von denen zu reden es einem schwer kommt und empfindlich ist, denn wir müßten sie aus Erfahrung kennen. Die Gabe der Sprachen war in der ursprünglichen Kirche eine so gewöhnliche Sache, daß der heilige Paulus112 seine Schüler ermahnt, nicht gar zu verschwenderisch damit umzugehen. Die Kirche des Mittelalters sah Beispiele derselben. Der heilige Bernhard113 predigte den Kreuzzug lateinisch und entflammte 111 Stelle nicht ermittelt. Über Baader und Mickiewicz vgl. Ryszard Zajączkowski: Auf den Wegen der heiligen Revolution. Franz Baader und Adam Mickiewicz. In: Adam Mickiewicz und die Deutschen. Eine Tagung im Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar. Hrsg. Ewa Mazur-Kębłowska und Ulrich Ott. Wiesbaden 2000, S. 127–137; Zajączkowski verweist auf Baaders „Philosophische Schriften und Aufsätze“. 2 Bde., Münster 1831–1832; vgl. auch die 41. Vorlesung (Teil I), die 27. und 32. Vorlesung (Teil II), die 17. und 20. Vorlesung (Teil III). 112 Vgl. Paulus – Der erste Brief an die Korinther (14, 1–25). Neues Testament. 113 Bernhard von Clairvaux (um 1090–1153). Vgl. seinen Aufruf zum 2. Kreuzzug – Brief Nr.  363 (Epistola CCCLXIII); lateinischer Text im Internet unter [http://www.binetti.

7. Vorlesung (7. Februar 1844)

1389

ganze Völkerschaften, die kein Wort von der Sprache, welche er redete, wußten. Der heilige Xavier114 bekehrte die Indier, bevor er noch ihre Sprache gelernt hatte: die Menge erkannte in ihm einen Apostel, selbst noch eher gesprochen hatte. Pius V. bekehrte mehrere Protestanten, ohne daß er ein einziges Wort an sie gerichtet hatte; es genügte, daß er in ihrer Gegenwart erschien (der protestantische Geschichtsschreiber Ranke115 erzählt dieses). Keinen einzigen Menschen bekehrt man, ohne auf seinen Geist zu wirken: folglich wirkte der heilige Papst noch bevor er sprach. Das innere Wort, das er in sich trug, ließ er hören, ohne es selbst auszusprechen. Er war also tatsächlich dasjenige, was der polnische Dichter Garczyński die lebende Hälfte des Wortes nennt.116 Neunzehn Jahrhunderte sind verflossen, seitdem die Kirche vom heiligen Geist die Gabe empfangen hat, ähnliche Wunder zu wirken. An Zeit hat es also nicht gefehlt, diese Gabe geltend zu machen, die Beweise von der Macht des Geistes um uns her zu verdoppeln, sie zu verdrei- und zu vervielfachen. Wie kommt es nun aber, daß im Gegenteil die öffentliche Meinung in der Christenheit so schwer einräumt, diese Gabe hätte je bestehen können, und daß die Priester sie verloren, unnütz oder unmöglich wiederzufinden glauben? Und doch, sie besteht, sie wirkt und wird zu wirken fortfahren, wenngleich die Priester nichts von ihrem Dasein wissen und auch ihr Wirken nicht haben bemerken können. Bevor jedoch zu sagen, wo und auf welche Weise sie besteht, hat man das Recht, euch Männer der amtlichen Kirche, zu fragen, wie kommt es, daß man sie unter euch nicht mehr findet? Alle diese Beobachtungen, gezogen aus den Erscheinungen des religiösen Lebens, beweisen uns, meinte Herren, daß die Wirkung des christlichen Geistes in der Kirche längst schon schlaff geworden ist und daß sie endlich fast ganz aufgehört hat. Nicht wir sind berufen die Ursachen hievon auseinanderzusetzen. In der Geschichte des menschlichen Fortschritts gibt es Jahrhunderte der gewaltsamen raschen Bewegung und dann auch wieder Zeiten des Stillstandes. Verfolgte der menschliche Geist immer die rechte Bahn im gleichen Schritt, so würde es auch in seiner Geschichte keine Zeiten geben, die man Epochen ru]; deutsche Übersetzung – Bernhard von Clairvaux: Sämtliche Werke.  10 Bde., Hrsg. Gerhard B. Winkler. Innsbruck 1990, Bd. 3, S. 651–657. 114 Francisco de Xavier (1506–1552)Vgl. Wolfgang Reithmeier: Leben des heiligen Franz Xaver, Apostels von Indien und Japan. Schaffhausen 1846. 115 „sie erzählten sich, sein bloßer Anblick habe Protestanten bekehrt.“ – Leopold von Ranke: Fürsten und Völker von Süd-Europa im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert: Vornehmlich aus ungedruckten Gesandtschafts-Berichten. [Abt.  1]: Die römischen Päpste, ihre Kirche und ihr Staat im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert. Erster Band. Berlin 1834, S. 354–355. 116 Vgl. Stefan Garczyński: „Wacława dzieje“, op. cit., S. 100 (cz. II, Obraz czwarty).

1390

Teil IV

und Krisen nennt. Unterdessen verkündet uns ein allgemeines Vorgefühl das Bevorstehen einer neuen Krisis. Sie bereitet sich in den Geistern vor, und jedes Gutgesinnten Pflicht ist es, die Kirche davon zuvörderst in Kenntnis zu sehen, denn sie vergegenwärtigt uns die geistige Macht. Der Kirche hat es an Warnungen nicht gefehlt. Dennoch, dieses merke man wohl, handelt es sich nicht um Reformen, nicht um Neuerungen, noch um religiöse Umwälzungen, sondern man erwartet vielmehr ein neues Auflodern, eine neue Manifestierung des christlichen Geistes. Der Schmetterling, welcher mit dem Aufgang einer Frühlingssonne sich gen Himmel erhebt, ist nicht eine reformierte, revolvierte oder erneuerte Chrysalide [Puppe], sondern immer ein und dasselbe Wesen, nur erhoben zur zweiten Potenz des Lebens; es ist dies eine verwandelte Chrysalide. Der christliche Geist ist bereit, aus dem Schoß der katholischen Kirche hervorzugehen: nur hat der amtliche Klerus nicht Licht und Wärme genug, ihm die Schale durchbrechen zu machen. Fürwahr, die Masse des Lichts und der Wärme, welche erforderlich, um den Lebenskeim einer ganzen Epoche zum Hervorsprossen zu bringen, ist so groß, daß sie nur aus dem Schoß Gottes kommen und sich auf Erden nur durch einen neuen Ausbruch des Wortes Jesu Christi kundgeben kann. Noch haben wir die kirchliche Frage nicht ganz erschöpft. Wir müssen uns unterbrechen, um die Wörter und Worte, außerhalb der Kirche versucht, zu prüfen. Bevor wir diesen neuen Gegenstand beginnen, wollen wir eine Bemerkung im Allgemeinen machen. Der christliche Geist, von dem wir sagten, er arbeite vorzugsweise in gewissen Völkern Europas, er sei in ihr geschichtliches Leben eingegangen, ist mit dem Volksgeist in eins zusammengeflossen und tatsächlich Nationalgeist geworden. So mit Frankreich, mit Polen und mit mehreren slavischen Völkerschaften. Jeder Fortschritt des Christentums schließt hier die volkstümlichen Fortschritte mit ein. Um nur von Frankreich zu reden, so weiß man, wie in den Zeiten der kirchlichen Macht und Größe jede Eroberung des Christentums die moralische und territoriale Macht Frankreichs vergrößerte. Es folgt hieraus, daß die Entfaltung des Christentums der französischen Nationalität notwendigerweise neuen Glanz und neue Kraft zuführen muß. Fragen wir nun die kosmopolitischen Reformatoren, diejenigen welche Vergesellschaftungen unter dem Namen der Fourieristen, Saint-Simonisten, Owenisten117 versucht haben, was geben sie dem politischen Frankreich, was bieten sie Polen, was versprechen sie den slavischen Völkern? In und außerhalb Europa gibt es politische Staaten, deren Grundsätze und Bestrebungen uns feindlich und rein entgegen sind. Wie will man nun eine religiöse und moralische Theorie erfinden, die von 117 Vgl. die 7. Vorlesung (Teil I), 19. Vorlesung (Teil III).

7. Vorlesung (7. Februar 1844)

1391

Deutschen, Engländern, Franzosen, vom russischen Gouvernement und von den Polen gleichmäßig begriffen und ausgeführt werden könnte. Man müßte entweder alle Nationalitäten wegleugnen und sie vernichten, oder aber sie alle anerkennen und gleichmäßig ihr Sich-Entfalten und Tun begünstigen. Eine Theorie, welche ganz in gleichem Verhältnis die Macht der Engländer und Franzosen, die Macht des russischen Gouvernements und Polens vergrößerte, würde nur den Krieg verewigen und ihn viel schrecklicher machen; eine Änderung brächte sie durchaus nicht zuwege. Die Reformatoren bezwecken einen Kosmopolitismus; ihren guten Glauben wollen wir nicht in Abrede stellen; sie werden uns jedoch zugestehen müssen, daß es viel leichter ist, Kosmopolit zu sein (dies verpflichtet zu gar nichts) als Patriot. Rousseau schon sagte, man tue häufig so, als empfinde man Mitgefühl mit den Bewohnern der anderen Halbkugel, um nur nicht nötig zu haben, seine Mitbürger zu lieben.118 Eine Illusion, welche sich die Reformatoren der Menschheit noch machen, ist auch diese, daß sie glauben, man könne das Böse besiegen, ohne ihm nahe zu treten, ohne ihm den Krieg zu machen. Revolutionäre und Einschläferer zu gleicher Zeit, sind die Dschingis-Khans, wenn sie träumen, und süße Fénelons119, wenn es zu handeln gilt. Man wird die Welt ändern, sagen sie, ohne irgendjemand beschwerlich zu fallen, ja ohne sich selbst im Mindesten zu bemühen. Wir Slaven sind unseren westlichen Brüdern sogar eine Warnung von höchster Wichtigkeit schuldig. Der Westen vergisst zu sehr den Norden von Europa und Asien, dieses Nest der Raub- und Vernichtungsvölker. Glaube man doch ja nicht, diese Völker hätten zu bestehen aufgehört. Fortwährend sind sie da wie eine gewitterschwangere Wolke, nur das Zeichen vom Himmel erwartend, um von den Höhen Hochasiens herab sich auf die schuldigen Völker zu werfen. Auch glaube man nicht, daß der Geist Attilas, Dschingis-Khan, Tamerlans, Suvorovs, dieser großen Strafenvollzieher an der Menschheit, so gänzlich ausgestorben sei. In unseren Vorträgen der vergangenen Jahre haben wir über die Gegenden, diese Menschen und den Geist, der sie beseelt, weitläufig gesprochen. Sie stehen da, um die christliche Zivilisation wach zu halten. Sie sind ein lebender Beweis, daß es noch nicht an der Zeit ist, den Degen zur Pflugschar 118 Stelle nicht ermittelt. 119 François de Salignac de La Mothe-Fénelon (1651–1715), Verfasser des Romans „Les Aventures de Télemaque“ (1730); deutsch – Die Abenteuer des Telemach. Aus dem Französischen übersetzt von Friedrich Fr. Rückert. Mit einem Nachwort herausgegeben von Volker Kapp. Stuttgart 1984.

1392

Teil IV

umzuschmieden und in den Kasernen Phalanstères120 einzurichten. Im jetzigen Zustand Europas ist man Russland zu Dank verpflichtet, weil es vermittelst seiner breiten Schultern die asiatischen Völkerschaften zurückhält. Wissen sie auch, meine Herren, daß, wenn sich Russland heute entwaffnete, sie in einigen Monaten die Mongolen und Osseten (Alanen) am Rhein erblicken würden. Mehr denn einmal haben sie diesen Weg durchlaufen. Und entwaffnete wiederum Frankreich der Reihe nach, so würden sie bald darauf die Kosaken in Paris haben. Unseres Teils sehen wir wenigstens die Mittel nicht ein, welche die Sozialisten ergreifen würden, um sie zurückzuhalten. In der Geschichte Polens finden wir das Beispiel von der Unzulänglichkeit der Theorie in ähnlichen Verhältnissen. Als die Russen in Kurland einfielen, schickten die Jesuiten dem russischen General einen sehr frommen und beredten Pater entgegen. Er setzte den Russen die Vorteile des Friedens und die Schrecknisse des Krieges auseinander. Der russische General verneigte sich vor dem friedfertigen Priester, überhäufte ihn mit Lobeserhebungen, fuhr fort Kurland zu besetzen und richtete sein Quartier im Hause der Jesuiten ein. Lassen wir indessen die Eventualitäten eines Krieges mit den Barbaren bei Seite und wenden wir unseren Blick dem Verfahren der gebildeten Völker, der uns unmittelbaren Nachbarn zu. Was würden die Phalansterianer und Owenisten tun, wenn es der englischen Regierung beliebte, Frankreich einige Millionen Arzneikisten aufzudrängen, wenn sie aus diesem Handel eine Bedingung des Kriegs und Friedens machte und die französischen Häfen blockierte, um ihre Vorschläge zu unterstützen? Machen wir den Schluß. Jeder Reformator ist verbunden, sich selbst diese Frage zu stellen: die Theorie, die ich vorschlage, wird sie die moralische und materielle Macht Frankreichs vergrößern? Diese beiden Potenzen sind untrennbar. Die Kraft, welche Frankreich zu Gebote steht, ist das Ergebnis langwieriger und edler Geistesarbeiten. Frankreich ist die einzige Nation, deren politische Uneigennützigkeit nicht erst bewiesen zu werden braucht, die einzige, welche regelrecht wirken kann, weil ihre neue Kraft schon ganz in ihrem Heer organisiert ist. Das Heer garantiert die Ordnung und gehorcht nur einer wahren Bewegung. Die Armeen, die Flotten, die Arsenale Frankreichs gehören der Menschheit an. Auf sie stützt sich die Hoffnung der Völker. Derjenige, dessen Herz beim Anblick der französischen Fahnen, der französischen Flagge nicht höher schlägt, ist unfähig zu begreifen, worin der wahre Fortschritt besteht. 120 Das Phalanstère oder Phalansterium – landwirtschaftliche oder industrielle Arbeits- und Wohngenossenschaft, konzipiert von Charles Fourier (1772–1836); vgl. auch die 7. Vorlesung (Teil I).

8. Vorlesung (5. März 1844) Das Wort als Element der moralischen Kraft betrachtet – Einfluß der Moral auf das Physische – Worin liegt die wahre Quelle des materiellen Elends?

Meine Herren! Die Idee vom Wort ist der Schlüssel für die Fragen, welche wir behandelt haben und mit denen uns zu beschäftigen noch übrig bleibt. Es ist hier der Ort, sie an die, bei einer anderen Gelegenheit schon angeführte Stelle eines polnischen Dichters über das Wort und denjenigen, welcher der Träger desselben ist, zu erinnern. „Das Wort“, sagt der Verfasser der „Nie-Boska komedia“ („Ungöttliche Komödie“), „wohnt im Menschen, wie Gott im Weltall; es besteht unverkürzt in jedem Wort, jeder Bewegung und jeder Tat des Menschen; ebenso, wie Gott unmeßbar in jedem Atom wohnt, überall gegenwärtig und doch nirgends ergreifbar. Es leuchtet dieses Wort, wie ein Fixstern auf dem Antlitz des Menschen; es gibt ihm den wahren Mannescharakter.“121 Was nun aber den wahren Charakter des Mannes ausmacht, das ist die Energie. Und dieses ist auch ein heiliges Wort der Epoche. Die Energie! Ein charakteristischer Ausdruck in der neuzeitigen Sprache! Die amtliche Kirche, welche so viele Ausdrücke und Formeln von der Laienwissenschaft entliehen hat, besteht noch mit Starrsinn darauf, diesen auszuschließen; man findet ihn weder in ihren Büchern, noch in ihren Predigten. Sie fürchtet sich vor der Energie. Und was ist die Energie? Es ist das Wort, welches sich betätigt, welches zu Leben wird, welches beseelt und nährt. Das Evangelium sagt, der Mensch lebe nicht allein vom Brot, sondern auch von jedem Worte, das von Gott kommt.122 Und man kann dreist sagen, sich auf das Evangelium stützend, daß, besteht irgendwo Elend und moralischer Hunger, so ist dieses ein Beweis, daß dort nicht mehr das Wort Jesu Christi wohnt. Das Evangelium wurde gepredigt, um die Moral des Menschengeschlechts zu erheben. Wenn man den Einfluß der 121 Paraphrasierte Wiedergabe aus dem Prolog der „Nie-Boska komedia“ (Część I – Teil I). Vgl. Z.  Krasiński: „Nie-Boska komedia“.Wydanie krytyczne pierwodruku z 1835 roku. Opracowała Magdalena Bizior-Dombrowska. Toruń 2015, S.  40: „Błogosławiony ten, w którym zamieszkałaś, jako Bóg zamieszkał w świecie, niewidziany, niesłyszany, w każdej części jego okazały, wielki, Pan, przed którym się uniżają stworzenia i mówią: ‚On jest tutaj.‘ – Taki cię będzie nosił gdyby gwiazdę na czole swoim, a nie oddzieli się od twej miłości przepaścią słowa. – On będzie kochał ludzi i wystąpi mężem pośród braci swoich. – A kto cię nie dochowa, kto zdradzi za wcześnie i wyda na marną rozkosz ludziom, temu sypniesz kilka kwiatów na głowę i odwrócisz się, a on zwiędłymi się bawi i grobowy wieniec splata sobie przez całe życie. – Temu i niewieście jeden jest początek.“; vgl. die 8.–11. Vorlesung (Teil III). 122 Neues Testament – Matthäus 4,4.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_108

1394

Teil IV

Moral auf den physischen Zustand der Menschen beobachtet, so wird man die wirkliche Quelle des materiellen Elends entdecken, welches der Wahrheit nach nichts anders ist, als die Folge des moralischen Hungers: man wird dieses neue Geheimnis des Wortes, seine materielle Kraft und ernährende Wirkung begreifen. Dieses ist noch ein neuer Anklagepunkt gegen die Männer, welche das Geheimnis verloren haben, sich dieser Kraft zu bedienen: denn es ist wahr, meine Herren, daß das Wort eine nährende Kraft besitzt. In meinen Vorträgen123 der vorigen Jahre, und von dem physischen Zustand der slavischen Völker redend, habe ich ihnen Beispiele angeführt, die beweisen, daß es dem materiellen Elend nur insofern gelingt, den Menschen zu besiegen, als er seine moralische Kraft, das heißt seinen Glauben verloren hat. Ich sagte ihnen, daß der Tatare viel weniger genießt als der slavische Landmann, und dennoch ist er rüstig, der Trappist verhält sich noch viel mäßiger als ein Tatar, und dennoch fühlt sich auch der Trappist ganz gesund. Der französische Soldat wird nicht besser als ein Arbeiter genährt, und dessenungeachtet fühlt er sich kräftiger und glücklicher als ein Arbeiter. Nehmen sie nun dem Trappisten seinen Glauben an das zukünftige Leben, und sie werden ihn in einigen Tagen an Entkräftung sterben sehen. Soll der Tatare aufhören seinen Khan zu verehren, so wird er nicht einmal die Kraft haben, mit der Strenge des Klimas, unter dem er lebt, zu kämpfen. Eine Horde ohne einen Khan ist, meine Herren, eine bald zerstreute Horde. Durch den Gehorsam für seinen Khan allein lebt und kämpft der Tatar. Man hat diese Nomaden die ungeheuren Steppen, welche sich von Orenburg bis nach Chiva erstrecken, furchtlos durchziehen sehen, und zwar bei einer Kälte, wo man erfrorene Vögel und Tiere daselbst fand. Ein tatarischer Reiter wird sich aber nie in diese Wüsten bloß zu seinem Vergnügen oder in eigenen Verrichtungen begeben; er würde dort umkommen. Um solche Züge glücklich auszuführen, um dergleichen Anstrengungen nicht zu unterliegen, ist es nötig, daß ihn jene Kraft beseele, die von dem Befehl, welchen ihm sein Khan gegeben hat, ausgeht. Nehmen sie dem russischen Soldaten den Schrecken, gemischt mit einer Art von Hingebung, welche ihm der Gedanke seinem Kaiser zu dienen einflößt, und sie werden sehen, daß er nicht im Stande sein wird, die Mühen und Entbehrungen seines Galeerenlebens zu ertragen. Vernichten sie in der Seele des französischen Soldaten die Idee der Ehre, blasen sie diese Flamme, diesen Patriotismus aus, der sein Herz belebt und erwärmt, und er wird sich elend fühlen. Was ist es also, was diese Männer dermaßen stärkt und nährt, die doch sonst, betrachtet man die Sache vom natürlichen Standpunkt, einen beständigen Hunger leiden müßten? Was ist es, was diesen Männern das Gefühl der Kraft und Würde gibt, während wir 123 Vgl. die 11. Vorlesung (Teil II).

8. Vorlesung (5. März 1844)

1395

doch um uns her reiche Egoisten leiden und häufig sogar vor Verzweiflung umkommen sehen, weil sie einen Teil ihres Vermögens eingebüßt? Ich sage es ihnen, meine Herren, diejenigen, welche widerstehen, diejenigen, welche stark sind, das sind die Männer im Besitz einer großen Idee, die Kraftlosen, diejenigen, welche unterliegen, haben dasjenige nie besessen, was ich eine Idee nenne, oder sie haben es verloren. Bezeichnen sie es, wie sie wollen, nennen sie es Überzeugung, Meinung, Vorurteil, Einbildung, nur leugnen sie es nicht, denn die Tatsachen bestehen. Häufig sagt man von einem Mann, er lebe von der Hoffnung, oder er nähre sich von Einbildungen; nie habe ich sagen hören, daß man von Diskussionen leben oder sich von Doktrinen nähren könne. Im Ganzen genommen, ist die Einbildung sogar noch besser als eine Doktrin. Was liegt indessen am Namen, möge man es Einbildung oder Idee nennen, doch wird man immer gezwungen sein einzugestehen, daß es immaterielle und geheimnisvolle Kräfte gibt, welche der chemischen Analyse, den Zergliederungen der Gelehrten entgehen und welche dessenungeachtet auf unsere Organisation einwirken. Schon fängt man in den exakten Wissenschaften diese Wahrheit zu bemerken an. Es gibt eine berühmte medizinische Theorie (die Hahnemannsche)124, nach welcher ein Körper im umgekehrten Verhältnis seines Gewichts und Volumens wirkt, das heißt, je mehr er von seiner Materie verliert, desto mehr gewinnt er an Wirkungskraft. Ich glaube, daß die organische Chemie jetzt auf dem Wege ist, uns darzutun, daß von allen den Nahrungsmitteln, die wir zu uns nehmen, so eigentlich gesprochen, nichts Materielles in unseren Körpern übergeht, daß die Nahrung nur der Träger einer Kraft sei, welche analog derjenigen ist, die uns beseelt, das heißt einer geistigen Kraft. Die alten Weisen und einige große Männer des Mittelalters wußten dieses aus Intuition. Einer der ältesten Seher, Hesiod125, sagt, der Mensch wisse nicht einmal, wie wenig er nötig habe, um zu leben, und wie leicht es ihm werden würde, sein Dasein zu fristen: die Frucht eines einzigen Arbeitstages würde hinreichen, um den Menschen ein ganzes Jahr hindurch zu nähren. Aber, fügt der Weise hinzu, dieses ist ein Geheimnis. Wüßte es der Mensch, so würde er 124 Samuel Friedrich Christian Hahnemann (1755–1843); Begründer der Homöopathie; vgl. sein „Organon der rationellen Heilkunde“. Dresden 1810 (6. Auflage Leipzig 1921); vgl. Robert Jütte: Samuel Hahnemann. Begründer der Homöopathie. München 2005. 125 Hesiod: Ἔργα καὶ ἡμέραι, Werke und Tage (Hauslehren), in: Hesiod’s Werke und Orfeus der Argonaut. Übersetzt von Johann Heinrich Voss. Heidelberg 1806, S. 8 (Verse 40–48): „Thörichte! Nicht weiß einer, wie mehr ist ein Halb denn ein Ganzes, / Und wie ein Malvengemüs’ und Asodelos köstliches Labsal. / Denn tief bargen die Götter den sterblichen Menschen die Nahrung. / Leicht ja schaftest du sonst mit Einem Tage der Arbeit, / Daß auf ein völliges Jahr du versorgst wärst, selber geschäfttslos.“

1396

Teil IV

ein Müßiggänger werden; Zeus hat dieses Geheimnis tief in den Eingeweiden der Erde verborgen; es muß der Mensch dasselbe durch seine Arbeit wiederfinden, und die Arbeit ist, nach Hesiod, das Gefühl und die Energie.126 Die Menschheit scheint noch weit entfernt von der Entdeckung dieses Geheimnisses. Dennoch hat das Evangelium uns auf den Weg geführt, dasselbe zu finden. Das Evangelium erklärt die dunklen Worte des griechischen Sehers, indem es den wahren Zweck der Arbeit aufweist: „Sucht nach dem Himmelreich (dem geistigen Gut), und das Übrige (das materielle Gut) wird euch von selbst zufallen.“127 Da es nun eine ungeheure Vergesellschaftung ist, welche unter dem Namen der Kirche seit so vielen Jahrhunderten nach dem Himmelreich sucht, so hätte man wohl schon das Recht zu erwarten, dieselbe im Besitz aller Arten der Güter zu sehen, und selbst im Stande, denjenigen davon zu geben, die solcher entbehren. Die Sache verhält sich jedoch anders. Die Klerisei hat fast überall selbst ihre irdischen Besitztümer verloren, und bewahrt sie auch noch einige Überreste derselben, so geschieht es nur mit genauer Not. Sie ist, nach Garczyńskis kräftigem Ausdruck von der „Brustmilch dieser Erde“128, welche ihre Mutter wurde, abgesetzt worden. Setzt man gegenwärtig dem Klerus das Elend der Völker auseinander, so erhält man zur Antwort, daß er hierfür nichts tun könne. Freilich verfügt er jetzt weder über die Schätze des Landes, noch über die öffentlichen Speicher. Er kann nur noch einige Mildtätigkeit ausüben, Ratschläge geben und Tröstungen austeilen. Hinsichtlich der Mildtätigkeit muß man ihm sogar Gerechtigkeit widerfahren lassen, er ist im Allgemeinen mildtätig; gerne gibt er Almosen den Ausgehungerten. Was aber die Ratschläge und die wirklichen Tröstungen anbelangt, so ist dieses moralische Almosen viel schwieriger zu finden, als man es glaubt. Und heutzutage ist der Klerus unfähig dazu, jemand zu raten und 126 Vgl. Hesiod’s Werke, op. cit., S. 30–31 (Verse 308–313): „Arbeit segnet mit Hab’ und wimmelnden Heerden die Männer: / Und durch fließiges Thun wirst du unsterblichen Göttern / Angenehm und den Menschen; doch müssige sehn sie mit Abscheu. / Arbeit schändet mitnichten, nur Arbeitslosigkeit schändet. / Schaffst du thätig dein Werk, bald schaun Unthätige neidisch, / Wie du gedeihst; dem Gedeihn folgt Trefflichkeit, Ehr’ und Ansehen.“ 127 Vgl. Neues Testament – Matthäus 6, 31–33: „Macht euch also keine Sorgen und fragt nicht: Was soll ich essen? Was sollen wir trinken? Was sollen wir anziehen? Denn um all das geht es den Heiden. Euer himmlischer Vater weiß, daß ihr das alles braucht. Euch aber muß es zuerst um sein Reich und um seine Gerechtigkeit gehen; dann wird euch alles andere dazugegeben.“ 128 Vgl. S. Garczyński: Wacława dzieje, op. cit., S. 14 (Kapitel – Wielki Piątek): „Od mleka matki waszej ziemi was odsadzę, / Kiedy litości ziemskiej, cnót w sercu nie macie.“

8. Vorlesung (5. März 1844)

1397

ihn zu trösten. Warum das? Weil er die Erde für seine Mutter erkannt hat, weil er auf nichts mehr baut und sich auf nichts mehr stützt, als auf die Mächtigen der Erde: das ist die Ursache, warum der Klerus den Schlüssel zu jener moralischen Macht verloren hat, welche den Menschen nährt oder ihm das Mittel offenbart, seine Nahrung zu finden, und zugleich die Energie einflößt, sich dieses Mittels zu bedienen; denn, wir haben es ja schon gesagt, nur der Mangel an moralischer Energie ist es, welcher uns des täglichen Brotes entbehren läßt. Nicht der körperliche Hunger allein verursacht die Selbstmorde und Ausbrüche der Verzweiflung. Der Mensch als Tier tötet sich nicht: ein Wilder, vom Hunger gepeinigt, lagert sich im Schatten und stirbt langsam und schweigend. Ein Mann aus dem französischen oder polnischen Volk, bis zu diesem Äußersten gebracht, wirft sich unruhig herum und quält sich in dem Maße, als sein Körper schwächer wird, entfaltet sich sein geistiges Leben, denn erträgt den Keim in sich. Er ist, wie wir, der Sohn mehrerer Geschlechter, welche über große Sachen nachgedacht und sie ausgeführt haben. Er erinnert sich an seine ganze Vergangenheit, er fühlt in sich die ganze Vergangenheit seines Vaterlandes. Er empfindet alsdann die nämlichen Bedürfnisse, und er sieht sich im Angesicht der nämlichen moralischen Gefahren, welche uns bedrohen und welche uns leiden lassen. Seine Schmerzen sind von derselben Natur wie diejenigen des besiegten Brutus, des in den Zweifel gefallenen Faust, oder des der philosophischen Verzweiflung zugeführten Wacław; und sie enden auf die nämliche Weise. Der Unglückliche, so gedrängt und verfolgt von dem physischen Schmerz, muß endlich diese Frage an sich richten: Warum habe ich so viel gelitten? Bin ich etwa schuldiger als diejenigen, welche des Lebens in Freude genießen? Oder bin ich nur unglücklicher? Gibt es einen Gott? Von dem Augenblick an, wo er diese Frage an sich richtet, ohne sie beantworten zu können, ist es um ihn geschehen, er muß umkommen, denn er hat Gott nötig, nicht aber einen geschichtlichen Gott oder einen aus Abstraktion; die Priester und die Philosophen geben uns aber heute nur einen geschichtlichen oder aus der Berechnung gezogenen Gott. Und der Unglückliche schreit mit Garczyński: […] Gdzie jest Słowo, co się stało Ciałem?129 Wo ist das Wort, das zu Fleisch geworden?

Die Mildtätigkeit der Priester, welche diese hinsterbenden Verzweifelten besuchen, weiß ihnen keinen anderen Rat zu geben, als diese Worte: „Duldet! 129 S. Garczyński: Wacława dzieje, op. cit., (Kapitel – Wielki Piątek), S. 12.

1398

Teil IV

Traget euer Kreuz, wie unser Heiland es getragen, und sterbet!“ Sterbet! Es trifft sich nun merkwürdig zusammen, daß die Priester das Nämliche sagen, ganz genau das Nämliche, was der Kaiser von Rußland in seinem berühmten Katechismus.130 Der Zar sagt daselbst zu unseren Landsleuten: „Polen! ahmet das Beispiel des Heilands nach, der unter der Regierung des Tiberius sich hat kreuzigen lassen und nicht ungehorsam wurde, sterbet!“131 Das ist es also, meine Herren, wozu man uns nach achtzehnhundertjährigem Walten des Evangeliums einlädt; wir sollen uns ruhig kreuzigen lassen! Hat man vergessen, daß der Gekreuzigte wieder auferstand, daß er versprach eines Tages siegreich wiederzukommen und seinen Dienern anbefahl, ihm sein Reich zu bereiten? Verkündet und erwartet seit so vielen Jahrhunderten, erschiene dieser König wieder, fände er wohl bereite Diener, ihn zu empfangen und für ihn zu kämpfen, um seinen Sieg zu sichern? Ein Sieg setzt das Bestehen einer tapferen Armee voraus, die bereit ist zu kämpfen, wenn es nötig ist. Wo ist diese Armee? Man wird doch wohl zum mindesten nicht glauben wollen, was einige Priester versichern, der Menschensohn werde für die Zukunft sich nur der Wolken und Blitze bedienen, um seinen Weg zu beleuchten und seine Feinde zu besiegen. Ein dermaßen unnützer Glaube ist, wie leicht einzusehen, gemacht worden, um die Angst des Klerus zu beschwichtigen. Und doch hätte man heutzutage Ursache, sich zu beunruhigen. Jesus Christus stürzte weder durch Wolken noch durch Blitze das Heidentum, sondern durch Apostel und Märtyrer, durch Männer von Fleisch und Blut. Um sein Reich zu begründen, wird er nochmals die Menschen berufen. Diejenigen, welche dulden und erwarten, sind die geborenen Krieger seiner Heerschar. Der Kirche hätte es obgelegen dieselben zu sammeln, sie geistig einzuüben und zu ernähren; statt diesem allen sagt sie ihnen: Sterbet! Verlassen nun die Unglücklichen die Pharisäer, um ihrer egoistischen Doktrin zu entgehen, wenden sie sich, nach Hilfe suchend, zu den Schriftgelehrten, das heißt zu den Männern der Wissenschaft, so empfangen sie eben so entmutigende Antworten. Jene fordern sie auf zu sterben, diese wünschten, sie möchten lieber gar nicht geboren sein. Jawohl, meine Herren, die Schriftgelehrten verweigern dem Unglück das Recht des Daseins. Die englischen und amerikanischen Staatsökonomen132 haben ihre Menschenliebe bis zu dem Punkt getrieben, daß sie Mittel erfanden und in Vorschlag brachten, das 130 Zitat aus Katechizm o czci cesarza Wszech Rossyi, op. cit.; konnte nicht überprüft werden; vgl. die 5. Vorlesung (Teil IV). 131 Zitat nicht ermittelt. 132 Thomas Robert Malthus (1766–1834). Vgl. T.R.  Malthus: An essay on the principle of population as it affects the future improvement of society, with remarks on the speculations of Mr. Godwin, M.  Condorcet, and other writers. London 1798; deutsch: Das

8. Vorlesung (5. März 1844)

1399

Anwachsen der Bevölkerung zu verhindern. Und worin bestanden diese Mittel? In der Unfruchtbarmachung der Ehe! Ungeachtet der französischen Pressefreiheit, welche häufig in Ausschweifung gerät, fand sich jedoch, Gott sei Dank, in Frankreich keine Feder, die niederträchtig genug gewesen wäre, es zu wagen, diese englisch-amerikanischen Erfindungen zu wiederholen. Dies ist eine tröstende und den französischen Volkscharakter ehrende Tatsache. Von den Staatsökonomen redend, wollte ich ihnen einige Stellen aus einem vor zwölf Jahren veröffentlichten polnischen Werk133 vorlesen, in welchem man das Unnütze und die Gefahren aller der staatsökonomischen Theorien nachwies. Heute ist dieses nicht mehr neu; ich muß aber, meine Herren, die Tatsache feststellen, daß die polnischen Schriftsteller zuerst das Falsche, was in der politischen Ökonomie vorhanden ist, angegriffen haben. Ich brauche nun nicht mehr den slavischen Text anzuführen, man hat schon dasselbe und sogar besser im Französischen gesagt. So eben las ich in der letzten Nummer der Revue Indépendante den Artikel des Herrn Vidal.134 Er beweist, daß die Staatsökonomen, nachdem sie so viele Systeme vorgeschlagen und so viele Bände herausgegeben haben, nicht einmal über die ersten Anfangsgründe ihrer Wissenschaft einverstanden sind. Sie wissen noch nicht, was eigentlich der Wert und was das Kapital ist. Sie gestehen ein, daß ihr Wissen nur eine Theorie ist. Mit der Praxis beschäftigen sie sich nicht. Sie machen keinen Anspruch mehr darauf, den Monarchen oder den Parlamenten Ratschläge zu erteilen. Doch dafür kennen sie sehr gut den Vorteil, welchen ein Mensch genießt, der ein Kapital besitzt, und sie sind verschwenderisch mit Ratschlägen für die Armen, das heißt für diejenigen, welche kein Kapital haben. Ihre Ratschläge, wenngleich auf verschiedene Weise formuliert, haben denselben Sinn wie diejenigen der Priester. Die einen und die anderen sagen: Armer Mensch, stirb. Der Mensch, welcher zur Welt kommt, ohne von irgendeinem Kapital begleitet zu sein, hat nicht das Recht zu leben. So lautet das Endurteil des Wissens der staatsökonomischen Schriftgelehrten. Das ist ihr theoretisches Dogma. Aber sie nehmen sich sehr in Acht, es in Ausübung zu bringen. Im praktischen Leben gehen sie ganz im umgekehrten Sinne ihrer Systeme zu Werke. Fragen sie zum Beispiel einen Staatsökonomen, wie er es anfängt, wenn er Kinder erziehen oder Freunde zu beschützen hat. Er wird ihnen antworten, daß man seinen Kindern ein Kapital versichert, indem man entweder im Schweiße Bevölkerungsgesetz. Herausgegeben und übersetzt von Christian M. Barth. München 1977; vgl. Helmut Winkler: Malthus – Krisenökonom und Moralist. Innsbruck-Wien 1996. 133 Nicht ermittelt. 134 François Vidal (1812–1872); vgl. seinen Aufsatz „Les Économistes libéraux et les socialistes. In: Revue Indépendante, tome douzième (25. 2. 1844), S. 433–462.

1400

Teil IV

seines Angesichts arbeitet, oder die Arbeiten seiner Tagelöhner überwacht und lenkt. Er weiß auch selbst hinzugehen, um Stellen oder Pensionen für seine Kinder, für seine Verwandten oder Freunde, wenn er sie hat, zu erbitten. Er weiß alsdann zu handeln. Nie kam einem Ideologen der Gedanke in den Sinn, ein Buch über Staatsökonomie zu veröffentlichen, um seinen Kindern ein Kapital oder eine Stelle zu verschaffen. Dieses beweist ganz einfach, daß die Ideologen ihre Kinder in der Tat lieb haben. Sie geben nur Bücher heraus, um dem armen Volk zu helfen! Bücher, welche das Volk sich nicht anschaffen kann, die aber zuweilen dem Staatsökonomen Gelder und Stellen eintragen. Besäßen die neuzeitigen Pharisäer und Schriftgelehrten die Einfachheit des volkstümlichen Gefühls von jenem Frankreich, dessen Instinkte unfehlbar sind, so hätten sie schon längst für das Volk das tägliche Brot gefunden. Ist es nicht augenscheinlich, selbst kommerzialisch gesprochen, daß der letzte Kampf135, welcher im Norden zwischen den Polen und Russen stattgefunden, daß die Begebenheiten, welche die Franzosen nach Italien136 riefen, der französischen Industrie und Arbeit ein weites Feld der Ausbeute und unzählige Märkte öffneten? Polen und Italien! Von der einen Seite diese Ebenen, deren unbegreifliche Fruchtbarkeit das Staunen unserer Dichter stets rege erhält; diese Felder der Ukraine, die fast nicht nötig haben, beackert zu werden; wo es hinreicht, die Erde ein wenig umzurühren und die Saat einzustreuen, um das kommen zu sehen, was Stanisław Trembecki die „babylonischen Ernten“137 nennt, Ernten, welche nur mit denen zu vergleichen sind, die uns Herodot138 beschrieben, ein Land, das einst der Speicher Europas genannt wurde: die Hand des französischen Proletariers hätte daselbst gewiß Beschäftigung gefunden; von der anderen Seite Italien, dessen Industrie und Handelsquellen fast ebensowenig in Frankreich bekannt sind wie die Reichtümer des Ackerbaus in Polen. Die 135 Novemberaufstand von 1830. 136 Gemeint ist die Rolle Frankreichs während des Aufstandes in Italien im Jahre 1831. Er begann am 5.2. 1831 in Bologna, wurde in Modena (Absetzung des Fürsten Francesco IV.) fortgesetzt und breitete sich in der ganzen Region aus. Man setzte in den befreiten Gebieten eine Regierung der „Vereinigten Provinzen Italiens“ ein. Durch den Eingriff der österreichischen Kräfte und aufgrund mangelnder Unterstützung seitens der Franzosen, die das Eingreifen duldeten und lediglich Ancona besetzten, wurde die revolutionäre Bewegung Ende März zerschlagen. Vgl. Giuliano Procacci: Geschichte Italiens und der Italiener. München 1983 (Kapitel: Die Julirevolution und Italien). 137 Stanisław Trembecki (um 1739–1812); vgl. sein zwischen 1802–1804 entstandenes Poem: Sofijówka, w sposobie topograficznym opisana wierszem przez Jana Nepomucena Czyżewicza. Wprowadzenie: Jerzy Snopek. Warszawa 2000, Vers  8: „Pomnożeniem dochodzą babilońskich plonów.“ (im Ertrag an die babylonischen Ernten heranreichen). 138 Herodot: Historien. Griechisch-Deutsch.  2 Bände. Hrsg. Josef Feix. Düsseldorf 2004, I. Buch, Kapitel 162–199 (Beschreibung des Landes, Sitten der Bewohner).

8. Vorlesung (5. März 1844)

1401

Geschichte des Direktoriums sollte dennoch im Stande sein, sie dem Gedächtnis der Staatsmänner wieder zuzuführen. Diese zwei großen Länder öffneten sich noch einmal Frankreich im Jahre 1830. La Fayette139 rief damals aus, die Trikolore wäre dort, Béranger140 sagte den Franzosen, ihre Ehre befinde sich dort. Aber die Pharisäer und die Schriftgelehrten sagten nichts dergleichen, sie fühlten nicht, daß dort, wo die Fahne und die Ehre waren, sich auch das tägliche Brot befand. Und doch, meine Herren, doch ist der Franzose keineswegs so von Gott verlassen, daß er es nötig hätte, anderswo sein Brot zu suchen als dort, wo seine Ehre und seine Fahne weht. Der Franzose wird aber von dem moralischen Hunger und von einem materiellen Hunger heimgesucht sein, bis er den Zweck seines nationalen Daseins erkennt und bis er endlich den einzigen Weg, welcher ihn zu demselben führen kann, wieder betritt. Allemal und so lange er diesen Weg verfolgte, fand er auf demselben Erleichterungen und Hilfsquellen, welche man in der modernen Sprache übernatürlich nennen könnte. Die Geschichte Frankreichs ist voll von Wundern. Wir machen häufig Anspielungen darauf (da ihnen die Geschichte Polens weniger bekannt ist), und zwar um ihnen die Wunder des Evangeliums zu erklären, Wunder, welche heutzutage, Dank sei es den Pharisäern und Schriftgelehrten, für die einen zu Fabeln und für die anderen zu Gegenständen des Ärgernisses geworden sind. Wir haben von den wunderbaren Wirkungen des belebenden Wortes, des Geistes, der sich zu Nahrung machte, gesprochen. Die Geschichte des Westens erzählt uns die Märsche und die Siege der Truppen und Armeen, welche zum Beweggrund der Tat, zum Stützpunkt und zur Nahrung nichts weiter besitzend, als nur den religiösen Geist, dem Hunger zu widerstehen und alle Arten der Mühen zu ertragen wußten. Lesen sie die Geschichte der Kreuzzüge. In dieser Beziehung zeigen sich die christlichen Völker den Kriegern des Altertums überlegen. Eine griechische oder römische 139 Marie-Joseph-Paul-Yves-Roch-Gilbert du Motier, Marquis de La Fayette (1757–1834), französischer General und Politiker. Äußerung aus der Rede vom 18.3. 1831; französischer Text dieser Rede vgl. Generał M.R. La Fayette o Polsce. Listy, mowy, dokumenty. Opracował Adam Lewak. Warszawa 1934, S. 18. 140 Vgl. den Refrain Hâtons-nous: l’honneur est là-bas (Beeilen wir uns: die Ehre ist dort) des Chansons „Hâtons-nous“ von Pierre-Jean de Béranger, in: Poniatowski. Hâtons-nous. Chansons dédiées au général Lafayette, premier grenadier de la Garde nationale polonaise, suivies du 14 juillet 1829, et des couplets A mes amis devenus ministres, par Béranger, membre du Comité polonaise. Par Béranger, Pierre-Jean de (1780–1857). Paris 1831, S.  15–16. Im Internet unter [http://gallica.bnf.fr]: „Ah! si j’étais jeune et vaillant, / Vrai hussard, je courrais le monde, / Retroussant ma moustache blonde, / Sous un uniforme brillant, // Le sabre au poing et bataillant. / Va, mon coursier, vole en Pologne; / Arrachons un peuple au trépas. / Que nos poltrons en aient vergogne. / Hâtons-nous; l’honneur est là-bas. […]“

1402

Teil IV

Armee von drei bis viermalhundert tausend Mann hätte sich nie in so abenteuerliche Unternehmungen eingelassen, ohne sich auf eine Operationsbasis zu stützen, das heißt, ohne Magazine und Lebensmittel zu besitzen. Eine römische Armee wäre unterlegen, hätte sie sich alle dem ausgesetzt, was die Kreuzritter in Palästina und die Schwertritter in Lithauen gelitten und überstanden haben. Die physische Kraft hätte dort augenscheinlich nicht zugereicht. Nun berichten uns aber die Chronikenschreiber jener Zeit, daß die dem Schein nach schwächsten und zartesten Krieger, die reichen und mächtigen Barone und Ritter, erzogen in allen Versteinerungen des Wohllebens, gerade diejenigen waren, welche am besten die Mühsale und den Hunger zu ertragen wußten. Mehr geistig entwickelt, verstanden sie es besser, dem Widerstand und den Bedürfnissen ihrer materiellen Natur zu trotzen und sie zu überwinden. Das Volk, erstaunt diese Ritter ein so hartes Leben führen zu sehen, glaubte endlich, ein jeder hätte zu seiner Verfügung irgend eine Fee oder einen Zauberer, welche ihnen für die ganze Dauer eines Kreuzzugs das Bedürfnis des Essens und der Ruhe durch ein Zaubermittel benähmen. Dieses ist eine Überlieferung, über die sich Cervantes141 lustig gemacht hat. Cervantes lebte aber schon in einer Zeit, wo man nicht mehr die Geheimnisse des Mittelalters begriff. Cäsar142 sagte seinen empörten Soldaten; er würde ihnen für den Fall, daß er sich außer Stand fände, sie mit Lebensmitteln zu versorgen, erlauben, ihn zu verlassen. Die Führer der neuzeitigen Armeen wagen es, die Soldaten den Qualen des Hungers auszusetzen, ohne sie deshalb zu berechtigen, ihre Fahne zu verlassen. In den Kriegen der Revolution hob man das moralische Gefühl des vor Hunger und Anstrengung dahinsterbenden Soldaten, indem man ihm die Marseillaise vorsingen ließ. Also war es doch das Wort, welches damals hin und wieder die Nahrung vertrat. Ich könnte ihnen zahlreiche Beispiele derselben Art anführen, welche der Geschichte des letzten polnischen Krieges entlehnt sind.

141 Miguel de Cervantes Saavedra (um 1547–1616); vgl. den Roman – El ingenioso hidalgo Don Quixote de la Mancha. Madrid 1605 und 1615 (dt. Der geistvolle Hidalgo Don Quijote von der Mancha. München 2008); vgl. Hans-Jörg Neuschäfer: Der Sinn der Parodie im Don Quijote. Heidelberg 1963. 142 „quin etiam Caesar cum in opere singulas legiones appellaret, et si acerbius inopiam ferrent, se dimissurum oppugnationem diceret, universi ab eo, ne id faceret, petebant:“ – (Ja, als Cäsar sich bei der Belagerungsarbeit an die einzelnen Legionen wendete und erklärte, er wolle die ganze Belagerung aufheben, wenn ihnen dieser Mangel zu empfindlich sei, baten sie ihn einstimmig, dies doch ja nicht zu tun;) – Caesar: De bello Gallico, VII, 17,4 [http://www.gottwein.de].

8. Vorlesung (5. März 1844)

1403

Ich weiß auch, daß es vergebens wäre nach den Berichterstattungen über ähnliche Wunder in den scholastischen Geschichten und denjenigen der Klerisei unserer Zeit zu suchen. Die Priester und die Ideologen finden sich selten in der Lage, keine andere Nahrung zu haben, als nur das Wort. Aber die Soldaten, welche sich dem häufig ausgesetzt sehen, haben uns die lebende Überlieferung eines der Geheimnisse des Glaubens bewahrt. In der Tat, zur Stunde, wo ich rede, sind es die Soldaten, welche uns das wahre Muster des vergangenen und zukünftigen Christentums darbieten. Der russische Soldat, geduldig, gehorsam, arbeitsam und voll Entsagung – ist das Ideal eines Mönchs der vergangenen Epoche, der französische Soldat, mäßig, unternehmend und tätig, stellt uns ein Muster des Klosterlebens der Zukunft dar: eines Lebens aus Spontaneität und Tätigkeit bestehend. Der eine und der andere haben die lebende Überlieferung der Wunder bewahrt. Die Geschichtsbücher der französischen Armee sind von Zügen der Großmut und der Aufopferung voll; und diese Blätter wären wohl im Stande, einen Christen zu erbauen. Man darf dieses nicht immer dem allgemeinen Fortschritt der zivilisierten Nation zuschreiben. Ziehen sie die anderen Völker zu Rate, sehen sie zum Beispiel, ob die Geschichte des neuzeitigen Englands irgendeinmal Züge dargeboten hat, welche diesen Charakter besäßen. England macht nicht einmal den Anspruch auf Großmut und ritterliche Aufopferung. Großmut und Aufopferung sind Tugenden, welche der Geschichte Polens und Frankreichs immer als charakteristische Merkmale eigen geblieben sind und es auch bleiben werden. Um dieses zu beweisen, brauche ich nicht mehr mich an ihre alte Geschichte zu halten. Die Gegenwart bezeugt die Vergangenheit. Wir erinnern uns alle Charakterzüge, die der schönsten Zeiten des Rittertums würdig sind, gesehen oder erzählen gehört zu haben. Während der Unruhen, welche die Stadt Lyon mit Blut röteten, wurde ein Soldat, nachdem er eine Schußwunde von Seiten eines Tagelöhners erhalten, von demselben gröblich aufgefordert, wieder zu schießen. „Töte mich!“ schreit der Arbeiter. – „Geh weiter“ antwortet der Soldat, „ich schieße nicht von so nahe“.143 Es ist sehr zweifelhaft, ob man eben so viele Milde in dem Herzen der Ideologen, der Theologen und der Zeitungsschreiber finden könnte; und besäßen ihre Federn die Kraft, den Tod zu geben, so ist es wenig wahrscheinlich, daß sie im Angesicht ihrer Feinde dafür sorgen würden, die Wirkung aufzuhalten, aus Besorgnis, von zu

143 Aufstand der Seidenweber in Lyon im November 1831; Mickiewicz bezieht sich hier auf die Lyoner Tageszeitung „Le Réparateur“ vom 25.5. 1834; vgl. L. Płoszewski, in: A. Mickiewicz: Dzieła. Wydanie Narodowe. Bd. XI: Literatura słowiańska, kurs czwarty. Warszawa 1955, S. 604.

