Mitgefühl üben: Das große Praxisbuch Mindfulness-Based Compassionate Living (MBCL) [1. Aufl. 2020] 978-3-658-26823-7, 978-3-658-26824-4

Neueste Forschungen belegen, dass Mitgefühl – vor allem mit uns selbst – einer der Schlüsselfaktoren für geistige Gesund

820 192 4MB

German Pages XVI, 229 [239] Year 2020

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Mitgefühl üben: Das große Praxisbuch Mindfulness-Based Compassionate Living (MBCL) [1. Aufl. 2020]
 978-3-658-26823-7, 978-3-658-26824-4

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XVI
Einleitung & Grundlagen (Christian Stocker, Jana Willms, Frits Koster, Erik van den Brink)....Pages 1-12
Front Matter ....Pages 13-13
Modul 1: Die drei emotionalen Regulationssysteme (Alarm-, Antriebs- und Beruhigungssystem) (Christian Stocker, Jana Willms, Frits Koster, Erik van den Brink)....Pages 15-40
Modul 2: Stressreaktionen und Selbstmitgefühl (Christian Stocker, Jana Willms, Frits Koster, Erik van den Brink)....Pages 41-69
Modul 3: Verlangen und Muster verstehen (Christian Stocker, Jana Willms, Frits Koster, Erik van den Brink)....Pages 71-95
Modul 4: Mitgefühl verkörpern (Christian Stocker, Jana Willms, Frits Koster, Erik van den Brink)....Pages 97-117
Modul 5: Selbst und andere – den Kreis des Mitgefühls erweitern (Christian Stocker, Jana Willms, Frits Koster, Erik van den Brink)....Pages 119-142
Modul 6: Glück nähren (Christian Stocker, Jana Willms, Frits Koster, Erik van den Brink)....Pages 143-174
Modul 7: Weisheit und Mitgefühl im Alltag (Christian Stocker, Jana Willms, Frits Koster, Erik van den Brink)....Pages 175-194
Modul 8: Das Leben heilen (Christian Stocker, Jana Willms, Frits Koster, Erik van den Brink)....Pages 195-205
Anhang (Christian Stocker, Jana Willms, Frits Koster, Erik van den Brink)....Pages 207-215
Appendix (Christian Stocker, Jana Willms, Frits Koster, Erik van den Brink)....Pages 217-224
Back Matter ....Pages 225-229

Citation preview

Christian Stocker Jana Willms Frits Koster Erik van den Brink

Mitgefühl üben Das große Praxisbuch Mindfulness-Based Compassionate Living (MBCL)

Mitgefühl üben

Christian Stocker · Jana Willms · Frits Koster · Erik van den Brink

Mitgefühl üben Das große Praxisbuch MindfulnessBased Compassionate Living (MBCL)

Christian Stocker hausamfluss, Entwicklungsberatung für Menschen und Organisationen Frankfurt am Main, Deutschland

Jana Willms Wege zu Achtsamkeit und Mitgefühl im Leben, Buxtehude, Deutschland

Frits Koster Trainingsbureau Mildheid & Mindfulness Ezinge, Niederlande

Erik van den Brink MBCL Training & Therapie Onnen, Niederlande

Deutsche Neubearbeitung der Originalauflage erschienen bei Boom uitgevers, Amsterdam 2015

Ergänzendes Material zu diesem Buch finden Sie auf https://www.springer.com/de/book/9783658268237. ISBN 978-3-658-26823-7 ISBN 978-3-658-26824-4  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-26824-4 © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2015, 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandabbildung: © Christian Stocker Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Danksagungen

Viele Menschen haben auf die eine oder andere Weise zur Entstehung dieses Buches beigetragen. Dieses Buch ist im Zeitraum von rund zwei Jahre entstanden, aber es ist das Ergebnis unserer Lebensreisen. Wir empfinden tiefe Dankbarkeit gegenüber allen Lehrerinnen und Lehrern, Mentorinnen und Mentoren und Begleiterinnen und Begleitern, die wir in unserem persönlichen und beruflichen Leben auf unserem Weg getroffen haben. Besonderer Dank geht an … Menschen, die uns inspiriert haben Im Bereich der Achtsamkeit drücken wir unsere tiefe Wertschätzung aus für die Arbeit von Jon Kabat-Zinn, Begründer der MBSR-Methode, und Zindel Segal, Mark Williams und John Teasdale, als Begründer von MBCT. Dank ihrer kraftvollen Programme konnten wir Pionierarbeit bei achtsamen Maßnahmen im Bereich der psychischen Gesundheit leisten. Neben der Weiterentwicklung ihrer Arbeit integriert MBCL Erkenntnisse aus der Compassion Focused Therapy (CFT), der Acceptance and Commitment Therapy (ACT) und der Positive Psychology. Der Mitgefühlsfokus in MBCL wurde durch die Arbeit von Paul Gilbert, dem Begründer der CFT, und von Tara Brach, Christopher Germer, Kristin Neff und Sharon Salzberg, die alle Themen und Übungen des MBCL-Programms inspirierten, stark unterstützt. Wir wurden durch die Arbeit von Barbara Fredrickson, Rick Hanson, Thupten Jinpa, Matthieu Ricard, Martin Seligman, Daniel Siegel und vielen anderen weiter genährt. Wir sind sehr dankbar für ihre Großzügigkeit, mit der sie ihre befreienden Einsichten mit der Welt teilen. Menschen, mit denen wir zusammengearbeitet haben Wir danken insbesondere allen Teilnehmenden, PatientInnen und KundInnen, Fachleuten und KollegInnen aus nah und fern, die am Entwicklungsprozess von MBCL beteiligt waren, indem sie ihre Zeit und Energie in unsere Kurse und Lehrseminare investiert haben. Wir sind sehr dankbar für ihren Mut, verwundbar zu sein und ihre Bereitschaft, Kämpfe offen mit dem Leben zu teilen, und dafür, dass sie uns wertvolles Feedback und Vorschläge zur weiteren Verbesserung des Programms gegeben haben. Wir danken den Achtsamkeitslehrenden, die MBCL V

VI

Danksagungen

unterrichtet haben, für ihre wertvolle Peer-Supervision und den Forscherinnen und Forschern für ihr Engagement, das Programm zu wissenschaftlich untersuchen. Es wäre unmöglich, alle ihre Namen zu nennen, aber wir möchten allen Beteiligten unseren herzlichen Dank aussprechen. Menschen, die uns unterstützt haben Wir schätzen die Unterstützung von Rebecca Crane und dem Centre for Mindfulness Research and Practice in Bangor, Hannah Gilbert and Compassionate Wellbeing. Ebenso Linda Lehrhaupt und das Institut für Achtsamkeit und Stressbewältigung, die es ermöglicht haben, MBCL auch im deutschsprachigen Raum unterrichten zu können. Wir sind Ulrike Vetter, Christine Sheppard, Janina Tschech und allen anderen beim Springer-Verlag sehr dankbar, die uns dabei unterstützt haben, diese Veröffentlichung zu ermöglichen. Unsere Lieben Last but not least möchten wir uns bei den Lieben in unserem persönlichen Leben bedanken, die uns bei der Arbeit am Buch einen sicheren Ort geboten haben. Die Dankbarkeit, die wir für unsere mitfühlenden Begleiterinnen und Begleitern und geliebten Partnerinnen und Partnern empfinden, die uns so viel Geduld und Unterstützung während des Schreibprozesses geschenkt haben, ist nicht in Worte zu fassen. Christian, Jana, Frits und Erik Herbst 2019

Vorwort von Linda Lehrhaupt

Seit 1993 habe ich tausende von Menschen in Stressbewältigung durch Achtsamkeit (MBSR) unterrichtet. Obwohl ich nicht mehr überrascht bin, wenn die Menschen sagen, dass der denkwürdigste Aspekt des Programms darin bestand, zu lernen, freundlicher zu sich selbst zu sein, finde ich ihre Antwort noch immer bewegend. Auch wenn Selbstmitgefühl oder Mitgefühl in den Übungen eines MBSR-Kurses nicht explizit vermittelt wird (außer vielleicht in einer gelegentlichen Metta-Übung), ist die zutiefst herzerwärmende Auswirkung, sanfter und freundlicher mit sich selbst in Kontakt zu sein, auch im MBSR-Kurs transformierend. Und oft bleibt die Frage, wie diese Qualität der Herzenswärme weiterentwickelt werden kann. Für viele Menschen ist Mindfulness-Based Compassionate Living (MBCL) die Antwort. Die AutorInnen dieses Buches schreiben: „Wo Achtsamkeit unsere Sinne öffnet und einen klareren Blick und Einsichten bietet, öffnet Mitgefühl unser Herz und eröffnet einen Weg, uns auf das Leiden, dem wir begegnen, zu beziehen, ganz gleich wie groß oder klein es sein mag. … Tatsächlich können Achtsamkeit und Mitgefühl nicht getrennt werden. Sie sind wie zwei Seiten derselben Medaille oder die beiden Flügel eines Vogels.“

Ein Vogel kann mit einem Flügel leben, aber nicht fliegen. Wenn wir sowohl Achtsamkeit als auch Mitgefühl als Qualitäten entwickelt haben, die den Boden unseres Seins unterstützen, können wir uns mit Bewusstheit und Empfindsamkeit durchs Leben bewegen. Stark genug, um den Strömungen zu widerstehen, die an uns zerren, tief genug, dass unsere Wurzeln ganz weit nach unten reichen, um uns zu verankern. Und wie ein Baum, der in einem Sturm nicht fällt, weil er flexibel ist und sich mit dem Wind bewegt, ist Herzenswärme der Saft, der durch unsere Äste fließt. Ich bin Frits und Erik sehr dankbar, dass sie MBCL als ein Programm entwickelt haben, um ein „Leben mit Herz“ zu fördern. Ich möchte ihnen auch dafür danken, dass sie ausdrücklich lehren, wie wir Mitgefühl und Selbstmitgefühl in einer ausgewogenen Art und Weise, tief im wissenschaftlichen und auch im menschlichen Verständnis verwurzelt, praktizieren können. Jana und Christian – von Frits und Erik ausgebildet in MBCL und erfahren darin, das Programm in Deutschland zu VII

VIII

Vorwort von Linda Lehrhaupt

unterrichten – danke ich dafür, dass sie dieses Praxisbuch und all die Übungen darin so klar und ausführlich für den deutschsprachigen Raum überarbeitet und zusammengestellt haben. Dieses Buch stellt den theoretischen und wissenschaftlichen Hintergrund von MBCL in einer Weise dar, die leicht zugänglich, vielschichtig und faszinierend zu lesen ist. Die sorgfältig durchdachten Übungen (von denen einige von anderen Experten auf diesem Gebiet stammen und adaptiert wurden) werden durch Hintergrundinformationen ergänzt, die die Vorgehensweise von MBCL verdeutlichen. Ich persönlich finde es hilfreich, ein klares Verständnis dafür zu haben, warum ich etwas tue; gleichzeitig achten die AutorInnen darauf, keine Versprechungen zu machen, sondern Möglichkeiten aufzuzeigen. Das Buch ist sowohl für Menschen geeignet, die gerade an einem MBCLKurs teilnehmen, als auch für diejenigen, die ihn bereits abgeschlossen haben. Es ist aber auch möglich, das Programm im eigenen Tempo und Rhythmus in eigener Regie durchzuführen. Audioaufnahmen aller Übungen stehen zum Download bereit und die Übungstexte sowie weiteres Material, um den Kurs zu durchlaufen, befinden sich im Buch. Ich habe das Gefühl, jedes Mal, wenn ich in das Buch eintauche, eine Schatzkiste zu öffnen. Durch das ganze Buch hindurch hat man den Eindruck, dass die AutorInnen dieses Buches einem zur Seite stehen. Ihr gütiger und unterstützender Grundton weckt Neugierde und die Bereitschaft zum Ausprobieren. Ich habe das Gefühl, dass sie, was auch immer geschieht, da sind und mich ermutigen, freundlich zu mir selbst zu sein, mit realistischem Blick auf das, was möglich ist. Und dass sie meine Bemühungen Fortschritte zu machen, unterstützen, selbst wenn es so aussieht, als würde ich mich rückwärts bewegen. Ich habe selten ein Buch gelesen, bei dem ich spüren konnte, dass der Ton der AutorInnen selbst das Thema so tief verkörpert. Ein Mitgefühlstraining, ebenso wie ein Achtsamkeitstraining, beinhalten einige säkulare Anwendungen von Inhalten, Übungen und Erkenntnissen, die aus buddhistischen und anderen kontemplativen Traditionen stammen. MBCL greift auch auf andere zeitgenössische westliche Methoden und Quellen zurück. Frits und Erik haben beide eine langjährige Meditationspraxis und Frits ist Vipassana-Meditationslehrer. Beide können zudem auf eine lange Karriere im Gesundheitswesen zurückblicken und Erik ist als Psychiater auf dem Gebiet der psychischen Gesundheit auf achtsamkeitsbasierte und mitgefühlsfokussierte Ansätze spezialisiert. Im Hinblick auf beide denke ich an ein Zitat von Nadia Bolz Weber: „Man muss tief in der Tradition verwurzelt sein, um mit Integrität Innovationen hervorzubringen.“ MBCL und dieses Buch sind der beste Ausdruck dieses zutiefst weisen Gedankens. Ich wünsche Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, alles Gute auf Ihrer Reise, in der es darum geht, Mitgefühl zu erforschen und zu entdecken, wie es Ihr Leben bereichern kann. Mit diesem Buch haben Sie eine ausgezeichnete Landkarte und mit den AutorInnen vier wunderbar kompetente und herzliche Führer. Linda Lehrhaupt Leiterin Institut für Achtsamkeit

Vorwort von Mark Williams

Ich nehme an, er muss etwa drei Jahre alt gewesen sein. Er war mit seiner Mutter im Bus und saß auf einem Platz ein wenig vor mir, während der Berufsverkehr sich langsam den Headington Hill hinauf und aus Oxford City heraus bewegte. Er war abwechselnd lebhaft und still – einen Moment mit ihren Einkaufstaschen beschäftigt, im nächsten saß er auf ihrem Schoß und sah aus dem Fenster. Ich dachte darüber nach, dass dieses kleine Kind wahrscheinlich das Jahr 2100 erleben würde. Er wird dann älter als 80 Jahre sein. Bis dahin wird er ohne Zweifel etwas über Liebe und Verlust gelernt und seine kraftvollen und zerbrechlichen Seiten entdeckt haben. Und in all dieser Zeit, und besonders in Momenten der Verletzlichkeit, wird er nicht nur Menschen um sich herum benötigen, die liebevoll und mitfühlend sind, sondern er wird auch gelernt haben müssen, sanft zu sich selbst zu sein. Es war unmöglich, dieses kleine Kind anzusehen, ohne ihm alles Gute für sein Leben zu wünschen. Die AutorInnen dieses Buches beginnen damit, dass sie jeden von uns ermutigen, auf diese Weise über unser Leben nachzudenken: „Selbst diejenigen von uns, die einen guten Start ins Leben hatten und unter relativ friedlichen, günstigen Umständen aufgewachsen sind, werden früher oder später Schwierigkeiten begegnen. Wir alle sind mit einschneidenden und manchmal auch traumatischen Erlebnissen konfrontiert, erleben Verluste, unerfüllte Sehnsüchte, sind verwundbar und unterliegen den Gesetzen der Unbeständigkeit – ob wir es wollen oder nicht. Selbst wer sich in diesem Moment gut fühlt, weiß, dass er altern und sterben wird und schlussendlich verlieren wird, was ihm lieb ist. Diese Welt ist unbeständig, größtenteils unkontrollierbar und praktisch unvorhersehbar. … Genau hier beginnt das Mitgefühl. Wenn wir verstehen, dass Leid unvermeidlich ist, weil wir in einem nicht perfekten Körper leben, in einer nicht perfekten Welt, mit vielen anderen, die genauso unvollkommen sind, wie wir selbst. Mitgefühl ist darum kein Luxus, sondern eine grundlegende Notwendigkeit.“

Dies ist die grundlegende Aussage ihres wunderbaren Buches: Mitgefühl ist ein Grundbedürfnis. Doch wie sie betonen, ist es eine Herausforderung, Mitgefühl zu einem zentralen Wert in unserem Leben zu machen. Warum ist das so? Erstens ist Mitgefühl eine Herausforderung, weil es so offensichtlich und wichtig ist, dass wir uns vorstellen, dass wir bereits wissen, wie man mitfühlend ist. Wurde uns nicht von Eltern und Großeltern, von Priestern und Lehrern und von – naja, von jeder Zeitung oder Zeitschrift, die uns sagen will, was gut für uns ist – gesagt, IX

X

Vorwort von Mark Williams

dass es wichtig ist, freundlich, liebevoll und mitfühlend zu sein? Ist es nicht Teil der Gebote und Grundsätze der Religion und grundlegend für eine humanistische, immerwährende Philosophie? Aber was am offensichtlichsten und wichtigsten ist, ist jedoch nicht immer einfach oder unkompliziert. Mitgefühl mag herausfordernd sein, es kann jedoch nicht gefordert werden. Mitgefühl wird eher übertrieben gepredigt als übertrieben gelebt. Menschen zu sagen, dass sie lieben sollen, kann ihr Verhalten vorübergehend ändern, hat jedoch nur eine kurze Halbwertszeit. Wir brauchen einen anderen Blick darauf und dieses Buch nimmt uns an die Hand und führt uns sanft von der bloßen Idee des Mitgefühls zur Erfahrung des Mitgefühls. Zweitens ist Mitgefühl eine Herausforderung, denn während sich die meisten von uns der Notwendigkeit bewusst sind, liebevoll zu anderen zu sein, wird nur wenigen von uns jemals gezeigt, wie sie mitfühlend mit dem Wesen sein können, das wir „Ich“ nennen. Doch weshalb nur? Weil wir in der Idee gefangen sind, es sei ein egoistischer Selbstzweck diesen Körper und Geist zu lieben. Weil wir glauben, dass wir dieser Liebe unwürdig sind oder dass Selbstliebe nur etwas für die Schwachen ist. Also treiben wir uns immer härter und härter an, streben, bis wir erschöpft sind. Wir tun dies, obwohl sich unsere Lieben um uns sorgen und unsere Freunde es uns anders raten. Gefangen in ständigem „getriebenem Tun“ nehmen wir uns nicht die Zeit, uns zu nähren. So wie eine Metallfeder, die aus der Form gezogen wird und dadurch ihre Spannkraft verliert, werden auch wir aus unserer Form gezogen und verlieren unsere Fähigkeit, klar zu sehen und sensibel auf die Bedürfnisse des Augenblicks zu reagieren. Es erfordert Übung inmitten des Druckes, der auf uns einwirkt „unsere Form zu wahren“. Was können wir üben? Die AutorInnen zeigen, dass es praktische Wege gibt, Mitgefühl zu lernen, die über Hunderte von Jahren hinweg weiterentwickelt wurden. Sie stützen sich in ihrem Programm auf die jüngsten bahnbrechenden Arbeiten von Paul Gilbert, Barbara Fredrickson, Kristin Neff und Chris Germer, die sie zu dem von ihnen angebotenen Programm inspiriert haben. Die darin vorgestellten Übungen haben sich durch moderne Methoden klinischer Studien, Laborexperimente und Neurowissenschaften als effektiv und lebensverändernd erwiesen. Ihr Buch führt uns durch die Landschaft unseres alltäglichen Lebens und eröffnet neue Perspektiven. Es lädt uns ein zu lesen, dann zu reflektieren und dann zu üben. Es hilft uns, Schritt für Schritt zu erforschen, wie wir Lebensgewohnheiten in ihr Gegenteil verkehren und Mitgefühl entwickeln können, das in beide Richtungen fließt, nach außen zu anderen und nach innen, um den tiefsten Teil von uns selbst zu erfrischen und zu erneuern. In tiefer Dankbarkeit für die Arbeit von Frits, Erik, Jana und Christian empfehle ich Ihnen dieses Buch von Herzen. Mark Williams Emeritierter Professor der klinischen Psychologie der Universität von Oxford

Inhaltsverzeichnis

Danksagungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Vorwort von Linda Lehrhaupt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Vorwort von Mark Williams . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Einleitung & Grundlagen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Herzlich willkommen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Für wen ist dieses Buch gedacht?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Wie kannst du mit diesem Buch arbeiten?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Das Geschenk der Achtsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Die Achtsamkeitswelle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Achtsamkeit und Mitgefühl – Geist und Herz entwickeln. . . . . . . . . . . . . 8 Ergebnisse der Mitgefühlsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Wie Mindfulness-Based Compassionate Living (MBCL) entstand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Das MBCL 8-Wochenprogramm Modul 1: Die drei emotionalen Regulationssysteme (Alarm-, Antriebs- und Beruhigungssystem). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Es ist nicht immer leicht, ein Mensch zu sein. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Übung: Atemraum mit Freundlichkeit (M1_01). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Das menschliche Gehirn ist nicht perfekt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Drei emotionale Regulationssysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Die drei emotionalen Regulationssysteme in deinem Leben . . . . . . . . . . . 29 Weshalb es wichtig ist, das Beruhigungssystem zu nähren . . . . . . . . . . . . 30 Übung: Ein sicherer Ort (M1_02). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Übung: Freundlichkeitsmeditation – für dich selbst (M1_03). . . . . . . . . . 34 Wie wir unser Beruhigungssystem nähren können. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Übung: Ein Genussspaziergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Tagebuch: Beruhigungssystem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Elektronisches Zusatzmaterial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

XI

XII

Inhaltsverzeichnis

Modul 2: Stressreaktionen und Selbstmitgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Innere Landschaften entdecken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Übung: Mitfühlend mit Widerstand umgehen (M2_04). . . . . . . . . . . . . . . 42 Äußere und innere Bedrohungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Selbstmitgefühl als Heilmittel bei emotionalem Schmerz. . . . . . . . . . . . . 47 Übung: Die Selbstmitgefühls-Erinnerung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Übung: Atemraum mit Mitgefühl bei emotionalem Schmerz (M2_05). . . 49 Tend & befriend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Wer Gutes sät, wird Gutes ernten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Wege zum Selbstmitgefühl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Übung: Eine Hand auf dem Herzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Kann Selbstmitgefühl auch schmerzhaft sein?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Hindernisse in der Übungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 „Stell´dir vor“ – das Vorstellungsvermögen als Hilfsmittel. . . . . . . . . . . . 63 Übung: Ein mitfühlender Gefährte (M2_06) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Übung: Freundlichkeitsmeditation – für einen Wohltäter (M2_07). . . . . . 67 Tagebuch: Alarmsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Elektronisches Zusatzmaterial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Modul 3: Verlangen und Muster verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Übung: Mitfühlend mit Verlangen umgehen (M3_08). . . . . . . . . . . . . . . . 71 Auf der Welle des Verlangens surfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Wo kommt dieser Hunger her?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Gewohnheiten und Muster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Welcher Modus herrscht vor?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Uns mit dem inneren Kritiker anfreunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Soziale Emotionen als Boten verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Töte den Boten nicht!. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Mitfühlend mit inneren Mustern umgehen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Teil 1: Innere Muster erforschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Teil 2, Übung: Mitfühlend mit inneren Mustern umgehen (M3_09). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Komfortzonen ohne Komfort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Tragischen Helden mit Mitgefühl begegnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Neue Wege entdecken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Übung: Freundlichkeitsmeditation – für einen guten Freund (M3_10). . . 92 Tagebuch: Antriebssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Elektronisches Zusatzmaterial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Modul 4: Mitgefühl verkörpern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Übung: Mitgefühl fließt in alle Richtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Übung: Mitgefühl verkörpern/der Mitgefühlsmodus (M4_11) . . . . . . . . . 100 Der Lotus des Mitgefühls. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Den inneren Helfer nähren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

Inhaltsverzeichnis

XIII

Übung: Freundlichkeitsmeditation – für eine neutrale Person (M4_12). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Übung: Freundlichkeit für den Körper (M4_13) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Achtsame Bewegungsübungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Übung: Gehen mit Freundlichkeit (M4_14). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Tagebuch: Innerer Kritiker. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Elektronisches Zusatzmaterial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Modul 5: Selbst und andere – den Kreis des Mitgefühls erweitern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Übung: Ein mitfühlender Brief. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Womit identifizierst du dich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Übung: Freundlichkeitsmeditation – für eine „schwierige“ Person (M5_15). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Freundlichkeit anderen gegenüber entwickeln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Herausforderungen in der Freundlichkeitsmeditation . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Übung: Mitfühlend atmen – eine Alternative ohne Worte . . . . . . . . . . . . . 131 Übung: Mitfühlend atmen – für dich selbst (M5_16). . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Emotionale Resilienzimpfung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Übung: Mitfühlend atmen – für andere (M5_17). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Übung: Atemraum mit „Mitfühlendem Atmen“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Tagebuch: Innerer Helfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Elektronisches Zusatzmaterial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Modul 6: Glück nähren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Glück nähren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Übung: Genuss erinnern und auskosten (M6_18). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Drei Wege zum Glück. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Vier Lebensfreunde. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Bereitschaft zur Vergebung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Übung: Dir selbst verzeihen (M6_19) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Übung: Um Verzeihung bitten (M6_20). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Übung: Anderen verzeihen (M6_21) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Dankbarkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Übung: Lotus aus dem Schlamm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Was ist dir wirklich wichtig im Leben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Übung: Wissen was zählt – deine Werte entdecken . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Deine Werte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Übung: Freundlichkeitsmeditation – für alle Wesen (M6_22). . . . . . . . . . 165 Tagebuch: Mitgefühl annehmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Extra Modul in Stille. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Übung: Body-Scan mit Dankbarkeit (M6_23). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Übung: Sitzen wie ein Pferdeflüsterer (M6_24) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Elektronisches Zusatzmaterial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174

XIV

Inhaltsverzeichnis

Modul 7: Weisheit und Mitgefühl im Alltag. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Übung: Ein Tag in deinem Leben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Übung: Was nährt, was zehrt?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Von formaler zu informeller Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Übung: Atemraum für weises und mitfühlendes Handeln . . . . . . . . . . . . . 181 Weise und mitfühlend handeln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Praktische Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Übung: Gleichmut (M7_25). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Vom Winde verweht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Übung: Mitfreude (M7_26) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Übung: Ein mitfühlender Frühwarnplan. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Tagebuch: Mitgefühl schenken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Elektronisches Zusatzmaterial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Modul 8: Das Leben heilen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Verwundete Heiler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Übung: Der Fluss des Lebens (M8_27) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Rückblick & Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Den inneren Garten pflegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Und wie geht es weiter?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Elektronisches Zusatzmaterial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Anhang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Übersicht der Übungen mit Audio-Dateien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Liste der Arbeitsblätter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Das MBCL-Curriculum im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 Regelmäßige Praxis und Übungen bei Bedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Weitere Informationen zum Lesen, Hören und Surfen. . . . . . . . . . . . . . . . 213 Appendix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Übung: Atemmeditation (G_01). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Übung: Body-Scan (G_02). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Elektronisches Zusatzmaterial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Stichwortverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

Über die Autoren

Christian Stocker besaß bereits langjährige internationale Erfahrung als Diplom Kommunikationsdesigner, Creative Director, Texter und Konzeptioner, als er 2005 mit Achtsamkeit und Meditation in Berührung kam. Die intensive Achtsamkeitspraxis veränderte seither sein Leben tiefgreifend. Umfassende Weiterbildungen in MBSR (Mindfulness-Based Stress Reduction), MBCL (Mindfulness-Based Compassionate Living), GfK (Gewaltfreier Kommunikation), Hypnosystemischem Coaching und Klinischer Hypnose verbinden sich heute in seiner Person auf ungewöhnliche Art und Weise und dienen ihm als Basis für inspirierende Ideen und Impulse in seiner Tätigkeit als Berater, Trainer und Coach. Siehe auch www.abenteuer-achtsamkeit.de und www.mitge­fuehlspraxis.de. Jana Willms ist Diplom Psychologin, Heilpraktikerin für Psychotherapie und Physiotherapeutin. Im Jahr 2000 hat sie die Achtsamkeits- und Mitgefühlspraxis kennengelernt, die sie seitdem durch ihren Lebensalltag begleitet. Seit 2008 ist sie zertifizierte MBSR-Lehrerin (Mindfulness-Based Stress Reduction) und ausgebildet in MBCT (Mindfulness-Based Cognitive Therapy) und MBCL (Mindfulness-Based Compassionate Living). Gemeinsam mit Frits Koster und Erik van den Brink unterrichtet sie als Dozentin in der MBCL-Weiterbildung am Institut für Achtsamkeit und Stressbewältigung (IAS) von Dr. Linda Lehrhaupt. Dort ist sie auch Supervisorin für MBCL und MBSR. Siehe auch www.achtsamkeit-willms.de.

XV

XVI

Über die Autoren

Frits Koster  ist Lehrer für Vipassana Meditation, die er seit 1979 praktiziert. Von 1983–1993 lebte er als Buddhistischer Mönch vor allem in Thailand und Burma, wo er auch ein intensives Studium der Buddhistischen Psychologie abgeschlossen hat. Nach einer Ausbildung zum Psychatriepfleger arbeitet er seit 1994 im Gesundheitswesen in den Niederlanden. Er leitet Meditations-Retreats in Europa und ist Dozent beim Institut für Achtsamkeit und Stressbewältigung (IAS) in Deutschland und bei anderen internationalen Ausbildungsinstituten. Frits unterrichtet zudem das 8-wöchige „Training für Interpersonelle Achtsamkeit“. Er ist Autor mehrerer Bücher, u. a. „Liberating Insight“ und „The Web of Buddhist Wisdom“ (Silkwormbooks). Er ist Co-Autor (mit Erik van den Brink) von „Mitfühlend leben“ (Kösel 2013). Siehe auch www.compassionateliving.info. Erik van den Brink ist Psychiater und Psychotherapeut sowie Trainer für Achtsamkeits- und Mitgefühlspraxis. Er hat eine langjährige Meditationspraxis in Zen und Vipassana und ist von führenden Lehrern in MBSR, MBCT, Interpersonal Mindfulness, Acceptance and Commitment Therapy and Compassion Focused Therapy ausgebildet. Er hat mehr als 30 Jahre Erfahrung in der ambulanten Psychiatrie und leitete unter anderem eine Poliklinik für Patienten mit Stimmungserkrankungen in Groningen/Niederlande, wo er Pionier war MBSR/MBCT in die Behandlung einzuführen. Er war Mitbegründer des Zentrums für Integrative Psychiatrie in Groningen, und arbeitet jetzt in eigener Praxis und in der Psychoonkologie. Er hat sich spezialisiert in achtsamkeits- und mitgefühlsbasierte Ansätze für die seelische Gesundheit und doziert im internationalen Bereich. Mit Frits Koster entwickelte er das MBCL-Programm und zusammen schrieben sie u. a. „Mindfulness-Based Compassionate Living – A new training programme to deepen mindfulness with heartfulness“ (Routledge 2015). Siehe auch www.mbcl.org.

