Neuere Philosophie I: Hegel, Husserl, Heidegger [1]
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Hans-Georg Gadamer.

Gesammelte Werke 3 Neuere Philosophie |

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Mohr Siebeck

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Hans-Georg Gadamer

Gesammelte Werke Band 3

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Hans-Georg Gadamer

Neuere

Philosophie I Hegel : Husserl : Heidegger

J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen 1987

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Gadamer, Hans-Georg:

Gesammelte Werke / Hans-Georg Gadamer. — Unveränd. Taschenbuchausg. — Tübingen : Mohr Siebeck (UTB für Wissenschaft : Uni-Taschenbücher ; 2115) ISBN 3-8252-2115-6 (UTB) ISBN 3-16-147182-2 (Mohr Siebeck) Bd. 3. Neuere Philosophie. — 1. Hegel, Husserl, Heidegger. — 1999

1. Auflage 1987 Unveränderte Taschenbuchausgabe 1999

© 1987 J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das giltinsbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Einbandgestaltung: Alfred Krugmann, Freiberg a.N., Druck: Presse-Druck, Augsburg.

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3-8252-2115-6 UTB Bestellnummer

Vorwort

Wenn auch der Schwerpunkt meiner philosophischen Studien zu einem guten Teile auf der Philosophie der Griechen lag, so habe ich doch drei große Lehrmeister, deren Gedanken und deren Sprache auf meine eigenen Denkversuche bestimmend eingewirkt haben, im Denken der Neuzeit gefunden: Hegel, Husserl und Heidegger. Meine Studien zu diesen großen Denkern sind, neu durchgesehen und vermehrt, in diesem Bande vereinigt. I. Mein kleines Hegelbuch (2. Aufl. 1980) hatte folgendes Vorwort: »Von Hegels Dialektik geht eine beständige Irritation aus. Ein Gemisch von logischer Entrüstung und spekulativer Begeisterung befällt selbst den noch, der durch den logischen Taumel des Platonischen Parmenides hindurchgegangen ist. Ein solcher bin ich gewesen. So stellte sich mir früh die Aufgabe, antike und Hegelsche Dialektik aufeinander zu beziehen und einander aufzuklären. Nicht darum ging es mir aber, über diese Methode oder Unmethode des Denkens zu reflektieren und zu einem Urteil über sie zu gelangen, sondern darum, den Anschauungsreichtum, den diese rätselhafte Erkennt-

nis aus Begriffen zu erwerben und zu vermitteln vermag, nicht unausgeschöpft zu lassen. Was man auch über die logischen Bedenklichkeiten der Dialektik sagen mag, wie sehr man auch der »Logik der Forschung: vor der »Logik des Begriffs« den Vorzug geben mag - Philosophie ist nicht einfach Forschung. Sie muß die Antizipation des Ganzen, die unser Wissenwollen umtreibt und die in der Totalität unseres sprachlichen Weltzugangs niedergelegt ist, auf sich nehmen und darüber denkende Rechenschaft geben. Das ist auch im Zeitalter der Wissenschaft und ihrer nach allen Richtungen spezialisierten Forschung ein unausweichbares Verlangen der menschlichen Vernunft. So wird sie das Angebot des dialektischen Denkens nicht ver-

schmähen dürfen. Im gediegenen Denkhandwerk der Phänomenologie erzogen, schon früh durch Nicolai Hartmann und später durch Martin Heidegger mit der Hegelschen Logik konfrontiert, hat mich die Hilflosigkeit gereizt, die man vor Hegels Anspruch, die Idee des philosophischen Beweisens wiederherzustellen, empfindet. So hat mich durch die Jahrzehnte meiner eigenen Denk- und Arbeitsversuche die Aufgabe begleitet, die produktive Unklarheit des dialektischen Denkens in Klarheit vollziehen und in ihren substantiellen Gehal-

VI

Vorwort

ten ausweisen zu lernen. Trotz jahrzehntelanger Mühen war der Erfolg bescheiden. Zwischen der Scylla logischer Besserwisserei und der alles verschlingenden Charybdis der unkontrollierten Hingabe an das dialektische Spiel war es schwer, die Mitte zu halten. Vollends aber war es schwer,

das, was einem gelang, kommunikativ zu machen, ohne es neu zu verrätseln. Ohne die Hilfe, die das griechische Substrat im Denken Hegels zu bieten vermag, wäre mein Mißerfolg noch größer gewesen. So liegen einige Studien vor, von denen ich hoffe, sie möchten helfen, Hegel buchstabieren

zu lernen. «* II. Das Kapitel über Husserls Phänomenologie geht auf eine Sammelrezension zurück, die für die Philosophische Rundschau geschrieben war. Es geht dabei um die Frage, ob Husserls Betonung der »Lebenswelt«, die sich in seinen späteren Schriften findet, eine Abkehr vom Cartesianismus und eine mit Heideggers hermeneutischer Wendung vereinbare Position darstellt. Die beiden anderen Aufsätze dieses Kapitels setzen die Diskussion über den Cartesianismus in Husserls Denken fort. Zu dem ganzen Kapitel ist inzwischen vor allem Heideggers Marburger Vorlesung von 1925 »Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs« (Gesamtausgabe, Bd. 20) zu vergleichen. Der »freie Gebrauch« Husserlscher Forschungen, von dem Heidegger in ‚Sein und Zeit« spricht, zeigt in der Tat in der Art der Husserl-Darstellung den Duktus einer positiven Rezeption, aber zielt auf eine immanente Kritik und ontologische Radikalisierung der Phänomenologie. III. Das Dritte Kapitel ist Heidegger gewidmet. Hier ist zunächst das kleine Buch mit dem Titel »Heideggers Wege : Studien zum Spätwerk« wieder abgedruckt. Das Buch hatte folgendes Vorwort: »Die Heidegger-Studien, die ich hier gesammelt vorlege, teils Aufsätze, teils Vorträge, teils Reden, sind im Laufe der letzten 25 Jahre entstanden und

zum größten Teil bereits veröffentlicht. Daß diese Arbeiten alle jüngeren Datums sind, will nicht sagen, daß ich Heideggers Denkanstöße in den Grenzen meiner Möglichkeiten und im Ausmaß meiner Zustimmung nicht von Anfang an zu folgen gesucht hätte. Durch den Denkanstoß, den ich in Jungen Jahren von Heidegger empfing, war mir ein Maßstab gesetzt, dem zu’ genügen ich lernen mußte. Es bedurfte des Abstandes, der die Gewinnung eines eigenen Standes voraussetzt, bis ich jeweils imstande war, mein Mitgehen mit Heideggers Wegen von meiner eigenen Suche nach Weg und Steg soweit abzulösen, daß ich Heideggers Denk weg für sich darstellen konnte. Das nahm seinen Anfang mit Heideggers Aufforderung, ich möchte zu der Reclam-Ausgabe seines Kunstwerkaufsatzes eine Einführung schreiben. Im Grunde habe ich mit allen hier gesammelten Arbeiten nur fortgesetzt, * In der Sonderpublikation »Hegels Dialektik: war auch noch der Aufsatz »Hegel und die Heidelberger Romantik« enthalten, der von hier in den Band 4 versetzt worden ist.

Vorwort

VI

was ich in dieser Einführung von 1960 unternahm. Es ging dabei um meine eigene Sache. Denn es bedeutete mir eine Bestätigung und Ermutigung in meinen eigenen Bemühungen, als Heidegger in den dreißiger Jahren das Kunstwerk in sein Denken hereinholte. So war die kleine Einführung in den Kunstwerkaufsatz von 1960 nicht so sehr im Auftrage geschrieben, als daß

ich meine Fragen, wie ich sie gerade in »‚Wahrheit und Methode« zur Sprache gebracht hatte, in Heideggers Denkwegen wiedererkannte. Es ging mir auch in allen meinen späteren Heidegger-Aufsätzen darum, von meinen Voraussetzungen und Möglichkeiten aus die Denkaufgabe sichtbar zu machen, der sich Heidegger gestellt hatte, und zu zeigen, daß insbesondere der Heidegger, der nach »Sein und Zeit: seine »Kehre« erfuhr, in Wahrheit auf dem eingeschlagenen Wege weiterging, wenn er hinter die Metaphysik zurückzufragen und in eine unbekannte Zukunft vorauszudenken unternahm. Die hier zusammengefaßten Arbeiten verfolgen also im Grunde alle das gleiche Ziel: in das eigenwillige und von allen bisherigen Denk- und Sprachgewohnheiten abgekehrte Denken Heideggers einzuführen. Das heißt vor allem, den Leser vor dem Irrtum zu bewahren, in Heideggers Abkehr vom Gewohnten Mythologie oder poetisierende Gnosis zu vermuten. Daß sich meine Studien derart aufeine einzige Aufgabe beschränken, schließt ein, daß sie allesamt ein okkasionelles Moment erhalten. Es sind Variationen über ein einziges Thema, das sich einem Augenzeugen stellte, wann immer er über das Denken Martin Heideggers Rechenschaft zu geben suchte. Ich mußte unvermeidliche Wiederholungen in Kauf nehmen. Der erste Aufsatz will in die Situation einführen, in die Heidegger eintrat. Die folgenden Beiträge sind in ein chronologisches Gerüst der Entstehung eingeordnet, folgen aber im einzelnen auch inhaltlichen Gesichtspunkten. « An diese erste Abteilung schließt sich unter dem Titel ‚Heidegger und die Ethik der Abdruck einer größeren Sammelrezension aus der Philosophischen Rundschau an. Sie behandelt eine von Beaufret an Heidegger gerichtete Frage: Wann schreiben Sie eine Ethik? Auf diese Frage gab Heidegger in seinem »Humanismusbrief« eine erste Antwort. Inzwischen ist das Sachproblem einer philosophischen Ethik im Blick auf Heidegger vielfach beleuchtet worden. In dem vorliegenden Beitrag habe ich meinen eigenen Aufsatz »Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik« (1961), jetzt in dieser Ausgabe Bd. 4, Nr. 11, im Lichte dieser Diskussionen erneut geprüft. Schließlich ist eine dritte Abteilung unter dem Titel Heideggers Anfänge« drei neueren Arbeiten eingeräumt, die vor allem der neuen Quellenlage in bezug auf die Anfänge des Heideggerschen Denkens Rechnung tragen. Die innere Folgerichtigkeit, aber auch die Kühnheit und Gewagtheit des Denk- _

weges, den Heidegger gegangen ist, stellt sich mir im steigenden Abstand immer deutlicher dar. HGG

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Inhalt

Vorwort

I. Hegel . Hegel und die antike Dialektik (1961) . Die verkehrte Welt (1966)

. Die Dialektik des Selbstbewußtseins (1973)

. Die Idee der Hegelschen Logik (1971)

65

. Hegel und Heidegger (1971)

87

II. Husserl

. Die phänomenologische Bewegung (1963) . Die Wissenschaft von der Lebenswelt (1972)

. Zur Aktualität der Husserlschen Phänomenologie (1974)

III. Heidegger a) Heideggers Wege

. Existentialismus und Existenzphilosophie (1981) 10. Martin Heidegger 75 Jahre (1964)

186

1: Die Marburger Theologie (1964)

197

Inhalt

12% »Was ist Metaphysik?« (1978)

209

13. Kant und die hermeneutische Wendung (1975)

213

. Der Denker Martin Heidegger (1969)

223

. Die Sprache der Metaphysik (1968)

229

. Plato (1976)

238

. Die Wahrheit des Kunstwerks (1960)

249

. Martin Heidegger -85 Jahre (1974)

262

. Der Weg in die Kehre (1979)

271

. Die Griechen (1979)

285

. Die Geschichte der Philosophie (1981)

297

. Die religiöse Dimension (1981)

308

. Sein Geist Gott (1977)

320

b) Heidegger und die Ethik 24. Gibt es auf Erden ein Maß? (W. Marx) (1984)

333

25. Ethos und Ethik (McIntyre u.a.) (1985)

350

c) Heideggers Anfänge 26. Vom Anfang des Denkens (1986)

375

2

Auf dem Rückgang zum Anfang (1986)

394

28. Der eine Weg Martin Heideggers (1986)

417

Inhalt

Bibliographische Nachweise

XI

431

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Stellen

435

I. Hegel

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1. Hegel und die antike Dialektik 1961

Die von den Alten entwickelte Methode, einander entgegengesetzte Annahmen in ihre Konsequenzen zu entfalten, und zwar, wie Aristoteles sagt!, auch ohne das »Was« zu wissen, ist bekanntlich durch die Kantische transzendentale Dialektik der reinen Vernunft im 18. Jahrhundert neu zu Ehren gebracht worden, sofern Kant die Notwendigkeit erkannte, kraft deren sich die Vernunft in Widersprüche verwickelt. Kants Nachfolger, Fichte, Schelling, Schleiermacher und Hegel, haben an den Nachweis der Notwendigkeit solcher Dialektik angeknüpft, die negative Wertung der Dialektik überwunden und eine eigentümliche Möglichkeit der Vernunft, über die Grenzen des Verstandesdenkens hinauszugelangen, darin erkannt. Sie waren sich auch alle des antiken Ursprungs der Dialektik bewußt, wie etwa Schleiermacher,

der geradezu an die platonische Kunst, ein Gespräch zu führen, anknüpfte. Hegels Dialektik aber nimmt im Vergleich zu dem Gebrauch, den seine Zeitgenossen von der Dialektik machen, eine ganz eigene Stellung ein. Er selbst vermißt an dem zeitgenössischen Gebrauch der Dialektik die eigentliche Konsequenz der Methode, und in der Tat ist sein dialektisches Vorgehen ein gänzlich anderes und eigenartiges, ein immanenter Fortgang von einer Bestimmung zur anderen, der, dem Anspruch nach ganz ohne thetischen Einsatz, der Selbstbewegung der Begriffe folgt, ganz ohne von außen bezeichnete Übergänge die immanente Konsequenz des Gedankens in kontinuierlichem Fortgang zur Darstellung bringt. Nach seiner eigenen Einschärfung sind Einleitungen, Einteilungen der Kapitel, Überschriften u. dgl. nicht zum eigentlichen Körper der wissenschaftlichen Entwicklung gehörig, sondern dienen einem äußerlichen Bedürfnis. Entsprechend kriti=" siert er an der zeitgenössischen Philosophie (an Reinhold, Fichte u. a.), daß sie von der Form des Satzes bzw. des Grundsatzes bei der Darstellung der Philosophie ausgehen. Sein eigenes Verfahren gilt ihm demgegenüber als die wahre Wiederentdeckung des philosophischen Beweises, dessen logische Form nicht die aus der systematischen Darstellung der Geometrie durch

1 Met. M4, 1078 b25.

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Hegel

Euklid bekannte und von Aristoteles in seinem Organon analysierte sein kann. Es geht wohl auf diese Trennung der Analytik von der Dialektik, wenn

Hegel in der Vorrede zur Phänomenologie schreibt: »Nachdem aber die Dialektik vom Beweise getrennt worden, ist in der Tat der Begriff des philosophischen Beweisens verloren gegangen« (Phän. 53)?. Der Sache nach könnte diese Stelle allenfalls auch auf die Zerstörung der dogmatischen Metaphysik des Rationalismus und ihrer mathematischen Beweismethode bezogen werden, die Hegel Kant und Jacobi zuschreibt (XV, 543ff., vgl. 608). Der Begriff des philosophischen Beweisens wäre dann durch die Kantische Kritik der Gottesbeweise verloren gegangen, und dies hätte die romantische »Unmethode des Ahnens und der Begeisterung« heraufgeführt. Allein der Zusammenhang lehrt, daß nach Hegel der Begriff des philosophischen Beweisens dort gar nicht richtig verstanden ist, wo man die mathematische Beweismethode nachahmt. Es ist also wirklich eine säkular gemeinte Aussage über die Degradation der Dialektik zu einem bloßen vorbereitenden Hilfsmittel, wie sie Artistoteles mit seiner logischen Kritik an der platonischen Dialektik vorgenommen hatte. Man darf sich nur nicht dadurch beirren lassen, daß Hegel in Artistoteles gleichwohl die tiefsten spekulativen Wahrheiten wiedererkennt. Hegel betont ja ausdrücklich, daß das von Aristoteles logisch analysierte Verfahren des wissenschaftlichen Beweises, die Apodeiktik, keineswegs auf Aristoteles’ eigenes philosophisches Vorgehen zutreffe. Auf alle Fälle hat aber Hegel sein eigentliches Vorbild für den Begriff des philosophischen Beweisens nicht in Artistoteles erblickt, sondern in der eleatischen und platonischen Dialektik. Es ist sein Anspruch, mit seiner eigenen dialektischen Methode die platonische Idee des Rechenschaftsgebens, der dialektischen Prüfung aller Annahmen, wieder zu Ehren gebracht zu haben. Das ist keine bloße Versicherung. Vielmehr hat Hegel wirklich als erster die Tiefe der platonischen Dialektik erfaßt. Er ist der Entdecker der eigentlich spekulativen platonischen Dialoge, des Sophistes, Parmenides und Philebos, die im philosophischen Bewußtsein des 18. Jahrhunderts überhaupt nicht existierten und erst durch ihn für die gesamte Folgezeit bis auf die ohnmächtigen Athetierungsversuche der Jahrhundertmitte als das eigentliche Kernstück der platonischen Philosophie Geltung erlangten. Freilich ist auch die platonische Dialektik, selbst die des Parmenides, nach Hegel noch keine »reine« Dialektik, sofern sie von angenommenen Sätzen ausgeht, die als solche nicht in ihrer Notwendigkeit auseinander abgeleitet ? Für die Hegel-Zitate verwende ich folgende Abkürzungen: Phän. = Phänomenologie des Geistes. Hrsg. v. J. Hoffmeister, 6. Aufl. Hamburg 1952. - Enz. = Enzyklopädie der philos. Wissenschaften (Nach $$ zitiert). - Die bloße Angabe von Band- und Seitenzahlen

verweist auf die Ausgabe der ‚Freunde des Verewigten«, Berlin 1832 ff.

Hegel und die antike Dialektik

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werden. In der Tat kann Hegel für sein methodisches Ideal des philosophischen Beweisens weniger den Parmenides, dieses »größte Kunstwerk der alten Dialektik« (Phän. 57), oder einen anderen der Spätdialoge in Anspruch nehmen, als vielmehr den Stil der sokratischen Gesprächsführung überhaupt, jene immanente Plastik, d.h. Selbstfortbildung des Gedankens, die er der sokratischen Gesprächsführung nachrühmt. Er hat ohne Zweifel richtig erkannt,

daß die farblose Rolle, die die Partner des sokratischen

Gesprächs spielen, der immanenten Folgerichtigkeit der Gedankenführung zugute kommt. Er lobt die sokratischen Partner als wahrhaft plastische Jünglinge, die auf die Selbstgefälligkeit und Willkürlichkeit eigener Einfälle, die den Fortgang des Gedankens stören würden, zu verzichten bereit sind’. Der großartige Monolog seines eigenen, dialektischen Philosophierens erfüllt sein Ideal der immanenten Selbstentfaltung des Gedankens freilich in einer ganz anderen methodischen Bewußtheit, die weit mehr an das Methodenideal Descartes’, an das Lernen des Katechismus und an das der Bibel

anknüpft. So verschlingt sich in Hegel auf eigenartige Weise die Bewunderung der Alten mit dem Bewußtsein der Überlegenheit der neueren, durch das Christentum und seine reformatorische Erneuerung bestimmten Wahrheit. Es ist das Generalthema der Neuzeit, die »querelle des anciens et des modernes«, das in Hegels Philosophie seinen monumentalen Austrag findet. So sei, bevor in die Prüfung der Einzelanknüpfungen Hegels an griechische Vorbilder eingetreten wird, sein eigenes Bewußtsein vom Stande dieses alten Streites zwischen den Alten und den Neueren erörtert. Hegel schreibt in der Vorrede zur Phänomenologie: »Die Art des Studiums der alten Zeit hat diese Verschiedenheit von dem der neuern, daß jenes die eigentliche Durchbildung des natürlichen Bewußtseins war. An jedem Teile seines Daseins sich besonders versuchend und über alles Vorkommende philosophierend, erzeugte es sich zu einer durch und durch betätigten Allgemeinheit. In der neuern Zeit hingegen findet das Individuum die abstrakte Form vorbereitet; die Anstrengung, sie zu ergreifen und sich zu eigen zu machen, ist mehr das unvermittelte Hervortreiben des Inneren und abgeschnittene Erzeugen des Allgemeinen als ein Hervorgehen desselben aus dem Konkreten und der Mannigfaltigkeit des Daseins. Jetzt besteht darum die Arbeit nicht so sehr darin, das Individuum aus der unmittelbaren sinnlichen Weise zu reinigen 3 Ich glaube noch heute, daß die von mir in »Platos dialektische Ethik« (1931) [vgl. jetzt

Ges. Werke Bd. 5, S. 3-163] aufgewiesene vorbereitende Funktion, die die sokratisch-

platonische Dialogführung für die Idee der »Wissenschaft« hat, wichtiger ist als jene Vorformen der Apodeiktik, die F. Solmsen für die Ursprungsgeschichte der aristotelischen Apodeiktik im platonischen Werk aufgespürt hat (Die Entwicklung der aristotelischen Logik und Rhetorik, Berlin 1929, besonders $. 255ff.).

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Hegel

und es zur gedachten und denkenden Substanz zu machen, als vielmehr in dem Entgegengesetzten, durch das Aufheben der festen bestimmten Gedanken das Allgemeine zu verwirklichen und zu begeisten. Es ist aber weit schwerer, die festen Gedanken in Flüssigkeit zu bringen, als das sinnliche Dasein« (Phän. 30). Diese Stelle lehrt uns: Das Spekulative und im Hegelschen Sinn Produktive der antiken Philosophie liegt in der Reinigung des Individuums von der unmittelbaren sinnlichen Weise des Erkennens und in der Erhebung zur Allgemeinheit des Gedankens. Es ist klar, daß Hegel hier vor allem an Plato und Artistoteles denkt. Platos große Leistung war es ja, die sinnliche Gewißheit und die auf ihr fußende Meinung als Schein zu enthüllen und das Denken dergestalt auf sich selbst zu stellen, daß es ohne

Einmischung der sinnlichen Anschauung, in der reinen Allgemeinheit des Denkens, die Wahrheit des Seins zu erkennen strebt.

In Plato erkennt Hegel die erste Ausbildung der spekulativen Dialektik, sofern Plato darüber hinausgehe, allein das Besondere zu konfundieren - das taten auch die Sophisten — und so mittelbar das Allgemeine hervorgehen zu lassen: Plato strebe vielmehr danach, das Allgemeine selbst, »das, was als

Bestimmung gelten soll«, rein für sich zu betrachten, d.h. aber nach Hegel, es in seiner Einheit mit seinem Gegenteil zu erweisen. Und Aristoteles ist für Hegel gerade deshalb der eigentliche Lehrer des Menschengeschlechts, weil er Meister ist im Zusammenbringen der verschiedensten Bestimmungen zu einem Begriff: er nimmt alle Momente der Vorstellung, unverbunden wieer sie findet, auf, läßt nicht Bestimmtheiten weg und hält auch nicht erst die

eine Bestimmung fest und dann wieder die andere, sondern sie zumal in Einem. In der Allseitigkeit der Analyse sieht Hegel das Spekulative auch in Aristoteles. Die Aufgabe der Philosophie in der neueren Zeit besteht nach Hegel umgekehrt darin, durch das Aufheben der festen bestimmten Gedanken das Allgemeine zu verwirklichen und zu »begeisten«. Was das heißt, wird uns

später beschäftigen. Für jetzt entnehmen wir dieser tiefsinnigen Gegenüberstellung in der Vorrede zur Phänomenologie den Hinweis, daß die antike Philosophie der Flüssigkeit des Spekulativen näher stehen könnte als die neuere, weil ihre Begriffe noch nicht von dem Boden der konkreten Mannigfaltigkeit, die sie begreifen sollen, abgelöst sind: sie sind die zur Allgemeinheit des Selbstbewußtseins zu erhebenden Bestimmungen, in denen »alles Vorkommende« im- natürlichen, sprachlichen Bewußtsein gedacht wird. Dadurch hat die antike Dialektik für Hegel eine generelle Auszeichnung, daß sie stets objektive Dialektik ist. Wenn sie ihrem eigenen Sinne nach negativ genannt werden muß, ist sie nicht im Sinne der Neueren negativ: nicht unser Denken ist das Nichtige, sondern die Welt als das Erscheinende selbst (vgl. XIII, 327). Aus der Gegenüberstellung zur neueren Philosophie geht nun aber hervor, daß es mit der bloßen Erhebung zur Allgemeinheit des

Hegel und die antike Dialektik

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Gedankens nicht genug sein kann. Es besteht die Aufgabe, in dieser unmittelbar betätigten Allgemeinheit die »reine Gewißheit seiner selbst«, das Selbstbewußtsein zu entdecken. Das ist nach Hegel das Mangelhafte des antiken philosophischen Bewußtseins: daß der Geist noch ganz in die Substanz versenkt ist — hegelisch gesprochen: daß die Substanz nur »an sich« der Begriff ist —, daß er sich überhaupt noch nicht in seinem Für-sich-sein, als Subjektivität, weiß und damit sich auch nicht bewußt ist, im Begreifen des Vorkommenden sich selbst zu finden. Stellt sich somit die antike Dialektik für Hegel nach diesen beiden Momenten dar, so werden diese — positiv und negativ — auch für den Sinn der Hegelschen Dialektik ausschlaggebend sein, d.h. diese Dialektik wird »objektiv« sein wollen und nicht eine solche unseres Denkens allein, sondern des Gedachten, des Begriffes selbst sein. Und als solche Dialektik des Begriffs wird sie die Entwicklung zum Begriff des Begriffs, zum Begriff des Geistes selbst vollbringen müssen. Hält man die Einheitlichkeit dieses doppelten Anspruches fest, so erhellt, daß der Sinn der Hegelschen Dialektik nicht nur dann verfehlt wird, wenn man darin eine bloß subjektive Denkmechanik sieht, mit Hegel zu reden, »ein subjektives Schaukelsystem von hin- und herübergehendem Räsonnement, wo der Gehalt fehlt« (Enz. $81). Es ist ein nicht minder großes Mißverständnis, wenn man die Dialektik Hegels aus der Aufgabenstellung der Schulmetaphysik des 18. und 20. Jahrhunderts beurteilt, die Welttotalität in einem System von Kategorien zu begreifen. Die Hegelsche Dialektik wird dann der richtungs- und aussichtslose Versuch, dies Weltsystem als ein universales Beziehungssystem von Begriffen zu konstruieren. Seit Trendelenburgs Kritik am Anfang der Hegelschen Logik, welche die immanente Schlüssigkeit der Aufhebung des dialektischen Widerspruchs in einer höheren Einheit bestreitet, hat sich dieses Mißverständnis allgemein verbreitet. Trendelenburg glaubte, etwas Kritisches zu sagen, wenn er nachwies, daß der dialektische Fortgang von Sein und Nichts zum Werden bereits die Anschauung der Bewegung benötigte: als ob es nicht die Bewegung des Selbstbewußtseins ist, die sich in allen Gedankenbestimmungen, auch in der des Seins, denkt. Trendelenburgs Kritik ist noch für Dilthey _

überzeugend und bildet eine letzte Schranke für sein Bemühen, das Wertvolle und Bleibende in der Hegelschen Dialektik zu erkennen. Auch Dilthey versteht Hegels Logik als den Versuch, in einem Relationssystem von Kategorien die Welttotalität zu begreifen, und kritisiert als die entscheidende Illusion, daß Hegel an dem Weltganzen das System der in ihm enthaltenen logischen Beziehungen ohne eine solche Unterlage entwickeln wollte, wie sie noch Fichte in der Selbstanschauung des Ich gehabt habe*. Als ob nicht 4 Vgl. W. Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 4, Leipzig u. Berlin 1921, S.226ff.

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Hegel

Hegel schon in der Jenenser Zeit, wie Rosenkranz berichtet, ausdrücklich erklärt hätte, das Absolute habe »nicht nötig, dem Begriff sogleich die Form des Selbstbewußtseins zu geben und ihn etwa Ich zu nennen, umja in dem

Gegenstande seines Wissens sich immer seiner selbst zu erinnern... Sondern dem Wissen als der Einheit des allgemeinen und einzelnen Selbstbewußtseins ist eben dies ein Element und Wesen selbst der Gegenstand und Inhalt seiner Wissenschaft und muß daher auf gegenständliche Weise ausgespro-

chen werden. Und so ist er das Sein. In ihm als dem einfachen, absoluten Begriffe weiß es sich unmittelbar als Selbstbewußtsein, so daß es ihm bei

diesem Sein nicht einfällt, damit etwas dem Selbstbewußtsein Entgegengesetztes ausgesprochen zu haben...“° Wer das verkennt, dem ist freilich der lineare Fortgang der dialektischen Begriffsentwicklung »ein toter, endloser Faden«, und dem erscheint es als ein Einwand, wie ihn nach Dilthey auch andere (H. Cohen, N. Hartmann) bei dem gleichen Versuch, die Hegelsche Dialektik positiv auszuwerten,

erhoben haben: Das System der Beziehun-

gen der logischen Begriffe sei vielseitiger und enthalte mehr Dimensionen, Hegel habe es oft gewaltsam in die einheitliche Linie seines dialektischen Fortschrittes gepreßt. Dieser Einwand hat in gewissem Sinne recht, nur ist er kein Einwand. Hegel braucht es nicht zu leugnen und weiß selber, daß seine Darstellung die Notwendigkeit der Sache nicht immer erreicht. Er scheut sich daher nicht, in wiederholten Gängen dialektischer Entfaltung, die nebeneinanderstehen,

sich auf immer wieder andere Weise der wahren Gliederung der Sache anzunähern. Gleichwohl ist es kein willkürliches Konstruieren, das aufeinen

Faden reiht, was gar keine echte Folgeordnung hat. Denn was den dialektischen Fortgang bestimmt, sind nicht die Begriffsrelationen als solche, sondern daß man in jeder dieser Gedankenbestimmungen das »Selbst« des Selbstbewußtseins denkt, das jede dieser Bestimmungen auszusagen beansprucht und das zur vollen logischen Darstellung doch erst am Ende, in der ‚absoluten Idee‘, kommt.

Die Selbstbewegung des Begriffs, der Hegel in

seiner Logik zu folgen sucht, beruht also ganz und gar auf der absoluten Vermittlung von Bewußtsein und Gegenstand, die Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes zum ausdrücklichen Thema machte. Sie bereitet das Element des reinen Wissens, das keineswegs ein Wissen der Welttotalität ist. Denn es ist überhaupt nicht Wissen von Seiendem, sondern mit dem Wissen des Gewußten ist es immer zugleich Wissen des Wissens. Das ist der von Hegel ausdrücklich festgehaltene Sinn der Transzendentalphilosophie. Nur weil der gewußte Gegenstand vom wissenden Subjekt gar nie getrennt werden kann, d.h. aber, im Selbstbewußtsein des absoluten Wissens in seiner Wahrheit ist, gibt es eine Selbstbewegung des Begriffs. 5% Dokumente zu Hegels Entwicklung. Hrsg. v. J. Hoffmeister, Stuttgart 1936, S. 350f.

Hegel und die antike Dialektik

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Für die Dialektik der Phänomenologie des Geistes gilt ähnliches. Ihre Bewegung ist selber die Bewegung des Aufhebens des Unterschiedes von Wissen und Wahrheit, an deren Ende erst die totale Vermittlung desselben, die Gestalt des absoluten Wissens, hervorgeht. Gleichwohl ist auch für diese

Dialektik das Element des reinen Wissens, des Sich-selbst-Denkens im Denken aller Bestimmungen, bereits vorausgesetzt. Bekanntlich hat sich Hegel ausdrücklich gegen das Mißverständnis verwahrt, als sei seine Phänomenologie des Geistes eine propädeutische Einführung, die noch nicht den Charakter der Wissenschaft habe. Der Weg der Erhebung des gemeinen Bewußtseins zum philosophischen, die Aufhebung des Unterschieds des Bewußtseins, d.h. der Spaltung von Bewußtsein und Gegenstand, ist vielmehr der Gegenstand der phänomenologischen Wissenschaft. Sie selbst steht bereits auf dem Standpunkt der Wissenschaft, auf dem dieser Unterschied überwunden ist. Eine Einführung, die der Wissenschaft vorhergeht, kann es nicht geben. Das Denken fängt mit sich selbst, d.h. mit dem Entschluß zu denken, an. Ob es sich also um die Logik oder um die Phänomenologie handelt, oder um welchen Teil der spekulativen Wissenschaft immer, das Bewegungsgesetz dieser Dialektik hat seinen Grund in der Wahrheit der neueren Philo-

sophie, der Wahrheit des Selbstbewußtseins. Gleichwohl stellt die Hegelsche Dialektik zugleich auch eine Wiederaufnahme der antiken Dialektik dar, und zwar in einer Ausdrücklichkeit, wie sie vor Hegel weder im Mittelalter noch in der Neuzeit jemandem auch nur in den Sinn gekommen war. Das können schon die frühesten Entwürfe seines Systems, die sog. Jenenser Logik, lehren. Zwar ist dort der dialektische Aufbau recht locker. Die traditionellen Disziplinen der Philosophie stellen die Gliederung des Ganzen noch auf relativ unverbundene Weise dar. Die dialektische Meisterschaft Hegels bewährt sich hier mehr im einzelnen der Analyse, die mit der Umschmelzung der Tradition zu einem einheitlichen dialektischen Fortgang noch nicht zu Ende gekommen ist. Gerade diese Unfertigkeit im ganzen läßt aber im einzelnen den geschichtlichen Ursprung des verarbeiteten Materials besonders deutlich erkennen. Heidegger hat bereits in Sein und Zeit auf den Zusammenhang der Zeitanalyse der Jenenser Logik mit der _aristotelischen Physik hingewiesen®. Eine andere Beobachtung bezeugt noch eindringlicher die Befruchtung Hegels durch die antike Dialektik. Das Kapitel von dem Satz der Identität und des Widerspruchs’ verrät im Aufriß wiein der Terminologie eine so enge Beziehung zum platonischen Parmenides, wie

6 M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 432f. 7 Hegel, Jenenser Logik, Metaphysik und Naturphilosophie. Hrsg. v. G.Lasson, Hamburg 1923, S. 132ff.

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Hegel

sie in dem entsprechenden Abschnitt der Logik nicht kenntlich ist. In der Jenenser Logik heißt es für die Verschiedenheit geradezu noch »das Viele«. In der Tat ist die Idee der Hegelschen Logik eine Art Einholung des Ganzen der griechischen Philosophie in die spekulative Wissenschaft. So sehr ihn der Ausgangspunkt der neueren Philosophie, daß das Absolute Leben, Tätigkeit, Geist ist, bestimmt, so ist es doch nicht die Subjektivität des Selbstbewußtseins, in der er das Fundament alles Wissens sieht, sondern

die Vernünftigkeit alles Wirklichen, also ein Begriff des Geistes als des wahrhaft

Wirklichen,

der ihn ganz in die Tradition der mit Parmenides

beginnenden griechischen Nousphilosophie einfügt. Am auffälligsten zeigt sich das in seiner Art, die abstraktesten Begriffe von Sein, Nichts und Werden, die ersten der Weltgeschichte der Philosophie, ebenso aber auch

den Übergang vom Dasein zum Daseienden als einen homogenen Prozeß der Fortbestimmung des Gedankens zu entfalten. Das Gesetz dieser Fortbestimmung ist offenbar, daß diese einfachsten und ältesten Begriffe des Denkens san sich« schon Definitionen des Absoluten, das Geist ist, darstellen

und sich deshalb in dem Begriff des sich selber wissenden Wissens vollenden. Es ist die Bewegung des Erkennens, die sich erstmal in der Dialektik der Bewegung wiedererkennt, mit der das griechische Denken seinen Gang begonnen hat. Das bestätigt eine Formulierung Hegels, die er aus Anlaß der zenonischen Dialektik gibt: »Daß die Dialektik zuerst auf die Bewegung gefallen, isteben dies der Grund, daß die Dialektik selbst diese Bewegung oder die Bewegung selbst die Dialektik alles Seienden ist« (XII, 313). Der Widerspruch, den Zeno im Begriff der Bewegung nachwies, sei als ein solcher zuzugeben, nur daß damit nichts gegen die Bewegung, sondern umgekehrt das Dasein des Widerspruchs erwiesen sei. »Es bewegt sich etwas nur, nicht indem es in diesem Jetzt hier ist und in einem anderen Jetzt dort (dort, wo es jeweils ist, ist es eben nicht in Bewegung, sondern in Ruhe), sondern indem es in ein und demselben Jetzt hier und nicht hier, indem es in diesem Hier zugleich ist und nicht ist.« Am Phänomen der Bewegung wird die Selbstheit des Geistes ihrer gleichsam zum ersten Male und in unmittelbarer Anschaulichkeit gewiß, und zwar dadurch, daß der Versuch, Bewegung als etwas anzusprechen, was ist, zum Widerspruch führt. Was sich bewegt, dem kommt nicht

in seinem Sein das Prädikat, hier zu sein, zu und auch nicht, dort zu sein.

Bewegung selber ist überhaupt kein Prädikat des Bewegten, kein Zustand, in dem sich ein Seiendes befindet, sondern eine Seinsbestimmung höchst eigener Art: Die Bewegung ist »der Begriff der wahren Seele der Welt; wir sind gewohnt, sie als Prädikat, Zustand, anzusehen [- weil unser Auffassen und Ansprechen als solches prädiziert und damit fixiert], aber sie ist in der Tat das Selbst, das Subjekt als Subjekt, das Bleiben eben des Verschwindens« (VII, 64 ff.).

Hegel und die antike Dialektik

11

Das Problem der Bewegung steht auch hinter der platonischen Dialektik der Spätzeit, der Hegel seine besondere Aufmerksamkeit gewidmet hat. Die erstarrte Ruhe eines Kosmos von Ideen kann die letzte Wahrheit nicht sein. Denn die »Seele«, die diesen Ideen zugeordnet ist, ist Bewegung, und der Logos, der die Beziehung der Ideen zueinander denkt, ist notwendigerweise eine Bewegung des Denkens, und das heißt eine Bewegung des Gedachten. Mag immer es nicht ohne Widerspruch zu denken sein, in welchem Sinn Bewegung Sein sein soll, die Dialektik der Bewegung, d.h. der Widerspruch, zu dem die Aufgabe führt, Bewegung als Sein zu denken, kann nicht hindern, das notwendige Mitsein der Bewegung mit dem Sein anzuerkennen. Das ist das klare Ergebnis des Sophistes, und von hier aus kann auch der »Umschlag im Nu«, diese höchst wunderbare Natur des Plötzlichen, von der Parmenides redet, am Ende nur in einem positiven Sinne verstanden werden.

Der Zusammenhang von Bewegung und Denken liegt aber vor allem der aristotelischen Philosophie als ein zentrales Motiv zugrunde®. Hier sei nur daran erinnert, wie der oberste spekulative Begriff des Aristoteles, der Begriff der Energeia, diesem Zusammenhang Ausdruck gibt. Energeia steht für Aristoteles im Gegensatz zur Dynamis. Da Dynamis aber für ihn eine rein ontologische Bedeutung hat, keineswegs mehr allein die Möglichkeit zu bewegen meint, sondern eine Möglichkeit zu sein, und daher die Seinsweise dessen charakterisiert, was Hyle, d.h. Materie, ontologisch gesehen, ist,

erhält auch der Begriff der Energeia, der ihm entspricht, eine rein ontologische Funktion?. Er meint die reine Anwesenheit als solche, die in ihrer Reinheit dem unbewegten Beweger, dem Nous, der Vernunft zukommt,

d.h. dem, was im eigentlichsten und höchsten Sinne seiend ist. Der Begriff der Energeia, den Aristoteles als reine Anwesenheit denkt, ist aber ohne

Zweifel ursprünglich ein Bewegungsbegriff und bezeichnet den wirklichen Vollzug im Gegensatz zur bloßen Möglichkeit oder Fähigkeit. Auch wenn das höchste Seiende ganz ohne Dynamis, also reine Energeia ist, und das heißt, daß in ihm keine Bewegung sein kann, da zu aller Bewegung Dynamis gehört, klingt offenbar doch in dem Begriff der Energeia, der das Sein formuliert, etwas vom Wesen der Bewegtheit fort. Die reine Energeia übertrifft noch die eigentümliche Ständigkeit, die die Kreisbewegung auszeichnet, und ist gleichsam als eine Überbietung derselben gedacht!®. Nur

8 Diesen Zusammenhang verfolgt W. Bröcker, Aristoteles, 2. Aufl. Frankfurt 1957.

9 Es ist vor allem Metaphysik H@, wo der ontologische Sinne der Dynamis von Aristoteles herausgearbeitet wird. 10 Man muß die Lehren von der reinen Energeia immer gegen den Hintergrund der Theorie der Bewegungsweisen in den Nomoi X (893b-899) sehen, vgl. vor allem 898.

[Vgl. »Über das Göttliche im frühen Denken der Griechen«, Ges. Werke Bd.6,

S. 154-170.]

12

Hegel

weil das so ist, kann Aristoteles offenbar meinen,

daß er über die bloße

dialektische Entgegensetzung von Sein und Nichtsein in der Bestimmung der Bewegung hinaus ist und daß er Plato hinter sich gelassen hat, wenn er das Wesen der Bewegung durch »Energeia des Möglichen als Möglichen« definiert. Wie sehr die Dialektik der Bewegung, die derart das platonische und aristotelische Philosophieren beherrscht, dem Interesse Hegels entgegenkam, der »die absolute Tendenz aller Bildung und Philosophie« darin sah, daß das Absolute als Geist bestimmt werde, wird sich bei der genaueren Prüfung von Hegels Selbstanknüpfung an die griechische Philosophie noch deutlicher zeigen. Das Problem, das die Bewegung dem Denken stellt, ist

das Problem der Kontinuität, des ovvey&c. Daß Hegels eigene Aufgabenstellung an diesem Problem hängt, beweist sein Begriff der Gediegenheit des dialektischen Vorgangs, in dem sich der Zusammenhang von Denken und Bewegung reflektiert. Aber auch dort, wo man sich der absoluten Vermittlung der Hegelschen Dialektik zu entziehen sucht, setzt sich das Problem als solches bezeichnenderweise dennoch durch, z.B. in Trendelenburgs logischen Untersuchungen, in Hermann Cohens Begriff des Ursprungs, in der steigenden Anerkennung, mit der Hegel von Dilthey gewürdigt wird, aber auch in Husserls Lehre von der Intentionalität und dem Bewußtseinsstrom,

speziell der Fortbildung derselben zu der Lehre von der Horizontintentionalität und den sanonymen« Intentionalitäten, schließlich in Heideggers Entdeckung der ontologischen Fundamentalstellung der Zeit. Angesichts der Kontinuität, die dergestalt zwischen der Dialektik der Bewegung und der Dialektik des Geistes besteht, ist Hegels Selbstanknüpfung an die antike Philosophie sachlich wohl begründet. Aber nun stellt sich die Frage, wie Hegels eigenes Bewußtsein von dem Gegensatz zwischen alter und neuerer Zeit und von der Gegensätzlichkeit der Aufgabe, die dem Denken dort und hier gestellt war, in der Art seiner methodischen Anlehnung an die antike Dialektik zum Ausdruck kommt. Es ist ja sein Anspruch, durch die Dialektik die Verflüssigung der starren Verstandeskategorien zu leisten, in deren Gegensatz das neuere Denken befangen sei. Der Dialektik soll es gelingen, den Unterschied von Subjekt und Substanz aufzuheben, das in die Substanz versenkte Selbstbewußtsein und seine reine, für sich seiende

Innerlichkeit als unwahre Gestalten ein und derselben Bewegung des Geistes zu begreifen. Hegel gebraucht für die Verflüssigung der traditionellen Verstandeskategorien der Ontologie den charakteristischen Ausdruck des »Sichbegeistens«. Sie sollen ja nicht mehr das Sein im Gegensatze zum Selbstbewußtsein, sondern den Geist als die eigentliche Wahrheit der neueren Philosophie begreifen. Während sie ihrer griechischen Herkunft nach Begriffe sind, die das Sein der Natur, also das Vorhandene, aussagen sollen und an

der Bewegtheit des Naturhaften zur Dialektik gebrochen werden, soll nun

Hegel und die antike Dialektik

13

umgekehrt ihre Negation, ihre Zuspitzung zum Widerspruch in sich selbst, die höhere Wahrheit des Geistes hervorgehen lassen. Weil es das Wesen des Geistes sei, den Widerspruch festzuhalten und in ihm sich selbst als die spekulative Einheit der Gegensätze zu erhalten, wird für die neuere Philo-

sophie der Widerspruch, der für das antike Denken der Aufweis der Nichtigkeit war, zu etwas Positivem. Die Nichtigkeit des bloßen Vorhandenseins, des als Sein Ausgesagtseins, läßt die höhere Wahrheit dessen hervortreten, »was Subjekt oder der Begriff« ist. Davon ist in der antiken Dialektik nichts. Sogar der platonische Parmenides gibt sich selbst als eine ergebnislose Übung. Wie erklärt sich bei dieser Sachlage, daß Hegel die antike Dialektik wieder zu beleben meinte? Mag auch die Dialektik der Bewegung eine echte Entsprechung zur Dialektik des Geistes zeigen — wie kann Hegel meinen, daß diese negative Dialektik der Bewegung, die Zeno entwickelt und die Plato auf einem höheren Reflexionsniveau wiederholt, für seine eigene dialektische Methode ein methodisches Vorbild sei? Wie sollen jene ergebnislosen Bemühungen das wahre Resultat beweisen, daß das Absolute Geist

ist? Um diese Frage zu klären, müssen wir Hegels eigene Aussagen über seine dialektische Methode in Erinnerung rufen. Es ist die Fragwürdigkeit der Form des Satzes für das spekulative Wesen der Philosophie, von der dabei auszugehen ist. Am Anfang aller Besinnung über die Logik der spekulativen Philosophie steht die Einsicht, daß die Form des Satzes (bzw. des Urteils)

ungeschickt ist, spekulative Forderung der Philosophie Struktur des Satzes und des Im gewöhnlichen Urteil ist

Wahrheiten auszudrücken (vgl. Enz. $31). Die ist, zu begreifen. Dieser Forderung kann die gewöhnlichen Verstandesurteils nicht genügen. das Subjekt das, was zugrunde liegt (ünoxeiuevov

= subjectum), worauf sich der Inhalt, das Prädikat, als sein Akzidens be-

zieht. Die Bewegung des Bestimmens läuft an diesem als seiend Gesetzten, dem Subjekt, als an einer festen Basis hin und her. Es kann als das und auch als das, in einer Hinsicht so, in anderer Hinsicht anders bestimmt werden. Die

Hinsichten, unter die das Subjekt im Urteil gestellt wird, sind ihm selbst äußerlich. Das bedeutet, daß es jeweils auch unter andere Hinsichten gestellt werden kann. Das Bestimmen ist also der Sache äußerlich und entbehrt aller Notwendigkeit des Fortgangs, sofern die feste Basis des Subjekts all dieser F Bestimmungen über einen jeden Inhalt, der ihm beigelegt wird, hinausreicht, da ihm ja auch andere Prädikate beigelegt werden können. Alle solche Bestimmungen sind also äußerlich aufgenommen und stehen äußerlich nebeneinander. Selbst dort, wo ein geschlossener Deduktionszusammenhang _ das Ideal eines schlüssigen Beweises zu erfüllen scheint, wie das vom mathe-

matischen Erkennen gilt, erkennt Hegel (in der Vorrede zur Phänomenologie) noch immer

eine solche Äußerlichkeit.

Denn

die Hilfskonstruktionen,

14

Hegel

durch die ein geometrischer Beweis etwa ermöglicht wird, werden nicht aus der Sache selber mit Notwendigkeit deduziert. Sie müssen einem einfallen,

auch wenn ihre Richtigkeit schließlich durch den Beweis einsichtig gemacht wird. Hegel nennt alle solche Formen des Verstandesurteils mit polemischer Schärfe »Raisonnement«. Das Raisonnement hat einmal eine negative Form,

die heute noch in der Wortbedeutung von oraisonnieren« nachklingt. Aus der negativen Einsicht, »daß dem nicht so sei«, wird nicht ein wirklicher Fort-

gang der Erkenntnis der Sache gewonnen, so daß etwa das Positive, jeder Negation liegt, zum Inhalt der Betrachtung würde. Vielmehr das Raisonnieren bei dieser eitlen Negativität stehen und reflektiert sich selbst. Es gefällt sich im Beurteilen und ist damit überhaupt nicht

das in bleibt sich in bei der

Sache, sondern immer darüber hinaus. »Statt in ihr zu verweilen und sich in

ihr zu vergessen, greift solches Wissen immer nach einem Andern und bleibt vielmehr bei sich selbst, als daß es bei der Sache ist und sich ihr hingibt«

(Phän. 11). -— Wichtiger aber ist, daß auch das sogenannte positive Erkennen in dem Sinne Raisonnement ist, daß es das Subjekt zur Basis macht und von

einer Vorstellung zur anderen fortläuft, die es auf dieses Subjekt bezieht. Für beide Formen des Raisonnierens ist charakteristisch, daß die Bewegung dieses denkenden Auffassens an der Sache als einer unbewegten und ruhenden verläuft und für sie selbst äußerlich ist. Dagegen ist das spekulative Denken begreifendes Denken. Das natürliche Ausgreifen des Bestimmens über das Subjekt des Satzes hinaus zu anderem hin, durch das die Sache sich als dieses oder jenes bestimmt, wird gehemmt: »Es erleidet, es so vorzustellen, einen Gegenstoß. Vom Subjekte anfangend, als ob dieses zum

Grunde

liegen bliebe, findet es, indem

das Prädikat

vielmehr die Substanz [= subjectum] ist, das Subjekt zum Prädikat übergegangen und hiermit aufgehoben; und indem so das, was Prädikat zu sein scheint, zur ganzen und selbständigen Masse geworden, kann das Denken nicht

frei herumirren,

sondern

ist durch

diese

Schwere

aufgehalten«

(Phän. 50). Die Bewegung des begreifenden Denkens, die Hegel mit diesem und einer Reihe ähnlicher Bilder beschreibt, bezeichnet er selbst als etwas

Ungewohntes. Sie stellt für das vorstellende Verhalten eine Zumutung dar. Man will über eine Sache etwas Neues erfahren und greift daher über die Grundlage des Subjektes hinaus zu etwas anderem, das ihm als Prädikat beigelegt wird. In philosophischen Sätzen dagegen geht es ganz anders zu. Da gibt es keine feste Grundlage des Subjekts, die man als solche gar nicht mehr befragt. Man kommt hier nicht im Denken zu einem Prädikat weiter,

das etwas Anderes meint, sondern wird durch dasselbe genötigt, auf das Subjekt selber zurückzugehen. Man nimmt nicht etwas Neues, Anderes als Prädikat auf, denn indem man das Prädikat denkt, vertieft man sich in

Wahrheit in das, was das Subjekt ist. Das »subjectum« geht also als feste

Hegel und die antike Dialektik

15

Grundlage gerade dadurch verloren, daß das Denken im Prädikat nicht ein anderes denkt, sondern es selbst im Prädikat wiederfindet. In den Augen des gewöhnlichen Vorstellens ist daher ein philosophischer Satz immer so etwas wie eine Tautologie. Der philosophische Satz ist identischer Satz. In ihm hebt sich der vermeintliche Unterschied von Subjekt und Prädikat auf. Erist überhaupt nicht mehr im eigentlichen Sinne Satz. In ihm wird nichts gesetzt, das nun bleiben soll. Denn das »ist«, die Copula des Satzes, hat hier eine ganz andere Funktion. Es sagt nicht mehr das Sein von etwas mit etwas anderem aus, sondern beschreibt jene Bewegung, in der das Denken vom Subjekt ins Prädikat übergeht, um in ihm den festen Boden, den es verliert, wiederzu-

finden. Hegel erläutert das etwa an dem Beispiel: »Das Wirkliche ist das Allgemeine.« Dieser Satz besagt nicht nur, daß das Wirkliche allgemein sei, sondern das Allgemeine soll das Wesen des Wirklichen aussprechen. Sofern der Begriff des Wirklichen in diesem Satz näher bestimmt wird, geht das Denken über ihn nicht hinaus. Das Wirkliche wird ja nicht als etwas anderes bestimmt, sondern als das, was es ist. Indem es sich als das Allgemeine erweist, ist das Allgemeine das wahre Subjekt des Denkens, d.h. aber, das

Denken geht in sich selbst zurück. Die Reflexion dieses Denkens ist Reflexion in sich, da es ja nicht über etwas reflektiert, aus seinem Inhalt heraus-

geht, andere Reflexionsbestimmungen heranzieht, sondern sich in seinen eigenen Inhalt versenkt, in das, was das Subjekt selbst ist. Das nun ist nach Hegel das Wesen der dialektischen Spekulation: nichts anderes zu denken als solche Selbstheit und damit das Selbstsein selbst zu denken, als das sich das

Ich des Selbstbewußtseins immer schon weiß. Insofern ist die Subjektivität -des Selbstbewußtseins das Subjekt aller Sätze, deren Prädikate die einfachen

Abstraktionen, rein für sich gedachten Bestimmtheiten des Gedankens sind. Die philosophische Spekulation beginnt also mit dem »Entschluß, rein denken zu wollen« (Enz. $ 78). Rein denken besagt, nur das Gedachte denken, nichts denken als es selbst. So sagt Hegel einmal, die Spekulation sei diereine Betrachtung dessen, was als Bestimmung gelten soll. Eine Bestimmung denken heißt, nicht etwas anderes denken, dem die Bestimmung zukommt, ein anderes, das nicht sie selbst ist. Die Bestimmung soll vielmehr in sich __ selbst gedacht, d.h. als das, was sie ist, bestimmt werden. Damit aber ist sie

in sich selbst sowohl das Bestimmte wie das Bestimmende. Indem das Bestimmen sich auf sich selbst bezieht, ist das Bestimmte zugleich das andere seiner selbst. Damit aber ist es bereits zu dem in ihm selbst gelegenen Widerspruch zugespitzt und befindet sich in der Bewegung seiner Aufhe-

bung, d.h. es stellt sich die »einfache Einheit« dessen her, was sich in den

Gegensatz von Identität und Nichtidentität, als die Negation seiner selbst, auseinander warf. Rein denken«, das nichts anderes in einer Bestimmung denkt als sie selbst, nichts in ihr mitdenkt, was die Vorstellung mit vorzu-

16

Hegel

stellen pflegt, entdeckt also in sich selbst das Fortbestimmende. Erst dort, wo die vollendete Vermittlung aller Bestimmungen, die Identität der Identität und Nichtidentität gedacht wird, im Begriff des Begriffs bzw. des Geistes, kann die Bewegung dieses Fortgangs in sich selbst zur Ruhe kommen. Die spekulative Bewegung wird daher von Hegel als immanentplastisch bezeichnet, d.h. sie bildet sich aus sich selbst fort. Ihr Gegenteil ist der Einfall, das Dazubringen von Vorstellungen, die in einer Bestimmung nicht selbst gesetzt sind, sondern die einem bei ihr einfallen und die eben

deshalb in den immanenten Gang solcher Selbstfortbildung der Begriffe störend einfallen. Wie das subjektive Denken, dem etwas einfällt, durch den

Einfall aus der Richtung seines bisherigen Denkens fortgelenkt wird, so wird von Hegel auch das Einfallen der äußeren Vorstellung als die Ablenkung von der Vertiefung in den sich selbst fortbestimmenden Begriff gefaßt. In der Philosophie gibt es also keine guten Einfälle. Denn jeder Einfall ist ein unnotwendiger, unverbundener und uneinsichtiger Übergang zu etwas anderem. Das Philosophieren aber soll nach Hegel der notwendige und einsichtige, »gediegene« Fortgang des Begriffes selbst sein. Diese formale Charakteristik der Fortbestimmung des Denkens in sich selbst steht nicht in der Notwendigkeit,

erst zu beweisen,

daß die sich

auftuenden Widersprüche selber in einem neuen Positum, einem neuen einfachen Selbst, zur Einfachheit zusammengehen. Der neue Inhalt wird nicht eigentlich deduziert, sondern ist schon immer als das erwiesen, was die

Härte des Widerspruches aushält und sich darin als eines festhält: das Selbst des Denkens. Wenn wir zusammenfassen, so sind es drei Momente, die das Wesen der

Dialektik nach Hegel ausmachen. Erstens: Das Denken ist das Denken von etwas an ihm selbst, für sich. Zweitens: Als solches ist es notwendiges Zusammendenken widersprechender Bestimmungen. Drittens: Die Einheit widersprechender Bestimmungen ist dadurch, daß sie sich in ihr aufheben, das eigentliche Selbst. — Alle drei Momente glaubt Hegel in der antiken Dialektik wiederzuerkennen. Wenden wir uns zunächst zu dem ersten, so liegt schon in der ältesten griechischen Dialektik solches Fürsichdenken von Bestimmungen klar am Tage. Nur der Entschluß, rein denken zu wollen und die Vorstellung abzuhalten, konnte zu der ungeheuren Kühnheit des Gedankens führen,

durch die die eleatische Philosophie ausgezeichnet ist. Und es ist in der Tat schon die bewußteste Handhabung solchen Denkens; was wir bei Zeno, etwa in den ersten drei Fragmenten der Dielsschen Sammlung, die aus Simplicius stammen, finden. Wenn dort von Zeno gezeigt wird, daß, wenn

Vieles wäre, es unendlich klein sein müßte, weil es aus größelosen kleinsten Teilen bestünde, und zugleich unendlich groß sein müßte, weil es aus einer

unendlichen Vielheit solcher Teile bestünde, so beruht dieses Argument

Hegel und die antike Dialektik

17

darauf, daß die beiden Bestimmungen der Kleinheit und der Vielheit der Teileje für sich gedacht werden und je für sich zu Bestimmungen des Vielen führen. Auch das zweite der Momente, das Zusammendenken widersprechender Bestimmungen, ist in dieser Argumentation gelegen, sofern sieja eine indirekte Widerlegung der Hypothesis des Vielen sein soll. Das ist sie aber nur, sofern Kleinheit und Größe schlechthin dem Vielen zukommen

sollen — und nicht in verschiedener Hinsicht. Ein Auseinanderhalten der verschiedenen Hinsichten der Vielheit und der Kleinheit würde den Wider-

spruch gerade verhindern. Die Argumentationsform entspricht genau dem, was das Altertum dem »eleatischen Palamedes: zuschrieb: daß zu jedem Satz auch sein Gegensatz zu untersuchen sei, und daß beide Sätze je für sich in ihre Folgerungen zu entwickeln seien. Freilich ist der Sinn dieses Fürsichdenkens und Zusammendenkens der Bestimmungen bei Zeno ein negativ-dialektischer. Das durch solchen Widerspruch Bestimmte ist eben als Widerspruchsvolles selbst nicht und nichtig. Das dritte von uns herausgehobene Moment der Hegelschen Dialektik, die Positivität des Widerspruchs, fehlt also hier. Allein auch diese glaubt Hegel in der antiken Dialektik aufzeigen zu können, und zwar zuerst bei Plato. Oft genug hat freilich nach Hegel die Dialektik bei Plato nur die negative Aufgabe, die Vorstellungen zu konfundieren. Als solche ist sie nur eine subjektive Spielart der zenonischen Dialektik, die mit den Mitteln der äußeren Vorstellung und ohne positives Resultat jede Behauptung zu widerlegen weiß, eine Kunst, die besonders von den

Sophisten betrieben wurde. Aber darüber hinaus sieht Hegel in Plato eine positiv-spekulative Dialektik, eine solche, die nicht zu objektiven Wider-

sprüchen nur deshalb führt, um ihre Voraussetzungen aufzuheben, sondern die den Widerspruch, die Antithetik des Seins und Nichtseins, der Differenz

und der Indifferenz im Sinne ihrer Zusammengehörigkeit, also einer höheren Einheit versteht. Hegel ist bei dieser Deutung der platonischen Dialektik vor allem durch den platonischen Parmenides bestimmt, dessen ontotheologische Ausdeutung durch den Neuplatonismus ihm vor Augen stand. Dort wird ganz im Sinne einer radikalisierten zenonischen Dialektik das Umschlagen einer Setzung in ihre Gegensetzung vorgeführt - und zwar durch eine Vermittlung, die eine jede dieser Bestimmungen abstrakt für sich denkt. (Freilich macht Hegel, wie wir schon anführten, bezüglich der Dialektik des Parmenides die Einschränkung, daß sie noch nicht reine Dialektik sei, sondern mit gegebenen Vorstellungen anfange, wie z. B. dem Satz: »Das Eine ist.« Aber nimmt man einmal diesen unnotwendigen Anfang hin, dann ist - meint Hegel - diese Dialektik »vollkommen richtig«.) Der Parmenides steht jedoch bei Plato ganz für sich. Daß der Aufweis der

Widersprüche im Parmenides einen positiven Beweissinn hat und nicht nur eine propädeutische Übung ist, die die Starrheit der Ideenannahme und den ihr zugrunde liegenden starren eleatischen Seinsbegriff auflösen soll, das

18

Hegel

bleibt mindestens problematisch. Nun liest aber Hegel auch den platonischen Sophistes mit der Vormeinung, daß dort Dialektik im selben Sinne vorliege wie im Parmenides, und aufgrund dieser Vormeinung findet er im Sophistesin der Tat die Positivität absoluter Widersprüche ausgesprochen. Das Entscheidende, was er da zu lesen meint, daß Plato lehre, das Identische sei in ein und

derselben Rücksicht.als das Verschiedene zu erkennen. Hegel kommt zu dieser Meinung, wie schon längst nachgewiesen worden ist!!, durch ein totales Mißverständnis der Stelle Soph. 259b. Er übersetzt: »Das Schwere und Wahrhafte ist dieses, daß das, was das Andereist, dasselbeist. Undzwarin

einer und derselben Rücksicht,nach der selben Seite« (XIV, 233). In Wahrheit ist

aber gesagt: Das Schwere und Wahrhafte ist, wenn Jemand sagt, dasselbe sei irgendwie auch verschieden, dem nachzugehen, in welchem Sinne und in welcher Hinsicht es das sei. Ohne Auszeichnung dieser Hinsicht, so unbe-

stimmt, Dasselbe als Verschiedenes zu begreifen und so Widersprüche heraufzuführen, wird dagegen ausdrücklich als unnütz und Sache eines Neulings bezeichnet. An dem Unrecht der speziellen Berufung, damit aber überhaupt der Berufung auf den Sophistes als ein Beispiel »eleatischer« und doch »positiver« Dialektik, ist nicht zu zweifeln. Plato sieht es als das Wesentliche seiner Lehre

vom Logos und als den fundamentalen Unterschied von der Philosophie der Eleaten, daß er von der Abstraktheit des Gegensatzes von Sein und Nichtsein zu ihrer widerspruchslosen Vereinbarkeit im Sinne der Zusammengehörigkeit der Reflexionsbestimmungen der Selbigkeit und Verschiedenheit gelangt. Von dieser Einsicht aus gelingt es ihm, das Geschäft des Dialektikers, das Unterscheiden, Einteilen, Definieren, trotz der scheinbaren Widersprüchlichkeit, daß Dasselbe Eines und Vieles ist, wenn es als etwas bestimmt

wird, positiv zu rechtfertigen. Darin istaber nichts von jener Zuspitzungzum Widerspruch, geschweige denn von dem Hervorgehen eines höheren Selbst, in dem dieabstrakten, fürsich gedachten Bestimmungen, dieals Widerspruch ihre Aufhebung verlangen, zur einfachen Einheit einer Synthese zusammengehen, sondern Selbigkeit und Verschiedenheit konkretisieren sich im Gegenteil derart, daß Seiendes in Beziehung zu anderem Seienden steht und jein verschiedener Hinsicht zugleich Selbiges und Verschiedenes ist. So liegt der Sinn des Sophistes so wenig in der Linie der Hegelschen Intention, die Dialektik des Widerspruchs als die Methode der höheren spekulativen Logik ‚über der sog. formalen zu gewinnen, daß sich im Gegenteil im Sophistes (230b) die wichtigste Vorform zu der berühmten Formel des Satzes vom Widerspruch findet, die Aristotelesim 4. Buch der Metaphysik aufgestellthat. ı K.L. W. Heyder, Kritische Darstellung der Aristotelischen und Hegelschen Dialektik, Erlangen 1845. [Inzwischen hat die Hegel-Forschung festgestellt, daß Hegel die alte

Bipontiner Plato-Ausgabe benutzt hat, die den falschen Text bietet, den er richtig über-

setzt.]

Hegel und die antike Dialektik

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Das wahre Einteilen und Bestimmen will Plato offenbar von der Scheindialektik der Widerspruchskunst freihalten. Mag sein, daß es seine eigene Aporie des Einen und Vielen in sich trägt, aber das Ziel des Sophistes ist gerade, den falschen Zauber zu entmachten, der im Reden und Argumentieren geübt wird, indem man »ohne Auszeichnung der Hinsicht: etwas zugleich als selbig und als verschieden beweist. Fragen wir uns zunächst, was die Mißdeutung unserer Plato-Stelle durch Hegel bedeutet, d.h. welche positive sachliche Stellung ihn eine an sich nicht übermäßig dunkle Stelle bei Plato in ihr Gegenteil verkehren läßt. Wer Hegel kennt, wird verstehen, warum Hegel an der fraglichen Stelle eine Forderung, jeweils die Hinsicht auszuzeichnen, unter der etwas identisch oder verschieden ist, nicht hören will. Denn eine solche Forderung widerspricht strikt der eigenen dialektischen Methode Hegels. Diese besteht ja darin, eine Bestimmtheit so an ihr selbst und für sich zu denken, daß sie eben

dadurch ihre Einseitigkeit hervortut und ihr Gegenteil zu denken nötigt. Die Zuspitzung zum Widerspruch ergibt sich also gerade dadurch, daß die entgegengesetzten Bestimmungen in ihrer Abstraktion für sich gedacht werden. Hegel sieht darin das spekulative Wesen der Reflexion, das Widersprechende zu Momenten herabzusetzen, deren Einheit das Wahre ist. Da-

gegen sei es das Bestreben des Verstandes, Widersprüche zu vermeiden, und, wo er einem Gegensatz begegnet, ihn, soweit er kann, auf der Gleichgültigkeit der bloßen Verschiedenheit festzuhalten. Zwar ist, was verschieden ist, auch in eine gemeinsame Hinsicht, die der Ungleichheit gestellt (die immer zugleich die Hinsicht der Gleichheit einschließt). Aber das Unterscheiden selbst reflektiert darauf nicht. Für es sind es eben verschiedene Seiten an der Sache, in denen ihre Gleichheit und in denen ihre Ungleichheit hervortritt. Auf diesem Standpunkt sucht nun nach Hegel der Verstand das Denken zu fixieren. Er verlegt die Einheit der Gleichheit und Ungleichheit aus dem Ding in das Denken selbst, das in seiner Tätigkeit beides denkt!?. In beiden Fällen bedient sich der Verstand des gleichen Mittels, die Bestimmungen nicht an ihnen selbst in ihrem reinen begrifflichen Gehalt zu denken, d.h. nicht als Subjekt, sondern als Prädikate, die einem Subjekte zukommen und die ihm daher in verschiedener Rücksicht zukommen können. So stehen abstrakte Bestimmungen in einem gleichgültigen Auch nebeneinander, weil sie nicht als solche, sondern als einem anderen zukom-

mende gedacht werden. Die Bestimmungen selbst »zusammenzubringen und sie dadurch aufzuheben, dagegen sträubt sich der Verstand durch die Stützen des Insofern und der verschiedenen Rücksichten, oder dadurch, den 12 Bekanntlich ist das auch Hegels Kritik an der Kantischen transzendentalen Dialektik,

daß Kant aus »Zärtlichkeit für die Dinge« den Widerspruch dem Verstande zuschreibe (vgl. XV, 582).

20

Hegel

einen Gedanken auf sich zu nehmen, um den anderen getrennt und als den wahren zu erhalten« (Phän. 102). Hegel nennt es eine Sophisterei des Vorstellens, was Plato gerade gegen die Sophistik als die Forderung des philosophischen Denkens aufbietet. Muß man nicht schließen: Sein eigenes Verfahren, die Hinsichten unausgezeichnet zu lassen, um die Bestimmungen zu Widersprüchen zuzuspitzen, würde von Plato und Aristoteles sophistisch genannt werden? Und doch, hat Hegel nicht, wenn auch im einzelnen mißverstehend, im

ganzen richtig verstanden? Hat er nicht recht, wenn er im platonischen Sophistes die Dialektik der Reflexionsbestimmungen der Identität und der Verschiedenheit wiedererkannte? Ist es nicht in der Tat die große Leistung Platos gewesen, den abstrakten eleatischen Gegensatz von Sein und Nichtsein in das spekulative Verhältnis des Sein und Nicht erhoben zu haben, das

durch die Reflexionsbestimmungen der Identität und Verschiedenheit erfüllt wird? Hat nicht Hegel darüber hinaus auch darin recht, daß die Aufgabe, die er sich selbst stellt, die festen Gedankenbestimmungen zu verflüssigen, mit Platos Einsicht in die unaufhebbare Verwirrbarkeit aller Reden konvergiert? Plato redet von dem nie alternden Pathos der Logoi als einem Widerfahrnis

des Denkens,

sich in Widersprüchen

zu verstricken.

Auch

Plato sieht das nicht nur negativ, als jene Verwirrung aller festen Begriffe und Anschauungen, die die griechische Aufklärung durch die Dämonisierung der Redekunst und der Argumentationskunst heraufführte. Er sieht umgekehrt an Sokrates die neue Möglichkeit, die darin liegt, daß die konfundierende Kraft der Rede eine echte philosophische Funktion zu haben und im Verwirren der Vorstellungen den Blick auf die wahren Verhältnisse der Dinge freizumachen vermag. Die Selbstbeschreibung, die Plato im 7. Brief vom philosophischen Erkennen gibt", lehrt, daß die positive und die negative Funktion des Logos einen gemeinsamen Grund in der Sache haben. Die »Mittel« des Erkennens, Wort, Begriff, Anschauung oder Bild,

Meinung oder Ansicht, ohne die kein Gebrauch des Logos möglich ist, sind in sich selbst zweideutig, sofern ein jedes von ihnen sich vorzudrängen vermag und damit statt der gemeinten Sache sich selbst zeigt. Es liegt im Wesen der Aussage, daß sie ihres angemessenen Verständnisses nicht selber Herr ist, sondern stets in falscher Wörtlichkeit verstanden werden kann. Das bedeutet aber nicht weniger als, daß das, was den Blick auf die Sache allein

ermöglicht, sie zugleich auch wieder zu verstellen vermag. Philosophie und sophistisches Raisonnement sind nicht auseinanderzukennen, wenn man nur auf das Ausgesagte als solches gerichtet ist!*. Nur in der lebendigen 13 Epist. VII, 341-343. [Vgl. dazu meine Arbeit Dialektik und Sophistik im VII. Platonischen Brief(, jetzt in Ges. Werke Bd. 6, S. 90-115.]

14 Der der Aufgabe der Auseinanderkennung gewidmete Dialog, der Sophistes, gelangt

zwar zum Erweis der Möglichkeit des Sophisten, nämlich zur ontologischen Anerken-

Hegel und die antike Dialektik

21

Wirklichkeit des Gesprächs, in welchem sich »Menschen von guter Anlage und echter Beziehung zur Sache« miteinander vereinigen, kann Erkenntnis der Wahrheit gelingen. Alle Philosophie bleibt also Dialektik. Denn alle Aussage, auch diejenige, ja gerade diejenige, die wirklich die innere Gliederung der Sache, das Verhältnis der Ideen zueinander aussagt, enthält den Widerspruch des Einen und des Vielen, so daß es möglich ist, denselben in

eristischer Absicht hervorzukehren. Ja, Plato selbst kann Ähnliches tun, wie der Parmenides zeigt. Was als die einzige Wahrheit der sokratischen Dialektik erschien, die Unverrückbarkeit der einen Idee, die allein die Einheit des Gemeinten zu verbürgen scheint und Verständigung überhaupt möglich macht, hat keine schlechthinnige Wahrheit. In Platos geistreicher Konfrontierung gibt der alte Parmenides dem jungen Sokrates deutlich genug zu verstehen, daß er zu früh die Idee zu definieren versucht habe und lernen müsse, das Fürsichsein der

Idee wieder aufzulösen!®. Jede Aussage ist wesensmäßig ebensosehr ein Vieles wie ein Eines, weil das Sein in sich selbst unterschieden ist. Es ist selber Logos. Mag man noch so sehr darüber ins klare kommen, was Prädikation in Wahrheit ist, und von da die sophistische Verwirrungskunst der Rede bannen, im eigentlich philosophischen Bereich der Wesensaussagen, z.B. bei der Definition, haben wir es nicht mit Prädikation zu tun, sondern mit der spekulativen Selbstunterscheidung des Wesens. Der Aöyoc ovoiac ist seiner Struktur nach ein spekulativer Satz, bei dem das sogenannte Prädikat

in Wahrheit das Subjekt ist. Im Unterschied zu der von Plato kindisch genannten eristischen Kunst, den Widerspruch von Einheit und Vielheit zu argumentativem Mißbrauch zu verwenden, steckt in solcher spekulativer Aussage eine ernsthafte Aporie, ein unauflösbarer Widerspruch des Einen und Vielen, der zugleich den ganzen Reichtum eines sachlichen Fortschreitens im Erkennen in sich birgt!®. Es entspricht diesen Andeutungen des Philebos, daß auch die Darlegung der Dialektik der Gattungen im Sophistes im Grunde »dialektisch« bleibt, d.h. daß es keine einfache Auszeichnung der Hinsicht, in der etwas verschieden ist, geben kann, wenn die dialekti-

sche Zusammengehörigkeit der Verschiedenheit selbst mit der Selbigkeit _ selbst, des Nichtseins mit dem Sein ausgesagt wird. Die philosophische Aussage, die das Wesen der Dinge im Durchgliedern der »Ideen« zu bestimmen unternimmt, schließt eben das spekulative Verhältnis der Einheit Entnung des Scheins, d.h. des Seins des Nichtseins. Aber das Wesen der Andersheit, von dem

aus Plato dort den sophistischen Schein begreift, schließt auch die Wahrheit der Philo-

sophie ein. Wie der wahre Logos sich vom falschen unterscheidet, kann offenbar nicht am

Logos selbst erkannt werden. 15 Parm. 135c.

16 Phileb. 15bc.

22

Hegel

gegengesetzter tätsächlich in sich. Insofern ist Hegel nicht ganz im Unrecht, wenn er sich auf Plato beruft. Dem entspricht, daß Hegel mit Nachdruck auf die Überbietung der mathematischen Notwendigkeit hinweist, die die platonische Dialektik der Ideen für sich beansprucht.

Es bedarf da keiner Figuren,

d.h. keiner von

außen beigebrachten Konstruktion, auf die dann wiederum der Beweis als ein Äußeres folgte, sondern der Weg des Gedankens geht, wie es im 6. Buch des platonischen Staates heißt, ganz von Idee zu Idee, ohne irgend etwas von außen hereinzunehmen. Bekanntlich ist es das Verfahren der Dihairesis, der

sachgerechten Durchgliederung des Gemeinten auf die in ihm gelegenen Unterschiede hin, worin Plato die Erfüllung seiner Forderung an das Denken erblickt. Wenn Aristoteles an diesem Verfahren der Begriffseinteilung unter dem Maßstab der logischen Schlüssigkeit Kritik übt!” und damit »die Dialektik vom Beweise trennt«, so folgt ihm Hegel in dieser Kritik ganz gewiß nicht. Das Ideal der logischen Schlüssigkeit bleibt hinter dem philosophischen Ideal des Beweisens, der immanenten Fortentwicklung des Ge-

dankens, sehr viel weiter zurück, als die Folgerichtigkeit des einteilenden und definierenden platonischen Gesprächs, das freilich nicht deduziert, son-

dern im Austausch von Frage und Antwort sachliche Verständigung erzielt. Die spekulative Bewegung des platonischen Dialogs unterliegt einer solchen logischen Kritik in Wahrheit nicht. Nur wo Plato selbst im monologischen Stile des Parmenides und Zeno »Dialektik: treibt, fehlt derselben nach

Hegel die Einheit immanenter Entwicklung und »Verpilzung«. — Wenden wir uns nun zu Hegels Selbstanknüpfung an die aristotelische Philosophie, so sind Verständnis und Mißverstand ähnlich gemischt. Die

eigentliche Logik des dialektischen Verfahrens vermag sich auf Aristoteles, wie aus dem Gesagten hervorgeht, überhaupt nicht zu berufen. Es ist vielmehr eine höchst paradoxe Wendung, durch die Hegel der allseitigen Empirie des aristotelischen Verfahrens den echten Rang des Spekulativen zuerkennt. Wie sehr er sich auf der anderen Seite inhaltlich in der aristotelischen Philosophie wiedererkennt, lehrt das Aristoteles-Zitat, mit dem er die

Darstellung seines Systems in der Enzyklopädie schließt. Eine genauere Prüfung der Interpretation, die er dieser Stelle in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie gewidmet hat, ist nun überaus lehrreich. Sie findet sich an zwei Stellen: XIV, 330ff. und- im Anschluß an De anima Ill, 4—- auf S. 390ff. Daß Aristoteles hier die wahrhaft spekulative

Identität des Subjektiven und Objektiven als die höchste Spitze seiner Metaphysik lehrt, ist unbestreitbar. Hegel ist sich auch darüber im klaren, daß

Aristoteles dieser Identität trotzdem nicht die prinzipielle systematische Funktion gibt, die für den spekulativen Idealismus gilt. »Das Denken ist 17 Analyt. Pr. I, 31.

Hegel und die antike Dialektik

23

dem Aristoteles ein Gegenstand wie die anderen, - eine Art von Zustand. Er sagt nicht, es seiallein die Wahrheit, Alles sei Gedanke; sondern er sagt, esist

das Erste, Stärkste, Geehrteste. Daß der Gedanke, als das zu sich selbst sich Verhaltende, sei, die Wahrheit sei, sagen wir. Ferner sagen wir, daß der Gedanke alle Wahrheit sei; nicht so Aristoteles... Wie jetzt die Philosophie spricht, drückt sich Aristoteles nicht aus; dieselbe Ansicht liegt aber durchaus zu Grunde.« Sehen wir zu, ob wirklich dieselbe Ansicht zugrunde liegt. Es geht hier beim Verständnis der aristotelischen Textstellen ohne Zweifel um Nuancen. Indessen ist es keine Frage der Lesarten, auf die es dabei ankommt. Mankann vielmehr, von dem von Hegel selbst gelesenen Text ausgehend, die leisen

Verschiebungen erkennen, die er mit dem aristotelischen Gedanken vornimmt. Hegel stellt ganz korrekt dar, wie Aristoteles den höchsten Nous von

dem her, was er denkt, charakterisiert.

Der Nous

denkt sich selbst

»durch Annahme des Gedachten als seines Gegenstandes. So ist er rezeptiv: er wird aber gedacht, indem er berührt und denkt; so daß der Gedanke und

das Gedachte dasselbe ist.« Das interpretiert Hegel so: »Der Gegenstand schlägt um in Aktivität, Energie.« Ohne Zweifel meint es Aristoteles anders, nämlich daß umgekehrt das Denken »Gegenstand«, d.h. Gedachtes wird. Und weiter glaubt Hegel mit Aristoteles diesen Umschlag in Energie zu begründen, wenn er bei Aristoteles liest: »Denn das Aufnehmende des Gedachten und des Wesens ist der Gedanke.« Deutlicher noch 390: »Sein Aufnehmen ist Tätigkeit, und bringt das hervor, was als Aufgenommenwerdendes

erscheint, - er wirkt!®, sofern er hat.« Hegel denkt also das

Aufnehmen schon als Tätigkeit. Auch das ist irrig. Aristoteles meint ohne Zweifel, daß das, was aufnehmen kann, den Charakter des Denkens zwar auch schon hat, daß aber dies Denken seine Wirklichkeit erst dann hat, wenn es aufgenommen hat; und er folgert daraus, daß das Wirken und nicht das

Können das Göttliche am Denken ist. Diese Folgerung findet sich der Sache nach zwar auch in Hegels Paraphrase, aber nicht als Folgerung; vielmehr setzt Hegel den Vorrang des Wirkendseins so selbstverständlich voraus, daß er den ganzen Zusammenhang von Aufnehmen - können des Gedankens und Haben gar nicht mehr als begründenden Gedankengang erkennt. Soist__sein Ergebnis zwar richtig: »der Nous denkt nur sich selbst, weil er das Vortrefflichste ist« (391). Aber dieser Satz meint für Hegel, daß selbstverständlich das Selbst des Denkens, die freie Tätigkeit, und nicht etwa ein Gedachtes das Höchste ist. Für Aristoteles dagegen muß zur Bestimmung des Höchsten erst einmal und gerade vom Gedachten ausgegangen werden. Denn alles Denken ist um des Gedachten willen. Er schließt so: Wenn der _ 18 Im Text steht der Editions- oder Druckfehler: ver wird«. Vgl. 331: »Es wirkt, sofern es hat«, und im Fortgang von 390: »das Ganze des Wirkens...«, »das Wirkendste«.

24

Hegel

Nous das Höchste sein soll — wie feststeht -, darf das, was er denkt, das Gedachte, nichts anderes sein als er selbst. Deshalb denkt er sich selbst!?.

Diese Ordnung der Dinge entspricht der platonischen Gedankenführung im Sophistes. Dort wird dem Sein zunächst die Bewegung des Erkanntwerdens und Gedachtwerdens zugesprochen und dann erst die Bestimmung des Lebens und der Bewegtheit des Denkens?®. Auch dort also liegt am nächsten, vom Gedachtwerden auszugehen und nicht primär vom Sichselberdenken. Das bedeutet aber, daß das Sichselberdenken, das mit Seele, Leben,

Bewegung in einer Reihe steht, nicht als »Tätigkeit« gedacht wird. Energeia, das Am-Werk-Sein, soll nicht den Ursprung in der freien Spontaneität des Selbst formulieren, sondern das uneingeschränkte volle Sein des Schaffens-

vorgangs, der sich an dem Geschaffenen, dem Ergon vollzieht. Hegel stellt also die griechische Form der »Reflexion in sich« sozusagen vom falschen Ende her dar, nämlich von dem aus, was er selbst als die eigentliche Entdekkung der neueren Philosophie preist, daß das Absolute Tätigkeit, Leben, Geist ist. Die Umdeutung des griechischen Textes ist hier nicht so handgreiflich wie bei der oben behandelten Platostelle. Das hat seinen letzten Grund darin, daß der Begriff des Lebens, von dem her die Griechen das Sein denken, auch

für Hegels kritische Auseinandersetzungen mit der Subjektivitätsphiloso-

phie der Neuzeit eine leitende Funktion behält. Eine unaufhebbare Differenz besteht freilich doch, sofern Leben von Hegel immer schon vom Geiste her, von dem Sichselbsterkennen im Anderssein aus, als »Reflexion in sich«

bestimmt wird, während die Griechen umgekehrt das, was sich selbst bewegt bzw. was den Anfang der Bewegung in sich selber hat, als das Erste denken, und von da aus, also von einem welthaft begegnenden Seiendenher,

die Struktur der Selbstbezüglichkeit auf den Nous übertragen. Ein besonders aufschlußreicher Text, an dem sich diese Differenz zeigen läßt, ist De anima II1 6, 430b 20ff. Dort wird geradezu aus dem Gegensatz-

verhältnis von Steresis und Eidos auf das Verhältnis des Erkennenden und Erkannten geschlossen. Wo der Gegensatz der Steresis fehlt, denkt das Denken sich selbst, das heißt, liegt die reine Selbstvergegenwärtigung des Eidos vor. Es ist also die Selbstbezüglichkeit des Seins, der Gedanke, was 19 Die sorgfältige Analyse von Hegels Übersetzung zu De anima III, 4-5, die Walter Kern in Hegel-Studien 1 (S. 49ff.) veröffentlicht hat, bestätigt sehr schön die Richtung, in der das Aristoteles-Verständnis Hegels sich bewegt, und ergänzt meine obigen Ausführungen. Allerdings würde ich nicht glauben, daß erst die späteren Phasen von Hegels Aristoteles-Verständnis die systematischen Konsequenzen des absoluten Idealismus hervortreten lassen, und deswegen nicht gern von Mißverständnis reden, sondern eher von einem fortschreitenden Verständnis, das immer und notwendig-nicht nur bei Hegel- die Einformung in das eigene Denken bedeutet.

20 Soph. 248dff. [Vgl. dazu meine Arbeit »Über das Göttliche im frühen Denken der Griechen«, Ges. Werke Bd. 6, S. 154-170.]

Hegel und die antike Dialektik

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ihm den Charakter des Sichdenkens gibt, und nicht eine Selbstbezüglichkeit des Denkens, die als solche das höchste Sein wäre. Auch hier deutet Hegels Darstellung die Dinge um. Die aristotelische Ordnung des Gedankengangs ist dabei völlig eindeutig; das Sich-Unterscheiden der Dinge ist das erste. Das Unterscheiden, das das Denken vollzieht, ist ein zweites. Das Unterscheiden, das das Denken an sich selbst vollzieht, so daß es »sich selber denkt,, ist erst ein drittes, zu dem die Konsequenz des Gedankens nötigt. Es

ist also nur das Resultat, in dem sich Hegel und Aristoteles begegnen, die Struktur der Selbstbezüglichkeit als solche. Kehren wir von diesen inhaltlichen Konvergenzen und Divergenzen, die sich zwischen Hegel und der griechischen Philosophie zeigen, zum eigentlich Logischen zurück, zu der Frage, wie die Dialektik von Hegel zur Form des philosophischen Beweises erhoben wird, so läßt trotz aller Anknüpfung an die eleatische und platonische Dialektik das Vorbild der Griechen hier im Stich. Was Hegel in den Griechen mit Recht erkennt, ist das, was er überall

erkennt, wo Philosophie ist: das Spekulative. Die Sätze der Philosophie lassen sich nicht als Urteile im Sinne der prädikativen Logik verstehen. Das gilt nicht nur für ausgesprochen »dialektische« Denker wie Heraklit oder Plato. Es gilt, wie Hegel ganz richtig sieht, auch für Aristoteles, obwohl es Aristoteles gewesen ist, der die Struktur der Prädikation nach ihrer logischen Form wie nach ihrem ontologischen Grunde aufgeklärt und damit die Entzauberung des Geredes geleistet hat, das von der Sophistik kultiviert worden war. Was ist es, das Hegel ermöglicht, mit solcher Sicherheit im Aristoteles das Spekulative zu erkennen? Es ist dies, daß er dank seiner denkerischen Kraft

durch die erstarrte Schulsprache der Philosophie hindurchdringt und in seinem Aristoteles-Verständnis der Spur des Spekulativen folgt, wo immer sie sich zeigt. Wir wissen heute viel besser, welche Leistung Hegel damit vollbringt. Denn wir sind im Begriff, die Begriffsbildung des Aristoteles aus der Wirksamkeit des sprachlichen Instinktes, dem sein Denken folgt, aufzu-

klären?!. Damit schließt sich der Kreis unserer Betrachtung. Das war ja der Punkt gewesen, an dem Hegel sein eigenes philosophisches Bemühen in einer _ durch die neuzeitliche Situation bedingten Weise vor eine genau umgekehrte Aufgabe gestellt sah, als er sie bei den Alten fand. Jetzt gelte es, die festen Verstandessetzungen »zu verflüssigen und zu begeisten«. Es ist die Auflö-

sung alles Positiven, Entfremdeten, Anderen in das Heimische des Beisich-

seins des Geistes, die auch Hegels Intention der »Wiederherstellung« des philosophischen Beweises motiviert. Zweierlei vermochte Hegel zur Lösung dieser Aufgabe zu dienen: die 2 Vgl. die Arbeiten von Ernst Kapp, Bruno Snell, Günter Patzig, Wolfgang Wieland.

26

Hegel

dialektische Methode der Zuspitzung zum Widerspruch auf der einen Seite und die Beschwörung des spekulativen Gehaltes, der im logischen Instinkt der Sprache verborgen ist, auf der anderen Seite. Für beides war ihm die

antike Philosophie hilfreich. Seine dialektische Methode hat er sich erarbeitet, indem er die antike Dialektik zur Aufhebung des Widerspruchs in jeweils höherer Synthese fort- und umbildete. Wir sahen, daß diese Berufung nur ein halbes, nur ein den Inhalt, nicht ein die Methode betreffendes

Recht besitzt. Dagegen war für die andere Seite der Aufgabe, für die spekulative Hilfe, die der logische Instinkt der Sprache dem Denken zu leisten vermag, die antike Philosophie ein Vorbild ohnegleichen. Indem Hegel die entfremdete Schulsprache der Philosophie — ohne jeden Purismus — zu überwinden trachtete, ihre Fremdworte und Kunstausdrücke mit den Be-

griffen des gewöhnlichen Denkens durchsetzte, gelang ihm die Einholung des spekulativen Geistes seiner Muttersprache in die spekulative Bewegung des Philosophierens, wie sie die natürliche Mitgift des beginnenden Philosophierens der Griechen gewesen war. Sein Methodenideal, die Forderung eines immanenten Fortgangs, in dem sich die Begriffe zu immer größerer Differenzierung und Konkretisierung weiterbewegen, bleibt dabei selber auf den Anhalt und die Leitung durch den logischen Instinkt der Sprache angewiesen. Die Darstellung der Philosophie kann sich auch nach Hegels Einsicht niemals ganz von der Form des Satzes und dem Schein einer prädikativen Struktur, der mit ihr gegeben ist, ablösen. Hier scheint es mir sogar geboten, über Hegels eigene Selbstauffassung hinauszugehen und anzuerkennen, daß die dialektische Fortbewegung des Gedankens und das Horchen auf den spekulativen Geist der eigenen Sprache am Ende gleichen Wesens sind und selber eine dialektische Einheit, d.h. eine

unlösbare Zusammengehörigkeit darstellen. Denn ob in der Form ausdrücklicher Darstellung, im Widerspruch und seiner Aufhebung, oder ob in der verhüllten Spannung des waltenden Sprachgeistes - das Spekulative ist nur wirklich, wenn es nicht nur in der Innerlichkeit des bloßen Meinens zurückbehalten ist, sondern zum Ausdruck kommt. Bei der Analyse des

spekulativen Satzes, die Hegel in der Vorrede zur Phänomenologie gibt, wird die Rolle deutlich, welche Ausdruck und ausdrückliche Darstellung durch die dialektische Zuspitzung zum Widerspruch für die Idee des philosophischen Beweises spielt. Es ist nicht nur eine Forderung des natürlichen Bewußtseins, in ihm selbst die spekulative Wahrheit aufgewiesen zu bekommen, die damit erfüllt wird. Es ist vielmehr eine grundsätzliche Stellung Hegels gegen den Subjektivismus der Neuzeit und seine Auszeichnung der Innerlichkeit, wenn er der Forderung des Verstandes derart Rechnung trägt. »Das Verständige ist das schon Bekannte und das Gemeinschaftliche der Wissenschaft und des unwissenschaftlichen Bewußtseins.« Hegel sieht die Unwahrheit der reinen Innerlichkeit nicht nur in solchen welkenden Gestal-

Hegel und die antike Dialektik

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ten wie denen der schönen Seele und des guten Willens. Er sieht sie auch in allen bisherigen Formen philosophischer Spekulation, sofern in ihnen nicht zur Ausdrücklichkeit erhoben wird, welche Widersprüche in der spekulativen Einheit philosophischer Begriffe aufgehoben sind. Der Begriff der Darstellung und des Ausdrucks, der das eigentliche Wesen der Dialektik, der Wirklichkeit des Spekulativen ausmacht, muß dabei offenbar als ein Seinsvorgang verstanden werden, wie das exprimere des Spinoza. Darstellung,

Ausdruck,

Ausgesprochensein

bezeichnen

ein Begriffsfeld,

hinter dem eine große neuplatonische Tradition steht. »Ausdruckt ist nicht eine nachträgliche Hinzufügung aus subjektivem Belieben, durch die das innerlich Gemeinte kommunikativ gemacht wird, sondern ist das ZumDasein-Kommen des Geistes selbst, seine Darstellung. Die neuplatonische

Herkunft dieser Begriffe ist nicht von ungefähr. Die Gedankenbestimmungen, in denen das Denken sich bewegt, sind, wie Hegel betont, nicht äußere

Formen, die wir wie Hilfsmittel auf Vorgegebenes anwenden, sondern sie haben uns immer schon eingenommen,

und unser Denken besteht darin,

daß wir ihrer Bewegung folgen. Jene Hingerissenheit vom Logos, die die Griechen der klassischen Zeit wie einen Taumel erfuhren und aus der Plato im Namen des Sokrates die Wahrheit der Idee erstehen ließ, gerät am Ende

zweier Jahrtausende der Geschichte des Platonismus in die Nachbarschaft der spekulativen Selbstbewegung des Gedankens, die Hegels Dialektik entfaltet. Unsere Prüfung von Hegels Selbstanknüpfung an die Griechen lehrt uns also, daß darin noch eine andere Konvergenz zwischen Hegel und den Griechen wirksam ist, eine Affinität im Spekulativen selbst, die Hegel an den Texten halb errät, halb mit Gewaltsamkeit hervorreizt und in der er sich mit

der Sprachbewegtheit des griechischen Gedankens von seinem Eigensten her begegnet, der kernhaften Verwurzelung in seiner Muttersprache, ihrem Tiefsinn in Sprichwort und Wortspiel, und mehr noch ihrer Aussagekraft aus dem Geiste Luthers, der Mystik und des pietistischen Erbes seiner

schwäbischen Heimat. Zwar hat die Form des Satzes nach Hegel kein philosophisches Recht innerhalb des eigentlichen Körpers der philosophischen Wissenschaft. Aber die Hülle des Satzes ist so gut wie die der lebendigen Nennkraft des Wortes nicht nur eine leere Hülle, sondern ein Bergendes. Sie verwahrt in sich, was der dialektischen Aneignung und Entfaltung zugeführt werden soll. Da nun für Hegel, wie wir schon eingangs betonten, die adäquate Darstellung der Wahrheit ein unendliches Geschäft ist, das nur in Annäherungen und in oft wiederholten Versuchen vorwärtsgetrieben werden kann, sind die Produktionen des logischen In- _ stinktes in der Hülle der Worte, Satzformen und Sätze selber Träger des spekulativen Gehaltes und gehören in Wahrheit mit zu dem »Ausdruck«, in dem die Wahrheit des Geistes sich darstellt. Nur wenn man diese andere

28

Hegel

Seite der Nähe der griechischen Philosophie zu der Hegelschen Dialektik erkennt, die Hegel selbst nicht ausdrücklich durchreflektiert hat und die sich bei ihm nur sehr gelegentlich und vorwortlich andeutet, gewinnt Hegels Berufung auf die antike Dialektik die volle Evidenz einer echten Affinität. Sie behält Wahrheit über die Differenz hinaus, die das Methodenideal der Neuzeit darstellt, und. über die Gewaltsamkeit hinaus, mit der Hegel dasselbe an der antiken Überlieferung hervorkehrt. Man darf sich hier der Entsprechung zwischen Hegel und seinem Freunde Hölderlin erinnern, der als Dichter eine ganz ähnliche Stellung in der »querelle des anciens et des modernes« einnimmt: Wie Hölderlin den antiken Kunstverstand zu erneuern trachtet, um der übermäßigen Innigkeit der Moderne Halt und Bestand zu verleihen, so stellt die Weltlichkeit des antiken Bewußtseins, die sich in der

rücksichtslosen Kühnheit ihrer Dialektik ausspricht, dem Denken ein Vorbild dar. Aber nur weil es der gleiche logische Instinkt der Sprache ist, der in Hegel wie in den Griechen wirksam ist, wird das bewußt gewählte Vorbild,

gegen das Hegel seine eigene, überlegene Wahrheit des selbstbewußten Geistes durchzusetzen sucht, zugleich zu einer echten Hilfe des Gedankens. Hegel selbst ist sich, wie wir sahen,

nicht ganz bewußt,

warum

seine

»Vollendung« der Metaphysik eine Rückkehr zu ihrem großen Beginn einschließt.

2. Die verkehrte Welt 1966

Die »verkehrte Welt: in Hegels Geschichte der Erfahrung des Bewußtseins ist einer der schwierigsten Abschnitte im Zusammenhang des Ganzen. Ich möchte versuchen, diese Lehre von der verkehrten Welt im Kapitel »Kraft

und Verstand: als für den ganzen Aufbau der »Phänomenologie des Geistes« zentral zu kennzeichnen. Ich kann dabei an das anknüpfen, was R. Wiehl! dargelegt hat: daß man den Anfang der Phänomenologie nicht ohne einen direkten Blick auf die kantische Philosophie überhaupt verstehen kann. Wenn man sich die Hauptgliederung der Phänomenologie des Bewußtseins vor Augen stellt, so ist es mit Händen zu greifen, daß Hegel sich die Aufgabe gestellt hat, zu zeigen: wie hängen eigentlich die verschiedenen Erkenntnisweisen, deren Zusammenwirken Kants Kritik untersucht, innerlich zusam-

men, nämlich Anschauung, Verstand und Apperzeptionseinheit oder Selbstbewußtsein? Das Kapitel über die Phänomenologie des Bewußtseins ist letzten Endes durch die Frage beherrscht: Wie wird Bewußtsein Selbstbewußtsein oder wie wird dem Bewußtsein bewußt, daß es Selbstbewußtsein ist? Die Be-

hauptung, daß das Bewußtsein Selbstbewußtsein ist, ist eine zentrale Lehre der neueren Philosophie seit Descartes. Insofern liegt Hegels Idee der Phäno-

menologie in der cartesianischen Linie. Wie sehr das der Fall ist, lehren zeitgenössische Parallelen, insbesondere das weithin unbekannte Buch von

Sinclair, dem Freunde Hölderlins und Hegels, an den die »Sphragis« in der Rheinhymne gerichtet ist, das Wahrheit und Gewißheit betitelt ist. Das Werk versucht, gewiß im gleichen, durch Fichte bestimmten Sinne und ungefähr gleichzeitig mit Hegel, den Weg von der Gewißheit zur Wahrheit ganz ausdrücklich vom cartesianischen Begriff des cogito me cogitare aus durchzuführen. Nun steht es für Hegel von vornherein fest, wenn er die Erscheinung des Bewußtseins in seiner »Phänomenologie des Geistes« beschreibt, daß das,

worin sich das Wissen vollenden, worin sich die völlige Übereinstimmung

von Gewißheit und Wahrheit allein ergeben kann, nicht das bloße, seiner

1 R. Wiehl, Über den Sinn der sinnlichen Gewißheit in Hegels Phänomenologie des

Geistes. Hegel-Studien Beiheft3(1966), 5. 103-134.

30

Hegel

selbst bewußt werdende Bewußtsein der gegenständlichen Welt sein kann, sondern daß es die Seinsweise der einzelnen Subjektivität übergreifen und Geist sein muß. Auf dem Wege zu diesem Resultat steht als die erste These Hegels: »Bewußtsein« ist »Selbstbewußtsein«. Es ist die wissenschaftliche Aufgabe des ersten Teils der Phänomenologie, diese These auf eine einleuchtende Weise zu rechtfertigen, indem Hegel die Überführung des Bewußtseins ins Bewußtsein seiner selbst, d.h. den notwendigen Fortgang des Bewußtseins zum Selbstbewußtsein »beweist«. Insofern ist die kantische Begrifflichkeit: Anschauung, Verstand, Selbstbewußtsein von Hegel der Gliederung bewußt zugrunde gelegt worden, und der Beitrag vonR. Wiehl zeigt, wie man von rückwärts her die sinnliche Gewißheit als den Ausgangspunkt verstehen muß, nämlich als das sich über sein eigenes Wesen als Selbstbewußtsein noch ganz unbewußte Bewußtsein. Im ganzen besteht das Buchstabieren Hegels, dem unsere Bemühungen gelten, wenn

ich noch diese methodische

Vorbemerkung

machen

darf,

darin, daß man verifiziert, soweit es gelingt, was Hegel selber fordert, wenn er sagt, es komme auf die Notwendigkeit des Fortgangs an. Wir müssen begreifen, wir als das hier zuschauende Bewußtsein — das ist der Standpunkt der Phänomenologie —, welche Gestalten des Geistes auftreten und in welcher Folge dieselben auseinander hervorgehen. Ein solcher Anspruch auf Notwendigkeit des dialektischen Fortgangs realisiert sich und verifiziert sich immer

wieder,

wenn

man

genau liest.

Genau lesen hat nämlich bei Hegel immer — und nicht nur bei ihm - die merkwürdige Folge, daß genau das, was man in mühsamen Interpretationsversuchen des gelesenen Abschnittes gerade herausbekommen hat, im folgenden Abschnitt des Textes ausdrücklich geschrieben steht. Das ist die Erfahrung, die jeder als Leser Hegels machen wird. Je mehr er sich den Inhalt des Gedankenganges expliziert, den er gerade vor sich hat, desto sicherer kann er sein, daß im folgenden Abschnitt des Hegeltextes diese Explikation selber folgt. Das schließt ein (und das hat für das Wesen der Philosophie zentrale Bedeutung, ist aber vielleicht nirgends so greifbar wie bei Hegel), daß eigentlich immer vom Selben die Rede ist und daß auf verschiedenen Niveaus der Explikation sich als der eigentliche und einzige Gegenstand

oder Inhalt das Selbe darstellt und herausstellt. Dieses Selbe hat am Anfang der Phänomenologie die Gestalt, daß Bewußtsein Selbstbewußtsein ist; es ist das Selbst des Bewußtseins, das als der

wahre Gegenstand des Wissens heraustreten soll. So muß man von vornherein die Aufgabe, die sich Hegel in der Phänomenologie gestellt hat, verstehen; das Selbstbewußtsein, die Synthesis der Apperzeption Kants, nicht als etwas Vorausgegebenes, sondern als etwas selber zu Beweisendes zu behandeln, und das heißt: es als die Wahrheit in allem Bewußtsein zu beweisen.

Alles Bewußtsein ist Selbstbewußtsein. Wenn wir dies als das Thema erken-

Die verkehrte Welt

31

nen, dann ist der systematische Ort deutlich, den das Kapitel von der verkehrten Welt, das ich kurz vorstellen möchte, einnimmt. Es ist im Kapitel »Kraft und Verstand«, wo sich die nachdenkliche und schockierende Wendung von der verkehrten Welt findet. Hegel ist ein Schwabe und Schockieren ist seine Leidenschaft, wie die aller Schwaben. Aber was er hier meint und wie er zu dieser Wendung gelangt, ist besonders schwer einzulösen. Ich werde zu zeigen versuchen, was sich unter Zuhilfenahme der historischen Interpretationsinhalte unter Hegels »verkehrter Welt: verstehen läßt und in welchem Sinne die wahre Welt, die sich hinter den Erscheinungen verbirgt, »verkehrt« genannt wird. Es handelt sich um den Text von S. 110 an?. Die entscheidende Wendung von der verkehrten Welt folgt auf S. 121. Die wahre Welt, von der Hegel

S. 111 spricht, ist die Welt, deren Verkehrung zur verkehrten Welt aufS. 121 dargelegt wird. Hier (111) ist sie noch nicht als verkehrte Welt erkannt, sondern will die wahre Welt, nichts als die Wahrheit sein.

Der Gang des Gedankens war der, daß Hegel zunächst den Begriff der Kraft als die Wahrheit der Wahrnehmung erkennt. Das Bewußtsein der Wahrnehmung, dem das philosophische Bewußtsein zuschaut, erfährt, daß die Wahrheit, die mit dem Ding und seinen Eigenschaften gemeint war, nicht das Ding und seine Eigenschaften sind, sondern die Kraft und das Spiel der Kräfte. Das ist der Schritt, den Hegel für das philosophische Bewußtsein, wie ich meine, zu begreifen fordert. Es soll einsehen, daß die Zerset-

zung des Dinges in die vielen Dinge, d.h. der Standpunkt der Atomistik, der sich ergibt, wenn

man,

z.B. mit den Mitteln der modernen

chemischen

Analyse, an das, was ein Ding ist oder was seine Eigenschaften sind, herangeht, nicht ausreicht, um zu verstehen, was eigentlich die Wirklichkeit ist, ın

der die Dinge mit ihren Eigenschaften wirklich sind. Das Wahrnehmen bleibt zu äußerlich. Es nimmt Eigenschaften und Dinge, die Eigenschaften haben, wahr, d.h. für die Wahrheit. Aber ist das so Wahrgenommene,

ist

der chemische Aufbau der Dinge ihre ganze und wahre Wirklichkeit? Man muß erkennen, daß hinter diesen Eigenschaften in Wahrheit Kräfte stehen,

die ihre Wirkungen gegeneinander ausüben. Die Konstitutionsformel des Chemikers sagt die Konstitution eines Stoffes aus. Aber was dieser in Wahrheit ist, das ist, wie gerade die moderne Entwicklung und Verwandlung der Chemie in Physik bestätigt hat, ein Spiel von Kräften. Ich habe damit den Ort erreicht, an dem die genauere Analyse einzusetzen hat. Die Dialektik der Kraft gehört zu den Stücken Hegels, die von ihm selbst am besten kommentiert sind, weil sie nicht nur in der Phänomenolo-

gie auftreten, sondern in weit größerer Ausführlichkeit in der Logik bzw. in

2 Zugrunde gelegt wird folgende Ausgabe: G. W.F. Hegel, ee stes. Hrsg. v. J. Hoffmeister, 6. Aufl. Hamburg 1952.

des Gei-

_

32

Hegel

der Enzyklopädie. Die Dialektik der Kraft hat etwas so unmittelbar Zwingendes und Einleuchtendes, daß Hegel hier für jedermann so weit von aller Sophistik entfernt ist, wie er sich selber sieht. Es ist überzeugend, daß es eine falsche Abstraktion ist zu sagen: hier ist eine Kraft, welche sich äußern will und die sich äußert, wenn sie zur Äußerung sollizitiert wird. Darin bestehe die Wirklichkeit dessen, was hier vorliegt. Es ist doch kein Zweifel und für jeden einzusehen, daß das, was eine Kraft zur Äußerung sollizitiert, in Wahrheit selber Kraft sein muß. Was da ist, ist also stets nur ein Spiel der Kräfte: Sollizitieren und Sollizitiertwerden ist in diesem Sinne derselbe Vorgang. Ebenso gilt - und das ist die Dialektik von Kraft und Äußerung -, daß Kraft gar nicht die gestaute Kraft ist, die sich in sich zurückbehält, sondern immer nur als ihre eigene Wirkung ist. Es war ein äußerliches Verständnis, das das Verhältnis von identischsich-gleichbleibendem, substanziellem Ding und den sich an ihm verändernden, akzidentellen Eigenschaften für das Wirkliche hielt. Was die innere Wirklichkeit des Dinges ist, das ist, wie uns bewußt wird, Kraft. Aber wieder ist es eine falsche Abstraktion zu meinen, es gäbe die Kraft für sich,

die von ihrer Äußerung und von dem Zusammenhang aller Kräfte isoliert ‚existierte«. Was existiert, sind Kräfte und ihr Spiel. Wenn man entsprechend die Gestalten des Bewußtseins, die diesen Formen der gegenständlichen Erfahrung entsprechen, gegenüberstellt, so ist das Wahrnehmen ein äußerliches Verhalten, das sich Gleichbleibendes und an ihm sich Veränderndes wahrzunehmen meint. Im Vergleich dazu begreift die Wissenschaft, die hier Verstand heißt, weil sie hinter diese Äußerlichkeit zurückgeht, dahinter zu

kommen sucht und nach den Gesetzen fragt, welche die Kräfte regieren, sehr viel besser, was die Wahrheit der Wirklichkeit ist.