1404

Teil IV

nahe zu treffen. Aber der Soldat und der Volksmann üben noch die politische Mildtätigkeit aus. Die Sachen sind selbst bis zu dem Punkt gelangt, daß im praktischen Leben, welches jedesmal zur Widerlegung der Theorie dienen wird, die Männer der Tat und der Arbeit viel näher der Wahrheit sind als diejenigen, welche sich im Besitz der Prinzipien der Wahrheit glauben. Aus Mangel von Anwendung werden die Prinzipien unfruchtbar. Die niedrigeren Klassen leiden zuerst dieser Unfruchtbarkeit wegen, da sie nicht mehr die Kraft und das Leben erhalten, welche fortwährend den Gipfeln der Gesellschaft, der Kirche und der Wissenschaft entfließen sollten. Die eine und die andere lassen sie gleichmäßig im Stich. Die Kirche läßt die Quelle des wirklichen Lebens versiegen und die Wissenschaft bringt alle Fragen in Anregung, ausgenommen diejenige, welche jeden Menschen in den entscheidenden Augenblicken seines Daseins bestürmen und welche in den Epochen der geselligen Umwandlung die ganzen Völker am meisten beschäftigen. Herr Vidal sagt in dem schon angeführten Artikel, daß vor der Beantwortung der Frage: Woher kommen wir und wohin gehen wir, es unnütz wäre, sich mit irgendeiner staatsökonomischen Frage zu beschäftigen. Er hat Recht. Man muß zuvörderst den Zweck unseres irdischen Daseins erkennen, um nachher zu beurteilen, ob dieser oder jener andere Weg, den man uns vorschlägt, uns von dem Zweck entfernt oder demselben nähert. Woher kommen wir und wohin gehen wir? Dies ist die Frage, die zuvörderst gelöst werden muß. Es genügt nun nicht mehr den Menschen zu sagen, sie kämen aus dem Nichts und gingen in den Himmel oder in die Hölle. Den Gelehrten hat es nicht genügt, zu wiederholen, daß unter unseren Füßen ein zentrales Feuer bestehe und daß oberhalb der Atmosphäre die Himmelskörper kreisen. Mit Hilfe ihrer Berechnungen steigen sie in die Tiefen der Erde herab und heben sich bis zu der Sonne hinauf. Welche Lösung haben sie aber herbeigebracht, um die Frage über das Glück der Menschheit zu entscheiden? Himmel und Hölle, das sind theologische Ausdrücke, an sich wahr und gerecht, welche uns aber gegenwärtig keinen hinreichend genauen Sinn mehr darbieten. Die Menschheit bedarf, und sie hat auch schon das Recht, etwas mehr über diese geheimnisvollen Reiche zu wissen. Es gibt tausend Fragen, die nicht gelöst, ja nicht einmal gestellt werden können, bevor wir nicht das Wort des großen Rätsels haben. Das slavische Volk, das religiöseste von allen Völkern, erwartet dieses Wort, die ganze Menschheit erwartet es desgleichen. Die französische Bewegung vom Jahre 1830, gefolgt von der Polens, erschütterte die Staaten Europas; sie zwang dieselben auf gewaltsame Weise aus ihren Stellungen in der Vergangenheit herauszutreten, ließ sie jedoch nicht vorwärts gehen. Die Revolution besaß damals nicht das große Wort der Epoche. Man fühlte es wohl, daß sie siegen könnte, aber sie besaß nicht die Kraft, zum Sieg

8. Vorlesung (5. März 1844)

1405

vorzuschreiten. Und was hätte man mit dem Sieg angefangen? Wozu hätten die Eroberungen genützt? Gewiß unterliegt es keinem Zweifel, daß man für den Augenblick materielle Vorteile errungen hätte, ebenso zweifellos ist es aber auch, daß man auf Europa alle die Doktrinen der Pharisäer und Schriftgelehrten gewälzt hätte, an welchen Frankreich selbst noch zu leiden hat, so kam es denn auch, daß die Revolution von selbst stillehielt und daß die Welt von neuem in die flache Ruhe versank. Die philosophischen und politischen Diskussionen bewegen zwar noch die Oberfläche derselben, aber, glauben sie mir, niemand wird es gegeben sein, sie von Grund aus durch rein menschliche Mittel aufzurühren. Jedem vorzeitigen Unternehmen stellt die Masse des Volkes und der Armee, in welcher wir den Keim der großen Kirche der Zukunft sehen, die unerschütterliche Kraft ihrer Inertie (Tatlosigkeit) entgegen. Schweigend erwartet die Welt ein Zeichen von Oben. Ebenso war es am Vorabend einer jeden großen Epoche. Dieses Schweigen ähnelt demjenigen, das der polnische Dichter Walenty Odymalski in seinem Messias144, und, später Friedrich Gottlieb Klopstock in seiner Messiade beschrieben hat. „Und es entstand, sagen die beiden Dichter, zur allerhöchsten Stunde der Kreuzigung des Heilands eine solche Stille in der Natur, daß jeder Hammerschlag, der auf die Nägel des Kreuzes fiel, in den Abgründen der Hölle, in den Höhen des Himmels widerhallte und deutlich in der Unendlichkeit gehört werden konnte.“145 Nur eine solche Stille ist fähig, die Menschen guten Willens vorzubereiten, um über erhabene Wahrheiten nachzudenken und sie zu empfangen. Man sieht die Schwierigkeit ein, von denselben zu reden! Fühlen werden sie daher, meine Herren, die Ursache, warum ich hier nicht die Zeilen der „Biesiada“ (Das Gastmahl) vorgelesen habe, und warum ich sie nur anzeige. Möge der Geist, der sie geschrieben hat, über denjenigen wachen, die sie lesen werden!

144 Walenty Odymalski (1620–1680); vgl. seine Messiade: „Świata naprawionego od Iezusa Chrystusa, prawdziwego Boga y człowieka, naywyższego Króla Królów, y Pana nad Pany etc. hystoryey świętey ksiąg dziesięć […] rytmem słowieńskim wyrażone.“ Kraków 1670 (oder 1671). Im Internet: [http://jbc.bj.uj.edu.pl/dlibra/]; die zitierte Stelle ist nicht zu finden. Über Odymalski vgl. Leszek Teusz: Mesjady polskie XVII stulecia: Bolesna Muza nie Parnasu Góry ale Golgoty …, Warszawa 2002. 145 Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1804); vgl. sein Epos „Der Messias“. (1748: 1.–3. Gesang; 1780: 1.–20. Gesang), das etwa 20 000 Verse umfaßt; Versmaß: Hexameter. Entsprechende Stelle nicht gefunden. Das Motiv der „Stille“ durchzieht das ganze Werk; vgl. 10. Gesang: „[…] Seitdem der Göttliche blutet, / Fühl’ ich in mir, wie soll ich es ganz und würdig Dir sagen? / Fühl’ ich so was Stilles und Friedevolles, das selber / Meine Wehmut, mit der ich ihn leiden sehe, besänftigt. / Rings ist Alles heilig um mich. Wohin ich mich wende, / Find’ ich des Ewigen Spur, des Allgegenwärtigen Nähe: / Ja, was Göttliches ist es, das mir die heilige Ruh gibt!“ [http://www.zeno.org].

9. Vorlesung (12. März 1844) Die wesentliche Frage. – Die amtliche Kirche und die Doktrin sind unfähig dieselbe zu lösen. – Daher kommt es, daß sie keine Autorität mehr haben. – Die Meinungen der russischen Schriftsteller über die Gefahren Frankreichs. – Von dem kriegerischen Geiste der Franzosen, sein christlicher Charakter. – Der Wert. Die Meinungen der Staatsökonomen von dem religiösen Gesichtspunkt aus beurteilt.

Wir trennten uns, meine Herren, diese Frage an uns richtend: Woher kommen wir und wohin gehen wir? Eine Frage, welche die amtliche Kirche und die Philosophie bestürmt, der Menschheit auch nicht eher Ruhe geben wird, bis die Antwort auf solche Weise erfolgt, daß sie die einmütige Zustimmung der Geister erhält, die fähig sind, sie zu begreifen. Da die alte Theologie der Geistlichkeit unseren religiösen Bedürfnissen nicht Genüge tut, bleibt uns nun die Wissenschaft der Laien zu befragen übrig. Hören wir daher die weltliche Doktrin, was sie uns über diese Frage zu sagen hat. Schon vergangenes Jahr durchliefen wir die Geschichtc der Bewegung des philosophischen Gedankens von Europa und stellten die wissenschaftlichen Ergebnisse derselben dar. Gegenwärtig handelt es sich darum, diese Resultate in ihrer Anwendung zu würdigen, die Philosophie vor den Richterstuhl unserer Gewissen zu rufen und mit Hilfe jenes praktischen Sinnes, den man Gemeinsinn nennt, sie von dem praktischen und volkstümlichen Gesichtspunkt aus zu beurteilen. Fordern wir demnach die spekulativen Philosophen, die Sozialisten und die Staatsökonomen auf, uns in verständlicher Rede zu sagen, ob sie selbst wissen und ob sie uns lehren können, woher wir kommen und wohin wir gehen. Der jüdische Philosoph Moses Mendelsohn146 stellt dieses Geheimnis als das einzige auf, welches der Mensch während seiner irdischen Laufbahn zu lösen berufen ist, und welches der polnische Philosoph Cieszkowski147 mit Recht als den Anfang und das Ende der ganzen Philosophie betrachtet. Gibt es also Gelehrte, welche sich damit beschäftigen, dieses Geheimnis zu durchdringen, so mögen sie uns zuvörderst sagen, welches der Beweggrund ihrer Untersuchungen ist? In welcher Absicht sie dieses Geheimnis Gottes wissen wollen? Ist es wirklich in der Absicht, ihre Handlungsweise der Erleuchtung gemäß einzurichten, welche ihre Vernunft erlangen würde? Denn nur diese Absicht könnte die Neugierde entschuldigen und sie selbst rechtfertigen. 146 Moses Mendelsohn (1729–1786); vgl. sein Werk: „Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele in drei Gesprächen.“ Berlin-Stettin 1767; neue Ausgabe: M. Mendelssohn: „Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele“. Hrsg. Anna Pollok. Hamburg 2013. 147 Vgl. die 22. und 23. Vorlesung (Teil III).

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_109

9. Vorlesung (12. März 1844)

1407

In den moralischen wie in den göttlichen Dingen hängt alles von der Absicht ab. Unsere Freundschaft, unsere Erkenntlichkeit für unsere Freunde und Wohltäter basieren auf der Absicht, die wir an ihnen bemerken oder die wir bei ihnen voraussetzen. Bevor wir uns jemand anvertrauen, trachten wir uns seiner Absichten zu vergewissern. Unser moralischer Instinkt, unser göttliches Prinzip dient uns hierbei als Führer. Gott selbst verfährt nicht anders. Gott enthüllt seine Geheimnisse dem Menschen nur insofern, als dieser es durch die Reinheit seiner Absichten, über welche seine Werke Zeugnis ablegen müssen, verdient. In dieser Beziehung ist es uns leicht, uns selbst zu beurteilen. Mögen uns diejenigen, welche schon eine lange philosophische und literarische Laufbahn durchgemacht haben, sagen, ob es ihnen nicht einmal zufällig begegnet, daß sie beim Anblick ihres Namens, in irgendeinem Zeitungsblatt eingerückt, alle die wichtigsten Neuigkeiten über Kriege und Verträge, über die Unfälle der Völker bei Seite lassen, um nur recht geschwind dasjenige zu lesen, was man über ihre Werke und ihre Personen schreibt. Derselbe Mann, welcher für die Verteidigung der Religion und Volkssache nur kalte Worte und vage Formeln besitzt, findet häufig seine ganze energische Kraft wieder, sobald man das Interesse seiner Partei oder seiner Individualität anrührt. Der Name einer Person, die ihm teuer, der Name eines populären Romanhelden macht sein Herz höher schlagen, als der Name Gottes und des Vaterlandes. Dieser Mensch hat sich selbst gerichtet. Und wenn sich die Sache so verhält, wie will man uns überzeugen, daß man die Entdeckung des großen Geheimnisses, das Wohl der Menschheit am Herzen hat? Wäre das Wohl der Menschheit wirklich der einzige Gegenstand, wonach die eifrig suchen, welche Bücher schreiben, so wären sie nicht so eifersüchtig auf ihren Ruf als Gelehrte; sie würden sich nicht so viel Mühe geben, sich die Priorität und das Eigentum der geringsten ihrer Entdeckungen zu sichern, sie geschwinde mit ihrem Namen und ihrer Individualität zu verketten. Bringt eine Idee der Menschheit Nutzen und hat ein anderer, als ihr, das Glück sie zu geben, warum beunruhigt ihr euch deswegen, ihr Gelehrten, ihr Freunde der Menschheit? Nahmen denn die Apostel Erfindungspatente für die großen Wahrheiten, die sie den Völkern überlieferten? Verlangen sie doch von einem solchen Philanthropen, von einem Menschheitsphilosophen (philosophe humanitaire) nur das Opfer seines Namens, bitten sie ihn, sein System unter dem Schleier der Anonymität zu veröffentlichen, und sie werden sehen, was seine Antwort sein wird. Wahr ist es, daß in dem Reich der exakten Wissenschaften die Erfinder sich beeilen, ihre Entdeckungen auszubeuten oder ausbeuten zu lassen. Dieses setzt sie in moralischer Beziehung keiner Gefahr aus; anders aber verhält sich die Sache in Hinsicht der philosophischen und religiösen Systeme, deren ganzer Wert und alle Schwierigkeiten in der Anwendung beruhen. Die Systemmacher

1408

Teil IV

wissen dieses sehr gut, und gerade diese Schwierigkeit ist es auch, die sie auf andere wälzen, erwartend, – welche seltsame Täuschung! –, daß irgendjemand den Mut und die Kraft habe, die ihnen fehlen, und daß dieser jemand sich zu ihrer Verfügung stelle. In dieser Beziehung kann man die Systemmacher in zwei Kategorien einteilen: die einen scheinen zu glauben, eines Morgens einmal werde ihnen ein Krieg oder ein Aufruhr die Gewalt und somit die Mittel in die Hände liefern, ihre Theorien anzuwenden: Männer des Zufalls und der Gewalttat sind nur insofern zu entschuldigen, als sie die Gefahren, welche sie hervorrufen, zuerst bestehen; die anderen, viel zahlreicheren glauben, die Regierung werde einmal, über ihre Pflichten aufgeklärt, sich beeilen, die Verbesserungen einzuführen, welche die Theorie ausgearbeitet hat. Sie warten demnach ab und fahren fort Theorien auszuarbeiten. Rechnen sie aber auf irgendeine gut gesinnte Regierung und auf ein künftiges, in Systeme verliebtes Ministerium, so sehe ich nicht ein, warum sie sich keine Mühe geben, die bestehenden Regierungen und Minister zu bekehren? Derselbe Vorwurf, welchen wir den Männern der amtlichen Kirche gemacht haben, erstreckt sich daher auch auf sie. Die Minister und im Allgemeinen alle diejenigen, welche handeln, lesen die Bücher nicht; sie haben keine Zeit dazu; sie vergessen selbst rasch alles, was sie gelesen; um sie zum Tun zu bewegen, muß man zu ihnen gehen, man muß mit ihnen kämpfen; man muß sich dem aussetzen, in seiner Eigenliebe gemißhandelt zu werden, man muß sich opfern. Die Kraft, die Ruhe, welche ihr in diesem Kampf mit dem Mann der Gewalt zeigt, werden den Maßstab für eure Absicht und für den Glauben, den ihr an eure Systeme habt, abgeben. Dieses ist’s nun aber, was die Verfertiger aller Systeme und aller Utopien aufs sorgfältigste vermeiden. Ein solcher Kampf ist ein Beginn der Realisation: und diese Realisation ist es gerade, die das Maß von dem angibt, was realisiert werden kann. Sieht man eine Absicht und eine Kraft in einem und demselben Geist vereinigt, so stellt sich dieses schon als eine vollbrachte Tat dar. Ein Mann, der auf diese Weise zu Werke geht, ist ein wirklicher Autor. Das auctor bezeichnete bei den Lateinern den Mann, welcher hervorgebracht hat, unter dessen Auspizien irgend eine Sache gemacht, nicht aber geschrieben worden ist, und welche auf diese Weise die Masse der gemachten Dinge vermehrt: auget. Diese Realisation ist es, welche mit einem Male dem Menschen die Autorität, die wirkliche Autorität, gibt. Man hat zwei sehr verschiedene Dinge mit einander vermengt: die äußeren Wahrheiten, die physischen, oder die teilweisen Wahrheiten, sei es der Vernunft, sei es des Gefühls, mit den wesentlichen und totalen Wahrheiten. Die Wahrheiten der Intelligenz verpflichten zu gar nichts: Niemand fühlt sich in

9. Vorlesung (12. März 1844)

1409

der Verpflichtung, sich kreuzigen zu lassen, um zu beweisen, daß dieses oder jenes Theorem der Physik oder der Mathematik wahr sei. Aber in den moralischen Wahrheiten verpflichtet im Gegenteil jedes Wort, jedes Wort macht verbindlich. Wir üben diese Anschauungsart der Dinge in unserem gewöhnlichen Leben aus. Man erlaubt einem Menschen von seinen Entdeckungen zu reden, von seinen physischen, mathematischen oder humanitären Systemen; man wird es aber nicht dulden, daß er von seinen Tugenden, von seinem Mut, seiner Großmut und seiner Liebe zur Menschheit rede, ohne im voraus davon Beweise abgelegt zu haben. Und was soll man nun wohl von Menschen sagen, die Systeme aufstellen, welche fähig sein sollen, die ganze Menschheit glücklich, gut und großmütig zu machen, ohne sich die mindeste Mühe zu geben, dieses Glück zu realisieren? Die Türken drücken die Idee, welche wir entfalten, mittels einer besonderen Überlieferung aus: die Türken erlauben nicht, daß man Gemälde und Statuen148 verfertige; sie sagen, der Künstler werde nach seinem Tod von allen diesen Bildern während der ganzen Ewigkeit verfolgt und die Statuen und Gemälde, welche er gemacht, werden von ihm verlangen, daß er ihnen auch Seelen schaffe. In den moralischen Wahrheiten ist man gehalten, alles dasjenige was man aufstellt, alles was man vorschlägt, zu realisieren, und früher oder später wird man auf die Probe gestellt werden, um zu zeigen, ob man auch die Absicht und die Kraft habe, es in Ausführung zu bringen. Die Wut, unnütze Raisonnements über die religiösen und geselligen Fragen zu machen, ein Wahn, welcher im allgemeinen das Ende einer Epoche bezeichnet, stellt ihnen klar heraus, warum weder die Männer der amtlichen Kirche, noch die Männer des amtlichen Wissens, die man Doktrin nennt, gar keine Autorität mehr haben; und gibt es keine Autorität mehr, so beginnt gewöhnlich die Diskussion. Die Diskussion ist keineswegs der geeignete Weg, uns der Wahrheit entgegenzuführen; sie zeigt nur den Mangel oder die Unzulänglichkeit der Kraft in den Menschen an. Befindet sich ein Fahrzeug unter der Leitung eines Kapitäns, der sein Handwerk versteht, so wird dieses Schiff zu einer vollkommenen Organisation, zu einer Organisation, die der des Menschen überlegen ist; auf demselben können tausend Menschen vorhanden sein, die alle arbeiten, um eine große Pflicht zu erfüllen, um an den Ort der Bestimmung zu gelangen; diese regelmäßige Arbeit schließt keineswegs die Ruhe aus; man hat Zeit, die Reife zu genießen, man amüsiert sich. Kaum aber hat der Schiffshauptmann 148 Vgl. Almir Ibrić: Das Bilderverbot im Islam. Eine Einführung. Marburg 2004; Silvia Naef: Bilder und Bilderverbot im Islam vom Koran bis zum Karikaturenstreit. München 2007.

1410

Teil IV

seinen Stern aus dem Gesicht verloren, kaum sieht man ihn mit unruhiger Hast nach seinem Weg auf der Karte suchen, so verliert auch seine Stimme, welche mächtig genug war, die ganze Schiffsmannschaft wie einen einzigen Mann manövrieren zu machen, ihre Kraft, die magische Wirkung des Kommandowortes; man erkennt an dem Ton, an dem Ausdruck dieser Stimme, daß es keine Autorität mehr gibt; bald kommt der Schiffsjunge, dann der Schiffsgelehrte und auch der Schulmann, sie schleppen die Bücher hervor und geben Ratschläge; nicht lange währt’s, so mischen sich selbst die Matrosen hinein. Dieses ist, in der politischen Sphäre, das Bild der parlamentarischen Regierung, dieses ist, in der religiösen Sphäre, der Kampf des Katholizismus und Protestantismus; das ist die Anarchie; das ist das Ende einer Epoche; das ist, was die heiligen Bücher das Ende der Welt nennen, denn es erlischt alsdann die Liebe, und die Kraft zieht sich zurück, oder sie wankt; dieses ist auch, was die heiligen Bücher ausdrücken, indem sie sagen: die Sonne (nichts andres als das Feuer und die Energie der Liebe) werde sich verfinstern und die Gestirne werden vom Firmament des Himmels herunterfallen. Denjenigen, welche diese Zeichen noch nicht gesehen haben, denjenigen, welche sie nicht begreifen, diesen Leuten hat man nichts zu sagen. Was uns betrifft, so dient uns alles dasjenige, was in den Seelen der Individuen vorgeht, die allgemeine Erschlaffung, der Zweifel, das Leiden, die allenthalben herrschende Unruhe und Beängstigung, zum inneren Beweis für die Überzeugung, daß wir uns einer universellen Umwälzung nähern. In ihrem Land, wo die Freiheit der Rede und der Schrift besteht, lesen sie dieselben Dinge in den Dichtungen und in den Zeitungen, nur in einer verschiedenen Sprache angekündigt. Schwierig aber ist es, bei den schweigsamen Völkern, wie die unseren sind, diese äußeren Zeichen herauszufinden, und dennoch stehen wir nicht an, zu sagen, daß diese Erwartung unter den Slaven allgemein ist, und dort vielleich sogar viel stärker als irgendwo anders, denn sie ruft eine unmittelbare Tat (un fait immédiat) hervor. Als geschriebenen Beweis bringe ich ihnen einige Zeilen mit, gezogen aus Werken, die von Russen veröffentlicht worden sind, Werken, deren Bestehen mir bis dahin unbekannt war und in denen ich viele Sachen, die wir hier ausgesprochen haben, wiedergefunden, diese Sachen sind sogar häufig auf die nämliche Weise ausgedrückt. Hören wir zum Beispiel, wie der Russe Serge d’Oubril in der Broschüre „Une pensée religieuse“, veröffentlicht im Jahr 1844 in Paris (Comptoir des imprimeurs réunis – Büro der vereinigten Drucker), spricht: Die Welt wird gegenwärtig von dem Durste nach Wahrheit gequält; alle Doktrinen sind tot; nur ihr leeres Nachbild erhält sich noch aufrecht. Warum sollen wir uns nur noch länger täuschen? Wir müssen den Mut haben, unserer Lage

9. Vorlesung (12. März 1844)

1411

ins Angesicht zu schauen, und sie uns freimütig einzugestehen, was können wir wohl bei einer Heuchelei gewinnen? Was mich anbelangt, so überzeuge ich mich, je mehr ich mich befrage und je mehr ich den Gang der Zeit und der Zivilisation erforsche, um so mehr, daß der Augenblick gekommen ist, wo wir ein neues soziales Gebäude erheben müssen. Dieses muß das Werk aller sein. Schon hat man angefangen die Trümmer abzutragen; es wird demnach der Augenblick kommen, den ersten Stein zu legen, dieses ist unsere nächste Zukunft.

Und weiter: Welche Nacht umlagert das Herz des Menschen! Welche Ideenverwirrung! Welches Durcheinandermischen der Grundsätze und der Meinungen! Wie viele blutige Kriege liefern wir uns nicht? Welche grausamen Zerfleischungen gehen nicht selbst am Herd des Lebens vor! O! wie wäre es schön, der leidenden Menschheit zu Hilfe zukommen, das Wahre vom Falschen, den Tag von der Nacht zu scheiden.149

Glaube man ja nicht, dieser Russe hoffe das Heil in irgendeiner politischen Reform, in dem reinen Wechsel einer Regierungsgestalt zu finden. Die denkenden Männer in Rußland sind bei weitem mehr vorgerückt, als man es glaubt. Und was das Volk anbelangt, so besitzt es jenen jugendlichen Eifer, der große Umänderungen hervorruft, der nach großen Taten verlangt und selbst den krassen Despotismus einer Regierungsform vorziehen würde, die darin bestände, zu reden und nichts zu tun, denn, meine Herren, die Doktrin ist nichts andres als die Form ohne das Leben, die Doktrin stellt in der politischen Sphäre dasjenige vor, was der Jesuitismus in der religiösen Sphäre darstellt. Sehen wir nun, was ein anderer, die Anonymität beobachtender Russe, dessen Namen zu verraten ich mir nicht erlaube, in einer zu Paris bei Paul Renouard veröffentlichen Broschüre in Bezug auf den Kampf zwischen Staat und Geistlichkeit sagt. Dieser Konflikt ist keineswegs nur eine Zeitfrage, eine Frage der Umstände oder der Zeitungen; sie sehen die Beweise, daß dieses eine universelle Frage ist. Der Russe legt in den Mund des Priesters diese Worte, die an die Männer der Doktrin gerichtet sind: Zugegeben, sagt der Priester, wir haben Unrecht, stolz zu sein; wir erkennen unsere Unterordnung […]; aber ihr, was gebt ihr uns an die Stelle unsers Glaubens? Welches Vertrauen wollet ihr, daß wir in eure Theorien; in eure Systeme haben? Wohin haben sie euch bis jetzt geführt? […] Der Golddurst, die Begier trocknen sie nicht etwa alle Seelen aus, dieselben selbst in ihren Augen 149 Serge d’Oubril: Une pensée religieuse. Paris 1844, S. 2–4; vgl. dazu L. Płoszewski: Adam Mickiewicz: Dzieła. Tom XI: Literatura słowiańska. Kurs trzeci i czwarty. Warszawa 1955, S. 605.

1412

Teil IV herabwürdigend und beschmutzend; […] Erzeugen sie nicht etwa im Schoße der Gesellschaft einen Antagonismus? usw. Vergleicht doch die unzusammenhängenden Resultate der traurigen, mit so vieler Mühe zu Stande gebrachten Werke eurer Redner und Utopisten mit unserm Glauben, mit dem Heil, das wir euch bieten! Und ihr wollt, daß wir uns mit euern politischen und sozialen Gesetzen begnügen, daß wir uns trösten mit der Aussicht, ein Gesetz über die Eisenbahnen, ein andres über die Vergesellschaftungen (associations) zu erhalten, um in letzter Instanz zu gelangen, zu wer weiß was für eine Republik? O! die schöne Vergeltung! Wie? Habt ihr denn die Republik nicht fungieren gesehen; habt ihr nicht etwa die Resultate unter eueren Augen?150

Und dieser Russe hat Recht, denn am Ende würde die politische Form alles ausmachen; wäre irgend eine Regierung im Stande, alle die Fragen zu lösen, die uns beschäftigen, so wären sie bald gelöst. Wir besitzen in Europa alle Regierungsformem vom Despotismus des Kaisers Nikolaus angefangen bis auf die reine Demokratie der kleinen Schweizerkantone, und etwas weiter noch die patriarchalische Regierung unserer slavischen Geschlechter von Montenegro; wir hätten somit nur die Mühe, hinzugehen und dieses verkörperte Wissen, welches diese oder jene politische Form ausmacht, zu schöpfen, ein Wissen, welches die Staatsmänner aller Länder noch erst zu finden haben. Meine Herren, es handelt sich hier keineswegs darum, die Männer, welche die amtliche Kirche und die ohnmächtige Doktrin darstellen, zu beleidigen; man kann ihnen nur gerechter Weise einen sehr schweren Vorwurf machen. Diese Männer sagen, wir tun, was in unserer Macht ist, wir veröffentlichen Bücher, wir geben Ratschläge. Man könnte ihnen also vorwerfen, daß, da sie doch nicht sicher sind, ob dasjenige, was sie lehren wollen, die Wahrheit ist, sie nur das Volk irreführen und es daran hindern, die Wahrheit da zu suchen, wo sie vorhanden ist. Wir verdammen sie nicht, denn wir kennen die ungeheure Schwierigkeit, die es macht, auch nur die kleinste Wahrheit zu finden. Diejenigen, welche sie offenbaren, sind so selten! Derjenige, der einzige von allen, welcher die Wahrheit besaß, welcher sie realisiert hat, Jesus Christus, ist wirklich der einzige von allen Offenbarern, welcher nichts geschrieben. Über diese Tatsache sollte man nachdenken, man sollte hieraus den Schluß ziehen, daß der Mann, welcher Bücher verfaßt hat, nach der Wahrheit vielleicht sucht, aber sie nicht gefunden hat, denn hätte er sie gefunden, so würde er sie schon in seiner Person und in den Institutionen, die er begründet hätte, realisiert haben.

150 [Serge d’Oubril]: Quelques idées à propos du conflit entre l’État et le Clergé. Paris 1844, S. 5–6; anonym veröffentlicht; alle folgenden Zitate konnten nicht überprüft werden.

9. Vorlesung (12. März 1844)

1413

Folglich hindern nur die Männer, welche in den so ernsten Epochen, wie die unsrige ist, das Volk den Büchern zutreiben, dasselbe, die Aufsuchung der Wahrheit fortzusetzen. Und wer kann uns versichern, ob nicht dieser Mann aus dem Volk, den man irreführt, ihm bald diese oder jene Reform, bald diese oder jene Institution, bald die Realisierung dieser oder jener Entdeckung versprechend, ob nicht dieser Mann des Volkes sich selbst überlassen, zu jenem Gott rufend, in dessen Augen es kein Vorrecht gibt, gerade diese Wahrheit gefunden hätte, nach welcher der Gelehrte umsonst sucht? So sind also die Arbeiten der Doktrinäre und der amtlichen Kirche nur eine fortwährende Verschwörung, um die Seele des Mannes aus dem Volk von dem Weg, auf welchem er die Wahrheit finden könnte, abzulenken. Ein solcher Zustand der Dinge bezeichnet besser, denn jedes andere Symptom, das Ende der Epoche. Ein solcher Zustand der Dinge führte einst die Barbaren den zivilisierten Ländern zu. Wir können gegenwärtig sogar begreifen, wie in den Einbrüchen dieser Barbaren Vorsehungsartiges gewesen ist. Als Griechenland, verwandelt in eine Menge von Schulen, seine Zeit und Muße dazu verwandte, Regierungsformen zu erfinden und die Herrlichkeiten dieses und jenes Raisonnements auseinanderzusetzen, welche in Anwendung zu bringen man sogar nicht im Sinne hatte, da kamen der römische Prätor und Konsul herbei, um die Ordnung inmitten dieser redseligen Städte aufrecht zu erhalten. Als viel später in dem III. und IV. Jahrhundert die Griechen zu Christen wurden, aber unglücklicherweise bloß dem Namen nach Christen, und die philosophischen Diskussionen zu verfolgen fortfuhren, dieselben nur mit Theologie untermischend, da schickte ihnen die Vorsehung den Islamismus; denn welch anderes Mittel gab es wohl, diesen intellektuellen Sumpf zu füllen, von wo aus das Gift sich verbreitete und damit geendet hätte, die ganze Welt zu verpesten? Diese ungeheuren Städte, welche Kleinasien bedeckten, reich an Bevölkerung, denn sie zählten drei bis viermalhunderttausend Einwohner, und auch von Denkmälern aller Art gefüllt, diese Bevölkerung, die sich einerseits gegen Mittelasien und andrerseits bis an das felsige Arabien erstreckte, die Denkmäler hinterlassen hat, welche die Einbildung selbst übertreffen, diese Bevölkerung hatte den Tod verdient, denn sie machte sich aus der Bewegung der Vernunft allein ihren Götzen, ihren Gott; sie führte die Menschheit darauf hin, ihr Heil in den Pergamenten zu suchen, denn sie strebte darnach, die Menschheit in ihre unentwirrbaren Formeln zu verstricken; so fand sich Griechenland zur Zeit schwach, reich an Worten, unfähig zur Tat; da kam der Islamismus, dieses Feuer der Wüste, um jenes trockene Kraut zu verbrennen. Bedauern wir doch nicht diese Wasserleitungen in Trümmern und diese riesenhaften zerstörten Städte; die Seele des Menschen ging daselbst der

1414

Teil IV

Versteinerung entgegen, so wie sie sich gegenwärtig in einigen Städten Italiens versteinert, die einer schrecklichen Zukunft ausgesetzt sind. Dieses wäre unausbleiblich das Schicksal der Völker des Westens, wachte die Vorsehung nicht über uns. Die Menschen, welche Systeme bauen, soziale Wahrheiten erfinden, ohne irgend etwas getan, ohne irgend etwas gewagt zu haben, das sind gerade die Menschen, welche euch die Barbarei auf den Hals rufen. Ein Russe warnt euch hierüber in dieser Broschüre. Er sagt, daß, sobald die Kirche nicht ihre Pflicht tut (und wir haben gesehen, daß sie nicht im Stande sein wird, dieselbe zu tun), und fährt der Westen fort sich in Disputen aufzureiben, dann wird eine Kirche erstehen, die sich aus all den hervorleuchtenden Männern der Zeit, aus all dem was edles, großmütiges, aufgeklärtes, freimütiges, aufrichtiges, mutiges vorhanden ist, zusammensetzen wird, und in diesem Kampfe werden die Glückseligkeit Frankreichs und seine hohe soziale Stellung untergehen.151

Ein anderer Russe sagt: „Genug schon der Kriege wie diese da; es handelt sich gegenwärtig nicht mehr darum, die Moskowiter zu besiegen …“152 Nur hätte er hinzufügen sollen, daß es sich ebensowenig darum mehr handle die Polen und die Tschechen einzubeziehen und zu unterdrücken; er hätte den Mut haben sollen, dieses zu sagen. Wir, die wir von diesem Volk stammen, das sich im Kampfe gegen Rußland aufzehrt, wir, die wir jene Geschlechter fortsetzen, von denen der Dichter Garczyński sagt: Daß sie eines nach dem anderen wie „in einem Opferfeuer sterben“ („ginie jak w ogniu ofiary“)153, wir haben den Mut gehabt, zu sagen, daß wir keinen Haß gegen Rußland hegen. Rußland bedarf unser; Rußland wird ohne Polen sein Joch nie abschütteln können; Polen und Rußland bedürfen Böhmens, und wir alle, wir bedürfen Frankreichs, man wird ohne Frankreich nichts ausrichten. Der Russe sagt es auch. Sehen wir, wie er seine Broschüre endet:

151 [Serge d’Oubril]: Quelques idées à propos du conflit entre l’État et le Clergé, op. cit. S. 323–328. 152 Gemeint ist Serge d’Oubril (Une penseé religieuse, op. cit.); das Zitat ist unvollständig; vgl. dazu L. Płoszewski – A. Mickiewicz: Dzieła. Tom XI: Literatura słowiańska. Kurs trzeci i czwarty. Warszawa 1955, S. 606. 153 Stefan Garczyński: „Do ludów“. In: Poezye Stefana Garczyńskiego. Tom II. Paryż 1833, S. 95: „Patrzcie, o patrzcie, jako bez miary / Krew nasza płynie strumieniem, / Już pokolenie za pokoleniem / Ginie jak w ogniu ofiary, / A wy płaczecie! […].“

9. Vorlesung (12. März 1844)

1415

Möge sich diese Wahrnehmung nie realisieren! Möge für immer von Frankreich eine so beweinenswerte Zukunft abgewendet bleiben! […] Alsdann, und durch Frankreich, wird eine neue Ära des Glückes der ganzen Menschheit beginnen.“154

Es war also nicht die Stimme eines Einzelnen, welche ihnen so viele Male die nämliche Sache gesagt und wiederholt hat, es ist dieses die Stimme einer ganzen Rasse; auch ist es keine Theorie, es ist ein Bündnis, das man ihnen vorschlägt, das man Frankreich anträgt, ein Bund der Zukunft, ein Bund, basiert auf anderen Prinzipien als diejenigen sind, welche gegenwärtig die Welt regieren. Jawohl! Die Zukunft, welche der Russe fürchtet, die für Frankreich so unheilvolle Zukunft, wird nicht kommen, denn das Christentum hat, wie wir es bewiesen haben, nicht aufgehört in Frankreich zu wirken. Griechenland war in allem dem erstorben, was es erzeugt hatte; in seinen Schulen, in seinen Munizipien, in seinen Armeen; in Frankreich lebt der militärische Geist stets fort, und ich habe ihnen bewiesen, daß er die reine Überlieferung der christlichen Kirche aufbewahrt, die reinste, die vielleicht gegenwärtig auf der Erde besteht; der französische Militärgeist ist der Sohn des ritterlichen Geistes und der Enkel Jesu Christi. Auf diesem militärischen Geist dürfen alle Hoffnungen der großherzigen Männer Russlands, Polens und Böhmens basieren; dieser Geist ist auch noch dasjenige, was den moralischen und religiösen Wert Frankreichs ausmacht. Dieses führt uns dem Mittelpunkt unserer Frage zu; und hier wird es angebracht sein, von dem materiellen Wert Polens zu reden. Ich habe ihnen letzthin gesagt, daß wir es den Doktrinären zu verdanken haben, wenn man in staatsökonomisch-politischer Hinsicht selbst die Idee des Wertes verloren hat. Was ist der Wert? Man sagt, es sei dies die Quantität der Dinge, die man zum Austausch haben könnte, so daß, wenn ich keinen Markt habe, ich auch keinen Wert besitze. Ich führe ihnen keine anderen Definitionen an, welche den Wert bald in der Mode, bald in der Arbeit sehen, bald auch wieder besagen, selbst nicht genau zu wissen, was den Wert der Dinge ausmache. Befragte man aber die Sprache des Volkes, die so wahr ist, man würde bald die wirkliche Definition des Wortes Wert finden. Was versteht das Volk unter dem Ausdruck: ein wertvoller Mann. Es erkennt in diesem Mann den moralischen Wert an, die virtus der Römer, den kriegerischen Wert endlich. Nun, meine Herren, dies ist auch der einzige wahre Wert und zu gleicher Zeit die Quelle aller materiellen Werte. Ich werde ihnen dieses klar machen, und ich habe sogar 154 [Serge d’Oubril]: Quelques idées à propos d’un conflit entre l’Etat et le clergé, op. cit., S. 343–350.

1416

Teil IV

einen Grund, es zu tun. Boiste definiert, der Wert sei die Energie des Handelns (l’energie d’action).155 Die Energie kommt vom Geist her, sie entspringt aus dem inneren Menschen: so also macht den Wert jede Bewegung dieses Menschen aus. Diese Bewegung, der Erde zugewandt, als landbauende Arbeit, gibt der Erde den Wert, den Erfindungen, den Entdeckungen zugewandt, gibt sie ihnen ihren respektiven Wert (jedesmal, wenn diese Arbeit nach dem Willen Gottes geschieht, denn es gibt, was die Staatsökonomen nicht wissen, auch falsche Arbeiten: zum Beispiel ein Mensch, welcher im Augenblick, wo es für sein Volk gilt zu sein oder unterzugehen, sich mit Maschinenbauen beschäftigen würde, dieser Mensch, sagen wir, würde eine falsche Arbeit verrichten und welche den Segen des Himmels nicht hätte). Dieser innere Wert erzeugt ein Gemälde, das zuweilen eine Million kostet. Walter Scotts Werke haben mehre Millionen in Umlauf gesetzt. Dieser Wert endlich gibt, als militärischer Wert, einem Volk die Gewalt über die anderen Völker, und somit auch über alle die Werte, welche von diesen Völkern vergegenwärtigt sind. Endlich ist es der in die Augen fallende Wert: eine tapfere Nation bemächtigt sich der staatsökonomischen Werte. Also ist der Wert nichts anderes, als nur die Bewegung des Geistes, und er vergegenwärtigt im Begriff auch alles dasjenige, was die Bewegung des Geistes anregt. Sobald die Menschen nicht im Stande sind, unsere Seelen anzuregen, alsdann übernimmt die Natur dieses Geschäft; auch sie hat einen Wert. Die Landschaften haben einen Wert, die Staatsökonomen wissen zwar hiervon nichts. Man kann einen Wert in der Lage einer schönen Landschaft finden, weil sie unsere Seele anregt: in der Schweiz werden die Örtlichkeiten (Lokalitäten) nach ihren mehr oder weniger pittoresken Lagen abgeschätzt. Woher kommt der Wert des Diamanten? Er kommt daher, weil er die mysteriöse Kraft besitzt, uns bei seinem Anblick erbeben zu machen. Das Theater hat einen großen Wert. Ich wiederhole es ihnen: der Wert des Mannes, der einen höheren Grad der Energie erreicht hat, macht ihn zum Herrn des Wertes der anderen. Ich habe einen Grund, dieses zu sagen, weil man das slavische Volk schlecht beurteilt, und weil es unmöglich ist, den Wert eines Volkes und eines Menschen zu kennen, ohne den Maßstab seiner Seele zu besitzen. Der größte Wert, der bei einem Volk besteht, ist seine Kirche, sein Altar; denn von dorther kann es schöpfen, dort kann es die größte Masse der Kraft nehmen, die es wirken macht. Jawohl, der Wert dieser ganzen Erde, ich wiederhole es, der ganzen Erde, kann von einem einzigen Individuum vergegenwärtigt werden. Ich will dazu selbst die Sprache der praktischen Männer, der 155 Vgl. das Stichwort valeur in: Pierre-Claude-Victor Boiste: Dictionnaire universel de langue française. Paris 61823, S. 692.

9. Vorlesung (12. März 1844)

1417

Maschinenbauer anwenden: was vergegenwärtigte unser Heiland in seiner Person? Sollen wir uns herablassen den Materialisten davon zu reden, so werden wir sagen, daß er in seiner Person den Wert aller der Klöster, die später zu seiner Verehrung gegründet wurden, den Wert aller Schlösser des Mittelalters, den Wert aller den Sarazenen abgenommenen Länder vergegenwärtigte: das sind unermeßliche Werte! Ist es also der Geist, welcher den Wert ausmacht, so ist es Gott, der ihn gibt, und das ist allein der einzige wahre Wert. Hier sind wir verpflichtet, meine Herren, noch eine Klage vor den Richterstuhl Gottes, die letzte und feierlichste, gegen die Männer der amtlichen Kirche zu führen. Sie sind es, welche den Menschen die Idee des Wertes haben verlieren lassen, denn Gott besteht unter ihnen, Gott wohnt auf ihren Altären; warum haben sie der Menschheit die Realität dieses Daseins nicht beweisen können? Wie geschieht es, daß man nach achtzehnhundert Jahren dieses Vorhandensein Gottes nur durch Bücher beweist und daß man selbst die Idee von dem Mittel nicht mehr besitzt, es zu beweisen. Ach! Mein Gott! In England zeigt man den Reisenden im Münzpalast einen Zettel vom Wert, ich glaube, einer Million Pfund oder 25 Millionen Francs, und alsdann sind diejenigen, welche sich nähern, von einer Art Scheu und Respekt ergriffen; man gewahrt auf ihren Gesichtern das Ungeheure des Wertes, der an dieses Papier gebunden ist. Ach! Meine Herren, haben sie gesehen, haben wir alle in den Augen, auf dem Antlitz und in der Gebärde der Männer, die dem Heiligen der Heiligen sich nähern, diesen offenbaren Beweis gesehen, den einzigen, welcher auf unmittelbare Weise der Seele des Beobachtenden sich mitteilen könnte? Nein! Ich fürchte es nicht zu sagen, nein! Haben sie wirklich den Glauben, daß Gott der lebendige und starke, die Quelle aller Kraft, alles Lebens und aller Tugend, dort wohnt? Sind sie bereit, sich in jenem Augenblick kreuzigen zu lassen, um die Wirklichkeit der Gegenwart dieses Gottes zu beweisen? Mögen sie antworten. Was ich ihnen jedoch sagen werde, ist, daß der Mensch, welcher diesen Glauben hat und welcher bereit ist, alles zu wagen und alles zu erdulden, um ihn zu beweisen, daß dieser Mensch allein das Geheimnis besitzt, bis auf den Seelengrund der Männer der amtlichen Kirche zu lesen. Sie haben uns gelehrt dort Gott zu sehen, sie haben aber nicht bewirkt, daß wir es fühlen. Und die Epoche ist gekommen, wo es sich darum handelt, diese Wirklichkeit zu beweisen; Frankreich ist ganz besonders dazu berufen. Frankreich wird ohne Jesus Christus, ohne den Geist Jesu Christi nichts zu Stande bringen. Als Nation bewies Frankreich in seinem politischen Leben die Wahrheit der Lehren Jesu Christi, häufig ohne sein Wissen selbst; heute wird es seine wirkliche und unmittelbare Gegenwart beweisen; Frankreich muß es beweisen, indem es die innigste Überzeugung von dem, was es tun wird, besitzt. Wir wiederholen es aber, Frankreich wird nichts ohne Christum den Herrn verrichten; nur

1418

Teil IV

der Geist Jesu Christi, der Geist aller Kraft, aller Tat, aller Energie, machte es, daß Frankreich von den fremden Völkern, von den glaubenden Völkern, von den slavischen Völkern, begriffen und bewundert ist. Ich habe ihnen gesagt, daß mehre philosophische und staatsökonomische Fragen leicht durch den französischen Degen gelöst sein würden; ebenso auch werden die großen Mysterien der katholischen Religion für die Vernunft zugänglich und selbst tastbar sich erweisen; zuvor aber müssen gewisse Akte von der französischen Nation vollführt sein. Sie war uns schon behilflich die Reliquien und das Wirken der Geister zu erklären, sie half uns unsere Ideen, unsere Gedanken in einer volkstümlichen Sprache auszudrücken, sie wird der Menschheit gegenwärtig helfen, die Mysterien der Sakramente zu begreifen. Was gibt es wohl unbegreifliches in diesen Mysterien für einen Mann von gutem Willen? Ich muß bei dieser Frage verweilen; für einen Slaven ist dieses eine Lebensfrage; sie macht das Band aus, welches uns einstens mit Frankreich verbinden wird. Unser Bund kann nur im Geiste Jesu Christi gegründet werden. Ich habe ihnen gesagt, es gäbe für einen Mann, der guten Willen hat, in den christlichen Mysterien nichts, was undurchdringlich und unbegreiflich wäre. Der Mann, welcher am mächtigsten auf die Geister gewirkt, Napoleon, hatte das tiefe Gefühl von dem, was sich Geheimnisvolles und Sakramentales in gewissen Lebensakten vorfindet, gehabt. Er begriff es, daß diese Akte dem Menschen eine neue Gabe, eine neue Macht, mitteilten. So gab es Polen, einfache Soldaten, welche Napoleon auf dem Schlachtfeld zu Generalen machte. „Ihr habt, sagte er ihnen, die Taufe des Blutes und des Feuers erhalten.“ Eine einzige große Handlung hob diese Männer und ließ sie ihren wahren Namen finden, denjenigen der Generale. Und sah man nicht tausendmal auf dem Schlachtfelde, wie nur die Gebärde Napoleons, die Art, wie er auf die Schulter des Soldaten klopfte, diesen Soldaten einen neuen Lebensstrom mitteilten? Es war dieses eine wirkliche Konfirmation, der Soldat fühlte sie wahrhaft in sich; man sah ihn auch in Tränen, die von den Augen seiner Grenadiere flossen, die alsdann unwiderstehbar und schweigend wie Kanonenkugeln auf den Feind losgingen. O! christliche Bischöfe! Hättet ihr dieses beobachtet, hättet ihr nachgedacht über die Ursache, woher eine solche Kraft kam, vielleicht hättet ihr jene Gewalt wiedererhalten, welche einstens dem Christen durch den Akt der Konfirmation zu fühlen gab, daß er wirklich in seiner Kraft und in seinem Glauben gestärkt war. Der Charakter dieser Epoche ist ein solcher, daß es die Tat ist, welche den Mysterien vorangehen und sie erklären soll. Ich habe gesagt, Frankreich sei dazu bestimmt, denn dasjenige, was wir den Wert, das heilige Feuer nennen,

9. Vorlesung (12. März 1844)

1419

dieser Wert, sage ich, macht das nationale Element der Franzosen aus. Bemerken sie es nicht an ihrem verfeinerten Organismus? Sie sind fast körperfrei, entmaterialisiert, der Geist hat den Körper schon aufgerieben, dieser Geist, dieser einzige wahre Wert, wird schon von Frankreich vergegenwärtigt; der Franzose hat schon seine Realisation auf Erden erreicht und verlangt nur angewendet zu sein. Haben sie den feurigen Blick dieses Volkes beobachtet? Als ich sagte, die Franzosen hätten in unseren Gegenden des Nordens ihr tägliches Brot gefunden, fügte ich nicht hinzu, daß sie dieses Brot mit dem Feuer ihres Blickes gezahlt hätten! Das Feuer wirkt aufs Feuer, es entzündet das Feuer; das slavische Volk braucht dieses ganze Feuer, diese ganze Flamme. In der Seele eines solchen und solchen französischen Arbeiters gibt es genug Feuer, um einen ganzen slavischen Bezirk zu elektrisieren und ihm die Energie zu geben. Dominique Dufour de Pradt156, euer Diplomat, hat es in seinen Werken beobachtet, daß je mehr man nach dem Norden vorrückt, die Augen der Menschen glanzloser werden: diese Beobachtung ist richtig. Das göttliche Element der Slaven ist in ihren Seelen verborgen; noch haben sie damit zu schaffen, um es in ihre Organisation überzuführen. Dieses Element bricht schon in den Blicken der Franzosen hervor. Dieses göttliche Feuer ist es, welches das letzte Resultat, das reinste und das heiligste der nationalen Arbeit Frankreichs ausmacht, dieses Feuer, diese Gabe des Himmels, macht die geheime Form jeder großen Nationalität aus; es ist das Feuer des Prometheus der alten Mythologie; das Feuer, welches Elias auf den Altar herabsteigen machte; das Feuer, vergegenwärtigt von Vesta und bewacht von den Vestalinnen unter Todesstrafe, unter der Strafe, lebendig begraben zu werden, wenn sie es ausgehen ließen. Glücklich die Völker, die es bewahrt haben! Daher kommt auch ihr Sympathie erregender Charakter. Selbst Eure Feinde gestehen euch Franzosen! diesen Charakter zu. Die Engländer sagen, ihr seid ein sympathisches Volk! die Deutschen sagen es auch, aber sie fügen im Stillen hinzu: was uns betrifft, so brauchen wir nicht sympathisch zu sein. Mitnichten, sie müssen es werden, oder sie müssen ihre Unterordnung eingestehen: es gibt kein wirkliches Bündnis mit Frankreich als um diesen Preis; es muß die feindliche Macht, von England und dem russischen Gouvernement vergegenwärtigt, ihre Unterordnung eingestehen; und wenn die Zeit wird gekommen sein, wo Frankreich seine Schuldigkeit wird getan haben, alsdann wird es den Engländern erlauben, bei sich die Kanäle und Eisenbahnen zu führen, weil sie sich besser auf diese Arbeiten 156 Dominique Dufour de Pradt (1759–1837), Gesandter Napoleons in Warschau 1812; vgl. sein Buch – „Histoire de l’ambassade dans le grand-duché de Varsovie en 1812.“ Paris 1815; deutsche Übersetzung – „Geschichte der Botschaft im Herzogthume Warschau im Jahre 1812.“ Wien 1816.

1420

Teil IV

verstehen als die Franzosen. Niemand aber kann dem Erdteil dieses Feuer geben, das die Vorsehung in den Busen des französischen Volkes niedergelegt hat; darum auch wird dieses Feuer alle seine geheimnisvollen Tugenden, alles dasjenige, was das Wort ausmacht, wiederfinden. Ich habe meinen Vortrag in diesem Hörsaal eröffnet, indem ich sagte, Paris sei die Hauptstadt des Wortes157, und zwar des Wortes in allen seinen Bedeutungen, des Wortes als schöpferische Kraft, als Feuer, als Nahrung, als kriegerischer Wert. Jawohl ist es eine Hauptstadt, sie ist aber noch ihres Herrschers, welcher der heilige Geist ist, bar und ledig. Das Wort selbst reicht nicht mehr für die gegenwärtige Epoche aus. Das Leib gewordene Wort Gottes (le Verbe) ist der Souverain, der Schöpfer des Wortes; und es bleibt uns noch von dem Fleisch gewordenen Wort (du Verbe) zu reden übrig.

157 Vgl. 1. Vorlesung (Teil I).

10. Vorlesung (19. März 1844) Der Meister

Die Untersuchung über den materiellen Wert und seine Natur, so wie auch über den Geist, welcher die einzige Quelle desselben ist, führt uns in logischer Aufeinanderfolge einem Problem zu, das einer höheren Ordnung angehört, demjenigen nämlich der Beziehungen des menschlichen Geistes zu allem, was Leben hat und nicht Mensch ist, zu der ganzen Tier- und Pflanzennatur. Der Mensch weiß, daß er der König der Natur sei, er wußte dieses sogar in der Zeit, als er noch selbst Sklave war: dessen ungeachtet, nach allen Kräften arbeitend, um frei zu werden, fährt er fort, sein königliches Handwerk gegen die niedrigeren Geschöpfe auszuüben, nach der Art der Negerkönige und der wilden Häuptlinge, denen es nicht einfällt, daß ihre Untertanen auch Rechte haben können. Sind wir wohl gegenwärtig über die Frage der gegenseitigen Pflichten und Rechte, welche zwischen dem Menschen und dem Tiere bestehen sollten, mehr vorgerückt, als es die Alten waren? Bestehen sie wohl wirklich? Die religiöse Überlieferung läßt sie mutmaßen, die Ethik und die Jurisprudenz beschäftigen sich mit ihnen nicht. Wenn wir aber auch keine Archive besitzen, die wir für diesen Gegenstand zu Rate ziehen könnten, so können wir uns doch immer an denjenigen wenden, welcher älter ist als alle Archive, wir können uns auf unseren unsterblichen Geist berufen, falls nämlich dieser Geist im Stande ist, uns zu antworten, wenn er in jenem Zustand des augenblicklichen Insichgehens und des Wieder-aus-sich-Heraustretens (Dans cet etat de concentration et d’expansion instantanées) ist, ein Zustand, der sich zuvörderst im sympathischen Gefühle kundgibt. Man muß also davon anfangen mit denjenigen zu sympathisieren, deren Lage und Pflichten wir kennen lernen wollen: auf diese Weise verfahren wir mit unseres Gleichen. Welches ist das Mittel, das wir anwenden, um die Schmerzen unseres Freundes kennen zu lernen, um ihm die Geheimnisse zu entreißen, die er in seinem Busen verbirgt und die ihn zuweilen Jahre lang traurig und stumm machen? Ohne die Ursache seines Leidens zu kennen, ist es unmöglich, sie zu lindern. Und ist es nicht kraft der Liebe, daß es uns gelingt, diese Ursache zu erkennen? Nun ist es doch sonderbar, daß die Philosophen, welche über die Ursachen des stummen Verhaltens der untergeordneten Rassen nachgedacht haben, nicht auf den Verdacht gekommen sind, daß ein furchtbares Geheimnis im Mittelpunkt des Lebens einer jeden Tier- und Pflanzenrasse selbst verborgen sein könnte. Schon fangen sich einige Gelehrte an zu überzeugen, daß es nicht hinreiche, mit dem anatomischen Messer das Gehirn eines Tieres zu zerlegen, noch dasselbe ganz

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_110

1422

Teil IV

lebend zu zerreißen, um zu erfahren, was in seinem Geist vorgeht; was rede ich jedoch von seinem Geist, man gesteht ihm ja keinen zu. Pierre Gassendi158 indessen redete davon; Descartes159 suchte sich Rechenschaft zu geben über das Lebensprinzip in den Tieren. Inmitten all des von der modernen Philosophie zusammengeschriebenen Zeugs finden wir nur leere Formeln über diesen Gegenstand. Dessenungeachtet fahren die Männer des Volkes fort, für diese stummen Genossen ihrer Arbeiten und ihrer Gefahren eine unveränderliche Sympathie zu fühlen; sie verdiente es wohl, philosophisch erklärt zu werden, denn sie setzt in den Wesen, welche der Gegenstand eines solchen Mitgefühls sind, das Vorhandensein eines sympathischen Prinzips voraus. Die Gelehrten selbst gestehen, daß sie mehr denn einmal gesehen haben, wie ein Tier, auf die Folter gelegt, durch eine letzte Anstrengung in seinen Blicken den Ausdruck eines fast menschlichen Schmerzes, eines, ich weiß nicht welchen, inneren Schreies konzentrierte, der den Anatomen zurückbeben machte. Einer ihrer großen Schriftsteller160 hat gesagt, der Schmerz gebe das Recht auf die Unsterblichkeit; sollte ein Geschöpf, das dermaßen leidend stirbt, wohl nichts zu hoffen haben? Es gibt Gelehrte, und ich könnte selbst ihre Namen anführen, welche sich lebhaft mit dieser Frage beschäftigen. Es ist dieses eine der schwebenden Fragen der gegenwärtigen Epoche. Um es zu beweisen, will ich ihnen einige Worte des amerikanischen Philosophen Emerson anführen, desjenigen, welcher die Bedürfnisse der gegenwärtigen Epoche am besten darstellt, welchem es zwar nicht geglückt ist, auch nur eine einzige Frage zu lösen, der sie aber alle mit einer bewundernswerten Genauigkeit und Klarheit aufgestellt hat. Sehen wir nun, was er hierüber sagt:

158 Pierre Gassendi (1592–1655), französischer Philosoph (Epikuräer) und Mathematiker; vgl. sein Werk „Disquisitio metaphysica: seu dubitationes et instantiae adversus Renati Cartisii metaphysicam et responsa.“ Amsterdam 1644; darin seine Einwände gegen die „Meditationen“ von Descartes; hier gegen die 2. Meditation – Gassendi führt an, daß es durchaus möglich sei, daß auch körperliche Funktionen so etwas wie Geist und Vernunft konstituieren können; er spricht von geistigen Fähigkeiten der Tiere; vgl. S. 26–95. Deutsche Übersetzung in: René Descartes: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit den sämtlichen Einwänden und Erwiderungen. Herausgegeben und übersetzt Artur Buchenau. Hamburg 1972 (1. Auflage 1915); vgl. auch seine Aristoteles-Kritik: Pierre Gassendi: Exercitationes paradoxicae contra Aristoteleos (1624). Paris 1959; ferner – Rainer Tack: Untersuchungen zum Philosophie- und Wissenschaftsbegriff bei Pierre Gassendi (1592–1655). Meisenheim am Glan 1974. 159 René Descartes: Meditationen: dreisprachige Parallelausgabe; Latein – Französisch – Deutsch. Hrsg. Andreas Schmidt. Göttingen 2011; vgl. 2. Meditation. 160 Konnte nicht ermittelt werden.