Einleitung & Grundlagen

Herzlich willkommen Das Herz ist der Schlüssel der Welt und des Lebens. (Novalis)

Wie schön, dass Sie hier sind! Dieses Buch (oder eBook) hat den Weg in Ihre Hände gefunden – vielleicht nicht zufällig, sondern aus guten Gründen? Möglicherweise hat Ihnen jemand diese Lektüre empfohlen? Oder Sie dachten, es wäre eigentlich gut, sich selbst oder anderen etwas mitfühlender zu begegnen? Oder die Balance zu finden, zwischen Selbstfürsorge und dem „Sich-kümmern“ um andere? Vielleicht haben Sie auch das Bedürfnis gespürt, einen gesünderen Weg zu finden, mit den Schwierigkeiten des Lebens umzugehen? Oder Sie möchten einfach ein sinnerfüllteres Leben führen? All das sind gute Gründe, weiter zu lesen. Es kann sein, dass Ihnen die Praxis der Achtsamkeit schon lange vertraut ist, vielleicht haben Sie sie auch erst kürzlich kennengelernt. Für den Fall, dass Sie Ihr Gedächtnis auffrischen möchten, finden Sie im ersten Teil dieses Buches ein paar kurze Erläuterungen dazu. Das komplette Trainingsprogramm „Mindfulness-Based Compassionate Living“ (MBCL) finden Sie im zweiten Teil des Buches. Im Anhang erwarten Sie dann viele ergänzende Informationen und Arbeitsmaterialien. Ein paar Worte zur Ansprache Ganz gleich, ob Sie sich nun für einen MBCL-Kurs angemeldet haben und parallel dazu die folgenden Kapitel lesen oder in eigener Regie mit diesem Praxisbuch üben: wir werden in den kommenden Wochen intensiv, innig und auf einer persönlichen Ebene miteinander üben und arbeiten! Deshalb haben wir uns entschlossen, das sogenannte „Arbeits-Du“ in diesem Buch als Ansprache zu wählen. Es verpflichtet Sie zu nichts und kann, wenn gewünscht, nach dem Training auch gedanklich wieder in ein „Sie“ zurückverwandelt werden. Allerdings werden Sie vielleicht bemerken, dass das „Du“, das wir im Buch und auch bei den Übungen verwenden, die Sie als MP3 herunterladen können, nicht nur zwischen uns mehr © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Stocker et al., Mitgefühl üben, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26824-4_1

1

2

Einleitung & Grundlagen

Nähe ­ermöglicht. Auch Sie selbst werden sich wahrscheinlich im Laufe des Trainings dadurch etwas näherkommen. Und wenn Sie sich selbst mit mehr Freundlichkeit und Milde begegnen, ebnet das oft auch den Weg zu mehr Nähe mit anderen. Um das Praxisbuch leicht lesbar zu halten, haben wir meist die männliche Sprachform gewählt. Immer wenn jedoch z. B. von „mitfühlenden Gefährten“, „Wohltätern“, „Pferdeflüsterern“ die Rede ist, sind damit selbstverständlich auch deren weibliche Vertreterinnen gemeint. Wir hoffen, dass die Themen und Übungen in diesem Buch Ihr bzw. dein Herz berühren und Wärme und Verbundenheit fördern. Und wir wünschen Ihnen bzw. dir von ganzem Herzen Freude, Leichtigkeit und berührende Einsichten beim Lesen und Praktizieren. Christian, Jana, Frits & Erik

Für wen ist dieses Buch gedacht? Das Gefühl, im Stress zu sein oder die Angewohnheit, streng oder hart über sich selbst zu urteilen, wenn es einmal nicht so glatt läuft im Leben, ist etwas, das viele Menschen kennen. Deshalb kann das MBCL-Programm, das ursprünglichen für die Anwendung im klinischen Feld entwickelt wurde, auch in vielen anderen Bereichen als hilfreich erlebt werden, beispielsweise für Menschen im Gesundheits- oder Erziehungswesen, im Coaching-Bereich, in der Seelsorge, im Management und generell im Arbeitsumfeld. Vielleicht spürst du auch, wie schwer es oft ist, die vielfältigen Herausforderungen, Bedrohungen und Ablenkungen unserer modernen Welt zu bewältigen. Dann bist du nicht alleine damit. Viele Menschen leiden unter gesundheitlichen Problemen, die durch Stress verursacht werden, wie zum Beispiel Erschöpfung, Schlafstörungen, Ängsten oder Schmerzzuständen. Und wie oft verleiten uns die Umstände dazu, unsere tiefsten Bedürfnisse und das, was uns eigentlich im Leben wertvoll ist, zu vernachlässigen. MBCL kann hilfreich für dich sein, wenn du … • … Wege suchst, klüger und mitfühlender mit dem unvermeidlichen Stress im Leben umzugehen. • … die Praxis der Achtsamkeit vertiefen möchtest. • … eine gesündere Balance zwischen Selbstfürsorge und Fürsorge für andere suchst. • … nachhaltige Ansätze kennenlernen möchtest, um mehr Freundlichkeit, Glück, Gesundheit und Harmonie im Beruflichen und Privaten, in Beziehungen und in der gesamten Welt zu kultivieren. • … wissenschaftlich fundierte Übungspraktiken erlernen möchtest, die für Menschen mit unterschiedlichstem Hintergrund geeignet sind. Erkennst du dich in einem oder mehreren dieser Punkte wieder? Hast du bereits erste Erfahrungen mit grundlegenden Achtsamkeitsübungen sammeln können, z. B. in einem MBSR-, MBCT-, Breathworks-Kurs oder ähnlichen Programmen? Dann kann dich das MBCL-Programm dabei unterstützen, deine Praxis zu ver-

Wie kannst du mit diesem Buch arbeiten?

3

tiefen und mehr Verbundenheit, Wärme, Sicherheit und Akzeptanz mit dir selbst und anderen zu erfahren. Jetzt, zu Beginn, möchten wir dich einladen zu reflektieren, was du dir von der Teilnahme an einem MBCL-Kurs oder der selbständigen Arbeit mit diesem Buch wünschst. Du kannst dafür in einem ruhigen Moment die nachfolgenden Fragen lesen und spüren, was sie in dir berühren. Weshalb genau möchtest du an einem MBCL-Kurs teilnehmen oder dich in eigener Regie durch dieses Buch arbeiten?

Reflexionsfragen (aus dem Arbeitsblatt 0.1 „Gewünschte Entwicklungen“)

Welche positiven Entwicklungen wünschst du dir durch die Teilnahme an diesem Mitgefühlstraining? Was soll sich dadurch hoffentlich verändern in Bezug auf … • … deine Beziehung zu dir selbst? • … deine Beziehung zu anderen (Familienmitglieder, Freunde und Freundinnen, Kolleginnen und Kollegen etc.)? • … deinen Umgang mit aktuellen Herausforderungen und Schwierigkeiten in deinem Leben? • … dein Engagement in anderen Bereichen deines Lebens, die dir wichtig sind (z. B. Bildung und Beruf, Freizeit, Gesundheit und Lebensführung, soziales Engagement, Natur und Spiritualität)? • … deine Orientierung an für dich zentralen kurz-, mittel- oder langfristigen Lebenszielen? • … deinen Umgang mit zukünftigen Herausforderungen in deinem Leben?

Wie kannst du mit diesem Buch arbeiten? Wenn du an einem MBCL-Kurs teilnimmst wird deine MBCL-Lehrerin oder dein MBCL-Lehrer dich durch das Curriculum dieses mehrwöchigen Trainings leiten. Dann kannst du dieses Buch kursbegleitend nutzen, denn die acht Module im Teil II dieses Buches entsprechen den Inhalten der acht Kurseinheiten. Vielleicht möchtest du dieses Buch auch nutzen, um in eigener Regie Mitgefühl zu üben. Dann empfehlen wir dir, es in „Häppchen“ zu lesen und dir deine Zeit zu nehmen, um die Übungen und Inhalte jeden Moduls zu erkunden und Erfahrungen damit zu sammeln. Es ist hilfreich, täglich etwa 45–60 min Übungszeit einzuplanen. Und je nachdem wie viel Übungszeit du dir im Alltag nehmen kannst, ist es vielleicht auch schön, dir für jedes Modul nicht nur eine, sondern zwei oder auch drei Wochen Zeit zu nehmen. Eine Zusammenfassung der wichtigsten Themen und Inhalte sowie eine Übersicht über die Übungsvorschläge findest du jeweils am Ende jedes Moduls.

4

Einleitung & Grundlagen

Dateien zum Herunterladen Wie Edel Maex in seinem Buch „Mindfulness“1 so schön sagt: „Noch niemand hat je Klavier spielen gelernt, indem er ein Buch darüber las.“ Das Herzstück dieses Buches sind deshalb die praktischen Übungen, die dir Raum für die eigene Erfahrung ermöglichen. In den acht MBCL-Modulen gibt es insgesamt 28 angeleitete Übungen. In den einzelnen Kapiteln findest du die jeweiligen Texte der Übungen hellblau hinterlegt. Du kannst dir die betreffende Übung auch jeweils unter https://www.springer.com/ de/book/9783658268237 als MP3-Audiodatei herunterladen. Die Nummerierung der Übungen im Buch stimmt mit der der Audiodateien überein. Sie zeigt dir zum einen an, aus welchem Modul (M) die Übung stammt und zum anderen, welcher Nummer die betreffende Übung hat, beispielsweise M1_01, M4_13 oder M8_27. Die Audiodateien können dir dabei helfen, dich mit den Übungen vertraut zu machen und werden von vielen Teilnehmenden als große Unterstützung beim täglichen üben empfunden. Wenn du jedoch irgendwann spürst, dass du lieber ohne die Stimme praktizieren möchtest, fühle dich frei, dem zu folgen und deinen eigenen Weg zu entdecken. Vielleicht möchtest du ja zu einem späteren Zeitpunkt wieder zu den Aufnahmen zurückkehren. Zu einigen der MBCL-Übungen gehört ein Arbeitsblatt mit Fragen, die dich dabei unterstützen können, deine Erfahrungen während der Übung zu reflektieren. Und auch sie sind entsprechend der Module durchnummeriert (z. B. 1.1, 1.2, 1.3, und 2.1, 2.2, 2.3, usw.) Du kannst sie unter https://www.springer.com/de/ book/9783658268237 herunterladen. Die Fragen aus diesen Arbeitsblättern finden sich meist auch hier im Buch wieder, sie sind immer entsprechend gekennzeichnet. Formale und informelle Übungen Im MBCL-Kurs und auch in diesem Praxisbuch unterscheiden wir zwischen formalen und informellen Übungen. Wenn du schon Erfahrungen mit dem Üben von Achtsamkeit gesammelt hast, kennst du diese Unterscheidung vermutlich und hast dir vielleicht auch schon einmal einen schönen Platz für die formale Praxis eingerichtet, der dich förmlich dazu einlädt, dich niederzulassen. Die informellen Übungen praktizieren wir inmitten unseres Alltags und brauchen dafür oft noch nicht einmal unsere alltäglichen Verrichtungen zu unterbrechen. Hindernisse in der Übungspraxis Jeder, der schon einmal meditiert hat, weiß, dass Erfahrungen wie Trägheit, Unruhe, Widerstand, Verlangen oder Zweifel unausweichlich zur Praxis dazugehören. Wir interpretieren solche Erfahrungen oft als Störungen oder Hindernisse in der Praxis. Im MBCL betrachten wir sie jedoch eher als wertvolle Möglichkeiten für Wachstum und Entwicklung.

1Maex E (2009) Mindfulness – Der achtsame Weg durch die Turbulenzen des Lebens. Arbor Verlag, Freiamt im Schwarzwald.

Wie kannst du mit diesem Buch arbeiten?

5

Bei den MBCL-Übungen wirst du in manchen Momenten Ruhe, Freude oder Berührung erfahren. In anderen erlebst du vielleicht Frustration, Langeweile oder Traurigkeit. Wenn eine Erfahrung eher unangenehm scheint, ist es völlig normal und menschlich, dass wir sie zunächst einmal „weghaben“ wollen. In solchen Momenten kannst du dir bewusst machen, dass es keine „falschen“ Erfahrungen gibt, und dass wir gerade in solchen leidvollen Momenten die Möglichkeit haben, unser Herz mutig dafür zu öffnen und zu üben, sanft und mitfühlend mit diesem Kummer in Kontakt zu sein. Manche Lehrerinnen und Lehrer bezeichnen leidvolle Erfahrungen daher auch als „Tür“ zu einem offenen, mitfühlenden Herzen. Und wenn du beim Üben den Eindruck hast, dass eine Erfahrung überwältigend für dich ist, kannst du jederzeit wieder einen heilsamen Abstand schaffen, indem du achtsam und nicht-urteilend bemerkst, was von Moment zu Moment geschieht. Fühle dich eingeladen freundlich und milde mit dir zu sein und etwas Tempo heraus zu nehmen, wenn dir die Geschwindigkeit des Kurses zu schnell erscheint. Gönne dir die Zeit, die du brauchst, um das zu verdauen, was in den einzelnen Übungen auftaucht. Jederzeit kannst du zu den dir bereits bekannten Achtsamkeitsübungen zurückkehren und z. B. wieder Body-Scan, Yoga, Geh- oder Sitzmeditation praktizieren. Die Übungsvorschläge in diesem Buch sind keine „Hausaufgaben“, die es zu erledigen gilt, sondern eher Einladungen, um zu experimentieren und neue Erfahrungen zu sammeln. Im Vergleich zum MBSR-Kurs ist das „MBCL-ÜbungsBüffet“ noch reichhaltiger gedeckt. Und so, wie du bei einem Büffet nicht alle Speisen essen musst, kannst du dich auch hier frei fühlen in deiner Auswahl. Je nachdem wie hilfreich einzelne Übungen für dich sind, kannst du sie häufiger bzw. seltener praktizieren. In deiner Auswahl der Übungspraktiken Freundlichkeit walten zu lassen, kann dich darin unterstützen, Mitgefühl zu entwickeln. Im Anhang findest du verschiedene Übersichten über die Übungen, um dir die Orientierung zu erleichtern. Zusätzliche Unterstützung Wenn du derzeit unter großem emotionalem Stress stehst oder Probleme mit deiner psychischen Gesundheit hast, möchten wir dir ans Herz legen, dir zusätzliche professionelle Unterstützung zu suchen. Weder ein MBCL-Kurs noch dieses Praxisbuch können eine Therapie ersetzen. Wenn du dich gerade in therapeutischer Begleitung befindest ist es hilfreich und ratsam, mit deiner Therapeutin oder deinem Therapeuten zu besprechen, dass du einen MBCL-Kurs machst oder machen möchtest, bzw. dass du mit diesem Buch arbeitest. Mitgefühl mit dir selbst und anderen zu üben ist kein Allheilmittel und auch kein Zaubertrick, der Schwierigkeiten verschwinden lässt. Doch es kann dich darin unterstützen, Verantwortung für dich zu übernehmen und dir selbst zu helfen. Dafür ist es wichtig, deinem eigenen inneren Erleben zu vertrauen. Es wird dir zeigen, welche Übungen eher hilfreich bzw. nicht hilfreich für dich sind um mit den Herausforderungen des Lebens auf hilfreiche Weise umzugehen.

Einleitung & Grundlagen

6

Wenn du in Eigenregie mit diesem Buch arbeitest, bemerkst du vielleicht irgendwann, dass dir der Austausch mit anderen fehlt. Dann kann es schön sein, einen oder mehrere Menschen aus deinem Freundes- oder Bekanntenkreis zu finden, dieses Training gemeinsam durchzuführen und euch über eure Erfahrungen auszutauschen. Wenn du jetzt oder später den Wunsch nach einem MBCL-Kurs unter der Leitung einer zertifizierten MBCL-Lehrerin oder eines -Lehrers verspürst, findest du am Ende dieses Buches Quellen, um Kurse und MBCL-Lehrende zu finden. Bist du bereit, den Weg, den du bereits mit deiner Achtsamkeitspraxis eingeschlagen hast, durch Mitgefühlspraxis zu vertiefen? Wenn ja, heißen wir dich herzlich willkommen und hoffen, dass dieses Praxisbuch dich auf hilfreiche Weise auf deinem Weg begleiten kann. Möge es zu mehr Leichtigkeit, Glück und Weisheit in deinem Leben beitragen.

Das Geschenk der Achtsamkeit Nur der Tag bricht an, für den wir wach sind. (Henry David Thoreau)

Achtsamkeit ist viel einfacher zu erleben als zu erklären. Deshalb ist häufig eine der ersten Übungen eines Achtsamkeitskurses eine Rosine mit allen Sinnen zu untersuchen und zu essen. Manche Achtsamkeitstrainer werden dich zu Beginn dieser Übung bitten, dir vorzustellen, du seist gerade von einem fernen Planeten in einer anderen Galaxie angereist und auf der Erde gelandet und hättest noch nie eines dieser komischen, faltigen, kleinen braunen Dinger gesehen. So versuchst du also – so gut dies möglich ist – all deine Vorstellungen und Meinungen über Rosinen loszulassen. Das Betrachten, Fühlen, Hören, Riechen, Schmecken dieses Objekts wird dann auf magische Weise zu völlig neuen Erfahrungen. Vielleicht wirst du sogar überrascht sein zu entdecken, dass, obwohl du bislang überzeugt warst, dass du getrocknete Trauben nicht magst, diese lecker oder zumindest nicht ganz so schlecht schmeckend sind, wie du es erwartet hattest. Für einen Moment lässt du deine Vorurteile los und nimmst Kontakt mit deiner direkten Erfahrung auf. Das ist genau das, was Achtsamkeit ist: unsere aktuelle Erfahrung zu beobachten, wie sie sich von Moment zu Moment entfaltet, mit freundlicher Neugierde und einem offenen, nicht urteilenden Geist. Ähnlich lautet auch die „Arbeitsdefinition“ von Achtsamkeit, wie sie Jon Kabat-Zinn, der Begründer des MBSR-Programms, formuliert hat: Achtsamkeit ist, die Aufmerksamkeit absichtlich auf den gegenwärtigen Moment zu richten, ohne (automatisch) zu bewerten. Achtsamkeit kann als eine große Freundin im Leben angesehen werden, da sie unser Bewusstsein für das Leben, wie es ist, öffnet. Wenn wir unsere Sinne öffnen, werden wir uns der natürlichen Schönheit um uns herum bewusst: das Singen eines Vogels, das Aroma von frisch gebrühtem Kaffee oder die freundliche Geste eines Mitreisenden neben uns in der Bahn. Schön und gut in den angenehmen Momenten des Lebens, denkst du jetzt möglicherweise. Aber was ist, wenn mir

Das Geschenk der Achtsamkeit

7

das Leben Schmerz und Kummer bereitet? Was ist, wenn ich den Bus verpasse, die Spülmaschine kaputt geht und die Küche überflutet oder der Hund krank ist? Oder noch schlimmer, wenn ich meinen Job verliere, meine Beziehung in die Brüche geht oder ich eine Krebsdiagnose erhalte? Warum um alles in der Welt sollte ich mir dieser Momente noch bewusster sein wollen? Wenn wir klarer sehen, was in solchen Momenten vor sich geht und uns selbst besser verstehen, unterstützt uns das darin, diese Herausforderungen besser zu bewältigen. Das Leben an sich ist oft nicht leicht und unsere automatischen Reaktionen auf das, was geschieht, verstärken unser Leid oft noch zusätzlich. Achtsamkeit eröffnet uns die Wahl, ob wir genau diesen gewohnheitsmäßigen Reaktionen folgen, oder auf heilsamere Weise auf die vielfältigen Herausforderungen des Lebens finden möchten. Wenn wir Achtsamkeit üben, entwickeln wir mehr Bewusstheit für unsere äußere und innere Welt. Wir kommen sozusagen „zu Sinnen“ und sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen klarer und deutlicher. Und neben diesen Reizen aus der äußeren Welt werden wir uns auch unserer Körperempfindungen sowie unserer Gedanken und Gefühle deutlicher bewusst. Wenn du noch nicht so viel Erfahrung mit der Achtsamkeitspraxis gesammelt hast oder nach längerer Pause wieder mit dem Üben beginnen möchtest, kann es hilfreich sein, zunächst noch einmal zwei grundlegende Achtsamkeitsübungen zu praktizieren: die Atemmeditation und den Body-Scan. Die Skripte zu diesen beiden Übungen findest du im Appendix im Anhang. Als Bonus-Material kannst du dir dazu auch Audio-Dateien unter https://www.springer.com/de/book/9783658268237… herunterladen. Im Achtsamkeitstraining üben und vertiefen wir diese Praxis des freundlichen Beobachtens, indem wir die eigenen Gedanken und Emotionen wahrnehmen, anstatt uns in sie zu verwickeln. Wir können so verborgene Landschaften aus Empfindungen, Gefühlen und Gedanken entdecken, die unter der Oberfläche brodeln. Es kann erstaunlich sein zu bemerken, dass diese – obwohl wir uns ihrer meist nicht bewusst waren – doch unser Verhalten auf unterschiedliche nicht hilfreiche Arten beeinflusst haben. Die Wirkmechanismen dieser verborgenen Landschaften zu erkennen kann uns helfen, unseren Lebensweg auf eine geschicktere Art und Weise zu beschreiten. Es ist daher nicht verwunderlich, dass es inzwischen viele erfolgreiche Achtsamkeitstrainingsprogramme und Online-Angebote für Einsteiger gibt. Das MBCL-Training ist – wie bereits gesagt – als Vertiefungskurs nach einem Achtsamkeitstraining konzipiert. Die beiden oben genannten Übungen, die AudioDateien und die Skripte im Anhang sind als Wiedereinstieg oder Auffrischung dieser Praxis gedacht und können natürlich kein grundlegendes Achtsamkeitstraining ersetzen. Wenn du noch keinen MBSR-Kurs absolviert hast oder durch die Anregungen und Übungen in diesem Grundlagenkapitel dein Interesse an einem solchen Achtsamkeitstraining geweckt wurde, findest du unter www.mbsr-verband.de (und www.mbsr-verband.ch, www.mbsr-mbct.at für die Schweiz und Österreich) qualifizierte MBSR-Kursleiterinnen und -Kursleiter in deiner Umgebung. Diese können dir auch bei Fragen rund um die Achtsamkeitspraxis weiterhelfen.

8

Einleitung & Grundlagen

Eine Liste von empfehlenswerten Büchern zum Thema Achtsamkeit und MBSR findest du ebenfalls im Anhang dieses Buches.

Die Achtsamkeitswelle Die Achtsamkeitswelle begann Ende der 70er Jahre, als Jon Kabat-Zinn das Programm „Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR)“ an der University of Massachusetts Medical Center entwickelte.2 Sein Hintergrund als erfahrener Praktizierender traditioneller Meditationsformen und Molekularbiologe war eine ideale Voraussetzung, um östliche Lehren mit westlichen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu verbinden. Er führte den achtwöchigen Kurs mit Patienten durch, die an schwer zu behandelnden Erkrankungen, chronischen Schmerzen, anhaltenden körperlichen Einschränkungen oder schlechten Heilungsaussichten litten. Dieses Training half ihnen häufig, ihre Belastungen, Schmerzen und Unannehmlichkeiten besser zu bewältigen, auch wenn ihre Krankheiten nicht geheilt werden konnten. Es ist daher nicht überraschend, dass Achtsamkeitstrainingsprogramme inzwischen auf der ganzen Welt angeboten werden, wo immer Menschen Stress erleben, nicht nur in Krankenhäusern und im Gesundheitswesen, sondern z. B. auch in Schulen und in Unternehmen. So kann auch dort mehr Wohlbefinden entstehen und eine bessere Stressbewältigung geübt werden, was zur Prävention von stressbedingten Gesundheitsgefahren und Burn-out beiträgt. Aufbauend auf MBSR wurden spezifischere, auf Achtsamkeit basierende Programme für Menschen mit besonderen Problemen entwickelt, wie z. B. Mindfulness-Based Cognitive Therapy (MBCT) für Menschen, die für Depressionen anfällig sind3. Es kann einen großen Unterschied machen und sehr entlastend sein, die eigenen Gedanken als reine Gedanken statt als unerschütterliche Wahrheiten zu sehen, insbesondere jene negativen inneren Kommentare und harten Selbstverurteilungen, die so überzeugend erscheinen, wenn Menschen sich depressiv erleben. Achtsamkeit bringt nicht nur mehr Bewusstsein, sie öffnet uns auch einen Weg, uns selbst freundlicher zu begegnen.

Achtsamkeit und Mitgefühl – Geist und Herz entwickeln Wo Achtsamkeit unsere Sinne öffnet und einen klareren Blick und Einsichten ermöglicht, weitet Mitgefühl unser Herz und eröffnet einen Weg, uns auf das Leiden, dem wir begegnen, zu beziehen, ganz gleich wie groß oder klein es sein mag (Abb. 1).

2Kabat-Zinn

J (1991) Full catastrophe living: How to cope with stress, pain and illness using mindfulness meditation. Dell, New York. 3Segal S V, Williams J M G & Teasdale J D (2013) Mindfulness-based cognitive therapy for depression: A new approach to preventing relapse. Guilford Press, New York.

Achtsamkeit und Mitgefühl – Geist und Herz entwickeln

9

Abb. 1  Chinesisches Schriftzeichen für „Achtsamkeit“.

Das chinesische Schriftzeichen für Achtsamkeit setzt sich aus zwei Worten zusammen, für die wir im Westen drei Worte für die Übersetzung benötigen. Jetzt:  d er obere Teil des Schriftzeichens steht für „Jetzt“, also das präsent sein im jetzigen Moment. Geist:  der untere Teil steht einerseits für „Geist“, also unsere Fähigkeit, klar hinzuschauen und etwas zu erkennen. Herz:  Andererseits bedeutet er auch „Herz“. Es ist die Qualität, die dieses Hinschauen hat, nämlich eine freundliche und annehmende. Man kann Herz und Geist nicht trennen und tatsächlich können auch Achtsamkeit und Mitgefühl nicht getrennt werden. Sie sind wie zwei Seiten derselben Medaille oder die beiden Flügel eines Vogels. Wenn die Bewohner dieses fernen Planeten ihre Rosinen in der ersten Sitzung des Achtsamkeitstrainings schmecken, werden ihre Gedanken zwangsläufig abschweifen. Viele von ihnen werden dann verärgert über sich selbst sein, weil sie nicht aufgepasst haben, doch die Lehrerin oder der Lehrer wird sie daran erinnern, ihre Gedanken freundlich wieder zur Rosine zurückzubringen. So wird bereits ein winziger Samen des Mitgefühls gepflanzt. Und so wie winzige Samen zu riesigen Bäumen heranwachsen können, kann mit der Praxis auch das Mitgefühl wachsen. In diesem Buch bieten wir dir viele Möglichkeiten an, das Mitgefühl zu nähren und zu entwickeln und dabei gleichzeitig deine Achtsamkeitspraxis zu vertiefen. Vielleicht findest du es auch ermutigend zu erfahren, dass es inzwischen eine Reihe wissenschaftlicher Belege dafür gibt, wie die Praxis des Mitgefühls sich generell positiv auswirken kann.