Das ist in der Tat der grundlegende Schritt, den Hegel hier (von S. 110 an) macht. Ich darf zu dieser Stelle eine allgemeine Bemerkung vorausschicken. Wenn man Hegels Phänomenologie analysiert, macht man immer die Beobachtung, daß jede neue Gestalt des Bewußtseins in zwei Formen dargelegt wird. Zunächst in einer für uns seienden Dialektik oder Aporetik; Hegel

zeigt, welcher begriffliche Widerspruch in dem vermeintlichen Gegenstand als solchem liegt, und zeigt ebenso, wie widersprüchlich sich uns das Bewußtsein von diesem Gegenstande darstellt, - und dann zeigt er die Bewegung auf, in der diese Widersprüche für das beobachtete Bewußtsein selber zur Erfahrung kommen. Wenn so das beobachtete Bewußtsein die Erfahrung des Widerspruchs macht, muß es seine Position aufgeben, d.h. seine Meinung über den Gegenstand ändern. Das ist er gar nicht, was er zu sein

schien. Das hat aber die Folge für unser Beobachten, daß es die Notwendigkeit begreift, nun zu einer anderen Bewußtseinsgestalt fortzugehen, von der man erwarten kann, daß das, was sie meint, wirklich wahr ist. Es wird uns bewiesen: dies Bewußtsein der sinnlichen Gewißheit, der Wahrnehmung,

Die verkehrte Welt

53

des Verstandes, hat nicht recht. Es ist kein wirkliches Wissen. Wir müssen also über das Bewußtsein, das in diesen Gestalten erscheint, hinausgehen. Denn es verwickelt sich in Widersprüche, die ihm das Bleiben bei seiner vermeintlichen Wahrheit unmöglich machen und uns deren Unwahrheit beweisen. Als das Bewußtsein, das es ist, z.B. das des Physikers, beharrt es freilich hartnäckig bei sich selbst und weigert sich, über sich hinauszugehen. Hegel drückt das so aus: es vergißt seine Einsicht immer wieder und ist und bleibt die gleiche Gestalt des Bewußtseins; wir, das philosophische Bewußtsein, müssen ein besseres Gedächtnis haben und begreifen, daß ein solches Wissen nicht alles Wissen ist und die von ihm begriffene Welt nicht die ganze Welt. Die Philosophie begreift also die Notwendigkeit, über dieses hartnäkkige Bewußtsein hinauszugehen. Wir werden zu verfolgen haben, wie das geschicht. Was zunächst entwickelt wird, ist der Widerspruch, wie er sich uns darstellt. Das ist eigentlich nicht die phänomenologische Dialektik. Denn

Hegel behandelt zunächst die Widersprüche,

die in dem Gedanken des

Gegenstandes, in seinem Wesen liegen: so ist die Dialektik von Wesen und

Unwesentlichem, von Ding und Eigenschaften, von Kraft und Äußerung im Begriff gelegen und gehört daher eigentlich zur Logik. Die phänomenologische Einsicht, die Hegel an ihnen gewinnt und um deren willen er sie überhaupt entwickelt, ist eine über das Wissen derselben, daß es nämlich

über das Wahrnehmen hinauszugehen hat- wenn es der eigentlichen Aufgabe des Verstandes genügen will, die ist, dahinterzukommen, was eigentlich ist. Wir blicken jetzt ins Innere. Das ist zunächst ganz schlicht gemeint, im Vergleich zu der Oberflächlichkeit der Unterscheidung von bleibendem Ding und wechselnden Eigenschaften. Sehen wir derart ins Innere hinein, so wird die Frage sein: was ist in diesem Inneren zu sehen? Was ist das innere Wesen der äußeren Erscheinung? Eines ist dabei klar: ins Innere sehen, ist Sache des Verstandes, nicht mehr der sinnlichen Wahrnehmung. Es ist das, was Plato mit dem Begriff des voeiv bezeichnet hat im Gegensatz zur aiodnonc. Der Gegenstand des »reinen Denkens« (voeiv) ist offenbar dadurch charakterisiert, daß er nicht sinnlich gegeben ist.

Insofern ist es überzeugend, daß Hegel (S. 111) von dem »innern Wahren« _-

spricht »als dem absolut Allgemeinen, also nicht nur sinnlich Allgemeinen,

welches für den Verstand geworden ist« — das ist das vonzov eilöoc, um mich

zunächst platonisch auszudrücken. In ihm »schließt sich erst über der sinnlichen als der erscheinenden Welt nunmehr eine übersinnliche als die wahre

Welt auf.« Es ist der Schritt Platos?. Das Allgemeine ist nicht ein dem Meinen vorschwebendes Gemeinsames der sinnlichen Erscheinungen - es _ 3 Vgl. Hegels Plato-Darstellung in seinen Vorlesungen. G.W.F. Hegel’s Werke, Bd. 14, Berlin 1833, S. 169ff.

34

Hegel

ist das övrwc öv, das eidog, das Allgemeine des Verstandes und nicht das des Sinnlichen in seiner erscheinenden Andersheit. Die hegelsche Fortsetzung bekommt nun einen sehr merkwürdigen Klang: »über dem verschwindenden Diesseits das bleibende Jenseits. « Hier rückt Plato mit dem Christentum eng zusammen — und da dieser Standpunktja nicht die letzte Wahrheit sein soll, hört man schon fast Nietzsche und seine Formulierung, daß das Christentum Platonismus fürs Volk ist. In der Tat ist die Struktur, die Hegel hier beschreibt, von einer äußersten begrifflichen Abstraktion, die, wie sich

zeigen wird, nicht nur die platonische und die christliche Position, sondern auch die der modernen Naturwissenschaft umfaßt. Diese übersinnliche Welt soll die wahre Welt sein. Sie ist das Bleiben im Verschwinden, ein Ausdruck, der sehr oft vorkommt bei Hegel. Wir wer-

den genau diesem Ausdruck noch begegnen, wenn es gilt, die verkehrte Welt zu verstehen. Denn, um es gleich vorweg anzuzeigen, wo es hingehtdort wird herauskommen: gerade das ist das Bleibende, das, was wirklich ist, wo alles immerfort verschwindet. Gerade das ist die wirkliche Welt,

darin ihr Bestehen zu haben, daß es immerfort Anderswerden gibt, beständiges Anderswerden. Beständigkeit ist dann nicht mehr der bloße Gegensatz zum Verschwinden, sondern sie ist selbst die Wahrheit des Verschwindens.

Das ist die These der verkehrten Welt. Wie kommt Hegel dahin? Ich möchte das nicht so sehr logisch nachkonstruieren, als vielmehr die Phänomene selber, von denen hier Hegel spricht,

so konkret vor Augen stellen, daß es gelingt zu sehen, was jeweils die Vermeintlichkeit an der Wahrheit, die das Bewußtsein zu haben meint, ist.

R. Wiehl hat mit Recht betont: das Meinen bleibt immer da, als die Ver-

meintlichkeit, die den ganzen Fortgang der Aufweisung der Gestalten des Bewußtseins treibt. So stellt Hegel jetzt die Frage, was hier das Bewußtsein meint: Was ist dieses Innere, in das nun der Verstand hineinblickt - was ist

dies Bewußtsein des Jenseits? Meint es ein leeres Jenseits, ist es die Vorform des unglücklichen Bewußtseins? Aber das ist nicht wahr, sagt Hegel. Dieses Jenseits ist nicht leer, denn »es kommt aus der Erscheinung her«, es ist ihre Wahrheit. Was für eine Wahr-

heit? Dafür findet er die glänzende Formulierung: dieses Jenseits ist die Erscheinung als Erscheinung. Das heißt: die Erscheinung, die nicht die Erscheinung eines anderen ist, sich nicht mehr unterscheidet von einem jenseits ihrer gelegenen, eigentlichen Sein, sondern die nichts als Erscheinung ist. Sie ist also nicht Schein gegen ein Wirkliches, sondern Erscheinung als das Wirkliche selbst. Erscheinung ist ein Ganzes des Scheins, so lautete die Formulierung aufS. 110. Damit war gemeint, daß die Erscheinung nicht bloße Äußerung einer Kraft ist, die mit ihrem »Erlahmen« sich selbst und ihre Wirkung aufhebt - vielmehr ist die Erscheinung das Ganze der Wirklichkeit. Sie hat nicht nur ihren Grund, sie ist als die Erscheinung des Wesens.

Die verkehrte Welt

35

Gegenüber dem Oberflächenschein der Rede von einem Ding, das Eigenschaften »hat«, ja selbst gegenüber der dahinterkommenden Einsicht in die Kraft, die sich äußert oder gestaut ist, tut sich dem Blick ins innere Wesen der Dinge der »absolute Wechsel des Spiels der Kräfte auf, in dem die Wirklichkeit besser erfaßt wird als in jenem oberflächlichen Blick des Wahrnehmens. Sofern sich dies Spiel der Kräfte als ein Gesetzliches erweist, sind es »die Erscheinungen« (z& pawoueva), die damit »gerettet sind«. »Das Einfache an dem Spiel der Kraft selbst und das Wahre desselben ist das Gesetz der Kraft« (114). Entsprechend heißt es in der Logik von den Reflexionsbestimmungen: »Ihr [sc. der Formbestimmungen] Schein vervollständigt sich zur Erscheinung. «* Die Wendung: »das Ganze des Scheins« führt auf diese Weise zu dem Begriff des Gesetzes. Es ist einleuchtend, daß das Gesetz ein Einfaches ist im Vergleich zu dem wechselnden Ineinanderspiel der aufeinander wirkenden Kräfte: Als das einfache Gesetz bestimmt es das Ganze der Erscheinungen. Der vermeintliche Unterschied in den Kräften, der die Wirkung der Kräfte ausmacht, Sollizitieren, Sollizitiertwerden, Gestautsein

und Sich-äußern, dieser Unterschied des Allgemeinen ist in Wahrheit einfach. Das ist sehr hegelisch ausgedrückt, aber man kann es phänomenologisch anschaulich verifizieren; dieser Unterschied ist in Wahrheit gar nicht der von voneinander getrennten Kräften, die für sich vorkommen und die

man nachträglich aufeinander bezieht: er ist die Erscheinung des einfachen und gleichen Gesetzes. So ist es das Naturgesetz, das eine, die Wirklichkeit der Mechanik schließlich beherrschende, d.h. die Erscheinungen voll erklärende Gesetz, was im

folgenden als die Wahrheit des Gegenstandes herauskommt. Das ist ein schr wichtiger Punkt. Hier darf man an jene Platodeutung erinnern, die die platonische Idee als das Naturgesetz interpretierte. Das war ungewußter Hegelianismus. Bei Hegel ist in der Tat dieser Schritt der Identifikation vollzogen. Aber es wird sich zeigen, warum er nicht bei dieser Gleichsetzung stehen bleibt’. Zunächst jedenfalls kann er sagen: Der allgemeine Unterschied »ist im Gesetze ausgedrückt als dem beständigen Bilde der unsteten Erscheinung«. Das Gesetz ist das Bleiben des Verschwindens. Die Wirklichkeit wird angesehen als die Welt der Gesetze, die über dem Ver- _ schwinden bleibt. »Die übersinnliche Welt ist hiemit ein ruhiges Reich von 4 G.W.F.Hegel,

Wissenschaft der Logik. Hrsg. v. G.Lasson, Leipzig 1951, T.2,

S. 101. 5 Doch konnte auch die Marburger Schule nicht bei dieser Konstruktion des Gegenstandes durch das Gesetz stehen bleiben, wie Natorps späterer Begriff des Urkonkreten zeigt - aber auch die Rezeption der Dialektik des späten Plato durch den späten Natorp,

die so auffallend nahe an Hegel heranrückt. Diesen Zusammenhängen ist inzwischen R. Wiehl in seinen vor der Publikation stehenden Studien zur platonischen und hegelschen

Dialektik nachgegangen. [R. Wiehl, Platos Ontologie in Hegels Logik des Seins. HegelStudien 3 (1965), S. 157-180.]

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Hegel

Gesetzen« - jenseits der wahrgenommenen Welt, aber doch in ihr gegenwärtig als »ihr unmittelbares stilles Abbild«. Das steht auf S. 114f. Hegel nennt es geradezu »stilles Abbild der beständigen Veränderung. Es ist kein Zweifel, daß diese Wendung nicht nur platonisch, sondern auch galileisch klingt. Galilei ist im folgenden da, oder noch besser Newton. Denn es istjadas vollendete System der galileischen Mechanik, das hier mit der Anspielung auf die Schwerkraft als die universale Definition des Körpers impliziert ist. Hegel zeigt nun, daß dieser Schritt in die übersinnliche, wahre Welt, der Schritt des Verstandes, nur ein erster Schritt ist, von dem man

einsehen muß, daß er nicht die ganze Wahrheit erreicht. Es ist unmöglich zu sagen: die Wahrheit der Wirklichkeit ist das Naturgesetz (wie Natorp etwa Plato interpretiert hat). Hegel zeigt nämlich, daß in einer solchen Formulierung wie der eines »Reiches der Gesetze« immer schon mitgesagt ist, daß sie nicht die ganze Erscheinung enthält. Das Bewußtsein verwickelt sich mit Notwendigkeit in die Dialektik von Gesetz und Fall, beziehungsweise es ergibt sich eine Vervielfachung der Gesetze; man denke in concreto daran,

wie etwa das Fallgesetz Galileis zu seiner Zeit von den Aristotelikern bestritten wurde, weil es nicht die volle Erscheinung deckte. Die volle Erscheinung enthältjain diesem Falle das Moment des Widerstandes, der Reibung mit. Ein anderes Gesetz muß hier zu dem Gesetz des freien Falls, den es nie gibt,

hinzukommen, das Bremsgesetz des widerstehenden Mediums. Und das heißt grundsätzlich: keine Erscheinung ist ein »reiner« Fall eines Gesetzes. Wir haben also im Falle unseres Beispiels zwei Gesetze, wenn wir wirklich das Resultat erzielen wollen, die wirkliche Erscheinung im stillen Abbild der

Gesetze darzustellen. Der Versuch, die Mechanik in dieser Weise auszubauen, daß sie mit ihren »unreinen« Fällen fertig wird, führt zwar zunächst zu einer Vervielfachung der Gesetze, aber sofern dadurch die Natur der Bewegungserscheinungen als Ganze »verstanden« wird, erschließt sich der Blick auf die Einheit der Gesetzlichkeit derselben, die ihre letzte Realisation in der Zusammenfassung von terrestrischer Physik und Himmelsmechanik findet. Das ist es, was nach Hegel im Ausdruck der allgemeinen Attraktion liegt, »daß alles einen beständigen Unterschied zu anderem hat« - und das will sagen, daß es nicht zufällige Bestimmtheiten (in der Form der sinnlichen Selbständigkeit« des Einen gegenüber dem Anderen) sind, auf denen aller Unterschied beruht, sondern die wesentliche Bestimmtheit jedes Körpers, ein Kraftfeld zu bilden. Das ist der neue Standort, von dem aus sich das Wesen der Kraft nicht im Unterschied von Kräften, sondern als ein Unterschied im Gesetz der Kraft selbst darstellt, so daß z.B. Elektrizität immer

positive und negative ist — als die »Spannung«, die wir elektrische Kraft nennen. Freilich, als solcher Unterschied der Vorzeichen ist sie nur im Verstande. Wenn so das Spiel der Kräfte als Gesetz gefaßt etwa positive und negative

Die verkehrte Welt

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Elektrizität ist, so meint das nichts als die Spannung, die in Wahrheit die elektrische Energie ist, und nicht etwa zwei unterschiedene Kräfte. Das also ist die Wahrheit des Spiels der Kräfte: die eine Gesetzlichkeit der Wirklichkeit, das Gesetz der Erscheinung®. Daß die Rede von unterschiedenen Kräften unwahr ist, dazu gibt es eine Entsprechung von der Seite des Bewußtseins. Es macht die Dialektik des Erklärens aus, daß das Gesetz von der Wirklichkeit, die es bestimmt, nur im Verstande unterschieden ist. Die Tautologie des Erklärens läßt sich etwa am Beispiel der Lautgesetze demonstrieren: man spricht da von den Gesetzen der Lautverschiebung, die den Lautwandel einer Sprache »erklären«. Aber die Gesetze sind natürlich nichts anderes als das, was sie erklären. Sie haben nicht eine Spur von anderem Anspruch. Jede grammatische Regel hat denselben tautologischen Charakter. Hier wird gar nichts erklärt, sondern wird lediglich als Gesetz, das die Sprache beherrscht, ausgesprochen, was in Wahrheit das Leben der Sprache

ist. Ich habe mit Absicht soeben »das Leben« der Sprache gesagt. Darauf zielt der Gedanke hin, und damit komme ich zu Hegels Lehre von der verkehrten Welt. Denn: was ist es denn eigentlich, was da überall fehlt, wo wir Gesetze

das Wechseln der Erscheinungen bestimmen lassen? Warum ist das noch nicht die wahre Wirklichkeit? Es fehlt eben dieser platonisch-galileischen Vorstellung von dem ruhigen Reich der Gesetze oder der einen einheitlichen Gesetzlichkeit die Wirklichkeit selber, das Sichverändern als solches. Hegel nennt es die Absolutheit des Wechsels, d. h. das Prinzip der Veränderung. So hat schon Aristoteles Plato kritisiert, die Ideen, die eiön, seien mehr aina akıynolasN)Kıvjoswg: Sie stellen mehr eine Antwort auf die Frage dar: »Was

ändert sich in der Natur nicht?«, als eine Antwort auf die Frage: »Was ist Natur?« Denn Natur, so sagt Aristoteles, ist ganz das, was die dpyn vis xıvnoswg Ev Eavıo Eyeı, d.h. was sich selbst von sich aus verändert. So schreibt Hegel am Schluß dieses Abschnittes, in dem die verkehrte Welt zuerst genannt wird (S. 121): »Denn die erste übersinnliche Welt war nur die unmittelbare Erhebung der wahrgenommenen Welt in das allgemeine Element« - wir interpretieren: = ascensus des platonischen Höhlengleichnisses, Aufstieg zur noetischen Welt der bleibenden Idee. — »Sie hatte ihr_—notwendiges Gegenbild an dieser. « Das ist die Schwäche der Ideenwelt, der wahrgenommenen Welt entgegengesetzt zu sein (als nichtseiender). Das Gleiche meint auch die kritische Wendung des Aristoteles, daß Platon die Welt verdoppelt: wozu dieses Abbild der wahrgenommenen Welt, die noetische Welt? Bleibt diese mathematisch figurierte Welt nicht das Entscheidende schuldig? Ist sie nicht nur die wahre Welt für diese im Wechsel _ bewegte, wahrgenommene Welt und entbehrt des Prinzips des Wechsels 6 Wissenschaft der Logik, T. 2, S. 124ff.

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Hegel

und der Veränderung, das doch das Sein der wahrgenommenen Wirklichkeit ausmacht’? So schließt Hegel: »das erste Reich der Gesetze entbehrte dessen, erhält es aber als verkehrte Welt.« Eine Welt, die die apyn xıvnoewcin sich enthält und als solche die wahre Welt ist, ist eine Verkehrung der platonischen Welt, in der Bewegung und Veränderung das Nichtige sein sollten. Auch diese Welt ist jetzt eine übersinnliche Welt, d.h. hier sind die Veränderungen nicht bloßes »anders«, also nichtseiend, sondern sind als Bewegungen verstanden. Sie ist nicht bloß das ruhige Reich der Gesetze, dem alle Veränderung gehorchen muß, sondern eine Welt, in der sich alles bewegt, weil es den Ursprung von Wechsel in sich enthält. Das scheint eine reine Umkehrung, und die moderne Forschung kam ganz von selber auf das Bild der »Umkehrung« für das Verhältnis des Aristoteles zur platonischen Ideenlehre. Nicht das oberste Eidos, sondern das zöde nı ist ja die verste Substanz« (]. Stenzel). Aber inwiefern kann sich durch diese Umkehrung des ontologischen Vorzeichens die wahre Welt eine verkehrte nennen? Wie sieht diese zweite übersinnliche Welt aus? Hier muß ich, um das Ganze einleuchtend zu machen, noch einmal zurückgreifen. Hegel hat als Beispiel für den Unterschied in der Kraft selbst die Elektrizität gegeben und das formalisiert zu der Dialektik von Gleichnamigem und Ungleichnamigem, welches Letztere bei der Elektrizität als der Unterschied des Positiven und Negativen erscheint. Hegels Beispiele brauchen einen aber nicht zu beschränken. Was Hegel jeweils durch die Beispiele illustriert, ist auch von ihm oft aus verschiedenen »Sphären« belegt. Hier führt einen der Ausdruck »gleichnamig« weiter. Griechisch heißt das Gleichnamige öuuvvuov oder lateinisch univocum. Das Gleichnamige ist - scholastisch gesehen — die Gattung. Gesetz und Gattung sind hier in eins gefaßt. Sie haben beide dieses an sich, daß sie eigentlich nur sind als die differenten Fälle. Das kann man sich bewußt machen und sagen: Das Gleichnamige sucht also, d.h. meint das Ungleichnamige. Die Gattung Huftier z. B. meint Pferde, Esel, Maulesel, Kamele usw.; das Ungleichnamige meint sie, das ist ihre Wahrheit. Und jede einzelne Art meint ebenso die differenten Individuen. Wenn wir nun das weiterdenken, so sehen wir, daß darin letzten Endes der Gedanke steckt: der Unterschied, das Differente, das

im Gleichnamigen nicht Ausgesagte oder Gefaßte, ist gerade das Wirkliche. Wieder erkennen wir darin ein antikes Motiv. Denn das gilt grundsätzlich für die aristotelische Kritik an der platonischen Idee und für das, was 7 Es ist hier der Ort, auf das Zwiespältige hinzuweisen, das Hegels Platoauffassung bestimmt. Einerseits sieht er ihn mit aristotelischen Augen: »Plato drückt das Wesen mehr als das Allgemeine aus, wodurch das Moment der Wirklichkeit ihm zu fehlen... scheint. «

Andererseits erkennt er in der Dialektik Platos dies negative Prinzip« (sc. der Wirklichkeit) an, wenn er sagt: »wesentlich ist es daran, wenn es die Einheit Entgegengesetzter ist«, Werke, Bd. 14, S. 322.

Die verkehrte Welt

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Aristoteles selber lehrt: das eiöoc ist nur ein Moment am zööe rı, oder, wie Hegel es S. 124 ausdrücken wird, diese übersinnliche Welt, welche die verkehrte ist, hat die Welt, die sie verkehrt, an sich selbst. Sie enthält das

Eidos. Es istjadas, was dies-da ausmacht, was im zööe nı ist und was auf die Frage des Verstandes: zi on; allein geantwortet werden kann, so wie esinder Kategorienschrift des Aristoteles steht. Auch Aristoteles kann nicht anders als mit Plato antworten. Wenn ich ein Dieses-hier habe und gefragt werde: was ist das?, dann kann ich nur das Eidos antworten. In diesem Sinne ist der

Standpunkt des Verstandes umfassend. Aber das heißt nicht, daß die Wirklichkeit nur das Eidos ist. Es ist umgekehrt: das, was wirklich ist, ist das Einzelne, das von dieser Artist und von dem gesagt werden kann, es sei von dieser Art. Aber warum kann Hegel sagen, dies Seiende der Erscheinung habe seine Umgekehrtheit als Verkehrtheit an sich selber? Warum heißt die wahre Wirklichkeit verkehrte Welt? Ich möchte einen Gedankengang entwickeln, der den Begriff der verkehrten Welt verständlich macht: Es ist nie und nimmer »reines« Eidos, was als

Erscheinung gegeben ist -— wenngleich nur in ihm und seinesgleichen das Eidos überhaupt da ist. Kein Ei gleicht dem anderen (Leibniz). Kein Fall ist ein reiner Fall eines Gesetzes. Die wirkliche Welt, wie sie gegenüber der »Wahrheit« des Gesetzes als Erscheinung gegeben ist, ist also in einem gewissen Sinne verkehrt; es geht in ihr nicht zu, wie es den Idealen eines abstrakten Mathematikers oder Moralisten entsprechen mag. Freilich besteht ihre lebendige Wirklichkeit gerade in dieser ihrer Verkehrtheit. Und das ist ihre Funktion im dialektischen Beweisgang der Phänomenologie: es wird sich ergeben, daß In-sich-verkehrt-sein heißt: Sich-gegen-sich-selberkehren, sich zu sich selbst verhalten, und das ist: Lebendig-sein. Indessen, hat Hegel den Sinn von Verkehrtheit als Unrichtigkeit überhaupt mit im Auge? Meint er nicht stets nur die dialektische Umkehrung und will auch hier sagen: Die wahre Welt ist nicht jene übersinnliche Welt der ruhigen Gesetze, sondern die Umkehrung derselben. Das Ungleiche des Gleichen, das Wechselnde ist das Wahre. In diesem Sinne macht die Verkeh-

rung -S. 123 unten - das Wesen der einen Seite der übersinnlichen Welt aus. Aber ausdrücklich mahnt Hegel, die Sache darf nicht sinnlich vorgestellt >

werden, als ob es sich um die Verkehrung (Umkehrung) eines Gesetzten, für sich Bestehenden handelte, als ob es also die erste übersinnliche Welt gebe und dann noch die zweite verkehrte. Die Verkehrung ist vielmehr, wie S.123 sagt, Reflexion in sich, nicht der Gegensatz zu einem anderen. Der dialektische Sinn dieser Reflexion in sich liegt offenbar in folgendem: Wenn ich das Gegenteil (die verkehrte Welt) als das Wahre - an und für sich -_

nehme, so ist das Wahre notwendig das Gegenteil seiner selbst. Denn die Wirklichkeit der Erscheinung hatte sich in dem, was an und für sich ist, zwar erwiesen, nicht bloße reine Fälle von Gesetzen zu sein. Aber das schließt ein,

40

Hegel

daß sie auch das Gesetz der Erscheinung ist. Sie ist also beides, das Gesetz und

seine Verkehrung. Sie ist das Gegenteil ihrer selbst. Wenn wir uns das durch Hegels Kritik an den Gedankendingen, die nur sein sollen, den Hypothesen und all den anderen »Unsichtbarkeiten eines perennierenden Sollens« illustrieren®, so ist in der Tat die vernünftige Ansicht der Wirklichkeit von der

Art, daß sie die hohle Allgemeinheit solcher Hypothesen und Gesetze verwirft, so sehr auch die Wirklichkeit dieselben umfaßt. Das Vernünftige und Konkrete ist die vom Prinzip des Wechsels bestimmte Wirklichkeit. Abstraktionen

werden

immer

wieder

zuschanden,

weil

es immer

anders

kommt. Bekanntlich enthält die Logik das entfaltete Ganze der Gedankenbestimmungen des Seins und stellt daher zu einem Teile den natürlichen Kommentar zu den Meinungen vom gegenständlichen Sein dar, welche den erscheinenden Gestalten des Bewußtseins entsprechen und in der Phänomenologie entwickelt werden. Auch die verkehrte Welt kommt nicht nur in der Phänomenologie, sondern auch in der Logik vor, und zwarin der Weise, daß diean

und für sich seiende Welt die verkehrte der erscheinenden ist. Hier liegt die Bedeutung von Umkehrung dem Ausdruck offen zugrunde, und man wird durch nichts dahin geführt, in einem inhaltlichen Sinne an die Verkehrtheit

dieser Welt zu denken. Immerhin bleibt zu beachten, daß die Enzyklopädie (auch in der Heidelberger Fassung) den Begriff der verkehrten Welt überhaupt nicht kennt und daß die Logik die dialektische Entwicklung dieses Begriffes nicht ganz im Einklang mit der Phänomenologie durchführt. Es sieht so aus, als ob Hegel die abstrakte Entgegensetzung von Gesetz und Erscheinung, wie sie in der Phänomenologie als der Gegensatz von übersinnlicher und sinnlicher Welt vorkommt, dem Sinn von Gesetz über-

haupt als unangemessen erkannt hätte. Während er in der Phänomenologie von dem ruhigen Reich von Gesetzen sagt, daß es zwar jenseits der wahrgenommenen Welt sei, aber in ihr ebenso gegenwärtig und ihr unmittelbar, stilles Abbild, so sagt er in der Logik im selben Zusammenhang?: »Das Gesetz ist daher nicht!" jenseits der Erscheinung, sondern in ihr unmittelbar gegenwärtig. « Dem entspricht, daß das Reich der Gesetze überhaupt nicht mehr als eine Welt (sc. eine übersinnliche) erscheint. »Die existierende Welt

ist selbst das Reich der Gesetze. « Natürlich durchläuft der Begriff des Gesetzes auch hier die gleichen Stufen, die in der Entwicklung der Phänomenologie erscheinen. Es ist zunächst die bloße Grundlage der Erscheinung und macht das Bleibende im Wechsel aus - neben dem der wechselnde Inhalt der Erscheinung fortbe8 Phänomenologie des Geistes, S. 190. 9 Wissenschaft der Logik, T.2, S. 127.

10 Hervorhebung von mir.

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steht. Es ist ein zweiter Schritt und ein veränderter Sinn von Gesetz, wenn das Gesetz die Unterschiede selbst setzt, die seinen Inhalt ausmachen. Der Sache nach entspricht das der ersten und der zweiten übersinnlichen Welt der Phänomenologie. Aber bemerkenswerterweise wird hier erst dem sich in die Totalität der Erscheinung in sich reflektierenden Gesetz der Totalitätscharakter, d.h. das Weltsein, zuerkannt. In der Logik wird nämlich das ruhige Reich der Gesetze überhaupt nicht übersinnliche Welt!! genannt, sondern erst die verkehrte, d.h. die total in sich reflektierte, an und für sich seiende »Welt« heißt Welt (die in der Phänomenologie eine »zweite übersinnliche Welt« genannt wird). So heißt es ausdrücklich erst von dieser: »So ist die in sich reflektierte Erscheinung nun eine Welt, die sich als an und für sich seiende über der erscheinenden Welt auftut.« Sie heißt auch »übersinnliche

Welt«!2, und erweist sich schließlich als die verkehrte Welt. Manche der Hegelschen Beispiele, die hier wie dort für diese Verkehrtheit, d.h. für die Umgekehrtheit dieser übersinnlichen Welt gebraucht werden, helfen für die Aufklärung des Sinnes von Verkehrtheit im allgemeinen nicht weiter. Nordpol und Südpol, positive und negative Elektrizität!? veranschaulichen lediglich die Umkehrbarkeit dieser Verhältnisse, also ihren dialektischen Charakter. Gleichwohl läßt sich die Frage nicht abweisen, ob die Wendung von der verkehrten Welt, so sehr sie den dialektischen Sinn der Umkehrung in sich

trägt, für Hegel nicht doch etwas anklingen läßt, das dem Doppelsinn von Verkehrtheit entspricht. Einen ersten Hinweis dafür finde ich auf S. 122 der Phänomenologie. Dort begegnet die Wendung von »dem Gesetz der einen Welt, welche eine verkehrte, übersinnliche Welt sich gegenüberstehen hat, in welcher das, was in jener verachtet ist, zu Ehren, was in jener in Ehren steht, in Verachtung kommt«. Die verkehrte Welt ist also eine Welt, in der

alles umgekehrt ist wie in der richtigen Welt. Ist das nicht ein wohlbekanntes Prinzip der Literatur, das, was wir Satire nennen? Man denkt etwa an die platonischen Mythen, insbesondere an den Mythos im Politikos, und etwaan

den Meister der englischen Satire, an Swift. Auch in der Redensart: Das ist ja die verkehrte Welt-z. B. wenn die Diener die Herren spielen und die Herren die Diener - liegt ein Wink, daß solche Umkehrung etwas Aufdeckendes_

el

hat. Was in der verkehrten Welt vorliegt, ist nicht einfach das Gegenteil, der

bloße abstrakte Gegensatz zur bestehenden Welt. Vielmehr läßt diese Umkehrung, in der alles anders ist, gerade die heimliche Verkehrtheit dessen,

was bei uns ist, in einer Art Zerrspiegel sichtbar werden. Die verkehrte Welt wäre danach die Verkehrung der Verkehrtheit. Zu der Verkehrtheit der 11 Hervorhebung von mir. 12 Wissenschaft der Logik, T. 2, S. 131f. 13 Phänomenologie des Geistes, S. 122; Wissenschaft der Logik, T. 2, S. 134.

Pi

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Hegel

Welt die »Verkehrte Welt« zu sein, hieße, die Verkehrtheit derselben e contrario darzustellen, und das ist gewiß der Sinn jeder Satire. Solche Darstellung durch die Gegenmöglichkeit läßt aber eine wahre, wenn

auch unwirkliche Möglichkeit der bestehenden Welt aufblitzen. Ja,

der Sinn satirischer Darstellung schließt gerade das ein. Als Aussage trautja die satirische Umkehrung der Welt zu, sich an ihr als verkehrte und damit

auch in ihren wahren Möglichkeiten zu erkennen. Es ist also die wirkliche Welt selbst, die sich in diese Möglichkeit und Gegenmöglichkeit auseinanderwirft. Indem die verkehrte Welt sich als die verkehrte darstellt, spricht sie

die Verkehrtheit der bestehenden Welt aus. Hegel kann daher mit Recht von ihr sagen, sie sei »für sich die verkehrte, d.h. die verkehrte ihrer selbst«,

denn sie ist nicht das bloße Gegenteil. Die wahre Welt ist vielmehr beides, die als Ideal entworfene Wahrheit und die eigene Verkehrtheit. Bedenken wir nun weiter, daß eine der Grundaufgaben der Satire die Aufdeckung der moralischen Heuchelei, d.h. der Unwahrheit der seinsollenden Weltist. Das

gibt dem Sinn der verkehrten Welt erst die wahre Schärfe. Die wahre Wirklichkeit wird hinter dem falschen Scheine in ihrer Verkehrtheit sichtbar, indem die satirische Darstellung in jedem Falle das »Gegenteil an sich« ist, sei es als Übertreibung, sei es als der Kontrast der Unschuld oder wie immer!®. In diesem Sinne ist die verkehrte Welt kein bloß unmittelbarer Gegensatz zu der Erscheinung. Hegel bezeichnet das (S. 122) ausdrücklich als eine oberflächliche Betrachtung, in der »die eine die Erscheinung, die andereaber das An-Sich« ist. Das ist eine äußere Verstandesentgegensetzung. In Wahrheit handelt es sich nicht um den Gegensatz zweier Welten. Es ist vielmehr die wahre, übersinnliche« Welt, die die beiden Seiten an sich hat, sich in den

Gegensatz entzweit und damit sich auf sich bezieht. Dafür gibt es nun eine ausgezeichnete Dokumentation an einem Lieblingsthema Hegels, das ihn von seiner Jugend an begleitet. Es ist das Problem der Strafe bzw. der Vergebung der Sünden, das den jungen Theologen über die moralische Weltanschauung der kantisch-fichteschen Philosophie hinausnötigte. Tatsächlich findet sich in der Analyse des Problems der 14 Die literarische Anwendung des Begriffs der verkehrten Welt: auf die spätmittelalterliche Satire findet sich in extenso bei Karl Rosenkranz, Geschichte der deutschen Poesie im Mittelalter, Halle 1830, S. 586-594.

Vgl. auch das Buch von Klaus Lazarowicz,

Verkehrte Welt. Vorstudien zu einer Geschichte der deutschen Satire, Tübingen 1963, das freilich der Geschichte der Wortprägung nicht nachgeht. Etwas mehr findet man bei Alfred Liede, Dichtung als Spiel. Unsinnspoesie an den Grenzen der Sprache, Berlin 1963, II, S.40ff., und einige Belege aus dem 17. Jh. bei Jean Rousset, La litterature de l’äge baroque, Paris 1963, S. 26-28, bes. S. 27. Danach sieht die Sache so aus, daß das volkstüm-

liche Motiv der Umkehrung ins Absurde erst allmählich den Charakter einer Wahrheitsaussage im Sinne der Satire erhält.

Die verkehrte Welt

43

Strafe!5, soweit ich sehe, zum ersten Male der Begriff der Verkehrtheit. Es wäre ein oberflächliches Verständnis, wie die Phänomenologie (S. 122) ausdrücklich sagt, wenn man die Strafe nur in der Erscheinung Strafe, an sich oder in einer anderen Welt aber Wohltat für den Verbrecher sein ließe. Von solchen zwei Welten ist nur in abstraktem Verstandesdenken die Rede. Das ist keine spekulative Umkehrung. Die Umkehrung, die die Strafe gegenüber der Tat bedeutet, ist auch nicht die einer realen Gegenwirkung, gegen die sich der Täter zu wehren sucht. Das wäre überhaupt noch nicht der Standpunkt des Rechtes und damit der Strafe, sondern der Standpunkt der Rache. Wohl gibt es ein solches unmittelbares Gesetz der Vergeltung. Aber die Strafe hat einen ganz umgekehrten Sinn, und insofern kann sie bei Hegel die »Verkehrung« der Rache heißen. Während der sich Rächende sich selbst als Wesen gegen den Verletzenden erweist und sein verletztes Dasein durch die Zerstörung des Täters wieder herzustellen sucht, handelt es sich bei der Strafe um etwas ganz anderes, nämlich um das verletzte Recht. Die Gegenwirkung der Strafe ist nicht die bloße Folge der Verletzung, sondern sie gehört zum Wesen der Tat selber. Die Tat als das Verbrechen heischt die Bestrafung, d.h. sie hat nicht die Unmittelbarkeit einer bloßen Handlung,

sondern ist als das Verbrechen selbst in der Gestalt der Allgemeinheit da. So kann Hegel sagen: »Diese Verkehrtheit desselben, daß es das Gegenteil dessen wird, was es vorher war, ist die Strafe.« Die Strafe als die Verkehrt-

heit, das will doch offenbar sagen: Die Strafe hat hung zur Tat. Die Strafe ist vernünftig. Der Täter tige, der er sein will, gegen sich selbst kehren. In keit«6 beschreibt Hegel höchst eindrucksvoll, wie eine abstrakte, ideelle im Phänomen

eine innere Wesensbeziemuß sich als der Vernünfdem »System der Sittlichsich diese Umkehrung als

des bösen Gewissens vollzieht. Die

Selbstentzweiung des Täters mag durch die Furcht vor der Strafe, also durch das Sichwehren gegen ihre Realität, immer wieder betäubt werden - sie stellt sich in der Idealität des Gewissens immer wieder her, und das heißt: die Verkehrtheit stellt sich immer wieder her, sofern die Strafe »gefordert« wird.

Ist es nun nicht notwendig, diese Verwandlung des Sinnes der Strafe in dem vollen Doppelsinne von Verkehrtheit zu verstehen? Daß die Strafe als die geheischte und notwendige die Verkehrtheit der Tat ist«, heißt doch, daß

sie als solche anerkannt ist. In ihr ist daher die Aussöhnung des Gesetzes mit der ihm im Verbrechen entgegengesetzten Wirklichkeit erfolgt. Wird sie aber angenommen und vollzogen, und ist damit die wirkliche Strafe, hebt

sie sich selbst auf - und ebenso hat sich damit die Selbstzerstörung des Verbrechers aufgehoben, und er ist mit sich selbst wieder einig. Die Ent15 Hegel, Theologische Jugendschriften, hrsg. v. H. Nohl, Tübingen 1907, S. 280. 16 Hegel, Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie, hrsg. v. G. Lasson, Leipzig 1913, S. 453.

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Hegel

zweiung des Lebens, die in der Angst vor der Strafe und der Qual des Gewissens ihn beherrschte, ist in der Versöhnung mit dem Schicksal aufgehoben. Auch hier darf man sagen, die verkehrte Welt, die darin besteht, daß die Strafe nicht »den Menschen schändende und vertilgende ist, sondern sein Wesen erhaltende Begnadigung«, ist nicht nur eine Umkehrung der abstrakten Welt des Gegensatzes von Tat und Strafe, sondern deckt zugleich die Verkehrtheit dieser abstrakten Welt auf und hebt sie in die »höhere Sphäre«'’ des Schicksals und der Versöhnung mit dem Schicksal. Auch zeigt der Fortgang der Gestaltenfolge des Wissens in der Phänomenologie mit voller Klarheit, daß die Verkehrung und Verkehrtheit gerade und vor allem das Gute und das Schlechte erfaßt, so daß die Bedeutung von

Verkehrtheit eine formale wie inhaltliche ist. Im Kapitel »Die Bildung und ihr Reich der Wirklichkeit wird das in der Logik für die verkehrte Welt mitgenannte Beispiel: »Was im erscheinenden Dasein böse, Unglück usf. ist, ist an und für sich gut und ein Glück«!® zum ausdrücklichen Thema gemacht. Dort!? heißt es: » Wenn... das gerade Bewußtsein das Gute und Edle, d.h. das sich in seiner Äußerung Gleichhaltende, auf die einzige Weise, die hier möglich ist, in Schutz nimmt, — daß es nämlich seinen Wert nicht

darum verliere, weil es an das Schlechte geknüpft oder mit ihm gemischt sei... -, so hat dies Bewußtsein, indem es zu widersprechen meinte, damitnur...

in eine triviale Weise zusammengefaßt, ... daß das edel und gut Genannte in seinem Wesen das Verkehrte seiner selbst, so wie das Schlechte umgekehrt

das Vortreffliche ist. « Das Gute ist das Schlechte. Man kann Hegel gar nicht wörtlich genug verstehen. »Summum ius — summa iniuria« heißt: Die abstrakte Rechtlichkeit ist Verkehrtheit, das heißt, sie führt nicht nur zur Ungerechtigkeit, sondern sie ist selber höchste Ungerechtigkeit. Wir sind viel zu sehr gewohnt, spekulative Sätze zu lesen, als ob da ein Subjekt zugrunde liegen bliebe, dem nur eine andere Eigenschaft zugesprochen wird?®, Damit kehren wir von unserer Untersuchung des dialektischen Sinnes der verkehrten Welt zu ihrer Funktion im Gedankengang der Phänomenologie 17 Theologische Jugenschriften, S. 279. 18 Wissenschaft der Logik, T. 2, S. 134. 19 Phänomenologie des Geistes, S. 373.

20 Vgl. meinen Beitrag »Hegel und die antike Dialektik oben S. 3ff. - Übrigens unterscheidet auch unser Sprachgebrauch recht sicher zwischen »falsch« und »verkehrt«. Eine verkehrte Antwort ist zwar nicht richtig, aber die Elemente des Wahren sind darin kenntlich und bedürfen nur der »Richtigstellung«, während eine falsche Antwort als solche keinen Weg zu ihrer Berichtigung enthält. So kann z. B. eine Auskunft falsch heißen, auch wenn sie in bewußter Täuschungsabsicht gegeben wird - in solchem Falle könnte sie aber nicht verkehrt heißen. Denn eine verkehrte Antwort oder Auskunft ist immer eine, die

Jene sein will und der es widerfuhr, falsch zu sein. So ist auch das malum die conversio oni.

Die verkehrte Welt

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zurück. Was ich an dem Beispiel der Strafe und der Versöhnung des Schicksals zeigte, stammte zwar aus einer »anderen Sphäre«, die Hegel selber zur Ilustration heranzieht?!, aber die allgemeine Struktur und die innere Notwendigkeit des dialektischen Fortgangs wird dadurch bestätigt. Wir können

gar nicht anders als zugeben: Die unsinnliche, übersinnliche Welt des Allgemeinen stellt nur ein Moment an dem, was wirklich ist, dar: Die wahre Wirklichkeit ist die des »Lebens«, das sich in sich selbst bewegt. Plato hat das im avzoxıwovv, Aristoteles als das Wesen der Physis überhaupt gedacht. Im Gange der Gestalten des Wissens, die die Phänomenologie durchläuft, bedeutet es einen ungeheuren Fortschritt, daß jetzt das Sein des Lebendigen gedacht wird. Das Lebendige ist nicht mehr bloßer Fall von Gesetz oder Resultat aufeinander wirkender Gesetze, sondern es ist gegen sich selbst gekehrt oder, wie wir sagen: »es verhält sich«. Es ist ein Selbst. Das ist eine dauerhafte Wahrheit. Soweit uns auch die moderne Physiologie die Rätsel des organischen Lebens enthüllen mag, im Wissen vom Lebendigen werden wir nie aufhören, eine Umkehr zu vollziehen, und, was als Spiel der Kräfte

die Prozesse des organischen Verhalten des Organismus zu Mag immer der Newton des tieferen Sinne wird Kant recht

Wesens gesetzlich regelt, umgekehrt als ein denken und ihn als lebendig zu »verstehen«. Grashalms eines Tages auftreten - in einem behalten. Unser Weltverständnis wird nicht

aufhören, »teleologisch« zu urteilen. Das ist auch für uns, nicht nur für Hegel,

ein notwendiger Übergang, ein Fortgang zu einer anderen, höheren Weise des Wissens wie des Gewußten. Was wir als Lebendiges ansehen, das müssen wir in der Tat in einem entschiedenen Sinne als ein Selbst sehen. »Selbst« aber bedeutet:

in aller Ununterschiedenheit

Identität mit sich, sich von

sich

Unterscheiden. Die Seinsweise des Lebendigen entspricht darin der Seinsweise des Wissens selber, das das Lebendige versteht. Denn auch das Be-

wußtsein des Selbstseins hat die gleiche Struktur eines Unterscheidens, das kein Unterscheiden ist. Damit ist der Übergang in das Selbstbewußtsein grundsätzlich vollzogen.

Wenn

wir einsehen,

daß die in den Augen des

Idealisten und des mathematischen Physikers unreine, d.h. verkehrte Welt (weil es in ihr nicht bloß die abstrakte Allgemeinheit des Gesetzes und die reinen Fälle gibt) die richtige Welt ist und daß das heißt, daß in ihr Leben ist _—und sich im unendlichen Wechsel, in der beständigen Unterscheidung seiner von sich selbst die Einheit des Selbstseins erhält, dann ist die Vermittlung, die Hegel sich in der Dialektik des Bewußtseins als Aufgabe gestellt hat,im wesentlichen gelöst. Dann ist bewiesen, daß das Bewußtsein Selbstbewußt-

sein ist. Dessen ist es in seinem Wissen eigentlicher gewiß als all der Auffassungen vom Seienden, die ihm Sinne und Verstand vermittelten. Diese Gewißheit übertrifft sie alle. Wenn es ein Seiendes als Selbst, d.h. als dassich 21 Phänomenologie des Geistes, S. 122.

46

Hegel

aufsich selbst Beziehende denkt, dann ist das so als seiend Gedachte als etwas gemeint, das die gleiche Gewißheit von sich selber hat, welche das eigene Selbstbewußtsein besitzt. Das ist das wahre Eindringen in das Innere der Natur, das allein die Natürlichkeit der Natur, ihr Leben, erfaßt: Das Leben-

dige fühlt das Lebendige, d.h. es versteht es von innen wie sich selbst, als sich selbst. Das auzokivoöv ist in seinem abstrakten Wesen das Sich-auf-sichselbst-Beziehen des Lebendigen, als Wissen ist es die Formel des Idealismus, Ich gleich Ich, d.h.: das Selbstbewußtsein.

So löst dieser erste Teil der Phänomenologie die Aufgabe, dem Bewußtsein den Standpunkt des Idealismus in ihm selbst aufzuzeigen. Was Hegel über diesen Standpunkt des Idealismus hinausführt, der Begriff der Vernunft, der die Subjektivität des Selbst überschreitet und der seine Realisation

als Geist findet, hat in diesem ersten Teil seine Grundlegung gefunden. Seine Ausführung reicht auch noch über uns selbst hinaus.

3. Die Dialektik des Selbstbewußtseins 1973

Der folgende Versuch behandelt eines der berühmtesten Kapitel der Hegelschen Philosophie. Das gewaltige Pathos der Freiheit, das das Zeitalter der Revolutionen

erfüllte und das auch das Pathos Hegels war,

scheint mir

schuld daran, daß man gerade dieses Kapitel nicht in seinem wahren Beweiswert für Wesen und Wirklichkeit der Freiheit verstanden hat. Es gilt daher,

sich gegenüber der Überresonanz dieser Parole der Freiheit kritisch aufzuklären. Dazu tut man gut, den Stellenwert des Beweisgliedes, den dieses

Kapitel in Hegels Wissenschaft vom erscheinenden Geist besitzt, genau zu beachten. Deshalb beginne ich damit, zu zeigen, daß Hegel sehr wohl weiß, was er will, wenn er den transzendentalen Idealismus nicht in der Manier

Fichtes einführt, die Kant zu Ende zu denken beansprucht. Was heißt es, »daß nicht allein das Bewußtsein vom Dinge nur für ein Selbstbewußtsein möglich ist, sondern daß dies allein die Wahrheit jener Gestalten ist«!. Es ist damit eine andere Aufgabe gestellt als die durch Kantin der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe gestellte und gelöste. Die transzendentale Synthesis der Apperzeption ist zwar die Funktion des Selbstbewußtseins, aber eben nur, sofern es das Bewußtsein eines

anderen, eines Gegenstandes überhaupt möglich macht. Und selbst das Bewußtsein der Selbstbestimmung der Vernunft, das Fichtes Wissenschaftslehre aus dem Primat der praktischen Vernunft entwickelt, steht in transzendentaler Funktion und dient der Begründung des Wissens vom Nicht-Ich. Dagegen ist es Hegels emphatische Erklärung, daß im Selbstbewußtsein der Begriff des Geistes und damit der Wendungspunkt erreicht sei, auf dem das Bewußtsein »aus dem farbigen Schein des sinnlichen Diesseits und aus der leeren Nacht des übersinnlichen Jenseits in den geistigen Tag der Gegenwart einschreitet« (140). Die barocke Formulierung Hegels läßt anklingen, daß in dem Begriff des Geistes eine Wirklichkeit erreicht ist, die wie die des Tages

alles Sichtbare umfaßt und alles einschließt, was ist. Das gibt dem Kapitel ‚Selbstbewußtsein« eine zentrale Stellung im Ganzen des phänomenologischen Weges. Zwar ist das Selbstbewußtsein eine unmittelbare Gewißheit, 1 Phänomenologie des Geistes. Hrsg. v. J. Hoffmeister. Hamburg 1952, S. 128 (Seitenzahlen im Text beziehen sich auf diese Ausgabe.)

48

Hegel

aber daß diese Gewißheit des Selbstbewußtseins zugleich die Wahrheit aller Gewißheit ist, das liegt nicht schon in seiner unmittelbaren Gewißheit als solcher. Hegel weist ausdrücklich darauf hin, daß auch der Idealismus, der sich Transzendentalphilosophie nennt und der die Gewißheit, alle Realität zu sein, ausspricht, in Wahrheit noch andere Gewißheit anerkennt, Kant das ‚Ding an sich«, Fichte den »Anstoß«. Insofern kann Hegel sagen: »Der Idealismus, der mit dieser Behauptung anfängt, ist reine Versicherung, welchesich selbst nicht begreift, noch sich anderen begreiflich machen kann« (177). Ich möchte aufklären, was es für einen Unterschied macht, wenn man mit Hegel den Weg vom Bewußtsein zum Selbstbewußtsein als den Weg des wahren Idealismus begreift. Wieso erfährt die Gewißheit des Bewußtseins, alle Realität zu sein, so ihren Beweis? Und überbietet nicht nur Kants transzendentale Deduktion, sondern auch Fichtes absoluten Idealismus der Freiheit? Man erinnert sich, daß auch Schelling den Standpunkt des Idealismus eines materiellen Beweises für bedürftig hielt und das Ich der intellektuellen Anschauung und des Selbstbewußtseins als die höhere Potenz, als das potenzierte Subjekt-Objekt der Natur verstand. Zwar hat Hegel gerade in seiner »Phänomenologie des Geistes« den Schellingschen Begriff des Absoluten wegen der angeblichen Unvermitteltheit seiner Absolutheit kritisiert, aber die Art, wie Hegel hier den Idealismus der Vernunft ableitet und dem formellen Begriff des Idealismus entgegensetzt, nimmt Schellings Anliegen auf, und nicht nur in der Weise, wie bereits die »Differenzschrift« Fichtes und

Schellings System zu vermitteln und zu überbieten unternahm. Auch im späteren System der philosophischen Wissenschaften hat Hegel ja die Natur als die reale Grundlage des sich verwirklichenden Geistes entwickelt, und die »Phänomenologie« ist in der späteren systematischen Einordnung ein Teil dieser Realphilosophie, sofern sie die Wissenschaft vom erscheinenden und insofern realen Geist ist. So hat das Prinzip des Idealismus als ein formelles im Grunde überhaupt keinen Platz in der Wissenschaft vom realen Geist, oder besser: es findet in ihm geradezu seine Realisierung, sofern eben Selbstbewußtsein nicht bloß der Punkt der Selbstgewißheit des Bewußtseins ist, sondern Vernunft, und das heißt, daß das Denken gewiß ist, die Welt »als seine eigene Wahrheit und Gegenwart« zu erfahren. Das ist die Weise, wie Hegel die kantische Aufgabe der transzendentalen Deduktion der Verstandesbegriffe umwandelt und wie er den Idealismus der Vernunft auf dem Wege über die Gewißheit des Selbstbewußtseins »beweist«. Denn Vernunft ist nicht nur im Denken. Hegel bestimmt die Vernunft als Einheit von Denken und Sein. Im Begriff der Vernunft liegt, daß das Sein nicht das Andere des Denkens ist, daß der Gegensatz der Erscheinung und des Verstandes kein wahrer Gegensatz ist. All das ist der Vernunft gewiß: »Es ist ihm (dem Selbstbewußtsein), indem es sich so erfaßt, als ob die Welt

erst jetztihm würde, vorher versteht es sie nicht, es begehrt und bearbeitet

Die Dialektik des Selbstbewußtseins

49

sie, zieht sich aus ihr zurück, zieht sich in sich zurück...“ usw. (176). So beschreibt Hegel den Weg, durch den sich der »leere« Idealismus zum Idealismus der Vernunft erhebt. Daß alles »mein« ist, als Inhalt meines Bewußtseins, ist noch nicht die Wahrheit dieses Bewußtseins. Hegel drückt das so aus: »Das Selbstbewußtsein aber ist erst für sich geworden, noch nicht als Einheit mit dem Bewußtsein überhaupt« (128). Wir können auch sagen: In der Punktualität des seiner selbst gewissen Selbst ist noch nicht das wahre Wesen, als Geist und Vernunft, erkannt.

Daß das Selbstbewußtsein noch nicht in seiner Wahrheit ist, solange es bloße Punktualität der Gewißheit seiner selbst ist, daß es erst in der Einheit mit dem Bewußtsein alle Realität ist, das wird die weiteren Etappen des erscheinenden Geistes bestimmen. Aber zuvor verlangt der Eintritt in diese Sphäre (136) eine genauere Analyse. Wir haben in der Behandlung der ‚verkehrten Welt« gesehen?, daß die Verkehrtheit der Welt des Gesetzes der Kraft dazu nötigt, »die sinnliche Vorstellung von der Befestigung der Unterschiede in einem verschiedenen Elemente des Bestehens zu entfernen«. Das will sagen: der »Chorismos« und die platonische Hypostasierung der Ideen ist ebenso aufzuheben wie der Erklärungsanspruch der Natur durch die »principia mathematicac. Der Unterschied von Idee und Erscheinung ist ontologisch genauso nichtig wie der des Verstandes und dessen, was er erklärt. Es ist ein schwerer Irrtum, in dieser Lehre von der verkehrten Welt

eine Kritik oder gar eine Karikatur der Wissenschaften zu sehen. Es ist keineswegs unangemessen zu behaupten, daß in dem »Erklären« das Bewußtsein »im unmittelbaren Selbstgespräch mit sich« ist (127). Das ist vielmehr genau die Wahrheit des Positivismus, wenn er den Begriff der Erklärung durch den der Beschreibung ersetzt, wie die berühmte Formulierung Kirchhoffs lautet?. Hegel hat das der Sache nach richtig erfaßt. Die Entzweiung des Seins in die Allgemeinheit und die Einzelheit, die Idee und die Erscheinung, das Gesetz und seinen Fall, ist ebenso aufzuheben wie die Entzweiung des Bewußtseins in Bewußtsein und seinen Gegenstand. Hegel nennt, was so gedacht ist, den »inneren Unterschied« oder die Unendlichkeit. Sofern nämlich, was sich in sich unterscheidet, nicht durch die Schranke

eines anderen, von dem es sich unterscheidet, von außen begrenztist, istesin

sich unendlich. Und ich habe gezeigt, daß es der Begriff des Selbst ist, was“ diese Unendlichkeit besitzt und ebensosehr dem Leben, dem Sein organischer Wesen, die »sich verhalten, zukommt wie dem Bewußtsein seiner selbst, diesem »Abstoßen des Gleichnamigen als Gleichnamigen von sich selbst«, das heißt dem Ich, das sich versteht. 2 Vgl. oben S. 29ff. 3 Vgl. G.R.Kirchhoff: Vorlesungen über mathematische Physik und Mechanik. 1874-94. Vorwort.

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>”

50

Hegel

Das also ist »für uns« geworden, daß dies Unterschiedene nicht unterschieden ist. »Ich, der Gleichnamige, stoße mich von mir selbst ab« (128). Aber die Abstoßung des Gleichnamigen und die Anziehung des Ungleichnamigen ist nicht nur die Struktur des Selbstbewußtseins, sondern auch die physikalische Spannung der elektromagnetischen Phänomene, und auch der platonische Unterschied der Idee von der Erscheinung, die an ihr als das Gleichnamige teilhat. Hegel gebraucht den Begriff des Gleichnamigen hier in einer Abstraktion, die ebensosehr die platonische Ideenlehre (öuw@vvuor) wie den neuzeitlichen Gesetzesbegriff und die elektromagnetische Gleichung umfaßt. Die Selbstbezüglichkeit, die das Selbstbewußtsein auszeichnet, ist also auch für den Verstand eine Wahrheit, aber als ein Geschehen, in

dem er sich selbst nicht erkennt. Sobald das Bewußtsein einen Begriff von dieser Unendlichkeit bekommt, ist es nicht mehr bloßer Verstand, sondern

tritt in der höheren Gestalt des Selbstbewußtseins auf. Das ist mit dem Leben und dem Wissen um es gegeben. Wer das Sich-Verhalten von Lebendigem begreift, das heißt: als Unterscheiden des Ununterschiedenen, muß nicht nur selber immer

schon

sich selbst wissen,

also Selbstbewußtsein

sein,

sondern wird auch am Ende begreifen lernen, daß die eigenen Gestalten des Bewußtseins, welchenihr Wahres ein Ding, ein Anderes war als sie selbst, in Wahrheit von ihrem Anderen,

dem Bewußtsein,

gar nicht unterschieden,

sondern mit ihm ununterschieden eins sind, und das heißt: selber Selbstbewußtsein sind. Das Wahre liegt nicht, wie der Verstand wähnte, »dahinter«, im Übersinnlichen, dem »Innern«, sondern das Bewußtsein ist sich selbst dieses »Innere«, das heißt, es ist Selbstbewußtsein. Es war dabei deutlich, daß, was als diese Unterscheidung des Ununter-

schiedenen auftritt, die Struktur des Lebens als Entzweiung und Sich-selbst‚gleich-Werden hat. Das hatte Hegel schon in jenen durch glücklichen Zufall uns erhaltenen Bogen der Frankfurter Zeit ausgeführt, daß Leben Identität der Identität und der Differenz ist: Jedes Lebendige ist mit seinem »Anderen«, seiner Umwelt, in beständigem Austausch von Assimilation und Sekretion verbunden, und obendrein ist es auch als dieses einzelne Lebendige nicht

einzeln, sondern nichts als die Weise des Fortbestands der Gattung. So ist es keineswegs eine Unklarheit oder Willkür in Hegels »Phänomenologie«, wenn die allgemeine Struktur des Lebens, innerer Unterschied oder Unendlichkeit zu sein, sowohl Resultat des Verstandesdenkens war als auch unter

dem Titel »Bestimmung des Lebens« die Struktur des Selbstbewußtseins vorzeichnet und deswegen sowohl am Ende des Kapitels »Bewußtsein« wie am Anfang des Kapitels »Selbstbewußtsein« entwickelt wird. Das SichVerhalten des Lebendigen läßt sich nur denken vom Ich her, das seiner selbst bewußt ist. Das ist nicht ein anthropomorphistischer Schein, den etwa die moderne Verhaltensforschung zur Demütigung des Menschen aufgearbeitet hat, sondern ist ein methodisch zwingender Tatbestand. Das Selbstbewußt-

Die Dialektik des Selbstbewußtseins

51

sein hat notwendig die Führung, wenn es darum geht, überhaupt SichVerhalten denken zu können. Umgekehrt aber lehrt die Strukturgleichheit der Lebensbewegung des Lebendigen mit dem Selbstbewußtsein, daß das Selbstbewußtsein in Wahrheit gar nicht die Punktualität des »Ich gleich Ich« ist, sondern, wie Hegel sagt, »Ich das Wir und Wir das Ich ist«, das heißt Geist. Das spricht Hegel freilich erst in der Einleitung zur Dialektik des Selbstbewußtseins aus. Denn es ist nur »für uns«, für das reflektierende oder beobachtende Bewußtsein klar, daß sich die Einheit des Unterschiedenen, die das Leben ist, auch als die Wahrheit des Selbstbewußtseins erweisen wird, nämlich: alle Realität, das heißt Vernunft zu sein. Hegel betreibt damit

eine Art Versöhnung zwischen den »Anciens« und den »Modernes«: die seiende Vernunft, der seiende Geist, Aöyog und voög und nveüua, und auf der andern Seite das cogito, die Wahrheit des Selbstbewußtseins, sind nicht

Gegensätze. Der Weg des erscheinenden Geistes ist der Weg, auf dem Hegel im Standpunkt der »Modernes« den Standpunkt der »Anciens« selber aufzufinden lehrt. Wenn Hegel das Selbstbewußtsein das einheimische Reich der Wahrheit nennt, in das wir eingetreten sind, so meint er damit, daß das Wahre nicht mehr wie ein fremdes Land der Andersheit ist, in das das Bewußtsein

einzudringen sucht — das war der Standpunkt des Bewußtseins -, sondern daß das Bewußtsein als Selbstbewußtsein im Lande der Wahrheit einheimisch, in ihm zu Hause ist: es findet alle Wahrheit in sich. Aber es weiß auch, daß es die ganze Ausbreitung des Lebens in sich befaßt. Es bedarf nun wohl nicht mehr einer genauen Analyse der Momente der Dialektik des Lebens zwischen dem einzelnen Exemplar und der Gattung, dem einzelnen Wesen und dem Ganzen, die der Kreislauf des Lebens darstellt

- es genügt ihr Resultat, die »reflektierte Einheit«. Was sowohl »unmittelbare Kontinuität und Gediegenheit seines Wesens« ist (das »allgemeine Blut«) als auch »die bestehende Gestalt und das für sich seiende Diskrete« als auch »der reine Prozeß derselben« - kurz, das »in dieser Bewegung sich einfach erhaltende Ganze« hat die Bestimmung, die einfache Gattung zu sein (138). Das Lebendige ist Gattung und nicht Individuum, das heißt, es ist als Leben eine »reflektierte« Einheit, für welche die Unterschiede der Exemplare keine >

sind. Es ist einleuchtend,

;

daß dies dieselbe Struktur ist, die auch dem Ich

zukommt. Auch für das Ich sind die Unterschiede keine: es sind alles seine Vorstellungen. Aber es ist nicht allein diese Strukturidentität, die sich als einleuchtend erweist - es ist notwendig so, daß, was Selbstbewußtsein ist,

selber Leben ist. So sagt Hegel von ihm geradezu »dies andere Leben«. Dies andere Leben ist freilich als Selbstbewußtsein ein ausgezeichnetes Leben, nämlich eines, das Bewußtsein hat und für das daher der Gattungscharakter des Lebendigen »gegeben« ist. Es ist nicht nur selbst seiner Struktur nach

52

Hegel

Gattung - das heißt: es ist nicht nur tatsächlich als »Ich« das einfache Allgemeine, das in sich alles Unterschiedene eint —, sondern für es ist es, daß es weiß, daß das Lebendige sonst nur Gattung ist, während es allein »für sich

selbst Gattung: ist. Das hat seine erste unmittelbare Erscheinung darin, daß es nichts kennt als sich selbst. Es ist die Nichtigkeit des Anderen«, die esganz und gar erfüllt - ganz wie das Leben nichts kennt als sich selbst und sich erhält, indem es alle andere, die unorganische Substanz, in sich auflöst und sich als Gattung in achtloser Verschwendung und Opferung des Individuums erhält. Als Selbstbewußtsein ist es sich dieser Nichtigkeit des Anderen bewußt und beweist sich dieselbe durch dessen Vernichtung. Das ist eine erste Vermittlung, durch die das Selbstbewußtsein sich als »wahre« Gewißheit, als die Begierde verzeugt« — ein Selbstbewußtsein, das Hegel auch gelegentlich »das unvermischte Selbstgefühl« (148) nennt. Denn in der Tat ist esin seiner Unmittelbarkeit die Vitalgewißtheit der Lebendigkeit, die Bestätigung seiner selbst, die es in der Befriedigung der Begierde gewinnt. Es ist aber ein »Aber« dabei, das die »Wahrheit« dieses Selbstbewußtseins begrenzt. Es ist allzu deutlich, daß das Selbstbewußtsein der Begierde, bzw. ihre Befriedigung, keine dauernde Gewißheit verleiht, denn »im Genuß verschmacht’ ich nach Begierde«. Der unselige Lauf Faustens durch die Welt verschafft ihm eben keine Erfüllung. Das, worin die Begierde ihre Befriedigung findet, ist, solange sie nichts als Begierde ist, notwendigerweise das zu Vernichtende, ist also nichtig- und deshalb findet das Selbstbewußtsein das, worin es sich bestätigt fühlen könnte, auf diese Weise nicht. Es muß die Erfahrung der Selbständigkeit des Gegenstandes machen (135). Das ist »für uns« ganz einsichtig. Denn »wir«, die den Gang der »Phänomenologie des Geistes« bis hierher mitgegangen sind, wissen ja, daß das Selbstbewußtsein der Lebendigkeit kein wahres, bestandhaftes Selbstbewußtsein ist; es »weiß«,

daß es seine Identität als »Lebendiges« nur in der beständigen Auflösung des Anderen und Selbstauflösung in das Andere hat, also als Teilhaben an der Unendlichkeit, dem Kreislauf des Lebens.

Der Gegenstand der Begierde ist mithin selber »Leben«, gerade weil er für das Bewußtsein der Begierde alles andere« ist- außer es selber, das das Selbst ist. Das drückt sich in Hegels Dialektik so aus, daß er fragt, wie dem

Selbstbewußtsein der Begierde die Selbständigkeit seines Gegenstandes zur Erfahrung wird. Damit ist nicht nur gemeint, daß dies Andere, das die Begierde vernichtet, ein von ihr unabhängiges Sein hat, so daß der Gegenstand der Begierde immer wieder von der aufflammenden Begierde erzeugt wird. Es wird vielmehr behauptet, daß der Gegenstand der Begierde als solcher, und das heißt: nicht nur für uns, sondern für die Begierde selbst, von

der Struktur des Lebens ist. Das muß in seinem genauen Sinne verstanden werden. Es will offenbar sagen: es ist nicht dieses oder jenes Bestimmte, sondern etwas relativ Beliebiges, was jeweils als Gegenstand der Begierde

Die Dialektik des Selbstbewußtseins

53

und durch ihre Befriedigung einem die Gewißheit seiner selbst verleiht. Auf die Unterschiede, die die verschiedenen »Gegenstände« an sich haben mögen, kommt es der Begierde so wenig an, wie der Gattung am Leben des Einzelnen liegt oder dem Organismus an den einzelnen Stoffen, die er sich assimiliert. Wer Hunger hat, will vetwas zu essen«, ununterschieden was. Gleichwohl, das Selbstbewußtsein der Begierde bleibt auf dies Andere angewiesen: »Daß dies Aufheben sei, muß dies Andere sein« (139). Insofern hat der Gegenstand »Selbständigkeit«: »es ist in der Tat ein anderes als das Selbstbewußtsein, das Wesen der Begierde.« Man muß diesen Satz in seinem vollen

Gewicht nehmen. Er meint: Das Selbstgefühl der Begierde, die aufflammt und verlischt, ist als solches überhaupt nicht die Wahrheit des Selbstbewußtseins, die es zu sein schien. Das Selbstbewußtsein der Begierde weiß sich vielmehr abhängig von dem Gegenstand der Begierde als etwas Anderem. »Die in ihrer Befriedigung erreichte Gewißheit seiner’ selbst« ist bedingt durch ihn-es ist in der Tat ein Anderes... , auf das sie aus ist. Nur wenn dies Andere existiert, kann das Selbstbewußtsein durch die Negation desselben

seine Befriedigung finden. Natürlich hat nicht der bestimmte Gegenstand der Begierde, der vernichtet wird, Selbständigkeit - er verliert sie ja. Was

unseren Hunger und Durst stillt, ist ein bloßes Anderes, dessen Negation wir sind. Aber eben deshalb bedeutet dieses sinnliche Selbstgefühl kein wahres Selbstbewußtsein. Der Zustand wilder Begierde, etwa großer Hunger oder Durst, besteht zwar darin, nichts zu kennen als sich selbst. Nicht

zufällig reden wir von Wolfshunger oder Bärenhunger: der Hunger ist so allbeherrschend geworden, daß uns nichts anderes erfüllt, als was das Tier

erfüllt, das in die Eindeutigkeit seiner Instinktzüge eingelassen ist und eben deshalb nicht eigentlich ein »Bewußtsein« seiner selbst besitzt. Das drückt sich darin aus, daß die Befriedigung der Begierde sich selber als Selbstbewußtsein aufhebt. Damit die Begierde zu wirklichem Selbstbewußtsein gelangt, darf der Gegenstand der Begierde in all seiner »Nichtigkeit des Andern« nicht aufhören zu sein. Er muß »in der Eigenheit seiner Absonderung« lebendiges Selbstbewußtsein sein (140). Auch die Begierde, die wirkliches Selbstbewußtsein sucht, kennt zwar — als Begierde - nur sich selbst und sucht nichts als sich selbst im Andern, aber sie vermag nur sich selbstin _

ihm zu finden, wenn dies Andere selbständig ist und ihm das gewährt,

seinerseits nicht auf sich zu bestehen, sondern von sich absehend »für das Andere zu sein« (139). Dies vermag aber nur das Bewußtsein, derart das Andere seiner selbst zu sein und sich selbst aufzuheben, ohne aufzuhören zu

sein. In diesem Sinne »muß« dem Selbstbewußtsein »seine Befriedigung werden«, und der Gegenstand muß diese Negation seiner selbst an sich _ vollziehen«. Dies »muß:ist das alte &£Unod&osws dvayxaiov des Aristoteles: wenn

das Selbstbewußtsein wahres Selbstbewußtsein werden soll, muß es auf sich bestehen - und muß das andere Selbstbewußtsein finden, das »für es« zu sein

54

Hegel

bereit ist. Daher ist die Verdoppelung des Selbstbewußtseins die notwendige Folge: es ist nur möglich als gedoppeltes. Das lehrt es auch seine Erfahrung. Nur etwas,

was trotz seinem Negiertsein da ist, also nur, was sich

selbst negiert, kann durch seine Existenz dem Ich bestätigen, was es begierig anstrebt: daß es nichts zu kennen braucht als sich selbst. Aber das ist nun die Erfahrung, die das Selbstbewußtsein der Begierde machen muß, daß das,

was allein ihm sein Selbstbewußtsein verschaffen kann, indem es sich selbst negiert, selber Selbstbewußtsein sein muß. Das heißt aber nicht nur, daß es frei ist, ihm das eigene Selbstbewußtsein aus freien Stücken zu bestätigen,

sondern daß es auch frei ist, ihm seine Anerkennung zu verweigern*®. — Man wird erwarten dürfen, daß es um der Vergewisserung der Anerkennung willen, deren das Selbstbewußtsein bedarf, geschieht, daß das Selbstbewußtsein sich begierig auf das andere Selbstbewußtsein richtet und es um seine Selbständigkeit zu bringen sucht. In der Tat ist das so, und deshalb beginnt mit dem Selbstbewußtsein des Herrn die neue Erfahrung des Bewußtseins — um freilich gerade in der Erfahrung des knechtischen Bewußtseins zur höheren Gestalt der Freiheit des Selbstbewußtseins fortzuschreiten. Doch wie stets wird auch das berühmte Kapitel, das die Überschrift »Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins;

Herrschaft und

Knechtschaft« trägt, durch eine Einleitung eröffnet, die den Begriff des Selbstbewußtseins analysiert, wie er jetzt erreicht ist, und das ist ein solches Selbstbewußtsein, für das ein anderes Selbstbewußtsein ist und nötig ist.

Das geschieht, indem der Begriff des Anerkennens in seiner Dialektik entfaltet wird-d.h. also: für uns, für die philosophische Analyse, die wir diesem Begriff zuwenden. Für uns ist nämlich klar, daß, wenn das Selbstbewußtsein nur als anerkanntes ist, es sich in eine Dialektik verstricken muß, die im Wesen von

Anerkennung liegt — Hegel beschreibt sie als die Dialektik der »geistigen Einheit«, die in der »Verdoppelung« des Selbstbewußtseins liegt. »Geistig« ist * Kojeve (deutsche Ausgabe von Fetscher, 12ff.) und ihm folgend Hyppolite (Etudes sur Marx et Hegel. 181ff.) interpretieren den Übergang von der Begierde zum anerkannten Selbstbewußtsein noch mit Hilfe des Begriffs der Begierde. Die wahre Begierde sei die Begierde nach der Begierde eines andern (desir du desir d’un autre), d.h. Liebe. Hegel selbst nennt das freilich nicht mehr Begierde, und tatsächlich klingt diese französische Beschreibung des Übergangs von Begierde zum anerkannten Selbstbewußtsein auf deutsch falsch. Wenn Hegel wenigstens noch »Verlangen« gesagt hätte. Doch ist der sachliche Zusammenhang auch bei uns noch in gewissen Worten nachvollziehbar, so in

dem Wort »Ehrbegierde«, die in desir miteingeschlossen ist; aber nicht in dem Wort Liebesbegierde«, das gerade den menschlichen Sinn, den Begierde haben kann, nicht

mehr ausspricht, Daher ist Kojeves an sich sehr hübsche Illustration des Wesens menschlicher Begierde, ein Objekt, auch wenn es an sich wertlos ist, nur deshalb zu begehren, weil ein anderer es begehrt, hier noch nicht an ihrem Platz. Sie ist eine Art Vorgriff, der im

späteren Fortgang des Hegelschen Weges, vor allem in der Welt des entfremdeten Geistes, seinen wahren Illustrationswert hat.

Die Dialektik des Selbstbewußtseins

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hier mit Bedacht gesagt. Denn wir wissen bereits, daß es so etwas wie »Geist« gibt, der nicht punktuelles Selbstbewußtsein ist, sondern eine »Welt«, die als gesellschaftliche von der gegenseitigen Anerkennung lebt. So reflektiert Hegel zunächst über die Dialektik des Selbstbewußtseins als die Bewegung des Anerkennens, wie sie sich uns darstellt, d.h. als die Reflexion in sich, die

nicht die des Bewußtseins, sondern die des Begriffs ist. Offenbar handelt es sich nicht nur um eine einzige Verdoppelung des Selbstbewußtseins, nämlich, daß für das Selbstbewußtsein ein anderes Selbstbewußtsein ist — das ist

die Verdoppelung des Selbstbewußtseins in sich: so schon, weil es in sich selbst, als Selbstbewußtsein, das zu sich »Ich« sagt, entzweit und geeint ist, ist

es der innere Unterschied oder die Unendlichkeit, die es als Selbstbewußtsein mit dem Leben teilt. Aber jetzt geht es um die Realisierung dieser Unendlichkeit (den Begriff »der sich im Selbstbewußtsein realisierenden Unendlichkeit«). Der innere Unterschied von Ich zu Ich, der im Selbstbewußtsein liegt, kommt jetzt zur Erscheinung, wird der wirkliche Unterschied des Wir, die Ich und Du, reales Ich und reales anderes Ich sind. Das geschieht

in der Bewegung des Anerkennens. Es ist eine komplizierte Bewegung. Es genügt nicht, zu sagen, daß das Selbstbewußtsein sich im Anderen verloren hat, d.h. an den Anderen verloren hat, nur in dem Anderen sein Selbstbe-

wußtsein hat. Es sähe nämlich damit den Anderen gar nicht mehr als Selbst, sondern nur »sich selbst: im Anderen, wenn es derart auf Ehre aus ist, d.h.

sein eigenes Selbstbewußtsein in ihm sucht. Es ist also gar nicht das Sein des Anderen,

was

es sieht, sondern nur »sein Anderssein« — d.h. das eigene

Anderssein, worin es sich zu bestätigen vermeint — und das kann nicht genügen. Zwar, um seiner selbst gewiß zu werden, muß das Selbstbewußt-

sein »das andere selbständige Wesen« aufheben - wie in der Begierde —, aber es muß gerade auch sich selbst zugunsten des Anderen zurücknehmen, denn dies Andere ist es selbst, es ist für es selbst wesentlich, daß es ist. Sein eigenes

Selbstbewußtsein hängt von dem Anderen ab, nicht wie der aufzuhebende Gegenstand der Begierde, sondern es hängt in einem geistigeren Sinne von ihm als Selbst ab. Das erst kann ihm die Bestätigung seiner selbst geben, daß das Andere nicht mehr bloß »sein Anderes: ist, sondern daß dies Andere frei«

ist - gerade auch gegenüber einem selbst. Daß man vom Andern Anerkennung fordert, bedeutet zwar das Aufheben des Andern - aber diese Zumutung ist ebensosehr dessen Anerkennung als frei, und so ist es ebenso Rückkehr des Andern in sich selbst, in sein freies Sein, und nicht allein die

eigene Rückkehr in sich selbst. Es ist nicht nur die Bestätigung des eigenen Selbst, sondern auch die des Anderen.

Und nun ist klar, daß das alles nur in voller Gegenseitigkeit gilt. Man denke an eine triviale Form des Anerkennens, den Gruß. »Jedes sieht das

andre dasselbe tun, was es tut; jedes tut selbst, was es an das andre fordert, und tut darum, was es tut, auch nur insofern, als das andre dasselbe tut; das

56

Hegel

einseitige Tun wäre unnütz...“ (142). In der Tat, es wäre nicht nur unnütz,

sondern tödlich für das eigene Selbstbewußtsein. Man denke an das Gefühl der Demütigung, wenn jemand einen nicht wiedergrüßt, sei es, daß er einen nicht kennen will - eine schreckliche Niederlage des eigenen Selbstbewußtseins —, sei es, daß er einen wirklich nicht kennt,

sondern

daß man

ihn

verwechselt und verkannt hat — auch kein schönes Gefühl. So sehr ist die Wechselseitigkeit essentiell. »Sie anerkennen sich, als gegenseitig sich anerkennend«, in der Tat »eine vielseitige und vieldeutige Verschränkung«. Diese Illustration der Dialektik des Anerkennens durch die Grußsitten ist nicht nur in sich überzeugend - sie antizipiert auch in überzeugender Weise den realen gesellschaftlichen Hintergrund, von dem her Hegel die Erfahrung des Selbstbewußtseins beschreibt und die systematisch entscheidende Rolle des Todes begründet. Es ist eine sehr konkrete Erfahrung, auf die sich Hegel bezieht: die Dialektik der Anerkennung wird in einem Prozeß erfahren, d.h.

im Kampf auf Leben und Tod, in der Entschlossenheit des Selbstbewußtseins, sich seine Wahrheit, anerkanntes zu sein, zu beweisen, und sei esauch

unter der Gefährdung des eigenen Lebens. Daß ein echter Zusammenhang solcher Art besteht, bestätigt uns die Institution des Zweikampfs zur Wie-

derherstellung gekränkter Ehre, das Duell. Wer sich dem anderen zum Kampf stellt, wer ihm die Ehre erweist, sich zum Kampf zu stellen, beweist

damit, daß er ihn nicht unter sich herabsetzen wollte -oder umgekehrt, wer den anderen fordert, beweist damit, daß er die erfahrene Herabsetzung nicht

ertragen kann, ohne daß der andere sie durch das Sichstellen zum Kampfe widerruft. Bekanntlich genügt im »Ehrenhandel« kein anderer Widerruf, und der Beleidigte kann jede Versöhnung ablehnen. Es ist die volle Wechselseitigkeit des Kampfes auf Leben und Tod, den die Ehrenordnung zuläßt. Nur dadurch wird die gegenseitige Anerkennung wiederhergestellt, in der das Selbstbewußtsein seine gesellschaftliche Bestätigung hat. »Sein Alles geben für seine Ehre« - sicher bezeugt das die Bedeutung der Ehre. Und wenn Hegel in der Folge zeigt, daß die Bestätigung des eigenen Selbstbewußtseins durch das Herr-Sein einem nicht ein wahres Selbstbewußtsein sein kann und daß das Selbstbewußtsein des Könnens, das der arbeitende Sklave hat, höher steht als das des nur genießenden Herrn, so entbehrt auch

das nicht einer überzeugenden Bestätigung aus der gesellschaftlichen Erfahrung: Die Ehrenordnung einer Adelsgesellschaft wird vom durch seine Arbeit emporgekommenen Bürgertum übernommen, aber in dem Augenblick nicht mehr verstanden, in dem sein neues Bewußtsein, zu den herr-

schenden Klassen zu gehören, zu Ende ist. Seine Nachahmung der adligen Ehrenordnung, wie sie sich etwa in der studentischen und »akademischen« Satisfaktionsfähigkeit einer »herrschenden Klasse: ausdrückte, verliert dann ihren Sinn. Insofern hat es auch seine historische Richtigkeit, daß der Be-

stand einer solchen Ehrenordnung die symbolische Darstellung des Resul-

Die Dialektik des Selbstbewußtseins

54

tats jenes Kampfes auf Leben und Tod ist, durch den Herrschaft und Knechtschaft auseinandertreten. Was Hegel gibt, ist aber eine »idealtypische« Konstruktion des Verhältnisses von Herrschaft und Knechtschaft, die durch den

historischen Hintergrund der Entstehung von Herrschaft nur illustriert wird®. Hegel gibt nicht eine Urgeschichte der Entstehung von »Herrschaft«, so wenig wie eine Geschichte

der Befreiung

von

Herrschaft,

sondern

eine

ideale Genealogie des Verhältnisses von Herr und Knecht, wenn er das freie Selbstbewußtsein aus der Wechselbeziehung zwischen der Unbedingtheit der Freiheit und der Unbedingtheit des Todes ableitet®°. Ein Selbstbewußtsein, das sich als lebendiges Selbstbewußtsein mit ande-

rem Selbstbewußtsein nur beisammen findet, »selbständige Gestalten, in das Sein des Lebens... versenkte Bewußtsein[e]« (143), hatnoch keine Wahrheit - es muß sich »als reines Fürsichsein, d.h. als Selbstbewußtsein« darstellen und

im Kampf auf Leben und Tod bewähren. Die Gegenseitigkeit der Ehrenordnung, die oben dargestellt wurde, ist ganz geeignet, zu erkennen, daß diese ‚Darstellung: nicht nur darin bestehen kann, daß das Selbstbewußtsein das andere Dasein zu vernichten trachtet, sondern auch, daß es sich über sein

eigenes bestimmtes Dasein, sein san das Leben geknüpft zu sein« (144) zu erheben hat. Also nicht, weil es nicht ohne Vernichtung des Andern - und damit: nicht ohne Kampf mit ihm - seiner selbst gewiß zu werden, sondern weil es nicht ohne Überwindung seines An-das-Leben-Geknüpftseins, und d.h. nicht ohne Vernichtung seiner selbst als bloßen »Lebens«, zum wahren Fürsichsein zu gelangen vermag, bedarf es des Daransetzens des eigenen Lebens. Nur so wird es seiner selbst gewiß. Freilich wartet auf es die widersprechende Einsicht, daß dies wechselseitige Daransetzen des eigenen Lebens das nicht vermitteln kann, was es sollte: Gewißheit seiner selbst. Es ist für den Sinn dieser Dialektik bezeichnend, daß derim Kampf Überleben-

de genausowenig wie der Unterliegende sein Ziel erreicht: Was dem Selbstbewußtsein die Gewißheit seiner selbst zu geben vermag, muß eine andere

5 Die historische Frage der Entstehung von Herrschaft, wie sie etwa in der heutigen Völkerkunde aus der Unterwerfung von Bauernvölkern durch hereinbrechende Reiter- _ völker abgeleitet wird, kann daher beiseite bleiben. Auch diese Theorie meint ja, wie das Herrschaftsgebilde des Staates zustande kommt. Das ist hier noch nicht thematisch, wo wir uns noch ganz in der Sphäre des Selbstbewußtseins bewegen. 6 Kojeve hat das in seiner epochemachenden Einführung in das Hegelsche Denken durchaus gesehen. Sein eigener Weg zu Hegel, der durch die Blutopfer der russischen Oktoberrevolution und das dadurch motivierte Verlangen, Marx zu verstehen, bezeich-

net war, führte ihn dazu, geschichtliche Anwendungen vorzunehmen, die nicht ganz überzeugen. An dieser Stelle kann man weder Heidegger noch die Marxisten widerlegen,

auch wenn es wahr bleibt, daß jede Revolution blutig ist- wie ja auch jeder Krieg. Kojeves

Arbeit behält aber nocht heute ihren Wert, weil er gerade für die Bedeutung des Todes bei

Hegel die Jenenser Manuskripte erstmals philosophisch aufgeschlossen hat.

58

Hegel

Aufhebung des Selbstbewußtseins sein, als die Vernichtung des Anderen. Es ist also nicht etwa nur dem einen, dem sich unterwerfenden Selbstbewußtsein, »das Leben so wesentlich als das reine Selbstbewußtsein«,

sondern

gerade auch dem anderen: es bedarf des Lebens des anderen, freilich als eines Bewußtseins, welches nicht rein für sich, sondern für ein anderes ist. Dieses andere Bewußtsein ist, weil es kein wahres Fürsichsein hat, »Dingheit«, eine Sache, res, wie der antike Sklave. So ergibt sich in der Tat aus der Erfahrung

des Kampfes um Anerkennung: Selbstbewußtsein kann nur sein, wenn es sich im andern bestätigt findet, d.h. aber, daß es verdoppelt ist und sich in Herr und Knecht entzweit. Die Dialektik von Herr und Knecht wird nun (148) in zwei Gängen durchgeführt,

zunächst vom

Standpunkt

des Herrn,

dann von

dem

des

Knechtes aus’. Diese Durchführung bietet dem Verständnis keine besonderen Schwierigkeiten, sofern es sich um den Standpunkt des Herrn handelt. Daß der Herr mit Hilfe des dienenden Knechtes zur Befriedigung seiner Begierde gelangt, leuchtet unmittelbar ein. Die Selbständigkeit der Dinge, von denen das Selbstbewußtsein der Begierde abhängig blieb, ist nun aufgehoben. Der Knecht liefert das bearbeitete Ding dem Herrn zum »reinen« Genusse. Er deckt ihm den Tisch (Kojeve). Warum bleibt dann aber das Bewußtsein des Herrn gleichwohl ein verkehrtes Selbstbewußtsein? Man könnte hier erwarten, daß nun die Abhängigkeit des Herrn vom Knechte ausgespielt würde. Diese Abhängigkeit ist wohlbekannt, nicht nur aus der marxistischen Parole vom Generalstreik, sondern ebenso aus der Dialektik des Willens zur Macht, wie sie Nietzsche entwickelt hat, und bestätigt sich

aus der täglichen Erfahrung des Dienstes: Es gibt auch eine Abhängigkeit des Herrn vom Diener. Sie beweist die Falschheit des Selbstbewußtseins des Herrn, sozusagen seine tatsächliche Knechtschaft. Das ist gewiß eine objektive Wahrheit, daß der Herr vom Diener abhängig wird und daß das Bewußtsein, der Herr zu sein, sich dadurch begrenzt sieht. Hegels dialektische Analyse ist aber weit strenger: sie sucht den dialektischen Umschlag im Selbstbewußtsein des Herrn auf und begnügt sich nicht mit der erzwungenen Einschränkung seines Herrseins. Angesichts der bloß faktischen Abhängigkeit des Herrn könnte man fragen: Ist das nicht in den Augen des Herrn nur um so schlimmer für die Tatsachen, daß diese dem Herrn sein volles

Herrsein nicht mehr erlauben? Der Herr, der sich von seinem Knecht abhängig weiß, hat eben nicht mehr das echte Selbstbewußtsein eines Herrn, sondern das eines Knechtes — bekanntlich bis zu den komischsten Formen ängstlichen Gehorsams. Es ist für uns klar, daß das kein Herr ist. Aber ist es für den Herrn klar geworden? Ist er nicht gerade dadurch komisch, daß er 7 Vgl. S.148: »Wir sahen nur, was die Knechtschaft im Verhältnis zur Herrschaft ist

Die Dialektik des Selbstbewußtseins

59

sich als Herr fühlt und in Wahrheit Angst hat? Wir, die die Abhängigkeit des Herrn erkennen, wissen zugleich: Seine Abhängigkeit ist in Wahrheit die der Begierde und nicht die der scheiternden Anerkennung: Das erst wäre die neue Stufe der Verkehrtheit, an der das Selbstbewußtsein des Herrn scheitern würde, daß es sich als Selbstbewußtsein einem andern Selbstbewußtsein unterlegen weiß. Es scheint mir bezeichnend, daß Hegels Argumentation eben darauf zielt und die naheliegende Dialektik der Abhängigkeit verschmäht. Sie meint ein Bewußtsein des Herrn, der Herr ist und bleibt. Erhat alles erreicht, gerade auch dies, daß ein anderes Selbstbewußtsein sich als Fürsichsein aufhebt und hiermit selbst das tut, was das erste gegen es tut: der Diener wird nicht nur tatsächlich als Sache behandelt, sondern behandelt

sich selbst als Sache, geht im Dienen auf, hat nur im Herrn sein »Selbstbewußtsein«. Der treue Diener seines Herrn meint in allem, was er tut, nicht sich, sondern den Herrn. Er sorgt dafür, daß dem Herrn das Ding nichts ist und er reines Fürsichsein ist, das sich am Bedientsein bestätigt sicht. Insofern

sollte hier Anerkennung erreicht sein. Aber was ist ein solches Sein für ihn, für sein Selbstbewußtsein wert? Das ist Hegels Argument. Ein noch so herrlicher Herr, dem der Diener niemals das geringste Gefühl, von ihm abhängig zu sein, gibt - gerade dieser »NurHerr muß erkennen,

daß er sich seines Fürsichseins als der Wahrheit da-

durch nicht gewiß ist. Wessen er sich im Diener gewiß ist, istjagerade die Unselbständigkeit und Unwesentlichkeit des knechtischen Bewußtseins. Das allein ist seine »Wahrheit« — und das ist eine »verkehrte Wahrheit«. So kann Hegel im Selbstbewußtsein selbst - in seinem Anspruch und nicht in seiner tatsächlichen Schwäche - den dialektischen Umschlag finden: Die Wahrheit des Selbstbewußtseins wird nicht im Bewußtsein des Herrn, sondern im knechtischen Bewußtsein zu finden sein (auch wenn dieser ‚zunächst« »außer sich« ist, d.h. sich im Herrn weiß und sich nicht als die Wahrheit des Selbstbewußtseins weiß, d.h. nicht weiß, daß der Herr gar

nicht »selbständiges Bewußtsein ist, wohl aber er selber). So folgt die Umkehrung, durch die das knechtische Bewußtsein, als in sich zurückgedrängtes, d.h. aus seinem Außersichsein auf sich selbst zurückgekommenes Bewußtsein, in sich geht und wie jemand, der in sich geht, anders, d.h. hier: »selbstbewußt« zu denken beginnt. An sich ist die Knechtschaft das äußerste Gegenteil eines echten Selbstbewußtseins: »Zunächst ist für die Knechtschaft der Herr das Wesen.« Im Bewußtsein des. Dienens liegt die volle Hingabe seiner selbst an den Herrn und dessen Bedürfnisse. Das bedeutet die absolute Unterordnung aller eigenen Bedürfnisse unter die alleinige Wichtigkeit des Dienens, und das ist: unter die _

alleinige Wichtigkeit des Herrn. Insofern ist ihm »das selbständige für sich seiende Bewußtsein... die Wahrheit«, aber offenbar, ohne daß es sich dessen ganz bewußt ist. Dies Bewußtsein hat noch nicht ein eigenes Selbstbewußt-

60

Hegel

sein oder Fürsichsein: indem die Knechtschaft ganz »für den Andern ist«, ist es »für sienoch nicht an ihr«, daß auch sie im selbständigen Bewußtsein ihre

Wahrheit hat - und das hieße, daß sie selber selbständiges Bewußtsein ist.

Und nun bezieht sich Hegel abermals auf die Rolle zurück, die der Kampf

auf Leben und Tod für das Selbstbewußtsein spielte. Er nennt den Tod den absoluten Herrn. Das will sagen: es gibt noch einen größeren Herrn als den, in dessen Dienst und Abhängigkeit sich die Knechtschaft begeben hat. Schon der Herr bringt einen in der Hingabe des Dienens zur »Auflösung«, d.h. zum Verzicht auf die Anhänglichkeit an das eigene natürliche Dasein und seine Bedürfnisse. Das liegt in der völligen Unterordnung: es kommt dem dienenden Bewußtsein auf nichts so sehr an wie auf die Zufriedenheit des Herrn. Aber wieviel mehr noch hat einer in der Todesfurcht, dieser totalen Auflösung, auf alles Außen Verzicht leistend nur noch sich festhalten wollen, »das einfache Selbstbewußtsein, das reine Fürsichsein«. Der absolute

Herr, der Tod, der die absolute Unterwerfung abverlangt, wirft also den Zitternden ganz auf sich selbst zurück. Das reine Fürsichsein ist, gerade weil in der »Furcht des Todes: nichts anderes mehr standhält, woran

man sich

halten könnte, »bewußt« geworden, d.h. es ist »für es geworden, woraufes ihm wahrhaftig ankommt - und das ist der Grund, warum die Knechtschaft nun ein Selbstbewußtsein des Dienens gewinnt: der Diener beweist sich auf eine neue Weise, die noch anderes ist als die Selbstaufgabe des Dienens, sein

eigenes Fürsichsein: »es [das knechtische Bewußtsein] hebt darin in allen einzelnen Momenten [nicht nur in der allgemeinen Auflösung der Furcht des Todes] seine Anhänglichkeit an natürliches Dasein auf und arbeitet dasselbe hinweg. « »Das natürliche Dasein hinwegarbeiten« — damit ist das Stichwort gefallen, wie das Wissen um das reine Fürsichsein, das dem dienenden Bewußtsein »für es selbst« geworden ist, zu sich selbst kommt:

durch die

Arbeit. Die Arbeit ist ‚gehemmte Begierde«. Statt unmittelbar die Begierde zu befriedigen, hält das Bewußtsein an sich, vernichtet den Gegenstandnicht (aufgehaltenes Verschwinden), sondern macht ihn zu einem Bleibenden,

indem es ihn »bildet«, ihm seine Form aufprägt. Das arbeitende Bewußtsein kommt, indem es seinen Gegenstand herstellt, »zur Anschauung des selbständigen Seins als seiner selbst«. Es ist klar, was gemeint ist: es ist das Selbstbewußtsein des Könnens, das sich beständig und dauerhaft in dem bestätigt sieht, was es »bildet« und gebildet hat. Es ist durch die Arbeit, daß das für sich seiende Selbstbewußtsein sich im »Element des Bleibens« ansiedelt. Das ist in der Tat die positive Bedeutung des Formierens, ein Selbstbewußtsein zu gewähren, das auch der Sklave haben kann. Das &p nyiv des stoischen Bewußtseins ist im Grunde erreicht. Nicht umsonst ergänzt Hegel diesen Gedankengang durch einen zweiten. Denn noch tiefer greift die negative Seite des »Formierens«, indem es die

Die Dialektik des Selbstbewußtseins

61

Überwindung der Furcht leistet®. Nun wird erst vollends klar, daß es sich hier um eine, ja, um die entscheidende Phase in der Genealogie der Freiheit handelt. Nicht nur Bestätigung seiner selbst im Seienden, sondern Sichdurchsetzen gegen die Abhängigkeit vom Seienden macht die Freiheit des Selbstbewußtseins aus. Es wird sich nicht zum Seienden, indem es das Werk seiner Arbeit hervorbringt, sondern es wird »für sich selbst ein Fürsichseiendes«. Hegel gibt damit erneut dem »Zittern vor dem fremden Wesen« die entscheidende Bedeutung für das Selbstbewußtsein. In der Tat ist nicht die Angst des knechtischen Wesens als solche der Schritt in die Freiheit. Daß jemand im Kampf das Leben der Ehre aus Angst voranstellt, bedeutet gewiß noch nicht jenes Erzittern bis in die letzte Fiber seiner selbst, in der allein das

reine »Fürsichsein« seiner gewiß zu werden vermag. Wer unter Mißachtung der verletzten Ehre, und das heißt: der verweigerten Anerkennung

zum

Trotz, am Dasein hängt, ist wirklich ein Sklave, den die Kette des natürlichen Seins gebunden hält. Hegel sagt sogar, es könne jemand »als Person anerkannt werden, auch wenn er selbst die Wahrheit dieses Anerkanntseins

als eines selbständigen Selbstbewußtseins nicht erreicht« - eine merk würdige Stelle. Offenbar spielt Hegel darauf an, daß die Rechtsordnung, die niemanden als Sache (res), sondern stets als Person anzuerkennen nötigt,

gerade weil sie ‚ohne Ansehn der Person«- und das heißt ja, in Anerkennung der Gleichheit aller als »Personen« — Recht spricht, noch kein wirkliches Selbstbewußtsein garantiert. Die Aufhebung der Sklaverei ist noch nicht das Ende des knechtischen Sinnes. Die Arbeit, die einer nicht mehr für den

Herrn leistet, bedeutet nicht als solche eine Befreiung zu wahrem Selbstbewußtsein - ja nicht einmal die »freie« sich betätigende »Geschicklichkeit« wäre das -, sie kann eine Freiheit darstellen, die noch in der Knechtschaft stehen

bleibt. Es gelingt ihr allerhand, ohne daß es als wahres Können ein selbständiges Bewußtsein, ein Selbstbewußtsein des »Berufs« ist - so wie der Eigen-

sinn sich nur vermeintlich seine Freiheit bestätigt und eine Form der rebellierenden Abhängigkeit ist. Damit die Arbeit ein wahres Selbstbewußtsein begründet, muß sie vielmehr aufdem Bewußtsein beruhen, das ich oben »Bewußtsein des Könnens«

nannte Wesen Weise, Form

und »das über die allgemeine Macht und das ganze gegenständliche_ mächtig ist« (150). Hegel entwickelt diese Freiheit des Könnens in der daß er am Formieren die Aufhebung der entgegengesetzt seienden unterstreicht. »Aber dies gegenständliche Negative ist gerade das

fremde Wesen, vor welchem es gezittert hat. « Das ist eine kühne These, die

es zu explizieren gilt. Ohne Frage ist der Tod die Erfahrung einer letzten 8 Nur im Hinblick auf gängige Mißverständnisse (H.Popitz, Der entfremdete Mensch. Basel 1953. 131ff.) sei betont, daß der negative Begriff von Arbeit bei Hegelim wertenden Sinne jedenfalls der eigentlich positive ist. Hegel pflegt Hegelsche Begriffe, wie hier »negativ«, meist im Hegelschen Sinne zu gebrauchen.

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Hegel

Abhängigkeit des Daseins, gegen die es sich in seinem Fürsichsein unmittelbar auflehnt. Dieser fremde Herr, der über alles Herr ist, steht so für alles Fremde, wovon das eigene Selbstbewußtsein abhängt. In diesem Sinne ist jede Aufhebung eines solchen Fremden - und sei es auch nur die gekonnte Aufhebung der seienden Form der Dinge - eine Befreiung des eigenen Selbstbewußtseins. Darin erst liegt die eigentliche Bestätigung, die das Selbstbewußtsein des Könnens erbringt, daß es »als sein eigenes für es« wirdalso nicht nur im einzelnen Seienden, das es hervorbringt, sich erkennt, sondern im eigenen Fürsichsein des Könnens: »Es setzt sich« — es befestigt sich als Fürsichsein im Element des Bleibens und ist nicht länger die bloße Auflösung des natürlichen Daseins, das im Selbstgefühl der Angst und des Dienens sein Zittern wegarbeitet. Obwohl es in der Arbeit für den Herrn fremder Sinn:zu sein schien (und als Dienen auch war), wird das dienende Bewußtsein, indem es sich der Arbeit als Arbeit- und nicht nur dem Herrnhingibt, seiner selbst bewußt. Indem es die Form als die eigene »heraussetzt«, d.h. herstellt, erkennt es sich selbst darin und ist sich so, gerade in der

Arbeit, eigener Sinn: »Das kann ich.« - Gewiß ist das noch nicht die volle Selbstbegegnung, wie sie uns etwa das Werk der Kunst gewährt, das uns das Wiedererkennen: »das bist du« erlaubt. Es ist bei Hegel hier nicht von der bestimmten Form die Rede, die das arbeitende Bewußtsein dem Ding gab, die so wäre, daß es sich in ihr erkennte, es ist überhaupt nicht von »Ding«,

sondern allein von »Form« die Rede. Daß es eine von ihm selbst der Sache gegebene Form ist, immer wieder ein und dieselbe, das allein ist es, worin es

sich bestätigt sieht. Daher bestätigt es sich nicht im Anschauen irgendeines bestimmten Seienden als solchen, sondern nur in der Form, die die seine ist,

und die ihm gerade dadurch sein reines Fürsichsein, in der Freiheit seines Könnens, zur Darstellung bringt. Streng genommen ist es also gar nicht das Können als solches, diese »Geschicklichkeit:, sondern das Bewußtsein des

eigenen Könnens, das der allgemeinen Auflösung - der Vernichtung durch das Nichts der Andersheit- standhält und wahres Selbstbewußtsein begründet. Die Geschichte der Freiheit ist damit gewiß nicht zu Ende. Aber in der Geschichte des Bewußtseins der Freiheit ist damit der entscheidende Schritt getan. Das zeigt der Fortgang: Dies Fürsichsein ist als sallgemeine Auflösung« des Selbstbewußtseins »eine neue Gestalt des Selbstbewußtseins geworden, ein Bewußtsein, welches denkt oder freies Selbstbewußtsein ist«

(151) — das aber ist das wahrhaft Allgemeine, in dem’ich und du dasselbe sind. Es wird sich als vernünftiges Selbstbewußtsein entfalten. Vernunft haben oder zeigen heißt ja in der Tat, von sich selber absehen können und das gelten lassen, worin kein einzelnes Selbst vor einem anderen etwas voraus-

zuhaben meinen kann. Daß zweimal zwei vier ist, ist nicht meine und nicht deine und auch keine der gegenseitigen Anerkennung bedürftige Wahrheit

Die Dialektik des Selbstbewußtseins

63

es ist Vernunft als die Gewißheit, alle Realität zu sein. Das gibt der Erfahrung, dem Standpunkt der beobachtenden Vernunft, ihren festen Grund, daß das Andere nicht ein anderes der Vernunft ist. Underst recht gilt das von aller Verwirklichung des Selbstbewußtseins, d.h. von aller tätigen Vernunft, daß die gegenständliche, wirkliche Welt »alle Bedeutung eines Fremden verloren hat« (314). Es ist der Geist, d.h. von der Art echter Allgemeinheit, wie die Sittlichkeit und die Sitte, die alle selbstverständlich eint. Darin ist das Selbstbewußtsein nicht verloren, sondern es wird sich darin finden,

wohl wissend, daß seine Einzelheit unrecht hat. Es war ein Unglück für das Verständnis dieses Kapitels, daß Karl Marx diese Dialektik von Herr und Knecht in ganz anderen Zusammenhängen genutzt hat. Zwar war das, wie wir oben zeigten, nicht einfach ein Mißverständnis und Mißbrauch Hegels. Daß der Knecht durch die Arbeit ein höheres Selbstbewußtsein erreicht als der genießende Herr hat, ist vielmehr die Voraussetzung dafür, daß er sich auch im äußeren Sinne der gesellschaftlichen Existenz — wie der Bürger vor ihm - aus der Knechtschaft befreit. Hegel beschreibt in seiner Dialektik der Knechtschaft nicht den Lohnarbeiter, sondern weit eher den leibeigenen Bauern und Handwerker. Die Emanzipation der Städte und dann später die der Bauern, die im revolutionären Aufstieg des tiers tat zur politischen Verantwortung ihren Ausdruck fand, hat mit der des Arbeiters als des Lohnsklaven des Kapitalismus nur eine strukturelle Verwandtschaft. Die eigentliche Funktion der Arbeit für das Selbstbewußtsein erfüllt sich eben in der nicht-entfremdeten Arbeitswelt. In der Phänomenologie des Geistes, die Hegel beschreibt, ist mit der inneren Freiheit des Selbstbewußtseins,

die sich aus der Dialektik von Herrschaft

und Knechtschaft ableitet, aber durchaus nicht das letzte Wort gesprochen. Insofern ist es eine ganz oberflächliche Kritik, wenn man als das Resultat dieser Dialektik die Befreiung des Lohnsklaven von der Herrschaft des Kapitals sucht und vermißt. Daß sich das Selbstbewußtsein als freies in das ganze gegenständliche Wesen hineinarbeiten, die Solidarität des sittlichen Geistes und die Gemeinsamkeit der Sitte als selbstverständliche Wahrheit erreichen muß und die Verwirklichung der Vernunft als eine menschliche und gesellschaftliche Aufgabe zu vollbringen hat, das hätte man dem Manne, der die Einheit von »wirklich» und »vernünftig« gelehrt hat-und daskann gewiß nicht die Gutheißung alles Bestehenden heißen -, nicht als neue kritische Weisheit entgegenhalten dürfen. Marx hat zwar seine kritische Auseinandersetzung mit Hegel nicht hier, sondern, wie es angemessen erscheinen kann, an der »Rechtsphilosophie« eingesetzt. Aber sein dogmatischer Begriff von Bewußtsein und von Idealismus, den er mit seinen Zeitgenossen teilt, hat ihn gehindert zu erkennen, daß Hegel es sich nie hatträumen lassen, daß Arbeit nur die Arbeit des Gedankens sei und daß das Vernünftige allein durch Denken verwirklicht würde. So ist auch die Arbeit, von der hier

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Hegel

die Rede ist, die materielle Arbeit, und die Erfahrung, die das Bewußtsein hier macht, ist die von der Geistigkeit aller Handarbeit. Wenn es nun wahr ist, daß die Produktionsweise der modernen Industrie und die Betriebsform

der industriellen Gesellschaft dem Arbeitenden nicht erlaubt, den eigenen Sinn in der Arbeit zu finden, der allein ein freies Selbstbewußtsein möglich macht, so stellt sich angesichts des umfassenden Charakters dieser Arbeitsweise notwendig die Frage: Wer ist denn in der industriellen Gesellschaft von heute mit ihrem allesbezwingenden Sachzwang und Konsumzwang wirklich frei? Gerade angesichts dieser Frage scheint mir Hegel mit der Dialektik von Herr und Knecht den Grundriß einer gültigen Wahrheit zu zeichnen. Zuallererst muß die Kette der Dinge zerbrochen werden, wenn Freiheit sein soll. Der Weg der Menschheit in den allgemeinen Wohlstand ist nicht schon als solcher ein Weg in die Freiheit aller - er könnte sehr wohl auch ein Weg in die Unfreiheit aller werden.