10. Vorlesung (19. März 1844)

1423

Unser gegenwärtiges Wissen sieht unter diesem Gesichtspunkt nur sehr wenig, um nicht zu sagen, garnichts. O! Philosophen, Beobachter der Sterne, habt ihr wohl das Kommen und das Gehen der Ratten beobachtet, die unter eurem Fußboden herumlaufen? So betrachtet doch ein wenig die Läufe der auf den Mauern spielenden Wiesel; prüft die Ameise, die ihr mit dem Fuße tretet, und sagt mir, welche neue Ergebnisse, welch innerliche Erkenntnisse besitzen wir über die Geschichte des Tierreichs, das eben so alt und vielleicht noch älter als das Bestehn der indogermanischen Rasse? Die Bürger dieses Königreichs fahren fort ihre Versammlungen in der Nachbarschaft des menschlichen Reiches zu halten, dennoch gibt es keine Verbindung zwischen diesen beiden Staaten; nicht ein Wort, nicht ein Zeichen, ist von der Sprache der einen in das Wörterbuch der anderen übergegangen. Was mehr ist: eure ganze Geschichte bewahrt nur das Andenken eines geringen Teils der Arbeiten des Menschen, sie spricht nur von euren metaphysischen und politischen Arbeiten. Welches Licht, frage ich euch, hat sie über die Geheimnisse des Todes und der Ewigkeit, über unsere Beziehungen zu Gott und zu der Natur verbreitet? Ich schäme mich sehen zu müssen, daß dasjenige, was wir mit so vielem Prunk die Universalgeschichte nennen, nichts weiter ist, als nur die Chronik eines kleinen Winkels der Schöpfung, eines kleinen verfaulten Nestes, gebunden an einige klassische Namen. Wir wiederholen stets Rom, Paris und London. Was wußte doch aber dieses alte Rom von den Ratten und Wieseln? Welches Interesse können die Olympiaden und die Konsulate für unsere stummen Mitbürger haben, die uns von allen Seiten umringen und benachbaren? Welche moralische oder praktische Lehre bietet diese Geschichte den Eskimos, den Kamtschadalen, einem Kabrioletführer, unserem Türsteher, unserem braven Wasserträger? Und kennten sie selbst diese Geschichte, worin würden sie wohl weiser, aufgeklärter, mächtiger sein?161

Nun haben einige Worte, die sich in „Biesiada“ (Das Gastmahl) in Beziehung auf diese Frage finden, das Ärgernis der sich fromm dünkenden Männer und das Erstaunen der Philosophen rege gemacht162; dessenungeachtet sehen sie doch, daß man auf dem anderen Weltende die nämlichen Aufgaben zu lösen 161 Gedankliche Zusammenfassung einiger Passagen aus Emersons Essay „History“. Vgl. Ralph Waldo Emerson: „Geschichte“. In: R.W. Emerson: Essays. Erste Reihe. Ins Deutsche übertragen und herausgegeben von Harald Kiczka. Zürich 1983, S. 11–37; vgl. auch Marta Skwara: Mickiewicz i Emerson, op. cit., S. 119. 162 Die Schrift publizierte zunächst 1842 – ohne Einverständnis des Autors – der Resurrektionist Aleksander Jełowicki (1804–1877). Im Jahre 1844 dann Stefan Witwicki: Towiańszczyzna wystawiona i aneksami objaśniona. Paryż 1844 [http://www.pbi.edu.pl]; vgl. auch Władysław Gołembiowski: Mickiewicz odsłoniony i towiańszczyzna. Paryż 1844 [http://polona.pl]; Bronisław  F.  Trentowski: Demonomania czyli Nauka nadziemskiej ma̧drości w najnowszej postaci. Poznań 1844 [http://www.pbi.edu.pl]; vgl. dazu Adam Sikora: Towiański i rozterki romantyzmu. Warszawa 1969; Mikołaj Sokołowski: Unorthodoxe Motive im Werk Adam Mickiewiczs, Andrzej Towiańskis und ihrer italienischen Anhänger. In: Romantik und Geschichte. Polnisches Paradigma, europäischer Kontext, deutsche-polnische Perspektive. Hrsg. Alfred Gall, Thomas Grob, Andreas Lawaty und German Ritz. Wiesbaden 2007, S. 152–169. Vgl. auch die 2. und 14. Vorlesung (Teil IV).

1424

Teil IV

sucht. Ich werde ihnen mehr sagen: jede neue Offenbarung hat auch stets in neuer Art unsere Beziehungen zu der höheren und zu der niedrigeren Welt, zu den unsichtbaren und den gröberen Körpern, als diejenigen sind, die wir bewohnen, aufgeklärt. Wir finden in den heiligen Schriften Fingerzeige über diese Frage. Die Bibel sagt, Balaams163 Eselin habe einen Geist gesehen, bevor noch der Seher denselben bemerkt hatte. Wie war es nun möglich, daß es diesen Geist sah, wenn in ihm Nichts vorhanden gewesen wäre, das demselben entsprach? Die ganze Welt weiß, daß die Tiere zuallererst den Heiland erkannt haben: dieser Umstand diente selbst dazu, den Christen ein zärtlicheres Gefühl für das Tiergeschlecht einzuflößen. Und mit wem würden wir wohl vorziehen zu leben, uns mitzuteilen und zu sympathisieren? Ist es mit einem dieser Tiere, deren Instinkt das göttliche Element des Heilands noch im Kind entdeckt, oder mit jenen Pharisäern, deren Handwerk es doch war, den Messianismus vorzubereiten, die nur von dem Messianismus sprachen und schrieben, dessenungeachtet aber den Messias kreuzigten. Ich habe bei einer anderen Gelegenheit gesagt, daß es der Vernunft des Menschen nie gegeben sein wird, diese Fragen zu lösen, daß das Christentum allein im Stande ist, unsere Beziehungen zu dem Universum wieder herzustellen und zu erleichtern, indem es sich mit der einen Hand an dem Himmel festhält und die andere in die Mysterien der tierischen und unorganischen Natur hineinsenkt. So war es mit der Sklaverei. Das Christentum hat, indem es mit Sympathie verfuhr, die Geheimnisse des Bestehens der Sklaverei entdeckt, erklärt und damit geendet, sie zu vernichten. Die Philosophen haben für die Sklaverei nichts getan. Cato164 verkaufte seine alten Sklaven, um nicht die Mühe zu haben, sie beerdigen zu müssen. Cicero, der weise, der gute Cicero, der alle griechischen Philosophen gelesen und studiert hat, sagt gradezu, das Schauspiel der gekreuzigten Menschen sei ein interessantes Schauspiel, und er beschuldigt Verres, das römische Volk dieses Vergnügens beraubt zu haben, 163 Über Balaam (Bileam) vgl. 4. Buch Mose (Numeri) 22, 23–31. 164 Marcus Porcius Cato Censorius: „De agri cultura“ (ca. 150 v. Ch.); vgl. Marcus Porcius Cato der Ältere: „Über den Ackerbau“. Herausgegeben, übersetzt und erläutert von Dieter Flach. Lateinisch und deutsch. Stuttgart 2005, Absatz  2, 7: „Auctionem uti faciat: vendat oleum, si pretium habeat; vinum, frumentum quod supersit, vendat; boves vetulos, armenta delicula, oves deliculas, lanam, pelles, plostrum vetus, ferramenta vetera, servum senem, servum morbosum, et si quid aliud supersit, vendat. Patrem familias vendacem, non emacem esse oportet.“ (Versteigerungen soll er so durchführen: er verkaufe Öl, wenn es hoch im Preise steht. Den Überschuß an Wein und Getreide verkaufe er: alte Ochsen, entwöhnte Kälber, entwöhnte Lämmer, Wolle, Häute, den alten Wagen, altes Eisengerät, einen alten Sklaven, einen kränklichen Sklaven und was sonst überflüssig ist, verkaufe er. Ein pater familias muß verkaufslustig, nicht kauflustig sein).

10. Vorlesung (19. März 1844)

1425

weil er einem Mann, der zu dieser Art Ausstellung verdammt war, das Leben schenkte.165 Sie sehen demnach, wie viel schwieriger es ist, einen Sklaven zu lieben, als über Sklaverei zu schreiben, und welche ungeheure Schwierigkeit es noch gibt, unsere Seele der Art zu erweitern, um in gleicher Liebe die Rassen der stummen Welt zu umfassen, unseren Geist bis zu der Stufe des Hellsehens zu bringen, daß man lesen könne, was in ihren Blicken und in ihren Gebärden geschrieben steht. Wer hat die blutigen Spiele des Zirkus aufgehalten, wo man das Blut der Sklaven in Strömen vergoß? Kein Philosoph und kein Systemmacher hat dieses ausgeführt. Vieles hatte man über diese Spiele zusammengeschrieben; es gab wohl edle Männer, welche sie verdammten: der heilige Augustin166, noch dazumal Heide, sprach gegen sie in einem öffentlichen Vortrag, den er in Rom hielt; indessen hörte man doch nicht auf, die Gladiatoren und die Sklaven niederzumetzeln. Endlich fand sich ein Christ, ein finsterer Mönch, welcher, nachdem er im vollen Amphitheater dem römischen Volke seinen blutgierigen Geschmack vorgeworfen hatte, mit Ruhe ins Amphitheater stieg und sich von den wilden Bestien verzehren ließ; von diesem Augenblick hatte das Volk nicht mehr den Mut, ins Amphitheater zu kommen. Nun wohlan! Ihr, die ihr die Geheimnisse des tierischen Lebens zu wissen begierig seid, habt doch den Mut in die Höhle des Löwen zu treten, oder euch unter die Meute zu werfen, die einen Damhirsch zerfleischt, rettet ihm das Leben, umarmt ihn mit Liebe und beschwört ihn dann im Namen des lebendigen Gottes, euch zu sagen, warum er ein Tier ist, warum er leidet, und warum es euch erlaubt ist, ihn zu quälen, ihn euch zu unterwerfen, und welches die Beziehungen sind, die zwischen ihm und dem Menschen bestehen müßten. Verspürt man nicht die Lust in sich ähnliche Erfahrungen über die Natur der Tiere zu machen, so sollte man die Bescheidenheit haben, nicht leichtfertig diejenigen zu beurteilen, die davon reden. 165 Vgl. Marcus Tullius Cicero: „Orationes in Verrem“ (Reden gegen Verres; 70 v. Chr.). Zwei Reden im Prozeß gegen Gaius Verres, Statthalter von Sizilien, der wegen Korruption und Erpressung angeklagt war; hier vgl. Liber Quintus (V), 11: „Homines sceleris coniurationisque damnati, ad supplicium traditi, ad palum alligati, repente multis milibus hominum inspectantibus soluti sunt et Triocalino illi domino redditi.“ (Die Menschen waren des Hochverrats und der Verschwörung überführt, zum Tode verurteilt, zur Hinrichtung geführt, bereits an den Pfahl gefesselt: da wurden sie plötzlich, in Gegenwart vieler Tausende von Zuschauern, losgebunden und zu ihrem Herrn nach Triokala zurückgeschickt). […]; vgl. auch V, 12 – Marcus Tullius Cicero: Reden gegen Verres. Herausgegeben und übersetzt von Manfred Fuhrmann. Band II. Darmstadt 1995. 166 Vgl. Augustinus: „Confessiones – Bekenntnisse.“ Lateinisch-deutsch. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Joseph Bernhart. Frankfurt am Main 2007, Buch VI, Kap. 7.

1426

Teil IV

Das Christentum hat vor allem die moralischen Gefühle entwickelt. Die Bücher der Christen sind voll von Beispielen einer tiefen Sympathie zwischen dem gottesfürchtigen Menschen und dem Tiere. Ich lese in meinem Brevier, daß, als der heilige Antonius in der Wüste gestorben war, die Löwen des Nachts kamen und eine Höhle gruben, in welcher ihn sein Genosse beerdigte.167 Als der heilige Antonius von Padua168 redete, spitzten die Tiere ihre Ohren, und man sah die Fische sich nach ihm richten. Verwundern wir uns doch nicht darüber! Die nämliche Kraft, welche unsere Ohren und Seelen dem Ausdrucke einer begeisterten Stimme öffnen, dieser unsichtbare Strahl, welcher das hörbare Wort durchwebt, gibt sich selbst einem Geist niedrigeren Ranges kund. Mit welcher Liebe sprach nicht der heilige Franz von Assisi169, der große Wundertäter, von den Vögeln und Tieren, die er immer seine Brüder und Schwestern nannte! Und ihr nimmt Ärgernis daran, daß man von dem Geist der Tiere gesprochen hat! Was hat man sich darüber zu verwundern, daß der erste Strahl des Lichts über diese Frage aus der Mitte einer Menschenrasse kommt, welche innigere Beziehungen mit der Natur bewahrt hat, als dieses irgendwo anders der Fall ist, aus der Rasse, welche einen Adam Zalužanský ze Zalužan170 erzeugt, den ersten Beobachter des Geschlechts der Pflanzen, lange Zeit vor Carl von Linné171, aus der Rasse, welche die Tier-Epopöe schuf, von welcher der „Reinecke Fuchs“172 und der „Roman du Renart“173 nur schwache Nachahmungen 167 Gemeint ist allerdings der heilige Paulus der Einsiedler (Paulus von Theben), den Antonius der Große (Antonius der Einsiedler) in der Wüste traf. Als Paulus starb, wußte Antonius nicht, wie er ihn beerdigen sollte: „Da kamen zwei Löwen herbei und scharrten eine Grube aus. Nachdem Paulus begraben war, liefen sie wieder in den Wald zurück.“ – Jacobus de Voragine: Legenda aurea – Das Leben der Heiligen. Hrsg. Erich Weidinger. Aschaffenburg 1986, S. 77–78; vgl. auch – Peter Gemeinhart: Antonius, der erste Mönch. Leben, Lehre, Legende. München 2013. 168 Antonius von Padua [Antonius Patavinus] (1195–1231); vgl. Andreas-Pazifikus Alkofer: Der heilige Antonius von Padua. Regensburg 1995; ferner Antonius Patavinus: „Sermones“ – unter [http://www.documentacatholicaomnia.eu]. 169 Franz von Assisi (1181/82–1226); vgl. Thomas von Celano [um 1190–1260]: „Leben und Wunder des Heiligen Franziskus von Assisi.“ Kavelaer 2001; ferner – „Franziskus-Quellen. Die Schriften des heiligen Franziskus, Lebensbeschreibungen, Chroniken und Zeugnisse über ihn und seinen Orden.“ Hrsg. Dieter Berg und Leonhard Lehmann. Kevelaer 2009. 170 Adam Zalužanský ze Zalužan (um 1555–1613), tschechischer Botaniker; vgl. „Methodi Herbariae libri tres Adami Zaluzanii […]. Pragae 1592; vgl. die 1. Vorlesung (Teil I). 171 Carl von Linné (1707–1778), schwedischer Naturforscher; vgl. Peter Seidensticker: Pflanzennamen: Überlieferung, Forschungsprobleme, Studien. Stuttgart 1999. 172 Vgl. Klaus Düwel: Reineke Fuchs. In: Enzyklopädie des Märchens. Bd.  11. Berlin-New York 2004, Sp. 488–502. 173 Vgl. Hans Robert Jauß: Untersuchungen zur mittelalterlichen Tierdichtung. Tübingen 1959.

10. Vorlesung (19. März 1844)

1427

sind, aus dieser Rasse endlich, deren Volksgesang von Unterhaltungen mit Tieren und Pflanzen fast überfüllt ist. Ein neues Licht kommt nur denjenigen zu nutze, welche vorbereitet sind, es zu empfangen. „Die Zeit ist gekommen“ sagt Emerson, „der Basis unserer Erkenntnisse mehr Breite und mehr Tiefe zu geben, um sie aber zu erweitern und zu reformieren, müssen wir uns erst selbst innerlich reformieren. Man muß ein neues Leben beginnen, sich ein neues Gewissen schaffen, indem man eine neue Dosis jenes universellen Geistes, welcher alles belebt und beseelt, zu erlangen trachtet.“174 Was ist nun aber eine Masse des neuen Lichts, eine Masse der neuen Glut? Es ist dieses nichts anderes, als das Leib gewordene Wort (le Verbe) der Epoche. Das wahre Wort, dessen wunderbare Eigenschaften wir aufgezählt haben, jedes wahre Wort, ist nur ein Strahl des leibgewordenen Wortes; und dies ist der Unterschied zwischen dem Wort und dem leibgewordenen Wort (entre la parole et le Verbe). Die Absicht, die ich habe; das Bedürfnis in welchem ich mich befinde, von dem leibgewordenen Wort zu reden, entsündigt mich innerlich, wenn ich es wage, in Doktrin und Worte die Mysterien zu fassen, welche, in der Seele getragen, die Kraft geben, die aber den Menschen ärmer machen, wenn er gezwungen ist, sie nach außen zu werfen. Wir sind jedoch berufen, wir sind gezwungen, es ist dieses unsere Sendung, unser Leben, das Leib gewordene Wort dem Jahrhundert zu verkünden; somit ist es uns auch erlaubt, die Sprache des Jahrhunderts anzuwenden. Wollten wir unsere moralischen Verrichtungen innerlich prüfen, so könnten wir über das fleischgewordene Wort einiges Licht haben, denn jeder von uns besitzt einen göttlichen Funken, jeder von uns besitzt ein individuelles Leib gewordenes Wort und jede unserer Handlungen ist von einem teilweise Leib gewordenen Wort beseelt. Was ist denn dieser Augenblick, wo der Künstler mit einem Male die Idee seines Werkes auffaßt und den Plan desselben zeichnet? Dieser Augenblick ist das leibgewordene Wort seines Werkes. Er schreibt, 174 Gedankliche Wiedergabe aus Emersons Essay „Geschichte“; vgl. R.W. Emerson: History. In: The complete works of Ralph Waldo Emerson: Essays. 1st series [Vol. 2]. Boston-New York 1903–1904, S. 41: „Broader and deeper we must write our annals, – from an ethical reformation, from an influx of the ever new, ever sanative conscience, – if we would trulier express our central and wide-related nature, instead of this old chronology of selfishness and pride to which we have too long lent our eyes.“ (Umfassender und tiefer müssen wir unsere Annalen schreiben, aus einer ethischen Erneuerung, aus einer Eingebung unseres immer neuen, immer heilsamen Gewissens, wenn wir unsere zentrale und weithin verwandte Natur wahrhaftiger auschmücken wollen, statt dieser alten Chronologie der Selbstsucht und des Stolzes, der wir viel zu lange schon unsere Aufmerksamkeit geschenkt haben). – R.W. Emerson: „Geschichte“. In: R.W. Emerson: Essays. Erste Reihe. Ins Deutsche übertragen und herausgegeben von Harald Kiczka. Zürich 1983, S. 37.

1428

Teil IV

er arbeitet, er führt auf Papier oder Leinwand dieses göttliche Licht aus, aber die Frage war in einem einzigen Augenblick gelöst, die Schöpfung in einem einzigen Augenblick vollbracht. Jener Augenblick, in welchem Archimedes ganz freudig aufsprang, weil er eins der hohen mathematischen Probleme gefunden hatte, das war ein leibgewordenes Wort. Der Augenblick, wo Newton ausrief: Ich habe das Rätsel der Schwerkraft gefunden, war das leibgewordene Wort. Der Augenblick, in welchem Napoleon, nachdem er die Österreicher bei Arcole besiegt, ausrief: Ich bin der Mann Frankreichs!175 In diesem Augenblick fühlte er, daß er das Leib gewordene Wort Frankreichs war. Diese Verrichtung des Schaffens ist vielfach; es geht ihr der intellektuelle Schmerz voran, wenn der Geist gespannt ist, ein wissenschaftliches Geheimnis zu entdecken, und der Schmerz des Herzens, wenn der Mensch von einer dringenden Gefahr sich verfolgt sieht, wenn er sich in einer Lage befindet, aus welcher herauskommen zu können er verzweifelt, und sobald er in diesem Augenblick das Rettungswort trifft. Also kommt doch nach dem Schmerze der Augenblick des Schaffens, dann findet die Ausführung statt und die Tatsache ist vollbracht. Die Männer, welche dieses teilweise zu Leib gewordene Wort vollkommen selbst realisiert haben, sind sehr selten. Die einen suchen nach der Wahrheit auf dem Weg der Leidenschaft und des Stolzes, und die Fortschritte, welche sie machen, entfernen sie nur noch vom Zweck, die anderen halten unbeweglich stille, in der Angst irre zu gehen; eine kleine Zahl folgt der geraden Linie, welche die kürzeste ist, aber auch die schwierigste, und welche das Evangelium das enge Tor176 nennt. Einige von dieser Zahl, bis zu jener Stufe angelangt, von welcher aus man die Wahrheit entdeckt, lassen sie verloren gehen, ohne sie unmittelbar anzuwenden. Nur der vollkommene Mensch ist im Stande, das Leib gewordene Wort vollkommen auszuführen, sei es in künstlerischer, sei es in politischer, sei es in individueller, sei es in nationaler Hinsicht. Die ganze Erde, aus dem Schoß Gottes hervorgegangen, besitzt auch ihr Wort. „Im Anfange war das Wort“177, sagt der heilige Johannes, von dem die teilweisen Worte die Erklärung und Erfüllung sind; und der ganze Erdball, die ganze Menschheit streben ohne Unterlaß es zu realisieren. Auf daß es jedoch die Welt realisierte, bedurfte sie eines Menschen, der dasselbe zuvörderst in sich selbst realisiert hätte, eines Mannes, der also zum Behälter, zum Werkzeuge, zum Organ des Wortes geworden ist. Dieser Mann, das Organ des leibgewordenen Wortes, stellt, indem er der Menschheit die 175 Stelle nicht ermittelt; vgl. „Œuvres de Napoléon Bonaparte“. Paris 1821, Bd. I, S. 217–220. 176 Neues Testament – Matthäus 7, 13–14. 177 Neues Testament – Johannes 1, 1.

10. Vorlesung (19. März 1844)

1429

größte Hilfe in seinem Geist darbringt, ihr zu gleicher Zeit in seiner Individualität das größte der Hindernisse vor. Eine Individualität, der Keim einer ganzen Epoche der Zukunft; setzt notwendigerweise, indem sie sich entfaltet, alle die Elemente der vergangenen Epoche in Bewegung. Eine universelle Individualität bringt unbedingtermaßen alle die egoistischen Individualitäten gegen sich auf. So ist die Natur des Stolzes der Menschen beschaffen! Anstatt das Leben und die Kraft von der mächtigsten und erleuchtetsten Einheit zu schöpfen, ziehen sie es vor, sich unter einander in einem tatenlosen Widerstand zu vereinen, und sie sagen: Vereinigen wir uns alle, die wir in der Dunkelheit herumwandeln, und wir werden das Licht ausmachen; vereinigen wir uns alle, die wir tot und nichts sind, und wir werden das Leben und die Kraft erzeugen; vereinigen wir uns alle, die wir nicht zu rechnen verstehen, und wir werden einen großen Meßkünstler hervorbringen. Das ist es, was die Philosophen sagen, das ist es, was sie hoffen. Gott hat anders hierüber entschieden. Gott, in seiner Barmherzigkeit, schickt der Menschheit in den entscheidenden Epochen Individuen, die uns als Beispiel und Muster dienen und die uns auf diese Weise den Fortschritt und die Vervollkommnung möglich machen. Derjenige, welcher, nachdem er von Anfang an im Geist gewirkt, in der Folge den Körper nahm und sich als lebendes Wort, als Tat erzeugte, ist das Leib gewordene Wort der ganzen Erde, das ewige Muster, Jesus Christus. Und auf sonderbare Weise führt man die Menschheit irre, indem man ihr sagt, Jesus Christus habe alles für uns getan und man habe ihn nur anzubeten. Nein, so ist es nicht, ihr müsst alle, heute oder morgen in tausend oder in tausenden von Jahren, es muß jeder Geist tatsächlich, in seinem Tun und Lassen, in seiner Seele und in seinem Körper, Christo dem Herrn ähnlich werden. Es geschah nicht, um die Zahl der poetischen Überlieferungen zu vermehren, daß Jesus Christus nach seinem Tod erschien, daß er seinen Jüngern zeigte, wie man nach dem Tod fortdauere; daß, hat man in der Wahrheit gelebt, hat man die Wahrheit ausgeübt, man Herr sei, seinen Körper zu nehmen und ihn von sich zu legen, sich in der Erde begraben zu lassen und sich in das unsichtbare Reich zu erheben, wahrhaft der Gott der Schöpfung, der Gottmensch zu werden. Das Leben und die Person Jesu Christi sind ein der Menschheit gestelltes Problem, und ein ewiges Muster, welches ohne Unterlaß alle Gewissen verfolgen wird. Nicht indem wir die Beziehungen, welche zwischen unserem Heiland und Gott bestehen, noch indem wir die Natur Jesu Christi weitläufig besprechen, werden wir zur Vollendung gelangen. Sie fragen immer: Ist er Gott? Ist er wirklich Gott, oder wäre er wohl nur ein Mensch? Es ist, als ob der Funke die Sonne fragt: Sonne; bist du wirklich ein ewiges und unmaterielles Feuer? Oder bist du wohl nur ein Funke wie ich? Nun ja, diese Sonne ist nur ein

1430

Teil IV

Funke. Worin aber fördert es dich weiter, dieses zu wissen, o Funke? Vermehrtest du, statt über das Sonnengeheimnis zu grübeln, lieber deinen Feuerherd, würdest du darnach trachten eine Flamme, ein Stern zu werden, so hättest du eines Tages das Recht, die Sonne von Angesicht zu Angesicht zu fragen, welches das Geheimnis ihres Daseins ist. Gott, der über die Erde wacht, hat den Weg vorgezeichnet, von welchem der Mensch sich nur auf eigene Gefahr und eigenes Wagnis entfernen kann. Es ist dem Menschen gegeben, die Reife zu verkürzen, er kann auch, wenn es ihm gut scheint, sie um mehre Jahrhunderte verlängern; immer jedoch wird er gezwungen sein, nach langem Herumirren, auf denselben Punkt zurückzukommen, wo er den wahren Weg verlassen hat. Gott teilt durch das Organ der heiligen und weisen Menschen der Menschheit das Gefühl der Wahrheit mit, und er sendet kräftige Menschen, um sie zu realisieren. Nach den Weisen und Sehern des alten Griechenlands kam Alexander der Große, der vollkommenste Mensch Griechenlands. Die Mythologie wäre ohne Alexander den Großen eine Fabel; er gab ihr die Wirklichkeit: er war schön wie Apollo, unstet und umherirrend wie Bacchus, stark wie Herkules und siegreich wie Mars. Er vereinte in sich alle die Eigenschaften der heidnischen Götter. Er hat sogar die Grenzscheide des alten Griechenlands überschritten; er glaubte wirklich etwas mehr als Mensch zu sein, er hielt sich für einen Gott. Nicht aus Politik ließ er sich den Sohn Jupiters nennen, er selbst verwunderte sich, das Blut aus seinen Wunden fließen zu sehen. Julius Cäsar hat das römische Heidentum realisiert, welches edler und erhabner war als das der Griechen. Der aristokratische Olymp der Römer war zusammengesetzt aus Senatorengöttern und aus Plebejergöttern: Dei consentes178 et Dei minores, starke, weise, mächtige, erobernde, gesetzgebende Götter. Julius Cäsar besaß alle diese Eigenschaften. Auch er hat die Grenze des Heidentums überschritten. Es war in ihm auch Etwas, das er selbst nicht begriff. „Halten die Römer“, sagte er, „mich wirklich für einen Menschen, wie sie?“ Cäsar beweinte seinen toten Feind, was die römischen Götter nie taten: Cäsar weinte über den Tod des Pompeius.179

178 Dei consentes (auch Dii consentes) Gruppe von 12 Göttern, die von den Römern aus dem griechischen Olymp übernommen: Jupiter – Zeus, Juno – Hera, Minerva – Athene, Vesta – Hestia, Ceres – Demeter, Diana – Artemis, Venus – Aphrodite, Mars – Ares, Mercurius – Hermes, Neptun – Poseidon, Vulcanus – Hephaistos, Apollo – Apollon. Vgl. Fritz Graf: Consentes Dei. In: Der Neue Pauly (DNP). Band 3. Stuttgart 1997, Sp. 129–130; die dei minores waren die (unzähligen) kleinen Götter außerhalb des römischen Olymps. 179 Vgl. Plutarch: Alexander – Caesar. Lebensbeschreibungen. Aus dem Griechischen übersetzt von Friedrich S. Kaltwasser. Überarbeitet von Wolgang Ritschel. Berlin-Weimar 1982.

10. Vorlesung (19. März 1844)

1431

Aus dem Schoß des Katholizismus ging Napoleon hervor, der vollkommenste Mensch der vergangenen Epoche, derjenige, welcher sie vollkommen in seiner Person realisiert und kraft seines Genius überschritten hat. Darum haben wir auch so häufig von ihm gesprochen. Denn er ist nicht allein der Eurige, Franzosen! Er ist eben so gut Italiener, Pole, Russe, er ist der Mann des ganzen Erdballs, der vollkommenste Mensch. Ich sagte ihnen, vom Worte redend, daß das Wort Napoleons uns an die Gabe der Sprachen erinnerte. Es gab Augenblicke in seinem Leben, wo dieser wunderbare Mann das Geheimnis der Apostel wiederfand. Die deutschen Geschichtschreiber erzählen uns, daß in einer der Schlachten, welche mit der Übergabe Ulms endeten, Napoleon auf die Bayern zugelaufen kam, und als er ihre Reihen wanken sah, an sie das Wort richtete und sie so kräftig anfeuerte, daß sie in einem einzigen Sturmmarsch den Feind zurückwarfen. Der deutsche Geschichtschreiber sagt: „Er hat sie angefeuert.“180 Und wie hat er denn gesprochen? In welcher Sprache hat er sich an die Bayern gewendet, die das Französische nicht verstanden? Ah! aus sich, aus diesem Heiligtum, wo auf dem Altar des heiligen Feuers der französische Genius ruhte, ließ er diese Kraft hervorsprudeln, welche gleichmäßig die Polen und die Bayern, die Westfalen und die Italiener und alle Männer, die fähig waren entflammt zu werden, vorwärts trieb. Napoleon nahm seinen heiligen Charakter als Mann der Bestimmung der Art im Ernst, daß er, der doch nichts so leichtfertig hinsagte, auf der Insel St. Helena, zur Zeit als sein Gefolge keine Priester besaß, sich anbot, seinen Gefährten die Beichte abzunehmen, und sich die Kraft zutraute, ihnen Absolution zu geben; [vgl. Oponions religieuses de Napoléon von Beauterne].181 In jenem Augenblicke überschritt er den bestehenden Katholizismus. Aber keiner jener Menschen der Kraft war dieser vollkommene Mensch, dessen Muster als Heiligkeit Jesus Christus gegeben hat und welches alle Menschen, alle Geister gegen das Ende der Welt wieder erzeugen müssen. Diese Männer haben alle gewankt, sie sind gefallen: Alexander, in Versuchung geführt durch die Angewöhnungen des tierischen Lebens, Cäsar durch die Leidenschaften des Herzens, Napoleon durch die Irrtümer des Geistes. Napoleon schloß Friede mit der Vergangenheit, und, statt dem Unbekannten, jenem 180 Quelle nicht ermittelt. 181 Nach Julian Maślanka (A.  Mickiewicz: Dzieła. Tom XI: Literatura słowianska. Kurs czwarty, op. cit., S. 235) handelt sich allerdings um das Buch von Robert Antoine Beauterne: Conversations religieuses de Napoleon. Paris 1841, S.  220. [https://gallica.bnf.fr/ ark:/12148/bpt6k6138567n/f299.image.texteImage]; auch in: Sentiment de Napoléon sur le Christianisme: conversations religieuses, recueillies à Sainte-Hélène par M. le général comte de Montholon; par M. le Chevalier de Beauterne. Paris 31843, S. 140.

1432

Teil IV

unsichtbaren Gott zu folgen, welcher nichts anderes war als der Genius des Christentums und der Genius des französischen Volkes, wollte er seine Stellung legalisieren, und er ist gefallen. Im Angesicht dieser so ungeheuern Fragen, der Aufgaben, welche die Wissenschaft, die Religion umfassen, das Dasein der Staaten und der Individuen berühren, stehen wir keinen Augenblick an zu behaupten, daß niemand im Stande sein wird, etwas Nützliches über diese Fragen vorzubringen, wenn er nicht schon die Grenze der gegenwärtigen Epoche überschritten hat. Ein teilweises Wort (parole partielle) genügt uns nicht mehr, die teilweisen Worte, nachdem sie einen Teil des zu Leib gewordenen Wortes, von Christo dem Herrn gegeben, realisiert haben, schwinden vor unseren Augen dahin. Die christliche Baukunst, die christliche Malerei, das christliche Rittertum, alles ist gefallen: Niemand hat die Kraft, sie wieder zu erwecken. Für jede Epoche gibt es eine Masse des Lichts und der Glut, diejenige, welche diese Epoche ausmacht, ist erschöpft; erforderlich ist eine neue Dosis des Lichts und des Feuers, um die Menschheit wieder zu beleben und eine neue Epoche hervorzurufen. Täusche man sich nicht mit dem Glauben, die Menschheit habe nunmehr nur in kleinen Schritten zu gehen, um ohne Stolpern und Gefahr vorwärts zu kommen, nein! Im Reich des Lebens macht sich alles durch Krisen. Der Mensch wird nicht allmählich vom Kind Greis. Es gibt eine körperliche Krisis, die ihn zum Jünglinge macht; eine andere physische Krisis ist vorhanden, wo er sich Mann zu sein fühlt; auch gibt es eine Krisis, in der das Absterben beginnt. Ist es aber schwierig, ein Wort zu finden, das heißt, einen Strahl des Leib gewordenen Wortes, ist es der Welt nur in einer kleinen Zahl der Epochen vergönnt, das Organ des leibgewordenen Wortes zu sehen, so ist es gleichmäßig schwierig, dasselbe zu empfangen. Es kann nicht in die Menschen dringen, die sich in der Vergangenheit eingeschlossen haben. Es wird in keine Intelligenz eingehen, die ihre Tore nur öffnet, um die untergehende Sonne zu betrachten: wie soll sie die aufgehende Sonne sehen? Es kann nicht in ein Herz eingehen, das sich gänzlich der Erde zugewandt hat: wie soll es das Feuer empfangen, welches vom Himmel fällt? Das ist die Ursache, warum die Vergangenheit gegen das Leib gewordene Wort kämpft, und warum sie auch jedesmal bereit ist, dasselbe zu bekämpfen. Das ist der Sinn der Worte des Evangeliums: Niemand setzt ein Stück neuen Stoff auf ein altes Kleid; […] Auch füllt man nicht neuen Wein in alte Schläuche.182

182 Neues Testament – Matthäus 9, 16–17.

10. Vorlesung (19. März 1844)

1433

Die erste Verrichtung, um das Leib gewordene Wort zu empfangen, die Verrichtung, zu welcher Fourier seine Schüler aufforderte, zu welcher Emerson183 die seinigen beruft, ist, eine edle Anstrengung zu machen und alle Bande, welche uns an die tote Welt, an die Welt der Bücher, an die Welt der Systeme binden, wie Staub vom Kleid abzuschütteln, unsere Seele zu öffnen, um einmal als freie Menschen zu atmen, und dann unser innerliches Feuer so anzufachen, daß man den göttlichen Ton erfassen, ihn nähren und bewahren könne, denn er kann nur inmitten der Flamme leben; und derjenige, welcher nicht einen Funken derselben besitzt, sucht und ruft diesen göttlichen Ton umsonst. Es ist dermaßen schwierig, die neue Epoche zu empfangen, daß die Vorsehung auf eine furchtbare Weise die Völker und die Individuen prüft, welche berufen sind, sie zuerst zu erkennen. Können sie sich Jesus Christus wohl vorstellen, als jemanden, der seinen Hauch in die Mitte der Römer trägt, an die Türen der Mäzene und der Horaze klopft? Gab es wohl ein Mittel, sich diesen frivolen, ehrfüchtigen und grausamen Männern verständlich zu machen? Konnte er mit den griechischen Sophisten reden? So auch stammten diejenigen, welche ihn zuerst erkannt haben, von einem Volke, das weder seine Könige, noch seine Institutionen, noch sein politisches Dasein mehr hatte, das der Erde gewaltsam entrissen, von allem dem, was irdisch ist, getrennt war, von dem, was der Mensch so viele Mühe hat, freiwillig zu verlassen. Und siehe da, warum die ganze slavische Rasse, die fast nichts mehr auf Erden besitzt, deren Wünsche und Hoffnungen allesamt auf Gott beruhen, erwählt worden ist, zuallererst die neue Offenbarung zu erkennen; und warum auch ein Teil dieser Rasse, das Volk, welches unter den Slaven dasjenige darstellt, was Frankreich in der romanischen Rasse, das ewig bewegliche und bewegte Volk, das polnische, zergliedert worden, von der Karte Europas ausgestrichen, irrend in die Welt geworfen ist. Mehr denn einmal kam es zu ihnen nicht unter der Form von Büchern und Systemen, sondern unter der Form von Legionen und Hilfsregimentern, und endlich kommt es zu ihnen unter der Form einer von ihrem Boden vertriebenen Bevölkerung, welche, nach dem Geheimniss ihres eigenen Daseins suchend, sich dem Mittelpunkt aller Geheimnisse zuwendet. Diese Menschen, die nichts mehr auf Erden haben, sind die einzigen, welche zuerst begreifen sollen, was einst auf Erden regieren wird. Gott beginnt nie anders seinen Hof und seine Armee zu bilden, als aus Bettlern und Unwissenden. Dies ist seine Regel: hätte es ein Mittel gegeben, den Messias aus den Büchern zu erkennen, so hätten ihn die Pharisäer erkannt. Doch nein, man konnte ihn nur erkennen, indem man aus der eigenen Brust das göttliche Element hervorzog, welches dem des Heilands wahlverwandt war. So fanden sich 183 Vgl. dazu Marta Skwara: Mickiewicz i Emerson …, op. cit., S. 120.

1434

Teil IV

denn auch die Leute, welche fähig waren ihn zu erkennen, unter denjenigen, die nichts mehr auf Erden hatten. Aber dieses Erkennen, der Augenblick, in welchem man es erlangt, dieser Augenblick, ich sage es ihnen, vergilt alle die Mühen und Trübsale des irdischen Lebens. Dieser Augenblick läßt uns schon unser künftiges Dasein im Voraus empfinden, was wir doch nie lernen werden aus Definitionen und Abhandlungen zu erfahren. Dieser Augenblick des Erkennens gibt den Geist und die Kraft der Aufopferung. Meine Herren! Würde ich wohl jemals so zu ihnen gesprochen, würde ich jemals daran gedacht haben, daß ich die Kraft besäße, allem dem die Spitze zu bieten, was es in den Systemmännern Stolzes gibt, wenn ich nicht fühlte, daß ich mich auf eine Kraft stütze, die nicht vom Menschen kommt? Ich bin kein Doktor, nicht mir liegt es ob, sie die Geheimnisse der neuen Offenbarung zu lehren; ich bin aber einer der Funken, die von der Fackel gefallen sind, und diejenigen, welche der Spur nachfolgen, werden vielleicht leichter als ich Denjenigen finden, der der Weg, das Leben und die Wahrheit ist.184 Es war meine Sendung, ihnen dieses zu sagen. Ich bitte Gott meinen Worten einige Glut und Kraft zu erteilen, auf daß sie im Stande wären, sie zu der Quelle aller Glut und aller Kraft zu führen. Die Freude, die ich empfunden habe und die mir nicht mehr genommen sein wird, die Freude, die ich gefühlt habe, berufen zu sein, ihnen dieses zu sagen, wird die Freude meines ganzen Lebens und aller meiner zukünftigen Leben ausmachen; und da ich nicht rede, mich auf ein Buch stützend, da ich ihnen hier kein System vorlege, so erkläre ich mich im Angesicht des Himmels als ein lebender Zeuge der neuen Offenbarung; und ich wage selbst diejenigen der Polen und der Franzosen, welche unter ihnen sind und welche die Offenbarung kennen, aufzufordern, mir als lebende Menschen zu antworten, mögen sie antworten: Besteht sie; ja oder nein? … (Diejenigen, an welche der Aufruf gerichtet, stehen auf und antworten miterhobener Hand: Ja!)185 184 Neues Testament – Johannes 14, 6. 185 Gemeint sind die anwesenden Mitglieder des „Zirkels für die Sache Gottes“ (Koło Sprawy Bożej). Über das „inszenierte“ Ereignis der Towiański-Schüler und die Reaktionen vgl. Zofia Makowiecka: Mickiewicz w Collège de France. Październik 1840 – maj 1844. Warszawa 1968, S.  574–576; dort auf S.  620–623 das von Stanisław Pigoń erstellte Verzeichnis der Towiański-Anhänger aus den Jahren 1842–1844, die in Siebenergruppen (siódemki) mit einem Wächter (stróż) eingeteilt waren. Die Tätigkeit des Zirkels dokumentierte Seweryn Goszczyński: Dziennik Sprawy Bożej. Tom I–II. Opracował Zbigniew Sudolski. Warszawa 1984. Deutsche Übersetzung des „Gründungsaktes der Sache Gottes am 27. September 1841 in der Kathedrale Notre-Dame de Paris“ vgl. Marlis Lami: Andrzej Towiański (1799–1878). Ein religiöser Reformer im europäischen Kontext seiner Zeit. Göttingen 2019, S.  255–259. Vgl. auch Ewa Hoffmann-Piotrowska: Teatralizacja życia w

10. Vorlesung (19. März 1844)

1435

Diejenigen der Polen und Franzosen, welche sie verkörpert gesehen haben, welche gesehen und erkannt haben, daß ihr Meister vorhanden sei, mögen mir antworten: Ja oder nein! (Diejenigen, an welche der Aufruf gerichtet, stehen auf und antworten: Ja!) Und nun, meine Brüder, ist meine Aufgabe vor Gott und vor euch erfüllt. Möge euch dieser Augenblick alle die Freude und alle die weiten Hoffnungen geben, von denen ich erfüllt bin!

Kole Sprawy Bożej. In: Rocznik Towarzystwa Literackiego imienia Adama Mickiewicza, 30 (1995), S. 132–150; Krzysztof Rutkowski: Braterstwo albo śmierć. Zabijanie Mickiewicza w Kole Bożym. Paris 1988 (2. Auflage Gdańsk 1999).

11. Vorlesung (23. April 1844) Ein Rückblick auf das Ganze des Vortrages

Meine Herren! Berufen, ihnen den neuen Geist einer fremden Rasse zu erkennen zu geben, einer Rasse, welche zuletzt ankommt, an dem europäischen Leben Teil zu nehmen, habe ich in meiner Stellung selbst den Plan meines Werkes und die Mittel gefunden, es zu vollführen. Als Wortführer des neuen Geistes einer unbekannten Rasse, mußte meine Stellung, wenngleich einfach und wahr, dennoch außerordentlich und ungewohnt erscheinen, da ich gezwungen bin mich an die Meinungen und an die Interessen zu wenden, welche ihre Kraft und ihr Leben aus der Vergangenheit ziehen. Das Mittel, euch die Slaven kennen zu lehren, dieses Mittel mußte notwendigerweise ein neues sein. Um eine Idee von Deutschland zu haben, braucht man nur seine Bücher zu lesen: in diesem Lande wird alles zuvor geschrieben, ehe es sich in Handlungen zeigt. Um Spanien und Italien kennen zu lernen, muß man sie bereist und beobachtet haben. Alles dieses reicht nicht aus, um einen Fremden in die Mysterien des moralischen Lebens der Slaven einzuführen. Ich kenne fremde Reisende, welche, nachdem sie unsere Länder kreuz und quer durchmessen, ganz überrascht zurückkamen, weil sie daselbst nichts von dem gesehen noch gehört haben, was sie am meisten zu sehen und zu hören wünschten oder zu erfahren das meiste Interesse hatten. Die slavischen Bücher, welche die größte Popularität genießen, selbst die schon in fremde Sprachen übersetzt sind, umsonst würde man sie auf ihrem heimatlichen Boden suchen. Man hat dort ganz das Aussehen, nicht einmal ihr Vorhandensein zu kennen. Die geschichtlichen Namen mehrer berühmten Krieger, diejenigen berühmter Autoren werden dort nie ausgesprochen. Vergebens wäre es, die Ursachen und die Folgen der politischen Stürme, die so häufig den Norden erschüttern und deren letzter Ausbruch fast Europa in Bewegung gesetzt hätte, auf dem slavischen Boden erforschen zu wollen. Nie hört man dort den Ausdruck der politischen Leidenschaften, nie spricht man daselbst von den gegenseitigen Interessen der Völker. Der Tag nach einer Revolution ist eben so ruhig, wie der Vorabend zu derselben gewesen. Ein Ausländer, begierig die Schlachtfelder von Grochów und Ostrołęka186 zu sehen; fände daselbst schwerlich jemanden, der es eingestehen würde, die Lage derselben zu kennen. Was als noch erstaunenswerter gelten kann, ist, daß der Boden sogar mit 186 Novemberaufstand: Schlacht bei Grochów am 27.2. 1831; bei Ostrołęka am 26.5. 1831.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_111

11. Vorlesung (23. April 1844)

1437

seinen geographischen und politischen Einteilungen in jedem Augenblicke die Farben und die Formen zu wechseln und einem fremden Beobachter nichts Ergreifbares darzubieten scheint. Die Herzogtümer, die Republiken, die slavischen Königreiche, auf der Landkarte von Europa gezeichnet, sind auf dem slavischen Boden nicht wiederzufinden. Niemand wird es wagen ihnen die Grenze zu zeigen, welche Litauen von Russland, Polen von Litauen, Böhmen von Österreich trennt. Ein fremder Beobachter findet sich in diesem Lande jedesmal in der Lage eines Parlamentairs, der in eine belagerte Festung oder Stadt zugelassen ist: er wird nur dasjenige hören, sehen, mutmaßen, was durch die Ordre erlaubt ist. Nun besteht daselbst der Befehl, zu schweigen. Die Regierungen und die Völker, gleichmäßig interessiert, ihn zu beobachten, verbergen geschickt ihre Befürchtungen und ihre Hoffnungen und fahren unterdessen fort, die einen sowohl wie die anderen, zu wirken: die Regierungen auf die fremden Kabinette, die Völker auf die Volksmassen. Eine Nation aus dieser Rasse hat ganz besonders die Sympathien Europas und vor allem Frankreichs verdient. Durch diese Nation bietet sich auf natürliche Weise Frankreich das Mittel dar, auf die slavischen Völker zu wirken. Nicht unser Geschlecht hat Polen das Frankreich des Nordens genannt, dieses datiert sich von viel länger her. Nicht wir haben die Sympathie geschaffen, die euch mit den Polen verbindet, eine Sympathie, welche eure politischen Versammlungen als national erkannt haben; an uns aber lag es, euch die Mysterien dieser Sympathie zu erklären, Mysterien, deren Größe und Tiefe der Ausdehnung, welche die slavische Rasse einnimmt, und der Größe ihrer eigenen Bestimmungen so wie der Bestimmungen Frankreichs entsprechen. Diese Sympathie war politisch: sie wird von nun an sozial, sie verbindet sich mit den religiösen Interesseu. Wir haben einen Zipfel des Schleiers, welcher die Geheimnisse der Sympathien zwischen Frankreich und Polen bedeckte, aufgehoben. Wer hat bis dahin ein anderes Geheimnis erklären können, dasjenige der Sympathie zwischen England und Russland187, dem neuzeitigen Russland, im Symbol von der gegenwärtig herrschenden Dynastie dargestellt? Hätte man Luft gehabt, die Geschichte der Einführung des gegenwärtigen Sachverhältnisses in Rußland und seiner Beziehungen zu England zu ergründen188, nie hätte man es versucht, Frankreich England zu nähern, man hätte die Unmöglichkeit eines solchen Bundes eingesehen. England war es, welches die Errichtung des 187 Äußerung vor dem Hintergrund des anstehenden Besuchs des Zaren Nikolaus I. in England, der dort am 31. Mai 1844 eintraf. 188 [Siehe unsere Vorträge von 1841. Anmerkung A. Mickiewicz].