10

Einleitung & Grundlagen

Ergebnisse der Mitgefühlsforschung (Selbst)Mitgefühl scheint für unser psychisches und körperliches Wohlbefinden förderlich zu sein und eine gesunde Beziehung zu uns selbst und zu anderen zu ermöglichen4. MBCL basiert auf der umfangreichen wissenschaftlichen Arbeit ­einiger Pioniere der Mitgefühlsforschung wie Paul Gilbert, Kristin Neff und Barbara Fedrickson. Diese Grundlagen haben Erik van den Brink und Frits Koster bereits in ihrem 2015 erschienenen englischsprachigen Buch über MBCL beschrieben5. Eine stetig wachsende Anzahl von Untersuchungen legt nahe, dass Menschen, die ein hohes Maß an Selbstmitgefühl aufweisen … • … besser mit Widrigkeiten und negativen Ereignissen umgehen können; • … mehr Eigeninitiative zeigen und mehr Verantwortung für eigenen Handlungen übernehmen • … weniger Angst haben, Fehler zu machen und zurückgewiesen zu werden; • … mehr Selbstrespekt haben und den eigenen Unzulänglichkeiten verständnisvoller und annehmender begegnen; • … besser für sich sorgen, sich mehr bewegen und ein gesünderes Essverhalten an den Tag legen; • … emotional intelligenter sind und eine effektivere Emotionsregulation zeigen, indem sie sich Emotionen mit Freundlichkeit statt mit Feindseligkeit nähern; • … glücklicher und optimistischer sind; • … mehr soziale Verbundenheit erleben und erfüllendere Beziehungen führen. Inzwischen wurden verschiedene Mitgefühlstrainings entwickelt, wie z. B. Mindful Self-Compassion (MSC) von Germer & Neff. MSC und MBCL schöpfen aus vielen ähnlichen Quellen und präsentieren das Mitgefühlstraining auf säkulare, nicht-religiöse Weise. Das MBCL-Programm ist jedoch speziell für Menschen konzipiert, die bereits ein Achtsamkeitstraining (z. B. einen MBSR- oder MBCTKurs, Breathworks) absolviert haben. Erste Studien zum MBCL-Programm lieferten bereits vielversprechende Ergebnisse. Dabei ging es sowohl um Gruppentrainings für ambulante P ­atienten mit unterschiedlichsten psychischen Problemen6 oder wiederkehrenden depressiven Episoden7 als auch um ein offenes Online­ 4MacBeth A & Gumley A (2012) Exploring compassion: A meta-analysis of the association between self-compassion and psychopathology. Clinical Psychology Review, 36(6), 545–552 und Neff K D (2012) The science of self-compassion. In C K Germer & R D Siegel (Eds) Compassion and wisdom in psychotherapy (S. 79–92). Guilford Press, New York. 5Van den Brink E & Koster F (2015) Mindfulness-Based Compassionate Living – A new training programme to deepen mindfulness with heartfulness. Routledge, London. 6Bartels-Velthuis A A, Schroevers, M J, van der Ploeg, K, Koster, F, Fleer, J & van den Brink, E (2016) A Mindfulness-Based Compassionate Living training in a heterogeneous sample of psychiatric outpatients: A feasibility study. Mindfulness, 7, 809–818. 7Schuling, R, Huijbers, M J, Jansen, H C, Metzemaekers, R, Van den Brink, E, Koster, F, Van Ravesteijn, H & Speckens, A (2017) The co-creation and feasibility of a compassion training as a follow-up to Mindfulness Based Cognitive Therapy in patients with recurrent depression. ­Mindfulness, 9, 412–422.

Wie Mindfulness-Based Compassionate Living (MBCL) entstand

11

Programm8. Forscher der ­niederländischen Radboud Universität in Nijmegen haben das Programm auch in einer größeren Kontrollgruppe von Patienten, die unter wiederkehrenden depressiven Episoden litten, getestet9. Diese Patienten hatten bereits an einem MBCT-Kurs teilgenommen. Nach Ende des MBCL-Kurses zeigten sie einen signifikanten Anstieg von Achtsamkeit und Selbstmitgefühl und eine Abnahme der depressiven Symptome10. Diese Ergebnisse konnten auch ein halbes Jahr nach dem Training bestätigt werden und hatten sich sogar noch weiter verbessert.

Wie Mindfulness-Based Compassionate Living (MBCL) entstand Wahres Mitgefühl verbindet. (Honoré de Balzac)

Ende der 90er-Jahre begegneten sich Erik van den Brink und Frits Koster zum ersten mal. Dieses Treffen war der Beginn einer guten und wertvollen Zusammenarbeit. Beide arbeiten seit 2007 am Zentrum für Integrative Psychiatrie im niederländischen Groningen zusammen. Erik, der als westlicher Psychiater und Psychotherapeut ausgebildet wurde, hatte die positiven Auswirkungen der Meditation persönlich erlebt und Achtsamkeitskurse für Patienten und Fachleute unterrichtet. Frits, der zuvor als buddhistischer Mönch gelebt und als Pfleger in der Psychiatrie gearbeitet hatte, brachte seine Expertise als Achtsamkeitstrainer und Meditationslehrer ein. Beide haben viele Gruppen in der Ambulanz und Lehrerfortbildungen gemeinsam unterrichtet und sich dabei sehr gut kennengelernt. Sie erkannten, wie viele Teilnehmende den erfrischenden Ansatz und das selbstheilende Potenzial der Achtsamkeit sehr schätzten und dennoch gleichzeitig Schwierigkeiten hatten, die Praxis aufrechtzuerhalten und eine freundliche und mitfühlende Haltung sich selbst gegenüber zu entwickeln. Nachdem immer mehr Anfragen kamen, diese Arbeit zu vertiefen, fühlten Frits und Erik sich inspiriert, einen Folgekurs zu entwickeln. Daraus entstand das Programm Mindfulness-Based Compassionate Living (MBCL).

8Krieger, T, Martig, D S, van den Brink, E & Berger, T (2016) Working on self-compassion online: A roof of concept and feasibility Study. Internet Interventions, 6, 64–70. und Krieger T, Reber F, von Glutz B, Urech A, Moser CT, Schulz A & Berger T (2019) An Internet-Based Compassion-Focused Intervention for Increased Self-Criticism: A Randomized Controlled Trial. Behavior Therapy, 50, 430–445. 9Schuling, R, Huijbers, M J, van Ravesteijn, H, Donders, R, Kuyken, W, & Speckens, A E M (2016) A parallel-group, randomized controlled trial into the effectiveness of Mindfulness-Based Compassionate Living (MBCL) compared to treatment-as-usual in recurrent depression: Trial design and protocol. Contemporary Clinical Trials, 50, 77–83. 10Schuling R, Huijbers M J, Van Ravesteijn H, Donders R, Kuyken, W & Speckens A E M Recovery from recurrent depression: Randomized controlled trial of the efficacy and mechanism of Mindfulness-Based Compassionate Living compared with treatment-as-usual on depressive symptoms and quality of life.

12

Einleitung & Grundlagen

Frits’ Kenntnisse der buddhistischen Psychologie und Eriks Kenntnisse der westlichen Wissenschaft und Psychologie erwiesen sich als fruchtbare Kombination. Das wertvolle Feedback von Klientinnen und Klienten, Achtsamkeitslehrenden und Gesundheitsexperten, die an den Kursen teilgenommen haben, hat MBCL in die Form gebracht, in der es heute angeboten wird. Das erste niederländische Buch über den Kurs erschien 2012 und richtete sich an ein Fachpublikum. Es folge eine deutsche, englische und spanische Publikation über die MBCL-Methode. Im Jahr 2015 erschien dann zunächst das niederländische11 und 2018 auch das englische12 Praxisbuch. Diesen beiden Publikationen waren die Basis für dieses deutsche Praxisbuch. Es entstand in Zusammenarbeit mit Christian Stocker und Jana Willms. Jana ist Diplom Psychologin, MBSR- und MBCL-Kursleiterin und seit 2015 MBCL-Dozentin am Institut für Achtsamkeit und Stressbewältigung von Dr. Linda Lehrhaupt (IAS). Dort koordiniert sie auch das Weiterbildungsprogramm für MBCL-Kursleiterinnen und -kursleiter im deutschsprachigen Raum. Jana steuerte viele kluge und feinfühlige Anmerkungen und Aspekte zu diesem Buch bei und formulierte unter anderem auch die zahlreichen Übungsanleitungen. Christian hat ursprünglich Kommunikationsdesign studiert und viele Jahre in den Niederlanden und in Deutschland als Kreativer und Texter gearbeitet. Seit 2010 ist er nun hauptsächlich als Coach, Trainer und MBSR- und MBCL-Kursleiter tätig. Mit viel Elan und Geduld sorgte er dafür, dass dieses deutsche Praxisbuch entstehen, wachsen, gedeihen und seine Form annehmen konnte. Aus seiner Feder stammen unter anderem auch die Illustrationen für dieses Buch. Frits und Erik zeichnen sich für die internationale Verbreitung und Repräsentation des MBCL-Programms verantwortlich. Sie unterstützen Christian und Jana durch viele inhaltliche Empfehlungen bei der Herausforderung dieses Programm behutsam „einzudeutschen“. Um die „holländische Note“ dieses Trainings auch in diesem deutschen Praxisbuch mitschwingen zu lassen, haben Christian und Jana die beiden ermuntert, selbst auch einige der Audio-Dateien für die Übungen ­einzusprechen.

11Koster

F & Van den Brink E (2015, überarbeiteter Druck 2019) Compassie in je leven – Mindfulness verdiepen met heartfulness. Boom, Amsterdam. 12Van den Brink E & Koster F, with Norton V (2018) A practical guide to Mindfulness-Based Compassionate Living – Living with heart. Routledge, London.

Das MBCL 8-Wochenprogramm Der Kurs Mindfulness-Based Compassionate Living (MBCL)

Ein MBCL-Kurs besteht aus acht Modulen und einer zusätzlichen Übungseinheit in Stille und wird wöchentlich oder im zweiwöchigen Rhythmus durchgeführt. Die Themen der Module im Überblick Modul 1: Die drei emotionalen Regulationssysteme Modul 2: Stressreaktionen und Selbstmitgefühl Modul 3: Verlangen und Muster verstehen Modul 4: Mitgefühl verkörpern Modul 5: Selbst und andere – den Kreis des Mitgefühls erweitern Modul 6: Glück nähren Übungseinheit in Stille Modul 7: Weisheit und Mitgefühl im Alltag Modul 8: Das Leben heilen Wie in anderen achtsamkeitsbasierten Trainings ist auch im MBCL die eigene Erfahrung die wichtigste Lehrmeisterin. Wir empfehlen dir die Reise durch dieses Buch Schritt für Schritt, Modul für Modul zu machen. Insgesamt erwartet dich eine Fülle von Übungen. Sie alle sind wertvoll, doch einige eigenen sich eher für die regelmäßige Praxis, andere kannst du eher bei Bedarf praktizieren. Du bist eingeladen selbst zu erkunden, welche Übungen dich am meisten berühren und welche Themen du weiter vertiefen möchtest. Es gibt mehrere Wege durch diesen Kurs und wir empfehlen dir mit Freundlichkeit und Mitgefühl deinen eigenen Weg durch dieses Programm zu finden. Eine systematische Übersicht des gesamten MBCL-Curriculums, eine thematische Gruppierung aller Übungen sowie eine Übersicht aller Audio-Dateien der acht Module und die dazugehörigen Arbeitsblätter findest du im Anhang am Ende dieses Praxisbuches und auf https://www.springer.com/de/book/9783658268237 Doch nun erst einmal viel Freude bei der praktischen Erfahrung!

Modul 1: Die drei emotionalen Regulationssysteme (Alarm-, Antriebs- und Beruhigungssystem) Erst geht’s ums Überleben. Dann ums Gedeihen

Das Leben ist einfach – es ist jedoch nicht leicht. (Unbekannt)

Es ist nicht immer leicht, ein Mensch zu sein Mensch zu sein gleicht einem großen Rätsel. Es ist fast so, als würden wir eines Tages aufwachen mit dem Gefühl, in dieses menschliche Leben hineingeworfen worden zu sein. Es beginnt schon damit, dass wir es uns nicht ausgesucht haben, hier zu sein. Außerdem sind wir fortwährend mit Umständen konfrontiert, die wir uns auch nicht ausgesucht haben. Wir haben es uns nicht ausgesucht, von wo wir kommen und wie die Evolution uns geformt hat. Wir entwickeln uns fortlaufend, versuchen mit den fortlaufenden Veränderungen des Lebens umzugehen, ohne dabei zu wissen, wohin uns das führen wird. Selbst diejenigen von uns, die einen guten Start ins Leben hatten und unter relativ friedlichen, günstigen Umständen aufgewachsen sind, werden früher oder später Schwierigkeiten begegnen. Wir alle sind mit einschneidenden und manchmal auch traumatischen Erlebnissen konfrontiert, erleben Verluste, unerfüllte Sehnsüchte, sind verwundbar und unterliegen den Gesetzen der Unbeständigkeit – ob wir es wollen oder nicht. Selbst wer sich in diesem Moment gut fühlt, weiß, dass er altern und sterben wird und schlussendlich verlieren wird, was ihm lieb ist. Diese Welt ist unbeständig, größtenteils unkontrollierbar und praktisch unvorhersehbar. Das alles klingt vielleicht nicht sehr aufmunternd. Doch genau hier beginnt das Mitgefühl. Wenn wir verstehen, dass Leid unvermeidlich ist, weil wir in einem

Zusatzmaterial online Zusätzliche Informationen sind in der Online-Version dieses Kapitel (https://doi.org/10.1007/978-3-658-26824-4_2) enthalten. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Stocker et al., Mitgefühl üben, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26824-4_2

15

16

Modul 1: Die drei emotionalen Regulationssystem …

nicht perfekten Körper leben, in einer nicht perfekten Welt, mit vielen anderen, die genauso unvollkommen sind, wie wir selbst. Mitgefühl ist darum kein Luxus, sondern eine grundlegende Notwendigkeit. Mitgefühl ist nichts für Weicheier Wenn Mitgefühl ein grundlegendes menschliches Bedürfnis ist, weshalb ist es dann aber oft so schwierig, mitfühlend zu sein? Um diese Frage zu erkunden, kannst du über die folgende Frage reflektieren: Was ist es, was dich davon abhält mitfühlend mit dir selbst zu sein? Wenn wir Teilnehmende in MBCL-Trainings diese Frage stellen, sagen sie oft Dinge wie beispielsweise die, die du in Abb. 1 lesen kannst:

Abb. 1  Teilnehmerstimmen: was hält dich davon ab, mitfühlend mit dir selbst zu sein? (© Christian Stocker 2019. All Rights Reserved)

Es ist nicht immer leicht, ein Mensch zu sein

17

Manchmal gibt es auch Argumente dafür, nicht zu mitfühlend mit anderen zu sein (siehe Abb. 2).

Abb. 2  Teilnehmerstimmen: Argumente dafür, nicht zu mitfühlend mit anderen zu sein. (© Christian Stocker 2019. All Rights Reserved)

Es ist hilfreich, diesen Vorstellungen und Vorbehalten zu Beginn des Trainings ein wenig Raum zu geben, denn wir alle kennen sie. Und obwohl sie uns vielleicht nicht immer so präsent sind, haben sie doch möglicherweise dafür gesorgt, dass es oft so schwierig war mitzufühlen. Wir diskutieren darüber jedoch nicht allzu lange im Kurs. Durch das Praktizieren der Übungen im Kurs wird oft vieles klarer, als durch Diskussion. Hilfreich ist es jedoch an dieser Stelle, eine prägnante Definition von Mitgefühl vorzustellen, wie sie von Paul Gilbert1, der viele Jahre über Mitgefühl geforscht hat, formuliert wurde:



Mitgefühl beinhaltet 1. Eine Sensitivität gegenüber Leid in uns und anderen (es geht in beide Richtungen!) und 2. den Wunsch und das Bestreben, dieses Leid zu mildern oder zu verhindern.

Mitgefühl ist also definitiv nichts für Feiglinge! Es hat einerseits eine rezeptive und zarte und andererseits eine aktive und kraftvolle Seite. Es ist offensichtlich, dass wir Mut und Bereitschaft brauchen, um uns dem Leiden zuzuwenden und damit auf die bestmögliche Weise umzugehen. Und dabei geht es auch darum, uns 1Gilbert

P (2017) Compassion: Definitions and Controversies. In P. Gilbert (ed), Compassion – Concepts, Reseach and Applications (S. 3–15). Routledge, London.

Modul 1: Die drei emotionalen Regulationssystem …

18

beim Üben von Mitgefühl nicht zu überfordern. Mitgefühl braucht auch Weisheit und Geduld. Bitte fühl dich in keiner Weise dazu gedrängt mit dir oder anderen mitzufühlen. Vielmehr möchten wir dich einladen die Übungen auszuprobieren, für die du dich bereit fühlst und achtsam wahrzunehmen, was geschieht, während du sie praktizierst. Vielleicht findest du es auch beruhigend zu wissen, dass mehr und mehr wissenschaftliche Studien belegen, dass Mitgefühl nicht nur Leiden lindert, sondern auch zum Glück beiträgt. Und genau wie Achtsamkeit können wir auch Mitgefühl mit Hilfe von Übungen kultivieren2. Wir möchten mit einer kurzen Übung beginnen, die du jederzeit im Tagesverlauf praktizieren kannst, wenn sich die Möglichkeit für eine Pause ergibt: Der Atemraum mit Selbstmitgefühl. Diese Übung basiert auf dem sogenannten „Drei Minuten Atemraum“ aus dem MBCT3. Wir haben sie den Atemraum mit der Praxis des beruhigenden Atemrhythmus, einer Grundübung aus der CFT4, kombiniert. Die Übung besteht aus drei Phasen, die natürlich auch länger oder kürzer als eine Minute sein können.

Übung: Atemraum mit Freundlichkeit (M1_01) Übung

1. Ankommen Diese Übung kannst du jederzeit praktizieren, wenn die Situation es dir erlaubt, kurz innezuhalten. Und es dir bequem machen – da, wo du gerade bist … … im Sitzen, Liegen oder Stehen. … … Die Übung besteht aus drei Schritten. Und dich im ersten Schritt einladen achtsam zu sein… und freundlich bemerken, was du von Moment zu Moment erlebst … … … Vielleicht Geräusche, Körperempfindungen, Gedanken oder Gefühle … … Willkommen heißen was auch immer sich zeigt: Die angenehmen oder die unangenehmen Dinge … … … Auch Reaktionen bemerken auf das, was sich gerade zeigt … … … Alles, was du erlebst mit freundlicher Achtsamkeit halten … … … wahrnehmen, wie es kommt … und geht. 2. Beruhigender Atemrhythmus Dann – im zweiten Schritt – die Aufmerksamkeit in den Empfindungen des Atems ruhen lassen, und einem beruhigenden Atemrhythmus einladen … … … Die Atembewegungen sanft vertiefen, verlangsamen, … … …

2Zusammengefasst

im Abschn. 1.6 Research in: Van den Brink E & Koster F (2015) Mindfulness-Based Compassionate Living (S. 30–42). Routledge, London. 3Segal S V, Williams J M G, & Teasdale J D (2013) Mindfulness-Based Cognitive Therapy for depression: A new appoach to preventing relapse. Guilford Press, New York. 4Gilbert P (2010) Compassion Focused Therapy. Routledge, London.

Das menschliche Gehirn ist nicht perfekt

19

mühelos, … … … den Atem ungehindert durch den Körper fließen lassen. … … Und dabei den Boden zu spüren, der dich stützt und hält … … den Muskeln erlauben zu entspannen … … das Gesicht entspannen … … der Brustraum darf sich öffnen … … der Bauch kann sich ausdehnen … und wieder zurücksinken. … … … Wenn du möchtest freundlich eine oder beide Hände auf den Körper legen … und dem Atem erlauben, sich zu beruhigen … … … Und wenn der Atem seinen beruhigenden Rhythmus gefunden hat, wieder spüren, wie er von sich aus fließt. … … … Wenn du bemerkst, dass die Aufmerksamkeit woanders hingetragen wurde, bist du schon wieder achtsam. … … Einfach bemerken, was gerade da ist, und freundlich zurück kommen zum Atem. … … … Du kannst den beruhigenden Atemrhythmus zurückkommen lassen, wann immer du ihn verloren hast. 3. Freundlicher Wunsch für dich Dann im dritten Schritt die Aufmerksamkeit ausweiten, den Körper als Ganzes spüren. … … … Spüren, wie du hier bist … … … Spüren, was du jetzt wirklich brauchst. … … … Und dir eine Frage stellen und bemerken was vielleicht als Antwort aufsteigt: Was ist jetzt ein freundlicher Wunsch für mich? … … … Vielleicht: „Möge ich mich sicher fühlen.“, oder: „Möge ich mich gesund fühlen oder so gesund wie möglich.“ … … „Möge ich glücklich sein.“ … … „Möge ich mit Leichtigkeit leben.“ … …… Worte finden, die dich berühren … … … Und den Wunsch innerlich wiederholen, ihn durch dich hindurchfließen lassen. … … Wenn du möchtest, im ruhigen Rhythmus des Atems: „Möge ich“ beim Einatmen und den zweiten Teil beim ausatmen. … … … Und du kannst das Geben unterstützen mit einem sanften Lächeln … das Empfangen durch eine oder beide Händen auf dem Herzen … … … dir den Wunsch zu Herzen nehmen … … … und jede Erfahrung willkommen heißen, die sich dabei zeigt … sie als Teil der Übung willkommen heißen. … … … Bei dem Wunsch bleiben oder die Worte verändern und auf das abstimmen, was sich zeigt … … … Die Übung dann in deiner eigenen Zeit beenden … und wenn du möchtest, diese freundliche Haltung zu dir selbst mitnehmen in deinen Tag.

Das menschliche Gehirn ist nicht perfekt Unser Gehirn befähigt uns, Neues zu lernen und uns durch Erfahrung zu verändern und an wechselnde Gegebenheiten anzupassen. Und dabei geht es vor allem um eines: unser Überleben. Das menschliche Gehirn verändert sich mit der Erfahrung wie kein anderes Organ, sodass wir von den unterschiedlichen Gegebenheiten lernen und uns an sie

Modul 1: Die drei emotionalen Regulationssystem …

20

anpassen können. Evolutionswissenschaftler betrachten das menschliche Gehirn als ein komplexes Überlebensorgan mit Eigenschaften, die auf prähistorische Zeiten zurückgehen, lange bevor der Mensch jemals existierte. Die Evolution ist ein so langsamer Prozess, dass unser Körper und unser Gehirn immer in ihrer Fähigkeit zurückbleiben, mit veränderten Umständen und neuen Situationen umzugehen. Wir sind zum Beispiel nicht dazu bestimmt, Fast Food zu essen, ununterbrochen hinter Bildschirmen zu sitzen und rund um die Uhr mit Nachrichten von Social Media und Smartphones zu erhalten. Dennoch ist es das, was viele von uns jeden Tag tun. Das Design unseres Gehirns und unseres Körpers wurde geformt, als wir als Sammler und Jäger in Höhlen lebten und uns vor Raubtieren schützen mussten. Und obwohl wir heutzutage vielleicht länger leben, sind wir nicht unbedingt gesünder und glücklicher. Es gibt daher ein evolutionäres Missverhältnis (Anm.: im Englischen spricht man hier von evolutionary mismatch) zwischen unserer Natur und unserer Kultur: ein Spannungsfeld zwischen dem Design unseres Gehirns und Körpers auf der einen und unserem modernen Lebensstil in einer sich schnell verändernden Welt auf der anderen Seite. Neurowissenschaftler5 haben versucht, unser Gehirn nach verschiedenen Entwicklungsstufen zu unterteilen und beschreiben es als vielschichtiges Organ. Das Reptiliengehirn – das Krokodil in uns Der Hirnstamm ist mit etwa 500 Mio. Jahren Entwicklungsgeschichte der älteste Bereich unseres Gehirns. Er ermöglichst hauptsächlich automatische Überlebensreaktionen, d. h. wichtige instinktive Funktionen werden hier geregelt wie z. B. die Flucht vor oder der Kampf gegen Bedrohung, das Jagen von Beute, die Sicherung des Territoriums, die Verdauung von Nahrung und die Fortpflanzung. Das alte Säugetiergehirn – die Maus in uns Dieser Teil des Gehirns wird manchmal auch „Emotionales Gehirn“ genannt und entwickelte sich bei Säugetieren vor etwa 200 Mio. Jahren, als das Leben in Gruppen überlebenswichtig wurde. Es ermöglicht emotionale Prozesse, die für die soziale Bindung wichtig sind, das Bestimmen von Rang und Status mit der dazugehörigen Rivalität sowie das Geben und Empfangen von Fürsorge. Das neue Säugetiergehirn – der Menschenaffe in uns Dieser Teil des Gehirns wird auch Neocortex genannt und ist der jüngste und flexibelste Teil. Er hat sich „erst“ vor 2 Mio. Jahren entwickelt, als unsere Vorfahren klug wurden und sich an immer komplexere Gesellschaften anpassten. Er schenkt uns unser Vorstellungs- und Erinnerungsvermögen, Denken und Sprache, die Fähigkeit zu planen, uns zu sorgen, zu fantasieren und kreativ zu sein und uns in einer Sprache auszudrücken.

5MacLean

P D (1990) The triune brain in evolution: Role in paleocerebral functions. Springer., New York.

Das menschliche Gehirn ist nicht perfekt

21

Lange Route – kurze Route Zusammengenommen werden das Reptiliengehirn und das emotionale Gehirn als das alte Gehirn bezeichnet. Das alte Gehirn reagiert schnell auf Informationen, die aus den Sinnen kommen. Diese Reaktionen sind weitgehend instinktiv und automatisch und gesteuert von dem, was sich angenehm oder unangenehm anfühlt. Ersteres beantworten wir automatisch mit „Mögen“, zweiteres mit „Nicht-Mögen“. Infolge dessen suchen wir oft auch unbewusst das Angenehme (bis hin zur Sucht) und vermeiden das Unangenehme (bis hin zur Flucht). Da diese instinktiven Reaktionen des alten Gehirns über schnelle neuronale Schaltkreise geleitet werden, spricht man hier oft auch von der „kurzen Route“ oder „niedrigen Route“. Das neue Gehirn arbeitet verglichen damit langsamer. Es verarbeitet nämlich sensorische Informationen und emotionale Reaktionen durch Reflexion und Argumentation, was natürlich Zeit in Anspruch nimmt. Deshalb wird es auch die „lange Route“ oder „hohe Route“ genannt. Erschwerend kommt hinzu, dass Aktivitäten des neuen Gehirns Reaktionen des alten Gehirns auslösen können und umgekehrt. Zum Beispiel ermöglicht es uns unser neues Gehirn, über einen kleinen Fehler, den wir bei der Arbeit gemacht haben, nachzugrübeln und ihn zu zu einer „Katastrophe“ zu machen. So wird das alte Gehirn in einen Alarmzustand versetzt, was uns wiederum reizbar mit unseren Lieben zu Hause werden lässt. Regelmäßiger neuronaler Austausch zwischen altem und neuem Gehirn kann Spiralen oder „Loops“ erzeugen, die zu gesunden und ungesunden Gewohnheiten führen. Und ungesunde Gewohnheiten verschlimmern leider das unvermeidliche Leid, das Teil unseres menschlichen Lebens ist. Unser „Tricky Brain“: sowohl Segen als auch Fluch Wenn wir mehr über das alte und das neue Gehirn wissen, können wir beginnen zu verstehen, warum wir einerseits sehr impulsiv und emotional und andererseits auch hochgradig rational sein können. Beides ist wichtig, doch beide Bereiche können sich gegenseitig auf unvorhersehbare Weise beeinflussen. Die Reaktionen des menschlichen Gehirns können deshalb sehr überraschend sein. Wir denken, dass wir vernünftige Wesen sind, doch oft werden die Fähigkeiten unseres neuen Gehirns durch die Instinkte unseres alten Gehirns „gekapert“. Keine Frage: die schnelle Reaktion des alten Gehirns kann lebensrettend sein, beispielsweise wenn wir beim Überqueren einer Straße einem auf uns zu rasenden Auto mit einem blitzschnellen Sprung ausweichen. In so einem Fall sollte das neue Gehirn sich besser nicht zu lange mit Nachdenken aufhalten! Wenn jedoch unser altes Gehirn auch bei einem Konflikt auf der Arbeit die Regie übernimmt und wir beginnen, mit Türen zu knallen und herumzuschreien, dann kann in einem einzigen Augenblick eine lange aufgebaute Beziehung mit unseren Kollegen oder Vorgesetzten Schaden nehmen. In diesem Fall wäre es also

22

Modul 1: Die drei emotionalen Regulationssystem …

hilfreich innezuhalten, um das neue Gehirn zu benutzen und zu reflektieren, bevor wir handeln. Das könnte uns davor bewahren, entlassen zu werden. Auch auf globaler Ebene lassen sich viele Schwierigkeiten in der Welt entdecken, die dadurch entstanden sind, das despotische Führer ihr neues Gehirn von primitiven Motiven des alten Gehirns haben antreiben lassen. Aber auch unser „vernünftiges“ neues Gehirn kann das alte Gehirn „triggern“ und dort ungesunde automatische Reaktionen hervorrufen, indem es sich nämlich ein Problem vorstellt, das es überhaupt nicht (mehr) gibt. Wenn ein Kaninchen eine Karotte nicht bekommt, weil ein Artgenosse sie ihm vor der Nase weggeschnappt hat, dann wird sich das Tier wahrscheinlich nicht monatelang Vorwürfe machen, versagt zu haben oder krank werden vor Sorge darum, ob es jemals eine andere Karotte finden wird. Wir Menschen hingegen können uns für etwas, das uns nicht gelungen ist oder die Katastrophen in unserem Leben, die Angst und Verzweiflung, die uns manchmal überkommt anhaltend selbst „auf die Mütze geben“ und sogar depressiv dadurch werden. Natürlich kann unser neues Gehirn ein Segen sein. Es ermöglicht uns komplexe Probleme zu lösen und kann Wissenschaft und Kunst nutzen, um mehr Glück und Harmonie in die Welt zu bringen. Wir sind in der Lage, auf Probleme mit kreativen Lösungen und fantastischen Erfindungen zu reagieren. Aber es kann auch ein Fluch sein, der uns unglücklich macht, indem wir uns nämlich vorstellen, was schiefgelaufen ist, was falsch ist oder schief gehen könnte. Was wir in unserem Geist mithilfe unseres neuen Gehirns konstruieren, kann so mächtig sein, dass wir damit Himmel oder Hölle auf Erden erschaffen. Und wir sind leider auch zu destruktiven Reaktionen fähig, die der Erde und ihren Bewohnern ernsthaft schaden können. Paul Gilbert betont, dass wir nichts dafürkönnen, ein so „kompliziertes Gehirn“ (tricky brain) zu besitzen. Ein Gehirn, das bei weitem nicht immer in Harmonie mit den Umständen ist, die uns umgeben, und das uns mit seinen Reaktionen aus alten und neuen Schichten verwirren kann. Und er betont dabei, dass wir nicht Schuld sind an der unvollkommenen Art und Weise wie unser Gehirn konstruiert ist, dass es aber in unserer Verantwortung liegt so klug wie möglich damit umzugehen. Viel menschliches Leid wird weniger durch schwierige Lebensumstände selbst verursacht als vielmehr durch die Art und Weise, wie wir auf diese Lebensumstände reagieren. Niemand würde sich wahrscheinlich die Schuld für körperliche Unzulänglichkeiten geben, wie z. B. für Muttermale auf der Haut oder eine Veranlagung zu Rückenschmerzen. Warum sollten wir uns also für ein kompliziertes, nicht perfektes Gehirn verantwortlich machen? Zu wissen, dass wir unser Gehirn nicht gestaltet haben und es daher nicht unsere Schuld ist, kann ein guter Ausgangspunkt sein, um mit uns selbst mitfühlend zu sein. Das achtsame Gehirn nutzen – der Homo Sapiens Sapiens in uns Das Design unseres Gehirns mag nicht unsere Schuld sein, und doch sind wir dafür verantwortlich weise mit ihm umzugehen. Wenn wir unsere inneren Pro-

Drei emotionale Regulationssysteme

23

zesse achtsam wahrnehmen können, entwickeln wir Weisheit. Natürlich gibt es allerlei ungünstige Verknüpfungen und interaktive Prozesse zwischen altem und neuem Gehirn, doch wir können zumindest damit beginnen, sie wahrzunehmen. Diese Fähigkeit zur Einsicht verdanken wir dem neuesten Teil unseres Gehirns, den wir „Das achtsame Gehirn“6 nennen können. Er ist im medialen Vorderhirn (medialer Präfrontalcortex) lokalisiert und vermutlich „erst“ vor 10.000 Jahren entstanden. Dort liegen Netzwerke, die uns dazu befähigen, unsere inneren Prozesse selbst zu beobachten. Durch die Entwicklung dieses Gehirnbereiches dürfen wir hoffen, denn mit seiner Hilfe können wir unsere Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen mit neutraler Freundlichkeit wahrnehmen, ohne automatisch auf sie zu reagieren. Dann haben uns unsere Schwierigkeiten nicht mehr so im Griff und wir können mit mehr Weisheit auf die Herausforderungen des Lebens antworten. Wir können instinktiv und gefühlsmäßig aus dem alten Gehirn oder „vernünftig“ aus dem neuen Gehirn heraus reagieren oder eben auch aus einem komplexen Zusammenspiel mehrerer Schichten unseres Gehirns. Wir können uns von Ärger oder Gleichgültigkeit oder auch von Weisheit und Mitgefühl leiten lassen. Wie kein anderes Wesen auf diesem Planeten besitzen wir das Potenzial sowohl grenzenlos mitfühlend als auch grenzenlos grausam sein. Indem wir unsere Fähigkeit kultivieren, unsere inneren Prozesse mit Offenheit und Freundlichkeit zu beobachten, können wir uns zu achtsamen, mitfühlenden menschlichen Wesen entwickeln. Wir Menschen haben für uns selbst in der biologischen Systematik den Namen Homo sapiens sapiens gewählt. Wie Jon Kabat-Zinn betont, müssen wir womöglich noch in diesen Namen hineinwachsen. Denn erst wenn wir diese Fähigkeit der offenen und freundlichen inneren Beobachtung trainieren, werden wir Stück für Stück tatsächlich zu einem Homo sapiens sapiens, einem klugen Menschen, der weiß, dass er weiß (siehe Abb. 3).