4. Die Idee der Hegelschen Logik 1971

Die Philosophie Hegels erfuhr in unserem Jahrhundert eine überraschende Wiederkehr, nachdem sie jahrzehntelang die Rolle des Prügelknaben gespielt hatte und vom Standpunkte der Erfahrungswissenschaften aus den Inbegriff verwerflicher Spekulation repräsentierte. Noch bis zum heutigen Tage ist eine solche Einschätzung Hegels im angelsächsischen Ausland vorherrschend.

Es war

im Zeitalter des Neukantianismus,

daß sich das

Interesse an der Hegelschen Philosophie allmählich wieder belebte. In Italien und Holland, in England und Frankreich gab es um die Jahrhundertwende eindrucksvolle Vertreter des spekulativen Idealismus. Es sei nur an Croce, _ Bolland und Bradley erinnert. In derselben Zeit trat der geheime Hegelianismus, der in der Philosophie des Neukantianismus selber wirksam war, auch

in Deutschland eigens in das philosophische Bewußtsein, vor allem im Heidelberger Kreis von Wilhelm Windelband, dem Männer wie Julius Ebbinghaus, Richard Kroner, Paul Hensel, Georg Lukäcs, Ernst Bloch und

andere angehörten, sowie in der Fortentwicklung der Marburger Schule (Nicolai Hartmann,

Ernst Cassirer).

Indessen

bedeutete das noch keine

wirkliche philosophische Aktualität Hegels, sofern dieser sog. Neuhegelianismus die von Hegel an Kant geübte Kritik nur eben wiederholte. Doch änderte sich das in Deutschland mit dem von Martin Heidegger ausgehenden Impuls und später mit dem gesellschaftswissenschaftlichen Hegel-Interesse, das von Frankreich aus vor allem durch die Vorlesungen von Alexander Kojeve geweckt worden war. Beide Anstöße lenkten das Interesse der Philosophie mit einer gewissen Einseitigkeit auf das erste große Werk Hegels, die »Phänomenologie des Geistes«. Dagegen blieb bis heute die »Logik« noch recht zurück. In Wahrheit ist aber nicht die »Phänomenologie des Geistes« das systematische Hauptwerk der Hegelschen Philosophie, wie sie das 19. Jahrhundert jahrzehntelang beherrscht hatte. Die »Phänomenologie des Geistes« ist eher eine Art Vorwegnahme, in der Hegel das Ganze seines Denkens unter einem besonderen Gesichtspunkte zusammenzufassen

versuchte. Anders als für den Verfasser der drei Kritiken, der darüber mit

seinen Nachfolgern in Streit geriet, stand es für Hegel ganz unbezweifelt fest, daß diese phänomenologische Einleitung in sein System in gar keinem Sinne das System der philosophischen Wissenschaften selber war. Im Unter-

66

Hegel

schied dazu ist die Wissenschaft der Logik« nicht nur der erste Schritt in der Richtung auf den Aufbau des Systems der philosophischen Wissenschaften, wie es später die sog. »Enzyklopädie« zur Darstellung bringt, sondern ist dessen erster und grundlegender Teil. Ohnehin ist die ‚Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften« eigentlich nur ein Textbuch für Hegels Vorlesungen. Der große Einfluß, den Hegel auf das 19. Jahrhundert ausübte, kam nicht so sehr aus dem sibyllinischen Tiefsinn seiner Bücher, sondern

aus der großartigen Anschaulichkeit seiner Vorlesungen. Hegels Bücher sind aber im Grunde nur die »Phänomenologie des Geistes« und eben die ‚Wissenschaft der Logik“. Nur diesen Teil seines Systems der philosophischen Wissenschaften hat er wirklich vollendet. Selbst die berühmteste Buchpublikation Hegels, auf die das 19. Jahrhundert vor allem blickte, seine ‚Rechtsphilosophie«, ist in Wahrheit nichts als ein Textbuch für den akademischen Unterricht und nicht die wirkliche Ausarbeitung eines Teils des Systems. Alle diese Tatsachen lassen es an der Zeit erscheinen, in das Zentrum der Hegelstudien stärker als bisher die ‚Wissenschaft der Logik« zu stellen. Die Verständigung über Hegels Idee der logischen Wissenschaft möge daher eine Auseinandersetzung

vorbereiten,

wie sie von

unserem

gegenwärtigen philosophischen Interesse aus geboten ist. Ich werde zunächst die Idee der Hegelschen Logik im allgemeinen behandeln, dann die Methode dieser Logik, drittens will ich den Anfang der Logik, eines der meistdiskutierten Probleme der Hegelschen Philosophie, etwas genauer untersuchen und schließlich in einem vierten Teil die Aktualität der Hegelschen Logik vor allem unter dem Gesichtspunkt erörtern, wie sich dieselbe zu dem Problem der Sprache verhält, das in der heutigen Philosophie eine so zentrale Rolle spielt.

ER Hegel will mit seiner Logik die von Kant begründete Transzendentalphilosophie zu ihrer Vollendung bringen. Nach Hegel war Fichte der erste, der die universale systematische Tragweite der kantischen transzendental-philosophischen Betrachtungsweise begriffen hatte. Zugleich aber war er der Ansicht, daß Fichtes eigene »Wissenschaftslehre« die große Aufgabe nicht wirklich zu Ende geführt habe, die Allheit des menschlichen Wissens aus

dem Selbstbewußtsein zu entfalten. Genau diesen Anspruch verkörperte freilich Fichtes »Wissenschaftslehre«. Fichte erblickte in’ der Spontaneität des Selbstbewußtseins die eigentliche Urhandlung, die »Tathandlung«, wie er es nannte. Diese autonome Handlung des Selbstbewußtseins, sich zu sich selbst zu bestimmen, die Kant als das Wesen der praktischen Vernunft durch

den Begriff der Autonomie formuliert hatte, sollte nun der Quellpunkt für jede Wahrheit des menschlichen Wissens sein: Das Ich ist dies unmittelbare

Die Idee der Hegelschen Logik

67

Selbstbewußtsein« (Logik I, Phil. Bibl. S. 61). Hegel bemerkt dagegen, daß damit eine Idee des reinen Ich als des Selbstbewußtseins nur »unmittelbar gefordert: sei. Ein solches subjektives Postulat verbürge kein sicheres Verständnis von dem, was hier Selbst, d.h. das Ich im transzendentalen Sinne sei. Nun wird man sich hüten müssen, Hegels Schema einfach zu übernehmen, demzufolge Fichte einen bloß subjektiven Idealismus gelehrt und erst Hegel diesen subjektiven Idealismus mit dem objektiven Idealismus der Schellingschen Naturphilosophie zu der großen gültigen Synthese des absoluten Idealismus vereinigt habe. In Wahrheit beruht die Wissenschaftslehre Fichtes durchaus auf der Idee des absoluten Idealismus, d.h. auf der Entfal-

tung des gesamten Inhalts des Wissens als des vollendeten Ganzen des Selbstbewußtseins. Doch wird man Hegel darin recht geben müssen, daß Fichte die Einleitung in diesen absoluten Standpunkt der »Wissenschaftslehre«, d.h. die Erhebung und Reinigung des empirischen Ich zum transzendentalen, mehr gefordert als geleistet habe. Eben das ist es, was Hegel nun selbst durch seine »Phänomenologie des Geistes« geleistet haben will. Man kann es auch so ausdrücken: Hegel weist nach, daß das reine Ich Geist ist. Das ist das Resultat auf dem Weg, den der erscheinende Geist durchläuft, indem er seine

Erscheinung als Bewußtsein und als Selbstbewußtsein (auch als das »anerkannte« Selbstbewußtsein des »Wirc) hinter sich läßt und ebenso alle Gestalten des Vernünftigen und des Geistigen, die noch den Gegensatz des Bewußtseins an sich haben. Die Wahrheit des Ich ist das reine Wissen. Am Schluß des letzten Kapitels der »Phänomenologie« über das absolute Wissen« steht daher die Idee der »philosophischen Wissenschaft«, deren Momente sich nicht mehr als bestimmte Gestalten des Bewußtseins, sondern als bestimmte

Begriffe darstellen. Das ist aber zunächst die Logik. Der Beginn der Wissenschaft beruht also auf dem Resultat der Erfahrungen des Bewußtseins, das mit der sinnlichen Gewißheit beginnt und sich in den Gestaltungen des Geistes vollendet, die Hegel »absolutes Wissen« nennt: der Kunst, der Reli-

gion und der Philosophie. Sie sind absolut, weil in ihnen kein meinendes Bewußtsein über das hinausgeht, was sich in ihnen in voller Affırmation zeigt. Hier zuerst beginnt die Wissenschaft, weil hier zuerst nichts als die Gedanken, d.h. der reine Begriffin seiner reinen Bestimmtheit gedacht wird (Phän., S. 562). Das absolute Wissen ist also das Resultat einer Reinigung, in dem Sinne, daß als die Wahrheit des transzendentalen Ich-Begriffs Fichtes herausgekommen ist, nicht bloß Subjekt zu sein, sondern Vernunft und Geist und damit alles Wirkliche. Das ist Hegels eigenste Grundlegung, durch die er das absolute Wissen als die Wahrheit der Metaphysik, wie sie _ etwa Aristoteles als Nous oder Thomas im Intellectus agens gedacht hat, wiederherstellt und dadurch eine allgemeine Logik (die die Gedanken Gottes vor der Schöpfung entfaltet) möglich macht. Sein Begriff des Geistes, der

68

Hegel

die subjektiven Formen des Selbstbewußtseins übersteigt, geht also auf die Logos-Nous-Metaphysik der platonisch-aristotelischen Tradition zurück, die noch vor aller Problematik des Selbstbewußtseins liegt. Hegel hat damit für sich die Aufgabe gelöst, den griechischen Logos auf dem Boden des modernen, sich selber wissenden Geistes neu zu begründen. Aus der Selbstaufklärung des Bewußtseins über sich selbst ergibt sich das Licht, in dem alles Wahre steht, ohne jede weitere onto-theologische Begründung. Will man unter dieser Perspektive die Idee der Hegelschen Logik charakterisieren, ist es gut, die platonische Dialektik zum Vergleich heranzuziehen. Denn das ist das Vorbild, das Hegel ständig gegenwärtig hat. Er sah in der griechischen Philosophie die Philosophie des Logos, d.h. die Kühnbheit, »die reinen Gedanken in sich zu betrachten«. Ihr Resultat ist die Entfaltung des Universums der Ideen. Hegel gebraucht dafür einen charakteristischen neuen Ausdruck, den ich bisher nicht vor ihm nachweisen kann. Es ist der Ausdruck »das Logische«. Was er damit charakterisiert, ist der Gesamtbereich der Ideen, wie ihn die platonische Philosophie in ihrer Dialektik.

entfaltet. Bei Plato war es der bewegende Impuls gewesen, sich von jedem Gedanken Rechenschaft zu geben. Platos Ideenlehre wollte die große Forderung des platonischen Sokrates, die Rechenschaftsgabe (Aöyov dröövan), mit seiner Ideenlehre einlösen. Es ist nun der Anspruch der Hegelschen Dialektik der Logik, diese Forderung, sich von der Rechtmäßigkeit eines jeden Gedankens klare Rechenschaft zu geben, durch systematische Entfaltung aller Gedanken zu erfüllen. Das konnte freilich nicht mehr in der lebendigen Führung eines sokratischen Gesprächs geschehen, das eine vermeintliche Wissensvorstellung nach der anderen überwindet, indem es sich schrittweise fragend und antwortend Einverständnis verschafft, und auch nicht in der

platonischen Begründung dieses Verfahrens durch die Ideenlehre, sondern auf der Grundlage der methodischen Konsequenz der »Wissenschaft«, die in der cartesianischen Methodenidee ihren letzten Grund hat und sich unter dem Gesichtspunkt der Transzendental-Philosophie aus dem Prinzip des Selbstbewußtseins entfaltet. Die systematische Ableitung der reinen Begriffe in der »Wissenschaft der Logik«, in der der Geist »das reine Element seines Daseins, den Begriff«, gewonnen hat, bestimmt dann das System der Wissenschaft als Ganzes. Sie stellt das All der Möglichkeiten des Gedankens als die Notwendigkeit dar, mit der sich die Bestimmtheit immer weiter bestimmt - in einem Sinn, für den Platos unendliches Gespräch der Seele mit sich selber nur ein formales Vorbild war. :

Die Idee der Hegelschen Logik

69

2)

Im Rückblick auf die griechische Philosophie läßt sich auch die Idee der Methode allein verstehen, durch die Hegel die überlieferte Logik zu einer echten philosophischen Wissenschaft zu machen suchte: die Methode der Dialektik. Die Dialektik entstammt dem großartigen Wagemut der eleatischen Philosophie, sich gegenüber dem Augenschein der sinnlichen Erfahrung konsequent und rücksichtslos an das zu halten, was das Denken, und allein das Denken, fordert. Nach einem berühmten Ausdruck Hegels waren es diese griechischen Denker, die als erste das feste Land hinter sich ließen und es wagten, sich allein mit Hilfe des Gedankens auf das hohe Meer des Denkens zu begeben. Sie waren die ersten, die das »reine< Denken forderten und vollzogen, das uns noch aus dem Titel von Kants Hauptwerk, derKritik der »reinen« Vernunft, nachklingt. Der Ausdruck »reines Denken« weist

dabei offenkundig auf pythagoreisch-platonischen Ursprung. Es ist die Reinigung, die Katharsis, durch die sich das Denken von jeder Trübung durch die Sinne befreit. Plato hat diese Kunst des reinen Denkens in der Darstellung sokratischer Gesprächsführung porträtiert, die der Konsequenz des Gedankens unbeirrbar nachgeht. Nun bemerkt Hegel mit einem gewissen Recht, daß es der Mangel der platonischen Dialektik sei, daß sie nur negativ sei und keine positive wissenschaftliche Erkenntnis vollbringe. In der Tat ist die platonische Dialektik nicht eigentlich eine Methode und am wenigsten die transzendentale Methode Fichtes oder Hegels. Es gibt da keinen absoluten Anfang und keine Begründung in einer Idee des absoluten Wissens, das von allem Gegensatz des Wissens und Gewußten befreit wäre und alles Wissen in sich befaßte, so daß sich der ganze Inhalt des Wissens als die Fortbestimmung des Begriffs zu sich selbst vollendete. Es war etwas anderes, was sich bei Plato

findet und was für das Hegelsche Denken vorbildlich wurde: die Verkettung der Ideen. Die Grundüberzeugung, die wir vor allem im »Parmenides« entwickelt finden, ist, daß es keine Wahrheit einer einzelnen Idee gibt, so daß

eine Idee Isolieren immer ein Verkennen der Wahrheit ist. Die Ideen sindnur in ihrer Verkettung, Vermischung oder Verflechtung, wie sie im Reden

begegnen oder im Gespräch der Seele mit sich selbst, jeweils »da«. Das menschliche Denken hat nicht die Verfassung eines ursprünglichen und unendlichen, anschauenden Geistes, sondern erfaßt, was ist, immer nur in

diskursiver Entwicklung seiner Gedanken. Das hat insbesondere die kantische Philosophie eingeschärft, indem sie die Legitimität des Begriffs durch den Bezug auf mögliche Erfahrung zurückgebunden hat. Die hinter Platos ‚Parmenides« sichtbare Wahrheit war es jedenfalls, daß Logos immer ein Komplex von Ideen, die Beziehung von Ideen aufeinander ist. Und insofern ist die erste Wahrheit der Hegelschen Logik eine Wahrheit Platos, die schon

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Hegel

im »Menon« in der Form anklingt, daß die gesamte Natur miteinander verwandt ist, so daß der Weg der Erinnerung an Eines der Weg zu Allem ist. Es gibt keine einzelnen Ideen, und es ist die Aufgabe der Dialektik, die Unwahrheit des Fürsichseins aufzulösen. Das einzusehen, ist bei den sog. Reflexionsbestimmungen am leichtesten. Jedermann weiß, daß Identität keine selbständige Bedeutung hätte, wenn nicht in der Selbigkeit auch die Unterschiedenheit impliziert wäre. Identität ohne Unterschied wäre absolut nichtig. So sind die Reflexionsbestimmungen das überzeugendste Argument für die innere Verkettung der Ideen miteinander. In der Tat liegen sie der Argumentation im platonischen »Sophistes« zugrunde, weil sie jegliche Verflechtung von Ideen zum Ganzen einer Rede überhaupt erst möglich machen. Nun muß man freilich schon bei der platonischen Ideendialektik beachten, daß Plato die reinen Reflexionsbegriffe, die dem Logos als solchem zukommen, nicht mit voller Klarheit von den »Weltbegriffen« abgehoben hat. So finden sich »kosmologische« Begriffe, wie Bewegung und Ruhe mit den Reflexionsbegriffen der Verschiedenheit und Selbigkeit im »Sophistes< wie im »Timaios« auf eigentümliche Weise verschmolzen. Eben diese Verschmelzung liegt dem Anspruch zugrunde, daß die Dialektik das Ganze der Ideen zu denken vermöge. Dabei bleibt der grundsätzliche Unterschied von »Kategorien«, die den allverbindbaren »Vokalen des Seins«, von denen der »Sophistes« redet, entsprechen, und sachhal-

tigen Begriffen, die jeweils nur eine begrenzte Seinsregion artikulieren, unangefochten. Indessen knüpft Hegels Anspruch gerade hier an. Für ihn sind Gegenstandsbegriffe und Reflexionsbegriffe nur verschiedene Stufen in der gleichen Entfaltung: die Begriffe des Seins und die Begriffe des Wesens vollenden sich in der Lehre von dem Begriff. Er möchte alle Grundbegriffe unseres Denkens systematisch auseinander entwickeln, weil sie insgesamt Bestimmungen des Begriffes, d.h. Aussage des Absoluten sind und es nur der systematischen Methode bedürfe, die Verknüpfung aller Begriffe miteinander zu entfalten. Was sich in der Lehre vom »Begriff« vollendet, ist mithin die Einheit von Denken und Sein, die ebensoschr dem aristotelischen

Begriff der »Kategorie« als dem kantischen Begriff derselben entspricht. Auf ihr beruht die Idee der neuen Wissenschaft der Logik, die Hegel der traditionellen Gestalt der Logik ausdrücklich entgegensetzt. Nachdem Kant den transzendentalen Gesichtspunkt erreicht, den Logos der Gegenständlichkeit, d.h. ihre kategoriale Konstitution zu denken gelehrt habe, könne die Logik nicht mehr formale Logik bleiben, die sich auf die bloßen Formbeziehungen von Begriff, Urteil und Schluß einschränke. Die neue Wissenschaftlichkeit, die Hegel in die Logik bringen will, besteht darin, daß er im Ausgang von den traditionellen kantischen Theorien das universale System der Verstandesbegriffe zum Ganzen der »Wissenschaft« entfaltet. Wenn dieses System der Kategorien auch aus der Reflexion

Die Idee der Hegelschen Logik

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des Denkens auf sich selbst geschöpft ist, so sind doch die Kategorien selber gerade keine bloßen Reflexionsbestimmungen. Kant nannte die Reflexionsbestimmungen ja geradezu vamphibolisch« und schloß sie aus der Kategorientafel aus, weil sie keine eindeutige gegenstandsbestimmende Funktion besitzen. Kategorien sind auch nicht bloße Formbestimmungen der Aussage oder des Denkens, sondern erheben den Anspruch, in der Form der Aussage die Seinsordnung zu erfassen. So ist es bei Aristoteles, und so will auch die kantische Theorie der synthetischen Urteile a priori ihrerseits rechtfertigen, wie reine Verstandesbegriffe auf die Erfahrung der in Raum und Zeit gegebenen Welt legitime Anwendung finden können. Hegels Idee der Logik will nun diese Tradition der Kategorienlehre als der Lehre von den Grundbegriffen des Seins, die den Gegenstand der Erfahrung konstituieren, zusammen mit den reinen Reflexionsbegriffen, die bloße Formbestimmungen des Denkens sind, in einem einheitlichen Zusammenhang begreifen. Anders gesprochen, er sucht dem aus der aristotelischen Metaphysik stammenden Begriff der »Form« seine ursprünglich gegenständliche Bestimmung zurückzugeben. So versteht sich der Aufbau seiner Logik, die die Lehre vom »Sein« und die Lehre vom »Wesen« in der Lehre vom »Begriff« vereinigt. Die Lehre vom Sein folgt der kantischen Kategorientafel insoweit, als sie Qualität und Quantität umfaßt, während die Lehre vom Wesen und vom Begriff die Relations- und Modalkategorien entfaltet. In der Unruhe beständiger, sich selbst aufhebender Negativität sollen alle diese möglichen Bestimmtheiten zu systematischer Ableitung gelangen. Das Ideal einer so vollendeten Wissenschaft der Logik schließt nun. nicht etwa ein, daß diese Vollendung in einem subjektiven Sinne je vollständig erreicht wäre. Hegel selbst erkennt durchaus an, daß seine eigene Logik ein Versuch sei und der Vervollkommnung bedürfe. Offenbar meint er damit, daß man in feineren Unterscheidungen ausarbeiten könne, was er nur in großen Linien skizziert habe, so wie er selbst im Unterricht offenbar man-

nigfache Wege der Ableitung versucht hat. Insofern stellt die methodische Notwendigkeit, durch die sich die inneren Beziehungen der Begriffe kraft ihrer eigenen Dialektik entfalten, keine Notwendigkeit im subjektiven Sinne dar. Man kann in der Tat beobachten, daß Hegel sich auch in seinen eigenen Veröffentlichungen selber korrigiert, nicht nur im Unterschiede etwa der zweiten Auflage des ersten Bandes der »Logik« von der ersten Auflage, sondern auch innerhalb ein und desselben Textes. Er kann etwa sagen, daß er dieselbe Sache noch von einem anderen Gesichtspunkt aus zeigen wolle; daß man zu dem gleichen Resultat auch auf eine andere Weise gelangen könne usw. Hegel meint also nicht nur, daß er die große Aufgabe nicht vollendet habe, die er sich mit seiner »Logik« gestellt hat, sondern darüber hinaus, daß sie in einem absoluten Sinne überhaupt nicht vollendbar sei.

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Hegel

Dem entspricht, daß es einen Unterschied zwischen den operativen Begriffen des Denkens und ihrer Thematisierung gibt. So ist es einleuchtend, daß man die Kategorien des Wesens, z.B. die Reflexionsbestimmungen, immer schon gebrauchen muß, wenn man überhaupt Aussagen machen soll. Man kann nicht einen Satz sagen, ohne darin die Kategorien der Identität und der Verschiedenheit schon ins Spiel zu bringen. Gleichwohl beginnt Hegel seine »Logik« nicht mit den Kategorien der Identität und des Unterschiedes. Das hätte ihmja auch gar nichts helfen können. Selbst wenn er diese Kategorien der Reflexion gleich zu Anfang hätte entwickeln wollen, hätte er dabei Identität wie Differenz schon voraussetzen müssen. Wer überhaupt Sätze sagt, gebraucht verschiedene Wörter und versteht unter jedem Worte das und nicht jenes. So sind beide Kategorien, Identität und Differenz, darin schon impliziert. Hegels systematische Absicht schreibt ihm daher einen anderen Aufbau vor. Wenn er den Zusammenhang aller Kategorien auseinander ableiten will, so hater dabei den Maßstab, der durch

die Bestimmtheit als solche gegeben ist. Alle Kategorien sindjaBestimmtheiten des »Inhalts« des Wissens, d.h. des Begriffs. Indem der Inhalt sich in die

Mannigfaltigkeiten seiner Bestimmtheit entfalten soll, um die Wahrheit des Begriffs zu gewinnen, muß die Wissenschaft mit dem anfangen, worin am

wenigsten Bestimmtheit ist. Das ist der Maßstab für den Aufbau der Logik, von dem Allgemeinsten aus, d.h. dem am wenigsten Bestimmten, in dem

sozusagen fast noch gar nichts begriffen ist, zu dem vollen Inhalt des Begriffs stetig fortzuschreiten und so den ganzen Inhalt des Denkens zu entfalten. Um die Idee der Logik näher zu bestimmen, gilt es aber auch, sich den methodischen Unterschied zwischen Hegels Wissenschaft der »Phänomenologie des Geistes und der Wissenschaft der »Logik«< bewußt zu machen. Hegel selbst hat in seiner Einleitung in die »Logik« die Dialektik der Phänomenologie als ein erstes Beispiel seiner dialektischen Methode zitiert. Insofern besteht gewiß kein völliger Unterschied zwischen der in der »Phänomenologie« und der in der »Logik« vorliegenden Dialektik. Die frühere Meinung, die durch die spätere »Enzyklopädie« geprägt war, wonach die phänomenologische Dialektik »noch nicht« die reine Methode der Dialektik darstelle, ist so nicht haltbar. Das beweist allein schon die Tatsache, daß die in

der Vorrede zur »Phänomenologie« gegebene Charakteristik der dialektischen Methode als der Methode der Wissenschaftlichkeit Beispiele aus der »Logik« verwendet - und in der Tat ist diese Vorrede als Einleitung zu dem aus den beiden Teilen einer »Phänomenologie des Geistes« und einer »Logik und Metaphysik« geplanten System geschrieben worden. Gleichwohl bestehen Unterschiede, die man sich bewußt machen muß, wenn man einsehen soll, inwiefern auch die »‚Phänomenologie des Geistes« Wissenschaft ist, d.h. für die Entfaltung ihrer Gestaltenfolge Notwendigkeit in Anspruch nimmt.

In jedem Falle muß die Methode der Dialektik dafür einstehen, daß die

Die Idee der Hegelschen Logik

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Entfaltung des Ganges der Gedanken nicht willkürlich ist, nicht durch den subjektiven Einsatz des Denkenden zustande kommt, der vom einen zum anderen Punkte übergeht, und der insofern äußerlich bliebe, als man von sich aus die verschiedenen Gesichtspunkte »wählt«. Vielmehr muß sich der Fortschritt immanent notwendig ergeben, vom einen Gedanken zum anderen, von einer Gestalt des Wissens zur anderen. In der »Phänomenologie des Geistes« vollzieht sich das als ein sehr kompliziertes Spiel. Die Kapitel der Dialektik der »Phänomenologie des Geistes« sind so aufgebaut, daß in der Regel zunächst die dialektischen Widersprüche aus dem jeweilig thematischen Begriff entwickelt werden, z.B. aus dem Begriff der sinnlichen Gewißheit oder dem der Wahrnehmung, d.h. so, wie sie sich für uns, die wir darüber reflektieren, ergeben - und dann erst wird die Dialektik

beschrieben, die das Bewußtsein selber erfährt und durch die es genötigt wird, sich mit seiner Gegenstandsmeinung selber zu ändern. Es kann z.B. nicht länger meinen, mit der sinnlichen Gewißheit, die es erfüllt, mehr zu

denken als ein »allgemeines Dieses«, und muß sich daher dem beugen, daß das, was es meint, ein Allgemeines: ist, das es als »Ding« wahrnimmt. Nun istes richtig, daß das, was sich als die Wahrheit des alten Wissens ergab, wie

ein neues Wissen ist und einen neuen Gegenstand meint. Aber es leuchtet nicht ohne eine gewisse Überraschung ein, daß beispielsweise das allgemeine Dieses« die Konkretion des »Dinges« ist und die Gewißheit die der»Wahrnehmung«. Die Dialektik des Dings und seiner Eigenschaften, in die sich dann das Bewußtsein verstricken wird, erscheint wie eine neue inhaltsvolle-

re Setzung (und nicht als eine notwendige Folgerung). Indessen scheint mir, daß hier ein falscher Anspruch gestellt wird. Die Dialektik des neuen Wissens, z.B. des »Dings« und seiner Wahrnehmung, die die darin gelegenen Widersprüche entfaltet, hat gewiß thetischen Charakter. Aber nicht diese Dialektik macht die Wissenschaftlichkeit der »Phänomenologie« aus. Diese Dialektik, die wir in unserer eigenen Reflexion ausspinnen, stellt vielmehr lediglich eine beständig hineinspielende Vermittlung mit den natürlichen Vormeinungen des Bewußtseins dar. Dagegen ist die »Erfahrung«, die das Bewußtsein selber macht und die wir beobachten und begreifen, und sie allein, der Gegenstand der Wissenschaft. In ihr entfaltet sich die immanente _ Negativität des Begriffs, sich aufzuheben und weiterzubestimmen. Das ist die Notwendigkeit der »Wissenschaft«, und sie ist in der »Phänomenologie«

die gleiche wie in der »Logik«. In der »Phänomenologie des Geistes« vollzieht sich dieser Fortgang der Wissenschaft als ein Hin und Her zwischen dem, was unser Bewußtsein meint, und dem, was in dem, was es sagt, wirklich enthalten ist. So haben wir immer den Widerspruch zwischen dem, was wir sagen wollen, und dem, was wir wirklich gesagt haben, und müssen ständig das, was nicht ausreicht, hinter uns lassen und zu einem neuen Versuch ansetzen, das zu

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Hegel

sagen, was wir meinen. Das ist der methodische Progreß, durch den die ‚Phänomenologie« zu ihrem Ziele kommt, nämlich zu der Einsicht, daß Wissen dort ist, wo das, was wir meinen, und das, was ist, sich in nichts mehr unterscheiden. Dagegen wird in Hegels »Logik« dem Meinen überhaupt kein Platz mehr eingeräumt. Das Wissen ist hier nicht von seinem Inhalt mehr unterschieden. Das warjadas Resultat der »Phänomenologie« gewesen, daß die höchste Gestalt des Wissens diejenige ist, in der es den Unterschied zwischen Meinen und Gemeintem nicht mehr gibt. Daß Ich und Ding dasselbe sind, hat seine erste überzeugende Ausweisung am Kunstwerk. Das Kunstwerk ist kein Ding mehr, das man irgendwie auffassend in Beziehungen setzt, sondern es ist, wie wir sagen, eine »Aussage«, d.h. es schreibt selbst vor, wie es aufge-

faßt sein will. Den gleichen Standpunkt des »absoluten« Wissens setzt die Wissenschaft, die Philosophie ist, voraus. Daher haben wir esin dem grundlegenden ersten Teil derselben, der »Logik«, die die Wissenschaft von den Seinsmöglichkeiten ist, mit dem reinen Inhalt der Gedanken zu tun, mit den

Gedanken, die vollkommen von allem subjektiven Meinen der Denkenden abgelöst sind. Damit ist gar nichts Mystisches gemeint. Das Wissen der Kunst, der Religion und der Philosophie ist vielmehr ein solches Wissen, das

zwischen allen Denkenden derart gemeinsam ist, daß es einfach keinen Sinn mehr hat, ein individuelles Bewußtsein von einem anderen zu unterschei-

den. Diese Gestalten subjektiver Gewißheit, die in Aussagen vorliegen, denen gegenüber kein Meinen mehr Vorbehalte macht, sind deshalb die höchsten Gestalten des Geistes. Denn es macht die Allgemeinheit der Vernunft aus, daß sie von jeder subjektiven Bedingung frei ist. Wenn so das Subjektive überhaupt keinen Platz mehr hat, mag sich das Verständnis der Dialektik der »Logik« vor die Frage gestellt sehen, wieso hier, wo keine Bewegung des Denkens mehr erfahren wird, eine Bewegung der Begriffe zustande kommen soll. Warum ist das System der Begriffe nicht bloß das, woran die Bewegung des Denkens entlangläuft, sondern selber ein Bewegtes und sich Bewegendes? In der »Phänomenologie« ist Weg und Ziel der Denkbewegung klar. Es ist die Erfahrung des menschlichen Bewußtseins, wie sie sich dem beobachtenden Denker darstellt, daß es sich bei seinen ersten Vermeinungen, z.B. bei

der sinnlichen Gewißheit als der angeblichen Wahrheit, nicht halten kann, und daß es von Gestalt zu Gestalt und vom Bewußtsein bis zu den höchsten,

objektiven Gestalten des Geistes fortgetrieben wird, bis hin zu den Gestalten des absoluten Geistes, in denen Ich und Du dieselbe Seele sind. Woher soll aber in der »Logik«, dort wo es lediglich um die gedanklichen Inhalte, und gar nicht um die Bewegung des Denkens geht, eine Bewegung entstehen und ein Weg durchlaufen werden? Das ist das eigentliche Problem der »Logik« und in Wahrheit der meistdiskutierte Punkt in dem ganzen systema-

Die Idee der Hegelschen Logik

Js)

tischen Entwurf Hegels. Schon zu seinen Lebzeiten haben die Gegner Hegels -und als ihr erster und bedeutendster Schelling - die Frage diskutiert, wie in der »Logik« eine Bewegung von Ideen anfangen und weitergehen kann. Ich möchte zeigen, daß diese scheinbare Schwierigkeit nur dadurch entsteht,

daß man den Reflexionsgesichtspunkt nicht genügend festhält, unter den Hegel die Idee seiner transzendentalen Logik gestellt hat. Es ist nützlich, sich dabei an den platonischen »‚Parmenides« zu erinnern. Auch dort werden wir in eine Bewegung des Denkens gerissen, die freilich nicht so sehr eine systematische Bewegung auf ein Ziel hin scheint, sondern mehr eine Bewegung des Enthusiasmus oder der logischen Trunkenheit. Auch dort ist es so, daß es dem Denken sozusagen passiert, daß jeder Begriff nach dem nächsten ruft und nicht auf sich allein besteht, sondern sich mit einem anderen verbindet, und daß am Ende Gegenteiliges herauskommt.

Auf diese Weise gelingt das Beweisziel des »Parmenides«, daß das Fürsichdenken einer Idee unmöglich ist und daß nur aus einem Ideenzusammenhange überhaupt etwas Bestimmtes gedacht werden kann, freilich so, daß mit der gleichen Legitimität auch das Gegenteil gedacht werden kann. Da ist gewiß nichts von der Methode Hegels. Es ist mehr eine Art permanenter Unruhe, sofern keine Idee für sich allein gelten kann und sofern das widersprüchliche Resultat des Denkens neue Hypothesen heraufruft. Doch ist auch hier eine gewisse »Systematik« insofern impliziert, als das Eine, das das Sein ist, sich in die Vielheit entfaltet, die in ihm gedacht ist, und das Ganze

wie ein dialektisches Spiel verläuft, das die Extreme der Allverbundenheit und der Allgetrenntheit der Ideen entwickelt und insofern das Feld möglicher Bestimmtheit der Erkenntnis absteckt. Hegels Anspruch ist freilich von ganz anderer methodischer Strenge. Da gibt es keine Serie von Hypothesen, die einfach vorgeschlagen werden und die sich eine nach der anderen im Netzwerk der Ideen zu Widersprüchen zuspitzen lassen. Da wird ein fester Ausgangspunkt gesichert und dann ein methodischer Fortgang unternommen, in den kein Einsatz des Subjekts mehr eingreift. Aber wieso fängt in diesem Aufbau logischer Gedanken so etwas wie Bewegung und Fortgang des logischen Gedankens überhaupt an? Das wird sich an dem Anfang der »Logik« zeigen müssen. >= Dazu ist freilich daran zu erinnern, daß das, was man wirklich den Text

Hegels nennen kann, von derselben Art ist wie in der mittelalterlichen Philosophie das sogenannte Corpus. Hegel hat es wiederholt gesagt, daß Einleitungen, Erläuterungen, kritische Exkurse usw. nicht dieselbe Legitimität haben wie der Text, d.h. der Gang der Gedankenentwicklung selbst. So behandelt er seine eigenen Einleitungen - und im Falle der »Logik«, von der wir die zweite Auflage zu lesen gewohnt sind, sind es nicht weniger als vier Einleitungen, die am Anfang stehen - als etwas, was noch nicht mit der Sache selbst zu tun hat. Es handelt sich da lediglich um ein Bedürfnis der

Hegel

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äußeren Reflexion, d.h. Vorstellungen des Lesers, soll. Der wirkliche Text, Zeilen aus, die aber die

der Vermittlung mit den schon mitgebrachten dem durch Hegels Erörterungen gedient werden mit dem die »Logik« beginnt, macht nur wenige wesentlichen Probleme der Hegelschen »Logik«

stellen: den Anfang mit der Idee des Seins, dessen Identität mit dem Nichts

und die Synthese der beiden entgegengesetzten Ideen von Sein und Nichts,

die das Werden sei. Das ist die inhaltliche Bestimmung dessen, womit nach

Hegel der Anfang der Wissenschaft gemacht werden muß. Die Frage, wie die Bewegung in die Logik kommt, wird sich von diesem Anfang aus beantworten müssen. Nun ist es klar, und Hegel macht davon auch erläuternden Gebrauch, daß es im Wesen von »Anfang« überhauptliegt, daß er dialektisch ist, d.h. daß in ihm nichts vorausgesetzt sein darf und er sich als ein erstes Unmittelbares

zeigt, und daß er doch nur Anfang ist,

sofern er Anfang des Fortganges ist, also sich als Anfang vom Fortgang aus bestimmt, durch ihn »vermittelt« ist. Wenn nun aber das Sein als das unbe-

stimmte Unmittelbare der Anfang der Logik sein soll: Mag es schon einsichtig sein, daß ein so abstraktes Sein nichts ist«, wie ist es einzusehen, daß von

diesem Sein und Nichts her der Fortgang zum Werden einsetzt? Wie kommt die Bewegung der Dialektik vom Sein her überhaupt in Gang? Auch wennes überzeugend ist, daß man Werden nicht denken kann, ohne daß man Sein und Nichts zugleich denkt, ist es doch gar nicht überzeugend, daß man umgekehrt, wenn man Sein denkt, das Nichts ist, Werden denken muß.

Hier wird ein Übergang behauptet, dem die Einsichtigkeit offenkundig fehlt, die man als dialektische Notwendigkeit anerkennt. So läßt es sich etwa durchaus einsehen, daß man vom Gedanken des Werdens zum Gedanken des Daseins fortschreiten muß. Alles Werden ist Werden von etwas, das dann durch sein Gewordensein »da ist«. Das ist die alte Wahrheit, die schon

Plato im »Philebos« formuliert als die yeyevvnuevn ovoia bzw. y&veong eis oVotav. Es liegt im Sinne des Werdens selbst, daß es seine Bestimmtheit in dem findet, was daam Ende geworden ist. »Werden« also führt auf »Dasein«. Ganz anders aber ist es mit dem Übergang von Sein und Nichts in Werden. Ist das überhaupt im selben Sinne ein solcher dialektischer Übergang? Hegel scheint selbst diesen Fall als einen Sonderfall zu markieren, wenn er bemerkt, daß Sein und Nichts »nur im Meinen verschieden sind«. Das heißt doch, daß beide, rein für sich gedacht, jedes von dem anderen nicht unter-

scheidbar sind. Der reine Gedanke des Seins und der reine Gedanke des Nichts sind daher so wenig verschieden, daß ihre Synthese gar nicht eine neue, reichere Wahrheit des Gedankens sein könnte. Hegel drückt das etwa so aus, daß das Nichts am Sein unmittelbar hervorbricht« (S. 85). Der

Ausdruck »hervorbrechent ist offenbar genau gewählt, um die Vorstellungen von Vermittlung und Übergang fernzuhalten. So heißt es S. 79, daß das Reden von solchem Übergang den falschen Anschein des Fürsichseins im-

Die Idee der Hegelschen Logik

Zi

pliziert, und speziell für den Übergang von Sein und Nichts in Werden sagt Hegel: »jenes Übergehen ist noch kein Verhältnis« (S. 90). Daß das Nichts am Sein hervorbricht, will also sagen, daß sich zwar in unserem Meinen der Unterschied von Sein und Nichts als ein äußerster Gegensatz vorfindet, aber diesen Unterschied festzuhalten, kann dem Denken nicht gelingen. Nun ist es auffallend, daß hier überhaupt von Meinen die Rede ist. Denn der Unterschied zwischen dem Meinen und dem, was im Sagen wirklich vorhanden ist, gehörtja wirklich nicht mehr in die Thematik der Logik des ‚reinen Denkens: (S. 78: »nicht in diese Reihe der Darstellung«). Die Logik hat es mit dem zu tun, was im Denken als »Inhalt« da ist, und entfaltet die Bestimmungen des Gedankens dieses Da. Hier gibt es nichts mehr von dem phänomenologischen Gegensatz von Meinen und Gemeintem. Gerade auf dem Resultat der phänomenologischen Dialektik beruhteja das reine Denken der Logik. Sachlich ist also der Ausschluß des Meinens aus der Logik evident. Das soll natürlich nicht heißen, daß es ein Denken gäbe, in dem kein Meinen wäre. Es soll nur sagen, daß zwischen dem Gemeinten und dem wirklich Gedachten und Gesagten schlechterdings kein Unterschied mehr ist. Es ist gleichgültig, ob ich etwas meine oder sage oder ein anderer. Im Denken ist das Gemeinsame gedacht, das alle Privatheit des Meinens von sich ausschließt. »Ich ist von sich selbst gereinigt« (S. 60). Wenn nun hier am Anfang der Logik trotzdem auf das Meinen zurückgegriffen wird, so nur deshalb, weil wir hier noch am Anfang des Denkens stehen. Anders ausgedrückt: daß, solange wir bei Sein und bei Nichts als dem Unbestimmten verweilen, das Bestimmen, das Denken ist, noch nicht

begonnen hat. Der Unterschied von Sein und Nichts ist deshalb auf das Meinen beschränkt. Darin liegt aber implizit, daß der Sinn des Fortgangs zum Werden nicht der der dialektischen Fortbestimmung sein kann. Wenn der Unterschied von Sein und Nichts, der Bestimmtheit des Gedankens nach, zugleich ihre volle Ununterschiedenheit ist, dann läßt sich die Frage, wie aus Sein und

Nichts Werden hervorgeht, überhaupt nicht mehr sinnvoll fragen. Denn eine solche Frage schlösse ein, daß es ein Denken gäbe, das sozusagen noch nicht angefangen hätte zu denken. Sein und Nichts sind in dem, was sie als _ Gedanken für das Denken sind, so wenig Bestimmung desselben, daß Hegel ausdrücklich sagen kann, das Sein sei das leere Anschauen bzw. das leere Denken selbst (S. 67) und genau so das Nichts. »Leer< heißt nicht, daß etwas nicht ist, sondern, daß da etwas ist, das das nicht enthält, was da eigentlich sein sollte, etwas, dem das, was es sein kann, abgeht, so wie nach Hegel (S. 79) Licht und Finsternis zwei Leere sind, sofern der erfüllte Inhalt der

Welt die Dinge sind, die im Lichte stehen und einander im Lichte stehen. Das leere Denken ist also ein Denken, das noch gar nicht das ist, was Denken ist. So läßt sich das Zusammensinken von Sein und Nichts im Werden sehr wohl

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Ea.2 Hegel

als die eigentliche Wahrheit des Denkens vollziehen. »Sein geht ın Nichts über und Nichts geht in Sein über« ist also in Wahrheit eine ganz unhaltbare Ausdrucksweise, weil damit ein schon vorhandenes Sem, das von ı Nischts unterschieden wäre, vorausgesetzt würde. Man muß Hegel genau ksen dann sieht man, daß er auch nichts von einem solchen Übergang sagt.

Vielmehr sagt er, »was die Wahrheit ist, ist weder das Sein noch das Nichts, sondern daß das Sein in Nichts und das Nichts in Sein — nicht übergeht, sondern - übergegangen ist«. Ein Übergang also, der immer schon gewesen ist: Dieser Übergang ist immer »perfekt«. Worin Sein und Nichts allein sınd, ist das Übergehen selbst, das Werden. Es scheint mir sehr bezeichnend, daß Hegel das Sein wie das Nichts, seı es vom Anschauen, seı es vom Denken

her, zu beschreiben vermag (»insofern Anschauung oder Dieakeie hier erwähnt werden kann«). Der Unterschied von Anschauung oder Denken ist selber ein leerer, solange nicht etwas Bestimmtes seinen Inhalt ausmacht. Sein und Nichts sind also eher als analytische Momente im Begriff des Werdens zu behandeln. Zwar nicht im Sinne der äußeren Reflexion, die die Einheit des Gedankens durch verschiedene Denkbeziehungen aufghedert, aber auch nicht in dem Sinne, in dem aus jeder Synthesis durch Analysıs ihrer Momente der immanente Gegensatz zurückgewonnen werden kann, dessen Synthesis sie ist; ein solcher Gegensatz setzt Unterschiedenes voraus. Sein und Nichts sind aber kraft ihrer Ununterschiedenheit erst im reinen und

vollen Inhalt des Begriffs »Werden« selbst unterschieden. Was damit gemeint ist, wird vollends deutlich, wenn wir schen, wie Hegel nun am »Werden« die Momente des Entstehens und Vergehens unter-

sucht. Es istoffenkundig, daß damit der Begriff des Werdens Bestimmtheit gewinnt, sofern Werden nun ein Zum-Sein- oder einZu-Nichts-Werden ist,

d.h. Werden bestimmt sich als Übergang in etwas. Es ist eine falsche semantische Verführung, diese erste Bestimmung von Werden unter der Voraussetzung des Unterschieds von Sein und Nichts, und das hieße von dem bestimmten Sein, das Hegel »Dasein: nennt, her zudenken, vom Dasein her als Vergehen oder auf das Dasein hin als Entstehen. Denn eben das Sein, von dem her oder auf das hin die Bewegung des Werdens verliefe, ist überhaupt erst dadurch, daß sich dieser Verlauf zu ihm bestimmt. Weil Sein und Nichts nur im Werden ihre Realität gewinnen, ist im Werden als dem

bloßen Übergehen »von-zu« weder das eine noch das andere gegeneinander

ihm |

als Entstehen und Vergehen, sondern im Denken der Bestimmung des Werdens als Übergehens tritt diese Differenz an ihm hervor. Es»wird«in Sein bzw. Nichts. Entstehen und Vergehen sind daher die sich bestima ran Tran rs

Die Idee der Hegelschen Logik

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Gerichterheit überhaupt, die sich durch die Richtungsdifferenz allein weiterbestimmt. Das Gleichgewicht, von dem Hegel zwischen Entstehen und

Vergehen spricht, ist nur ein anderer Ausdruck für die Ununterscheidbarkeit, die Sein und Nichts eigentlich sind. Tatsächlich ist das richtig gesehen, daß es im »Werden- offen ist, ob man etwas als Enstehen oder als Vergehen ansehen will. Alles Entstehen ist, auf das Dasein hin geschen, ebensosehr Vergehen und umgekehrt - (wie Hölderlin in seiner bekannten Abhandlung über »das Werden im Vergehen- ganz richtig voraussetzt). Wenn wir uns also den Fortschritt vom Werden zum Dasein klarmachen wollen, so wird der Sinn von Hegels dialektischer Ableitung über das allgemein Einleuchtende hinaus so zu beschreiben sein: Da der Unterschied von Sein und Nichts inhaltlos ist, ist auch die Bestimmtheit des »von« und des »zu«, die das Werden ausmachen, nicht vorhanden. Lediglich das ist da, daß

es jedenfalls ein »von-zu« ist und daß jedes »von-zu« als ein »von-her« oder als ein vauf-hin« gedacht werden kann. Was ist, ist also die reine Struktur des Übergangs selbst. Es ist die Auszeichnung des Werdens, das damit sich als sein Inhalt, ein Sein, das nicht Nichts ist, herausstellt. Soweit hat sich der Gedanke nunmehr selbst fortbestimmt, Sein, das nicht Nichts ist, zu sein.

Hegel drückt das auch so aus: statt des schwankenden Gleichgewichts von Entstehen und Vergehen ergibt sich die ruhige Einheit des Daseins. Die dialektische Nachzeichnung der Hegelschen Ableitung möchte verständlich machen, warum die Frage nicht zu stellen ist, wie die Bewegung in das Sein kommt. In das Sein kommt nicht die Bewegung. Das Sein wie das Nichts dürfen nicht wie Seiendes verstanden werden, das außerhalb des schon da ist, sondern als die reinen Gedanken, bei denen hier nichts Denkens vorzustellen ist als sie selbst. Sie kommen nur in der Bewegung des Denkens überhaupt vor. Wer fragt: wie kommt das Sein in Bewegung?, sollte sich eingestehen, daß er damit von der Bewegung des Denkens, in der er sich so fragend befindet, abstrahiert. Ja, er läßt diese Reflexion draußen, als »außere

Reflexion. Im Sein wie im Nichts ist gewiß nichts Bestimmtes gedacht. Was daist, istleeres Anschauen oder Denken, das heißt aber: kein wirkliches oder Denken. Aber wenn auch nichts anderes als ein leeres Anschauen Anschauen oder Denken da ist, ist in Wahrheit die Bewegung des Sichbeda. »Es ist eine große Einsicht, die man darin stimmens, also das Werden hat, daß man erkannt hat, daß Sein und Nichtsein Abstraktionen ohne Wahrheit sind, das erste Wahre nur das Werden ist« (WW 13, 306).

es

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Hegel

Anfang der Logik mit dem Sein und dem Nichts in Wahrheit nicht getroffen wird. Wenn man die Aufgabe, die Hegel der Logik gestellt hat, im Auge behält, erweist sich der wissenschaftliche Anspruch der Hegelschen Dialektik als durchaus konsequent. Eine andere Frage ist, ob bei Hegel die Aufgabe,

die er der Logik als transzendentaler Logik stellt, überzeugend

begründet ist, wenn er sich doch selber auf die sogenannte natürliche Logik, die er in dem logischen Instinkt der Sprache findet, bezieht. Der Ausdruck »Instinkt«, den Hegel hier gebraucht, meint offenbar die bewußtlose, aber unbeirrbare Tendenz auf ein Ziel hin, wie sie das tierische Ver-

halten oft geradezu zwanghaft erscheinen läßt. Denn das ist der Instinkt: Er tut auf unbewußte Weise und gerade deshalb unbeirrbar all das, was man zur Erreichung eines Zieles mit Bewußtsein getan haben möchte. Mit der Rede vom logischen Instinkt der Sprache ist also die Richtung und der Gegenstand der Tendenz des Denkens auf »das Logische« hin gemeint. Das hat zunächst einen ganz umfassenden Sinn. In der Tat schlägt sich in der Sprache - und zwar nicht nur in ihren grammatisch-syntaktischen Formen, sondern ebenso in ihren Nennworten — die objektivierende Tendenz der Vernunft nieder, wie sie das Wesen des griechischen Logos ausmacht. Daß das Gedachte und Gesagte offenbar gemacht ist, so daß man gleichsam auf es zeigen kann, und das sogar dann, wenn damit nicht einmal eine eigene Stellungnahme zur Wahrheit des Gesagten in Anspruch genommen wird, daß vielmehr auch im Dahingestelltseinlassen die objektivierende Tendenz der Vernunft sich erfüllt, gibt dem Denken und Sprechen die Auszeichnung, in universaler Weise vergegenständlichend zu sein. So hat schon Aristoteles den Aöyos anoyavrıxög vor allen anderen Redeweisen ausgezeichnet, weil es in ihm auf nichts als auf »Offenbarmachen« (önAoöv) ankommt,

und er hat damit die Aussage-Logik begründet, deren Vorherrschaft erst in jüngster Zeit, z.B. durch Hans Lipps’ »Hermeneutische Logik« und durch Austins »How to do things with words?« eingeschränkt worden ist. Hegel radikalisiert aber die aristotelische Tradition nicht nur mit Hilfe der Dialektik, sondern vor allem dadurch, daß er in seiner »Logik« die logische Struk-

tur der Dialektik selber zu Begriff bringt. Nun sind die eigentlich »logischen: Bestimmungen, die die Beziehungen des Gedachten zueinander ausmachen, wie Identität, Verschiedenheit, Relation und Verhältnis usw., die Plato (Soph. 253aff.) mit den Vokalen verglich, immer nur in der Weise

wirksam, daß sie in der Sprache wie eingehüllt sind: In der Grammatik reflektieren sich also logische Strukturen. Indessen meint die Rede von dem logischen Instinkt der Sprache offenbar noch mehr. Sie meint, daß die Sprache sich auf die Logik hin bewegt, indem die im Sprechen naturhaft wirksamen Kategorien in der Logik als solche eigens gedacht werden. In der Idee der Logik vollendet sich danach die Sprache, indem das Denken alle Denk-Bestimmungen, die in ihm vorkommen und die sich in der

Die Idee der Hegelschen Logik

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natürlichen Logik der Sprache wirksam machen, durchläuft und zum Denken des Begriffs zusammenschließt. Es fragt sich indes, ob Sprache wirklich nur eine noch nicht zur gedanklichen Durchdringung ihrer selbst gelangte instinktive Logik ist. Hegel sieht eine Entsprechung zwischen Logik und Grammatik und vergleicht, der Verschiedenheit der Sprachen und ihres grammatischen Baues ungeachtet, das Leben, das eine »tote« Grammatik im wirklichen Gebrauch einer Sprache gewinnt, mit dem Leben, das die Logik gewinnt, wenn man ihren toten Formenbestand aus ihrem Gebrauch in den positiven Wissenschaften konkret auffüllt. So sehr sich aber Grammatik und Logik darin entsprechen, daß

sie beide erst im konkreten Gebrauch sind, was sie sind, so wenig erschöpft sich doch die natürliche Logik, die in der Grammatik einer jeden Sprache liegt, in der Funktion, Vorgestalt der philosophischen Logik zu sein. Gewiß ist die Logik in ihrer traditionellen Gestalt eine reine Formwissenschaft und daher in allem Gebrauch, den sie in den Wissenschaften und wo immer findet, ein und dieselbe. Das Leben, das sie aus solchem Gebrauch für den

Erkennenden gewinnt, ist ihr eigenes Leben. Die Idee der Logik hingegen, die Hegel in der Nachfolge von Kants transzendentaler Analytik entwickelt, ist nicht in diesem Sinne formal. Das aber scheint mir eine von Hegel nicht gewünschte Konsequenz zu haben. Ihre Konkretion gewinnt ja diese Logik keineswegs nur aus ihrem Gebrauch in den Wissenschaften — das war die Einseitigkeit des Neukantianismus,

das Faktum

der Wissenschaft

so zu

monopolisieren. Vielmehr liegt bereits in der »Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus« eine hochdifferenzierte Spielweite logischer Antizipationen, die sich in den verschiedensten Schemata sprachlichen Weltzugangs artikulieren. Der »logische Instinkt«, der gewiß in der Sprache als solcher liegt, vermag daher das in der Vielheit der Sprachen Vorgeformte nicht in der Weise auszuschöpfen, daß er sich als Logik zu seinem Begriff erhebt. Man kann sich der Aufgabenstellung, die hier liegt, nicht verschließen, wenn man sich des Verhältnisses von operativem Gebrauch und thematischer Ausdrücklichkeit von Begriffen erinnert, von dem oben die Rede war, und wenn man dessen Unüberholbarkeit anerkennt. Was für den Aufbauder Logik gilt, daß sie nämlich in ihrer eigenen Ausführung die Kategorien der Reflexion schon gebrauchen und voraussetzen muß, die sie erst dialektisch ableiten will, gilt nicht nur hier, sondern grundsätzlich für jegliches Verhält-

nis von Wort und Begriff. Auch für das Wort gibt es keinen Anfang mitdem

Nullpunkt, und es ist nicht so, daß ein Begriff als Begriff sich bestimmen ließe, ohne daß das Wort, als der Wortgebrauch in aller seiner Vieldeutigkeit, mit im Spiele wäre. Es scheint mir kein Zufall, daß Hegels scharfsinni-

ge Analyse und dialektische Ableitung der Kategorien jeweils dort am überzeugendsten ist, wo er historische Wort-Herleitungen hinzutut. Begrif-

fe sind eben erst das, was sie sind, in ihrer Funktion, und diese Funktion ist

_

Hegel

82

von der natürlichen Logik der Sprache beständig getragen. Es handelt sichja streng genommen gar nicht um eine Ingebrauchnahme von Worten, wenn wir sprechen. Wenn man Worte gebraucht, so will das nicht sagen, daß wir ein gegebenes Werkzeug zu beliebigem Gebrauch verwenden. Worte schreiben selber vor, wie man

sie allein verwenden

kann.

Man

nennt

das den

‚Sprachgebrauch«, der nicht von uns abhängt, sondern von dem wir abhängen, weil wir gegen ihn nicht verstoßen dürfen. Nun ist sich dessen Hegel wohl bewußt,

wenn er von der »natürlichen

Logik« spricht. Auch der Begriff ist nicht ein Werkzeug unseres Denkens, sondern unser Denken hat ihm zu folgen und es findet in der natürlichen Logik der Sprache seine Vorgestalt. Gerade deshalb aber stellt die Aufgabe der Logik, das was »einen denkt«,

von sich aus »rein denkend« zu thematisieren, eine unauflösliche Aporie dar. Hegel erfährt und begreift dieselbe als die Unrast des dialektischen Prozesses. Nichtsdestotrotz soll derselbe im absoluten Wissen als dem Denken der Totalität aufgehoben sein. Aber es fragt sich, ob dieses »Sollen« nicht an der

Unmoralität des Sollens teilhat, die ihre eigene Unwahrheit nie zu überwinden vermag. In Wahrheit ist unsere menschliche Natur so sehr durch Endlichkeit bestimmt, daß das Phänomen der Sprache und das Denken, das sie einzuho-

len sucht, stets unter dem Gesetz der menschlichen Endlichkeit gesehen werden muß. Für diesen Aspekt ist Sprache nicht eine Durchgangsform der denkenden Vernunft, die sich in der vollen Durchsichtigkeit des Gedachten vollendet. Sie ist nicht ein verschwindendes und vorübergehendes Medium des Gedankens oder seine bloße »Einhüllung«. Ihr Wesen beschränkt sich überhaupt nicht auf das bloße Offenbarmachen des Gedachten. Der Gedanke gewinnt vielmehr selbst erst sein bestimmtes Dasein dadurch, daß er im Wort gefaßt wird. So zeigt sich die Bewegung der Sprache als eine doppelt gerichtete: Sie zielt auf die Objektivität des Gedankens hin, aber sie kommt auch von ihm her als die Zurücknahme aller Vergegenständlichungen in die bergende Gewalt des Wortes. Wenn Hegel »das Logische« als das Innerste der Sprache zu enthüllen und in seiner ganzen dialektischen Gliederung zur Darstellung zu bringen unternahm, so hat er insoweit recht, als er darin den Versuch sieht, die Gedanken Gottes vor der Schöpfung nachzudenken - ein

Sein vor dem Sein. Aber das Sein, das an dem Anfang dieses Nachdenkens steht und in der vollen Vergegenständlichung seines Gehalts das Ende im

Begriff findet, setzt selber immer schon Sprache voraus, in der das Denken seine eigene Stätte hat. Hegels methodische Hinführung auf den Anfang des reinen Denkens, seine »Phänomenologie des Geistes«, erbringt diese Voraus-

setzung nicht, sondern setzt ihre alles tragende und begleitende Leistung beständig voraus. Sie bleibt so selber auf die Idee der totalen Vergegenständlichung des Selbst bezogen und vollendet sich als das absolute Wissen, und

Die Idee der Hegelschen Logik

83

dessen unaufhebbare Schranke ist es, die in der Erfahrung der Sprache manifest wird. Was Sprache sprechend sein läßt, ist nicht Sein als die abstrakte Unmittelbarkeit des sich selber bestimmenden Begriffs - es ist ein Sein, das man viel eher von dem her zu beschreiben hätte, was Heidegger »Lichtung« nennt. Lichtung aber enthält Entbergung und Bergung zugleich. Denken, das die Leistung der Sprache, im Entbergen und Vergegenständlichen zugleich bergend zu sein, denken möchte, wird in Hegels Versuch einer Logik nur eine Seite der Wahrheit anerkennen können, die der vollen-

deten Bestimmtheit des Begriffs. Indessen ist diese Feststellung nicht alles. Wäre es alles, so bliebe eine wesentliche Problembeziehung unbeachtet, die

zwischen Hegel und Heidegger spielt. Indirekt nämlich weist Hegels Idee der Logik über sich selbst hinaus, sofern Hegel in der Wendung »das Logische«, die er liebt, die Unvollendbarkeit des »Begriffs« der Sache nach aner-

kennt. »Das Logische: ist nicht der Inbegriff oder die Totalität aller Gedankenbestimmungen, sondern die Dimension, die, wie das geometrische Kontinuum allen Punktsetzungen, so allen Setzungen von Gedankenbestimmungen vorausliegt. Hegel nennt es auch »das Spekulative« und spricht von dem »spekulativen Satz«, der allen Aussage-Sätzen gegenüber, die einem Subjekt ein Prädikat zusprechen, ein Insichgehen des Denkens zumutet. Zwischen Tautologie und Selbstaufhebung in der unendlichen Bestimmung seines Sinnes hält der »spekulative Satz« die Mitte, und hierin liegt diehöchste Aktualität Hegels. Der spekulative Satz ist nicht so sehr Aussage als Sprache. In ihm ist nicht nur die vergegenständlichende Aufgabe der dialektischen Explikation gestellt, sondern zugleich ist die dialektische Bewegung in ihm zum Stehen gebracht. Das Denken sieht sich durch ihn sich selbst zugestellt. So wie in der sprachlichen Formel - nicht der des Urteilssatzes, aber z. B. des Urteilsspruches oder Fluches - das Gesagtsein selber da ist und nicht nur das, was sie besagt, ist im spekulativen Satz das Denken selber da. Der spekulative Satzı, der so das Denken herausfordert und bewegt, hat somit auf eine

unverkennbare Weise Bestand in sich selbst, wie das lyrische Wort und wie das Sein des Kunstwerkes überhaupt. In dem Bestand des dichterischen Wortes und des Kunstwerkes liegt eine Aussage vor, die in sich »steht«, und —

wie der spekulative Satz die dialektische Darstellung: fordert, so fordert das ‚Kunstwerk: Deutung, mag es auch von keiner Deutung voll ausgeschöpft werden. Damit meine ich, daß der spekulative Satz so wenig ein seinem Aussagegehalt nach abgrenzbares Urteil ist, wie ein zusammenhanglos einzelnes Wort oder eine aus ihrem Zusammenhang gerissene kommunikative Äußerung in sich selbst eine geschlossene Sinneinheit darstellt. Wie das Wort, das

einer sagt, auf das Kontinuum zwischenmenschlicher Verständigung bezo-

gen ist, aus der es sich so sehr bestimmt, daß es sogar »zurückgenommen«

werden kann, so verweist auch der spekulative Satz auf ein Ganzes der

84

Hegel

Wahrheit, ohne selber dieses Ganze zu sein oder zu sagen. Dies Ganze, das nicht Seiendes ist, denkt Hegel als die Reflexion ın sich, durch die es sich als

die Wahrheit des Begriffes erweist. Indem der spekulative Satz das Denken auf den Weg des Begreifens nötigt, bringt das Denken »das Logische: als die immanente Bewegung seines Inhalts zur Entfaltung. Wenn dennoch in der Tendenz auf »das Logische« der Begriff als die vollendete Bestimmung des Unbestimmten gedacht ist und sich in ihm nur die eine Seite der Sprache, ihre Tendenz auf das Logische, vollendet, behält

gleichwohl das Insichsein der Reflexion eine beständig verwirrende Entsprechung zu dem Insichstehen des Wortes und dem des Werkes der Kunst, in dem Wahrheit »geborgen« ist - und weist damit auf jenen Begriff von »Wahrheit«, den Heidegger als das »Ereignis des Seins« zu denken sucht und der, wie aller Erkenntnis, so auch aller Bewegung der Reflexion erst ihren Raum öffnet. Heidegger selbst bezeugt diese Verweisung und die Versuchung, die das Spekulative darstellt, immer wieder, nicht nur durch die beständige Faszina-

tion, durch die ihn Hegels Dialektik zur Auseinandersetzung und Abgrenzung reizt. Es gibt darüber hinaus gelegentliche Äußerungen von erhellendem Beziehungsreichtum, die hier der Erörterung bedürfen. Da ist vor allem die Arbeitsnotiz im Nietzsche-Werk II, 464:

»Reflexion, seinsgeschichtlich, da-seinshaft begriffen: der Rückschein in die dAndera, ohne daß diese selbst als solche erfahren und gegründet ist und zum »Wesen< kommt. Das Unheimische des Rück-scheins des Sichzeigenden. Die Ansiedlung des Menschen in einem seiner Wesensorte. Reflexion - Gewißheit, Gewißheit - Selbstbewußtsein. «

Hier nennt Heidegger die »Reflexion« den »Rückschein in die Aletheia, ohne daß diese selbst... zum »Wesen« kommt«. Damit bezieht er selber die Reflexion auf das hin, was er im Begriff der Aletheia denkt und hier das wesende Sein der Aletheia nennt. Freilich ist diese Bezugnahme eine Unterscheidung, die Dimension »des Logischen« ist nicht der Raum der Aletheia, der von Sprache gelichtet ist. Denn die Sprache, in der wir leben, istineinem ganz anderen Sinne ein Element, als es die Reflexion ist. Sie hält uns ganz umfangen, wie die Stimme der Heimat, die eine unvordenkliche Vertrautheit atmet. Heidegger nennt die Sprache daher das wohnliche »Haus des Seins«. In ihr geschieht zwar auch und gerade Entbergung des Anwesenden bis hin zur vergegenständlichenden Aussage. Aber das Sein selber, das in ihr seine Stätte hat, wird als solches darin nicht entborgen, sondern hält sich

inmitten von aller Entbergung, die im Sprechen geschieht, so verborgen wie im Sprechen die Sprache selber das wesenhaft Verborgene bleibt. So sagt

Die Idee der Hegelschen Logik

85

Heidegger auch nicht etwa, daß die Reflexion diese ursprüngliche Lichtung: durchmißt, sondern nennt sie den Rückschein des Sichzeigenden, indem sie im ruhelosen Unterwegs dieses Rückscheinende vor sich zu bringen sucht. In diesem Sinne ist die Reflexion, die die Bewegung der Logik ist, »unheimisch«, sie kann nirgends verweilen!. Das Sichzeigen, das als der Gegenstand des Denkens und Bestimmens begegnet, hat wesenhaft die Begegnisweise des »Gegenstandes«. Das macht seine unaufhebbare »Transzendenz« für das Denken aus, die es nicht zuläßt, daß wir in ihm heimisch sind. Das Begreifen, das diese Transzendenz

gleichwohl aufzuheben sucht, und das

Hegel als die Grundbewegung der Selbsterkenntnis im Anderssein entfaltet, wird daher stets auf sich selbst zurückgeworfen und hat entsprechend den Charakter der Selbstvergewisserung des Selbstbewußtseins. Auch dies ist eine Art der Aneignung und ist die »Einhausung«, die das Wesen der abendländischen Zivilisation geprägt hat. Das Andere zum Eigenen machen, heißt die Natur durch Arbeit überwinden und unterwerfen. Heidegger ist weit davon entfernt, hier Töne der Kulturkritik anzustimmen. Er nennt es vielmehr in seiner Notiz, die wir auslegen, ausdrücklich »die Ansiedlung des

Menschen in einem seiner Wesensorte«. Weil sie das Seiende zum Gegenstand macht, sei sie freilich in einem wesenhaften Sinne »Ent-eignung des Seienden«. Es gehört sich selbst nicht, weil es ganz und gar uns zugestellt ist. Hegel erscheint unter dieser Perspektive als die konsequente Vollendung eines

von

weither

kommenden

Denkweges,

ein Ende,

in dem

philo-

sophische Folgegestalten wie sie Marx oder der logische Positivismus darstellen, vorgezeichnet sind. Und

doch tritt damit auch ins Licht, was sich dieser Perspektive des

Denkens entzieht und was Schelling zuerst empfand und Heidegger zu der Frage nach dem Sein, das nicht Sein des Seienden ist, entfaltete. Der Rück-

schein des Sichzeigenden - übrigens eine wörtliche Übersetzung von Reflexion - ist der ursprünglichen »Lichtung,«, in welcher überhaupt erst Seiendes zum Sichzeigen kommt, gewiß entgegengesetzt. Es ist in der Tat eine andere ursprünglichere Vertrautheit als die durch Aneignung erworbene und erwachsene, die dort waltet, wo Wort und Sprache am Werke sind.

Gleichwohl ist es nichts Geringeres, sondern die volle Ausmessung eines wesentlichen menschlichen Denkweges, daß Hegel in der ‚Reflexion in sich« den »Rückschein« denkt, den alles Vergegenständlichen wirft. Es liegt in Hegels Reflexion in sich, die sich als die Bewegung der Logik entfaltet, die Gewahrung einer Wahrheit, die nicht die des Bewußtseins und seines »Ge-

gensatzes« ist, d.h. gerade nicht »Aneignung« des Sichzeigenden sein will,

1 Ineinem Brief vom 2. 12. 1971, der im Auszuge als Anmerkung zu »Das Erbe Hegels« mitgeteilt ist (jetzt in Ges. Werke 4, S. 480) besteht Heidegger darauf, daß nicht unser

Denken »unheimisch: ist, sondern die Aletheia selbst. »Reflexion« sei »seins-geschichtlich«

nicht als Akt des Bewußtseins zu denken, sondern als Rückschein in die Aletheia.

>

86

Hegel

sondern im Gegenteil solche Reflexion als »äußere: gegen die Reflexion des Gedankens in sich abhebt. Das tritt durch Hegels »Logik« heraus. Wenn man, wie Hegel in der »Phänomenologie«, der Erfahrung des Bewußtseins in der Weise folgt, daß man alles Fremde als ein Eigenes zu erkennen lehrt, sieht

man, daß die eigentliche Lektion, die das Bewußtsein empfängt, keine andere ist als die Erfahrung, die das Denken mit seinen »reinen« Gedanken macht. Nun ist es aber nicht nur so, daß die »Phänomenologie« auf die ‚Logik hinausweist. Weist nicht die Logik des sich selbst entfaltenden Begriffs ihrerseits notwendig über sich hinaus, nämlich auf die ‚natürliche Logik: der Sprache zurück? Das Selbst des Begriffs, in dem sich das reine Denken begreift, ist am Ende selber nichts Sichzeigendes, sondern in allem,

was ist, ebenso wirksam wie die Sprache auch. Die Bestimmungen der Logik sind nach Hegel nicht ohne die »Hülle« der Sprache, in die der Gedanke eingehüllt ist. Das Medium der Reflexion, in dem sich der Fortgang der Logik bewegt, ist aber seinerseits nicht in Sprache gehüllt (wie die jeweilige begriffliche Bestimmung), sondern als Ganzes, als »das Logische«, auf die Helligkeit der Sprache rückscheinend bezogen. Das wird an Heideggers Arbeitsnotiz indirekt sichtbar. Wenn sich die Hegelsche Idee der Logik den Bezug auf die natürliche Logik, die in ihr zu reflexivem Bewußtsein kommt, volleingestehen würde,

müßte sie sich wieder ihrem klassischen Ursprung in Platos Dialektik und in Aristoteles’ logischer Überwindung der Sophistik nähern. So wie sie vorliegt, bleibt sie eine großartige Durchführung der Aufgabe, das Logische als die Grundlage universeller Vergegenständlichung zu denken. Hegel hat damit jene Erweiterung der traditionellen Logik in eine transzendentale »Logik der Gegenständlichkeit«, die mit Fichtes »Wissenschaftslehre« begann, zur Vollendung geführt. Aber in der Sprachlichkeit alles Denkens bleibt eine Gegenrichtung für das Denken gefordert, die den Begriff in das verbindende Wort zurückverwandelt. Je radikaler sich das vergegenständlichende Denken auf sich selbst besinnt und die Erfahrung der Dialektik entfaltet, desto klarer weist es auf das, was es nicht ist. Dialektik muß sich in Hermeneutik

zurücknehmen.

5. Hegel und Heidegger 1971

Es ist wohl nicht erst eine Formulierung Martin Heideggers, daß Hegel die Vollendung der abendländischen Metaphysik darstelle. Allzu klar liegt es durch die Sprache der geschichtlichen Tatsachen fest, daß mit Hegels System und seinem raschen Zusammenbruch in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine zweitausendjährige Tradition, die der abendländischen Philosophie das Gepräge der Metaphysik verliehen hat, zu Ende gegangen ist. Nicht zuletzt drückt sich das in der Tatsache aus, daß die Philosophie seither eine rein akademische Angelegenheit geworden ist bzw. daß nur außerhalb stehende Schriftsteller wie Schopenhauer und Kierkegaard, Marx und Nietzsche — und die großen Romanschriftsteller des 19. und 20. Jahrhunderts — das Zeitbewußtsein zu erreichen und sein weltanschauliches Bedürfnis zu befriedigen vermochten. Wenn Heidegger von der Vollendung der abendländischen Metaphysik durch Hegel spricht, meint er aber nicht das bloße historische Faktum, sondern formuliert zugleich eine Aufgabe, die er die »Überwindung« der Metaphysik genannt hat. In dieser Formel bedeutet Metaphysik nicht allein die Letztgestalt derselben, die mit Hegels System des absoluten Idealismus erstand und zusammenbrach,

sondern ihre erste Gründung

durch das Denken Platos und Aristoteles’ und ihre sich in allen Wandlungen bis in die neueren Zeiten durchhaltende Grundgestalt, die auch noch den Grund der neuzeitlichen Wissenschaft bildet. Eben deswegen bedeutet aber Überwindung der Metaphysik kein bloßes Hintersichbringen und Sichscheiden von der älteren Tradition des metaphysischen Denkens. Überwindung bedeutet vielmehr, wie es Heidegger in der unnachahmlichen Weise seines eigenen Denkens mit der Sprache formuliert hat, immer zugleich eine“ Verwindung der Metaphysik. Das, was man verwindet, liegt nicht einfach hinter einem. Wenn man einen Verlust verwinden lernt, so ist dies kein

bloßes allmähliches Vergessen und Verschmerzen, oder besser: es ist ein Verschmerzen,

d.h. es ist nicht ein langsames Abklingen des Schmerzes,

sondern eine bewußte Leistung des Erleidens, so daß der Schmerz nicht spurlos vorbei ist, sondern das eigene Sein dauerhaft und unwiderrufbar bestimmt. Man »bleibt« gleichsam »daran«, auch dann noch, wenn man es

verwunden hat. Das gilt aber nun im besonderen für Hegel, daß man an ihm in einer eigentümlichen Weise daran bleibt.

_

88

Hegel

Die Aussage, Hegel sei die Vollendung der Metaphysik, hat selber an der eigentümlichen Zweideutigkeit teil, die tatsächlich die Sonderstellung Hegels in der Geschichte des abendländischen Denkens bestimmt. Ist es Ende? Ist es Vollendung? Ist diese Vollendung oder dieses Ende die Vollendung des christlichen Gedankens im Begriff der Philosophie, oder ist es das Ende und die Auflösung des Christlichen im Denken der Neuzeit? Der Anspruch von Hegels Philosophie hat eine immanente Zweideutigkeit an sich, die ihrerseits der Grund dafür ist, daß seine Figur sich auch im geschichtlichen Sinne so darstellt. Sieht die Philosophie der Geschichte, in der die Freiheit als das Wesen des Menschen zu ihrem eigenen Selbstbewußtsein gekommen sei, in diesem Selbstbewußtsein der Freiheit das Ende der Geschichte oder tritt Geschichte am Ende damit gerade in ihr eigentliches Wesen, sofern erst mit dem Bewußtsein der Freiheit aller, diesem christlichen oder revolutionären Bewußtsein, Geschichte zum Kampf um die Freiheit wird? Ist die Philosophie des absoluten Wissens, als welche Hegel den Stand der Philosophie charakterisiert, den das Denken nunmehr erreicht habe, das Resultat der

großen geschichtlichen Vergangenheit des Denkens, so daß endlich alle Irrtümer hinter uns liegen, oder ist sie die erste Begegnung mit dem Ganzen unserer Geschichte, so daß geschichtliches Bewußtsein uns seitdem nicht mehr freiläßt? Wenn Hegel im Hinblick auf die Philosophie des absoluten Begriffs von dem Vergangenheitscharakter der Kunst spricht, so scheint selbst diese erstaunliche und provozierende Aussage wieder höchst zweideutig. Ist damit gesagt, daß die Kunst heute keine Aufgabe mehr habe und keine Aussage mehr sei? Oder wollte Hegel damit sagen, daß die Kunst gegenüber dem Standpunkt des absoluten Begriffs ein Vergangenes ist, weil sie immer im Verhältnis zum denkenden Begriff ein Vorgängiges war und immer sein wird? Dann wäre der Vergangenheitscharakter der Kunst nur

der spekulative Ausdruck für die sie auszeichnende Gleichzeitigkeit: sie ist nicht in der Weise dem Gesetz des Fortschritts unterworfen,

in der der

spekulative Gedanke auf dem geschichtlichen Wege der Philosophie erst zu sich selbst kommt. So endete die zweideutige Formel Heideggers von der Vollendung der Metaphysik in einer Hegel und Heidegger gemeinsamen Zweideutigkeit, die sich in die Frage zusammendrängen läßt, ob die umfassende dialektische Vermittlung aller erdenklichen Wege des Gedankens, die Hegel unternommen hat, etwa notwendig jeden Ausbruchsversuch aus dem Reflexionskreis Lügen straft, in dem Denken sich selber denkt. Ist am Ende auch die Position, die Heidegger gegen Hegel zu finden sucht, in dem Bannkreis der inneren Unendlichkeit der Reflexion befangen?

Hegel und Heidegger

89

1% In der Tat gehört es zu der geheimen Präsenz, die das Hegelsche Denken über die Zeit seiner Vergessenheit hinaus auszeichnet, die Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfüllte, daß die Figur seines Denkens unüberholbar blieb. Das bestätigt sich nicht nur in der ausdrücklichen Rückbesinnung

auf sein Denken,

die vor allem in Italien, Holland

und

England, dann aber auch im Deutschland des 20. Jahrhunderts, in der Form des akademischen Neuhegelianismus ihre Pflege fand, oder auf der andern Seite durch den Umschlag der Philosophie in Politik oder durch die neomarxistische Ideologiekritik. Gewiß nahm Philosophie im Zeitalter nach Hegel neue Gestalten an, aber stets war es Kritik an der Metaphysik, die sich als Positivismus, Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie, Phänomenologie

oder Sprachanalytik ihr eigenes Selbstbewußtsein gab. Auf dem eigensten Felde der Metaphysik fand Hegel keinen Nachfolger mehr. Es blieb Heidegger vorbehalten, wie das übrigens das hegelianisierende Denken innerhalb des ausgehenden Neukantianismus sogleich empfand, daß erst durch ihn die letzte und stärkste Form neukantianischen Denkens, Husserls Phänomeno-

logie, zur Philosophie wurde, oder auch, wenn man das Gleiche mit anderen Maßen messen will, daß durch sein Auftreten Husserls Traum einer Philo-

sophie als strenger Wissenschaft ausgeträumt scheinen konnte. Damit rückt Heideggers Denken in die Nachbarschaft der Hegelschen Philosophie. Gewiß genügt ein halbes Jahrhundert - und so lange ist Heideggers Denken nun schon unter uns wirksam - nicht, um weltgeschichtliche Rangbestimmungen dauerhaft zu sichern. Aber daß es nicht ganz falsch gemessen ist, wenn man Heideggers philosophisches Werk in die Reihe der großen Klassiker des Gedankens einreiht und an Hegel heranrückt, hat eine gewisse negative

Dokumentation: Wie Hegel Deutschland und von ihm aus Europa eine Zeitlang ganz beherrschte und dann, in der Mitte des 19. Jahrhunderts, ein völliger Zusammenbruch folgte, so hat auch Heidegger als Denker die zeitgenössische Szene in Deutschland lange Zeit beherrscht, und so ist die Abkehr von ihm heute ebenso eine vollständige. Man wartet heute auf einen Karl Marx, der sich, wie er als Gegner Hegels, dagegen verwahrt, daß man — diesen großen Denker wie einen toten Hund behandele. Es ist eine in allem Ernst zu stellende Frage: Ist das Denken Heideggers ebenso in den Grenzen des Hegelschen Imperiums des Gedankens anzusiedeln, wie das für alle junghegelianischen oder neukantianischen Kritiker Hegels von Feuerbach und Kierkegaard bis zu Husserl und Jaspers gilt, oder beweisen am Ende die Entsprechungen, die Heideggers Denken unleugbar zu dem Hegelschen Denken zeigt, das Gegenteil: daß nämlich seine Frage radikal und umfassend genug ist, nichts von Hegel Gefragtes auszulassen und ihn dennoch zu hinterfragen? Wenn das richtig sein sollte, würde sich

90

Hegel

übrigens auch unser philosophiegeschichtliches Bild, das wir von Hegels Stellung im Ganzen der idealistischen Bewegung haben, neu bestimmen: einerseits würde Fichte einen selbständigeren Platz erhalten, andererseits würden sich Ahnungen Schellings erfüllen und aus den verzweifelten Gewagtheiten Nietzsches Wahrheiten hervorgehen. Es würde dann auch alle Merkwürdigkeit verlieren, daß eines der erstaun-

lichsten Ereignisse in der Geschichte der Weltliteratur, die Entdeckung eines der größten deutschen Dichter, die des 20. Jahrhunderts mit der Entdeckung Friedrich Hölderlins gezeitigt hat, im Denken Heideggers Epoche machte. Hölderlin, dieser unglückliche Dichter und Mensch, war bekanntlich ein naher Freund Hegels seit ihrer gemeinsamen Jugend, und wenn ihm auch die romantische Dichterschule, wenn ihm ein Nietzsche und ein Dilthey eine gewisse bewundernde Vorliebe zuwandten - erst in unserem Jahrhundert rückte er an seinen von nun an unverlierbaren Platz an der Seite der größten deutschen Dichter. Die Tatsache, daß er auch im Denken Heideggers eine wahre Schlüsselposition gewann, bestätigt auf überraschende Weise seine seltsam verspätete Zeitgenossenschaft mit unserem Jahrhundert und erhebt auf der anderen Seite die Konfrontation des Denkens Heideggers mit der Philosophie Hegels über jede Willkür und Beliebigkeit. Esist auffällig genug, mit welcher Beharrlichkeit Heideggers Denken um Hegel kreist, und immer neue Abgrenzungsversuche gegen Hegel, bis in unsere Gegenwart hinein, unternimmt. Gewiß drückt sich darin auch die Lebenskraft der Hegelschen Dialektik aus, die sich immer wieder gegen die phänomenologische Arbeitsweise Husserls und Heideggers behauptet, ja, sie immer wieder verdrängt, so daß die handwerkliche Gediegenheit der Phänomenologie allzu schnell vom Zeitbewußtsein wieder vergessen und verlernt worden ist. Es handelt sich aber noch um mehr, nämlich um die Frage, die von vielen an den späteren Heidegger gerichtet worden ist, wie er seine überzeugende Kritik am Bewußtseinsidealismus, mit der »Sein und Zeit« Epoche gemacht hatte, auch noch gegen Hegels »Philosophie des Geistes« durchhalten wolle. Das scheint um so fragwürdiger, als er selber im Denken der »Kehre« seinerseits seine transzendentale Selbstauffassung und die Begründung der Stellung der Seinsfrage im Seinsverständnis des Daseins preisgegeben hat. Rückt er damit nicht notwendig in eine neue Nähe zu

Hegel, der die Dialektik des Geistes ausdrücklich über die Gestalten des subjektiven Geistes, über Bewußtsein und Selbstbewußtsein hinausgeführt hat? Insbesondere gibt es in den Augen all derer, die sich gegen Heideggers Denkanspruch zu wehren suchen, einen Punkt, an dem Heideggers Denken immer wieder mit Hegels spekulativem Idealismus zusammenzufließen scheint, und das ist die Einbeziehung der Geschichte in die fundamentale Fragestellung der Philosophie. Das ist gewiß nicht zufällig oder von ungefähr. Es scheint ein fundamen-

Hegel und Heidegger

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taler Charakter des philosophischen Bewußtseins des 19. Jahrhunderts, daß es nicht länger ohne geschichtliches Bewußtsein denkbar ist. Dahinter steht offenbar der große Bruch mit der Tradition der christlichen Staatenwelt Europas, der mit der französischen Revolution eintrat. Ihr radikaler Ver-

such, den Vernunftglauben der Aufklärungsbewegung zur Grundlage von Religion, Staat und Gesellschaft zu machen, hob umgekehrt die Macht der Geschichte und das Bewußtsein der eigenen geschichtlichen Bedingtheit ins allgemeine Bewußtsein, als die große Gegeninstanz gegen die Vermessenheiten eines absoluten Neubeginns. Das Heraufkommen des geschichtlichen Bewußtseins, das damit zum Durchbruch kam, forderte nun auch von dem

Erkenntnisanspruch der Philosophie, sich vor ihm zu legitimieren. Jeder philosophische Versuch, seither der großen Tradition des griechisch-christlichen Denkens ein eigenes, und sei es ein noch so Neues, zur Seite zu setzen,

konnte nicht länger ohne geschichtliche Selbstbegründung bleiben, und wo eine solche ausblieb oder unzureichend war, mußte solchem Versuch die das

allgemeine Bewußtsein erreichende Überzeugungskraft fehlen. Das war insbesondere dem Denker des Historismus, Wilhelm Dilthey, schmerzhaft

bewußt. Auf diesem Hintergrund behielt die radikale und umfassende Art, in der

Hegel die geschichtliche Selbstbegründung der Philosphie leistete, allen späteren Versuchen gegenüber eine nicht zu schlagende Überlegenheit. Er vereinigte Natur und Geschichte unter der Herrschaft jenes umfassenden Logosbegriffs, den ehedem die Griechen zur Begründung der Ersten Philosophie gesteigert hatten. Wenn sich die ältere Theodizee noch im Zeitalter der Aufklärung angesichts der Welt, als der Schöpfung Gottes, auf die mathematische Rationalität des Naturgeschehens berief, so dehnte Hegel solche Berufung auf die Weltgeschichte aus. Wie seit den Griechen der Logos oder »Nous« als der Wesensgrund der Welt gedacht war, aller Unordnung und Regellosigkeit in der sublunaren Welt zum Trotz, so lehrte Hegel auch dem entsetzlichen Widerspruch zum Trotz, den der Wirrwarr der menschlichen Geschichte und Geschicke vor Augen stellt, in der Geschichte Vernunft zu erkennen, und brachte, was ehedem dem Glauben und dem

Vertrauen in die Vorsehung anheimgestellt wurde, weil es der menschlichen Erkenntnis und Einsicht verschlossen sei, in das Reich des Gedankens ein. Das Zaubermittel, durch das es ihm gelang, in dem unsteten Treiben der

menschlichen Geschichte eine ebenso überzeugende und vernünftige Notwendigkeit zu erkennen, wie sie seit alters und auch im Zeitalter der neuen Naturwissenschaft die Ordnung und Gesetzmäßigkeit der Natur darbot, war die Dialektik. Hegel knüpfte mit seiner Dialektik an den antiken Begriff derselben an, demzufolge Dialektik in der Zuspitzung von Widersprüchen ihr Wesen treibt. Während aber die antike Dialektik durch die Ausarbeitung solcher Widersprüche lediglich eine vorbereitende Arbeit für die Erkenntnis

_

92

Hegel

zu leisten beanspruchte, verwandelt sich für Hegel diese propädeutische bzw. negative Aufgabe der Dialektik in eine positive. Der Sinn der Dialektik ist für Hegel nun geradezu, durch die Zuspitzung zu Widersprüchen den Schritt zu einer höheren Wahrheit zu vollziehen, die die Widersprüche vereinigt. Die Kraft des Geistes ist die Synthese als die Vermittlung aller Widersprüche. Was Hegel damit aufbietet, drückt sich sehr schön in der Umdeutung aus, die der Begriff der Aufhebung bei ihm gewinnt. Aufhebung hat zunächst einen negativen Sinn. Im besonderen durch Aufweis von Widersprüchlichkeiten wird die Geltung von etwas aufgehoben, d.h. negiert. Für Hegel wandelt sich aber der Sinn von Aufhebung in den einer Bewahrung aller Wahrheitsmomente,

die sich in den Widersprüchen

geltend machen

und

sogar zu einer Erhebung derselben zu einer alles Wahre umfassenden und vereinigenden Wahrheit. Damit wird die Dialektik gegen alle Einseitigkeit der Abstraktionen des Verstandes der Anwalt des Konkreten. Die universale Kraft der Vereinigung, die der Vernunft zukommt, weiß nicht nur alle Gegensätze des Gedankens zu vermitteln, sondern auch alle Gegensätze der Wirklichkeit aufzuheben. Eben das bewährt sie in der Geschichte, sofern dies Fremdeste, Unvertrauteste und Feindlichste, was als die Macht der Geschichte über uns kommt, von der Versöhnlichkeit der Vernunft über-

wunden wird. Die Vernunft ist die Versöhnung des Verderbens. Hegels Dialektik der Geschichte ist aus der besonderen Problematik herausgewachsen, welche das gesellschaftliche Bewußtsein des ausgehenden 18. Jahrhunderts und insbesondere die akademische Jugend prägte, die ganz von dem Eindruck der französischen Revolution erfüllt war. In Deutschland trafen die Folgen der Emanzipation des dritten Standes, die die französische Revolution gebracht hatte, auf die besondere unglückliche Lage des Deutschen Reiches, dessen Verfassung sich den Bedingungen der Zeit gegenüber als schon längst überlebt erwiesen hatte. So wurde es als Forderung der jungen Generation schon in Hegels Studienzeit in Tübingen laut, daß auf allen Gebieten, dem Bereich der christlichen Religion wie dem der gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit, eine neue Identifikation mit dem Allgemeinen möglich werden müsse. Das Grundmodell, nach welchem der junge Hegel die Identifikation mit dem Allgemeinen darstellte, war das Beispiel des Extrems einer Entfremdung, nämlich die Entzweiung, die zwischen dem ‚Verbrecher und der

Rechtsordnung statt hat. Das feindliche Gegenüber, das für den verfolgten Verbrecher die strafende Rechtsordnung darstellt, erscheint als der Prototyp aller Entzweiung, die das alternde, der Verjüngung bedürftige Zeitalter durchzieht. Nun denkt Hegel das Wesen der Strafe eben unter dem Gesichtspunkt durch, daß sich durch sie die Rechtsordnung wiederherstellt. Er erkennt, daß die Feindlichkeit der Strafgewalt auch für den von ihr Betroffe-

Hegel und Heidegger

93

nen nicht die eigentliche Wirklichkeit der Strafe und ihren rechtlichen Sinn ausmacht. Es ist vielmehr die Annahme der Strafe durch. den Verbrecher, die

erst den Rechtssinn der Strafe vollendet. Mit der Annahme der Strafe kehrt aber der Verbrecher in das Leben der Rechtsgemeinschaft zurück. Die Strafe verkehrt sich aus der Feindlichkeit, die sie bedeutete, in die Wiederherstel-

lung der Einigkeit. Das ist die Versöhnung des Verderbens, wie Hegel es in einer großartigen Verallgemeinerung ausdrückt. Hegels Gedankengang über die Strafe entspringt zwar dem besonderen theologischen Problem, wie eine Vergebung der Sünden mit der göttlichen Gerechtigkeit vereinbar sei, und pointiert den immanenten Sinn des Verhältnisses von Glaube und Gnade. Indessen, das darin veranschaulichte Phänomen einer Verkehrung oder eines Umschlags aus Feindlichkeit in Freundlichkeit hat universale Bedeutung. Es ist das Problem der Selbstentfremdung und ihrer Überwindung, wie es Friedrich Schiller zuerst in seinen »Ästhetischen Briefen« entfaltet hat, dem Hegel eine zentrale Rolle zuweist

und das Karl Marx später auf die Praxis anwenden sollte. Hegel sieht in der Vernunft, die alle Widersprüche vereinigt, die universale Struktur des Seins. Es ist das Wesen des Geistes, das Entgegenstehende in das Eigene zu verwandeln, oder, wie Hegel es auszudrücken liebt, die Selbsterkenntnis im An-

derssein zu vollbringen und auf diese Weise die Entfremdung aufzuheben. In der Macht des Geistes ist die Struktur der Dialektik am Werk, die als die

universale Verfassung des Seins auch das geschichtliche Wesen des Menschen durchwaltet und die Hegel in seiner »Logik« zu systematischer Explikation gebracht hat. 2

Der Aufbau der Hegelschen Logik in den drei Stufen von Sein, Wesen und Begriff, in denen er die formale Begriffsstruktur des Zusichselbstkommens des Geistes durchläuft, rechtfertigt auf eine überzeugende Weise, was Heidegger schon in frühen Jahren von Hegel gesagt hat: er sei der radikalste Grieche. Nicht nur, daß man in den grundlegenden Partien der Logik, insbesondere in der »Logik des Wesens«, die platonisch-aristotelische und in der Logik des Seins« die vorsokratisch-pythagoreische Gesteinsschicht überall durchschimmern sieht- auch das Bauprinzip des Ganzen verrät bisin die Begriffsworte hinein das Erbe der eleatisch-platonischen Dialektik. Esist die Ausgesprochenheit der Gegensätze, die sich als das bewegende Prinzipin der Selbstbewegung des Gedankens erweist. Und die Vollendung dieser

Bewegung, die totale Selbstdurchsichtigkeit der Idee - und am Ende des Geistes - stellt gleichsam den Triumph der Vernunft über allen Widerstand der Gegenständigkeit dar. So hat auch diese Heideggersche Charakteristik eine radikale Zweideutigkeit an sich: es ist eine Radikalisierung des griechi-

94

Hegel

schen metaphysischen Weltdenkens, wenn Hegel die Vernunft nicht nur in der Natur, sondern auch im Bereich der menschlich-geschichtlichen Welt

wirksam und siegreich denkt. Aber diese radikale Durchführung des Logos kann in Heideggers Sinne auch als Ausdruck jener Seinsvergessenheit erscheinen, der das neuzeitliche Wesen des sich selber wissenden Wissens und des sich selber wollenden Wollens von seinen griechischen Anfängen an unaufhaltsam zustrebt. In diesem Lichte zeigt sich Heideggers geschichtliches Selbstbewußtsein als der äußerste Gegenwurf gegen den Entwurf des absoluten Wissens und des vollendeten Selbstbewußtseins der Freiheit, der Hegels Philosophie zugrunde liegt. Aber eben das motiviert unsere Frage. Heidegger denkt bekanntlich die einheitliche Geschichte der Metaphysik, die von Plato bis Hegel das Denken des Abendlandes prägt, als die Geschichte der steigenden Seinsvergessenheit. Indem das Sein des Seienden zum Gegenstand der metaphysischen Frage gemacht wird, kann sich Sein nicht mehr anders denken lassen als vom

Seienden

her, das den Gegenstand

unseres

Wissens

und

unserer Aussagen bildet. Der Schritt, den Heidegger hinter diesen Anfang des metaphysischen Denkens zurückzutun fordert, kann der eigenen Intention dieses Denkens nach nicht selber als Metaphysik verstanden werden. Der Rückgang hinter Plato und Aristoteles, wie ihn Hegels Logik mit dem ersten Bande, der Logik des Seins, tut, durfte noch als eine Art Vorstufe der Metaphysik gedeutet werden. Aber schon Nietzsches erbitterte Polemik gegen Platonismus und Christentum und seine Entdeckung der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen: war das ahnende Heraufbeschwören einer anderen Vorwelt des Gedankens. Heideggers neue Vorbereitung der Seinsfrage sucht die begrifflichen Mittel zu erarbeiten, die eben diese Ah-

nungen zu konkretisieren vermöchten. Bekanntlich hat sich Heidegger dabei von dem antigriechischen Moment in der Frömmigkeitsgeschichte des Christentums leiten lassen: von Luthers entschiedener Forderung an den Christenmenschen, man müsse dem Aristoteles abschwören,

über Gabriel Biel und Meister Eckhart bis zu den

tiefsinnigen Variationen, in denen Augustinus das Mysterium der Trinität

philosophisch umspielt, ist ein antigriechisches Motiv wirksam, das auf das

Wort und auf das Hören weist, die in der alttestamentlichen Gottesüberlieferung die Führung haben. Das griechische Prinzip des »Logos und des »Eidos«, das Aussprechen und Verwahren des sichtbaren Umrisses der Dinge, erscheint von da aus wie eine verfremdende Gewalt, die dem Mysterium des Glaubens angetan wird. All das ist in Heideggers neuer Aufrührung der Seinsfrage wirksam und erläutert sein berühmtes Wort von der »Oberflächlichkeit der Griechen«. Aber daß in dem Dämmer der vorsokratischen Frühe durch die Hülle des Logos andere Tiefen hindurchscheinen, die jetzt erst, am

Ende der metaphysischen Tradition und an der Schwelle des heraufziehen-

Hegel und Heidegger

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den Positivismus und Nihilismus, dem Denken bewußt werden - soll das Zufall sein? Anaximanders Satz, der Schopenhauer wie eine griechische Version des indischen Pessimismus erschien und ihm jedenfalls eine Vorwegnahme seines eigenen Denkens war, beginnt nun wie eine Vorwegnahme des Zeitcharakters des Seins zu klingen, den Heidegger als die »Weile« denkt. Soll das Zufall sein? Es scheint mir schwer, der Reflexion auszuweichen, die sich gegenüber der geschichtlichen Selbstrechtfertigung Heideggers und seinem Rückgang auf die Seinsfrage aufdrängt: nämlich daß solcher Rückgang zum Anfang nicht selber Anfang ist, sondern durch ein Ende vermittelt. Kann man es übersehen, daß das Heraufkommen des europäischen Nihilismus,

daß der Hahnenschrei

des Positivismus und damit das

Ende der »wahren Welt«, die nun endlich »zur Fabel wird«, den Schritt des Fragens vermittelt, den Heidegger tut, indem er hinter die Metaphysik zurückfragt? Und kann es überhaupt ein Sprung sein, der aus dem Vermittlungszusammenhang des metaphysischen Denkens herausspringt, der mit dem »Schritt zurück« getan wird? Ist Geschichte nicht immer Kontinuität? Werden im Vergehen!? Gewiß spricht Heidegger niemals von einer geschichtlichen Notwendigkeit, wie sie Hegels Konstruktion der Weltgeschichte als der Vernunft in der

Geschichte beherrscht. Die Geschichte ist für ihn nicht die durchgerungene Vergangenheit, in der sich die Gegenwart in der Totalität ihrer Gewesenheit selber begegnet. Mit voller Bewußtheit vermeidet Heidegger in seinem späteren Denken die Ausdrücke von Geschichte und Geschichtlichkeit, die von Hegel her das Nachdenken über das Ende der Metaphysik beherrschen und die wir als die Problematik des historischen Relativismus kennen. Er sagt stattdessen »Geschick« und »Geschicklichkeit«, wie um zu unterscheiden,

daß es hier nicht um selbstzuergreifende Möglichkeiten des menschlichen Daseins, um geschichtliches Bewußtsein und Selbstbewußtsein geht, sondern um das, was dem Menschen zugeschickt wird und wovon er so sehr

bestimmt wird, daß alle Selbstbestimmung und alles Selbstbewußtsein dahinter zurückbleiben. Heidegger stellt nicht den Anspruch, die Notwendigkeit dieses Geschichtsganges vom philosophischen Gedanken her zu begreifen. Aber eine innere Folgerichtigkeit spricht er ihm eben doch zu, wenn er das Denken der Metaphysik als die Einheit der Geschichte der Seinsvergessenheit denkt und im Zeitalter der Technik ihre radikale Zuspitzung am Werk sieht. Ja, mehr noch: wenn Metaphysik als Seinsvergessenheit und die Geschichte der Metaphysik bis in ihre Auflösung hinein als die wachsende Seinsvergessenheit verstanden wird, so wird mit Notwendigkeit dem Denken, das dies denkt, 1 Daß die Rede vom Sprung unangemessen war, hat Heidegger in dem oben erwähn’ ten Brief sogleich anerkannt (Ges. Werke Bd. 4, 5.480).

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Hegel

zuteil, daß das Vergessene einem wieder kommt. Und selbst daß zwischen der steigenden Seinsvergessenheit und der Erwartung dieses Kommens ein Zusammenhang ist, der dem eines dialektischen Umschlags ähnelt, ist in gewissen. Wendungen Heideggers (jäh vermutlich.) selber deutlich. In der Offenheit für die Zukunft, die alles menschliche Entwerfen anhält,

bleibt eine Art geschichtlicher Selbstrechtfertigung am Werke: aus der radikalen Zuspitzung der Seinsvergessenheit, wie sie im Zeitalter der Technologie sich vollzieht, begründet sich für das Denken jene eschatologische Erwartung einer Umkehr, die hinter allem, was produziert und reproduziert wird, das sehen läßt, was ist.

Man muß zugeben, daß solches geschichtliches Selbstbewußtsein nicht minder umfassend ist als Hegels Philosophie des Absoluten. 3:

Damit erhebt sich aber zugleich eine neue Frage: Ist das Prinzip der Hegelschen Dialektik wirklich so auf die extreme Konsequenz zu beziehen, die in der Selbstdurchsichtigkeit der Idee bzw. dem Selbstbewußtsein des Geistes gelegen ist? Wenn »Sein« als das unbestimmte Unmittelbare den Ausgangspunkt der Logik bildet, dann ist zwar gewiß der Sinn von

Sein als die

absolute Bestimmtheit« festgesetzt. Aber macht es nicht eben die dialektische Selbstbezüglichkeit des philosophischen Gedankens aus, daß das Wahre nicht ein von seinem Werden ablösbares Resultat ist, sondern das Ganze seines Werdens und seines Weges und nichts sonst? Gewiß ist es naheliegend, der Selbstapotheose des Denkens, die in dieser Wahrheitsidee Hegels liegt, dadurch entgehen zu wollen, daß man sie ausdrücklich verneint und

mit Heidegger die Zeitlichkeit und Endlichkeit des menschlichen Daseins entgegensetzt oder mit Adorno den Widerspruch: das Ganze sei nicht das Wahre, sondern das Falsche. Aber es fragt sich, ob man Hegel damit ganz gerecht wird. Die Zweideutigkeiten, die Hegels Lehren in so reichem Maße aufweisen und die wir eingangs an Beispielen illustriert haben, haben am Ende eine positive Bedeutung. Sie erlauben es nicht, den Begriff des Ganzen und in letzter Konsequenz den Begriff des Seins von der totalen Bestimmtheit her zu denken. Die allumfassende Synthese, die Hegels spekulativer Idealismus zu leisten beansprucht, enthält vielmehr eine unaufgelöste Spannung. Sie spiegelt sich in dem schwankenden Wortsinn, den das Wort »Dialektik« bei Hegel aufweist. Einerseits nämlich darf Dialektik die Vernunftansicht heißen, die in

allen Gegensätzen und Widersprüchen die Einheit des Ganzen und das Ganze der Einheit zu gewahren vermag. Auf der anderen Seite aber ist Dialektik, wie es dem antiken Wortsinne entspricht, gerade auch die Zuspitzung aller Gegensätze zum »Fixen« der Widersprüchlichkeit oder, anders gesprochen,

Hegel und Heidegger

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die Herausarbeitung der Widersprüche, die das Denken in den Abgrund des Geschwätzes stürzen, wenn sie auch in der Vernunftansicht in spannungsvoller Einheit zusammen bestehen. Hegel nennt, um diesen Unterschied zu betonen, die Vernunftansicht mitunter auch das Spekulative (im Sinne des Positiv-Vernünftigen) und versteht unter Dialektik den Vollzugscharakter des philosophischen Beweisens: das Ausdrücklichmachen der im PositivVernünftigen implizierten und überwundenen Gegensätze. Hier liegt offenbar eine doppelte Orientierung zugrunde: einerseits an dem Methodenideal des vergegenständlichenden Denkens, wie es durch Descartes zuletzt zum Selbstbewußtsein der »Methode« erhoben worden ist und in Hegels logischem Panmethodismus gipfelt. Auf der anderen Seite liegt aber diesem Methodenideal des philosophischen Beweises die konkrete Vernunfterfahrung voraus, die ihm seine Aufgabe und Möglichkeit eröffnet. Wir haben sie als die Macht der »Versöhnung des Verderbens« kennengelernt. Sie hat auch in der Durchführung der Hegelschen Logik ihre Dokumentation: der Totalität der Bestimmungen des Gedankens, dem dialektischen Ganzen der Kategorien,

liegt die Dimension

des Gedankens

selber schon voraus,

die

Hegel mit dem monotheistischen Singular »das Logische bezeichnet. Wenn Heidegger einmal gesagt hat, daß ein Denker immer nur das Eine denke, so kann dieser Satz gewiß auf Hegel seine Anwendung finden, der in allem die Einheit des Spekulativen und Vernünftigen gewahrte und bekanntlich von den Rätselsprüchen Heraklits, die dieses spekulative Einheitsprinzip mannigfach variieren, gesagt hat, es gebe keinen Satz Heraklits, den er nicht in seine Logik aufgenommen habe. Die Meisterschaft, mit der Hegel in der Durcharbeitung der geschichtlichen Überlieferung der Philosophie überall dies Eine wiederzuentdecken weiß, bleibt in einem offenkundigen und

siegreichen Kontrast zu der despotischen Richterlichkeit, mit der er die Grenzen aller Denkversuche der Früheren aufzuzeigen und die Notwendigkeit in der Geschichte der Philosophie, dieser Odyssee des Gedankens, zu erkennen beanspruchte. Oft scheint es daher nur einer leichten Fortbewegung Hegelscher Interpretationen der Geschichte der Philosophie zu bedürfen, damit das Spekulative und Positiv-Vernünftige im Denken der Frühex ren überzeugend sichtbar wird. sich hat Gewiß aus. nicht auch Heidegger bei aber es sieht anders ganz So in seinem Denken die Geschichte der Metaphysik zu einem Gegenwart und Zukunft bestimmenden »Seinsgeschick: artikuliert, und diese Geschichte der Seinsvergessenheit geht folgerichtig ihrer radikalen Zuspitzung entgegen aber Heidegger sieht auch die fortwirkende Macht des Anfangs, der über uns hinweggegangen ist - in der »physis« des Aristoteles, im Rätsel der analogia entis«, in Leibnizens »Durst nach Existenz«, in Kants endlicher Metaphysik«,

in Schellings Grund in Gott« und so am Ende auch in Hegels Einheit des Spekulativen und Vernünftigen.