1438

Teil IV

neuzeitigen Rußlands geschirmt hat, diese Errichtung datiert geschichtlich von der Thronbesteigung des Geschlechts der Romanov. Wir führten die Worte der Staatsmänner189 Polens an, welche die Folgen des russisch-englischen Bundes vorhergesehen und vorhergesagt haben, dessen letzte Frucht die Einnahme der Stadt Paris und der Kontinentalfriede gewesen ist. Was Polen anbelangt, so unterzeichnete es sein letztes Bündnis mit euch auf dem unglücklichen Schlachtfeld zu Waterloo und verband so seine moderne Geschichte mit derjenigen Frankreichs. Es blieb zu sehen übrig, wie die Frage, welche nur eine politische und nationale zu sein schien, später den religiösen und sozialen Charakter annehmen mußte. Wir haben nachgewiesen, daß Polen alle die slavischen Fragen, und selbst diejenigen der anderen Nationalitäten, welche besser zu kennen für Europa von Wichtigkeit wäre, in sich faßt und begreift. Dasjenige, was in Frankreich von den verschiedenen politischen Parteien, von den verschiedenen philosophischen Schulen dargestellt wird, diese Unermeßlichkeit, diese Universalität der Interessen, wird in Polen von den Geschlechtern, von den Volksklassen und von den verschiedenen Rassen vergegenwärtigt. Ich habe ihnen gesagt, daß unser Land der Hauptsitz der ältesten und der geheimnisvollsten aller Nationen ist: Israels. Pole und Mitbürger meiner Brüder der Israeliten, war ich, der ich zu ihnen spreche, notwendig berufen, ihnen vom Messianismus zu reden, weil das Schicksal die beiden Nationalitäten innig verbunden hat, welche dem Schein nach einander so fremd sind. So eben habe ich mehrere deutsche und englische Zeitungsblätter und Werke gelesen, in welchen man sich mit der jüdischen Frage beschäftigt; zu gleicher Zeit die Angelegenheiten der Slaven an der Donau, der polnischen und der russischen Slaven daselbst diskutiert. In einer der letzten Nummern einer deutschen Revue las ich die von einem englischen Staatsmann190 über die slavische und über die jüdische Frage geschriebenen Artikel. 189 Vgl. die 32. Vorlesung (Teil I). 190 David Urquhart (1805–1877); die Zeitschrift konnte nicht ermittelt werden. „David Urquhart war ein englischer Diplomat, der sich durch die genaue Kenntnis und unablässige Bekämpfung der russischen Weltherrschaftspläne große Verdienste erworben, aber diese Verdienste durch einen fanatischen Russenhaß und eine fanatische Türkenschwärmerei wieder geschmälert hat.“ – Franz Mehring: Karl Marx – Geschichte seines Lebens. In: Franz Mehring: Gesammelte Schriften. Band 3. Berlin 1960, S. 250; dort auch über Kontakte zu Karl Marx und Friedrich Engels. Publikationen – D. Urquhart: Progress of Russia in the West, Nord and South. London 1853 (deutsch: Russlands Fortschritte im Norden, Süden und Westen. Kassel 1854); daneben Reisebeschreibungen: D.  Urquhart: Reisen

11. Vorlesung (23. April 1844)

1439

Wie aber nur verlangen, so wichtige Fragen zu lösen, ohne den Geist der Völker, um die es sich handelt, zu Rate zu ziehen? Nun fanden sich aber die Erzeugnisse des slavischen Geistes bis auf den heutigen Tag nur in der Literatur sichtlich und ergreifbar. Diese Literatur ist durchgängig modern, sie ist die Schöpfung der Zeitgenossen. Ich erinnere sie hier an eine besondere und einzige Tatsache, daß nämlich die wahre slavische Literatur, die nationale und originelle Literatur, in der Zeit anhebt, in welcher sich die politische Geschichte Polens, Böhmens und des alten Rußlands vollendet; auf der letzten Seite der politischen Geschichte dieser Nationen finden sich die ersten Zeilen ihrer begeisterten Poesie.191 Die Erzeugnisse des slavischen Geistes klassifizierend, habe ich sie in drei Kategorien geteilt. Die erste umfaßt die Erzählungen und Volksgesänge. Diesen Teil der Literatur, den ältesten und umfangreichsten, der in Europa besteht, habe ich die fossile oder latente genannt; denn sie ist ganz und gar in die Seele des Volkes niedergelegt und erscheint nur selten an der Oberfläche der Öffentlichkeit. Zur zweiten Kategorie gehören alle slavischen Bücher, einige nur ausgenommen. Sie bilden dasjenige, was der berühmte Kritiker Maurycy Mochnacki die Literatur der Anschwemmung192 nennt (la litérature d’alluvion); es sind Bücher, übersetzt aus der Fremde, oder eingegeben von dem fremden Geist. Es folgt endlich die moderne Literatur, welche wir die messianistische genannt haben. Hervorgegangen in gerader Linie aus der latenten Literatur, ähnelt sie den Erzeugnissen des europäischen Geistes, denn sie ist öffentlich und geschrieben, aber in jeder anderen Beziehung unterscheidet sie sich von denselben vollkommen. Was sie zuvörderst von euren Literaturen des Westens unterscheidet, ist, daß sie noch keine Spezialität geworden ist. Während sich in Europa alles teilt und alles zerbröckelt, resumiert sich im Gegenteil bei den slavischen Völkern alles, und alles strebt darnach sich zu konzentrieren. Bei uns ist jedes ausgezeichnete literarische Werk zu gleicher Zeit ein religiöses und politisches. Es gibt slavische Erzeugnisse, welche man ohne Unterschied ein Gedicht oder ein Pamphlet, eine Predigt oder ein Zeitungsblatt nennen könnte. Ich verwundere mich nicht, daß man sie von einem Vortrag der eigentlich sogenannten Literatur gerne ausschließen möchte wegen ihres vielfachen und unbestimmbaren Charakters; was ich jedoch weiß, meine Herren, das ist, daß alle die großen unter Osmanen und Griechen: vom Peloponnes zum Olymp in einer ereignisreichen Zeit; um 1830. Hrsg. und eingeleitet von Lars Martin Hoffmann. Wiesbaden 2008. 191 Vgl. die 15. Vorlesung (Teil II). 192 Vgl. Maurycy Mochnacki: O literaturze polskiej w wieku dziewiętnastym. Warszawa 1830, S. 128–129; 204–205.

1440

Teil IV

Erzeugnisse des menschlichen Geistes ganz genau denselben Charakter hatten. Die Epochen und die Menschen, welche Literaturen geschaffen haben, waren die am wenigsten literarischen Epochen und Menschen. Wie wollen sie das Ding benennen, das uns die Homeriden193 hinterlassen haben? Beschäftigten sich diese mit der eigentlich sogenannten Literatur? Bei den Griechen hörten und studierten die Kinder, die Philosophen und die Staatsmänner die Gesänge der Rhapsoden, so wie man bei uns den Katechismus, die Theologie, die Gesetzgebung, die Geographie lernt. Alles dies fand sich in Homer. In einem Völkerstreit entschied man die Frage der Grenzen zwischen den beiden griechischen Staaten nach der Autorität der Verse Homers. Nun frage ich sie, worin ähnelte dieses alles der eigentlich sogenannten Literatur? Das größte und das schönste der morgenländischen Werke, selbst in Betreff der Form und des Stils, ist der Koran. Er beschäftigt gegenwärtig die Literaten Europas. Aber schrieb Mohamed Literatur? Würden die Troubadours und Minnesänger nicht darüber erstaunen, ihre Werke gegenwärtig in den Händen der Gelehrten zu sehen? Shakespeare selbst mutmaßte es gar nicht, daß er ein großer Literat war; gegenüber den Schriftstellern seiner Zeit nahm er die bescheidene Stellung ein, welche die Dichter des Cirque Olympique194 gegenüber euren eigentlich sogenannten dramatischen Verfassern innehaben. Die Literatur im gegenwärtigen Sinn des Wortes hat in Europa erst mit der Epoche der Renaissance begonnen. Die Gelehrten, und besonders die holländischen und deutschen Gelehrten, von allem wirklichen und tätigen Leben getrennt, endeten damit, zu glauben, daß dieses Leben gar nicht bestände, und sie nannten das Latein die Menschheitsstudien, studia humaniora. Die Menschheit war für sie nur in den klassischen Büchern. Ihre Weise der Anschauung überwiegt noch in den Schulen. Zur Zeit Ludwigs XIV. gab es sehr gelehrte Männer in Frankreich, Gelehrte ersten Ranges, welche wirklich die Überzeugung hatten, Nicolas  D.  Boileau und Jean-Baptiste Racine beschäftigten sich nicht mit der eigentlich sogenannten Literatur und verdienten den ernsten Titel der Literaten keinesweges. Man bewilligt diesen Titel auch Pierre-Jean Béranger, Charles Fourier, Pierre Leroux, George Sand nicht. Die Idee der Literatur hat man bis zu der Ausschließung aller Elemente eines wirklichen Lebens eingeengt. Erlaubt ist es den Schulmeistern, eine solche Idee zu haben; sie aber, meine Herren, werden sie gewiß nicht annehmen.

193 Vgl. die 16. Vorlesung (Teil I) und die 12. Vorlesung (Teil II). 194 Vgl. die 3. Vorlesung (Teil II).

11. Vorlesung (23. April 1844)

1441

Eine Literatur, mit der man ein ernstes Publikum beschäftigt, muß das sein, was sie in den großen schöpferischen Epochen gewesen ist; sie muß, alles zusammen, Religion und Politik, Kraft und Handlung sein. Besteht eine solche Literatur bei ihnen? Es ist mir nicht bekannt. Was ich aber weiß, ist, daß sie bei den Slaven besteht, lebt und wirkt. Da ist es selbst, wo man die Erklärungen195 finden könnte über die Art und Weise, in welcher sich die größten und die einzigen wahrhaft literarischen Werke erzeugt haben: die Verse Homers, die Strophen der „Nibelungen“, die Zeilen des Korans und selbst die Zeilen des Evangeliums. Die Elemente einer solchen Literatur, niedergelegt im Geist der slavischen Rasse, gereist durch die Arbeiten eines innerlichen Lebens, welches Jahrtausende angedauert hat, gelangen endlich dazu, sich kundzugeben. In diesem Sinne sagte Kollár aus, daß, da alle Völker ihre Worte gesprochen haben, nun gegenwärtig die Reihe an der slavischen Rasse ist, das ihrige zu formulieren.196 Diese Formel, oder vielmehr diese Kundgebung, muß zu gleicher Zeit eine moralische und materielle sein. Dieser doppelte Charakter macht die Tat aus. Die Völker manifestieren sich nur, indem sie wirken. Die slavischen Völker haben mit euch durch das religiöse Tun, als Glieder der nämlichen Kirche, moralische Beziehungen gehabt, und sie haben nicht aufgehört, als Eindringende oder Überfallene, als Feinde oder Bundesgenossen materielle Beziehungen zu haben. Eine Abteilung dieser Völker fand sich endlich mitten unter euch, um auf materielle Weise das von dem Dichter Jan Kollár vorhergesagte Wort zu manifestieren. Dieses Wort war zugleich die Ankündigung einer neuen Epoche. 195 [Vgl. unsere Vorlesungen über die Rhapsodensänger Serbiens: 16.–21. Vorlesung (Teil I). Anmerkung A. Mickiewicz]. 196 „Nach dem Untergang der Griechen und Römer sind die germanisch-romanischen Sprachen und Völker Träger der Kultur geworden. Die Kulturelemente spalteten sich aber bei ihnen in zwei Prinzipen, und zwar so scharf und schroff, daß man sie mit dem Namen der alten und neuen Welt, der antiken und modernen Zeit unterscheiden mußte. Das Prinzip der Antike in der Kunst, Wissenschaft und Bildung ist vorzugsweise heidnischnational, von Griechen und Römern ausgehend, und wenn auch an sich vortrefflich, doch immer einseitig; das Moderne, Romantische, Ritterliche, Sentimentale ist germanischchristlich: beide haben schon in ihren abgesonderten Bestrebungen der Menschheit ausgedient und sich ausgelebt. Eine universale, rein menschliche Tendenz verlangt jetzt die Zeit und die gereifte Menschheit; diese große Aufgabe kann aber auch nur eine große, bildungsjunge, in alten Formen nicht erstarrte Nation lösen, wie eben die Slawische.“ – Johann [Jan] Kollár: Über die literarische Wechselseitigkeit zwischen den Stämmen und Mundarten der slawischen Nation. Aus dem Slawischen, in der Zeitschrift Hronka [1836] gedruckten, ins Deutsche übertragen und vermehrt vom Verfasser. Pesth 1837 (2. Auflage Leipzig 1844), § 13, S. 65–66; vgl. auch 1. Vorlesung (Teil I).

1442

Teil IV

Die slavischen Völker haben nichts mehr von der Vergangenheit zu hoffen: es ist dieses eine allgemeine Überzeugung der Russen, der Polen und der Tschechen. Es ist für sie die Unmöglichkeit vorhanden, sich den Männern der Vergangenheit begreiflich zu machen: demnach war ich also berufen, ihnen den Charakter derjenigen, die ich die Männer der Vergangenheit, unsere natürlichen Feinde nenne, zu zeichnen, und diejenigen erkennen zu lassen, welche wir die Männer der Zukunft nennen, mit welchen die slavischen Völker berufen sein werden, ihr Denken, ihre Worte auszutauschen und zusammen zu wirken. Jede neue Epoche ruft auf die Weltbühne eine neue Rasse hervor, oder, um besser zu sagen, sie läßt aus der Mitte der alten Bevölkerungen die Männer erkennen, welche seit längst vorbereitet sind, ein neues Volk zu bilden. Frankreich, welches die Epoche der christlichen Königtümer begonnen und das Muster derselben der Christenheit gezeigt hat, Frankreich war seit der Errichtung der Monarchie weder gallisch, noch fränkisch, noch germanisch, noch römisch mehr: Frankreich war die Vereinigung der Individuen, welche diesen verschiedenen Völkerschaften angehörten, und die sich nur ein Volk zu sein fanden, indem sie das neue Symbol angenommen, das fähig war, sie mit einem neuen Leben zu begeistern. Die gegenwärtige Epoche bereitet eine viel größere und allgemeinere Schöpfung vor, diejenige eines neuen Volkes, oder, um besser zu sagen, mehrerer Völker, welche berufen sein werden, eine neue Nationalität zu bilden. Es war unsere Schuldigkeit, ihnen die Zeichen, an welchen wir die Männer dieses neuen Geschlechts erkennen, sehen zu lassen. Eine neue Epoche ist auch berufen, den Menschen ein neues und vollkommnes Ideal zu schaffen, ein Ideal, welches die ganze Vergangenheit in sich faßte und uns als Muster der Zukunft dienen könnte. Das slavische Volk und ganz im Besonderen das polnische Volk war zuerst gezwungen zu erkennen, daß die Religion, so wie man sie in den ersten Zeiten der Kirche ausgeübt und wie man fortgefahren hat, sie im Mittelalter auszuüben, nicht mehr den rechtmäßigen Bedürfnissen des neuzeitigen Menschen genügt; und sehen wir nun; auf welche Weise es dieses erkannt hat. Das slavische Volk hat die christliche Religion in Masse empfangen; es war dazu vorbereitet durch lange Zeiten des Unglücks. Es hat die Liebe, die Ergebung, die Aufopferung begriffen; es ist ganz und gar der bettelnde Mönch geworden. Es besitzt alle die Tugenden, welche einen Mönch ausmachen, und doch haben diese Tugenden dasselbe weder vor der ausländischen Eroberung noch vor der einheimischen Bedrückung gerettet. Die barbarischen Herren und die einheimischen Herren beuten diese mönchsartigen Tugenden aus, ohne dem Volk selbst das zuzugestehen, was man in den alten Zeiten den

11. Vorlesung (23. April 1844)

1443

Mönchen bewilligte: die Achtung und das Almosen. Es muß also das Volk sterben, oder es muß seine Religion anders begreifen und ausüben, als es dieses bis dahin getan hat. Es muß in derselben nicht bloß allein die Kraft finden, die Ungerechtigkeit zu dulden, sondern auch die Kraft, die Gerechtigkeit zu verteidigen. Die barbarischen Eroberer fragten, indem sie auf die Slaven losschlugen, ob Jesus Christus stärker sei als ihre Götter. Frankreich hatte einst die nämliche Probe zu bestehen. Zur Zeit der Normanneneinfälle bedauerte man, gar zu viele Klöster und zu wenig Festungen gebaut zu haben. Frankreich waffnete sich und widerstand; es hatte begriffen, daß das Christentum den rechtmäßigen Gebrauch der Kraft nicht ausschloß. Die Slaven dagegen fahren fort zu dulden. Ihre Demut und ihre Ergebung haben den Ingrimm der Mongolen nicht entwaffnet. Dieses schreckliche Volk kam periodisch wieder, den Glauben der Slaven auf die Schwert- und Feuerprobe zu stellen. Ähnlich dem Gott Jakobs197, ließ es sich nur durch den Widerstand erweichen, segnen kann es nur denjenigen, der es besiegt hat. Unerbittlich für die Schwäche, betrachtet es sie als ein Verbrechen. „Wäret ihr keine Sünder, so hätte euch Gott nicht verlassen, und uns auf eure Häupter gesandt!“198 antwortete Dschingis-Khan den Völkern, die seine Gnade anriefen. Die Türken richteten an die Polen dieselben Rufe. Der lange türkisch- polnische Krieg war ein Kampf der Suprematie zwischen Jesus Christus und Mohamed. In diesem Sinne sprach sich Jan III. aus, nachdem er die Macht der Ottomanen unter den Mauern Wiens gebrochen hatte, durch die Worte: „Jetzt werden uns die Türken nicht mehr fragen, wo unser Gott sei.“199 Da die Christen nicht im Stande waren, ihren Gott in seiner ganzen Macht und unwiderstehlichen Kraft zu zeigen, so mußten die Türken und Tataren kommen, sie ihrer geistigen Untätigkeit wegen zu bestrafen. Nach den Türken und Mongolen kamen die sich christlich nennenden Regierungen, das slavische Volk auf eine andere Weise zu versuchen. Österreich sagt ihnen: „Bleibet Christen, so wie ihr es früher waret, betet immerfort, bleibt in den Klöstern, befaßt euch nicht mit den vergänglichen Dingen, welche die Welt bewegen, und ihr werdet ein materielles Wohlsein genießen, ihr werdet fett werden.“200 Ein Teil der Böhmen ließ sich in dieser Schlinge fangen, doch gewahrten sie es später, daß ihr moralisches Leben mitten im Wohlsein 197 198 199 200

Vgl. Altes Testament – Das Buch Genesis 32, 25–29. Zitat nicht ermittelt. Über Dschingis-Khan vgl. die 6. Vorlesung (Teil I). Zitat nicht ermittelt. Zitat nicht ermittelt.

1444

Teil IV

verschwand, sie bekamen einen Widerwillen dagegen, sie fangen an sich zu bewegen. Neben dem österreichischen Christentum, sagt die freimütigere russische Regierung, ganz einfach dem einen Teil der Bevölkerungen, welche sie bedrückt, die nämlichen Worte, die wir ihnen an einer anderen Stelle, von dem Katechismus des Kaisers von Rußland redend, angeführt haben: „Lasset euch kreuzigen, ahmet den Heiland in seiner Sanftmut und in seiner Geduld nach. Lasset euch kreuzigen, und ihr werdet eures Seelenheiles gewiß sein.“201 Es gibt gutmütige Männer, die sich so kreuzigen lassen, die das Leben des Mittelalters fortsetzen; aber es ist nicht in der Gewalt der Menschen, ein großes Volk zur Annahme eines solchen Symbols zu zwingen. Was sich Göttliches und Christliches im geschichtlichen Leben der slavischen Völker und in dem Leben Polens vorfand, das schrie hoch auf, empörte sich gegen diese Todesformel, es erhob sich über ein solches Symbol, denn es ahnt schon, sieht und kündet im Voraus das triumphierende Christentum an. Weder Theorien, noch Bücher, noch Diskussionen waren es also, welche den Geist der slavischen Völker weckten und ihn vorwärtstrieben, sondern es waren Einfälle, Metzeleien, Ketten, Verbannungen, ein fortdauerndes antireligiöses Tun war es, welches das Bedürfnis einer Religion der Tat fühlen und inmitten der Slaven das leibgewordene Wort der Epoche herabsteigen ließ. Und ziehen sie die christlichen Philosophen, die Dichter und Denker von ganz Europa zu Rate, diese Propheten des neuen Bundes, so werden sie sehen, daß dieses leibgewordene Wort gerade zur rechten Zeit erscheint, und daß es alle die Verheißungen erfüllt, welche einem Christen sein Gewissen innerlich gibt: Verheißungen einer religiösen; moralischen und zu gleicher Zeit glücklichen Zukunft. Nun wird man leicht begreifen, warum es kein Ideal mehr auf Erden gibt, kein universelles Muster, das der Bewunderung und Nachahmung der Menschen, die als Christen leben wollen, dargeboten wäre. Im Mittelalter bildeten sich alle Ritter nach dem Muster eines Helden der Kreuzzüge, eines Gottfried von Bouillon, eines heiligen Ludwig. Die Priester hatten vor Augen das große Bild Innozentius III., dieses Beherrschers des europäischen Gedankens. Würden nun aber die slavischen Völker die Forderung an uns stellten: „Zeigt uns das Ideal, den Mann der Epoche, welchen ihr für den vollkommensten anseht, und wir sind bereit, alles zu tun, um ihm nachzuahmen; und alsdann werden

201 Zitat aus Katechizm o czci cesarza Wszech Rossyi, op. cit.; das nicht überprüft werden konnte. Vgl. die 5. Vorlesung (Teil IV).

11. Vorlesung (23. April 1844)

1445

wir uns einander wiederähneln, wie sich die Märtyrer ähnelten, indem sie ihren Diener Jesus Christus in seinem Leiden nachahmten.“202 Welches ist gegenwärtig euer Ideal? Jedesmal, wenn die Idee zur Realisierung kommt, schafft sie ein Ideal, einen Mann als Muster. Weder ein Buch, noch ein Bericht, noch eine Idee war es, was den berühmtesten der Athener nicht schlafen ließ, sondern es war Miltiades203, ein Mensch gewordenes Ideal. Cäsar weinte nicht beim Bücherlesen, nur müßige Männer vergießen Tränen über den Büchern – Cäsar weinte vor der Bildsäule Alexanders! Fehlt also das Ideal, so dürfen wir uns nicht verwundern, wenn sich der Schlaf auf die Menschen senkt, und wären sie auch lauter Themistoklesse!204 Nur demjenigen wird es gegeben sein, sie zu wecken, wer sich selbst der ideale Mensch zu sein fühlt, wer die Eigenschaften und die Gaben besitzen wird, zu welchen wir aufstreben. Sobald wir vor unseren Augen das Christentum in einem heiligen, mächtigen und glücklichen Manne realisiert sehen, so werden wir nicht mehr das Recht haben, zu sagen, daß der Glaube tot sei und daß der Mensch nicht für das Glück geschaffen wäre. Nach dem von uns Gesagten werden sie schon die Eigenschaften und die Tugenden erraten, welche man in dem Manne sucht und in demselben finden muß, der bestimmt ist; als Ideal der gegenwärtigen Epoche zu dienen. Er muß weder außer- noch unterhalb des Christentums bleiben; er muß in sich die Heiligkeit der ersten Kirche, die energische Kraft der kämpfenden Kirche des Mittelalters und die siegreiche Kraft der Kirche der Zukunft vereinen. Wir haben gesagt, daß die Fähigkeit zur Begeisterung (la faculté d’enthou­ siasme), welche man die Fähigkeit, den heiligen Geist zu empfangen, nennen könnte, das unterscheidende Merkmal der Männer ist, die bestimmt sind, der Kirche der Zukunft zu dienen. Welches wird nun das Merkmal derjenigen sein, die schon dazu vorbereitet sind? Nach diesem Zeichen ist es, daß man gegenwärtig die Nationen klassifizieren wird; jede neue Epoche führt eine neue Klassifizierung der Völker ein. Dasjenige, was vor dem Christentum groß und mächtig war, ist später für barbarisch und rückschreitend erklärt worden. Das Nämliche wird in der Epoche, worin wir leben stattfinden.

202 Zitat nicht ermittelt. 203 Miltiades der Jüngere (um 550 v. Chr.; ca. 489 v. Chr.), griechischer Feldherr und Politiker; Sieger in der Schlacht bei Marathon. Vgl. Cornelius Nepos: Berühmte Männer: lateinischdeutsch (De viris illustribus). Herausgegeben und übersetzt von Michaela Pfeiffer unter Mitarbeit von Rainer Nickel. Düsseldorf 2006. 204 Themistokles, Politiker und Feldherr aus Athen (ca. 525 v. Chr.; ca. 459 v.Chr.). Besiegte die persische Flotte; später wurde er verbannt und floh zu den Persern; vgl. Albrecht Behmel: Themistokles. Sieger von Salamis und Herr von Magnesia. 2. Auflage. Stuttgart 2002.

1446

Teil IV

Dieses Zeichen, der einzige Beweis, daß man in dem Christentum gelebt hat, daß man mit dem Christentum vorgeschritten ist, daß man entschlossen ist, das Christentum vorwärts zu bringen, dieses Zeichen ist das heilige Feuer. Das heilige Feuer, das ist das vollkommene Resultat der innerlichen Arbeit. Und das ist die Ursache, warum Frankreich, welches die größte Masse dieses Feuers besitzt, die Nation par Exellence ist, und warum wir den französischen Geist als mehr christlich, denn Rom erkannt haben. Darum auch stehen in dem erhabensten der polnischen Erzeugnisse die Zeilen geschrieben, daß Frankreich auf dem sonst noch „schwarzen Erdball schon eine graue Oberfläche bildet.“205 Auf daß nun diese Oberfläche erleuchtet werde und die ganze Welt erleuchten könne, deren Schicksale davon abhängen, haben wir gesagt, daß Frankreich einer moralischen und außerordentlichen Hilfe bedarf, und die Vorsehung hat auch dafür gesorgt. Frankreich möge wissen, daß von dem nämlichen Feuer, welches sich in dem französischen Herzen regt, man die Funken an der Weichsel, selbst am Don, ja sogar an den Ufern der Moskva findet. Dieses heilige Feuer, der gemeinsame Schatz aller Seelen, die dem Christentum treu geblieben sind, die gemeinsame Kraft aller erhabenen Geister, in einem vollkommenen Mann konzentriert, wird zum Hebel aller Kräfte, zum Herd aller einzelnen Funken; es wird Frankreich entflammen und die Welt erleuchten; ein solches Ergebnis ist der einzige würdige Beschluß der Geschichte des Christentums, der Bestimmungen Frankreichs und der Bestimmungen der slavischen Völker.

205 Andrzej Towiański: Biesiada, op. cit., S.  62: „I dziś Francja jeżeli nie punkt światły, to choć szary wśród ciemności globu stawi;“(Und heute wird Frankreich zwar nicht einen leuchtenden, aber zumindest einen grauen Punkt inmitten der Dunkelheit des Erdballs setzen).

12. Vorlesung (30. April 1844) Die Barbaren. Der ewige Mensch.

Meine Herren! Die Gegenden, von denen ich ihnen gesprochen, die Rassen, deren Geschichte ich ihnen erzählt habe, wurden nach den angenommenen Ideen barbarisch und Barbaren genannt. Die zivilisierten Gesellschaften nennen in den Zeiten, wo sie zu ihrer endlichen Entwicklung gelangen, jedes neue Volk barbarisch. Freiwillig haben wir diese Benennung angenommen: wir sind wirklich die Barbaren der gegenwärtigen Epoche. Unser Land ist die Barbarei von Europa gewesen: alle alten Völker, die unter dem Namen der Barbaren bekannt sind, haben unser Land und unsere nationale Geschichte durchzogen. Erst nachdem sie die slavischen Bevölkerungen zu Boden getreten hatten, verfolgten sie ihren Lauf und verbreiteten sich über Gallien, über Spanien und den Westen. Unsere Geschichte ist demnach, mehr denn irgendeine andere, mit derjenigen der Barbaren verbunden. Gewisse Geheimnisse ihrer Wanderungen haben wir erklärt, es bleibt uns noch ein Wort von ihrem Einfluß auf Europa zu sagen übrig, um in dieser Beziehung einen groben Irrtum der Geschichtschreiber des Westens zu berichtigen; diese Diskussion wird uns von neuem der Hauptfrage zuführen. Es wird allgemein geglaubt, die Barbaren hätten seit dem fünften Jahrhundert den vorschreitenden Gang des menschlichen Geistes unterbrochen, den Gedankenschwung gehemmt, die Wissenschaften zertrümmert, die Menschheit von neuem in die Finsternis versenkt. Die Geschichtschreiber fügen indessen hinzu, daß man diesen Barbaren doch etwas zu verdanken habe, man sagt, sie haben die Rassen des Westens aufgefrischt und verjüngt. Diesen Geschichtsschreibern zufolge, hätten die Einbrüche kein anderes heilsames Resultat gehabt, als dasjenige der Rassenkreuzung. Bis zu so erbärmlichen Ergebnissen hat man eine der größten geschichtlichen Fragen zurückgeführt. In so bestialischer Weise hat man den Gedanken der Vorsehung, welcher die Barbaren nach dem Westen führte, zu erklären gesucht. Die Idee des wahren Fortschritts würde genügen, um uns besser die vorsehungsartigen Gesetze der Völkerbewegung zu erklären: nach dieser Idee wäre es leicht zu erweisen, daß die europäische Menschheit nie Rückschritte getan hat und daß es nie eine gewaltsame Unterbrechung in ihrem moralischen Hergange gab.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_112

1448

Teil IV

Dasjenige, was in uns vorschreitend ist, ist unser innerer Mensch, unser Geist; der Fortschritt, meine Herren, wir haben es gesagt, ist nichts anderes als die Entfaltung unseres inneren Menschen, sein Vorschreiten zu Gott. Wir sind im Fortschritt, sobald wir uns mächtiger fühlen, als Beweis, daß wir uns Gott nähern, welcher die Allmacht ist; wir sind im Fortschritt, sobald wir uns besser fühlen und demzufolge der Quelle alles Guten näher; wir sind endlich im Fortschritt, sobald wir uns hellsehend und glücklich fühlen, als mehr mit Gott vereinigt, welcher das Licht und das Glück ist. Würden sie nun nach dieser Idee des Fortschritts den geistigen Zustand der Untertanen des römischen Kaiserreichs im fünften Iahrhundert und denjenigen der fremden Völker beurteilen, so würden sie gewahr werden, auf welcher Seite der Fortschritt war und wo die Tatenlosigkeit (inertie) herrschte, welche die wirkliche Barbarei ist. Fühlte er sich wohl im Fortschritt, jener römisch-griechische Geist, welcher damals einem kolossalen Kaiserreich vorstand, über Industrie- und Kriegsmittel einer langen Zivilisation verfügte und vor den wenig zahlreichen und schlecht bewaffneten Barbaren zitterte, ihnen das Feld frei ließ und sich in den Festungen einschloß, während das Genie der Vandalen, von den Steppen des Nordens losbrechend, die Wälder Deutschlands, die befestigten Burgen Galliens, die Berge Spaniens zu Pferde durchbrach und Mittel fand, nach Afrika überzugehen? In der nämlichen Zeit befuhren die Seeräuber des Nordens auf ihren Kähnen den weiten Ozean und die Römer, die doch Flotten hatten, vergaßen selbst die von ihren Vorfahren auf dem Meer gemachten Entdeckungen. Die Quelle, welcher die heroischen Taten entfließen, ist auch diejenige, aus welcher die großen wissenschaftlichen Entdeckungen hervorgehen, diese Quelle versiegte im römischen Kaiserreich, somit öffnete sie sich im Schoß der Barbarei. Aus dem Schoß der Barbarei gingen damals fast alle großen Heiligen, die Apostel des Christentums, die tätigsten Diener des Wortes hervor. Die Griechen und die Römer besaßen nicht mehr die zu einem solchen Dienst notwendige Kraft. Sie waren nicht mehr fähig, jenes Wort zu erzeugen, welches den ganzen Menschen in sich trägt. Das Wort eines Griechen oder eines Römers hatte selbst in den Geschäften des bürgerlichen Lebens nicht den Wert, wie dasjenige eines Burgunders oder eines Franken. Bei den Barbaren war im Gegenteil an der Tagesordnung „ein Wort, ein Mann“, das Wort, das ist der Mann: der Mann (człowiek) und das Wort (słowo) haben bei den Slaven die nämliche Wurzel.206 Das Christentum brauchte solche Menschen; es berief sie und übergab ihnen, das geistige Leben in der Welt wieder anzufachen. 206 Nach Maślanka (A.  Mickiewicz: Dzieła. Tom XI: Literatura słowiańska. Kurs czwarty, op. cit., S. 238) stammt diese (merkwürdige) Etymologie vermutlich aus: Claude C. Rulhière:

12. Vorlesung (30. April 1844)

1449

Dieses Leben bestand dazumal in der Literatur ebenso wenig wie in dem bürgerlichen und im Staatsleben. Die Literatur war nur die Verehrung des Wortes, der Phrasen (le culte du mot). Ein lateinischer Autor207 jener Epoche beklagt sich bitter über die Schwierigkeit, die klassischen Musen inmitten der Barbaren zu pflegen. Er hatte eben einem ihrer poetischen Feste beigewohnt und spricht von dem Ärgernis, das ihm die rauhe Stimme eines burgundischen Barden verursachte. Der Autor und der Barde, beides Dichter, an der nämlichen Tafel sitzend, stellten sehr gut, der eine den Verfall, der andere den wahren Fortschritt vor: der lateinische Autor schrieb Verse, um die Vergnügungen seiner Leser zu erhöhen, der Burgunder sang, um seinen Zuhörern den Enthusiasmus für große Taten einzuflößen. Hat die europäische Literatur der zivilisierten Völker wohl schon den Standpunkt der Literatur der Griechen und der Römer des fünften Jahrhunderts erreicht? Es gibt Schriftsteller unter den Abendländern, die es glauben. Sicher ist jedoch, daß die Bücher, welche am meisten die Mußestunden der Leser ergötzen, nur sehr wenig auf ihre Handlungen einwirken und äußerst selten nur die wahren Gefühle ihrer Verfasser darstellen. Polen hat zuerst durch eine große nationale Erfahrung es gelernt, und hat begriffen, daß das europäische Wort keinen politischen Wert mehr hatte. Diese Nation, von einem furchtbaren Feind angegriffen, hatte alle Bücher, alle Zeitungen, alle beredten Zungen von Europa zu Bundesgenossen und sie sah aus dieser unzählbaren Armee von Worten keine einzige Tat hervorgehen. Das Wort, welches die Quelle und das Prinzip des nationalen Lebens hätte sein sollen, war nur das Echo davon, und zwar ein lügendes Echo. Die Erfahrung war entscheidend. Die polnischen Denker und Dichter haben die Resultate hieraus vorhergefühlt und das ganze Gewicht derselben begriffen. Mit Widerwillen wenden sie sich ab von allem, was Buch ist, von allem, Histoire de l’anarchie de Pologne. Paris 1807, Bd. I, S.  82: „Dans la langue russe le mot d’esclave, slavec, est synonime de celui d’homme.“ 207 Vgl. Caius Sollius Modestus Apolinaris Sidonius (um 431– um 487), gallo-römischer Aristokrat, Bischof von Clermont; katholischer Heiliger; vgl. seine „Carmina“; Carmen XII – AD V.C. CATVLLINVM: „Quid me, etsi valeam, parare Carmen / fescenninicolae iubes Dions / inter crinigeras situm catervas / et Germanica verba sustinentem, / laudantem tetrico subinde vultu / quod Burgundio cantat esculentus, / infundens acido comam butyro? / vis dicam tibi, quod poema frangat? / ex hoc barbaricis abacta plectris spernit senipedem stilum Thalia, / ex quo septipedes videt patronos. / felices oculos tuos et aures / felicemque libet vocare nasum / cui non allia sordidaeque caepae / ructant mane novo decem apparatus, / quem non ut vetulum patris parentem / nutricisque virum die nec orto / tot tantique petunt simul gigantes, quot vix Alcinoi culina ferret. / sed iam Musa tacet tenetque habenas paucis henecasyllabis iocata, / ne quisquam satiram vel hos vocaret.“ – Gai Sollii Apollinaris Sidonii epistulae et carmina. Hrsg. Christian Lütjohann und Bruno Krusch. Berlin 1887, S. 230–231 (= Monumenta Germaniae Historica, Bd. 8).

1450

Teil IV

was System heißt. Einer dieser Dichter; Philosoph und Soldat zugleich, nimmt folgendermaßen Abschied von den Büchern: Niechaj mól życie nędzne w starych księgach pędzi, Niech się w kartę zbutwiałą z ciekawością wżera, Moja ręka na próżno tysiąc ksiąg otwiera I warzy doświadczenia z tysiącznych narzędzi. Któż jak ja z potem czoła męczył się i czytał? Dziś, gdym na równi z wami, gdybym się zapytał, Czegoście nauczyli i co sami znacie, Wstyd by wam czoło, serce i rozum wypalił. Jeśli wstyd znacie jeszcze …208 Möge nun das Gewürm das elende Leben in den alten Büchern fristen, Möge es sich in das vergilbte Blatt vor Neugier einfressen, Meine Hand öffnet vergeblich tausend Bücher Und braut Erfahrungen aus tausenden Mitteln zusammen. Wer sonst mehr als ich qäulte sich mit Schweiß auf der Stirn und las? Wenn ich euch heute, wo wir gleich sind, fragte, Was habt ihr gelernt und selbst kennt, Würde die Scham euch die Stirn, das Herz und den Verstand brandmarken. Wenn ihr noch Scham besitzt …

Dieser letzte Schrei der polnischen Literatur findet ein Echo von der anderen Seite der Welt, in Amerika. Dort predigt Emerson denselben heiligen Krieg gegen die Bücher und Systemmänner, gegen diese gekünstelte, verdorbene und verfaulte Welt. Wir können in derselben nichts mehr über unsere Zukunft lernen, die Vergangenheit selbst findet sich nicht mehr dort. Emerson sagt: Nicht außerhalb uns müssen wir unsre Geschichte suchen, wir müssen es lernen, sie in uns selbst zu lesen. Die Geschichte muß aufhören ein Buch zu sein: es ist absolut notwendig, aus dem Buch herauszukommen. Die Geschichte muß einhergehen, verkörpert in jedem gerechten und weisen Manne. Führet mir doch nicht mehr die Register der Bücher an, die ihr gelesen habt: lasset mich fühlen, von welchem Jahrhundert ihr seid; wie viele Jahrhunderte ihr gelebt habt. Bringet mir den Beweis der Epoche, zu welcher ihr gehört: hienach will ich euch klassifizieren. Ich muß im Menschen die ganze Vergangenheit wiederfinden, in seiner Kindheit das goldene Zeitalter, den Baum des Erkenntnisses vom Guten und Bösen, den Zug der Argonauten, die Berufung Abrahams, die Erbauung des Tempels, in seiner Jugend die Ankunft Christi, das Mittelalter, die Entdeckung Amerikas.209

208 Stefan Garczyński: Wacława dzieje, op. cit., (rozdział IV. Nauki), S. 32. 209 Vgl. Ralph Waldo Emerson: „History“. In: The complete works of Ralph Waldo Emerson: Essays. 1st series [Vol. 2]. Boston-New York 1903–1904, S. 39–40; dt. – Ralph Waldo

12. Vorlesung (30. April 1844)

1451

Habt ihr noch nicht euern Kreuzzug und eure französische Revolution gemacht, so beeilt euch, denn sonst werdet ihr nicht gleichen Schritt mit dem gegenwärtigen Geschlecht halten können. Seinen Tempel gebaut und seinen Kreuzzug gemacht zu haben, heißt man aber nicht, die Beschreibung des Tempels und die Geschichte der Kreuzzüge gelesen zu haben. Das neunzehnte Jahrhundert hat sich sehr häufig über die Unwissenheit eurer großen Männer des Mittelalters lustig gemacht, über Gottfried von Bouillon, Bohemund, Karl den Großen, die kaum zu lesen und zu schreiben wussten.210 Nun, welches waren wohl die Bücher, die sie hätten lesen müssen? Sollten sie etwa aus Vitruvius oder Vegetius211 die Kunst erlernen, eine Festung zu bauen und eine Legion manövrieren zu lassen? Oder sollten sie vielleicht aus den griechischen Pergamenten das Geheimnis lernen, wie man das griechische Feuer verfertige? Diese Männer, welche in ihrem Herzen eine ganz neue Epoche sich regen fühlten, welche mit einem Wort, mit einem Zeichen der Hand die Reiche in Bewegung setzten, konnten sie sich wohl mit dem Nachlesen der bändereichen Erzählungen des Titus Livius, oder der langen Reden des Cicero aufhalten? Sie fühlten sich viel beredter denn alle die Redner des Altertums, und viel größere Dichter als Homer selbst: sie machten wirkliche Poesie, sie blieben Helden der Poesie. Wer nur irgend beobachtet, was in der Welt vorgeht, der wird bemerken, daß das nämliche Bedürfnis der großen Taten, die nämliche Begier, solche zu unternehmen und auszuführen, sich in allen Herzen kundgibt. Das Volk hat nie aufgehört, dieses Bedürfnis zu fühlen, es ist heutzutage mehr denn irgend jemals bereit, ihnen zu entsprechen. In dieser Beziehung ist das französische Volk noch barbarisch. Ihre Publizisten nennen es so. Ich könnte Bücher und Zeitungen anführen, in welchen man ihnen darlegt, wie weit sie noch von dem Ideal der materialistischen Zivilisation entfernt seien! Wie viele Systeme über Eisenbahnen, über Philosophien und besondre Emerson: „Geschichte“, op. cit., 36; vgl. auch Marta Skwara: Mickiewicz i Emerson, op. cit., S. 120–121. 210 Gottfried von Buillon (1060–1100) und Bohemund von Tarent (um 1052–1111) Anführer des Ersten Kreuzzuges. Vgl. Steven Runciman: Geschichte der Kreuzzüge. München 1995. 211 Vitruvius (1. Jahrhundert v. Chr.), römischer Architekt; vgl. Vitruvii De architectura libri decem. Lateinisch und deutsch. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Curt Fensterbusch. Darmstadt 1964. (6. Aufl. 2008); Vegetius (Publius Flavius Vegetius Renatus), Kriegstheoretiker (2. Hälfte des 4 Jahrhunderts); vgl. Publius Flavius Vegetius Renatus: Abriß des Militärwesens. Lateinisch und deutsch. Mit Einleitung, Erläuterungen und Indices von Friedhelm L. Müller. Stuttgart 1997.

1452

Teil IV

Einrichtungen sie noch zu machen haben, um gleichen Schritt mit England und Preußen halten zu können! Diese Publizisten erschrecken über die geringe Zahl der Menschen, welche ihre Zivilisation vorstellen, unterhalb welcher, sagen sie, die Volksbarbarei sich regt und bereit ist, einen Einbruch in dasjenige zu machen, was sie das zivilisierte oder das gesetzliche Land nennen. So sind wir anderen, wir Slaven auch Barbaren, wir sind unter diesem Titel Brüder des französischen Volkes und erklärt für solche von euren Publizisten. Ich freue mich darüber, denn auf diese Brüderlichkeit bauen wir unsere Hoffnungen. Diese unverbesserliche Barbarei des französischen Volkes hängt mit dem Innersten seines Wesens zusammen. Wir haben gesagt, der französische Geist ist intuitiv; er fühlt sich erhaben über alles dasjenige, was kleinlich, vereinzelt, besonders über alles, was System ist. Unaufhörlich und hartnäckig strebt er nach dem, „was sogleich, was ganz und gar, was überall ist“.212 Die Griechen haben sich bald von ihrer materialistischen und durchgängig äußeren Zivilisation verderben lassen; sie haben ihrerseits auch sehr bald die Römer verdorben. Es hat eine Zeit gegeben, wo die großen Städte Griechenlands und Italiens nichts weiter mehr waren, als nur Tummelplätze, auf welchen die Sophisten und Schauspieler ihre Wettkämpfe hielten. Die Bevölkerungen versammelten sich, um die Epikuräer und Zyniker sprechen zu hören, um eine Abhandlung über die Schönheit Helenens213, von einem Gelehrten vorgetragen, zu hören, einen anderen wieder, der ein beredtes Lob aussprach, wessen? Das Lob einer Fliege! (Lukian214 hat für ein ähnliches Publikum das Lob der Fliege verfaßt). Das war es also, was den Geist der zivilisierten Völker des vierten und fünften Jahrhunderts beschäftigte. Das französische Volk hat nie einen tätigen Teil am Streite der Nominalisten und Realisten genommen, ebenso wenig an dem der Aristotelianer und Gassendianer wie an dem der Eklektiker und Hegelianer.215 Philosophisch und 212 Vgl. Luis-Claude de Saint-Martin: Œuvres posthumes, op. cit., S. 86. Nr. 674: „Une de mes plus utiles voies a été de viser constamment et opiniâtrement au tout à l’heure, au tout entier, au par-tout, et au perpétuellement.“ 213 Vgl. die „Lobrede auf Helena“ in – Gorgias von Leontinoi: Reden, Fragmente und Testimonien: Griechisch-Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Thomas Buchheim. (2. Auflage) Hamburg 2012; ferner – Sandra Zajonz: Isokrates’ Enkomion auf Helena: ein Kommentar. Göttingen 2002; Isocrates opera omnia. Drei Bände. Hrsg. Vasilis G. Mandilaras. München 2003. 214 Lukian von Samosata (120–180): „Die Fliege“ (Μυίας ἐγκώμιον). In: Lucian Werke. Übersetzt von Friedrich Pauly. Stuttgart 1830, Band 11, S. 1409–1415. 215 Über den Streit der Nominalisten und Realisten (Universalienstreit) vgl. die 22. Vorlesung (Teil III); ferner – Wolfgang Stegmüller: Glauben, Wissen und Erkennen. Das Universalienproblem einst und jetzt. 3. Auflage. Darmstadt 1974; Pierre Gassendis Aristoteles-Kritik

12. Vorlesung (30. April 1844)

1453

literarisch gesprochen, ist es stets barbarisch geblieben, stets jung und neu. Darum hat Frankreich, als Nation noch nicht gealtert, auch keinen Einbruch der fremden Barbaren zu fürchten. Der slavische Geist besitzt das nämliche Wesen und die nämlichen Bestrebungen wie derjenige der Franzosen. Einige ihrer Denker haben dieses schon bemerkt, unter anderen der Graf Joseph de Maistre. Dessenungeachtet haben jedoch der französische Geist und der slavische Geist in ihrer Entwicklung verschiedene Richtungen eingeschlagen. Der Franzose hat, nachdem er das Christentum angenommen, es sogleich angewandt; er hat danach gestrebt, dasselbe in die Verhältnisse des sozialen Lebens übergehen zu lassen, er hat das Christentum benutzt, um die Erde zu erobern, um freier auf Erden zu werden. Daher kommt sein Freimut, das tiefe Gefühl seiner Würde und vor allem diese stete Beweglichkeit, dieser Geist, den man revolutionär nennt und welcher die Franzosen von allen ihren Nachbarn unterscheidet. Da der Slave das Christentum viel später angenommen, da er noch nicht die nämliche Masse des heiligen Feuers ausgearbeitet hat; so ist er, es ist wahr, seiner Religion treu geblieben, er hat aber keinen einzigen irdischen Vorteil aus derselben gezogen; und was folgte hieraus? – Er leidet und er ergibt sich in sein Leiden. Aber der eine und der andere haben bis jetzt noch keine Ruhe auf Erden gefunden. Weder die Industrie noch die Philosophie haben den französischen Geist zu fixieren vermocht. Ebenso wenig ist es irgendeiner Regierung gelungen, den slavischen Geist zu sättigen. Der eine und der andere bedürfen der Wahrheit, und sie werden nur ausruhen können in einer Wahrheit, die im Stande sein wird, allen ihren moralischen Bedürfnissen zu genügen. Der eine bewegt sich, um sie zu finden, der andere wartet sie ab, und in diesem Warten läßt er die Regierungen und die Systeme, unfähig, ihm das irdische Glück zu sichern, weil dieses von dem Heil seiner Seele unzertrennlich ist, vorübergehen.

vgl. – Exercitationes paradoxicae contra Aristoteleos (1624). Paris 1959; über Eklektiker und Hegelianer in Frankreich vgl. Pierre Leroux: Réfutation de l’éclectisme: où se trouve exposée la vraie définition de la philosophie, et où l’on explique le sens, la suite, et l’enchainment des divres philosophes depuis Descartes. Paris 1839. Vertreter des Ekletizismus in Frankreich war Victor Cousin (1792–1867), der sich mit Kant, Schelling und Hegel beschäftigte; vgl. Victor Cousin: Über französische und deutsche Philosophie. Aus dem Französischen von Hubert Beckers. Nebst einer beurtheilenden Vorrede des Herrn Geheimenraths von Schelling. Stuttgart 1834; V. Cousin: Cours de l’histoire de philosophie. 4 Bände. Paris 1841; Über V. Cousin vgl. Serge Nicolas: Histoire de la philosophie en France au XIXe siècle: Naissance de la psychologie spiritualiste (1789–1830). Paris 2007.

1454

Teil IV

Was sind demnach diese beiden Völker? – Die beiden Pole der nämlichen Kraft; sie sind die beiden Arme des nämlichen Geistes, berufen zu gleicher Zeit zu wirken, um die nämliche religiöse und politische Sendung auszuführen. Diese Sendung ist uns schon emblematisch verkündet in dem, was ich den Haus- und Privatkultus der beiden Nationen nennen werde. Alle Kulte, bevor sie öffentlich werden, bleiben lange Zeit in den Häusern der Privaten verschlossen. Wollen sie die Anfänge eines neuen Kultus erforschen? – So müssen sie die Mansarden des Tagelöhners, die Kabanen des französischen Landmanns, die Hütten des polnischen Landmanns besuchen. Welche Gegenstände der Verehrung finden sie dort? Welche Sinnbilder? Welche Namen? In erster Linie erblicken sie dort das Kreuz, welches die ganze Vergangenheit zusammenfasst, dann das Antlitz des Kaisers, Sinnbild der Kraft, und an der Seite derselben das Bild des Marschalls Józef Poniatowski, als Zeichen des Ehebundes der beiden Nationen. Diese beiden Nationen haben also die nämliche politische Religion, sie haben die nämlichen Götter, sie besitzen die nämlichen Schußheiligen. Das endliche Symbol, welches sie von neuem vereinen wird, muß desgleichen ein nationales für die beiden Völker sein. Der Tag, an welchem dieses Sinnbild, von dem sich in den Gewissen der Individuen schon der Entwurf vorfindet, sich als nationales Wort kundgeben wird, der Tag, an welchem die von der Volksverehrung geheiligten Embleme auf dem Banner des Christentums erscheinen werden, dieser Tag, zweifeln wir nicht daran, wird alle diejenigen wieder vereinen, die sich schon im Geist gewaffnet und bereit fühlen zu marschieren. Die Religion, so lange sie tief gefühlt und mächtig kundgegeben war, richtete an die Menschen keinen andern Ruf als denjenigen, vorwärts zu schreiten und aufwärts zu steigen. Vorwärts gehen und aufwärts steigen, das ist der Sinn aller Lehren des Christentums: nun, so marschiert in einem fort, steigt ohne Unterlaß aufwärts und betrachtet die Jahre Eures Lebens, die vergangenen Jahrhunderte Eurer Nation, die Epochen der Kirche als ebenso viele Stufen, die Euch helfen werden, Euch höher zu erheben. Die Lehrer der Kirche haben gesagt, jeder Christ sei berufen, während seines Lebens alle die Epochen der Kirchengeschichte durchzumachen, er habe in sich selbst diese Geschichte zu resümieren. Emerson, hierin einverstanden mit den christlichen Doktoren, muntert uns auf, in uns die politische Geschichte unserer Nationen zu resümieren, sie zu ergänzen und ein neues Kapitel derselben zu beginnen. Fünfzig Jahre vor Emerson erfaßte Ignacy Krasicki, ein polnischer Dichter, die nämliche Idee von der Einheit des individuellen Geistes, der die Vielfachheit der Formen durchmacht; er entfaltete sie in einem geschichtlichen

12. Vorlesung (30. April 1844)

1455

Roman.216 Dieser Roman enthält die Geschichte eines Wesens der Phantasie, eines ewigen Menschen, etwa wie der irrende Jude, nur interessanter als dieser. Denn während dieser von demselben Fluch und denselben Gewissensbissen verfolgt, immer derselbe bleibt, wechselt der Mensch des Krasicki, da er das Geheimnis besitzt, sich zu verjüngen, als käme er von Geschlecht zu Geschlecht wieder zur Welt, nach Willkür die Familie und die Nationalität und wird der Reihe nach Chinese, Karthager, Römer und endlich Pole. Er hat demnach das Leben mehrerer Nationen, mehrerer Völker und eine große Zahl von Jahrhunderten gelebt; er hat mit ihnen genossen und gelitten. Nun wohlan! Existierte dieser Mensch noch, welche Nationalität würde er sich wohl zu seiner Wiege wählen? Welchem philosophischen oder religiösen System würde er den Vorzug geben? Welcher Idee würde er sich weihen? Diese Frage, meine Herren, könnten wir auch an uns selbst richten! Es handelt sich hier um das Prinzip unseres religiösen und moralischen Lebens, folglich um unser Heil, in allen möglichen Bedeutungen dieses Wortes. Jeder von uns hat das Recht, die Frage, welche sein Heil betrifft, von dem Gesichtspunkt des ewigen Menschen aus zu betrachten. Euer Heil? Werden die Doktoren der amtlichen Kirche sagen; – nun, ihr wisst ja, wie man es erlangt: betet, denkt nach, geht zur Beichte. Hierauf könnte der ewige Mensch antworten, daß er dies alles schon vor vierzehn Jahrhunderten getan hat, und daß er dessenungeachtet noch nicht erlöst sei. Vielleicht wird man ihm alsdann raten, eine vollkommnere Lebensart zu versuchen. Verschließt euch in ein Kloster, wird ihm irgendein heiliger Trappist sagen, oder begebt euch in die Wüste, tut Buße, entschlagt euch vollkommen der Erde und ihr werdet in den Himmel eingehen. – Aber, mein Vater, ich habe das schon getan. Ich bin vor dreizehn Jahrhunderten auf dem Berge Karmel217 gestorben; man hat mich heilig gesprochen, noch aber bin ich nicht im Himmel. Mein Leben habe ich dazu angewendet, diese Bitte des Herrn zu wiederholen: Dein Reich komme! Und ich sehe, daß ich nichts getan habe, um das Kommen dieses Königreichs zu fördern. Ja, ihr habt euren Beruf verfehlt, wird man ihm sagen; ihr wart geboren zur Tat; und wohlan! Wirkt, kämpft, tragt das Kreuz unter die Heiden. Auch das habe ich getan; einstens war ich Franzose, einer derjenigen, die auf dem Strand von Afrika zu den Füßen Ludwig des Heiligen starben; und siehe da, ich bin wieder auf Erden, welche, ich bin fast versucht zu glauben, viel mehr der Hölle 216 Vgl. Ignacy Krasicki: Historia. Opracował i wste̜pem poprzedził Mieczysław Klimowicz. Warszawa 1956; vgl. auch Roman Wołoszyński: Ignacy Krasicki – utopia i rzeczywistość. Warszawa 1970. Ignacy Krasicki (1735–1801) – Dichter der polnischen Aufklärung. 217 Karmel – Gebirge in Israel; dort entstand um 1150 der Karmelitenorden.