Drei emotionale Regulationssysteme Wir möchten nun etwas näher auf die Prozesse im alten Gehirn eingehen, die unsere Emotionen regulieren. Aus evolutionärer Sicht können wir Emotionen als Boten sehen, die es wirklich gut mit uns meinen. Sie bewegen uns in Richtung Überleben und Wohlbefinden, auch wenn sie sich unangenehm anfühlen. Und die

6Siegel D J (2007) The mindful brain: Reflection and attunement in the cultivation of well-being. W. W. Norton, New York.

Modul 1: Die drei emotionalen Regulationssystem …

24

Abb. 3  Das entwickelte Gehirn – Krokodil, Maus, Affe und Homo sapiens sapiens in uns. (© Christian Stocker 2019. All Rights Reserved)

ältesten Gefühle warnen uns am lautesten vor Gefahren oder wenn grundlegende Bedürfnisse nicht befriedigt sind. Wenn unser Überleben dann gesichert ist, hören wir vielleicht jüngere Boten, die uns zuflüstern, ob wir uns in Richtung von Glück und Harmonie bewegen. In diesem Training verwenden wir ein sehr geschätztes Modell von Paul Gilbert, in dem er drei grundlegende Systeme für Emotionsregulation und Motivation unterscheidet: ein Alarmsystem, ein Antriebssystem und ein Fürsorge- und Beruhigungssystem. Letztes nennen wir der Einfachheit halber „Beruhigungssystem“7. Mit etwas Übung kannst du alle drei auch in deinem Leben entdecken. Die Idee dahinter lässt sich am Beispiel einer Katze leicht verdeutlichen. Da die drei Systeme sehr hilfreich für das Verständnis unseres Verhaltens und das Erkennen des Tiers in uns sind, werden wir sie im Folgenden detaillierter darstellen. 

Die Katze Die drei Regulationssysteme kann man gut bei einer Katze beobachten (Abb. 4). Wenn eine Katze sich sicher fühlt und gerade gefressen hat, legt sie sich entspannt in die Sonne und ruht sich aus. Wenn es nichts Spezielles zu tun gibt, schweift ihre Aufmerksamkeit unfokussiert herum. Sie schnurrt, wenn sie gestreichelt wird, pflegt ihr Fell, spielt vielleicht mit einem ihrer Katzenkinder oder macht ein Nickerchen. Ihr Beruhigungssystem ist aktiv und sie macht Pause. Wenn sie dann allerdings plötzlich das Gebell eines Hundes in der Nähe hört, springt sie auf, faucht und macht einen Katzenbuckel. Ihr

7Gilbert

P (2009) The compassionate mind. Constable & Robinson, London.

Drei emotionale Regulationssysteme

25

Alarmsystem ist aktiviert. Ihr Körper ist angespannt und ihre Aufmerksamkeit auf den Eindringling fokussiert. Vielleicht versucht sie, ihn zu kratzen oder – wenn der Hund größer ist – auch wegzulaufen. Wenn sie sich dann wieder sicher fühlt, dauert es nicht lange, bis ihr Beruhigungssystem wieder im Vordergrund steht. Bei uns Menschen ist das oft nicht so einfach, weil wir dazu neigen, uns Gedanken darüber zu machen, was hätte schieflaufen können oder was geschehen könnte, wenn der Hund zurückkehrt. Die Katze hingegen kennt so etwas nicht. Sie entspannt sich einfach wieder, nimmt ihre Umwelt mit offener Aufmerksamkeit wahr und stromert ein wenig herum, wenn sie nicht müde ist. Wenn die Katze dann hungrig wird und eine Maus erblickt, ist sie plötzlich wieder ganz alert und auf ihre Beute fokussiert. Ihr ganzer Körper ist angespannt. Jetzt sehen wir die Energie des Antriebssystems, die sich deutlich von der des Alarmsystems unterscheidet. Sie ist ganz zum Objekt ihrer Begierde hingezogen und richtet ihre Aufmerksamkeit auf das, was sie will: diese Maus fangen! Wenn sie sie gefangen und gefressen hat, wird sie – anders als wir Menschen – nicht noch darüber nachdenken, mehr zu bekommen, als eigentlich nötig ist, sondern sich alsbald wieder zufrieden ihrem Beruhigungssystem überlassen.

Das Alarmsystem Um zu überleben, müssen wir uns zunächst vor Gefahren schützen. Das Alarmsystem ist das grundlegendste System. Es wird aktiviert, wenn wir uns physisch oder mental bedroht fühlen. Ziel des Alarmsystems ist der Selbstschutz. Die Aufmerksamkeit ist eng und auf das fokussiert, was wir nicht haben wollen, also auf das, was uns bedroht. Ziel des Alarmsystems ist der Selbstschutz. Es fühlt sich unangenehm und alarmierend an, sodass wir unmittelbar nach Möglichkeiten suchen, uns in Sicherheit zu bringen. Die dazugehörenden Emotionen sind Angst, Panik, Aggression, Ekel und Widerstand. Das entsprechende Verhalten ist meist aktiv: kämpfen oder flüchten, oder manchmal – wenn kämpfen oder flüchten zu

Abb. 4  Die drei Systeme bei einer Katze. (© Christian Stocker 2019. All Rights Reserved)

26

Modul 1: Die drei emotionalen Regulationssystem …

riskant scheint – erstarren oder in Ohnmacht fallen. Heute unterscheiden Traumatherapeuten noch zwei weitere Stressreaktionen8. Falls es unmöglich scheint, vor äußeren Bedrohungen zu fliehen, reagieren wir manchmal auch mit Unterwerfung, genau wie ein Hund, der sich auf den Rücken wirft, wenn sein Gegner zu stark ist. Oder wir reagieren mit Dissoziation, in dem wir unser Bewusstsein gewissermaßen ausschalten, um uns vor innerem Schmerz zu schützen. Das Antriebssystem Dieses System richtet sich darauf, das zu bekommen, was wir zum Überleben brauchen. Genau wie beim Alarmsystem ist die Aufmerksamkeit sehr fokussiert, nämlich auf das, was wir haben wollen. Wir streben nach Befriedigung unser Bedürfnisse, also z. B. nach Essen, Sexualpartnern, Vergnügen, Erfolg, Macht oder Besitztümern. Die damit verbundenen Gefühle von Aktivierung, Erregung, Genuss und Befriedigung sind angenehmer als beim Alarmsystem, dauern aber nicht lange an. Wir streben, leisten, konkurrieren, erreichen, konsumieren und wenn wir nicht bekommen, was wir wollen, werden wir leicht frustriert und neidisch auf diejenigen, die erfolgreicher sind. Das Beruhigungssystem Dieses System unterstützt Beruhigung und soziale Bindung. Es hat keinen speziellen Auslöser und wird aktiviert, wenn Gefahren gebannt und Bedürfnisse erfüllt sind. Wenn es nichts mehr gibt, was wir „müssen“, wonach wir streben oder was wir ablehnen, wird die Aufmerksamkeit weit und offen. Der emotionale Zustand von Wärme, Ruhe, Zufriedenheit, Sicherheit, Wohlbefinden und Verbundenheit fühlt sich angenehm an und hat mehr beruhigende und nachhaltige Qualität als die angenehmen Emotionen des Antriebssystems9. Unser Verhalten ist freundlich, fürsorglich und verspielt. Paul Gilbert verwendet hier bewusst das Wort „safeness“ (Geborgenheit), das einen ganz anderen Zustand darstellt als die vom Bedrohungssystem angestrebte „safety“ (Sicherheit). Ein Luftschutzkeller bietet körperliche Sicherheit, während ein warmes, gemütliches Zuhause auch emotionale Geborgenheit bietet. Der Stress von Alarm- und Antriebssystem Im Alarm- und Antriebssystem ist das Stressniveau hoch. Der aktivierende Teil des Nervensystems und unterschiedliche Stresshormone (unter anderem Cortisol und Adrenalin) arbeiten zusammen, um den Körper in Alarmbereitschaft zu v­ ersetzen. Die Atmung wird schneller und flacher, der Herzschlag wird schneller, der

8Lee

D & James S (2012) The compassionate mind approach to recovering from trauma. Constable & Robinson, London. 9Depue R A, & Morrone-Strupinsky J V (2005) A neurobehavioral model of affiliative bonding. Behavioral and Brain Science, 28, 313–395.

Drei emotionale Regulationssysteme

27

­ lutdruck steigt, die Anspannung und Durchblutung der Muskulatur nimmt zu, die B der Verdauungsorgane nimmt ab; auch das Immunsystem wird gedrosselt, denn Verdauung und Immunabwehr sind fürs unmittelbare Überleben weniger wichtig. Diese Systeme verbrauchen viel Energie und wurden für kurzzeitige Aktivität entwickelt, die dazu dient, einer Gefahr zu entkommen oder Beute zu erjagen. Wenn sie zu lange aktiviert sind, kann dies zu Erschöpfung führen. Hier gibt es deutliche Parallelen zu dem, was im Achtsamkeitstraining auch „Tun-Modus“ genannt wird. Im Alarmsystem sind wir damit beschäftigt zu vermeiden, was uns bedroht; im Antriebssystem sind wir auf der Suche nach dem, was wir haben wollen. Stell dir einen Bauern vor, der versucht, seinen Esel zur Arbeit anzutreiben. Hier kann sowohl Bestrafung als auch Belohnung hilfreich sein. Er kann den Esel dazu bringen, sich zu bewegen, indem er ihm von hinten mit einem Stock droht oder indem er ihn mit einer Karotte lockt, die vor seiner Nase baumelt. Vielleicht ist die Karotte effektiver, aber auch wenn das Tier zu lange im Antriebssystem ist, wird es letztlich gestresst und frustriert. (Anm: Im Englischen spricht man von carrots & sticks, wenn es um Belohnung bzw. Bestrafung geht). Wenn der Esel die Wahl hätte, würde er vermutlich lieber friedlich mit anderen Eseln auf der Wiese grasen, im entspannten „Seins-Modus“ des Beruhigungssystems, in dem wir entspannt sein können oder etwas auf entspannte Weise tun können. Rest and digest – ausruhen und verdauen Tiere spüren auf natürliche Weise, was sie benötigen, um in einem gesunden Gleichgewicht zu bleiben. Wann immer sie können, kehren sie ins Beruhigungssystem zurück. Für ein gesundes Gleichgewicht ist es notwendig, immer wieder zur Ruhe zu kommen und Kraft zu tanken. Wenn wir dem Beruhigungssystem mehr Raum in unserem Leben geben, kann der beruhigende Teil unseres Nervensystems – der Parasympathikus – in Aktion treten, sodass die Stresshormone abgebaut werden. Der Vagus-Nerv (von lat. vagari „umherschweifen“, wörtlich übersetzt heißt er also „der umherschweifende Nerv“) repräsentiert den beruhigenden Teil des autonomen Nervensystems. Er ist der größte Nerv dieses Bereichs und verbindet das emotionale Gehirn mit vielen inneren Organen, insbesondere dem Herzen10. Er sorgt dafür, dass sich der Atem vertieft und beruhigt, dass sich der Herzschlag verlangsamt, der Blutdruck sinkt, die Muskeln sich entspannen, die Durchblutung der Verdauungsorgane zunimmt und das Immunsystem gestärkt wird. Ist der Vagus-Nerv aktiviert, ermöglicht er einen entspannten Zustand, in dem Erholung, Ernährung und Wachstum möglich sind. Dieser Zustand wird im Englischen als

10Porges

S W (2007) The polyvagal perspective. Biological Psychology, 74, 116–143.

28

Modul 1: Die drei emotionalen Regulationssystem …

Abb. 5  Die drei Regulationssysteme im Gleichgewicht (Aus didaktischen Gründen nutzen wir hier ein vereinfachtes Diagramm, welches ursprünglich stammt aus Gilbert, P (2009) The compassionate mind (S. 22) Constable & Robinson, London. Wir haben das Beruhigungssystem unten platziert wie bereits erklärt in Van den Brink E & Koster F (2015) Mindfulness-based compassionate living (S. 55) Routledge, London). (© Christian Stocker 2019. All Rights Reserved)

„rest and digest“, Ausruhen und Verdauen, bezeichnet (im Gegensatz zu „fight and flight“, Kämpfen und Flüchten). Auch bei Reptilien kann man ähnliches beobachten; allerdings zeigen sie nicht die gleichen Möglichkeiten emotionaler Bindung wie Säugetiere. Reptilien haben viele Nachkommen, sodass sie kein prosoziales Verhalten benötigen. Säugetiere haben jedoch nur begrenzte Nachkommen, und ihr Überleben hängt davon ab, dass sie sich umeinander und insbesondere um ihre verletzlichen Jungen kümmern. So wurde die soziale Bindung und Bindung im Leben von Säugetieren entscheidend, und der Zustand von rest and digest erweiterte sich zu warmen Gefühlen von Beruhigung und Verbundenheit. Die neueren Zweige des VagusNervs halfen bei dieser Entwicklung. Unterstützt wird dieses beruhigende Gefühl durch das Gehirn, das natürliche opiatähnliche Substanzen (Endorphine) und das so genannte „Kuschelhormon“ Oxytocin freisetzt, das das warme Gefühl in unserer Brust verursacht, wenn wir Verbundenheit fühlen.11

11Olff,

M, Frijling J L, Kubzansky L D, et al. … & van Zuiden M (2013) The role of oxytocin in social bonding, stressregulation and mental health: An update on the moderationg effects of context and interindividual differences. Psychoneuroendocrinology, 38, 1883–1894.

Die drei emotionalen Regulationssysteme in deinem Leben

29

Jedes System ist gleichermaßen wichtig Die emotionalen Regulationssysteme, die auch Motivationssysteme genannt werden, sind alle wertvoll. Wenn wir kein Alarmsystem hätten, würden wir im Straßenverkehr verunglücken. Wenn wir kein Antriebssystem hätten, würden wir verhungern oder könnten weniger leisten und unser Leben würde sehr passiv werden. Und hätten wir kein Beruhigungssystem, würden wir uns erschöpfen und isolieren. Für gewöhnlich hat stets eines der drei Systeme die Oberhand, doch sie können einander – abhängig von der Situation – sehr schnell abwechseln. Jedes dieser drei Systeme trägt auf seine Weise zu unserem Überleben bei. Jedoch sind wir Menschen komplexe Wesen und finden nicht immer eine heilsame Balance zwischen diesen Systemen (Abb. 5). Indem wir uns in Achtsamkeit und Selbstmitgefühl üben, können wir diese Neigung bemerken und dann unser Fürsorgesystem nähren, sodass mehr Zufriedenheit und Ruhe möglich wird. Im folgenden laden wir dich ein, darüber zu reflektieren.

Die drei emotionalen Regulationssysteme in deinem Leben Wie haben sich die drei Emotionsregulationssysteme in deinem Leben entwickelt? Zeichne das Alarm-, Antriebs- und Beruhigungssystem wie in Abb. 5 als drei Kreise auf ein Blatt Papier. Dabei bekommt ein stärker entwickeltes System einen größeren Kreis und ein weniger starkes System einen kleinen Kreis. Was kann dir helfen zu entscheiden, wie groß der Kreis für ein System sein soll? Du kannst dich daran erinnern, wie oft das System (absichtlich oder unabsichtlich) in der Gegenwart oder Vergangenheit aktiviert wurde, und die unten stehenden Fragen reflektieren. Manchmal kann es schwierig sein, Antworten zu finden. Erlaube dir mit entspannter, freundlicher Aufmerksamkeit wahrzunehmen, was sich zeigt, auch wenn es schmerzhaft sein sollte. Und wenn sich nichts zeigt, ist es genauso in Ordnung. Du brauchst nichts zu erzwingen und darfst deine Grenzen respektieren. Wenn du möchtest, kannst du Schlüsselbegriffe in die Kreise schreiben und wann immer du möchtest, kannst du die Übung aus Freundlichkeit mit dir selbst unterbrechen und später zu ihr zurückkehren. • Welche Erfahrungen, Ereignisse und/oder Personen haben für dich eine wichtige Rolle gespielt in der Entwicklung und Ausprägung des Alarm-, Antriebsund Fürsorgesystems? • Wovor hattest du Angst? Was war das Objekt deines Verlangens? Was war dein tiefstes Bedürfnis? • Welche Strategie dich selbst zu schützen und (innerlich) zu überleben hast du dabei vor allem entwickelt? Manche Strategien sind nach außen gerichtet (z. B. andere zu meiden, mit ihnen zu konkurrieren, ihnen gefallen zu wollen).

30

Modul 1: Die drei emotionalen Regulationssystem …

Andere sind eher nach innen gerichtet (z. B. schwierige Gefühle vermeiden, an angenehmen Gefühlen hängen, dich selbst kritisieren oder nach Perfektion streben). • Was sind unbeabsichtigte Folgen dieser Strategien? • Was sagt dir dies und was könnte jetzt ein freundlicher Wunsch für dich sein? Schließe diese Übung mit Freundlichkeit dir selbst gegenüber ab, indem du einen beruhigenden Atemrhythmus einlädst und den Wunsch, der bei der letzten Frage aufgetaucht ist, sanft innerlich wiederholst und durch dich hindurchfließen lässt: z. B. „Möge ich …“ (mit dem Einatmen) „… sicher, stark, ruhig, glücklich, zufrieden, … sein“ (mit dem Ausatmen).

Weshalb es wichtig ist, das Beruhigungssystem zu nähren Im Idealfall gibt es ein gesundes Gleichgewicht zwischen den drei Systemen. Viele unserer Teilnehmenden sagen jedoch, dass bei ihnen Alarm- und Antriebssystem überproportional entwickelt sind. Im Gegensatz zu anderen Säugetieren sorgen wir zudem dafür, dass Alarm und Antrieb länger aktiviert bleiben, als es die Evolution vorgesehen hat. Oft sind es lediglich vorgestellt Stöcke, die wir vermeiden und ebenso vorgestellte Karotten, denen wir hinterherjagen. Selbst wenn es aussieht, als würden wir ausruhen, befinden wir uns im „Tun-Modus“, denn es hat sich als evolutionärer Vorteil erwiesen, dass wir besser aus unserer Vergangenheit lernen und Fehler in der Zukunft vermeiden konnten. So ist es verständlich, dass wir gedanklich viel mit der Vergangenheit und der Zukunft beschäftigt sind. Aber es hat auch einen Nachteil, wenn unser Alarm- und Antriebssystem ständig durch Nachdenken aktiviert wird, weil wir uns Sorgen um die Zukunft machen, Fantasien darüber entwickeln was wir brauchen oder darum besorgt sind, was andere von uns halten. Wenn diese Alarm- und Antriebsprogramme, die so tief in uns verankert sind, dauerhaft die Führung übernehmen, erschöpfen unsere Energien. Die Tendenz, die wir alle kennen, möglichen Bedrohungen mehr Aufmerksamkeit zu schenken und schwierige Ereignisse deutlich zu erinnern, wird von Rick Hanson12 „Vorliebe für das Negative“ (negativity bias) genannt. Er vergleicht unser Gedächtnis darum auch mit Klettband bzw. Teflon. Im Klettband verharken sich unsere negativen Erfahrungen, am Teflon gleitet das Positive allzu schnell wieder ab. Stephen Porges hat in diesem Zusammenhang den Begriff „Neurozeption“13 geprägt. Damit meint er eine subtile und automatische Funktion unseres Nerven-

12Hanson

R, Mendius R (2009) Buddha´s brain: The practical neuroscience of happiness, love & wisdom. New Harbinger Publications, Oakland, CA. 13Porges S W (2007) The polyvagal perspective. Biological Psychology 74, 116–143.

Weshalb es wichtig ist, das Beruhigungssystem zu nähren

31

systems, die – wie ein Radar – unablässig nach möglichen Gefahren Ausschau hält. Es ist also nicht überraschend, dass das Alarmsystem die anderen Systeme leicht dominiert. Das wird auch als „Werkseinstellung“ (default mode) des alten Gehirns bezeichnet. Als die Ressourcen knapp waren, mussten wir uns schnappen, was wir konnten, um zu überleben. Heutzutage in den Industrieländern kann dies jedoch zu krankhafter Gier und Konsumsucht führen und die globalen Ressourcen erschöpfen. Angesichts der Tatsache, dass unsere Kultur individuelle Leistung, Wettbewerbsfähigkeit, Wohlstand und Erfolg betont, ist es kein Wunder, dass unser Antriebssystem permanent Überstunden macht. Wir werden leicht süchtig nach allen möglichen Wünschen, Besitztümern und Vergnügungen und unser Selbstwertgefühl hängt davon ab. Seit einigen Jahren wird dies noch durch Social Media und die Anzahl der Freunde, „Follower“ und „Likes“ die wir bekommen, verstärkt. Einerseits haben wir also Angst vor Verlust und Unterlegenheit, andererseits streben wir nach Gewinn und Überlegenheit. Wir verbringen also viel Zeit damit, zwischen unserem Bedrohungs- und Antriebssystem hin und her zu pendeln und vernachlässigen unser Beruhigungssystem. Und es ist nicht überraschend, dass all dies zu den verschiedensten stressbedingten Gesundheitsproblemen führt. Dies führt uns zu der Frage, wie wir ein gesünderes Gleichgewicht der drei Systeme erreichen können. Die gesunde Balance wiederherstellen Du hast schon in der ersten Übung damit begonnen das Gleichgewicht der drei Systeme zu unterstützen. Ein beruhigender Atemrhythmus erhöht den Vagotonus (d. h. die Aktivierung des Vagus Nervs) und sorgt für eine gesunde Herzfrequenzvariabilität (d. h. die Fähigkeit des Organismus, die Frequenz des Herzrhythmus zu verändern), die unser emotionales Gehirn beruhigt. Eine freundliche Berührung, wie z. B. eine Hand auf dem Herzbereich, kann – unter den richtigen Umständen – die Freisetzung von Oxytocin und so Gefühle von Wärme, Offenheit und Verbindung unterstützen. Indem wir das Beruhigungssystem auf diese Weise nähren, stärken wir die „niedrige (oder kurze) Route zum Mitgefühl“ und bringen unser altes Gehirn und unseren Körper in Einklang, um so Freundlichkeit und Fürsorge zu empfangen und zu geben14. Wir können jedoch auch die „hohe (oder lange) Route“ üben, indem wir Achtsamkeit praktizieren und mit mitfühlenden Bildern arbeiten. So trainieren wir unser neues Gehirn und schaffen bessere Bedingungen für das Beruhigungssystem.

14Goleman

York.

D (2006) Social intelligence: The new science of human relationships. Bantam, New

Modul 1: Die drei emotionalen Regulationssystem …

32

Wir trainieren also unser altes und unser neues Gehirn, damit sie positive Verknüpfungen und Aufwärtsspiralen für das physische, psychische und soziale Wohlbefinden bilden und so mehr Widerstandsfähigkeit gegen Stress zu ermöglichen15. Und so wie wir unsere Muskeln durch Training stärken können, können wir durch Achtsamkeit und Mitgefühl mehr mentales Gleichgewicht entwickeln. Wir trainieren unser Gehirn, indem wir sowohl auf der hohen als auch auf der niedrigen Route in Richtung Mitgefühl gehen. Im Folgenden findest du die Übung „Ein sicherer Ort“, bei der du eingeladen bist, deine Vorstellungskraft auf spielerische Weise zu nutzen und dabei dein Beruhigungssystem zu stärken.

Übung: Ein sicherer Ort (M1_02) Übung

Du kannst diese, und auch die noch folgenden Vorstellungsübungen, immer mit dem ersten und zweiten Schritt der Übung „Atemraum mit Freundlichkeit“ beginnen. 1. Ankommen Im ersten Schritt also innehalten und Pause machen vom Tun … und dich sanft dafür öffnen, was von Moment zu Moment im Feld des Gewahrseins geschieht. Vielleicht gibt es Körperempfindungen, die deutlich wahrnehmbar sind, vielleicht Gefühle oder Gedanken, die durch den Geist ziehen. Vielleicht gibt es Hören oder Zuhören. … Sanft mit dem sein, was sich zeigt. 2. Beruhigender Atemrhythmus Der zweite Schritt ist, Entspannung zu erlauben und bewusst einen beruhigenden Atemrhythmus einzuladen. Den Atem sich behutsam ein wenig verlangsamen und vertiefen lassen … ihn einladen, den Körper zu durchströmen. Und wenn du irgendwann in dieser Übung bemerkst, dass du fest steckst oder verwirrt bist, kann es hilfreich sein dich daran zu erinnern, dass dir immer wieder diese zwei Helfer zur Seite stehen: Achtsamkeit, anwesend sein mit dem, was da ist, und Entspannung zulassen mit einem

15Kok

B E, Coffey K A, Conn M A, Catalino L I, Vacharkulksemsuk T, Algoe S B, Brantley M & Federickson B L (2013) How positive emotions build physical health: Perceived social connections account for the upward spiral between positive emotions and vagal tone. Psychological Science 24, 1123–1132.