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Hegel

Es gibt ein äußeres Zeugnis für die Freiheit, die Hegel gegenüber seiner eigenen Methode einzuhalten weiß, und für die Nachbarschaft,

durch die

Heidegger trotz all seiner Kritik an dem Griechen Hegel zu Hegel gerät, und das ist beider Verhältnis zum spekulativen Geist der deutschen Sprache. Hegels Gebrauch der deutschen Sprache für die begrifflichen Zwecke der Philosophie ist uns nun durch anderthalb Jahrhunderte vertraut. Dem historisch denkenden philosophisch erzogenen Leser begegnet die Ansteckungskraft seiner Sprache in den Jahrzehnten seines Wirkens und Nachwirkens auf Schritt und Tritt. Nicht die paar klappernden Begriffe von Thesis, Antithesis und Synthesis oder von subjektivem, objektivem und absolutem Geist oder gar ihre schematische Anwendung auf den verschiedensten Feldern der Forschung, wie sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht selten war,

macht Hegels wahre Präsenz in der Sprache seiner Zeitgenossen aus. Es ist vielmehr die wirkliche Kraft der deutschen Sprache und nicht die schematisierende Präzision solcher künstlicher Begriffsbildung, die seiner Philosophie den Atem des Lebens einhaucht. Nicht umsonst hat es erst inunserem Jahrhundert die ersten Übersetzungen Hegels in die großen Kultursprachen gegeben, die ohne Rückgang auf das deutsche Original den Hegelschen Gedankengang halbwegs zu vermitteln vermögen. Die sprachlichen Möglichkeiten dieser anderen Sprachen erlauben eben eine unmittelbare Abbildung der Bedeutungsvielfalt, wie sie in Begriffsworten wie Sein und Dasein, Wesen und Wirklichkeit, Begriff und Bestimmung liegen, nicht. Das Denken in den möglichen Übersetzungsbegriffen bedeutet daher unvermeidlicherweise die Verführung, in den Begriffshorizont der Scholastik und ihrer neueren Begriffsgeschichte zurückzufallen. Auf keine Weise vermag durch diese fremdartigen Worthüllen die spekulative Kraft hindurchzuscheinen, die in den entsprechenden deutschen Worten und ihrem vielfältig ausgebreiteten Wortfelde mitklingt. Man nehme einen Satz wie den ersten Satz des zweiten Bandes der Hegelschen Logik, den Heidegger einmal als alter Mann im Kreise seiner auch nicht mehr jungen Schüler aus Anlaß des Freiburger Universitätsjubiläums vor etwa 10 Jahren diskutiert hat: »Die Wahrheit des Seins ist das Wesen«. Einen solchen Satz kann man als das Insichgehen des unmittelbaren Seins und als das Eintreten in die Metaphysik des Wesens verstehen-und das ist sogar richtig in Hegels Sinne. Aus der Unentschiedenheit des parmenideischen »Seins« tritt die am Logos orientierte Philosophie Platos und Aristoteles’ in die Reflexionssphäre von Wesen und Form, Substanz und Existenz,

und Hegels Geschichte der Philosophie des Altertums stellt eine Art Kommentar zu diesem Übergang aus dem vorsokratischen in das platonischaristotelische Denken dar. Und dennoch ist nicht einer der Wortbegriffe dieses Satzes, weder »Wahrheit« noch »Sein« noch »Wesen«, auf den Begriffshorizont der Metaphysik eingeengt, der in den lateinischen Begriffen und

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ihrer scholastischen Ausarbeitung und Differenzierung den Sprachboden für die Übersetzung Hegels in das Italienische oder Spanische, ins Französische oder Englische hergibt. Die Übersetzung » Veritas existentiae est essentia« wäre ein vollkommener Unsinn. Sie bliebe eben alle spekulative Bewegung schuldig, die in den lebendigen deutschen Worten und Wortbeziehungen sprechend wird. Wenn wir »Wahrheit des Seins« hören, so klingt bei Wahrheit vielerlei an, was in veritas nicht liegt: Eigentlichkeit, Unverborgenheit, Echtheit, Bewährung usw., und ebenso ist »Sein« gewiß nicht Existenz und auch nicht Dasein oder Etwas-Sein, sondern eben »Wesen«, aber so, daß ‚Sein: wie »Wesen« Zeitwort-Charakter haben, nominalisierte Verben sind,

die die Bewegung mit evozieren, die Heidegger »Anwesen« nennt. Heidegger hatte nicht umsonst diesen Satz zur Diskussion gestellt, sondern in der offenbaren Absicht zu prüfen, ob nicht Hegel an sich selbst vorbeihört und in die methodische Konsequenz des dialektischen Fortgangs zwingt, was ihm die Sprache als tiefere Wahrheit und Einsicht vorhält und entgegenbringt. Läßt man die Sprache sprechen und hört auf das, was sie sagt, dann ist es nicht nur so, daß man anderes aus ihr heraushört, als was Hegel im

Ganzen seiner Dialektik der »Logik« zu Begriff zu bringen verstand — man ist auch unmittelbar dessen inne, daß der fragliche Satz nicht so sehr eine Aussage über das Wesen ist, als die Sprache des Wesens selber spricht?. Es ist kaum vermeidlich, daß jemand, der diese Darlegungen hört, be-

hauptet, der Sprecher »heideggere« oder sei, wie man in Deutschland bereits in den frühen 20er Jahren sagte, »verheideggert«. Wer im Deutschen aber wirklich zu Hause ist, wird sich mit ebensoviel Recht auf Meister Eckhart, Jakob Böhme, Leibniz oder Franz von Baader berufen können.

Nehmen wir ein Heideggersches Gegenbeispiel: »Das »Wesen« des Daseins liegt in seiner Existenz«. Bekanntlich hat Sartre diesen traditionell klingenden Satz im traditionellen Sinne dem französischen Existenzialismus dienstbar zu machen versucht — und hat die kritische Abwehr Heideggers hervorgereizt. Heidegger konnte sich darauf berufen, daß im Text von »Sein und Zeit« das Wort »Wesen« in jene Art von Anführungszeichen gesetzt war, die dem aufmerksamen

Leser verrät, daß »Wesen« hier nicht essentia im

traditionellen Sinne meint. »Essentia hominis in existentia sua consistit« ist nicht Heidegger, sondern höchstens Sartre. Heute wird niemand bezweifeln, daß Heidegger schon damals in »Wesen« das Zeitwort des Seins meinte und in Sein wie in Wesen die Zeitlichkeit des »Anwesens«. Auch für Heidegger dürfte gelten, was oben für Hegel gesagt wurde: nicht die besonderen terminologischen Prägungen Heideggers sind es, die seine sprachliche Präsenz ausmachen. Von ihnen erscheinen gewiß manche mehr als eine vor2 Vgl. den oben zitierten Brief Heideggers. Er stilisiert Hegel ganz auf seinen neuzeitlichen Cartesianismus. Doch siehe Bd. 4, »Das Erbe Hegel« S. 478f.

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Hegel

übergehende Zumutung, die an den Gedanken gestellt wird, als daß sie ein wiederholbarer und dauernder Besitz der Sprache des Denkens geworden wären. Aber wie Hegel aus den einfachsten Wendungen der deutschen Sprache, wie z.B. van sich«, »für sich«, an und für sich«, oder aus Worten wie

»Wahr-nehmung« oder »Bestimmung« spekulative Wahrheiten hervorzaubert, so horcht auch Heidegger beständig auf den versteckten Zuspruch, den die Sprache dem Denken gewährt — beide von dem großartigen Vorbild Heraklits fasziniert. Ja, Heidegger hat an einem entscheidenden Punkt seines eigenen Denkweges, dem Punkt der »Kehre«, die Dichtersprache Hölderlins in sein denkendes Sprachbewußtsein einzuholen gewagt. Was ihm auf diese Weise sagbar wurde, ist für sein Zurückfragen hinter die Metaphysik der feste Grund und Boden, auf dem sich seine Kritik an der Sprache der Metaphysik und alle ausdrückliche Destruktion überkommener Begriftlichkeit positiv erfüllt. Gerade deshalb aber muß sich ihm ständig die Aufgabe stellen, seinen eigenen Denkversuch gegen den Hegels abzugrenzen, weil Hegels Begriffskunst aus dem gleichen spekulativen Boden der deutschen

Sprache erwachsen ist?. Heidegger aber denkt dem, was Sprache ist, eigens nach. Er nährt damit gegen die griechische Logos-Philosophie, der Hegels methodisches Selbstbewußtsein verschrieben war, einen Gegengedanken. Seine Kritik der Dialektik zielt darauf, daß wenn das Spekulative, das Positiv-Vernünftige als

Anwesenheit gedacht ist, es auf ein absolut Vernehmendes bezogen ist, mag dieses Nous, intellectus agens oder Vernunft heißen. Diese Anwesenheit soll ausgesagt werden, d.h. sie wird von der prädikativ strukturierten Aussage in ruheloser Selbstaufhebung umspielt: das ist die Dialektik. Für Heidegger, der nicht auf das Sprechen als Aussage gerichtet ist, sondern auf die Zeitlichkeit des Anwesens selbst, das sich uns zuspricht, ist Sagen stets mehr Sich-

Halten-an das zu Sagende im Ganzen und An-sich-Halten vor dem Ungesagten. Für das metaphysische Denken der Griechen war die Entborgenheit der Verbergung abgerungen, d.h. Aletheia wurde als die Überwindung des Pseudos bestimmt. Das bedeutet in Heideggers Augen eine Verkürzung dessen, was Sprache ist. Nun kann man gewiß sagen, daß ein gewisses Bewußtsein der Sachlage seit den Tagen Vicos und Herders das beginnende 3 [In Heideggers Brief vom 2. 12. 1971 heißt es hierzu: »Ich weiß selber noch nicht hinreichend deutlich, wie meine »Position« gegenüber Hegel zu bestimmen ist - als »Gegenposition« wäre zu wenig; die »Positions«-Bestimmung hängt mit der Frage nach dem Geheimnis des » Anfangs« zusammen; sie ist weit schwieriger, weil einfacher, als die

Erläuterung, die Hegel darüber gibt vor dem Beginn der »Bewegung« in seiner »Logik.«. Immer wieder habe ich mich gegen die Rede vom »Zusammenbruch des Hegelschen Systems« gewendet. Zusammengebrochen, das heißt herabgesunken ist, was folgte Nietzsche mit einbezogen. «]

Hegel und Heidegger

101

Zeitalter der modernen Wissenschaft begleitet. Aber erst seit die Kommunikationsweisen der modernen Wissenschaft durch die Informationstheorie zu ihrer Perfektion gebracht wurden, tritt umgekehrt das Problem der Sprachabhängigkeit unseres Denkens (und seine relative Sprachunabhängigkeit) ins volle Licht. Mit dem Entbergen ist nicht nur das Verbergen wesenhaft verbunden, sondern auch dessen eigentliche, wenn auch verborgene Leistung, als Sprache das »Sein« in sich zu bergen. Denken ist vom Grund der Sprache abhängig, sofern Sprache nicht ein bloßes Zeichensystem zur kommunikativen Übermittlung von Informationen ist. Die Vorbekanntheit des zu Bezeichnenden vor aller Bezeichnung ist nicht der Fall von Sprache. Im sprachlichen Weltbezug artikuliert sich vielmehr das Besprochene selbst erst durch die Sprachverfassung unseres Inder-Welt-Seins. Sprechen bleibt auf das Ganze der Sprache, auf die hermeneutische Virtualität des Gespräches bezogen, durch die Gesprochenes ständig überholt wird. Eben damit aber überholt das Sprechen auch ständig die Sprachverfaßtheit, in der wir uns finden. Etwa in der Begegnung mit fremden Sprachen, und gar mit Sprachen ganz anderer geschichtlicher Bildung, wird Welterfahrung eingebracht, die uns fehlt und für die uns die Worte fehlen. Aber

Sprache ist es nicht minder. Das gilt am Ende auch für die Welterfahrung, die unsere

Umwelt

fortfährt,

uns

anzubieten,

sosehr sie auch zu einer

technisch verwalteten Welt umgearbeitet wird. Mag die Sprache noch so sehr in diese technische Funktion einrücken, als Sprache hält sie gleichwohl die Konstanten

unserer Natürlichkeit fest, die in ihr immer wieder zur

Sprache kommen. Mit ihr wird auch die Sprache der Philosophie, solange sie Sprache bleibt, im Gespräch bleiben.

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6. Die phänomenologische Bewegung 1963

Tl:

In der Philosophie des 20. Jahrhunderts nimmt die phänomenologische Bewegung, die in Deutschland vor dem ersten Weltkrieg entstand, eine ausgezeichnete Stellung ein. Der Begründer der Phänomenologie, Edmund Husserl, sah in der von ihm entwickelten Methode den einzigen Weg, Philosphie zur strengen Wissenschaft zu erheben. Seine leidenschaftliche Hingabe an diese Aufgabe hat zu einer großen Schulwirkung geführt, und selbst als er nach 1933 aus dem öffentlichen Bewußtsein wegen seiner jüdischen Abkunft verdrängt wurde, hielt diese Wirkung an und hat nach dem zweiten Weltkrieg eine wahre Renaissance gezeitigt. Husserl starb 1938. Sein umfangreicher literarischer Nachlaß, der von Freiburg nach Löwen gebracht worden war, um ihn vor der Vernichtung zu retten, wird laufend ediert, und die

große Reihe dieser Bände hält das philosophische Interesse an Husserls Denken wach. Dabei ist es gar nicht leicht zu sagen, was diese phänomenologische Bewegung mit dem öffentlichen Bewußtsein verbindet. Denn als eine Schulrichtung innerhalb der akademischen Philosophie, die alle große Publizität vermied, vermochte sie das öffentliche Bewußtsein durchaus nicht in

dem Grade zu erreichen, in dem das später der Existenzphilosophie gelang. Und doch hatte auch die Phänomenologie ihre Stunde, die sie mit anderen Bewegungen im Geistigen eng verband. Wenn wir etwa daran denken, wie die biographische Forschung des 19. Jahrhunderts in eben dieser Zeit ihr Gesicht veränderte:Bücher wie Friedrich Gundolfs »Goethe« oder Ernst Kantorowiczs Friedrich der Zweite« hatten wenig Ähnlichkeit mit den Werken des 19. Jahrhunderts über den gleichen Gegenstand. Die biographische Einzelforschung, die Aufspürung der Quellen und der Einflüsse, die die literarhistorische Arbeitsweise des ausgehenden 19. Jahrhunderts charakterisiert hatte, wird hier grundsätzlich überwunden. Ihr Gegenstand ist nicht die Zufälligkeit der Bedingungen biographisch-historischer Art, unter denen ein Mann und sein Werk wurden, was sie sind, sondern das Wesenhafte

solcher großen geistiger Gestalten, das sich allein einem auf die schöpferischen Kräfte und geistigen Lebensmächte gerichteten Blick erschließt.

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Husserl

Die Phänomenologie war nicht minder kritisch gegen die Denkgewohnheiten der zeitgenössischen Philosophie. Sie wollte die Phänomene zur Sprache bringen, und das heißt, daß sie jede unausweisbare Konstruktion zu vermeiden und die selbstverständliche Herrschaft philosophischer Theorien kritisch zu prüfen suchte. So hält sie es beispielsweise für eine vorurteilsvolle Konstruktion, wenn man alle Phänomene des menschlich-gesellschaftlichen

Lebens aus einem einzigen Prinzip abzuleiten sucht, zum Beispiel aus dem des größten Nutzens oder gar dem Lustprinzip. Sie macht solchen Theorien gegenüber geltend, daß die Phänomene, etwa die Idee von Recht und Strafe, oder von Freundschaft und Liebe, ihren Sinn in sich selber tragen und nicht vom Nutzen oder von der Lust her zu fassen sind. Sie wendet sich aber vor allem gegen die Konstruktion, welche die damalige Grunddisziplin der Philosophie, die Erkenntnistheorie, beherrschte. Wenn die erkenntnis-theoretische Fragestellung

eine Antwort

darauf suchte,

wie das von

seinen

eigenen Vorstellungen erfüllte Subjekt die Außenwelt erkennen und der Realität der Außenwelt gewiß sein könne, so zeigt die phänomenologische Kritik, wie sachfern eine solche Fragestellung ist. Ihre grundlegende Einsicht ist, daß das Bewußtsein keineswegs eine in sich geschlossene Sphäre ist, in die seine Vorstellungen wie in eine eigene innere Welt verschlossen sind,

sondern daß es im Gegenteil seiner eigenen Wesens-Struktur nach immer schon bei den Sachen ist. Es ist ein falscher Vorrang des Selbstbewußtseins, der von der Erkenntnistheorie behauptet wird. Es gibt im Bewußtsein nicht Vorstellungsbilder der Gegenstände, deren Angemessenheit an die Dinge selbst zu garantieren das eigentliche Erkenntnisproblem darstelle. Das Bild, das wir von den Dingen haben, ist vielmehr in aller Regel die Weise, in der

die Dinge selbst uns bewußt sind. Es ist ein Sonderfall gestörter Gewißheit, des Zweifels an der Richtigkeit einer Meinung, der überhaupt nur das Bild, das ich von einer Sache habe, von der Sache selbst zu unterscheiden nötigt.

Eine Phänomenologie der Erkenntnis muß dem Rechnung tragen. Ihr Modellfall ist die Wahrnehmung. Hier gilt, daß unsere Wahrnehmungen die Dinge selbst »in leibhafter Gegebenheit« erfassen. Da gibt es keinen Schluß von gewissen sinnlichen Reizen auf die zugrunde liegenden Reizursachen, keine nachträgliche Zusammenfassung verschiedener Reizwirkungen zur Einheit einer Ur-Sache, die wir das Ding nennen - das alles sind Konstruktionen, die an den Phänomenen keine Ausweisung finden. Erkenntnis ist Anschauung, und das heißt im Falle der unmittelbaren Wahrnehmung: leibhafte Gegebenheit des Erkannten in der Wahrnehmung. Sie hat ihre eigene Evidenz in sich, und wo immer außerhalb der Sphäre des Wahrnehm-

baren wirkliche Einsicht erreicht wird, dort kann das nichts anderes bedeuten, als daß auch da das Gemeinte sich in anschaulicher Gegebenheit darstellt. Es gibt »kategoriale« Anschauung. Husserl nannte das: es begegnet als Erfüllung der Intention des Meinens. Das ist der schlichte, deskriptive Sinn

Die phänomenologische Bewegung

107

der berühmten »Wesensschau«, gegen die mit viel blindem Scharfsinn argumentiert worden ist. Sie ist kein Patentverfahren, kein Methoden-Geheimnis einer Schule, sondern sie stellt gegenüber allen konstruktiven Theorien die schlichte Tatsache wieder her, daß Erkennen Anschauen ist. Als Husserl im Jahre 1913 mit seinen »Ideen« hervortrat und eine lange Folge von Bänden des »Phänomenologischen Jahrbuchs«

eröffnete,

an dem

außer ihm auch

andere, vor allem Max Scheler, Alexander Pfänder und später Martin Heidegger, als Herausgeber mitwirkten, schrieb er über die Forschungsgesinnung, die die Herausgeber vereine, sie sei »die gemeinsame Überzeugung, daß nur durch Rückgang auf die originären Quellen der Anschauung undauf die aus ihr zu schöpfenden Wesens-Einsichten die großen Traditionen der Philosophie nach Begriffen und Problemen auszuwerten sind, daß nur auf

diesem Wege die Begriffe intuitiv geklärt, die Probleme auf intuitivem Grunde neu gestellt und dann auch prinzipiell gelöst werden können«. Es ist ein leiser missionarischer Klang in diesen Worten, und in der Tat war es ein echtes Missionsbewußtsein, das Husserl erfüllte. Er fühlte sich als

ein Meister und Lehrer der geduldigen deskriptiven Arbeit im Kleinen, dem alle vorschnellen Kombinationen und scharfsinnigen Konstruktionen ein Greuel waren. Wenn er im akademischen Unterricht den großspurigen Behauptungen und Argumentationen begegnete, die den Anfänger im Philosophieren auszuzeichnen pflegen, dann liebte er zu sagen: »Nicht immer die großen Scheine, meine Herren, Kleingeld, Kleingeld!« Es ging eine eigentümliche Faszination von dieser Arbeitsweise aus. Sie wirkte wie eine

Läuterung, eine Rückkehr zur Ehrlichkeit, eine Befreiung von der Undurchsichtigkeit überall herumgereichter Meinungen, Schlagwörter und Kampfrufe. Dabei war ihr Inhalt, das Feld, auf dem diese bescheidene Arbeitsweise geübt wurde, selber höchst bescheiden. Eines der klassischen Themen Hus-

serls war die Phänomenologie des Wahrnehmungsdinges. Hier entwickelte er beispielsweise mit wahrhaft altmeisterlicher Präzision des Striches, daß wir von jedem Ding immer nur die uns zugekehrte Seite schen und daß der Perspektiven-Wechsel, der im Herumgehen um ein Ding erfolgt, an diesem Wesensverhältnis, daß das, was wir sehen, immer nur Vorderseite und nie

Rückseite ist, nichts ändern kann. So trivial waren viele phänomenologische Analysen. Einer der begabtesten Schüler Husserls, der im ersten Weltkrieg

gefallene Göttinger Privatdozent AdolfReinach, soll sogar ein ganzes Semester lang nichts anderes behandelt haben als die Frage, was ein Briefkasten ist. Tatsächlich hat Husserl niemals über die großen klassischen Themen der Philosophie in einer Weise gesprochen, die das weltanschauliche Bedürfnis der ihm lauschenden Jugend hätte befriedigen können. Und doch - die

Faszination war da. Ich erinnere mich aus dem Jahre 1919, aus jener Zeit der Verwirrung und Neuorganisation des deutschen Bewußtseins, in der es von

Husserl

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Debattierklubs großen und kleinen Formates förmlich wimmelte, einer Diskussion im Kreise junger Akademiker, der ich als neugierig-staunender Student beiwohnte, in der alle möglichen Heilmittel für die Krankheit und

Krise der Gegenwart angeboten wurden. Der eine trat für eine sozialistische Gesellschaft ein, der andere sah in dem Dichter Stefan George den Gründer

einer neuen Gemeinschaft unter den Menschen, ein Dritter wollte auf Antike und Humanismus

den neuen Aufbau gründen, ein Vierter sah in Gierkes

Genossenschaftsrecht den Konstruktionsgedanken eines neuen Staates, und da meldete sich ein Fünfter und sagte mit voller Inbrunst: Das einzige Heilmittel in unserer Not sei die »Phänomenologie«. Im Rückblick glaube ich ein wenig genauer sagen zu können, was ich damals nicht verstand. Daß die Erschütterung des Bildungsbewußtseins, die mit dem Zusammenbruch des wilhelminischen Deutschland zusammenging, eine allgemeine Ratlosigkeit verbreitet hatte und daß in diesem Zustand der Verwirrung die wildesten Reden geführt und die absurdesten Vorschläge gemacht wurden, mochte jemanden, der durch die strenge Zucht phänomenologischer Beschreibungskunst gegangen war, in der Tat dazu verlocken zu sagen: nur strenge Kleinarbeit,

die mit Geduld und Gewissenhaftigkeit neue Funda-

mente legt, und nicht dieses wilde Herumprojektieren im Bodenlosen könne eine neue Ordnung heraufführen. Husserls eigene leitende Frage, in die er sich mit bohrender Gewissenhaf-

tigkeit vertiefte, hieß: wie werde ich ein ehrlicher Philosoph? Er meinte damit: wie kann ich jeden Schritt meines Denkens so ausführen, daß jeder weitere Schritt aufeinem sicheren Boden geschehen kann? Wie kann ich jede ungerechtfertigte Vorannahme vermeiden und damit das Ideal der strengen Wissenschaft endlich auch in der Philosophie realisieren? Die Erschütterung des ersten Weltkrieges, in dem er einen seiner Söhne verlor, ließ ihn von der

fortschreitenden Ausführung seiner phänomenologischen Forschung immer wieder zurückkommen auf die Fundamente, die er mit immer neuen

Skrupeln zu prüfen und zu rechtfertigen suchte. Er hat im ganzen wenig selber publiziert, und fast immer waren es nur programmatische Skizzen. Die geduldige Kleinarbeit, zu der er wie kein anderer zu erziehen verstand,

kam in seinem literarischen Schaffen vor lauter methodischen Reflexionen sein Leben lang nicht mehr recht zum Zuge. Eine Vorstellung von dem, was phänomenologische Arbeit war, geben zuerst und vor allem seine aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg stammenden »Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins«. - Eine zweite tiefgehende Erschütterung für seine philosophische Arbeit erfuhr er durch das Aufkommen des Nationalsozialismus, der ihn seiner öffentlichen Wirkung beraubte und den er

ebenso wie die philosophische Entwicklung der zwanziger Jahre, die durch die Namen Jaspers und Heidegger bestimmt wurde, als ein Überborden irrationalistischer Strömungen ansah, das die Rationalität der menschlichen

Die phänomenologische Bewegung

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Kultur und die Strenge des philosophischen Wissenschafts-Gedankens gefährde. In Wahrheit mochte jene Idee der Wesenserkenntnis, die die Moral des Philosophierens erneuern sollte, jene deskriptive Analyse des unermebßlichen Feldes des »Bewußtseins«, die aller wissenschaftlichen Erkenntnis vorauszugehen habe und ihre apriorischen Voraussetzungen enthalten solle, eine Grenze haben, über die die Phänomenologie selber nicht hinauszugelangen vermochte. Selbst eine vollendete phänomenologische Erkenntnis aller Wesenheiten — zu denen auf dem Gebiete der Moral auch das Reich der »Werte« gehörte - könnte die Wirklichkeit des Wirklichen, die Wirklichkeit

des denkenden Bewußtseins so gut wie die Wirklichkeits-Erfahrung, die es macht, nicht erreichen. Mochte die Unterscheidung von Tatsache und Wesen das große Forschungsfeld der Phänomenologie gegenüber den Einzelwissenschaften richtig abgegrenzt und für methodisch selbstbewußte Arbeit freigelegt haben, die Tatsächlichkeit des Tatsächlichen, die Faktizität,

die Existenz ist nicht nur ein Letztes, Spätestes, Kontingentes, das von der Wesenseinsicht inhaltlich bestimmt und seiner ganzen Bestimmtheit nach von ihm umgriffen ist, es ist auch ein Erstes, Zugrundeliegendes, Nichtweg-zu-Denkendes, das alle Wesenseinsicht seinerseits trägt. Es war eine Aporie, ein grundsätzliches Problem, daß das faktische menschliche Dasein

nur seinem »Eidos«, seinem Wesen nach in der phänomenologischen Forschung aufgehellt werden konnte, daß es aber in seiner Einmaligkeit, Endlichkeit und Geschichtlichkeit in Wahrheit nicht als der Fall eines Eidos,

sondern selbst als das Allerrealste anerkannt werden möchte. An dieser Aporie sollte Husserl und die phänomenologische Forschung insgesamt die eigene Begrenztheit, Endlichkeit und Geschichtlichkeit erfahren. Das hatte im Kreise der Phänomenologen selber Max Scheler erkannt, der in allen Wirklichkeiten und Wissenschaften zu Hause war, dessen gewaltiges Temperament die Lebensprobleme der modernen Menschheit, des einzel-

nen, der Gesellschaft, des Staates, der Religion, mit Leidenschaft durchdach-

te. Er war neben Husserl eine ganz selbständige und geniale Erscheinung, wenn es auch das in Husserl verkörperte Handwerks-Ethos der phänomenologischen Arbeit war, das seinen »allesversuchenden« Geist erst diszipliniert hat. Mit seiner materialen Wertethik begründete er eine phänomenologische Forschungsrichtung, die erstmals die Tradition der katholischen Moralphilosophie mit den fortgeschrittensten Positionen der modernen Philosophie verschmolz und die bis heute diese Funktion ausübt. Ihm war Husserls Lehre von der »Wesensschau« wie auf den Leib geschnitten, sofern er eine durchdringende intuitive Kraft besaß, die ihn auf weiten Feldern der Wissenschaft,

der Physiologie wie der Psychologie, der Anthropologie wie der Soziologie

und in den historischen Wissenschaften, zu glänzenden Einsichten in die

Wesensgesetzlichkeiten des menschlichen Lebens befähigte. Die philo-

110

sophische

Husserl

Anthropologie

wurde

sophischen Wissenschaft erhoben,

durch

ihn zu einer zentralen

philo-

die bis in die Gotteslehre hineinwirkte

und seinen ruhelosen spekulativen Geist am Ende aus den Bindungen der katholischen Kirche löste. In den aufgeregten Jahren nach dem ersten Weltkriege waren die Denkabenteuer dieses bedeutenden und dämonisch getriebenen Mannes von nicht geringerer Wirkung als die stille Forschungskontinuität der Freiburger phänomenologischen Schule. Er erstrebte eine umfassende Synthese aus den neuesten Erkenntnissen der Wissenschaft, indem er die Phänomenologie durch eine metaphysische Wirklichkeitswissenschaft, die Welt des Geistes und seines entwirklichenden Wesensblickes durch die Wirklichkeit des Dranges als des naturhaften Grundes alles Sein ergänzte. Schelers Arbeiten, insbesondere die zur Wissenssoziologie und zur philosophischen Anthropologie, haben in thematischer Ausdrücklichkeit den Zusammenhang von Wesen und Wirklichkeit fruchtbar zu gestalten gewußt. Aber die bloße Ergänzung der Phänomenologie durch eine philosophische Wissenschaft vom Wirklichen konnte das philosophische Bewußtsein am Ende nicht befriedigen. Der Dualismus von Wahrheit und Wirklichkeit, von Geist und Drang, von Ohnmacht des Geistes und widerständiger Macht des Wirklichen stellte mehr ein Problem, als daß er eines löste. So war die Stunde reif

für einen radikaleren Einsatz des Philosophierens, der durch Heidegger und durch die »Existenzphilosophie« von Jaspers gebracht wurde. I.

Hatte die phänomenologische Bewegung in der Stille und Abgeschlossenheit der akademischen Hörsäle ein neues Verhältnis der Sachnähe, ein neues

Interesse an der vorwissenschaftlichen »Lebenswelt« begründet - ihre Parole ‚Philosophie als strenge Wissenschaft: konnte das weltanschauliche Bedürfnis der Öffentlichkeit nicht befriedigen. So war es die sogenannte Existenzphilosophie, die der Zeit zwischen den zwei Kriegen philosophisch die stärkste Prägung gegeben hat. Ihr Ansatzpunkt war das Unbehagen, das die Orientierung an dem Faktum der Wissenschaften auslöste, die der zeitgenössischen neukantianischen Philosophie zugrunde lag. Die Schulgestalt des transzendentalen Idealismus genügte einer durch die Materialschlachten des ersten Weltkrieges erschütterten Generation nicht mehr. Auf vielen Gebieten, so dem der Theologie, der Psychiatrie und der Soziologie, wurden die Grenzen des liberalen Bildungsbewußtseins klar. Es war vor allem die Rückbesinnung auf den dänischen Philosophen Kierkegaard, der in der nachhegelschen Epoche als religiöser Schriftsteller und Kritiker des spekulativen Idealismus gewirkt hatte, die der philosophischen Kritik am neukantianischen Idealismus die Zunge löste. Kierkegaard hatte gegen Hegel mit

Die phänomenologische Bewegung

111

bitterem Sarkasmus geltend gemacht, daß der absolute Professor das Existieren vergessen habe. Die »Mediation«, das heißt die dialektische Vermittlung auch der einander aufs schärste entgegengesetzten Gedanken, nehme der menschlichen Existenz die Schärfe der absoluten Entscheidung, die Unbedingtheit und Unwiderruflichkeit der Wahl, die allein ihrer Endlichkeit und Zeitlichkeit angemessen sei. Neben die theologische Kritik an der liberalen Theologie des 19. Jahrhunderts, die durch Karl Barths berühmten Römerbrief-Kommentar und durch Friedrich Gogarten eröffnet wurde und die vor allem die Unmittelbarkeit des Du und seines menschlichen Anspruchs an das Ich gegen die liberale Kulturwelt und ihr Selbstbewußtsein kehrte, trat die philosophische Reflexion, die die Kierkegaardsche Existenzdialektik in sich aufnahm. Es war zuerst Karl Jaspers, der in seiner »Psychologie der Weltanschauungen« dem Existenzbegriff gegenüber allen Bildungsgestalten des Philosophierens einen neuen Akzent verlieh. Ihm stand die Wissenschaftsidee des liberalen Zeitalters in der Verkörperung durch die großartige ForscherPersönlichkeit Max Webers anschaulich vor Augen. Die Strenge, mit der Max Weber alle Weltanschauungs-Momente und alle Wertungen aus der Wissenschaftslehre zu eliminieren suchte, aber gleichzeitig die Grenze aller Wissenschaft in der Notwendigkeit,

selber seinen Gott zu wählen, aner-

kannte, zeichnete Jaspers seine philosophische Aufgabe vor. Es galt, die Selbstbegrenzung der Wissenschaft, die hier so vorbildlich und fast DonQuichotte-haft dargelebt wurde, mit dem Anspruch der Philosophie zu vermitteln, nicht nur aus irrationalen Entscheidungen, sondern aus der Kraft des Gedankens eine Wahl der Götter vorzunehmen, denen man folgen

wolle, das heißt, im hellen Lichte der Vernunft und zugleich in existenzieller Verbindlichkeit zwischen den Möglichkeiten zu wählen, die dem existieren‘den Menschen jeweils zur Wahl stehen. Es war besonders der Begriff der Grenzsituation, den Jaspers geprägt hat, um eine neue Verbindlichkeit dem Philosophieren einzuschärfen, der diese Forderung erfüllte: Grenzsituationen sind solche Situationen des menschlichen Lebens, in denen der einzelne wählen und entscheiden muß, ohne dabei von der Wissenschaft durch

zwingendes Wissen geleitet zu sein. Es ist die je eigene Existenz, die solche extremen Situationen der Entscheidung und der Wahl zu bestehen hat, und

gerade die Weise, wie einer vor solchen Grenzsituationen besteht, wie er sich

zum Beispiel angesichts des nahen Todes verhält, läßt heraustreten, ex -

istere, was in Wahrheit an ihm ist. Im Lichte solches existentiell-verbindlichen Denkens sinkt vieles zur Gleichgültigkeit herab, vieles aber, insbesondere was aus der Philosophie, der Kunst, der Religion das auf sich selbst zurückgeworfene Dasein erreicht, gewinnt den Ernst existentiell-verbindlicher Wahrheit. So war Karl Jaspers’ »Philosophie: in drei Büchern, die Stufen der Seele sind, aufgebaut: Weltorientierung, wie sie die Wissenschaft an die

112

Husserl

Hand gibt, Existenzerhellung, wie sie in den Grenzsituationen dem Einzel-

nen zuteil wird, und Metaphysik, in der die Chiffren der Transzendenz in existentiell-verbindlicher Weise für den Einzelnen lesbar werden. Aber noch bevor Jaspers, der in Heidelberg neben dem südwestdeutschen Neukantianismus eine wachsende Wirkung auf die akademische Jugend ausübte, mit seiner Philosophie literarisch hervortrat, hatte Martin Heidegger, als Schüler Edmund Husserls Erbe der großen phänomenologischen Kunst seines Meisters und zugleich ein revolutionäres Temperament von hohen Graden, das philosophische Bewußtsein mit einem Schlage herumgerissen und eine weit in die Öffentlichkeit ausstrahlende Kritik des Bildungsidealismus, Destruktion der herrschenden philosophischen Tradition und einen Wirbel radikalen Fragens ausgelöst. Sein erstes meisterliches Hauptwerk, der erste Band von »Sein und Zeit«, zu dem nie der zweite erscheinen

sollte, wahrte zwar die äußere Form des Anschlusses an die transzendentale

Phänomenologie seines Meisters. In Wahrheit aber war die Wucht, mit der hier die gesamte Universitäts-Philosophie der Zeit angegriffen wurde, zum ersten Male seit Generationen kein Professorenpathos, das in den Wandel-

gängen der Hörsaalgebäude verhallte. Hier waren die akademischen Grenzen plötzlich keine Grenzen mehr. Hier stand ein Nachfahr der großen Moralisten im Stile Montaignes, Pascals, Kierkegaards, Schopenhauers und

Nietzsches, aber zugleich ein wohlfundierter und höchst erfolgreicher akademischer Lehrer: hier schien sich die mit dem 19. Jahrhundert endgültig aufgebrochene Kluft zwischen Schulgestalt und Weltgestalt der Philosophie zu schließen, und wirklich bedeutete der geniale Wurf von »Sein und Zeit« eine totale Verwandlung des geistigen Klimas, die in fast allen Wissenschaften nachhaltige Wirkungen auslöste und die insbesondere das europäische Ereignis, das Friedrich Nietzsche darstellt und das mit dem Begriff der Kathederphilosophie, diesem Schimpfwort Schopenhauers, schlechterdings inkommensurabel war, im akademischen Raum wiederholte und vertiefte.

Wer in jenen Jahren der frühen Freiburger und Marburger Lehrtätigkeit Martin Heideggers Zeuge seiner Wirkung war, weiß, daß von ihm damals nach allen Richtungen der wissenschaftlichen Forschung hin die stärksten Impulse ausgingen. Auch in ihm, ja in ihm weit stärker, weil unmittelbarer,

als in der literarischen Form, in der Jaspers hervortrat, war ein existentielles Pathos, eine Ausstrahlung geistiger Konzentration, die alles Bisherige matt erscheinen ließ. Man konnte wirklich an das malerische Furioso van Goghs denken, dessen Briefe, damals erschienen, auf den jungen Heidegger tiefen Eindruck machten und in der Tat das Lebensgefühl der Epoche repräsentativ

aussprachen. Und wie es im Athen des 5. Jahrhunderts gewesen sein mag, als die jungen Leute im Zeichen der neuen Dialektik, der sophistischen und sokratischen, alle hergebrachten Formen von Autorität, Gesetz und Sitte vor

neue radikale Fragen zwangen, so ging auch von Heideggers Radikalismus

Die phänomenologische Bewegung

113

des Fragens im Bereich der deutschen Hochschulen eine Rauschwirkung aus, die alles Maß vergessen ließ. Heute, im Abstand der Jahrzehnte, ist der philosophische Impuls, den Heidegger darstellt, nicht mehr von der gleichen berauschenden Aktualitäter ist überall eingedrungen und wirkt in der Tiefe, oft unkenntlich, oft nur noch Widerstand heraufreizend, aber nicht wegzudenken aus allem, was heute ist. Man konnte den philosophischen Standort, den »Sein und Zeit« entwickelte, sehr wohl von dem Kierkegaardschen Existenzbegriff her auslegen, und man hat es getan. So ist es gekommen, daß in den zwanziger und den beginnenden dreißiger Jahren Heidegger und Jaspers als die beiden Vertreter der deutschen Existenzphilosophie galten. In Heideggers »Sein und Zeit«, mehr noch in seinen Vorlesungen, fand etwas von dem statt, was

Jaspers das appellierende Denken genannt hatte, ein Aufruf der Existenz zu sich selber, zur Wahl der Eigentlichkeit und zur Abkehr von der Verfallenheit an das »man«, die Neugier, das Gerede. In der sangstbereiten Entschlossenheit«, im »Vorlaufen zum Tode: wurde das Da-sein vor sich selbst gestellt und ließ alle Verdeckungsformen des gesellschaftlichen Treibens, der Bildungs-Beruhigtheit bürgerlicher Lebensführung, der Betriebsamkeit des Journalismus und der Parteipolitik hinter sich. Es war auch wirklich nicht so sehr die Fortsetzung und detaillierte Ausführung eines phänomenologischen Forschungsprogramms, was sich bei allem Anschluß an die Methoden-Disziplin der Husserlschen Phänomenologie in Heideggers Philosophieren vollzog. Weit eher waren es Motive des Pragmatismus, der Nietzscheschen Kritik an den Aussagen des Selbstbewußtseins,

des religiösen Radikalismus

eines Dostojewski,

dessen Flam-

menzeichen damals in Gestalt der roten Piperbände auf jedem Schreibtisch leuchteten, die in Heideggers Denken zu ihrer philosophischen Konsequenz vorgetrieben wurden. Die Lehre vom Urteil und seiner Fundierung, die klassische Analyse der Wahrnehmung, die logische Unterscheidung von Ausdruck und Bedeutung, vor allem aber auch jene unvergleichlich genaue und eindringliche Beschreibung des inneren Zeitbewußtseins, in dem sich aller Sinn von Dauer oder von zeitloser Geltung aufbauen müsse — das alles waren phänomenologische Themen Husserls, die einer rein theoretischen Grundabsicht

entsprangen, und die von Heideggers Ausgangspunkt, der pragmatischen Erfahrung des Lebens, der von der praktischen Bedeutung des Zuhandenen dirigierten Wahrnehmung, der als Existenzbewegung sich ergreifenden Zeitlichkeit des Daseins, durch einen ontologischen Hiat geschieden waren. Die Explikation dieses neuen Ansatzes begann mit »Sein und Zeit«. War es schon Husserls besonderes Verdienst gewesen, die im natürlichen Weltbewußtsein gelegenen Wahrheiten und nicht nur die in der Wissenschaft niedergelegten begrifflich zu analysieren, so wurde Heideggers transzen-

114

Husserl

dentale Analyse der Alltäglichkeit in noch ganz anderem Maße den Erfahrungen des wirklichen Lebens und den inneren Entscheidungen, die in jeder persönlichen Lebensführung fallen, gerecht. Es war etwas Ungeheures, das nicht nur in Deutschland,

sondern

in der ganzen

Welt

fortwirkte,

daß

Heidegger die Exklusivität des akademischen Philosophierens sprengte und die spekulative Kraft besaß, die Dinge, die einer krisenvollen Zeit auf den Nägeln brannten, auf dem Niveau der philosophischen Klassiker begrifflich zu entfalten. Heute ist es nicht schwer, aus dem späteren Schaffen Heideggers zu erkennen,

daß schon

»Sein und Zeit« keine Existenzphilosophie

vertrat,

sondern nur mit dem Vokabular der Existenzphilosophie die Fragestellung instrumentierte, die Heidegger mit der großen Reihe der Klassiker der Philosophie von Plato bis Nietzsche verband und die zugleich hinter diese Tradition zurückzufragen nötigte. Heute ist es klar, daß die innere Unlösbarkeit von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit des Daseins, von Unverborgenheit und Verbergung, von Wahrheit und Irre die eigentliche Dimension des Heideggerschen Fragens bezeichnet. Damals dagegen ließ der Stil der Kapuzinerpredigt und die Zielsicherheit seiner Invektiven es einfach nicht glaubhaft erscheinen, wenn Heidegger mit verbissenem Ingrimm die Welt des sman« und des »Geredes« beschrieb und dann hinzufügte: »das alles ohne jede abschätzige Bedeutung«. Es schien zu dem existenziellen Ernst, der Heidegger auf dem Katheder umstrahlte, zu gehören, daß das Uneigentliche zu verwerfen und das Eigentliche zu ergreifen der Sinn seiner Lehre war.

So wurde er eine Art Existenzphilosoph wider Willen, ähnlich wie

Jaspers später, als der chaotische Irrationalismus der nationalsozialistischen Weltanschauung die Geister zu verwirren begann, den Begriff der Existenz hinter den Begriff der Vernunft zurücktreten ließ, ja am liebsten das gesprochene Wort der »Existenz« zurückgerufen hätte. Die Rezeption des Heideggerschen Denkens durch die moralistische Tradition Frankreichs, durch Sartre, Camus,

Merleau-Ponty,

verstärkte diese Wirkung noch, so sehr

auch Husserl und Hegel in diese Wirkung Heideggers auf das französische Denken eingeschmolzen waren. Heute hat der Stil dieser ‚Jahre der Entscheidung« seinen Zauber eingebüßt, aber die Aufgabe ist geblieben, das große Erbe des abendländischen Denkens, das Phänomenologie und Existenzphilosophie mit neuer Leidenschaftlichkeit an sich gezogen hatten, im Trend des immer noch mehr technischen Zeitalters und seiner antihistorischen Ideale zu wahren.

Die phänomenologische Bewegung

115

Ill.

Die Zeit scheint gekommen, eine Geschichte der phänomenologischen Bewegung zu schreiben. Einerseits empfinden wir einen klaren Abstand zu dieser philosophischen Strömung, die in Deutschland die ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts siegreich beherrscht hat. Andererseits hat die Gesamtausgabe der Werke von Edmund Husserl wichtige Materialien erschlossen, die die gegenwärtige Diskussion der Probleme weitgehend bestimmen. Insbesondere ist diese große Ausgabe, die im Löwener Husserl-Archiv in Arbeit ist, ein ständiger Anreiz, die gegenwärtige Bedeutung der Husserlschen Philosophie und ihr Verhältnis zu den beherrschenden Figuren des heutigen philosophischen Bewußtseins zu diskutieren - und das sind, wenn man von der angelsächsischen Metaphysik-Kritik absieht, vor allem Heidegger und - Hegel. Sowohl in Deutschland wie in Frankreich und Italien ist diese Diskussion heute im vollen Gange. Eine Reihe von Colloquien,

die

stattgefunden haben, erhielt inzwischen ihre literarische Dokumentation. Man kann also nicht sagen, daß es sich bei der Phänomenologie um ein lediglich historisches Interesse handelt. Gleichwohl ist auch Anlaß zu historischer Erinnerung und Würdigung gegeben. Denn was damals das Gemeinsame und als gemeinsam Empfundene war, das schr verschiedenartige Forscher dennoch zusammengeführt hatte, die Kultivierung der Kräfte anschaulichen Beschreibens und anschaulichen Ausweisens aller Denkschritte, ist heute selbst bei denen kaum anzutreffen, die sich auf diePhänomenologie berufen, z. B. bei den ausgezeichneten Schriftstellern Frankreichs!.

Gewiß hat es keine phänomenologische Schule gegeben, sondern nur verschiedene Gruppen von Forschern, die in einem recht losen Zusammenhang zueinander standen?. Immerhin war dieser Zusammenhang eine starke Realität und wurde es mehr und mehr, so daß schließlich aus der gemeinsamen Forschungsgesinnung dieser Männer die charakteristische Parole »Zu den Sachen selbst« erwuchs, die indem phänomenologischen Jahrbuch« ihre literarische Ausführung fand: Die phänomenologische Arbeitsweise zu erı Vgl. die Schilderung jener phänomenologischen

Gesinnung

bei O. Becker in:

»Lebendiger Realismus« (Thyssen-Festschrift 1962)

2 Das hat Herbert Spiegelberg in seiner historischen Einleitung in die Phänomenologie ‚The Phenomenological Movement: (Phänomenologica 5 u. 6, 1960) richtig gesehen. Überhaupt verdient diese zweibändige Darstellung als eine zuverlässige Information, die über etwas Vergangenes Kunde gibt, dank der gründlichen und gewissenhaften Arbeits-

weise alle Anerkennung. Der Verfasser stand den Münchenern, besonders Alexander Pfänder, nahe, und es liegt in der Natur der Sache, daß sein Bild von da aus mitbestimmt

wird. So habe ich gegen manche seiner Akzentsetzungen erhebliche Einwendungen, doch

habe ich ihm in meinem Aufsatz in der Philosophischen Rundschau 11 (1963), S. 1-45 versehentlich mehrfach Unrecht getan, indem ich kritische Referate, so zum Beispiel über die Parole »Zu den Sachen selbst« und über die »phänomenologische Reduktion«, für seine

eigenen Meinungen hielt.

116

Husser]

lernen und ihren Maßstäben zu genügen, wurde vor wie nach dem zweiten Weltkrieg das Ziel vieler. Selbst unter den Forschern, die damals außerhalb der phänomenologischen Gruppen standen, waren es die besten Köpfe, die sich bemühten, phänomenologisch zu arbeiten. Man denke etwa an Nicolai Hartmann. Was man zu lernen suchte, war fast so etwas wie einHandwerksgeheimnis der Philosophic. Man konnte etwa sagen, daß man »bei Husserl« oder »bei Pfänder: »gearbeitet« habe, so wie ein Praktikant dadurch einen besonderen Ausweis besitzt, daß er bei einem großen Experimentalforscher oder einem großen Arzt in die Lehre gegangen ist. Gleichwohl ist die Frage: »Was ist Phänomenologie?« wohl fast von jedem Forscher, den man dieser Bewegung zurechnen kann, gestellt und von jedem anders beantwortet | worden. Durch die Beschreibung des methodischen Grundsinns der Phänomenologie schimmert beständig der eigene philosophische Standpunkt durch. So ist es eben in der Philosophie gar nicht möglich, eine methodische Technik zu isolieren, die man unabhängig von ihren Anwendungen und deren philosophischen Konsequenzen erlernen kann. Jeder Phänomenologe hatte seine eigene Meinung über das, was Phänomenologie eigentlich sei. Nur eins galt

als gewiß, daß man die phänomenologische Arbeitsweise nicht aus Büchern lernen könne. Die vox viva gewann hier eine neue Bedeutung. So ist die literarische Produktion der Phänomenologie im Grunde recht schmal: elf Jahrbuchbände in zwei Jahrzehnten — und fast gar nichts in den sonstigen Zeitschriften, die damals, nicht zuletzt unter dem Einfluß der neuen For-

schungsgesinnung eines gediegenen Denkhandwerks, das nicht für die Bedürfnisse des Tages, sondern für die Vollendung des säkularen Ziels einer wahrhaft wissenschaftlichen Philosophie zu sorgen habe, ziemlich veröde-

ten. Der einzige, der auf Grund seiner Sonderstellung Authentizität beanspruchen konnte, war der Begründer der Phänomenologie, Edmund Husserl. Und er hat es auch getan. Spiegelberg erzählt, daß Husserl im Anfang der zwanziger Jahre zu sagen pflegte: »Die Phänomenologie, das sind ich und Heidegger, sonst niemand. « So illusionistisch dies Wort insofern war, als Husserl damit die originalen Absichten seines damaligen Gefolgsmannes Heidegger verkannte — ganz so phantastisch, wie es den Anschein hat, war ein solches Wort doch nicht. Es kennzeichnet vielmehr die Lage, daß die

Mehrzahl der Phänomenologen gegen Husserls Entwicklung zur transzendentalen Phänomenologie und zu jenem Aufgabenbereich derselben, den Husserls Konstitutionsforschung nannte, Vorbehalte hatten. Manchen erschien diese Entwicklung als nichts anderes als ein unbegreifliches Zurückfallen in den neukantianischen Idealismus.

Die phänomenologische Bewegung

117

Sogar innerhalb des engsten Göttinger Kreises war die Reaktion auf diese Weiterentwicklung Husserls eine sehr ablehnende, so daß Husserl in- Freiburg im Grunde ganz von neuem zu beginnen hatte?. Max Scheler und Moritz Geiger vollends, denen Nicolai Hartmann weitgehend folgte, sahen grundsätzlich in Husserls Bevorzugung der subjektiven Thematik eine gefährliche Einseitigkeit. So forderte Moritz Geiger 1914 als Ergänzung zu der sogenannten Aktphänomenologie Husserls eine ‚Gegenstandsphänomenologie«. Es war wirklich so, daß aus dem älteren Phänomenologenkreise damals kaum einer Husserls Weg mitging. Husserl hatte nicht unrecht, wenn er das auf seine Weise aussprach. Es kam hinzu, daß die anderen Schüler Franz Brentanos,

die damals als

philosophische Lehrer tätig waren, so. A. von Meinong, der Grazer Schöpfer der »Gegenstandstheorie«, Oskar Kraus in Prag u. a., z. T. in schroffster

Fehde mit Husserl lebten. Wie nahe es von Brentano aus lag, zwar den Husserl der »Logischen Untersuchungen« gelten zu lassen, aber seinen Fortgang von einer deskriptiven Psychologie zur »eidetischen« Phänomenologie - und erst recht deren Weiterentwicklung zur transzendentalen Phänomenologie — für einen Irrweg zu erklären, lehrt die 1953 aus dem Nachlaß veröffentlichte Schrift von Paul Ferdinand Linke: »Niedergangserscheinungen in der Philosophie der Gegenwart«. Lediglich die Parole »Zu den Sachen selbst«, die noch in Heideggers »Sein und Zeit« wiederholt wird, darf als der gemeinsame Kampfruf aller phänomenologischen Forscher angesehen werden. Aber selbst diese Parole konnte im Sinne eines phänomenologischen ‚Realismus: interpretiert werden. Dann kann Husserl nicht gerecht werden. Es ist absurd, sie als eine Wendung zum Objekt zu deuten und ihr Husserls spätere Entwicklung entgegenzusetzen als eine Wendung zum Subjekt. Wie will man unter diesem Gesichtspunkt überhaupt die »Logischen Untersuchungen« verstehen? In ihnen wird zwar der Psychologismus widerlegt und damit - im Sinne von Freges Kritik an Husserls Philosophie der Arithmetik« (Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 1894) - die Seinsart der logischen Gegenstände als eine Art idealen Ansichseins erwiesen. Aber das geschieht doch im Rückgang auf die Subjektivität, durch die Analyse der intentionalen Akte des Bewußtseinslebens. Nur so gelingt es, die Verwechslung des Gemeinten mit realen psychischen Erlebnissen als eine Verirrung aufzudecken. Insofern ist Husserls zentrale Behauptung, daß die phänomenologische Forschung über den Gegensatz von Objekt und Subjekt prinzipiell hinaus sei und die Korrelation von Akt und Gegenstand als eigenes großes Arbeitsfeld erschlossen habe, im Grunde schon für die »Logischen Untersuchungen« zutreffend, wenn auch diese Forschungsweise dort noch 3 Doch vgl. Ingardens scharfen Protest gegen diese von van Breda in Royaumont vertretene, allzu summarische Behauptung (Royaumont, $. 329f.). 4 Vgl. etwa seine heute fatal anachronistisch wirkende Einleitung zu Brentanos »Psychologie vom empirischen Standpunkt« in der Philosophischen Bibliothek (F. Meiner, Neudruck 1955).

118

Husserl

nicht mit adäquatem methodischen Selbstbewußtsein erfüllt war. Max Scheler und Alexander Pfänder kommen ebenfalls in ein falsches Licht, wenn man die Parole »Zu den Sachen selbst« aus dem Gegensatz von Objekt und Subjekt deutet. Auch für sie war vielmehr diese Parole keine »realistische: Abkehr vom Idealismus, sondern war primär und eindeutig bestimmt durch die Gegnerschaft gegen alle theoretischen Konstruktionen, die einem durch die Phänomene nicht einlösbaren philosophischen Erklärungsbedürfnis dienen sollen. Schulbeispiele solcher Konstruktion sind etwa die Mechanik der sensuellen Vorstellungselemente oder die sog. Abbildtheorie der Erkenntnis, die, um das Rätsel der Erkenntnis zu erklären, von Abbildern der wahrgenommenen Dinge sim» Bewußtsein sprach. Oder auch die Zurückführung aller höheren seelischen Akte, wie z.B. Sympathie und Liebe, auf einen ursprünglichen Utilitarismus oder Hedonismus. All das war es, was unter der Parole »Zu den Sachen selbst« bei Pfänder wie bei Scheler genau wie bei Husserl eine vernichtende Kritik fand. Auch war es für sie alle klar, daß der Rückgang auf die intentionalen Akte allein jene »Selbstgebung« in anschaulicher Evidenz bewirken könne, die das Wesen der Phänomenologie ausmacht. Ohne das »Meinen« gibt es keine solche »Erfüllung« des Gemeinten. Die »Sachen selbst« sind nicht »objektive Gegenstände« in transzendenter Seinssetzung, sondern die in der Erfüllung intentionaler Akte erfahrenen Vermeintheiten als solche, die sunmittelbar«, und nicht durch Zeichen oder Symbole vertreten, »erschaut« werden. Es ist zwar richtig, daß Scheler und Pfänder, auch Geiger, Reinach usw. Husserls

yidealistische« Anlehnung der Phänomenologie an den Neukantianismus für abwegig hielten. Aber der Vorrang der Selbstgegebenheit gegenüber allem nur Erschlossenen oder Postulierten war allen gemeinsam. Es hängt mit dieser Frontstellung der beginnenden Phänomenologie zusammen, daß W. James für die Brentanoschüler Stumpf und Husserl fast wie

ein Bundesgenosse erschien. Seine Kritik an den theoretischen Grundbegriffen der damaligen Psychologie hatte z. T. denselben Gegner wie die Phänomenologie. Auch er bekämpfte z. B. die Abbildtheorie der Erkenntnis- und das trotz aller Gehirnmythologie, an der er festhielt. Offenbar ist die phänomenologische Ausgangssituation in erster Linie gegen den sich auf Hume berufenden zeitgenössischen »Positivismus« gerichtet und erst in zweiter Linie gegen dogmatische Positionen innerhalb des Neukantianismus. Husserls Idee der Phänomenologie erhob den Anspruch, im Gegensatz zu dem dogmatischen Sensualismus von Avenarius und Mach der wahre Positivismus zu sein®. Hier hat auch der Begriff der ‚Reduktion seinen Ursprung. Er meint den auf alle Theorie und metaphysische Konstruktion verzichtenden > Vgl. H. Lübbe, Husserl und Mach. In: Beiträge zu Wissenschaft und Philosophie, W. Szilasi zum 70. Geburtstag, 1960, S. 161-184.

Die phänomenologische Bewegung

119

Rückgang auf die phänomenale Gegebenheit als solche. Die phänomenologische Reduktion ist insoweit mit der »Epoche«, der Aufhebung aller Seinssetzung

zum

Zwecke

des Studiums

der »reinen« Phänomene,

aufs engste

verknüpft. Man muß aber aus dem angelsächsischen Sprachgebrauch stammende Assoziationen bei dem Begriff der Reduktion ausschalten und darf nicht an die übersimplifizierende Zurückführung der Phänomene auf ein einziges Prinzip denken, etwa im Stile des einseitigen Naturalismus oder Psychologismus, oder an Occams Razor, d.h. den Grundsatz: Entia propter necessitatem non sunt multiplicanda. Die phänomenologische Reduktion ist etwas ganz anderes. Ihr Ziel ist nicht eigentlich, auf die Einheit eines Prinzips zurückzuführen, sondern im

Gegenteil den ganzen Reichtum der selbstgegebenen Phänomene in Unvoreingenommenheit zu erschließen. Der bei Heidegger wichtig werdende Begriff der »Gleichursprünglichkeit« ist gutes altes phänomenologisches Erbe. Daß die Erforschung der Intentionalität des Bewußtseins am Ende auf die transzendentale Subjektivität als auf den letzten Quell aller Sinngebung zurückführt und damit unter der Idee der Konstitutionsforschung Husserls Annäherung an den neukantianischen Idealismus bewirkt, hat mit Reduk-

tion auf ein einziges Prinzip nichts zu tun. Man-braucht Husserls Frage: Wie werde ich ehrlicher Philosoph? nicht zu der seinen zu machen, aber man muß anerkennen, daß Husserls Lehre von der transzendentalen Reduktion keine beliebige Anleihe

bei zeitgenössischen

Theorien

ist, sondern

durch den

Versuch, in systematischer Konsequenz eine Stufenordnung der Evidenzen aufzubauen, erzwungen wurde. Die systematische Konsequenz, die Husserl zum transzendentalen Ego führt, braucht man nicht inhaltlich zu bejahen, aber man muß sie doch in ihrer immanenten Notwendigkeit erkennen. Die transzendentale Wendung Husserls ist also durchaus nicht eine Art Einseitigkeit, der man höchstens gerechtigkeitshalber zubilligen müsse, daß sie durch »realistische« Züge gemildert werde. Wenn unter diesem Stichwort z.B. die »passive« Konstitution der »hyletischen Daten< hervorgehoben wird, ist das nicht ohne Komik. Wenn man schon realistische Züge sucht: wie sollen sie in der Konstitutionsanalyse der »hyletischen Daten« liegen? Das ist nur zu verstehen, wenn man einen ganz obsoleten »metaphysischen« Begriff von Idealismus zugrunde legt, den Kant ad absurdum geführt hat und der mit Husserl nichts zu tun hat. Ebenso sonderbar ist es, wenn Husserls ständig schwelende Diskussion des Problems der Intersubjektivität allen Ernstes an der Frage gemessen wird, wieweit Husserl eine Vermeidung des im idealistischen Ansatz angelegten Solipsismus »gelungen« sei, etwa im Sinne der Leibnizschen Monadologie. Auch zu dem Begriff der »Lebenswelt«, der wirksamsten begrifflichen Schöpfung des späten Husserl, findet man nicht den rechten Zugang, wenn man ihn nicht aus dem Zusammenhang der Idee der transzendentalen Reduktion versteht und wenn man verkennt, daß die

120

Husserl

‚neue Phänomenologie« der Lebenswelt nichts anderes sein sollte als die endlich ohne jede »naive« Antizipation fehler-, d.h. vorurteilsfrei durchgeführte transzendentale Phänomenologie selber. Das wird durch Husserls beständig festgehaltene Berufung auf Kant und seinen eigenen Anspruch, die Transzendentalphilosophie erst wahrhaft zur Vollendung zu bringen, zu voller Evidenz gebracht. Husserl geht in betonter Radikalität und Universalität über die kantische Auflösung des Gegensatzes von Realismus und Idealismus noch hinaus, so daß es einfach keinen Sinn mehr hat, wie es immer wieder geschieht, von realistischen Elementen innerhalb seines Idealismus zu sprechen. Es scheint mir bezeichnend, daß selbst die scharfsinnige wissenssoziologi-

sche Kritik, die Adorno an Husserl übt (Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, 1956), sich den Gegner nach dieser Manier zurechtrückt. Der statische Platonismus« der »Logischen Untersuchungen« läßt sich freilich leicht von der Dialektik der Unmittelbarkeit her zersetzen - nur daß Husserl das bereits ab 1907 in der gründlichsten Weise selber besorgt hat. Erst dadurch gibt es

überhaupt eine phänomenologische Philosophie. Hätte Adorno das beachtet, wäre er kaum so überrascht, wie nahe Husserl später der Aufhebung der Verdinglichung kommt (aaO S. 209). Philipp Merlan (Royaumont 384 ff.) hat zwar ganz recht, wenn er Husserls Phänomenologie nicht so sehr jenseits als diesseits des Gegensatzes von Realismus und Idealismus findet. Zu der Aufhellung dieses traditionellen Problemgegensatzes kann sie weder noch will sie etwas beitragen. Aber gilt das nicht am Ende auch von dem spekulativen Idealismus? Wenn Merlan die Phänomenologie dem Idealismus entgegensetzt und ihre Grenzen, in die man sich nicht einsperren lasssen dürfe, darin sieht, daß sie im Unterschied

zum spekulativen Idealismus zur Frage von Idealismus und Realismus nichts beitrage, so kann ich ihm nicht folgen. Gerade darin besteht m.E. kein Unterschied zu dem spekulativen Idealismus. Zwar ist es richtig, daß der _ Idealismus aus der Analyse des Bewußtseins seinen gesamten Inhalt ableitet, ohne des Äußeren dabei irgend zu bedürfen. Aber gilt das nicht auch von dem Entwurf der Husserlschen Phänomenologie? Gewiß kennt derselbe nicht das Ideal der Ableitung. Bei ihm heißt es »Konstitution«. Aber hat er nicht mit ebensoviel Entschiedenheit die erkenntnistheoretische Fragestellung desavouiert, die dem Idealismus-Realismus-Gegensatz zugrunde liegt? Betont er nicht ausdrücklich, daß die Wendung zur transzendentalen Reflexion die »Welthabe« des reflektierenden Bewußtseins schon voraussetze und ihre erkenntnistheoretische Rechtfertigung zu versuchen ein Herausfallen aus der transzendentalen Haltung sei? Mir scheint, daß die spekulative Identitätsphilosophie in diesem Punkte vor Husserl nichts voraus hat. Auch

Heideggers Kritik an Husserl hat nichts mit vrealistischen« Abmilderungen zu tun, sondern setzt im Gegenteil die konsequente Durchführung des

Die phänomenologische Bewegung

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transzendentalen Gedankens in Husserls Phänomenologie voraus, freilich, um sie zum Gegenstand einer ganz anders gerichteten ontologischen Reflexion und Kritik zu machen. Heideggers ontologische Reflexion und seine Lehre von der »ontologischen Differenz« von Sein und Seiendem meintja nicht — das muß immer wieder betont werden - den von der Metaphysik gedachten Unterschied von ens qua ens und ens qua accidens, sondern die völlig andere Ursprungs-Dimension des Offenbarwerdens des Seins, die der Metaphysik schon voraus und ihr zugrunde liegt. Heidegger ist damit aber genau so jenseits des Gegensatzes von Realismus und Idealismus, wie Husserls Korrelationsforschung von Noesis und Noema. Wenn Dasein In-derWelt-Sein ist, so sollte damit nicht das menschliche Dasein anthropologisch definiert werden, sondern es handelte sich, wie sich bald (‚Kant und das

Problem der Metaphysik« $41) zeigte, um das ganz andere Anliegen, das ‚Dasein im Menschen« ontologisch zu bestimmen. Heideggers völlige Umkehrung der Reflexionsrichtung in Richtung auf das »Sein«, die sogenannte »Kehre«, ist nicht so sehr eine Änderung seines Standpunktes als die mittelbare Folge der an dem transzendentalen Reflexionsbegriff Husserls geübten, in »Sein und Zeit« noch nicht voll wirksam gewordenen Kritik. Es scheint, als ob die Gegner der transzendentalen Wendung Husserls® nicht genügend beachten, daß Husserl selber die Idee einer eidetischen Ontologie »neben« der transzendentalen Konstitutionsforschung grundsätzlich durchaus anerkannt hat, z.B. die einer eidetischen Psychologie oder einer eidetischen Ontologie der Lebenswelt. Freilich besitzt dies »Neben« in seinen Augen keine absolut strenge Geltung. Ist eine solche eidetische Ontologie auch eine legitime Forschungsaufgabe, ihre letzte philosophische Rechtfertigung gewinnt sie für ihn doch erst in der Durchführung der transzendentalen Reduktion und bleibt daher der transzendentalen Phänomenologie untergeordnet. Das ändert aber nichts an der von Husserl ständig betonten Umwendungsmöglichkeit der Transzendentalphänomenologie in eine Wesenslehre mundaner Wissenschaft. Man darf nicht zu einem Gegensatz zuspitzen, was überhaupt

nicht auf einer Ebene liegt. Wie man sich eine »ontologische« Fragestellung »neben« der transzendental-phänomenologischen vorstellen soll, ist an der verdienstvollen Arbeit von R. Ingarden, »Das literarische Kunstwerk«, 1931, 1960, zu sehen.

Wenn wir hier nicht die besondere Bedeutung dieses für die Literarästhetik in gewissem Sinne »klassisch« zu nennenden Werkes behandeln, sondern seine Stellung zu den systematischen Fragen, die mit Husserls transzendentaler Selbstauffassung gegeben sind, so entspricht das übrigens durchaus den tieferen Interessen systematischer Art, die Ingarden schon im Vorwort 6 Vgl. den interessanten Beitrag von Hedwig Conrad-Martius in dem zu Husserls 100. Geburtstag veröffentlichten Gedenkband (Phänomenologica 4, 1959).



122

Husserl

zur ersten Auflage aussprach. Sein Aspekt der Dinge ist in deutscher Sprache zuerst durch seinen Beitrag zur Husserl-Festschrift von 1929 dokumentiert, der inzwischen durch seinen Beitrag zu dem Colloquium von Krefeld 1956 ergänzt wird. Das literarische Kunstwerk hat für ihn den philosophischen Wert, daß sich in ihm unleugbar »rein intentionale Gegenstände: finden, d.h. solche, die überhaupt keine unmittelbare Realitätsentsprechung beanspruchen. Ihre Seinsweise lasse sich weder als psychisches Realsein noch als ideales Ansichsein denken. Vielmehr stehe ihr Satzcharakter in einer eigentümlichen Schwebe zwischen Identität und Intersubjektivität des Werkes — und bloßer Quasirealität, die Ingarden »Seinsheteronomie« nennt. Seine Untersuchung gilt also der Ontologie des literarischen Kunstwerks. Er folgt weitgehend Husserl, wenn er die Vielschichtigkeit des literarischen Werks (Laut, Bedeutung, schematische Ansicht, dargestellte Gegen-

ständlichkeit) in ihrem Aufbau analysiert. Offenbar ist jedoch die systematische Absicht geradezu die, Husserls transzendentalen Idealismus, insbeson-

dere in seiner späteren Fassung, in Frage zu stellen. Die logischen Gebilde seien ebenso wie die reale Außenwelt (trotz aller phänomenologischer Aspekte, die sie als intentionale Gegenstände bieten) seinsautonom. Nur das literarische Kunstwerk sei nicht nur phänomenologisch, sondern auch ontologisch so strukturiert, daß in ihm »rein intentionale Gegenständlichkeiten« vorkommen. So will Ingarden gegen Husserl, dessen »Formale und transzendentale Logik: mit der ersten Auflage des »Literarischen Kunstwerks«

gleichzeitig erschienen war, durch seine Untersuchung über die Quasirealität der Kunst in Wahrheit die Aufgabe einer Real-Ontologie fördern, wie sie auch Hedwig Conrad-Martius sich gestellt hatte. Zwar ist diese Aufgabe — ihr ist ein späteres größeres Werk Ingardens vom Jahre 1947-1948 in polnischer Sprache’ gewidmet, das den »Streit um die Existenz der Welt« behan-

delt- mit der konsequenten Durchführung der transzendentalen Reduktion, wie sie dem späten Husserl vorschwebte, an sich nicht unvereinbar (vgl. u. S. 136, Anm. 18). Aber Ingardens Rede von einem rein intentionalen Ge-

genstand«, dem obendrein auch noch ein realer Gegenstand entspricht, verrät seinen Standort außerhalb der »phänomenologischen Immanenz«, da für Husserl nur eine »Umwendung« der transzendental-phänomenologischen in eine ontologische Fragestellung legitim wäre. So sind auch die Fragen, die Ingarden in seinem Krefelder Beitrag exponiert, gegen die Husserlsche »Lösung« des Idealismusproblems gerichtet. Wenn Husserl] (Ideen I) schreibt: »Das Reale... ist im absoluten Sinne gar nichts..., es hat die Wesenheit von etwas, das prinzipiell nur intentional ist«, zitiert von Ingar? Inzwischen in deutscher Fassung: »Der Streit um die Existenz der Welt«, 1964-1974. Hier grenzt Ingarden seine Fragestellung als eine metaphysische ausdrücklich gegen die transzendental-konstitutive Husserls ab.

Die phänomenologische Bewegung

123

den $. 99, so versteht das Ingarden im Sinne jener Seinsheteronomie, die er seinerseits mit Recht als die besondere Seinsweise des literarisch Dargestellten ansieht. Er versteht also Husserls Idealismus nicht als einen transzendentalen, sondern (allen Beteuerungen zum Trotz) als metaphysischen (vgl. aaO, S. 197)-und das m. E. mit Unrecht.

IV. Die wahre Husserl-Diskussion, die heute geführt wird, betrifft eine andere

Problemschicht, nämlich die späte Ausgestaltung von Husserls Phänomenologie und insbesondere die »Krisis BESR5Pen

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14. Der Denker Martin Heidegger 1969 Der

80. Geburtstag

eines

Mannes,

dessen

Denken

seit 50 Jahren seine

Wirkung unter uns tut, ist ein Anlaß zu danken. Aber wie soll das geschehen: indem man zu Martin Heidegger spricht? - wo man weiß, daß ihn die Sache des Denkens zu sehr gepackt hat als daß die Hinwendung zu seiner Person ihm recht sein kann. Indem man mit Martin Heidegger spricht? - es klingt etwas anmaßend, sich so einer Partnerschaft zu vermessen. Oder gar indem man vor Martin Heidegger über Martin Heidegger spricht? Das alles schließt sich aus. So bleibt, daß einer, der von früh an dabei war, für alle

anderen den Zeugen abgibt. Ein Zeuge sagt, was ist und was wahr ist. So darf der Zeuge, der hier spricht, sagen, was alle erfahren haben, die Martin Heidegger begegnet sind: daß er ein Meister des Denkens ist, der unbekannten Kunst des Denkens. Das war plötzlich da, schon als der junge Heidegger erstmals nach dem ersten Kriege auf das Freiburger Katheder trat. Das war etwas Neues, Unerhörtes. Wir hatten gelernt, Denken sei Beziehen, und wirklich scheint

das richtig, daß man denkend eine Sache in eine bestimmte Beziehung stellt und über diese Beziehung die Aussage macht, die man Urteil nennt. So scheint Denken von Beziehung zu Beziehung, von Urteil zu Urteil vorwärts zu schreiten. Nun aber erfahren wir: Denken ist Zeigen und Zum-SichZeigen-Bringen. Es war ein elementares Ereignis, wie in Heideggers lehrendem Wort die Flächigkeit des denkenden Fortgangs um eine ganze Dimension überschritten wurde. Eine unbegreifliche Gabe Heideggers, n der das phänomenologische Erbe Husserls mit verstärkter Gewalt wirksam

wurde, führte dazu, daß die Sache, um die es dem Denken jeweils geht, wie körperhaft wurde, rund, plastisch, da - man blieb im Angesicht von ihr,

weil jede Wendung des Gedankens nur zurück wies auf die eine und selbe Sache. Wo wir sonst im Denken von einem Gedanken zum anderen fortzugehen pflegen, blieb man hier unverwandt bei der gleichen Sache. Und nicht etwa einfache Anschaulichkeiten wurden da aufgebaut, wie in Husserls berühmter Analyse des Wahrnehmungsdinges und seiner Abschattung — die Kühnheit und Radikalität der Fragen, die einem da auf den Leib rückten, verschlug einem vollends den Atem.

Man mochte sich an das Athen des ausgehenden fünften Jahrhunderts

_

224

Heideggers Wege

erinnert fühlen, als dort die neue Kunst des Denkens,

die Dialektik, ihren

Einzug hielt und die attischen Jünglinge in begeisterten Wahnsinn stürzte Aristophanes hat uns das prächtig geschildert und selbst einen Sokrates nicht unterschieden. So auch sah die berauschende Wirkung der Fragen aus, die in den frühen Freiburger und Marburger Jahren von Martin Heidegger ausging, und es fehlten nicht die Schüler und Nachahmer, die im Leerlauf sich überbietender Fragen die Karikatur für die leidenschaftliche Wucht des Heideggerschen Fragens und Denkens lieferten. Aber es war wie ein neuer Ernst, der in das Geschäft des Denkens mit dem Auftreten Heideggers kam. Die subtile Technik akademischer Begriffsübungen erschien uns plötzlich als bloße Spielerei, und man sagt nicht zuviel, wenn man die Wirkung dessen im deutschen Universitätsleben langhin gewahrt. Als wir Jüngeren zu lehren versuchten,

hatten

wir ein Vorbild.

An

die Stelle der routinemäßigen

Abwicklung des Unterrichts, neben der man seine »Bücher« im Sinn hatte, war eine neue Würde der vox viva getreten und die vollständige Einung des Lehrens und Forschens im Wagnis des radikalen philosophischen Fragens. Das war das Ereignis der zwanziger Jahre, das Martin Heidegger weit über das »Fach« der Philosophie hinaus bedeutete. Dabei war nicht eine bloße neue Kunst, eine Kraft der Anschauung in der

Bewährung des begrifflichen Handwerks — es war auch und vor allem ein neuer Antrieb in Heideggers Denken wirksam, der alles verwandelte: ein Denken von Anfang an und von den Anfängen an - nicht freilich in dem Stil,

in dem der Neukantianismus und Husserls Phänomenologie »als strenge Wissenschaft« nach einem »letztbegründenden« Anfang suchten und ihn im Prinzip der transzendentalen Subjektivität fanden, aus der sich eine systematische Ordnung und Ableitung aller philosophischen Sätze gewinnen lassen sollte - Heideggers radikale Fragen zielten auf eine tiefere Anfänglichkeit als die im Prinzip des Selbstbewußtseins gesuchte. Darin war er Kind des neuen Jahrhunderts, das von Nietzsche, vom Historismus, von dem lebensphilo-

sophisch gestimmten Denken beherrscht war, dem die Aussagen des Selbstbewußtseins der Illegitimität verdächtig geworden waren. In einer frühen Freiburger Vorlesung, über die ich Nachricht aus Walter Bröckers Notizen habe, hat Heidegger an Stelle jenes Prinzips der klaren und distinkten perceptio des ego cogito von der »Diesigkeit« des Lebens gesprochen. Daß das Leben diesig ist, meint nicht so sehr, daß das Lebensschifflein

keinen klaren und freien Horizont um sich sieht. Diesigkeit meint nicht bloß Trübung der Sicht, sondern beschreibt die Grundverfassung des Lebens als solche, die Bewegung, in der es sich vollzieht. Es nebelt sich selbst ein. Darin liegt seine eigene Gegenwendigkeit, wie Nietzsche gezeigt hat; nicht nur ins Klare zu streben und zu erkennen, sondern auch sich ins Dunkle zu bergen und zu vergessen. Wenn Heidegger die Grunderfahrung der Griechen aAmdera, Unverborgenheit nannte, so meint er nicht nur, daß Wahrheit nicht

Der Denker Martin Heidegger

225

offen zutage liegt und der Verborgenheit entrissen werden muß, wie ein Raub - er meint darüber hinaus, daß Wahrheit ständig von dem Rücksinken ins Dunkel bedroht bleibt und die Anstrengung des Begriffs eben darauf gehen muß, das Wahre vor dem Versinken zu bewahren und noch dieses Versinken als das Geschehen von Wahrheit zu denken. Heidegger nannte seinen ersten Versuch, von Anfang an zu denken, »Ontologie«, — das war der Titel der ersten Vorlesung, die ich 1923 bei ihm hörte - nicht im Sinne der Tradition der abendländischen Metaphysik, die

auf die Frage nach dem Sein eine erste, weltgeschichtemachende Antwort gegeben hatte, sondern mit dem alleinigen Anspruch, eine allererste Vorbereitung der Fragestellung zu leisten. Was ist eine Fragestellung? Eine Frage stellen klingt leicht so, wie eine Falle stellen, in die der andere mit seiner Antwort fällt, auf die er hereinfällt, wie sie ihm gestellt ist. Hier aber wird

nicht auf eine Antwort hin die Frage zu stellen unternommen. Wenn nach »Sein« gefragt wird, so wird über nichts hinausgefragt, und die Frage nach dem Sein »stellen« heißt viel eher: sich der Frage stellen, einer Frage, durch

die »Sein« überhaupt nur ist und ohne die »Sein« ein leerer Wortdunst bliebe. So hat es einen ganz anderen Sinn, wenn Heidegger nach dem Anfang der abendländischen Metaphysik fragt, als wenn ein Historiker diese Frage stellt. Heidegger hat gelegentlich - im Zusammenhang mit der Überwindung der abendländischen Metaphysik, die es nicht so sehr hinter sich als vor sich zu bringen gilt, - von diesem Anfang gesagt, er sei immer schon über uns hinweggegangen. Das will sagen, daß ein Rückfragen nach dem Anfang ein Fragen nach uns selbst und unserer Zukunft ist. - In der Tat haben sich an Heideggers Rückfrage nach dem Anfang die absurdesten Mißverständnisse geknüpft, als ob Heidegger gegenüber dem bösen Verfall, den die Geschichte genommen hat, den Vorzug des Anfänglichen und Urtümlichen wiederzuholen suchte. Das heißt den Ernst verkennen,

mit dem

hier nach dem,

was

ist, gefragt wird.

Es ist gar nichts

Mystisches, was als das »Seinsgeschick« über uns gekommen ist, sondern stellt sich vor aller Augen dar, als die Konsequenz des abendländischen Denkweges in die technische Zivilisation unserer Tage hinein, die den Erdball überzieht wie ein alles einfangendes Netz. Die gewohnten Töne der Kulturkritik klingen hier daher in sonderbarer Zweideutigkeit, voll grimmiger Einsicht in ein Verhängnis und zugleich in einer an die radikale Herausforderung des Seins durch das alles versuchende Machen sich haltenden Zukunftserwartung - in jedem Fall aber nicht in der Illusion, man könne sich aus dem,

was

ist, zurückziehen

in eine vermeintliche

Freiheit, in

Sehnsucht nach dem Urtümlichen, das wiederkehren möge. Darin wurzelt das zweite der landläufigen Mißverständnisse, der Vorwurf des Historismus: — sofern die Geschichtlichkeit der Wahrheit als das Seinsgeschick gelehrt werde, gehe die Frage nach der Wahrheit verloren. Da

226

Heideggers Wege

wird dann die Historismusproblematik Diltheys erneuert, der sich an der Frage der endlos in sich verstrickten Reflexion abarbeitete, oder es wird mit sozialethischem Pathos die soziologische Reflexion vorgetragen, die sich die ideologische Voreingenommenheit alles Wissens bewußt macht, die Scheinfreiheit der Dialektik vorspiegelt und das gesellschaftliche Engagement fordert. Das alles wirkt ein bißchen komisch gegenüber einem Denken, das solche Kümmernisse nicht teilt, da es im Denken nicht ein Instrument zu Zwecken sieht, in dem es auf Gescheitheit bis zur Besserwisserei ankommt, sondern

das als eine echte Passion erfahren wird. Hier hilft kein Besserwissen. Man muß

es anerkennen,

daß Denken,

— von jeher — in einem

tiefen und

endgültigen Sinn selbstlos ist- nicht nur in der Weise, daß es im Denken auf nichts abgesehen ist, auf keinen individuellen oder gesellschaftlichen Gewinn, sondern so, daß auch das eigene Selbst dessen, der denkt, in seiner

persönlichen oder geschichtlichen Bedingtheit wie ausgelöscht ist. Es ist wahr, solches Denken ist selten — und hat gar noch den Vorwurf gesell-

schaftlicher Unverantwortlichkeit hinzunehmen, weil es nicht Farbe bekennt -, aber es hat seine großen Vorbilder und überzeugende Beispiele. Die Lehrmeister in dieser großen unbekannten Kunst des selbstlosen Denkens waren die Griechen. Sie hatten sogar ein Wort dafür, voöc, das im

deutschen Idealismus das Vernünftige und Geistige hieß (in annähernder Entsprechung), Denken, in dem nichts gemeint wird als das, was ist. Hegel war gerade durch die Forderung der Selbstlosigkeit eines Denkens, das nicht mit eigenen Einfällen oder Besserwisserei prunkt, die er in seiner Dialektik erhob, der letzte Grieche. Wenn Martin Heidegger sich nolens-volens in die Reihe dieser Klassiker des Denkens einreiht, so nicht nur deshalb, weil er die

großen Fragen dieser großen Tradition des Denkens ohne alle »historische« Distanz aufnahm und sie zum seinigen machte, die Frage nach dem Sinn von Sein stellend, sondern deshalb, weil diese Frage ihn so ganz ausfüllte, daß gar kein Abstand zwischen dem, was er dachte und lehrte und was er für sich selbst war, mehr bestand. Die unbekannte Kunst des Denkens beruht auf

solcher Selbstlosigkeit, die sich nicht weiß und nicht verstrickt ist in die Dialektik des besser und besser Sichwissens. Damit komme ich zu einem letzten Punkt, für den ich die elementare Wucht des Denkens, die in Martin Heidegger zur Erscheinung kam, bezeugen möchte, einem Punkt, der in aller Munde ist und doch gerade deshalb das Mißverständnis besonders auf sich zieht. Das ist Heideggers Sprache. Denn ausschließlicher als für die große Tradition des Denkens der Metaphysik ist der Stoff des Heideggerschen Denkens Sprache, diese sichtbarste Selbstlosigkeit des Gedankens. Man hat die Eigenwilligkeit der eigenen Sprache Heideggers gern kritisiert, und es mag sein, ja es muß sein, daß, wer nicht mitdenkt, nicht zu vergessen vermag, daß es keine gewohn-

a

Der Denker Martin Heidegger

227

ten Bahnen sprachlicher Fügung sind, die man da gehen soll. Es istjaauch wirklich nicht die Sprache der Information. Heideggers und des Denkens Sprache übermittelt nicht einfach, durch die sprachlichen Mittel, etwas, was als das, was es ist, ohne alle Sprachlichkeit bekannt wäre, weil es im Prinzip einem jeden bekannt werden kann. Für den schiefen Blick des Soziologen oder Politologen ist das »Geradeaus« solchen Denkens gewiß nicht einsichtig und wirkt als gewollte Manier. Aber noch mehr fordert ihn heraus, wenn Heidegger, mehr und mehr, selber in den Gründen der Sprache forscht und wie ein Schatzgräber aus den dunklen Schächten Blinkendes und Blitzendes ans Licht fördert.

Was

da in seltsamem

Dunkel-Licht

aufblitzt, oft sehr

befremdlich und unvertraut, und manchmal gleichwohl am Ende wie ein kostbarer Fund allgemein überzeugend und einer sichernden Fassung würdig, ist freilich nicht auf den vertrauten Bahnen der abgeschliffenen Worte

und Wendungen zu finden, in denen wir unsere Welterfahrung niederlegen. Es sindjaauch keine neuen Dinge, die so zutage gefördert werden und den Schatz der Erfahrung mehren. Es ist in allen harten und gewaltsamen Fügungen dieses Denkens immer »es selbst«, das gedacht werden soll, das Sein, das zur Sprache kommen soll. Gewiß gelingt das nicht immer so, daß das nachvollziehende Denken die Notwendigkeit des Ausbruchs aus den gewohnten Sprachgeleisen zu legitimieren weiß. Sprache hat stets, auch die gewaltsamste, etwas Verbindliches. In ihr ist Gemeinsames ins Sein gekommen. Auch Heideggers radikales Fragen nach dem »Sein« ist nicht ein esoterisch-privates Tun, sondern will nötigen, mit sprachlicher Gewalt, mitzugehen auf die Suche nach dem Wort, das »es selbst« faßt. Deshalb trachtet er in den verborgenen Gründen der Sprache Aufschlüsse zu gewinnen. Und doch ist das gewohnte Verhältnis zwischen Sprache und dem, was sie bezeichnet, irreführend. Da ist nicht Sprache und dort Sein,

hier ein Meinen und dort ein Gemeintes, sondern in dem gewaltsamen Einbruch und Umbruch selber, mit dem Heideggers Sprache einsetzt,

rückt, wonach er fragt, das »Sein«, näher. sucht, Das ist es, was die Sprache des Denkens, die Heidegger zu sprechen

mit der Sprache des Dichters verbindet. Nicht weil es bei ihm poetisierende aufWendungen gibt, mit denen sich die kahle Sprache des Begriffs ist ist, Gedicht ein wirklich "schmückt. Auch die Sprache eines Gedichts, das schen dichteri der mit Denkens des Sprache ja nicht poetisch. Was die ist Sprache gemeinsam hat, ist vielmehr, daß auch hier nichts bloß gemeint che dichteris Das kann. und daher so oder auch anders bezeichnet werden wird Wort wie das Wort des Denkens »meinen« nichts. In einem Gedicht keiner in und ist da Bildung chen sprachli seiner in nicht das nichts gemeint, das der anderen sprachlichen Gestalt dasein kann. Gewiß ist das Wort, des Sein leibhafte das Weise Philosoph spricht, nicht in der gleichen seinem in Aber ist. te Gedichte das Gedichts des Gedankens, wie das Wort

228

Heideggers Wege

Sprechen ist gleichwohl das Denken selber nicht bloß vollzogen, sondern der Gedanke wird in ihm beglaubigt. Er ist nirgends sonst antreffbar als in der Bewegung des Denkens, die ein Gespräch des Denkens mit sich selber ist. Im Denken der Philosophie geht das Denken ganz in dem Gedanken auf. Man muß sich Heideggers Auftreten auf dem Katheder vor Augen stellen, diesen erregten und fast bösen Ernst, mit dem hier Denken gewagt wurde, mit schrägem Blick, der die Zuhörer nur streift und zum Fenster hinausgeht,

und der Stimme, die sich bis an die Grenze der eigenen Erregung steigert, und man wird auch der Sprache, die Heidegger spricht und schreibt, nicht ausweichen können - man muß sie nehmen wie sie ist und wie in ihr Denken sich gibt. Denn so ist Denken da. Das ist es, was wir Martin Heidegger heute zu danken haben, nicht allein, daß er einer ist, der etwas Wichtiges gedacht hat und zu sagen hat, sondern daß in einer Zeit, die sich ganz aufs Rechnen

und Berechnen gestürzt hat, durch ihn etwas da ist, das für uns alle einen Maßstab des Denkens neu gesetzt hat.

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15. Die Sprache der Metaphysik 1968

Die Macht, die in den frühen zwanziger Jahren von der zusammengefaßten Energie Heideggers ausging, hat die nach dem ersten Weltkrieg heimkehrende oder neu ins Studium tretende Generation derart mitgerissen, daß mit Heideggers Auftreten - lange bevor das in Heideggers eigenem Denken zur Aussage kam - ein vollständiger Bruch mit der traditionellen akademischen

Philosophie einzutreten schien. Es glich einem neuen Aufbruch ins Unbekannte, der allen bloßen Bildungsmächten des christlichen Abendlandes ein Neues entgegensetzte. Eine vom Zusammenbruch eines Zeitalters erschütterte Generation wollte ganz neu beginnen und nichts von dem zurückbehalten, was bisher galt. Bis in die Sprache hinein, im Hochsteigern der eigenen deutschen Sprache zum Begriff, schien jeder Vergleich mit dem, was bisher Philosophie hieß, durch Heidegger niedergeschlagen - und das trotz der unablässigen und intensiven interpretatorischen Bemühung, die gerade Heideggers akademischen Unterricht auszeichnete, seine Vertiefung in

und Kant, in Aristoteles und Plato, in Augustin und Thomas, in Leibniz

Hegel und Husserl. Es waren allzu ungewohnte Dinge, die unter diesen Namen vorgestellt n wurden und zur Sprache kamen. Jede dieser Gestalten unserer klassische eine schien und t verwandel völlig philosophischen Überlieferung war wie unmittelbare, zwingende Wahrheit auszusprechen, die mit dem Denken die ihres entschlossenen Interpreten völlig ineins verschmolz. Die Distanz, wie schien trennt, rung unser historisches Bewußtsein von der Überliefe dem nicht vorhanden; auch der beruhigte und selbstgewisse Abstand, mit en auszuwert rung Überliefe die e eschicht Problemg nische neukantia die vom sich das Denken, gewohnt war, und das ganze zeitgenössische Spielerei. Katheder vernehmen ließ, erschien nun plötzlich als die reine Heideggers in sich der n, Traditio der mit Bruch der stellte Tat In der derselben ung Erneuer he Denken vollzog, ebensosehr eine unvergleichlic in der Kritik wieviel , sichtbar n Jüngere den dar, und erst langsam wurde der zwei aber sind Es steckte. Kritik der in ung Aneign Aneignung, wieviel in hinaus lange auf die ns, großen Klassiker des philosophischen Gedanke ehr ebensos sich und n behielte ht Zwielic Heideggers Denken ein seltsames

und Hegel. "durch Affinität wie durch radikale Distanz heraushoben: Plato

230

Heideggers Wege

Plato stand bei Heidegger von vornherein im kritischen Lichte, sofern Heidegger die Aristotelische Kritik an der Idee des Guten rezipiert und fruchtbar umgewandelt hatte und insbesondere den Aristotelischen Analogiebegriff unterstrich, und doch hat Plato das Motto zu »Sein und Zeit abgeben können, und erst nach dem zweiten Weltkrieg wurde die Zweideutigkeit, in der Plato figurierte, durch eine entschiedene Einordnung Platos in die Seinsgeschichte beendet. Um Hegel aber kreist Heideggers Denken in immer wieder neuen Abgrenzungsversuchen bis zum heutigen Tage. Seine Dialektik des reinen Gedankens setzte sich gegenüber dem phänomenologischen Handwerk, das allzuschnell vom Zeitbewußtsein wieder vergessen und verlernt wurde, in erneuerter Lebenskraft durch. So war es Hegel, der

nicht nur Heidegger zur ständigen Selbstabwehr reizte, sondern mit dem Heidegger in den Augen all derer, die sich gegen Heideggers Denkanspruch zu wehren suchten, zusammenfloß. Sollte in der neuen Radikalität, mit der

Heidegger die ältesten Fragen der Philosophie zu neuer Aktualität erweckte, die abschließende Gestalt der abendländischen Metaphysik wirklich überholt sein und eine neue metaphysische Möglichkeit, die Hegel ausgelassen hätte, verwirklicht werden? Oder war es der Zirkel der Reflexionsphilosophie, der alle solche Freiheits- und Befreiungshoffnung paralysierte und auch Heideggers Denken in seinen Bann zurücknötigte? Man kann sagen, daß die Entfaltung von Heideggers Spätphilosophie kaum irgendwo auf eine Kritik gestoßen ist, die nicht letzten Endes auf die Hegelsche Position zurückging, sei es im Sinne der negativen Zuordnung Heideggers zu dem gescheiterten spekulativen Titanenaufstand Hegels - so hat als erster Gerhard Krüger! und nach ihm unzählige andere geurteilt-, sei es in dem anderen, positiv hegelianisierenden Sinne, daß Heidegger seiner eigenen Nähe zu Hegel nicht genügend inne sei und deshalb der radikalen Position der spekulativen Logik nicht wirklich gerecht werde. Es waren

vor allem zwei Problemkreise,

an denen sich diese Kritik

abspielte. Einmal die Hineinnahme der Geschichte in den eigenen philosophischen Ansatz, die Heidegger mit Hegel zu teilen scheint, und zweitens die geheime und undurchschaute Dialektik, die allen wesentlichen Heideggerschen Aussagen anhafte. Wenn Hegel vom Standpunkt des absoluten Wissens aus die Geschichte der Philosophie philosophisch zu durchdringen, d.h. zur Wissenschaft zu erheben suchte, so war das, was Heidegger als die Seinsgeschichte und im besonderen als die Geschichte der Seinsvergessenheit beschrieb, von ähnlich umfassenden Anspruch. Zwar steht bei Heidegger nirgends etwas von jener Notwendigkeit des geschichtlichen Fortgangs, die Glanz und Elend der Hegelschen Philosophie ausmacht. Für ihn ist vielmehr die im absoluten Wissen, d.h. in der absoluten Gegenwart 1 Martin Heidegger und der Humanismus, Theol. Rdsch. 1950 (18), S. 148-178.

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Die Sprache der Metaphysik

231

erinnerte und aufgehobene Geschichte geradezu das Vor-Zeichen der radikalen Seinsvergessenheit, in die die Weltgeschichte Europas im nachhegelschen Jahrhundert eingetreten ist. Es ist Geschick, und nicht (erinnerte und verstehbare) Geschichte, was mit dem Seinsdenken der griechischen Metaphysik anhob und in der modernen Wissenschaft und Technik die Seinsvergessenheit auf die Spitze treibt. Jedoch - mag es der zeitlichen Verfassung des Menschen noch so sehr eigen sein, der Unvorhersehbarkeit des Geschickes ausgesetzt zu sein, das schließt nicht aus, den Anspruch ständig neu zu erheben und zu legitimieren, im Lichte des abendländischen Geschichtsganges das, was ist, zu denken, und so scheint auch Heidegger ein genuines geschichtliches Selbstbewußtsein, ja auch ein eschatologisch bezogenes, für sich in Anspruch zu nehmen. Das zweite kritische Motiv geht von der Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit

dessen aus, was Heidegger »das Sein« nennt, und sucht die

angebliche Tautologie des Seins, das es selbst ist, mit den Mitteln Hegels als verkappte zweite Unmittelbarkeit zu deuten, die aus der totalen Vermittlung des Unmittelbaren hervorgehe. Und sind nicht überdies wirklich dialektische Gegensätze am Werk, wenn sich Heidegger selber expliziert? Da haben wir die dialektische Spannung von Geworfenheit und Entwurf, von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit, vom Nichts als dem Schleier des

Seins und schließlich und vor allem die Gegenwendigkeit von Wahrheit und Irrtum, Entbergung und Verbergung, die das Seinsgeschehen als Wahrheitsgeschehen ausmachen. Hat nicht die Vermittlung von Sein und Nichts

in der Wahrheit des Werdens, und das heißt in der Wahrheit des Konkreten,

die Hegel unternimmt, den gedanklichen Rahmen schon abgesteckt, inner"halb dessen diese Heideggersche Lehre von der Gegenwendigkeit der Wahrheit allein liegen kann? Ist es möglich, über die Überwindung des Verstandesdenkens, wie sie Hegels dialektisch-spekulative Zuspitzung der Gegensätze des Verstandes herbeiführt, überhaupt hinauszugelangen und gar zu einer Überwindung der Logik und der Sprache der Metaphysik insgesamt? Der Zugang zu unserem Problem liegt ohne Frage in dem Problem des Nichts und seiner Niederhaltung durch die Metaphysik, wie das Heidegger in seiner Freiburger Antrittsvorlesung formuliert hat. In dieser Perspektive die Bestimerscheint das Nichts bei Parmenides und bei Plato, aber auch

die mung des Göttlichen durch Energeia ohne Dynamis bei Aristoteles, als das das Wissen, e unendlich das als Gott Nichts. des ung Entmacht totale MenschSeiende von sich selbst hat, wird von der privativen Erfahrung des liegt, Vergessen und Tod Schlaf, von gen seins her, wie sie in den Erfahrun neben aber tritt Nun n. verstande Präsenten alles Präsenz te als die unbegrenz eine andere diese bis Hegel und Husserl reichende Entmachtung des Nichts die Während ist. Werke am mit ik Motivreihe, die im Denken der Metaphys des Sein das ist »Was gipfelte: Frage der in ik aristotelische Metaphys

232

Heideggers Wege

Seienden?«, hält die von Leibniz und Schelling gestellte, von Heidegger geradezu die Grundfrage der Metaphysik genannte Frage: »Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?« die Konfrontierung mit dem Problem des Nichts ausdrücklich durch. Die Analyse des Begriffs der Dynamis bei Plato, bei Plotin, in der negativen Theologie, beim Cusaner, bei Leibniz bis hin zu Schelling, von dem Schopenhauer, Nietzsche und die Metaphysik des Willens ausgehen, - in unserem Jahrhundert Max Schelers Dualismus von Drang und Geist, Ernst Blochs Philosophie des Noch-Nicht usw. —, aber auch solche Phänomene der hermeneutischen Dimension wie die Frage, der Zweifel, die Verwunderung usw. vermögen zu zeigen, daß

das von der Präsenz her gedachte Seinsverständnis beständig durch das Nichts bedroht ist. Insofern hat Heideggers Einsatz eine innere Vorbereitung in der Sache der Metaphysik selbst. Um die immanente Notwendigkeit der Gedankenbewegung verständlich zu machen, die Heidegger als vdie Kehre« bezeichnet, und um zu zeigen, daß das nichts mit einer dialektischen Umkehrung zu tun hat, muß man davon

ausgehen, daß schon die transzendental-phänomenologische Selbstauffassung von »Sein und Zeit« von der Husserls wesentlich verschieden ist. Insbesondere läßt sich an Husserls Konstitutionsanalyse des Zeitbewußtseins zeigen, daß die Selbstkonstitution der Urpräsenz (die Husserl wohl als eine Art Urpotentialität bezeichnen könnte) ganz auf den Begriff der konstitutiven Leistung gestellt und damit auf das Sein der geltenden Objektivität hinbezogen ist. Die Selbstkonstitution des transzendentalen Ego, ein Problem, das sich auf die fünfte logische Untersuchung zurückverfolgen läßt, hält sich also ganz innerhalb des Seinsverständnisses der Tradition, trotz, ja gerade vermöge der absoluten Historizität, die den transzendentalen Grund aller Objektivitäten bilden soll. Nun ist zuzugeben, daß der transzendentale Ausgangspunkt Heideggers von dem Seienden, dem es um sein Sein geht, und die Lehre von den Existenzialien in »Sein und Zeit« den transzendentalen Schein mit sich führen, als wäre Heideggers Denken nur, mit Oskar Becker? zu sprechen, die Ausarbeitung weiterer,

bisher nicht festgelegter Horizonte der transzendentalen Phänomenologie, die die Geschichtlichkeit des Daseins betreffen. In Wahrheit bedeutet aber Heideggers Unternehmen etwas ganz anderes. Zwar fand es in dem durch Jaspers formulierten Begriff der Grenzsituation einen ersten Ansatzpunkt, um die Endlichkeit der Existenz in ihrer prinzipiellen Bedeutung herauszuarbeiten. Aber das diente der Vorbereitung der Seinsfrage in einem radikal

2 Von der Hinfälligkeit des Schönen und der Abenteuerlichkeit des Künstlers, in: Festschrift Husserl, Halle a. S. 1929. [Neuerdings in: Dasein und Dawesen, Gesammelte Aufsätze, Pfullingen 1963, S. 11-40].

Die Sprache der Metaphysik

233

veränderten Sinn, nicht etwa der Ausarbeitung einer im Husserlschen Sinne regionalen Ontologie. Auch der der »Fundamentaltheologie« nachgebildete Begriff der »Fundamentalontologie« ist eine Verlegenheit. Die innere Zusammengehörigkeit von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit des Daseins, von Entbergung und Verbergung, die in »Sein und Zeit« mehr im Sinne der Zurückweisung eines ethizistischen Affektdenkens auftrat, erweist sich mehr und mehr als der eigentliche Kern der Seinsfrage. Ek-sistenz und Insistenz, wie Heidegger in »Vom Wesen der Wahrheit« formuliert, sind zwar noch vom menschlichen Dasein her gedacht, aber wenn er dort sagt: Die Wahrheit des Seins ist die Unwahrheit, d.h. die Verbergung des Seins in der des »Wesens« nicht mehr ‚Irre«, dann ist der entscheidende Wandel im Begriff zu

übersehen,

der aus

der Destruktion

der griechischen

Tradition

der

Metaphysik folgt, indem er den traditionellen Begriff des Wesens ebenso wie den des Wesensgrundes hinter sich läßt. Was das Ineinander von Verbergung und Entbergung bedeutet und wases mit dem neuen Begriff des »Wesens« auf sich hat, läßt sich an einigen wesentlichen Denkerfahrungen Heideggers durchaus mit phänomenologischen Mitteln zur Ausweisung bringen: Am Sein des Zeugs, das nicht in seiner gegenständlichen Aufsässigkeit sein Wesen hat, sondern in seinem

läßt; Zurhandsein, das einen immer schon über es hinaus bei der Arbeit sein auf dieselbe daß birgt, sich in so Wahrheit seine das , Kunstwerks des Sein am

keine andere Weise offenbar ist als im Werk -— dem »Wesen« entspricht hier -;am seitens des Betrachters oder Aufnehmenden das Verweilen beim Werk »zu nichts steht, selbst sich in das Einzige, und Eine das als das Ding,

gedrängt«, vom Begriff des Konsumgegenstandes, wie er der industriellen Produktion zugehört, durch seine Unersetzlichkeit abgehoben ist. Und endlich am Wort: Auch dieses hat sein »Wesen« nicht in seiner totalen am Ausgesagtheit, sondern in dem, was es ungesagt läßt, wie insbesondere gemeinsame Die ist. bar demonstrier en Verstummen und am Verschweig wird, Struktur von Wesen, die in allen diesen vier Denkerfahrungen sichtbar ein Anwesend-S das wie ist ein »Dasein«, das ebenso das Abwesend-Sein einer in Jahren Freiburger frühen den in umfaßt. Heidegger hat einmal man sein Vorlesung gesagt: »Man kann Gott nicht so verlieren, wie sein einmal nicht aber Taschenmesser verliert.« In Wahrheit kann man mehr da ist. Wenn Taschenmesser einfach »nur so« verlieren, daß es nicht

verloren man ein lang gewohntes Gebrauchsding wie sein Taschenmesser fehlt. Auch hat, so beweist es sein Dasein dadurch, daß es einem ständig n Vase bei Hölderlins »Fehl der Götter« oder das Schweigen der chinesische weil lautlosen Sinne Eliot sind nicht Nicht-Dasein, sondern im dichtesten, im Vorhande‚Sein«, Die Lücke, die das Fehlende reißt, ist nicht eine Stelle etwas fehlt, dem dessen, Dasein zum nen, die leer bleibt, sondern sie gehört en, und so konkretisier »Wesen« das sich läßt So und ist in ihm van-wesend«.

234

Heideggers Wege

läßt sich zur Ausweisung bringen, wie das Anwesende zugleich Verdeckung des Anwesens ist. Geht man von solchen Erfahrungen aus, dann werden Probleme faßbar, die sich der transzendentalen Fragestellung entziehen mußten und als bloße

Grenzphänomene

auftraten. An erster Stelle die ‚Natur.