1456

Teil IV

wiederähnelt, als sie es damals schien. Was bleibt uns nun gegenwärtig zu tun übrig? Ich weiß nicht, was die amtliche Kirche hierauf dem ewigen Menschen zu antworten hätte. Beobachtet sie das Stillschweigen, so sind die weltlichen Reformatoren bereit Ratschläge zu geben. Sie werden sagen, da die Religion ihre Verheißungen nicht gehalten hat, so ist dies ein Beweis, daß sie unfähig ist dieselben zu erfüllen, daß man nichts mehr von der Religion zu erwarten habe, daß das ganze tausendjährige Leben des ewigen Menschen nur ein Irrtum war. Sich retten, werden sie sagen, heißt nicht den Kampf fliehen, sondern siegen. Ein Held rettet sich, indem er die Armee rettet. Die Kirche Jesu Christi hat uns nicht gelehrt, uns auf diese Weise zu retten; lassen wir also die Kirche und rufen wir die menschliche Vernunft an. Hilft uns Gott nicht, nun so rufen wir unsere Brüder, die ganze Menschheit zu Hilfe; fangen wir eine politische Revolution an. Ich habe sie schon gemacht, meine Herren, diese Revolution; es ist nicht lange her, wird der ewige Mensch sagen. Erkennt ihr mich nicht? Ich habe in dem Konvent neben Robespierre und Danton gesessen. Im Namen der Idee, von der ihr redet, haben wir große und schöne Reformen eingeführt, die aber doch weder dem Volk noch den Philosophen genügt haben, denn ich höre von neuen Systemen und neuen reformatorischen Plänen reden. Da man nun verzweifelt den Himmel zu erklimmen, so verspricht man uns soziale Reformen, welche eines Tages diese Erde in den Himmel verwandeln sollen. In dieser Erwartung rät man uns an, sich müßig zu verhalten, und doch habe ich Eile, zu leben, ich habe nötig, zu wirken. Was bleibt uns also zu tun übrig? Um eine solche Frage im Geiste zu lösen und sie auf Erden auszuführen, muß man sich wirklich in der Lage dieses ewigen Menschen fühlen, man muß sich das Kind seiner Kirche, den Sohn seines Volkes fühlen, solidarisch verantwortlich für alle seine geistigen und zeitlichen Vorfahren; man muß alle die Eigenschaften, alle die Tugenden besitzen, welche unsere Ahnen im Schweiße ihres Angesichts und um den Preis ihres Blutes erworben haben. Man muß die ganze religiöse und politische Vergangenheit zusammenfassen, aus derselben eine einzige Flamme machen und sie in dem Heiligtum unserer Seele nähren, damit alles, was in der Geschichte heilig, wahr und groß gewesen ist, sich in unserem Innern, im Keime, in Virtualität und in Macht wiederfindet. So war der Gottmensch, so muß der Mann sein, dem es übertragen ist, sein Werk in der gegenwärtigen Epoche fortzusetzen. Dieser Mann muß den Eifer der Apostel, die Aufopferung der Märtyrer, die Einfalt der Mönche, die Kühnheit der Männer vom Jahre 1793, die feste, unerschütterliche und niederschmetternde Tapferkeit der Soldaten der großen Armee und das Genie ihres Führers haben. Dieses sind die Züge des idealen Mannes unserer Epoche: das muß man sein,

12. Vorlesung (30. April 1844)

1457

um es zu wagen, eine neue Epoche zu verkünden; das muß man sein, um den Franzosen und den Polen sagen zu dürfen: Folgt mir! Die Aufgabe derjenigen, die ihm gern folgen möchten, ist äußerst schwierig; sie setzt von ihrer Seite das allerhärteste der Opfer voraus: die geistige Sichselbstverleugnung. Zur Zeit Jesu Christi empfanden die Menschen, welche ihm zu folgen wünschten, einen großen Widerwillen gegen die Aufopferung ihrer irdischen Güter, ihrer Reichtümer. Einer dieser Männer, voller Frömmigkeit und im Innersten gerührt von den Worten des Messias, entfernte sich dennoch ganz traurig, sagt der heilige Matthäus, denn er besaß große Güter.218 In den gegenwärtigen Zeiten sind die Güter, welche die Menschen am meisten schätzen und von denen sie sich am schwersten trennen, die intellektuellen Güter, diejenigen, welche sie mit ihrer intellektuellen Arbeit erworben haben. Die Reputation, die man sich gemacht hat, das System, welches man geschaffen oder verbreitet hat, die Formeln, die man gewöhnlich anwendet, das sind Erbgründe, Erbhäuser: das sind die Zauberschätze des zivilisierten Menschen. Er hat sein ganzes moralisches Leben darangesetzt, um seinen Ruf, sein System zu begründen, – er hat nichts als dieses, und nun kommt man und bezweifelt den Wert desselben! Viel eher wird er alle seine materiellen Güter aufgeben, allen Reichtümern der Erde entsagen, als die allerletzte der Formeln seines philosophischen oder sozialen Systems verlassen. „Die Geister dieser Menschen“, sagt der berühmte polnische Schriftsteller Jan Śniadecki219, von den deutschen Philosophen redend, „brauchen die dunkeln Formeln so wie die Spitzbuben das Dornen- und Strauchgebüsch brauchen; dort fühlen sie sich am wohlsten, und es ist unmöglich, sie von da zu vertreiben, man müßte denn etwa Feuer dranlegen.“220 218 Neues Testament – Matthäus 19, 22: „Als der junge Mann das hörte, ging er traurig weg; denn er hatte ein großes Vermögen.“ 219 Jan Śniadecki (1756–1830), polnischer Mathematiker, Astronom und Philosoph; vgl. seine Kant-Kritik in: Jan Śniadecki: Pisma rozmaite. Wilno 1822, tom 4. 220 Mickiewicz zitiert hier ungenau aus Śniadeckis „Przydatek do pisma o filozofii [1820]“. In: J. Śniadecki: Pisma rozmaite, op. cit., S. 153), der allerdings (auch ungenau) David Hume anführt, und zwar aus dem Abschnitt I „Of the different species of philosophy“ von David Hume: An Enquiry Concerning Human Understanding. London 1748, S. 10, der dort im Sinnzusammenahng lautet: „Here indeed lies the justest and most plausible objection against a considerable part of metaphysics, that they are not properly a science; but arise either from the fruitless efforts of human vanity, which would penetrate into subjects utterly inaccessible to the understanding, or from the craft of popular superstitions, which, being unable to defend themselves on fair ground, raise these intangling brambles to cover and protect their weakness. Chased from the open country, these robbers fly

1458

Teil IV

Man wird kein Feuer an die Bibliotheken legen, aber wir wollen hoffen, daß man sie weniger besuchen wird, sobald das öffentliche Leben belehrender geworden ist. Der nationale Unterricht fließt aus den großen nationalen Handlungen und verbreitet sich von selbst durch die lebende Überlieferung. Eine Nation belehrt sich über Religion, über Politik, über Moral nur durch die großen Beispiele; sie bedarf großer Taten und folglich auch großer Männer. Im ganzen Lauf des Mittelalters haben die Bürger und die Landleute nicht aufgehört, moralische Fortschritte zu machen, indem sie den Lebensgeschichten der Heiligen und den Erzählungen der glänzenden Waffentaten der Ritter zuhorchten, indem sie Beispiele von Tapferkeit, Großmut und Aufopferung erzählen hörten. Der Bürger und der Landmann, auf diese Weise gebildet, waren schon vor dem Erscheinen auf den Schlachtfeldern des letzten Jahrhunderts innerlich Ritter und Helden. Nur diese Art Unterricht ist es, welche wahrhaft auf die häusliche Moralität einwirkt. Man klagt über die Entzweiung in den Familien, über die moralische Unordnung, die in denselben herrscht. Das Weib, sagt man, fahre fort unter der Vormundschaft des Priesters zu leben, und empfange eine Erziehung, die derjenigen des Mannes entgegengesetzt ist: es ist keine häusliche Harmonie, kein Zweck für die gemeinsame geistige Tätigkeit mehr vorhanden; es gibt keine Eintracht mehr! Dieses häusliche Übel ist nur die Folge des universellen Übels. Ist einmal der Zweck für die nationale Tätigkeit verfehlt, so findet sich auch das häusliche Leben durch die nämliche Tatsache aus der Bahn geschleudert. Im Mittelalter betete das Weib in ihrem Betsaal für das Wohlergehen der nämlichen Sache, für welche ihr Mann auf den Schlachtfeldern kämpfte; sie war gewiß, daß ihre Gebete dem Mann Hilfe brachten. Demgemäß hatten sie einander nötig, da sie demselben Zwecke entgegengingen, fühlten sie sich in dem nämlichen geistigen Werke vereint. Die Erinnerungen an die verstorbenen into the forest, and lie in wait to break in upon every unguarded avenue of the mind, and overwhelm it with religious fears and prejudices. The stoutest antagonist, if he remit his watch a moment, is oppressed. And many, through cowardice and folly, open the gates to the enemies, and willingly receive them with reverence and submission, as their legal sovereigns.“ – (Dies ist allerdings der gerechteste und annehmbarste Vorwurf gegen einen großen Teil der metaphysischen Untersuchungen; man sagt, sie seien keine wahre Wissenschaft, sondern nur das Ergebnis nutzloser Anstrengungen menschlicher Eitelkeit, welche in Gegenstände eindringen will, die entweder dem Verstand unzugänglich oder das Werk eines listigen Aberglaubens sind, welcher auf ebenem Boden sich nicht verteidigen kann, und deshalb in dieses verworrene Gestrüpp sich verkriecht, um seine Blöße zu decken und zu schützen. Verjagt vom freien Felde, fliehen diese Räuber in den Wald und liegen auf der Lauer, um durch jeden unbewachten Zugang in den Geist einzubrechen und ihn durch religiöse Furcht und Vorurteile zu überwältigen). – David Hume: Untersuchung über den menschlichen Verstand. Leipzig 1910, S. 4.

12. Vorlesung (30. April 1844)

1459

Eltern lebten unter den Kindern fort: sie riefen ihre Mutter als eine Heilige an und lernten die Geschichte ihres Vaters auswendig; sie schöpften aus derselben ihre politische und kriegerische Lehre. Dieser Zustand der Dinge besteht noch in Polen, wo das Weib an den Verschwörungen Teil nimmt, ihren Mann nach Sibirien begleitet und manchmal zu Pferde steigt, um das Land zu verteidigen.221 Die Familien nähren sich daselbst noch von dem großen Leben der Nation. In allen anderen Ländern Europas besteht dieses Leben nicht mehr. Man sage nicht, daß dieses aus Liebe zur Vergangenheit geschehe, oder um den Ernst des gegenwärtigen Lebens zu vermeiden, daß das Weib darauf beharre, unter der Vormundschaft des Priesters zu bleiben. In den ersten Zeiten des Christentums fürchteten die Frauen keinesweges den Ernst dieser Religion und bestanden nicht darauf die heidnischen Priester um Rat zu fragen; instinktmäßig fühlten sie im Christentum ein höheres und kräftigeres Leben voraus. Gegenwärtig warnt sie derselbe Instinkt, daß sie von den philosophischen und sozialen Systemen nichts zu erwarten haben; sie ziehen daher die Männer der Vergangenheit dieser Gattung von Systemmenschen vor, die weniger wert sind als die Toten, denn sie haben nicht einmal gelebt; eigentlich gesprochen, existieren sie gar nicht, es sind bloß ihre Systeme, welche existieren. Welches wirkliche Leben, frage ich sie, kann man erwarten von einem Mann hervorgehen zu sehen, der eine Abstraktion geworden ist? Lassen wir doch diejenigen, die da sagen, die Welt brauche keine Wunder mehr, die Nationen brauchen keine Helden mehr, der häusliche Herd brauche keine Schutzheiligen mehr, lassen wir sie in ihren Familien die Folgen ihrer materialistischen Doktrinen, wahrhafter Todesformelm erfahren. Nachdem die Heiligen und die Helden aus der Familie verjagt sind, wird das Haupt der Familie in derselben sich selbst fremd fühlen; es hat nichts mehr seinem Weib, seinen Kindern, seinem Hausgesinde zu sagen. Der Geist des Weibes, ebenso wie derjenige des Mannes aus dem Volk, welches auch ihre besonderen Beschäftigungen sind, hat doch immer die Luft des großen religiösen und nationalen Lebens mit voller Brust einzuatmen nötig. Die großen Taten sind es, welche dieses Leben erzeugen und unterhalten. Hofft man etwa, das Weib werde sein Andachtsbuch aufgeben und den Prediger verlassen, um über soziale Vorschläge, über Spekulationen, über akademische Reden sprechen zu hören? Und man hat einen Augenblick mutmaßen können, das Volk werde seine Verehrung großer Männer verleugnen, um die schönen Theorien anzubeten! 221 Vgl. dazu die 30. Vorlesung (Teil II).

1460

Teil IV

Ein Philosoph hätte nur zu beobachten, was in seiner eigenen Familie vorgeht, um die Leerheit von dergleichen Versuchen einzusehen. Nicht auf diese Weise wird man das Weib und das Volk der Vergangenheit entreißen. Es gibt nur ein einziges Mittel, die Vergangenheit zu besiegen, dieses Mittel ist, ihr eine ebenso wahre und zu gleicher Zeit mächtigere und ruhmreichere Gegenwart entgegenzusetzen: das Ideal der ursprünglichen Zeiten der Kirche und dasjenige des Mittelalters durch das Ideal der modernen Zeiten zu ersetzen. Die Menschen zu Gott erheben, ihnen das Gefühl der großen Taten einflößen, sie zu großen und erhabenen Handlungen zu treiben, das ist das einzige Mittel für das Glück der Völker und der Familien zu arbeiten; mit einem Wort, es ist dieses: sie vorbereiten, das Ideal zu finden und zu erkennen.

13. Vorlesung (21. März 1844) Der Schluß – Alle die Hoffnungen der modernen Sozialisten konzentrieren sich in der Idee, eine neue Synthesis zu schaffen – Die Unmöglichkeit diese Synthese kraft der alten Verfahrungsarten zu erhalten – Die Unzulänglichkeit der Männer, welche wirken – Der Zweck unseres Vortrages – Der Ruf an Frankreich. Das Ecce Homo der Epoche.

Meine Herren! Unser Vortrag konnte und durfte nichts anderes sein, als ein Ruf des nationalen polnischen Geistes an den Geist der französischen Nation. Unter dem Namen Nationalgeist darf man nicht bloß das Ganze der Volksideen und Volksmeinungen verstehen, sondern den Grundsatz selbst, das Prinzip oder die Quelle, aus welcher sie fließen. In diesem Sinne wird häufig in der heiligen Schrift von den Geistern der Kirchen und der Völker gesprochen, die von den Propheten und dem heiligen Apostel Johannes die Engel der Kirchen und der Nationen genannt werden. In diesem Sinne ist der Geist einer Nation dasjenige, was als das Realste und Konkreteste in ihr vorhanden ist, es ist ihre ewige Persönlichkeit. Die Frucht der hundertjährigen Arbeiten der polnischen Nation ist das religiöse und patriotische Gefühl, welches man bei uns miłość ojczyzny, Vaterlandsliebe222, nennt, die Liebe des himmlischen und des irdischen Vaterlandes, das ist das unterscheidende Merkmal der Polen, welches sich bei ihnen als heiliges Feuer kundgibt. Vaterlandsliebe oder heiliges Feuer, dieses Gefühl ist in Wirklichkeit nur das Resultat eines langen geistigen Lebens; es ist das Prinzip; das Unterpfand des künftigen Lebens der Menschen und der Nationen. Nach diesem Prinzip war es, daß wir die Menschen und die Nationen klassifiziert haben. Die großen Männer sind diejenigen, welche, nachdem sie mehr und besser gearbeitet haben als alle ihre Zeitgenossen, nachdem sie ihnen so vorangeeilt sind, zuerst dazu gelangen, in ihrem Busen dieses göttliche Prinzip, diesen geheimnisvollen Gott, den einzigen Ratgeber solcher Männer, wie Karl der Große und die Piasten, wie Sobieski und Napoleon, ihren Berater und ihren Bundesgenossen zu wecken. Setzt sich eine ganze Nation die Bedingung, diese hohen Eingebungen, welche die großen Männer auszeichnen, zu erhalten, so hat sie das Recht, sich eine große Nation zu nennen. Die Größe eines Volkes steht im geraden Verhältnis mit der intensiven Kraft seines patriotischen Feuerherdes; seine

222 Vgl. die 12. Vorlesung (Teil I).

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_113

1462

Teil IV

Wirkungssphäre mißt sich nach der Weite seines sympathischen Strahles. Alles dieses hängt von einem einzigen und dem nämlichen geistigen Prinzip ab. Wir haben gesagt, daß dieses, den Heroismus, die gesetzgebende Weisheit und die Kunst erzeugende Prinzip zu gleicher Zeit die Quelle aller wissenschaftlichen Entdeckungen ist. Die Entdeckungen, wohl ist es an der Zeit, daß man es erkenne, sind durchaus nicht die natürlichen Erzeugnisse einer Zivilisation; sie hängen keineswegs von den Einrichtungen ab, die man für die Entwicklung und den Fortschritt der Wissenschaften schaffen kann: sie entstehen außerhalb der Berechnungen der Vernunft, sie ragen mit der Höhe des Geistes über das Wissen hervor. Diese große Wahrheit über das erzeugende Prinzip der wissenschaftlichen Erfindungen, daß nämlich jede intellektuelle Erfindung nur ein moralischer Funken, eine Eingebung von Oben ist, haben die Slaven zuerst erkennen und die Polen bestimmen müssen. Unsere großen Erfinder; Ciołek (Vitellio)223, Johann von Glogau (Jan z Głogowa)224 Kopernikus225, Zalužanský226, gingen aus der Mitte eines unwissenschaftlichen Volkes hervor und hatten zu ihrer Verfügung weder Bibliotheken noch Beobachtungswerkzeuge, die mit denen Griechenlands oder Italiens verglichen werden könnten. Dasselbe fand überall statt: man braucht nur die Geschichte der großen neuzeitigen Entdeckungen zu Rate zu ziehen. Wer war es, der die Gestalt der Welt in materieller Beziehung geändert hat, indem er den alten Kontinent mit Amerika verband? Wer war es, der eine neue Art der Bewegung geschaffen hat? War es denn die eigentlich so genannte Wissenschaft diejenige, welche man die offizielle oder amtliche nennen könnte? Keinesweges, Christoph Kolumbus wußte so wenig von der himmlischen Meßkunst, daß er sich einbildete, unser Planet müsse die Form einer Birne haben. Der Erfinder der Dampfmaschinen war ein französischer Arbeiter227, ganz unbekannt mit den Wissenschaften der angewandten Mathematik. Montgolfier wußte nichts von der Chemie.228 Die Bewegung des Rauches aus einem Schornstein betrachtend, begriff er, daß es 223 [Gestorben gegen Ende des 13. Jahrhunderts. Er schuf die Optik. Sein Werk wurde veröffentlicht im Jahre 1535: „Vitellionis perspectivae libri XI“. Einige behaupten, daß er das arabische Werk des Al-Hasan benutzt hat. Siehe unseren Vortrag vom Jahre 1841. – Anmerkung A. Mickiewicz]; vgl. die 1. Vorlesung (Teil I). 224 [Erfinder der Kraniologie (Schädellehre). Sein Werk: „Questiones librorum de anima“, erschien zu Metz im Jahre 1501. Siehe unseren Beitrag vom Jahre 1841. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß der Erfinder der Buchdruckerkunst, Gutenberg, ein Tscheche gewesen ist, gebürtig aus Kutné Hory (Kuttenberg). Siehe unseren Vortrag vom Jahre 1841. Anmerkung A. Mickiewicz]; vgl. die 19. Vorlesung (Teil I). 225 Vgl. die 1. und 19. Vorlesung (Teil I), 22. Vorlesung (Teil III). 226 Vgl. die 1. Vorlesung (Teil I). 227 In der Geschichte der Erfindung der Dampfmaschine auch unbekannt. 228 Joseph Michel Montgolfier (1740–1810) und Jacques Étienne Montgolfier (1745–1799).

13. Vorlesung (21. März 1844)

1463

für den Menschen eine Möglichkeit gäbe, sich in die Luft zu erheben. Französische Arbeiter, einfache Steinschneider, übten lange zuvor, ehe noch der berühmte Gaspard Monge229 die Gesetze derselben erklärte, die Regeln der beschreibenden Meßkunst aus. Monge, der nur die Entdeckung der Arbeiter in ein System gefaßt hat, gilt für den Erfinder derselben. Die Medizin endlich, diese so alte Wissenschaft, welche nie aufgehört hat, von einer großen Zahl geschickter Männer gepflegt zu werden, hat fast alle ihre Spezifika den alten Zeiten und den .barbarischen Völkern entlehnt. Die akademischen Fakultäten der Medizin haben nicht ein einziges Spezifikum erfunden. Die Unfruchtbarkeit der amtlichen Wissenschaft in Betreff der Entdeckungen ist allgemein bekannt. Die literarische Unfruchtbarkeit der Akademien ist bei ihnen selbst sprichwörtlich geworden; sie wissen, daß die Verfasser der Wörterbücher und der Grammatiken mit keinem einzigen neuen Ausdruck die Sprache bereichert haben. Die ganze Welt hat diese Beobachtung gemacht, die Polen waren es aber, welche zuerst die philosophischen Gesetze hieraus gefolgert haben. In einem neulich veröffentlichten Werke230 wird nachgewiesen, daß die Linguistik, mit ihrer Syntax, mit ihren Grammatiken und Wörterbüchern, jedesmal hemmend auf die Landessprache eingewirkt hat. Die Menschen, welche sich mit derselben beschäftigen, des schaffenden Geistes beraubt, suchen allemal zu fixieren, zu definieren und anzuhalten, was lebend, was fortschreitend und was nicht zu bestimmen ist. Die Polen haben also, in allen Sphären, das begeisterte oder intuitive Wissen von der angelernten oder amtlichen Wissenschaft getrennt. Man leugnet keinesweges die Nützlichkeit der letztern ab; sie sammelt, sie ordnet, sie trägt ein, die Eingebung aber ist es allein, welche schafft. Doch hat die angelernte Wissenschaft, welche; wie sie es selbst eingesteht, unfähig ist, Schlachten zu gewinnen, Gesetzbücher zu schaffen, Meisterwerke hervorzubringen und selbst einen einzigen neuen glücklichen Ausdruck zu finden (zu allem dem ist Genie nötig), doch hat diese Wissenschaft sich im Stande geglaubt, die erhabenste von allen Entdeckungen zu erlangen, das Größte zu finden, nämlich ein neues moralisches Gesetz, wie es die Schule ausdrückt. Alle philosophischen Wünsche laufen gegenwärtig und kommen in der Hoffnung zusammen, diese neue Synthesis zu finden. Man sagt, daß da der Geist der Kritik und der Analyse, welcher unsere Epoche bezeichnet, seine Zeit durchgemacht hat, es nun wichtig wäre die Synthese231 zu beginnen; daß da 229 Gaspard Monge (1746–1818), französischer Mathematiker. 230 [Siehe „Rozprawy o języku polskim i jego gramatykach“, Lwów 1843, von Deszkiewicz. Anmerkung A. Mickiewicz]. Jan Nepomucen Deszkiewicz (1796–1869). 231 Nach Henri de Saint-Simon: Introduction aux travaux scientifiques du dix-neuvième siècle. 2 Bände, Paris 1807, gibt es für den menschlichen Geist „zwei Arten der Verfahren, die Synthesis und die Analysis. Durch die erste steigt er vom Allgemeinen zum Besonderen

1464

Teil IV

die alten Methoden erschöpft seien, uns nun übrig bleibe, eine neue Methode, eine erfinderische (inventive) oder zeugende (genetique) zu entdecken. Man hat selbst schon diese erfinderischen Methoden versucht, welche nichts erfunden haben, und man ist dazu gekommen synthetische Zeitungsblätter232 zu veröffentlichen. Sie unterscheiden sich von den anderen Zeitungen nur durch ihre Titel. Es sind dies Versuche, vollkommen denjenigen gewisser Goto- und Grekophilen ähnlich, welche die griechische oder gotische Kunst233 wiederherstellen wollten. Man sah es nicht, man hat es nicht begreifen können, daß, um hierin einen Erfolg zu haben, es zuvörderst nötig war, die Lebensweise der Griechen und der Ritter des Mittelalters zu beginnen: nun wohlan! Dasselbe gilt von der Synthese. Ein gotischer Turm, plötzlich aus der Tür eines pariser Salons hervortretend, würde uns ein viel kleineres Wunder darstellen, als wenn eine Synthesis aus dem Kabinett eines Schriftstellers hervorginge. Die Analyse oder die Synthese, das sind, merken sie sich dieses wohl, keine willkürlichen Verrichtungen des individuellen Geistes: es sind dieses intellektuelle Angewöhnungem, die aus dem moralischen Leben des Denkers hervorgehen und ihre Wurzeln in dem Geist des Jahrhunderts haben. Glauben wir doch nicht, daß die eine und nämliche Vernunft, ihrem Willen gemäß, der Reihe nach die Rollen wechseln und analytische oder synthetische Verrichtungen machen könnte. Wie kann der Mensch, welcher sein Leben damit zugebracht hat, zu beobachten, zu analysieren, die moralischen und wissenschaftlichen Wahrheiten zu zergliedern, auf einmal generell und synthetisch werden? Damit eine Intelligenz eine dermaßen durchgängig neue und ihren alten Gewohnheiten entgegengesetzte Richtung nehmen könne, muß das Motiv (die Bewegkraft, der Hebel) dieser Vernunft, der innere Mensch, eine moralische Anstrengung machen, er muß von Grund aus seine Natur ändern, sich wiedergebären, sich erneuern.

nieder, durch die zweite vom Besonderen zum Allgemeinen hinauf.“ – Moritz Veit: Saint Simon und der Sainteimonismus: allgemeiner Völkerbund und ewiger Friede. Leipzig 1834, S. 50; vgl. ferner – Hegelianismus und Saint-Simonismus. Hrsg. Hans-Christoph Schmidt am Busch u.a., Paderborn 2007. 232 Vgl. die Zeitschrift „Revue Synthétique“. Scientes, Littérature, Beaux-Arts, Industrie, herausgegeben von Victor Meunier zwischen 1842–1844. 233 Vgl. den Sammelband: Ausdrucksformen des europäischen und internationalen Philhellenismus vom 17. – 19. Jahrhundert. Hrsg. Evangelos Konstantinou. Frankfurt am Main u.a. 2007; Barbara Paczkowska: Gotycyzm. In: Słownik literatury polskiej XIX wieku. Red. Józef Bachórz und Alina Kowalczykowa. Wrocław-Warszawa-Kraków 1995, S. 323–326.

13. Vorlesung (21. März 1844)

1465

Das Evangelium spricht von dem jüdischen Philosophen Nikodemus234, welcher auch, in den kritischen Zeiten lebend, die Synthesis suchte und zu seiner großen Verwunderung erfuhr, daß man sie nur unter einer Bedingung fände, nämlich unter der, sich zu erneuern (wiederzugebären, régénérer). Dieses war nun die einzige Sache, welche dieser Meister in Israel nicht verstand. Die philosophischen Schulen, welche die christliche Synthesis fortzusetzen oder wiederherzustellen behaupten, sollten die strenge Lehre, die dem jüdischen Meister erteilt wurde, wohl bedenken. Die neue Synthese ist berufen, neue Mittel zu schaffen und höhere Wirkungen hervorzubringen, als alle diejenigen sind, welche wir in der Vergangenheit gesehen haben; sonst würde es keine neue sein. Einige Philosophen ahnen das. „Bis auf den heutigen Tag, sagt Cieszkowski, reichte es aus, um die Menschen zu lenken, die Antezedentien der Individuen und der Nationen zu kennen. Man berief sich in letzter Instanz nur auf die Geschichte und auf die Erfahrung: dieses genügt nicht mehr. Gegenwärtig muß man, um unsern Nächsten zu führen, und um so mehr, um eine Nation zu leiten, im Voraus den Zweck sehen, zu welchem man sie, den Einen und die andre führet, und die Mittel wissen, denselben zu erlangen; man muß die Zukunft kennen, man muß Prophet sein.“235 Prophetie oder Synthesis sind gleichmäßig fremde Dinge für den Geist des Jahrhunderts, den Geist des Zweifels, der Auflösung und der Kritik! Es ist offenbar, daß in den Zeiten, wie die unseren sind, damit es die Möglichkeit ein-er Synthesis gäbe, zuvörderst ein Mann der Synthesis (un homme-synthèse) vorhanden sein muß, verschieden von allen seinen Zeitgenossen durch seine geistigen Gewohnheiten und dem zufolge über dem Geist des Jahrhunderts 234 Über Nikodemus, der nur im Johannes-Evangelum vorkommt, vgl. Neues Testament – Johannes 3, 1–13. Vgl. auch den Roman von Jan Dobraczyński: Gib mir deine Sorgen: die Geschichte des Pharisäers Nikodemus. (3. Auflage) Giessen-Basel 1999. 235 Kein Zitat. Freie Wiedergabe der Ausführungen Cieszkowskis über die Möglichkeit der Erkennbarkeit der Zukunft und deren Wirklichkeit: „Die Zukunft kann überhaupt dreifach determiniert werden: durch das Gefühl, durch das Denken und durch den Willen. Die erste Determination ist die unmittelbare, natürlich, blinde, zufällige: daher erfaßt sie meistenteils nur die Partikularitäten des Seins, einzelne Facta; – sie wird ahnend, – sie erzeugt Seher, die Propheten. […] Die zweite Determination ist eine reflektierte, gedachte, theoretische, bewußte, notwendige; – daher erfaßt sie meistensteils die Allgemeinheit des Gedankens, die Gesetze, das Wesentliche, – sie erzeugt die Philosophen der Geschichte. […] Die dritte Determination ist endlich die wirklich-praktische, angewandte, vollführte, spontane, gewollte, freie; – daher umfasst sie die ganze Sphäre der Tat, die Facta und ihre Bedeutung, die Theorie und die Praxis, den Begriff und seine Realität,– und erzeugt die Vollführer der Geschichte.“ – August Cieszkowski: Prolegomena zur Historiosophie. Berlin 1838, S. 15–16.

1466

Teil IV

stehend. Bekennt sich das Jahrhundert unfähig zur Synthesis, so kann derjenige, der sie geben wird, dieselbe nur durch Verfahren gefunden haben, die den Gelehrten des Jahrhunderts unbekannt sind. Es gibt ein Verfahren, mit welchem sich die Wissenschaft nur wenig abgibt, das wir aber alle wohl kennen, und auch alle, mehr oder weniger, in der Anwendung der Wahrheiten und selbst für das Aussuchen der Wahrheiten, gebrauchen: dieses Verfahren ist die Handlung. Ich habe gesagt, daß wir sie bei der Aussuchung der Wahrheiten anwenden. In der Tat, wollen wir zum Beispiel uns gewisser moralischer Eigenschaften des Nächsten vergewissern, so stellen wir ihn auf die Probe, wir handeln neben ihm und wir lassen ihn handeln. Ist er brav, ist er großmütig? Wir werden es sogleich wissen, sobald wir ihn beleidigt oder von ihm Hilfe verlangt haben. Um die Rechtsfrage einer streitigen Sache zu entdecken, läßt man die Tat beabsichtigen. Jede Handlung ist Synthesis, die Tat ist der Geist, die Materie und die Wirkung; es ist die Theorie, die Praxis und das Resultat. Auf diese Art also schreitet man von Tat zu Tat der Wahrheit zu. Ist demnach jede Handlung eine Synthesis, so können wohl die Männer der Tat diejenigen sein, die uns die Synthesis im Großen geben werden. Lassen wir die Philosophen und die Gelehrten bei Seite, wenden wie unsere Blicke denjenigen zu, die wirken, die regieren, die verwalten, die spekulieren.236 Sie sind zahlreicher als die Philosophen, und ihr sozialer Wert ist unendlich größer. Denn es ist eine Tatsache, meine Herren, die leicht zu erweisen, aber wenig bekannt ist, daß es nämlich die Männer der Tat sind, welche gegenwärtig, so wie in der Vergangenheit, die moralische Welt regieren. Das öffentliche Leben und folglich auch das häusliche Leben steht jedesmal unter dem Einfluss der Diplomaten, der politischen Männer (die Zeitungsschreiber mit einbegriffen) und der industriellen Spekulanten. Sie verrichten das Handwerk, welches zu anderen Zeiten die Ritter, die Prediger und die Beichtväter ausübten. Der Mann der Vergangenheit verehret noch diejenigen, welche den Titel des alten Rittertums oder der amtlichen Kirche tragen: er befragt sie über Fragen der Ehre und die kleinen Skrupel seines Gewissens; aber in den großen Angelegenheiten hört der Mann der Vergangenheit, ebenso gut wie die gegenwärtige Gemeinschaft, die Predigten der Zeitungsblätter, er sucht seine Verteidiger unter den Helden der Feder und vertrauet die Geheimnisse seines politischen Gewissens der Entscheidung politischer und literarischer Geschäftsleute. Alle geistigen und zeitlichen Angelegenheiten sind in den Händen dieser Agenten. 236 [Es ist zu bemerken, daß bei den Deutschen der spekulative Geist einen Geist bezeichnet, der am meisten von der Wirklichkeit entfernt ist, während die Franzosen einen spekulativen Geist gerade denjenigen nennen, der sich am meisten mit der Wirklichkeit und selbst mit der Materie beschäftigt. Anmerkung A. Mickiewicz].

13. Vorlesung (21. März 1844)

1467

In der geistigen Hauptstadt der Welt, in Rom, fragt man kaum in großen Angelegenheiten die frommen und eifrigen Prälaten (zelanti) um Rat: die Ratschläge der feinen Diplomaten (politici) sind es, die dort seit langer Zeit über alles entscheiden. Im Namen Jesu Christi wirkt man dort nur bei den Armen, gegen die mächtigen und Großen glaubt man den Geist Jesu Christi nicht mehr stark genug. Man nimmt gegen diese seine Zuflucht zu dem Geist des Jahrhunderts, der Erfahrung, der List. Bei ihnen sind ebenfalls die Gaben des Geistes nicht diejenigen, welche man am meisten im politischen Leben schätzt. Die geistvollsten und beredtesten Redner der Deputiertenkammer sind nicht diejenigen, welche am mächtigsten auf die parlamentarischen Entscheidungen einwirken. Wenn sich die Sache so verhält, so wird doch wohl sehr rationell sein, zu glauben, daß die Wahrheit, um in der Welt sich kundzugeben, nichts Besseres tun könne, als sich die Männer der Tat, die Gewandtheit und der praktischen Erfahrung zu ihren Organen zu wählen. Außerdem kann man ihnen häufig die Erhabenheit des Geistes nicht absprechen, und was ihre Absichten anbelangt, welches Recht hätten wir, sie für weniger rein als die der Philosophen anzunehmen. Gestehen wir ihnen dies alles zu, fragen wir sie nicht einmal darnach, warum die geführten Nationen, ungeachtet ihrer so mächtigen und so gut berechneten Leitung sich von der moralischen Tatenlosigkeit (Inertie) getroffen, sich ohne Daseinszweck, ohne Ideal fühlen. Sie könnten uns antworten, solches sei das unwiderrufliche Schicksal der zivilisierten Menschheit. Setzen wir für einen Augenblick voraus, die gegenwärtige Gesellschaft habe ihren normalen Standpunkt erreicht, so habe ihr letztes Wort gesagt, die Macht Gottes könne sich nicht anders, als durch den Dienst der gewandten und einflussreichen Männer kundgeben; nun wohlan! So wollen wir, um uns Gott zu nähern, zuerst darnach trachten, gewandt und einflussreich zu werden. Was werden wir alsdann, meine Herren, dem Volk sagen? Das Volk hat Gott nötig. Sollen wir also ihm sagen, daß er in erster Linie gewandt und einflussreich werden müsse? Wie nur aber dazu gelangen? Ach, man weiß es ja; man lehrt es öffentlich und, was besser ist, man predigt es mit Beispielen. Die Muster dieser Gattung fehlen ja nicht; das Volk braucht nur nachzuahmen. Mag es demnach lernen, keine andere Überzeugung zu haben, als die, welche das Interesse des Augenblicks gebietet, kein anderes Orakel zu befragen als die öffentliche Meinung, kein anderes Wort von sich zu geben als dasjenige, welches gemacht ist, um den Gedanken zu verbergen237, mag es lernen 237 „La parole a été donnée à l’homme pour déguiser sa pensée“ (Die Sprache ist dem Menschen gegeben, um seine Gedanken zu verbergen). Diese Äußerung wird Maurice de Talleyrand

1468

Teil IV

nur den Erfolg anzubeten, nur einer vollbrachten Tatsache zu gehorchen. Auf diese Weise bewirkt man sich den Ruf eines geschickten Mannes, die einzige Heiligkeit, welche der Weltmann schätzt; man scharrt das Kapital zusammen, welches den Eintritt in den Tempel der Industrie verschafft, und so schafft man sich seine soziale Stellung, den Himmel des modernen Menschen. Dieser Katechismus resümiert, wie sie sehen, eine dem Geiste des Evangeliums schnurstracks zuwiderlaufende Doktrin. Das Evangelium spricht von der Weisheit der Erdenkinder, welche es derjenigen der Kinder des Lichts entgegenstellt: diese Weisheit hat schon alle ihre Früchte getragen. Die Christenheit kennt sie, der Instinkt der ganzen Christenheit stößt sie zurück: der volkstümliche Instinkt verabscheut sie mehr denn irgend jemals. Mehr denn irgend jemals misstrauen die Völker der Weisheit der Erdenkinder. Sie würden auch vergebens unter ihnen einen Heiland suchen. Principes hominum, filii hominum, non est salus in illis.238 Wir glauben, meine Herren, die Frage erschöpft zu haben, die wir uns vorbehalten, am Schluss unseres Vortrages zu verhandeln. Diese Frage bot sich von selbst dar: wir haben häufig von der Handlung gesprochen; wir haben gesagt, daß unser Heil von der Tat abhänge. Nachdem wir die theoretischen Anstrengungen der Intelligenzen geprüft haben, mußten wir ihre Aufmerksamkeit auch auf das mögliche Resultat ihrer praktischen Anstrengungen lenken. Man sieht, daß wir das wahre Tun nicht mit dem verwechseln, welches eingegeben ist von den Interessen und den Leidenschaften des Augenblicks. Die Tat, von

(1754–1838) zugeschrieben, die er im Jahre 1807 gegenüber dem spanischen Gesandten Don Eugenio Izquirdo gemacht haben soll. Vgl. – Mémoires de B[ernard] Barère: membre de la Constituante, de la Convention, du Comité de salut public, et de la Chambre des représentants. Hrsg. Hippolyte Carnot, Pierre-Jean David d’Angers. Bd. 4. Paris 1843, S. 447 (Fußnote 1). Ähnliches Zitat gibt es schon bei Voltaire (1696–1778). Er sagt in seinem „Dialogue du Chapon et de la Poularde“ (1763) von den Menschen: „Sie gebrauchen ihren Verstand nur, um ihr Unrecht zu rechtfertigen, und ihre Sprache allein, um ihre Gedanken zu verbergen“ (Ils ne se servent de la pensée que pour autoriser leurs injustices, et n’emploient les paroles que pour déguiser leurs pensées). – In: Œuvres de Voltaire. Hrsg. Adrien Jean Quentin Beuchot. Paris 1831, Bd. 41, S. 393. Vgl auch Heinrich Heine, der eine andere Variante dieser Äußerung dem Polizeiminister Joseph Fouché in den Mund legt: „Sie haben gehört, ein bekannter, falscher Mann, der es in der Falschheit so weit gebracht hatte, daß er am Ende sogar falsche Memoiren schrieb, nämlich Fouché, habe mal geäußert: Les paroles sont faites pour cacher nos pensées;“ [Die Worte sind dazu da, unsere Gedanken zu verbergen] – H. Heine: Ideen. Das Buch Le Grande [1826]. In: Heines Werke in fünf Bänden. Dritter Band. Weimar 1962, S. 58. 238 Vgl. Altes Testament – Die Psalmen: Drittes Buch, 146, 3: „Verlaßt euch nicht auf Fürsten, auf Menschen, bei denen es doch keine Hilfe gibt.“ („Nolite confidere in principibus, in filiis hominum, in quibus non est salus“ (145).

13. Vorlesung (21. März 1844)

1469

der wir gesprochen, hat ihr Motiv und ihren Hebel außerhalb der Wirkungssphäre der Männer dieser Epoche. Wir haben die Geschichte, die Systeme, die Menschen, endlich alle Organe der Erde befragt; sie haben uns geantwortet, mit einer gemeinsamen Stimme, daß sie die Wahrheit zu besitzen wünschen und hoffen, sie aber nicht geben können, nicht einmal wissen, wo man sie zu suchen habe. Die Welt gesteht ein, daß sie die Wahrheit nicht erzeugen könne. Man muß hinzufügen, daß diejenigen, welche unter dem Einfluss der Welt bleiben, nicht einmal im Stande sind, sie zu empfangen. Dennoch sind von einigen Philosophen (Cieszkowski, Emerson)239 die Mittel gemutmaßt worden, durch welche man sie empfangen könnte. Sie erkennen die Notwendigkeit der inneren Arbeit, was sie aber nicht wissen, ist, daß nicht alle Menschen und nicht alle Völker gleichmäßig vorbereitet sind, sie zu empfangen. Alle Erdreiche besitzen ihre Schätze, unterirdische Quellen, welche das Bebauen derselben möglich machen, aber diese Quellen sind nicht überall der Oberfläche gleichmäßig genähert, die Tiefen sind verschieden. Es gibt Wüsten in Arabien und Hochebenen in den Alpen, welche der ganzen Kunst des artesischen240 Brunnengrabens spotten würden; man muß sie dem Wirken der Elemente und der Jahrhunderte überlassen. Glücklich die Völker, welche diese Arbeit vollendet haben und sich bereit finden, die göttliche Saat zu empfangen, es war dieses eine lange und mühevolle Arbeit! Das noch gallische Frankreich hatte seinen ersten Tag dieser Arbeit vor der Einführung des Christentums beendigt. Es kennt von dieser langen Geschichte Galliens241 nur einige Tatsachen, die von den Römern erzählt werden, welche selbst unfähig waren, sie zu begreifen. Die Geschichte der slavischen Rasse betrachtend, könnte es in derselben die intimen Memoiren seiner Urahnen lesen. Nicht um ihre Neugierde zu nähren, habe ich ihnen diese Geschichte erzählt, und die Beschreibungen der furchtbaren Katastrophen und des langwierigen Elends habe ich nicht deshalb gelesen, um das Talent der slavischen Schriftsteller bewundern zu lassen. Die Literaturen aller Völker 239 Über Cieszkowski vgl. die 22. Vorlesung (Teil III). Zu Emerson vgl. Marta Skwara: Mickiewicz i Emerson …, op. cit., S. 121. Dieser Absatz ist auch in einer längeren Fassung überliefert; vgl. dazu Marta Skwara: Warianty tekstu przedostatniego wykładu Mickiewicz a filozofia Emersona. In: Wydanie krytyczne prelekcji Adama Mickiewicza. Materiały do dyskusji. Opracowanie zeszytu: Maria Prussak, Zofia Stefanowska, Marek Troszyński. Warszawa 1994, S. 31–33. 240 Artesischer Brunnen, benannt nach der Landschaft Artesien (Artois) in Nordfrankreich; er wird in einer Senke unterhalb des Grundwasserspiegels angelegt; das Wasser gelangt ohne Pumpen an die Erdoberfläche. 241 Vgl. Paul-Marie Duval: Gallien. Leben und Kultur in römischer Zeit. Stuttgart 1979.

1470

Teil IV

besitzen großartige Gemälde dieser Art, aber sie sind nicht gleichmäßig wahr: häufig beeinträchtigen sie die Wahrheit. Mehr als einmal erfinden die Dichter Leiden und zeichnen Gemälde derselben auf, deren schreiende Farben den einfachen Menschen stutzig machen und damit enden, ihn für das wirkliche Leiden unempfindlich zu machen. Nur diejenigen, welche selbst gelitten haben, sind fähig, die Wirklichkeit von dem, was erdichtet ist, zu unterscheiden. Polen ist mit dem modernen Frankreich der Morgenröte eines neuen Tages entgegengegangen. Diese beiden Nationen haben die lange Nacht durchschritten, welche die beiden Epochen trennte. Sie haben nicht aufgehört zu wachen und zusammen zu arbeiten. Der französische Geist ist derjenige, welcher das meiste gewagt, das meiste angewandt, das meiste ausgeführt hat; der Geist der polnischen Nation, dieser Nation, die nach ihrem Fall gezwungen war, sich in ihr Innerstes zurückzuziehen, hat eine Konzentration bewirkt, von der es seit dem politischen Fall des Volkes Israel kein Beispiel in der Welt gegeben hat. Polen hat auf diese Weise die Geheimnisse der Geschichte des Israelitischen Volkes erfahren; es ist der Vergegenwärtiger dieser Geschichte und solidarisch für dieselbe verantwortlich geworden. Frankreich dehnt sich auf Erden aus und umringt sie von allen Seiten; das von der Welt getrennte Polen hat sich nur nach einer Richtung ausdehnen können, nach dem Himmel. Diese Nation, von Leiden zu Leiden gegen ihren Gott sich erhebend, welcher auf Erden der Mann des Schmerzes war, diese Nation, sage ich, hat sich mit ihm vereint und ihm in ihrem Busen das Heiligtum bereitet. Die Geheimnisse einer jeden Epoche werden der menschlichen Vernunft klar, alsdann aber hat es die Zeit über sich genommen, sie durch die Geschichte zu erklären, alsdann aber hat die Erde über dieselbe schon das Zeugnis dem Himmel abgegeben. Die auf die Türme eurer Hauptstadt gepflanzten Kreuze erklären ihnen vollkommen die tätige Kraft, welche vor achtzehn Jahrhunderten aus Judäa hervorgegangen war: die Zeit hat es bewiesen. Unsere Pflicht war, den Zeiten voranzugehen, zu suchen in dem, was bekannt und gegenwärtig ist, nach den Mitteln für die Vorbereitung des Geistes, um das Unbekannte und Künftige zu begreifen. Zu diesem Zweck haben wir die Bücher, die Systeme und die Taten der Menschen um Rat herangezogen. Wir haben die Stimmen der Erde gesammelt: fürwahr, ich sage es ihnen, sie haben unsere innere Stimme bestätigt. Unsere Pflicht war es, sie im Geiste den geheimnisvollsten Verrichtungen beiwohnen zu lassen, welchen die Vorsehung jene Völker unterwarf, die sie den neuen Geist zu empfangen bestimmte. Polen war bestimmt, die neue Offenbarung zu verkörpern; Frankreich ist bestimmt, sie zuerst zu empfangen! Unsere vierjährige Arbeit mitten unter ihnen resümiert sich in diesen wenigen Worten, die ich ihnen eben gesagt.

13. Vorlesung (21. März 1844)

1471

Meine Aufgabe als slavischer Professor ist gegenwärtig erfüllt. Bis auf den heutigen Tag habe ich im Namen der ganzen Rasse gesprochen: ich habe die Gefühle ausgedrückt, welche ich den Russen, den Tschechen, den Serben und den Illyriern gemeinsam glaube. Es ist mir endlich erlaubt, in meiner Eigenschaft als Pole zu reden. Meine Herren, wenn ich diesen Charakter des Polen vergessen habe, um mich Frankreich persönlich mehr, als ich es durch meine nationale Überlieferung gewesen bin, zu verbinden, um mich im Geiste als der Sohn Frankreichs und Bruder der Franzosen zu erkennen, wenn ich einige Beweise meiner aufrichtigen Liebe für euer Land gegeben habe, wenn ich mich bemüht habe, die Sendung des französischen Geistes den slavischen Völkern zu erkennen zu geben und sie denjenigen unter den Franzosen wieder ins Gedächtnis zu rufen, die sie haben vergessen können, so habe ich demnach das Recht, als ein Mann, der ihnen einen Dienst geleistet, und als ein Mann meines Volkes habe ich doppelt dieses Recht, ihnen zu erklären, daß eine große Verantwortlichkeit auf Frankreich gegenwärtig laste. Die Völker erwarten viel, sie hoffen viel von Frankreich. Frankreich, meine Herren, kann nicht zu einem Leben für sich und bei sich zurückehren. Eure Ahnen haben lange und mühsam während ganzer Jahrhunderte gearbeitet und gelitten, um euch über ein solches Leben zu erheben. Frankreich hat nicht das Recht, eine von der Vorsehung vorgezeichnete Stellung, welche von euren Vätern mühsam erworben und von allen fremden Völkern anerkannt und eingestanden ist, zu verlassen. Denken sie wohl, daß ein Anführer, welcher ein Heer in die Ferne geführt, es in eine verzweifelte Lage gebracht hätte, das Recht hat, es zu verlassen? Er kann seinen Kommandostab zerbrechen, aber er wird darum nicht der Verantwortlichkeit entgehen. Frankreich hat lange Zeit an der Spitze der christlichen Nationen gestanden, Frankreich kann sie nicht inmitten einer moralischen Niederlage aufgeben. (Außerordentlicher Beifall; Bewegung im Auditorium: eine Frau steht auf und spricht mit lauter Stimme einige Worte.) Diese Worte, ich nehme sie an als ein kostbares Zeugnis: sie beweisen mir, daß dasjenige, was ich eben gesagt habe, nur der Ausdruck Eurer Gefühle ist. Eine französische Stimme hat mir Zeugnis darüber gegeben. Jawohl, meine Herren, das Leben für sich und bei sich ist schon unmöglich geworden für den französischen Genius. Dieses Genie hat die moralische Welt umgeworfen; es hat alle die örtlichen Ideen, alle die nationalen Meinungen von der Stelle gerückt, sie entweder vor sich her treibend oder sie in seinem Gefolge schleppend. Es hat sie verlassen! Diese Ideen, diese Meinungen haben endlich Zeit gehabt, sich umzusehen und sich zurecht zu finden; gegenwärtig suchen sie ihren Führer, ihr Oberhaupt, sie suchen euer Genie.

1472

Teil IV

Das Genie Frankreichs ist für uns keine abstrakte Idee: wir wissen es zu erkennen, wir haben es einst gekannt. Als Polen, als Vertreter der ganzen Vergangenheit unserer Nation und solidarisch für dieselbe verantwortlich, können wir selbst sagen, daß wir einst die Besuche des französischen Genius empfangen haben, und allemal daß wir es erkannten, haben wir nicht angestanden ihm zu folgen. Und was noch besser ist, wir haben ihm gedient! Er erschien uns zu Anfang mit der Oriflamme242 Karl des Großen; wir empfingen seine Gesetze und kämpften an der Seite seiner Ritter. Zuletzt kam er zu uns von den Fittigen der Kaiserlichen Adler getragen: wir empfingen seinen Kodex243, und wir folgten ihm, diesem Genie, um an seiner Seite auf allen Schlachtfeldern Europas zu kämpfen. Dieses Genie, wo ist es gegenwärtig? Wir werden nicht hingehen auf euren Eisenbahnnetzen umherzuirren, um es dort zu suchen. Wir wissen, daß es noch viel weniger in euren Bibliotheken und in euren literarischen Schreibstuben verborgen ist, denn sein Charakter ist die Tat. Es drückte einst seine Ideen mit dem Eisen der Lanzen, es teilte sie den fremden Völkern durch Kanonenschüsse mit, es schrieb seine Gesetze im Schatten seiner Fahnen und der gepflückten Lorbeeren. Es rief die Tat hervor, es rief zur Tat auf. Die Völker, welche seinem Ruf geantwortet haben, fragen euch an ihrer Reihe, wozu hat man sie gerufen? Polen hat auf alle eure Rufe geantwortet: die Bewegung, welche in den Julitagen das Pflaster eurer Stadt aufriß, rührte den ganzen Boden des alten Polens auf, die Kugeln, welche das alte Regiment von euch jagten, indem sie stillschweigend über Deutschland hinflogen, verwandelten sich in unserem Land in Kanonenkugeln; damals rief euch die Stimme der Armeen zu sich: diese Armeen sind untergegangen! Polen richtet an euch den letzten Ruf: dieser Ruf, das sind wir polnische Emigrierte. Im Namen Polens fordern wir euch auf uns zu sagen: Wo ist dieser Geist der Julirevolution? Wo ist das Genie Frankreichs? Sagt, wo ist euer Genie? Wo ist Euer Mann? Zeiget ihn uns, denn wir sind bereit ihm zu folgen. Oder wenn ihr es nicht könnt, so werden wir euch auffordern uns zu folgen, unserem Genie; unserem Mann.244 Während die Kanonade Warschaus Befestigungen in Stücke riß und niederwarf, schrieb ein Dichter und Krieger, Garczyński, auf einen Feldwagen gestützt, diese erhabenen und vollkommen prophetischen Zeilen:

242 „L’oriflamme“ (aurea flamma – Goldflamme oder Goldfeuer) war bis zum 15. Jahrhundert die Reichs- und Kriegsfahne der französischen Könige. 243 Vgl. die 1. Vorlesung (Teil I). 244 Andrzej Towiański.