Übung: Ein sicherer Ort

beruhigenden Atemrhythmus. Und wenn du dann wieder Raum dafür fühlst, kannst du zurückkehren zur Übung. Bei allen Vorstellungsübungen bist du herzlich eingeladen, deinem eigenen Weg zu folgen. Manchmal erscheinen die Anweisungen hilfreich, manchmal vielleicht auch nicht. Dann kann die Stimme einfach ein Geräusch im Hintergrund sein. 3. Ein sicherer Ort In dieser Übung laden wir dich ein, dein Vorstellungsvermögen zu benutzen. Du kannst dich einfach überraschen lassen, was sich zeigen möchte … und achtsam bemerken, was dabei in dir geschieht. Mühelos. Dir nun einen Ort vorstellen, an dem du dich geborgen fühlen kannst und sicher. … Einen Ort, wo du ganz für dich bist, ohne die Anwesenheit von jemand anderem. Übungen, wo noch jemand anderes anwesend ist, kommen später im Programm. … … Die Vorstellung eines Ortes einladen, wo du einfach so sein darfst, wie du bist. … … Es kann ein bekannter Ort sein, der aus deiner Erinnerung auftaucht … oder ein Ort, der jetzt in deiner Fantasie entsteht oder vielleicht auch eine Mischung aus beidem. … Ein Ort in der Natur, am Strand, im Wald oder in einem Garten oder vielleicht auch irgendwo drinnen oder wo auch immer. … … Und das Bild kann klar sein oder verschwommen, fließend, oder bruchstückhaft, vielleicht zeigt sich ein Ort oder mehrere Orte, oder kein Ort. All diese Erfahrungen dürfen dazu gehören. Immer in dem Wissen, dass dies einfach eine Übung ist. Wenn sich ein Ort zeigt, ihn vor deinem inneren Auge lebendig werden lassen. … Was gibt es zu sehen an diesem Ort? Formen, Farben, in der Nähe oder weiter weg. … Gibt es Geräusche, die zu der Atmosphäre dieses Ortes gehören? Oder ist da Stille? … Was gibt es zu riechen? Bemerkst du einen Geruch? … Und was ist spürbar? Vielleicht Kontakt, Berührung, vielleicht Getragen-werden, Unterstützung, Empfinden von Wärme oder Kühle? … Oder einfach die Energie dieses Ortes fühlen, seine Anwesenheit. … Dich überraschen lassen, was sich zeigen möchte. … Einzelheiten bemerken, und auch das größere Ganze. Ein Ort, wo du so sein darfst, wie dich gerade fühlst. … … 4. Auswirkungen Freundlich bemerken was in dir geschieht bei der Vorstellung dieses sicheren Ortes, wo du so sein darfst, wie du bist … Was macht das mit deiner Stimmung? … Anerkennen, was auch immer sich zeigt. Und wenn es irgendwie schwierig ist, dann kannst du dir vorstellen, dass du auch Traurigkeit oder Widerstand fühlen darfst an diesem Ort. … Was spürst du im Körper? Vielleicht im Gesicht, Bauch … in den Muskeln … Welche Gedanken bemerkst du? … Und vielleicht ist auch die Vorstellung möglich, dass dieser Ort es wirklich schätzt, dass du da bist. Dass er sich freut, wenn du Kontakt aufnimmst, wie auch immer du dich fühlst … dich willkommen heißt? …

33

Modul 1: Die drei emotionalen Regulationssystem …

34

Und spüren, was in dir bei dieser Vorstellung geschieht, was in dir anklingt. … Anerkennen was sich zeigt … mit einer entspannten und spielerischen Haltung. Diese Übung ist auch eine Übung in Achtsamkeit, bei der jede Erfahrung so sein darf, wie sie ist. Jede Vorstellung und jede Reaktion darf mit Interesse bemerkt werden, aus einer nicht-urteilenden Haltung heraus. … Wenn du so weit bist, kannst du all diese Vorstellungen und Bilder wieder mehr in den Hintergrund treten lassen, immer mit dem Wissen, dass du jederzeit Kontakt aufnehmen kannst mit einem Ort, der dich annimmt, wie du bist. Ein Ort an dem du dich geborgen und sicher fühlen kannst. Ein Ort, zu dem du jederzeit nach Hause kommen kannst, wo immer du bist, wie auch immer du dich fühlst. Ein Ort, der sich auch wandeln und verändern darf. Und du kannst noch einige Momente so sitzen, mit Achtsamkeit für alles, was sich zeigt, bis die Klangschale erklingt. Auf dem Arbeitsblatt 1.1 (extra Material zum Herunterladen) kannst du deine Erfahrungen notieren, nachdem du diese Übung praktiziert hast.

Reflexionsfragen (aus dem Arbeitsblatt 1.1)

• Welche(r) Ort(e) ist bzw. sind in der Übung aufgetaucht? • Welche Sinneswahrnehmungen standen für dich in der Übung im Vordergrund? • Welche Körperempfindungen, Gefühle und Gedanken hast du beobachtet? • Wie hat die Vorstellung gewirkt, dass der Ort es wirklich schätzt, dass du dort bist? • Was bemerkst du jetzt, während du über die Übung reflektierst? Was könnte jetzt ein freundlicher Wunsch für dich sein?

Übung: Freundlichkeitsmeditation – für dich selbst (M1_03) Wir stellen hier eine Meditationspraxis vor, die in verschiedenen Traditionen schon jahrhundertelang geübt wird: Die Meditation über Freundlichkeit oder Sanftmut, manchmal auch „Liebende Güte Meditation“16 genannt. Wir werden diese Praxis in den kommenden Wochen schrittweise ausbauen und beginnen damit, der Person, mit der du am meisten zu tun hast, Freundlichkeit zu schenken: Dir selbst. 16Salzberg

S (1995) Loving-Kindness: The revolutionary art of happiness. Shambala, Boston.

Übung: Freundlichkeitsmeditation – für dich selbst

Übung

1. Ankommen In einer bequemen Haltung ankommen, auf einem Stuhl, Kissen oder Meditationsbänkchen … aufrecht und auf entspannte Weise aufmerksam. Vielleicht gibt es körperliche Einschränkungen, dann fühle dich frei deine Haltung während der Übung behutsam zu verändern oder dich vielleicht auch hinzulegen. Auch diese Übung beginnen wir mit den ersten beiden Schritten des Atemraums. Und es ist gut zu wissen, dass du jederzeit und immer wieder zu diesen beiden Schritten zurückkehren kannst: Dir im ersten Schritt erlauben innezuhalten, Pause zu machen vom Tun … und achtsam anerkennen was sich gerade zeigt … dann dem Atem sanft erlauben sanfter zu werden, sich ein wenig zu vertiefen, bis er einen beruhigenden Rhythmus gefunden hat. … … Und wenn es für dich stimmt, den Atem auch wieder ganz aus sich selbst heraus fließen lassen und spüren … … 2. Freundlichkeit wecken Wenn du möchtest, kannst du nun Verbindung aufnehmen mit einer freundlichen Atmosphäre, indem du dich an eine Situation erinnerst, in der du dich ganz und gar willkommen gefühlt hast, wohl gefühlt hast … wo du glücklich warst, zufrieden und dankbar. … Diese Erinnerung dann noch einmal lebendig werden lassen mit allen Sinnen, indem du dir bewusst machst: Was gab es zu sehen … zu hören … zu riechen … zu fühlen … … Dir vorstellen, dass es jetzt geschieht … … … und wahrnehmen, wie sich das jetzt auf dich auswirkt. Was spürst du dabei im Körper … im Herzen … im Geist? 3. Freundlicher Wunsch für dich Aus diesem Gefühl von Freundlichkeit heraus bist du eingeladen, innerlich einen Wunsch für sich selbst zu wiederholen. Was könnte jetzt ein freundlicher Wunsch für dich sein? Etwas, das du dir von Herzen wünschst? Was du dir gönnen kannst? … Ruhig nach innen lauschen und dich überraschen lassen, ob sich spontan ein Wunsch zeigt. … … Und wenn nicht, kannst du dir immer einen der vier traditionellen Wünsche schenken, die schon viele Jahrhunderte Teil der Freundlichkeitsmeditation sind und tiefe Grundbedürfnisse ausdrücken: „Möge ich sicher sein.“… „Möge ich gesund sein.“… „Möge ich glücklich sein.“… „Möge ich mit Leichtigkeit leben können.“… Den Wunsch im Rhythmus des Atems fließen lassen, wenn du möchtest: Den ersten Teil „Möge ich“ oder „Ich wünsche mir“ mit dem einatmen, und den zweiten Teil „glücklich sein, oder gesund“ mit dem ausatmen. … Die Worte durch den Körper und dein ganzes Sein fließen lassen … und dabei wahrnehmen, wie es möglich ist dir selbst diesen Wunsch zu schenken. … … Und spüren, wie dieser Wunsch empfangen werden kann. …

35

Modul 1: Die drei emotionalen Regulationssystem …

36













… … Du kannst das Gebende durch ein weiches Gesicht und ein kleines Lächeln unterstützen … und das Empfangende, indem du eine oder beide Hände auf den Herzbereich legst und so die Absicht stärkst, dir diesen Wunsch zu Herzen zu nehmen. … Wenn sich das nicht stimmig für dich anfühlt, kannst du auch erkunden, ob sich Berührungen an anderen Bereichen des Körpers beruhigend anfühlen. … Und immer hast du die Möglichkeit die Worte so zu ändern, so dass du sie leichter empfangen und spüren kannst. Bei dieser Übung geht es nicht um Resultate. Wir können angenehme Gefühle nicht erzwingen, sondern nur den Boden bereiten für ihr Wachstum, indem wir eine wohlwollende und freundliche innere Haltung uns selbst gegenüber kultivieren. … Vielleicht möchtest du nach einer Weile des Übens den Wunsch einfach nur als ein Wort wiederholen, indem du innerlich sagst: „sicher“ oder „glücklich“ oder „zufrieden“ – im Atemrhythmus oder unabhängig davon. …… Vielleicht fühlen sich Worte wie „gesund“ und „glücklich“ gerade fremd für dich an, dann passt vielleicht besser der Wunsch: „Möge ich mich so gesund wie möglich fühlen.“, oder „…mich stark fühlen.“ oder „… mutig.“ oder „Möge ich geduldig sein.“… „… Unterstützung erfahren.“… … Dem Wunsch erlauben durch dich hindurch zu fließen wie eine heilende Energie, … … … achtsam bemerken und anerkennen, was dabei geschieht … Vielleicht fühlst du Freude oder Traurigkeit … Berührung oder inneren Widerstand… Energie oder Erschöpfung … Es gibt keine falschen Erfahrungen. Was auch immer sich zeigt, darf sein und ist Teil der Übung. Und du kannst immer wieder dazu zurück kehren einfach achtsam und nicht-urteilend mit dem sein, was sich gerade zeigt, wenn du in der Übung das Gefühl hast, du bist stecken geblieben oder es gibt schwierige Gefühle oder Ablenkungen… Wieder einfach achtsam anwesend mit dem sein was da ist … und Entspannung zulassen … einen beruhigenden Atemrhythmus einladen … Und dann zur Übung zurückkehren, wenn du Raum dafür fühlst. Manchmal bemerken wir, dass wir gegen eine Erfahrung ankämpfen. Dann kann auch ein paradoxer Wunsch mitfühlend sein. Zum Beispiel: „Möge ich müde sein dürfen.“ oder „Möge ich die Traurigkeit fühlen dürfen oder die Wut – so, wie sie ist.“ … … … Und so lange du möchtest weiter diese Freundlichkeit mit dir selbst kultivieren. Vielleicht noch ein schönes Zitat des belgischen Schriftstellers Karel Staes: Du liebst die Menschen, weil du gelernt hast, dich selbst zu lieben. Nicht so, wie du sein wolltest aber einfach so, wie du bist.

Wie wir unser Beruhigungssystem nähren können

37

Auf dem Arbeitsblatt 1.2 (Download) kannst du deine Erfahrungen notieren.

Reflexionsfragen (aus dem Arbeitsblatt 1.2)

• Welcher Wunsch/welche Wünsche haben dich am meisten berührt? • Welche Körperempfindungen hast du während der Übung bemerkt? • Welche Gedanken und Gefühle hast du beobachtet? • Was hast du beim Geben und Empfangen des Wunsches/der Wünsche bemerkt? • Was bemerkst du jetzt, während du über die Übung reflektierst? Was könnte jetzt ein freundlicher Wunsch für dich sein?

Wie wir unser Beruhigungssystem nähren können In diesem Training laden wir dich ein, dein Beruhigungssystem zu nähren. Alle Übungen in diesem Programm sind genau dafür konzipiert. Auch während der Meditationspraxis können wir die mehr oder weniger subtile Aktivität der drei Regulationssysteme beobachten. Wenn du zum Beispiel anfängst, dir Sorgen zu machen oder Widerstand spürst, wird das Alarmsystem aktiv. Wenn du dich sehr bemühst, eine Übung wirklich „gut“ oder „richtig“ zu machen oder nach einer angenehmen Erfahrung suchst, wird das Antriebssystem aktiviert. Indem du die Energien dieser Systeme aufmerksam und mitfühlend bemerkst, anstatt sie zu bekämpfen, hast du bereits Raum für die Rückkehr des Beruhigungssystems geschaffen. Im Folgenden findest du eine Reihe weiterer Möglichkeiten, dein Beruhigungssystem bewusst zu unterstützen und zu nähren: • Musik & Klang: Musik hat einen großen Einfluss auf unsere Gefühlszustände. Finde heraus, welche Musik eine beruhigende Wirkung auf dich hat, indem du ihr zuhörst, singst oder ein Instrument spielst. Welche Klänge, Melodien oder Rhythmen bringen die Mitgefühls-Saite in dir zum klingen und unterstützen einen beruhigenden Atemrhythmus? Erlaube dir, dich überraschen zu lassen! • Form & Farbe: Während es für die einen Rhythmus und Klang ist, fühlen sich andere eher durch Farben oder Formen berührt. Welche Farben wirken beruhigend auf dich oder erfüllen dich mit einem Gefühl von Wärme, innerer Ruhe, Freundlichkeit oder Mut? Du kannst dir auch auf spielerische Weise vorstellen, dass diese Farbe mit dem Einatmen in dich hinein strömt und dich ausfüllt. Was bemerkst du, wenn du dir das vorstellst? Du kannst auch in die Natur gehen und nach Farben oder Formen Ausschau halten, die Gefühle von Freundlichkeit und Leichtigkeit wecken oder damit experimentieren, Formen und Farben zu zeichnen, zu malen oder zu fotografieren.

Modul 1: Die drei emotionalen Regulationssystem …

38

• Geruch & Geschmack: Ebenso kannst du das Riechen und Schmecken erforschen, real oder in deiner Vorstellung. Du kannst dir vorstellen, einen beruhigenden Duft einzuatmen und ihm erlauben, sich in dir auszubreiten. Was bemerkst du bei dir, wenn du dies tust? • Fühlen & Berühren: Berühren ist ein sehr grundlegender Sinn, um Beruhigung und Sicherheit zu vermitteln. Denke einmal an das gute Gefühl, das ein Kind beim Herumtragen z. B. seines weichen Kuscheltieres erlebt. Erkunde, welche Formen von Berühren oder Berührt werden dich entspannen. Eine sanfte Selbstmassage, ein Saunabesuch oder das rhythmische Beklopfen des Körpers mit den Fingern an bestimmten Punkten ist auch eine Möglichkeit, sich selbst zu beruhigen und wird z. B. auch in der Traumatherapie eingesetzt17. • Objekte & Zitate: Vielleicht möchtest du Gegenstände, Texte oder Gedichte sammeln, die dich mit Freundlichkeit, Freude und Mitgefühl erfüllen. Etwas, das Mitgefühl oder Wärme in dir entstehen läßt. Das kann alles mögliche sein: Ein Foto, das dich an einen berührenden Moment erinnert; Blumen, die dir gefallen; Bilder, Karten oder weise Sprüche, Gedichte; etwas, das du in deiner Hosentasche mit dir herumträgst und das sich angenehm anfühlt, etc. Du kannst dich mit diesen Objekten umgeben, wenn du deine Übungen machst. Rufe dir regelmäßig – so wie in der nun folgenden Übung – etwas Angenehmes in Erinnerung oder mache einen Genussspaziergang (siehe Übung: Ein Genussspaziergang). Du brauchst all diese Vorschläge nicht sofort umzusetzen. Erlaube dir in den kommenden Wochen Zeit, um spielerisch zu entdecken, wie du dein Beruhigungssystem nähren kannst. Fühle dich eingeladen, aufmerksam und mit ganzem Herzen in Kontakt mit deinen Sinnen zu kommen und das Gute, dem du begegnest, zu genießen. Eine weitere schöne Möglichkeit ist auch ein regelmäßiger Genussspaziergang.

Übung: Ein Genussspaziergang Übung

Ein kleiner Spaziergang kann eine gute Übung sein, um mehr Freude zu erleben. Gönne dir regelmäßig eine Runde in der freien Natur. Dort, wo du wohnst oder irgendwo anders. Du brauchst dabei nicht besonders langsam zu gehen und kannst dich an den inneren und äußeren Wetterverhältnissen orientieren. Lasse einen beruhigenden Geh-Rhythmus entstehen. Erlaube deinem Gesicht, sich zu entspannen, lade ein sanftes Lächeln ein und gib dem Atem Raum zu fließen, wie er fließen möchte, während du gehst.

17Van

der Kolk B (2014) The body keeps the score. Penguin, New York.

Tagebuch: Beruhigungssystem

39

Öffne dein Herz und deine Sinne, um zu erkunden, was in dir und um dich herum auftaucht, besonders alles, was dir angenehme Gefühle schenkt und Freude in dir weckt. Gibt es irgendwelche angenehmen Empfindungen im Körper oder auf seiner Oberfläche? Vielleicht spürst du die Kraft und Weichheit in deinen Muskeln, den festen Boden unter deinen Füßen, eine sanfte Brise in deinem Haar, warme Sonnenstrahlen auf deiner Haut. Wenn etwas Schönes, Freudiges oder Berührendes deine Aufmerksamkeit auf sich zieht, erlaube dir zu verweilen und zu erkunden, was genau es ist: ein Duft, den du riechst, die Schönheit einer Blume oder eines Baumes, die Wolkenbewegungen, der Gesichtsausdruck der Menschen um dich herum, die Farbe ihrer Kleidung, der Gesang eines Vogels, Geräusche von spielenden Kindern, die Spiegelungen auf dem Wasser. Erkunde sowohl die Details als auch die ganze Atmosphäre. Nimm dir die Zeit, all das in dich hinein sinken zu lassen … und bemerke, wie der Körper darauf antwortet. Dann kannst du wieder in einem beruhigenden Rhythmus gehen, bis zur nächsten Einladung innezuhalten. … Erkunde, was es eigentlich ist, dass seine Schönheit offenbart, Gefühle der Freude hervorruft, dich mit Dankbarkeit erfüllt. … Auch Gedanken, Assoziationen und Bilder in deinem Geist, die während des Spaziergangs auftauchen, können Quellen der Freude sein. Zum Beispiel kannst du selbst wenn es regnet Dankbarkeit empfinden, wenn du an die vielen Wesen in der Natur denkst, die vom Regen profitieren.

Tagebuch: Beruhigungssystem Im täglichen Leben eine Erfahrung oder ein spezifisches Thema wirklich gründlich zu erforschen, kann dazu beitragen, das Bewusstsein zu schärfen. Diese Form der Bewusstwerdung kann dir nämlich dabei helfen, etwas einzuordnen, was dir bislang noch nicht so deutlich war. Diese Woche ist die Einladung, täglich über eine Erfahrung mit dem Beruhigungssystem zu reflektieren, die du an diesem Tag gemacht hast. Du kannst dir auf Arbeitsblatt 1.3 (Download) Notizen machen, die sich an den folgenden Fragen orientieren. Wir empfehlen dir, dies möglichst bald nach der eigentlichen Erfahrung zu machen, da deine Erinnerung daran noch lebendig ist.

Reflexionsfragen (aus dem Arbeitsblatt 1.3)

• • • • •

Was genau geschah in der Situation? Wie und wann hast du bemerkt, dass das Beruhigungssystem aktiv war? Welche Körperempfindungen hast du bemerkt? Welche Gedanken und Emotionen kamen auf? Was bemerkst du jetzt, während du über die Übung reflektierst? Was könnte jetzt ein freundlicher Wunsch sein?

Modul 1: Die drei emotionalen Regulationssystem …

40

Zusammenfassung Im ersten Kapitel achten wir auf das „Warum“ des Trainings von Mitgefühl und verknüpfen es mit dem wissenschaftlichen Verständnis darüber, wie wir Menschen durch die Evolution geformt wurden. Ohne unser eigenes Verschulden kann das unvollkommene Design unseres Gehirns zu viel Leid führen. Wir erklären drei grundlegende Systeme der Emotionsregulation: das Alarm-, Antriebs- und Beruhigungssystem. Unser Alarm- und Antriebssystem werden leicht aktiviert – auf Kosten unseres Beruhigungssystems. Dieses Ungleichgewicht kann zu vielen stressbedingten Gesundheitsproblemen führen. Mitgefühl kann helfen, das Gleichgewicht wiederherzustellen.

Übungsvorschläge Formal: • Reflektiere über „Die drei emotionalen Regulationssysteme in deinem Leben“. • Nimm täglich Kontakt auf mit einem „Sicheren Ort“ (Audio-Datei M1_02 und Arbeitsblatt 1.1, darauf kannst du deine Erfahrungen notieren). • Praktiziere täglich „Freundlichkeitsmeditation – für dich selbst“ (Audio-Datei M1_03 und Arbeitsblatt 1.2, hier kannst du deine Erfahrungen notieren). Informell: • Nimm dir – beispielsweise zweimal am Tag – zwischen deinen täglichen Aktivitäten Zeit für den „Atemraum mit Freundlichkeit“ (Audio-Datei M1_01) • Praktiziere die Übungen „Wie wir unser Beruhigungssystem nähren können“ und „Genussspaziergang“ • Tagebuchübung: sei dir täglich deiner Erfahrungen mit dem Beruhigungssystem bewusst. Diese kannst du auf dem Arbeitsblatt 1.3 (Download) notieren.

Arbeitsblätter zum Herunterladen für Modul 1: 1.1 Ein sicherer Ort 1.2 Freundlichkeit für dich selbst 1.3 Tagebuch: Beruhigungssystem

Elektronisches Zusatzmaterial M1_01 Atemraum mit Freundlichkeit M1_02 Ein sicherer Ort M1_03 Freundlichkeitsmeditation – für dich selbst

Modul 2: Stressreaktionen und Selbstmitgefühl Die inneren Dämonen umarmen

Die wirkliche Entdeckungsreise besteht nicht darin, neue Landschaften zu erforschen, sondern darin, altes mit neuen Augen zu sehen! (Marcel Proust)

Innere Landschaften entdecken In früheren Zeiten machten sich Entdecker auf den Weg, um bislang unbekannte Teile der Welt zu erforschen. Sie brachen auf, ohne zu wissen, was sie vorfinden würden. Um diese neuen Entdeckungen zu machen, brauchten sie eine gehörige Portion Mut und Neugierde. Da es noch keine Landkarten gab, benötigten sie außerdem einen wachen und offenen Geist und die Bereitschaft, sich weit jenseits der Grenzen ihrer vertrauten Welt in unbekanntes Territorium zu begeben. Sie nutzten alle ihre Sinne und Fähigkeiten, um die Sterne, Winde, Meere und Landschaften als Orientierungshilfen zu nutzen. In vielen Übungen dieses Kurses laden wir dich dazu ein, Entdecker bzw. Entdeckerin deiner „inneren Landschaften“ zu werden, von denen du möglicherweise bislang keine klar umrissene Landkarte besitzt. Und selbst wenn du glaubst, mit deinen inneren Landschaften bereits vertraut zu sein und gute Landkarten davon zu besitzen, laden wir dich ein, noch einmal neu auf sie zu blicken. Manche deiner Landkarten sind vielleicht inzwischen veraltet. So wie äußere Landschaften sich durch Wind und Wetter und die Jahreszeiten verändern, können auch innere Landschaften sich durch körperliche, emotionale und gedankliche Zustände verändern. Was gibt es jetzt in dir zu entdecken?

Zusatzmaterial online Zusätzliche Informationen sind in der Online-Version dieses Kapitel (https://doi.org/10.1007/978-3-658-26824-4_3) enthalten. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Stocker et al., Mitgefühl üben, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26824-4_3

41

Modul 2: Stressreaktionen und Selbstmitgefühl

42

Einige innere Landschaften können attraktiv und einladend sein, andere karg und abstoßend, so wie es in der äußeren Welt neben Blumenwiesen und Wäldern auch Wüsten und vereiste Einöden gibt. Doch wie Botaniker, Wildnisexperten und Ökologen wissen, können alle Landschaften versteckte Schätze offenbaren, egal wie unwirtlich sie erscheinen. Einige Übungen aus dem ersten Kapitel dieses Buches wecken vielleicht die Erwartungen angenehmer Landschaften. Diese Erwartungen können sich erfüllen, aber möglicherweise machst du auch unangenehme Entdeckungen. In diesem Kurs laden wir dich ein, mutig zu sein und einige innere Landschaften zu erkunden, die auf den ersten Blick unattraktiv erscheinen. Du wirst überrascht sein, was es zu entdecken gibt. Vertraue deiner Erfahrung, nicht deinen Erwartungen, Vorurteilen oder vorab entworfenen Landkarten. Vielleicht kennst du die mittelalterlichen Karten, auf denen an den Rändern der bekannten Welt allerlei Ungeheuer und Dämonen gezeichnet waren. Das hat die frühen Entdecker nicht davon abgehalten, sich auf den Weg zu machen. Wahrscheinlich haben sie auf ihren Reisen manche Unwägbarkeiten und Abenteuer erlebt, doch diesen Monstern sind sie sicher nicht begegnet, denn die waren nur der Fantasie der Kartenmaler entsprungen. Vielleicht fürchtest du dich auch vor vielerlei Dämonen und Drachen, wenn du in deine unbekannten inneren Gebiete reist. Und doch ist es dort möglicherweise nicht so schlimm, wie deine Fantasien vermuten lassen. Die, die du zunächst für Dämonen gehalten hattest, könnten sich vielleicht sogar als Freunde oder Freundinnen entpuppen, die Mitgefühl in deinem Herzen wecken. Mit der folgenden Übung, die von Tara Brach1 inspiriert wurde, wollen wir dich auf eine Entdeckungsreise einladen, bei der es darum geht, Stressreaktionen aus dem Alarmsystem zu erkunden.

Übung: Mitfühlend mit Widerstand umgehen (M2_04) Übung 1. Ankommen Für diese Übung ist es hilfreich, eine aufrechte Haltung im Sitzen einzunehmen, wenn dir das körperlich möglich ist. Den Augen sanft erlauben sich zu schließen, wenn das für dich stimmt … und mit nicht-urteilender, freundlicher Achtsamkeit bemerken, welche Erfahrungen sich gerade zeigen. …… … und mit all dem, wie es ist, Entspannung einladen und einen beruhigenden Atemrhythmus zulassen. … … 2. Situation mit Widerstand Du kannst nun die Erinnerung an eine Situation einladen, die noch nicht so lange zurück liegt und die in dir ein Gefühl von Angst geweckt hat

1Brach

T (2004) Radical acceptance: Embracing your life with the heart of a Buddha. Bantam, New York.

Übung: Mitfühlend mit Widerstand umgehen



3.



4.

5.

oder Abneigung. … … … Du brauchst nicht die allerschwierigste Situation zu wählen. Du kannst eine aussuchen, die irgendwie schwierig für dich war und bei der du gleichzeitig genug Raum fühlst, um damit jetzt zu arbeiten. …… … Vielleicht eine Situation in der es körperliches Unwohlsein gab … oder emotionalen Schmerz … vielleicht ein Konflikt mit jemandem oder ein Dilemma … oder ganz einfach viel Stress oder Müdigkeit … Wenn du etwas gefunden hast, die Situation in deiner Vorstellung lebendig werden lassen, als ob es jetzt geschieht: Was gibt es da zu sehen, zu hören, zu riechen vielleicht, zu fühlen? … Diese innere Landschaft erkunden. …… … Und auch bemerken, was das mit dir macht, dir das so vorzustellen, deine Reaktionen darauf. … Was spürst du im Körper? … Gibt es Gedanken, die aufsteigen? Überzeugungen? … Gefühle? … Vielleicht gibt es auch Widerstand, dies alles so lebendig werden zu lassen. … Dich einfach überraschen lassen dürfen von dem, was sich zeigen möchte. … … Haltung von „Nein“ Dann bist du eingeladen zu einem Experiment und zu erkunden, wie das so auf dich wirkt. Du kannst dir dafür vorstellen, dass du jetzt wieder in dieser Situation bist, und deinem Erleben mit einem „Nein“ begegnen. Mit einer Haltung von Widerstand. „Nein, das will ich nicht“ … … Dieses „Nein“ wirklich verkörpern …… Allem, was du in dieser Situation erlebst mit der Energie des Widerstands begegnen: „Nein“ zur Situation, „Nein“ zu den Körperempfindungen in der Situation, „Nein“ zu den Gefühlen, den Gedanken. „Nein! Nein! Nein! … … Und vielleicht ist es gerade schwierig dich mit der Situation zu verbinden oder du fühlst Widerstand gegen die Übung, dann kannst du genau dem, was du jetzt gerade erlebst mit Widerstand und einem „Ich will das nicht“ begegnen. „Nein“ zu Geräuschen, die vielleicht da sind … „Nein“ zu Gedanken … Gefühlen … sogar „Nein“ zum Atem. Alles: NEIN! Auswirkungen des „Nein“ Achtsam bemerken, was dieses „Nein“ mit dir macht. …… Wie wirkt es sich aus auf den Körper? Darauf, wie du dich fühlst … auf die Temperatur des Körpers …… Was spürst du im Gesicht, im Kiefer, Kehle, Brust, Bauch … in den Muskeln der Arme … der Beine … in den Händen und Füßen? …… Wie wirkt sich das „Nein“ auf deine Stimmung aus? …… … Wie auf deinen Geist? …… Was macht das „Nein“ mit deiner Vorstellung von der Situation? …… … Und wie wäre es, wenn du in dieser Situation längere Zeit bei diesem „Nein“ bleiben würdest? … … Pause Dann das „Nein“ auch wieder loslassen … wieder eine eher neutrale innere Haltung einnehmen … vielleicht die Augen öffnen … einige Male tief atmen … vielleicht ein wenig bewegen … den Körper entspannen. …

43

44

Modul 2: Stressreaktionen und Selbstmitgefühl

6. Haltung von „Ja“ Dich dann wieder mit dieser selben schwierigen Situation von eben verbinden. Sie wieder lebendig werden lassen in der Vorstellung … mit allen Details: Was gibt es zu sehen, zu hören, zu riechen vielleicht …… Was spürst du im Körper? … Gibt es Gedanken? Gefühle, die damit verbunden sind? … … Behutsam in Kontakt mit dem Unangenehmen … Jetzt all dem mit einer inneren Haltung von „Ja“ begegnen. … … „Ja, es darf so sein“ … oder: „Es ist okay“ … … Dieses „Ja“ mit deinem ganzen Sein verkörpern. … … Jeder Erfahrung begegnen mit einem „Ja“, oder: einem „Willkommen“ oder: „Okay“ … … „Ja“ zur Situation selbst, zu deinen Vorstellungen von der Situation, zu den Gefühlen, den Körperempfindungen … … … … Und wenn die Situation nicht so deutlich ist, ein „Ja“ zu dem fließen lassen, was auch immer dir jetzt gerade begegnet: „Ja“ zu Geräuschen, Gedanken, Gefühlen … „Ja“ zum Atem … … … 7. Auswirkungen des „Ja“ Bemerken was diese Landschaft von „Ja“ ausmacht, wie es ist, das „Ja“ zu verkörpern. Was spürst du im Körper … im Gesicht, Kehle, Hals, Brust, Bauch, in den Muskeln … … Wie wirkt sich das „Ja“ aus auf deinen Geisteszustand? …Wie auf deinen gefühlsmäßigen Zustand? … … Was macht das „Ja“ mit der Vorstellung von der Situation? …… Was macht „Ja“ damit, wie du diese Situation erlebst? … … Und auch hier die Frage: Wie wäre es, wenn du in der Situation längere Zeit bei diesem „Ja“ bleiben würdest? … … … 8. Pause Dir dann auch wieder erlauben zu einer eher neutralen Haltung zurück zu finden … das Gewahrsein öffnen für das, was sich jetzt zeigt von Moment zu Moment …… …… Spüren, wie der Atem aus sich selbst heraus fließt …… … 9. Was wäre weise/mitfühlend? Und dir vielleicht noch eine Frage stellen. Du kannst dich überraschen lassen, was sich als Antwort zeigen möchte … ob sich etwas zeigen möchte … Die Frage lautet: Was wäre die weiseste, mitfühlendste Haltung in dieser speziellen Situation? Das „Nein“? Das „Ja“? Oder vielleicht etwas dazwischen? Diese Übung ist eine offene Untersuchung verschiedener Haltungen. Sie ist nicht moralisch gemeint. Es ist nicht eine Haltung besser als die Andere. Vielmehr bist du eingeladen achtsam zu untersuchen: Was wäre weise, Mitfühlend für dich? Für deine Umgebung? Du kannst die Frage auf mehreren Ebenen stellen: – Was wäre weise und mitfühlend mit dieser bestimmten Situation? „Ja“? „Nein“? – Was wäre mitfühlend mit deinen Erfahrungen in dieser Situation?