Hier kommt

Beckers Postulat einer Paraontologie sachlich zu ihrem Recht, sofern Natur

nicht mehr nur »ein Grenzfall des Seins von möglichem innerweltlichem Seienden« ist - nur daß Becker selbst es nie erkannt hat, daß sein Gegenbegriff der Para-Existenz, der so wesentliche Phänomene wie die der mathematischen und der Traumexistenz umfaßt, eine dialektische Konstruktion

ist, die Becker selbst mit ihrem Gegenteil zusammengedacht und so als eine dritte Position ausgezeichnet hat, ohne zu bemerken, wie dieselbe der Heideggerschen Lehre nach der »Kehre« entspricht. Ein zweiter großer Problemkomplex, der jetzt in ein neues Licht tritt, ist das Du und das Wir. Aus Husserls ständiger Diskussion der Intersubjektivitätsproblematik bekannt, in »Sein und Zeit« von der besorgten Welt her interpretiert, wirdam Gespräch, d.h. am Hörenkönnen aufeinander in concreto faßbar, was hier die Seinsweise des Wesens ausmacht, z.B. wenn man das im Gespräch

Waltende oder im quälenden Gespräch sein Ausbleiben spürt. Vor allem aber stellt sich das abgründige Problem von Leben und Leiblichkeit in einem neuen Sinne. Der Begriff des Lebe-Wesens, wie er von Heidegger im ‚}Humanismus-Brief« mit Betonung gebraucht wird, wirft neue Fragen auf, insbesondere die nach seiner Entsprechung zu dem Menschen-Wesen und dem Sprach-Wesen. Dahinter steht aber die Frage nach dem Selbstsein, das vom Reflexionsbegriff des deutschen Idealismus aus leicht zu bestimmen war, aber indem Augenblick rätselhaft wird, in dem nicht mehr vom Selbst

des Selbstbewußtseins oder -mit »Sein und Zeit«— des menschlichen Daseins ausgegangen wird, sondern vom Wesen. Daß in der Lichtung das Sein anwest und daß der denkende Mensch auf diese Art Platzhalter des Seins ist,

weist auf eine ursprüngliche Zusammengehörigkeit von Sein und Mensch. Das Zeug, das Kunstwerk, das Ding, das Wort - in all dem tritt im Wesen

selbst der Bezug auf den Menschen deutlich zutage. Aber in welchem Sinne? Schwerlich in dem Sinne, daß dadurch das menschliche Selbstsein seine Bestimmung erführe, wie ja schon das Beispiel der Sprache lehrt, von der Heidegger doch nicht ohne Sinn sagt, daß sie uns spricht, sofern keiner von uns ihrer wirklich »mächtig« ist (auch wenn niemand bestreitet, daß wir es sind, die sie sprechen). Man wird hier neuplatonische Denkweisen heranrufen — und abweisen müssen, wenn man sich der Frage nach dem Selbst bei Heidegger stellen will. Denn ein kosmisches Drama, das im Hervorgang aus dem Einen und der Rückkehr in es besteht und das Selbst als die Wende zur Rückkehr auszeichnet, liegt jenseits des hier Möglichen. Man könnte nun denken, das,

Die Sprache der Metaphysik

235

was Heidegger unter »Insistenz« versteht, enthalte die Lösung. Gewiß ist das, was Heidegger die In-sistenz des Daseins und was er die Irre genannt hat, aus der Vergessenheit des Seins zu denken. Aber ist diese Vergessenheit die alleinige Weise des An-wesens? Wird dadurch die Platzhalterschaft des menschlichen Daseins verständlich? Läßt sich der Begriff des An-wesens und des Da in dem ausschließlichen Bezug auf das menschliche Dasein durchhalten, wenn man an das Aufgehen der Pflanze und an das Lebe-Wesen denkt? Muß nicht der Begriff der In-sistenz, der in »Vom Wesen der Wahrheit« noch ganz von dem Seienden her gedacht war, das erstmals ‚den

Kopf aufhob«, in einem weiteren Sinne genommen werden? Und damit auch die Ek-sistenz? Gewiß bedeutet die Verspanntheit des Lebewesens in seine Umgebung, von der der »Humanismus-Brief« spricht, daß es nicht für das

Sein offen ist, wie der seines Nicht-sein-Könnens innige Mensch. Aber haben wir nicht von Heidegger gelernt: Das eigentliche Sein des Lebewesens ist nicht sein eigenes einzelnes Da-Sein, sondern Gattung, und ist nicht die Gattung für das Lebewesen »da« - wenn auch nicht in der gleichen Weise, in der für den Menschen das Sein in der In-sistenz der Seinsvergessenheit daist? Macht es nicht das Sein der Gattung aus, daß ihre Angehörigen sich

‚erkennen«, wie der tiefsinnige Ausdruck der Luther-Bibel es nennt, zwar als

Erkennen ihnen selbst verborgen und doch so, daß es in es übergeht? Ist nicht auch das In-sistenz, wie das Tier nur sich selbst meint (conservatio sui) und eben damit doch die Reproduktion der Art besorgt? Ähnliches möchte man für das Aufgehen der Gewächse fragen: Ist das nur An-wesen für den Menschen? Hat nicht jedes Lebendige als solches die Tendenz in sich, sich in seine seinem Sein festzumachen, ja zu versteifen? Ist das nicht auch gerade

Endlichkeit, derart verweilen zu wollen? Und gilt das nun nicht auch vom Menschen, daß das Dasein »in ihm«, wie Heidegger es nannte, gar nicht als

wie einen eine Art höchsten Selbstbesitzes zu denken ist, das den Menschen

Gott aus dem Stromkreis des Lebens heraustreten läßt? Ist nicht unsere ganze NeuLehre vom Menschen durch den metaphysischen Subjektivismus der man daß gebracht, Ordnung in zeit entstellt und nicht dadurch schon

Sagt einsieht, das Wesen des Menschen ist die Gesellschaft ((@ov nokmxov)? heißt das nicht ebendies die ‚Gegenwendigkeit«, die das Sein selber ist? Und nicht, daß es sinnlos wird, die Natur gegen das »Sein« auszuspielen? die In diesen Zusammenhängen bleibt es eine beständige Schwierigkeit, lehre der Sprache der Metaphysik zu vermeiden, die all das von der Potenzen Daß die Reflexion her denkt. Aber was heißt Sprache der Metaphysik? ist, ist ns Begreife den verfügen des die nicht Erfahrung des »Wesens« hes. Natürlic etwas da von hat ens« »An-denk des Begriff Der einleuchtend.

Geschichte Es ist wahr, daß das Andenken selbst etwas ist und in ihm Aber was wird. erinnert es durch te Geschich Wirklichkeit hat und daß nicht Umkehr, wie etwas so darin end, überzeug wirklich es Ist geschieht darin?

236

Heideggers Wege

wie das Jähe des Geschicks zu erwarten? Am Phänomen des Andenkens scheint mir das Wichtige, daß dadurch etwas im Da festgehalten und bewahrt wird, so daß es, solange das Andenken lebendig bleibt, nie nicht

sein kann. Gleichwohl ist das Andenken nicht das sich versteifende Festhalten eines Entschwindenden - sein Nichtdasein wird gar nicht verdeckt oder beharrlich bestritten, vielmehr ist so etwas wie Zustimmung darin (von der

Rilkes »Duineser Elegien« etwas wissen). Es ist darin keine Insistenz. Umgekehrt entspringt die Faszination durch das Machen-Können und die Macht der Technik der Insistenz, d.h. der menschlichen Seinsvergessenheit. Einer solchen Art der Seinserfahrung, die wir seit Nietzsche Nihilismus nennen, ist an sich keine Grenze gesetzt. Aber wenn es eine Faszination ist,

die von einer solchen sich ständig steigernden Versteifung ausgeht - findet sie nicht in sich selbst ihr eigenes Ende gerade dadurch, daß das Neue beständig etwas Überaltertes wird, und das gerade, ohne daß ein besonderes

Ereignis eintritt oder eine Umkehr geschieht? Bleibt nicht das natürliche Gewicht der Dinge vernehmbar und macht sich vernehmbar, je eintöniger der Lärm des beständig Neuen schallt? Sicherlich hat Hegels Idee des Wissens, das als absolute Selbstdurchsichtigkeit gedacht ist, etwas Phantastisches, wenn es die volle Heimatlichkeit im Sein wiederherstellen soll.

Aber könnte es nicht in dem Sinne eine Wiederherstellung geben, in dem das Sich-heimisch-Machen in der Welt nie aufgehört hat, sich zu vollziehen: als

die eigentliche, und nicht durch den Wahn des Machenkönnens betäubte Wirklichkeit.

Wenn

das Traumhafte

der Technokratie,

die lähmende

Gleichgültigkeit dessen, was man alles machen kann, fühlbar wird und den Menschen auf das zutiefst Befremdliche des eigenen endlichen Seins hin ‚wieder freigibt? Gewiß gewinnt sich diese Freiheit nicht im Sinne eines absoluten Durchsichtigseins oder eines von nichts mehr gefährdeten Heimischseins. Aber wie das Denken des Unvordenklichen das Seine, z. B. die Heimat, bewahrt, wird doch auch das Unvordenkliche unserer Endlichkeit

in der beständigen Sprachwerdung unseres Daseins mit sich selbst geeint und ist im Aufund Ab, im Entstehen und Vergehen, »da«.

Ist das die alte Metaphysik? Ist das die Sprache nur der Metaphysik, die diese beständige Sprachwerdung unseres In-der-Welt-Seins leistet? Gewiß ist es die Sprache der Metaphysik und mehr noch hinter ihr die Sprache der indogermanischen Völkerfamilie, die solches Denken formulierbar macht. Aber kann eine Sprache oder Sprachfamilie je mit Recht Sprache des metaphysischen Denkens heißen, nur weil in ihr die Metaphysik gedacht oder, was mehr wäre, antizipiert worden ist? Ist nicht Sprache immer Sprache der Heimat und der Vollzug des Heimisch-Werdens in der Welt? Und heißt das nicht, daß die Sprache keine Schranken kennt und niemals

versagt, weil sie unendliche Möglichkeiten des Sagens bereit hält? Hier scheint mir die hermeneutische Dimension einzusetzen, die im Sprechen des

Die Sprache der Metaphysik

237,

Gesprächs ihre innere Unendlichkeit beweist. Gewiß ist die Schulsprache der Philosophie vorgeprägt durch den grammatischen Bau der griechischen Sprache und hat in ihrer griechisch-lateinischen Geschichte ontologische Implikationen etabliert, deren Vorurteilshaftigkeit Heidegger aufgedeckt hat. Aber sind die Universalität der objektivierenden Vernunft und die eidetische Struktur der sprachlichen Bedeutungen wirklich an diese besonderen Auslegungen von subjectum und species und actus gebunden, die das Abendland gezeitigt hat? Oder gelten sie für alle Sprachen? Daß es Strukturmomente der griechischen Sprache und ein grammatısches Selbstbewußtsein insbesondere der lateinischen Sprache gibt, die die Hierarchie von

Gattung und Art, die Relation von Substanz und Akzidenz, die Struktur der

Prädikation und das Verbum als Tätigkeitswort in einer bestimmten Auslegungsrichtung festlegen, ist nicht zu leugnen. Aber gibt es keine Erhebung über solche Vorschematisierungen des Denkens? Wenn man etwa der abendländischen prädizierenden Urteilsaussage die morgenländische Bildlichkeit entgegenstellt, die ihre Sagkraft von der Ineinanderspiegelung von Gemeintem und Gesagtem her gewinnt, sind das nicht in Wahrheit nur differente Sagweisen innerhalb des einen und einzigen Allgemeinen, d.h. des Wesens von Sprache und Vernunft? Bleiben nicht Begriff und Urteil in der das Bedeutungsleben der Sprache eingebettet, die wir sprechen und in auch wir zu sagen wissen, was wir meinen? Und läßt sich nicht umgekehrt

wie das Unterschwellige solcher orientalischer Spiegelungsaussagen ebenso Bewegung e hermeneutisch die in immer die Aussage des Kunstwerks hineinholen, die Einverständnis schafft? In solcher Bewegung wird ständig Sprache, und soll man

wirklich meinen,

daß es in einem anderen Sinne

Hegels Sprache gibt als eh und je im Vollzuge solcher Bewegung? Auch eigene die hebt und hierhergehörig mir scheint Satz spekulativen Lehre vom Sprechen Im auf. sich in Zuspitzung zur Dialektik des Widerspruches immer Tendenz aufzuheben, bleibt immer die Möglichkeit, seine objektivierende

die wie Hegel die Verstandeslogik, Heidegger die Sprache der Metaphysik, alles Dichter die und Orientalen die Verschiedenheit der Seinsbereiche nehmen. Gegebene überhaupt aufheben. Aufheben aber heißt: in Brauch

n. Er würde dar3 Dieser rhetorischen Frage würde freilichJ.Derrida nicht zustimme zurückwerfenden sik« ‚Metaphy die auf r Heidegge auch letzten in vielmehr einen Überwinder wahre der Augen seinen in ist e Nietzsch Mangel an Radikalität sehen. Erst tig die Sprache der »ecriture« des metaphysischen Denkens, und so ordnet er folgerich z zwischen der Hermeneutik unter (vgl. l’ecriture et la differance). [Über den Gegensat

vgl. meine neueren Arbeiten und dieser post-strukturalistischen Nietzsche-Nachfolge 361-372.] S. und Ges. Werke Bd. 2, S. 330-360

16. Plato 1976

Was wir von Heidegger vor allem lernten, war die durchgehende Einheit der durch die Griechen begründeten Metaphysik und ihre Fortgeltung unter den verstellten Bezügen des neuzeitlichen Denkens. Die aristotelische Frage nach einer ersten Wissenschaft, die er selber ausdrücklich als die gesuchte Wissenschaft bezeichnet, eröffnete die Tradition abendländischen Denkens,

in der sich die Frage nach dem Sein des Seienden im Blick auf das höchste und eminente Seiende, das Göttliche, stellte. Wenn Heideggers Unternehmen sich als eine Vorbereitung verstand, die Seinsfrage neu zu stellen, so

schloß das in sich, daß diese traditionelle Metaphysik seit ihrem Ausgang von Aristoteles kein ausdrückliches Bewußtsein von der Fraglichkeit des Sinnes von Sein überhaupt mehr besaß. Das war eine Herausforderung für das Selbstverständnis der Metaphysik. Sie will sich in ihren eigenen Konsequenzen nicht wiedererkennen: in dem prinzipiellen Nominalismus der Moderne und in der neuzeitlichen Umwendung des Wissenschaftsbegriffs in eine Richtung, die die universale Technologie der Gegenwart zur letzten Konsequenz hat. Die Metaphysik und ihre Nachgestalten zu dieser Wiedererkennung zu nötigen, war das Hauptanliegen von »Sein und Zeit«. Zugleich leitete Heideggers Destruktion der Metaphysik die Frage nach den Anfängen des griechischen Denkens ein, die der Entfaltung der metaphysischen Fragestellung noch vorauslagen, und bekanntlich hat Heidegger, in diesem Punkte ähnlich wie Nietzsche, auf den frühesten Anfang des griechischen Denkens einen besonderen Akzent gelegt. Anaximander, Heraklit und Parmenides galten ihm nicht als Vorstufen der metaphysischen Frage, sondern als Zeugnisse für die Offenheit des Anfangs, in dem Aletheia noch nichts von der Richtigkeit einer Aussage hatte, ja nicht einmal die bloße Offenbarkeit des Seienden meinte.

Wie aber stand es mit Plato? Stand dessen Denken nicht in der Mitte zwischen dem frühen Denken und der Schulgestalt der Metaphysik, die in den aristotelischen Lehrschriften ihre erste Form gewann? Wie läßt sich sein Ort bestimmen? Gewiß war Heideggers Zurückfragen hinter die Fragestellung der Metaphysik nach dem Sein des Seienden nicht eigentlich als Rückkehr in ein mythisches Vor-Alter gemeint und wollte erst recht nicht eine anmaßliche Kritik der Metaphysik von überlegenem Standpunkt aus

Plato

239

sein. Heidegger hat nie die Metaphysik als einen Irrweg des Gedankens überwinden« wollen, sondern hat die Metaphysik als den Geschichtsweg des Abendlandes gedeutet, der ihr Geschick bestimmt hat, so wie eben Geschick das ist, das über einen gekommen ist und über den eigenen Ortund alle möglichen Wege in die Zukunft unwiderruflich entschieden hat. Es gibt keine geschichtliche Reue. So hat Heidegger wahrlich aus der Geschichte der Metaphysik und ihren immanenten Spannungen, und nicht abseits von ihr, den Weg seines eigenen Fragens zu finden gesucht. Aristoteles war in mehrfacher Hinsicht nicht nur sein Gegenspieler, sondern auch sein Eideshelfer. Es war insbesondere Aristoteles’ Zurück weisung von Platos allgemeiner Idee des Guten, seine Berufung auf den Gedanken der Analogie und seine Vertiefung in das Wesen der Physis, es war also vor allem das 6. Buch der Nikomachischen Ethik und das 2. Buch der Physik, die Heidegger in einer produktiven Weise interpretierte. Nun ist es augenscheinlich, daß gerade diese beiden »positiven« Aspekte des aristotelischen Denkens die härtesten Dokumentationen der aristotelischen PlatoKritik darstellen: die Ablösung der Frage nach dem Guten, wie es die Menschen für die menschliche Praxis zu fragen haben, von der theoretischen Stellung der Seinsfrage - und auf der anderen Seite die Aristotelische Kritik an der platonischen

Ideenlehre,

die mit dem

ontologischen

Primat

der

Bewegtheit den Aristotelischen Physisbegriff zur Geltung bringt und die zu Orientierung an der Ideenmathematik der pythagoreischen Weltsicht beiden in und gemeint, Plato ist beidem überwinden beansprucht. Mit Hinsichten scheint Aristoteles fast wie ein Vorläufer Heideggerscher Gedanaller ken. Die Lehre von der Phronesis als dem praktischen Wissen steht Physisgedem in und entgegen, Wissenschaft objektivierenden Tendenz der allem danken und seinem ontologischen Primat klingt mindestens eine an. Subjekt-Objekt-Gegensatz überlegene Dimension des »Aufgehens« lächerGewiß waren das produktive Wiedererkennungen, und es wäre Was . sprechen zu r Heidegge auf es Aristotel des Einfluß lich, von einem r ja selbst Aristoteles für Heidegger als ein erster Anstoß war, hat Heidegge s Schrift über erzählt, wenn er die Rolle schildert, die für ihn Franz Brentano

Diese die verschiedenen Bedeutungen des Seienden bei Aristoteles spielte. die im sorgfältige Verzeichnung der verschiedenen Bedeutungsrichtungen, der Frage Begriff des Seins bei Aristoteles gelegen waren, ließ ihn von n liege. verborge Vielfalt ndenen unverbu dieser hinter ergriffen werden, was gegenüber der rung Orientie kritische eine aber es blieb Falle jedem In es impliziert platonischen Ideenlehre, die in seinem Ausgang von Aristotel lag. finden wir am er dann schlagen wir »Sein und Zeit« auf, und dort schon und immer der von es Eingang das berühmte Zitat aus dem Sophist das Zitat enthält Gewiß Sein. dem nach Frage immer vergeblich gestellten

240

Heideggers Wege

keine bestimmte inhaltliche Artikulation der Weise, wie hier nach dem Sein

gefragt wird, und die Überwindung des eleatischen Seinsbegriffs, die im Sophistes auf diese Weise eingeleitet wird, weist in eine ganz andere Richtung als in die der Frage nach der verborgenen Einheit der verschiedenen Bedeutungen von Sein, die den jungen Heidegger erweckte. Aber da ist noch eine andere Stelle im gleichen platonischen Dialog, die Heidegger nicht zitiert und die doch in Wahrheit, wenngleich in noch so formaler Weise, die

ständige Verlegenheit über das Sein impliziert, auf die sich Heidegger beruft und die als Verlegenheit im vierten Jahrhundert vor Christus die gleiche ist wie in unserem zwanzigsten Jahrhundert. Der Fremde aus Elea exponiert als die zwei Grunderscheinungsweisen des Seienden Ruhe und Bewegung. Das sind zwei einander ausschließende Seinsweisen. Aber es scheinen auch die erschöpfenden Möglichkeiten des Erscheinens von Sein zu sein. Wenn man nicht auf den Ruhezustand hinblicken will, muß man auf Bewegung hinblicken und umgekehrt. Wohin soll man denn blicken, wenn man weder dieses noch jenes, sondern »Sein«in

den Blick bekommen will? Da scheint keine offene Möglichkeit des Fragens überhaupt zu bestehen. Denn gewiß ist es nicht die Intention des eleatischen Fremden, Sein als die universale Gattung zu verstehen, die sich etwa in diese beiden Seinsbereiche differenziert. Worauf Plato zielt, ist vielmehr, daß mit

der Rede vom Sein eine Differenzierung impliziert ist, die nicht verschiedene Seinsbereiche unterscheidet, sondern eine innere Strukturiertheit des Seins selber meint. Zu allem Reden von Sein gehört ebensowohl Selbigkeit oder Identität als auch Andersheit und Verschiedenheit. Und diese beiden Aspekte sind so wenig ausschließend, daß sie vielmehr einander wechselseitig bestimmen. Was mit sich selbst identisch ist, ist eben dadurch von allem anderen unterschieden. Indem es ist, was es ist, ist es alles andere nicht. Sein

und Nichtsein sind unauflöslich ineinander geschlungen. Ja, gerade darin scheint die Auszeichnung des Philosophen gegenüber allen sophistischen Scheinkünsten zu bestehen, daß dasJades Seins und das Nein des Nichts nur in ihrem Zusammen die Bestimmtheit des Seienden ausmachen. Aber gerade hier setzt der spätere Heidegger an: die Bestimmtheit des Seienden, die in bezug auf das Sein seine Wahrheit ausmacht, ist aller Stellung der Frage nach dem Sinn von Sein zuvor- und in den Weg gekommen. In der Tat beschreibt Heidegger die Geschichte der Metaphysik als die wachsende Vergessenheit der Frage nach dem Sein. Die Offenbarkeit des Seienden, das Sich-Zeigen des Eidos in seinem unveränderlichen Umriß, hat die Frage nach dem Sinn von Sein immer schon hinter sich gelassen. Was sich da als Eidos, d.h. als unveränderliche Bestimmtheit seines-Was-Seins zeigt, versteht implizit »Sein« als beständige Gegenwart, und das bestimmt auch noch den Sinn von Unverborgenheit, das heißt

Wahrheit, und setzt jeder Wesens-Aussage über das Seiende das Maß von

N

241

Plato

richtig oder falsch. »Theätet fliegt« ist falsch, weil Menschen nicht fliegen können. In der Weise begründet Plato durch seine Umdeutung der eleatischen Seinslehre in die Dialektik von Sein und Nichtsein den Sinn von ‚Wissen« im Logos, der die Seiendheit des Seienden, das Was-Sein desselben zi nv zur Aussage bringt, und zeichnet damit der Aristotelischen Lehre vom vor. Fragestellung ihre bildet, Metaphysik seiner Kernstück das elvar, die Insofern beginnt mit Plato die Verstellung der Seinsfrage, und alle kritischen Motive, die Aristoteles gegen die platonische Ideenlehre aufbietet, ändern nichts daran, daß die von ihm gesuchte Wissenschaft vom Sein sich innerhalb dieser Vorentscheidung hält und nicht hinter sie zurückfragt. Es ist hier nicht der Ort, die Problemlage der neueren Philosophie zu entwickeln, auf die Heideggers kritischer Rückgang auf die griechische Metaphysik antwortet. Es genügt, sich daran zu erinnern, wie Heidegger selber die Aufgabe einer Destruktion der philosophischen Grundbegriffe der formuNeuzeit, insbesondere der Begriffe »Subjektivität« und ‚Bewußtsein« die liert hat. Vor allem aber hat die eindrucksvolle Weise, in der Husserl

Konstitution des Selbstbewußtseins als Zeitbewußtsein in unermüdlicher bei der Variation zu vollbringen suchte, den eigenen Einsatz Heideggers Temporalstruktur des Daseins antithetisch mitbestimmt — gewiß nicht, e ohne daß seine Vertrautheit mit dem griechischen Erbe der Philosophi Protischer sch-idealis neukantiani Husserls von Absetzung seiner kritischen es eine grammierung der Phänomenologie zugute kam. Auf alle Fälle ist von ung Akzentuier Heideggers sich grobe Vereinfachung, wenn man Wendung e thematisch lediglich eine als chkeit Geschichtli Geschichte und die polemizurechtlegt, die ihn von Husserls Denken entfernte. Nicht nur sondern atz, Logos-Aufs im Dilthey mit sche Auseinandersetzung Husserls längst natürlich Heidegger gebliebene, licht unveröffent vor allem auch der Engagement Husserls dagegen, sprechen »Ideen« der Band zweite bekannte, So erklärt in der Frage der Geschichte und Geschichtlichkeit zu bestreiten. von 1928 tschrift Husserl-Fes der in Becker Oskar sich ein wenig, wie »Sein und seinerzeit den unglücklichen Versuch machen konnte, Heideggers . Es bringen unterzu ie enolog Phänom Zeit: im Rahmen der Husserlschen der Gefahr« e »tödlich die daß klar, jeher von Husserl war ohne Zweifel auch Skepsis,

die er im historischen

Relativismus

erblickte,

nicht ohne die

sung des menschliAufklärung der Konstitution der geschichtlichen Verfas konnte. werden t gebann s chen Gemeinschaftsleben Fundamente einer Nichtsdestotrotz war es nicht nur eine Tieferlegung der und Zeit« unter»Sein in ger transzendentalen Phänomenologie, was Heideg ng vor, die Wendu e radikal die h zugleic darin nahm, sondern es bereitete sich gen im tranGeltun ichen erdenkl aller ution Konstit der t das ganze Konzep tion des Ego zum szendentalen Ego und vor allem das der Selbstkonstitu hkeit des BewußtZeitlic die er indem sah, Einsturz bringen sollte. Husserl

_

242

Heideggers Wege

seinsstroms analysierte, die Selbsterscheinung des Flusses bzw. die Urpräsenz als das Letzte im Ego an, zu dem wir hinunterkönnen. Damit galt ihm die Iterationsstruktur, die sich bei der Selbstkonstitution des Ich auftat,

durchaus nicht als eine Aporie, sondern er nahm sie als eine positive Beschreibung in Anspruch. Das aber hieß, daß er im Grunde über das Hegelsche Ideal der totalen Selbstdurchsichtigkeit des absoluten Wissens nicht hinausgelangte. Heidegger setzte diesem Ideal nicht allein, wie es in mannigfachen Formen schon von den Junghegelianern und von Kierkegaard gegen Hegel geltend gemacht worden war, die Unvordenklichkeit der Existenz entgegen. Nicht das ist das eigentlich Neue an seinem Einsatz. Er verbliebe damit in Wahrheit in der dialektischen Abhängigkeit eines hegelianisierenden Antihegelianismus — und es ist schon seltsam genug, daß Adorno in seiner »Negativen Dialektik« nie realisiert hat, wie nahe er selbst mit Heidegger zusammenrückt, sobald man Heidegger von seiner Hegelkritik her sieht. In Wahrheit stellte sich Heidegger als ein Schüler des frühen griechischen Denkens und als dessen Gesprächspartner das Problem der Faktizität in einem radikaleren und anfänglicheren Sinne. Indem die anfangende Metaphysik im Logos die Unverborgenheit des Seienden, seine Gegenwärtigkeit und Verwahrung im Denken und Aussagen zu fragen unternahm, trat die eigentliche Dimensionalität der Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit des Seins in einen tiefen, lang hinfallenden Schatten. Nun fragte Heidegger hinter die anfangende Metaphysik zurück und suchte eine Dimension zu öffnen, die nicht mehr, wie im Historismus die

Geschichtlichkeit, als eine einschränkende Behinderung der Wahrheit und der Objektivität der Erkenntnis gelten mochte. Heideggers Existenzialanalytik kann aber ebensowenig als ein Gewaltstreich verstanden werden, der das Problem des historischen Relativismus durch seine Radikalisierung aufzuheben suchte. Es scheint mir bezeichnend, daß der spätere Heidegger das Historismusproblem in seiner Selbstdeutung gar nicht mehr wichtig nimmt (vgl.: »Mein Weg in die Phänomenologie«). Geschichtlichkeit ist vielmehr die ontologische Verfassung der »Zeitigung« des Daseins in Entwurf und Geworfenheit, in Lichtung und Entzug des Seins und betrifft einen Bereich hinter aller Frage nach dem Seienden. Man kann mit Heidegger diese Dimension der Seinsfrage allein in ihren Anfängen in dem Rätselsatz des Anaximander, in dem monumentalen Singular der parmenideischen »Wahrheit«, in Heraklits »Einem, allein Weisen« wiedererkennen wollen. Man kann sich aber auch die Gegenfrage stellen, ob nicht die Begründer des metaphysischen Denkens selber davon zeugen und ob nicht auch im Logos der platonischen Dialektik oder in Aristoteles’ Analyse des Nous, der das Wesen vernimmt, und als das, was es ist, zur Bestimmung

bringt, der Bereich sichtbar wird, in dem alles Fragen und Sagen seinen

Plato

243

Spielraum gewinnt. Die anfängliche Frage der Metaphysik nach dem Was des Seienden, verstellt sie wirklich die Frage nach dem Sein so ganz, wie das ohne Zweifel die in den Wissenschaften ausgebildeten Sprechweisen tun, die die Logik zu ihrem analytischen Thema macht? Heidegger hat bekanntlich in Platos Lehre vom Eidos den ersten Schritt im Wandel der Wahrheit von der Unverborgenheit zur Angemessenheit und Richtigkeit der Aussage gesehen. Daß das einseitig ist, hat er später selbst ausgesprochen. Aber diese Selbstberichtigung meint nur, daß dAndera nicht erst bei Plato, sondern »sogleich und nur als öpdörng, als die Richtigkeit des Vorstellens und Aussagens erfahren wurde« (Heidegger: Zur Sache des Denkens S. 78). Ich möchte nun umgekehrt die Frage stellen, ob nicht Plato

selber, und zwar nicht nur auf Grund gewisser Verwicklungen und innerer Schwierigkeiten in der Annahme der Ideen, sondern von Anbeginn an, hinter diese Annahme zurückgefragt hat und mindestens in der Idee des Guten den Bereich der Unverborgenheit zu denken suchte. Mir scheint dafür einiges zu sprechen. Gewiß darf man Platos Schriften dann nicht mit den Augen der Aristotelischen Platokritik lesen. Diese Kritik zielt ja auf die Widerlegung des Chorismos der Ideen, ein Punkt, auf den Aristoteles ständig zurückkommt und den er geradezu als Unterscheidungsgrund zwischen Sokrates’ definitorischer Frage und Plato aufgebaut hat (Met M 4). In Wahrheit ist diese Aristotelische These mit der Hypothek belastet, die insbesondere von Hegel und von dem Marburger Neukantianismus eingeklagt worden ist, daß Plato selber in seinen dialektischen Dialogen der Spätzeit diesen Chorismos auf radikale Weise exponiert und kritisch zurückgewiesen hat. Das macht den eigentlichen Tiefsinn der Dialektik aus, daß sie aus dem Dilemma von Chorismos und Teilhabe herauszuführen beansprucht, indem sie die Trenteilhat, nung zwischen dem Teilhabenden und dem, woran das Teilhabende

überspielt. ist, Daß das nicht erst eine spätere Wendung des platonischen Denkens Rolle elle ekzeption die wird nun aber meines Erachtens klar, wenn man Denn beachtet, die die Idee des Guten von früh an in Platos Schriften spielt. aristoteli der Schema das in recht nicht sich fügt Guten des auch die Idee

Guten wird in der schen Kritik am Chorismos, und die Kritik an der Idee des

vorsichtig der Tat bei Aristoteles, wie sich zeigen ließe, nur zögernd und der Idee des an Kritik he eigentlic Die et: zugeordn ik allgemeinen Ideenkrit ches theoretis Ihr Guten wird vom praktischen Gesichtspunkt aus geübt. Äquivoka zufällige bloß nicht doch es Problem aber bleibt bis zuletzt, daß lassen, werden genannt »gut« e enartigst Verschied tionen sind, die das analogia entis steht. sondern daß dahinter das aristotelische Kernproblem der Doch befragen wir Plato selber. die beständige Zunächst begegnet die Frage nach dem Guten selbst als

244

Heideggers Wege

negative Instanz, an der das Arete-Verständnis der sokratischen Gesprächspartner zum Scheitern kommt. Die leitende Idee von Wissen, die ihr Maß an

dem Handwerk nimmt und die Beherrschung von Sachzusammenhängen meint, erweist sich als unanwendbar, wenn es sich um die Idee des Guten handelt. Es ist offenkundig mehr als schriftstellerische Kunst, wenn die

platonischen Aussagen über das Gute selbst es lieben, sich in einer eigentümlichen Weise in ein Jenseitiges zu entziehen. In der Politeia wird die Ausnahmestellung der Idee des Guten gegenüber den inhaltlich bestimmten Arete-Begriffen ganz ausdrücklich gemacht und vom Guten nur in der Weise einer sinnlichen Analogie, der mit der Sonne, gesprochen. Dabei dürfte es eine entscheidende Rolle spielen, daß die Sonne hier als Spenderin des Lichtes auftritt und daß es das Licht ist, das die sichtbare Welt für den Schenden sichtbar macht. Es ist bedeutungsvoll, daß die Idee des Guten-der vielfach gebrauchten Analogie folgend — wie die Sonne in allem widerscheint. Im Denkzusammenhang der Politeia bedeutet das, daß es die Ordnungsverfassung von Seele, Staat und - im Timaios — Welt ist, der das Eine, das das Gute ist, zugrunde liegt, wie die Sonne dem Licht, das alles verbindet. Es ist mehr das, was Einheitlichkeit verleiht, als daß es selbst

Eines ist. Es ist ja jenseits alles Seins. Nun besteht wohl kein Zweifel, daß dieses Über-Sein nicht in der Weise

des Neuplatonismus als der Ursprung eines kosmischen Dramas gedacht werden darf und auch nicht als das Ziel einer Entrückung und mystischen Einung. Wohl aber ist es wahr, daß dieses Eine, das das Gute ist, wie der Philebos zeigt, überhaupt nicht in Einem faßbar ist, sondern nur in einer Dreiheit von Maß, Angemessenheit, Wahrheit, wie sie recht eigentlich dem

Wesen des Schönen zukommt. »Ist« das Gute überhaupt irgendwo, wenn nicht in der Gestalt des Schönen? Und heißt das nicht, daß es nicht als ein

Seiendes, sondern als die Unverborgenheit des Hervorkommens in die Sichtbarkeit (76 &xpav£ozarov Phaidr. 250d) gedacht ist? Selbst die Aristotelische Plato-Darstellung trägt dieser Sonderstellung des Guten indirekt Rechnung. Es wurde schon erwähnt, daß Aristoteles im Rahmen der praktischen Philosophie der Idee des Guten jede Relevanz abgesprochen hat und auf der anderen Seite die Kritik an der Ideenlehre ohne Blick auf die Idee des Guten führt. Aber das theoretische Problem der Einheit des Guten sieht er dann doch mit dem der Einheit des Seins so eng zusammen, daß man berechtigt ist, seine Denkwege, den der Analogie und den der Attribution, von seiner allgemeinen Perspektive für die platonische Ideenlehre ganz abzutrennen. Es zeigt sich an Aristoteles selbst, daß er sehr wohl zwischen der allgemeinen Annahme der Ideen und den von ihm aufgewiesenen logischen und ontologischen Unzuträglichkeiten auf der einen Seite und den Prinzipien dieser Annahme auf der anderen Seite zu scheiden weiß, die im 6. Kapitel der Metaphysik den Gegenstand bilden.

aB 23

e

Plato

245

Aristotelisch gesprochen, ist also das Gute - wie das Sein - nicht eine Idee unter anderen, sondern ein Erstes, eine Arche, und es ist nicht ganz klar, ob ‚das Gute selbst« das Eine ist, das zusammen mit der Zweiheit als Arche aller

Bestimmtheit der Ideen zugrunde liegt, oder ob es gar das Eine ist, dasnoch selbst dieser Zweiheit von Eins und unbestimmter Vielheit vorgeordnet ist. Eins aber steht fest: So wenig die Eins eine Anzahl ist, so wenig ist die Idee des Guten eine Idee im Sinne der Ideen, deren Annahme Aristoteles als inhaltslose Verdoppelung der Welt kritisiert. Nun ist von der Idee des Guten später nicht mehr die Rede, wenn die zentrale Frage der platonischen Dialektik, d.h. der Aöyos oVoiag zur Diskussion steht. Das gilt selbst noch für den Philebos, der es doch ganz ausdrücklich mit dem Guten zu tun hat, freilich dem Guten des menschlichen Lebens, aber doch so, daß er den Maßstab des Guten, der sich in der Gestalt des Schönen bestimmt, wie wir sahen, nicht unerörtert lassen kann.

Trotzdem wird die grundsätzliche Erörterung über die vier Gattungen ohne Auszeichnung der Idee des Guten geführt. Vollends im Sophistes und Parmenides ist die Erörterung der Platonischen Dialektik dem Anschein nach über die sogenannte Ideenlehre weit hinaus, und tatsächlich hat man diese Dialoge geradezu als eine Abkehr von der Ideenlehre verstanden. Die Lehre vom Logos des Seins, die in diesen dialektischen Dialogen entwickelt wird, wird jedenfalls so wenig wie die Idee des Guten von der Aristotelischen Chorismos-Kritik wirklich getroffen. Der »dogmatische Platonismus«, auf dem die Kritik des Aristoteles herumreitet,

findet hier keine rechte

Stütze. Im Gegenteil. Nicht nur, daß man seit längerem insbesondere das Schema

der Dihairesis,

das Plato als seine dialektische Methode

in den

Dialogen darstellt, als einen erfolgreichen Lösungsversuch des MethexisProblems verstanden hat (Natorp, N. Hartmann, J. Stenzel), der der

Aristotelischen Kritik den Boden entzieht. Weit wesentlicher ist, daß die

Begründung der Möglichkeit der Dialektik im Sinne der Dihairesis nicht selbst wieder mit dihairetischer Methode vollziehbar ist. Die Lehre von den obersten Gattungen will ja verständlich machen, wie Unterscheiden und Zusammensehen des Zusammengehörigen überhaupt möglich ist. Das aber ist offenbar in jeder Rede vom Vielen oder Einen vorausgesetzt. Die

sich als Teilhabe des Vielen am Einen, auf welchem Niveau immer sie

Problem stellen mag, hat als Trennung (Chorismos) wie als Überwindung es der Trennung (Dialektik) einen gemeinsamen Grund im Sein selbst: daß ist. Nicht-Sein Sein und In diesem Zusammenhang begegnet nun die Frage des Pseudos und spielt versteeine beständig beunruhigende Rolle. Man mag es zwar so ungefähr unterscheiden hen, daß, wenn Denken Unterscheiden ist, man auch falsch

beim kann - um das platonische Bild zu gebrauchen: daß man die Gelenke die der erweist, einer als damit sich und Zerlegen des Opfertieres verfehlt

246

Heideggers Wege

wahre Dialektik nicht beherrscht und deshalb in der Manier der Sophisten der Verwirrung des Logos anheimfällt. Aber wie diese Verwirrung eigentlich möglich

ist, wenn

man

das Sein des Eidos

als Parusia,

als reine

Gegenwärtigkeit versteht, bleibt unklar. So verstrickt sich die Frage nach dem Pseudos im Platonischen Theätet auf unheilbare Weise. Weder der Vergleich mit der Wachstafel noch der mit dem Taubenschlag führt auch nur einen einzigen Schritt weiter. Was soll das sein, was man - im Falle des Pseudos - mit dem »Anwesendsein« von Falschem meint? Was ist da da, wenn

eine Aussage falsch ist? Eine Taube des Falschen? Nun kann man sagen: Der »Sophistes« sucht doch diese Frage einer positiven Lösung entgegenzuführen, indem er den Nachweis führt, daß das Nichtsein »ist« und mit dem Sein unlösbar verbunden ist, wie die Verschiedenheit mit der Selbigkeit. Indessen, wenn Nichtsein nichts anderes meint als Verschiedenheit,

die ebenso

wie

Selbigkeit

allem unterscheidenden

Reden zugrunde liegt, dann wird zwar verständlich,

wie wahre Rede

möglich ist, aber nicht, wie Pseudos, Falschheit, Schein. Das Dasein des

Verschiedenen mit dem Identischen erklärt noch lange nicht das Dasein von etwas als etwas, das es nicht ist, sondern eben nur als das, das es ist, nämlich

dies und nichts anderes. Die bloße Kritik des eleatischen Seinsbegriffs genügt nicht, seine Prämisse, Sein als Anwesenheit im Logos zu denken, wirklich aufzuheben. Auch wenn Verschiedenheit eine Art Sichtbarkeit, ein Eidos des Nichtseins ist, bleibt die Frage des Pseudos rätselhaft. Indem sich das Dasein des Nicht als das Eidos der Andersheit hervorkehrt, verbirgt sich

recht eigentlich die Nichtigkeit des Pseudos. Man

kann höchstens so weit mit Plato weiterdenken,

daß man

eine

grundsätzliche Schranke im Sich-Hervorkehren des Nicht anerkennt. Sofern Andersheit immer nur in der Verschlingung mit der Selbigkeit, das heißt also, daß immer nur mit etwas jeweils Identifiziertem das Nichtsein alles anderen heraustritt, sind wir als Denkende in den unendlichen Diskurs gebannt. Nicht nur, daß es ein unendlicher Regreß ist, in den sich das

Unterscheiden verliert; in jeder einzelnen Unterscheidung ist vielmehr, weil in ihr die Selbigkeit impliziert ist, zugleich die unendliche Unbestimmtheit anwesend, die die Pythagoreer das Apeiron nannten: alles andere drängt sich mit auf. Insofern liegt im »Anwesen« selbst das Nicht. Das wird geradezu so formuliert (Soph. 258e), daß das Nichtsein in der Entgegensetzung zum Sein besteht. Als die Natur des Anderen, bzw. der Andersheit, ist es jeweils auf das gegenseitige Verhältnis der Seienden zueinander verteilt. Nur in dieser Verteiltheit begegnet es und nur so ist es Nichtsein. Es scheint'widersinnig, sich die Allheit aller Unterschiede als »da« überhaupt zu denken - und damit eine totale Anwesenheit des Nichtseins. Das Nicht der Andersheit ist insofern mehr als Verschiedenheit - es ist ein wirkliches Nicht des Seins. Es scheint mir dieses grundsätzliche Nicht im Sein, das Plato im Auge hatte,

247

Plato

wenn

er in der Vorlesung

‚Über

das Gute«,

wie es scheint,

neben

die

bestimmende Eins die unbestimmbare Zweiheit stellte. Mit der bloßen Anerkennung des Nicht der Andersheit und der Verschiedenheit wird die Nichtigkeit, die sich im Irrtum dartut, in Wahrheit verharmlost, und es setzt sich die Verbergung fort, die mit der eleatischen Niederhaltung des Nichts begann.

Man

denke etwa auch daran, wie in der Weltkonstruktion

des

Timaios zwar Selbigkeit und Verschiedenheit wie kosmologische Faktoren fungieren und Wissen und Doxa konstituieren - aber natürlich heißt das: dAnöns ööfa. Eine kosmologische Begründung der yevön 6ö&a fehlt. Hier ist nun gewiß der Punkt erreicht, an dem Heidegger die Grenze des metaphysischen Begriffs der Aletheia und damit den Beginn der Verstellung der Seinsfrage erblickt hat. Indessen kann man doch wohl auch umgekehrt sagen: Da im platonischen Denken die ontologische Frage nach dem Pseudos nicht wirklich gelöst wird und man sich dessen am Ende bewußt werden sollte, sieht man sich aufeine

Dimension gewiesen, in der Nichtsein nicht bloße Verschiedenheit und Sein

nicht bloße Identifizierbarkeit meint, sondern in der das Eine, Anfänglichere

liegt, das solcher Unterscheidung voraus ist und sie zugleich möglich macht. Die großartige Einseitigkeit des parmenideischen Lehrgedichts und seines Bestehens

auf dem

Sein, in dem

kein Nicht ist, machte ihrerseits den

Abgrund des Nichts sichtbar. Die platonische Anerkennung des Nicht im Sein verharmlost zwar das Nicht zum Andern des Seins, aber selbst sonoch

wird die Nichtigkeit des Nicht auf indirekte Weise zum Bewußtsein gebracht. Die Niederhaltung des Nichts durch seine Deutung als Verschiedenheit begegnet in einem Gesprächszusammenhang, der unausweichlich Anerkennung und ontologische Vertiefung in die Nichtigkeit des Nichts fordert. Denn nur dann weiß man, was der Sophist ist, wenn man ebennicht

nur Verschiedenheit, sondern »Schein« begreift. Schein ist nicht Verschiedenheit vom Sein, sondern sein »Anschein«. Es scheint mir nicht zu leugnen,

daß Plato sich der tieferen ontologischen Problematik, die hier vorliegt und die mit der Möglichkeit der »Sophistik« verknüpft ist, bewußt war. Weder die Verschiedenheit noch die irrige Unterscheidung noch die willentliche Verwechslung oder selbst die Falschaussage des Lügners reicht an das Phänomen der Sophistik heran, um dessen Aufklärung es Plato geht. Am _ ehesten noch ist der Hochstapler eine gute Analogie zum Sophisten - undein durch und durch verlogener Mensch, dem jeglicher Wahrheitssinn überhen haupt fehlt. Der Sophist wird nicht ohne Bedacht in dem platonisc selbst Aber t. eingereih Gespräch in die Klasse der unwissenden Nachahmer das ist noch nicht eindeutig genug. Erst die letzte Unterscheidung, dienoch Unterinnerhalb der unwissenden Nachahmer getroffen wird, nämlich die daß sie | scheidung zwischen denjenigen, die wirklich meinen zu wissen, ohne | wirklich wissen, und denjenigen, die insgeheim um ihre eigene Unwissen|

| ö

248

Heideggers Wege

heit wissen, aber sich dieselbe verbergen, aus Angst und Sorge um ihre eigene Überlegenheit, und die sich deshalb in den falschen Zauber der Rede hüllen, beschwört die ganze Macht der Nichtigkeit herauf. Abermals wird unterschieden. Es gibt zwei Formen solchen Redens, die gerade deshalb beide etwas Unheimliches haben, weil der Redende seine eigene Nichtigkeit

fühlt. Plato nennt sie die »sich-verstellenden Nachahmer«. Da ist auf der einen Seite der Demagoge, der vom Beifall lebt (so wie im Gorgias die Redekunst überhaupt als Schmeichelkunst charakterisiert wird), und auf der anderen Seite der Sophist, der im Diskutieren und Argumentieren siegreich dastehen

und das letzte Wort

behalten

muß.

Beide sind nicht Lügner,

sondern Hohlfiguren der Rede. Auf diesem Umwege erst weist die Anerkennung des Nicht durch den ‚Fremden: am Ende auf die Scheinhaftigkeit und Nichtigkeit der Sophistik. Freilich bleibt es unterschwellig, daß das Pseudos nicht bloß Irrtum ist, sondern das Unheimliche des Scheins in sich schließt. In der aristotelischen Theorie der Aletheia und des Pseudos, wie sie in dem 9. Buch der Metaphysik (Kapitel 10) u.ö. vorkommt, ist vollends überhaupt nichts mehr davon zu spüren. Man muß schon hinter Parmenides zurück oder über Hegel hinaus nach vorn blicken, wenn man die wahre Zugehörigkeit der Nichtigkeit des Scheins zum

Sein denken will und nicht mehr meint, sie als eine bloße

Beirrung durch den Irrtum abhalten zu können. Es war Heidegger, der diesen Schritt zurück versucht und eben damit den Schritt nach vorn getan hat, in dem die Grenze des griechischen Denkens der Aletheia und ihre Prägungskraft für die neuzeitliche Weltzivilisation erfahrbar wird. Denken darf dieser Grenze nicht ausweichen.

17. Die Wahrheit des Kunstwerks 1960

Wenn man heute auf die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen zurückblickt, so stellt sich einem diese Atempause im wirbelnden Geschehen unseres Jahrhunderts als eine Epoche von außerordentlicher geistiger Fruchtbarkeit dar. Vorboten des Kommenden mochten schon vor der großen Katastrophe des Ersten Weltkriegs, insbesondere in der Malerei und der Baukunst, sichtbar sein. Aber das allgemeine Zeitbewußtsein wandelte sich im großen erst mit der schweren

Erschütterung,

die die Material-

schlachten des Ersten Weltkrieges über das Kulturbewußtsein und den Fortschrittsglauben des liberalen Zeitalters brachten. In der Philosophie der Zeit prägte sich der Wandel des allgemeinen Lebensgefühls darin aus, daß die beherrschende Philosophie, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-

derts aus der Erneuerung des kritischen Idealismus Kants erwachsen war, mit einem Schlage unglaubwürdig erschien. »Der Zusammenbruch des deutschen Idealismus«, wie Paul Ernst in einem damals erfolgreichen Buche ihn verkündet hatte, wurde durch Oswald Spenglers ‚Untergang des Abendlandes: in einen weltgeschichtlichen Horizont gestellt. Die Kräfte, die die Kritik am

herrschenden

Neukantianismus

vollbrachten,

hatten zwei

gewaltige Vorkämpfer: Friedrich Nietzsches Kritik an Platonismus und Christentum und Sören Kierkegaards brillanten Angriff gegen die Reflexionsphilosophie des spekulativen Idealismus. Es waren zwei neue Parolen, die dem Methodenbewußtsein des Neukantianismus entgegengehalten wurden,

die Parole der Irrationalität des Lebens und insbesondere

des

geschichtlichen Lebens, für die man sich auf Nietzsche und Bergson, aber auch auf Wilhelm Dilthey, den großen Historiker der Philosophie, berufen

konnte; und die Parole der Existenz, die aus den Werken Sören Kierkegaards

erklang, dieses dänischen Philosophen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der jetzt erst durch die Diederichs-Übersetzung in Deutschland zur Wirksamkeit kam. Wie Kierkegaard Hegel als den Reflexionsphilosophen, der das Existieren vergessen habe, kritisiert hatte, so kritisierte man jetzt das selbstzufriedene Systembewußtsein des neukantianischen Methodologismus, der die Philosophie ganz in den Dienst einer Begründung der wissenschaftlichen Erkenntnis gestellt habe. Und wie Kierkegaard als ein

250

Heideggers Wege

christlicher Denker gegen die Philosophie des Idealismus aufgetreten war, so war es auch jetzt die radikale Selbstkritik der sogenannten dialektischen Theologie, die die neue Epoche eröffnete.

Unter den Männern, die der allgemeinen Kritik an der liberalen Kulturfrömmigkeit und an der herrschenden Kathederphilosophie den philosophischen Ausdruck gaben, war das revolutionäre Genie des jungen Martin Heidegger. Heideggers Auftreten als junger Freiburger Universitätslehrer machte in den ersten Nachkriegsjahren wahrhaft Epoche. Daß hier eine originäre Kraft des Philosophierens im Aufbrechen war, verriet schon die ungewöhnliche, kraftvolle und wuchtige Sprache, die von dem Freiburger Katheder ertönte. Aus der fruchtbaren und spannungsvollen Berührung mit der gleichzeitigen protestantischen Theologie, in die Heidegger durch seine Berufung nach Marburg im Jahre 1923 kam, erwuchs dann Heideggers Hauptwerk »Sein und Zeit«, das im Jahre 1927 mit einem Schlage weiten Kreisen der Öffentlichkeit etwas von dem neuen Geiste vermittelte, derüber

die Philosophie auf Grund der Erschütterungen des Ersten Weltkrieges gekommen war. Man nannte damals die Gemeinsamkeit des Philosophierens, die die Gemüter bewegte, Existenzphilosophie. Es waren kritische Affekte, Affekte des leidenschaftlichen Protestes gegen die gesicherte Bildungswelt der Älteren, Affekte gegen die Einebnung aller individuellen Lebensformen durch die sich immer stärker uniformierende industrielle Gesellschaft und ihre alles manipulierende Informationspolitik und Meinungsbildung, die dem zeitgenössischen Leser aus Heideggers systematischem Erstling mit Vehemenz entgegenschlugen. Dem »Man«, dem Gerede, der Neugier als Verfallsformen der Uneigentlichkeit setzte Heidegger den Begriff der Eigentlichkeit des Daseins entgegen, das sich seiner Endlichkeit bewußt ist und sie entschlossen annimmt. Der existenzielle Ernst, mit dem

hier das uralte Menschheitsrätsel des Todes ins Zentrum der philosophischen Besinnung gerückt wurde, die Wucht, mit der der Aufruf zur eigentlichen »Wahl« seiner Existenz die Scheinwelten von Bildung und Kultur zertrümmerte, war wie ein Einbruch in den wohlbehüteten akademi-

schen Frieden. Und doch war es nicht die Stimme eines maßlosen Außenseiters der akademischen Welt, nicht die Stimme einer gewagten Ausnahmeexistenz im Stile Kierkegaards oder Nietzsches, sondern der Schüler der redlichsten und gewissenhaftesten philosophischen Schule, die es damals an den deutschen Universitäten gab, der Schüler der phänomenologischen Forschung Edmund Husserls, deren beharrlich verfolgtes Ziel die Begründung der Philosophie als strenger Wissenschaft war. Auch Heideggers neuer philosophischer Wurf stellte sich unter die phänomenologische Parole »Zu den Sachen selbst!«. Diese Sache aber war die verborgenste, als Frage am meisten vergessene Frage der Philosophie: Was heißt Sein? Diese Frage fragen zu lernen ging Heidegger den Weg, das Sein des menschlichen

Die Wahrheit des Kunstwerks

251

Daseins in sich selbst ontologisch positiv zu bestimmen, statt es mit der bisherigen Metaphysik von einem unendlichen und immer seienden Sein her als das Nur-Endliche zu verstehen. Der ontologische Vorrang, den das Sein des menschlichen Daseins für Heidegger gewann, bestimmte seine Philosophie als »Fundamentalontologie«. Die ontologischen Bestimmungen des endlichen menschlichen Daseins nannte Heidegger Bestimmungen der Existenz, Existenzialien, und stellte diese Grundbegriffe mit methodischer

Entschiedenheit den Grundbegriffen der bisherigen Metaphysik, den Kategorien des Vorhandenen, entgegen. Daß das menschliche Dasein sein eigentliches Sein nicht in feststellbarer Vorhandenheit hat, sondern in der Bewegtheit der Sorge, mit der es um sein Sein bekümmert seine eigene Zukunft ist, das war es, was Heidegger nicht aus dem Auge verlieren wollte, wenn er die uralte Frage nach dem Sinn von Sein neu aufrührte. Das menschliche Dasein ist dadurch ausgezeichnet, daß es sich auf sein Sein hin selber versteht. Um der Endlichkeit und Zeitlichkeit des menschlichen Daseins willen, das die Frage nach dem Sinn seines Seins nicht ruhen zu lassen vermag, bestimmte sich ihm die Frage nach dem Sinn von Sein im Horizont der Zeit. Was die Wissenschaft wägend und messend als seiend feststellt, das Vorhandene,

ebenso wie das über alle Menschlichkeit hin-

ausliegende Ewige muß sich von der zentralen Seinsgewißheit der menschlichen Zeitlichkeit her verstehen lassen. Das war Heideggers neuer Einsatz. Aber sein Ziel, Sein als Zeit zu denken, blieb so verhüllt, daß »Sein und Zeit«

geradezu als hermeneutische Phänomenologie bezeichnet wurde, weil das Sichverstehen das eigentliche Fundament dieses Fragens darstellt. Von diesem Fundament her gesehen erweist sich das Seinsverständnis der traditionellen Metaphysik als eine Verfallsform des ursprünglichen, im menschlichen Dasein betätigten Seinsverständnisses. Sein ist nicht nur reine Anwesenheit und gegenwärtige Vorhandenheit. Im eigentlichen Sinne »ist« das endlich-geschichtliche Dasein. In seinem Weltentwurf hat sodann das Zuhandene seine Stelle- und erst zuletzt das Nur-Vorhandene. Von dem hermeneutischen Phänomen des Sichverstehens her haben aber

nun mancherlei Seinsformen keinen rechten Platz, die weder geschichtlich noch auch nur vorhanden sind. Die Zeitlosigkeit der mathematischen Sachverhalte, die nicht lediglich einfach feststellbar Vorhandenes sind, die Zeitlosigkeit der sich in ihrem Kreise immer wiederholenden Natur, die auch uns selber durchwaltet und vom Unbewußten her bestimmt, schließlich die Zeitlosigkeit des über alle geschichtlichen Abstände sich wölbenden Regenbogens der Kunst schienen die Grenzen der hermeneutischen Auslegungsmöglichkeit zu bezeichnen, die Heideggers neuer Ansatz eröffnet hatte. Das Unbewußte, die Zahl, der Traum, das Walten der Natur, das

Wunder der Kunst - all das schien nur am Rande des sich geschichtlich

252

Heideggers Wege

wissenden und sich auf sich selbst verstehenden Daseins wie in einer Art von Grenzbegriffen faßbar zu sein!. So bedeutete es eine Überraschung, als Heidegger im Jahre‘ 1936 in einigen Vorträgen den Ursprung des Kunstwerks behandelte. Wenn diese Arbeit auch erst 1950 als erstes Stück der Sammlung »Holzwege« der Öffentlichkeit zugänglich wurde, so hatte ihre Wirkung doch schon viel früher begonnen. Denn es war seit langem so, daß Heideggers Vorlesungen und Vorträge überall auf ein gespanntes Interesse stießen und in Abschriften und Berichten eine weite Verbreitung fanden, die ihn schnell

in das von ihm selbst so grimmig karikierte Gerede brachte. In der Tat bedeuteten die Vorträge über den Ursprung des Kunstwerks eine philosophische Sensation. Nicht dies allein, daß die Kunst nun doch in den hermeneutischen Grundansatz des Selbstverständnisses des Menschen in seiner Geschichtlichkeit einbezogen wurde, ja daß sie sogar in diesen Vorträgen — wie in Hölderlins und Georges dichterischem Glauben - als die Gründungstat ganzer geschichtlicher Welten verstanden wurde. Die eigentliche Sensation, die Heideggers neuer Denkversuch bedeutete, war die überraschend neue Begrifflichkeit, die sich bei diesem Thema hervorwagte. Von Welt und von Erde war dort die Rede. Nun war der Begriff der Welt seit jeher einer der hermeneutischen Leitbegriffe Heideggers gewesen. Die Welt als das Bezugsganze des Daseinsentwurfs bildete den Horizont, der allen Entwürfen menschlicher Daseinssorge vorgängig war. Heidegger selbst hat die Geschichte dieses Weltbegriffs skizziert und insbesondere den neutestamentlichen anthropologischen Sinn dieses Begriffes, wie er ihn selbst gebrauchte, von dem Begriff der Totalität des Vorhandenen wohl unterschieden und geschichtlich legitimiert. Das Überraschende aber war nun, daß dieser Begriff der Welt in dem Begriff der Erde einen Gegenbegriff erhielt. Denn während sich der Begriff der Welt als des Ganzen, in das hinein menschliche Selbstauslegung erfolgt, vom Selbstverständnis des menschlichen Daseins aus zu evidenter Anschauung erheben ließ, klang der Begriff der Erde wie ein mythischer und gnostischer Urlaut, der höchstens in der Welt der Dichtung Heimatrecht haben mochte. Offenkundig war es die Dichtung Hölderlins, der sich damals Heidegger mit leidenschaftlicher Intensität zugewandt hatte, aus der er den Begriff der Erde in sein eigenes Philosophieren übertrug. Aber mit welchem Recht? Wie sollte das sich auf sein Sein verstehende Dasein, das In-

der-Welt-sein, dieser neue radikale Ausgangspunkt alles transzendentalen Fragens, mit einem Begriff wie Erde in eine ontologische Beziehung treten können? 1 Es war vor allem Oskar Becker, der Schüler Husserls wie Heideggers, der von diesen Phänomenbereichen aus an der Universalität der Geschichtlichkeit zweifelte. Vgl. ‚Dasein und Dawesen«, Pfullingen 1963.

Die Wahrheit des Kunstwerks

253

Nun war Heideggers neuer Ansatz von »Sein und Zeit« gewiß nicht einfach eine Wiederholung der spiritualistischen Metaphysik des deutschen Idealismus. Das Sich-auf-sein-Sein-Verstehen des menschlichen Daseins ist nicht das Sich-Wissen des absoluten Geistes Hegels. Es ist kein Selbstentwurf, sondern weiß vielmehr in seinem eigenen Selbstverständnis, daß es nicht Herr seiner selbst und seines eigenen Daseins ist, sondern sich inmitten des Seienden vorfindet und sich so zu übernehmen hat, wie es sich

vorfindet. Es ist geworfener Entwurf. Es war eine der glänzendsten phänomenologischen Analysen von »Sein und Zeit«, in der Heidegger diese Grenzerfahrung der Existenz, sich inmitten des Seienden vorzufinden, als

Befindlichkeit analysierte und der Befindlichkeit, der Stimmung, die eigentliche Erschließung des In-der-Welt-Seins zuwies. Das Vorfindliche solcher Befindlichkeit stellt aber offenkundig die äußerste Grenze dessen dar, bis wohin das geschichtliche Selbstverständnis des menschlichen Daseins überhaupt vordringen konnte. Von diesem hermeneutischen Grenzbegriff der Befindlichkeit und der Stimmung führt kein Weg zu einem solchen Begriff wie dem der Erde. Was ist das Recht dieses Begriffes? Wie kann er seine Ausweisung finden? Die wichtige Einsicht, die Heideggers Aufsatz über den Ursprung des Kunstwerks eröffnet, ist, daß »Erde« eine notwendige Seinsbestimmung des Kunstwerks ist. Um zu erkennen, welche grundsätzliche Bedeutung die Frage nach dem Wesen des Kunstwerks besitzt und wie dieselbe mit den Grundfragen der Philosophie zusammenhängt, bedarf es freilich der Einsicht in die Vorurteile, die im Begriff einer philosophischen Ästhetik liegen. Es bedarf einer

Überwindung des Begriffs der Ästhetik selbst. Bekanntlich ist die philoso-

phische Ästhetik die jüngste unter den philosophischen Disziplinen. Erst im 18. Jahrhundert, in der ausdrücklichen Beschränkung des Rationalismus der Aufklärung, wurde das selbständige Recht der sinnlichen Erkenntnis und damit die relative Unabhängigkeit des Geschmacksurteils vom Verstande und seinen Begriffen geltend gemacht. Wie der Name der Disziplin, so datiert auch ihre systematische Selbständigkeit von der Ästhetik des Alexander Baumgarten her. Kant hat dann in seiner dritten Kritik, der Kritik der Urteilskraft, die systematische Bedeutung des ästhetischen

Problems gefestigt. Er entdeckte in der subjektiven Allgemeinheit des ästhetischen Geschmacksurteils den überzeugenden Rechtsanspruch, den die ästhetische Urteilskraft gegenüber den Ansprüchen des Verstandes und der Moral behaupten kann. Der Geschmack des Betrachters läßt sich so wenig wie das Genie des Künstlers als die Anwendung von Begriffen, Normen oder Regeln begreifen. Was das Schöne auszeichnet, läßt sich nicht als bestimmte erkennbare Eigenschaften an einem Gegenstande ausweisen, sondern bezeugt sich durch Subjektives: die Steigerung des Lebensgefühls in der harmonischen Entsprechung von Einbildungskraft

s

254

Heideggers Wege

und Verstand. Es ist eine Belebung des Ganzen unserer geistigen Kräfte, ihr freies Spiel, was wir angesichts des Schönen in Natur und Kunst erfahren. Das Geschmacksurteil ist nicht Erkenntnis und ist doch nicht beliebig.

Es liegt darin

ein Allgemeinheitsanspruch,

auf den

sich die

Autonomie des ästhetischen Bereichs begründen läßt. Man muß anerkennen, daß solche Rechtfertigung der Autonomie der Kunst gegenüber der Regelfrömmigkeit und Moralgläubigkeit des Aufklärungszeitalters eine große Leistung bedeutete. Vor allem innerhalb der deutschen Entwicklung, die damals gerade erst den Punkt erreicht hatte, an dem ihre klassische Epoche der Literatur sich von Weimar aus wie ein ästhetischer Staat zu konstituieren suchte. Diese Bemühungen fanden in Kants Philosophie ihre begriffliche Rechtfertigung.

Auf der anderen Seite bedeutete die Grundlegung der Ästhetik in der Subjektivität der Gemütskräfte den Beginn einer gefährlichen Subjektivierung. Für Kant selbst war freilich noch der geheimnisvolle Einklang bestimmend, der damit zwischen der Schönheit der Natur und der Subjektivität des Subjekts, das urteilt, besteht. Vollends wird das schaffende Genie, das allen Regeln überlegen das Wunder des Kunstwerks zustande bringt, von ihm als ein Günstling der Natur verstanden. Das aber setzt im ganzen die fraglose Geltung der Naturordnung voraus, deren letztes Fundament der theologische Gedanke der Schöpfung ist. Mit dem Schwinden

dieses Horizontes mußte eine solche Grundlegung der Ästhetik zu einer radikalen Subjektivierung führen, in Fortbildung der Lehre von der Regellosigkeit des Genies. Die Kunst, die nicht mehr auf das umfassende Ganze der Seinsordnung zurückbezogen ist, wird der Wirklichkeit, der rauhen

Prosa des Lebens, als die verklärende Macht der Poesie entgegengesetzt, der nur in ihrem ästhetischen Reiche die Versöhnung von Idee und

Wäaklichkeit gelinge. Esistidie.äisaliräche Ähatik; dirmiete beiSchäihe

zu Worte kommt und in Hegels großartiger Ästhetik ihre Vollendung findet. Auch hier steht die Theorie des Kunstwerks noch in einem universalen ontologischen Horizont. Sofern im Kunstwerk der Ausgleich und die Versöhnung des Endlichen und Unendlichen überhaupt gelingt, ist es das Unterpfand einer höchsten Wahrheit, die am Ende von der Philosophie einzubringen ist. Wie die. Natur für den Idealismus nicht nur der Gegen-

stand der berechnenden Wissenschaft der Neuzeit ist, sondern das Walten einer großen schöpferischen Weltpotenz, die sich im selbstbewußten Geiste Begriff vonsich selbst, sondern seine Erscheinung inderArt und Weise,

die Welt anzuschauen. Kunst ist im wörtlichen Sinne des Wortes WeltAnschauung.

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Die Wahrheit des Kunstwerks

255

über das Wesen des Kunstwerks nachzudenken anhebt, muß man sich nun klarmachen, daß die idealistische Ästhetik, die dem Kunstwerk als dem

Organon eines unbegrifflichen Verständnisses der absoluten Wahrheit eine ausgezeichnete Bedeutung zugewiesen hatte, längst durch die Philosophie des Neukantianismus überdeckt war. Diese herrschende philosophische Bewegung hatte die Kantische Begründung der wissenschaftlichen Erkenntnis erneuert, ohne den metaphysischen Horizont einer teleologischen Seinsordnung wiederzugewinnen, wie er Kants Beschreibung der ästhetischen Urteilskraft zugrundelag. So war das Denken des Neukantianismus über die ästhetischen Probleme mit eigentümlichen Vorurteilen belastet. Die Exposition des Themas in Heideggers Abhandlung spiegelt das deutlich. Sie setzt mit der Frage nach»der Abgrenzung des Kunstwerks vom Ding ein. Daß das Kunstwerk auch ein Ding ist und nur über sein Dingsein hinaus noch etwas anderes bedeutet, als Symbol auf etwas verweist oder als Allegorie etwas anderes zu verstehen gibt, beschreibt die

Seinsweise des Kunstwerks von dem ontologischen Modell aus, das durch den systematischen Vorrang der wissenschaftlichen Erkenntnis gegeben ist. Was eigentlich ist, das ist das Dinghafte, die Tatsache, das den Sinnen

Gegebene, das von der Naturwissenschaft einer objektiven Erkenntnis entgegengeführt wird. Die Bedeutung, die ihm zukommt, der Wert, den es hat, sind dagegen zusätzliche Auffassungsformen von nur subjektiver Geltung und gehören weder zur ursprünglichen Gegebenheit selbst noch zu der aus ihr zu gewinnenden objektiven Wahrheit. Sie setzen das Dinghafte als das allein Objektive voraus, das der Träger solcher Werte zu werden vermag. Für die Ästhetik mußte das bedeuten, daß das Kunstwerk in einem ersten vordergründigen Aspekt selbst einen dinglichen Charakter besitzt, der die Funktion eines Unterbaus hat, auf den sich das eigentlich

ästhetische Gebilde als Oberbau erhebt. So beschreibt noch Nicolai Hartmann die Struktur des ästhetischen Gegenstandes. Heidegger knüpft an diese ontologische Vormeinung an, indem er nach der Dinglichkeit des Dinges fragt. Er unterscheidet drei in der Tradition j entwickelte Auffassungsweisen des Dinges: Es ist Träger von Eigenschaften, es ist Einheit einer Empfindungsmannigfaltigkeit und es ist geformter Stoff. Vor allem die dritte dieser Auffassungsformen, die nach Form und Stoff, hat etwas unmittelbar Einleuchtendes. Denn sie folgt dem Modell des Herstellens, durch das ein Ding verfertigt wird, das unseren Zwecken zu dienen hat. Heidegger nennt solche Dinge »Zeug«. Die Dinge insgesamt erscheinen vom Vorbild dieses Modells aus theologisch gesehen als Verfertigungen, das heißt Schöpfungen Gottes, menschlich gesehen als seiner Zeughaftigkeit verlustig gegangenes Zeug. Die Dinge sind die bloßen

Dinge, das heißt, sie sind da, ohne Rücksicht darauf, ob sie zu etwas

dienen. Heidegger zeigt nun, daß ein solcher Begriff des Vorhandenseins,

256

Heideggers Wege

wie er dem feststellenden und berechnenden Verfahren der modernen Wissenschaft entspricht, weder das Dinghafte des Dinges noch das Zeughafte des Zeuges zu denken erlaubt. Um der Zeughaftigkeit des Zeuges ansichtig zu werden, knüpft er deshalb an eine künstlerische Darstellung an, ein Gemälde

van Goghs,

das Bauernschuhe

darstellt. Was an diesem

Kunstwerk sichtbar wird, ist das Zeug selbst, das heißt, nicht irgendein Seiendes, das für irgendwelche Zwecke nutzbar gemacht werden kann, sondern etwas, dessen Sein es ausmacht, jemandem, dem diese Schuhe gehören, gedient zu haben und zu dienen. Was im Werk des Malers hervortritt und was es mit Eindringlichkeit darstellt, sind nicht ein paar zufällige Bauernschuhe, sondern das wahre Wesen des Zeugs, das sie sind.

Die ganze Welt des bäuerlichen Lebens ist in diesen Schuhen. So ist es das Werk

der Kunst,

das hier die Wahrheit

über das Seiende hervorbringt.

Vom Werk und keineswegs von seinem dinglichen Unterbau her ist solches Hervorkommen von Wahrheit, wie in ihm geschieht, allein zu denken. So stellt sich die Frage, was ein Werk ist, daß dergestalt in ihm Wahrheit

hervorkommen kann. Im Gegensatz zu dem geläufigen Ansatz bei der Dinghaftigkeit und Gegenständlichkeit des Kunstwerks ist ein Kunstwerk gerade dadurch charakterisiert, daß es nicht Gegenstand ist, sondern in sich selber steht. Durch sein In-sich-Stehen gehört es nicht nur zu seiner Welt,

sondern in ihm ist Welt da. Das Kunstwerk eröffnet seine eigene Welt. Gegenstand ist etwas nur, wo etwas nicht mehr in das Gefüge seiner Welt gehört, weil die Welt zerfallen ist, der es angehört. So ist ein Kunstwerk ein Gegenstand, wenn es im Handel ist. Denn dann ist es welt- und heimatlos.

Die Charakterisierung des Kunstwerks durch das In-sich-Stehen und das Welt-Eröffnen, mit der Heidegger einsetzt, vermeidet offenbar bewußt jeden Rückgriff auf den Geniebegriff der klassischen Ästhetik. Es ist in dem Bestreben, die ontologische Struktur des Werkes unabhängig von der Subjektivität seines Schöpfers oder Betrachters zu verstehen, daß Heidegger nun neben dem Begriff der Welt, zu der das Werk gehört und die das Werk aufstellt und eröffnet, den Gegenbegriff »Erde« gebraucht. Erde ist insofern ein Gegenbegriff zu Welt, als sie im Gegensatz zu dem SichÖffnen das In-sich-Bergen und Verschließen auszeichnet. Beides ist offenbar im Kunstwerk da, das Sich-Öffnen ebenso wie das Sich-Verschließen. Ein Kunstwerk meint ja nicht etwas, verweist nicht wie ein Zeichen auf eine Bedeutung, sondern es stellt sich in seinem eigenen Sein dar, so daß der Betrachter zum Verweilen bei ihm genötigt wird. Es ist so sehr selbst da, daß umgekehrt das, woraus es gemacht ist, Stein, Farbe, Ton, Wort,

selbst erst in ihm zu eigentlichem Dasein kommt. Solange so etwas bloßer Stoff ist, der seiner Verarbeitung harrt, ist es nicht wirklich da, das heißt, hervorgekommen in eine echte Präsenz, sondern erst dann kommt es selbst

Die Wahrheit des Kunstwerks

AST!

hervor, wenn es gebraucht, das heißt aber in das Werk gebunden ist. Die Töne, aus denen ein musikalisches Meisterwerk besteht, sind mehr Töne als alle Geräusche und Töne sonst, die Farben der Gemälde sind eigentlichere Farbigkeit als selbst der höchste

Farbenschmuck

der Natur,

die

Tempelsäule läßt das Steinerne ihres Seins im Ragen und Tragen eigentlicher erscheinen als in dem unbehauenen Gesteinsblock. Was so im Werk hervorkommt,

ist nun gerade sein Verschlossensein und Sichverschließen,

das was Heidegger Erde-Sein nennt.

Erde ist in Wahrheit nicht Stoff,

sondern das, woraus alles hervorkommt und wohinein alles eingeht.

Hier zeigt sich die Unangemessenheit der Reflexionsbegriffe von Form und Stoff. Wenn man sagen kann, daß in einem großen Kunstwerk eine Welt aufgeht«, so ist der Aufgang dieser Welt zugleich ihr Eingang in die ruhende Gestalt; indem die Gestalt dasteht, hat sie gleichsam ihr erdhaftes

Dasein gefunden. Daraus gewinnt das Werk der Kunst seine ihm eigene Ruhe. Es hat sein eigentliches Sein nicht erst in einem erlebenden Ich, das

sagt, meint oder zeigt und dessen Gesagtes, Gemeintes oder Gezeigtes seine

Bedeutung wäre. Sein Sein besteht nicht darin, daß es zum Erlebnis wird, sondern es ist selbst durch sein eigenes Dasein ein Ereignis, ein Stoß, der alles Bisherige und Gewohnte umstößt, ein Stoß, in dem sich Welt öffnet,

die so nie da war. Dieser Stoß ist aber im Werk selbst derart geschehen, daß er zugleich ins Bleiben geborgen ist. Was so aufgeht und sich so birgt, macht in seiner Spannung die Gestalt des Werkes aus. Es ist diese Spannung, die Heidegger als den Streit von Welt und Erde bezeichnet. Damit ist nicht nur eine Beschreibung der Seinsweise des Kunstwerks gegeben, die die Vorurteile der traditionellen Ästhetik und des modernen Subjektivitätsdenkens vermeidet. Heidegger erneuert damit auch nicht einfach die

spekulative Ästhetik, die das Kunstwerk als das sinnliche Scheinen der Idee

definiert hat. Diese Hegelsche Definition des Schönen teilt zwar mit Heideggers eigenem Denkversuch die grundsätzliche Überwindung des Gegensatzes von Subjekt und Objekt, Ich und Gegenstand und beschreibt das Sein des Kunstwerkes nicht von der Subjektivität des Subjektes her. Aber sie beschreibt es doch auf sie hin. Denn es ist die im seiner selbst bewußten Denken gedachte Idee, deren sinnliche Manifestation das Kunst-

werk ausmachen soll. Im Denken der Idee wäre also die ganze Wahrheit des sinnlichen Scheinens aufgehoben. Sie gewinnt im Begriff die eigentliche Gestalt ihrer selbst. Wenn Heidegger dagegen von dem Streit von Welt und Erde spricht und das Kunstwerk als den Stoß beschreibt, durch den eine Wahrheit

zum

Ereignis wird, so ist diese Wahrheit

nicht in der

Wahrheit des philosophischen Begriffs aufgehoben und vollendet. Es ist eine eigene Manifestation von Wahrheit, die im Kunstwerk geschieht. Die Berufung auf das Kunstwerk,

in dem Wahrheit hervorkommt,

soll bei

Heidegger gerade bezeugen, daß es sinnvoll ist, von einem Geschehen der

258

Heideggers Wege

Wahrheit zu reden. Heideggers Aufsatz beschränkt sich daher nicht darauf, eine angemessenere Beschreibung vom Sein des Kunstwerks zu geben. Es ist vielmehr sein zentrales philosophisches Anliegen, das Sein selbst als ein Geschehen der Wahrheit zu begreifen, das sich auf diese Analyse stützt. Man hat Heideggers Begriffsbildung in seinem späteren Werk oft den Vorwurf gemacht,

daß sie sich nicht mehr ausweisen

lasse. Es ist nicht

möglich, das von Heidegger Gemeinte, zum Beispiel, wenn er von Sein im verbalen Sinne des Wortes, von Seinsgeschehen,

von Lichtung des Seins,

von Seinsentbergung und Seinsvergessenheit spricht, in der Subjektivität unseres eigenen Meinens gleichsam zur Erfüllung zu bringen. Die Begriffsbildung, die Heideggers späte philosophische Arbeiten beherrscht, ist der subjektiven Ausweisung offenbar ähnlich verschlossen wie Hegels dialektischer Prozeß

dem verschlossen ist, was Hegel das vorstellende Denken

nennt. Sie findet daher eine ähnliche Kritik, wie Hegels Dialektik durch Marx gefunden hat. Man nennt sie »mythologisch«. Der Aufsatz über das Kunstwerk scheint mir seine fundamentale Bedeutung darin zu haben, daß er für das eigentliche Anliegen des späten Heidegger einen Fingerzeig darstellt. Niemand kann sich dem verschließen, daß im Kunstwerk, in dem eine Welt aufgeht, nicht nur Sinnvolles erfahrbar wird, das vorher nicht erkannt war, sondern daß mit dem Kunstwerk selber etwas Neues ins

Dasein tritt. Es ist nicht die Offenlegung einer Wahrheit allein, sondern es ist selbst ein Ereignis. Damit bietet sich ein Weg, um Heideggers Kritik an der abendländischen Metaphysik und ihrem Auslaufen in das Subjektivitätsdenken der Neuzeit einen Schritt weit zu folgen. Heidegger hat bekanntlich das griechische Wort für Wahrheit, Aletheia, durch Unverborgenheit wiedergegeben. Die starke Betonung des privativen Sinnes von Aletheia meint aber nicht nur dies, daß die Erkenntnis der Wahrheit wie durch einen Akt des

Raubes - privatio heißt »Beraubung« — das Wahre aus seiner Unerkanntheit oder der Verborgenheit im Irrtum herausgerissen hat. Nicht darum allein handelt es sich, daß die Wahrheit nicht auf der Straße liegt und nicht immer schon gängig und zugänglich ist. Das ist gewiß wahr, und die Griechen haben das offenkundig sagen wollen, wenn sie das Seiende, wie es ist, als das

Unverborgene bezeichneten. Sie haben gewußt, wie jede Erkenntnis vom Irrtum und von der Lüge bedroht ist und daß es darauf ankommt, sich nicht zu irren und die richtige Vorstellung von dem Seienden, wie es ist, zu gewinnen. Wenn es in der Erkenntnis darauf ankommt, den Irrtum hinter sich zu lassen, so ist die Wahrheit die reine Unverborgenheit des Seienden. Das ist es, was das griechische Denken im Blick hat, und damit ist es schon auf dem Wege, den die neuzeitliche Wissenschaft schließlich bis zu Ende gehen sollte, die Richtigkeit der Erkenntnis zu bewerkstelligen, durch die

das Seiende in seiner Unverborgenheit verwahrt wird. Heidegger hält dem entgegen, daß Unverborgenheit nicht nur der

Die Wahrheit des Kunstwerks

259

Charakter des Seienden ist, sofern es richtig erkannt ist. In einem ursprünglicheren Sinne »geschieht« Unverborgenheit, und dieses Geschehen ist etwas, was überhaupt erst möglich macht, daß Seiendes unverborgen ist und richtig erkannt wird. Die Verborgenheit, die solcher ursprünglichen Unverborgenheit entspricht, ist nicht Irrtum, sondern gehört ursprünglich zum Sein selbst. Die Natur, die sich zu verbergen liebt (Heraklit), ist dadurch nicht nur hinsichtlich ihrer Erkennbarkeit charakterisiert, sondern ihrem Sein nach. Sie ist nicht nur das Aufgehen ins Lichte, sondern ebensosehr das

Sichbergen ins Dunkle, die Entfaltung der Blüte der Sonne zu ebenso wie das Sichverwurzeln in der Erdtiefe. Heidegger redet von der Lichtung des Seins, die erst den Bereich darstellt, in dem Seiendes als ent-borgen und in seiner Unverborgenheit erkannt wird. Solches Hervorkommen des Seienden ins »Da« seines Daseins setzt offenbar einen Bereich der Offenheit voraus, in dem solches Da geschehen kann. Und doch ist ebenso offenkundig, daß dieser Bereich nicht ist, ohne daß sich in ihm Seiendes zeigt, das heißt, ohne daß es Offenes gibt, das die Offenheit besetzt. Das ist ohne Frage

ein merkwürdiges Verhältnis. Und noch merkwürdiger ist, daß im Da dieses Sichzeigens des Seienden sich gerade auch erst die Verborgenheit des Seins darstellt. Was durch die Offenbarkeit des Da ermöglicht wird, ist das richtige Erkennen. Das Seiende, das hervorkommt aus der Unverborgenheit, stellt sich für den dar, der es gewahrt. Gleichwohl ist es nicht ein Willkürakt des Ent-bergens, die Ausübung eines Raubes, durch den etwas

der Verborgenheit entrissen wird. Dies alles soll vielmehr nur dadurch ermöglicht sein, daß Entbergung und Verbergung ein Geschehen des Seins selber sind. Das zu verstehen, hilft uns das gewonnene Verständnis des Wesens des Kunstwerks. Dort ist es offenkundig eine Spannung zwischen dem Aufgang und der Bergung, die das Sein des Werkes selber ausmacht. Die Gespanntheit dieser Spannung ist es, die das Gestaltniveau eines Kunstwerks ausmacht und den Glanz erzeugt, durch den es alles überstrahlt. Seine Wahrheit ist nicht das plane Offenliegen von Sinn, sondern vielmehr die Unergründlichkeit und Tiefe seines Sinnes. So ist es seinem Wesen nach Streit zwischen Welt und Erde, Aufgang und Bergung. Was so am Kunstwerk seine Ausweisung findet, soll aber das Wesen des Seins überhaupt ausmachen. Streit von Entbergung und Verbergung ist nicht nur die Wahrheit des Werkes, sondern die alles Seienden. Denn

Wahrheit ist als Unverborgenheit stets ein solches Gegeneinander von Entber‚gung und Verbergung. Beides gehört notwendig zusammen. Das will offenbar

sagen, Wahrheit ist nicht einfach schlechthinnige Anwesenheit von Seien-

dem, so daß es dem richtigen Vorstellen gleichsam entgegensteht. Ein solcher Begriff des Unverborgenseins setzte vielmehr die Subjektivität des das Seiende vorstellenden Daseins bereits voraus. Das Seiende ist aber in seinem Sein nicht richtig bestimmt, wenn es lediglich als Gegenstand des

260

Heideggers Wege

möglichen Vorstellens bestimmt ist. Zu seinem Sein gehört vielmehr ebensosehr, daß es sich versagt. Die Wahrheit als Unverborgenheit ist in sich selbst gegenwendig. Es ist im Sein, wie Heidegger sagt, so etwas wie eine ‚Gegnerschaft des Anwesens«. Was Heidegger damit zu beschreiben sucht, ist für jedermann einlösbar. Was ist, das bietet nicht nur als Oberfläche einen kenntlichen oder vertrauten Umriß, es hat auch eine innere Tiefe der Selbständigkeit, die Heidegger als »Insichstehen« bezeichnet. Die vollendete Unverborgenheit alles Seienden, die totale Vergegenständlichung von allem und jedem (durch ein in seiner Perfektion gedachtes Vorstellen), würde das Insichsein des Seienden aufheben und eine totale Einebnung bedeuten. Was sich in solchem totalen Vergegenständlichen darstellen würde, wäre nir-

gends mehr Seiendes, das in seinem eigenen Sein steht. Was sich darstellen würde, wäre vielmehr an allem, was ist, das gleiche: die Chance seiner Nutzbarkeit, das heißt aber: was in allem hervorträte, wäre der sich des

Seienden bemächtigende Wille. Demgegenüber wird jedem am Kunstwerk die Erfahrung zuteil, daß es gegen solchen Bemächtigungswillen ein schlechthin Widerständiges

ist, nicht im Sinne des starren Widerstandes

gegen die Zumutung unseres Willens, der nutzen möchte, sondern im Sinne des überlegenen Sich-aufdrängens eines in sich ruhenden Seins. So ist die Geschlossenheit und Verschlossenheit des Kunstwerks das Unterpfand und der Ausweis für die universale These der Heideggerschen Philosophie, daß das Seiende sich selbst zurückhält, indem es sich ins Offene des Anwesens

hineinstellt. Das Insichstehen des Werkes verbürgt zugleich das Insichstehen des Seienden überhaupt. Damit öffnen sich bereits in dieser Analyse des Kunstwerks Perspektiven, die den weiteren Denkweg Heideggers vorzeichnen. Es war der Weg über das Werk gewesen, in dem sich die Zeugheit des Zeuges und am Ende auch die Dingheit des Dinges allein zu zeigen vermochte. Wie die allberechnende moderne Wissenschaft den Verlust der Dinge bewirkt, deren »zu nichts gedrängtes Insichstehen« in Rechenfaktoren seines Entwerfens und Veränderns auflöst, so bedeutet umgekehrt das Kunstwerk eine Instanz, die vor dem allgemeinen Verlust der Dinge bewahrt. Wie Rilke inmitten des allgemeinen Schwindens der Dingheit die Unschuld des Dinges dichterisch verklärt, indem er es dem Engel zeigt, so denkt der Denker den gleichen Verlust der Dingheit, indem er zugleich ihre Bewahrung im Kunstwerk erkennt. Bewahrung aber setzt voraus, daß das Bewahrte in Wahrheit noch ist. So impliziert es die Wahrheit des Dinges selbst, wenn im Kunstwerk seine Wahrheit noch hervorzukommen vermag. Heideggers Aufsatz über das Ding stellt daher einen notwendigen weiteren Schritt auf dem Wege seines Denkens dar. Was ehedem nicht einmal das Zuhandensein des Zeugs erreichte, sondern dem bloßen Anstarren oder Feststellen als vorhanden

Die Wahrheit des Kunstwerks

261

galt, wird jetzt selbst, gerade als das zu nichts Dienliche, in seinem »heilen« Sein anerkannt. Aber noch ein weiterer Schritt auf diesem Wege läßt sich von hier aus schon erkennen. Heidegger betont, daß das Wesen der Kunst das Dichten sei. Er will damit sagen, daß nicht die Umformung von Vorgeformtem, nicht die Abbildung von zuvor schon Seiendem das Wesen der Kunst ausmacht,

sondern

der

Entwurf,

durch

den

etwas

Neues

als Wahres

hervorkommt: Daß »sich eine offene Stelle aufschlägt«, das macht das Wesen des Wahrheitsgeschehens aus, das im Kunstwerk liegt. Nun ist aber doch das Wesen der Dichtung im gewohnten engeren Sinne des Wortes gerade durch die wesenhafte Sprachlichkeit gekennzeichnet, durch die sich Dichtung von allen übrigen Weisen der Kunst unterscheidet. Wenn in jeder Kunst, auch im Bauen und im Bilden, der eigentliche Entwurf und das wahrhaft Künstlerische »Dichtung« genannt werden mag, so ist doch die Art Entwurf, die im wirklichen Gedicht geschieht, anderer Art. Der Entwurf

des dichterischen Kunstwerkes ist an ein Vorgebahntes gebunden, das nicht von sich aus neu entworfen werden kann: die vorgebahnten Bahnen der Sprache. Auf sie ist der Dichter so sehr angewiesen, daß die Sprache des dichterischen Kunstwerkes nur diejenigen zu erreichen vermag, die der gleichen Sprache mächtig sind. In gewissem Sinne ist also »Dichtung«, die den Entwurfscharakter alles künstlerischen Schaffens bei Heidegger symbolisieren soll, weniger Entwurf als die sekundären Formen des Bauens und Bildens aus Stein und Farbe und Tönen. In Wahrheit ist hier das Dichten wie in zwei Phasen geteilt: in einen Entwurf, der immer schon geschehen ist, wo eine Sprache waltet, und einen anderen, der die neue dichterische Schöpfung aus diesem ersten Entwurf hervorgehen läßt. Die Vorgängigkeit der Sprache scheint nicht nur die besondere Auszeichnung des dichterischen Kunstwerks auszumachen, sie scheint über alles Werk hinaus für jedes Dingsein der Dinge selber zu gelten. Das Werk der Sprache ist die ursprünglichste Dichtung des Seins. Das Denken, das alle Kunst als Dichtung denkt und das Sprachesein des Kunstwerks enthüllt, ist selbst noch unterwegs zur

Sprache.

18. Martin Heidegger — 85 Jahre 1974

Wenn Martin Heidegger in diesen Tagen seinen 85. Geburtstag gefeiert hat, mag das für manchen Jüngeren eine wahre Überraschung bedeuten. Seit so vielen Jahrzehnten steht das Denken dieses Mannes im allgemeinen Bewußtsein, ist seine Präsenz in den wechselvollen Zeitläuften unseres Jahrhunderts bei allem Wandel der Konstellationen unbestritten. Zeiten der Heidegger-Nähe und der Heidegger-Ferne wechseln sich ab, wie das nur bei wahrhaft großen Gestirnen der Fall ist, die die Epochen bestimmen. Da war die Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, in der das Wirken des jungen Assistenten Husserls in Freiburg begann. Schon damals ging eine unvergleichliche Ausstrahlung von ihm aus. Dann kam, in den fünf Jahren, die Heidegger in Marburg lehrte, der steile Anstieg seiner akademischen Wirkung, die 1927 mit »Sein und Zeit: in die Öffentlichkeit drang, und mit einem Schlage war der Weltruhm da. In unseren Zeiten, in diesem seit 1914 provinzialisierten Europa, in dem sonst nur die Naturwissenschaften ein rasches internationales Echo hervorzurufen vermochten —- man denke an Namen wie Einstein, Planck und

Heisenberg - und allenfalls noch Theologen, die durch die Kirche über die nationalstaatlichen Schranken hinweggetragen wurden, wie etwa Karl Barth, war der Ruhm des jungen Heidegger, der durch die Welt ging, etwas Einzigartiges. Als nach dem Ende des Dritten Reichs Heidegger wegen seines anfänglichen Engagements für Hitler seine Freiburger Professur nicht ausüben konnte, setzte eine wahre internationale Wallfahrt nach Todtnauberg ein, wo Heidegger auf seiner Hütte, einem sehr bescheidenen Häuschen oben im Schwarzwald, den größeren Teil des Jahres zubrachte. Die fünfziger Jahre stellten dann abermals einen Höhepunkt seiner Präsenz dar, obwohl er kaum noch als Lehrer tätig wurde. Aber ich erinnere mich aus dieser Zeit, wie er zu einem Hölderlin-Vortrag nach Heidelberg kam und was es für ein technisches Problem war, den lebensgefährlichen

Andrang in die große Aula der Neuen Universität einigermaßen zu bewältigen. Und so war es bei jedem Auftreten des Mannes in der Öffentlichkeit. Dann kamen, mit der stürmischen Entwicklung von Wirtschaft und Technik, von Wohlstand und Komfort, neue, nüchterne Denkweiseninder

akademischen Jugend auf. Technologie und marxistische Ideologiekritik

Martin Heidegger- 85 Jahre

263

wurden die bestimmenden geistigen Mächte, und Heidegger verschwand aus dem von ihm ehedem so böse charakterisierten »Gerede« — bis ihn ın unseren Tagen anscheinend eine neue Jugend langsam wiederentdeckt, als ob er ein vergessener Klassiker wäre. Was ist das Geheimnis dieser dauerhaften Präsenz? Es hat ihm doch wirklich nicht an Gegnern gefehlt und fehlt ihm bis heute nicht. In den zwanziger Jahren hatte er sich gegen den Widerstand unzähliger Formen von akademischer Biederkeit durchzusetzen, und die zehn Jahre von 1935 bis 1945, und nicht minder entschieden die gesamte öffentliche Meinungsbildung in der Nachkriegszeit bis zum heutigen Tag, waren ihm wahrlich nicht günstig gesinnt. Die Zerstörung der Vernunft (Lukacs), der Jargon der Eigentlichkeit (Adorno), die Preisgabe des rationalen Denkens an pseudopoetische Mythologie, sein Windmühlengefecht gegen die Logik, die Flucht aus der Zeit in das »Seine - man könnte die Reihe dieser Angriffe und Anklagen noch beträchtlich verlängern. Und doch, wenn der Verlag Klostermann die Ankündigung einer siebzigbändigen Gesamtausgabe der Werke Martin Heideggers in diesen Tagen aussendet, kann er gewiß sein, daß alles aufhorcht. Selbst wer von Heidegger nichts mehr weiß, kann kaum

das Auge gleichgültig weiterwandern lassen, wenn er die Fotografie des einsamen alten Mannes erblickt, der in sich hineinspäht, in sich hineinhorcht, über sich hinaus sinnt. Wenn einer von sich zu wissen meint,

daß er »gegen« Heidegger ist- oder auch, wenn er für« ihn ist-, macht ersich lächerlich. So einfach ist am Denken nicht vorbeizukommen. Wie kommt das? Wie kam das? Ich erinnere mich genau, wie ich erstmals seinen Namen hörte. Das war 1921 in München, als in einem Seminar von

Moritz Geiger ein Student höchst seltsame, pathetische Reden in unge-

wohnter Ausdrucksweise hielt. Als ich nachher Geiger fragte, was das war,

sagte er mit voller Selbstverständlichkeit: »Ach, der ist verheideggert. « War ich es nicht bald selber? Es war kaum ein Jahr später, daß mir mein Lehrer Paul Natorp ein vierzig Seiten langes Manuskript von Heidegger zu lesen gab, eine Einleitung zu Aristoteles-Interpretationen. Das war für mich wie das Getroffenwerden von einem elektrischen Schlage. Ähnliches hatteichals Achtzehnjähriger erlebt, als mir zum ersten Male Verse Stefan Georges zu Gesicht kamen (dessen Name mir völlig unbekannt war). Auch jetzt war es gewiß kein zureichendes Verständnis, das ich Heideggers Analyse der ‚hermeneutischen Situation« für eine philosophische Interpretation des Aristoteles entgegenbrachte. Aber daß da vom jungen Luther, von Gabriel Biel und Petrus Lombardus, von Augustin und von Paulus die Rede war und Aristoteles gerade auf diese Weise in den Blick kam und daß da eine höchst ungewohnte Sprache gesprochen wurde, daß die Rede war von dem »Umes zu«, des »Woraufhin«, des »Vorgriffs« und »Durchgriffs« —- so etwa steht kein bloßes noch heute in meinem Gedächtnis —, das griff durch. Das war

re

Br:

264

Heideggers Wege

gelehrtes oder problemgeschichtlich beruhigtes Tun. Der ganze Aristoteles rückte einem auf den Leib, und als ich dann in Freiburg erste Anleitung empfing, gingen mir die Augen auf. Ja, das war es: es gingen einem die Augen auf. Man pflegt heute Heidegger Mangel an begrifflicher Präzision nachzusagen und poetisierende Vagheit. Es ist wahr, von dem seltsamen Beinahe-Englisch, das heute den philosophischen Zeitstil erfaßt hat, war Heideggers Sprache ebenso weit entfernt wie von mathematischen Symbolismen oder von den Spielen mit Kategorien und Modalitäten, die ich im neukantianischen Marburg geübt hatte. Wenn Heidegger dozierte, sah man die Dinge vor sich, als ob sie körperhaft

greifbar wären. In zahmerer Form und auf den elementaren Bereich der Phänomenologie der Wahrnehmung beschränkt, ließ sich ähnliches von Husserl sagen. Auch seine Terminologie war nicht das phänomenologisch Produktive an seiner Sprache. Nicht zufällig bevorzugte der junge Heidegger vor allen anderen Arbeiten Husserls dessen sechste logische Untersuchung, in der er den Begriff der »kategorialen Anschauung« entwickelt hatte. Man hält diese Lehre Husserls heute vielfach für unbefriedigend und setzt gegen sie die moderne Logik ein. Aber seine Praxis — wie die Heideggers läßt sich so nicht widerlegen. Das war Begegnung mit lebendiger Sprache im Philosophieren,

die von keiner technischen Präzision logischer Mittel

einzuholen ist. Heidegger ging im Herbst 1923 als junger Professor nach Marburg. Zum Abschied von seinem heimatlichen Freiburg lud er eine große Zahl von Freunden, Kollegen und Studenten zu sich hinauf in den Schwarzwald zu

einem abendlichen Sommerfest. Oben auf dem Stübenwasen wurde ein mächtiger Holzstoß angezündet, und Heidegger hielt eine uns alle beeindruckende Rede, die mit den Worten begann: »Wach sein am Feuer der Nacht« —- und sein nächstes Wort war: »Die Griechen . . .« Gewiß, es war

die Romantik der Jugendbewegung, die da mitschwang. Aber es war mehr. Es war die Entschlossenheit eines Denkers, der Heute und Damals, Zukunft

und griechische Philosophie in eines schaute. Man kann sich Heideggers Auftreten in Marburg gar nicht dramatisch genug vorstellen. Nicht, daß er es auf Sensation angelegt hätte. Sein Auftreten in der Vorlesung hatte gewiß auch etwas von bewußter Wirkungssicherheit, aber das Eigentliche seiner Person und seiner Lehre lag doch darin, daß er völlig in seiner Arbeit aufging und dies ausstrahlte. Durch ihn wurde Vorlesung überhaupt etwas völlig Neues, war nicht mehr die Unterrichtsveranstaltung eines Professors, der seine eigentliche Energie in Forschung und Publikationen setzte. Die großen Büchermonologe verloren durch Heidegger ihren Vorrang. Was er gab, war mehr: es war der volle Einsatz der ganzen Kraft - und welcher genialen Kraft - eines revolutionären Denkers, der vor der Kühn-

.

Martin Heidegger - 85 Jahre

heit seiner sich immer

265

stärker radikalisierenden Fragen selber förmlich

erschrak und den die Leidenschaft des Denkens so erfüllte, daß sie auf sein

Auditorium mit einer durch nichts zu brechenden Faszination überging. Wer wird je die bitterböse Polemik vergessen, mit der er den Kultur- und Bildungsbetrieb der Zeit karikierte, die ‚Tollheit auf die Nähe«, das »Man«, das »Gerede«, »dies alles ohne abschätzige Bedeutung« - auch das noch! —, wer

den Sarkasmus, mit dem er Kollegen und Zeitgenossen bedachte, wer, der ihm damals folgte, den atemberaubenden Wirbel von Fragen, die er in den einleitenden Stunden des Semesters entwickelte, um sich dann selber in der zweiten oder dritten dieser Fragen ganz zu verstricken - und erst in den letzten Stunden des Semesters ballten sich dann die tiefdunklen Satzwolken zusammen, aus denen Blitze zuckten, die uns halb betäubt zurückließen.

Als Nicolai Hartmann zum ersten Male (und einzigen Male) Heideggers Vorlesung hörte - seine erste in Marburg -, sagte er nachher zu mir, eine solche Wucht des Auftretens sei ihm seit Hermann Cohen nicht wieder vorgekommen. Es waren wirklich zwei Antipoden, der kühle, reservierte Balte, der wie ein bürgerlicher Seigneur wirkte, und der dunkeläugige,

kleine, gebirgsbäuerliche Mann, dessen Temperament bei aller verhaltenen Disziplin immer wieder durchschlug. Ich habe sie einmal auf der Treppe der Marburger Universität einander begegnen sehen: Hartmann ging in seine Vorlesung, wie immer in gestreifter Hose und schwarzem Rock und einem

altväterischen weißen Kragen, Heidegger auf dem Wege aus der Vorlesung im Skianzug. Hartmann blieb stehen und sagte: »Ist es möglich, so gehen Sie in die Vorlesung?« Das vergnügte Lachen Heideggers hatte seinen besonderen Grund. Er hielt nämlich an diesem Abend einen Vortrag über das Skilaufen zur Einführung in einen damals neuen Trockenskikurs. Es war echtester Heidegger, wie er seinen Vortrag begann: »Ski laufen lernt man nur im Gelände und für das Gelände. « Der typische Keulenschlag, mit dem modische Erwartungen niedergeknüppelt wurden, und zugleich die Eröffnung neuer Erwartungen. »Wer einen anständigen Stemmbogen fährt, den nehme ich auf jede Skitour mit. « Heidegger, Skiläufer von Kindheit an, hatte überhaupt eine sportliche die Seite, und die Heidegger-Schule wurde davon angesteckt. Wir waren zweitbeste Faustballmannschaft von Marburg,

die immer bis ins Finale

r vordrang, und zu der Trainingsmannschaft kam jahrelang auch Heidegge allem. in sonst wie war überlegen so nicht wenngleich er uns darin n Natürlich lief er nicht immer im Skianzug herum, aber nie im schwarze den ihn nannten wir Rock. Vielmehr trug er einen eigenen Anzug ne, ‚existenziellen« Anzug -, eine von dem Maler Otto Ubbelohde entworfe

in der an die Bauerntrachten leicht angelehnte neue Herrenkleidung, ich sonntägl eines Heidegger in der Tat etwas von dem bescheidenen Prunk gekleideten Bauern an sich hatte.

Heideggers Wege

266

Heidegger begann seinen Tag sehr früh und traktierte uns bereits am frühen Morgen viermal die Woche mit Aristoteles. Das waren denkwürdige Interpretationen, sowohl was die Kraft der sachlichen V eranschaulichung betraf, als auch was die philosophischen Perspektiven anging, die dabei geöffnet wurden. In Heideggers Vorlesungen rückten einem die Sachen derart auf den Leib, daß wir nicht mehr wußten: spricht er in eigener Sache oder in der Sache des Aristoteles? Es ist eine große hermeneutische Wahrheit, die wir damals alle an uns zu erfahren begannen und die ich später theoretisch rechtfertigen und vertreten sollte. Wir waren ein sehr hochmütiges kleines Volk und ließen uns den Stolz auf unseren Lehrer und sein Arbeitsethos gewaltig zu Kopfe steigen. Und nun stelle man sich erst vor, was im zweiten und dritten Gliede der Heideggerianer los war, bei denen, deren wissenschaftliches Talent geringer oder deren Ausbildungsstand noch nicht so fortgeschritten war. Auf sie wirkte Heidegger wie ein Rauschmittel. Dieser Wirbel radikaler Fragen, in den Heidegger einen hineinriß, nahm im Munde der Nachahmer karikaturhafte Ausmaße

an. Offen gestanden, ich möchte nicht gerne ein damaliger Kollege von Heidegger gewesen sein. Überall traten Studenten auf, die es dem Meister ausgezeichnet abgeguckt hatten, »wie er sich räuspert und wie er spuckt«. Diese jungen Leute verunsicherten mit »radikalen Fragen«, deren Leerlauf durch ihren Anspruch verdeckt wurde, so manches Seminar, und wenn sie ihr dunkles Heidegger-Deutsch hervorbrachten, mag manchem Professor die Erfahrung eingefallen sein, die Aristophanes in der Komödie beschreibt, wie die von Sokrates und den Sophisten geschulte attische Jugend über die Stränge schlug. Damals gewiß kein wahrer Einwand gegen Sokrates, war es jetzt keiner gegen Heidegger, daß es dies gab und daß nicht jeder seiner Anhänger sich zu eigener ernsthafter Arbeit befreite. Doch bleibt es eines der merkwürdigsten Schauspiele, wie Heidegger, der das Wort von der »freigebenden Fürsorge: geprägt hat, trotz aller Freigabe - nein: durch alle Freigabe — nicht verhinderte, daß viele an ihn ihre Freiheit hoffnungslos verloren. Die Motten fliegen ins Licht. Wir spürten es, als Heidegger an »Sein und Zeit« schrieb. Gelegentliche Bemerkungen deuteten voraus. Eines Tages las er in einem SchellingSeminar den Satz vor: »Die Angst des Lebens selbst treibt den Menschen aus dem Centrum« und sagte: »Nennen Sie mir einen einzigen Satz von Hegel, der diesem Satz an Tiefe gleichkommt!« Bekanntlich war die erste Wirkung von Sein und Zeit«- insbesondere auf die Theologie - die eines existentiellen Appells zum Vorlaufen zum Tode, eines Aufrufs zur »Eigentlichkeit«. Man hörte mehr Kierkegaard heraus als Aristoteles. Aber schon in dem 1929 ' erschienenen

Kant-Buch

war nicht mehr vom

Dasein des Menschen,

sondern plötzlich vom »Da-Sein im Menschen« die Rede. Die Frage nach dem Sein und seinem »Da«, die Heidegger aus der griechischen Aletheia

A

Martin Heidegger- 85 Jahre

(Unverborgenheit)

herausgehört

hatte, wurde

267

nun

unüberhörbar.

Kein

Aristoteles redivivus, aber ein Denker, dem nicht nur Hegel, sondern auch

Nietzsche vorangegangen war und der sich auf den Anfang, auf Heraklit und Parmenides, zurückbesann, weil ihm das nie aufhörende Widerspiel von Entbergung und Verbergung aufgegangen war und das Geheimnis der Sprache, in der beides, das Gerede und die »Bergung« des Wahren, geschieht. Heidegger realisierte das alles erst ganz, als er in seine Heimat, nach Freiburg und in den Schwarzwald, zurückgekehrt war und, wie er mir damals schrieb: »die Kräfte des alten Bodens zu spüren« begann. »Es kam alles ins Rutschen.« Er nannte seine Denkerfahrung die »Kehre« - nicht im theologischen Sinne einer Bekehrung, sondern wie er es aus seiner Mundart kannte. Die Kehre ist die Biegung des den Berg hinaufführenden Weges. Man kehrt dabei nicht um, sondern der Weg selber kehrt sich in die entgegengesetzte Richtung —- um hinaufzuführen. Wohin? Das wird niemand so leicht sagen können. Nicht umsonst hat Heidegger eine seiner wichtigsten Sammlungen späterer Arbeiten »Holzwege« genannt. Das sind Wege, die nicht weiterführen und einen zum Steigen ins Unbetretene oder zum Umkehren zwingen. Aber es bleibt die Höhe. Von der Freiburger Zeit Heideggers, vom Jahre 1933 und der Folgezeit, weiß ich nichts aus eigener Anschauung. Aber daß Heidegger nach dem politischen Zwischenspiel mit neuem Elan der Leidenschaft des Denkens

folgte und daß sein Denken ihn in neue, ungangbare Gegenden führte, wurde auch aus der Ferne bald sichtbar. Da war ein Vortrag über Grund-

worte

Hölderlins,

der sich in der Zeitschrift »Das innere Reich« seltsam

genug ausnahm. Es klang, als ob Heidegger sein Denken in Hölderlinsche Dichterworte über das Göttliche und die Götter verkleidet habe. Und dann fuhren wir eines Tages (1936) nach Frankfurt, um Heideggers dreistündige Vorlesung »Vom Ursprung des Kunstwerks« zu hören. »Die menschenleere Landschaft«, so überschrieb Sternberger in der Frankfurter Zeitung seinen Bericht. Gewiß war die fordernde Strenge dieser gedanklichen Wanderung dem Berichterstatter, dem Freunde des Panoramas menschlichen Treibens, fremd. Es war auch wirklich ungewohnt, da von der Erde reden zu hören und von dem Himmel und von dem Streit beider, als ob es sich um Begriffe des Denkens handele wie in der metaphysischen Tradition Materie und Form. Metaphern? Begriffe? Aussage von Gedanken , oder Verkündigung eines neuheidnischen Mythos? Nietzsches Zarathustra Vorbild, der Lehrer der ewigen Wiederkehr des Gleichen, schien das neue

und in der Tat wandte sich Heidegger damals einer intensiven Auslegung "Nietzsches zu, die schließlich in einem zweibändigen Werk, dem wahren Gegenstück von »Sein und Zeit«, ihren Niederschlag fand.