13. Vorlesung (21. März 1844)

1473

Jak krwią twarz Zbawcy na chuście świętej W wiecznie się czasy odbiła, Tak i wam, ludy, cud niepojęty, Tajemna krwi naszej siła, W pamięci nasze męczeńskie życie Obraz mąk naszych wytłoczy, Każda myśl wasza mieć będzie oczy I każdą na nas spojrzycie!245 Wie einst das Antlitz des Heilands mit Blut auf dem heiligen Tuch für die Ewigkeit abgebildet, so wird auch Euch, Ihr Völker, ein unbegreifliches Wunder, die geheimnisvolle Kraft unseres Blutes unser qualvolles Leben ins Gedächtnis als Bild unseres Leidens einprägen. Jeder Eurer Gedanken wird Augen haben, und mit jedem Gedanken werdet Ihr auf uns schauen. (Betroffenheit im Publikum)

Dieses Bild resümiert in Wirklichkeit unsere ganze Geschichte: es ist das Sinnbild, die Fahne der Völker. Aber ich sehe es nicht mehr, dieses Bild, in den Seelen des Geschlechts, das berufen ist, sie zu retten diese Völker; und doch hat dieses Geschlecht seinen letzten Leidenstag vollendet. Diesem Geschlecht gehören alle die Geister an, welche schon den Grabstein der Vergangenheit aufgehoben, welche in dem Innern ihrer Seele Jesus Christus den Wiederauferstandenen, sich regen gefühlt haben; es wird dieses große und kräftige Geschlecht nicht mehr den Christus vor Pilatus, sondern den auferstandenen Christus, den verklärten Christus, versehen mit allen Attributen der Macht; Christus den Rächer und Vergelter, den Christus des Jüngsten Tages, den der Apokalypse und des Michelangelo aus seinem Busen hervorgehen und der Welt sehen lassen. Dies ist das Ecce Homo unserer Epoche. Diese Sitzung, meine Herren, beschließt unsere Vorlesungsreihe, wir werden noch eine Zusammenkunft haben, sie wird die letzte sein.

245 Stefan Garczyński: „Do ludów“. In: Poezye Stefana Garczyńskiego. Tom II. Paryż 1833, S. 96.

14. Vorlesung (28. Mai 1844) Die Slaven – Die Polen – Napoleon.

Meine Herren! In der Begründung des Gesetzes, das vor vier Jahren diesen Lehrstuhl schuf, ist zu lesen: Wollte man auch nur die politische Wichtigkeit slavischen Idioms in Betracht ziehen; so gibt es wohl keins, dessen Studium nützlicher wäre. Mehr denn einmal, seit unseren Kriegen mit dem Norden, hat Frankreich sich gegenüber oder in seinen Reihen die Kinder der slavischen Rasse gehabt. Der Friede erlaubt uns endlich in der Sprache und in der Literatur nach demjenigen zu suchen, was alle die Zweige desselben Baumstammes zusammenhält, nach dem nationalen Geist, den Erinnerungen, den gemeinschaftlichen Bestrebungen einer Rasse, bei welcher seit so vielen Jahrhunderten die Kette der Überlieferungen des heldenmütigen Lebens noch nicht unterbrochen war. Es ist im höchsten Grad wichtig, den homogenen Grund dieser Völker zu erforschen, deren Zukunft unermeßlich ist, die aber unseren Bestimmungen nicht fremd bleiben kann.246

Diese Motive wurden von dem Minister247 während der Diskussion des Gesetzes entfaltet. Kein Slave248 hat irgendwelchen Einfluß geübt auf die Abfassung 246 Textauszug aus dem amtlichen „Exposé des motifs“ nach Władysław Mickiewicz: Żywot Adama Mickiewicza podług zebranych przez siebie materiałów oraz z własnych wspomnień. Poznań 1892, tom II, S. LXIX (Dodatek): „A ne considérer que l’importance politique de l’idiome slave, il n’y en pas dont l’étude soit plus utile. Plus d’une fois, depuis nos guerres avec le Nord, la France a eu en face d’elle ou dans ses rangs les enfants de la race slave. La querre ne nous avait laissé ni le temps ni le gout des les regarder de près. La paix nous permet enfin de recherché dans la langue et la litteráture, qui tienent entre ells toutes les branches de la meme souche, l’esprit national, les souvernirs, les tendances communes d’une race chez qui, depuis tant de siècles, la chaîne des traditions de la vie héroïque n’a pas encore été interrompue. Il importe aus plus haut degree de pénétrer le fond homogène des ces peuples, dont l’avenir est immense, mais qui ne peuvent rester étrangers à nos destinées.“ 247 Der Philosoph Victor Cousin, der bis zum 28. 10. 1840 amtierender Bildungsminister war. Aufgrund seiner Verordnung wurde am 15. 07. 1840 am Collége de France der „Lehrstuhl für slavische Sprache und Literatur“ (Chaire de langue et littérature slave) eingerichtet. Cousin ernannte am 8. September 1840 Mickiewicz zum „chargé de la chaire à titre provisoire“. Vgl. Zofia Makowiecka: Mickiewicz w Collège de France, op. cit. S. 23; Henri de Montfort: A propos de l’inauguration de la statue de Mickiewicz. Autour d’une chaire au Collège de France. In: Revue internationale de l’enseignement, 1929, 83, S. 288–304. 248 Nach L. Płoszewski, in: A. Mickiewicz: Dzieła. Bd. XI: Literatura słowiańska. Kurs trzeci i czwarty). Warszawa 1955, S. 615, soll der Fürst Adam Czartoryski Victor Cousin in einem Schreiben einige Gedanken in dieser Angelegenheit offeriert haben; siehe Władysław Mickiewicz: Żywot Adama Mickiewicza, op. cit., tom II, S. 479–483.

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_114

14. Vorlesung (28. Mai 1844)

1475

des „Exposé des motifs“, und doch hat dieses Gesetz, einmal öffentlich gemacht, ein unermeßliches Nationalinteresse bei den Slaven erregt; es hat den instinktmäßigen Hoffnungen dieser Rasse entsprochen. Als ich den Ruf der französischen Regierung erhielt, las ich hierin ein Zeichen der Zeiten. Diese Auseinandersetzung der Motive erklärte mir, mir selbst, den Zweck meines eignen Daseins. Zum ersten Mal, meine Herren und zum letzten Mal werde ich ihnen von mir selbst reden, gewiß nicht aus Eitelkeit, denn das einzige Verdienst, was ich für mich beanspruchen könnte, wäre dieses, daß ich die Kühnheit gehabt habe, eine solche Aufgabe zu übernehmen, und daß ich den Mut hatte, sie bis ans Ende zu erfüllen, dieses Verdienst gehört nicht meinem eigenen Ich. Ich habe hierin weder nach den Ratschlüssen meiner Vernunft, noch nach den geschickten Berechnungen, gegründet auf die Wahrscheinkichkeit der Ereignisse gehandelt. Nein, ich habe unter dem Einfluss des Geistes meiner Rasse, des Geistes meiner Nation, und endlich unter dem Einfluss einer Stimme gearbeitet, in welcher mein Gewissen die Stimme Gottes erkannt hat. Ich muß von mir selbst reden, um ihnen meine Stellung zu erklären. Die Idee, welche man sich von der Ausdehnung der Pflichten eines Professors macht, und die Weise, in welcher man sich ihrer entledigt, sind je nach den Orten und je nach den Zeiten verschieden. Ich habe geglaubt dem Geist meiner Nation und demjenigen dieser hohen Schule treu zu bleiben, indem ich die Sendung des Professorats als ein Ministerium des Wortes betrachtete. Als Diener des Wortes, habe ich den Meister des Wortes beständig vor Augen gehabt, den gestrengen Meister, welcher anbefiehlt jedes Talent, das uns gegeben ist, geltend zu machen, welcher von jedem Wort, das er uns anvertraut hat, Rechenschaft verlangt, welcher ernten will selbst da, wo er nicht gesät hat249. Somit erschreckte mich mein bißchen Talent nicht mehr: ich fühlte mich nur für die Anstrengungen verantwortlich, die ich, um es geltend zu machen, versuchen mußte. Meine Herren! Ich beherrsche nur schlecht ihre Sprache; ich habe sie nur aus der Übung gelernt. Die Emigrierten haben sie auf diese Weise gelernt, euer Volk lernt sie ebenso. Ich drücke mich schwer aus: häufig verwirrt sich mein Satz in der gewöhnlichen Unterhaltung, das geeignete Wort fehlt mir; und doch mußte ich die für mich schwierigste Sprache von allen, die ich kenne, die Sprache, welche ich nie studiert habe, und noch dazu vor dem Publikum des Collège de France reden! Ich sollte aber zu ihnen über meine Religion und meine Nation sprechen; somit war es mir nicht mehr erlaubt, alle 249 Vgl. Neues Testament – Matthäus 25, 24: „[…] du erntest, wo du nicht gesät hast, und sammelst, wo du nicht ausgestreut hast“.

1476

Teil IV

diese Schwierigkeiten zu fühlen; es war mir nicht mehr erlaubt, die Phrasen zu bauen und die Worte abzuwägen. Ich bin Christ; ich habe mich an jene Zeile des Evangeliums erinnert, wo es demjenigen, welcher von hohen Wahrheiten sprechen will, verboten ist, ausdrücklich verboten, ich wiederhole es, Phrasen herbeizubringen, die er in seinem Kopfe fertig gemacht hat.250 Die ganze Welt kennt dieses moralische und zu gleicher Zeit literarische Gesetz. Hat man es ausgeübt? Was mich anbelangt, so habe ich mir eine Regel gemacht, nie im Voraus meine Reden vorzubereiten. Als Christ habe ich geglaubt, durch diese Tatsache meinen Glauben an die Versprechungen des Evangeliums zu beurkunden; als Pole, habe ich auf die Hilfe des Geistes zählen müssen, der es diktiert hat, die einzige Hilfe, welche meiner Nation nie gefehlt hat, so oft sie dieselbe anrief, und die ihr auch nie fehlen wird. Alle anderen Hilfsmittel, deren man sich beim Unterrichten bedient, fehlten mir gleichmäßig. Ich hatte weder slavische Bibliotheken251 zu meiner Verfügung, noch slavische Gelehrte zur Beratung. Doch bedurfte ich der Bücher und des Rats; ich habe auf das, was man den Zufall nennt gerechnet, ich hoffte auf sie, wie auf eine von der Vorsehung gesandte Hilfe: sie haben mir nicht gefehlt. Ich sagte mir jeden Tag: wenn ich, Pole, entblößt von allen Mitteln, auf ein französisches Publikum zu wirken, weder die Autorität, noch die Berühmtheit und auch nicht das Talent, zu amüsieren, besitzend, wenn ich, der ich mir ein Gesetz gemacht habe, nie die Sprache der Leidenschaft anzuwenden, nie auf die Tagesbegebenheiten anzuspielen, nie zu jenen Kunstmitteln zu greifen, deren man sich bedient, um das Wohlwollen zu erschleichen; der ich keiner der angenommenen Meinungen schmeichle, sie fast alle stets bekämpfe; wenn ich, Pole, das Glück habe, zwischen mir und meinen Zuhörern Bande der geistigen Sympathie zu knüpfen, wenn ich von dieser Zuhörerschaft als ihr Organ anerkannt werde, so wird dieses ein Beweis sein, ja, der lebende Beweis, daß das Volk, welchem ich angehöre und welches sich in der mir ähnlichen. Lage befindet, daß dieses Volk euer Bruder im Geiste ist, daß es eines Tages wissen wird, eure nationale Sympathie rege zu machen, ihr den Aufschwung zu geben und sie zu unterhalten. Ich habe ihnen gesagt, dieses Volk sei dasjenige, welches Europa eine ganz neue Geschichte bringen wird, oder vielmehr Europa und Frankreich helfen,

250 Vgl. Neues Testament – Lukas 21, 14: „Nehmt euch fest vor, nicht im voraus für eure Verteidigung zu sorgen.“ 251 Vgl. dazu Henryk Batowski: Gromadzenie biblioteki slawistycznej. In: H. Batowski: Przyjaciele słowianie. Szkice historyczne z życia Mickiewicza. Warszawa 1956, S. 43–53; 192–194.

14. Vorlesung (28. Mai 1844)

1477

eine Seite der Geschichte zu begreifen, welche ich die geheimnisvolle nenne, die göttliche Seite eurer eigenen Geschichte. Die Geschichte Frankreichs will ich mit dem Mond vergleichen. Eine große Zahl gelehrter Astronomen beobachtet ihn jede Nacht, und dennoch sieht man stets, wie sie es wissen, nur eine Hälfte von ihm, die andere Hälfte, die der Sonne zugewandt ist, bleibt für die Astronomie stets geheimnisvoll, und doch ist sie gewiß auch dem letzten Bewohner der anderen Planeten bekannt. Nun habe ich ihnen gesagt, daß das slavische Volk, intuitiv wie der Franzose, aber seine Intuition auf eine andere Weise entfaltend, die Fragen, welche sie bestimmen, die Ereignisse, welche sie bewegen, von einer anderen Seite und vermittelst eines besondern Organs erfaßt. Man könnte sagen, dieses Volk bewohne einen anderen Planeten, der dennoch mit dem ihrigen verbrüdert ist, weil er sich um dieselbe Sonne dreht. Ich habe ihnen von der unsichtbaren Region gesprochen, wo aufgestellt sind die Museen der slavischen Maler und Bildhauer, die Schulen der Poesie und der Musik unsers Volkes; nach dieser Region begibt sich unser Volk, um auch die universelle Geschichte zu lernen, und, vor allem diejenige der Nationen, welche zu kennen es das meiste Interesse hat. Es kennt die ihrige gut. Mit festem Auge betrachtet es durch eine geheimnisvolle Region den Genius ihres Volkes, und es liest daselbst ihre Vergangenheit und ihre Zukunft. Von daher kommt seine innige Sympathie fur sie. Man hat mich mit Heftigkeit angeklagt, daß ich, in meiner Eigenschaft als Pole, Frankreich zu sehr erhoben, ihm zu sehr geschmeichelt habe, und doch habe ich russische und böhmische Strophen vorgelesen, welche die nämliche moralische Tatsache in Betreff der Sympathien unserer Rasse für sie bestätigen. Hier sind einige Verse eines Dichters der Walachei, eines Romano-Slaven. Unserer Rasse gehört er nur kraft seiner Sympathien an. Das Werk, von dem ich rede, erschien zu Paris im Jahre 1841. Sehen wir die Zeilen des Abschiedes, welche der Dichter Michele Corradini252 an seine Landsleute richtet: Si je vous quitte, amis qu’un meme sol vit naître, Quand les memes plaisirs présidaient à nos jeux, Lorsqu’enfants, nous allions à l’ombre d’un vieux hêtre, Aux chants de l’angélus mêler nos cris joyeux, Un indomptable instinct, de ma plus tender enfance, 252 Michele  A.  Corradini (Lebensdaten nicht ermittelt) war der Sohn eines Italieners und einer Rumänin aus Moldawien. Er studierte in Italien, 1830 trieb ihn die Begeisterung für Victor Hugo nach Paris; 1841 kehrte er nach Rumänien zurück. Er besaß rumänische, italienische, französische, deutsche und polnische Sprachkenntnisse; schrieb in französischer Sprache Lyrik und Prosa. Vgl. Nikolae I. Apostolescu: L’Influence des romantiques français sur la poésie roumaine. Paris 1909, S. XI.

1478

Teil IV M’a toujours fait aimer le grand people français, Je brûlais de le voir, d’admirer sa vaillance, Et de goûter les fruits de ses labeurs passés […]. Verlasse ich euch Freunde, die der nämliche Boden zur Welt kommen sah Als die nämlichen Vergnügungen unsere Spiele ergötzten Und wir, noch Kinder, zu dem Schatten einer alten Gruft gingen, Mitten unter die Gesänge des Angelus unsere freudigen Rufe zu mischen, So hat mich doch stets von meiner zartesten Jugend Ein unbezwingbarer Instinkt das große Volk der Franzosen lieben lassen, Ich brannte vor Neugier es zu sehen; seine Tapferkeit zu bewundern Und von den Früchten seiner vergangenen Arbeiten zu kosten […].

Weiter unten: Je veux voir, en parlant à mon maître suprème, De quel feu le génie embrase son regard; Je veux, touchant sa main, lui dire que je l’aime, Pour compenser les pleurs qu’ordonne ce depart.253 Ich will sehen, indem ich meinen höchsten Meister frage, Mit welchem Feuer das Genie seinen Blick entzünde; Ich will ihm die Hand reichend sagen, daß ich es liebe, Um die Tränen zu vergelten, die diese Trennung gebietet.

Um also an den französischen Herd zu gelangen, ist er nach Frankreich gekommen, getrieben von einem unbezwingbaren Instinkt, wie er es selbst sagt. Wenn sie die Vögel des Frühjahrs die Luft durchziehen sehen, so ist der Instinkt, welcher sie treibt, kein individueller Instinkt. Sie kündigen eine große Wanderung an: die Worte des Dichters kündigen ihnen die Wanderung der slavischen Geister nach ihrem Land an. Dasjenige, was im einfachen Manne das Bewunderungswürdigste ist, in dem Mann, der sich noch nicht von der Natur getrennt und dem gemäß auch nicht die geheimnisvollen Fäden zerrissen hat, die ihn mit der Gottheit vereinen, ist es dieses Gefühl der Liebe, das so gut die Gegenwart begreift und so erratend ist. Diese Liebe erhebt die Seele, welche sie zu empfinden fähig ist, über die Zeiten und den Raum; sie erhebt dieselbe bis zu jener Region, wo alle die geistigen Mitteilungen zusammenkommen. Das, was man daselbst fühlt, ist gegenwärtig; es ist die einzige wirkliche Gegenwart, denn sie wird unmittelbar gefühlt.

253 Michele A. Corradini: Chants du Danube. Paris, Librairie Charpentier 1841, S. 161–164.

14. Vorlesung (28. Mai 1844)

1479

Es besteht bei uns eine Volkserzählung254 (ich glaube etwas Ähnliches in Ihren Ritterromanen gelesen zu haben): es ist in derselben von einem Krieger die Rede, welcher in einen fernen Krieg ziehend, der Gattin seinen Helm und sein Schwert zurückließ. Die Witwe betrachtete Tag und Nacht diese Reliquie, und je nach den hellen oder dunkeln Schattierungen des Helmes begriff sie die glücklichen oder traurigen Wechselfälle des Krieges; auf einmal sah sie einen Tropfen Blut von der Schwertspitze fallen: da wußte sie, daß ihr Mann große Gefahr lief. Diese Erzählung ist keine poetische Erfindung: es ist die vertrauliche Geschichte irgendeiner liebenden, tiefsinnigen und einsamen Seele. So ist die Seele unsers Volkes beschaffen. Unser Volk besitzt eure Reliquien. Unser Volk hat von der Berezina bis zum Niemen die Helme der Grenadiere eurer großen Armee aufgesammelt. Wir haben in allen Hütten die Säbel eurer Reiter gesehen. Das Volk betrachtet dieselben; es sucht aus ihnen die Wechselfälle eures Schicksals zu lesen. Wer weiß, ob nicht in den Julitagen welch ungewöhnlicher Glanz, hervorgegangen mit einem Male aus diesen Schwertern, in den polnischen Landleuten jenen Enthusiasmus für eure Sache weckte, von der sie, menschlich oder politisch gesprochen, weder den Zweck noch die Bedeutung begriffen? Sie bewiesen indessen, daß sie sehr gut wußten, was sie zu bedeuten habe. Sie wußten mehr. Die Region, in welcher sie eure Geschichte lernen und wo sie die Zeitungen lesen, gibt ihnen selbst über dasjenige Aufschlüsse, was man nicht weiß oder kaum mutmaßt. Fremdartige Vision! Man möchte fast sagen poetische Träumereien, welche aber ganze Bevölkerungen zu gleicher Zeit träumen und wovon man die Wirklichkeit gerichtlich bestätigt hat. Vor einigen Jahren haben die Einwohner eines Bezirks in Litauen versichert und unter Eidesschwur vor den Beamten der russischen Regierung ausgesagt, daß sie eine große französisch-polnische Armee beim Mondschein die Nebel Litauens durchziehen, auf dem Marsch in den Norden sahen.255 War dieses eine Rückwirkung der Vergangenheit oder eine Prophezeiung? War es die Heerschau eurer großen Armee der Vergangenheit oder der Ruf, welchen der Geist der großen Nation an alle seine künftigen Soldaten machte? Ich weiß, daß eure Dichter ähnliche Sachen erfunden haben. Ein Gedicht dieser Art wurde vor etwa zehn Jahren von der französischen Akademie gekrönt.256 Aber die Wirklichkeit, mag sie vorgefühlt oder nachgeäfft gewesen sein, besteht darum nicht minder. Ich versichere sie, meine Herren, daß das Volk Litauens keine Kunstmacherei trieb, als es den Eid für die Wirklichkeit 254 Konnte nicht ermittelt werden. 255 Quelle nicht ermittelt. 256 Quelle nicht ermittelt.

1480

Teil IV

dessen, was es gesehen hatte, leistete, einen Eid, welchen mehre Landleute mit ihrem Blut besiegelt haben. Die amtlichen Aktenstücke bestätigen diese Tatsache. Nein, meine Herren! Die Geschichte der großen Armee ist bei uns Polen noch nicht dem Reich der Vergangenheit anheimgefallen; sie ist noch zu keinem akademischen Gegenstand geworden, diese Geschichte ist noch nicht beendigt. Das unsterbliche Dasein ihres großen Führers ist für uns keine Träumerei. Der Geist des großen Führers, das Genie Napoleons, ist der Stern, auf welchen alle Geister hinblicken.257 Durch ihn haben wir auf intuitive Weise eure Geschichte begriffen; in ihm lesen wir eure Zukunft. Es war dieses das am meisten intuitive Genie, es war die leibgewordene Intuition. Sein Genie bewohnte und hat nicht aufgehört die Region zu bewohnen, von der ich ihnen so häufig gesprochen habe, unsere Region, unser geistiges Vaterland. Von daher zog er alle seine Kraft, eine Kraft, die wahrhaft einen ganz neuen Charakter hatte; er verdankte sie weder der Vergangenheit noch der Erde; er hat sie weder aus seiner sozialen Stellung noch aus den Berechnungen der Vernunft gezogen; sie war eine durchgängig göttliche. Sie wohnte seinem Genie inne, diese Kraft! Napoleon hat für immer bewiesen, daß in der Zukunft keine andere Quelle der wirklichen politischen Macht möglich sein wird. In dieser Beziehung hat man sein Genie vor allem zu erforschen. Sie bewundern die Berechnungen seiner hohen Strategie auf den Schlachtfeldern von Auerstedt und Jena: ein Slave bewundert ihn, weil er vor seinem Feldzug nach Preußen, im Augenblick als er zu Paris in den Wagen stieg, fühlte, wie er es selbst gesagt hat, weil er es schon wußte, daß er Preußen besiegt hätte. Wer hat ihm dieses gesagt? Woher hatte er dieses Wissen geschöpft? Frankreich erbebte vor Freuden, als es ihn landen sah, gerade zur Zeit um Frankreich vor der Anarchie zu retten und um Italien den Händen der Russen und Österreicher zu entreißen; aber ein Pole fragt sich und er selbst begreift es, auf welche Weise Napoleon, als er in Ägypten ein Fahrzeug, Italien genannt, von den Arabern auf dem Nil in Brand gesteckt sah, die Gewißheit hatte durch dieses Zeichen, daß auch schon Italien in Flammen stand. Diese Geheimnisse sind es, welche auf ihm die slavischen Geister festbannen und welche sie herausfordern, schließlich die Frage dieses unermeßlichen Daseins zu lösen. Corradini sagt von Napoleon: 257 Vgl. die Dissertation von Andrzej Pochodaj: Legenda Napoleona  I Bonaparte w kulturze polskiego romantyzmu. Praca doktorska. Promotor: prof. dr Alina Kowalczykowa. Wrocław 2002 [http://napoleon.org.pl]; Jacek Leszczyna: „Bóg jest z Napoleonem, Napoleon z nami“. Mit Napoleona w literaturze polskiej XIX wieku. Katowice 2009.

14. Vorlesung (28. Mai 1844)

1481

Être mystérieux, un qui dans son passage Tout reconnut un maître, et dut baisser le front. […] Geheimnisvolles Wesen, das auf seinem Gange von jedem als ein Meister erkannt und mit Neigen der Stirn begrüßt werden müßte.

Weiter unten: Cependant tout un peuple, en qui tu vis encore, Est venu de la tombe arracher tou cercueil; Et qui sait si celui qui fit ton diadème, Pour remplir l’univers du mot: Napoléon, N’a voulu réserver jusqu’à la cendre meme Une mission grande et digne de ton nom? Et qui sait si la France, en pleurant sur la pierre, Ne prendra cet élan qui mène aux grands success? Qui sait ce que pourra ton auguste poussière Féconder dans les temps de merveilleux effets? Et qui sait?… Mais j’entends s’avancer le cortège […].258 Doch kam ein ganzes Volk, in welchem du noch lebst, Aus der Gruft dein Grab zu holen; Und wer weiß, ob derjenige, der dein Diadem geflochten, Um mit dem Namen Napoleon das Universum zu füllen, Nicht selbst bis hin zu deiner Asche eine große Mission Die deines Namens würdig, hat bewahren wollen? Und wer weiß, ob nicht Frankreich, an deinem Grabsteine weinend; Jenen Schwung nehmen wird, der zu großen Taten führt? Wer weiß, welche wunderbaren Wirkungen deine erhabene Asche Noch in den Zeiten befruchten wird? Und wer weiß? … Aber ich höre den Trauerzug vorrücken […].

Es ist dieses das einzige Stück, welches der Dichter, ohne es zu vollenden, unterbrochen hat. Fast alle ausgezeichneten Dichter dieser Epoche bei den Slaven besitzen eine Art zweites Gesicht, aber Corradini, weil er in Frankreich schrieb, hatte gewiß nicht den Mut, mit seiner ganzen Seeleneinfalt des Landmanns an der Donau zu reden. Durch dieses zweite Gesicht sieht die slavische Poesie, und ich kann hinzufügen die Seele der slavischen Rasse, mit dem Geist Napoleons in Kommunikation. Was jedoch hat dieses doppelte Gesicht Gemeinsames mit den Fragen, welche gegenwärtig die Menschheit beschäftigen? 258 Corradini, op. cit., S. 235–239.

1482

Teil IV

Worin kann wohl diese Gabe des zweiten Gesichts uns behilflich sein, um uns auf Erden zurechtzufinden? Wie sollen wir das Mittel finden, es zu erlangen? Was bedeutet, in dieser Beziehung, Napoleon? Und warum erbeben die Völker noch immer bei dem Namen des großen Mannes? Diese Gabe ist nichts anderes, als einer jener Augenblicke, gekannt von den Künstlern, von den Kriegern und höchst wahrscheinlich von ihnen allen, denn die Franzosen sind von Natur mit Intuition begabt. Es sind dies jene Augenblicke der Eingebung, in welchen wir uns mit einem Male kräftiger als gewöhnlich fühlen, hellsehender, sicherer aller unserer Mittel, und selbst sicherer, sie besser anzuwenden. Was ist dieser Augenblick der Eingebung? Es ist der Schwung der Seele einer höheren Region zu. Denn, fühlen wir uns mit einem Mal von einer unbekannten Kraft erfüllt, die durchaus nicht von unseren Gewohnheiten herkommt und die über unseren gewöhnlichen Mitteln steht, so muß sie doch von einer unsichtbaren und untastbaren Region dort hineingefallen sein. Die Eingebung wird allemal einem Mann von gutem Glauben das Vorhandensein jener unsichtbaren und geheimnisvollen Welt beweisen, die der Christ als ein Dogma annimmt und zu welchem ein wahrheitsliebender Philosoph selbst sogar durch die Logik hingeführt wird. Solange als die Kirche auf die Menschen wirkte, indem sie ihre Seele entfaltete und ihnen behilflich war, sich gegen die Religion des Lichts und der Kraft aufzuschwingen, so lange lief die ganze Welt in die Kirche, um durch ihre Vermittlung mit dem Himmel in Verbindung zu sein. Man kehrte aus der Kirche kräftiger, tapferer, als besserer Familienvater, als besserer Künstler, als besserer Soldat zurück. Die Geschichte und die Tatsachen beweisen ihnen nun aber, daß seit Jahrhunderten die Kirche nicht mehr zum Himmel führt; sie geht dort selbst nicht mehr ein. Seit Jahhunderten hat sie in ihren Taten kein einziges Element blicken lassen, welches nicht auch von den Kindern der Erde gekannt wäre, nichts, was nicht auch außerhalb der Kirche erreicht werden könnte. Unterdessen fuhr die Menscheit fort vorwärts zu rücken; ihre Wirkungssphäre erweiterte sich immer mehr und mehr; sie hatte, mehr denn irgend je, der außerordentlichen Hilfen nötig. Vergebens suchte sie in der Kirche nach diesen Hilfen; die Kirche konnte sie nicht mehr geben, denn sie hat aufgehört mit dem Himmel in Verbindung zu sein. Da versuchten es die kühnsten und agilsten Geister, die Verbindung außerhalb der Kirche zu bewerkstelligen, die einen nach dem Reich des Himmels suchend, die anderen, es auf Erden realisieren wollend. – Luther und Cartesius, Swedenborg, Saint-Martin und Fourier, Mirabeau und Danton, Männer der Vernunft oder Männer der Tat, haben sie ihr Leben in dieser Arbeit zugebracht. Sie ähnelten jenen kühnen normannischen Seefahrern, jenem Jan

14. Vorlesung (28. Mai 1844)

1483

Polak (Johannes aus Polen)259, jenen Matrosen aus Dieppe260, welche lange Zeit vor Kolumbus sich auf das Meer der anderen Halbkugel hinausgewagt hatten, die einen als Seeräuber, die anderen als Kaufleute, begierig nach Reichtümern oder nach Ruhm, die einen und die anderen der Neuen Welt zugetrieben, deren Vorhandensein man damals nicht aufhörte zu ahnen. Kolumbus allein gelang es, sie zu finden und den Weg zu derselben zu zeigen. Kolumbus allein vereinte in sich die seltenen Eigenschaften, die von einem Führer einer geistigen Unternehmung verlangt werden: die Reinheit der Absicht, die Kraft, die Kühnheit und die Ausdauer. Man weiß gegenwärtig, daß er in diesem Aussuchen der Neuen Welt keine andere Absicht hatte, als der Christenheit zu helfen das heilige Land wieder zu erobern. Unter diesem Titel ist er der letzte Mann des Mittelalters, der letzte Kreuzritter gewesen! Die Vorsehung hat seine Anstrengungen gesegnet. Die Spuren seiner Vorgänger sind von der Meeresoberfläche verschwunden; aber die Bahn, welche das Fahrzeug des Christoph Kolumbus hinterlassen hat, blieb ewig sichtbar auf dem Ozean, wie das Geleise einer Eisenbahn; die Marinen der ganzen Welt haben sie zurückgelegt. So fanden sich die alten Überlieferungen der Seefahrer Phöniziens und Griechenlands bestätigt und erklärt.261 Die Entdeckung des Mittelalters wurde ergänzt und weiter ausgedehnt. Die Meeresuntersuchung hatte von nun an einen Zweck und einen Plan im Voraus gezeichnet. Die Verbindung zwischen den beiden Halbkugeln stellte sich auf eine regelmäßige und sichere Weise fest. Dies ist, meine Herren, die symbolische Geschichte der Anstrengungen, versucht und ausgeführt von den Geistern, welche in der sichbaren Hemisphäre des Universums, in der Materie festgebannt sind und die das Bedürfnis fühlen, mit dem Unsichtbaren, mit dem Himmel, in Verbindung zu treten. Jesus Christus hat gelehrt, wie man in die Verbindung mit dem Himmel eintritt und auf welche Weise man sich in derselben erhält. Die Menschheit studierte seine Lehren, ohne seine Arbeiten zu versuchen. Das im Evangelium verkündete Reich wurde eine Überlieferung, ähnlich denjenigen von Scylax und Nearchos.262 Die Vernunft erklärte die Wunder, die Seele entzog sich den Anstrengungen, die fähig sind, Wunder zu erzeugen. 259 Jan Polak soll 1476 per Segelschiff Labrador (Kanada) erreicht haben; vgl. Joachim Lelewel: Dzieła.Tom III. Warszawa 1959, S. 441. 260 Jean Cousin aus Dieppe, der um 1488 bis nach Südamerika (Brasilien) gesegelt haben soll. Quellen nicht vorhanden. 261 Quelle nicht ermittelt. 262 Scylax aus Karyanda – griechischer Geograph, der im Auftrag des persischen Königs Dareios I. Entdeckungsreisen unternahm. Das Werk „Περίπλους τῆς θαλάσσης τῆς οἰκουμένης Εὐρώπης καὶ Ἀσίας καὶ Λιβύης“ (Küstenbeschreibung des Meeres der bewohnten Teile

1484

Teil IV

Und doch verläßt Gott die Erde nicht, die himmlische Atmosphäre übt fortwährend ihren heilsamen Druck auf die Menschenseelen aus, der Himmel sucht sich in dieselben einzuführen; er wirft die Seelen umher, er fordert sie heraus zur Arbeit durch beständiges Unglück, er zieht sie durch Hoffnungen an. Die kräftigsten Seelen, die reinsten und tätigsten sind für dieses unsichtbare Wirken die empfänglichsten und der Quelle am nächsten, aus welcher die geistigen Phänomene, die Wunder, fließen. Von allen Männern der vergangenen Epoche war Napoleon der am meisten wunderbare. Die Völker fühlten instinktmäßig, daß dieser Mann eine innere, den Priestern und dem Papst unbekannte Arbeit verrichtete, daß er viel weiter in den Geheimnissen des Himmels war als die amtliche Kirche, und daß er folglich den Völkern helfen könne, sich der Region der Kraft und des Glückes, dem evangelischen Reich, dem Himmel endlich zu nähern. Man begriff, daß ein solches Werk zu tun, dasselbe war, als das Werk Jesu Christi fortzusetzen. Fortsetzen ist nicht nachahmen. Man begriff, daß, um das Werk Jesu Christi fortzusetzen, es nicht mehr hinreichte die Verfahrungsarten der Priester der Vergangenheit nachzumachen, daß es nicht mehr genügte Gott zu lehren, zu predigen und ihn in Symbolen zu zeigen: es bedurfte der Tat. Kein anderes Mittel gibt es mehr, um zu beweisen, daß man mit Gott ist, als indem man größer sich zeigt als die Kinder der Erde; kein anderes Mittel gibt es mehr, um zu beweisen, daß man stärker ist wie sie, weiser wie sie, als daß man selbst diese Erde umfasst, welche ihre einzige Wirkungssphäre ist, und daß man die Kraft hat, sie zu handhaben, sie zu erniedrigen und sie zu erheben. Der Geist des Menschen ist das Kind jenes Gottes, welcher nicht bloß allein im Himmel herrscht, sondern auch auf Erden. Der Geist muß Herr der Erde werden. Napoleon erriet die geheimen Hoffnungen seiner Zeit: er unterhielt sie, er machte ihre Ausführung möglich, er hat sie aber nicht realisiert. Er unterlag. Er erfuhr nur zu spät die Geheimnisse der geistigen Versuchungen; über welche er in seinem Gefängniss zu St. Helena einen bewundernswerten Kommentar diktierte. Wir haben schon einige Worte dieses Buches angeführt; es erklärt

von Europa, Asien und Afrika) wird allerdings einem gewissen Pseudo-Scylax zugeschrieben; vgl. – Dmitrij Vadimovič Pančenko: Scylax’ Circumnavigation of India and Its Interpretation in Early Greek Geography, Ethnography and Cosmography, in: Hyperboreus (München), 9 (2003) 2, S. 274–294; im Internet unter: (http://www.bibliotheca-classica. org/sites/default/files/DmitriPanchenko.pdf); vgl. ferner: Graham Shipley: PseudoSkylax’s Periplous. The Circumnavigation of the Inhabited World: Text, Translation and Commentary. Bristol 2011. – Nearchos (um 360 v. Chr. – 312 n. Chr.) – Admiral Alexanders des Großen während des Persienfeldzuges; vgl. Klaus Meister: Die griechische Geschichtsschreibung. Stuttgart 1990, S. 110–112.

14. Vorlesung (28. Mai 1844)

1485

uns die außerordentlichen Zustände, in welchen sich der Geist der Männer befindet, die eine Sendung haben. Das Evangelium sagt, der Heiland habe, bevor er auf die Menschen zu wirken anfing, lange Zeit gegen die unsichtbaren Mächte zu kämpfen gehabt, gegen dasjenige, was man umgangssprachlich die Regungen des Hochmuts, die Bewegungen des Stolzes, die Reize der vorübergehenden Gewalt nennen könnte: ein für den Geist unendlich gefahrvollerer Kampf als derjenige ist, welcher ihn in der irdischen Wirklichkeit erwartet. Der Heiland ging aus demselben siegreich hervor. „Jesus Christus ist kein Mensch“, sagte Napoleon, „Jesus Christus hätte sich in Jerusalem der Gewalt bemächtigen können, er hätte ein Königreich usurpieren können.“263 Napoleon wußte dieses kraft eines unfehlbaren Wissens. Gewiß es unterliegt keinem Zweifel, daß der Gottmensch Hoherpriester der heiligen Stadt hätte werden können. Seine menschliche Heiligkeit gab ihm vielleicht diesen Rat; aber seine Gottheit wußte es, daß der Geist Gottes, in einem jüdischen Hohenpriester verkörpert, nur dazu gedient hätte, den Stolz der priesterlichen Kaste und denjenigen der jüdischen Rasse zu nähren. Der Menschensohn sollte nicht das Kind einer übermütigen Kaste, noch einer ausschließlichen Nationalität werden. Ich werde mir erlauben meinerseits die Worte des Gefangenen von St. Helena zu kommentieren. Die Versuchung, von welcher er redet, konnte einen viel mächtigeren Charakter gehabt haben. Der Heiland lebte in einer Zeit, wo die kaiserliche Würde der ganzen Welt von einem römischen Soldaten erobert war; in einer Zeit, wo von der öffentlichen Meinung der Titel des Kaisers als eine Vergeltung betrachtet wurde, welche jeder römische Bürger, der ein Mann von Genie war, beanspruchen konnte. Die Juden wurden leicht römische Bürger. Das Größte von allen Genien war da. Die Göttlichwerdung wäre leicht gewesen, aber was hätte die Menschheit bei einer solchen Vergöttlichung gewinnen können? Der Menschensohn sollte beweisen, daß, um den Erdball zu beherrschen, man nicht nötig habe, römischer Kaiser, nicht einmal Bürger von Rom zu sein. Napoleon war es nicht gegeben, dieses zu begreifen. Nachdem er alles kraft seines Genies erobert hatte; begriff er nicht, daß das nämliche Genie ausgereicht hätte, um alles zu bewahren. Alsdann machte er aus sich ein Erdenkind; er verfehlte seine Sendung. 263 Mickiewicz paraphrasiert diese Äußerungen aus Robert Antoine Beauterne: Conversations religieuses de Napoleon, op. cit., S. 37: „Je connois les hommes, et je vous dis que Jésus n’est pas un homme.“; vgl. auch diese Zitierung in der 6. Vorlesung (Teil IV); dazu den Kommentar von J. Maślanka in – A. Mickiewicz: Dzieła. Tom XI: Literatura słowiańska, op. cit., S. 245.

1486

Teil IV

Die Menschen wechseln und fallen, aber der Gedanke Gottes ist unbeugsam und unabänderlich; sein Werk, einmal auf Erden begonnen, leidet keine Unterbrechung. Im Augenblick, wo ein Genie, das zu seinem Dienst angewandt ist, strauchelt, wird es von einem anderen ersetzt. In den großen Epochen gibt es kein geistiges Interregnum; darum nennt man diese Epochen groß. Unsere Epoche ist groß. Der Mann des Schicksals erwartet seinen geistigen Nachfolger. Ein Dichter, dessen Strophen ich ihnen angeführt habe, hat dieses Geheimnis vorfühlend, gesagt: Mais si l’homme succombe au nombre des orages, C’est que l’union manque à l’œuvre des cordages, C’est qu’il manqué la main d’un grand home au timon: Cet home, cependant, tôt ou tard il arrive, Et d’un bras vigoureux le poussant vers la rive, Répare le dégât et lui donne son nom.264 Unterliegt aber der Mensch der Stürme Zahl; So fehlt ja die Einheit dem Säulenwerk; Es fehlt die Hand eines großen Mannes dem Steuerruder: Dieser Mann kommt indessen früher oder später zum Vorschein; Und mit einem kräftigen Arme das Fahrzeug dem Strände zulenkend; Bessert er die Schäden aus und gibt ihm seinen Namen.

Daß das Warten auf diesen Mann ein universelles ist, habe ich gesagt; sie sehen hier die Beweise davon. Ich werde hinzufügen, daß es mir selbst gegeben war, das Bild des Mannes, von dem ich rede, im Geiste gesehen und und aufgezeichnet zu haben. Zum ersten und zum letzten Male führe ich mich selbst an; ich lese ihnen einige Strophen eines Gesangs vor, welchen ich selbst vor zehn Jahren verfaßt habe: „D’une nation détruite, un seul échappe. Je l’ai entrevu petit; il grandit, et sa grandeur devient incommensurable. Il a trois fronts et trois faces, trois esprits et trois tons. Il paraît aveugle, et cependant il lit dans le livre mystérieux. Il est conduit par un génie, l’homme terrible à la voix duquel la terre tremble. Il est debout sur les trois couronnes, mais il ne porte pas de couronne. Sa vie est la peine des peines, et son nom est le peuple des peuples.265 Aus einer zerstörten Nation entkommt ein Einziger. Ich sah ihn klein, er wächst und seine Größe wird unmeßbar. Er hat drei Stirnen und drei Antlitze, 264 Corradini, op. cit., S. 183–185. 265 Mickiewicz paraphrasiert hier in Prosa Verse aus seinem Werk „Dziady“ III, szena 5. „Widzenie ks. Piotra“, die Gustav Siegfried nach der französischen Edition der Vorlesungen (A.  Mickiewicz: L’Église et le Messie. Paris 1845, S.  296) übersetzt. Dort fehlen u.a. die Verse:

14. Vorlesung (28. Mai 1844)

1487

drei Geister und drei Töne. Er scheint blind zu sein und doch liest er in dem geheimnisvollen Buche. Er wird von einem Genius, dem furchtbaren Manne, bei dessen Stimme die Erde zittert, geführt. Er steht aufrecht über drei Kronen, doch trägt er keine Krone. Sein Leben ist die Mühe der Mühen, und sein Name ist das Volk der Völker.

„A imię jego czterdzieści i cztery. / Sława! sława! sława!“ (Vierundvierzig ist der Name, den er führt. / Ruhm und Ehre, Ruhm und Ehre). Feliks Wrotnowski dagegen zitiert den polnischen Text mit Auslassungen ausführlicher: „Patrz! – ha! – to dziecię uszło – rośnie – to obrońca! Wskrzesiciel narodu! […] Ktoż ten mąż? – To namiestnik na ziemskim padole. Znałem go, – był dzieckiem – znałem, Jak urósł duszą i ciałem! On ślepy, lecz go wiedzie anioł pacholę. Mąż straszny – ma trzy oblicza, On ma trzy czoła. Jak baldakim rozpięta księga tajemnicza Nad jego głową, osłania lice. Podnożem jego są trzy stolice. Trzy końce świata drżą, gdy on woła; […] Na trzech stoi koronach, a sam bez korony; A życie jego – trud trudów, A tytuł jego – lud ludów; Z matki obcej: krew jego – dawne bohatery, A imię jego czterdzieści i cztery. Sława! sława! sława!“ […]. Vgl. „Literatura Słowiańska“ wykładana w Kollegium Francuskiem przez A. Mickiewicza. Poznań 1865, wyd. III; t. IV, S.  176. Deutsche Übersetzung: (Sieh! – dies Kind ist heil – wächst – wird unser Retter sein! / Dieses Volk wird auferstehen! / […] / Wer ist dieser Mann? – Er ist der Stellvertreter auf der Welt. / Ich hab’ ihn gekannt – schon lang – als Kind, / Wie er wuchs an Leib und Seel! / Doch er ist blind, und ein Engelsknabe ist es, der ihn führt und hält. / Furchtbar ist der Mann – ich seh ihn drei Gesichter tragen, / Seh drei Stirnen schweben, / Wie ein Baldachin liegt hier das Buch der Rätsel aufgeschlagen / Haupt und Wangen ihm zu kränzen. / Seine Füße ruhn auf dreien Residenzen, / Und es müssen, wenn er ruft, drei Enden dieser Welt erbeben; / […] / Auf drei Kronen steht er, selber ohne Krone: / Und sein Leben – Mühe über Müh’n, / Volk der Völker – ja so nennt man ihn; / Ein Geschlecht von Helden, fremde Mutter ist’s, die ihn gebiert, / „Vierundvierzig“ ist der Name, den er führt. / Ruhm und Ehre, Ruhm und Ehre! […] – A. Mickiewicz: Die Ahnenfeier. Ein Poem. Zweisprachige Ausgabe. Übersetzt, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Walter Schamschula. Köln-Weimar-Wien 1991, S.  299, 301, 303. Zur Interpretation dieser Stelle vgl. die Arbeiten von Stanisław Pigoń: „Biesiada“ A. Towiańskiego i jej komentarz w IV kursie Prelekcyj paryskich. In: Biblioteka Warszawska, rok 1914, tom I, S. 538 (auch in – St. Pigoń: Z epoki Mickiewicza. WarszawaKraków 1922, S. 241–309; Wiktor Weitraub: Prelekcje paryskie – ale jakie? In: Pamiętnik Literacki 1976, z. 2, S. 34–35.

1488

Teil IV

Er ist seitdem von den Israeliten, den Franzosen und von den Slaven gesehen worden, dieser Mann mit drei Antlitzen und drei Tönen266; im Angesicht des Himmels haben sie versichert, ihn gesehen und erkannt zu haben. Ich berufe mich auf ihr Zeugnis. Dieser Mann allein kann das Werk fortsetzen, welches Napoleon zur Ausführung übergeben war; er allein kennt die Geschichte Napoleons. Was wissen sie von dieser Geschichte? Ein Bruchstück von einigen Jahren seines politischen Lebens. Glauben sie, daß das Wunderbare dieses Lebens nur erst von der Zeit beginnt, als er General oder Konsul wurde? Glauben sie, daß ein geistiges und materielles Kaisertum, das umfangreichste, was jemals bestanden hat, sich mit einem Mal plötzlich erheben lässt, ohne zuvor in der Seele des Kaisers vorbereitet gewesen zu sein? Die lange Geschichte der Gedanken und der Gefühle, welche diese Seele vor dem Erscheinen auf dem kriegerischen und politischen Schauplatz haben durchziehen müssen, eine Geschichte, welche derjenigen des Heilands, bevor er zu lehren angefangen hatte, antwortet, ist noch ganz unbekannt. Und von jener Geschichte, der interessantesten für 266 In der französischen Edition lautet die Stelle: „Il a été vu depuis cet homme à trois faces et à trois tons […].“ A. Mickiewicz: L’Église et le Messie, op. cit., S. 296. Hier wird von Mickiewicz ein Schlüsselbegriff der Towiański-Lehre, der Ton, verwendet, den es in der zitierten Stelle aus „Dziady“ (Die Ahnenfeier) nicht gibt. Über die drei Bedeutungen des Begriffs „Ton“ bei Towiański vgl. Marlis Lami: Andrzej Towiański (1799–1878), op. cit., S. 212–213: „Einerseits dient er durchaus als musikalischer Terminus im üblichen Sprachgebrauch meistens verbunden mit der Bezeichnung ‚Musik‘ oder ‚musikalisch‘ (‚tony muzyczne‘). Andererseits bezeichnet er, der Terminologie der Sache Gottes entsprechend, eine bestimmte Art der ‚Bewegung des Geistes‘ und wird in diesem Zusammenhang auch für das Bild der Harmonie der Natur verwendet. Diese Bewegung des Geistes, übt, wenn sie durch dieselbe Ausrichtung und Geschwindigkeit eine korrelierende Bewegung in anderen Individuen, wie auch in Kollektiven, hervorruft, eine ungeheure Wirkung aus. Beispiele dafür sind Napoleon als Vorläufer der neuen Epoche, aber auch Peter der Große, die Mongolen oder Garibaldi. Sie alle besaßen dank ihres Tons Macht über andere. Der Ton soll jedoch Towiański zufolge vor allem zur Vereinigung mit dem Himmel führen und die christliche Gemeinschaft mit dem Nächsten ermöglichen. Oberstes Ziel des Menschen ist es im Sinne des Fortschritts, in der Kunst des christlichen Lebens einen immer höheren Ton zu erreichen, bis ‚Geist, Körper, Leben, das ganze Wesen des Menschen in einem einzigen Ton‘ sein würden. Der höchste Ton als die größte innere Bewegung ist für Towiański der Ton, den Christus angab und mit dem er, genauso wie Towiański, ein neues Zeitalter eröffnete.“ Mickiewicz verwendet Towiańskis Ton-Begriff bereits in den Vorlesungen über charismatische Persönlichkeiten: Teil II – Nr.  2 (Pasek), Nr.  4. (Kordecki), Nr. 7 (Peter der Große), Nr. 11 und Nr. 19 (Deržavin), Nr. 32 (Goszczyński), vor allem aber in der Vorlesung Nr. 33 (russischer, polnischer, mongolischer Ton, Napoleons Ton), und in Teil III in den Vorlesungen – Nr. 5 (Puškin, Chomjakov), Nr. 13 und Nr. 16 (Milutinović). Vgl auch Joanna Wierzchowska: Metafora „Ton Chrystusa“, czyli konceptualizacja pokory w idiolekcie Towiańskiego. In: Poradnik Językowy 2011/8, S. 79–87.

14. Vorlesung (28. Mai 1844)

1489

einen religiösen Menschen, der Nachlaßgeschichte (histoire postume) seiner unsterblichen Seele, was wissen wir von derselben? Ich rede zu einem Publikum, das an die Unsterblichkeit der Seele glaubt, zu einem katholischen Publikum, zu einem französischen Publikum. Habe ich nicht das Recht, sie zu fragen, sie, die Söhne der Krieger Napoleons, die Bewunderer seines Genies, und die ihr an die Unsterblichkeit der Seele glaubt; habe ich nicht das Recht, sie zu fragen: welchen Beweis der Liebe und des Interesses sie dem Geist ihres Kaisers geben? Dieser Geist, wo ist er? Ist er unter den Glückseligen? Ist er leidend? Hat er sich jemals ihnen genähert? Was verlangt er von ihnen? Was erwartet er von ihnen? Denn, bei uns, in Polen, hört die Liebe, welche wir für unsere Väter und für unsere Wohltäter empfinden, hören die Pflichten, welche wir gegen sie zu erfüllen, keinesweges mit dem Ende ihres irdischen Lebens auf; für unser Heil haben sie gelebt und gearbeitet; somit müssen unser Leben und unsere Arbeit zu ihrem Heile dienen. Auf gleichmäßige Weise befehlen uns dieses die religiöse und nationale Überlieferung. Und das Heil des Vaters, man sichert es nur, indem man seinen letzten Willen erfüllt, indem man sein geistiges Vermächtnis ausführt, indem man endlich seine Sendung fortsetzt. Auf den Feldern von Waterloo endete die irdische Sendung Napoleons; auf diesem Schicksalsfeld erschien sein Genie.267 Es erschien daselbst nicht in der Gestalt, wie man ihn auf den Schlachtfeldern oder auf seinem Kaiserlichen Trone sah. Er ist hier vergegenwärtigt als Beamter des leibgewordenen Wortes (comme magistrat du Verbe), aufgefordert Rechenschaft zu legen über seine Sendung, eine universelle Sendung, die nicht erfüllt worden war. Es ist dieses das Bild einer Kraft, die einst von dem Bösen irregeführt und gebrochen wurde, die sich aber schon wieder durch das Leiden gestärkt fühlt. Das Genie, den Schmerz Europas vorstellend, die Augen gen Himmel erhoben, streckt die Hände auf die Karte Europas aus. Es hat diese Karte gemacht; seine Bestimmung sieht daselbst geschrieben. Dieses Genie ist es, welches das gegenwärtige Europa konstituiert hat; diejenigen, welche an den gegenwärtigen Zustand Europas leiden, können allein nur dem geistigen Schmerz des Mannes der Bestimmung begreifen. Diejenigen, deren Herz blutet, diejenigen, welche bei dem Namen Waterloo aufseufzen, mögen sie hinblicken! Sie werden hieselbst das Genie erkennen, welches die Unglücksfälle dieses verhängnißvollen Tages abbüßt. Sie werden hieselbst das Genie ihrer Nation erkennen. Jawohl! Ist dieses das Bild eures 267 [Es wird unter die Zuhörer Napoleons lithograhiertes Bild ausgeteilt], das Mickiewicz bei Tony Touillon nach dem Gemälde von Walenty Wańkowicz (1800–1842) herstellen ließ. Reproduktion siehe in: Zofia Makowiecka: Mickiewicz w Collège de France, op. cit., zwischen S. 576–577.