Äußere und innere Bedrohungen

45

– Was wäre mitfühlend mit deinem Erleben in der Übung? … … … Vielleicht macht es auch einen Unterschied, ob du „Ja“ sagst, oder „Okay“ …… … Vielleicht gibt es auch verschiedene Arten von „Nein“: z. B. ein ängstlich-widerstrebendes „Nein“ oder ein weises, abgrenzendes „Nein“ … … … Manchmal entdecken wir auch, dass es in manchen Situationen weder „Nein“ – noch „Ja“ ist, sondern dass eher ein geduldiges Fragezeichen oder ein „Noch-nicht-wissen“ am besten passt. Sanft bemerken, was geschieht. Achtsam anerkennen, was sich auch zeigt … … … 10. Wunsch Wenn du möchtest diese Übung beenden mit einem freundlichen, wohlwollenden Wunsch für dich selbst. … … … Diesen Wunsch auf bequeme Weise durch dich hindurch fließen lassen … … im Rhythmus des Atems, wenn du möchtest, oder auch ganz unabhängig davon. … … Bis die Klangschale ertönt. Auf dem Arbeitsblatt 2.1 Mitfühlend mit Widerstand umgehen (Download) kannst du deine Erfahrungen notieren, nachdem du diese Übung praktiziert hast.

Reflexionsfragen (aus dem Arbeitsblatt 2.1)

• Welche Situation hast du ausgewählt? • Was hast du bemerkt, als du „Nein“ verkörpert hast? • Wie wäre es, wenn du in dieser Situation längere Zeit beim „Nein“ bleiben würdest? • Was hast du bemerkt, als du „Ja“ oder „Okay“ verkörpert hast? • Wie wäre es, wenn du in dieser Situation längere Zeit beim „Ja“ bleiben würdest? • Gibt es Aspekte dieser Situation, im Bezug auf die ein „Nein“ stimmiger wäre und andere Aspekte, wo ein „Ja“ passend wäre? (Zum Beispiel ein „Nein“ zu dem verletzenden Verhalten von jemand Anderem und ein „Ja“ zu deinen Gefühlen in der Situation.) • Was könnte im Bezug auf das Thema, das du in dieser Übung untersucht hast, ein freundlicher Wunsch für dich sein?

Äußere und innere Bedrohungen Es gab in meinem Leben viele Katastrophen. Einige sind sogar tatsächlich passiert. (Mark Twain)

Im zweiten Kapitel erforschen wir nun einige Aspekte des Alarmsystems, das aus evolutionärer Sicht den größten Einfluss im Leben aller Tierarten hat. Dieses instinktive System war unser größter Lebensretter und hat in der

46

Modul 2: Stressreaktionen und Selbstmitgefühl

Geschichte der Menschheit immer dafür gesorgt, dass wir Gefahren schnellstmöglich abwenden und allerlei Schwierigkeiten überleben konnten. Es ist so tief in uns verankert, dass es die anderen beiden Systeme mit Leichtigkeit dominiert. Wenn wir während eines Spaziergangs plötzlich stolpern und fallen, strecken wir blitzschnell die Arme aus, um den Sturz abzufangen. Wenn wir bei einer leckeren Mahlzeit sitzen und der plötzlich den durchdringenden Ton eines Feueralarms hören, vergessen wir das Essen schlagartig und sind bereit zur Flucht. Kämpfen, flüchten, erstarren „Stress entsteht, wenn etwas, das uns wichtig ist, auf dem Spiel steht.“2 Diese Definition von Kelly McGonigal legt nahe, dass wir Stress nicht so sehr als unseren Feind betrachten sollten, sondern eher als Versuch unseres Alarmsystems uns davor zu warnen, dass etwas bedroht wird, das wichtig für uns ist. In der Literatur werden drei instinktive Stressreaktionen unterschieden: Kampf, Flucht und Erstarren. Sie werden vermittelt durch die Amygdala, eine Struktur des alten Gehirns, die als eine Art innere Alarmglocke auf Signale einer möglichen Bedrohung reagiert. Sie versetzt unseren Körper durch eine Kaskade von neurobiologischen und hormonellen Reaktionen sofort in einen Zustand großer Wachsamkeit, die unseren Körper für rasche Reaktionen bereit machen, die dem Überleben dienen. Und je häufiger unser Alarmsystem durch Bedrohungen aktiviert wurde, desto empfindlicher wird es und springt entsprechend schneller an. Und wie wir bereits gesehen haben, unterliegt es zudem der Negativitäts-Tendenz (negativity bias), durch die wir potenziell bedrohliche Momente überdeutlich erinnern. Fühlen wir uns körperlich durch äußere Ereignisse bedroht, geschieht in uns Menschen genau das Gleiche wie bei Tieren; Körper und Geist mobilisieren allerlei Reaktionen, um die Gefahr so schnell wie möglich abzuwehren. Bei uns Menschen ist es allerdings ein bisschen komplizierter: Wir können uns auch psychisch bedroht fühlen, also durch Dinge, die in unserer inneren Welt geschehen. Während das Alarmsystem sehr effektiv sein kann, um uns vor äußeren Bedrohungen wie dem Aufprall auf unser Gesicht oder dem Eindringen in ein Feuer zu schützen, kann es gegen uns arbeiten, wenn es genauso heftig auf innere Bedrohungen wie alarmierende Gedanken, schmerzhafte Gefühle oder Fantasien mit Weltuntergangszenarien reagiert. Dann wird unser Alarmsystem nämlich genauso aktiviert, wie wenn wir körperliche Bedrohung erfahren. Es kann nämlich z. B. auch anspringen, wenn in einem Personalgespräch ein einziger kleiner Kritikpunkt angesprochen wird, auch wenn unser Chef sonst zufrieden mit unserer Arbeitsleistung ist. Bei uns Menschen sorgt sich das neue Gehirn nur allzu schnell.

2McGonigal

K (2016) The Upside of Stress: Why Stress Is Good for You, and How to Get Good at It. Penguin, New York.

Selbstmitgefühl als Heilmittel bei emotionalem Schmerz

47

Die instinktiven Stressreaktionen des alten Gehirns (Kampf, Flucht oder Erstarren) sind dazu da, uns vor äußeren Bedrohungen zu schützen. Christopher Germer3 hat aufgezeigt, dass es entsprechende psychische Reaktionen des neuen Gehirns gibt, die sich zeigen, wenn die Bedrohung von innen kommt. • „Kämpfen“ wird zu Selbstkritik oder Aggression gegen uns selbst, wenn die Bedrohung von innen kommt und wir etwas in uns nicht akzeptabel finden. • „Flüchten“ wird zu Selbstisolation die sich darin ausdrückt, dass wir uns mit unserem Leid alleine fühlen. Wir ziehen uns von anderen Menschen oder von dem als bedrohlich empfundenen Teil in uns zurück. • „Erstarren“ zeigt sich dann in übermäßiger Identifikation, die es uns schwer macht, von unseren Gedanken und Überzeugungen im Bezug auf uns selbst, Andere oder die Welt Abstand zu nehmen. Wir verfallen dann in Grübeleien und kreisende Gedanken. Diese psychischen Stressreaktionen scheinen auf den ersten Blick nur wenig hilfreich, können jedoch durchaus zunächst auch Vorteile haben. Selbstkritik kann verhindern, dass wir von anderen kritisiert werden. Selbstisolation schützt uns davor, dass wir von anderen abgelehnt werden. Und Überidentifikation kann uns davor bewahren, die Kontrolle zu verlieren und mit ungewohnten Sichtweisen konfrontiert zu werden. Diese Strategien „helfen“ also beim psychischen Überleben, aber sie erzeugen dabei auf längere Sicht auch eine Menge Leid. Wenn wir beim Kämpfen, Flüchten oder Erstarren bleiben, können unsere inneren Bedrohungen nämlich wachsen und sich zu regelrechten inneren Quälgeistern entwickeln. Selbstmitgefühl ermöglicht viel heilsamere Antworten auf emotionalen Schmerz als unsere üblichen Reaktionen aus dem Alarmsystem.

Selbstmitgefühl als Heilmittel bei emotionalem Schmerz Kristin Neff4 unterscheidet die folgenden Qualitäten, die wie eine wohltuende Medizin gegen die üblichen Stressreaktionen aus dem Alarmsystem wirken (siehe Abb. 1): • Die Medizin bei Selbstkritik ist Selbstfreundlichkeit: unsere Fähigkeit, mit freundlichen Augen auf uns selbst zu schauen. • Die Medizin bei Selbstisolation ist common humanity oder gemeinsames Menschsein: die Erinnerung daran, dass wir nicht die Einzigen sind, die

3Germer

C K (2009) The mindful path to self-compassion. Guilford Press, New York. K D (2003) Self-Compassion: An alternative conceptualization of a healthy attitude toward oneself. Self and Identity, 2, 85–102. 4Neff

48

Modul 2: Stressreaktionen und Selbstmitgefühl

Abb. 1  Stressreaktionen und Selbstmitgefühl. (© Christian Stocker 2019. All Rights Reserved)

Schmerz und Kummer erfahren, sondern dass es allen Menschen so ergeht. Unser Leiden kann sich in Intensität und Ausdruck unterscheiden, ist jedoch inhärenter Teil unseres menschlichen Lebens. Dies ermöglicht ein tröstliches Gefühl der Verbundenheit mit allen anderen Menschen. • Die Medizin gegen Überidentifikation und Grübeln ist Achtsamkeit: offene, nicht-urteilende Aufmerksamkeit für den emotionalen Schmerz und unsere Reaktionen darauf. Das hilft uns dabei, uns weniger mit unserem Erleben oder unserer Sicht der Dinge zu identifizieren und „gefrorene“ Bewertungen und Überzeugungen können sich wieder verflüssigen.

Übung: Die Selbstmitgefühls-Erinnerung (inspiriert durch Kristin Neff) Fühle dich eingeladen, eine einfache und zugleich kraftvolle Übung zu praktizieren, die wir von Kristin Neff5 gelernt haben. Kristin hat sie „Selbstmitgefühlsmantra“ genannt. Wir haben ihr den Titel „Selbstmitgefühls-Erinnerung“ gegeben, weil es dabei darum geht, uns in leidvollen Situationen mit der Möglichkeit zu verbinden, sanft und mit fühlend auf unseren Kummer zu antworten. Wenn du in stressigen Situationen oder bei emotionalem Schmerz die folgenden Sätze ein- oder mehrmals innerlich wiederholst, können sie dich an die drei Elemente von Selbstmitgefühl erinnern und dir helfen, auf diese „neue“ Weise auf die Schwierigkeiten zu antworten, die du in diesem Moment erfährst.

5Neff K (2011) Self-Compassion: Stop beating yourself up and leave insecurity behind. HarperCollins, New York.

Übung: Atemraum mit Mitgefühl bei emotionalem Schmerz

49

Übung 1. „Dies ist ein Moment des Leidens (Schmerzes/Stresses/Kummers).“ Dies ist die Achtsamkeit, die uns hilft, uns unserem Leid zuzuwenden und Raum dafür zu schaffen, ohne darüber zu urteilen. Schöne Variationen dieses Satzes sind z. B. „Oh, ja. Es tut weh!“, „Ja. Das ist gerade nicht leicht.“ 2. „Leiden gehört zum Leben.“ Dieser Satz erinnert uns an unser gemeinsames Menschsein und die Unvollkommenheit unseres menschlichen Daseins. Schöne Variationen sind z. B.: „Es ist nicht meine Schuld, dass es weh tut. Es gehört zum Leben dazu.“, „Für alle gibt es schwierige Zeiten im Leben.“. 3. „Möge ich hier und jetzt freundlich zu mir selbst sein.“ Dieser Satz erinnert uns daran, Selbstfreundlichkeit einzuladen und uns selbst gegenüber eine mitfühlende Haltung einzunehmen. Wir tun dies, weil wir Leid erfahren und nicht, um uns besser zu fühlen. Schöne Variationen sind z. B.: „Möge ich mich annehmen, wie ich bin.“, „Möge ich mir vergeben.“, „Möge ich den Schmerz sicher überstehen.“, „Möge ich in meiner Mitte ruhen.“ „Möge ich mir selbst das Mitgefühl schenken, das ich brauche.“. Fühle dich bei den drei Schritten eingeladen, in dich hinein zu spüren und jeweils den Satz zu finden, der dein Herz berührt und sich wirklich stimmig anfühlt. Wichtig ist dabei nur, dass alle drei Aspekte anklingen, denn jede davon kann eine heilende Wirkung haben. Es kann unser Leid lindern, wenn wir uns regelmäßig an die drei Aspekte von Selbstmitgefühl erinnern, indem wir diese unterstützenden Sätze denken und ihre Resonanz in Körper und Geist erleben. Wenn du möchtest und es dir hilfreich erscheint, kannst du dabei auch eine Hand auf die Region deines Herzens legen und ihre Wärme spüren.

Übung: Atemraum mit Mitgefühl bei emotionalem Schmerz (M2_05) Diese Übung ist eine Variante des „Atemraums mit Freundlichkeit“. Du kannst diese Übung praktizieren, wenn es dir nicht gut geht, du herausgefordert bist, mit emotionalem Schmerz oder viel Stress umzugehen und wo du die Möglichkeit hast, einen Moment innezuhalten. Du kannst während der Übung stehen, sitzen oder liegen und du kannst die Dauer der Übung der Situation anpassen, in der du dich gerade befindest. Auch in dieser Übung gibt es drei Schritte.

50

Modul 2: Stressreaktionen und Selbstmitgefühl

Übung 1. Ankommen Im ersten Schritt mutig anerkennen, was sich gerade zeigt … auch die schmerzhaften Erfahrungen … Körperempfindungen bemerken, die sich jetzt zeigen … … Wenn es hilfreich ist dann kannst du die Erfahrungen benennen, z. B. „Spannung im Kiefer, Nacken, in den Schultern.“ … oder: „Schwere im Brustraum.“, „Flacher Atem.“ …… „Traurigkeit“ oder: „Da ist Irritation.“ oder: „Ein Teil von mir schämt sich.“ … … Gedanken benennen, ohne dich in ihrem Inhalt zu verlieren, z. B. „Selbstkritik“ oder „Da sind sorgenvolle oder urteilende Gedanken.“ … … … Das Schwierige mit Freundlichkeit halten … Eine liebevolle, annehmende und fürsorgliche Haltung verkörpern … … Dem Körper erlauben zu entspannen … … schmerzhafte Gefühle umarmen … …. Gedanken – unabhängig von ihrem Inhalt – kommen und gehen lassen … … … 2. Beruhigender Atemrhythmus Im zweiten Schritt kannst du den Atem spüren und ihm erlauben sich zu verlangsamen … zu vertiefen … einem beruhigenden Atemrhythmus Raum geben. … Vielleicht ist es auch hilfreich, ein sanftes Lächeln entstehen zu lassen oder eine Hand auf Brust oder Bauch zu legen … oder auch die beruhigende Vorstellung eines sicheren Ortes oder mitfühlenden Wesens einladen … … Und den Atem frei durch den Körper fließen lassen … 3. Mitfühlender Wunsch für dich Und im dritten Schritt die Aufmerksamkeit auf den Körper als Ganzes ausweiten und dein Herz öffnen für den Schmerz oder Kummer, der gerade da ist … körperlich, emotional oder geistig. … Du kannst dich fragen: Was könnte jetzt ein freundlicher, ein unterstützender Wunsch für mich sein? … … Ruhig nach innen lauschen …… … Und wenn sich ein Wunsch zeigt, ihn sanft innerlich wiederholen und durch dich hindurchfließen lassen – vielleicht im Rhythmus des Atems oder ganz unabhängig davon. … … Vielleicht zeigt sich „Möge ich innere Ruhe erfahren.“ oder „…mich sicher fühlen.“ oder: „… Trost finden.“ … „Möge ich stark genug sein, um mit diesem Schmerz zu sein.“, „Möge ich frei sein von Kummer und Leid.“, „Möge ich annehmen können, was ich nicht ändern kann.“ … Vielleicht ist auch ein paradoxer Wunsch mitfühlend, z. B. „Möge ich die Anspannung fühlen, die Erschöpfung, die Traurigkeit.“… und mutig damit in Kontakt sein. … Und dann – wenn du so weit bist – wieder zurückkehren in deinen Tag.

Tend & befriend

51

Tend & befriend Inzwischen wird in der Wissenschaft neben kämpfen, flüchten und erstarren auch eine vierte instinktive Stressreaktion beschrieben. Auch sie entstammt dem Alarmsystem und wird tend & befriend genannt (Abb. 1). Sie beschreibt den instinktiven Impuls sich um jemand anderen zu sorgen und Freundschaft zu schließen6. Kennzeichnend dabei ist eine beschützende, sich kümmernde Haltung gegenüber Nachkommen und verletzlichen Gruppenmitgliedern (tend) und die Suche nach Freunden oder Unterstützern bei Gefahr (befriend). Ein Beispiel für tend & befriend zeigte sich z. B. nach dem Tsunami 2014, der auf Sri Lanka schwere Schäden angerichtet hatte. In den Wochen nach dem Tsunami gab es auf einmal ein Gefühl von Zusammengehörigkeit zwischen den Tamilen und Singhalesen auf der Insel. Zwischen diesen Bevölkerungsgruppen hatten jahrelang große Spannungen geherrscht, doch nun half man sich gegenseitig beim Aufräumen der Verwüstungen. Auch die Fluggesellschaften wissen um die Existenz von tend & befriend. Die instinktive Kraft von tend & befriend ist so stark, dass das Flugpersonal während der Sicherheitsanweisungen vor dem Start eines Flugzeugs immer ausdrücklich darauf hinweist, dass Eltern bei einem Druckabfall in der Flugzeugkabine nicht erst ihrem Kind die Sauerstoffmaske aufsetzen sollten, sondern zunächst sich selbst. Diese Warnung macht deutlich, dass wir instinktiv dazu neigen, uns in Notsituationen direkt um andere zu kümmern. Wir sind jedoch angehalten, nicht blind unserem Instinkt zu folgen, sondern die Kapazität unseres neuen Gehirns zu nutzen, um die Reaktionstendenzen des alten Gehirns falls nötig zu stoppen. Die tend & befriend-Reaktion ist in allen Menschen eine instinktive, aus dem Alarmsystem stammende, „kurze Route“ zu mitfühlendem Handeln. Dabei wird das Hormon Oxytocin freigesetzt, das bei der Entwicklung sozialer Bindungen eine große Rolle spielt. Obwohl tend & befriend eine weniger primitive Stressreaktion als kämpfen, flüchten oder erstarren ist, kann sie durch die Verbindungen zum neue Gehirn jedoch durchaus für Schwierigkeiten sorgen. Ein Beispiel dafür ist die große Sorge mancher Eltern, wenn die Kinder ihren Teller nicht leer essen oder später als erwartet nach Hause kommen. Die instinktive elterliche Sorge führt dann dazu, dass die Eltern beginnen zu grübeln oder sich Horrorszenarien ausmalen. Die tend & befriend-Reaktion kann also – genau wie das Kämpfen, Flüchten oder Erstarren – für oder gegen uns arbeiten. Viele von uns kennen die starke Neigung, anderen gefallen zu wollen. Im Verlauf der Evolution war es essentiell, nicht aus der schützenden Gruppe zu fallen. Vielleicht spüren deswegen so viele Menschen ein großes Bedürfnis, gemocht zu werden. Wir fühlen uns dann leicht dazu verpflichtet, uns auf Kosten unserer eigenen Interessen nach den – wirklichen oder vermuteten – Bedürfnissen anderer zu richten. Das kann dazu führen, dass wir anderen auf eine letztlich für uns selbst ungesunde Art und Weise beistehen, uns

6Taylor S (2006) Tend and befriend: Biobehavioral bases of affiliation under stress. Current Directions in Psychological Science, 15, 273–277.

52

Modul 2: Stressreaktionen und Selbstmitgefühl

selbst dabei vergessen und ein „Helfersyndrom“ entwickeln. Dies ist insbesondere in helfenden Berufen recht verbreitet und kann zu ersthaften Erschöpfungssymptomen bis hin zum „Burn-out“ führen. Ich-zuerst, Du-zuerst oder Wir-zusammen Menschen, die sich für die Teilnahme an einem MBCL-Kurs interessieren berichten im Vorfeld häufig, dass Mitgefühl mit Anderen sie anstrengt und erschöpft, und dass sie sich nicht so recht vorstellen können, wie sie Selbstmitgefühl üben können. Später im Kurs entdecken sie dann, dass es zwischen dieser instinktiven tend & befriend-Reaktion und Mitgefühl einen Unterschied gibt. Während wir in einer Haltung von „Ich zuerst“ kämpfen, flüchten oder erstarren, um unser Überleben zu sichern, geht tend & befriend mit einer aufopferungsvollen Haltung von „Du-zuerst“ einher, um das Überleben der Gruppe zu sichern. Dies ist jedoch nicht das gleiche wie Mitgefühl. Tend & befriend ist, wie alle Stressreaktionen, eine automatische, instinktive Reaktion. Sie kann im Fall akuter äußerer Bedrohung hilfreich sein, jedoch auch viel Energie kosten, wenn sie unnötig lange anhält. Wenn wir es uns erlauben, achtsam innezuhalten – z. B. mit Hilfe der Selbstmitgefühls-Erinnerung – und Achtsamkeit, Gleichmut (bei übermäßiger Besorgtheit) und Selbstfreundlichkeit (bei Selbstverleugnung) einladen, kann dies Raum in uns schaffen. So können wir aus unseren automatischen Reaktionsweisen aussteigen und bewusste, mitfühlende Antworten wählen, die die Bedürfnisse aller Beteiligten berücksichtigen. Das hat die Qualität von „Wir-zusammen“ anstatt von „Ich-zuerst“ oder „Du-zuerst“.

Wer Gutes sät, wird Gutes ernten Der Biologe Frans de Waal7 legt dar, wie der Satz survival of the fittest ganz und gar nicht im Einklang mit der ursprünglichen Idee der natürlichen Selektion aus Darwins Evolutionstheorie verwendet wird. Survival of the fittest wird häufig zu Unrecht mit „das Recht des Stärkeren“ übersetzt und gilt dementsprechend als Freibrief um schwächere, ärmere oder unmündige Mitmenschen aus einer besseren Position heraus auszubeuten. Doch es greift zu kurz, survival of the fittest als Entschuldigung dafür zu nehmen, den primitiven Impulsen des Reptiliengehirns unbesehen zu folgen und so zu tun, als hätte die Evolution bereits vor langer Zeit geendet.

7De

Waal F (2009) The Age of Empathy: Nature’s Lessons for a Kinder Society. Three River Press, New York.

Wege zum Selbstmitgefühl

53

Als das Säugetiergehirn die Tiere dazu befähigte zu kooperieren, zu teilen und sich um einander zu kümmern, war das ein großer Schritt in der Evolutionsgeschichte. Wie kein anderes Säugetier ist der Mensch besonders in jungen Jahren verletzlich und abhängig von Zuwendung. Die Fähigkeit sich empathisch in andere einzufühlen, moralisch, kooperativ und altruistisch zu handeln, erhöhte seine Überlebenschancen. Wir nähern uns daher eher an Darwins ursprüngliche Sichtweise an, wenn wir survival of the fittest mit „Überleben derer, die am besten an ihre Umgebung angepasst sind“ übersetzen. Dacher Keltner, ein amerikanischer Psychologieprofessor und Autor des Buches Born to be good8, spricht in diesem Zusammenhang sogar von von survival of the kindest. Sein Team von Forschern schreibt, dass die menschliche Rasse genau deshalb so erfolgreich ist, weil sie Eigenschaften wie Sorge füreinander, Altruismus und Mitgefühl entwickelt hat und, dass Einfühlungsvermögen unsere größte Stärke ist. Heute stehen sich auch Evolutionsforscher und religiöse Führer weit näher, als noch im letzten Jahrhundert der Fall war. Auch der Dalai Lama weist mit seiner Aussage, dass Mitgefühl eine gesunde Form des Egoismus ist, auf die Bedeutung und Kraft der Freundlichkeit hin. Wir vergrößern unsere Überlebenschancen und Möglichkeiten, wenn wir freundlich sind: Wer Gutes sät, wird Gutes ernten. Auch Religionen können dazu beitragen, die Welt zu einem freundlicheren Ort zu machen – auch wenn sich dies leider nicht immer im Verhalten der jeweiligen Anhänger zeigt. Dennoch konnte die Historikerin in den vergleichenden Religionswissenschaften Karen Armstrong zeigen, dass Mitgefühl der Kernwert aller Religionen und Weisheitstraditionen ist9. Im Folgenden Abschnitt wollen wir und noch einmal zur Selbstfreundlichkeit zurückkehren und Wege erkunden, wie wir sie praktizieren können.

Wege zum Selbstmitgefühl In der Einleitung haben wir Mitgefühl als die menschliche Fähigkeit beschrieben, an Schmerz und Leid Anteil zu nehmen. Diese ist verbunden mit dem Wunsch, dieses Leid zu lindern und dafür Verantwortung zu übernehmen. In alten asiatischen Sprachen gibt es nur einen Ausdruck für Mitgefühl und Selbstmitgefühl und das ist das Wort karuna. Warum also sprechen wir hier ausdrücklich von Selbstmitgefühl? In östlichen Kulturen ist es selbstverständlich, dass Mitgefühl nicht allein anderen gegenüber geübt wird, sondern dass wir auch uns selbst gegenüber mitfühlend sein können. In der westlichen Kultur sieht es da häufig anders aus. Es scheint, als hätten wir den letzten Teil von Jesus´ weisen Worten „Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst“, nicht gehört oder mehr und mehr vergessen. Es ist in

8Keltner

D (2009) Born to Be Good: The Science of a Meaningful Life. Norton, New York. K (2011) Twelve steps to a compassionate life. The Bodley Head, London.

9Armstrong

Modul 2: Stressreaktionen und Selbstmitgefühl

54

Tab. 1  Fünf Wege zu selbstmitfühlendem Handeln Der Weg …

Kennzeichen

Möglichkeiten

… des Körpers

Entspannen

Körperliche Entspannung, sich ausruhen, ein warmes Bad, Sauna, Yoga, spazieren gehen, nährende Sinneseindrücke zulassen (durch Farbe, Klang, Geruch, Geschmack, Berührung)

… der Emotionen

Umarmen

Freundschaft schließen mit diesen inneren Boten, auch wenn sie sich manchmal schmerzhaft anfühlen. Ihnen mit einer liebevollen Haltung begegnen, als ob wir ein trauriges Kind trösten würden

… der Gedanken

Zulassen

Eine erkennende Haltung den vielen Gedanken gegenüber einnehmen, die wir täglich erleben. Sie nicht zu bekämpfen und ihnen nicht immer folgen zu müssen

… der Beziehungen

Intimität, Verbundenheit und Großzügigkeit entwickeln

Das respektvolle Teilen von Freude und Leid. Andere so behandeln, wie wir selbst behandelt werden wollen. Nicht „Ich-zuerst“ oder „Du-zuerst“, sondern „Wir-zusammen“

… der Sinngebung und Spiritualität

Sich selbstübersteigenden Werten zuwenden

Auf das hören, was das Herz sagt; uns damit verbinden, was für uns selbst und andere wertvoll ist und die Harmonie fördert

unserer Kultur deshalb verständlich, dass das Selbstmitgefühl und das Mitgefühl anderen gegenüber von einander unterschieden werden. Gleichzeitig müssen wir erkennen, dass beides untrennbar mit einander verbunden ist. Mitgefühl wird manchmal verwechselt mit Mitleid, doch da gibt es einen großen Unterschied. Im Selbstmitleid zieht sich die Welt um uns herum zusammen und wir werden zu ihrem leidenden Mittelpunkt. Selbstmitgefühl hingegen öffnet uns für die Welt um uns herum und für das universelle Leid der Menschheit. Uns freundlich um uns selbst zu kümmern, ist daher keinesfalls egoistisch. Im Gegenteil: die fürsorgliche Haltung, die wir gegenüber unserem Schmerz und Leid entwickeln, wird sich automatisch auch auf unsere Haltung gegenüber dem Schmerz und dem Leid Anderer auswirken.