3

$

Aber es war nicht Nietzsche. Es war auch nichts von religiöser Verstiegenheit darin. Selbst wenn gelegentlich eschatologische Töne anklargen,

Heideggers Wege

268

wenn, orakelhaft genug, von dem Gott« die Rede war, der »jäh vermutlich« erscheinen könnte, waren das Extrapolationen des philosophischen Gedankens und nicht Prophetenworte. Es war ein angestrengtes Ringen um eine philosophische Sprache, die jenseits von Hegel, aber auch jenseits von Nietzsche, den ältesten Anfang des griechischen Denkens zu wiederholen,

wieder zurückzuholen vermöchte. Ich erinnere mich, daß Heidegger mir

einmal

oben

auf der Hütte,

während

der Kriegsjahre,

einen Nietzsche-

Aufsatz vorzulesen begann, an dem er arbeitete. Er unterbrach sich plötzlich, schlug auf den Tisch, daß die Teetassen klirrten, und rief erregt und verzweifelt: »Das ist ja alles chinesisch!« Das war Sprachnot, wie sie nur einer erfährt, der etwas zu sagen hat. Heidegger brauchte seine ganze Kraft, diese Sprachnot auszuhalten und sich durch keinerlei Angebote der traditionellen onto-theologischen Metaphysik und ihrer Begrifflichkeit von seiner Frage nach dem Sein abbringen zu lassen. Es war diese verbissene Energie seines Denkens, die überall durchschlug, wenn er einen Vortrag hielt: über ‚Bauen, Wohnen, Denken« in der Riesenhalle der Darmstädter Gespräche,

den Vortrag über das Ding, der in einem rätselhaften Wortreigen ausschwang, oder die Auslegung eines Gedichtes von Trakl und wieder die eines späten Hölderlin-Textes, öfters im allzu vornehmen Kurhaus Bühlerhöhe, wohin ihm einmal sogar Ortega Y Gasset gefolgt ist, angezogen von diesem Goldsucher der Sprache und des Gedankens. Dann wieder fügte er sich ganz in die Ordnungen des akademischen Lebens. In einer regulären Arbeitssitzung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften sprach er über »Hegel und die Griechen«. Er hielt einen langen, schwierigen Vortrag über »Identität und Differenz« als Festvortrag beim Freiburger Universitätsjubiläum - er hielt sogar aus solchem Anlaß wie in alter Zeit mit seinen alt gewordenen Schülern ein Seminar über einen einzigen Satz von Hegel: »Die Wahrheit des Seins ist das Wesen« - ganz der alte. Das will sagen: in sein Fragen und Denken gebannt, mit dem Fuß vorwärtstastend, ob er festen Grund unter sich finde, verdrossen, wenn man nicht erriet, wo er Halt suchte, und außerstande, anderen zu helfen als durch

die Wucht seines eigenen denkenden Einsatzes. Öfters habe ich ihn auch mit meinem eigenen Schülerkreis in Heidelberg zusammengeführt. Manchmal gelang ein Gespräch, das heißt, man wurde auf eine Wanderung des Denkens mitgenommen und geriet nicht vom Wege ab. Nur wer mitgeht, weiß, daß es ein Weg ist. Heute verhalten sich die meisten anders. Sie wollen nicht mitgehen, sondern vorher wissen, wohin es geht, oder gar, sie wissen es besser, wohin

man gehen sollte. Dann haben sie kein anderes Interesse, als Heidegger einordnen zu wollen, zum Beispiel in die Krise der bürgerlichen Welt im Zeitalter des Spätkapitalismus: Flucht aus der Zeit in das Sein oder in einen irrationalistischen Intuitionismus, Vernachlässigung der modernen Logik.

Martin Heidegger - 85 Jahre

269

Vielleicht täuschen sich die Heutigen darüber, daß sie weder etwas einzuordnen hätten noch etwas kritisch zu überholen wüßten, wenn dieses Philosophieren nicht einfach da wäre, unreflektierter als das aller Zeitgenossen, sich

dem bloßen Reflektieren darüber verschließend. Zweierlei aber dürfte für jeden unleugbar sein: Keiner vor Heidegger hat so weit zurückgedacht, das Auslaufen der Menschheitsgeschichte in die technische Zivilisation von heute und den Kampf um die Erdherrschaft unmittelbar aus dem Denken der Griechen, ihrer Begründung der Wissenschaft und ihrer Errichtung der Metaphysik, verständlich zu machen. Und keiner hat sich dabei so weit auf dem schwankenden Boden unkonventioneller Begriffe vorgewagt, daß Menschheitserfahrungen anderer Kulturen, insbesondere Asiens, erstmals

als unsere eigenen Erfahrungsmöglichkeiten sich von ferne abzeichnen. Unter den vielen Wallfahrern nach Todtnauberg war auch eines Tages der Dichter Paul Celan, und aus seiner Begegnung mit dem Denker wurde ein

Gedicht. Man bedenke: ein jüdischer Verfolgter, ein Dichter, der nicht in Deutschland, sondern in Paris lebte, aber ein deutscher Dichter, wagt

beklommen diesen Besuch. Ihn muß der Augentrost des kleinen bäuerlichen Anwesens mit dem rinnenden Brunnen (‚mit dem Sternwürfel drauf‘) und des kleinen bäuerlichen Mannes mit dem aufleuchtenden Auge empfangen haben. Er hat sich in das Hüttenbuch eingetragen, wie so viele, mit einer Zeile von Hoffnung, die er im Herzen behielt. Er ist mit dem Denker über die weichen Wiesen dort oben geschritten, einzeln beide, wie die einzeln

stehenden Blumen (»Orchis und Orchis(). Erst später auf der Heimfahrt

wurde ihm, was ihm an dem, was Heidegger dahinmurmelte, noch krude schien, deutlich - er begann zu verstehen. Er verstand das Gewagte eines

Denkens,

das ein anderer (der Mensch«) mit anhören kann, ohne es zu

verstehen, das Gewagte eines Schreitens aufschwankendem Boden wie auf

Knüppelpfaden, die man nicht bis zu Ende gehen kann. Das Gedicht lautet: Todtnauberg

Arnika, Augentrost, der Trunk aus dem Brunnen mit dem Sternwürfel drauf, in der Hütte, die in das Buch

— wessen Namen nahms auf vor dem meinen? -, die in dies Buch

geschriebene Zeile von einer Hoffnung, heute, auf eines Denkenden

270

Heideggers Wege kommendes Wort im Herzen

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Waldwasen, uneingeebnet, _ Orchis und Orchis, einzeln, Krudes, später, im Fahren,

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der uns fährt, der Mensch,

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19. Der Weg in die Kehre 1979

Das philosophische Werk Martin Heideggers gehört in gewissem Sinne bereits der Geschichte an, daß heißt, es ist längst über die erste oder zweite

Welle seiner Wirkung hinaus und hat seinen festen Platz unter den Klassikern des philosophischen Gedankens. Das schließt ein, daß jede Gegenwart sich ihre eigene Stellung zu seinem Werk neu bestimmen muß. Wer selbst noch an der Entwicklung und Ausbreitung des philosophischen Fragens von Heidegger zeitgenössischen Anteil hatte, wird bei solchem Versuch nicht nur den Platz des Heideggerschen Denkens neu zu bestimmen haben, sondern auch seinen eigenen Platz. Er wird auch nicht beanspruchen, die historische Bedeutung Martin Heideggers beurteilen zu wollen, sondern im Gegenteil bestrebt sein, weiterhin an dem teilzuhaben, was mit Heideggers Frage in Bewegung geriet. Immerhin kann man wohl mit einiger Sicherheit sagen, daß der Platz, den

Heidegger ausfüllt, von zwei ganz verschiedenen Aspekten aus bestimmt werden muß: von seiner Stellung in der Universitätsphilosophie unseres

Jahrhunderts, und dies insbesondere innerhalb der deutschen Szene, und von

seiner Wirkung und Bedeutung im Allgemeinbewußtsein unserer Epoche.

Das

scheint vornehmlich

seinen Rang zu bestimmen,

daß diese beiden

Aspekte bei ihm so wenig voneinander zu trennen sind, wie das nur bei den großen Klassikern

des Gedankens,

Deskriptionskunst,

die Edmund

etwa einem Descartes

oder Leibniz,

einem Hume oder einem Kant, einem Hegel oder einem Nietzsche der Fall ist. Innerhalb der akademischen Philosophie unseres Jahrhunderts darf man Heideggers Denken nach seiner eigenen Versicherung in die phänomenologische Bewegung einreihen, und wer die Entwicklung der Husserlschen Phänomenologie kennt, die Heidegger dabei meint, weiß, daß das zugleich eine Art Placierung in Bezug auf den damals herrschenden Neukantianismus n darstellt. Beides freilich darf nicht in einem engeren Schulsinne genomme ein s Heidegger Denken das sich gibt werden. In beiden Orientierungen betont kritisches Profil. der Er war jahrelang Assistent und dann junger Kollege des Begründers ften meisterha der von Zweifel ohne phänomenologischen Schule und hat

Husserl auszeichnete,

Entscheidendes

272

Heideggers Wege

gelernt. Sein erster eigener großer Denkversuch, »Sein und Zeit«, führte sich selbst im sprachlichen Gewande und in der thematischen Orientierung, ja sogar durch den Ort seiner Publikation als ein phänomenologisches Werk ein. Der Ausdruck »Phänomenologie: enthielt in der Weise, wie Husserl ihn benutzte, eine polemische Spitze gegen alle theoretischen Konstruktionen, die einem undurchschauten Systemzwang entsprangen. Die phänomenologische Anschauungskraft Husserls hatte sich gerade an der Zurückweisung und Kritik aller konstruktiven Voreingenommenheiten des zeitgenössischen

Denkens

bewährt,

insbesondere

in seiner

berühmten

Kritik

am

Psychologismus und Naturalismus. Auch wird man zugeben müssen, daß Husserls deskriptive Sorgfalt mit einem echten methodischen Bewußtsein gepaart war. Die Phänomene, die er zu Ehren brachte, waren keine naiven Gegebenheiten, sondern die Korrelate zu seiner Analyse der Intentionalitä-

ten des Bewußtseins. Der Rückgang auf die intentionalen Akte sicherte erst den Begriff des intentionalen Gegenstandes,

des Gemeinten

als solchen —

und damit des Phänomens. Als Heidegger den Begriff der Phänomenologie in der Einleitung seines eigenen ersten Werkes in Anspruch nahm und erläuterte, konnte das daher fast wie eine bloße Variation von Husserls methodischem Programm gelesen werden. Und doch lag ein neuer Akzent darauf, wenn Heidegger in paradoxer Zuspitzung den Begriff des Phänomens nicht so sehr von seiner Gegebenheit als von seiner Ungegebenheit und Verdecktheit her einführte. Obwohl Heidegger in dieser ersten Selbstdarstellung die ausdrückliche Kritik an Husserls phänomenologischem Programm vermied, die er seit längerem schon in Vorlesungen zu formulieren versucht hatte, war die kritische Absetzung gegen Husserls phänomenologischen Ansatz im Fortgang von »Sein und Zeit« nicht mehr zu verkennen. Es war eben doch nicht umsonst,

daß Heidegger hier im $ 7 von

»Sein und Zeit« die Idee der

Phänomenologie von der Verdecktheit des Phänomens und der der Verdecktheit abzuringenden Entdeckung her verstanden hatte. Daraus sprach nicht nur die übliche deskriptive Siegesgewißheit, mit der der Phänomenologe sich den theoretischen Konstruktionen der zeitgenössischen Philosophie überlegen fühlte. Die Verdecktheit, um die es hier ging, saß sozusagen tiefer. Selbst die klassische Analyse der Dingwahrnehmung, die Husserl als ein Glanzstück seiner phänomenologischen Deskriptionskunst zu höchster Feinheit entwickelt hatte, konnte noch insgesamt eines verdeckenden Vorurteils geziehen werden. Das war in der Tat Heideggers erster Einsatz, daß er den pragmatischen Funktionszusammenhang, in dem Wahrnehmungen und Wahrnehmungsurteile begegnen, gegen den deskriptiven Aufbau Husserls kehrte. Was er in dem Begriff der Zuhandenheit ausarbeitete, war

in Wahrheit nicht mehr eine höherstufige Dimension im weiten Themenfelde von Husserls Intentionalitätsforschung. Im Gegenteil, die schlichte

12e es

Der Weg in die Kehre

273

Wahrnehmung, die etwas als Vorhandenes vernimmt und präsent macht, erwies sich von da aus als eine Abstraktion, der ein dogmatisches Vorurteil zugrunde lag, das Vorurteil, daß das, was ist, als Vorhandenheit, durchreine Präsenz im Bewußtsein seine letzte Ausweisung empfangen müsse. Hier mochte schon der junge Heidegger, der sich als Schüler Heinrich Rickertsan der Logik der impersonalen Urteile versucht hatte, einem dunklen Impulse gefolgt sein, der sich jetzt zu theoretischer Klarheit erhob. Das Ergebnis der Dissertation, daß der Ruf Feuer!« der logischen Umformung in ein prädikatives Urteil Widerstand entgegensetzte und nur durch Zwang dem logischen Schema untergeordnet werden konnte, mochte dem späteren Heidegger wie eine Bestätigung erster Ahnungen vorkommen, daß die Logik einer ontologischen Beengung unterlag. Inzwischen hatte sich Heidegger durch eine geniale Neuinterpretation der Aristotelischen Metaphysik und Ethik das Rüstzeug verschafft, das ihm erlaubte, die in ihm selbst wie in Husserl wie im gesamten Neukantianismus fortwirkenden ontologischen Vorurteile aufzudecken,

die in dem Begriff

des Bewußtseins und vollends in der Fundamentalstellung des Begriffs der transzendentalen Subjektivität wirksam waren. Daß Subjektivität eine Transformation von Substantialität und ein letztes ontologisches Derivat des Aristotelischen Seinsbegriffs und Wesensbegriffs darstellte, gab seiner pragmatistisch getönten Kritik an Husserls Wahrnehmungsanalyse eine alle Perspektiven und insbesondere die Fundierungsverhältnisse des Husserlschen Programms umstürzende Wucht. Es war nicht nur ein neues Wort von elementarer Nennkraft, das Heidegger an die Stelle von Subjektivität und Selbstbewußtsein und transzendentales Ego setzte, wenn er von ‚Dasein: sprach. Indem er den Zeithorizont des sich endlich. wissenden, seines Endes gewissen Daseins des Menschen in den Begriff erhob, überschritt er das der griechischen Metaphysik zugrunde liegende Seinsverständnis. Die leitenden Begriffe der modernen Bewußtseinsphilosophie, Subjekt wie Objekt, aber auch ihre Identität im spekulativen Denken, erwiesen sich in gleicher Weise als dogmatische Konstruktionen. Nun war es freilich nicht so, als ob nicht die phänomenologische des Gewissenhaftigkeit Husserls selber alles aufwandte, den Dogmatismus die gerade ja war Das brechen. zu s nsbegriff Bewußtsei ichen herkömml in ‚Bewußtse immer n Pointe des Begriffes Intentionalität, daß Bewußtsei das von etwas« ist. Auch das Evidenzpostulat der absoluten Apodiktizität, wirklichen keinen ihn für stellte , vermöchte erfüllen zu cogito ego allein das Freibrief dar. Vielmehr löste er in lebenslanger, immer mehr sich verfeinern

der analytischer Arbeit den Kantischen Grundbegriff der transzendentalen Synthesis der Apperzeption in einer Konstitutionsanalyse des inneren Zeitbewußtseins auf und arbeitete die Prozessualität der Selbstkonstitution keit des sich denke« immer sorgfältiger aus. Mit der gleichen Beharrlich

274

Heideggers Wege

verfolgte er unter dem Titel Intersubjektivität die Aporien der Konstitution des alter ego, des Wir und des monadologischen Universums, und vollends zeigte seine Aufrollung der Lebensweltproblematik in den Studien um die ‚Krisis«, daß er sich jeder Einrede zu stellen suchte, die von der Problematik der Geschichte aus erhoben werden konnte. Freilich standen seine Analysen zur Lebensweltproblematik für sein eigenes Bewußtsein ganz und gar im Gegenzuge zu Heideggers kritischer Insistenz auf der Geschichtlichkeit des Daseins. Auch bleibt es merkwürdig genug, daß er in seiner KrisisAbhandlung seine kritische Abwehr gleichzeitig gegen Heidegger und gegen Scheler richtete, die doch gerade in diesem Punkte kaum zusammengehörten. Scheler hat nie die eidetische Dimension als solche von der Geschichtlichkeit her in Frage gestellt, wie das Heideggers Fundamentalontologie als Hermeneutik der Faktizität getan hat. Scheler suchte vielmehr die Phänomenologie auf die Metaphysik zu gründen. Nicht der Geist, sondern der Drang erfährt Realität. Der entwirklichende Wesensblick des Geistes muß selber aus der Realität des Dranges herausbrechen. Die Phänomenologie hat keinen Grund in sich selbst. Das mußte für Husserl ein Ausweichen vor der Forderung der Philosophie als strenger Wissenschaft sein, sofern Wirklichkeitswissenschaft ihrem eigenen Wesen nach nicht streng sein kann. Der Aufklärung solcher »Mißverständnisse« ist die Krisis--Abhandlung vor allem gewidmet. Für Husserl stand jedenfalls fest, daß sie beide, Scheler

wie Heidegger, die Unausweichlichkeit der transzendentalen Reduktion und der »Letztbegründung« auf die apodiktische Gewißheit des cogito einfach nicht verstanden hätten. Es mag die Spannungsweite der hier angeschlagenen Problematik illustrieren, daß Heidegger seinerseits Husserls Fragestellung in die ontologischen Vorurteile, auf denen die Tradition der Metaphysik beruhte, hoff-

nungslos verfangen fand. Als er Ende der fünfziger Jahre in Heidelberg einmal mit meinen eigenen Schülern zusammenkam und an einem Seminar teilnahm, das ich über Husserls Zeitvorlesung abhielt, stellte er die Frage,

was Husserls Analyse mit »Sein und Zeit« zu tun habe. Alle Antworten, die ihm darauf gegeben wurden, wies er ab: »Nichts« habe sie damit zu tun. Das war gewiß von der Entschiedenheit aus gesprochen, mit der sich der späte Heidegger von der transzendentalen Fragestellung befreit hatte und die in »Sein und Zeit« in Wahrheit noch nicht erreicht war. Immerhin wird man,

wenn man mit Heidegger auf seine eigene Entwicklung zurückblickt, ihm zugestehen müssen, daß schon sein Ausgangspunkt beim In-der-Welt-Sein und seine Exposition der Frage nach dem Sein am Leitfaden dieser angeblich stranszendentalen« Analytik des Daseins in Wahrheit in eine ganz andere Richtung wies. Eine Analyse des Zeitbewußtseins wie die Husserlsche konnte Heidegger nicht mehr befriedigen -— obwohl Husserls Fortschritt über Brentano hinaus gerade darin bestand, daß er die Zeitlichkeit des

E

Der Weg in die Kehre

275

Zeitbewußtseins erkannte und gegen eine Theorie des Zeitbewußtseins kehrte, die das Vergehen und das Vergangene nur von der Erinnerung her und damit als »wieder Vergegenwärtigtes« dachte. Im Begriff der»Retention« drückte sich dieser über Brentano entscheidend hinausführende Schritt aus: ein Festhalten, das dem gegenwärtig wahrnehmenden Bewußtsein selber zukommt. Indessen, Heideggers Frage war weit radikaler. »Sein und Zeit« war ganz und gar nicht, wie Oskar Becker es damals deutete, die bloße Ausarbeitung einer höherstufigen Problemschicht innerhalb des phänomenologischen Programms von Husserl. Vielmehr war dies »Stück philosophischer Anthropologie’, das in »Sein und Zeit« steckte« (SuZ!17), einer viel weiter reichenden Frage nach dem Sein untergeordnet. Dies »Sein« orientierte Heidegger damals an dem, was er das »Seiende im Ganzen« nannte, und er hat auch später immer darauf bestanden, daß dies »Sein« nicht so sehr vom Dasein abgelesen werde, als in ihm als der »Stätte des Seinsverständnisses« (S. 11 Anm. b der Gesamtausgabe) lediglich zur Ausweisung komme. In der Marburger Vorlesung vom Sommer 1928 (Bd. 26 der Gesamtausgabe) wird das als Voraussetzung namhaft gemacht, daß »eine mögliche Totalität von Seiendem schon da ist«. Nur dann kann es Sein im Verstehen geben (S. 199). Das Dasein ist zwar vexemplarisch« aber nicht als ein von unserm Denken ausgezeichneter Fall von Sein, sondern als das Seiende, »das ist in der Weise,

sein Da zu sein«. Selbst das spätere Wort »Lichtung« begegnet hier bereits, freilich noch in anthropologischer Wendung zur Charakteristik der erleuchteten Erschlossenheit des Daseins, aber immerhin in ontologischer Absicht als »Hinausstehen in die Offenheit des »Da«Ek-sistenz« (177c). Selbst der später zum Schlüsselwort aufgestiegene Ausdruck ‚die Kehre« begegnet bereits 1928, und zwar dafür, daß »die Ontologie selbst in die metaphysische Ontik, in der sie immer steht, ausdrücklich zurückläuft«. Auch hier wird

insofern noch vom Dasein aus gedacht, als der latente Umschlag, den die Fundamentalontologie als Analytik des Daseins erfährt, wenn sie temporale Analytik wird, »die Kehre« genannt wird. Heideggers späte Randnotizen im Hüttenexemplar deuten die Beispielfunktion des Daseins vollends um (9e). Es ist Beispiel im Sinne des Seinsgeschehens, das dabei spielt. Das ist natürlich eine klare Umdeutung. Aber selbst solche Umdeutungen (die es ohne Zweifel sind) haben ihre Wahrheit. Sie setzen ins Licht, worauf seine noch unklare Intention zielte. Für die Wiederentfachung der Seinsfrage kam es wesentlich auf das »Da« des Daseins an und nicht so sehr auf den Vorrang, den das Sein des Daseins besaß. Ähnliches gilt auch von anderen kritischen Punkten des Husserlschen Programms. So ist das Kapitel über das Mitsein ($ 26) ganz und gar von der kritischen Abgrenzung gegen die Husserlsche Problematik der Intersubjektivität bestimmt. In der Tat ist an Husserls Behandlung des Problems der

Intersubjektivität das ihn beherrschende ontologische Vorurteil nicht min-

276

Heideggers Wege

der greifbar als an seiner Deskription der angeblich »reinen« Wahrnehmung. Da soll erst eine höherstufige vtranszendentale Einfühlung« das reine Wahrnehmungsding zum alter ego bescelen! Es ist offenkundig eine polemische Orientierung an Husserl, wenn Heidegger demgegenüber vom Mitsein als der apriorischen Bedingung alles Mitdaseins spricht und ausdrücklich auch hier den Anspruch auf Gleichursprünglichkeit geltend macht, den er vielfach gegen die Husserlsche Idee der Letztbegründung ausspielt. (Vgl. 1131) Das Mit-Sein tritt nicht erst nachträglich zum Da-Sein hinzu. Vielmehr ist Dasein immer auch Mitsein, ganz gleich, ob andere mit da sind oder nicht,

ob sie mir fehlen oder ob ich niemanden »brauche«. Wenn Heidegger in dieser Weise Dasein und Mitsein als Modi des In-derWelt-Seins auszeichnet und die Sorge als die einheitliche Grundverfassung des In-der-Welt-Seins herausarbeitet, folgt er zwar selber noch in der Argumentationsstruktur dem transzendentalen Begründungsdenken, das Husserl mit dem Neukantianismus teilte. In Wahrheit war er aber mit seiner transzendentalen Analytik des Daseins auf eine bloße Konkretisierung des transzendentalen Bewußtseins, d.h. auf den Ersatz des phantastisch stilisierten transzendentalen Ego durch das faktische menschliche Dasein gerichtet. Das tritt schon indirekt dadurch heraus, daß er die Frage nach dem »Wer?% des Daseins an der Alltäglichkeit des Daseins phänomenologisch orientiert, das immer schon an die Besorgung der »Welt« des Zuhandenen und des Miteinander verfallen ist. In dieser Verfallenheit wird das wahre Phänomen des Da ständig verdeckt und ebenso das »Ich selbst«. Es ist das Man, das keiner

ist oder

gewesen

ist, als das das Dasein

zunächst

und zumeist

begegnet. Das ist nicht nur polemisch im Sinne der Kulturkritik am Zeitalter der anonymen Verantwortlichkeit. Dahinter stand vielmehr ein kritisches Motiv, das den Begriff des Bewußtseins selber in Frage stellte. Aber es bedurfte einer eigenen Zurüstung, die merkwürdig genug ausfällt, hinter dieser Weltverfallenheit des Besorgens und Fürsorgens die Eigentlichkeit des Daseins, das vom Nichts umschleierte Da, sichtbar zu machen: durch

das Vorlaufen zum Tode. Zwar hat Heidegger immer betont, daß die Alltäglichkeit der sich aus der Welt her und als besorgend-fürsorgend verstehenden Existenz zum Dasein ebenso gehört wie der Blick, der sich auf der höchsten Spitze des Augenblicks auftut, in dem die Jemeinigkeit des Daseins durch die Jemeinigkeit des Sterbens herauskommt und die ursprüngliche Zeitlichkeit sich gegenüber der Uneigentlichkeit des vulgären Zeitverständnisses - und auch noch dessen der Ewigkeit — als endliche Zeitlichkeit erweist. Indessen hat Heidegger auf dieser Stufe der Entfaltung seines Denkens selbst bereits darüber reflektiert, ob eine solche bloße Umkehrung der Fundierungsverhältnisse ausreicht und ob sich nicht auch in der temporalen Interpretation des Seins als solchen eine Fehlinterpretation verberge: »Schon der Grundakt

Der Weg in die Kehre

277

der Konstitution der Ontologie, das heißt der Philosophie, die Vergegenständlichung des Seins, das heißt der Entwurf des Seins auf den Horizont seiner Verstehbarkeit, ist der Unsicherheit überantwortet . . .« (Bd. 24 S.

459).

Hier klingt die ganze Problematik der Vergegenständlichung des Seins an, die Heidegger zur »Kehre« geführt hat. Er sagte damals selbst an der schon zitierten Stelle, der Horizont der Verstehbarkeit könnte insoweit verkür-

zend sein, als Vergegenständlichung, die mit solcher Thematisierung verknüpft ist, »dem alltäglichen Verhalten zum Seienden zuwiderläuft«. »Der Entwurf wird notwendig selbst zu einem ontischen . . .« Diese Sätze aus der Vorlesung von 1927 geben einem Satz, der sich in »Sein und Zeit« findet (1233) und dort mehr wie eine rhetorische Frage klingt, einen neuen dramatischen

Akzent: ». .. es wird sogar fraglich, ... ob nicht eine ursprüngliche ontologische Interpretation des Daseins scheitern muß - an der Seinsart des thematisch Seienden selbst. « Das war damals mehr eine rhetorische Frage. Aber im Rückblick, der heute möglich ist, verstärkt sich für mich eine Frage, die mich seit dem Erscheinen von »Sein und Zeit« beschäftigt hat: War die Einführung des Todesproblems in die Gedankenführung von »Sein und Zeit« eigentlich zwingend und der Sache wirklich angemessen? Die formale Argumentation geht darauf, daß die ontologische Interpretation des In-der-Welt-Seins als Sorge (und in der Folge: als Zeitlichkeit) sich des Ganzseinkönnens des Daseins ausdrücklich versichern müsse, wenn sie selber ihrer Sache gewiß sein wolle. Aber dieses Dasein werde durch seine Endlichkeit, durch das Zu-

Ende-Sein, das mit dem Tode eintrete, eingeschränkt. So bedürfe es der Reflexion auf den Tod. Ist das wirklich überzeugend? Ist es nicht weit mehr überzeugend, daß in der Sorgestruktur als solcher und in ihrer temporalen Verlaufsform die Endlichkeit bereits liegt? Erfährt nicht das sich auf seine Zukunft entwerfende Dasein im Vergehen der Zeit als solcher beständig das Vorbei? Insofern vollzieht das Dasein beständig das Vorlaufen zum Tode,

und das ist es, was Heidegger in Wahrheit meint, und nicht, damit man das

Ganze des Daseins in den Blick bekomme. Die Zeiterfahrung als solche ist es, die uns mit der wesenhaften Endlichkeit konfrontiert, die uns als ganze beherrscht. Es darf immerhin bemerkt werden, daß Heidegger genau auf diesem Wege weitergegangen ist und die Todesproblematik nie wieder in den Mittelpunkt rückte. In seinem Hüttenexemplar läßt er diese Partien ganz unglossiert, und der Weg seines Denkens führte ihn von derHorizontekstatik des Daseins und des Augenblicks am Ende ganz in die Strukturanalyse der Dimensionalität von Zeit. (Vgl. »Zeit und Sein.) Auch die späteren Randglossierungen von »Sein und Zeit« weisen in die gleiche Richtung. Da ist der Ausdruck »Stätte des Seinsverständnisses« (11b)

278

Heideggers Wege

instruktiv. Damit will Heidegger offenbar den älteren Ansatz beim Dasein, dem es um sein Sein geht, mit der neuen Denkbewegung des Da, in dem sich das Sein lichtet, vermitteln. In Stätte klingt bereits an, daßes der Schauplatz eines Ereignisses und nicht primär der Ort einer Aktivität des Daseins ist. Der ganze Aufbau der Gedankenführung von »Sein und Zeit« scheint von einer doppelten Motivik beherrscht, die nicht voll zum Ausgleich gekommen ist: auf der einen Seite von der ontologischen Auszeichnung der »Erschlossenheit« des Daseins, die allen ontischen Phänomenen des Daseinsvollzuges und gerade auch der inneren Spannung von Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit des Daseins voraus- und zugrundeliegt. Auf der anderen Seite geht es dem Denken eben um die Freilegung der Eigentlichkeit des Daseins gegenüber seiner ihm inhärenten Uneigentlichkeit, freilichnicht im Sinne des existenziellen Appells im Sinne von Jaspers, sondern damit an ihm die wahre Zeitlichkeit abgehoben und der Zeithorizont des Seins in seiner universalen Reichweite gewonnen werden soll. Beide Motive fließen in den apriorischen Begründungsgedanken ein, mit dem Heidegger damals die Seinsfrage transzendental instrumentierte. Jedenfalls kann es kein Zweifel sein, daß mit der Preisgabe der transzendentalen Selbstauffassung und des Horizontes der Verstehbarkeit Heideggers Denken die appellative Eindringlichkeit verlor, die es den Zeitgenossen “ mit der sogenannten Existenzphilosophie so ähnlich erscheinen ließ. Gewiß ‚ hatte Heidegger auch in »Sein und Zeit« schon betont, daß die Verfallenstendenz des Daseins, sein Aufgehen in dem Besorgen der Welt, kein bloßer

Irrtum oder Mangel sei, sondern mit der Eigentlichkeit des Daseins gleich ursprünglich sei und wesentlich zusammengehöre. Gewiß hatte auch das Zauberwort von der »ontologischen Differenz«, mit dem Heidegger in der Marburger Zeit arbeitete, nicht nur den augenscheinlichen Sinn jener Unterscheidung von Sein und Seiendem, die das Wesen der Metaphysik ausmacht, sondern zielte immer schon auf etwas, was man den Unterschied

im Sein selbst nennen könnte, der in der Unterscheidung der Metaphysik lediglich zum gedanklichen Austrag kommt. Heidegger hat in seinen Marburger Jahren, schon bevor »Sein und Zeit« erschien, die von ihm beständig im Munde geführte vontologische Differenz« nicht so verstanden wissen wollen, als ob diese Unterscheidung von Sein und Seiendem von

uns, den Denkenden, vorgenommen würde. Und gewiß war sich auch Heidegger schon von Anbeginn an dessen bewußt, daß das apriorische Schema des Neukantianismus und die Husserlsche Trennung von Wesen und Faktum nicht ausreichten, um die wissenschaftstheoretische Besonder-

heit der Philosophie gegen die apriorischen Grundbegriffe der positiven Wissenschaften überzeugend abzusetzen. Die paradoxe Formel von der »Hermeneutik der Faktizität« gibt diesem Punkt sprechenden Ausdruck, und ebenso das »Zurückschlagen« der existenzialen Analytik in die »Existenz«.

Der Weg in die Kehre

279

Insofern ist es völlig berechtigt, wenn Heidegger sich dagegen wehrte, »Sein und Zeit« als eine Sackgasse verstanden zu sehen. Es führte ins Freie, sofern »Sein« überhaupt als eine Frage erkannt war. Und doch war es wie die Freisetzung in eine neue Offenheit, als Heidegger bereits in seiner nächsten Publikation »Kant und die Metaphysik« die überraschende Wendung vom »Da-Sein im Menschen« gebrauchte. Wo ihn das hinführen sollte, war aus

dem Kant-Buch gewiß noch nicht zu ersehen. Er selbst hat schon vor 1940 in Randbemerkungen zu dem Exemplar seines Kantbuches, das er mir damals als Ersatz für mein verlorenes schickte, sich selbst kritisiert: ganz rückfällig in die transzendentale Fragestellung«. Die Idee einer endlichen Metaphysik, die er dort entwickelte und mit Kantischen Mitteln zu stützen suchte, hielt

den transzendentalen Begründungsgedanken am Ende ebenso fest wie die Freiburger Antrittsvorlesung das tat. Das ist gewiß kein Zufall oder eine bloße Halbherzigkeit in Heideggers Denkhaltung, sondern spiegelt das ernste Problem, wie sich der radikale Denkimpuls, der sich auf die Destruktion der Begrifflichkeit der Metaphysik richtete, gleichwohl mit der Idee der Wissenschaftlichkeit der Philosophie vertragen sollte. Daran hielt Heidegger damals - zur wachsenden Enttäuschung von Jaspers (wie dessen jüngst veröffentlichte »Notizen über Heidegger: zeigen) — durchaus noch fest. Daher seine »transzendentale« Selbstinterpretation in »Sein und Zeit«. Die Transzendentalphilosophie konnte sich noch als Wissenschaft verstehen, gerade weil sie alle bisherige Metaphysik als dogmatisch verwarf; und sie konnte damit den Wissenschaften als solchen eine Begründung anbieten, durch die sie sich selber als der wahre Erbe der Metaphysik bestätigte. Das gilt für Husserls Programm noch in vollem Umfange - für Heidegger wird

es problematisch. ‚Sein und Zeit« hat in einer merkwürdig großartigen Vereinfachung das Seinsverständnis der Metaphysik, und das heißt: der Griechen, mit dem Begriff der wissenschaftlichen Objektivität verschmolzen, der dem methodischen Selbstverständnis der positiven Wissenschaften zugrunde liegt. Beides hieß »Vorhandenheit« und der Anspruch von »Sein und Zeit« war, den derivativen Charakter dieses Seinsverständnisses zu erweisen, das heißt aber, das Sein des Daseins nicht trotz, sondern wegen seiner Endlichkeit und

Geschichtlichkeit als das Eigentliche zu erweisen, von dem aus sich auch solche abgeleitete Seinsweisen wie Vorhandenheit oder Objektivität allererst verstehen ließen. Ein solches Unternehmen war für die Denkfigur der klassischen Metaphysik destruktiv. Wenn Heidegger auf der Grundlage von ‚Sein und Zeit« die Frage stellte »Was ist Metaphysik?«, war schon diese Frage mehr ein Hinterfragen der Metaphysik als eine Wiederbelebung derselben oder auch nur als eine neue Begründung von Metaphysik auf

einem tieferen Grunde. Bekanntlich vollzog sich der Denkweg Heideggers in den dreißiger und

280

Heideggers Wege

frühen vierziger Jahren nicht in der literarischen Öffentlichkeit, sondern mehr in der Form der akademischen Lehre oder des Hervortretens in besonderen Vortragsveranstaltungen. Die literarische Öffentlichkeit erfuhr erstmals in einer zusammenfassenden Weise von dem, was Heidegger die ‚Kehre« nannte, als im Jahre 1946 der Brief über den Humanismus an die Öffentlichkeit trat. Erst in den darauffolgenden Jahren zeichneten sich die Schritte, die Heidegger in den dreißiger Jahren gegangen war, durch die Veröffentlichung der »Holzwege« deutlicher ab. Jedermann sah sofort, daß hier der Rahmen wissenschaftlicher Institutionen und des Selbstverständnisses von Philosophie als wissenschaftlicher Philosophie überschritten war. Es hätte nicht des Hinzukommens des Hölderlinschen Vokabulars bedurft und der eigentümlich gewaltätigen Spiegelung, in der sich Heidegger im Spätwerk Hölderlins erkannte — die neue Entfachung der Seinsfrage, die sich ‚Sein und Zeit« zum Ziele gesetzt hatte, hatte in folgerichtiger Auswirkung des ausgelösten Impulses den Rahmen der Wissenschaft ebensosehr wie den der Metaphysik gesprengt. Gewiß, es waren jetzt auch neue Themen, die in Heideggers Denken in den Mittelpunkt

rückten:

das Kunstwerk,

das Ding,

die Sprache,

und

offenkundig waren dies Denkaufgaben, für die die Tradition der Metaphysik keine angemessene Begrifflichkeit zur Verfügung stellte. Der Kunstwerkaufsatz entwickelte mit der größten Eindringlichkeit die begriffliche Unangemessenheit der sogenannten Ästhetik, und vollends trat mit dem Dingproblem eine Herausforderung an das Denken heran, für die weder die

Philosophie noch die Wissenschaft irgendwelche Mittel bereithielten. Denn gerade die Erfahrung des Dings war für das wissenschaftliche Denken der Moderne längst um ihre Legitimation gekommen. Was sind Dinge im Zeitalter der industriellen Produktion und der allgemeinen Mobilität? In Wahrheit hatte denn auch der Dingbegriff seit langem, das heißt, seit dem Aufkommen der modernen Naturwissenschaft und der paradigmatischen Funktion der Mechanik für dieselbe, kein philosophisches Heimatrecht mehr und war in der Philosophie charakteristischer Weise durch die Begriffe des Objektes und des Gegenstandes ersetzt worden. Aber inzwischen wares nicht nur ein Wandel in der Form der Wissenschaft und des denkenden Begreifens der Welt, sondern ein Wandel im Aussehen der Welt selber, was

dem Ding keinen Platz mehr ließ. Mochte man das Werk der Kunst noch in einer Art Schonbezirk des Kulturbewußtseins fortbestehen lassen, in einer Art musee imaginaire, das Schwinden der Dinge war ein unaufhaltsamer

Vorgang, vor dem kein rückwärts gerichtetes und kein vorwärts gerichtetes Denken die Augen verschließen kann. So war es nicht etwa ein Ausgreifen in neue Bereiche oder gar ein j Einstimmen in die alten Töne der Kulturkritik, was Heidegger nötigte, die Frage nach dem Sein gerade auch und in erster Linie an diejenige Lebensform

j

4

Der Weg in die Kehre

281

der Menschheit zu richten, die wir heute das technische Zeitalter nennen.

Dabei lag es ihm fern, romantische Beschwörungen einer vergehenden oder verblassenden Vergangenheit mit der Aufgabe des Denkens dessen, was ist, zu verwechseln. Wenn ehedem schon in »Sein und Zeit« die Uneigentlichkeit des Daseins neben der Eigentlichkeit des Daseins ihr wesentliches Recht zuerkannt erhielt, war das Heidegger zwar ernst damit, auch wenn es wie eine Selbst-Desavouierung seines kulturkritischen Pathos klang. Jetzt dagegen bildete das Zu-Ende-Denken des modernen Zeitalters, die Heraufstei-

gerung des technischen Weltentwurfs zu dem alles bestimmenden Schicksal der Menschheit, den einen und einheitlichen Erfahrungsboden, an dem sich Heideggers Frage nach dem Sein orientierte. Die vielberufene Seinsvergessenheit, mit der Heidegger zunächst die Metaphysik charakterisiert hatte, erwies sich als das Geschick des ganzen Zeitalters. Sie strebt unter dem Zeichen der positiven Wissenschaft und ihrer Umsetzung in Technik ihrer radikalen Vollendung zu und läßt nichts mehr neben sich gewahr werden, das etwa in einem Reservat des »Heilen« ein eigentlicheres Sein hätte. Das ist die neue Schärfe, die in Heideggers Denken kam, daß er gerade in solcher totalen Verborgenheit und Abwesenheit des Seins das Anwesen dieses Abwesens, das heißt, das »Sein« zu denken unternahm. Das war freilich selber kein kalkulierendes Denken, und es wäre mißverstanden, wenn man

nun von Heideggers Denkansatz aus die Möglichkeiten kalkulieren wollte, die der Zukunft der Menschheit ihre Chancen geben oder nehmen. Es kann

überhaupt kein kalkulierendes Denken geben, das über das Denken denkt,

als wäre es disponibel und einschätzbar. Hier ist Heidegger Goethe ganz nahe, der bekanntlich von sich gesagt hat: »Mein Sohn, ich habe es klug gemacht, ich habe nie über das Denken gedacht«. Auch Heideggers Denken denkt nicht über das Denken. Was Heidegger über die Technik und die Kehre gedacht hat, ist in Wahrheit auch nicht eigentlich ein Denken über die Technik oder über die Kehre, sondern ein Stehen im Sein selbst, das zu

denken seiner eigenen inneren Nötigung folgt. Er nennt es das »wesentliche« Denken und redet wohl auch von »Hinausdenken« oder »Entgegendenken« und will damit sagen, daß es nicht ein denkendes Ergreifen oder Begreifen von etwas ist, sondern eher so etwas wie ein Hineinstehenlassen des Seins in unser Denken, und sei dies auch in der radikalen Gestalt seiner völligen Abwesenheit. Es bedarf nicht der Betonung, daß solche Denkanstrengung sich nicht der

Griffe und Begriffe bedienen kann, mit denen man Gegenstände zu ergreifen und zu begreifen und zu übermächtigen imstande ist. Solches Denken verwickelt sich daher in eine äußerste Sprachnot, sofern das Denken und keinem Sprechen, das hier versucht wird, nichts zustande bringt und in

Bestand einen Gegenstand gesicherter Aussagen besitzt, dem sich denkendes n, und verstehendes Bemühen nur zuzuwenden brauchte. Selbst Äußerunge

282

Heideggers Wege

mit denen Heidegger dem kalkulierenden Denken, das Möglichkeiten der Zukunft erwägt, entgegenzutreten versucht, erhalten etwas von der mißlichen Vorgreiflichkeit, die dem Begreifen anhaftet. Gewiß ist es wahr, daß alle Vorausschau, die auf ein Neues, Anderes, Rettendes hofft, kein

wirkliches Berechnen oder Vorausberechnen einschließt, und wenn Heidegger deshalb von der Ankunft des Seins redet und etwa hinzusetzt »jäh vermutlich« (VuA 180) oder in jenem berühmten Interview sagt: »Nur ein Gott kann uns retten«, so sind dies mehr Zurückweisungen, die das rechnende Wissenwollen und Beherrschenwollen der Zukunft abweisen wollen, als daß sie wirkliche Aussagen sind. Das »Sein« läßt sich nicht ermitteln oder als durch etwas uns Zugängliches vermittelt denken. Eben deshalb aber sind solche Äußerungen nicht etwa Voraussagen. Sie sind überhaupt nicht eigentlich Aussagen seines Denkens und des Denkens dessen, was ist. Es gilt auch von solchen Aussagen, um mit Heidegger selbst zu reden, daß ein solcher in ihnen enthaltener Entwurf notwendig selbst zu einem ontischen wird. Wie kann dann überhaupt solches Entgegendenken vor sich gehen? Man hat nicht nötig, darüber zu spekulieren, sondern kann die von Heidegger selbst vorgelegten Versuche befragen. Kein Zweifel, daß sich in dieser Folge von mehr oder minder kurzen Arbeiten, die jeweils ihre eigene Fragestellung aus der Kritik der metaphysischen Begrifflichkeit und Theorienbildung gewinnen, die Richtung des Heideggerschen Denkens mit fast monomanischer Beharrlichkeit durchhält. Aber zur Ausbildung einer der eigenen Fragestellung angemessenen und in sich konsistenten Begriffssprache kommt es kaum. Wie Heidegger selber am Ende seines Lebens auf das von ihm Erreichte zurückblickte und eine Art Einleitung in die von ihm

vorbereitete Gesamtausgabe plante, wählte er als deren Vorspruch: »Wege, nicht Werke«. Wege sind dazu da, sie zu gehen, damit man sie hinter sich läßt und vorwärts kommt - sie sind nicht ein Bestand, bei dem man stehen

bleiben oder auf den man sich berufen kann. Die Sprache des späten Heidegger ist wie ein beständiges Aufbrechen von Sprachgewohnheiten und ein Aufladen von Worten mit einem elementaren Spannungsdruck, der zu explosiven Entladungen führt. Sie legt nicht fest. Deshalb ist all die fast rituelle Wiederholung der Diktion des späten Heidegger, wie sie gerade bei seinen Verehrern häufig begegnet, zutiefst unangemessen. Aber noch viel weniger ist seine Sprache beliebig und austauschbar. Sie ist am Ende so völlig unübersetzbar wie das Wort des lyrischen Gedichts und teilt mit ihm die evokative Macht, die von der vollkommenen Einheit und Untrennbarkeit von Lautgestalt und Sinnfunktion ausgeht. Und doch ist es nicht die Sprache der Poesie. Diese ist immer auf den dichterischen Ton gestimmt, in dem sich ein dichterisches Gebilde aus-

schwingt — Heideggers Sprache dagegen bleibt noch in der stammelnden

Der Weg in die Kehre

283

Suche nach dem rechten Wort die sich ständig überholende Sprache des Gedankens, Dialektik, die auf ein Vorgedachtes und Vorgegriffenes antwortet.

Nehmen wir ein Beispiel. »Nur was aus Welt gering, wird einmal Ding. «Das ist nicht einmal ins Deutsche übersetzbar. Am Ende eines langen Denkweges, der dem abstandlosen Gleichmachen aller nahen und fernen Dinge das wahre Wesen des Dinges entgegensetzte, versteht man einen Augenblick lang das Geringe des Dings als einen Vorgang, ein Geschehen, ein Ereignis, das mit dem Zeitwort »geringen« ausgedrückt ist. Zwar gibt es dies Zeitwort nicht, aber »ringeln« und »geringelt« und das reiche Bedeutungsfeld von »Ring«, »Kreis«, »Ringen«, vrings« klingt an und damit das ganze Weltenrund, aus dem sich das Geringe des Dings herausringt und in sich selbst rundet. Das Denken folgt den Furchen, die es in die Sprache legt. Die Sprache aber ist wie ein Acker, auf dem das Verschiedenste aufgehen kann. Man darf an Heideggers Interpretation des Anaximander-Wortes erinnern, aus dem er die »Weile« herausliest, die dem Seienden zugeteilt wird,

wenn es seine »Genesis« erfährt. So ist auch das Geringe des Dings etwas, was ‚aus Welt gering. Gewiß ist das Geringe« zunächst als nominalisiertes Adjektiv gebraucht. Aber durch die Nominalisierung von »gering« wird eine kollektive Bewegungsganzheit evoziert, wie durch »Gemenge, Geschiebe, Getriebe, und so wagt Heidegger, es am Ende ganz in ein ZeitwortImperfekt zu verwandeln, ähnlich wie das »Nichten«, das »Dingen« und das

‚Sein«, das er »Seyn« schreibt. Das veinmal« der Phrase stützt den Vergangenheitssinn dieses Kunstzeitworts »gering« und ebenso die Reimantwort »Ding«. Man hört darin Anklänge an »gerinnt«, »gerannt«, »gelingt«, »gelang«, aber auch »geraten«, »geriet«, die dem selben semantischen Feld angehören. So faßt der Schlußsatz des Ding-Aufsatzes den durchlaufenen Weg zusammen und meint, nur wo Welt sich zum runden Ring einer Mitte, so gering sie auch ist, zusammengeringelt hat, kommt am Ende ein Ding zustande. Man kann sich fragen, ob solche Sprachbrechungen und Sprachzeugungen ihr Ziel erreichen, und dies Ziel ist natürlich, sich mitzuteilen, kommunikativ zu sein, im Wort Denken zu versammeln, uns im Wort auf ein

gemeinsam Gedachtes zu versammeln. Neologismen (wenn man das hier so nennen kann - es sind eigentlich Zubringungen neuer semantischer Bezüge zu bestehenden semantischen Einheiten) bedürfen der Stützung, und deshalb können Dichter, denen die Stütze von Rhythmus, Versmelodie und Reim zur Verfügung steht, das Erstaunlichste wagen. Man denke im Deutschen etwa an Rilke oder Paul Celan. Heidegger hat schon in ganz frühen Denkversuchen Ähnliches gewagt. Eine der frühesten Prägungen dieser Art, die ich schon erfuhr, als ich Heidegger noch gar nicht begegnet war und noch keine Publikation vorlag, die von seinem neuen kühnen Umgang mit der Sprache zeugte, war: »Es weltet«. Das schlug unmittelbar +

284

Heideggers Wege

ein, wie ein Blitz, der ein lange gähnendes Dunkel erhellt, das Dunkel des Anfangs, des Ursprungs, der Frühe. Aber auch für dies Dunkel selber fand er ein (nicht neues, aber nur aus ganz anderem Bereich der norddeutschen

Wettersprache stammendes) Wort, wenn er-schon 1922 - sagte: »Leben ist diesig - es nebelt sich immer wieder ein« und gewährt nicht für lange Klarheit und Hellsicht. Die Stützen, die Heidegger so für sein Denken sucht, sind nicht von der dauernden Haltekraft, die das ins Gedicht gefügte Wort bewahrt, und viele solcher Stützen zerbrechen sofort. Ich erinnere an »Ent-

fernung« für »Näherung«. Aber im ihren hinführenden epagogischen Denken folgt den Furchen, die es in Acker, auf dem das Verschiedenste

Duktus einer Gedankenführung tun sie Dienst. Heidegger sagt es selbst: »Das die Sprache legt. « Die Sprache ist wieein aufgehen kann.

Gewiß, das sind Bilder, Metaphern, Vergleiche - Redemittel, die sich im Verfolgen einer Richtung des Gedankens als Stützen anbieten, nichts, was man dauerhaft festhalten kann oder soll, aber das sich eben einstellt, wie

Worte sich einstellen, wenn

man etwas sagen will. Und »sagen« heißt

»zeigen«, festhalten und mitteilen, aber nur dem, der selber hinsieht.

Eben deswegen ist die Unübersetzbarkeit dieser Sprache nicht ein Verlust - oder etwa gar ein Einwand gegen das Denken, das sich so artikuliert. Wo Übersetzen, d.h. die Illusion einer beliebigen Transponierbarkeit von Gedachtem, zuschanden wird, schlägt Denken ein. Wohin Denken uns führt, wissen wir nicht. Wo wir es zu wissen meinen, meinen wir nur zu

denken. Es wäre kein »Stehen« unter der Herausforderung, die uns trifft und die wir nicht wählen. Sie stellt uns, wir müssen stehen oder fallen. Stehen aber ist Standhalten, Entsprechen, Antworten, und nicht ein kalkulierendes

Spielen mit Möglichkeiten.

e e aD

20. Die Griechen 1979

Ein Denker vom Format Martin Heideggers bietet viele Aspekte, unter denen seine Bedeutung und seine Wirkung gewürdigt werden kann. Da ist sein Aufgreifen des Existenzbegriffs Kierkegaardscher Prägung und seine Analyse

der Angst und des Seins zum

Tode,

die insbesondere

auf die

protestantische Theologie der zwanziger Jahre eine tiefe Wirkung ausübte und etwa auch die erste Rilke-Rezeption beeinflußte. Da ist in den dreißiger Jahren Heideggers »Kehre« zu Hölderlin, die diesem deutschen Dichter eine fast prophetische Botschaft abgewann. Da ist der großartige Wurf und Gegen-Wurf einer einheitlichen Nietzsche-Deutung, die erstmals den Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr des Gleichen zusammendachte. Da ist, insbesondere in der Zeitnach dem zweiten Weltkrieg, seine Deutung der abendländischen Metaphysik und ihres Auslaufens in das Zeitalter der universalen Technik als das Geschick der Seinsvergessenheit - und hinter all dem spürt man ständig eine Art geheimer Theologie des verborgenen Gottes. Man mag den Interpretationen Heideggers im einzelnen noch so viel am Zeuge flicken wollen, man mag auch Heideggers Überwindung der Metaphysik von sich weisen, sei es als eine säkulare Vermessenheit oder im

Gegenteil als eine letzte, endgültig letzte und endhafte Verzögerung des Nihilismus - niemand wird leugnen, daß die europäische Philosophie in den letzten fünfzig Jahren von den Denkwagnissen Heideggers herausgefordert worden ist wie von niemandem sonst. Auch wird niemand angesichts der fast atemlosen Folge der Heideggerschen Denkversuche die innere Notwendigkeit seines Weges leugnen können,

selbst wenn

er manchem

als ein

Irrweg durch die Felder der Unsagbarkeit erscheinen mag. Gleichwohl wird die Vielfalt der Aspekte, die Werk und Wirkung Heideggers bieten, und die Einheit des Weges, den er gegangen ist, an keinem Thema so deutlich artikuliert, wie an Heideggers Verhältnis zu den Griechen. Gewiß hat schon seit den Tagen des deutschen Idealismus die Philosophie der Griechen eine bevorzugte Rolle im deutschen Denken gespielt, in historischer wie in problemgeschichtlicher Sicht. Hegel und Marx,

Trendelenburg

und Zeller, Nietzsche

und Dilthey,

Cohen und

he, Natorp, Cassirer und Nicolai Hartmann sind eine stattliche Zeugenrei

man zu den die sich mit Leichtigkeit verlängern ließe, insbesondere wenn

großen klassischen Philologen der Schule von Berlin hinüberblickte.

286

Heideggers Wege

Aber mit Heidegger setzt etwas Neues ein, eine neue Nähe und eine neue kritische Befragung des griechischen Anfangs, die seine ersten selbständigen Schritte lenkte und ihn bis in die letzten Jahre hinein beständig begleitete. Der Leser von »Sein und Zeit« kann beides leicht verifizieren, Nähe und Ferne. Aber man muß in diesen frühen Marburger Jahren in Heideggers Hörsaal gesessen haben, um den Umfang zu ermessen, in dem Aristoteles in

Heideggers Denken jener Jahre präsent war. Als ich im Jahre 1922, gerade nach meiner Doktorpromotion, an Polio erkrankte, genau in dem Augenblick, als ich zu Aristoteles-Studien zu Heidegger nach Freiburg gehen wollte, tröstete er mich mit der Mitteilung, daß im nächsten Jahrbuchband

umfangreiche

»phänomenologische

Interpretationen zu Aristoteles« von

ihm erscheinen würden: »Der erste Teil (ca. 15 Bogen) betrifft Eth. Nic. Z, Met. A.1.2., Phys. A.8; der zweite (in gleichem Umfang) Met. ZH®, De

motu an., De anima. Der dritte erscheint später. Da das Jahrbuch erst später ausgegeben wird, kann ich Ihnen wohl mit einem Separatabzug dienen«. Diese angekündigte Veröffentlichung kam nicht zustande. Lediglich die Einleitung zu derselben, eine Analyse der hermeneutischen Situation, in der sich uns Aristoteles darstellt, wurde in Abschrift einigen Leuten bekannt,

und so auch mir durch die Vermittlung von Natorp. Das ebenso kühne wie aufregende Manuskript wurde die Grundlage zu Heideggers Berufung nach Marburg, und diese wiederum die Ursache, warum die beabsichtigte Publikation ganz unterblieb. Neue große Aufgaben waren an Heidegger herangetreten, von deren Bewältigung die jetzt im Erscheinen begriffene Reihe der Marburger Vorlesungen ein eindrucksvolles Zeugnis abgibt. Wie weit die Aristoteles-Interpretationen, die er sich erarbeitet hatte, in diese Vorlesungen eingegangen sind, kann vorläufig nur aus »Sein und Zeit« und allenfalls aus der Logik-Vorlesung von 1925-26 (Band 21, $ 13) entnommen werden. Aber wer in den Marburger Jahren Heidegger gehört hat, weiß mehr davon. Aristoteles wurde einem derart auf den Leib gerückt,

daß man zeitweise jeden Abstand verlor und nicht einmal realisierte, daß Heidegger sich nicht selber mit Aristoteles identifizierte, sondern am Ende auf einen eigenen Gegenentwurf zur Metaphysik zielte. Vielmehr lag die Auszeichnung dieser frühen Aristoteles-Deutung darin, daß sie die verfremdende scholastische Überformung abstreifte und ‚geradezu ein Vorbild hermeneutischer »Horizontverschmelzung« wurde, die Aristoteles wieeinen Gegenwärtigen zu Worte kommen ließ. Heideggers Vorlesungen haben ihre Wirkung getan. Ich selbst lernte Entscheidendes aus seiner ebenso textnahen wie entschlossenen Interpretation des 6. Buches der Nikomachischen Ethik über die »dianoetischen Tugenden. Schließlich ist die Phronesis und die ihr verschwisterte Synesis die hermeneutische Tugend schlechthin. Hier, in der Kritik an Plato, die sich in der Differenzierung von Techne, Episteme und

F

Ne e he

Die Griechen

287

Phronesis kristallisierte, nahm Heidegger seinen ersten, entschlossenen Abstand von »Philosophie als strenger Wissenschaft«. Nicht minder wichtig war, wie Heidegger das Nebeneinander der Kategorien und der Begriffe von dynamis und energeia zusammendachte, das in der Gedankenführung der ‚Metaphysik« so auffällig ist. Bröcker arbeitete diese Heideggerschen Ideen über den Zusammenhang von Kinesis und Logos aus, und manche andere Arbeit Jüngerer gehört hierher. Heidegger selbst griff offenbar auf seine älteren Manuskripte zurück, als er 1940 in Freiburg eine Seminarübung über Aristoteles’

Physik B 1 veranstaltete,

deren erste Publikation

1958 in Il

Pensiero Ill erfolgte. Alle späteren Veröffentlichungen Heideggers, die sein Verhältnis zu den Griechen

betreffen,

angefangen

mit dem

Anaximander-Aufsatz

in den

Holzwegen, teilen die in den frühen Studien fast bis zur Identifikation getriebene Horizontverschmelzung nicht mehr im selben Grade. Die Abhandlung über die Physis bei Aristoteles jedoch suchte mit radikaler Entschiedenheit den Aristotelischen Gedanken der Physis wiederherzustellen und gegen den neuzeitlichen Angriff auf die »Natur«, den die moderne Wissenschaft betreibt, abzugrenzen. Es.ist offenkundig, daß Heidegger hier an seine frühen Studien anknüpft. Sofern die Abhandlung den Aristotelischen Begriff der Physis ganz im Lichte des Anfangs des griechischen Denkens entwickelt und gegen die spätere Umformung des Naturbegriffs im lateinischen und neuzeitlichen Denken abhebt, blieb sie noch diesseits der

ausdrücklichen Einordnung in das spätere Thema der Überwindung der Metaphysik. Damit soll nicht etwa ein Bruch in Heideggers philosophischer Entwicklung behauptet werden. In Wahrheit scheint mir das mehr eine Frage der Perspektive. Die Tatsache, daß Heidegger im Jahre 1940 auf seine frühen Aristoteles-Studien zurückgriff und daß daraus im Jahre 1958 eine Veröffentlichung hervorging, bezeugt vielmehr die Kontinuität seines Denkens über die sogenannte Kehre hinweg. Seine Wendung zu den Griechen war für ihn grundlegend. Sie zeichnete ihn unter allen Phänomenologen schon früh aus. (Ich ging 1923 nach Freiburg, nicht so sehr um von Husserls Phänomenologie als um von Heideggers Aristoteles-Interpretationen zu lernen). Die Orientierung an den Griechen war so sehr bestimmend, daß ihr gegenüber die transzendentale Selbstauffassung von »Sein und Zeit« etwas Provisori-

sches an sich hatte. Insofern war die berühmte »Kehre« alles andere als ein Bruch in Heideggers Denken. Sie war weit cher die Abstoßung einer unangemessenen Selbstinterpretation, der er sich unter dem starken Einfluß Husserls verschrieben hatte. Selbst das spätere ausdrückliche Thema der Überwindung der Metaphysik muß als eine Folge seiner Orientierung an den griechischen Anfängen gedacht werden.

288

Heideggers Wege

Auch der spätere Heidegger hat das griechische Denken in seiner Gesamtheit als anfängliches gesehen, in dem die Frage nach dem Sein zwar schon immer und immer nur als die Frage nach dem Sein des Seienden auftrat, aber

noch nicht durch die »römische Willensstellung« (Dilthey) oder durch die neuzeitliche »Sorge um die erkannte Erkenntnis< (Heidegger-Vorlesung Marburg 1923) von der ursprünglichen Erfahrung des Da und der Aletheia abgedrängt war. Was anderes konnte auch der Heideggerschen Frage, die die phänomenologische Immanenz des transzendentalen Selbstbewußtseins zu brechen unternahm, so hilfreich sein wie das griechische Denken, das dieungeheuren

Fragen des Anfangs, des Seins und des Nichts, des Einen und des Vielen durchmaß und Psyche, Logos und Nous zu denken vermochte, ohne den Idolen der Selbsterkenntnis und dem methodischen Primat des Selbstbewußtseins zu verfallen. Die historische Anstrengung, griechisch zu denken und das Griechisch-Denken unseren eigenen modernen Denkgewohnheiten abzutrotzen, diente hier in einzigartiger Weise dem eigenen Frageimpuls Heideggers. Er suchte ja nicht nur in phänomenologischer Reduktion auf das reine Bewußtsein die sogenannte Subjekt-Objekt-Spaltung zu überwinden, sondern richtete an dieses Reduktionsfeld der Intentionalität und an die

noetisch-noematische Korrelationsforschung, als die Husserl die Phänomenologie definierte, selber die Frage, was »Sein« bedeute, mag es sich bei»Sein« um Bewußtsein, um Vorhandensein, Zuhandensein, Dasein oder - um Zeit

handeln. So haben wir hier einen einzigartigen Fall. Ein von seinem eigenen Fragen besessener Frager hatte sich von jeher seine Gesprächspartner gesucht und am Ende so gewaltige Partner erfunden, wie Nietzsche, den er in seine metaphysischen Konsequenzen auszog und diese sich selber als größte Herausforderung entgegenstellte, oder wie Hölderlin , den Dichter des Dichtens, der kein Denker des Denkens sei und den zu denken ihm über das

Verfängnis des Selbstbewußtseins des deutschen Idealismus hinauszudenken verhieß. An den Griechen aber fand er von Anbeginn seinen wahren Partner. Sie richteten an ihn die beständige Forderung, sie noch griechischer zu denken und damit sein eigenes Fragen an ihnen zu wiederholen. Der durch die Gewaltsamkeit seiner Interpretationen berühmte Denker, der das

Historische so oft ungeduldig beiseite schob, wenn er nur sich selbst inden Texten hörte und wiederfand - hier konnte er gar nicht »historisch« genug sein, wenn er sich wiederfinden wollte.

i

Freilich liegt der Anfang des griechischen Denkens im Dunkeln. Was Heidegger an Anaximander, an Heraklit, an Parmenides wiedererkannte, war gewiß er selbst. Aber es waren ja auch wirklich nur aufgelesene Trümmer, die nicht als Texte und nicht im Ganzen von Rede und Gedanke

T

erhalten waren. Was er da zu seinem eigenen Bau zu türmen trachtete, waren ;

.

Die Griechen

289

Fragmente, die er um und um wendete und nach seiner eigenen Konstruktionsidee zusammenfügte. Es gibt in Heideggers Gebrauch vorsokratischer Texte gewiß manche Gewaltsamkeit, die ich nicht verteidigen würde. So reißt er zum Beispiel in dem Anaximanderwort das geradezu formelhafte öixnv xai ziorwv auseinander. Im Falle der Parmenidesverse ignoriert er, daß z&vz6 immer nur im prädikativen Gebrauche vorkommt usw. Aber im ganzen muß man sagen, daß unsere Möglichkeit, vorsokratische Zitate zu verstehen, ähnlich zu beurtei-

len ist, wie es für Sokrates und Plato im besonderen mit den Heraklitworten war. Da gab Sokrates die berühmte Antwort, es bedürfe eines delischen Tauchers, um sie zu verstehen. Was er verstanden habe, sei vortrefflich ... .

Heidegger ging den methodisch richtigen Weg, von dem Aristotelischen Text aus auf die vorsokratischen Anfänge zurückzufragen. Der allein erhaltene Text, der all das umschloß,

war tatsächlich der Aristotelische.

Selbst das Denkgeschehen der Platonischen Dialoge - des ersten philosophischen Textes, den wir besitzen - blieb dem ungeduldigen Frager bei aller Wucht der Aneignung ungreifbar. Aber wie aus einem Stahlbad - so liebte Heidegger die Vertiefung in die unförmigen Werkstattpapiere des Aristoteles zu nennen - stieg ihm die anfängliche Denkerfahrung der Griechen aus den folgerichtigen Analysen des Aristoteles ans Licht, herausfordernd durch ihre Einfachheit und durch

ihre Andersheit. Was muß das für den im scholastischen Aristotelismus erzogenen jungen Mann gewesen sein, als er diese Sprache des Anfangs hören lernte. Er erkannte in Aletheia nicht so sehr die Unverborgenheit und Unverhohlenheit des Sagens, sondern zuerst und vor allem das Seiende selbst, das sich in seinem wahren Sein zeigt, wie das echte, nicht verfälschte

Gold. Das war griechisch gedacht. So war es mit einem wahren Enthusiasmus, daß Heidegger in der Aristotelischen Metaphysik (© 10) die ausgezeichnete Stellung des Wahrseins als die Vollendung des ganzen Gedankenganges der zentralen Metaphysikbücher verteidigte, sicherlich nicht von der identitätsphilosophischen Perspektive des deutschen Idealismus benommen, die dieses Kapitel den Hegelianern so teuer machen mußte, sondern von dem Anklang an die Erfahrung des Seins angerührt, das sich ihm im

man Horizont der Zeit denken ließ. Daß Sein Anwesenheit ist, konnte das unmittelbar an Plato und Aristoteles verstehen lernen, und ebenso, daß

immer Anwesende das am meisten Seiende ist. Darüber hinaus aber machte Heidegger die geniale Beobachtung, daß immer, det, nichts mit Aeternitas ist. zu tun hat, sondern von der Jeweiligkeit des Anwesenden her zu denken regierenden jeweils den Das lehrt der Wortgebrauch: ö dei BanAeiwv meint König (wer immer König ist sagen wir im Deutschen auch!). Bekanntlich

Griechen diese hat der späte Heidegger ausdrücklich anerkannt, daß die

immer Seinserfahrung nicht selber als Aletheia gedacht, sondern Aletheia

Heideggers Wege

290

schon in der Richtung der Übereinstimmung von Sein und Schein, von Usia und Phantasia (Met. A 23) verstanden haben, die »falschen« Sachen ebenso wie die »falschen« Reden. (Zur Sache des Denkens 77) Aber das ändert nichts

daran, daß die Erfahrung des Seins selber, die sich so in der Aussage artikulierte, nicht an der Aussage oder an dem Gedanken, in dem sie sich

darstellt, gemessen werden darf. Der späte Heidegger redet dann vom Ereignis oder von der Lichtung, welche Anwesenheit von Seiendem überhaupt erst möglich macht. Das war gewiß nicht griechisch gedacht, aber es zeichnet sich ungedacht im griechischen Denken gleichsam vor. Im besonderen Grade gilt das für die Aristotelische Analyse von Physis, daß sie seiner Stellung der Frage nach dem Sein im Horizont der Zeit entgegenkam. Diese Abhandlung steht somit in der Mitte aller der unablässigen Bemühung Heideggers, mit den Griechen und hinter sie zurück anfänglicher zu denken. Inzwischen hat die Gesamtausgabe einige Bände Freiburger Vorlesungen, (‚Heraklit« Bd. 55, »Parmenides« Bd. 54) zugänglich gemacht. Die Griechen griechischer denken - verwickelt sich denn diese Forderung nicht in heillose hermeneutische Schwierigkeiten, wenn sie sich an einem

Aristotelischen Schultext wie dem der Physik-Vorlesung ausweisen will? Dieser Text gehört doch wahrlich nicht mehr zu den tastenden Versuchen der Frühzeit, die homerische Verssprache und ein mythisches Vokabular ins Gedankliche umzusetzen. Dort, an diesen vorsokratischen Zitaten, mochte

es möglich sein, Ungedachtes zu erraten. Aber Logik und Dialektik hatten inzwischen den Gebrauch von Argumenten und Rede in ihre Disziplin genommen,

und

eine neue

Schulkultur

war

entstanden,

von

der der

Aristotelische Text selber ein sprechendes Zeugnis ist. Ist es da überhaupt möglich und historisch gesehen gerechtfertigt, am Aristotelischen Text hinter seinen Schulgebrauch zurückdenken zu wollen? Verfallen wir damit nicht einem ebenso künstlichen Archaismus, wie wir ihn bei so manchen

Heideggerschen Wagnissen mit der deutschen Sprache antreffen? Nun ist es sicher richtig, daß Heidegger in beiden Fällen durch bewußte Gewalt das uns natürlich scheinende Vorverständnis der Worte zu brechen trachtete. Aber ist das im Falle des Aristoteles so abwegig? Wenn Heidegger yarche« nicht als Prinzip, sondern als Anfang und Herrschaft, als Ausgang und Verfügung umschreibt, so stellt es doch eine gewisse Legitimation dafür dar, daß es sich hier um die terminologische Einführung dieses Wortes durch Aristoteles selber handelt. Keine terminologische Fixierung schneidet je die semantischen Bezüge eines gebräuchlichen Wortes gänzlich ab. Und wie sehr sich Aristoteles dieses Umstandes bewußt war, lehrt der berühmte Begriffskatalog von Metaphysik Delta. So findet sich in der Tat noch im ersten Kapitel der eigenen Wortanalyse des Aristoteles sowohl die Analyse der vielfältigen Bedeutung von »Anfang« wie die besondere Bedeutung des Wortes als »Herrschaft« und »Amtsausübung«. Wir lernen etwas daraus,

291

Die Griechen

nämlich

daß »Prinzip« nicht einfach ein Ausgangspunkt

ist (des Seins,

Werdens und insbesondere des Erkennens), den man verläßt, sondern ein

durch alles hin Gegenwärtiges. Das von Natur Seiende, das den Anfang der Kinesis in ihm selbst hat, fängt nicht nur solche Bewegung von sich aus an, (ohne gestoßen zu werden), sondern »kann« das. Das schließt ein: es mag sich auch ruhig verhalten, und das heißt: es beherrscht seine Bewegungen. So besitzt das Tier seine Art der Fortbewegung und hat auch die Pflanze den »Anfang« in sich selbst, indem sie sich am Leben hält. Man muß ihr daher eine anima vegetativa zusprechen. Das Sein des von Natur Seienden ist seine »Bewegtheit«. Sie schließt Bewegung ebenso wie Ruhe ein. Ähnlich liegt es in anderen Fällen, wenn Aristoteles von gewöhnlichen Worten einen besonderen terminologischen Gebrauch macht oder wenn er gar neue Wortzusammensetzungen erfindet wie »energeia« oder »entelecheia«. Solche neuen Wortbildungen vermögen dann auch bekannte Worte ins Ontologische hinüberzuziehen, wie in diesem Falle das Wort ‚dynamis«, das »Können«, das Aristoteles seinem allgemeinen Sinne nach als »arche kineseoos« definiert. Heidegger gibt es mit »Eignung« wieder. Aber er findet selbst dies noch gefährlich, weil »wir nicht griechisch genug denken und die Eignung zu . . . nicht als die Weise des noch zurück- und an sich haltenden Hervorkommens in das Aussehen, darin die Eignung sich erfüllt« verstehen. Das klingt zwar einigermaßen chinesisch, aber das kommt nur daher, daß

Heideggers Erläuterung eine Reihe anderer Umsetzungen einschließt, die Heidegger bereits vorher mit Physis, Logos, Eidos vorgenommen hatte. In der Sache hat er recht. Wieder ist es unüberhörbar, daß das neue aristoteli-

sche Begriffswort »dynamis« nicht einfach als ‚Möglichkeit« verstanden werden darf, sondern daß die bekannte Bedeutung des Wortes dynamis, nämlich »Können«, mitspricht. Können aber ist eine Bewegtheit, die immer Ansichhalten einschließt. Das gewinnt im terminologischen Gebrauch des Aristoteles ontologische Bedeutung. Ähnlich steht es mit Physis als Hervorkommen,

»Aufgang«, Wir reden

von dem Aufgehen des Samens. Auch da finden wir diesen Hinweis gleich

am Anfang der aristotelischen Wortanalyse (A 4). Offenbar wurde im Wort-

Physis das Aufgehen von Aristoteles selbst noch so stark gehört, daß er das Ypsilon am liebsten gelängt hätte. Gleiches gilt für veidos«. Auch bei veidos« Anwird man nicht leugnen können, daß die Wortkraft des Wortes, in dem

Blick und Aus-Sehen anklingen, mit der logischen Bezeichnung der Spezies nicht ausgeschöpft ist, sondern daß noch bei Aristoteles »Anblick« weiterspricht (wie bei Plato zum Beispiel Sophistes 258c3, d5). Sö'heißt es etwa Phys. 193b/d19: 7 oz£pmoxg elöög mus Eomv!. 1 Die griechische Wendung eiöös nu meint yirgendwie« ein Eidos. Heidegger übersetzt wenn hier nicht glücklich. Man wird übrigens berechtigten Widerstand empfinden, Eidos das ob als — redet npoayeröv eidoc von techne von Falle im 141) Heidegger (Seite

Heideggers Wege

292

Man könnte endlos so fortfahren, um zu zeigen, daß griechischer denken nicht so sehr anders denken heißt, als vielmehr: anderes mit-denken, das sich unserem

Denken entzieht, weil unser Denken

ganz auf Objektivität,

auf

Überwindung der Widerständigkeit der Gegenstände in wissender Gewißheit unserer selbst fixiert ist. Nur an zwei Worten, die Aristoteles zu Begriffen ernannt hat und die sich uns mit unwiderstehlicher Gewalt in die Perspektiven unseres eigenen Denkens einzuordnen scheinen, sei derseman-

tische Beitrag nochmals aufgewiesen, den Heideggersche Gewaltsamkeiten zu leisten vermögen. Das eine Wort ist metabole«. Es wird von uns mit Recht als »Umschlag« übersetzt und wird tatsächlich im Griechischen nicht nur für das Wetter,

sondern etwa auch für das Auf und Ab der menschlichen Geschicke gebraucht. Dies Wort gewinnt bei Aristoteles terminologischen Stellenwert. Es drückt die Formalstruktur von Kinesis aus, die allen Bewegungsarten gemeinsam

ist. Das ist für uns nicht zuletzt deshalb überraschend,

weil

damit die räumliche Bewegung ihre essentielle Kontinuität zu verlieren scheint und wie pure Ortsveränderung oder Ortswechsel klingt. Ja, Umschlag ist für uns das Gegenteil von solcher Bewegung. Das Wort impliziert für uns in erster Linie den Verlust der Beständigkeit. Wenn das Wetter umschlägt, meinen wir nicht, daß das schlechte Wetter aufhört, sondern daß

das schöne Wetter zu Ende ist. Auch für das griechische Denken ist das fast selbstverständlich. Parmenides besteht so sehr auf der Beständigkeit des Seins, daß er es geradezu bloße Namen nennt, wenn »die Menschen für wahr hielten und festsetzten yiyveodat re xai 6Mvodar, eival te xal oüyi, kal Tonov dlldoosıv Öıa Te xpda yavov dyueißer«?. Hinter einer solchen Wendung steht offenbar die Klage über die Unverläßlichkeit und Unbeständigkeit des Seins. Wenn wir von Ortsbewegung und Veränderung reden, denken wir aber nicht an Umschlag, sondern vorwiegend an den Übergang des einen in das andere. Was liegt darin, daß das Aristotelische Denken die Struktur des

Umschlags, also das Schlagartige, auf alle Bewegungsarten hin verallgemeinert? Hier scheint mir Heidegger für die Griechen recht zu haben, wenn er hervorhebt, »daß im Umschlag etwas bisher Verborgenes und Abwesendes zum Vorschein kommt«.

»gewählt« würde, wie Herkules am Scheideweg die »‚Tugend« wählt, und nicht vielmehr

der vorgegebene Zweck der Sache unser Vorhaben bestimmt. Das ist auch der Grund, warum Plato offenbar auch von den künstlichen Dingen »Ideen« annahm und sie »paradeigmata« nannte. In diesem Falle dachte selbst Heidegger einmal nicht griechisch genug. 2 fr. 8,40ff. Der Text des Parmenidesgedichtes läßt hier keinen Zweifel. Wenn die Farbe »leuchtend« (pav6y) genannt wird, so heißt das, daß Parmenides auf ihr Vergehen blickt. (Auch im Deutschen haben wir die eigentümlich doppelsinnige Wendung: »Die Farbe ist vergangen«).

Die Griechen

293

Das ist zwar nicht im Widerspruch mit der Erfahrung, daß das Beständige umschlägt, gegen die das eleatische Denken sich auflehnt, aber in solcher Erfahrung des Umschlags ist offenbar eine positive Erfahrung des Seins und nicht bloß der Seinsverlust eingeschlossen. Das ist es, was in der Physik des Aristoteles

seine

begriffliche

Auszeichnung

findet.

Das,

worein

der

Umschlag stattfindet, wird als Sein gedacht. Damit öffnet sich hinter dem beständigen Sein des Parmenides die Tiefendimension seiner Herkunft, die

er selber nicht dachte, und das ist es, was in der terminologischen Prägung von metabole durch Aristoteles noch nachklingt. Daß die von Natur Seienden die arche des Umschlags in sich selber haben, ist ihre positive ontologische Auszeichnung und nicht eine Minderung an »Sein« Dazu stimmt nun auch der sonstige voraristotelische Sprachgebrauch von metabole. Immer wird gesagt, wohinein der Umschlag geschieht. So ist die Folgerung zwingend, daß es auf das ankommt, was herauskommt, das heißt, wohin es ausschlägt. Das findet seine volle Bestätigung in der Struktur des schlechthinnigen Entstehens. Da haben wir ja wirklich den Umschlag von Nicht in Sein, den Aristoteles formal als Umschlag xar’ ävripaonv charakterisiert. So hat Bewegung in der Tat, um mit Heidegger zu sprechen, »als eine Weise des Seins den Charakter des Herkommens in die Anwesung« (139). Endlich das vielleicht Überraschendste: »morphe«. Wir hören darin so entschieden des Töpfers bildende Hand, der den verfügbaren Stoff knetet,

daß wir auch den Aristotelischen Zusatz xai 70 eidog 10 ara röv Aöyov von uns aus ohne weiteres aus der Analogie mit der Techne verstehen. In der Tat führt Aristoteles diese Analogie mit der Techne auch sofort durch. Physis ist Sich-selbst-Herstellen. Nun aber lehrt Heidegger, daß auch für Aristoteles Herstellen nicht einfach Machen

ist. Wenn

es bei Aristoteles heißt, die

Morphe sei mehr Physis als die Hyle, dann liegt darin nur scheinbar die Analogie zur Techne. , In Wahrheit ist es vielmehr die Genesis, das schlechthinnige Entstehen

woran der Morphe-Charakter der Physis handgreiflich wird: »Außerdem aus entsteht ja ein Mensch aus einem Menschen, aber nicht ein Bettgestell einem Bettgestell« (193d8). So ist es gerechtfertigt, daß Heidegger sogar noch den Vorgang des technischen Machens folgendermaßen interpretiert: Morphe ist auch in diesem Falle »Gestellung in das Aussehen«, so daß »die Falle der “ Eignung des Geeigneten zusehends voller heraustritt«. Auch im und Herein um als Machen ein um Techne handelt es sich also nicht so sehr

ausstellen ist, Herausstellen - so wie es im natürlichen Prozeß ein Sich-Her

die Erde zum Beispiel, was für ein Samenkorn es eigentlich war, das wir in steckten. findet nun Die so herausgearbeitete begriffliche Prägung von Morphe . Auch Rückhalt ihren Wortes des ebrauch Sprachg hen natürlic im tatsächlich

Heideggers Wege

294

Aristoteles gebraucht das Wort fast nur für Lebendiges, das seine Gestalt gewinnt. Das Verbum uoppöw erscheint überhaupt erst spät. Der früheste Gebrauch des Wortes Morphe findet sich in der Odyssee und bezeichnet die natürliche Bildung und Wohlgebildetheit, und dem entspricht auch aller spätere gewöhnliche Sprachgebrauch. Morphe ist das, wozu sich etwas vollendet und als was es sich darstellt, als was es herauskommt. Der Schein

einer technischen Leitvorstellung ist offenkundig falsch®. Doch genug der semantischen Begleitstimmen zu den Aristotelischen Begriffen. Die Lehre, die sie uns erteilen, ist deutlich genug. Daß wir im allgemeinen die Bedeutungsfelder der griechischen Worte, die Aristoteles gebraucht, auf ihre terminologische Funktion einengen, hat seinen Grund nicht so sehr in dem sprachlichen Abstand, der uns von dem natürlichen gesprochenen Griechisch trennt, als in der wirkungsgeschichtlichen Bestimmtheit unseres Vorverständnisses, das durch die römisch-lateinische

und neuzeitlich instrumentalistische Umsetzung der Aristotelischen Begriffswelt geprägt ist. Können wir doch nicht einmal mehr unser gutes deutsches Wort Ursache als die Sache denken, die es eigentlich meint, die causa, die cosa, sondern sehen darin nur seine Funktion, das Verursachende,

Bewirkende zu sein. Von den vier Ursachen des Aristoteles zu reden ist für uns voller scholastischer Künstlichkeit. Nur die causa motrix scheint uns Ursache heißen zu dürfen - allenfalls noch die verpönte Zweckursache, aber gewiß nicht Stoff oder Form. Sie sind nicht Formen von »Kausalität«. So klingt es ständig von falschen Anklängen wider, wenn wir Griechisches zu denken suchen. Gelehrsamkeit oder historische Bildung lassen uns zwar die Andersheit spüren, aber denken läßt sie sich nicht, wenn ihr in

unserem eigenen Denken nichts entspricht. Denn die Begriffsworte der Philosophie werden sich selbst entfremdet, weil sie nichts Seiendes sagen, sondern in den Zwang des Gedankens eintreten. Das ist es, was Heidegger die Sprache der Metaphysik nennt. Sie hat sich im aristotelischen Denken zuerst artikuliert und beherrscht unsere ganze Begriffswelt. Heideggers gewalttätiges Andenken gegen diese Herrschaft ist nicht etwa ein bloßes Resultat verfeinerter historischer Auffassung und eines geschulteren histori- schen Sinnes — als ob sich Vergangenheit je wahllos verschenkte. Was Heideggers Denken auf den Plan rief, war gewiß kein bloßes historisches Interesse an dem »originalen« Denken der Griechen. Als ein Mann unseres Jahrhunderts, in dem »Geschichte« und »Geschichtlichkeit« mit den größten Anfangsbuchstaben geschrieben worden sind, und von der Unangemessenheit der traditionellen philosophischen Begriffe für das Verständnis des 3 Dagegen liegt die Sache bei »Hyle« anders. Das ist ohne Zweifel ein stechnischer« Ausdruck. Aber das ist eseben, daß »Hyle« nicht im eigentlichen Sinne »Sein« ist, wohl aber

»Morphe«.

2

n

Die Griechen

295

christlichen Glaubens erfüllt, konnte er mit dem traditionellen Verständnis der Metaphysik nicht zurechtkommen. Da beschenkte ihn der Rückgang auf den originären Aristoteles mit einer wahren Denkhilfe. Daß »physis« den Seinscharakter desjenigen Seienden, dem man ontologische Valenz auf keinen Fall absprechen darf, ausmacht, bedeutete durchaus nicht, daß nur das von Natur Seiende solche ontologische Valenz besitzt, wohl aber, daß

Sein so gedacht werden muß, daß auch das in Bewegtheit Befindliche als seiend anerkannt ist. Physik ist nicht Metaphysik. Indes das höchste Seiende, das Göttliche, ist selber als höchste Bewegtheit zu denken. Das lehrt der Begriffszusammenhang, der zwischen »Bewegung« und den Leitbegriffen yenergeia« und »entelecheia« besteht. Unser Denken ist für Heideggers Einsicht bereit geworden, weil es vom Ende der Metaphysik und dem Herauskommen der Aporien des »positiven« Zeitalters geprägt ist. Nietzsches Metaphysik der Wertschätzungen stellt dieses äußerste Ende dar. Auf der Spitze der Modernität, in der sich Sein in Werden und in ewige Wiederkehr auflöst, konnte von Nietzsche hinter die Metaphysik zurückgefragt werden. Das gilt erst recht für Heidegger. Er erkannte in der Metaphysik das Schicksal unserer Welt, das sich in der auf Wissenschaft gegründeten Weltbewältigung erfüllt - und in dem Scheitern, auf das diese zurast. Dann aber ist die Frage nach dem Anfang keine historische Frage mehr,

sondern

eine Frage an das Schicksal

aufbewahrt? Daß die gegebenen Antworten,

selber.

Ist uns

noch »Sein«

die unsere Geschichte und

unser Schicksal sind, uns erlauben könnten, die Frage selber erneut zu stellen, auf die sie Antworten sein wollten, macht den Weg unseres

Philosophierens aus. Es ist überraschend genug, daß der späte Physiktext des Aristoteles dazu helfen kann. Zwar, Aristoteles sucht hier - gegen das pythagoreische Denken Platos - ein älteres Denken zu erneuern und Sein als Bewegtheit statt als konstante Zahlenharmonie zu denken. Aber es bleibt doch erstaunlich,

was da hinter dem an Techne alles auftaucht, nur Nachklänge. Aber Natur und Geist, von

der Oberfläche liegenden Gegensatz von Physis wenn wir mit Heidegger lesen lernen. Gewiß, es wie oberflächlich erscheint da unser Verständnis Raum und Bewegung, von verfügbarem Stoff

und sind von und

von der ewig unveränderlichen Form! Wir lernen besser denken, was ist,

wenn wir Sein als den Aufgang denken, als das, was sich herstellt und als das jeweils Seiende herausstellt und zugleich mehr ist als das in sein Aussehen

Gestellte. Sein ist nicht nur Sich-Zeigen, es ist an sich haltend, und das läßt

sich an aller Bewegtheit ablesen. Was wir zu denken haben, wenn wir die Blindheit unseres Machertums und seiner Weltverwüstung überwinden sollten, ist in solchem anfänglichen Verständnis von Physis vorgezeichnet. Heidegger zitiert Heraklits Wort, daß die Natur sich zu verbergen gewohnt ist, und erkennt richtig, daß darin nicht die Aufforderung liegt, in sie zu

296

Heideggers Wege

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dringen und ihren Widerstand zu brechen, sondern sie gerade als das hin- } zunehmen, was sie in sich selbst ist und so weit sie sich zeigt. Gewiß, daß % nicht nur Physis so gedacht wird, sondern allem voran das Sein als Aletheia, als Lichtung, die allem Erscheinenden voraus sich ereignet und die sich hinter allem Erscheindenden verbirgt, das ist nicht mehr griechisch gedacht. Aber dieser kühne Denkversuch Heideggers hat uns gelehrt, die Griechen griechischer zu denken.

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21. Die Geschichte der Philosophie 1981

Seit Schleiermacher

und Hegel gehört es zur Tradition der deutschen

Philosophie, daß die Geschichte der Philosophie ein wesentlicher Aspekt der

theoretischen Philosophie selber ist. Insofern ist auch das Thema Heidegger und die Geschichte der Philosophie« in diesem Zusammenhang zu betrachten, und das heißt: es ist die Frage zu stellen, welche Besonderheiten innerhalb dieser Grundhaltung, die die deutsche Philosophie seit Hegel beherrscht,

bei ihm zu bemerken

sind. Es ist klar, welcher allgemeine

Rahmen für diese Fragestellung gegeben ist; er ist durch das Aufkommen des historischen Bewußtseins geschaffen worden. Darin wirkt sich das Erbe

der deutschen Romantik aus, daß nicht nur die historische Forschung im

ganzen, sondern auch die Haltung der theoretischen Philosophie seitdem vom Problem der Geschichte affıziert ist. Vor diesem Zeitalter der Romantik gab es in dem für uns wesentlichen Sinne keine Geschichte der Philosophie. Was existierte, war lediglich eine registrierende Gelehrsamkeit, die zwar von festen dogmatischen Voraussetzungen bestimmt war, aber nicht selber eine philosophische Begründungsfunktion übernahm. Das war mit der berühmten Doxographie, die Aristoteles in fester Lehrabsicht in seine Lehrvorlesungen eingebaut hat, noch anders - bevor dieselbe später zu einem ganzen Zweig gelehrter Arbeit in der antiken Schulwissenschaft wurde. Vollends war das Hegelsche Konzept einer Geschichte der Philosoder phie selber Philosophie, eine Sondersparte innerhalb der Philosophie Geschichte, die ihrerseits die Vernunft auch in der Geschichte nachweisen

will. Ja, Hegel nannte die Geschichte der Philosophie geradezu das Innerste_ der Weltgeschichte. Nun hat der konstruktive Anspruch der Hegelschen philosoGeschichte der Philosophie, die Notwendigkeit in der Abfolge der Vernunft die Weise diese auf und begreifen zu phischen Gedankenbildungen in der Geschichte des Gedankens nachzuweisen, der Kritik der historischen Haltung Schule nicht lange standgehalten. Ein gutes Beispiel dafür ist die Schule historischen der Denker der als Wilhelm Diltheys, der geradezu Offenheit für gelten darf. Bei aller seiner, namentlich im Alter wachsenden,

das Genie Hegels war er doch im Grunde der vorsichtige Schleiermacher Gedankens des Geschichte der nachfolger. Teleologie in die Betrachtung einzubringen war nicht sein Fall. Er ordnete sich in die rein historische

298

Heideggers Wege

Betrachtungsweise ein. Die einzig philosophische Betrachtungsweise der Geschichte der Philosophie wurde daher die im Neukantianismus ausgebildete sogenannte Problemgeschichte. Sie war am Anfang dieses Jahrhunderts die herrschende. Wenn man schon nicht eine Notwendigkeit im Fortgang der Systementwürfe des Gedankens anerkennen konnte, suchte man doch eine Art Fortgang’ in der Philosophie festzuhalten, indem man die Behandlung der philosophischen Grundprobleme zum philosophischen Maßstab erhob. So war etwa das einflußreiche Lehrbuch der Geschichte der Philosophie von Wilhelm Windelband konstruiert, keineswegs ohne eine historische Dimension, aber doch letzten Endes auf der Konstanz der Probleme

aufgebaut, auf die bei wechselnder geschichtlicher Konstellation wechselnde Antworten erfolgen. Ebenso betrieb der Marburger Neukantianismus die Geschichte der Philosophie als Problemgeschichte. Als Heidegger seinen Denk weg begann, lag die Abkehr von der Problemgeschichte in gewissem Sinne in der Luft. Damals, zur Zeit des ersten Weltkriegs und danach, war die Kritik an der systematischen Geschlossen-

heit des neukantianischen Systemgedankens aufgekommen, die auch der Problemgeschichte ihre philosophische Legitimation bestritt. Mit der Auflösung des transzendentalphilosophischen Rahmens, der allein das Erbe des Idealismus zusammenhielt,

mußte die Problemgeschichte fallen, die aus

diesem Erbe ihre »Probleme« bezog. Das spiegelt sich noch in dem Versuch Heideggers, die systematische, transzendentalphilosophische Konzeption seines bewunderten Lehrers Husserl, des Begründers der Phänomenologie, von der historischen Reflexionsarbeit des Diltheyschen Denkens her zu modifizieren und eine Art Synthese zwischen der Geschichtlichkeitsproblematik Diltheys und der Wissenschaftsproblematik der transzendentalen Grundorientierung Husserls herbeizuführen. So begegnet uns in »Sein und Zeit« die erstaunliche Vereinigung einer Widmung an Husserl und einer Huldigung vor Dilthey. Das war insofern eine erstaunliche Vereinigung, als Husserls Proklamation der Phänomenologie unter dem Titel »Philosophie als strenge Wissenschaft: eine geradezu dramatische Kritik an Dilthey und dem Weltanschauungsbegriff geübt hatte. Fragen wir uns nun, was Heideggers eigentliche Intention war und was ihn von Husserl weg in die Nähe des Problems der Geschichtlichkeit führte, so ist es heute ganz offenkundig, daß es nicht so sehr die zeitgenössische Problematik des historischen Relativismus war, als sein eigenes christliches Erbteil, was ihn in Atem hielt. Seit wir

etwas mehr über Heideggers erste Vorlesungen und Denkversuche am Anfang der zwanziger Jahre wissen, ist es offenkundig, daß seine Kritik an

der offiziellen Theologie der römisch-katholischen Kirche seiner Zeit ihn mehr und mehr zu der Frage drängte, wie eine angemessene Interpretation des christlichen Glaubens möglich sei, anders gesprochen: wie man sich der Überfremdung der christlichen Botschaft durch die griechische Philosophie

Die Geschichte der Philosophie erwehren

kann,

die

der

Neo-Scholastik

des

299 20. Jahrhunderts

ebenso

zugrundelag wie der klassischen Scholastik des Mittelalters. Da war seine _ Inspiration durch den jungen Luther, da war seine bewundernde Nachfolge Augustinischen Denkens und insbesondere seine Vertiefung in die eschatologische Grundstimmung der Paulinischen Briefe; all das ließ ihm die Metaphysik letztlich als eine Art von Verkennung der ursprünglichen Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit erscheinen, die im Glaubensanspruch des Christentums zur Erfahrung kamen. Die Einleitung, die Heidegger 1922 zu seinen geplanten AristotelesInterpretationen schrieb, legt von diesem Zusammenhang ein deutliches Zeugnis ab. Der Text ist noch nicht veröffentlicht, ist aber in publikablem Zustand erhalten und mir seit 1923 bekannt.

Das Stichwort,

unter dem

Heidegger damals an die Tradition der Metaphysik heranging, hieß Destruktion, Destruktion vor allem der Begrifflichkeit, in der sich die neuere Philosophie bewegte und die insbesondere den ontologisch total unausgewiesenen Begriff des Bewußtseins, der res cogitans Descartes’, betraf. So ist der erste vornehmste Gegenstand der Geschichte der Philosophie, mit dem Heidegger einsetzte, Aristoteles gewesen. In seinem damaligen Zugang zu Aristoteles’ Denken zeichnet sich bereits vor, wie sich im ganzen sein Umgang mit der Geschichte der Philosophie gestalten sollte: in kritischer Absicht, aber zugleich in intensiver phänomenologischer Erneuerung, Destruktion und Konstruktion in einem. Er folgte schon damals dem Grundsatz des Platonischen »Sophistes‘, man müsse den Gegner stärker machen. Es war ein eigentümlich aktuell gewordener Aristoteles. Heidegger bevorzugte die Ethik, die Rhetorik, kurz, Disziplinen des Aristotelischen Lehrprogramms, die sich ausdrücklich von der Prinzipienfrage der theoretischen Philosophie abgelöst präsentierten. Vor allem die Kritik an der Idee des Guten, dem obersten Prinzip der Platonischen Lehre, die ihm dort

begegnete, schien ihm sein eigenes Anliegen, das Anliegen der zeitlichgeschichtlichen Existenz und der Kritik an der Transzendentalphilosophie auszusprechen. Seine Interpretation der Phronesis als eines ao Eidos yvwoewc, einer anderen

Weise

des Wissens,

war

geradezu eine Art von

Bestätigung für seine theoretischen und existenziellen Interessen. Das sprang auch auf die theoretische Philosophie, auf die Metaphysik über, sofern Heidegger in diesen Jahren in einer freilich noch nicht adäquat selbstbewußten Weise die »berühmte Analogie«, wie er zu sagen pflegte, im Auge hatte. Das war das Element innerhalb der Aristotelischen Metaphysik, von dem aus er die systematische Ableitung aller Geltung aus einem Prinzip, dem transzendentalen Ego Husserls oder der Idee des Guten Platos, in gleicher Weise in Frage stellen konnte. Aus dem gleichen Interesse mußte ihn 1923 die Veröffentlichung des Opus tripartitum von Meister Eckhart begeistern. Ebenso, als ihm der Traktat »de nominum analogia« des Cajetan

Heideggers Wege

300

in die Hände fiel, wurde das zum Gegenstand eingehender Studien, auch im Unterricht. Indessen, mit fortschreitender Vertiefung in seinen eigenen Gegenentwurf gegen Husserls transzendentale Phänomenologie, der in der Ausarbeitung von »Sein und Zeit« zuerst ans Licht trat, gewann die Figur der Aristotelischen Metaphysik die Eindeutigkeit einer Herkunftsbestimmung für all jene Gegenpositionen, gegen die Heidegger seinen eigenen Denkversuch zu entwickeln suchte. So formierte sich langsam der Begriff der Metaphysik als ‚Kennwort«, d.h. als das Wort für die einheitliche Gegenten-

denz, gegen die Heidegger seine von der christlichen Inspiration her motivierte Fragestellung nach dem Sinn von Sein und dem Wesen der Zeit auslegte. Noch seine berühmte Freiburger Antrittsvorlesung mit dem Titel Was ist Metaphysik? war insofern zweideutig, als sie den Begriff der Metaphysik in einem positiven Sinne gebrauchte oder mindestens suggerierte. Später, als er seinen eigenen Denkentwurf in voller Ablösung von dem Husserlschen Vorbild neu zu formieren begann — und das ist, was wir

bei Heidegger die »Kehre« nennen -, sollte die Metaphysik und ihre großen Repräsentanten stets nur als der Hintergrund fungieren, von dem aus seine eigenen Denkintentionen sich kritisch abzuheben suchten. Die Metaphysik erschien von nun an nicht mehr als die Frage nach dem Sein, sondern als die eigentliche, schicksalhafte Verdeckung der Seins-Frage, als die Geschichte der Seins-Vergessenheit,

die mit dem griechischen Denken einsetzte und

über das neuere Denken bis in die vollendete Weltgesinnung und Gedankenhaltung des kalkulierenden und technischen Denkens, also bis zum heutigen Tage reicht. Von nun an mußten sich die Etappen der fortschreitenden Seinsvergessenheit und die Beiträge der großen Denker der Vergangenheit in eine feste geschichtliche Ordnung fügen und damit die Abgrenzung gegenüber dem analogen Versuch der Hegelschen Geschichte der Philosophie dringend machen. Heidegger bestand zwar in seiner eigenen Auseinandersetzung mit der Seinsvergessenheit und der Sprache der Metaphysik darauf, daß er niemals eine Notwendigkeit des Fortgangs von einem Gedankenschritt zum anderen behauptete. Aber sofern er von seiner Frage nach dem Sein her die Metaphysik als ein einheitliches Geschehen der Seinsvergessenheit, und zwar der wachsenden Seinsvergessenheit, zu beschreiben suchte, konnte es nicht ausbleiben, daß auch sein Entwurfetwas

von dem logischen Zwangscharakter erhielt, dem die Hegelsche Konstruktion der Weltgeschichte des Gedankens verfallen war. Zwar war es keine teleologische Konstruktion vom Ende her, wie bei Hegel, es war eine Konstruktion vom Anfang her, dem Anfang mit dem Seinsgeschick der Metaphysik. Aber »Notwendigkeit« war auch darin, wenn auch nur im Sinne des &£ Unod&oews avayraiov.

So ist es sinnvoll, die Abweichung seines Gesamtentwurfs von dem

Die Geschichte der Philosophie

301

Hegelschen zur Orientierung über sein Verhältnis zur Geschichte der Philosophie zu benutzen. Da fällt als erstes auf, welche Sonderstellung der Anfang der griechischen Philosophie, Anaximander, Parmenides und Heraklit in seinem Denken einnehmen. Das ist insofern nicht verwunderlich, als wir eine ähnliche Bevorzugung dieses Anfangs schon bei Nietzsche finden, dessen radikale Kritik am Christentum und am Platonismus ebenfalls die vorsokratischen Denker, die Philosophie im tragischen Zeitalter der Grie-

chen, ausgezeichnet hatte. In immer wiederholten Ansätzen hat Heidegger diese Anfangssituation als ein Gegenbild gegen den tatsächlichen Schicksalsweg des abendländischen Denkens

auszuarbeiten versucht, der durch die

Geschichte der Metaphysik präsentiert ist. An Anaximander legte er in höchst origineller und überraschender Weise Elemente seines eigenen Denkens über den Zeitcharakter und Zeitigungscharakter des Seins dar. Das berühmte einzige Fragment aus Anaximanders Lehre, das wir kennen und das in der Regel als eine erste Konzeption der sich selbst erhaltenden und regelnden Ganzheit des Seins, Aristotelisch gesprochen: der Physis, verstan-

den wird, bezeugte ihm vor allem den Zeitcharakter des jeweils sich als gegenwärtig zeigenden Seins, den Charakter der Weile. Dann aber mußten es vor allem das Lehrgedicht des Parmenides und die Rätselsprüche des Heraklit sein, die er in einem neuen Lichte zu sehen unternahm. Beide, sowohl Parmenides als auch Heraklit, waren auch die Kronzeugen des

deutschen Idealismus gewesen und spielten entsprechend in der neukantianischen Problemgeschichte schon immer eine bedeutende Rolle, Parmenides als der Mann, der zuerst die Frage nach dem Sein in eine Art Identitätsbeziehung zu dem Begriff des Denkens, des Bewußtseins, griechisch gesprochen: des »Noein« gebracht hatte. Und Heraklit als der tiefsinnige Beginner mit der dialektischen Gedankenfigur des Widerspruchs, hinter dem die Wahrheit des Werdens, das Sein des Werdens anvisiert war. In immer wiederholten

Versuchen hat Heidegger daher unternommen, die idealistische Verrechnung dieses Anfangs der griechischen Philosophie auf ihre Vollendung in der Hegelschen Metaphysik - bzw. in der ihren eigenen Hegelianismus verkennenden neukantianischen Transzendentalphilosophie - zu überwinden. Insbesondere mußte es die tiefe Problematik im Begriff der Identität selber und sein innerer Zusammenhang mit dem der Differenz sein, die etwa in Hegels »Logik«, aber auch bei Hermann Cohen und in Natorps PlatoInterpretation eine zentrale Rolle spielte, was ihn herausforderte. Heidegger als versuchte Identität wie Differenz ganz neu vom »Sein« her zu denken,

das aAndera, als den »Austrag« oder letzten Endes als die »Lichtung« oder

‚Ereignis« des Seins, und dies gegen die idealistische metaphysische Interpredas tation abzuheben. Dabei konnte ihm nicht verborgen bleiben, daß Denkern anfangenden ersten diesen bei auch sich Denken griechische sozusagen schon auf dem Wege zu der späteren Entfaltung der Metaphysik

302

Heideggers Wege

und des Idealismus befand. Eben das sah Heidegger als das eigentliche Geschick unserer abendländischen Geschichte, das Geschick des Seins, daß

das Sein sich als das »Wesen« des Seienden darstellt und das Verhängnis der Onto-Theologie heraufruft, die sich in Aristoteles als die Frage der Metaphysik formuliert. Auch Heraklit und sein Logos-Begriff haben Heidegger in der gleichen Absicht beschäftigt. Heute sehen wir an seiner neupublizierten Vorlesung, mit welcher unglaublichen Intensität, Gewaltsamkeit und Folgerichtigkeit Heidegger die Heraklitischen Sprüche ganz und gar seiner eigenen SeinsFrage dienstbar zu machen suchte. Man kann weder für das Lehrgedicht des Parmenides, noch für die Sprüche des Heraklit aus Heideggers Abhandlungen zu diesen Gegenständen unmittelbar etwas an geschichtlicher neuer Einsicht erwarten.