1490

Teil IV

nationalen Geistes. Euer Volk ist bei Waterloo gefallen, in den Bann der Nationen geworfen worden; von Europa, von der Vergangenheit getrennt, steht es einsam da; es erduldet das Märtyrertum des einsamen Felsen St. Helenas. Es ist dieses das Bild eines jeden Franzosen. Ruft nur, möge nur jeder von euch für einen Augenblick sein eignes Genie hervorrufen! Sagt, erscheint euch dieses Genie in den Augenblicken, wo ihr euch die Männer eures Volkes, die Söhne der großen Nation fühlt, erscheint euch dieses Genie nicht auf diese Weise? Erscheint es euch nicht einsam und traurig, und an dem Schmerz der Völker leidend, und den Himmel anrufend, sie retten zu dürfen? In solchen Augenblicken begreifen sie, daß die öffentlichen Denkmäler und Steinmassen keinesweges die Geister retten. In diesen Augenblicken fühlen sie, wie man beschaffen sein muß, um sie zu retten. In solchen Augenblicken erkennt man die gesandten Männer, und auch denjenigen, der die Sendung hat, das Werk des Mannes der Bestimmung fortzusetzen, die Welt zu retten; wie die Welt groß zu sein. Diesen Mann, sucht ihn! Ruft den Geist eures Helden, den Geist des Schicksalsmannes zu Hilfe. Nur sein Geist allein kann euch dem Mann der Bestimmung zuführen. Dieses Bild ist das Zeichen, an welchem man ihn erkennen wird. Ich übergebe es euch zur Erinnerung. Es wird mir als Zeugnis dienen, daß ich meine Schuldigkeit getan habe. Eines Tages wird man von euch Rechenschaft fordern über die Weise, wie ihr die eurige erfüllen werdet. Napoleon und Waterloo! Wenn es uns unter der Anrufung dieser beiden Namen gegeben war zu fühlen, daß in diesem Augenblicke ein und derselbe Geist uns beseelt, so haben wir im Geiste Gemeinschaft gepflogen, wir haben eins der Geheimnisse des neuen Bundes gefeiert. Eine solche Gemeinschaft ist ein geistiges Mahl. Das erste Mahl ist gefeiert worden auf dem Feld von Waterloo: dort wurden zum ersten Male diese Worte gesprochen, die letzten, welche ich an sie richte: „[…] und uns, uns Männern, die wir am Werke des Geistes mitwirken, uns ist es erlaubt den Kelch zu leeren mit einem glühenden Wunsche für das Wohl des Werkes und dasjenige unsers Vaterlandes. Der erste Kelch dieser Art auf Erden, denn es gab noch nie einen solchen Dienst auf Erden und folglich auch keinen solchen Kelch; indem wir uns erinnern, daß es erlaubt ist dem Menschen, den Geist erhebend, das heilige Mahl des Heilands zu erneuern. Erster Kelch Geruhe es, o Gott! diese Darlegung in irdischen Formen des Werkes des Geistes zu deiner Ehre aufzunehmen; auf daß dein Name, o Herr! geheiligt sei für das Wohl der allerheiligsten Sache der Völker für das Wohl unsers Vaterlandes!

1491

14. Vorlesung (28. Mai 1844) Zweiter Kelch an Napoleon

Das Erbarmen des Herrn, die Verzeihung und der Friede, und baldige Vereinigung mit uns, o für uns teurer Geist, eines Helden, eines Bruders, eines Gefährten und Mitarbeiters im heiligen Werke! O du! Erleuchteter Meister, mehr voran in den Urteilen des Herrn zu Gunsten der Erde; Du, welcher Du nach so vielen Jahren der Leiden, in diesem Augenblicke, durch höhere Erlaubnis unserm Mahle im Geiste beiwohnst, empfange in diesem Augenblicke unsere feierliche Versicherung, den einzigen Trost, welcher Dir aufbewahrt ist, daß wir alle unsere Anstrengungen machen werden, um Deinen Eingebungen, der Richtung, welcher Du dem Willen Gottes gemäß, dem Du näher stehst, uns für die Freude, den Frieden und das Heil Deines Geistes geben wirst, gehorsam zu werden!“268

268 Übersetzung nach der französischen Vorlage; vgl. A. Mickiewicz: L’Église et le Messie II. Paris 1845, S. 300–301; der dritte Trinkspruch auf General Skrzynecki wurde ausgelassen. L. Płoszewski (A. Mickiewicz: Dzieła. Tom XI: Literatura Słowiańska. Kurs trzeci i czwarty. Warszawa 1955, S. 618) nimmt an, daß Mickiewicz nach der französischen Ausgabe der „Biesiada“ zitierte, die die Gegner Towiańskis, die Resurrektionisten, veröffentlichten; dort fehlt der 3. Trinkspruch; Text siehe – „Banquet du 17 Janvier 1841“ [https://gallica.bnf. fr/ark:/12148/bpt6k83687w/f16.image].

Nachwort

Nachwort zur neuen Redaktion der Pariser Vorlesungen Walter Kroll Reinhard Lauer gewidmet

1.

Die neue Redaktion der deutschen Übersetzung

Die Vorlesungen über die slavische Literatur, die Adam Mickiewicz in den Jahren 1840–1844 am Collège de France in französischer Sprache abhielt, werden in der vorliegenden Edition in einer neuen Redaktion der deutschen Übersetzung vorgestellt. Die deutsche Übersetzung erschien im BrockhausAvenarius-Verlag in vier Teilen unter dem Titel: Vorlesungen über die slavische Literatur und Zustände. Teil  I–II (Jahreskurse 1840–1841, 1841–1842, ParisLeipzig 1843); Teil III (Jahreskurs 1842–1843, Paris-Leipzig 1844); Teil IV (Jahreskurs (1843–1844, Paris-Leipzig 1845); (unveränderte) Neuauflage aller vier Teile Paris–Leipzig 1849. Die Übersetzung besorgte Gustav Alexander Siegfried unter Mitwirkung von Kazimierz Kunaszowski, Jan Nepomucen Rembowski und Hermann Ewerbeck (vgl. dazu Abschnitt 3). Am Anfang des Editionsvorhabens stand zunächst die Idee, dieses vergessene Rezeptionszeugnis dem deutschen Lesepublikum in der überlieferten Textausgabe zugänglich zu machen. Das hätte bedeutet, dass der Leser die Literatur der Slaven ausschließlich in deutscher Sprache zur Kenntnis genommen hätte, ohne die Originaltexte gesehen und gelesen zu haben. Für den Slavisten, der in der Regel am Original arbeitet, wäre diese Lösung ebenso unzumutbar wie für den Komparatisten, der keine Vergleichsgrundlage gefunden hätte. Um dieses einseitige Lektüreerlebnis zu verhindern und den komparatistischen Aspekt der Vorlesungen stärker herauszustellen, entschloss sich der Herausgeber, alle zitierten Originaltexte der Vorlesungen zu präsentieren. Die Originaltexte stammen aus der polnischen, der russischen, der serbischen und der tschechischen Literatur; einige Zitationen aus der englischen, der französischen und der lateinischen Literatur. Dabei wurden einige Texte, vor allem aus der russischen Literatur, neu übersetzt oder durch neuere Übersetzungen ersetzt, weil sie G. Siegfried aus dem Polnischen oder Französischen übertrug. Die mehrsprachige Präsentationsform der vorliegenden Edition unterscheidet sich wesentlich von allen bisherigen Ausgaben, die den ganzen Text der

© Brill Schöningh, 2023 | doi:10.30965/9783657790999_115

1496

Walter Kroll

Pariser Vorlesungen einsprachig, also auch die literarischen, historischen und philosophischen Originaltexte, entweder in französischer oder in polnischer Sprache anbieten. Die deutsche Übersetzung der Teile  I–III (Jahreskurse 1840–1843) wurde auf der Grundlage der polnischen Übersetzung von Feliks Wrotnowski vorgenommen, die er schon während der laufenden Vorlesungen in Angriff nahm und zunächst in „Auszügen“ in der Zeitschrift „Dziennik Narodowy“ publizierte, um sie dann später zu vervollständigen. Teil IV (Jahreskurs 1843–1844) wurde dann aus der französischen Vorlage übersetzt (vgl. dazu Abschnitt 5). Wegen der unvollständigen Vorlagen der polnischen Übersetzung entstanden in der deutschen Übersetzung Lücken und Auslassungen. Um eine relative Vollständigkeit der deutschen Ausgabe zu erreichen, hat der Herausgeber die fehlenden Passagen auf der Grundlage der dritten (und letzten) Edition von Feliks Wrotnowski1 aus dem Jahre 1865 nachübersetzt und mit eckigen Klammern versehen. In dieser Ausgabe hat F.  Wrotnowski die Erzählperspektive vereinheitlicht, indem er einige einleitende Vorlesungsabschnitte in den Jahreskursen 1840–1841 (Teil I) und 1841–1842 (Teil II), die von den Stenographen in indirekter erzählter Rede als „Nacherzählungen“ wiedergegeben wurden, als direkte erzählte Rede „rekonstruierte“. Diese Änderungen hat der Herausgeber vermerkt und kommentiert. Dabei wurde auch ein Vergleich mit der französischen Redaktion2 und mit der zweiten polnischen Übersetzung von Leon Płoszewski (Redaktion von Julian Maślanka)3 vorgenommen und an entsprechenden Stellen kommentiert. Die Kommentare des Herausgebers in den Fußnoten enthalten: (a) bibliographische Angaben (Primär- und Sekundärliteratur) mit weiterführender Literatur, (b) Wiederherstellung der Zitate, die im Haupttext als „Zitat-Paraphrasen“ vorkommen und (c) Erklärungen wichtiger Grundbegriffe oder Schlüsselwörter der Vorlesung. Bei der Kommentierung stützte sich der Herausgeber auch auf die Arbeit von Zofia Makowiecka4 und auf die Anmerkungen aus dem kritischen Apparat der bereits erwähnten polnischen Edition der Vorlesungen von Julian Maślanka. Daneben hat der Herausgeber eigene Recherchen 1 Literatura słowiańska wykładana w kolegium francuzkiem przez Adama Mickiewicza. Tłumaczenie Felixa Wrontowskiego. Wydanie trzecie, nowo poprawione. Rok pierwszy, 1840–1841. Rok drugi, 1841–1842. Rok trzeci, 1842–1843. Rok czwarty, 1843–1844. Poznań 1865. 2 Adam Mickiewicz: Les Slaves. Cours professé au Collége de France de 1840 a 1844, et publié d’aprés les notes sténographiées. 5 vol. in 8°. Paris 1845–1849. 3 Adam Mickiewicz: Literatura słowiańska. In: A.  Mickiewicz: Dzieła. Wydanie rocznicowe 1798–1998. Tom 8–11. Red. Julian Maślanka. Przekład Leon Płoszewski. Warszawa 1997–1998. 4 Zofia Makowiecka: Mickiewicz w Collège de France. Październik 1840 – maj 1844. Warszawa 1968.

Nachwort zur neuen Redaktion der Pariser Vorlesungen

1497

vorgenommen und in die Kommentare eingebracht. Die (oben zitierte) französische Edition war in dieser Hinsicht unergiebig, weil sie keine Kommentierungen enthält und außerdem in keiner Weise den Ansprüchen einer „kritischen Ausgabe“ entspricht. Sprache und Begrifflichkeit der deutschen Übersetzung orientieren sich an der deutschen Wissenschaftssprache des 19. Jahrhunderts. Bei der Satzgliederung fällt die häufige Verwendung der Semikola anstelle eines Punktes auf. Diese Besonderheit vermittelt bei der Lektüre den Eindruck eines „StenoTextes“. Adam Mickiewicz hinterließ kein Manuskript der Vorlesungen. Der mündliche Vortrag wurde stenographiert. Die Entscheidung, die vorgetragenen Sätze zu gliedern, lag in den Händen der Stenographen; zu Fragen der Verschriftlichung (vgl. die Abschnitte 4. und 5.). Sprachliche und sachliche Fehler in der Übersetzung wurden korrigiert.5 Insgesamt wurde allerdings daraus geachtet, dass der sprachliche Duktus der Übersetzung gewahrt bleibt, weil diese Übersetzung auch ein Rezeptionszeugnis der Sprachverwendung im 19. Jahrhundert darstellt. Der Haupttext der Vorlesungen wird auf die Rechtschreibung vor 1996 normiert. In den folgenden Abschnitten (2.–7.) wird nun der Versuch unternommen, die Pariser Vorlesungen von Adam Mickiewicz in einem breiten Kontext vorzustellen. Die Reihenfolge der Darstellung bestimmen chronologische, biographische, entstehungsgeschichtliche, konzeptionelle und rezeptionsästhetische Fragehinsichten. 2. Der F.A. Brockhaus Verlag und Adam Mickiewicz Die Publikation der deutschen Übersetzung der Vorlesungen verdankt die deutsche Leserschaft dem Brockhaus & Avenarius Verlag (Leipzig-Paris), den Eduard Avenarius, Friedrich und Heinrich Brockhaus 1837 begründeten. Der Verlag  F.A.  Brockhaus wurde auf Adam Mickiewicz recht früh aufmerksam. Darin gelangt ein verlegerisches Interesse zum Ausdruck, das auch im Kontext der deutschen „Polenbegeisterung“ nach dem polnischen

5 Dabei wurden auch die Korrekturen des deutschen Textes von Marek Troszyński zum Jahreskurs 1841–1842 (Teil II) berücksichtigt; vgl. M.  Troszyński: O tłumaczeniu niemieckim na przykładzie wybranych prelekcji kursu II. In: Wydanie krytyczne prelekcji paryskich Adama Mickiewicza. Red. Maria Prussak, Zofia Stefanowska, Marek Troszyński. Warszawa 1994, S. 46–55.

1498

Walter Kroll

Novemberaufstand von 1830–1831 in der Literatur des Vormärz (1830–1848) zu sehen ist.6 Bereits 1834 erschien die deutsche Übersetzung der geschichtlichen Erzählung in Versen Konrad Wallenrod, und seit 1835 gab es in dem Kompendium „Allgemeine deutschen Real-Encyklopädie für gebildete Stände. Conversations-Lexikon“, später die „Brockhaus Encyklopädie“, in jeder neuen Auflage den Lexikoneintrag „Mickiewicz, Adam“.7 Im Jahre 1840 kam es in Paris zu einer Begegnung zwischen A. Mickiewicz und Heinrich Brockhaus (1804–1874), der ganz Europa und den Orient bereiste, Kontakte zu namhaften Dichtern und Künstlern pflegte und stets bemüht war, den Verlag international aufzustellen. Aus seinen Tagebüchern geht hervor, dass er sich vom 26. Oktober 1840 bis zur Abreise am 17. Dezember 1840 in Paris aufhielt. Nach dem Besuch bei Heinrich Heine schildert er die Begegnung mit Adam Mickiewicz, der in diesem Zeitraum u.a. mit Vorbereitungen für seine erste Vorlesung am Collѐge de France (22. Dezember 1840) beschäftigt war: Dieser empfing uns in seiner kleinen Wohnung, erst zwar etwas ernst und einsilbig, wurde aber doch zuletzt, als wir uns zum Kamin gesetzt, mittheilender, und so bin ich eine längere Zeit bei dem großen Dichter geblieben, gewiß einem der bedeutendsten der neuern Zeit. Das Schicksal hat den armen Mann hart geprüft, indem er das Unglück gehabt hat, in einer für ihn sehr traurigen Zeit, wo er kaum das Nothdürftigste gehabt, seine Frau geisteskrank werden zu sehen. Jetzt war sie wieder gesund, auch mit im Zimmer und man sah ihr nichts an; aber die Möglichkeit, daß die Krankheit aufs neue ausbrechen könne, scheint den Dichter sehr niederzudrücken. Er schien im übrigen so glücklich in seiner Familie und spielte und scherzte mit seinen Kindern. Jetzt ist Mickiewicz doch wenigstens vor Nahrungssorgen bewahrt, da er in Paris für die slawische Literatur mit einem bestimmten Gehalt angestellt ist. Aber nichtsdestoweniger war er mit seinen neuen Landsleuten nicht sehr zufrieden und beurtheilte die Politik des neuen wie des alten Ministeriums sehr streng. Ueberhaupt erschien er mir durchaus klar und verständig in seinen Ansichten, weder darin noch in seinem Aeußern den Poeten herauskehrend, der er doch so unzweifelhaft ist. Ich habe ihn aufgefordert, selbst für eine eine gute deutsche Übersetzung seiner Werke zu sorgen, denn es kann kaum ein anderer eine genügende liefern.8

6 Vgl. dazu Gabriela Brudzyńska-Němec: Polenbegeisterung in Deutschland nach 1830. In: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. Vom Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2010–12–03. URL: http://www.ieg-ego.eu/brudzynskanemecg–2010–de. 7 Vgl. Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für gebildete Stände. Conversations-Lexikon. In 12 Bänden. Siebenter Band. M–Nz. Achte Originalausgabe. Leipzig 1835, S. 352–353. Diese zwölfbändige Lexikonausgabe besaß auch A. Mickiewicz. 8 Aus den Tagebüchern von Heinrich Brockhaus. In fünf Theilen. Als Handschrift gedruckt. Erster Theil. Leipzig 1884, S. 411–412.

Nachwort zur neuen Redaktion der Pariser Vorlesungen

1499

Mit Respekt und einfühlsam schildert er die familiäre Situation und die Befindlichkeit des Dichters in der Emigration. Ungewöhnlich erscheint dabei die Äußerung, in der er Mickiewicz auffordert, „selbst für eine gute deutsche Übersetzung seiner Werke zu sorgen.“ Inwieweit Mickiewicz später diesem Rat im Hinblick auf die Übersetzung der Vorlesungen aus dem Französischen ins Polnische und Deutsche folgte, soll anschließend erörtert werden. Aus diesem Interesse für den Dichter Adam Mickiewicz entstand in den folgenden Jahren bei Heinrich Brockhaus das Interesse für die Vermittlung der polnischen Literatur, deren prominente Vertreter, die vorwiegend in der Emigration lebten, in den folgenden Jahren neben Mickiewicz in das Verlagsprogramm9 aufgenommen wurden. Die Brockhaus-Avenarius-Edition der „Vorlesungen über die slawische Literatur und Zustände“ von Adam Mickiewicz geriet jedoch im 20. Jahrhundert bald in Vergessenheit. Auch über den Übersetzer Gustav Siegfried gibt es nur spärliche und zum Teil widersprüchliche Informationen. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe schreibt Mickiewicz: „Den polnischen Text hat mein Freund Siegfried ins Deutsche übersetzt.“ (Teil I, hier S. 1); der Übersetzer (und Arzt) Gustav Siegfried vermerkt in seinem Vorwort geradezu demonstrativ, dass er kein „Schriftsteller“ sei und bedankt sich anschließend bei Kazimierz Kuna­ szowski aus Galizien, Jan Nepomucen Rembowski aus Großpolen und Hermann Ewerbeck aus Danzig für die geleistete Hilfe bei der Übersetzungsarbeit (Teil I, hier S. 3). Auf der Grundlage neuer Recherchen sollen zunächst die Biographien der in der Mickiewicz-Forschung durchaus vergessenen Übersetzer vorgestellt werden. Dabei wird auch die Frage nach ihrer sprachlichen Sozialisation und übersetzerischen Kompetenz Berücksichtigung finden.

9 Vgl. Vollständiges Verzeichnis der von der Firma F.A. Brockhaus in Leipzig seit ihrer Gründung durch Friedrich Arnold Brockhaus im Jahre 1805 bis zu dessen hundertjährigem Geburtstage im Jahre 1872 verlegten Werke. In chronologischer Folge mit biographischen und literarhistorischen Notizen, herausgegeben von Heinrich Brockhaus. Leipzig 1872–1875; Heinrich Eduard Brockhaus: Die Firma Brockhaus von der Gründung bis zum hundertjährigen Jubiläum. 1805–1905. Leipzig 1905. Zur Erinnerung. In der Reihe „Bibliotheken europäischer Autoren“ umfasst die Biblioteka pisarzy polskich (Bibliothek polnischer Schriftsteller) 81 Bände (1860–1886); gedruckt wurden die Werke von M. Czajkowski, S. Garczyński, S.  Goszczyński, Z.  Krasiński, A.  Mickiewicz, J.U.  Niemcewicz, C.  Norwid, H.  Rzewuski, L. Siemieński, J. Słowacki; darunter auch Autoren, die bis heute kaum oder wenig bekannt sind. Bogdan Zakrzewski hat die Chronologie dieses Literaturtransfers nachgezeichnet. Vgl. B. Zakrzewski: Mickiewicz i wydawnictwa Brockhausa. In: Pamiętnik Literacki 89 (1998), 4, S. 187–202.

1500 3.

Walter Kroll

Die Biographien der Übersetzer

Der Lebens- und Bildungsweg von Gustav Alexander Siegfried ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Seine Herkunft, den Schulbesuch und die Stationen seines Medizinstudiums an vier Universitäten (Warschau, Königsberg, Berlin und Halle an der Saale) beschreibt Gustav Siegfried in seinem zweiseitigen Curriculum vitae, das sich im Anhang seiner in lateinischer Sprache geschriebenen Dissertation befindet. Gleich einleitend berichtet er über seine Herkunft: Ego, Gustavus Alexander Siegfried, confessioni evangelicae addictus, natus sum Wiązownae die VII. Mensis Februarii anni MDCCCVII patre Joanne, quem jam ante tres annos morte ereptum lugere nondum desii, et matre Ludovica e gente de Vic, cujus mors matura ante viginti duos annos puerum ingenti affecit dolore. […]10

G.A. Siegfried, der sich hier zum evangelischen Glauben bekennt, wurde am 7. Februar 1807 in dem Dorf Wiązowna geboren. Der Geburtsort Wiązowna (heute Kreis Otwock), der sich etwa 23 km östlich von Warschau befindet, ist ein geschichtsträchtiger Ort, der mit dem Schlossgut als Residenz u.a. den polnischen Adelsfamilien von Jan Kazimierz Lubomirski und Jan Alojzy Potocki diente. Das Gut Wiązowna verkaufte J.A. Potocki 1798 an Joseph von Maltzan (1735–1805), der es dann im Testament seinem Sohn Adolf Christian August von Maltzan (1785–1868) vererbte.11 Später wurde das Anwesen an andere Interessenten verkauft; heute ist das Schloss dem Verfall ausgesetzt. Gustav Siegfrieds Vater, Johann Siegfried, war Königlich Preußischer Kammerrat.12 Es konnte nicht ganz geklärt werden, wie er nach Wiązowna gelangte und in welcher Eigenschaft er dort tätig war. Für die Annahme, dass er dort 10 11

12

Gustav Alexander Siegfried: De morbo infantile frequentissimo et casibus nonnullis ozaenae scrophulosae. Halle (Saale) 1836, S. 37. Im Internet zugänglich unter: https://opacplus. bsb-muenchen.de/title/BV009962185. Vgl. Friedrich von Maltzahn; Albrecht von Maltzan; Georg Christian Friedrich Lisch: Lebensbilder aus dem Geschlechte Maltzan. Rostock 1871; auf S.  234–236 steht die Beschreibung des Dorfes Wiązowna: „5 Höfe, 11 Bauerndörfer, sehr große Waldungen mit außerordentlichen Wiesenflächen gehörten zu einem schönen, im besten Geschmack erbauten Wohnhause. […] Das Ganze war sehr anmutig. […] Mein Vater erkaufte Wiazowna für 150 000 Thlr. Preußisch.“ (Preußische Taler). Diese Berufsbezeichnung, die in Preußen für einen höheren Bediensteten bei einer fürstlichen Finanz- bzw. Verwaltungskammer steht, vermerkt Gustav Siegfried in dem Matrikeleintrag der Universität Halle (Saale) vom 21.11.1835 (UAHW, Rep.  46, Nr.  11; Matrik.-Nr.  271). Für die Zusendung eines Scans dieses Eintrags danke ich Frau Anja Bugaiski vom Universitätsarchiv der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Für

Nachwort zur neuen Redaktion der Pariser Vorlesungen

1501

(eventuell) als Kammerrat Finanz- und Verwaltungsaufgaben bei der Familie Maltzan wahrnahm, fehlen entsprechende Nachweise. Die Recherchen im „Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz“ ergaben allerdings, dass Johann Siegfried im Besitz eines „Inkolatsdiplom“13 war, ausgestellt am 7. November 1799 vom preußischen König Friedrich Wilhelm III. (1770–1840), das Johann Siegfried das Recht verlieh, Landbesitz zu erwerben und zu vererben. Es ist durchaus möglich, dass er auf dem Areal von Wiązowna ein Stück Land oder einen Gutshof kaufte. Um 1829–1830 verließ Johann Siegfried Wiązowna, lebte auf dem Gut Laserkeim bei Königsberg und starb dort 1833.14 Gustav Siegfrieds Mutter, geborene Ludovica de Vic, stammte offensichtlich aus einer französischen (protestantischen) Hugenottenfamilie, die in Preußen Zuflucht fand.15 Sie starb unerwartet im Jahre 1814. Es ist anzunehmen, dass Gustav Siegfried zweisprachig aufwuchs (Deutsch und Französisch; ob er in seiner Kindheit auch Polnisch sprach, bleibt ungewiss, aber durchaus möglich). Bis zum 16. Lebensjahr erhielt er im Elternhaus Privatunterricht, um anschließend das humanistische Gymnasiums in Łomża am Fluss Narew (Woiwodschaft Podlachien) bis 1829 zu besuchen, das von 1774–1807 eine Piaristenschule war. Zu den Unterrichtsfächern gehörten dort u.a. Polnisch, Latein, Griechisch, Deutsch und Französisch. In Łomża erwarb G. Siegfried das Zeugnis der Reife (testimonium maturitatis) und somit die Zugangsberechtigung zum Studium an einer Universität. Er immatrikulierte sich am 1. Oktober 1829 an der Königlichen Warschauer Universität, die der russische Zar (und polnischer König) Alexander I. am 19. November 1816 auf Initiative polnischer Gelehrter gründete. Sein Studium begann er unter dem Rektorat von Wojciech Szweykowski (1773–1838), dem ersten Rektor der die Hilfe bei der Entzifferung des handschriftlichen Eintrags danke ich Prof. Dr. Werner Buchholz (Universität Greifswald). 13 Inkolatsdiplom für den Kammerrat und Intendanten Siegfried zu Warschau (Abschrift). Archivaliensignatur: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. HA GR, Rep. 7 C, Nr. 4622. Das Dokument fand in ihren Recherchen Frau Dr. Gaby Huch (Berlin), der ich an dieser Stelle aufrichtig danke. 14 Darüber berichtet Gustav Siegfried in seinem Curriculum vitae auf Seite  37 (wie Anmerkung 10). Das Gut Laserkeim gehörte seit 1777 Ernst Ahasverus Heinrich von Lehndorff (1727–1811) und dann seinem Sohn Carl von Lehndorff (1770–1854); es wurde erst 1860 veräußert. Vgl. dazu Gaby Huch: Die Lehndorffs. Lebenswelten einer ostpreußischen Adelsfamilie zwischen 1700 und 1945. Berlin 2020. 15 Die Existenz des Familiennamens „Ludovica de Vic“ in Frankreich bestätigt in 6 Fällen aus dem 18. Jahrhundert auch das genealogische Internetforum „MyHeritage“. Über die Hugenotten in Preußen vgl. Ursula Fuhrich-Grubert: Minoritäten in Preußen. Die Hugenotten als Beispiel. In: Handbuch der Preußischen Geschichte. Bd. 1: Das 17. und 18. Jahrhundert und Große Themen der Geschichte Preußens. Hrsg. Wolfgang Neugebauer. Berlin 2009, S. 1125–1224.

1502

Walter Kroll

Warschauer Universität, der übrigens auch die Piaristenschule in Łomża absolviert hatte und später dort Lehrer war. Neben den belegten medizinischen Pflichtfächern erwähnt G. Siegfried in seinem Curriculum vitae, dass er auch Philosophie bei Krystyn Lach-Szyrma (1790–1866) studierte; die Vorlesungen im Fach Philosophie wurden an der Warschauer Universität zwischen 1824 bis 1831 in lateinischer Sprache16 abgehalten. Der polnische Novemberaufstand (29.11.1830–21.10.1831) veränderte die Studiensituation an der Warschauer Universität, deren Studenten plötzlich mit einem Kriegszustand konfrontiert wurden; ein normaler Lehrbetrieb war nicht mehr möglich. Der Philosoph Lach-Szyrma organisierte17 bereits am 1. Dezember 1830 mit den Studenten der Warschauer Universität die „Akademische Garde“ (Gwardia Akademicka), die zum Ziel hatte, die polnische Führung, General Józef Chłopicki, der sich zum Diktator erklärte, zu schützen. Die Warschauer Studenten beteiligten sich aktiv an dem Kampf gegen die russische Besatzung. Auch Gustav Siegfried, der Sohn eines preußischen Beamten, kämpfte in dieser Zeit als Leutnant der polnischen Armee auf der Seite seiner polnischen Kommilitonen.18 Er war auf der durch die Aufständischen eroberten Festung Modlin am Zusammenfluss der Neretwa und der Weichsel bis zur (bedingungslosen) Kapitulation, die der Kommandant der Festung Ignacy Hilary Ledóchowski Anfang Oktober 1831 erklären musste, stationiert. Seine Erfahrungen und sein Handeln im Novemberaufstand waren zweifellos identitätsstiftend und erwiesen sich als Indikatoren für seine polonophile Haltung. Nach der Kapitulation gelang Gustav Siegfried die Flucht. Er folgte 1831 der Aufforderung des Vaters, nach Ostpreußen zurückzukehren, wo er von einer „optima familia“19 auf dem Rittergut Laserkeim bei Königsberg der Familie von Carl von Lehndorff (1770–1854) aufgenommen wurde, bei der auch sein Vater lebte. Das Einkommen und das (nicht verifizierbare) Vermögen seines Vaters 16

Auf die Initiative von K. Lach-Szyrma wurde dann beschlossen, die Vorlesungen im Fach Philosophie in polnischer Sprache anzubieten. Vgl. dazu Józef Bieliński: Królewski Uniwersytet Warszawski (1816–1831). Tom III. Warszawa 1912, S. 79–85. 17 Lach-Szyrmas Aktivitäten als Oberst der „Gwardia Akademicka“ beschreibt ausführlich – Joseph Straszewski: Les Polonais et Polonaises de la révolution du 29 novembre 1830. Paris 1832; deutsche Übersetzung – J. Straszewski: Die Polen und Polinnen der Revolution vom 30. November 1830, oder Lebensbeschreibungen derjenigen Personen, die sich in dem letzten polnischen Freiheitskampfe Kampfe ausgezeichnet haben. Stuttgart 1832–1837. 18 Vgl. dazu Rafał Gerber: Studenci Uniwersytetu Warszawskiego. 1808–1831. Słownik biograficzny. Wrocław 1977; ferner den biographischen Eintrag „Siegfried, Gustaw Aleksander“ von Rościsław Skręt in: Polski Słownik Biograficzny. Tom XXXVI. Warszawa 1996. 19 Gustav Siegfried: De morbo infantile frequentissimo et casibus nonnullis ozaenae scrophulosae, op. cit., S. 37.

Nachwort zur neuen Redaktion der Pariser Vorlesungen

1503

haben es Gustav Siegfried dann ermöglicht, sein Medizinstudium an drei weiteren Universitäten fortzusetzen. Bereits nach Ostern 1832 immatrikulierte er sich an der Albertus-Universität in Königsberg, an der er bis 1834 Medizin studierte. Auf die in seinem Curriculum vitae vorgenommene Aufzählung der zum Teil prominenten Lehrer in den jeweiligen Pflichtfächern wird hier verzichtet. Von 1834 bis 1835 setzte er sein Medizinstudium an der Friedrich-WilhelmsUniversität Berlin (heute Humboldt-Universität) fort. Am  21. November  1835 immatrikulierte er sich an der Universität Halle (Saale) und promovierte dort 1836 über die Krankheit Scrophulose (Halsdrüsengeschwulst). Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass er schon vor dem Rigorosum eine Prüfung im Fach Philosophie abgelegt hatte. Gustav Siegfried ließ sich dann als praktizierender Arzt in der Kleinstadt Kościan (dt. Kosten im Großherzogtum Posen) nieder.20 Dort war er etwa 5 Jahre tätig. Das Jahr 1841 markiert eine Wende im Leben von Gustav Siegfried. Mit dem Entschluss, nach Frankreich auszuwandern, gab er auch seine berufliche Tätigkeit auf. Er wählte Paris als Wohnort. Dort fand er bald den Kontakt zu Adam Mickiewicz, der ja in Paris schon seit dem 22. Dezember 1840 seine Vorlesungen hielt, und zu dem von Andrzej Towiański (1799–1878) und Adam Mickiewicz gegründeten „Kreis der Sache Gottes“ (Koło Sprawy Bożej), der religiöse und politische Ziele verfolgte; darauf soll später eingegangen werden. In den Kreis wurde G. Siegfried am 1. Juni 1842 aufgenommen.21 Dort lernte er auch seine Mithelfer bei der Übersetzung der Vorlesungen kennen, die Towianisten Kazimierz Kunaszowski und Jan Nepomucen Rembowski; alle drei Towianisten besuchten die Vorlesungen von Adam Mickiewicz. Hermann Ewerbeck aus Danzig, über den noch die Rede sein wird, gehörte nicht zum Towiański-Kreis. Die Frage, warum A.  Mickiewicz dem Arzt Gustav Siegfried die Übersetzung anvertraute, ist nicht leicht zu beantworten. Wahrscheinlich hat ihn die Tatsache überzeugt, dass Gustav Siegfried nicht nur eine gute humanistische Bildung besaß, sondern auch über sehr gute Sprachkenntnisse im Deutschen (als „native speaker“), im Polnischen, im Lateinischen und im Französischen 20

21

Als Arzt steht er im Lexikon von Stanisław Lubicz Kośmiński: Słownik lekarzów polskich obejmujący oprócz krótkich życiorysów lekarzy polaków oraz cudzoziemców w Polsce osiadłych, dokładną bibliografią lekarską polską od czasów najdawniejszych aż do chwili obecnej. Warszawa 1888, S. 454, der die Daten über Gustav Siegfried nur bis 1836 berücksichtigt, ausgehend von seinem Curriculum vitae in der Dissertation. Vgl. das Verzeichnis der Towianisten von Stanisław Pigoń in: Zofia Makowiecka: Mickiewicz w Collѐge de France. Październik 1840 – maj 1844. Warszawa 1968, S. 620–621.

1504

Walter Kroll

verfügte; außerdem wird Mickiewicz gewusst haben, dass G.  Siegfried bei der Übersetzungsarbeit mit einem Team arbeiten würde. Als Gustav Siegfried schwer erkrankte, kümmerten sich um ihn u.a. Adam Mickiewicz und seine Frau Celina, die auch nach seinem Tod am 12. Juni 1847 der Beerdigung beiwohnten. Über Kazimierz Kunaszowski gab es bisher die allerwenigsten biographischen Daten. Schon der Name sorgte in der Forschung für Irritationen. In einem Aufsatz wird – ohne Quellenbeleg – behauptet, Kazimierz Kunaszowski sei der Bruder von „Zygfryd Gustaw Kunaszowski“, der das Pseudonym „Teodor Gustaw Siegfried“ verwendet habe.22 Diese Doppelgänger-Konstruktion ist zwar amüsant, aber falsch. Den ersten, oft übersehenen biographischen Hinweis lieferte Kazimierz Kunaszowski selbst, als er sich 1842 am Collѐge de France in die Liste der Zuhörer der Vorlesung von Adam Mickiewicz eintrug: „Casimir Kunaszowski né á Tarnów 1812“23 (Kazimierz Kunaszowski, geboren 1812 in Tarnów). Die Bestätigung dieser Daten ergaben Recherchen im Internet. In der Darstellung zur Geschichte deutscher Gymnasiallehrer in Frankreich von Jacques Brethomé24 befindet sich ein kurzer Lebenslauf von K. Kunaszowski, den er für die Nostrifikation seiner Befähigung zum Lehramt bei der französischen Behörde vorlegen musste; darin fallen allerdings einige Ungereimtheiten auf. Diesen Unterlagen gemäß war Kunaszowski polnischer Offizier. Studium an der Universität Lemberg; Fachrichtung wird nicht genannt, vermutlich deutsche Philologie. Lehramtsprüfung 1830 in Przemyśl – mit 18 Jahren? In Przemyśl gab es nur ein Gymnasium (heute Juliusz-Słowacki-Gymnasium). Konnte er dort eine Lehramtsprüfung ablegen? Anfragen im Archiv von Przemyśl blieben wegen des Krieges in der Ukraine und der Flüchtlingslage in der Stadt erfolglos. Dann – 1830 Emigration. Der Zeitraum erscheint zu kurz. Kunaszowski ist – wie G. Siegfried – in den „Kreis der Sache Gottes“ in Paris am 1. Juni 1842 aufgenommen worden. Er hielt sich in Polen (Galizien) wahrscheinlich bis etwa 1841–42 auf, denn Wiktor Baworowski (1826–1894), der in Polen als Übersetzer englischer und deutscher Literatur bekannt geworden ist, bezeichnet in seiner handschriftlichen Autobiographie Kazimierz Kunaszowski als seinen 22 23 24

Piotr Roguski: Prasa niemiecka o „Prelekcjach paryskich“ Adama Mickiewicza. In: Rocznik Towarzystwa Literackiego imienia Adama Mickiewicza, 13 (1978), S. 92. Zofia Makowiecka: Mickiewicz w Collѐge de France, op. cit., S. 617, die auch darauf hinweist, dass es am Collѐge de France keine Einschreibunspflicht gab und der Zugang für alle frei war. Es haben sich nur drei Zuhörer eingeschrieben; darunter auch K. Kunaszowski. Jacques Brethomé: La langue de l’autre. Histoire des professeurs d’allemand des lycées (1850–1880). Grenoble 2004, S. 115–116. Die Unterlagen befinden sich im Archives nationales; Signatur: A.N.; FF 17/210281.

Nachwort zur neuen Redaktion der Pariser Vorlesungen

1505

Lehrer, worauf Markus Erberharter hinweist.25 Kunaszowski kann den jungen Baworowski auf dem Familiengut Kotłów (ca. 75 km östlich von Lemberg) im Grundschulalter als Hauslehrer unterrichtet haben. Die Zeit zwischen 1830– 1842 enthält somit in seiner Biographie einige ungeklärte Fakten. Seit dem 1. Juli 1842 engagierte sich K. Kunaszowski in dem „Kreis der Sache Gottes“, den nach der Ausweisung Towiańskis aus Frankreich (19. Juli 1842) A. Mickiewicz leitete. K. Kunaszowski betätigte sich zwischen 1842–1850 zunächst als Übersetzer; die Mitwirkung an der deutschen Übersetzung der Pariser Vorlesungen von A. Mickiewicz ist bereits erwähnt worden. Daneben soll er nach den Unterlagen von Jacques Brethomé Übersetzungen aus den slavischen Sprachen ins Französische angefertigt haben, darunter im Jahre 1847 Šafáriks Slovanské starožitnosti (Slavische Altertümer), „für die ihm ein kostenloser Druck auf Kosten des Staates versprochen worden war.“26 Die Edition ist leider nie erschienen. Die Handschrift verzeichnet allerdings Estreicher.27 Nach der Auflösung des „Kreises der Sache Gottes“ wurde er zunächst Hauslehrer des Sohnes von Edgar Ney (1812–1882).28 Durch die Fürsprache der angesehenen Familie Ney wurde er 1853 als Deutschlehrer in den öffentlichen Dienst aufgenommen. Ihn protegierte auch die Prinzessin Mathilde Bonaparte (1820–1904), die Tochter von Napoleons jüngstem Bruder Jérôme Bonaparte, die mit ihrem Mann, dem russischen Großindustriellen Anatolij Demidov (1813–1870), Künstler, Literaten und Wissenschaftler unterstützte. Er lehrte dann an den Gymnasien in Cohors, Lille und Mâcon. Wegen seines Leidens, 25

26 27

28

Vgl. Markus Eberharter: Die translatorischen Biographien von Jan Nepomucen Kamiński, Walenty Chłędowski und Wiktor Baworowski. Zum Leben und Werk von drei Literaturübersetzern im 19. Jahrhundert. Warschau 2018, S. 77. Er bezieht sich auf die handschriftliche Biographie von Baworowski: Autobiografia Wiktora Baworowskiego (1826–1894), ze spisem prac i charakterystyką zbiorów Biblioteki Baworowskich we Lwowie. Handschrift der Biblioteka Jagiellońska; Sign. 6161 III. Im Internet unter: https://jbc.bj.uj.edu.pl/dlibra/publication/297247/edition/284462. Dort S. 7. Jacques Brethomé: La langue de l’autre. Histoire des professeurs d’allemand, op. cit., S. 115. Karol Estreicher: Bibliografia XIX wieku. I. wydanie, tom II, S.  524. Internetausgabe: https://www.estreicher.uj.edu.pl/skany/?dir=dane_xix_index|2. Dort befindet sich der Eintrag: Kunaszowski, Kazimierz – „Szafarzyka starożytności. Tom I. Przekład r. 1850 (w rękopisie).“ Es kann sich sicherlich nur um die französische Übersetzung handeln, denn die polnische Übersetzung der „Slavischen Altertümer“ erschien bereits 1842 in Poznań. Der Übersetzer war Hieronim Napoleon Bońkowski (1807–1886), der mit Mickiewicz befreundet war, zum „Kreis der Sache Gottes“ gehörte und K. Kunaszowski kannte. Name des Sohnes unbekannt. Edgar Ney, seit 1863 Divisionsgeneral, war einer der vier Söhne von Michel Ney (1769–1815), der unter Napoleon „Maréchal d’Empire“ war und den Titel „1. Prinz von Moskau“ besaß; Edgar Ney war der „3. Prinz von Moskau“ (prince de la Moskowa).

1506

Walter Kroll

einer Querschnittslähmung (Paraplegie), kam es oft zu Unterbrechungen seiner Lehrtätigkeit. Er starb im Februar 1858. Der dritte Übersetzer war Jan Nepomucen Rembowski aus Großpolen, über den eine Abhandlung von Stanisław Pigoń vorliegt.29 Geboren am 3. Mai 1821 auf dem Gut seines Vaters (Wyganowo; dt. Kuhhagen, Woiwodschaft Westpommern), absolvierte er in Breslau das Gymnasium und studierte anschließend Jura an den Universitäten Königsberg, Heidelberg und Bonn. Seit 1842 hielt er sich in Paris auf, wo er am 17. Mai 1842 in den „Kreis der Sache Gottes“ aufgenommen wurde. Rembowski interessierte sich für Literatur, besuchte die Vorlesungen von Adam Mickiewicz und schrieb Gedichte.30 Im „Kreis der Sache Gottes“ entstand auch die Freundschaft mit den Dichtern Juliusz Słowacki (1809–1849)31 und Seweryn Goszczyński (1801–1876). Der Pariser Aufenthalt war recht kurz, denn bereits im Januar 1844 kehrte er auf das Gut seines Vaters in Gołuchów (bei Kalisz, Woiwodschaft Großpolen) zurück. Er blieb aber mit S. Goszczyński im brieflichen Kontakt, den er auch über seine Aktivitäten in der Heimat informierte.32 Ab 1860 widmete sich Rembowski als 29 Stanisław Pigoń: Jan Nepomucen Rembowski. Szkic biograficzny. In: St. Pigoń: Z ogniw życia i literatury. Rozprawy. Wrocław-Warszawa-Kraków 1961, S. 229–269. 30 Großteil der Gedichte existiert nur in Handschriften, die Pigoń, op. cit., in Archiven fand zum Teil zitiert. Gedruckt erschien nur ein Gedicht, veröffentlicht in der Festschrift für seinen Freund Seweryn Goszczyński; vgl. Sobótka. Księga zbiorowa na uczczenie pięćdziesięcioletniego jubileuszu Seweryna Goszczyńskiego. Lwów 1875, S. 442–447. Im Internet: http://dlibra.umcs.lublin.pl/publication/13898. 31 Juliusz Słowacki, der im „Kreis der Sache Gottes“ ein Jahr lang glühender Verehrer Towiańskis und seiner Lehre war, distanzierte sich im Herbst 1843 von diesem Kreis. Vgl. dazu J. Słowacki „List do Jana Nepomucena Rembowskiego“. In: J. Słowacki: Genezis z ducha. List do J.N. Rembowskiego. Wykład nauki. Dziennik z R. 1847–1849. Wydanie pierwsze z pośmiertnych rękopisów. Poprzedzone wstępem i objaśnieniami przez Dra Henryka Biegeleisena. Warszawa 1884, S. 43–44; im Internet zugänglich. 32 Erwähnenswert ist eine Episode aus dem Leben von J.N. Rembowski, die auf die Jahre zwischen 1844–1845 zurückgeht und von St. Pigoń als „eine individuelle Aktion“ im Sinne der „Sache Gottes“ gedeutet wird. Towiański verlangte von seinen Anhängern, dass sie die „Sache Gottes“ auch gegenüber ranghöchsten Persönlichkeiten (Königen, Zaren, Päpsten) in direkter mündlicher Ansprache vertreten. Als sich Rembowski im Herbst 1844 als „Einjährig-Freiwilliger“ zum Wehrdienst in der preußischen Armee meldete und dann die Vereidigung anstand, weigerte er sich, den Schwur auf den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. abzulegen, weil er bereits einen Schwur auf seinen Meister Andrzej Towiański abgelegt hatte, woraufhin er vom Oberlandesgericht in Posen wegen Majestätsbeleidigung zu einem Jahr Kerker verurteilt wurde. Im Revisionsverfahren wurde dann die Gefängnisstrafe auf drei Monate reduziert, die Rembowski auch absitzen musste; vgl. St. Pigoń, Jan Nepomucen Rembowski. Szkic biograficzny, op. cit., S. 235–246, der die Briefe auswertete; vgl. Listy Seweryna Goszczyńskiego (1832–1875). Red. St. Pigoń. Kraków 1937.

Nachwort zur neuen Redaktion der Pariser Vorlesungen

1507

Gutsbesitzer in Strzeszyn und Skotniki bei Posen der Landwirtschaft und der Erziehung seiner Söhne. Er starb auf dem Gut seines Vaters in Waganowo am 14. Oktober 1889. Der kurze Aufenthalt in Paris legt nahe, dass Rembowski an der Übersetzung der Vorlesungen nur zeitweilig beteiligt sein konnte. Das gilt auch für den dritten Helfer bei der Übersetzung, den von Gustav Siegfried erwähnten Arzt aus Danzig: Hermann Ewerbeck (12. November 1816– 4. November 1860).33 H. Ewerbeck studierte ab dem Sommersemster 1835 an der Friedrich-Wilhelms Universität Berlin Medizin. In dieser Zeit studierte in Berlin übrigens auch G. Siegfried. Er hörte dort u.a. Vorlesungen in Geschichte (bei Leopold von Ranke), Logik (bei Friedrich Adolf Trendelenburg) und legte die vorgeschriebene Prüfung in Philosophie ab. 1839 promovierte er im Fach Medizin über das Thema De phaenomenis opticis subjectivis (Die subjektive Wahrnehmung der Optik). Nach einigen missglückten Versuchen, sich als Arzt niederzulassen, kam er im Juni 1841 nach Paris. Den Beruf des Arztes gab er auf, half aber gelegentlich Freunden bei Erkrankungen.34 In Paris vollzog sich im Ewerbecks Leben ein weltanschaulicher Wandel, der auf seine philosophischen Interessen während der Studienzeit zurückzuführen ist. Als Junghegelianer geprägt, fand er bald den Kontakt zu Gruppierungen deutscher Emigranten, die revolutionäre, sozialistische und kommunistische Ideen verbreiteten. Er wurde Mitglied im „Bund der Gerechten“, von 1848–49 war er Leiter der Pariser Gemeinde des „Bundes der Kommunisten“, und er pflegte intensive Kontakte zu Karl Marx, Friedrich Engels, Moses Hess, Arnold Ruge, aber auch zu Heinrich Heine. In dieser ereignishaften Zeit war er außerdem als Schriftsteller und Übersetzer ins Französische und Deutsche tätig.35 Wie es allerdings zu der Bekanntschaft mit Gustav Siegfried und der aktiven Mithilfe bei der Übersetzung der Vorlesungen kam, kann nur vermutet werden; vielleicht aufgrund der gemeinsamen Studienzeit in Berlin? Ewerbeck, 33

34 35

Biographie vgl. François Melis: August Hermann Ewerbeck (1816–1860). Führendes Mitglied des Bundes der Gerechten und Vermittler sozialistischer Ideen zwischen Frankreich und Deutschland. In: Akteure eines Umbruchs. Männer und Frauen der Revolution von 1848/49. Hrsg. Helmut Bleiber, Walter Schmidt, Susanne Schötz. 2. Band, Berlin 2007, S. 91–131. Vgl. dazu François Melis, op. cit., S. 273. Unter dem Pseudonym Dr. Wendel-Hippler übersetzte er – Étienne Cabet: Reise nach Ikarien. Aus dem Französischen übersetzt von Dr. Wendel-Hippler. Paris 1847; Étienne Cabet: Wie ich Kommunist bin. Leipzig-Paris 1847; Étienne Cabet: Mein communistisches Glaubensbekenntnis. Leipzig-Paris 1847; er übersetzte das Werk „Die Sprachen Europas in systematischer Übersicht“ (Bonn 1850) von August Schleicher – Les langues dans l’Europe moderne. Trad. de l’allemand par Hermann Ewerbeck. Paris 1852; und er ist Autor der Monographie – ĽAllemagne et les Allemands. Paris 1851.

1508

Walter Kroll

der natürlich kein Mitglied des „Kreises der Sache Gottes“ war, unterstützte Gustav Siegfried, Kazimierz Kunaszowski und Jan Nepomucen Rembowski auch materiell. Das beweist der Brief von Karl Ludwig Bernays (1815–1876) an Karl Marx vom 11. August 1846, in dem er über die Aktivitäten von Ewerbeck berichtet und (nebenbei) über ihn bemerkt: […] denn er selber hat den verflossenen Winter 3 Polen ernährt – so erzählt er – die Mickiewicz ins Deutsche übersetzten, drei Polen mit Mutter Gottesbildchen am Halse […].36

Die Tatsache, dass Gustav Siegfried, Kazimierz Kunaszowski und Jan Nepomucen Rembowski mit der Übersetzung der Vorlesungen während ihrer Aktivitäten im „Kreis der Sache Gottes“ beschäftigt waren, bedarf einer kurzen Erörterung, weil sie und Adam Mickiewicz in dieser Zeit begeisterte Anhänger der Lehre von Andrzej Towiański (1799–1878) waren. Als Gründungsakt der „Sache Gottes“ wird die Rede Towiańskis in der Kathedrale Notre-Dame am 27. September  1841 angesehen, zu der Mickiewicz die polnischen Emigranten einlud. Sie wurde nach dem Gottesdienst im Seitenschiff der Kathedrale abgehalten und beindruckte die Versammelten nachhaltig, vor allem die abschließenden Passagen dieser Rede, weil sie für die polnischen Zuhörer identitätsstiftend waren und eine Perspektive für das seit 1772 geteilte Polen aufzeigten: Als Trost füge ich nur noch hinzu, meine Brüder und Landsleute, dass in der Sache Gottes die gesamte großartige Zukunft Polens liegt, unseres Vaterlandes; denn unser Volk, das jahrhundertelang das Christentum treu in seiner Seele bewahrt hat, ist heute durch die Sache Gottes dazu berufen, das Christentum in seinem privaten wie öffentlichen Leben zu offenbaren und so in diesem höheren Zeitalter zum Diener-Volk Gottes zu werden und der Erde ein Vorbild für ein christliches Leben. Diese Berufung ist uns mit anderen Völkern gemeinsam; doch Polen ist als der vortreffliche Teil des slawischen Stammes, der reiner und inniger als andere Stämme in seiner Seele den Schatz des Feuers Christi bewahrt hat, diesen Schatz der Liebe, des Fühlens, den Grundstein, auf dem die Sache Gottes, die Sache der Erlösung der Welt, errichtet wird.37 36

37

Karl Ludwig Bernays an Karl Marx in Brüssel. Sarcelles, 11. August  1846. In: Karl Marx, Friedrich Engels. Gesamtausgabe (MEGA). Dritte Abteilung. Briefwechsel. Band  2. Berlin 1979, S. 279. Die Medaillons mit dem Mutter-Gottes-Bild trugen alle Mitglieder des Kreises. Andrzej Towiański: Akt ogłoszenia Sprawy Bożej w kościele arcykatedralnym paryzkim dnia 27 września 1841 roku. In: Towiański: Pisma wybrane. Hrsg. Andrzej Boleski [Andrzej Baumfeld], Bd. I, Warszawa 1920, S. 25–28. Deutsche Übersetzung nach Maria Elisabeth Lami: Die Schriften von Andrzej Towiański (1799–1878) im europäischen Kontext seiner Zeit. Wien 2017, S. 246–247 (PDF-Datei der Dissertation; Internetfassung); als Buch unter

Nachwort zur neuen Redaktion der Pariser Vorlesungen

1509

Am 4. Mai 1842 folgte dann durch Towiański und Mickiewicz die Gründungsversammlung des „Kreises der Sache Gottes“. Das feierliche Zeremoniell glich schon einem rituellen Akt: Rede und Gebet von Towiański, Präsentation der Standarte38 des Kreises aus weißem Samt mit dem Antlitz des leidenden Christus mit Dornenkrone. Den ersten sieben Anwesenden, die sich nunmehr mit „Bruder“ (brat) anredeten, hängte Towiański das Medaillon mit dem MutterGottes-Bild um den Hals. Alle schworen Treue für die Sache Gottes. Towiański wurde mit „Meister“ (mistrz) angeredet. Der kleine Kreis wurde bald erweitert; 1842 zählte er 64 Mitglieder. Am 22. Januar 1843 wurde der Kreis von Mickiewicz in 8 „Siebener Gruppen“ (siódemki) eingeteilt.39 Jede Gruppe hatte einen „Wächter“ (stróż), dem eine Betreuungsfunktion zuteil wurde. Gustav Siegfried und J.N. Rembowski waren z. B. in der IV. Gruppe, deren Wächter der Bruder Seweryn Goszczyński war. Die Brüder des streng organisierten Kreises – wie auch Mickiewicz – waren von der Person Towiański fasziniert. Seine rhetorischen Wirkungsqualitäten entfaltete er vor allem mündlich, um in eindringlichen persuasiven Reden Überzeugungsarbeit zu leisten. Die Person Towiański wurde im Wahrnehmungsbewusstsein seiner Verehrer zu einer Erlöserfigur (Messias, Christus) transformiert. An der Verbreitung dieses Bildes war vor allem Adam Mickiewicz beteiligt.40 Wie stark diese Fokussierung im „Kreis der Sache Gottes“ präsent war, zeigt eine Begebenheit, die sich 1842 in Brüssel abspielte, wo sich Towiański nach seiner am 19. Juli 1842 erfolgten Ausweisung aus Frankreich aufhielt und in der Gesellschaft von Gustav Siegfried war, der ihm in Gesprächen als Übersetzer aus dem Französischen ins Polnische zur Seite stand, da Towiański das Französische noch nicht beherrschte. Diese Tatsache und die folgende Episode wurde von dem Dichter und Schiller-Übersetzer Michał Budzyński (1811–1864) in seinen Lebenserinnerungen überliefert: Mein Bruder Wincenty sah ihn [Towiański] eines Tages, als dieser mit Siegfried eine Konditorei verließ, in der er Limonade trank und Süßigkeiten mit Kleingebäck verspeiste. – „Sag mir doch, fragte er den Übersetzer, unterscheidet sich eurer Messias von den alten Propheten? Der heilige Johannes aß Heuschrecken, Christus trank Galle, und er, wie ich sehe, liebt Limonade und Kleingebäck.“ Wundert euch nicht, antwortete Siegfried, das war der leidende Christus, und

38 39 40

dem Titel: Marlis Lami: Andrzej Towiański (1799–1878). Ein religiöser Reformer im europäischen Kontext seiner Zeit. Göttingen 2019. Abbildung siehe Zofia Makowiecka: Mickiewicz w Collѐge de France, op. cit., S. 400. Verzeichnis der Gruppen vgl. Z. Makowiecka, op. cit., S. 621–622. Das dokumentiert die Edition – Współudział Adama Mickiewicza w Sprawie Andrzeja Towiańskiego. Listy i przemówienia. Tom I–II. Red. Władysław Mickiewicz. Paryż 1877.