Übung: Eine Hand auf dem Herzen

55

Christopher Germer10 unterscheidet in seinem Buch „Der achtsame Weg zur Selbstliebe“ fünf Wege zu selbstmitfühlendem Handeln im Alltag (siehe Tab. 1). Es gibt eine übereinstimmende Eigenschaft all dieser Wege zum Selbstmitgefühl: sie öffnen das Herz. Dabei ist nicht so sehr das physische Organ gemeint, sondern eher im übertragenen Sinne das emotional fühlende Herz, das uns mit uns selbst und mit der Welt um uns herum verbindet. Diese Berührung und Öffnung des Herzens kann durch Körperempfindungen, Gedanken, Emotionen, Kontakt mit anderen oder der Ausrichtung an sinnstiftenden Werten entstehen. Wenn wir gestresst sind und bekämpfen, was wir nicht haben wollen, verschließt sich unser Herz. Es öffnet sich hingegen, wenn wir uns entspannen und positiv mitschwingen, mit dem, was geschieht, während das Leben sich entfaltet. Und genau wie wir Achtsamkeit (mindfulness) kultivieren können, können wir auch Herzenswärme (heartfulness) entwickeln und den Qualitäten des Herzens Raum in unserem Leben geben. Die folgende einfach Übung passt gut dazu.

Übung: Eine Hand auf dem Herzen Übung Erlaube dir Pause zu machen vom Tun, vom Beschäftigt sein … die Augen vielleicht geschlossen oder leicht geöffnet … und die Haltung spüren, in der du dich befindest … dich öffnen für Erfahrungen im äußeren und inneren Raum … vielleicht Geräusche, Gefühle, Gedanken, Körperempfindungen … und mit all dem, wie es ist, Entspannung einladen … einem beruhigenden Atemrhythmus Raum schenken … So kannst dich nun an eine Erfahrung erinnern, die dein Herz berührt und dir ein Gefühl von Freude, Frieden und Zufriedenheit geschenkt hat. … Vielleicht warst du alleine oder zusammen mit einem anderen Menschen oder einem Tier … Du kannst ein kleines Lächeln erlauben, wenn du dich an diese berührende Erfahrung erinnerst … … Und wenn du möchtest, kannst du dir vorstellen, dass du ganz sanft zu deinem Herzen hin atmest und es einlädst, sich zu öffnen … zu weiten … Und dann behutsam eine oder beide Hände auf den Bereich des Herzens legen und die Berührung spüren … vielleicht auch die Wärme. … Und spüren, was dabei geschieht …… Wie ist es möglich, diese Berührung zu empfangen? Bemerkst du Auswirkungen auf deine Stimmung? Und deine Erfahrung so anerkennen, wie sie ist. Wir laden dich dazu ein, während den Übungen regelmäßig eine oder beide Hände auf dein Herz zu legen. Das mag dir anfangs vielleicht komisch erscheinen. Wenn

10Germer

C K (2009) The mindful path to self-compassion. Guilford Press, New York.

56

Modul 2: Stressreaktionen und Selbstmitgefühl

du dich jedoch darin übst, die Aufmerksamkeit auf dein Herz zu richten, wird es für dich mehr und mehr zur Gewohnheit, genau wahrzunehmen, ob sich dein Herz offen oder verschlossen, weit oder eng, warm oder kalt, leicht oder schwer anfühlt. Und wenn sich dein Herz verschlossen anfühlt ist das eine schöne Gelegenheit, um sanft zu erforschen was es braucht, um sich wieder zu öffnen. Das könnte die Berührung deiner Hand sein, ein beruhigender Atemrhythmus, ein freundliches Wort oder ein wohltuendes inneres Bild. Auch in der formalen Meditationspraxis (z. B. während einer Atemmeditation) kann es hilfreich sein, von Zeit zu Zeit die Hand aufs Herz zu legen.

Kann Selbstmitgefühl auch schmerzhaft sein? Es kommt durchaus nicht selten vor, dass Selbstfreundlichkeit und Mitgefühl zu Beginn des Übens Stressreaktionen auslösen. Wenn wir damit beginnen, mitfühlend auf uns selbst zu schauen kann es passieren, dass wir Widerstand dagegen spüren, warme Gefühle zuzulassen und diese gar als bedrohlich erfahren. Das mag zunächst verwunderlich klingen, doch wenn wir sehr gewohnt daran sind, uns mit Selbstkritik zu begegnen und dann diese „Komfortzone“ verlassen und damit beginnen, diese neue Landschaft des Mitgefühls zu betreten, ist es nachvollziehbar, dass Unsicherheit und Angst aufkommen. Dies ist besonders dann wahrscheinlich, wenn die Freundlichkeit alte Verletzungen und unerfüllte Bedürfnisse in uns berührt. Dann ist es hilfreich sich zu erinnern, dass es genau diese Freundlichkeit, dieses Mitgefühl ist, was zur Heilung dieser Bereiche beitragen kann. Für Paul Gilbert ist diese Angst ein wichtiges Thema in der Therapie11 und Christopher Germer beschreibt dieses Phänomen als „backdraft“.12 Anhand verschiedener Emotionen und Metaphern lässt sich dies näher erklären, denn backdraft kann verschieden Gesichter haben. Angst, Ärger, Misstrauen Möglicherweise bist du im Urlaub in einem fernen Land schon einmal einem verwahrlosten, streunenden Hund begegnet, der überall von Menschen verjagt wurde. Und wie reagiert so ein Hund, wenn du dich ihm freundlich näherst? Wird er sich dir zutraulich nähern? Nein. Vermutlich wird er mit Misstrauen oder sogar Feindseligkeit reagieren und knurren, weil er es nicht gewohnt ist, dass Menschen ihn freundlich behandeln. Er muss zunächst lernen, dass du vertrauenswürdig bist, bevor er deine Freundlichkeit zulassen kann. Das erfordert Geduld und eine sanfte, behutsame Herangehensweise. Anstatt direkt auf den Hund zuzugehen ist es dann vielleicht klüger, ein wenig abzuwarten bis spürst, dass der Hund bereit ist, auf dich zuzugehen. Wir Menschen reagieren oft auf die gleiche Weise, wenn wir

11Gilbert 12Germer

P (2010) Compassion Focused Therapy. Routledge, London. C K (2009) The mindful path to self-compassion. Guilford Press, New York.

Kann Selbstmitgefühl auch schmerzhaft sein?

57

nicht gewohnt sind, dass andere uns mit Freundlichkeit begegnen. Und auch unseren ungeliebten inneren Anteilen mit Freundlichkeit zu begegnen, kann zunächst Angst, Ärger und Misstrauen erzeugen. Panik Der Begriff Backdraft stammt ursprünglich aus der Welt der Feuerwehrleute. Wenn ein großes Gebäude in Brand steht, können viele Zimmer brennen. Es gibt allerdings auch Zimmer, in denen der Brand nur schwelt, weil es zu wenig Sauerstoff gibt – dennoch entsteht dort auch Hitze und Rauch. Zerbricht nun ein Fenster oder wird die Türe geöffnet, strömt plötzlich Sauerstoff in den Raum und es kann zu einer Rauchgasexplosion (backdraft) kommen. Ein ähnliches Phänomen beobachten wir manchmal, wenn Menschen beginnen Freundlichkeit und Mitgefühl zu üben, die in ihrer Kindheit und Jugend körperliche oder emotionale Vernachlässigung erlebt haben. In ihnen hat sich über die Jahre viel Kummer aufgestaut und dann scheint scheint die Sanftheit und Freundlichkeit wie Sauerstoff zu wirken, der diese zuvor in uns „verschlossenen“ Bereiche berührt. Und das wiederum kann zu heftigen Reaktionen bis hin zu Panik führen, weil plötzlich viel Traurigkeit oder unverarbeiteter Schmerz freigesetzt wird. Es ist auch gut möglich, dass die Erfahrung von Freundlichkeit deine Alarmglocken schrillen lässt, wenn du in deinem Leben die Erfahrung gemacht hast, dass Menschen zunächst freundlich wirkten, im nächsten Moment jedoch gewalttätig wurden oder dich im Stich gelassen haben. Dadurch hast du vielleicht gelernt, dich von Freundlichkeit abzuschotten, um sicher zu gehen, dass sich diese schlimmen Erfahrungen nicht wiederholen. Wie wir bereits gesehen haben, reagiert unser Körper auf reale und vorgestellte Bedrohungen in gleicher Weise. Dies zu wissen, kann bereits hilfreich sein. Und doch brauchen wir auch die Achtsamkeit, die uns hilft, immer wieder wahrzunehmen, dass dies ein „Fehlalarm“ ist. Indem wir üben, mit Milde und Freundlichkeit auf diesen Prozess zu schauen, stärken wir unser Beruhigungssystem. Außerdem erfahren wir direkt und auf einer körperlichen Ebene, dass unser sensibles Alarmsystem wieder beruhigt werden kann. Traurigkeit Während backdraft eher eine „heiße“ Metapher ist, gibt es noch eine „kalte“ Metapher, die vielleicht besser zum Erleben von Traurigkeit während der Mitgefühlspraxis passt. Wenn du jemals als Kind ohne Handschuhe eine Schneeballschlacht gemacht hast, kannst du dich bestimmt erinnern, wie sehr es schmerzte, die fast gefrorenen Finger unter warmem Wasser oder an der Heizung aufzuwärmen. Die Finger brauchten diese Wärme, um wieder lebendig zu werden, doch der sanfteste Weg sie aufzutauen ist es, sie zunächst unter kaltes Wasser zu halten und dann die Wassertemperatur allmählich und behutsam zu erhöhen. So lässt sich der gleiche Effekt erzielen, jedoch mit weniger Schmerz. Ähnlich ist es, wenn das Bedürfnis nach Liebe und Zuwendung in jungen Jahren nicht ausreichend gestillt wurde und du dieses Bedürfnis dann irgendwann ignoriert hast. Wenn nun in der Übung die Wärme des Mitgefühls diese gefrorenen Bereiche berührt wird uns oft

58

Modul 2: Stressreaktionen und Selbstmitgefühl

deutlich, wie sehr wir dies all die Jahre vermisst haben und es ist daher nur natürlich, dass sich Traurigkeit, Schmerz und manchmal auch Schmelzwasser in Form von Tränen zeigen. Der sanfteste Weg, die Wärme in diese Bereiche strömen zu lassen, ist deshalb, es langsam zu tun. Müdigkeit Viele Menschen, die ein Achtsamkeits- oder Mitgefühlstraining absolvieren, begegnen einer Menge Müdigkeit. Manchmal gibt es dann die Annahme, dass es die Übungen selbst sind, die ermüdend seien. Bei näherer Betrachtung erweist sich jedoch in den meisten Fällen, dass ein sensibleres Bewusstsein entstanden ist, das sich der zuvor ignorierten Müdigkeit stärker bewusst wird. Das Leben als Mensch in dieser hektischen 24/7-Kultur erfordert und kostet viel Energie, und natürlich spielen auch hier das Alarm- und Antriebssystem eine wichtige Rolle. Es ist, als ob dir auffällt, dass du einen schweren Rucksack trägst, und erst jetzt spürst, wie schwer er ist. Wenn du einem Phänomen wie dem backdraft begegnest, ist es hilfreich zu wissen, dass dies ganz normal ist und du nichts verkehrt machst. Im Gegenteil: es entsteht in dir eine heilende Verbindung mit einem inneren Bereich deines Lebens, der zuvor verschlossen war und lange Zeit nicht die Fürsoge bekam, die er nötig gehabt hätte. Behutsames Tempo Innerer Widerstand gegenüber Freundlichkeit und Mitgefühl ist wie gesagt besonders verbreitet bei Menschen, die als Kinder vernachlässigt, verlassen oder misshandelt wurden. Diejenigen, die keine sichere Bindung an ihre Eltern oder Bezugspersonen entwickeln konnten, finden es oft schwierig, anderen Vertrauen entgegenzubringen und im späteren Leben stabile Partnerschaften aufzubauen13. Für sie sind Beziehungen keine sichere Basis, um von da aus die Welt zu erforschen und sie sind auch kein sicherer Hafen, in den sie zurückkehren können, wenn die See draußen rauher wird. Es ist gut zu wissen, dass unsichere Bindungen gar nicht so selten sind. Und auch wenn wir das Glück hatten, eine sichere Bindung aufbauen zu können, kann es Bereiche in unserem Leben geben, in denen es unerfüllte Bedürfnisse gibt und denen wir uns nur schwer mit Freundlichkeit nähern können. Oftmals zeigen sich auch mildere Formen von Stressreaktionen auf die Mitgefühlspraxis. Beispielsweise bemerken die Teilnehmenden dann deutlich, wie müde sie auf einmal sind oder es wird ihnen klar, dass die Erfahrung von Traurigkeit nur wenig Raum in ihrem Leben hatte. Hier ist es sehr hilfreich, auf achtsame Weise mit unseren Erfahrungen in Kontakt sein zu k­ önnen.

13Mikulincer

M & Shaver P R (2007) Attachment in adulthood: Structure, dynamics and change. Guilford Press, New York.

Hindernisse in der Übungspraxis

59

­chtsamkeit hilft uns, aufsteigende schwierige Gefühle anerkennend zu A bemerken. Wir können dem Atem dann erlauben, ruhiger und langsamer zu werden und den Körper einladen, sich zu entspannen. Aus dieser Beruhigung heraus können wir uns fragen: Was wäre jetzt eine mitfühlende Antwort auf meinen Kummer? Vielleicht ein freundlicher Wunsch, eine sanfte Geste, wie z. B. eine Hand auf dem Herzen oder ein kleines, verständnisvolles Lächeln für die Schwierigkeit die sich gerade zeigt. Darüber hinaus ist es mitfühlend mit uns selbst, wenn wir stets auf eine behutsame Dosierung der Übung achten, d. h. uns ein langsames Tempo beim Üben zu erlauben. Und uns daran erinnern, dass wir nichts falsch machen, wenn es trotz allem immer noch schmerzhaft ist, wenn wir unseren inneren Verhärtungen mit neuer Sanftheit und Freundlichkeit begegnen. Wir möchten an dieser Stelle noch einmal betonen, dass du nichts falsch machst, wenn du schwierige Gefühle bei der Mitgefühlspraxis erlebst. Im Gegenteil! Sie sind Anzeigen dafür, dass die Übungen etwas in dir berühren, das deiner Fürsorge bedarf. Den alten Schmerz behutsam zu spüren und mit Milde zu berühren, kann der Beginn eines gesunden Heilungsprozesses sein. Wir können dies vielleicht mit „Wachstumsschmerzen“ bei Kindern vergleichen. Auch dieser Schmerz ist ein Zeichen von Entwicklung und daher unvermeidlich. Und er wird nicht ewig dauern.

Hindernisse in der Übungspraxis Freundlichkeit und Mitgefühl sind für das Gehirn das, was der Atem für den Körper ist. (Daniel Siegel)

Freundlichkeit und Mitgefühl zu üben, ist nicht immer einfach. Genau wie bei der Achtsamkeitspraxis begegnen vielen Teilnehmenden auch hier beim Praktizieren zu Hause so manche Schwierigkeiten. Um diese Hindernisse als Teil der Übungspraxis zu begreifen, brauchen wir Mut, Geduld und Vertrauen. Und eigentlich ist das Leid, das wir vielleicht angesichts der Hindernisse erfahren, eine wertvolle Hilfe um Selbstmitgefühl zu entwickeln. Mehr noch: es wäre sogar schwieriger Mitgefühl zu entwickeln, wenn alles immer glatt laufen würde! Diese Hindernisse in der Übungspraxis lassen sich unterscheiden in nicht hilfreiche Motivationen, Erwartungen und Überzeugungen (siehe Tab. 2). Vertikale versus horizontale Übungspraxis Manchmal üben wir mit der bewussten oder unbewussten Erwartung oder Hoffnung, dass unangenehme Gefühle verschwinden und angenehme Gefühle sich einstellen werden; wir üben dann gewissermaßen mit einer verborgenen Agenda. Diese idealisierende Form des Übens könnte man auch „vertikale Übungspraxis“ nennen.

60

Modul 2: Stressreaktionen und Selbstmitgefühl

Tab. 2  Hindernisse in der Übungspraxis Probleme mit der Motivation

Mitfühlende Antwort

Mangel an Motivation, sich keine Zeit fürs Üben nehmen

Erkenne den Zweifel oder das Unverbundensein mit der Praxis achtsam an. Denke über deine tiefere Motivation und deine Werte nach: Weshalb möchtest du Freundlichkeit und Mitgefühl entwickeln (siehe dazu auch die Fragen im einleitenden Kapitel dieses Buches)? Verbinde dich wieder aufs Neue mit deinen Intentionen.

Sehr große Disziplin, hohes Pflichtbewusstsein Erkenne, dass dein Alarm- oder Antriebsoder das starke Streben nach Resultaten system möglicherweise unbemerkt aktiviert worden ist und du mit dieser Energie übst. Achte daher auf deine (innere) Sprache (häufige Verben: „Müssen“, „gehören“, „anstreben“ und „wollen“). Erlaube Raum für das Beruhigungssystem und eine spielerische Haltung (häufige Verben: „dürfen“, „wünschen“, „zugestehen“ oder „erlauben“.) Schwierigkeiten in der Auswahl der Übungen oder sich überfordert fühlen durch zu viel Auswahl

Nimm den Zweifel wahr und frage dich, was du in diesem Moment brauchst. Ist es an dem ausgerichtet, was dir wirklich wichtig ist? Mit welchen Übungen kannst du dich gut verbinden? Welche Übung wäre in dieser Woche fürsorglich?

Wenig hilfreiche Erwartungen

Mitfühlende Antwort

„Meine unangenehmen Gefühle werden verschwinden und angenehme Gefühle werden sich einstellen.“

In der Mitgefühlspraxis geht es nicht darum, schwierige Gefühle loszuwerden, sondern zu lernen, uns ihnen auf mitfühlende Weise zuzuwenden. Beginne immer dort, wo du bist. Experimentiere auch mit paradoxen Wünschen: „Möge ich diese(n) Schmerz/Widerstand/Unruhe/Irritation fühlen dürfen.“,„Möge ich dies so erfahren, wie es ist.“ oder bei Müdigkeit oder Unruhe „Möge ich müde sein dürfen.“ oder „Ich erlaube mir selbst diese Unruhe.“

„Meine Wünsche werden erfüllt werden (z. B. für Gesundheit, Glück).“

Nimm dieses wenig hilfreiche Streben nach einem Ergebnis freundlich wahr. Du kannst dich daran erinnern, dass es in der Praxis eher darum geht, eine innere Haltung der Freundlichkeit zu entwickeln, als ein bestimmtes Resultat zu erreichen. Es geht dabei mehr um eine Haltung des Wohlwollens als um angenehme Gefühle. Du kannst jedoch darauf vertrauen, dass die Praxis den Boden dafür bereitet, dass positive Gefühle darauf wachsen können. Dies lässt sich allerdings nicht erzwingen und ist umso wahrscheinlicher, je weniger du danach strebst (Fortsetzung)

Hindernisse in der Übungspraxis

61

Tab. 2  (Fortsetzung) Wenig hilfreiche Erwartungen

Mitfühlende Antwort

„Es wird keine Nebenwirkungen geben.“

Schmerzhafte Reaktionen sind ein wertvoller Teil der Praxis. „Backdraft“ ist nicht selten und braucht ein behutsames Übungstempo

Wenig hilfreiche Überzeugungen

Mitfühlende Antwort

„Freundlichkeit und Mitgefühl für mich selbst ist egoistisch“

Die Praxis des Selbstmitgefühls macht uns empfindsam für Schmerz und Leid, ganz gleich, wer in diesem Moment leidet. Selbstmitleid ist selbstzentriert, wir werden zum leidenden Mittelpunkt unseres Universums. Selbstmitgefühl hingegen öffnet den Geist für das gemeinsame Menschsein, das uns Menschen alle verbindet

„Das Üben von Mitgefühl ist zu „soft“, es wird In der Praxis geht es nicht darum, die Realität mit einem Zuckerguss zu versehen, sonmich zum wachsweichen Ja-Sager oder zum dern die Erfahrung so zu erkennen wie sie Faulpelz machen.“ ist – inklusive der Schwierigkeiten. Schritt für Schritt wagen wir es, unsere Rüstungen abzulegen und verletzlich zu sein. Mutig, kraftvoll und beharrlich wenden wir uns den Schwierigkeiten zu, die sich uns bieten und tun was nötig ist, um das Leid zu lindern „Selbstkritik hält mich auf Zack und verhindert, dass ich Fehler mache.“

Freundlichkeit ist ein besserer Lehrer als Angst. Die Angst, Fehler zu machen, wird dafür sorgen, dass du in deiner Komfortzone bleibst. Freundlichkeit hingegen wird dich dazu einladen, neue Möglichkeiten zu erforschen und aus Fehlern zu lernen

„Mit diesen Wünschen und Sätzen zu arbeiten ist wie Gehirnwäsche.“

Nervenzellen, die zusammen aktiviert werden, verbinden sich. Warum also nicht die Wiederholung in den Dienst deines Wohlbefindens stellen? Die Wissenschaft bestätigt, dass Freundlichkeit und Mitgefühl für das Gehirn das sind, was der Atem für den Körper ista

„Mitfühlende Wünsche sind das Gleiche wie positive Affirmationen.“

Affirmationen enthalten normalerweise ein Element, das nicht mit der Realität des Momentes übereinstimmt. Beispielsweise sagst du: „Ich fühle mich selbstsicher.“ während du dich in diesem Moment überhaupt nicht so fühlst. Im Gegensatz dazu sehen wir die Wünsche im Mitgefühlstraining eher als Aspirationen, als wünschendes Hoffen. Dann denken wir beispielsweise: „Ach, wenn es jemals so sein könnte, dass ich mich selbstsicher fühle – das wäre schön!“. Ob dieser Wunsch nun jemals Wirklichkeit wird oder nicht, spielt eigentlich keine große Rolle, denn allein die freundliche Intention und die Offenheit für das innerliche Bedürfnis haben bereits eine heilsame Wirkung (Fortsetzung)

62

Modul 2: Stressreaktionen und Selbstmitgefühl

Tab. 2  (Fortsetzung) Wenig hilfreiche Überzeugungen

Mitfühlende Antwort

„Vorstellungsbilder sind nicht real, warum sollte ich so viel Aufwand in diese Art der Praxis stecken?“

Es ist natürlich richtig, dass Vorstellungen nicht das gleiche sind, wie das reale Leben. Allerdings haben unsere Vorstellungen reale Auswirkungen: sowohl angenehme als auch unangenehme. Aus diesem Grund ist es weise, innere Vorstellungen zu kultivieren, die heilsame Auswirkungen haben

„Weil es um Leid geht, sollte die Mitgefühlspraxis immer ernst und schwer sein.“

Weit gefehlt! Humor, Verspieltheit, Mitfreude und die Fähigkeit, den Unvollkommenheiten des Lebens ein Lächeln entgegen zu bringen gehören genauso zur Praxis! Sie unterstützen uns bei der Herausforderung, Hindernisse auf dem Weg willkommen zu heißen und sie nicht persönlich zu nehmen

aSiegel

D J (2010) The mindful therapist: A clinician’s guide to mindsight an neural integration. W. W. Norton, New York

Irgendwann realisieren wir jedoch, dass wir damit nicht weiter kommen, da unangenehme Gefühle einfach auch zum Leben gehören und auch weiterhin gehören werden. Je höher unser Idealbild von uns selbst ist und je größer unsere Erwartungen an unsere Erfahrungen in der Übungspraxis sind, desto frustrierender ist es, wenn wir beim Üben beispielsweise viel Unruhe oder Schmerz (anstatt Frieden und Freude) erleben. Natürlich ist es zutiefst menschlich, angenehme Gefühle oder Körperempfindungen haben zu wollen. Doch in solchen Situationen können wir uns an das sogenannte „Paradox der Veränderung“14 erinnern: „Veränderung geschieht, wenn jemand wird, was er ist, nicht wenn er versucht, etwas zu werden, das er nicht ist.“ Nicht Widerstand und Verlangen, sondern Akzeptanz ist also die Grundlage für positive Veränderung und Entwicklung. Indem wir eine idealisierende Haltung in der „vertikalen Übungspraxis“ erkennen und sie loslassen, können wir allmählich zu einer eher „horizontalen Übungspraxis“ gelangen. Sie ermöglicht es uns, einfach das zu erkennen, was sich gerade zeigt und damit zu üben. So lernen wir allmählich, auch uns selbst anzunehmen, wie wir sind.

14Beisser

Arnold R (1997) Wozu brauche ich Flügel? Ein Gestalttherapeut betrachtet sein Leben als Gelähmter. Peter Hammer Verlag, Wuppertal.

„Stell´dir vor“ – das Vorstellungsvermögen als Hilfsmittel

63

„Stell´dir vor“ – das Vorstellungsvermögen als Hilfsmittel Imagination ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt. (Albert Einstein)

Da wir im Mitgefühlstraining viel mit dem Vorstellungsvermögen arbeiten ist es vielleicht hilfreich, ein bisschen mehr dazu zu sagen, wie sich Vorstellungen auswirken. Wie wir schon festgestellt haben, kann unser „neues Gehirn“ mit seinen zahllosen Möglichkeiten für oder gegen uns arbeiten. Im Mitgefühlstraining üben wir unser Vorstellungsvermögen so einzusetzen, dass es für uns arbeitet. Situationen, in denen unsere Vorstellungskraft gegen uns gearbeitet hat, sind vielen Menschen vertraut: Beispielsweise wälzen wir uns nachts manchmal schlaflos hin und her, grübeln darüber nach, was am nächsten Tag alles schieflaufen könnte und ängstigen uns angesichts der Horrorszenarien in unserem Kopf. Aber auch Gedanken an freudige Ereignisse können uns in Aufregung versetzen und uns den Schlaf rauben. Vielleicht erinnerst du dich daran, wie du als Kind in freudiger Erwartung der Weihnachts- oder Geburtstagsgeschenke kaum einschlafen konntest. Unser Alarm- und Antriebssystem aus dem alten Gehirn können unser Beruhigungssystem mühelos außer Kraft setzen. Und auch die Vorstellungen unseres neuen Gehirns fokussiert oft automatisch auch eher auf Dinge, vor denen wir Angst haben oder die wir haben wollen, anstatt auf das, was uns beruhigt und tröstet. Diese „Werkseinstellung“ (Default-Mode) unseres Vorstellungsvermögens trägt also oft auch zu unserem Stress bei. Und genau hier brauchen wir die Achtsamkeit, die uns hilft, aus dieser Situation herauszutreten und die es dem Geist erlaubt, Vorstellungsbilder zu erschaffen, die uns beruhigen. Hier sind einige Beispiele dafür, wie unser Vorstellungsvermögen uns beeinflusst. Wenn du eine leckere Mahlzeit genießt, treten verschiedene körperliche Veränderungen auf, wie z. B. die Produktion von Speichel und Magensäften. Dies geschieht bereits, sobald du das Essen riechst oder den ersten Bissen in den Mund nimmst. Und wenn du hungrig bist und dir nur vorstellst, dass dein Lieblingsgericht vor dir steht, wirst du wahrscheinlich die gleichen Reaktionen wahrnehmen. Wenn du voll in einem erotischen Abenteuer aufgehst, zeigt dein Körper allerlei Erscheinungen von Erregung. Denkst du nur an Sex, dann geschieht körperlich das Gleiche und je lebendiger deine Vorstellung ist, desto stärker reagiert der Körper. Unser altes Gehirn und unser Körper scheinen den Unterschied zwischen einem realen und einem vorgestellten Reiz nicht zu kennen. Das kann für und gegen uns arbeiten. In Situationen, in denen wir beschämt oder gemobbt werden, erleben wir intensive körperliche und emotionale Stressreaktionen. Und allein die Erinnerung an solche Situationen kann zu ähnlichen Stressreaktionen führen. Wenn dies zur Gewohnheit wird, können wir zunehmend ängstlich, gereizt oder depressiv werden. Befinden wir uns jedoch in einer Situation, in der wir uns geborgen und sicher fühlen und in der fürsorgliche Menschen sich um uns kümmern, reagiert unser Körper mit Gefühlen von Ruhe, Zufriedenheit und Wohlbefinden. In diesem Zustand gibt es Raum für Erholung und Wachstum und es zeigen sich Möglichkeiten für Veränderung und Entwicklung. Und auch hier gilt, dass wir auf die

Modul 2: Stressreaktionen und Selbstmitgefühl

64

gleiche Weise reagieren, wenn wir uns eine solch sichere Situation nur vorstellen. Dies erfordert in der Regel jedoch etwas mehr Übung als in den ersten drei Beispielen, da in diesen das Vorstellungsvermögen oft automatisch und unbewusst arbeitet. Die modernen Neurowissenschaften bestätigen, dass die Praxis von Achtsamkeit und Mitgefühl unser Gehirn verändert. Die Fähigkeit unseres Gehirns sich mit der Erfahrung zu verändern, wird als „Neuroplastizität“15 bezeichnet. Bei diesem Prozess bilden Neuronen neue Netzwerke. Wenn wir Achtsamkeit und Mitgefühl praktizieren und innere Bilder mit heilsamen Auswirkungen erschaffen, üben wir, unser Vorstellungsvermögen auf eine hilfreiche Art und Weise zu gebrauchen und erschaffen so neue Netzwerke in unserem Gehirn. In der folgenden Übung, die von Paul Gilbert16 inspiriert ist, machen wir wie beim „Sicheren Ort“ Gebrauch von der Kraft unseres Vorstellungsvermögens.