Aber, daß man

diese Texte in ihrer Dunkelheit und

fragmentarischen Kürze gegen den Strich der von Hegel konzipierten ‚Vernunft in der Geschichte« des Gedankens zu lesen vermag, hat Heidegger mit seinen archaisierenden Deutungen eindrücklich gemacht, indem er eine Urerfahrung des Seins (und Nichts) dahinter errät. Wenn man mit Heidegger die Metaphysik als das Geschick des Seins versteht, das die abendländische Menschheit am Ende in das Extrem der

vollständigen Seinsvergessenheit getrieben hat, die mit dem technischen Zeitalter hereingebrochen ist, sind alle weiteren Schritte in der Auseinander-

setzung mit der Geschichte der Philosophie eigentümlich vorbestimmt. Das zeigt sich in der erstaunlichsten Weise am Falle Platos. In seinen Werdejahren hat Heidegger eine durch ihre interpretatorische Kraft höchst eindrückliche Interpretation des Platonischen »Sophistes« gegeben, von der das Motto zu »Sein und Zeit: zeugt. Aber als er sich zum ersten Male in extenso über Plato selbst äußerte, indem Aufsatz »Platos Lehre von der Wahrheit«, der mit dem

Humanismusbrief zusammen

1947 in der Schweiz veröffentlicht wurde,

erschien Platos Denken der »Idee« von vornherein unter dem Vorzeichen der Beugung der @Andeıa unter die öpdörns, der Wahrheit unter die Richtigkeit und bloße Angemessenheit an ein vorgegebenes Seiendes. So gesehen tat Plato einen weiteren Schritt auf die »Seinsvergessenheit« hin, die zur Stabilisierung der Onto-Theologie oder Metaphysik führte. Es ist nicht in sich überzeugend,

daß Plato nur so gesehen werden kann, und es hatte

tatsächlich zur Folge, daß all die Dinge, die den jungen Heidegger an der Geschichte des Platonismus fasziniert hatten, Augustin und die christliche Mystik und der »Sophistes« selber, in seinem späteren Denken keine

wirkliche Rolle mehr spielten. Man hätte sich vorstellen können, daß gerade auch die Platonische Philosophie als eine Möglichkeit erschienen wäre, hinter die Fragestellung der Aristotelischen und nacharistotelischen Metaphysik zurückzugehen und die Dimension des sich manifestierenden Seins, des sich im Logos artikulierenden Seins der Aletheia, in Platos Ideendialektik

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Die Geschichte der Philosophie

303

zu erkennen. Aber Heidegger hat diese Perspektive, die Denkern gegenüber durchaus festhielt, an Plato nicht mehr Ähnliches gilt für seine spätere Rezeption des Aristoteles. Marburger Vorlesungen spielte mindestens das so seltsame

er den ältesten angelegt. Noch in seinen und umstrittene

Kapitel

(Met @ 10) eine

über das öv üc dAmdes,

das Sein als Wahrsein,

entscheidende und nicht ohne denkerische Sympathie dargestellte Rolle. Aber mit der Formation der weltgeschichtlichen Figur der Metaphysik ließ auch diese Seite an Aristoteles für Heidegger an Leuchtkraft nach. Wie er dann von der Analyse des Zeitbegriffs aus oder insbesondere von seinem Bedürfnis, die eigene Frage nach dem Sein gegen die der Metaphysik abzuheben, sowohl die Aristotelische Fragestellung sah als auch die Wendung, die die Neuzeit, repräsentativ in Descartes, für die Geschichte der Seinsvergessenheit darstellt, lehrt »Sein und Zeit«. Immerhin gibt es ein Zeugnis der frühen ambivalenten Vertiefung Heideggers in Aristoteles, das sowohl

durch die Kraft seines Gedankens,

wie durch die Intensität der

Einzelinterpretation fast einzig dasteht: Heideggers Interpretation des ersten Kapitels des zweiten Buches der aristotelischen Physik. Es ist ein charakteristisches Beispiel für die Zweideutigkeit, aber auch für die Produktivität der Zweideutigkeit, mit der Heidegger das Gespräch mit der Metaphysik zu führen suchte. Vor allem war es hier die Doppelseitigkeit, die in dem Begriff der Physis von ihm aufgespürt wurde. Es stellte in seiner Interpretation zwar den entscheidenden Schritt zur »Metaphysik« dar, aber zugleich war es eine Präformation seines eigenen Gedankens der »Lichtung« des Seins und des »Ereignisses«, was in dem »Aufgehen« des Seienden, in dem Gedanken der

‚Physis« des Aristoteles für ihn sichtbar wurde. Die Abhandlung über dieses Kapitel der Aristotelischen Physik bleibt neben den Anhängen zum Nietzsche-Buch die reifste und perspektivenreichste Auseinandersetzung Heideggers mit dem griechischen Denken. Sein Weg durch die Geschichte der Philosophie ähnelt überhaupt dem Wanderweg eines Wünschelrutengängers. Plötzlich schlägt die Rute aus, und der Wanderer wird fündig. So sei hier auch an Heideggers gelegentliche Hinweise auf Intuitionen von Leibniz erinnert. Da hat Heidegger insbesondere die Sprachkühnheit Leibnizens angezogen. In dem Versuch, die eigentliche metaphysische Dimension

und der neu zu gewinnen, die zwischen der neuen Wissenschaft der Physik

Traditionsgestalt der Aristotelischen Substanzmetaphysik von Leibniz gesucht wurde, eine Dimension, die bekanntlich auch Whitehead in seinem Denken zu gewinnen unternommen hat, fand Heidegger in einem Traktat des Leibniz das Wort »existiturire. Das war für ihn faszinierend: nicht vexistere« in jenem traditionellen Sinne des Vorhandenseins, Gegenstandfür-ein-Urteil oder eine Vorstellung-Seins. Das lateinische Kunstwort läßt auf schon durch seine sprachliche Form die Offenheit dieser Seinsbewegung war Das Sein. nach Durst ein wie ist e existiturir anklingen: hin Zukunft die

304

Heideggers Wege

natürlich für den eigenen Denkwillen Heideggers wie ein Lockruf- eine Antizipation von Schelling. Wenn wir uns unserer leitenden Fragestellung erinnern, wie sich Heidegger mit seiner eigentümlichen negativen Teleologie der Seinsvergessenheit von Hegels teleologischem Schema der Philosophiegeschichte abhebt, bedeutet aus vielen Gründen die Auseinandersetzung Heideggers mit Kant einen zentralen Punkt. Denn das war ja auch noch der Anspruch Hegels gewesen, daß er nach dem ersten Vorgange Fichtes die Transzendentalphilosophie in ihrer vollen Weite, Autonomie und Universalität zur Entfaltung gebracht habe - der Neukantianismus ist ihm darin gefolgt, ohne sich seines unkantischen Beginnensjeganz bewußt zu werden, selbst bei Husserl nicht. Demgegenüber bedeutete Heideggers frühe Wendung zu Kant — es war immerhin das erste Buch nach »Sein und Zeit«, das Heidegger veröffentlichte —, eine entschiedene anti-Hegelsche Konzeption. Gerade nicht die

Durchführung des transzendentalen Gedankens im Sinne der universalen Reichweite dieses Prinzips, wie es Fichte in seiner Wissenschaftslehre zuerst unternommen und Husserl in seiner transzendentalen Phänomenologie zuletzt im Auge hatte, sondern gerade die Zweiseitigkeit der zwei Stämme der Erkenntnis, gerade die Restriktion der Vernunft auf den Bereich möglicher Anschauungsgegebenheit bedeutete für Heidegger damals eine Art von Bündnisangebot. Freilich war seine Interpretation Kants auf eine vendliche Metaphysik hin eine höchst gewaltsame Sache, an der er nicht länger festhielt. Nach seiner Begegnung mit Cassirer in Davos und vor allem nach seiner wachsenden Einsicht in das Ungenügen der transzendentalen Selbstinterpretation seines eigenen Denkens hat Heidegger auch Kants Philosophie stärker in die Geschichte der Seinsvergessenheit gleichsam zurückgestuft, wie die späteren Arbeiten Heideggers über Kant zeigen. Hegel war gewiß schon früh in Heideggers Gesichtskreis getreten. Wie sollte ein so begnadeter Aristoteliker, wie der junge Heidegger war, nicht damals schon die Faszination verspürt haben, die von dem neuen Aristoteliker Hegel ausging. Auch darf man voraussetzen, daß ein so sprachgewaltiger Denker wie Hegel für einen Heidegger auch von dieser Seite her eine große Anziehungskraft besitzen mußte. In der Mitte der zwanziger Jahre jedenfalls war Hegels Phänomenologie, aber auch Hegels Logik, ein Gegenstand der Auseinandersetzung für Heidegger. Daß er dabei der »Phänomenologie des Geistes« gegenüber der »Logik« den Vorzug gab, kann nicht verwundern. Schließlich war für ihn wie für uns alle eine vage Konvergenz zwischen der »genetischen: Phänomenologie des späten Husserl mit dem frühen Entwurf Hegels, den die »Phänomenologie des Geistes« darstellte, beständig fühlbar. So ist auch die einzige publizierte Auseinandersetzung mit Hegel der »Einleitung« in die ‚Phänomenologie des Geistes gewidmet, eine Schritt für Schritt den Hegelschen Gedankengang kommentierende

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Die Geschichte der Philosophie

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Abhandlung in den »Holzwegen«, die vielleicht mehr als jede andere Arbeit dieses Bandes den Titel der »Holzwege« erfüllt. Es ist ein Versuch, aus dem Texte der Einleitung zur »Phänomenologie des Geistes« das Grundprinzip des absoluten Idealismus

neu abzuleiten, ein Unternehmen,

das, wie ich

glaube, an späten Formen der Fichteschen Wissenschaftslehre adäquater durchführbar gewesen wäre. Doch bleibt es gewiß ein Zeugnis für die fortdauernde Faszination und Herausforderung, die die Hegelsche Universalsynthese der Geschichte der Metaphysik für Heidegger bedeutete. Er hat bis zu seinem Ende immer wieder betont, daß er etwa die Rede von einem

Zusammenbruch des Hegelschen Systems und des Hegelschen Idealismus als ganz unangemessen empfinde. Zusammengebrochen sei nicht die Hegelsche Philosophie, sondern alles, was danach kam, einschließlich Nietzsche.

Das war eine von ihm häufig gebrauchte Wendung. Ähnlich hat er seine eigene Rede von der Überwindung der Metaphysik nie so verstanden wissen wollen, als ob damit ein Hinausgehen über die Hegelsche Metaphysik von ihm für möglich gehalten oder gar für sich selbst in Anspruch genommen werde. Bekanntlich spricht er von dem Schritt zurück, von dem aus sich der Raum der Aletheia, der Lichtung des Seins im Denken öffne. Heidegger sah also in Hegel die konsequente Endgestalt des durch den Gedanken der Subjektivität beherrschten neuzeitlichen Denkens. Er war dabei nicht blind gegen die Anstrengung, die gerade Hegel gemacht hat, um die Enge des subjektiven Idealismus, wie er es genannt hat, zu überwinden und eine Orientierung zu finden, die dem Wir, der Gemeinsamkeit der objektiven

Vernunft und des objektiven Geistes, gerecht werde. Aber diese Anstrengung war in Heideggers Augen eine bloße Antizipation, die an dem Zwang der cartesianisch vermittelten Begriffe und des cartesianischen Methodengedankens scheiterte. Daß Hegel einer der größten Meister im Handwerk des Begriffes war, hat er gewiß nicht verkannt. Das mag auch der Grund sein,

warum er in der Frage der Überwindung oder Vollendung des absoluten Idealismus trotz all seiner Sympathie mit Schelling immer wieder die Auseinandersetzung mit Hegel gesucht hat. Von der Sache her mußte ihm Hegel, wie er es auch auszudrücken liebte, als der letzte Grieche erscheinen - so wahr der Logos der eigentlich griechische Urgedanke ist, den Hegel wie ein Vollender auch auf die Welt der Geschichte auszudehnen gewagt hat. Die kürzlich erschienene Heidegger-Vorlesung von 1930/31 über Hegels »Phänomenologie des Geistes« ist Zeit« daher ganz der Aufgabe gewidmet, die Fragestellung von »Sein und Im . abzuheben Hegels logie Onto-Theo orientierte gegen die am Logischen der tion Interpreta ichte veröffentl n« »Holzwege den in die hat dazu Vergleich ‚Einleitung: (Hegels Theorie der Erfahrung), die erst 1942 entstanden ist, eine ganz andere Haltung. Sie ist bereits, um mit Heidegger zu sprechen gedacht«. her Ereignis vom prochen »unausges

306

Heideggers Wege

Dagegen mußte der Tiefsinn Schellings seinem eigensten Denkantrieb eher entsprechen. So habe ich schon im Jahre 1925 Heidegger in einem Schelling-Seminar den Satz aus der Freiheitsschrift vorlesen hören: »Die Angst des Lebens treibt die Kreatur aus ihrem Centro«, und er fügte hinzu:

»meine Herren, zeigen sie mir einen einzigen Satz von solcher Tiefe in

Hegel«. Hinter Kierkegaard und später sogar hinter Nietzsche wurde fürihn der späte Schelling immer sichtbarer. Er hat die Schrift vom Wesen der menschlichen Freiheit wiederholt im Unterricht behandelt. Am Ende hat er die Publikation seiner Interpretation gutgeheißen, freilich, ohne zu verschweigen, daß Schelling nicht fähig war, der Tiefe seiner Intuition begrifflich gerecht zu werden. Heidegger erkannte in ihm sein eigenstes Problem

wieder, das Problem der Faktizität, der unauflösbaren Dunkelheit des Grundes - in Gott wie in allem, was wirklich und nicht nur logisch ist. Das

sprengt die Grenzen des griechischen Logos. So bleibt als die letzte großartige und zweideutige Leistung in Heideggers Auseinandersetzung mit der Geschichte der Philosophie die Figur Nietzsches. Ihr ist, nach zwei kleineren Arbeiten, das zweibändige Nietzsche-

Werk gewidmet. Zwar war Nietzsche erst spät, erst nach »Sein und Zeit«, voll in Heideggers Horizont getreten, und es ist auch ein völliges Mißverständnis, Heidegger Sympathien mit Nietzsche zu unterstellen. Auch Derridas Unternehmen, Heidegger durch Nietzsche zu übertrumpfen, zieht keineswegs die wahre Konsequenz aus Heideggers Ansatz. Das Extrem der Auflösung des Meinens von Sinn, das Nietzsches Bewußtseinskritik dar-

stellt, ist in Heideggers Augen noch immer von der Metaphysik her zu verstehen - als ihr Un-Wesen. Der sich selber wollende Wille tritt als das letzte Extrem des Subjektivitätsdenkens der Neuzeit heraus, und was vor Heidegger immer nur als eine Paradoxie festgestellt worden war, das Nebeneinander der Lehre vom Willen zur Macht bzw. vom Übermenschen und der Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen, gelingt ihm wirklich zusammenzudenken - aber wahrlich als den radikalsten Ausdruck jener Seinsvergessenheit, als die Heidegger die Geschichte der Metaphysik auffaßt. Wie sehr diese Einfügung Nietzsches in die Geschichte der Seinsvergessenheit und zugleich damit, wie sehr das Zurück von diesem Wege

Heideggers eigenstes Anliegen war, zeigt die Fülle von Aufzeichnungen zu diesem Thema, die Heidegger dem zweiten Band seines Nietzsche-Werkes

hinzugefügt hat. h Allerdings bleibt es wahr, daß Heideggers Überwindung der Metaphysik durchaus nicht eine Übertrumpfung derselben sein sollte. Er nannte sie später ausdrücklich »Verwindung« der Metaphysik, und das will sagen: wie man einen Schmerz oder eine Kränkung verwindet, bleibt das Schmerzliche oder Kränkende durchaus da und ist nicht einfach vergessen. So sieht er sein eigenes Denken in einem fortdauernden Gespräch mit der Metaphysik, und

Die Geschichte der Philosophie

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das schließt ein, daß er immerhin doch die Sprache der Metaphysik mehr oder minder weiter spricht. Er spräche sie ganz, wenn er nicht innerhalb der Geschichte der Metaphysik, an ihrem Höhe- und Endpunkte, in Hegels Freund, dem Dichter Friedrich Hölderlin, einen neuen Gesprächspartner gefunden hätte, der in seine Sprache einen neuen, halbpoetischen Wortschatz einbrachte. Die Entsprechung zwischen Hölderlins mythischem Dichtertum und Heideggers Zurück an den Ursprung« ist wahrhaft erstaunlich und am Ende das einzig Eindeutige in Heideggers denkendem Gespräch mit der Vergangenheit. Seine anderen, wichtigen philosophischen Gesprächspartner, Heraklit und Parmenides, Aristoteles, Hegel und Nietzsche, behalten bei ihm eine seltsame Zweideutigkeit: teils sprechen sie ihn teils stoßen sie ihn zurück,

selbst aus,

abendländischen Parmenides

Seinsvergessenheit

sofern sie alle das Geschick der

mitbereitet haben.

wie an Heraklit gewahren,

So läßt sich an

daß sie zwar das eine Wahre, das

‚sophon«, in der Erfahrung des Seins zu denken suchen, aber doch zugleich auf das Wissen der Vielfalt des Seienden hindrängen. Damit wird das Sein als das Sein

des Seienden

zum

»Wesen«,

und

»aletheia«

wird

nicht als die

Unverborgenheit, sondern als das Sein des Unverborgenen gedacht. Ähnlich ist es mit Aristoteles. Wenn Heidegger in dessen Erneuerung und in der Vertiefung seines physis-Begriffs sowie in der »analogia entis« die Erfahrung des Anfangs nochmals aufleuchten sieht, so hat er am Ende doch die Vieldimensionalität von Aristoteles’ verster Philosophie« nur in der Richtung auf die Onto-Theologie zur Ausarbeitung gebracht. Ähnlich hat Heidegger die Philosophie Hegels bewußt als die Vollendung dieser Onto-Theologie ausgelegt - trotz all den Affinitäten, die zwischen seiner eigenen Kritik des Bewußtseinsidealismus und Hegels Kritik des subjektiven Idealismus bestehen. Alles in allem: Heideggers denkendem Umgang mit der Geschichte der Philosophie haftet die Gewaltsamkeit eines Denkers an, der von seinen eigenen Fragen getrieben wird und überall sich selbst wiederzuerkennen sucht. Seine Destruktion der Metaphysik wird so zu einer Art Ringen mit der Macht dieser Tradition des Gedankens. Das prägt sich am Ende in der fast qualvollen Sprachnot aus, die diesen sprachgewaltigen Denker bis in die äußerste Verrätselung trieb. Der Denkweg des metaphysischen Denkens ist eben der einzige, der im Grunde der Sprache und der uns vertrauten Sprachen, des Griechischen, Lateinischen

und der modernen Sprachen, eine Wegspur gebahnt hat. Ohne sie hätteauch Heideggers Rückfragen hinter den Anfang dieses Weges keine Worte.

22. Die religiöse Dimension 1981

Die Frage nach der religiösen Dimension in Heidegger Stellen gleicht einer Herausforderung oder mindestens einem paradoxen Unterfangen. Man braucht nur an Jean-Paul Sartre zu denken, der als einer seiner Bewunderer ihn geradezu - an der Seite von Nietzsche — als einen der repräsentativen atheistischen Denker unserer Epoche herausstellte. Doch möchte ich zeigen, daß ein solches Verständnis Heideggers als eines atheistischen Denkers nur aus einer äußerlich bleibenden Aneigung seiner Philosophie herrühren kann. Eine ganz andere Frage ist es freilich, ob die Inanspruchnahme Heideggers durch die christliche Theologie berechtigt ist- und es geht inzwischen durch ein halbes Jahrhundert, daß christliche Theologen sich auf das Denken Heideggers berufen. Daß die Frage nach dem Sein, die neu zu stellen Heideggers eigenster Auftrag war, nicht als die Frage nach Gott verstanden werden darf, hat Heidegger selber unzweideutig klargemacht. Seine Stellung zur zeitgenössischen Theologie beider Konfessionen nahm im Laufe der Jahre an kritischer Schärfe mehr und mehr zu. Aber man hat sich zu fragen, ob solche Kritik der Theologie nicht geradezu bezeugt, daß »Gott«der offenbare oder der verborgene - für ihn kein leeres Wort war. Bekanntlich stammte Heidegger aus einer katholischen Familie und wurde in der katholischen Religion erzogen. Er besuchte das Gymnasium in Konstanz, das, ohne eine rein katholische Schule zu sein, doch in einer Landschaft lokalisiert war, in der beide christlichen Konfessionen, die katholische wie

die protestantische, ein starkes kirchliches Leben hatten. Nach seiner Schulzeit war er eine Weile bei den Jesuiten in Feldkirch (Vorarlberg), die er aber bald wieder verließ. Doch gehörte er noch einige Semester dem Theologischen Konvikt in Freiburg an. Beides, religiöses Engagement und philosophische Neigungen, waren schon im ganz jungen Heidegger stark ausgeprägt. Auch in den frühen Jahren seiner unangefochtenen religiösen und kirchlichen Gebundenheit war er von leidenschaftlichem Interesse für Philosophie erfüllt. Sein Rektor am Konstanzer Gymnasialkonvikt, der spätere Bischof von Freiburg Groeber, erkannte früh seine brillante Begabung und seine Hingabe an Philosophie. Heidegger hat mir einmal erzählt, daß ihn einer seiner Lehrer - gewiß in einer langweiligen Stunde — dabei erwischte, wie er unter der Bank Kants

i

Die religiöse Dimension

309

Kritik der reinen Vernunft las! Das war wohl wirklich eine Art Freipaß für eine große geistige Zukunft. Darum gab ihm Groeber ein damals modernes, gelehrtes, aber durchaus nicht tiefsinniges Buch über Aristoteles zum Lesen: Franz Brentanos »Über die mannigfaltigen Bedeutungen des Seienden bei Aristoteles. Diese Studie entfaltete in gewissenhafter Analyse die Vielfalt der Bedeutungen von Sein bei Aristoteles und blieb jede Antwort auf die Frage schuldig, wie dieselben zusammenhingen, und gerade das wurde für den jungen Heidegger zur Inspiration. Heidegger hat das oft berichtet. Die verschiedenen Bedeutungen von »Sein«, die Aristoteles unterschied, forderten dazu heraus, nach ihrer verborgenen Einheit zu fragen, gewiß nicht im

Sinne einer Systematisierung, wie sie Cajetan und Suarez, die Scholastiker der Gegenreformation, in den Aristotelismus zu bringen suchten. Aber daß das Sein nicht Gattung war, sowie die scholastische Lehre von der Analogia entis, waren Motive, die fortan bei Heidegger öfters auftauchten - nicht als eine metaphysische Lehre, sondern als Ausdruck einer offenen, einer

drängenden Frage, die zu stellen man lernen müßte: Was ist das, das »Sein«? Heideggers Talent brachte ihm schnelle Erfolge: bei Rickert schrieb er seine Dissertation über die Lehre vom Urteil im Psychologismus - seine Nebenfächer im Examen waren - man rät es nicht - Mathematik und Physik! -. Er erwähnte diese Arbeit in einer Marburger Vorlesung mit den Worten: »Als ich noch Kindereien trieb«. Er habilitierte sich mit 27 Jahren und wurde Assistent von Rickerts Nachfolger in Freiburg, Edmund Husserl, dem Begründer der Phänomenologie, von dem er die großartige ‘Technik phänomenologischer Deskription lernte. Schon in diesen frühen Dozentenjahren hatte Heidegger einen ungewöhnlichen Lehrerfolg und gewann bald einen geradezu magischen Einfluß auf die Jüngeren und Gleichaltrigen, von denen Julius Ebbinghaus, Oskar Becker, Karl Löwith, Walter Bröcker heute bekannte Namen sind. Das Gerücht von ihm erreichte Studenten kamen von Husserl weniger 1920/21, damals, schon von Freiburg und berichteten mich in Marburg,

wo ich mein Doktorat vorbereitete.

als von Heidegger und seiner überaus eigenwilligen und tiefsinnig-revolutionären Vorlesung. Da habe er z.B. die Wendung gebraucht: »Es weltet«. Das war, wie wir heute erkennen, eine großartige Antizipation seines späteren und spätesten Denkens. So etwas konnte man damals von keinem Neukantianer hören. Auch von Husserl nicht. Wo blieb denn da das transzendentale Ego? Was war das überhaupt für ein Wort? Gab es das überhaupt? Zehn Jahre, bevor Heidegger seine eigene transzendentale Selbstauffassung und seine Anlehnung an Husserl in der sogenannten ‚Kehre« überwand, fand er hier ein erstes Wort, in dem nicht vom Subjekt

und dem transzendentalen »Bewußtsein überhaupt« ausgegangen wurde, im Welten« sondern das Ereignis der »Lichtung« sich wie in einem Vorboten aussprach.

310

Heideggers Wege

Wir wissen inzwischen Einiges über diese erste Phase Heideggerschen Denkens in Freiburg nach dem ersten Weltkrieg. Pöggeler hat darüber berichtet, Karl Lehmann hat in einem vorzüglichen Aufsatz die Bedeutung von Paulus für den jungen Heidegger rekonstruiert, und Thomas Sheehan hat uns kürzlich einen ausführlichen Bericht über Heideggers Vorlesung ‚Phänomenologie der Religion« von 1920 geben können, die ihm aus einer Nachschrift zugänglich wurde. Daraus sehen wir, daß es insbesondere die Zeiterfahrung der frühen Christengemeinde war, die Heidegger faszinierte, dieser eschatologische Augenblick, der keine ‚Erwartung, kein Durchmessen und Berechnen einer

ablaufenden Zeit bis zur Wiederkehr Christi ist - denn er kommt »wie ein Dieb in der Nacht« (1. Thess.). Die gemessene Zeit, das Rechnen mit der Zeit und der gesamte Hintergrund der griechischen Ontologie, die unseren ZeitbegriffinPhilosophie und Wissenschaft beherrscht, versagen vor dieser Erfahrung. Daß es hier nicht nur um eine philosophische Herausforderung ging, sondern um das religiöse Grundanliegen des jungen Denkers, zeigt der private Brief, den Heidegger damals (1921) an Karl Löwith, einen seiner

jungen Schüler und Freunde, schrieb. Da hieß es, es sei vein Grundfehler,

daß Sie und Becker mich (hypothetisch oder nicht) an Maßstäben wie Nietzsche, Kierkegaard...... und irgendwelchen schöpferischen Philoso-

phen messen. Das ist unverwehrt — aber dann ist zu sagen, daß ich kein Philosoph bin, und ich bilde mir nicht ein, auch nur etwas Vergleichbares zu machen«. Und dann heißt es: »Ich bin ein christlicher Theologe«! Man geht nicht fehl, wenn man hier die tiefste Motivation für Heideggers

Denkweg erkennt: er sieht sich -— damals - als einen christlichen Theologen. Das will sagen: alle seine Anstrengungen, mit sich und seinen eigenen Fragen ins Reine zukommen, sind herausgefordert durch die Aufgabe, sich von der herrschenden Theologie, in der er erzogen war, freizumachen, um

ein Christ sein zu können. Von bedeutenden Lehrern der Freiburger theologischen Fakultät erhielt er, wie er selbst berichtet hat, das Rüstzeug für diese »theologische« Aufgabe, und vor allem hat der junge Luther damals für ihn entscheidende Bedeutung gewonnen. Aber daß er mit wahrer Wahlverwandtschaft auf die ältesten Urkunden des Neuen Testaments, die

Paulusbriefe, zurückging, lehrt uns die erwähnte Vorlesung zur »Phänomenologie der Religion«. Es waren zwei Lehrmeister, die ihn damals mit der rechten begrifflichen Schulung versahen. Da war einmal Husserls phänomenologische Meisterschaft. Bezeichnend, daß es nicht die neukantianische Programmatik der Ideen: (von 1913) war, was er als Husserls Assistent im Unterricht lehrte,

sondern die »Logischen Untersuchungen«, über die Husserl selber weit hinauszusein meinte, und innerhalb derselben vor allem die sechste Untersu-

chung, die damals in neuer Bearbeitung erschien. Darin hatte die Frage, was

uaaB a

Die religiöse Dimension

311

das »ist« meint, einen wichtigen Platz: was für ein »noetischer« Akt ist es, in

dem diese formale Kategorie des »ist« intendiert ist? Es war die Lehre von der »kategorialen Anschauung« - und gewiß auch Husserls meisterhafte Analysen zum Zeitbewußtsein (die Heidegger später erstmals herausgeben sollte), was Heidegger herausforderte: welche minutiöse analytische Kunst - und welche Sackgasse, die von der Heidegger umtreibenden Frage des Christenglaubens noch viel weiter entfernte als Augustins berühmte Verzweiflung am Begreifen des Rätsels der Zeit. Es war nicht die sidealistische« Ausarbeitung der »Ideen«, was ihn anzog: da mochte er die Konsequenz bewundern, mit der Husserl sich in das Themen-

feld der transzendentalen Subjektivität einarbeitete, und gewiß wurde er dadurch gegen billige realistische Ausbruchsversuche im Stile der »Münchener Phänomenologie« und selbst des damaligen Scheler gefeit. Aber das Prinzip des transzendentalen Ego erschien ihm von früh an verdächtig. Thomas Sheehan hat mir erzählt, daß Heidegger ihm einmal seinen Sonderdruck von Husserls Logos-Aufsatz von 1910 »Philosophie als. strenge Wissenschaft« zeigte. Da gibt es eine Stelle, wo Husserl sagt: unsere Methode und unser Prinzip muß sein »Zu den Sachen selbst« - und da hatte der junge Heidegger an den Rand geschrieben: »Wir wollen Husserl beim Wort nehmen. « Das war natürlich polemisch gemeint: Statt sich in die Lehre von der transzendentalen Reduktion und die Letztbegründung im cogito zu verstricken, sollte er dieses eigentliche Prinzip Zu den Sachen selbst« befolgen! Heidegger selbst fand, um selber den rechten Abstand zu Husserls transzendentalem Idealismus zu gewinnen, ohne in die Naivität eines

dogmatischen Realismus zurückzufallen, einen anderen großen Lehrmeister: Aristoteles. Zwar, einen Eideshelfer für sein eigenstes religiös motiviertes Fragen konnte er da nicht erwarten. Aber die Rückkehr des phänomenologisch Geschulten zu seinen frühen Aristoteles-Studien ließ ihn einen neuen Aristoteles entdecken, der ganz andere Seiten zeigte als die von der scholastischen Theologie bevorzugten. Gewiß konnte er sich nicht darüber täuschen, daß der griechische Zeitbegriff durch die Aristotelische

Physik geprägt worden war und daß von da kein direkter Weg zur begrifflichen Klärung des eschatologischen Augenblicks führen konnte. Aber die Nähe des Aristotelischen Denkens zum faktischen Dasein in seinem konkreten Lebensvollzug und in seiner natürlichen Weltorientierung brachte indirekte Hilfe. In einer Reihe von Semestern trug Heidegger seine Studien zur Aristotelischen Ethik, Physik, Anthropologie (De anima) und zur Rhetorik vor - und natürlich auch zu den zentralen Partien der Metaphysik. Das sollte 1923, wie er mir in einem Brief ankündigte, eine große Publikation im ‚Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung« werden. Dazu kam es dann nicht, weil ihn die Übernahme der

DL2

Heideggers Wege

Professur in Marburg ganz vor neue Aufgaben stellte. Immerhin blieb Aristoteles eines der Zentren seiner Marburger Lehrtätigkeit. Was war es, wozu

ihm Aristoteles dienen konnte? Nur zur Abhebung

gegen die christliche Zeiterfahrung und die fundamentale Rolle der Geschichtlichkeit im neueren Denken? Nur als Gegenbild? Das Gegenteil ist wahr. Aristoteles wirkte wie ein Kronzeuge für den Zugang »zu den Sachen selbst« und damit indirekt auch gegen seine eigene ontologische Voreingenommenheit durch das, was Heidegger später »Sein als Vorhandenheit« nennen sollte. So wurde er ein kritischer Helfer für das neue Fragen Heideggers. Die phänomenologischen Interpretationen zu Aristoteles, die Heidegger damals für die Veröffentlichung in Husserls ‚Jahrbuch« vorbereitete, zielten nicht so sehr auf die der Scholastik so teure philosophische Theologie, die in der Aristotelischen Orientierung an der Physik und im Bewegergott der Metaphysik ihre letzte Grundlage hat, als auf die Sachnähe zu dem konkreten faktischen Daseinsvollzug, die sich vor

allem in Aristoteles »praktischer Philosophie« und in seiner Rhetorik greifen ließ: Die Weisen des »Wahrseins«, des dAndevew, die im 6. Buch der Nikomachischen Ethik erörtert werden, hatten für Heidegger vor allem diese Bedeutung, daß der Primat des Urteils, der Logik und der »Wissenschaft« für das Verständnis der Faktizität des menschlichen Lebens an diesen Texten zu entscheidender Begrenzung gelangte. Ein @Uo y&vos yvvoews kam zu seinem Recht, das nicht Gegenstände erkennt und objektives Wissen sein will, sondern die dem faktisch gelebten Dasein mögliche Helligkeit meint. So wurde neben der Ethik auch die Aristotelische Rhetorik deshalb wichtig, weil sie von den pragmata und pathemata weiß — und nicht von »Gegenständen«. Auf eine erstaunliche Weise konnte sich überdies der junge Heidegger für seine »existenzielle« Kritik am transzendentalen Subjekts- und Objektsbegriff bei der aristotelischen Kritik an Platos Idee des Guten Schützenhilfe verschaffen. Wie das Gute nicht ein höchstes Objekt oder Prinzip ist, sondern in die Vielfalt seiner Begegnisweisen sich differenziert, so ist auch »das Sein« in allem, was ist, anwesend,

mag auch am Ende ein eminent

Seiendes stehen, das alle Anwesenheit verbürgt. Es ist die Frage nach dem Sein als solchem, die Aristoteles und mit ihm Heidegger zu beantworten sucht. Was Heidegger in dieser Absicht an der aristötelischen Physik und Metaphysik zum Sprechen brachte: das Sein in seiner Bewegtheit, das Sein in seiner Unverborgenheit, sind nicht so sehr Regionen von Gegenständen, über die Aussagen gemacht werden, als daß sich alles Verständnis von »Sein« auf das der Bewegtheit und alle wahre Aussage auf die unverborgene

Anwesenheit, am Ende also auf das öv öc dAndec gründet. Das meint keinen dem subjektiven Idealismus entgegengestellten Realismus und überhaupt

Die religiöse Dimension

313

keine Theorie der Erkenntnis, sondern beschreibt die Sache selbst, die als In-

der-Welt-Sein von der »Subjekt-Objekt-Spaltung« nichts »weiß«.

Nun drängt aber hinter diesem Interesse an einem unscholastischen Aristoteles die alte Frage Heideggers an die christlichen Theologen, ob es nicht ein angemesseneres Selbst-Verständnis des Christen gibt als das durch die zeitgenössische Theologie angebotene. Insofern ist seine Neu-Interpretation des Aristoteles nur ein erster Schritt aufeinem langen Denk wege. Daß er bewußt als ein solcher von Heidegger gewagt wurde, zeigte die Einleitung seiner Aristoteles-Interpretationen, die Heidegger 1922 als Manuskript an Paul Natorp schickte und die ich damals von Natorp zu lesen bekam: eine Analyse der »hermeneutischen Situation« für eine Interpretation des Aristoteles. Und womit begann sie? Mit dem jungen Luther, eben dem Luther, der von jedem,

der wirklich

Christ

sein wollte,

verlangte,

er müsse

dem

Aristoteles abschwören, diesem »großen Lügner«. Und dann folgten, wieich mich genau erinnere - der Text ist noch nicht ediert, soll aber erhalten sein, wenigstens im Typoskript, ohne die zahllosen handschriftlichen Zusätze, die das an Natorp gesandte Exemplar enthielt- andere Namen: Gabriel Biel, Petrus Lombardus, der Sentenzenmeister, Augustin und schließlich Paulus:

Kein Zweifel, es war das alte, wohlbezeugte Anliegen Heideggers an der originären christlichen Botschaft, was hinter dem Aristoteles-Unternehmen

stand. Nicht, daß Heidegger meinen konnte, für dieses Anliegen eine unmittel-

bare Hilfe in Aristoteles zu finden. Im Gegenteil: daß die Theologie, die er gelernt hatte und die sich weithin auf die aristotelische Metaphysik stützte, nicht einmal den wirklichen Motiven des griechischen Denkens entsprach, mußte für ihn die Auseinandersetzung mit diesem Denken nur noch verschärfen. Das in Paulus lebendige, von Heidegger wiedererkannte Zeitverständnis war überhaupt nicht griechisch. Der griechische Zeitbegriff, den Plato und Aristoteles als Maß und Zahl der Bewegung formuliert hatten, beherrschte aber die begrifflichen Möglichkeiten aller späteren Zeiten, von Augustin bis Kant und bis Einstein. So mußte an seinem eigensten und tiefsten Problem, dem der christlichen Endzeiterwartung, die Frage lebendig bleiben, ob nicht der Druck des griechischen Denkens auf.die christliche Glaubenserfahrung die christliche Botschaft überhaupt unkenntlich gemacht und mindestens die christliche Theologie ihrer eigensten Aufgabe entfremdet hat. In der Tat wurde nicht nur Paulus’ und Luthers Rechtfertigungslehre für ihn bedeutsam -er nahm auch Harnacks These von der verhängnisvollen Hellenisierung der christlichen Theologie wieder auf, und am Ende sollte er nicht nur an der Angemessenheit seiner theologischen Erziehung irrewerden, sondern darüber hinaus in dem griechischen Erbe, das auf allem neuzeitlichen Denken lastet, den Ursprung jener Verlegenheit

314

Heideggers Wege

über das »Sein« und die Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins erkennen, die ihm das Motto zu »Sein und Zeit« diktiert hat. Es waren gerade auch die Aporien des modernen Denkens, die ihm in Bergson, Simmel, Lask und vor allem in Dilthey entgegengetreten waren, die ihn in den entscheidenden Jahren seiner Entwicklung, in der Zeit des ersten Weltkrieges,

umtrieben,

und so galt für ihn, was

für Unamuno,

Haecker, Buber, Ebner, Jaspers und viele andere galt, daß Kierkegaards Begriff des Existierens zum neuen Kennwort wurde. Kierkegaards Schriften wurden damals durch die deutsche Ausgabe bei Diederichs neu wirksam. Dort fand Heidegger in brillanten Essays seine eigensten Themen wieder. Nicht nur vom Religiösen her die Polemik gegen Hegel, diesen letzten und radikalsten Griechen, wie Heidegger ihn einmal genannt hat, der das Entweder-Oder der menschlichen Existenz verschleiere. Auch die ausdrückliche Entgegensetzung des griechischen Begriffs der »Erinnerung« mußte ihm einleuchten. War doch Kierkegaards Kategorie der Wiederholung gerade dadurch geprägt, daß sie zur Erinnerung, zur Illusion einer Wiederkehr des Selben, verblaßt, wenn sie nicht als das Paradox der Geschichtlichkeit, als die Wiederholung des Unwiederholbaren, als Zeit

jenseits aller Zeit erfahren wird. Das war die Zeiterfahrung, die Heidegger an Paulus erkannte, die der Wiederkehr Christi, die keine zu erwartende Rückkehr ist und die als Parusie

ein Kommen meint und nicht Anwesenheit. Vor allem aber mußten ihn Kierkegaards religiöse Reden bestätigen, die damals unter dem Titel »Leben und Walten der Liebe« auf deutsch zugänglich wurden. Dort findet man die bemerkenswerte Unterscheidung zwischen dem »Verstehen auf Abstand« und dem Verstehen in Gleichzeitigkeit. Darauf zielte Kierkegaards Kritik an der Kirche, daß sie mit der christlichen Botschaft keinen existenziellen Ernst

mache und das Paradox der Gleichzeitigkeit abmildere, das in der christlichen Botschaft liege. Wenn der Kreuzestod Jesu auf Abstand verstanden wird, hat das keinen wahren Ernst, und ebenso gilt für ein Reden über Gott und über die christliche Botschaft, wie es die Theologie (und die dialektische

Spekulation der Hegelianer) betreibe, daß man sie in Abstand stelle. Kann man über Gott wie über ein Objekt reden? Ist das nicht die Verführung der griechischen Metaphysik, über die Existenz und die Eigenschaften Gottes wie über ein Objekt der Wissenschaft zu argumentieren? Hier bei Kierkegaard liegen die Wurzeln der dialektischen Theologie, die 1919 mit Karl Barths Kommentar zum Römerbriefihren Anfang nahm. In den Marburger Jahren von Heideggers Freundschaft mit Bultmann ging es daher vor allem um die Abrechnung mit der »historischen« Theologie und darum, die Geschichtlichkeit und Endlichkeit des menschlichen Daseins radikaler denken zu lernen. Damals berief sich Heidegger wiederholt auf den Kirchenhistoriker Franz

Se a

Die religiöse Dimension

315

Overbeck, den Freund Nietzsches, dessen Kampfschrift über die »Christlichkeit der Theologie« die eigensten Zweifel, die Heidegger beseelten, aussprach. Sie bestätigte ganz seine philosophische Erfahrung von der Unangemessenheit des griechischen Seinsbegriffs für den christlichen Gedanken des Eschaton, das nicht Erwartung eines kommenden Ereignisses ist. Wenn er in jenem Brief an Löwith schrieb: »Ich bin ein christlicher Theologe«, so meinte er gewiß: ich möchte gegen die angemaßte Christlichkeit der heutigen Theologie die wahre Aufgabe der Theologie anpacken, »das Wort

zu finden,

das imstande

ist, zum

Glauben

zu rufen und im

Glauben zu bewahren« (Worte, die ich 1923 in einer theologischen Diskussion von ihm hörte). Das aber war eine Aufgabe des Denkens. Und

das hatte er gelernt,

nicht nur

an Aristoteles,

sondern

auch an

Husserl, dessen meisterhafte Analyse des Zeitbewußtseins ihm die Folgelast des griechischen Denkens förmlich vordemonstrierte. Er war durch die Schülerschaft bei Husserl vor der Gefahr gefeit, den transzendentalen Idealismus in seiner Konsistenz zu unterschätzen und ihm einen naiven Realismus unter Berufung auf die Parolen der Phänomenologie entgegenzustellen. Nicht darum konnte es gehen, mit Pfänder oder mit dem jungen Scheler darauf zu bestehen, daß die Dinge sind, was sie sind und nicht durch

das Denken erzeugt werden. Weder der Marburger Begriff der Erzeugung noch Husserls umstrittener Begriff der Konstitution haben etwas mit dem metaphysischen Idealismus des Bischofs Berkeley oder mit dem erkenntnistheoretischen Problem der Realität der Außenwelt zu tun. Husserls Absicht war gerade, die »Transzendenz« der Dinge, ihr Ansich-Sein, transzendental

verständlich zu machen, sozusagen »immanent« zu begründen. Die Lehre von dem transzendentalen Ego und seiner apodiktischen Evidenz war nichts anderes als dieser Begründungsversuch aller Objektivität und Geltung. Aber just dieser Versuch verstrickte sich in immer mehr verfeinerte Analysen der Zeitstruktur der Subjektivität. Die Konstitution des transzendentalen Ego, die als Aufgabe anerkannt wird, führt auf so paradoxe Begriffsbildungen wie Selbstkonstitution des Bewußseinsstroms, Selbsterscheinung des Flusses, urtümliche Gegenwart, Urwandel. Das mag dem. jungen Heidegger bestätigt haben, daß weder der Begriff des Objekts noch der des Subjekts auf sein Problem, die Faktizität des menschlichen Daseins, anwendbar war. In Wahrheit hat er seinen Weg damit begonnen, vom Vollzugscharakter der Daseinsbekümmerung - später: der Sorge-statt vom vergegenwärtigenden Bewußtsein auszugehen und Existenz als Zukünftigkeit zu bestimmen. So trat für ihn aus theologischer Absicht und nicht unter

dem Einfluß des Historismus die Geschichtlichkeit des Daseins in den Blick

und leitete die Frage nach dem Sinn von »Sein«. Wie aber ließ sich Theologie als Wissenschaft denken, ohne ihre Christlichkeit zu verlieren und ohne erneut in den Bannkreis der Begriffe von

316

Heideggers Wege

Subjektivität und Objektivität zu geraten? Heidegger hat schon in den frühen Marburger Jahren, wenn ich mich recht erinnere, in der Richtung gedacht, die in dem Tübinger Vortrag von 1927 formuliert wurde: Theologie ist eine positive Wissenschaft, da sie von etwas Seiendem handelt, nämlich von der -Christlichkeit. Sie ist als begriffliche Auslegung des Glaubens zu bestimmen. Damit aber steht sie der Chemie oder Biologie näher als der Philosophie. Denn diese hat es, als einzige Wissenschaft, nicht

mit Seiendem (vorgegebenem - und sei es auch lediglich im Glauben -), sondern mit Sein zu tun: sie ist die vontologische« Wissenschaft. Man sieht wohl die bewußte Provokation in dieser wissenschaftstheoretischen These. Im Glauben begegnet auch das im Glauben Geglaubte - und dieses ist ebenfalls, wenn überhaupt der Glaube, einer begrifflichen Auslegung fähig. Aber ist dies Geglaubte ein Gegenstand oder ein Feld von Gegenständen wie die chemischen Stoffe oder die Lebewesen, und betrifft es

nicht vielmehr - wie die Philosophie — das Ganze des menschlichen Daseins und seine Welt? So muß denn auch Heidegger auf der anderen Seite die ontologische Grundverfassung des menschlichen Daseins, die die Philosophie erkennt, als Korrektiv für die begriffliche Auslegung des Glaubens behaupten. Die Philosophie, die das »Existenzialk der Schuld aus der Zeitlichkeit des Daseins entspringen sieht, kann freilich nur eine formale Anzeige für die im Glauben erfahrene Sünde darstellen. Hier gebraucht Heidegger den, wie man weiß, früher viel von ihm benutzten Begriff der „formalen Anzeige«, fast ein Äquivalent des Kierkegaardschen »Aufmerksammachens«, und man geht gewiß nicht fehl, wenn man

darin

die Absicht

sieht,

im

Unterschied

zu

dem

aprioristischen

Rahmen, den Husserls »Ontologien: für die empirischen Wissenschaften vorzuschreiben beanspruchten, in der formalen Anzeige die Anerkennung zu sehen, daß die philosophische Wissenschaft zwar bei der begrifflichen Auslegung des Glaubens - in der Theologie - beteiligt sein mag, aber nicht bei dem Vollzug, der Sache des Glaubens selbst ist. Dahinter stand gewiß die weitergehende Erkenntnis, daß am Ende auch die Frage nach dem Sein keine Frage im Sinne der Wissenschaft ist, sondern »ins Existenzielle zurückschlägt«.

Bekanntlich hat selbst diese vorsichtige Beschränkung des phänomenologischen Apriorismus zur Kritik herausgefordert. Ist der Schuldcharakter des Daseins wirklich gegenüber der christlichen Glaubensgeschichte neutral und von ihr unabhängig? Oder das Gewissen-haben-wollen, oder das Vorlaufen zum Tode? Heidegger würde das für sich selber und seinen Erfahrungsboden schwerlich abstreiten können und müssen - und nur festhalten, daß von

jedem menschlichen Erfahrungsboden aus Endlichkeit und »Sein zum Tode« einlösbar sind und daß somit die begriffliche Auslegung der christlichen Glaubenserfahrung für jedermann eine Anleitung leiste.

Die religiöse Dimension

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Freilich, mißlich genug steht es mit der ganzen Konfrontation von Theologie und Philosophie, solange die Grundvoraussetzung dahinsteht, ob Theologie überhaupt eine Wissenschaft sei (15), ja, ob die Theologie wirklich dem Glauben auferlegt ist. Mißlicher noch steht es mit der Frage,

ob die Konkretisierung des faktischen Daseinsvollzugs in Gestalt der »Sorge« das wirklich zu leisten vermag, was sie soll, die ontologische Vorgreiflichkeit der transzendentalen Subjektivität hinter sich zu lassen und Zeitlichkeit als Sein zu denken. Sorge ist gewiß am Ende ebenso Bekümmerung um sich selbst, wie das Bewußtsein Selbstbewußtsein ist. Das hat Heidegger als die Tautologie von Selbstsein und Sorge mit Recht hervorgehoben. Aber er hat geglaubt, in der Sorge als der ursprünglichen Zeitigung die ontologische Enge des Ich-Sagens und der darin sich konstituierenden Identität des Subjekts überwunden zu haben. Indessen, was istjene ‚eigentliche: Zeitlichkeit der Sorge? Erscheint sie nicht als eine Selbstzeitigung? »Das Dasein ist eigentlich selbst in der ursprünglichen Vereinzelung der verschwiegenen, sich Angst zumutenden Entschlossenheit« ($ 64). Der spätere Heidegger bemerkt hier zu »Angst«: »d.h. Lichtung des Seins als Seins« (S. 247). Würde er sagen können, das Dasein mute sich die Lichtung zu?

So wie der spätere Heidegger das Denken des Seins als Zeit nicht mehr auf die transzendentale Analytik des Daseins gründen mochte und von der ‚Kehre« sprach, in die er geraten war, konnte auch das Verhältnis von Philosophie und Theologie nicht mehr auf der Voraussetzung gedacht werden, daß es sich hier um das Verhältnis zweier Wissenschaften handle.

Schon im Text des Tübinger Vortrages läßt es mindestens aufmerken, daß die Theologie nicht nur als »historische« in einem radikalisierten Sinn, sondern auch als »praktische Wissenschaft« bezeichnet war. »Jeder theologische Satz und Begriff spricht als solcher seinem Gehalt nach und nicht erst nachträglich auf Grund sogenannter praktischer »Anwendung« in die gläubige Existenz des einzelnen Menschen in der Gemeinde hinein«. Man ist nicht erstaunt, daß Heidegger später (1964) seine Bemerkungen zum »nichtobjektivierenden Denken und Sprechen mit der negativ getönten weilsie Frage schließt, „ob die Theologie noch eine Wissenschaft sein kann,

vermutlich überhaupt nicht eine Wissenschaft sein darf« (46). So war es am Ende nicht mit Hilfe der Theologie, sondern in Abkehr von ihr und in der Abkehr von der die Theologie beherrschenden Metaphysik und Ontologie, daß die religiöse Dimension in Heidegger ihre Sprache g mit suchte. Er fand sie, soweit er sie fand, durch die neue Begegnun g der Auslegun der in ihm die sung, Zungenlö die durch und Nietzsche Dichtung Hölderlins widerfuhr. atheistischen Es ist ganz irreführend zu denken, daß Nietzsche wegen der

GegenImplikationen seines Denkens für Heidegger bedeutsam wurde. Das auch den teil ist der Fall. Die Radikalität dieses Denkens ließ gerade

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Heideggers Wege

atheistischen Dogmatismus hinter sich. Es war die verzweifelte Kühnheit, mit der Nietzsche die gesamte Metaphysik und den theoretischen Begriff von Wahrheit hinterfragte und überall den »Willen zur Macht< erkannte, was Heidegger anzog. Nicht die Umwertung aller Werte - das schien ihm ein oberflächlicher Aspekt Nietzsches —, sondern daß der Mensch überhaupt als das wertsetzende und wertschätzende Wesen gedacht war. Das war die Geburtsstunde für den wohlbekannten Heideggerschen Ausdruck vom »rechnenden« Denken, das alles auf seinen Wert hin berechnet, und das in der

Technik und technischen Einrichtung des In-der-Welt-Seins zum Schicksal der Menschheitskultur geworden ist. Was bei Nietzsche als das Heraufkommen des europäischen Nihilismus beschrieben wird, versteht Heidegger also nicht als den Prozess einer Entwertung aller'Werte, sondern im Gegenteil als die endgültige Etablierung des Denkens in Werten — und nennt das »Seinsvergessenheit«. Nietzsche ist ihm nicht nur der Diagnostiker des Nihilismus - am Nichts wird das Sein sichtbar. So führt er in den »Holzwegen« die Szene des tollen Menschen an, der auf dem Markt unter die Vielen tritt, welche nicht an Gott glaubten und schreit: Ich suche Gott, ich suche Gott, und der weiß: » Wir

haben ihn getötet«. Der Sucher Gottes, das ist Heideggers Punkt, »weiß« von Gott — diejenigen, die seine Existenz zu beweisen suchen, sind es, die ihn

eben auf diese Weise töten. Denn Suchen setzt Missen voraus und Missen Wissen

des Abwesenden, gewiß, aber das Abwesende ist nicht nicht. Es ist

als abwesendes »da«. Das nun war es, was Heidegger an Hölderlin wiederentdeckte: das Lied auf das Dasein der entschwundenen Götter. Der letzte der Götter der Alten Welt war für Hölderlin Christus,

der letzte, der »unter den Menschen«

geweilt hat. Seither haben wir nichts als die Spur der entflohenen Götter: » Aber des Göttlichen haben wir doch viel« ..... Das war das Vorbild, nach dem Heidegger neu, d.h. nicht im Sinne der Metaphysik, nicht im Sinne der Wissenschaft zu denken versuchte und Denken zu denken versuchte. Wie man vom Göttlichen weiß ohne Gott zu begreifen und zu erkennen, ist auch das Denken des Seins nicht ein Begreifen, nicht ein Haben und Beherrschen. Ohne die Parallele mit der Gotteserfahrung und der Wiederkehr Christi, die immerhin von hier aus richtiger gedacht werden kann, zu forcieren, darf man doch sagen, daß auch »Sein« mehr ist als bloße »Präsenz« (geschweige denn »Vorgestelltheit«) - es ist

ebenso sehr »Absenz«, eine Form des »Da«, in der nicht nur das »Es gibt«, sondern auch Entzug, Rückzug, Ansichhalten erfahren wird. »Die Natur liebt es, sich zu verbergen« - dies Heraklitwort zog Heidegger oft heran. Es lädt nicht zum Angriff und zum Eindringen ein, sondern zum Warten-und Rilke hatte recht, wenn er - in seinem Malte, in seinen Elegien - die Unfähigkeit zu warten beklagt. So spricht der späte Heidegger vom An-

Die religiöse Dimension

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Denken, das nicht nur Denken an etwas, das einmal war, ist, sondern ebenso Denken

an etwas Kommendes,

das einen schon an es denken läßt — auch

wenn es kommt »wie der Dieb in der Nacht«. Es ist keine Ontologie und erst gar nicht eine Theologie, was sich in solchem Denken vorbereitet. Und doch möge zum Schluß daran erinnert sein, daß Heidegger - im Denken Hölderlinscher Dichtung - einmal sagt, die Frage: Wer ist Gott? sei zu schwer für die Menschen. Sie seien höchstens imstande zu fragen: Was ist Gott? - und damit deutete er auf die Dimension des Heiligen und des Heilen und sagte darüber: »Der Verlust der Dimension des Heiligen und des Heilen ist vielleicht das eigentliche Unheil unseres Zeitalters«. Er mochte damit meinen, daß wir Gott deshalb nicht erreichen können, weil wir über Gott in einer Weise reden, die dem Selbstverständnis

des Glaubens niemals helfen kann. Aber das ist Sache der Theologen. Meine Sache, die des Philosophen, ist - könnte Heidegger mit Recht gesagt haben und das für jedermann, nicht nur für die Christen oder gar nur für die Theologen - zu warnen, daß die herkömmlichen Wege des Denkens nicht

zureichen.

23. Sein Geist Gott 1977

Werje von dem Denken Martin Heideggers berührt worden ist, kann die

Grundworte der Metaphysik, die der Titel meines Beitrages nennt, nicht mehr in der Weise lesen, wie es die Tradition der Metaphysik selber getan hat. Daß das Sein Geist ist, mochte man mit den Griechen und mit Hegel in Einklang finden, und daß Gott Geist ist, sagt uns das Neue Testament, und

so schloß sich für das ältere Denken die abendländische Überlieferung zu einer Sinnfrage zusammen, die in sich selber steht. - Und doch sieht sich das

ältere Denken

herausgefordert und in Frage gestellt, seit die moderne

Wissenschaft durch ihre methodische Askese und die kritischen Maßstäbe,

die sie aufgerichtet hat, einen neuen Begriff des Wissens setzte. Das philosophische Denken kann deren Existenz nicht ignorieren und dennoch sie auch nicht wirklich integrieren. Die Philosophie ist nicht mehr selber das Ganze unseres Wissens und ein wissendes Ganzes. So mag heute vielen nach dem Hahnenschrei des Positivismus die Metaphysik überhaupt unglaubwürdig scheinen, und sie mögen mit Nietzsche Hegel und die anderen Schleiermacher als bloße Verzögerer dessen ansehen, was Nietzsche den

europäischen Nihilismus genannt hat. Daß diese Metaphysik sich selber noch einmal mit der Spannung aufladen würde, die in ihrer eigenen Fragestellung wie zu einem Abschluß gekommen schien, so daß die Metaphysik nurmehr als ein fortgeltendes Korrektiv gegenüber dem modernen Denken fortbestand, das war nicht zu erwarten. All die Versuche

zur Erneuerung der Metaphysik, die im 20. Jahrhundert einsetzten, mochten — wie die große Reihe der Begriffsbildner und Systemschöpfer seit dem 17. Jahrhundert — auf ihre Weise die moderne Wissenschaft mit der alten Metaphysik zu versöhnen trachten: daß die Metaphysik selber nochmals zur Frage werden würde, daß ihre Frage, die Frage nach dem Sein, nach der zweitausendjährigen Antwort, die auf sie gefallen war, nochmals gefragt werden könnte, als ob sie noch nie gefragt worden wäre: das war nicht vorauszuschen. Auch als der junge Heidegger seine erste Faszination auszuüben begann, weil ungewohnte Töne vom Katheder erklangen, die einen an Kierkegaard, an Schopenhauer, an Nietzsche und an all die anderen Kritiker der Kathederphilosophie gemahnten, ja, noch als ‚Sein und Zeit‘

Sein Geist Gott

321

erschien, wo doch mit vollem Nachdruck diese ganze Orchestrierung in den Dienst der Wiedererweckung der Seinsfrage gestellt war, ordnete man ihn mehr diesen Kritikern der Tradition zu als dieser selbst. Das war insofern kein Wunder, als der junge Heidegger selber die Destruktion der Metaphysik zur Parole erhob und seine eigenen Schüler davor warnte, ihn in die Reihe der »großen Philosophen« zu versetzen. »Ich bin ein christlicher Theologe«, schrieb er im Jahre 1921 an Karl Löwith. Das hätte freilich immerhin zeigen können, daß esnochmals das Christentum war, das das Denken dieses Mannes herausforderte und in Atem hielt —

daß es nochmals die alte Transzendenz und nicht die moderne Diesseitigkeit war, die aus ihm sprach. Ein christlicher Theologe freilich, der, um

dem,

was

glauben heißt, gerecht werden

zu können,

Besseres wissen

möchte, als ihm die moderne Theologie anbietet. Aber warum,

neben so

Vielen, die vom gleichen Verlangen getrieben wurden und als moderne Menschen den Boden der Wissenschaft nicht aufgeben konnten, war er nicht wirklich ein christlicher Theologe, sondern wurde ein Denker? Weiler ein Denkender war. Weil es Denken war, das in ihm arbeitete. Weil

die Leidenschaft des Denkens ihn zittern machte — ebensosehr durch die Gewalt, die sie über ihn ausübte, wie durch die Kühnheit des Fragens, zu der sie ihn nötigte. Kein christlicher Theologe: von Gott reden, dazu fühlte er keine Ermächtigung. Aber was es sein mußte, von Gott zu reden, und daß es nicht anging, über ihn zu reden, wie die Wissenschaft über ihre Gegenstände redet, das

war die Frage, die ihn umtrieb - und auf den Weg des Denkens wies.

Denken ist Nachdenken über das, was man weiß. Es ist Hin- und HerBewegen von Gedanken, Hin- und Her-Bewegtwerden von Gedanken, von

Möglichkeiten, Angeboten, Zweifeln und neuen Fragen. Es waren insbesondere zwei Angebote, über die Heidegger von früh an nachdenken mußte, da er sie nicht einfach annehmen konnte und auch nicht auszuschlagen vermochte: Aristoteles und Hegel. Von der früh den Weg weisenden Bedeutung, die Aristoteles für ihn gewann, weil die vielfache Bedeutung des

der Seienden, die von Aristoteles unterschieden wurde, sich beiihm nicht zu Einheit zusammenfügte, die es doch geben mußte, hat er selbst berichtet.

Von der Herausforderung, die Hegels Philosophie für ihn darstellte, das gewaltigste »System einer historischen Weltanschauung«, wie er es nannte, zeugt der Schluß seines Duns-Scotus-Buches: Hegel markierte ihm die Spannungsweite zwischen Sein und Geist, in der - um mit dem jungen Heidegger zu reden - »die lebendige Begreifung des absoluten Geistes galt Gottes: im Zeitalter der Metaphysik angesiedelt war. Diese Spannweite zussuchen, Frage eigene es auszumessen, nicht, um darin die Antwort auf die sondern um zu ermessen, wonach gefragt werden müßte, damit diese Frage sich nicht selber wieder mißverstand und ein falsches Wissenwollen betrieb.

322

Heideggers Wege

Es war ein Hinterfragen der Frage nach dem Sein, die die Metaphysik gefragt hatte und auf die ihre Antwort war, Sein als Wesen und Sein als Geist zu begreifen, und wie jede Frage des Nachdenkens war Heideggers Frage auf der Suche nach sich selbst. Die Spannungsweite, die sie im Hinterfragen der Metaphysik ermaß, war selber ein Rätselding: Zeit. Nicht die Dimension unseres Messens, an der wir entlangmessen,

wenn

wir das bestimmen

wollen,

was

in unserer

zeitlichen Erfahrung als seiend begegnet, sondern das, was das Sein als solches selber ausmacht: Präsenz, Anwesenheit, Gegenwärtigkeit. Die verschiedenen Bedeutungen des Seienden, die Aristoteles unterschieden hatte, fanden darin ihren wirklichen Grund, und es war dank der Aufwei-

sung dieses Grundes,

daß Heideggers

Aristoteles-Interpretationen

ihre

eigene Evidenz gewannen, durch die einem der Aristoteles förmlich auf den

Leib rückte. Sie waren echte philosophische Befragung. Denn sie machten den Aristoteles stark, stark gegenüber der gesamten Tradition der Metaphysik und vor allem gegen ihr Auslaufen in das Subjektivitätsdenken der Neuzeit. Das wahrhaft Zugrundeliegende, das permanent Anwesende der »Substanz«,

das Sich-selbst-im-Sein-Haltende

der »Entelechie«,

das Sich-

selbst-Zeigende des »Wahren« artikulieren die Stärke dieser Aristotelischen Antwort, die das Sein als Anwesenheit denkt. Aber auch Hegels großartige Anstrengung des Begriffs, das Sein als Geist zu denken und nicht als das Objekt, dessen Objektivität von der Subjektivität des Bewußtseins erfaßt oder konstituiert wird, war wie ein Angebot: die Geschichtlichkeit des Geistes, sein Fallen in die Zeit, diese Beirrung eines sich selbst reflektieren-

den historischen Bewußtseins, schien sich in der Gegenwärtigkeit des sich selber wissenden Geistes über alle Partikularität des subjektiven Bewußtseins hinauszuheben und insich zusammenzuschließen. Als der letzte Grieche denkt Hegel das Sein im Horizont von Zeit als alles umfassende Anwesenheit. Der Logos des Seins, nach dem die Griechen gefragt hatten, die Vernunft in der Geschichte,

nach der Hegel fragte, bildeten die beiden

großen Hemisphären dieses geistigen Alls. Es hieße die Aufgabe unterschätzen, die sich Heidegger als die der Überwindung der Metaphysik gestellt hatte, wenn man nicht erst einmal sähe, wie solches Hinausfragen auf den Zeitcharakter des Seins die Metaphysik selber über das Subjektivitätsdenken der Neuzeit hinaus zu ihrer vollen Stärke und zu einer neuen Gegenwärtigkeit erhebt. Da war die Analogia entis, die keinen allgemeinen Begriff des Seins zuließ; da war aber auch die Analogie des Guten und die Aristotelische Kritik an der Platonischen Idee des Guten, an denen das Allgemeine des Begriffs seine wesenhafte Grenze findet. Sie waren von früh an Kronzeugen des eigenen Heideggerschen Denkversuchs. Und vollends die ontologische Führungsstellung des ,WahrSeins‘ (öv ws dAndec), des Nus, die Heidegger aus dem letzten Kapitel von

Sein Geist Gott

823

Met. Ö herauslas, machte das Sein als die Anwesenheit des Anwesenden, als das Wesen, sichtbar. Das läßt dem Selbstbewußtsein und seiner Reflexionsimmanenz nicht länger den Primat, den es seit Descartes hat, und gibt dem Denken die ontologische Dimension zurück, die es in der Bewußtseinsphilosophie der Neuzeit eingebüßt hatte. Ebenso gewinnt Hegels Begriff des Geistes im Lichte der neu gestellten Seinsfrage seine Substanz zurück. Der Begriff durchläuft gleichsam eine »Entspiritualisierung«. Geist wird, indem er auf dem Wege zu sich selbst dialektisch entfaltet wird, auf ursprüngliche Weise wieder als Pneuma gedacht, als der Atem des Lebens, der alles Ausgedehnte und Verteilte durchweht oder, mit Hegel zu reden: der als das allgemeine Blut den Kreislauf des Lebens in sich zusammenhält. Dieser allgemeine Begriff des Lebens ist zwar auf der Spitze der Modernität,

d.h. im Hinblick auf das

Selbstbewußtsein gedacht, impliziert aber zugleich eine ausdrückliche Überschreitung des formalen Idealismus des Selbstbewußtseins. Die gemeinsame Sphäre, die zwischen den Einzelnen waltet, der Geist, der sie verbindet, ist Liebe: Ich, das Du und Du, das Ich, und Ich und Du, das

Wir sind. Von da hat Hegel nicht nur einen Zugang zu dem übersubjektiven Dasein der gesellschaftlichen Wirklichkeit gefunden, indem er sie als objektiven Geist versteht - ein Begriff, der bis zum heutigen Tag die Sozialwissenschaften, in welcher Interpretation immer, beherrscht -, sondern ebenso einen wirklichen Begriff von der Wahrheit,

die, jenseits

aller Bedingtheiten, als das Absolute in Kunst und Religion wie in Philosophie zutage tritt. Der griechische Begriff des Nus, Vernunft und Geist, bleibt das letzte Wort von Hegels System der Wissenschaft. Das ist für ihn die Wahrheit des Seins, Wesen,

das heißt Anwesenheit,

und

Begriff, das heißt die alles in sich selbst begreifende Selbstheit des Anwesenden. Die Kraft dieser von Aristoteles bis Hegel reichenden Antwort der Metaphysik ist stärker als die leichtfertige Berufung, die man auf die von Heidegger so genannte Überwindung der Metaphysik zu machen pflegt. Heidegger hat sich stets dagegen gewehrt, so verstanden zu werden, als sei_ die Metaphysik in diesem Sinne überwunden und abgetan. Wenn seine Frage die Seinsfrage der Metaphysik hinterfragt und den Horizont der Zeit

bewußt

macht,

in dem

Sein gedacht werden kann, erkennt sie in der

Metaphysik doch gerade eine erste Antwort, ein Sichstellen auf die Heraus-

forderung, die das Sein in Gestalt des Seienden im Ganzen darstellt. Die

Frage, die in Heideggers Denkversuch aufgebrochen ist, läßt auch die Antwort der Metaphysik neu sprechen. Heidegger selber sah in »Sein und Zeit“ durchaus nichts anderes als eine solche erste Vorbereitung der Seinsfrage. Was sich an seinem Werk in den

Vordergrund drängt, war freilich etwas anderes: seine Kritik am Bewußt-

324

Heideggers Wege

seinsbegriff der transzendentalen Phänomenologie. Sie paßte zu der zeitgenössischen

Kritik

am

Idealismus,

die durch

Karl

Barth

und

Friedrich

Gogarten, durch Friedrich Ebner und Martin Buber vorbereitet war und die sich als eine Wiederaufnahme der Kierkegaardschen Kritik am absoluten Idealismus Hegels vollzog. »Das Wesen des Daseins liegt in seiner Existenz« wurde als der Vorrang der existentia vor der essentia verstanden, und aus solchem idealistischen Mißverständnis des Begriffes »Wesen« entsprang der Existenzialismus Sartres, dies Zwischengebilde aus spekulativen Motiven Fichtes, Hegels, Kierkegaards, Husserls und Heideggers, die sich in Sartre zu einer neuen moralphilosophischen und sozialkritischen Stoßkraft vereinigten. Umgekehrt suchte Oskar Becker »Sein und Zeit« als weitere Konkretisierung der transzendental-idealistischen Grundhaltung von Husserls »Ideen« zu verharmlosen. Das Heideggersche Paradox einer Hermeneutik der Faktizität meint freilich nicht eine Auslegung, die die Faktizität als solche zu »verstehen« beansprucht — das wäre ein wirklicher Widersinn, das Nichts-als-Faktische, für allen »Sinn« Verschlossene, dennoch verstehen zu wollen. Hermeneutik der Faktizität meint vielmehr, daß die Existenz selber

als der Vollzug von Verstehen und Auslegung zu denken ist und darin ihre ontologische Auszeichnung besitzt. Das wurde von O. Becker in die transzendentalphilosophische Konzeption von Husserls phänomenologischem Programm eingegliedert und zu einer hermeneutischen Phänomenologie abgeschwächt. Doch selbst wenn man Heideggers Anspruch ernst nahm,

die existenziale Analytik des Daseins

als Fundamental-Ontologie

aufzufassen, mochte das Ganze noch immer im Fragehorizont der Metaphysik verstanden werden. Es konnte dann nichts anderes als eine Art Gegenstück zur klassischen Metaphysik oder eine Umbildung derselben darstellen, eine endliche Metaphysik, die auf die existentielle Radikalisierung der Geschichtlichkeit gegründet wäre. In dieser Weise hat Heidegger in der Tat selber in seinem Kant-Buch von 1929 das kritische Moment in Kant, das Kant veranlaßte, sich Fichtes Umbildung seines Werkes zu versagen, in

seine eigene Fragestellung zu integrieren versucht. Das mußte dann freilich als eine Verwerfung der klassischen Metaphysik erscheinen. Denn diese ist ja auf die Unendlichkeit des Intellectus, Nus oder Geist gegründet, in dem sich die Wahrheit des Seins als das Wesen darstellt und dem alles, was ist, in seinem Seins-Sinn zugeordnet ist. Hier dagegen wurde, so scheint es, das Ewige auf das Zeitliche, die Wahrheit auf die Geschichtlichkeit gegründet und damit die Säkularisierung des christlichen Erbes, die man in Hegels dialektischer Synthese des absoluten Geistes erblicken mochte, durch die Entschlossenheit zum Nichts überholt. Man begann, sich nach positiveren, weniger ungemütlichen Daseinsstimmungen umzusehen,

als die Angst zum Tode war, oder die

weltliche Verzweiflung erneut durch christliche Hoffnung zu überhöhen. In

V

Sein Geist Gott

325

beider Hinsicht verkannte man damit den Denkimpuls, der hinter dem Ganzen des Heideggerschen Versuches stand. Es ging Heidegger immer schon um das »Da« im Dasein des Menschen, um diese Auszeichnung von Existenz, außer sich zu sein und ausgesetzt zu sein wie kein anderes lebendes Wesen. Diese Ausgesetztheit bedeutete aber, wie der an Jean Beaufret gerichtete Humanismusbrief es ausführt - und ich bin glücklich, den Empfänger dieses Briefes unter meinen Zuhörern zu wissen —, daß der Mensch als Mensch derart im Offenen steht, daß er sogar dem Fernsten, dem

Göttlichen, am Ende näher ist als seiner eigenen »Natur«. Der Humanismusbrief spricht von dem »Befremdenden der Lebewesen« und von »unserer kaum auszudenkenden abgründigen leiblichen Verwandtschaft mit dem Tier«.

z

Es ist eine lange Geschichte des Leidens in philosophischer Leidenschaft, in der Heidegger dies »Da« zu denken unternahm. Eine Geschichte des Leidens, sofern auch Heideggers ungewöhnliche, ursprüngliche und kühne spekulative Sprachkraft gegen einen immer erneut entgegenstehenden und oft übermächtigen Widerstand der Sprache zu kämpfen hatte. Er selbst bezeichnete es als die seine Wege begleitende Gefahr, daß das Denken - auch in seinen eigenen Denkversuchen - in die Sprache der Metaphysik und die durch ihre Begrifflichkeit vorgezeichnete Denkweise zurückfalle. Aber es war mehr als das. Es war die Sprache selbst, seine eigene Sprache und die unser aller, gegen die Heidegger sich oft gewaltsam anstemmen mußte, um ihr die von ihm gesuchte Aussage abzuzwingen. Gewiß ist es richtig zu sagen, daß die Sprache und Begrifflichkeit der Metaphysik all unser Denken beherrscht. Das war der Weg, den das griechische Denken, das die Metaphysik ausbildete, gegangen war: die Aussage, den Satz, das Urteil auf seinen objektiven Gehalt zu befragen und am Ende im Spiegel des definitorischen Satzes das Sein des Seienden, das Was-Sein oder das Wesen, zu gewahren. Und gewiß war es eine der großen Einsichten Heideggers, daß er in dieser frühen Antwort der Metaphysik den

Ursprung jener Art von Wissenwollen wiedererkannte, die die abendländische Wissenschaft, ihr Objektivitätsideal und die auf sie gegründete technische Weltkultur gezeitigt hat. Man mag auch schen, daß die Sprachengruppe, der das Griechische angehört, aus dem das europäische Denken herausgewachsen ist, wie eine Präformation der Metaphysik gewirkt hat. Indem die griechische Sprache das Subjekt von seinen Prädikaten unter-

schied, war sie dazu prädisponiert, die Substanz und ihre Akzidenzien zu denken, und so war das europäische Denken schon durch seine sprachli-

che Urgeschichte auf sein eigenes Schicksal hin angelegt, Metaphysik und Logik und am Ende die moderne Wissenschaft zu entwickeln. Aber die stärkste Beirrung ist doch im Wesen der Sprache selber gelegen. Es scheint fast unausweichlich, Sprache, welche immer es sei, so zu denken,

326

Heideggers Wege

daß sie gegenwärtig macht, und Vernunft so zu denken, daß sie das Gegenwärtige oder Vergegenwärtigte vernimmt und als allen gemeinsam an sich nimmt,

ob das nun in mathematischen

Gleichungen,

in zwingenden

Schlußketten, in verhaltenen Gleichnissen oder in Sprüchen und Weisheitsreden geschehe. So liegt es offen zutage, daß auch Heideggers Versuch, das Ereignis des »Da«, das allem Denken und Sprechen allererst Raum gibt, ins Denken zu heben, auch wenn

es die Sprache der Metaphysik zu vermeiden trachtet,

dennoch Artikulation durch den Begriff versucht. Auch er kann nicht anders, als immer wieder - in Abhebung von dem empirischen Weltzugriff der Wissenschaften - vom Wesen der Dinge zu sprechen, ohne daß »Wesen«

in solcher Verwendung

des Wortes

den neuen

verbalen

Akzent

von

»Anwesen« trüge, den Heideggers Versuch, das Sein als Zeit zu denken, dem

Worte verliehen hat. Auch an Heidegger bewährt sich die von Eugen Fink zuerst an Husserl gemachte Beobachtung, daß gewisse Grundbegriffe des Denkens oft unthematisch bleiben und nur im operativen Gebrauch stehen. Es bleibt deshalb nicht minder wahr, daß Heideggers ganze Anstrengung im Fortgang seines Denkens dem Vorsatz galt, der Verführung durch Anpassung an die Sprache der Metaphysik zu widerstehen und die Sprachnot auszuhalten, in die er sich durch die Frage nach dem Sein versetzt sah, das

nicht länger Sein des Seienden ist. Das drückte sich zunächst in der Abkehr von der transzendentalen Selbstauffassung seiner Fundamentalontologie aus, die er noch in »Sein und Zeit« festgehalten hatte. Die fundamentale Struktur der Zeitlichkeit des menschlichen Daseins mochte noch so sehr imstande sein, alle Zeitcharak-

tere von Seiendem als die Bedingung ihrer Möglichkeit zu umfassen, das Kontingente wie das Notwendige, das Flüchtige wie das Ewige - das Sein, das das Dasein selber ausmacht, das Sein dieses »Da«, war nicht wie-

derum eine solche transzendentale Bedingung der Möglichkeit des Daseins. Es war selbst das, was sich ereignet, wenn

Dasein ist, oder, wie

sich Heidegger in einer ersten Formulierung ausdrückte: »als der erste Mensch den Kopf hob«. Wir haben uns, als Heidegger diese Wendung in frühen Marburger Tagen erstmals gebrauchte, wochenlang darüber gestritten, ob Heidegger mit diesem ersten Menschen Adam oder Thales gemeint hatte — man sieht, wir waren damals in unseren Einsichten noch nicht schr weit fortgeschritten. Der transzendentalen Selbstauffassung zu entgehen, stellte nun aber das europäische Denken begriffliche Mittel kaum zur Verfügung. Heidegger fand sprechende Metaphern, mit deren Hilfe er den logischen und ontologischen Grundbegriffen der Metaphysik, dem Sein und dem Denken, der Identität wie der Differenz, einen neuen Sinn abgewann. Er sprach von der Lichtung, dem Austrag, dem Ereignis, und er suchte sich in dem wiederzu-

Sein Geist Gott

erkennen,

327

was durch die frühesten Zeugnisse des griechischen Denkens

hindurchschimmert,

die wir mit den Namen

Anaximander,

Parmenides

und Heraklit verbinden. Es waren die ersten Schritte auf dem Wege zur klassischen Metaphysik, mit denen diese anfangenden Denker der Herausforderung zu begegnen suchten, auf die ihr Denken zu antworten hatte: der großen Herausforderung des »Da«. Etwas davon klang auch in der jüdisch-christlichen theologischen Lehre von der Schöpfung an, wie überhaupt das am Alten Testament gebildete Denken, das das Hören der Stimme Gottes oder seine stumme Weigerung erfuhr, weit mehr für das »Da« (und seine Verdunkelung) als für die gegliederte Gestalt und den Was-Gehalt von Da-Seiendem empfänglich machte. So bedeutete es für Heidegger eine wirkliche Faszination, als er an Schellings theosophischer Spekulation über den Grund in Gott und die Existenz iri Gott sah, wie dieser das Mysterium der Offenbarung begrifflich zu fassen suchte.

Schellings erstaunliche Gabe,

die Grundbegriffe dieses

Geschehens in Gott am menschlichen Dasein zu gewinnen und aus ihm zu belegen, machte Existenzerfahrungen sichtbar, die über die Grenzen aller spiritualistischen Metaphysik hinauswiesen. Das war wohl auch der Punkt, an dem Heidegger für das Denken von Karl Jaspers Sympathie aufbringen konnte, das das Gesetz des Tages durch die Leidenschaft zur Nacht begrenzt sah. Indessen, eine Befreiung von der Sprache der Metaphysik und den ihr immanenten Konsequenzen war weder hier noch dort zu gewinnen. Den eigentlichen Durchbruch zu seiner eigenen Sprache brachte ihm eine erneute Wiederbegegnung mit Friedrich Hölderlin, dessen Dichtung ihm nicht nur als dem Landsmann des Dichters, sondern auch als dem Zeitgenos-

sen des ersten Weltkrieges - denn das war die Zeit, in der der späte Hölderlin bekannt wurde - schon immer nahe war. Hölderlins dichterisches Werk sollte ihn von jetzt an auf der Suche nach der eigenen Sprache wie eine beständige Orientierung begleiten. Das zeigte sich nicht nur darin, daß er selber mit Hölderlin-Interpretationen hervortrat (1936), nachdem er seinen politischen Irrtum erkannt hatte. Es zeigte sich auch, als er ebenfalls 1936 das Kunstwerk als ein eigenes Sich-Ereignen von Wahrheit zu begreifen unternahm und es im Spannungsfelde von Welt und Erde zu denken suchte. Daß ‚Erde« hier wie ein Begriff der Philosophie gebraucht wurde, war etwas fast bestürzend Neues. Gewiß bedeutete auch Heideggers Analyse des Weltbegriffes, den er aus der Struktur des In-der-Welt-Seins abhob und den er an

Hand der Verweisungszusammenhänge der Zuhandenheit als die Struktur der Weltlichkeit der Welt aufhellte, für die philosophische Tradition des Weltbegriffes cine neue Wendung. Sie führte vom kosmologischen Problem zu seiner anthropologischen Entsprechung. Doch hatte das seine theologischen und moralphilosophischen Vorgänger. Daß nun aber »Erde« zum Thema der Philosophie wurde, diese Aufladung eines dichterisch gefüllten

328

Heideggers Wege

Wortes zu einer zentralen Begriffsmetapher, bedeutete einen wahrhaften Durchbruch. Als Gegenbegriffzu »Welt« war »Erde« kein auf den Menschen allein ausgerichtetes Bezugsfeld. Daß nur im Zusammenspiel von Erde und Welt, im Wechselbezug von bergender und verbergender Erde und dem Aufgang von Welt, ein philosophischer Begriff des »Da« und der Wahrheit gewonnen werden konnte, das war eine kühne Wendung, durch die sich dem Denken neue Wege öffneten. Hölderlin hatte dem Denken Heideggers die Zunge gelöst. Das war es im Grunde gewesen, was Heidegger von früh an gesuchthatte. Es ging ihm um die F:age des Seins. Daß der griechische Begriff der Aletheia, der Unverborgenheit, der Wahrheit, das Sein des Seienden selber auszeichnete und nicht etwa allein im menschlichen Verhalten zum Seienden - im »Urteil« - seinen Platz hatte, war einer der ersten Punkte, auf dem der

Lehrer Heidegger von früh an bestand. Der Ort der Wahrheit ist durchaus nicht das Urteil. Das bedeutete eine ontologische Vertiefung des logischen und erkenntnistheoretischen Begriffes von Wahrheit, aber darüber hinaus wies es in eine ganz neue Dimension. Dieser privative Begriff der Aletheia, dieser Raub, der das Verborgene aus dem Dunkel ins Helle hebt- und der in letzter Konsequenz zum Aufklärungszuge der europäischen Wissenschaft geführt hat -, verlangt seinen Gegenhalt, wenn er wahrhaft dem Sein zukommen soll. Das Sich-Zeigen dessen, was ist, das, was sich als das, was

es ist, zeigt, schließt, wenn es ist, ein Ansichhalten und Sich-Zurückhalten

ein. Das erst gibt dem Seienden, kennen es aus unserer eigensten »Da« des menschlichen Daseins kennen es als die Erfahrung des

das sich zeigt, das Gewicht des Seins. Wir Existenzerfahrung, wie fundamental das mit seiner Endlichkeit verknüpft ist. Wir Dunkels, in dem wir als Denkende stehen

und in das, was wir ins Helle heben, immer wieder zurücksinkt. Wir wissen es als das Dunkel, aus dem wir kommen und in das wir gehen. Aber dies

Dunkel ist uns nicht nur das Dunkel, das der Welt des Lichtes entgegengesetzt ist. Wir sind uns selber dunkel, und das heißt, daß wir sind. Es macht

das Sein unseres Daseins mit aus. Erde vollends ist nicht nur das, wohinein die Strahlen des Lichtes nicht

einzudringen vermögen. Das Dunkel, das verbirgt, ist ebenso das Bergende, aus dem alles ins Helle hervorbricht, wie das Wort aus dem Schweigen. Was

Kierkegaard der Selbstdurchsichtigkeit des absoluten Wissens entgegengesetzt hatte, die Existenz, und was Schelling als das Unvordenkliche,

das

allem Denken vorausliegt, ausgezeichnet hatte, gehört der Wahrheit des Seins selbst zu. Das dichterische Symbol dessen wurde für Heidegger Hölderlins Anrufung der Erde. Es war im Zusammenhang der Frage nach dem Ursprung des Kunstwerkes, daß Heidegger zum ersten Male die ontologisch-konstitutive und nicht nur privativ begrenzende Funktion von Erde aufwies. Hier war es hand-

Sein Geist Gott

329

greiflich, daß die idealistische Interpretation des Kunstwerks ihm seine eigentliche,

ausgezeichnete

Seinsweise

schuldig blieb: ein Werk

zu sein,

dazustehen oder emporzuragen wie Baum oder Berg, und dennoch Sprache zu sein. Dies »Da« des Werkes, das uns durch seine in sich selbst stehende Präsenz fast erschlägt, teilt sich uns nicht nur mit. Es setzt uns ganz aus uns heraus und erlegt uns seine eigene Gegenwart auf. Da ist nichts mehr von einem Objekt, das uns gegenübersteht und dessen wir uns bemächtigen könnten, Kenntnis nehmend, messend, verfügend. Es ist weit mehr eine Welt, in die wir selber hineingezogen werden, als daß es uns in unserer Welt

begegnete. So ist es mit besonderem Nachdruck das Ereignis des »Da«, in das wir ausgesetzt sind. Zwei weitere Schritte zeichnen sich uns von da aus aufs deutlichste ab, die das Denken Heideggers gehen mußte. Wenn das Kunstwerk kein Objektist, solange es als Kunstwerk spricht und nicht in fremde Bezüge wie die des Handels und Verkehrs verschoben

wird, so muß am Ende auch bewußt

werden, daß selbst das Ding, das unser ist, solange es nicht in die Objektwelt des Machens und Marktens versetzt ist, eine ursprüngliche Welthaftigkeit besitzt und damit die Mitte eines eigenen Seins. Rilkes Dinggedichte sagen uns etwas davon. Wieder geht dies Sein des Dinges nicht in dem auf, was ein objektivierender Zugang durch Messung und Schätzung an ihm feststellen kann. Es ist das Ganze eines Lebenszusammenhangs, der in das Ding eingegangen und in ihm anwesend ist. Wir gehören ihm mit an. Wir sind zu ihm stets ein wenig in der Haltung des Erben, dem es als Hinterlassenschaft eines Angehörigen, sei es aus einem fremden, sei es aus unserem eigenen 5 Leben, gehört. Wie sehr ein jeder das Zuhausesein in seiner Welt als das Zuhausesein in solchen

Welten

der Werke

und der Dinge erfährt,

wird aber vollends

deutlich an dem Zuhausesein im Wort, das aller Sprechenden intimstes Zuhause ist. Auch das Wort ist nicht allein das Mittel der Verständigung, als das es fungiert. Es ist kein bloßes Zwischending, das auf etwas anderes

verweist und das man zum Zeichen nimmt, um etwas anderem zugewendet zu sein. Als das eine Wort oder als die Einheit der Rede ist es vielmehr das, _

worin wir selber so ganz zu Hause sind, daß auch noch unser Wohnen in dem Wort uns überhaupt nicht bewußt ist. Doch dort, wo es in sich steht undein

Werk ist, im Gedicht und im auf sich versammelnden Gedanken, kommt es

auch für uns ganz als das heraus, was es im Grunde immer ist. Es nimmt uns

gefangen. In ihm verweilen heißt, es dasein lassen und uns selbst im »Da« des Seins halten. Das klingt nach einer sternenweiten Entfernung von dem, was dem heutigen Dasein des Menschen seine täglichen Bahnen weist. Sind es nicht geradezu die Phänomene, die in unserer Welt an den Rand gedrängt und um alle Legitimität gebracht sind, an denen sich für dieses Denken die Seinser-

330

Heideggers Wege

fahrung von Verbergung, Entbergung und Bergung ausweist? Die Welt des Kunstwerks ist wie eine vergangene oder eine vergehende und abweisende Welt, die ohne Ort in unserer eigenen Welt ist. Eine absterbende ästhetische Kultur, der wir gewiß alle die Schärfung unserer Sinne und unserer spirituellen Empfänglichkeit verdanken, hat mehr den Charakter eines geschonten Reservates, als daß sie zu unserer Welt gehörte, in der man zu

Hause sein könnte. Daß die Dinge ihren Seinsrang und Lebensrang mehr und mehr einbüßen, fortgeschwemmt von der Warenflut und dem modischen Aussein auf das Neueste, ist vollends ein bestimmender Grundzug des industriellen Zeitalters, in dem wir leben, der sich zwangsläufig mehr und mehr verstärkt. Selbst die Sprache, dieses biegsamste und schmiegsamste Eigentum eines jeden Sprechenden, erstarrt zusehends mehr zu Stereotypen und paßt sich der allgemeinen Nivellierung des Lebens an. So möchte es scheinen, als wäre Heideggers Orientierung, durch die sich ihm die Frage nach dem Sein mit ausweisbarem Inhalt füllt, in Wahrheit nichts als eine

romantische Beschwörung vergehender oder vergangener Welten. Indessen, jedermann, der Heidegger kennt, weiß, daß das revolutionäre Pathos seines Denkens

sehr weit davon

entfernt war,

den ehrenwerten

Bemühungen um die Erhaltung des Schwindenden eine wirkliche Bedeutung für das denkende Durchdringen des Geschehens unserer Welt beizumessen. Was sein Denken auszeichnet, ist gerade die Radikalität und Kühnheit, mit der er das Auslaufen der abendländischen Zivilisation in die

technische Allkultur von heute als unser Geschick und als die folgerichtige Entwicklung der abendländischen Metaphysik deutete. Das aber hieß, daß in seinem Denken nicht all die liebenswürdigen Verlangsamungen dieses riesigen Prozesses des Rechnens, Könnens und Machens zählten, die wir das Kulturleben nennen, sondern daß ihm gerade die kühnste Radikalität des Planens und Entwerfens als das galt, was ist, als die geschickliche Antwort unserer Zeit auf die Herausforderung, unter der der Mensch steht. Sie stellt sich mit größerem Ernste der Ausgesetztheit des Menschen in die Welt als irgendein anderes menschliches Betreiben. Heidegger nahm seit langem voraus, was heute erst langsam in das allgemeine Bewußtsein einzusickern beginnt: daß die Menschheit durch den kühnen Angriff technischen Könnens, in dem sie sich eingerichtet hat, einer unausweichlichen Herausforde-

rung folgt, unter die sie gestellt ist. Heidegger nennt, was diese Herausforderung ist, das Sein, und den Weg der Menschheit unter dem Vorzeichen der

technischen Zivilisation den Weg in die äußerste Seinsvergessenheit. Wie die Metaphysik sich in dem Sein des Seienden, dem Was-Sein oder Wesen einrichtete und sich ihr eigenes Ausgesetztsein ins »Da« ringsum verstellte, so treibt die Technik von heute die Welteinrichtung bis in ihr Äußerstes und ist gerade damit selber das, woran heute am meisten erfahren werden kann, was ist.

N

Sein Geist Gott

331

Aber freilich gehört zu aller Vergessenheit die verborgene Gegenwart des Vergessenen. Neben der Seinsvergessenheit geht gleichsam die Seinsgegenwart einher, sporadisch aufleuchtend im Augenblick des Verlustes und dauerhaft der Mnemosyne, der Muse des Denkens, überstellt. Das gilt auch noch

für ein

Denken,

das die äußerste

Seinsvergessenheit,

der unsere

Gegenwart zutreibt, für das Geschick des Seins selbst hält. So hat Heidegger sein eigenes Vorausdenken in das, was ist, zugleich als den Schritt zurück bezeichnet, der den Anfang als Anfang wiederzudenken versucht. Vorausdenken ist nicht Planen und Berechnen,

Abschätzen und Verwalten,

son-

dern Denken dessen, was ist und sein wird. Daher ist Vorausdenken notwendigerweise Zurückdenken an den Anfang, von dem auch noch der letzte mögliche Schritt ausgeht und von dem her er als eine Folge verstanden werden kann. Denken ist immer Denken des Anfangs. Wenn Heidegger die Geschichte des philosophischen Denkens als die Geschichte des Wandels des Seins und der Denkantworten auf die Herausforderung des Seins interpretiert, als ob das Ganze unserer philosophischen Geschichte nichts als eine wachsende Seinsvergessenheit wäre, so wußte doch gerade er, daß alle großen Versuche des Denkens das Selbe zu denken suchen. Sie sind Anstrengungen, des Anfangs inne zu bleiben, der Herausforderung des Seins Rede und Antwort zu stehen. So ist es nicht eine andere Geschichte, die

da erzählt werden müßte, wenn man die Geschichte der Seinserinnerung durchgehen wollte. Es ist die gleiche Geschichte. Erinnerung des Seins ist die denkende Begleitung der Vergessenheit des Seins. Wir bleiben der Partnerschaft

übergeben,

die alle Denkversuche

miteinander

verbindet.

Heidegger hat das klar gesehen, daß solches Gespräch uns alle verbindet. Gerade deshalb hat er in seinem eigenen Beitrag zu diesem Gespräch die Marken — zunehmend entschiedener — gesetzt, damit wir den Weg der Geschichte des Seins, die unser Geschick ist, so gewiesen werden, daß er uns

auf alle Weise in das Offene der einen Frage führt. Er hat das Gespräch nicht beendet, ob man es das der Metaphysik, das der Philosophie oder das des Denkens nennen mag. Er hat auch auf seine anfängliche und alles vorwärtstreibende Frage, wie man von Gott reden könne, ohne ihn zum Gegenstand unseres Wissens zu erniedrigen, nicht selber eine Antwort gefunden. Aber er hat seine Frage so ins Weite gestellt, daß kein Gott der Philosophen und vielleicht auch kein Gott der Theologen eine Antwort

sein kann und daß auch wir nicht wähnen können, eine

Antwort zu wissen. Der Dichter Friedrich Hölderlin galt ihm als nächster Partner in dem Gespräch, das Denken ist. Seine Klage Verlassenheit und sein Anruf der entschwundenen Götter, aber auch Wissen »des Göttlichen empfingen wir doch viel« waren ihm wie

sein der sein ein

Unterpfand, daß das Gespräch des Denkens auch in der heraufziehenden

Weltnacht der vollendeten Heimatlosigkeit und der Gottferne seinen Partner

332

Heideggers Wege

findet. An diesem Gespräch nehmen wir alle teil. Das Gespräch geht weiter, denn nur im Gespräch kann die Sprache sich bilden und sich fortbilden, in der wir - auch in einer mehr und mehr entfremdeten Welt - zu Hause sind.

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b) Heidegger und die Ethik

24. Gibt es auf Erden ein Maß? (W. Marx) 1984 Heidegger

weiterzudenken

ist die Aufgabe

all derer, die von ihm einen

wirklichen Denkanstoß empfangen haben und sich nicht damit begnügen, ın seiner eigenen Sprache seine Gedanken zu wiederholen. Das ist durchaus nicht leicht, wie es auch im Falle Hegel nicht leicht war.

Es ist leicht, in

beiden Denksprachen, darin zu ertrinken. Aber auch wenn man den eigenen Kopf oben behält, bleibt es eine schwierige Aufgabe weiterzudenken, im Falle Hegels wie im Falle Heideggers, und es ist in der Tat in verschiedenen Richtungen versucht worden. Es übersteigt meine Kräfte, die in den verschiedensten Sprachen vorgelegten Versuche zu Heidegger zu würdigen, von denen ich im Augenblick nur H. Arendt, H. Birault,J.Derrida, D. Janicaud, A. Kelkel, H. Rombach,

R. Schürmann, R. Sokolowski, G. Vattimo

nenne. Doch seien einige von ihnen auf die Leitfrage hin diskutiert, die diesem Beitrag den Titel gibt. Die Gesamtausgabe schreitet in erfreulichem Tempo fort und verspricht, das Verständnis für Heideggers Denken neu zu beleben. Hier ist der Fall ähnlich wie seinerzeit bei Hegel. Die editionstechnischen Schwächen liegen in beiden Fällen auf der Hand, und doch bedeutet es im Falle Heidegger, wenn seine Vorlesungen öffentlich zugänglich werden, ebensoviel, wie es

das im Falle Hegel bedeutet hat. Hegel hat in seinen Hauptwerken so schwer verständlich geschrieben, daß ein Jahrhundert nicht genügt, sie lesen zu lernen. Andererseits waren seine Vorlesungen so eindringlich und konkret, daß weniger seine Bücher als diese Vorlesungen und ihre Ausgabe seitnun mehr als 150 Jahren seine Breitenwirkung tragen. Auch Heideggers Vorlesungen zeichnen sich vor allem vor den hochstilisierten Arbeiten seiner

Reifezeit, die den Denker in einem qualvollen Ringen mit der Sprache zeigen, durch Wucht des Einsatzes und Klarheit der Gedankenführung aus. Sie werden langsam die gleiche Wirkung tun!. Jetzt liegt ein Buch vor, das von Heidegger ausgeht und sich besonders auf ! [Vgl. hierzu die Ergänzungen, die ich meinen eigenen Studien zum Spätwerk »Hei-

deggers Wege: unter dem Titel »Heideggers Anfänge« in unten $.375ff. hinzugefügt habe. ]

334

Heidegger und die Ethik

das so sehr verschlüsselte Spätwerk bezieht?. Einerseits bewegt es sich im weiten Umfange innerhalb der Sprach- und Begriffswelt Heideggers, auf der anderen Seite ist es zugleich ein Versuch, Heidegger selbständig weiterzudenken. Es ist das Buch von Werner Marx, das unter dem oben genannten

Hölderlin-Titel erschienen ist. Der Autor hat das eigene Denken unter den ausgesprochenen Leitgedanken gestellt, wieweit von Heideggers spätem Denken aus ein Weg zu der Begründung einer Ethik zu finden ist und obein Weiterdenken Heideggers in dieser Richtung gangbar ist. Nun darf Werner Marx für ein solches Unternehmen alle Aufmerksamkeit beanspruchen. Schon sein erstes Buch über Heidegger, »Heidegger und die Tradition«, das fast drei Jahrzehnte zurückliegt, zeichnete sich durch die Solidität seiner Arbeitsweise, durch die überzeugende Kenntnis und Auffassung von Heideggers Denken und durch den Versuch aus, gleichwohl eine kritische Freiheit gegenüber diesem Denken zu bewahren. Es wurde zur Grundlage für seine Rückkehr nach Deutschland und auf den Lehrstuhl Heideggers nach Freiburg. Schon damals war es das Interesse von Marx zu fragen, wie von Heidegger aus eine Ethik möglich sei, aber das Resultat war ınehr die Geltendmachung eines solchen Desiderats. Heute, nach Jahrzehnten einer fruchtbaren Freiburger Forschungs- und Lehrtätigkeit und nachdem das Spätwerk Heideggers, soweit er es selbst noch publiziert hat, voll zugänglich ist, nimmt

Marx das alte Anliegen wieder auf. Aber nun ist es nicht mehr eine Nachzeichnung des Heideggerschen Denkens, die seine ethische Anwendung vermißt, sondern die

ganze Analyse des Heideggerschen Denkweges ist der kritischen Frage nach einer Möglichkeit der Ethik eingeordnet. Beim Lesen des Buches spürt man die kundige Hand, die einen durch die vielfältigen Versuche des Heideggerschen Spätwerks hindurchführt. Jetzt erst recht hat man Anlaß, die Genauigkeit zu bewundern, mit der Marx Heidegger liest, und die entschlossene Beharrlichkeit, mit der er sich seinen eigenen Weg durch dieses vielgestaltige Schrifttum des späten Heidegger bahnt. Die Frage, die Marx an das Werk

Heideggers heranträgt, kann kein Denkender als eine solche abweisen. Es ist die Frage nach dem Maßstab verantwortungsvollen Handelns, die wie ein Leitfaden die ganze Untersuchung durchzieht.

So stellt das Buch in doppelter Weise eine hohe Anforderung. Wie das frühere Buch macht es die kaum erfüllbare Voraussetzung, daß man Heidegger nicht nur sorgfältig gelesen hat, sondern daß man das gesamte Werk Heideggers mit all seinen wohlbekannten Eigenwilligkeiten der Sprache und der Interpretationskunst in sich integriert hat. Marx setzt dieses Denken nicht eigentlich in seine eigene Sprache um, sondern präsentiert es so, daßer _ seine selbständigen Fragen an es richtet. Er kann für sich in Anspruch nehmen, daß es wirklich seine eigenen Fragen werden. Wer, wie ich, dem

Denken Heideggers in jungen Jahren in seiner Marburger Zeit begegnete und von ihm inspiriert wurde, seinen späteren Denkweg jedoch nur von der ? Werner Marx, Gibt es auf Erden ein Maß? Grundbestimmungen einer nichtmetaphysischen Ethik. Hamburg 1983.

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Gibt es auf Erden ein Maß?

835

Ferne verfolgte und sich nur das angeeignet hat, was er für sich fruchtbar machen konnte, sieht sich vor einer schweren Aufgabe. Das Buch will nicht nur im Mitdenken mit seinem Verfasser gelesen sein, sondern verlangt darüber hinaus, sich erneut auf das Spätwerk Heideggers in voller Konzentration einzulassen und beides in die eigene Sprache zu übersetzen. Ich danke dem Buch diesen Anlaß, weiß aber nicht, wieweit ich der doppelten Aufga-

be gewachsen bin. Die Frage, die Marx an Heidegger richtet und die an sich jeden Denkenden angeht, stellt zugleich eine außerordentliche Kühnheit dar. Bekanntlich hat sich Heidegger dagegen gewehrt, das oft an ihn gerichtete Verlangen, »eine Ethik zu schreiben«, anzuerkennen. Der Sache nach war die erste Rezeption

von »Sein und Zeit«, insbesondere von seiten der Marburger Theologie, dahin orientiert, in diesem Denken einen Appell an die Eigentlichkeit des Daseins zu sehen, und die bald danach einsetzende Wirkung von Jaspers’ »‚Philosophie« hat dieses moralistische Mißverständnis noch verstärkt. Als dann Jean Beaufret 1945 das gleiche Verlangen an Heidegger richtete, antwortete Heidegger mit seinem berühmten Humanismusbrief, und der Sinn

dieser Antwort war, daß nicht nur Heidegger die Möglichkeit abweist, »eine Ethik zu schreiben«, und daß er das Denken in seine wahre Armut zurück zuführen bestrebt sei, nachdem wir alle das Wesen des Handelns nicht genug bedenken«. Hat der späte Heidegger wirklich diesen Weg in die Armut verlassen oder besser: kann man auf diesem Wege, indem man ihn weitergeht, zu neuen Reichtümern gelangen? Das ist die Frage, die Marx stellt und der er sich stellt. Sie ist freilich auch, ganz unabhängig von Heidegger, dem Denken als ein Sachproblem aufgegeben. Was sind die Bedingungen, unter denen eine philosophische Ethik möglich ist? Marx führt die Frage etwa so ein: »wir leben in einer Epoche, in der die überlieferten Ordnungsgesichtspunkte der durch die christliche Kirche geformten Kultur ihre Selbstverständlichkeit und unbestrittene Geltung verloren haben«. - Dieser Feststellung wird nie-

mand widersprechen können -—. Marx verbindet das nun mit Heideggers eigenem Unternehmen, die Metaphysik zu »verwinden«, die durch die griechische Philosophie begründete Tradition des abendländischen Denkens zu hinterfragen und sein anderes Denken vorzubereiten«. Daß man in Heideggers Denken auf die Frage nach dem Maßstab verantwortungsvollen Denkens keine direkte Antwort findet, wird in dem einleitenden Kapitel von Marx in sorgfältiger Durchmusterung des Heideggerschen Werkes festgestellt. Wer wollte das auch bezweifeln? Aber die Gleichsetzung der Geltung christlicher bzw. christlich begründeter Sitte-

nordnung mit dem »metaphysischen Denken«, die Marx vornimmt, ist keineswegs

selbstverständlich. Ich würde nicht wagen, Heidegger eine solche Gleichsetzung zu unterstellen. Da war ja doch die europäische Aufklärung, die gegenüber der christli-

336

Heidegger und die Ethik

chen Tradition ihr Werk von Jahrhunderten getan hat, und es war das, wie mir bis heute scheint, nicht überholte Verdienst Kants, daß er die Moralphilosophie ausdrücklich von der religiösen und metaphysischen Begründung des Sittengesetzes abgelöst hat. Hier liegt ein allgemeines Problem dessen, was man praktische Philosophie nennt. Hängt sie wirklich von der Metaphysik ab? Der Begründer derselben, Aristoteles, war gerade darin wegweisend, daß er zwar einerseits die Metaphysik im Sinne der Ontotheologie als Traditionsgestalt der ersten Philosophie geschaffen hat, daß er aber andererseits für die praktische Philosophie eine ganz andere V oraussetzung einführte, indem er sich für die begriffliche Analyse auf die »Legomena«, das heißt, auf die im menschlichen Leben seiner Zeit und seiner Umwelt sim Schwange

befindlichen« Begriffe des Guten und des glücklichen Lebens konzentrierte. Das hieß für ihn, daß die praktische Philosophie auf einer geltenden Gemeinsamkeit der Erziehung und der Gesellschaftsordnung beruht und ihrerseits nur die begriffliche Klärung des Geltenden betreibt. Noch in dem vielangegriffenen Formalismus der Kantischen Ethik findet das, wie mir scheint, seine Unterstützung.

Kant hat es ausdrücklich vermieden,

aus seiner

Philosophie der Moral inhaltliche Gebote abzuleiten oder gar religiöse V oraussetzungen zu ihrer Begründung einzuführen. Insofern blieb er ein Kind der Aufklärung. Freilich war er ein von Rousseau belehrtes Kind: Seine »Grundlegung der Metaphysik der Sitten« will die allgemeine sittliche Vernunft nicht durch Philosophie überbieten, sondern sie will den rationalistischen Hochmut der Aufklärung zurückbinden.

Er wurde dadurch zum Erneuerer der praktischen Philosophie, freilich in einer bestimmten kritischen Reduktion. Es ist eine Moral, die für alle Vernunftwesen Geltung beansprucht und von daher die Frage nach den spezifischen menschlichen Motivationen für die Befolgung des Sittengesetzes überhaupt ausschließt. Insofern würde Kant die von Marx wiederholt gestellte Frage nach dem Motiv, warum man das Gute dem Bösen vorzieht, überhaupt nicht begreifen. An der Gemeinsamkeit der Vernunft schien ihm kein Zweifel möglich - ebenso wie an dem Vernunftfaktum, als das er »Freiheit« auszeichnete (und mit ihr Verantwortlichkeit).

Nun kann man freilich mit Kants Religionslehre und mit den Nachfolgern Kants diese formale Vernunftmoral auf die Basis der menschlichen Natur zurückbeziehen, und damit stellt sich die Frage nach dem Bösen in der Tat. Das hat vor allem Schelling getan, und darauf greift daher Marx zurück, zumal ja auch Heidegger das gleiche getan hat. Die »Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, diese tiefspekulative Schrift von Schelling, ist von Heidegger in gewissem Umfange in sein Denken aufgenommen worden. Marx erkennt da aber einen entscheidenen Unterschied. Für Schelling sei der theologische Hintergrund der Schöpfungslehre und damit der Gottesbegriff die Voraussetzung, von der aus das Problem der menschlichen Freiheit überhaupt erst sichtbar werde. Während hier also die christliche Metaphysik dem Menschen das Maß vorhalte, unter dem der

menschliche Gebrauch der Freiheit zum

Guten führe, fehle eine solche

Maßgabe in Heideggers philosophischem Ansatz vollkommen. Das Letztere ist gewiß richtig. Aber auch Schellings Abhandlung will durchaus nicht auf die Fragestellung von Marx eine Antwort geben. Nur ein

Gibt es auf Erden ein Maß?