1510

Walter Kroll dieser ist der triumphierende Christus. – (Jednego dnia, brat mój Wincenty spostrzegł go wychodzącego z Sigfriedem z cukierni, gdzie pił limonadę i jadł cukierki z ciasteczkami: – „Powiedz mi, zapytał tłumacza, czy wasz Mesyarz różni się od dawnych proroków? Święty Jan jadł szarańcze, Chrystus pił żółć, a on jak widzę, woli limonadę i ciasteczka.“ – „Nie dziwcie się, odpowiedział Sigfried, tamten był Chrystus cierpiący, a ten tryumfujący.“)41

Gustav Siegfrieds Antwort war nicht allein ein plakatives Bekenntnis zu Towiański. Er kannte das Denken in Antinomien, das Towiańskis Rede und Schrift auszeichnet, und wusste daher, dass der „Meister“ keineswegs gegen den Genuss bestimmter Lebensmittel (Süßigkeiten, Tabak, Wein, Tee, Wein usw.) war, sofern sie sich in Maßen für Körper und Geist als förderlich erweisen. Alina Witkowska erklärt die Beziehung von Körper und Geist bei Towiański wie folgt: Die Askese betrachtete Towiański als Merkmal der vergangenen christlichen Epoche, der niederen Epoche, als das Christentum die Konfrontation mit der offenen Wirklichkeit vermied, indem es in der geschlossenen Welt der Klöster, in einer künstlichen Welt Zuflucht suchte, in der auch der Körper verschiedenen Restriktionen einer spezifischen Macht ausgesetzt war. – (Askezę traktował Towiański jako znamię minionej ery chrześcijaństwa, epoki niższej, gdy chrześcijaństwo unikało konfrontacji z otwartą rzeczywistością, chroniąc się w zamknięty świat klasztorów, w sztuczny świat, gdzie także ciało podlegało różnorakim ograniczeniom, swoistej nad nim przemocy.)42

Towiański stellt die vergangene, „niedere“ Epoche des Christentums der für ihn als Verheißung beginnenden „höheren“ Epoche des Christentums gegenüber: In dieser höheren christlichen Epoche geht es schon darum, den Körper zum nützlichen Instrument des befreiten und nach seinem Recht lebenden Geistes zu machen, der in Verbindung mit dem Körper auf dem weiten Feld der Welt lebt. – (W tej zaś epoce chrześcijańskiej wyższej chodzi już o to, aby uczynić ciało podatnym narzędziem ducha wyzwolonego i żyjącego w prawie swoim, żyjącego w połączeniu z ciałem na obszernym polu świata.)43

Das angeführte Beispiel soll zeigen, dass Gustav Siegfried mit den Grundgedanken der Towiański-Lehre vertraut war. Als Protestant konvertierte er zwar in Paris zum Katholizismus, seine Weltanschauung, sein Denken und Handeln 41 42 43

Michał Budzyński: Wspomnienia z mojego życia. Tom 1. Poznań 1880, S. 292; im Internet zugänglich. Auf diese Anekdote verweist Alina Witkowska: Towiańczycy. Warszawa 1989, S. 22, Fußnote 6. Alina Witkowska: Towiańczycy, op. cit., S. 21. Andrzej Towiański: Pisma. T. 1. Turyn 1882, S. 430; Zitat nach A. Witkowska, op. cit., S. 22.

Nachwort zur neuen Redaktion der Pariser Vorlesungen

1511

bedingten jedoch im „Kreis der Sache Gottes“ die religiös-moralischen und mystischen Vorstellungen von Andrzej Towiański, die er dort mündlich verbreitete. Schriftlich fasste er seine Lehre in Paris zunächst in dem schmalen Bändchen „Biesiada“ (Gastmahl, Gespräch) zusammen.44 Diese Schrift avancierte in ihrer ersten (nichtautorisierten) Ausgabe zur kleinen Bibel des „Kreises der Sache Gottes“. Adam Mickiewicz geht 1843–1844 in seinen Vorlesungen (Teil IV) auf die „Biesiada“ (Gastmahl) ausführlich ein, wobei der Name des Autors nicht erwähnt wird.45 Vor diesem Hintergrund muss auch die sprachliche Sozialisation der Übersetzer Gustav Siegfried, Kazimierz Kunaszowski und Jan Nepomucen Rembowski betrachtet werden. Alicja Witkowska vertritt die Auffassung, dass Towiański in dem „Kreis der Sache Gottes“ bestrebt war, eine neue Sprache (nowomowa – Newspeak) zu begründen, weil er in der polnischen Sprache seiner Gegenwart nur begrenzte Möglichkeiten sah, seine „kosmosophischen Theorien“ sprachlich adäqaut auszudrücken.46 Der Versuch hatte zur Folge, dass das Polnische eine Reduktion im Bereich der Lexik und Semantik erfuhr. Sichtbar in der Begrenzung seines Lexikons auf wenige Begrifflichkeiten, die auf der denotativen Ebene auf kaum bekannte Wörter oder Neologismen zurückgehen, die ad hoc geschaffen, „an die Lebensbedürfnisse und die Gedankenwelt eines geschlossenen Kreises von Menschen angepasst wurden.“ (przystosowanym do potrzeb życia i myśli zamkniętego kręgu ludzi.).47 Und Towiański hatte mit diesem Modus der Sprachverwendung Erfolg. Dabei kam ihm seine radikal 44

45 46 47

Andrzej Towiański: Biesiada. In: A. Towiański: Wybór pism i nauk. Hrsg. Stanisław Pigoń. Kraków 1922, S.  53–69 (= Biblioteka Narodowa. Seria  I.  Nr.  8). Neue Edition: Andrzej Towiański: Biesiada. Wielki period. Red. Magdalena Siwiec. Kraków 2002. Die handschrifliche Fassung trägt den Titel „Biesiada z Janem Skrzyneckim, dnia 17 stycznia 1841 w Brukseli“ (Gastmahl mit Jan Skrzynecki vom 17. Januar 1841) und wurde von Towiański dem ehemaligen Oberbefehlshaber des Novemberaufstandes von 1830–31 General Jan Skrzynecki (1787–1860) übergeben; sie geht auf vorherige Gespräche mit dem General in der Nähe des Schlachtfeldes von Waterloo zurück. Diese Urfassung geriet über die Frau des Generals in die Hände der Resurrektionisten (Zmartwychwstańcy) und wurde in Paris – gegen den Willen des Autors – publiziert. Über die abenteurliche Editionsgeschichte der Biesiada vgl. Katarzyna Rauchut: Historia dziewiętnostowiecznych edycji Biesiady Andrzeja Towiańskiego. In: Sztuka Edycji, 1 (2011), S. 37–41, und M.E. Lami, op. cit., S. 101–104. Deutsche Übersetzung der Biesiada vgl. M.E. Lami, op. cit., S. 228–241. Ihre Übersetzung beruht auf der Edition der Biesiada von Pierre Semenenko: Towiański et sa doctrine jugés par l’enseignement de l’Église, Paris 1850, S. III–XLV. Vgl. dazu Stanisław Pigoń: „Biesiada“ A. Towiańskiego i jej komentarz w IV kursie Prelekcyj paryskich. In: Biblioteka Warszawska, rok 1914, tom I, S. 510–544; (wiederabdruck in – St. Pigoń: Z epoki Mickiewicza. Warszawa-Kraków 1922, S. 241–309). Vgl. Alicja Witkowska: Towiańczycy, op. cit., S. 118. Alicja Witkowska, op. cit., S. 118.

1512

Walter Kroll

antirationalistische Weltanschauung entgegen. Sie manifestierte sich in seiner Überzeugung „vom Primat des Gefühls und des moralischen Willens gegenüber dem Intellekt, vom Primat des Glaubens gegenüber dem Wissen.“ (o prymacie uczucia i woli moralnej w stosunku do intelektu, prymacie wiary w stosunku do wiedzy.).48 Diese Ansichten gewann er u.a. aus der Dichtung der polnischen Romantik; vgl. Mickiewiczs (programmatische) Ballade „Romantyczność“ (Romantik, 1822) und das Drama „Dziady“ (Die Ahnenfeier, 1823, 1832, 1860), die Towiański sehr gut kannte. Zu klären bleibt abschließend die Frage: Unter welchen Bedingungen fand die sprachliche (und ideologische) Sozialisation im „Kreis der Sache Gottes“statt? Krzysztof Rutkowski verweist in diesem Zusammenhang auf die spezifische Kommunikationssituation, in der sich dieser Prozess unter dem „Meister“ abspielte: Das Novum offenbarte sich in der Negation: in der Ausschaltung der Gesprächspartner, also in der Absage an das Recht zum Reden im eigenen Namen; in der Abspaltung der Wörter von den Dingen, also in dem Losreißen der Realität aus der Äußerung sowie in der Sinnentleerung der Wortbedeutungen, also in der Usurpation des Sinns durch einen Menschen – durch den Meister und Herren. – Nowość objawiała się w negacji: likwidowanie partnerów rozmowy, czyli negowaniu prawa mówienia w swoim imieniu; na odrywaniu słów od rzeczy, czyli na odrzucaniu rzeczywistości wypowiedzi oraz na ubezsensownianiu znaczeń słów, czyli przywłaszczaniu sensu przez jednego człowieka: Mistrza i Pana.49

In dieser vom Monolog bestimmten Kommunikationssituation gibt es keine Ich-Du Beziehung eines Dialogs. Sie wird aufgehoben, denn der Sprechende besitzt kein „Ich“, er besitzt auch kein „Du“; unsere individuelle Meinung hat nur insofern Sinn, als sie mit der Meinung des Kreises übereinstimmt. Das, was der Kreis äußert, muss mit der Meinung des Meisters übereinstimmen. Das, was der Meister sagt, ist die Stimme Gottes, der Wille Gottes und die Wahrheit selbst […] – nie ma „ja“, nie ma też „ty“; nasza jednostkowa opinia ma sens o tyle, o ile jest zgodna z opinią Koła. To, co mówi Koło musi być zgodne zu zdaniem Mistrza. To, co mówi Mistrz – jest głosem Bożym, Bożą wolą i samą prawdą […].50

Die sprachliche Sozialisation im „Kreis der Sache Gottes“, zunächst auf die Mündlichkeit, später auch auf die Schriftlichkeit ausgerichtet, betraf die Lexik, 48 Stanisław Pieróg: Towianizm. In: Słownik literatury polskiej XIX wieku. Red. Józef Bachórz und Alina Kowalczykowa. Wrocław-Warszawa-Kraków 1995, S. 947. 49 Krzysztof Rutkowski: Braterstwo albo śmierć. Zabijanie Mickiewicza w Kole Sprawy Bożej. Paris 1988, S. 42. 50 Krzysztof Rutkowski, op. cit., S. 43.

Nachwort zur neuen Redaktion der Pariser Vorlesungen

1513

die Semantik, den Satz-Rhythmus und den Ton, der als Regulativ der Sprachverwendung diente und sogar Gestik und Mimik einbezog: Zum guten „Ton“ gehörte auch das Gestikulieren, Seufzen, Stöhnen, Erblassen oder Erröten im Gesicht, Ohnmacht, Weinen, Flüstern, Krämpfe bekommen, das Hinwerfen zu Füßen des Meisters und das Küssen seiner Hände […] – W dobrym „tonie“ było też wymachiwanie rękami, jęczenie, wzdychanie, blednięcie lub czerwienienie na twarzy, omdlewanie, płacze, szepty, drgania, rzucenie się do nóg, całowanie Mistrza po rękach […].51

Sprache, Verhalten und Agieren entsprachen einem Rollenverhalten, das die Mickiewicz-Forscherin Ewa Hoffmann-Piotrowska im Kontext der „Theatralisierung des Lebens im Kreis der Sache Gottes“ sieht.52 Adam Mickiewicz, der in den Jahren 1842–1846 den Kreis auch als „Meister“ leitete und mit Towiański in Verbindung blieb, war an diesen Sozialisierungsversuchen stark beteiligt. Alle sprachlichen und ideologischen Erziehungsmaßnahmen erwiesen sich jedoch in der Praxis als problematisch, weil sie innerhalb des Kreises nur bedingt (oder gar nicht) funktionierten. Danuta Sosnowska bezeichnet den Versuch der sprachlichen Sozialisation als „Towianistische Utopie der Sprache“.53 Den Weg der fortschreitenden Entfremdung von diesem Sozialisationsmodell innerhalb des Kreises beschrieb Seweryn Goszczyński in seinen Tagebüchern.54 Inwieweit Towiańskis Newspeak Einfluss auf die Pariser Vorlesungen ausgeübt hatte, bleibt eher ein Forschungsdesideratum für Palimpsest-Spezialisten, ebenso die Frage, ob sie die Übersetzer der Vorlesungen überhaupt beherrschten. Der Mediziner Gustav Siegfried wurde aber durch diese Erfahrung in gewisser Weise für das Medium Sprache und Literatur sensibilisiert. Er erweiterte auch durch den Besuch der Vorlesungen seinen literarischen Kompetenzbereich, den Kazimierz Kunaszowski als Übersetzer und Deutschlehrer und Jan Nepomucen Rembowski als Dichter schon ohnehin vorweisen konnten.

51 52 53 54

Krzysztof Rutkowski, op. cit., S. 34. Ewa Hoffmann-Piotrowska: Teatralizacja życia w Kole Sprawy Bożej. In: Rocznik Towarzystwa Literackiego im. A. Mickiewicza, 1995, tom XXX, S. 131–150. Vgl. Danuta Sosnowska: Towianistyczna utopia języka. In: Teksty Drugie, 1993, Nr.  2, S. 63–71. Seweryn Goszczyński: Dziennik Sprawy Bożej. Tom  I–II. Hrsg. Zbigniew Sudolski. Warszawa 1984; vgl. auch K. Rutkowski, op. cit.

1514 4.

Walter Kroll

Darbietungsmodus der Vorlesungen (Improvisation vs. Vorlesung) und Fragen der Verschriftlichung

Die Einrichtung des „Lehrstuhls für slavische Sprache und Literatur“ (Chaire de langue et littérature slave)55 am Collѐge de France durch den Erlass des französischen Ministers für Bildung Victor Cousin vom 15. Juli 1840 und die vom 22. Dezember 1840 bis zum 18. Mai 1844 gehaltenen Vorlesungen von Adam Mickiewicz, die er als Lehrstuhlinhaber auf Zeit (Charge de la chaire à titre provisoire) in französischer Sprache hielt, waren zweifellos ein gesellschaftliches, kulturelles und politisches Ereignis dieser Zeit. Die Vorlesungen fanden jeweils am Dienstag und am Freitag von 13 Uhr 45 bis 14 Uhr  45 statt. Im Durchschnitt besuchten die Vorlesungen etwa 300 Zuhörer.56 Es waren überwiegend polnische Emigranten, Mitglieder des „Kreises der Sache Gottes“, außerdem Franzosen und einige Zuhörer aus anderen slavischen Ländern. Zum Zuhörerkreis gehörten u.a. auch einige prominente Persönlichkeiten: Frédéric Chopin, Adam Czartoryski, Alfred Dumesnil, Georg Herwegh, Adolphe Lѐbre, Jules Michelet, Julian Ursyn Niemcewicz, Edgar Quinet, George Sand, Alexander Turgenev, Nikolaj Turgenev, Bohdan Zaleski. Mickiewicz las nicht vom Manuskript ab. Er sprach frei, aus dem Gedächtnis. Notizen benutzte er lediglich bei Zitierungen. Schon nach der 1. Vorlesung am 22. Dezember 1841 gab es u.a. Bemerkungen über seine französische Phonetik. Alexander Turgenev bemerkte: „Er spricht gut, aber man hört deutlich seinen polnischen Akzent […].“57 Das konstatierte auch George Sand in ihrer etwas differenzierteren Charakteristik der französischen Sprachkompetenz von Adam Mickiewicz: Die Sprache des polnischen Dichters ist ebenso schön wie seine Schriften. Der slavische Professor beherrscht nicht nur die französische Sprache; er durchdringt sie, zwingt sie, sich ihm zu offenbaren. Sie ist ein Instrument, das ihm in den ersten Minuten des Zuhörens Widerstand zu leisten scheint, bald aber, durch die Kraft der Eingebung gezügelt, überwunden wird und seine Schätze frei gibt. Er wird eloquent und reißt sie trotz seines litauischen, von wilder Rauheit 55

56 57

So lautete die offizielle Bezeichnung, die allerdings in der Praxis auch im Plural verwendet wurde. Vgl. dazu Zofia Makowiecka: Mickiewicz w Collѐge de France, op. cit., S. 23. Z. Makowiecka hat auch die relevanten Daten über den chronologischen Ablauf aller Vorlesungen, Pressestimmen, Reaktionen prominenter Zuhörer, Teilnehmer der Vorlesungen, Quellen hinsichtlich der Themen der Vorlesungen, Kontakte und Sekundärliteratur minutiös zusammengestellt und dokumentiert. Das berichtet Feliks Wrotnowski am 14. April 1841 in der von ihm redigierten Zeitschrift „Dziennik Narodowy“, Nr. 2, 14. April 1841, S. 6. Zitat nach Z. Makowiecka, op. cit., S. 43.

Nachwort zur neuen Redaktion der Pariser Vorlesungen

1515

geprägten Akzents bald mit durch Prägnanz, die voller Würde und Autorität ist […] – La parole du poѐte polonais est aussi belle que ses écrits. Le professeur slave fait mieux que de posséder la langue française; il la devine, il la force à se révéler à lui. C’est un instrument qu’aux premières minutes d’audition on croirait devoir lui être rebelle, mais qui bientôt, dominé par la puissance de l’inspiration, cède et livre ses trésors. Il arrive à l’éloquence, et il n’est pas jusqu’à son accent lithuanien dont la sauvage rudesse ne vous saisisse bientôt par une concision pleine de caractère et d’autorité […].58

Der freie Vortrag der Vorlesung war ein Novum und rückte in den Fokus der Forschung. Mickiewicz agierte gleichsam auf einer Bühne, und die Zuschauer nahmen Teil „an einem poetischen Mysterium, das einer romantischen Improvisation gleicht.“59 Die Wahrnehmung der Vorlesung als Improvisation hat allerdings einen konkreten Hintergrund. Mickiewiczs Kunst der Improvisation lyrischer Texte in polnischer Sprache war schon in Wilno im (studentischen) Kreis der Philomaten (1813–1823) bekannt. Dabei improvisierte Mickiewicz auch singend in Begleitung eines Musikinstruments; dass bei diesen geselligen Treffen auch Wein gereicht wurde, ist auch überliefert. Hohen Bekanntheitsgrad und Bewunderung erreichte sie aber erst in Russland, wohin er wegen seiner Aktivitäten im Philomaten-Kreis verbannt wurde (1823–1829). Bereits während seines Aufenthaltes in Odessa im Jahre 1825 trat er als Improvisator auf.60 In Moskau improvisierte Mickiewicz u.a. im Salon der Fürsten Zinaida Aleksandrovna Volkonskaja.61 Die Improvisation im Salon der Fürstin Volkonskaja wird festgehalten in dem Gemälde von Grigorij Grigor’evič Mjasoedov (1834–1911).

58

George Sand: De la Littérature slave par M. Adam Mickiewicz. In: La Revue Indepéndante, 7 (1843), S. 378; Wiederabdruck in: Adam Mickiewicz aux yeux des Français. Hrsg. Zofia Mitosek. Paris 1992. 59 Stanisław Makowski, Eligiusz Szymanis: Adam Mickiewicz. Warszawa 1992, S. 73. 60 Vgl. dazu Małgorzata Burta: Jeszcze o odeskich improwizacjach Mickiewicza. In: Adam Mickiewicz i Rosjanie. Redakcja naukowa Magdalena Dąbrowska, Piotr Głuszkowski, Zbigniew Kaźmierczak. Warszawa 2020, S. 145–156. 61 Über Mickiewiczs Improvisationskunst schreibt P.A.  Vjazemskij: „Мицкевич был не только великий поэт, но и великий импровизатор.“ (Mickiewicz war nicht nur ein großer Dichter, sondern auch ein großer Improvisator) – P.A. Vjazemskij: Mickevič o Puškine. In: P.A.  Vjazemskij: Ėstetika i literaturnaja kritika. Red. L.V.  Derjugina. Moskva 1984, S.  293. Vgl. auch Wiktor Weintraub: Poeta i prorok. Rzecz o profetyzmie Mickiewicza. Warszawa 1982, S. 36–100; und Iwona Puchalska: Improwizacja poetycka w kulturze polskiej XIX wieku na tle europejskim. Kraków 2013, Kapitel „Wokół Mickiewicza“, S. 159–270.

1516

Abb. 1

Walter Kroll

Improvisation im Salon der Fürstin Volkonskaja: Von rechts nach links: P.A. Vjazemskij, E.A. Baratynskij, A.S. Chomjakov, Z.A. Volkonskaja, I.I. Kozlov, V.A. Žukovskij, A.S. Puškin, M.P. Pogodin, D.V. Venevitinov, P.Ja. Čaadaev u.a.62

Dabei ist hervorzuheben, dass Mickiewicz in Russland vorwiegend in französischer Sprache in Prosa improvisierte. Als er im Sommer 1829 aus Petersburg nach Berlin kam, begegnete er dort (zufällig) der polnischen Universitätsjugend, die damals mit größtem Eifer die Vorlesungen von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) besuchte.63 Bei einem Mittagsmahl erlebte der Slavist Wojciech Cybulski (1808–1867), der damals in Berlin studierte, den singenden Modus einer Mickiewicz-Improvisation: Der Dichter improvisirte singend zur Begleitung des Flügels auf die Melodie: Za szumnym Dniestrem [Hinter dem rauschenden Dnjestr]64 – ein Lied, welches, da weder Papier noch Bleistift zur Hand, auch Alles ziemlich erregt war, 62 Quelle – https://culture.pl/ru/gallery/portrety-adama-mickevicha-galereya. 63 Dazu gehörten der Dichter Stefan Garczyński (1805–1833), den dann Mickiewicz in seinen Vorlesungen ausführlich behandelte (vgl. vor allem die 30.–32. Vorlesung, Teil II), und der Philosoph Karol Libelt (1807–1875). 64 Die Melodie stammt aus dem 1786 von Konstancja Narbutt vertonten Gedicht „Duma o Żółkiewskim“ (Duma über Żółkiewski) von Julian Ursyn Niemcewicz (1757–1841), das mit dem Vers „Za szumnym Dniestrem, na cecorskim błoniu“ (Hinter dem rauschenden Dnjestr, auf dem Feld von Cecora) beginnt. Publiziert in: Julian Ursyn Niemcewicz: Śpiewy historyczne z muzyką i rycinami. Warszawa 1816, S. 299. Die Duma ist eine Gattungsvariante der Ballade.

Nachwort zur neuen Redaktion der Pariser Vorlesungen

1517

Niemand zu behalten vermochte; der Enthusiasmus war jedoch unermesslich. Bei einem anderen Liede, das auch improvisirt wurde und wozu die Union Lithauens und Polens den Stoff hergab, war man schon vorbereiteter, aber Jeder wollte lieber hören, als schreiben. Der Dichter sang diesmal zur Melodie der Kościuszko-Polonaise.65

Seine (sprechenden) Improvisationen setzte Mickiewicz in Paris fort. Anlässlich des Geburtstages des Dichters am 24. Dezember 1840, also zwei Tage nach der 1. Vorlesung am Collège de France, organisierte Eustachy Januszkiewicz am 25. Dezember 1840 ein Fest, zu dem viele Freunde eingeladen wurden; darunter auch Juliusz Słowacki, der damals ein durchaus ambivalentes Verhältnis zu Mickiewicz hatte. Im Verlauf der Geburtstagsfeier kam es dann spontan zu einem Improvisationswettbewerb zwischen beiden Dichtern. Mickiewicz improvisierte in polnischer Sprache in Versen, ebenso Słowacki, der seine Gedichte in Oktaven vortrug; er arbeitete zu dieser Zeit an seiner Versdichtung „Beniowski“. Der Ausgang des Wettbewerbs wurde überwiegend zugunsten von Mickiewicz gewertet, endete aber mit einer Versöhnung der Protagonisten.66 Vor diesem Hintergrund kann man annehmen, dass die anwesenden Zuhörer die Pariser Vorlesungen als Improvisation erlebten. In dieser Kommunikationssituation war das ein (nicht wiederholbares) authentisches Erlebnis des oralen Ur-Textes. An diesem Erlebnis partizipierten auch die Übersetzer Gustav Siegfried, Kazimierz Kunaszowski und Jan Nepomucen Rembowski, obwohl nicht nachgewiesen werden kann, dass sie alle Vorlesungen regelmäßig besuchten. Die Wahrnehmung der Pariser Vorlesungen als Improvisation verfestigte sich mit der Zeit zu einer Rezeptionskonstante. Mirosław Strzyżewski67 verweist in diesem Zusammenhang auf die Auffassung von Maria Konopnicka (1842–1910) aus dem Jahre 1899, die in ihrer Mickiewicz-Monographie den Improvisationscharakter nicht damit erklärt, dass Mickiewicz in Paris 65

66 67

Adalbert Cybulski: Geschichte der polnischen Dichtkunst der ersten Haelfte des laufenden Jahrhunderts. I. Band. Posen, 1880, S. 298–299. – Tadeusz Kościuszko (1746–1817), polnischer Nationalheld; Anführer des Aufstandes von 1794 gegen Russland und Preußen; war auch Komponist. Vgl. Suzanne Leisi Konopka: General Kościuszko als Komponist. In: Der letzte Ritter und erste Bürger im Osten Europas. Kościuszko, das aufständische Reformpolen und die Verbundenheit zwischen Polen und der Schweiz. Hrsg. Heiko Haumann und Jerzy Skowronek. Basel-Frankfurt am Main 1996, S. 51–58. Den Verlauf schildert Zofia Makowiecka, op. cit., S. 48–51; Nachschriften der Texte sind nicht überliefert. Mirosław Strzyżewski: Znaczenie wykładów paryskich Mickiewicza w kulturze polskiej (od „kursu literatur“ po „summę romantyzmu“. In: W cieniu Mickiewicza. Red. Jacek Lyszczyna und Magdalena Bąk. Katowice 2006, S.  71. Englische Fassung in – Mirosław Strzyżewski: Existence, Aesthetics, Criticism. Studies in Polish Romanticism. Toruń 2020.

1518

Walter Kroll

entsprechendes Quellenmaterial fehlte, was viele Mickiewicz-Biographen behaupten, sondern die These aufstellt, dass […] selbst wenn Mickiewicz in Paris das ganze bibliographische Material gefunden hätte, das er gebraucht hätte, und selbst wenn er sich dieses Material im Ganzen angeeignet hätte, selbst dann hätte er seine Vorlesungen improvisiert. – ([…] gdyby nawet Mickiewicz znalazł był w Paryżu cały materyał bibliograficzny, jakiego mógł potrzebować, i gdyby ten materiał był przyswoił sobie w zupełności, i wtedy jeszcze byłby wykłady swe – improwizował.).68

Diese These findet dann 1982 bei W. Weintraub ihre konzeptionelle Begründung, wenn er sagt: Mickiewicz sah seine Pariser Vorlesungen als eine spezifische Variante der apostolischen Tätigkeit, als ein von Gott inspiriertes Schaffen. Genau wie die poetischen Improvisationen. – (Mickiewicz uważał swoje wykłady paryskie za swoistą odmianę działalności apostolskiej, za twórczość natchnioną przez Boga. Tak samo jak improwizacje poetyckie.).69

Improvisation und Vorlesung verbindet die Oralität. Was geschieht aber, wenn Vorlesungen oder Improvisationen verschriftlicht werden? In diesem Fall wird Oralität in Schriftlichkeit transformiert. Der (erste) mediale Wechsel erzeugt eine neue Kommunikationssituation, in der mediale Differenzen sichtbar werden, die auch den Verlust der Authentizität anzeigen. Der (zweite) mediale Wechsel entsteht dann bei der Übersetzung der französischen Nachschriften ins Polnische, denn die Pariser Vorlesungen wurden noch vor der französischen Edition ins Polnische übersetzt und gedruckt; darüber vgl. hier Abschnitt 5. Die Verschriftlichung der mündlichen Vorlesungen erfolgte durch den Einsatz von Stenographen, da Mickiewicz kein Manuskript hinterließ. Nachdem man es bei der 1. Vorlesung (22. Dezember 1840) nicht bedacht hatte, einen Stenographen einzusetzen, besorgte zuerst Władysław Plater die Nachschrift der 2. und der 3. Vorlesung. Feliks Wrotnowski, der erste Übersetzer der Pariser Vorlesungen ins Polnische, berichtet später, dass erst in der 5. Vorlesung ein Stenograph zum Einsatz kam; später waren zwei Stenographen anwesend.70 68 69

70

Maria Konopnicka: Mickiewicz. Jego życie i duch. Kraków 1899, S. 162. Wiktor Weintraub: Poeta i prorok, op. cit., S. 344. Improvisationen sind in der Geschichte dieser „Gattung“ primär als literarische Improvisationen bekannt, die ihren Ursprung seit dem 13. Jahrhundert in der höfischen Sphäre Italiens haben. Vgl. dazu Iwona Puchalska: Improwizacja poetycka …, op. cit., S. 25–62; ferner den Sammelband – Improvisation und Invention. Momente, Modelle, Medien. Hrsg. Sandro Zanetti. Zürich-Berlin 2014. Felix Wrotnowski: Tłumacz do Wydawcy. In: Literatura słowiańska wykładana w kollegium francuzkiem przez Adam Mickiewicza. Tłumaczenie Felixa Wrotnowskiego. Wydanie trzecie, nowo poprawione. Rok pierwszy, 1840–1841. Poznań 1865, S. IX.

Nachwort zur neuen Redaktion der Pariser Vorlesungen

1519

Dank der Initiative von Leonard Niedźwiecki und der (vorübergehenden) finanziellen Unterstützung durch Władysław Zamoyski wurden die Vorlesungen ab der 13. Vorlesung (9. Februar 1841) bis zum Ende dieser Lehrveranstaltung (18. Mai 1844) regelmäßig stenographiert. Das verschriftlichte Material besteht aus „Stenogrammen“, die allerdings Schriftzeichen des Alphabets verwenden und insofern lesbar sind, während die echten Stenogramme Sonderzeichen benutzen, die man erst erlernen muss. Es handelt sich also um Nachschriften, die außerdem eine sehr unterschiedliche Qualität besitzen und in Varianten vorliegen. Auf dieser durchaus diffusen handschriftlichen Überlieferungsgrundlage begann dann die zweite Phase der Verschriftlichung der französischen Vorlesungen: die Übersetzung ins Polnische. 5.

Zur Entstehung der ersten polnischen Übersetzung von Feliks Wrotnowski und die Vorlagen der deutschen Übersetzung

Das Interesse an den (laufenden) Vorlesungen von Adam Mickiewicz wuchs in Kreisen der polnischen Emigration über Paris hinaus. Um sie auch polnischen Emigranten außerhalb des Auditoriums zugänglich zu machen, entschloss sich Mickiewicz, die Vorlesungen zunächst ins Polnische übersetzen zu lassen. Mit dieser Aufgabe betraute er seinen Landsmann Feliks Wrotnowski (1803– 1871), der Mitglied des „Kreises der Sache Gottes“ war und regelmäßig seine Vorlesungen besuchte. Feliks Wrotnowski stammte aus Litauen, studierte Jura an der Universität Wilno und war auch als Publizist und Übersetzer tätig; er übersetzte u.a. die Romane von James Fenimore Cooper (The Spay – Der Spion; The Last of the Mohicans – Der letzte Mohikaner). In der Emigration veröffentlichte er zwischen 1834–1838 historische Darstellungen zur Geschichte des Aufstandes in Litauen im Jahre 1831.71 Im April 1841 übernahm er die Leitung der Redaktion der von Władysław Plater finanziell unterstützten Zeitschrift „Dziennik Narodowy“ (Paris), in der er bis 1843 tätig war. In der Zeitschrift „Dziennik Narodowy“ (1841, Nr. 1–3) erschienen zunächst Wrotnowskis Berichte über die Vorlesungen von Adam Mickiewicz, verbunden mit der Ankündigung der polnischen Übersetzung in „Auszügen“ (wyciągi). Die Arbeit an der Sichtung der Nachschriften und an der Übersetzung während 71

Feliks Wrotnowski: Ogólny rys powstania na Litwie 1831 r., Paryż 1834; Pamiętniki o powstaniu Litwy w r. 1831. Paryż 1833–1835; Powstanie na Wołyniu, Podolu i Ukrainie w roku 1831. Paryż 1837–1838; die letzten beiden Edition erschienen nach seinem Tod in der „Bibliothek der polnischen Schriftsteller“ des F.A.  Brockhaus  Verlages in zwei Bänden unter dem Titel: Historia powstania w 1831 roku na Wołyniu, Podolu, Ukrainie, Żmudzi i Litwie. Leipzig 1875. Im Internet zugänglich.

1520

Walter Kroll

der laufenden Vorlesungen war alles andere als einfach. In der Anfangsphase stand Feliks Wrotnowski noch sehr stark unter dem unmittelbaren Erlebnis der gehörten Vorlesungen, die er selbst als „Improvisationen“ bezeichnet und im Hinblick auf ihre Verschriftlichung vermerkt: „Notizen während solcher Improvisationen sind unnütz, sie schaden eher dem Gedächtnis, als das sie ihm helfen.“ (Notatki podczas takich improwizacyi są daremne, częściej szkodzą niż pomagają pamięci.).72 Seine Übersetzungsarbeit nach der Vorlesung – aus dem Gedächtnis – beschreibt er anschließend: Von der Vorlesung zurückkehrend, noch lange unter ihrem Eindruck stehend, wenn sie mir von Anfang bis Ende im Kopf herumging, wenn es mir schien, als würde ich immer noch den Professor sehen und als hörte ich immer noch seine Stimme, griff ich unwillkürlich zur Feder, um die wesentlichen Satzperioden niederzuschreiben. Vom ersten Ausdruck an rollten sie der Reihe nach wie von einem Knäuel, und obwohl mir ihr französischer Klang in den Ohren nachhalte, gebrauchten Gedanke und Hand die Sprache, deren Beherrschung ihnen einfacher fiel: die Übersetzung entstand ohne mein Wissen, ich schrieb auf Polnisch. – (Za powrotem z lekcyj, długo będąc pod jej wrażeniem, kiedy od początku do końca snuła mi się po głowie, kiedy się mnie zdawało, że widzę jeszcze profesora i słyszę głos jego, mimowolnie wziąłem za pióro, żeby choć główniejsze okresy spisać. Od pierwszego wyrazu poczeły one wywijać się jak z kłębka, a chociaż brzmiał mi w uszach ich dźwięk francuzki, myśl i ręka używały tej mowy, którą łatwiej im był władać: tłumaczenie robiło się bez mojej wiedzy, pisałem po polsku.)73

Der beschriebene Arbeitsvorgang bewegte sich zwischen einer postsimultanen Übersetzung und einer translatorischen Improvisation. Später, im Jahre 1865, räumte Wrotnowski ein, dass das eine „unzureichende Arbeit“ (robota niedostateczna)74 war. Auf diese Weise entstanden die „Übersetzungen“ der ersten neun Vorlesungen des Jahreskurses (1840–1841) und der ersten Vorlesung vom 14. Dezember 1841, die Wrotnowski in der von ihm redigierten Zeitschrift „Dziennik Narodowy“ (vom 1. Mai bis 18. Dezember 1841) publizierte.75 Dieser unvollständigen Edition der Vorlesungen folgten im Jahre 1842 weitere Auszüge des Jahreskurses 1841–1842 als zusätzliche Beilagen zu der Zeitschrift „Dziennik Narodowy“. Platzmangel in dieser Zeitschrift 72 73 74 75

Felix Wrotnowski: Tłumacz do Wydawcy, op. cit., S. VIII. Felix Wrotnowski, S. VIII. Felix Wrotnowski, S. VIII. Genaue Auflistung vgl. Aleksander Semkowicz: Bibliografia utworów Adama Mickiewicza. Do roku 1855. Warszawa 1957, S. 128–129. Die Zeitschriften „Trzeci Maj“ (Paris) und „Orędownik Naukowy“ (Poznań) veröffentlichten in diesem Jahr Zusammenfassungen einiger Vorlesungen.

Nachwort zur neuen Redaktion der Pariser Vorlesungen

1521

veranlasste dann die Redaktion, den Jahreskurs 1841–1842 (vollständiger) in einer gesonderten Buchausgabe zu veröffentlichen: 1. Kurs drugoletni (1841–1842) literatury słowiańskiej wykładanej w Kollegium Francuzkiem przez Adama Mickiewicza. Paryż 1842 [Zweitjahreskurs (1841–1842) der slavischen Literatur, vorgetragen von Adam Mickiewicz im Collège de France]. Paris 1842. Problematisch blieb der erste Jahreskurs (1840–1841). Aufgrund fehlender französischer Nachschriften der ersten fünf Vorlesungen „rekonstruierte“ Feliks Wrotnowski sie gleichsam aus dem Gedächtnis und nahm vor dem Druck einige Ergänzungen und Korrekturen an den „Auszügen“ aus der Zeitschrift „Dziennik Narodowy“ vor. Die vervollständigte Ausgabe des ersten Jahreskurses erschien dann erst 1843: 2. Kurs pierwszoletni (1840–1841) literatury słowiańskiej wykładanej w Kollegium Francuzkiem przez Adama Mickiewicza. Paryż 1842 [Erstjahreskurs (1840–1841) der slavischen Literatur, vorgetragen von Adam Mickiewicz im Collège de France. Paris 1843]. Während Wrotnowski die ersten beiden Jahreskurse (1840–1841 und 1841–1842) in Eigenverantwortung übersetzte, verfasste und edierte, weil Adam Mickiewicz an dieser Tätigkeit kein Interesse zeigte, entstanden die Übersetzungen der Jahreskurse (1842–1843 und 1843–1844) unter anderen Bedingungen: „es war eine Übersetzung, die unter der Aufsicht und mit Hilfe des Autors selbst vorgenommen wurde.“ (były tłumaczeniem dokonywanem pod okiem i z pomocą samego autora.)76 Das Ergebnis dieser Zusammenarbeit waren die Editionen: 3. Kurs trzecioletni (1842–1843) literatury słowiańskiej wykładanej w Kollegium Francuzkiem przez Adama Mickiewicza. Paryż 1844 [Drittjahreskurs (1842–1843) der slavischen Literatur, vorgetragen von Adam Mickiewicz im Collège de France. Paris 1844]. 4. Kurs czwartoletni (1843–1844) literatury słowiańskiej wykładanej w Kollegium Francuzkiem przez Adama Mickiewicza. Paryż 1845 [Viertjahreskurs (1843–1844) der slavischen Literatur, vorgetragen von Adam Mickiewicz im Collège de France. Paris 1845]. An die schwierige redaktionelle Zusammenarbeit an der Übersetzung dieser beiden Jahreskurse mit Mickiewicz erinnert sich im Jahre 1865 Feliks Wrotnowski: Wir lasen zusammen meine Übersetzung und das stenographierte Original, und das bedeutete zuweilen, dass man sich vom Original frei entfernte. Der selige 76

Felix Wrotnowski: Tłumacz do Wydawcy, op. cit., S. XIII.

1522

Walter Kroll Herr Mickiewicz legte größten Wert auf den in den letzten zwei Jahren behandelten Gegenstand. Dieser Gegenstand an sich bereitete schon sprachliche Schwierigkeiten, erforderte neue Ausdrucksweisen, die in unserer Sprache nicht gängig waren. Der Übersetzer sah sich gezwungen, mündliche Erläuterungen zu geben und die Gedanken des Autors zu entwickeln; manchmal wollte der Autor sein eigener Übersetzer sein und diktierte ganze Passagen in polnischer Sprache, die er vorher in Französisch nicht formulierte: die Übersetzung verlor gegenüber dem [französischen] Text an Genauigkeit und wurde authentischer als der [französische] Text. – (Odczytywaliśmy razem i mój przekład i stenografowany originał, a to sprawiało nieraz swobodne oddalenie się od niego. Ś. p. Mickiewicz przywiązywał największą wagę do przedmiotu traktowanego w dwóch latach ostatnich. Przedmiot ten sam z siebie nastręczał trudności językowe, wymagał wyrażeń nowych, nieutartych w naszej mowie. Tłumacz musiał naginać się do ustnych objaśnień i rozwinąć myśli autora; autor niekiedy sam chciał być swoim tłumaczem i dyktował całe okresy po polsku, których nie powiedział dawniej po francuzku: tłumaczenie tracąc na wierności textowi, stawało się wierniejszym od textu.).77

Aus diesen Ausführungen geht hervor, dass die polnische Fassung der Jahreskurse (1842–1843 und 1843–1844) Textpassagen enthält, die in den französischen Nachschriften nicht vorkommen. Auf der Grundlage der französischen (stenographierten) Nachschriften wurde allerdings (fast gleichzeitig) die französische Ausgabe der beiden Jahreskurse vorbereitet, da Mickiewicz der Meinung war, dass „nur sie das französische Publikum interessieren könnten.“ (one tylko mogły interesować publiczność francuzką.).78 Welche Auswirkungen diese Eingriffe auf die Arbeit an der französischen Edition hatten und welche Probleme dabei übersehen wurden, beschreibt Feliks Wrotnowski: Die französischen Helfer, vor allem mit der Anpassung der im Innern gänzlich vom Polnischen geprägten Diktion an die Erfordernisse der literarischen Etikette ihres Volkes beschäftigt, verspürten nicht im Geringsten das Bedürfnis, auf den polnischen Text zu schauen, und die in ihrem Kreis anwesenden Polen dachten nicht daran, dass dies aus anderen Gründen hätte nützlich sein können. Der Autor kümmerte sich nur um die ordentliche Herausarbeitung der Hauptpunkte, die das Verständnis der Leitidee der Vorlesung bedingten, und versah die Korrekturen mit Äußerungen, die sowohl von der Nachschrift als auch von der polnischen Ausgabe abwichen; für kleine Details hatte er weder Zeit noch Geduld. Das hatte zur Folge, dass im französischen Text Zusätze vorkamen, die es im polnischen nicht gab; und umgekehrt, im französischen Text fehlte das, was im polnischen hinzugefügt, ausgebaut oder durch den Autor selbst oder 77

78

Felix Wrotnowski, op. cit., S. XIII. Über weitere Details dieser Zusammenarbeit vgl. Szymon Sławiński: Polski przekład Feliksa Wrotnowskiego. In: Wydanie krytyczne prelekcji paryskich Adama Mickiewicza. Red. Maria Prussak, Zofia Stefanowska, Marek Troszyński. Warszawa 1994, S. 40–45. Felix Wrotnowski, op. cit., S. XIV.

Nachwort zur neuen Redaktion der Pariser Vorlesungen

1523

mit seinem Wissen verbessert wurde. – (Pomocnicy Franucuzi, zajęci przedewszystkim układaniem dykcyi, wewnętrznie pełnej polszczyzny, do wymagań etykiety literackiej swojego narodu, nie czuli najmniejszej potrzeby oglądać się na text polski, kiedy obecni w ich gronie Polacy nie pomyślili sobie, że to z innych względów mogło być przydatne. Autor troszcząc się tylko o należyte wyłuszczenie głównych punktów, od których zależało pojęcie naczelnej idei wykładu, okrywał korrekty glosami odskakującemi i od stenografii i od wydania polskiego, ale na podrzędne szczegóły nie miał ni czasu ni cierpliwości zwracać uwagi. Ztąd wynikło, że w textcie francuzkim znalazły się dodatki, których polski nie miał; a nawzajem brakowało francuzkiemu, co w polskim było dodane, rozwinięte lub poprawione przez samego autora, albo za jego wiedzą.).79

Die „Anpassung“ der stenographierten Nachschriften an die französische Diktion und die von Wrotnowski monierte Auslassung der polnischen „Zusätze“ von Adam Mickiewicz trugen in dieser Phase der Verschriftlichung sicherlich dazu bei, dass eine neue französische Redaktion der Vorlesungen entstand, an der die Towiański-Anhänger Charles Bouvier, Émile Bournier, Théodore Fouqueré maßgeblich beteiligt waren. Indirekt verteidigt hier Wrotnowski den Authentizitätsstatus80 seiner polnischen Redaktion der Übersetzung, der allerdings auch der französischen Edition zukommt, da Adam Mickiewicz an der Arbeit dieser Jahreskurse beteiligt war. Die Jahreskurse (1842–1843 und 1843–1844) erschienen 1845 unter dem Titel: L’Église officielle et le Messianisme par Adam Mickiewicz. I. (Cours de literature slave du Collège de France (1842–1843). Publié d’après les notes sténographiées. Première partie. Littérature et Philosophie). À Paris 1845. L’Église officielle et le Messie par Adam Mickiewicz. II. (Cours de literature slave du Collège de France (1843–1844). Publié d’après les notes stenographiées. Deuxième Partie. À Paris 1845. Préface Charles Bouvier, Émile Bournier, Théodore Fouqueré.81

79 80

81

Felix Wrotnowski, op. cit., S. XIV–XV. Diese Ansicht vertritt F. Wrotnowski auch 1865 in dem Vorwort zu seiner dritten und letzten Edition der Pariser Vorlesungen, indem er nach jahrelanger Beschäftigung mit den Textquellen zusammenfassend festellt: „Aus allen diesen Gründen kann ich immer den polnischen Text authentischer als den französischen ansehen, und die jetzige Ausgabe, die bei weitem nicht vollkommen ist, als die vollständigste […].“ (Z tych wszystkich powodów, śmiem uważać zawsze text polski za autentyczniejszy od francuzskiego, a obecne wydanie, jakkolwiek dalekie od doskonałości, za najzupełniejsze […]). Felix Wrotnowski: Tłumacz do Wydawcy, op. cit., S. XXIX–XXX. Beide Bände wurden dann 1849 in die fünfbändige Edition aufgenommen: Adam Mickiewicz: Les Slaves. Cours professé au Collége de France de 1840 a 1844, et publié d’aprés les notes sténographiées. 5 vol. in 8°. Paris 1845–1849.

1524

Walter Kroll

Aus Wrotnowskis Mitwirkung an der translatorischen Textherstellung der vier Jahreskurse kann man zweifellos seine Ko-Autorschaft ableiten, die auch in dem Vorwort von Adam Mickiewicz zur deutschen Ausgabe erkennbar wird. Dort bezeichnet sich Mickiewicz nicht als Verfasser dieses Werkes, sondern lediglich als Urheber: Die eigentümliche Art, auf welche dies Werk entstanden, dessen Verfasser ich nicht bin, doch aber der Urheber, legt mir die Pflicht auf, einige Erläuterungsworte dem Publikum zu geben. (Teil I, S. XIII).

Aus der redaktionellen Mitwirkung der französischen Herausgeber (Charles Bouvier, Émile Bournier, Théodore Fouqueré) kann man ebenfalls ihre KoAutorschaft an der französischen Edition der Pariser Vorlesungen erkennen, was Wrotnowski oben (siehe Fußnote 79) anschaulich beschreibt. In beiden Editionen sind auf der Ebene des Wortes, der Terminologie, der Syntax und der Stilistik Eingriffe vorgenommen worden, die das (monologische) „direkte, unmittelbar auf seinen Gegenstand gerichtete Wort als Ausdruck der letzten Bedeutungsinstanz des Sprechenden“82 betreffen. In Mickiewiczs (ursprüngliche mündliche) Rede fließen das fremde Wort83 (das zweistimmige Wort), die Spezifika der französischen und polnischen Syntax und der polnischen und französischen Stilistik ein. Ihre Präsenz erzeugt dialogische Beziehungen und Mehrstimmigkeit.84 Darin ist die Besonderheit der polnischen und der französischen Verschriftlichung der Pariser Vorlesungen zu sehen, die dann Gustav Siegfried und seinen Helfern als Vorlagen für die Übersetzung ins Deutsche zur Verfügung standen, und zwar: die (unvollständigen) Editionen von Feliks Wrotnowski (Auszüge in der Zeitschrift „Dziennik Narodowy“, die vier Jahreskurse in Buchform von 1843–1845) und die französische Ausgabe des Jahreskurses (1843–1844). Mit dieser Tätigkeit begann Gustav Siegfried (etwa) im Oktober 1842. In seinem Vorwort (Teil  I, S.  XV) berichtet er, dass die Arbeit an den ersten zwei Jahreskursen (1840–1841 und 1841–1842) innerhalb von ca. neun Monaten (1843) abgeschlossen wurde. Der dritte Jahreskurs (1842–1843) erschien dann im Jahre 1844, der vierte Jahreskurs (1843–1844), der nach der französischen 82 83 84

M.M. Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs. München 1971, S. 222. M.M.  Bachtin, op. cit., S.  222; vgl. Rainer Grübel: Zur Ästhetik des Wortes bei Michail M. Bachtin. In: Michail M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes. Hrsg. Rainer Grübel. Frankfurt am Main 1979, S. 21–88. Den Aspekt der Mehrstimmigkeit und der Mehrsprachigkeit der Vorlesungen untersuchte in ihrer fundierten Dissertation Jana Katharina Mende: Das Konzept des Messianismus in der polnischen, französischen und deutschen Literatur. Eine mehrsprachige Konzeptanalyse. Heidelberg 2020, S. 41–70.

Nachwort zur neuen Redaktion der Pariser Vorlesungen

1525

Vorlage (L’Église officielle et le Messie par Adam Mickiewicz. II) übersetzt wurde, im Jahre 1845. Die vier Jahreskurse wurden unter dem Titel Vorlesungen über slawische Literatur und Zustände als Teile I–IV präsentiert. Hervorzuheben ist die Tatsache, dass Adam Mickiewicz nur für die deutsche Ausgabe seiner Vorlesungen ein Vorwort verfasste. Über die Arbeit an der Übersetzung wissen wir recht wenig. Zu beachten ist allerdings der Entstehungskontext, denn die Übersetzung entstand während der laufenden Vorlesungen. Die Übersetzer Gustav Siegfried, Kazimierz Kunaszowski und Jan Nepomucen Rembowski besuchten die Vorlesungen; Hermann Ewerbeck vermutlich nicht. Ob sie regelmäßig kamen, kann nicht nachgeweisen werden. Auf jeden Fall waren sie Zeugen eines authentischen Erlebnisses. Die emotive Wirkungskraft des improvisierenden Vortrags hinterließ in ihrem Wahrnehmunmgsbewusstsein sicherlich Spuren der Erinnerung an Mickiewiczs Stimme, Sprache und Diktion. Diese Engramme dürften bei der Übersetzungsarbeit durchaus produktiv gewirkt haben und verliehen der Übersetzung etwas an Unmittelbarkeit und Authentizität. Außerdem waren die Übersetzer Mitglieder des „Kreises der Sache Gottes“ (Koło Sprawy Bożej), zu dem auch Feliks Wrotnowski gehörte. Es ist anzunehmen, obwohl nicht belegt, dass dort im Rahmen der sprachlichen Sozialisation des Kreises auch über die Übersetzung diskutiert wurde. Exkurs: Das Fehlen einer editionskritischen französischen Ausgabe der Vorlesungen und die zweite polnische Übersetzung von Leon Płoszewski Es ist eingangs erwähnt worden, dass die französische Redaktion der Vorlesungen in fünf Bänden (1845–1849) keine kritische Ausgabe darstellt. Es fehlt ein kritischer Apparat, der Varianten dokumentiert und Kommentare enthält, die Differenzen zwischen den mündlich gehaltenen Vorlesungen, dem „Ur-Text“, und der Druckfassung auf der Grundlage des verschriftlichten Quellenmaterials (Stenogramme, Nachschriften, Notizen) berücksichtigt. Auf offensichtliche Mängel und Ungereimtheiten der französischen Edition und der polnischen Redaktion der Vorlesungen von Feliks Wrotnowski haben einige Mickiewicz-Forscher (Władysław Nehring und Piotr Chmielowski)85 bereits am Ende des 19. Jahrhunderts hingewiesen und s