337.

einziges Mal fällt das Wort »Maß« überhaupt in der Schrift von Schelling. Als ganze unternimmt sie nicht eine Begründung der Moral - die sie im Sinne der Kantischen »Grundlegung« voraussetzt —, sondern eine Widerlegung des Spinozismus. Sie zielt auf eine theosophische Metaphysik. Diese Seite beachtet Marx zu wenig. Die Frage nach dem Bösen interessiert auch Schelling nicht um der Moral willen. Hier hat Heidegger Recht, wenn er Schelling für jenen Urstreit zwischen dem Heilen und dem Grimmen in Anspruch nimmt. Schelling will nicht von der Liebe aus die Moral begründen, sondern von der menschlichen Freiheit und den in ihr gelegenen Möglichkeiten des Guten aus das Wesen Gottes begreifen. Es ist also richtig, in Schelling den Denker zu sehen, der die Tradition der christlichen Metaphysik in ihre äußerste Konsequenz getrieben hat, wie Walter Schulz überzeugend gezeigt hat. Man versteht auch, daß Heidegger ihn benutzen konnte, um hinter diese Tradition zurückzufragen. In Schelling finden sich die Ansätze dazu, die auch Marx in eigenen Arbeiten hervorgehoben hat?. Wir werden uns zu fragen haben, in welchem Sinne Marx seinerseits Heideggers Denken so weiter entwickeln will, daß er einen »Maßstab für verantwortungsvolles Handeln« gewinnt. Das Denken des späten Heidegger begnügt sichja nicht damit, wie es in »Sein und Zeit« scheinen konnte, die Zentralstellung des Subjekts durch die Eigentlichkeit des Daseins zu unterbieten. Marx stellt sich die Frage: Während Kant und Schelling im Denken der Metaphysik stehen und daher im Begriff der Vernunft - und auch des Willens — die Basis der Moral zu finden meinen, habe Heidegger gerade diese Grundlagen erschüttert. Was bleibt da eigentlich gültig? Lassen sich die ‚alten Tugenden«, als die Marx Liebe, Mitleid und Anerkennung benennt, auf Heideggers Wegen neu begründen und wie? Es ist ein langer Weg, den Marx uns führt. Die einzelnen Kapitel des Buches greifen folgerichtig ineinander. Die These ist, daß das Ineinander von Sein und Nichts, das im späten Heidegger nach der »Kehre« ausdrücklich gelehrt wird, in Wahrheit einer Vermittlung bedürfe. Es sei der Tod, der diese Vermittlung leiste und damit über das Ineinander von Sein und Nichts hinausweise ins »Heile« - und von da aus könne man die alten Tugenden Liebe, Mitleid, Anerkennung neu beleben.

Hier verdanke ich der sorgfältigen Untersuchung von Marx Belehrung: Ich glaubte seinerzeit begriffen zu haben, warum in der Fragestellung von »Sein und Zeit« der Tod bzw. das Vorlaufen zum Tode eine so bestimmende Rolle hatte (während mir die Einführung des Themas im Argumentationszusammenhang von »Sein und Zeit« nie ganz eingeleuchtet hat). Ich verstand es so: in einer entgötterten Welt, in der die bindenden Gemeinsamkeiten voraussehbarerweise steigender Auflösung verfallen und in der die ‚Teufelei des Wollens« und des Machens mehr und mehr alles andere Denken und Gelten überdeckt, konnte tatsächlich diese äußerste Grenze menschli3 Vgl. W. Marx, Schelling: Geschichte, System, Freiheit. Freiburg/München 1977.

338

Heidegger und die Ethik

cher Macht, die radikale Ohnmacht angesichts des Todes, wie eine letzte Gemeinsamkeit ausgezeichnet werden. Die Jemeinigkeit des Sterbens ließ hier allen scheinhaften Halt zusammensinken. So stellt es »Sein und Zeit« dar, und die Freiburger Antrittsvorlesung geht von da zur Erfahrung des Nichts - auch in der Langeweile über, das über alles Seiende hinausweist. Das Nichts des Seienden macht das Sein des Seins sichtbar. Die Einführung des Problems des Todes in die Gedankenführung von ‚Sein und Zeit« daß man sich des Ganzseins des Daseins versichern müsse und daß deswegen das Vorlaufen zum Tode erfordert sei, schien mir jedoch kein angemessenes Argument. Wird nicht die Erfahrung der Zeitlichkeit und der Entgänglichkeit alles Seienden an jedem »Vorbei« und seiner Unwiderruflichkeit beständig erfahren? Gewiß stellt das Vorlaufen zum Tode vor dieses »Vorbeic. Aber die Geschichtlichkeit und Endlichkeit des Daseins bestätigt sich in jedem Augenblick, da die vergehende Zeit unumkehrbar ist. Nichts kann zurückgerufen werden. Nicht einmal ein Gott ist in der Lage, Geschehenes ungeschehen zu machen, wie bereits Aristoteles sagt. Ist es nicht das Wesen der Schuld, mit dieser Erfahrung konfrontiert zu sein? Ich fühlte mich bestätigt, als ich sah, wie im späteren Werk Heideggers das Motiv des Todes gegenüber dem der Zeitlichkeit zurücktritt*. Von Marx konnte ich lernen, daß das nur bedingt richtig ist. Es stimmt

zwar, daß es nicht mehr auf die Jemeinigkeit des Sterbens entscheidend ankommt, seit die Erfahrung des Todes (was bei Heidegger selbstverständlich, wie Marx mit Recht betont, die Erfahrung des »ständig Sterbens: ist) im späteren Denken Heideggers durchaus nicht zurücktritt, sondern vielmehr ihre begriffliche Fassung findet. Das leistet der Begriff der Sterblichen, in welchem das Gemeinsame des Menschenloses der Jemeinigkeit vorangestellt ist. Marx will nun vom späteren Heidegger her begründen, daß der Tod, als das ständige Sterben, zwischen dem Sein und Nichts wie eine Art Vermittler anzusehen sei. (Es will mir freilich scheinen, daß mindestens die Intention Heideggers schon in »Sein und Zeit« in die gleiche Richtung ging. Eine Identität von Sein und Nichts hat Heidegger gewiß nie im Auge gehabt.) Wie knüpft nun Marx an Heidegger an? So fragen wir, wie Marx den Tod als Vermittler einführt. Er beschreibt die Erfahrung des ständigen Sterbens als den Weg aus dem Entsetzen hin. zum Heilen. Ohne Frage ist das cine Beschreibung, die auf etwas anderes sieht als »Sein und Zeit«, wenn auch in die Richtung, in der Heidegger selbst weitergedacht hat. Aber es ist abermals eine Befindlichkeit,

in der diese

Beschreibung fußt. Insofern bleibt sie methodisch auf der gleichen Basis wie die Analyse der Angst in »Sein und Zeit« und folgt Heidegger nicht in die »Kehre«, sofern nach der »Kehre: die introduktorische Funktion der transzendentalen Analytik des Daseins, in der so etwas wie Befindlichkeit die Basis * [Wenn ich gelegentlich die mir in »Sein und Zeit«nicht einleuchtende Argumentation, durch die das Thema »Tod« eingeführt wird, für eine Improvisation hielt, war ich im Irrtum: die langsam sich aufhellende Vorgeschichte von »Sein und Zeit‘ zeigt u. a. 1924 (in den Kasseler Vorträgen) und in Bd. 26 »Logik« (1925) die gleiche Argumentation.

Gibt es auf Erden ein Maß?

339

darstellt, von Heidegger grundsätzlich aufgegeben wird. Die Beschreibung, die Marx unternimmt, ist offenkundig dadurch von der Heideggerschen Beschreibung der Angst verschieden, daß sie den Blick auf den anderen gerichtet hält. Trotzdem läuft sie mit dem Weg von »Sein und Zeit: parallel. Wie dort von der Vorhandenheit über die Zuhandenheit der, Weg zum Dasein gegangen wird, so setzt Marx mit der Gleichgültigkeit gegen den anderen ein. Der Weg zum anderen öffne sich erst angesichts der Hilflosigkeit, in der man gegenüber dem Entsetzlichen des Todes - vorauslaufend — sich erfahre,

und damit

verbunden

mit der Hoffnung

auf Hilfe.

Beide

Schritte in dieser Beschreibung erscheinen mir merkwürdig. Mir scheint nicht die Gleichgültigkeit gegen den anderen das erste, aus dem einen erst der Gedanke an den Tod sozusagen herausreißen müsse, sondern vielmehr ° die gelebte menschliche Solidarität, wie sie in allen Liebesgemeinschaften, in der Familie, aber auch in Schule und Beruf erfahrbar ist. Umgekehrt bedeu-

tet die Erfahrung des Todes gerade, daß sie einen radikal auf einen selbst zurückwirft,

weil niemand,

auch nicht der nächste andere, einem helfen

kann. Das schien mir die außerordentliche Sachangemessenheit in Heideggers Beschreibung von »Sein und Zeit«. Marx denkt offenbar so weiter, daß aus dieser privativen Erfahrung der allgemeinen Hilflosigkeit die Nähe der anderen zur Erfahrung kommt und daß insofern Liebe, Mitleid und Anerkennung tiefer empfunden werden. Das soll keineswegs geleugnet werden. Aber was hat das mit dem nicht-metaphysischen Denken zu tun? In welchem Sinne sollen diese »alten Tugenden: als ein (neues) Maß erfahren werden? Bei Liebe und Mitleid scheint es mir eines der schwierigsten sittlichen Probleme, wo hier das rechte Maß ist. Offenbar nicht dort, wo man sich diesen Leidenschaften und Rührungen von Liebe und Mitleid maßlos überläßt. Einzig im Begriff der Anerkennung leuchtet es unmittelbar ein, daß darin ein Maß erfahren

wird. Diese Erfahrung hat Kant bereits richtig beschrieben, wenn er sie auch nicht Anerkennung genannt hat, sondern als den Vernunftaffekt der »Achtung« beschrieb. Gibt man Liebe und Mitleid den offenbar intendierten weiten Sinn praktischer Solidarität, kann man sie gewiß neben die Anerkennung stellen. (Kant hat freilich den imperativischen Zwang in seiner Grundlegung der Ethik so sehr festgehalten, daß er die Nächstenliebe ganz ins Praktische umdeutete.) Tut man das aber, dann frage ich mich, ob nicht auch das von dem Ansatz von »Sein und Zeit« her voll beschreibbar ist. Der Begriff der »freigebenden Fürsorge« scheint mir das ganze Feld dieser Tugenden zu decken. Eine andere Frage möchte ich am Rande erwähnen. Was ich hier vermisse und womit ich selbst nicht zurechtkomme, ist eine neue Aufklärung des Begriffs der Person. Darüber finde ich auch bei Heidegger nichts. Ich bin mir bewußt, daß dies ein römisch-rechtlicher Begriffist, der obendrein durch seine theologische Geschichte sehr belastet ist. Aber was sich bei Dilthey und Scheler findet, macht doch wohl

mein Desiderat verständlich, ebenso wohl wie die neuere Rede von dem Suchen und Finden der »Identität«.

Hoffentlich haben diese Randbemerkungen den Gedankengang von Marx

340

Heidegger und die Ethik

nicht zu sehr verfehlt. Erst jetzt nähern wir uns in Wahrheit der eigentlichen These des Buches. Sie war zwar bereits mit der Wendung angeklungen, daß zwischen Sein und Nichts der Tod der Vermittler sei. Das wird aber nun als eine ontologische These in einem scharfsinnig durchgeführten Gedankengang an Heideggers Text zu verifizieren versucht, und wenn das richtig ist, muß man anerkennen, daß hier eine ontologische Konsequenz gezogen wird, die sich bei Heidegger tatsächlich nicht findet, ja, ihm ganz entgegengesetzt ist. Man erlaube mir, der Marxschen Analyse so zu folgen, daß ich nach meinen Kräften die Heideggersche Sprach- und Begriffswelt in meine eigenen Sprachmöglichkeiten übersetze. Vielleicht wird dadurch klarer, wo Marx sich von Heidegger trennt, und vielleicht auch, warum ich ihm dabei am Ende nicht folgen kann. Da ist zunächst die Abhandlung über den Ort für das Maß. Hier untersucht Marx das sogenannte Feldweggespräch über das Denken aus dem Jahre 1944/45, das unter dem Titel »Gelassenheit« publiziert ist. Ein eigentümlicher Text, wie man

weiß. Es ist ein Gespräch dreier Partner, eines

Forschers, eines Gelehrten und eines Lehrers. Das ist eine durch den Autor disponierte, etwas künstliche Rollenverteilung. Insofern bleibt es legitim,

wenn Marx nicht sonderlich auf die jeweilige Zuweisung zu dem einen oder anderen Partner in diesem Gespräch achtet. Doch ist es von grundsätzlicher Bedeutung, daß sich hier Heidegger überhaupt in einer Art Dialog, dasheißt in einer Art Inszenierung eines Gespräches versucht. Im Hin und Her des Gesprächsaustausches wird der Ausdrucksweise eine gewisse Beweglichkeit erhalten. So sind sich alle drei Partner darüber einig, daß man sich bei dem, worum es geht, sozusagen nichts Rechtes vorstellen kann (im Sinne eines vorstellenden und begriftflich rechtfertigenden Denkens) und daß doch etwas »geschen ist. Es bleibt wichtig, daß das, worauf hingesehen wird, keine feste Begrifflichkeit verträgt. Ich schicke das voraus, weil ich an der entscheidenden Stelle fürchte, daß Marx den

Text zu sehr im Sinne des terminologischen Sprechens überanstrengt. Die Stelle, auf die Marx seine weitere Argumentation aufbaut (Heidegger, Gelassenheit S. 40), lautet: »Die Gegnet ist die verweilende Weite, die alles versammelnd, sich öffnet, so

daß in ihr das Offene gehalten und angehalten ist, jegliches aufgehen zu lassen in seinem Beruhen.« Das Zitat mag einen Begriff davon geben, welche Umsetzungsaufgabe von dem Heideggerleser verlangt wird. Wenn man den Sinn des seltsam halbbegrifflichen Sprechens verstehen will, muß man sich daran erinnern, daß es ein Gespräch auf

jenem Feldweg sein soll, den Heidegger 1951 (in einem Sonderdruck für seine Freunde und Leser) in einem kurzen Prosastück beschrieben hat. Jetzt beschreibt er, wohin dieser Feldweg führt- oder besser: woran er vorbeiführt und was alles den angeht, der den Weg entlang geht. Von hier aus wird verständlich, was in unserem Feldweggespräch »Gegend« heißt und warum Heidegger dafür den verfremdeten und vielsagenden Ausdruck »Gegnet: einführt. Dieser Ausdruck soll

Gibt es auf Erden ein Maß?

341

etwas von der inneren Grundverfassung einer Landschaft bezeichnen, die in sich ruht. Sie ist nicht, wie ein touristisches Wanderziel, vom Wanderer aus gesehen und

dem Wanderer zugekehrt. In ihrer in sich geschlossenen Präsenz ist die »Gegnet« das, wo alles einander entgegnet und begegnet und dem den Weg Entlangwandernden etwas sagt. Sie ist das, was »Weite und Weile gewährt. Das muß man so verstehen, daß dieses in sich ruhende Sein einer Gegend beides ist: nichts durch Zwecke des handelnden Menschen Umstelltes und Beengtes und nichts von seiner Geschäftigkeit hastig Durcheiltes. Und doch gehört der Mensch, wenn er in der Gegend daheim ist,

zu ihr. Dafür riskiert Heidegger ein weiteres künstliches Wort, die »Vergegnis«, ein Begegnis, das ein Verhältnis ist und eine das Verhältnis zwischen Mensch und Gegend begründende Begegnung darstellt. Es ist nicht so sehr ein Verhalten und nicht unser Verhältnis zur Gegend, sondern eher ein Verhalten und Verhältnis der Gegend zu uns, die wir uns nicht verhalten, sondern »es« uns begegnen lassen. Uns auf das Offene der Gegend einlassen heißt, daß das Offene, das uns da umgibt, nicht zur schönen Ansicht oder Aussicht wird, sondern als das, das in sich ruht, zu uns

spricht. Heidegger unterscheidet hier die uns umgebende Gegend, in die wir als in unseren Horizont sozusagen hineinschreiten, von der Gegend selbst«, in die wir uns einlassen und in die wir uns nur in der Weise einlassen können, daß wir warten, daß

sie sich öffnet. So würde ich zu übersetzen suchen. Marx tut das nicht, sondern bewegt

sich in der Sprache Heideggers wie in einer verständlichen fort, aber er tut es auf seine sorgfältige und scharf eindringende Weise. Worauf er sich hinbewegt, ist eine Unterscheidung, die er in dem Zitat zu entdecken glaubt: die Unterscheidung der Offenheit der Gegend von dem Offenen, das uns umgibt. Marx spitzt diese Unterscheidung geradeswegs zu einer Aporie zu (S. 64, S. 75). Wenn er den Akzent auf die Offenheit legt und den Sinn jenes Nachdenkens über das Wesen der Gegend darin sieht, daß sie aus jeder okkasionellen Singularität einer bestimmten Gegend ausdrücklich herausgehoben wird und für die ‚Gegend aller Gegenden« steht, so kann man ihm nur

zustimmen. Heidegger geht hier zwar von einer bestimmten Gelegenheit

aus, aber sucht in Wahrheit die Dimension zu beschreiben, in der einem die

‚Wahrheit des Seins« aufgehen kann. Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich so unvermittelt eine so typisch Heideggersche Vokabel, wie er sie damals noch gebraucht hätte, in die Diskussion einflechte. Ich hätte statt ‚Wahrheit

des Seins« ebenso den späteren Sprachgebrauch einsetzen dürfen, der von der »Lichtung« des Seins spricht, und vielleicht sogar den spätesten Sprachgebrauch, das »Ereignis«. In seiner letzten Veröffentlichung Zur Sprache des Denkens« (S. 77) bemerkt er geradezu, daß die Rede von der ‚Wahrheit des Seins« in seinen Augen nicht mehr zulässig sei - gerade weil sie für Hegel

zutreffe. Kein Zweifel, daß das ganze Feldweggespräch darauf zielt, das Insichsein der Gegend und damit das Insichsein des Seins sichtbar zu machen. Marx ($. 78.) sieht nun darin eine Schwierigkeit, daß dieses Insichsein der Gegend zugleich auf den

342

Heidegger und die Ethik

Menschen gewiesen sei, für den allein die Gegend »wesen« kann. Er sieht hier die Gefahr, daß sich gegen die Macht, die in der Gegend west, die Gegenmacht des Menschen aufbaue (S. 75). Ich hätte eher die umgekehrte Schwierigkeit, die mir selbst immer ein Problem war, erwartet: Ob Heidegger nicht zu weit gehe, wenn der Mensch so ganz und gar in das Warten auf die sich öffnende Gegend eingelassen sei, so daß sich überhaupt kein »entgegen« und »gegen« im Menschen mehr fände. Daß dem Menschen in einer unberührten Landschaft eine solche Erfahrung zuteil wird,

verstehe ich gut, ebenso wie ich verstehe, wenn Heidegger in seinem Ding-Aufsatz

sagt, indem er das Ding gegen das Objektsein abhebt, daß in dem Ding gleichsam eine ganze Welt versammelt ist. Ebenso verstehe ich, daß die so insichruhende Landschaft, vom Denken her gesehen, das ist, was zu uns spricht und nur dann sozusagen die Gegend ist. Ich verstehe, daß so überhaupt eine das Menschenwesen überragende und doch ihn angehende Dimension von Sein erfahrbar wird. Heidegger nennt diese Sprache des Seins die »Sage« und will damit offenbar andeuten, daß es sich nicht um eine bestimmte Aussage handelt, sondern eben um dies Angewehtsein von einer Weite des Seins, in die der Mensch wie eingelassen ist, und er muß sich auf sie einlassen, wenn er auf die »lautlose Sage des Seins« hören und auf sie antworten soll. Dies hat Heidegger offenbar im Auge, als er in der Gegend nicht nur das Gegen, sondern auch das »Vergegnen« sah: so erst ist da Sprache - nicht, ohne daß Antwort ist.

Gewiß steckt hier die ganze Problematik cines Redens vom Sein, das sich öffnet, und vom Dasein des Menschen, das dieser Öffnung entspricht. Aber es ist mir nicht gelungen zu verstehen, mit welchem Recht Marx hier zwei Bereiche zu sehen meint, die Offenheit, die sich öffnet, und das Offene, als

das sie sich öffnet und zu dem sie sich öffnet. Ist es nicht das Offene als solches, und das ist die Offenheit, was hier als die Dimension beschrieben ist, innerhalb derer sich alsdann das eine und das andere und das dritte Offene

unterscheiden lassen? Das sind dann die Gegenden, die uns umgeben. So scheint es mir bei Heidegger gemeint, und so vermag ich, was Heideggers Aussage betrifft, Marx nicht zu folgen. Aber die Sachfrage bleibt: Welches Interesse hat Marx an der Unterscheidung von Offenheit und dem Offenen, die auf alle Fälle bei Heidegger nicht klar vorgenommen ist? Das geht aus dem Ganzen hervor: Die These von Marx ist: Die Offenheit soll von allem »nicht« und »nichts« gereinigt sein - und das habe Heidegger verfehlt, indem er das Verhältnis von Sein und Nichts und die Rolle des Todes nicht angemessen zu Ende gedacht habe. »Wir sind der Auffassung, daß Heidegger damit die Möglichkeit aus der Hand gegeben hat, den »Ort« zu bestimmen, innerhalb dessen es ein Maß geben kann« (S: 82). Offenbar meint Marx, daß die sittliche Erfahrung eine klare Scheidung in »gut« und »böse« verlangt und daß das ein »reines« Sein einschließe. So hat Sokrates gefragt und gefolgert, und dieses »Sein« wurde das der Metaphysik. Das stellt das Thema der nächsten Abhandlung dar, die den Titel trägt: »Der Tod und die Sterblichen«. Der Tod, als das ständige Sterben, ist dem Wesen des Menschen vorbehalten. Das kann man mit Heidegger so aus-

L

Gibt es auf Erden ein Maß?

343

drücken, daß die Menschen »den Tod vermögen«. Das übersetze ich so: Alle, die am Leben sind, halten es aus, um dieses Ende zu wissen und doch da zu sein. Das schließt ein, daß sie am Tode die Erfahrung des Seins zu machen vermögen. Heidegger will offenbar sagen, daß sie ihr eigenes Dasein und den Sinn von Sein als »Weile« zu erkennen vermögen. Damit behält der Tod wahrlich seinen ungeheueren Platz und stellt dem Denken seine Aufgabe. Wenn nun Marx als Alternative entgegenstellt: ‚Nicht vom Sein, sondern vom Tode ermöglicht zu sein«, so verstehe ich das nicht. Die am Tode erfahrene Endlichkeit und die Befindlichkeit der Angst hatte auch auf dem Denkweg von »Sein und Zeit« die Funktion, das »Sein« aufzuschließen. Heidegger charakterisiert das unenträtselbare Geheimnis, das der Tod für den Lebenden ist, auch im späteren Denken als

das, was das menschliche Wesen in seinem Sein möglich macht und auszeichnet. Er redet da von dem »Schrein« und meint damit offenbar, daß dieses geheimnisvolle Nichts im Sein verwahrt ist und so selber verborgen ist, aber nicht wie in einem

Versteck verborgen, sondern wie in einem kostbar gehüteten Schatzhaus geborgen und aufbewahrt.

Marx betont mit Recht: Hier erscheint der Tod - und das heißt: das ständige Sterben - nicht mehr als das ins Nichts Hineinstehen des Daseins, wie das in der Angst seine höchst affektive Bezeugung hat. Jetzt wirdjavom Sein her gedacht, so daß sich der Mensch in sein Wesen gebracht sieht, in

dem er in gleicher Weise durch das Nichts wie durch das Sein angegangen werde. Insofern ist in der Tat der Tod als das ständige Sterben etwas anderes geworden, als es das Vorlaufen zum Tode in der affektiven Entschlossenheit

des Daseins war, wie es »Sein und Zeit: schilderte. Ebenso ist es richtig, daß sich der Sinn von Endlichkeit in einer neuen Wendung bestimmt, wie das auch aus der letzten Veröffentlichung Heideggers deutlich hervorgeht. Endlichkeit wird nicht mehr als eine Verneinung im Bezug auf die Unendlichkeit gesehen, sondern als das, was das Eigene ausmacht, als das, worin Weilen und Wohnen geschenkt ist. Man versteht von da, warum der Todein

verschlossener Schrein genannt wird, in dem das Nichts im Sein und damit auch das Sein selber west. Es macht das Sein der Sterblichen aus, diesem Geheimnis ausgesetzt zu sein. - Freilich, in dieses ihr Wesen einzukehren, ist

nach Heidegger den Menschen bislang nicht zuteil geworden. Das »Vermögen« des Todes bleibt seine höchste Möglichkeit, aber ihr steht im Wege, daß das rechnende Denken und sein Insistieren auf dem Allernächsten dieselbe verdeckt. Es gilt, die Sterblichen in ihrem Bezug auf die Unsterblichen und in ihrer Verfügtheit in das Weltspiel von Himmel und Erde zu sehen und in

solchem »Andenken« die Einkehr des Menschen in sein wahres Wesen, das ein Weilen ist, denkend vorzubereiten.

So etwa möchte ich Heideggers späte Andeutungen zusammenfassen. Hier tut sich nun die wesentliche Differenz in der Perspektive auf, die ich

gegenüber Marx feststelle. Ich sehe Heidegger nicht so, als ob solche, die das

7

344

Heidegger und die Ethik

neue Denken im Sprunge »vermögen«, in dieses Wesen bereits eingekehrt wären.

Sie bleiben vielmehr die Vorbereiter,

die, wie alle anderen,

dem

vorstellenden Denken und seinen Ausformungen in unserer ganzen Lebenswelt weithin überantwortet sind. Daß der Mensch in sein wahres Wesen gelangt, kann nicht von einzelnen, weder von vorausdenkenden Denkern noch von vorausdichtenden Dichtern, geleistet werden. Es ist ein Ereignis,

das alle ergreift, ein Wandel der Welt, und wie Heidegger zu sagen pflegte: »jäh vermutlich«. Mir scheint festzustehen, daß das nicht heißen kann, daß das bisherige Denken als solches seine Funktion und sein eigenes Recht verlöre. Das Auszeichnende der »Gelassenheit« beschreibt Heidegger ausdrücklich so, daß das vorstellende Begründen ebenso wie die Technik fortbestehen werden, aber eben »gelassen« und nicht mehr als jene Besessenheit, die die Menschheit heute vorwärts reißt (Gelassenheit, S. 25). Es kann das nicht ausschließen, daß das Eingelassensein in das Weltspiel und Seinsgeschehen für den Einzelnen wie für ganze Gesellschaftseinheiten oder für die Weltgeschichte selbst am Ende ein Sich-Verweigern und ein Überhören als Antwort erhielte. In Heideggers Sicht ist das sogar eine durchaus wahrscheinliche Möglichkeit, die Nietzsches Vision vom letzten Menschen entspräche. Das Ende der Philosophie wäre dann sogar das Ende des Denkens. Das weiß niemand. Wohl aber wird es, meine ich, wo immer menschliche Welt ist, auch die alten Tugenden, wie Liebe, Mitleid und

Anerkennung geben. Plato scheint mir Recht zu haben, wenn er den wahrhaften Träger des gemeinschaftlichen Lebens, die ideale Stadt, für niemals ganz verschwunden und unkenntlich erklärt (Pol. 302). Auch in unserer Nacht der, soweit das denkende Planen und die ihm entsprechende Lebens-

ordnung in Frage kommt, fast völligen Seinsvergessenheit erhalten sich Bestände von Solidarität, Mitleid und Anerkennung und ebenso Wohnen und Weile. Nicht das scheint mir ein besonderes Rätsel, daß das so ist. Es

geht vielmehr um das Denken und seine zunehmende Beschlagnahme durch das Rechnen.

Es geht nicht um das Wohnen als solches, sondern darum,

Wohnen wieder »denkbar« zu machen, d.h. ihm seinen Rang im Selbstverständnis des Menschen wiederzugeben - und am Ende »Gelassenheit«, auch gegenüber dem Tode, möglich zu machen. Marx behandelt das Thema »Tod und Sprache«. Der Bezug zwischen beidem, den Heidegger gelegentlich angedeutet hat, hat seine lange Geschichte. Das Wissen vom Tode, das ständige Eingedenksein des Todes, das unser Leben ausmacht, ist im

Denken der Menschheit schon früh als eigentliche Auszeichnung des Menschen empfunden worden. Man denke nur an das Prometheus-Drama des Aischylos oder an die Botschaft des Neuen Testaments. Ebenso ist aber auch die Sprache, wie sie zwischen den Menschen gesprochen wird und die versachlichte Verständigung x möglich macht, welche den menschlichen Gesellschaftsaufbau trägt, eine besondere Auszeichnung des Menschen. Es ist ganz unausweichlich, sich die Frage zu stellen, ’

Gibt es auf Erden ein Maß?

345

wie beides zusammenhängt: daß da ein Wesen innerhalb des Ganzen der Naturwesen durch sein denkendes Sich-Vorwegsein so herausgedreht ist, daß-es sowohl den Tod zu wissen vermag als auch, allen Instinktbahnen und Nötigungen entzogen, eine

Unterscheidung jenseits solcher Zwänge, eine Entscheidung zwischen Gut und Böse, zwischen Recht und Unrecht unter sich aufzubauen vermag (Aristoteles, Pol. A2, 1253 a2ff.). Die uralte aristotelische Einsicht in die Auszeichnung der Spra-

che für das gesellschaftliche Dasein des Menschen schließt sich auf eine beunruhigende Weise an seine Auszeichnung, von seinem Tode zu wissen. Sicherlich liegt hier kein zufälliges Beeinander zweier Auszeichnungen vor. Es greift vielmehr tief ins Wesen des Menschen, daß ihn beides zeichnet.

Nun zieht Marx seine vontologische« Folgerung: »Wenn der Tod das andere gegenüber dem Sein und dem Nichts ist, wofür ist er eine Anzeige? Gerade, wenn wir ihn mit Heidegger nicht als die Verwesung des menschlichen Leibes auffassen, sondern ihm darin folgen, daß er das höchste Gebirg des Geheimnisses der rufenden Bergung ist und ihn als die höchste Verborgenheit des Seins denken, dürfen wir da nicht vermuten, daß das, was der Tod als dieses Geheimnis in die Entbergung ruft, seinerseits die höchste Entborgenheit und diese ihrerseits ein anderes gegenüber dem Sein und dem in ihm nichtendenden Nichts ist,

daß dieses andere, weil es einer anderen Dimension angehört, einen gegenüber dem Seinsgeschehen als Wahrheitsgeschehen eigenen Ort hat und daß es an diesem Ort das Maß oder die Maße gibt?« (S. 107)

In diesem Absatz ist alles beisammen. Zunächst die in der Tat provozierende These, daß der Tod das Andere gegenüber dem Sein und dem Nichts ist und nicht vielmehr ihre höchste Bezeugung. Wird doch in ihm die höchste Verborgenheit des Seins erfahren, und das heißt, daß Nichts »ist« und nicht nicht ist. Das versteht man,

und auch, daß die Erfahrung des

Todes der Illusion des bleibenden Seins, des Seins als der Anwesenheit des Anwesenden, den Gegenhalt des Nichts entgegensetzt. Marx beschreibt sicherlich richtig, wenn er einen wesentlichen Schritt im Fortgang des Heideggerschen Denkens darin sieht, daß nicht vom Dasein aus gedacht wird, das in das Nichts des Todes sich hineinhält, sondern vom

Tod aus, der das Dasein betrifft und belangt. So ist esin der Tat der Tod, der

zur Entbergung ruft, das heißt aber, daß er einerseits das Geheimnis des

Nichts, das nie zu entbergen ist, entgegenhält und andererseits eben damit das Dasein in sein eigenes Sein ruft. Aber nun ist die entschlossene These von Marx, daß der Tod, in die Entbergung rufend, seinerseits die höchste Entborgenheit herbeiruft. Marx charakterisiert diese Entborgenheit geradezu als ein anderes gegenüber dem Sein und dem in ihm nichtenden Nichts. »Es kann nicht genug betont werden, daß wir hierin von Heideggers Grund-

position abweichen, wonach das »Nichten im Sein selbst west« oder »das Sein

nichtet — als das Sein«. « (S. 109) Nur im Gegensatz dazu glaubt Marx die ‚Ethik: retten zu können. Das ist der entscheidende Punkt, auf den das ganze Denken von Marx zielt. Was

346

Heidegger und die Ethik

wir alle von Heidegger gelernt hatten, war das genaue Gegenteil dessen, nämlich, daß solche vermeintliche Entborgenheit die Seinsvergessenheit des metaphysischen Denkens ausmacht, in dem das Sein als die letzte, höchste und dauernde Anwesenheit

des Anwesenden gedacht wird - und in seiner letzten Vollendung als das Selbstbewußtsein daist. Nun war es die mindestens von Schelling über Nietzsche bis in unser Jahrhundert reichende und unsere Kritik am Primat des Selbstbewußtseins tragende Evidenz, daß »Sein« in sich selber das Nichts enthält. In diesem Sinne konnte das Sein

des Daseins Geschichtlichkeit oder Endlichkeit genannt werden. Dagegen will Marx ein vom Nichts ungetrübtes Entborgensein denken, das als Ort zugleich der Ort ist, an dem auf Erden ein Maß gegeben ist. Das soll gewiß nicht im Sinne der OntoTheologie ein höchstes Seiendes einführen. Das liegt Marx fern. Er möchte die Dimension der Offenheit im Sinne solcher reinen Entborgenheit denken, in der kein Nichts ist. Nun versteht man, warum er jenen Satz aus der Schrift über die Gelassenheit nach seiner eigenen Meinung eine von Heidegger nicht festgehaltene Erleuchtung (S. 67) - so auf das Prüfbett schnallt, daß ein Unterschied zwischen der Offenheit und dem Offenen dabei herausspringen soll. Marx will offenbar folgern, daß es in dem Bereich der reinen Offenheit Maße gibt und daß die Sterblichen schließlich erfahren könnten, daß diese Maße das Heilende sind. Gewiß teilt Marx nicht das Mißverständnis von »Sein und Zeit: als einen Aufruf zur Eigentlichkeit, wie das vor allem die protestantische Theologie tat, die sich nur ungern sagen ließ, daß Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit gleichursprünglich zum Dasein gehören (Warum zitiert Marx nicht diese Heideggersche These, die er gewiß nicht vergessen hat?). Jetzt, auf dem Niveau der von ihm gegebenen Explikation des späten Heidegger, glaubter in einer Richtung weiterzudenken, die »von der Bestimmtheit des Schreckens, des Entsetzens aus zu einer Verwandlung im Dasein des Sterblichen führen sollte, aus der

das Heilende erwächst. «

Das ist nun wahrlich ein gewaltiger Anspruch, den Marx hier an Heideggers Denkwagnis knüpft. Heidegger selbst hat sich schwerlich je so geäuBert. Zwar blickt er denkend auf das mögliche Heilwerden des Menschenwesens in der Welt und hofft, vielleicht einst, als Vorbereiter dessen, hilf-

reich zu werden. Aber er beansprucht nicht, durch sein Denken als solches eine Wandlung des Menschenwesens und des Seinsgeschicks herbeizuführen. Er weiß zu genau, daß eine Denkweise, die die Welt so verändert hat,

wie die moderne Technik das getan hat, nicht von den Denkversuchen eines Einzelnen aus geändert werden kann. Ich meine, er hat so gedacht: als Denkender kann der Einzelne nur bestrebt sein, die Denkhemmungen abzubauen, die die Menschheit dem Fortriß in das rechnende Denken gegenüber wehrlos machen und sie in der Seinsvergessenheit eingeschlossen halten. Von seinem kühnen Anspruch aus zeichnet Marx sodann in einem Kapitel, das ich von meisterhafter Klarheit finde, das Verfahren, das Heidegger

‚seinsgeschickliches Denken nennt. Ich glaube gesehen zu haben, worauf Heidegger zielt, wenn er für Seinsgeschichte »Seinsgeschick« sagt. Ich habe dem auf meine Weise zum Ausdruck zu helfen gesucht, wenn ich in Anknüpfung an den Hermeneutik-Begriff von »Sein und Zeit« von dem wir-

Gibt es auf Erden ein Maß?

347

kungsgeschichtlichen Bewußtsein sprach, das mehr Sein als Bewußtsein sei. Im Unterschied zu einer gewußten oder wißbaren Geschichte bleibt es ein hinzunehmendes Geschick, was unsere Möglichkeiten des Denkens und Verstehens begrenzt. In den Augen von Marx erschöpft das schwerlich, was er als das seinsgeschickliche Denken im Sinne Heideggers ansieht. Für ihn scheint vielmehr entscheidend zu sein, daß man sich seines Geschicks, eben

dieses Zugeschickten, es erkennend und denkend, bewußt wird und zwar ganz bewußt wird. Was Marx mit seinsgeschicklichem Denken in dem strengen Sinne des Begriffes meint, auf dem er besteht, macht er durch eine Illustration ganz deutlich, nämlich an Leibniz. Da führt er vor, wie hier einerseits ein mögliches Hinhören auf den Text von Heidegger ausgearbeitet wurde, bei dem man, wie Heidegger selbst sagt: »ohne darauf zu pochen«, doch immer sich selbst einbringt. Es ist der Punkt, den ich in meinen eigenen theoretischen Versuchen zur hermeneutischen Philosophie ständig im Auge behalten habe. Darüber hinaus soll aber, wie Marx im Einklang mit Aussagen Heideggers sagt, der Sprung gewagt werden, der aus der Metaphysik und ihrem Denkzwang herausspringt und sich die Freiheit erspringt, dem Texte noch etwas ganz anderes abzugewinnen. »Nichts ist ohne Grund«, dieser Satz von Leibniz läßt sich in solchem gewaltsamen Sich-losreißen umdenken: Nichts ist ohne Grund«. Dann meint er, daß es das Nichts ist, das ohne Grund ist. »Nichts« ist das grundlose Sein. Marx beschreibt hier ausgezeichnet, wie Heideggers Gespräch mit der Metapyhsik verläuft. Es ist zweischichtig, einerseits ein Hinhören, andererseits das Ausstoßen eines gewaltigen Gegenrufes, eines wahren Widerrufes, der die Stimme der Überlieferung übertönt. Die berühmte Gewaltsamkeit in Heideggers Interpretationen wird hier in ausgezeichneter Weise beschrieben. Das ist Heidegger: gegen die Intention eines Textes die ungedachten, aber im Rätsel der Sprache selber sprechenden Entgegnungen gegen das metaphysische Denken aufzubieten. So interpretiert Heidegger auch die Vorsokratiker aus dem verborgenen Wesen einer urtümlichen Spracherfahrung, die in keinem Texte noch voll wirksam ist. Hier bin ich mit Marx ganz einig: es ist billig, solches Vorbeihören und solches Übertönen der eigenen Stimme der Überlieferung mit dem erhobenen Finger eines Beckmesser zu

kritisieren. Es ist schwerer, das zu Gesichte zu bekommen, was Heidegger da heraushören will, und jedenfalls ist das das Einzige, was außer der Bewunderung, die man der großen Denkkraft Heideggers schuldet, ein produktives Verhalten zu Heideggers Leistung möglich macht.

Es will ein Sprung sein, ein »Satz«, durch den sich das Denken in Heideggers Richtung des Fragens hin freispringt, so daß sich die Dinge in der ‚Kehre« zu einem neuen Sinn ordnen, wie im Falle jenes »Nichts ist ohne

Grund«. Indessen ist mir sehr unbehaglich bei einer Interpretation, die es nicht wahrhaben will, daß solcher Sprung sich immer nur einen kurzen Flug lang befreit, bis er wieder auf der Erde landet, der Erde des metaphysischen

Denkens, das unsere Sprache und alle Sprachen der westlichen Kulturwelt

mitbestimmt hat. Das heißt nicht, daß solcher Sprung in sich ohne Richtungssinn wäre, wohl aber, daß er den Absprung voraussetzt, den eben die

348

Heidegger und die Ethik

Sprache der Metaphysik bereit hält. Ich zögere, Heidegger zu folgen, wenn er zwar auf eine solche Verwandlung unseres In-der-Weltseins durch ein anderes Denken nur vorbereiten will, aber doch zu wissen meint, daß das »jäh vermutlich« eintreten könnte und dem Menschen zum Finden seines wahren Wesens und zu wirklichem Wohnen auf dieser Erde - und sogar zu einer anderen Sprache! - führen könnte. Wissen wir wirklich, wohin Den-

ken führt? Jedenfalls scheint mir Heidegger selbst das Denken des Einzlenen, auch das eigene, nicht überzubewerten. »Nur ein Gott kann uns retten«-das will sagen: durch unser planendes, rechnendes, vorkehrendes Denken wer-

den wir nicht der drohenden Unbewohnbarkeit unserer heimatlichen Erde entrinnen können.

Was uns in das Wohnenkönnen

zurückführen könnte,

davon weiß das rechnende Denken des technologischen Zeitalters nichts. Deswegen sagt Heidegger: »Nur ein Gott...« Das kurze Kapitel, mit dem das gedankenreiche und scharfsinnige Werk von Marx, das ich nur auswählend diskutieren konnte, schließt, ist über-

schrieben: »dichterisch wohnet der Mensch« - ein Hölderlinzitat. Hier tritt die Schwierigkeit am deutlichsten heraus, die sich Marx bereitet, wenn er das vorbereitende Denken für sein Interesse an der »Ethik« in Anspruch nimmt. Am Schluß des Buches heißt es: »Heidegger hat aber nicht den Weg aufgezeigt, den der Mensch gehen müßte, der kein Dichter ist, damit er in seinem alltäglichen Tun und Lassen das dichterisch Wirkliche in die Acht nehme. « Das Hölderlin-Zitat sagt anderes, und Heideggers Gebrauch desselben auch. Daß die Dichter mit den Denkern als Vorbereiter eines möglichen anderen Wohnens bezeichnet sind, meint nicht ihr Monopol. Entscheidend ist doch, daß die eigenste Möglichkeit des Menschen darin markiert wird, daß er »dichterisch wohnt: — gerade auch, wenn er kein Dichter ist.

Jeder Mensch wohnt dichterisch. Das heißt offenkundig: Er haust sich ein in ein Wohnliches, und dazu gehört wahrlich -— worauf Marx mit solcher Energie besteht -, daß er anderen etwas ist und Nähe spürt.

Marx knüpft also ohne Frage an Heidegger an, aber nicht, um das »Sein« von der Endlichkeit des Menschen

aus neu zu denken,

sondern um die

Möglichkeit einer Ethik neu zu begründen. Das ist ein durchaus anderes Interesse. Es geht ihm also nicht um ein anderes Denken«, sondern um eine Verwandlung des Menschen, die ihm durch das Entsetzen angesichts des Todes zuteil werde - eine Art diesseitiger Bekehrung. Diese Verwandlung verspreche einen Weg zum Heil. Was Heideggers spätere »Kehre« und das nicht-metaphysische Denken damit zu tun haben soll, vermag ich nicht zu sehen. Wohl sehe ich, daß mit Heideggers späterem Denken auch neue Töne menschlicher Art mitklingen und sogar eine neue Befindlichkeit. An die Stelle der Angst, mit der »Sein und Zeit« in die Frage nach dem Sein einführte, ist nun die Gelassenheit

getreten. Aber zu dem vom Nichts gereinigten Sein, das Marx in der

Gibt es auf Erden ein Maß?

349

‚Offenheit: von Heidegger zu finden meint, hat das Denken vom »Ereignis« her keine Beziehung. Dagegen hat die ontologische Intention von Marx, die das reine Sein gegen das Nichts absichern will, eine verzweifelte Ähnlichkeit mit dem »Vernunftfaktum der Freiheit«, und zwar sowohl mit Kant, dessen kategorischer Imperativ mindestens in der Formel des Selbstzwecks, als den man einen jeden anderen anzuerkennen habe, und in dem Gefühl der Achtung seine Bezeugung hat, und ebensosehr mit Hegel, der in seiner Dialektik der Anerkennung in der Begegnung mit dem absoluten Herrn, dem Tode, die völlige Auflösung alles Festen und damit die Freiheit erkennt. Ich sehe darin durchaus keinen Einwand gegen das eigentliche Probleminteresse, das Marx leitet. Aber er müßte sich zu der Einsicht durchringen, daß

das mit Heideggers nichtmetaphysischem Denken nicht begründbar ist und daß es auch keiner solchen Begründung bedarf. Es spricht weder gegen Heideggers Denkwagnis noch gegen die Dringlichkeit, die die Erfahrung von dem Maß, das es auf Erden gibt, für uns hat. Ich glaube vielmehr, daß

die Begründung der Ethik überhaupt nicht von Metaphysik abhängig gemacht werden kann (- eher schon die Begründung der Metaphysik von der Ethik -). Das können wir von Aristoteles wie von Kant lernen. Das heißt aber umgekehrt: die Ethik kann auch nicht von dem »nichtmetaphysischen Denken« abhängig sein. So hat in Wahrheit dieser ernsthafte Versuch, an Heideggers Denken die

Frage nach der Ethik anzuknüpfen, in meinen Augen ein ganz anderes Verdienst. Indem Marx die Frage der Ethik in Wahrheit nicht an Heidegger anknüpfen kann, bestätigt er die Autonomie der Ethik und räumt damit auch mit dem törichten Gerede auf, als wäre das Denken Heideggers nihilistisch und dagegen die Welt in Ordnung.

25. Ethos und Ethik (MaclIntyre u.a.) 1985

1. Unter dem Titel »After virtue« hat A. MacIntyre ein interessantes Buch vorgelegt, das in den Fragezusammenhang einer philosophischen Ethik gehört!. Freilich ist hier Heidegger und seine Kritik an der Metaphysik weltenfern. Die Absicht des Buches ist im Gegenteil, die Tragfähigkeit der aristotelischen Metaphysik und der sie begleitenden Ethik in unserer Situation neu geltend zu machen. Das Buch beginnt in dieser Absicht mit einer ausführlichen Darstellung der moralischen Anarchie der Gegenwart oder besser des Pluralismus und Relativismus aller moralphilosophischen Vorstellungen. Es ist das Buch eines Iren, der heute in Amerika ein berechtigtes Ansehen erworben hat. Er kennt die britische und überhaupt die angelsächsische Tradition der Philosophie aufs beste und steht doch seinem eigenen Bewußtsein nach in der Tradition des Aristoteles. So ist er für den deutschen Leser eine höchst interessante Begegnung, die nicht nur andere Adressaten, eben den Sozialutilitarismus des angelsächsischen Kontinents,

in unseren Fragezusammenhang einbringt, sondern auch in der Aufnahme und im Weiterdenken der aristotelischen Tradition andere Züge unter-

streicht, als sie von unserer eigenen Problemsituation aus sich nahelegen. Dabei ist eine gemeinsame Voraussetzung tragend: daß man dem Problem der Moralphilosophie nicht ohne eine Wendung in die Geschichte überhaupt nahekommen kann. Für die deutsche Tradition gilt das so selbstverständlich, daß selbst extreme Anhänger der linguistischen Analysis wie Tugendhat oder Patzig darin nicht nachlassen. Indessen ist die Problemsituation im angelsächsischen Bereich recht anders, wie der Leser sofort merkt. Man wird dem Autor nicht widersprechen können, daß sich weder die analytische Philosophie noch die Phänomenologie der Aufgabe gewachsen gezeigt hat, die lebendige Tradition der abendländischen praktischen Philosophie aufzunehmen und weiterzuführen. Für den deutschen Leser fällt es auf, daß die Wertphänomenologie in diesem Zusammenhang überhaupt nicht zur Erwähnung gelangt. Man wird indes zustimmen müssen, daß der phänomenologische Wertpluralismus so wenig wie der Pluralismus eines erweiterten und differenzierten Sozialutilitarismus eine wirkli! Alasdair MacIntyre, After Virtue. A Study in Moral Theory. London 1981.

Ethos und Ethik

351

che Orientierung in bezug auf das Grundproblem der Moralphilosophie gewährt. Der Verfasser gibt in der ersten Hälfte seines Buches eine geschichtliche Einleitung in die gegebene Problemsituation. Ihr Grundgedanke ist, daß der herrschende Pluralismus und Relativismus die Folge eines Scheiterns der Aufklärung ist. Der Versuch der Aufklärung, die Moral auf die Vernunft zu gründen, wird von ihm in einigen wesentlichen Schritten beschrieben. Aufs Große gesehen wird man ihm recht geben müssen, daß ein Dezisionismus, der mit dem Ideal einer wertfreien Wissenschaft gekoppelt ist, in Wahrheit die Manipulation von Wissenschaft begünstigt. Im Laufe seiner Erörterungen nimmt der Verfasser geradezu einen Begriff auf oder bildet einen Begriff, der sich von einem der repräsentativen modernen Forscher herleitet, von Max Weber: »‚Weberianismus« bedeutet für ihn die Verdrängung des Begriffs der Tugend und der verbindlichen Orientierung an Zwecken durch bloße Rationalität der Mittel. Das ist innerhalb der deutschen Tradition inzwischen oft gesagt worden,

gerade auch etwa von Horkheimer in ‚The Eclipse of Reason«, aber nicht nur von der Frankfurter Schule, sondern ebenso von den Fragestellungen aus, die sich in der Erneuerung der praktischen Philosophie und in der Hermeneutik entwickelt haben.

Im Großen wird man der Skizze des Verfassers wirkliche Überzeugungskraft nachsagen müssen. Antike und Mittelalter stellen eine relative Einheit gegenüber der veränderten Lage dar, die durch den Aufbruch der neuzeitlichen Wissenschaft im 17. Jahrhundert und ihren siegreichen Fortgang entstand. Wie dies nicht anders sein kann, spielt bei MacIntyre Hume eine wesentliche Rolle, und es scheint mir, daß sein Gegenspieler auf dem Festlande, Kant, allzusehr in den Linien der angelsächsischen Tradition interpretiert wird. Zwar erkennt der Verfasser selbst an, daß die Kantische Begrün-

dung der Moral auf das Vernunftfaktum der Freiheit durch die Abkehr von der empirischen Sympathieethik der Engländer motiviert ist und daß sie deshalb eine gewisse Berechtigung besitzt. Auch hat ja die englische Moralphilosophie für Kant, wie man weiß, ein wichtiges Stadium seiner Gedankenbildung bestimmt. Indessen scheint mir klar, daß dies nur die eine Seite

der Kantischen Moralphilosophie trifft. Die noch wesentlichere Beziehung ist zweifellos durch die Auseinandersetzung mit dem kontinentalen Rationalismus gegeben. Hier macht der Verfasser klar, warum Kant mit so großem Nachdruck eine Vernunftmoral zu entwickeln sucht, die nicht auf die Menschennatur

gegründet ist. Es ist gewiß richtig, wenn er sagt, daß das 18. Jahrhundert weitgehend, wie Dilthey gezeigt hat, durch den stoischen Pflichtbegriff und seine neuzeitliche Ausformung zu dem Begriff des Gesetzes bestimmt ist. der KanGleichwohl scheint mit der kategorische Imperativ, das Herzstück tischen Begründung der Moral, sehr wenig richtig gesehen, wenn man darin eine Fortsetzung der aufklärerischen Linie der autonomen Individualität sehen will. Die Autonomie des sittlichen Bewußtseins hat bei Kant nur als

392

Heidegger und die Ethik

Kritik am eudämonistischen Utilitarismus der Aufklärung ihren Akzent und setzt gerade die Gemeinsamkeit des Sittengesetzes und die Unbedingtheit seiner Geltung voraus. Ebenso auffallend ist für den deutschen Leser die Würdigung Kierkegaards. Zwar kann man zugeben, daß sich in unserem Jahrhundert der Dezisionismus der Moderne in extremer Weise auf Kierkegaards »Entweder/Oder« und den Begriff der Wahl berufen hat. Bei Kierkegaard selbst aber ist anderes entscheidend: die religiöse Abzweckung, der die individualistische Zuspitzung dient, aber auch das positive Fortleben der Tradition der praktischen Philosophie in der Welthaltung des Assessor Wilhelm, ein Element der von Hegel wirksam vorgetragenen Kant-Kritik. Hier macht sich das Übergehen des Hegelschen Versuchs, antikes und modernes Denken miteinander zu versöhnen, verzerrend bemerkbar. Trotz diesen Einschränkungen wird man das Scheitern der Aufklärung, das heißt

einer Begründung der Moraphilosophie auf den Vernunftbegriff der Aufklärung trotz Kant - richtig geschildert finden, wenn man den Liberalismus des 19. Jahrhunderts bedenkt. Wenn es heißt, Regeln sind offenbar nicht das erste, sondern Werte und Tugenden, und daß daran die Aufklärung scheitere, so wird man diesem Satze zustimmen können und ihn vielleicht noch dahin erweitern müssen, daß auch Werte nicht das erste sind, sondern Sitten.

So geht man im Einverständnis mit dem Verfasser den Weg zurück in die Geschichte.

In kurzen,

aber sehr durchsichtigen

Analysen

führt uns das

Buch von der heroischen Ethik Homers und der Sage bis zu Aristoteles und seiner Fortwirkung in der Neuzeit. Der wesentliche Punkt, in dem sogar die aristotelische Grundlegung der praktischen Philosophie bei dem Verfasser auf Bedenken

stößt, ist für ihn der von

Sophokles

gestaltete Ernst des

tragischen Konflikts, derja dadurch gekennzeichnet ist, daß es für den in solcher Situation Stehenden einen rechten Weg nicht gibt. Bevor ich hier einige kritische Anmerkungen und Darlegungen anfüge, möchte ich mich aber auf eine äußerst treffende Bemerkung des Verfassers beziehen. Er sagt nämlich, wenn seine Darstellung des Aristoteles und der Tragfähigkeit der Tradition, die von ihm ausgeht, im einzelnen zu kritischen

Bemerkungen Anlaß geben sollte, so würden diese Anstöße jedenfalls der Grundthese seines Buches zur Unterstützung dienen. Wenn die Tradition, die von Aristoteles ausgeht, anders gesehen werden kann, als er sie darstelle,

bedeute auch das eine Bestätigung der Bedeutung dieser Tradition. Bei aller Anerkennung der Konkretheit und Sachnähe der MacIntyreschen Darstellung möchte ich in der Tat kritische Bedenken anmelden. Die Frage, mit der der Verfasser einsetzt, ist: Gibt es unter der Mannigfaltigkeit und dem Wandel moralischer Gesichtspunkte und ethischer Lehren nicht doch etwas Gemeinsames? Er verbirgt sich dabei keineswegs (S. 170), was für ein zentraler Unterschied selbst innerhalb der antikmittelalterlichen Tradition im Übergang von der Antike zum Christentum und mit der Auszeichnung solcher Begriffe wie Glaube, Liebe und Hoffnung oder Demut

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Ethos und Ethik

353

aufbricht. Er sieht jedoch das einheitlich Gemeinsame der Tradition der praktischen Philosophie darin, daß (im Unterschied zu dem chaotischen Zustand der Moderne) Praxis überhaupt nicht auf einen äußeren Zweck gerichtetes Handeln meint, sondern, wie er es nennt, auf ein »inneres Gut«

gerichtet ist, wenn in ihr so etwas wie die wahre »Arete« angetro.fen werden soll. Das ist offenkundig eine Anknüpfung an die bekannte aristotelische Unterscheidung von Ergon und Energeia und entspricht der Auszeichnung der sittlichen Praxis gegenüber der Poiesis, daß sie nicht ein Ergon außerhalb ihres eigenen Vollzuges hat. Vom griechischen Begriff der Arete aus ist es daher an sich zulässig und sachgerecht, wenn der Verfasser diesen Unterschied an dem Selbstzweck des Spieles illustriert oder auch an den Arten von Vollendung, die im Kunstwerk und in der wissenschaftlichen Erkenntnis gelegen sind. So weit stimme ich zu. Doch muß ich hier fragen, ob nicht seit Sokrates die Frage sich wesentlich verändert hat und ob nicht gerade auch Aristoteles dieser Veränderung Rechnung trägt und die Frage nach dem Guten auch in der Mannigfaltigkeit seiner Deskription der Aretai, der Tugenden,

und des Ethos festhält. Hier

scheint mir der Unterschied der aristotelischen Unterscheidung von Techne und Phronesis innerhalb der dianoetischen Tugenden bzw. des Machens und des Handelns nicht genügend beachtet und die Kritik an der harmonisierenden Tendenz des Aristoteles nicht berechtigt. Es ist die innere Zusammengehörigkeit von Ethos und Logos, von ethischer und dianoetischer Arete, die

die Auszeichnung der Frage nach dem Guten im menschlichen Leben aus-

macht, die selbstverständlich im Horizont der Polis allein zu sehen ist. So

sehr es also ein gewisses Recht hat, von begrifflicher Einwirkung der teleologischen Metaphysik und Physik des Aristoteles auf seine praktische Philosophie zu sprechen, ist es doch gerade unzutreffend, die praktische Philosophie auf die theoretische Philosophie zu gründen. Das scheint mir bestes sokratisches Erbe in Aristoteles, wie selbst der platonische »Phaidon« bestätigt. Das Programm einer teleologischen Naturerklärung, das Plato hier dem Sokrates an seinem Todestage in den Mund legt, ist auf eine »moralische« Entscheidung des Sokrates für »das Gute« gegründet - und nicht umgekehrt (Phd. 99ab). In diesem Punkte ist Aristoteles wegen seines Gegensatzes oder seiner vermeintlichen Kritik an Plato geradezu insistent, daß die Frage nach dem menschlichen Guten von allen theoretischen, teleologischen Aspekten unabhängig ist. Nun willich der Grundbehauptung des Verfassers deswegen nicht widersprechen, daß es der Bruch mit der teleologischen Metaphysik der Tradition

ist, der seinerseits die ganzen Probleme der neuzeitlichen Ethik und praktischen Weltordnung heraufgeführt hat. Aber man sollte die Abhängigkeiten

nicht umkehren.

Es war

die Frage, die Sokrates an die kosmologische

Erkenntnis seines Zeitalters richtete, wie die Erkenntnis der Natur und des

354

Heidegger und die Ethik

Seins so gestaltet werden könnte, daß sie dem menschlichen Selbstverständnis, dem Verständnis des Menschen auf das Gute hin entspricht. Die sokratische Frage steht also selber am Anfang der Metaphysik, und immer noch bleibt sie eine Frage, auch nach dem Ende der Metaphysik. Das, scheint mır,

hat der Verfasser nicht genügend gewürdigt, und deshalb hat er unterschätzt, welche Rolle die Kantische Fragestellung in diesem Augenblick für sich in Anspruch nehmen kann: sie ist ein Zurückkommen auf den platonischen »Rigorismus« am Anfang des zweiten Buches der »Politeia«. So möchte ich Aristoteles gegenüber dem Verfasser auch in solchen Fragen verteidigen, die durch Konfliktsituationen beschrieben werden können. Seine eigene Weiterbildung

der aristotelischen

Tradition,

auf die wir

gleich zu sprechen kommen werden, scheint mir mit Aristoteles selbst durchaus in Übereinstimmung (vgl. S. 187). Prohairesis ist schließlich das Grundwort, unter dem Aristoteles die Möglichkeit sieht, wie der Mensch sich zwischen sich bietenden Möglichkeiten des Handelns zu entscheiden hat. Ich gestehe gern zu, daß ihn dabei das Problem der Tragödie nicht mehr im klassischen Sinne als ein Kampf der Götter gegeneinander, sondern als eine Frage menschlicher Verschuldung interessiert. Aber wenn Phronesis der eigentümliche Aspekt ist, unter dem sich menschliches Ethos im Unterschiede zu den unvernünftigen Wesen bildet und erhält, dann ist die Einheit

des menschlichen Lebens in der Vielfalt seiner Aspekte gerade auch bei Aristoteles ohne falsche Harmonisierung gewahrt. Doch wenden wir uns nun zu den zentralen Kapiteln des Buches, in denen

der Verfasser anzudeuten versucht, wie er sich gegenüber dem herrschenden Pluralismus die Grundzüge einer gemeinsamen Tradition denkt, die die »praktische Philosophie: zu erneuern vermöchte. Es sind das 15. und 16. Kapitel seines Buches. Wir halten -— mit dem Verfasser - fest: es handelt sich im Bereiche der praktischen Philosophie nicht um Anwendung von Regeln. Die Einheit der Arete beruht auf einem Logos, der nicht ein abstraktes Allgemeines voraus-

setzt. Solche »Vernünftigkeit« nennt Aristoteles Phronesis. Das Moment, das der Verfasser im Weiterdenken der aristotelischen Ethik neu entfaltet,

wird mit dem sehr modernen Begriff des Narrativen gekennzeichnet. Damit ist die Einheit des Lebensganzen ins Auge gefaßt, das sich im Nacheinander der erzählten Geschichte konstituiert. Ich stimme überein, daß die Einheit

des praktischen Lebensverständnisses gegenüber aller Fragmentarisierung, ob sie nun analytisch, soziologisch oder existentialistisch gedacht sein mag, ihre eigene Berechtigung verteidigt. Gewiß, man kann zweifeln, ob die Kategorie der Erzählung, der »Narration«, der aristotelischen Begriffswelt überhaupt eingepaßt werden kann. Immerhin ist das Narrative von Aristoteles nicht schlechthin ausgeschlossen, wenn man sich an die berühmte Gegenüberstellung der geschichtlichen und der poetischen Mimesis erin-

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Ethos und Ethik

355

nert, die in der aristotelischen Poetik steht, in der ausdrücklich anerkannt

wird, daß die Poesie philosophischer sei als die Geschichtsschreibung, weil sie die Dinge, so wie sie geschehen könnten und immer wieder geschehen, zur Darstellung bringe und nicht das einmalig Zufällige. Plutarch hätte ohne Frage vor Aristoteles mehr Gnade gefunden als offenbar Thukydides. Auch sollte man nicht vergessen, daß Mythos im Grunde Erzählung heißt. Man mag sich also die Frage stellen, warum das Narrative, das die epische Tradition des griechischen Geistes charakterisiert, in der attischen Philosophie — bei Plato wie bei Aristoteles — keine positive Würdigung erfahren hat. Daß es eine Form der Darstellung des Allgemeinen ist und vielleicht eine, die wirklich in Zeiten einer Zerstörung des allgemeinen Bewußtseins, in der Form der Dichtung insbesondere, zu Wort kommt, geht gerade auch aus MacIntyre’s schönem Buche hervor. Das wird besonders deutlich, wenn es sich um das Nachleben und Fortleben der Tradition der praktischen Philosophie, der Tradition der »virtues« handelt, mit der

der Verfasser seine Darstellung allmählich in eine Würdigung von Jane Austen überleitet. Sehr überzeugend. Vielleicht wird der kontinentale Leser meinen, daß die Spannungsdichte der moralischen Probleme, wie sie sich im russischen Roman und

im französischen Roman des 19. Jahrhunderts entfaltet hat, hier neben die englische Dichterin gestellt werden sollte. Das große Erbe der »praktischen Philosophie« scheint mir gerade auch in der dichterischen Gestaltung des Zerfalls der Tradition greifbar. Doch möchte ich anerkennen, daß die Einheit des sittlichen Selbstverständnisses, die sicher auch in der Intention der aristotelischen Ethik und Politik lag, durch

den Begriff der Erzählung, der »Narration«, eine anschauliche Erfüllung findet und daß man die Bedeutung des Zeitalters des Romans, an dessen Ende wir heute stehen,

von den Erwägungen des Verfassers her begreift. Nur aus seiner Geschichte kann

man das Einzelverhalten eines Menschen, nur aus der Geschichte kann man die

Gesellschaft verstehen. Auch das Gespräch ($. 196) ist die Einheit einer Geschichte. So kann man generell sagen, daß auch Handlung nur als Geschichte verstanden werden kann. Wir sind als Handelnde, wie der Verfasser schön zitiert (S. 199), immer

Co-autoren einer Geschichte. Es ist überzeugend, daß sich der Begriff der erzählten Geschichte als eine Illustration der durchgängigen Frage nach dem Guten darstellt und damit zur Konstitution dessen gehört, was Stehen in einer Tradition bedeutet. Der Verfasser scheint mir Recht zu haben, wenn er sagt, daß die Einheit von

Geschichte und Tradition im modernen Denken verkannt wird (S. 208).

In den abschließenden Kapiteln des Buches wird die Wiederaufnahme der aristotelischen Tradition kritisch auf die Moderne angewendet. So kann

etwa das Kapitel über »justice«, Gerechtigkeit, schön demonstrieren, wie die

alte Tugend der Gerechtigkeit unter den modernen Denkvoraussetzungen

zu einer Kunst des Interessenausgleichs verfällt (Rawls, Nozick). Als Ganzes zeigt das Buch von Maclntyre eine imponierende Souveränität in der Dar-

stellung seines Problems. Es ist reich an Illustration durch die Schicksale und Geschichten des abendländischen Denk weges. Insbesondere mag hervorge-

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Heidegger und die Ethik

hoben werden, wie hinter dem Ganzen eine stille kritische Auseinandersetzung mit Nietzsche steht (Kap. 18): Anerkennung seiner demaskierenden Aufrichtigkeit, durch die er das Fiktive des modernen moralischen Denkens entlarvt - und auf der anderen Seite Kritik seiner eigenen Verfallenheit an den Individualismus der Moderne. Auch in Marx sieht der Verfasser lediglich den Verkünder eines sozialisierten Robinson. In der Bezugnahme auf Leo Trotzkis späte Äußerungen zum russischen Experiment, mit denen das Buch schließt, wird keine Lösung des aufgestellten Problems vorgeschlagen. Aber es ist unüberhörbar, was der Verfasser denkt: daß alle Weisen des Fortlebens dichter moralischer Traditionen in unserer chaotisch gewordenen Welt ein Unterpfand der Hoffnung für eine Wiedergewinnung gemeinsamen Geistes sind. So utopisch wie die Utopien der vollendeten Aufklärung scheint mir eine solche Hoffnung nicht. Ich sehe in diesem Versuch, der eine theoretisch-systematische Fortsetzung ankündigt, in Wahrheit ein realistisches Gegenstück zu dem Versuch von Werner Marx, auf Erden ein Maß zu finden. — 2.Es bleibt für mich überzeugend, daß die Problematik einer philosophischen Ethik von Aristoteles mit einer Klarheit und Umsicht exponiert worden ist, daß man diesen Beitrag auch dann nicht außer acht lassen darf,

wenn man die Vielfalt der Ethosgestalten in Betracht zieht, die in unserem räumlich und zeitlich entgrenzten Horizont stehen. Schon früher habe ich in einem Aufsatz das Verhältnis der Aristotelischen zur Kantischen Ethik im Sinne einer positiven gegenseitigen Ergänzung beider Aspekte vorzuschla-

gen versucht?. In der Tat scheint mir das Problem nach wie vor in dieser Richtung zu liegen. Daran halte ich auch nach dem Versuch fest, an den „späten Heidegger eine Ethik anzuschließen. Freilich bedarf es noch weiterer Klärung, wie die Begründung der Ethik oder des Sittengesetzes, die Kant | gegeben hat, sich zu der aristotelischen Ethik verhält und wieweit die Rechenschaftsgabe, das Aöyov diööver, das heißt, das sokratische Erbe in Aristoteles, in die gleiche Richtung weist, wie die Kantische ‚Grundlegung | der Metaphysik der Sitten« mit platonischen Mitteln. Es hat mir dabei geholfen, Ernst Tugendhats Aufsatz »Antike und moderne Ethik« (1981) neu zu studieren®. Zwar finde ich meine eigene Position in diesem Aufsatz nicht angemessen charakterisiert. Es geht mir durchausnicht in erster Linie um die Erfahrung der Kunst. Sie istzwarim Vergleich zudem Anspruch einer Philosophie, die sich auf Fortschrittsbegriffe reduziert, in einer überlegenen Position. Denn was in der Klassischen Wahrheitsdefineen Freaphiker Dieter Eh n EALIES TOEE uerst abgedruckt in: (Hısg & Philosophie in ihrer für die Gegenwart. Kolloquium zu Ehren des 80. Geburtstags von H.G. een d. Hd. Akad. d. Wiss.) Heidelberg 1981, S. ee E. Tugendhat, Probleme der Ethik. Stuttgart 1984, S. 33-56. ”

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Ethos und Ethik

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ition »res« heißt, rückt damit in ein neues Licht. Aber was ich als hermeneutische Philosophie zu entwickeln suchte, ist eine Grundlegung, die sich nicht allein oder auch nur vorzugsweise auf das Modell der Kunst stützt. In ‚Wahrheit und Methode: ist es nur eine introduktorische Funktion, die die

Analyse der ästhetischen Erfahrung für mich hat. Wie der Aufbau meines Buches zeigt, mündet alles in den Grundcharakter von Sprachlichkeit, dialogisch zu sein.

Es ist die Erfahrung

des Anderen,

die mir so fundamental

scheint und so wenig durch die modernen Fortschritte der Logik und semantisch-linguistischen Analysis überholt, daß mir meine Grundposition von da aus nicht fraglich zu werden vermag. Darin liegt beschlossen, daß das Erbe der praktischen Philosophie in ihr aufgenommen wird, aber das meint nicht nur Aristoteles, sondern ebenso auch Kant. Im Ganzen scheint mir die Kantische Position nicht in ihrem vollem Gewicht innerhalb der heutigen Diskussion ausgespielt zu werden. Ich vermißte das bereits bei MacIntyre und bei Werner Marx. Nicht minder vermisse ich es dort, wo man sich

ausdrücklich auf Kant beruft, wie im Falle von Tugendhat. Was Tugendhat unter der Begründung von Ethik versteht, vernachlässigt in meinen Augen die Vorsicht und die Weisheit, mit der Kant das Problem einer philosophischen Ethik exponiert. Hier hat zu meinem Bedauern das vorzügliche Buch von Gerhard Krüger »Kritik und Metaphysik in der Kantischen Ethik« nicht genügend Wirkung gezeitigt, obwohl es wenigstens auf französisch schon früh den deutschen Sprachraum überschritten hatte. Krüger hat für mich überzeugend nachgewiesen, was für Kant ‚Begründung: des Sittengesetzes bedeutet: Nicht ein Prinzip, von dem aus man inhaltliche Normen

abzuleiten vermag, sondern eine begriffliche Klärung dessen, was in seiner Evidenz keiner philosophischen Rechtfertigung bedarf. Eine solche trägt die Praxis selber in sich, insbesondere, so weit es sich um den Mann handelt, der das Herz auf dem

rechten Flecke hat. Was einer Kritik bedarf, die durch den kategorischen Imperativ geleistet werden soll, ist die Beirrung durch die im Schwange befindlichen Begriffe der Moralphilosophie. Es geht darum, den Utilitarismus der Aufklärung begrifflich

zu überwinden und die einfache Evidenz der Pflicht wieder herzustellen. Das scheint

mir ein klarer Sachverhalt, und Krüger hat insbesondere dadurch einen wirklichen Nachweis für diesen Zusammenhang geführt, daß er die »Typik der Urteilskraft« als

das argumentative Schema erkannt hat, das Kant bei den Formulierungen des kategorischen Imperativ und für den Sinn der Autonomie geleitet hat.

So viel scheint mir jedenfalls eindeutig klar, daß weder Kant noch Aristoteles eine theoretische »Begründung« sittlicher Normen verfochten haben,

weil beide sich in Wahrheit darauf beschränkten, gegen falsche Philosophie, d.h. gegen voreingenommene Argumentationsweisen, wie die Dialektik der Leidenschaft sie entfaltet, den Sinn moralischer Verantwortlichkeit geltend zu machen. Der aristotelische Begründungsanspruch beschränkt sich darauf, mit den »Legomena«, das heißt mit dem schon entwickelten Lebensverständnis und den schon im Schwange befindlichen Vorstellungen über n. Das ist praktische das EDN® Gute und über das glückliche Leben einzusetze

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Heidegger und die Ethik

Philosophie. Sie ist, wie Sokrates’ und wie Platos Frage nach dem Guten, auf

die Logoi gegründet, auf eine Evidenz, die Plato dadurch ausdrückt, daß er sie durch die höchst überraschende Anwendung der mythisch gemeinten Anamnesislehre der Pythagoreer illustriert. Nun sieht Tugendhat die Frage nach dem Glück als die Auszeichnung der griechischen Ethik an und möchte dieselbe in die durch Kant begründete Moralphilosophie der Neuzeit hinübertreten. Dem stimme ich in der Aufgabenstellung zu und gebe insofern der Kritik an der »imperativen« Einseitigkeit der Kantischen Ethik recht, die schon Scheler geübt hat. Freilich kann ich Tugendhat schwer folgen, wenn er hierfür den Begriff der Gesundheit ins Spiel bringt. Mindestens müßte er, meine ich, die platonische Darlegung in der »Politeia« diskutieren, die eine solche Analogie zwischen der rechten

Verfassung der Seele und der rechten Verfassung des Leibes, also die Analogie der ethischen Frage mit der Frage der Gesundheit, nur entwickelt, umim Hinausgehen über diese im vierten Buch des Staates aufgestellte Anlogieihre Unhaltbarkeit zu zeigen. Erst durch den Aufstieg der Dialektik kann eine wirkliche Rechenschaftsgabe geleistet werden. Wie eigentümlich unbegreifbar aber die Idee des Guten ist, die diesen Aufstieg abschließt und zurückwendet, habe ich in meiner Akademieabhandlung »Die Idee des Guten« zu zeigen versucht*®. Mir scheint es auch noch für Aristoteles zuzutreffen, daß die sokratische

Frage in ihm fortlebt. Er hat auf den Begriff gebracht, was Plato in der mythisch-theologischen Ausarbeitung des sokratischen Vermächtnisses zu seiner ebenso grandiosen wie grotesken Staatsutopie geführt hat. Darüber habe ich in meiner oben genannten Schrift einiges nachzuweisen versucht®. Neuerdings hat Tugendhat seine Studie nochmals abgedruckt und mit umfangreichen Ergänzungen versehen: »Probleme der Ethik«, als Reclambändchen 1983 erschienen. Es handelt sich um drei Vorlesungen über Probleme der Ethik (S. 57-131) aus dem Jahre 1981 und um Retraktationen aus dem Jahre 1983. Wie in der diskutierten Studie ist auch hier die Redlichkeit und Gründlichkeit der Argumentation bestechend. Tugendhat geht ausdrücklich von der uns bedingenden historischen Relativität aus, und zwar, _ wie er sagt, »für diesen historischen Moment«, in dem gemeinsame morali-

sche Überzeugungen nicht mehr vorgegeben seien. Darin sieht er die Notwendigkeit einer Begründung der Moral, da die einzige Alternative »Gewalt«

sei! : Das heißt die Aufklärung auf die Spitze treiben. Denn das muß doch * ‚Die Idee des Guten zwischen Platon und Aristoteles« (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften,

Phil.-histor. Klasse Abb. 3), Heidelberg 1978.

[Erscheint in GW 7].

5 [Dazu gehört inzwischen noch meine Auseinandersetzung mit Karl Popper in: »Platos Denken in Utopien«. Gymnasium 90 (1983), S. 434-455 (Ges. Werke Bd. 7)].

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heißen, daß angesichts der — auch in den Biographien der Individuen — bestehenden Relativität ein Konsensus aller Menschen gesucht werden muß, der nur zu einer »Mindestmoral« führen kann. Das soll Philosophie leisten. Kein Wunder, daß bei Tugendhat die »Unparteilichkeit« und allenfalls noch

der gegenseitige »Respekt« die obersten Normgesichtspunkte bilden - als ob nichts anderes zwischen Menschen wäre als Streit und Gegnerschaft. Man lese folgendes Beispiel (S. 120): »Unter den Kindern einer Familie ist ein moralisches Problem entstanden; die Mutter kommt dazu; sie läßt jedes Kind sein Interesse artikulieren, und dann entscheidet sie als wohlwollender und unparteiischer Beobachter, wie das Problem zu lösen ist. In diesem Fall hat sich, wie eben gefordert wurde, der moralische Begründungsprozeß aufgebaut und Information aus erster Hand über die Interessen, die im Spiel sind. Aber die Sprechhandlungen der Kinder dienten nur als Informations-Input. Die Begründungsprozedur selbst war nicht kommunikativ. War dabei etwas nicht in Ordnung? Nun, ich meine selbst, und ich nehme an, wir alle meinen, daß damit etwas nicht in Ordnung war, es sei denn, es hat

sich um sehr kleine Kinder gehandelt, und gewiß würden wir sagen, daß eine solche Prozedur bei der Institutionalisierung rechtlich sanktionierter Normen moralisch nicht zu rechtfertigen wäre. «- Das klingt so - (wie es auch gemeint ist), als verhielten sich alle die wie kleine Kinder, die sich aus Liebe, aus Anhänglichkeit, aus Anerkennung der mütterlichen Autorität unterordnen, ohne Gründe zu verlangen. Was da die Rede von der Institutionalisierung rechtlich sanktionierter Normen soll, verstehe ich nicht. Als ob Anerkennung von Autorität und darauf gegründete Solidarität — auch bei rechtlich sanktionierten Normen - nichts als ein Mangel an Aufklärung wäre!

Die Kritik, die Tugendhat an Rawls’ Begriff der Gerechtigkeit übt, zeigt zwar, daß er nicht bloße rechtsgleiche Verfahrensordnung meint. Der von U. Wolferhobene Einwand, daß auch er nicht über Legalität hinauskomme, hat aber etwas Einleuchtendes, und so sieht sich Tugendhat - er, nicht nur

ich!- auf den Kantischen Autonomiebegriff zurückgenötigt. Das kann mich nicht verwundern. In einem Jahrhundert wie dem Kantischen bestand ein weiter Horizont, der sogar noch die sapienta sinica umfaßte. Da war die Relativität gelebter Sitten nichts Unbekanntes. Kants Formalismus trug dem moralischen Skeptizismus offenbar Rechnung, der diese Relativität

einschloß. Ich kann mir nicht anmaßen, die Diskussionslage, in der sich Tugendhat hier bewegt und die durch U. Wolf, Ph. Foot, Habermas,

Hare, Rawls,

Wildt, Winnicott bestimmt ist, im einzelnen zu überschauen. Die spanischen Stiefel der analytischen Philosophie bleiben mir allzu unbequem. Ich muß

: Es mich darauf beschränken, das Resultat, zu dem sie führen, zu diskutieren

wird mir sehr schwer, zu begreifen, wieso Kants Gebrauch des Vernunftbegriffs eine »höhere Wahrheit« und einen Begriff vom Wesen des Menschen einschließen soll, die so nicht mehr gelten. Ist es nicht wirklich das Wesen der Vernunft und keine »höhere Wahrheit«, daß man einsames Denken und

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Heidegger und die Ethik

kommunikatives Denken nicht trennen kann, was Tugendhat in der Diskussion mit Habermas will? Kants ganzes Bestreben ist jedenfalls, höhere Wahrheiten, etwa im Sinne der Gottgegebenheit, von der Begründung der Moral fernzuhalten. Gewiß ist die kantisch-stoische Zusammenfassung der moralischen Problematik unter »Pflichtenlehre« uns fremd geworden, aber das ist doch nur für uns ein fremder Sprachgebrauch. Das Wort »Pflicht« bedeutet in Kants Gebrauch nicht eine blindlings gebietende Autorität, wie schon Scheler Kant aufs schrecklichste mißverstanden hat, sondern den Appell an die eigene sittliche Einsicht, und wenn Kant für die Pflichten gegen sich selbst wie für die Pflichten gegen andere den Begriff des »Zweckes an sich« gebraucht, so ist dies ein höchst paradoxer Ausdruck, der gerade nicht auf eine »höhere Wahrheit« zurückführt. Tugendhat zitiert selbst (S. 161) den Kantischen Satz: »So stellt sich notwendig der Mensch sein eigenes Dasein vor. « Tugendhat erkennt schließlich sogar an (S. 173), daß man als Äquivalent für die Rede vom »Zweck an sich« nach seiner Auffassung auch sagen könne: verhalte dich zu deinem Leben im Modus der Ernsthaftigkeit« - und damit findet er am Ende die Rede von der Pflicht gegen sich selbst begründet: »aber die Pflicht gegen sich selbst, die sich jetzt herausstellt, betrifft nicht irgendwelche Inhalte, sondern nur das Wie des Sich-zu-sich-Verhaltens. « Ich kann darin nichts anderes als den Kantischen Formalismus erkennen, der wirklich genau das meint. Ich will damit nicht behaupten, die Pflichtenlehre der

Metaphysik der Sitten hätte dieselbe Evidenz wie ihre »Grundlegung«. Sie läßt gewiß die »höhere Wahrheit: der christlichen Tradition nachhallen. Aber die Grundlegungsproblematik ist davon ganz unabhängig. Ich wundere mich, daß man noch immer den genauen Parallelismus der Formeln für den kategorischen Imperativ nicht wahrhaben will. Hare hat das der Sache nach richtig gesehen, daß sie Universalität und keine Gattungsgemeinsamkeiten meinen. Universalität, Ausnahmslosigkeit gilt sowohl für den Begriff des allgemeinen Naturgesetzes als für den Begriff des »Zwecks an sich«. So komme ich nochmals auf die seit Aristoteles schwebende Frage zurück, ob eine inhaltliche Begründung oder Rechtfertigung sittlicher Normen _ überhaupt möglich ist. Sitte ist Ethos, das heißt aber, Frucht von ‚Gewöh-

nung« (£0os). Normen sind immer schon angenommen. Ihre Bezweiflung ist keine Frage ihrer Begründbarkeit, sondern Ausdruck eines veränderten normativen Bewußtseins. Erwachsene brauchen die sittlichen Vorstellungen nicht zu übernehmen, in denen sie erzogen wurden. Aber das heißt nicht, daß sie nun nur noch ihren Interesssen und ihrer Glücksrechnung folgen und allenfalls noch gemeinsame Interessen berücksichtigen, also bloßen Klugheitsregeln gehorchen. Es ist vielmehr ein veränderter Inhalt, den sie für den _ moralisch richtigen halten. Aber auch er ist, mit Aristoteles zu sprechen, ein kalon. Aristoteles geht von der Anerkennung solcher Normbegriffe aus.

Ethos und Ethik

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Wenn er diese Arete nennt und als Mitte zwischen Extremen bestimmt, so

»begründet« er sie damit nicht, sondern klärt nur den »Gesichtspunkt« (den skopos), unter dem das als recht Geltende gegen die Beirrungen eines von Interessen und Leidenschaften bedrohten Urteils geschützt werden kann. Die griechische Lehre von den verschiedenen Lebenszielen, die auf dem Wege zum glücklichen Leben zur Wahl stehen, Vergnügen und Reichtum und Ehre, und dazu Arete und Theoria, enthält zwar eine inhaltliche Rangordnung, aber die Lehre der Ethik besteht gerade darin, im Ausgang von den traditionellen Lebenszielen nur Arete und Theoria (ooyia) als Telos zu erweisen. Diese beiden stehen in einem eigentümlichen Wechselverhältnis gegenseitiger Bedingtheit zueinander, wie Aristoteles mir zu sehen scheint. Beide aber, und das ist das für uns Wichtige, leuchten in ihrem Eigenwert, der allem Glückskalkül überlegen ist, unmittelbar ein. Es ist also kein kalkulatorischer Eudämonismus, wie ihn Kant an den im Schwange befindlichen

Moralvorstellungen kritisiert. Auch die Aristotelische Ethik dient der Aufklärung des Um-seiner-selbst-Willen, nicht etwa seiner Begründung oder Rechtfertigung. Mein Einwand gegen Tugendhat bleibt also, daß er eine Rechtfertigung sucht, wo es keine geben kann. Philosophie kann nur den Normcharakter bewußt machen, der ethischen Normen zukommt. —

3. Inzwischen habe ich ein Buch von Trees Engberg-Pedersen kennengelernt, das in seiner genauen Aristoteles-Analyse das zentrale Thema »Ethik zwischen Aristoteles und Kant« ebenfalls anvisiert°. Die Untersuchung ist zwar ganz auf die britische Diskussion über teleologische und deontologische Moraltheorien gerichtet, mit der ich nicht genügend vertraut bin. Zugleich bleibt sie aber sehr genau auf den aristotelischen Text gerichtet, mit dem ich vertraut bin. Ich kann mit Anerkennung vermerken, daß des Verfassers genaue Analyse überall Hand und Fuß hat. So ist sein Buch für das klassische Problem »Ethik zwischen Aristoteles und Kant« nicht ohne Ergie-

bigkeit. Freilich setzt er die weitmehr deskriptiven Darlegungen des Aristoteles im angelsächsischen Stil in der Weise um, daß er die arguments« und ihre argumentative Schlüssigkeit prüft. Das ist - wie auch sonst - nicht ohne klärendes Resultat. Was moralische Einsicht ist, wird schlüssig entwickelt. Dabei wird auch die Grenze eines Lesens des Aristoteles sichtbar, das ihn ganz auf logisch zwingende Argumentation hin rekonstruiert. Die deskriptive Intention des Aristoteles wird völlig ignoriert, und so kommt der Verfasser dazu, die »Teile« der Seele wie reelle Bestandteile zu behandeln und entsprechend die Unterscheidung der ethischen und dianoetischen Tugend, des Ethos und des Logos, dogmatisch zu hypostasieren. Was es heißen soll, daß das Ethos auf das eigentlich Gute und auf die Eudämonie gerichtet ist, während die Phronesis daran nur eine Mitwirkung habe, bleibt mir unklar. Erfreulicherweise sieht 6 Troels Engberg-Pedersen, Aristoteles Theory of Moral Insight. Oxford 1983.

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Heidegger und die Ethik

der Verfasser, daß es sich bei »Mitwirkung« nicht um eine reine Klugheitslehre handelt. Aber was bedeutet »Mitwirkung« dann? Die beiden Aspekte, die Aristoteles unterscheidet, Ethos und Dianoia, sind in Wahrheit nichts als Aspekte des einen und

selben Tatbestandes, wie Aristoteles oft genug, so am Anfang des 6. Buches (Eth. Nik. Z 1) ausführt, und wie obendrein aus seiner Lehre von der Seele und aus seiner

Diskussion der Einheit der Seele gegenüber den Teilen der Seele genügend hervorgeht (De anima III, 10). Hier habe ich also Vorbehalte. Dagegen möchte ichrühmen, daß des Verfassers Erörterung des Eudämonismusproblems, sowohl was Aristoteles wie was Kant betrifft, höchst einsichtsvoll ist und allerhand Vorurteile ausräumt, die aus einem kurzsichtigen Verständnis der Kantischen Eudämonismuskritik erwach-

sen sind’.

4. Unter dem bescheidenen Untertitel »Begriffsgeschichtliche Studien« verbirgt sich ein Buch mit entschieden philosophischen Perspektiven. Es

handelt sich um K.H. Iltings »Naturrecht und Sittlichkeit®. Das erste Kapitel behandelt die Geschichte des Naturrechts unter dem Gesichtspunkt, wieweit dieser Begriff eine rationale Begründung gefunden hat. Das bedeutet, daß hier die griechische Philosophie, insbesondere die sophistische Aufklärung,

Plato, Aristoteles und die Stoa, ebenso die Umdeutung

der

Naturrechtslehre im christlichen Mittelalter, genauer untersucht werden und daß dann die neuzeitliche Aufklärung von Hobbes bis Hegel die Diskussion beherrscht. Für diese Perspektive vermisse ich einen Hinweis auf das nicht veraltete Buch von I. Sauter (1926). Das folgende Kapitel, das »Sittlichkeit« behandelt, ist noch umfassender gestaltet und stellt in Wahrheit den Grundriß einer Geschichte der Ethik dar. Hier werden sowohl der griechische Begriff des Ethos und des Nomos wie seine lateinischen Äquivalente von Mos und Lex bis an die Schwelle der Neuzeit verfolgt. Daran schließt sich die Geschichte und das Schicksal der neuzeitlichen Ethik unter dem vielsagenden Titel von » Autonomie des Sittlichen« und »Relativierung der Idee einer universalen Sittlichkeit« an, die unsere eigenste Geschichte von Hegel bis Nietzsche erzählt. Die Skizze der neuzeitlichen Begründung des rationalen Naturrechts und seiner allmählichen Politisierung ist ein Glanzstück scharfsinniger und kenntnisreicher

Gedankenentwicklung. Was hier auf dem Spiele steht, wird schließlich durch einen ausgezeichneten Aufsatz unter dem Titel » Universalität und Geschichtlichkeit von Handlungsnormen« erörtert. In produktiver Auseinandersetzung mit Kelsens reiner Rechtslehre und N. Luhmanns Theorie der Verfahrensgerechtigkeit, wird, wie mir scheint, überzeugend der Kantische Formalismus weiterge-

trieben und seine Vereinbarkeit mit der sozialgeschichtlichen Relativierung

” Soeben kommt mir die Schrift von Jürgen Eckhardt-Pleines: Eudaimonia zwischen Kant und Aristoteles (Königshausen 1984) in die Hände, die hier ebenfalls klärend ist. ® Karl-Heinz Ilting, Naturrecht und Sittlichkeit. Begriffsgeschichtliche Studien. Stuttgart 1983. [Der Verfasser ist inzwischen verstorben.]

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erwiesen, die mit dem Aufgang des historischen Bewußtseins einsetzte und die aprioristischen Aspekte des Problems zu Unrecht verdunkelt hat. Insofern gehört das überaus lehrreiche Buch Iltings in unseren Zusammenhang. Der Formalismus Kants wird als der wahre philosophische Realismus neu zur Geltung gebracht. 5.Im gleichen Zusammenhang ist auch auf das temperamentvolle kleine Buch von H.J. Krämer zu verweisen?. Ein so profunder Kenner der griechischen Philosophie wie der Verfasser ist sich der eigentümlichen Sonderstellung der praktischen Philosophie seit Aristoteles genügend bewußt, um sich von der Versuchung freizuhalten, Ethik auf bloße Theorie

zurückzuführen. Auf der anderen Seite weiß er die reflexive Dimension festzuhalten, die der Ethik als Philosophie eignet und die sie von der Konkretion der praktischen Vernunft unterschieden hält. Der Verfasser versucht nun durch den Begriff der konsiliatorischen Ethik die rechte Mitte zwischen den Extremen zu halten und die Stimme der Reflexion auf die Beratung und Empfehlung einzuschränken, die der Handelnde kraft eigener Entscheidung annehmen oder ablehnen kann. Mir scheint das zwar formal richtig, aber doch in einem wesentlichen Punkte unterbestimmt. Das tritt dort hervor, wo die Kompetenz der Wissenschaft ins Spiel kommt. Sie verengt offenkundig den Beratungsspielraum. Was man aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnis wissen kann, ist nicht der Gegenstand von Beratung. Das wußte schon Aristoteles. Für ihn stand jedoch fest, was der Verfasser nicht mit gleicher Sicherheit festhält, daß solches »Wissen«, das wir »Wissen-

schaft« nennen würden und das er »techne« nennt, dem praktischen Entscheidungswissen

der »Prohairesis«,

das auf das Gute

gerichtet ist, immer

untergeordnet

bleibt. Das ist älteste sokratisch-platonische Weisheit. Nun ist Krämers »Plädoyer für eine Individualethik« gegen den Primat einer Sozialethik gerichtet, die sich auf Consensus gründet, das heißt, einerseits gegen die Erlanger Schule und andererseits gegen die von Apel und Habermas unternommenen Versuche. Dabei stimme ich ihm voll zu, wenn ihm das Ideal der Letztbegründung suspekt ist, und möchte den Einklang mit Aristoteles betonen. Ich gebe auch zu, daß Krämer damit recht hat, daß es in concreto schwer unterscheidbar ist, wo es sich um das technische

und wo es sich um das ethische Wissen handelt bzw. um das Wissen um die rechten Mittel und um das Wissen um das »Gute«. Aber heißt das nicht gerade, daß es auf die Unterscheidung ankommt? Bei einem Kenner des Aristoteles, wie Krämer es ist, bleibt es jedenfalls erstaunlich, daß er die klare aristotelische Unterscheidung von techne und phronesis (wie die von poiesis und praxis) nicht in ihrer grundsätzlichen Bedeutung gelten läßt. Die Folge scheint mir, daß seine konsiliatorische Ethik einer Typik von Klugheitsregeln anheimfällt und daß er, wie oben gesagt, gegen den Monopolanspruch der Wissenschaft grundsätzlich wehrlos ist. Allen Ernstes kritisiert er denn auch die Aufhebung einer konsiliatorischen Ethik

9 Hans-Joachim Krämer, Plädoyer für eine Rehabilitierung der Individualethik. Am-

80 sterdam 1983; Ders., Antike und moderne Ethik? Ztschrft. für Theol. und Kirche

(1983), S. 184-203.

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Heidegger und die Ethik

in Gesellschaftswissenschaft lediglich als eine Utopie — und nicht als Konfusion

(S. 69).

Das Wesen des Ratgebens und des Beratens bekommt bei Krämer nicht ganz den richtigen Akzent. Gewiß ist der, der vor Entscheidungssituationen steht und mit sich zu Rate geht, auch für den klugen Rat eines anderen empfänglich. Aber so lange es sich dabei nur um Fragen der Klugheit handelt, das heißt, um Findung der rechten Mittel zum Zweck, ist der andere nur als der Erfahrene, das heißt, nicht als der andere, der mit uns

durch ein gemeinsames Ethos verbunden ist, im Spiele. Das drückt sich darin aus, daß man in jedem Falle, in dem die Wissenschaft Auskunft geben kann, deren Weisung den Vorrang zuerkennt. Nicht für kluge Ratschläge, die jeder Erfahrene und Experte zu geben vermag, sondern für die sittliche Richtigkeit der eigenen Erwägungen hat der einsichtsvolle Rat eines Freundes seinen Wert.

Aristoteles weiß, was er tut, wenn

er das »Verständnis«

(synesis) als eine Modifikation der Vernünftigkeit (phronesis) zu den Tugenden rechnet. Dagegen scheint mir der von Krämer implizierte Primat der synesis gegenüber der phronesis verkehrt. Aristoteles hat hier einfach recht. Es entspricht dem, daß Krämers Stellung zur Kantischen »Grundlegung der Metaphysik der Sitten mich nicht überzeugen kann. Es ist wahr, daß sich diese Grundlegung auf einen engen Aspekt beschränkt, nämlich auf die Kritik der praktischen Dialektik, die Kant als Eudämonismus kritisiert. Das ändert aber nichts daran, daß

die Imperative der Klugheit grundsätzlich etwas anderes sind als die Imperative der Sittlichkeit, die kategorisch gebieten. Kants Widerlegung des utilitaristisch-eudämo-

nistischen Rationalismus der Aufklärung erscheint Krämer nicht mehr als zeitgemäß (!) - ein Ausdruck, den er öfters gebraucht. Mir scheint der Kantische Formalismus und damit die Autonomie mißverstanden, wenn man ihre kritische Funktion verkennt. In Wahrheit ist er im besten Einklang mit dem von Krämer anvisierten Pluralismus materialer Ethosgestalten.

Grundsätzlich finde ich Krämers Überlegungen zum Theoriestatus der praktischen Philosophie durchaus zutreffend. Nur verlieren sie etwas von ihrer Überzeugungskraft, weil sie der Klugheit eine falsche Stelle geben. Ich stimme mit ihm überein, daß die praktische Vernunft des Handelnden durch die theoretische Reflexion der Philosophie geklärt wird, und insofern, nur insofern, ist praktische Philosophie immer auch Wissen für die Praxis. Aber Krämer irrt sich, wenn er darin nichts als die allgemeine Überlegenheit des Generellen gegenüber der konkreten Situation sieht. Für alle Klugheitserwägungen und die Funktion, die Techne und Wissenschaft in ihnen haben, trifft

das gewiß zu. Sofern es sich aber um Praxis im vollen Sinne des Wortes handelt, ist die praktische Vernunft selber immer schon auf das Generelle

gerichtet, auf den richtigen Weg des Lebens. Mehr noch, jeder ist Philosoph. Aristoteles hat recht, wenn er die »Legomena« zum Ausgangspunkt seiner begrifflichen Arbeit nimmt. Ebenso hat Kant recht, wenn er in seiner

Ethos und Ethik

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Moralphilosophie nicht dem Mann, dessen Pflichtbewußtsein ungetrübt ist, mit überlegenem Allgemeinwissen beispringen will. Er will lediglich die im Schwange befindlichen philosophischen Vorstellungen berichtigen, die auf die Reinheit der praktischen Vernunft trübend einwirken. Verallgemeinerung ist nicht das Monopol der Wissenschaft. Sie liegt in der Natur der Sprache und damit in der Natur des Menschen. Nichts als ihre Berichtigung ist der Beitrag der praktischen Philosophie zur Praxis. Das scheint mir für Kant wie für Aristoteles und die Tradition zu gelten. Deshalb heißt praktische Philosophie »praktisch«. Gewiß kann sich die Reflexion auch auf Anwendungsregeln der Lebensführung richten, und das ist unter dem Titel »Asketik« bis zu Kant ein Teil der praktischen Philosophie. Krämer erwähnt das S.28 mit Recht unter bezug auf P. Hadot!°. Aber er sieht selbst, daß dieser Aspekt bei Aristoteles, dem Begründer der praktischen Philosophie, kaum eine Rolle spielt - im Unterschied zu den späteren Lebensschulen des Hellenismus. Das scheint mir für die Frage einer philosophischen Ethik von entscheidender Bedeutung - und nicht gegen Aristoteles zu sprechen.

So ist es in meinen Augen ein falscher Weg, den Probabilismus der modernen Wissenschaftstheorie in der Moralphilosophie gegen Kant aufzubieten. Für die sittliche Vernunft ist die Apodiktizität, die Ausnahmslo-

sigkeit, oberstes Grundprinzip - eine »Letztbegründung,«, die keine theoretische ist und alle Vielfalt des Inhaltes zuläßt -, und ganz gewiß gehört dazu auch das Aufgebot allen möglichen Wissens, das einem erreichbar ist, mit Einschluß aller klugen Ratschläge anderer. Inzwischen hat Krämer einen abermals gelehrten und scharfsinnigen Aufsatz unter dem Titel »Antike und moderne Ethik« vorgelegt. Hier scheint er mir die kantische Ethik weniger einseitig zu charakterisieren, auch wenn er sie zu einem eigenen Ethiktypus von Sollensethik hochstilisiert, statt ihre kritische Funktion wahrzunehmen. An sich stimme ich seiner theoretischen Grundabsicht durchaus zu, die Einseitigkeit einer Sollensethik zugunsten einer subjektiv-teleologischen Strebensethik klassisch-antiker Herkunft zu korrigieren. Auch in meinen Augen ist diese die allgemeinere, wie ich in meinem eigenen Aufsatz über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik gezeigt habe!!. Ich vermisse jedoch auch jetzt in Krämers Kant-Diskussion ein bißchen »hermeneutische Euphorie«, nämlich Kant von seinem eigenen Problem her zu verstehen und damit für uns fruchtbar zu machen. Krämer hat sich in diesem Punkte die überzeunicht genden Nachweise Gerhard Krügers, die ich bereits zitierte, leider

zu Herzen genommen. Er hätte sich sonst nicht einen solchen Popanz von Autonomieethik aufbauen können, wie er tut, und er hätte nicht in Kant 10 P, Hadot, Exercises spirituels et philosophie antique, Paris 1981. 11 Vgl. Fußn. 2, oben S. 356.

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Heidegger und die Ethik

einen Willensbegriff hineinlesen können, der den Willen von der Vernunft trennt.

Ich gebe durchaus zu, daß die imperative Form der Kantischen Ethik und ihre Verwurzelung im Pflichtbegriff einseitig ist, und behaupte, daß dieselbe von der Tradition der selbstbewußten Aufklärung her verstanden werden muß. Kant hat an Rousseau gelernt, daß wir nicht berechtigt sind, Moral aufutilitaristisch-eudämoni-

stische Kalkulationen zu gründen. Kant hat die hier geforderte Selbsteinschränkung der Selbstliebe in vielen schönen Ausführungen über die »Achtung vor dem Gesetz« ausgewiesen. Was Krämer »pseudo-theologische Absolutsetzung des Sittengesetzes« nennt, muß als Abgrenzung von der hypothetischen Qualität aller Klugheitsregeln positiv verstanden werden. Es scheint mir ein Anachronismus, hier auf die Autoritätskrise unserer Tage Bezug zu nehmen und dieselbe in das 18. Jahrhundert zurückzuprojizieren, in der die Autorität der Vernunft nicht angefochten war. Es wird mir auch schwer, die Argumentation gegen den intrapersonalen Imperativ bei einem Platoniker zu verstehen, der von dem inneren Gespräch der Seele mit sich selber weiß.

In Wahrheit ist keine Rede davon, daß der kategorische Imperativ, dieser Formalismus der Kantischen Reinigung des Sittengesetzes von der Sophistik der Leidenschaft und der Dialektik der Ausnahme,

für sich selber eine

praktisch motivierende Kraft in Anspruch nähme. Wer nicht das Gute will, wird durch die »Typik der Urteilskraft« gewiß nicht überzeugt werden, durch die Kant seine Moralphilosophie illustriert. Daß eine anthropologisch fundierte Ethik noch andere Aspekte enthält als den der kategorischen Geltung des Sittengesetzes, steht außer Zweifel. Aber wie Kants

Religionslehre und seine Pädagogik zeigt, ist selbst dort der Appellan Vernunft nicht gerade unzeitgemäß. (Die Erziehung kleiner Kinder durch Appell an Vernunft ist noch immer eine selten praktizierte und überaus erfolgreiche Methode.) Wenn es sich aber um philosophische Fragen handelt, geht es doch schließlich um die Frage, wieso man das Gute um seiner selbst willen tun soll. Plato, Aristoteles und Kant haben diese Frage im Auge, in deren Rahmen sich die Sollensperspektive einfügt. Es ist wahr, daß Kants »Grundlegung der Metaphysik der Sitten« ein scharfes Abstraktionsvermögen verlangt, über das aber ein feines Gewissen ebensosehr verfügt, wie ein geschulter Geist es vermissen lassen kann. Es ist unbestreitbar, daß die Geschichte des Kantianismus diese Schärfe nicht mehr aufgebracht hat und sich deshalb in pragmatische Spiegelfechtereien verstrickte. Die Sache scheint mir ganz ähnlich, wie jene Inanspruchnahme des »interesselosen Wohlgefallens« für die Theorie der Kunst, sei es, daß man sie als Ornamentästhetik kritisiert oder zur Rechtferti-

gung der gegenstandslosen Kunst mißbraucht. (Selbst Adorno ist das in seiner so überaus interessanten »Ästhetischen Theorie« unterlaufen.)

6. Kehrt man von diesen Diskussionen zu den Versuchen zurück, die von vielen Seiten unternommen werden, von Heidegger aus eine philosophische Ethik zu begründen, so scheint mir in Wahrheit das aristotelisch-kantische Erbe noch immer tragfähig, gerade weil es nicht auf Metaphysik gegründet ist. Daher sche ich nicht, wieso der große Denkanstoß Heideggers, dem ich

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selbst zu folgen suche, so gut ich kann, für das Problem der philosophischen Ethik eine unmittelbare Anwendung erlaubt. Ich denke, daß Heidegger aus Gründen, und nicht aus Unterlassung, die Frage einer Ethik abgewehrt hat. Das scheint eigentümlicher Weise im französischen Schrifttum, mindestens im Schrifttum französischer Sprache, ähnlich gesehen zu werden. Hier möchte ich vor allem auf das französisch geschriebene Buch von Reiner Schürmann hinweisen, das Buch eines Deutschen, der in Amerika lebt und

lehrt und hier seine Pariser thöse vorlegt!?. (Doch ist es ein reiches Schrifttum, und ich bin nicht in der Lage, die substantiellen Versuche französischer Autoren, mit Heideggers Philosophie ins Gespräch zu kommen, voll zu überschauen. Ich muß mich mit einigen Randbemerkungen begnügen, die den deutschen Leser auf ausgewählte Bücher aufmerksam machen und die zugleich den Bezug andeuten, unter dem die Präsenz Heideggers im französischen Denken steht.)

Das Buch von Schürmann verlangt besondere Beachtung. Es ist mit außerordentlicher Sorgfalt gearbeitet und folgt Heidegger insofern durchaus, als es die Abweisung der Frage ernst nimmt, die Beaufret an Heidegger gerichtet hatte und auf die Heideggers Humanismus-Brief die Antwort darstellt. Die Frage war: »Wann schreiben Sie eine Ethik? Daß in der Analyse Schürmanns die Frage des Handelns, das Apriori des »Agir« in den Vordergrund tritt, bedeutet nicht, daß aus dem bewegenden Pathos von

‚Sein und Zeit« die Forderung abzuleiten ist, die auf Beaufrets Frage spricht.

Schürmann liest Heidegger rückwärts, vom Ende her. Von da aus läßt sich mit Recht feststellen, daß die Fragwürdigkeit des Willens in Sein und Zeit noch nicht so klar herausgearbeitet ist, wie das im späteren Heidegger geschieht. In der Betrach-

tung von rückwärts her ist das moralistische Mißverständnis von »Sein und Zeit«, das die erste Aufnahme des Werkes begleitete, kaum noch vollziehbar. Auf der anderen Seite befolgt Schürmann den, wie mir scheint, durchaus richtigen Grundsatz, den

Unterschied von HeideggerI und Heidegger II, den Richardson eingeführt hat, grundsätzlich aufzugeben. Das setzt ihn in die Lage, mit Heidegger das wahre Handeln im Denken selber zu sehen-in einem Denken freilich, das nicht präskriptiv,

das heißt, keine Folgerung aus Prinzipien ist und keine Befolgung von Anordnungen des Denkens in das Handeln hineinträgt. Es geht im Denken Heideggers vielmehr um die Überwindung der Leitbegriffe von Prinzip (arche) und von Begründung. Daher der Titel von Schürmanns Buch: »Das Prinzip der Anarchie«, das heißt: der Prinzipienlosigkeit.

In dem ausgezeichneten Buch findet sich ein Kapitel, das unter dem Gesichtspunkt der Ethik besonders interessieren muß. Es ist dem Handeln als der Bedingung des Denkens gewidmet. Es beginnt mit dem Apriori des Handelns. Denken könne nicht wirklich »Sein« denken, wenn es nicht dem

Paris 12 Reiner Schürmann, Le principe d’anarchie. Heidegger et la question de l’agir. 1982.

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Heidegger und die Ethik

Sein gehört und auf das Sein hört. So ist Denken das eigentliche Handeln. Dafür beruft sich der Verfasser auf die Eigentlichkeit des Daseins, die in ‚Sein und Zeit« den Zugang zur Seinsfrage über das Nichts und den Tod aufschließt. Das ist richtig. Man kann umgekehrt sagen, daß es die Uneigentlichkeit des Daseins ist, von der aus die Metaphysik als Ontologie des Vorhandenseins sich ausgearbeitet hat und daß diese Ontologie dem Geschick des Abendlandes entspricht, das in die totale Seinsvergessenheit des Zeitalters der Technik ausläuft. Aber man muß hinzufügen, daß Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit »gleich ursprünglich sind«. Das ist die bestimmende erste Einsicht für den jungen Heidegger um 1920, als Nietzsche sozusagen in der Luft lag. Später erst, in der Zeit der »Kehre«, hat Heidegger Nietzsche als wichtigsten Partner für sein Denkgespräch entdeckt und im Gespräch mit ihm das Sein als »Lichtung« und »Ereignis« gedacht. Damit ist die Doppelrichtung von Entbergung und Verbergung im Sein selbst zur Ausweisung gebracht worden. Insofern kann man Schürmann zustimmen, daß es schon in »Sein und Zeit« eine Geltung des praktischen Apriori« gibt, freilich in all seiner prinzipiellen Zweideutigkeit. Durchaus ist ihm auch zuzustimmen, wenn er der landläufigen Kritik an dem

Fehlen der sozialen Dimension in »Sein und Zeit