Übung: Ein mitfühlender Gefährte (M2_06) Übung 1. Ankommen Eine bequeme Haltung finden … Dich sanft öffnen und nicht-urteilend anerkennen, was sich in diesem Moment zeigt … … … und mit all dem, wie es ist, einen beruhigenden Atemrhythmus zulassen, wenn das jetzt hilfreich für dich ist … … Wann immer du es brauchst, kannst du zu diesen beiden Schritten zurückkehren: Einfach wieder achtsam sein dürfen … und Entspannung zulassen. Diese zwei Helfer sind immer da. … … … Auch in dieser Übung musst du nichts erreichen. Du kannst eine spielerische Atmosphäre einladen und dich überraschen lassen, was der Geist zeigen möchte. Mühelos. … 2. Ein sicherer Ort Beginne, indem du die Vorstellung eines sicheren Ortes einlädst … eines Ortes, wo du dich geborgen fühlen kannst … … Bemerken, wie er sich jetzt zeigen möchte. …… Vielleicht drinnen oder draußen … ein Ort aus der Erinnerung oder Fantasie … … … Mit allen Sinnen anwesend sein an diesem Ort. … … Was gibt es zu sehen, zu hören, zu riechen vielleicht, zu fühlen? … … Ein Ort, wo du dich sicher und geborgen fühlen kannst. … Ein Ort, der dich willkommen heißt und der dich annimmt, wie auch immer du dich gerade fühlst. … … … 3. Ein mitfühlendes Wesen Dann eine weitere Vorstellung einladen – von diesem Ort aus oder unabhängig davon, wenn du nicht so viel Kontakt damit hattest – und

15Davidson

R J (2012) The neurobiology of compassion. In C K Germer & R D Siegel (eds), Compassion and wisdom in psychotherapy (pp. 111–118). Guilford Press, New York. 16Gilbert P (2009) The Compassionate Mind. Constable & Robinson, London.

Übung: Ein mitfühlender Gefährte

dich für die Möglichkeit öffnen, dass ein mitfühlendes Wesen erscheint. Ein freundliches, weises Wesen, das dir von ganzem Herzen das Beste wünscht. … Vielleicht ein Wesen aus der Erinnerung oder der Fantasie, oder eine Mischung aus beidem … … … Vielleicht ein menschliches Wesen oder ein Tierwesen, Naturwesen oder Himmelswesen … … … Ein mittfühlendes Wesen, dem dein Wohl am Herzen liegt und das Mitgefühl in all seinen Qualitäten verkörpert: Das freundlich ist, geduldig, empfindsam und verspielt … ein Wesen, dass sich um dich kümmert und weise ist und verständnisvoll … und auch mutig und beherzt den Schwierigkeiten des Lebens begegnet … dass dir immer zur Seite steht – auch in schwierigen Zeiten … und dich so akzeptiert wie du bist, mit all deinen Unvollkommenheiten und Möglichkeiten … dir von Herzen das Allerbeste wünscht … und bereit ist dein Leid zu lindern, wo immer ihm das möglich ist. … … … … Achtsam bemerken, was sich zeigen möchte … … … Immer mit dem Wissen: Es gibt keine falschen Erfahrungen. Und immer kannst du einfach wieder achtsam mit dem sein, was gerade da ist, und mit all dem Entspannung zulassen. Und wenn du dann bereit bist, wieder zurück zur Übung. … Wie sieht das mitfühlende Wesen aus? Welche Farben? Welche Formen? Groß oder klein? Alt oder jung? Männlich oder weiblich? …… Wo befindet es sich räumlich? Vor dir, neben dir, hinter dir oder über dir? In welcher Entfernung? … … … … Vorstellungsbilder können klar sein oder verschwommen, manchmal kommen und gehen sie. Und all das ist in Ordnung. Du kannst deiner Vorstellung einfach erlauben zu zeigen, was sich zeigen möchte. … Wenn dich dieses mitfühlende, freundliche Wesen ansehen würde: Was stellst du dir vor, wie sein Blick wäre? … Sein Gesichtsausdruck? … … Es können auch andere Sinne beteiligt sein. Vielleicht fühlst du die Anwesenheit dieses Wesens oder die Atmosphäre … vielleicht gibt es einen Geruch, den zu diesem Wesen gehört … … Wie wäre es mit dir in Beziehung … in Kontakt? … … … Gibt es Geräusche, die zu diesem Wesen gehören? Oder wenn es sprechen würde: Wie würde sich seine Stimme anhören? … … 4. Auswirkungen Bemerke, wie das auf dich wirkt, wenn du dir dieses mitfühlende Wesen vorstellst: Was spürst du im Körper, im Gesicht, Brust, Bauch, Armen und Beinen? … … Was geschieht im Geist bei dieser Vorstellung? Gibt es Gedanken? … Gibt es Gefühle? … Wie ist der Geisteszustand? … … … Wie ist es, diese Freundlichkeit und Güte dieses Wesens zu empfangen? … … … Alle Erfahrungen dürfen dazu gehören. Und wenn es irgendwie schwierig ist gerade, dann kannst du auch das mit Milde anerkennen. Oder dir vorstellen, dass dieses Wesen dich auch mit den schwierigen Gefühlen völlig willkommen heißt. …

65

66

Modul 2: Stressreaktionen und Selbstmitgefühl

Dann noch eine Einladung, nämlich dir vorstellen, dass dieses Wesen es wirklich schätzt, dass du da bist … sich über deine Anwesenheit freut und dir Raum gibt da zu sein, wie du bist: Mit Antrieb, Alarm, Widerstand, Verlangen, mit all diesen komplexen menschlichen Erfahrungen. … … … Was geschieht in dir, wenn du dir das vorstellst, dass dieses Wesen es wirklich schätzt, dass du da bist, sich freut … dir Raum gibt, so zu sein, wie du bist … … … Was macht das mit dir? Körperlich … emotional … Du kannst dich daran erinnern, dass dies einfach eine Übung ist. Es kann schwierig sein, dich mit diesem Wesen zu verbinden … oder verschiedene, flüchtige Bilder kommen und gehen … Es ist Teil dieser Übung achtsam deine Reaktionen auf das was sich zeigt zu bemerken … dein Mögen, Nicht-Mögen … Anerkennen, wie es jetzt ist und willkommen heißen, was auch immer sich zeigt. Freudig oder traurig … vielleicht Impulse etwas festzuhalten oder wegzuschieben … Und jeder Moment ist eine Einladung achtsam Pause zu machen – und wieder Entspannung zuzulassen mit was auch immer da ist. … Und wenn du dich bereit fühlst, wieder zurückkehren zur Übung und dir ein mitfühlendes Wesen vorstellen, das dir zur Seite steht so wie du dich jetzt fühlst. … Wie würde es dich anschauen? Was würde es zu dir sagen? Wie würde es mit dir in Kontakt sein? … … Was macht das mit dir, wenn du dir das jetzt so vorstellst? … … … So lange du möchtest jetzt in Kontakt sein mit dem inneren Bild eines mitfühlenden Wesens. … … Und bevor du zum Ende kommst, kannst du dir noch ein bisschen Zeit nehmen um auf deine Weise Dankbarkeit auszudrücken und Wertschätzung. … … … Dich dann verabschieden und dem Bild erlauben in den Hintergrund zu treten. … Immer mit dem Wissen, dass du – wann immer du es möchtest – zurückkehren kannst zu dieser Übung und wieder die Vorstellung eines mitfühlenden Wesens, eines Gefährten, einer Gefährtin einladen kannst. Wenn du es hilfreich findest, kannst du auf dem Arbeitsblatt 2.2 (Download) deine Erfahrungen notieren und mithilfe der Reflexionsfragen, die darin gestellt werden, vertiefen.

Reflexionsfragen (aus dem Arbeitsblatt 2.2)

• Welche(s) Wesen hat bzw. haben sich in der Übung gezeigt? • Welche Sinnesempfindungen waren am deutlichsten spürbar (Sehen, Hören, Riechen, Spüren)? • Welche Körperempfindungen, Gedanken und Gefühle hast du bemerkt? • Wie hat sich die Vorstellung ausgewirkt, dass das mitfühlende Wesen dich wirklich schätzt?

Übung: Freundlichkeitsmeditation – für einen Wohltäter

67

• Was bemerkst du jetzt, während du über die Übung reflektierst? Was könnte jetzt ein mitfühlender Wunsch für dich sein?

Übung: Freundlichkeitsmeditation – für einen Wohltäter (M2_07) Übung 1. Ankommen Eine bequeme Haltung finden … Dich sanft öffnen und anerkennen, was sich gerade zeigt … … Und wenn es hilfreich ist, dem Atem behutsam erlauben sich zu beruhigen, zu vertiefen … … Wann immer du es brauchst, kannst du zu diesen beiden Schritten zurückkehren: Einfach wieder achtsam sein dürfen… und Entspannung zulassen mit dem, was sich gerade zeigt … einen beruhigenden Atemrhythmus einladen … Und wenn du dann Raum dafür fühlst, zurückkehren zur Übung. 2. Freundlicher Wunsch für dich Wenn du so spürst, wie du jetzt hier bist: Was wäre ein freundlicher, unterstützender Wunsch für dich in diesem Moment? … Nach innen lauschen, was sich zeigen möchte … Vielleicht taucht spontan etwas auf, oder vielleicht passt einer der traditionellen Wünsche für Sicherheit, Gesundheit, Lebensglück, Leichtigkeit … … … Den Wunsch als Satz oder als Kernbegriff durch den Körper fließen lassen … im Atemrhythmus oder unabhängig davon … vielleicht mit einem kleinen Lächeln oder einer Hand auf dem Herzen … … Achtsam bemerken und anerkennen, was dabei geschieht. Vielleicht angenehme Gefühle oder schwierige Gefühle oder auch gar nichts … Was auch immer sich zeigt, darf da sein … gehalten in diesem Raum freundlicher, nicht urteilender Achtsamkeit. … 3. Freundlicher Wunsch für einen Wohltäter Und wenn du Raum dafür fühlst, kannst du die Freundlichkeit ausweiten und eine Person einbeziehen, die für dich ein Wohltäter oder eine Wohltäterin ist, ein Lebensvorbild für Weisheit und Mitgefühl, … oder jemand, dem du viel verdankst, … lebendig oder schon verstorben … Es kann ein geliebter Verwandter sein, ein Lehrer oder Lehrerin, eine historische, religiöse oder politische Figur … jemand, der Herzensgüte ausstrahlt in diese Welt … Du kannst dir vorstellen, dass sich diese Person vor dir befindet – in einem angenehmen Abstand … ihr in die Augen schauen, ins Gesicht … Bemerke, was dabei in dir geschieht … … … Und spüren: Was wäre ein freundlicher Wunsch für diesen Menschen, der so wertvoll für dich ist? … Wenn du so weit bist beginnen, den freundlichen Wunsch auf bequeme Weise zu diesem Menschen fließen zu lassen. Wenn du möchtest in dem beruhigenden Rhythmus des Atems … zum Beispiel beim Einatmen: „Mögest du…“ und beim Ausatmen „… dich sicher fühlen, … gesund sein, … glücklich sein, … mit Leichtigkeit leben können.“… Oder auch einen anderen Wunsch, der aus deinem Her-

Modul 2: Stressreaktionen und Selbstmitgefühl

68

zen aufsteigt und für diese Person passt. … Den Wunsch sanft innerlich wiederholen … schenken … und achtsam bemerken, was dabei in deinem Körper, im Geist und im Herzen geschieht. Vielleicht steigen schwierige Gefühle dabei auf, vielleicht gibt es Traurigkeit, weil du die Anwesenheit dieses Menschen vermisst oder dich um sein Wohlergehen sorgst … dann fühle dich frei innezuhalten und wieder einfach achtsam mit all dem sein zu dürfen … wieder einen beruhigenden Atemrhythmus zuzulassen … dann für eine Zeit einen mitfühlenden Wunsch zu dir selbst fließen lassen… zu dem Kummer in dir … Und wenn du Raum dafür fühlst, kannst du zurückkehren zu dem freundlichen Wunsch für den Wohltäter, der Wohltäterin … diesem Menschen, der so wertvoll für dich ist … … … Wenn du möchtest noch weitere Menschen aus dieser Kategorie einbeziehen … Wohltäterinnen/Wohltäter… Menschen, denen du viel verdankst … … … Und die Übung dann in deiner Zeit beenden.

Tagebuch: Alarmsystem Achte auf Momente, in denen dein Alarmsystem aktiv ist. Was erlebst du in diesen Momenten? Du kannst deine Erfahrungen auf dem Arbeitsblatt 2.3 notieren und mithilfe der folgenden Fragen reflektieren.

Reflexionsfragen (aus dem Arbeitsblatt 2.3)

• • • • •

Was genau geschah in der Situation? Wie und wann hast du bemerkt, dass das Alarmsystem aktiv war? Welche Körperempfindungen konntest du wahrnehmen? Welche Gedanken und Gefühle hast du bemerkt? Was bemerkst du jetzt, während du über diese Erfahrung reflektierst? Was könnte eine mitfühlende Antwort sein?

Zusammenfassung Im zweiten Kapitel beschäftigen wir uns mit den bekannten Stressreaktionen Kampf, Flucht und Erstarren und auch um die weniger bekannte Stressreaktion tend & befriend. Wir zeigen auf, welche Formen diese Stressreaktionen bei psychischer Bedrohung (im Gegensatz zu körperlicher Bedrohung) annehmen und richten unser Augenmerk darauf, wie eine selbstmitfühlende Antwort auf solche Situationen aussehen könnte und wie wir diese üben können. Wir beschäftigen uns außerdem damit, wie wir unser Vorstellungsvermögen hilfreich einsetzen können, beschreiben mögliche Schwierigkeiten bei der Praxis von Selbstmitgefühl und Mitgefühl und erklären das Phänomen des „backdrafts“.

Tagebuch: Alarmsystem

Übungsvorschläge Formal: • Praktiziere die Übung „Mitfühlend mit Widerstand umgehen“ mit verschiedenen stressigen Alltagssituationen, in denen diese „neue“ Haltung hilfreich für dich sein könnte (Audio-Datei M2_04 und Arbeitsblatt 2.1). • Nimm regelmäßig Kontakt auf mit einem „Mitfühlenden Gefährten“ (Audio-Datei M2_06 und Arbeitsblatt 2.2). • Praktiziere weiterhin die formellen Übungen aus Kap. 1, wenn sie hilfreich für dich sind. Informell: • Praktiziere bei Bedarf die „Selbstmitgefühls-Erinnerung“, den „Atemraum mit Freundlichkeit“ Audio-Datei M1_01), bzw. den „Atemraum mit Mitgefühl bei emotionalem Schmerz“ (Audio-Datei M2_05), wenn du schwierige Situationen oder Gefühle erlebst. • Erkunde die verschiedenen Wege zu mehr selbstmitfühlendem Handeln in deinem Alltag. Wenn du es als unterstützend empfindest, kannst du auch regelmäßig eine Hand auf dein Herz legen. • Praktiziere weiterhin die informellen Übungen aus Kap. 1, wenn sie hilfreich für dich sind. • Tagebuchübung: Bringe mehr Bewusstheit in Momente, in denen dein Alarmsystem aktiviert ist. Du kannst dafür das Arbeitsblatt 2.3 (Download) nutzen.

Arbeitsblätter zum Herunterladen für Modul 2: 2.1 Mitfühlend mit Widerstand umgehen 2.2 Ein mitfühlender Gefährte 2.3 Tagebuch: Alarmsystem

Elektronisches Zusatzmaterial M2_04 Mitfühlend mit Widerstand umgehen M2_05 Atemraum mit Mitgefühl bei emotionalem Schmerz M2_06 Ein mitfühlender Gefährte M2_07 Freundlichkeitsmeditation – für einen Wohltäter

69

Modul 3: Verlangen und Muster verstehen Gewohnheiten freundlich begegnen

Als Körper ist jeder Mensch eins, als Seele nie. (Hermann Hesse)

In Modul 2 haben wir ganz unterschiedliche innere Landschaften erkundet. Landschaften, die durch äußere oder innere Bedrohungen geprägt wurden und ebenso Landschaften, die durch beruhigende innere Bilder, wie z. B. das Bild eines sicheren Ortes oder eines mitfühlenden Gefährten, geformt wurden. Vielleicht hast du bemerkt, wie sehr sich diese Landschaften mit unseren inneren Wetterlagen verändern können. In diesem Kapitel werden wir weitere Landschaften erkunden. Wir beginnen mit der Landschaft, die mit dem Antriebssystem verbunden ist.

Übung: Mitfühlend mit Verlangen umgehen (M3_08) Die nun folgende Übung „Mitfühlend mit Verlangen umgehen“ erfordert ein bisschen Mut, tief in die Natur menschlichen Verlangens hinein zu schauen. Dafür schlagen wir vor, dass du auch hier zunächst mit einem Verlangen von mittlerer Intensität übst und dies achtsam erkundest.

Zusatzmaterial online Zusätzliche Informationen sind in der Online-Version dieses Kapitel (https://doi.org/10.1007/978-3-658-26824-4_4) enthalten.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Stocker et al., Mitgefühl üben, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26824-4_4

71

Modul 3: Verlangen und Muster verstehen

72

Übung

1. Ankommen Eine bequeme Haltung wählen … die Achtsamkeit einladen und Pause machen dürfen vom Tun … mit offenem Herzen wahrnehmen, was sich jetzt zeigt … und damit Entspannung zulassen … dem Atem erlauben einen beruhigenden Rhythmus zu finden. … … … 2. Verlangen identifizieren In dieser Übung bist du zu etwas eingeladen das einigen Mut braucht und Freundlichkeit: Die Einladung einen Bereich in deinem Leben zu erkunden, in dem Verlangen eine Rolle spielt. Verlangen im Sinne von „festhalten wollen“, „haben wollen“. … … Etwas, das du gut kennst, das du täglich erlebst und das dich immer wieder dazu verleitet etwas zu tun, zu dem du eigentlich „Nein“ sagen willst. Eine leidvolle Gewohnheit. … … Du musst nicht das Allerschwerste wählen. Etwas Leichtes genügt. Ein Gebiet, bei dem du Raum fühlst, es jetzt ein bisschen besser kennen zu lernen. … … Es geht hier nicht darum, uns für unsere Verlangen zu verurteilen, sondern bewusster wahrzunehmen, wann und wie wir uns darin verstricken und herauszufinden, was in diesen Momenten weise und mitfühlend sein könnte. … … Vielleicht zeigt sich ein Bereich von Verlangen … Wenn sich nichts zeigt, kann ich ein paar Beispiele geben: Vielleicht das Verlangen, ungesunde Dinge zu essen, zu rauchen oder Alkohol zu trinken … Vielleicht ein Verlangen Dinge zu kaufen, die du nicht wirklich brauchst … Spiele zu spielen oder deine Mails abzurufen … im Internet zu surfen … dein Smartphone in die Hand zu nehmen soziale Medien zu nutzen … es kann auch ein sexuelles Verlangen sein oder ein Verlangen beachtet zu werden oder Recht zu haben … oder die Schlauste zu sein oder der Lustigste …… Ein Verlangen, dass du regelmäßig im Alltag erlebst und dem du nur schwer widerstehen kannst. Etwas, das leicht Frust oder Vorwurf hervorruft oder Gefühle von Scham, Schuld oder Reue. … … … 3. Verlangen erforschen Wenn du ein Gebiet gefunden hast, es innerlich lebendig werden lassen, indem du dich an eine Situation erinnerst, die noch nicht so lange her ist, in das Verlangen deutlich spürbar war …Dir vorstellen, dass du dieses Verlangen jetzt wieder spürst, … dass du jetzt wieder in dieser Situation bist … und jetzt erlebst, was du damals erlebt hast. … … Die Umstände erinnern … spüren, was im Körper und Geist geschieht … … Du kannst dir jetzt vorstellen, dass das Objekt deines Verlangens ganz nah ist, … dass das Verlangen stärker und stärker wird … du spürst diesen Drang dem Verlangen nachzugeben, aber du tust es noch nicht, sondern bewusst innehalten und spüren, was geschieht. Die innere Landschaft des Verlangens erkunden: Mit der Neugier eines Entdeckers, einer Entdeckerin … offen für alle Details …… …

Übung: Mitfühlend mit Verlangen umgehen

Wie beeinflusst dieses Verlangen deinen Körper und deine Haltung? Was geschieht im Gesicht, in der Brust, im Bauchraum? Was geschieht in den Muskeln? Wie beeinflusst dieses Verlangen deine Stimmung, und deinen Geist? …… … In Kontakt bleiben mit dieser Welle des Verlangens, ohne dich mitreißen zu lassen und spüren: Verändert sich etwas, wenn du so in Kontakt bleibst mit dem Verlangen, ohne ihm nachzugeben? …… … 4. Fragen Du kannst dabei einige Fragen einsinken lassen, und dich überraschen lassen von dem, was sich vielleicht als Antwort zeigen möchte. Vielleicht auch mehrere Antworten oder keine Antwort. Dann einfach mit der Frage verweilen. … So oder so ist es okay. … Die erste Frage: Gibt es etwas unter diesem Verlangen? …… … Vielleicht eine Emotion, die schnell überwältigt wird von dem Verlangen? Oder ein tieferes Bedürfnis das leicht vergessen wird? …… … Was ist es, das dir eigentlich fehlt? …… Mit dem Herzen lauschen auf Antworten, die sich vielleicht zeigen möchten, wenn die Frage tiefer und tiefer einsinkt. … Was liegt vielleicht unter diesem Verlangen? …… … Und wenn sich nichts zeigt, einfach weiter die Natur dieses Verlangens erkunden. … Wenn sich etwas zeigt spüren: Gibt es einen Wunsch, der sich verbinden kann mit der darunter liegenden Emotion, … der das tiefere Bedürfnis, das unter dem Verlangen liegt, berühren kann? …… Was zeigt sich? Vielleicht ein Wunsch für Ruhe oder Geduld, … ein Wunsch für Verstehen oder Verbundenheit, … oder der Wunsch dem, was sich jetzt zeigt, einfach Raum geben zu können. … Deine Worte finden und sanft innerlich wiederholen, … wenn du möchtest im beruhigenden Rhythmus des Atems. …… Dir selbst diesen Wunsch schenken – vielleicht mit einer Hand auf dem Herzen – und spüren, wie er empfangen werden kann. …… … Und noch eine Frage: Was denkst du: Bist du der einzige Mensch mit diesem Verlangen? … Wenn du möchtest noch eine letzte Frage: Was wäre jetzt ein mitfühlender Umgang mit diesem Verlangen? … Vielleicht achtsam die Welle reiten, … vielleicht auch nachgeben, aber dann mit Achtsamkeit. Also ganz bewusst, anstatt im Autopiloten. … … … Es ist nie das Gleiche mit einem Verlangen. An einem Tag ist es vielleicht mitfühlend, ihm nachzugeben, … am nächsten vielleicht die Welle zu reiten. … Was ist jetzt mitfühlend? Die Übung dann in deiner eigenen Zeit beenden … und dich selbst wertschätzen dafür, dass du dir Zeit genommen hast die Natur von Verlangen zu erkunden … und was es bedeutet, mitfühlend damit umzugehen.

73

Modul 3: Verlangen und Muster verstehen

74

In dieser Übung geht es nicht darum, uns für unsere Verlangen zu verurteilen. Vielmehr lädt sie dazu ein, einen Bereich unseres Lebens zu erkunden, in dem wir uns leicht verstricken. Achtsamkeit kann uns helfen bewusster wahrzunehmen wann und wie dies geschieht und zu erkunden, was in diesen Momenten weise und mitfühlend sein könnte. Mithilfe des Arbeitsblattes 3.1 (Download) kannst du deine Erfahrungen aus dieser Übung anhand einiger Fragen reflektieren.

Reflexionsfragen aus dem Arbeitsblatt 3.1

• Welchen Bereich von Verlangen oder Anhaftung hast du erforscht? • Welche Körperempfindungen, Gedanken und Gefühle hast du bemerkt? • Welche Antwort(en) sind bei der Frage „Gibt es etwas unter diesem Verlangen?“ aufgetaucht? • Was hast du dir selbst gewünscht? Wie konnte dieser Wunsch innerlich empfangen werden? • Was geschieht jetzt, während du über die Übung reflektierst? Was könnte jetzt ein freundlicher oder mitfühlender Wunsch sein?

Auf der Welle des Verlangens surfen Ich kann allem widerstehen, nur der Versuchung nicht. (Oscar Wilde)

In dieser Übung geht es nicht darum, „krampfhaft“ nach etwas zu suchen, dass unter unseren alltäglichen Verlangen liegt und mit dem wir uns eingehender beschäftigen müssten. Und doch kann in der Übung manchmal – völlig überraschend – etwas Darunterliegendes auftauchen und uns interessante neue Einsichten schenken. Mitfühlend mit Verlangen umzugehen kann bedeuten, dass wir es einfach wahrnehmen, ohne ihm automatisch nachzugeben. Achtsam auf der Welle eines Verlangens zu surfen und zu erleben, wie es wächst, seinen Höhepunkt erreicht und dann möglicherweise von selbst verebbt, wird im Englischen „Urge Surfing“ genannt. Ein mitfühlender Umgang mit Verlangen kann auch bedeuten, dass wir ihm bewusst nachgeben und achtsam erleben, was sich dabei von Moment zu Moment entfaltet. Da wir unsere Verlangen oft entweder unterdrücken oder ihnen im Autopiloten nachgeben, kann es einen großen Unterschied machen, wenn wir üben achtsam mit dem Prozess in Kontakt zu sein. Die achtsame Beobachtung unterstützt uns dabei, die Natur des Verlangens und der Befriedigung tiefer zu verstehen.

Wo kommt dieser Hunger her? Aus evolutionärer Sicht war und ist das Antriebssystem enorm wichtig. In Zeiten von Ressourcenknappheit war ein starkes Belohnungssystem sehr nützlich für unsere Vorfahren, weil es dafür sorgte, dass sie – wann immer es möglich war –

Gewohnheiten und Muster

75

nach Beute jagten. Das starke Verlangen nach Nahrung und Sex hat seinerzeit unsere Überlebenschancen als Individuen und als Art deutlich vergrößert. Wenn wir bekommen was wir wollen, führt dies zu einer sofortigen (jedoch oft nur kurz anhaltenden) Befriedigung, weshalb wir diese Erfahrung wieder und wieder erleben möchten. So viel wie nur möglich zu essen, ist in Zeiten des Mangels völlig ungefährlich. Schließlich können wir nie wissen, wann es die nächste Mahlzeit geben wird. Wir brauchen uns also nicht dafür zu verurteilen, wenn wir uns „überfressen“. Es ist einfach Teil unseres menschlichen Designs und nicht unsere Schuld. Was in Zeiten des Mangels adaptiv ist, d. h. eine gesunde Anpassung an die Lebensumstände bedeutet, kann jedoch in Zeiten des Überflusses problematisch sein. Zum Beispiel kann das Verlangen nach Essen viel Leid verursachen, wenn wir ständig von einer Fülle von Nahrungsmitteln umgeben sind. Wenn wir dem Verlangen dann ungebremst nachgeben, essen wir einfach zu viel, was zu Übergewicht, Herzerkrankungen und Diabetes führen kann. Diese evolutionäre Prägung, die einst nützlich und überlebenswichtig war, kann uns dazu verleiten, mehr zu essen, als wir benötigen (evolutionary mismatch). Unser unersättlicher Appetit kann auch in anderen Bereichen zu Problemen führen, wenn sich nämlich unser „Heißhunger“ auf neue Informationen, Medienkonsum, Bewunderung, Erfolg oder auch „Follower“ und „Likes“ in den Sozialen Medien richtet. Zu lernen, weise und mitfühlend mit unseren Verlangen umzugehen, kann uns vor viel Leid ersparen. Achtsam auf der Welle des Verlangens zu surfen hilft uns zu bemerken, dass auch das stärkste Verlangen irgendwann von selbst wieder vergeht. Und achtsam zu bemerken wann ein Verlangen gestillt ist, hilft uns zu erkennen, wann wir genug haben. Der persische Sufi-Mystiker und Dichter Rumi hat dies schon vor langer Zeit erkannt und auf berührende Weise formuliert: Rein im Herzen gehen wir durch die Welt bezaubert von allem, was uns umgibt. Immer suchen wir und vergessen, dass wir schon sind, was wir suchen.

Gewohnheiten und Muster „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“ (Aus Goethes Faust)



Die zwei Wölfe Es gibt eine alte indianische Geschichte. Ein weiser, alter Indianer lehrt seinen Enkel Weisheiten des Lebens. „In mir tobt ein Kampf“, sagt er zu dem Jungen. „Es ist ein Kampf zwischen zwei Wölfen. Der eine Wolf ist böswillig – er besteht aus Wut, Eifersucht, Habsucht, Selbstmitleid, Rache, Minderwertigkeitsgefühlen, Lügen und Hochmut. Der andere Wolf ist freundlich – er besteht aus Freude, Liebe, Hoffnung, Bescheidenheit, Sanftheit, Mitgefühl, Großzügigkeit, Ehrlichkeit und

76

Modul 3: Verlangen und Muster verstehen

Vertrauen. In dir wütet der gleiche Kampf – genau wie in allen anderen Menschen.“ Der Enkel denkt einige Augenblicke über das nach, was ihm der Großvater gesagt hat und fragt ihn dann: „Welcher Wolf wird gewinnen?“. Der alte Mann lächelt und antwortet: „Der Wolf, den wir am häufigsten füttern.“

Diese Geschichte erinnert uns daran, dass wir im Leben die Wahl haben, welche inneren Qualitäten wir in uns selbst nähren, indem wir ihnen Aufmerksamkeit, Zeit und Energie widmen. Viele unserer Gewohnheiten entwickeln wir jedoch nicht so bewusst, sondern einfach deswegen, weil sie uns helfen, effizient mit wiederkehrenden Umständen umzugehen. Schließlich wäre es ziemlich aufwendig jeden Tag aufs Neue herauszufinden, wie wir unsere Zähne putzen oder ein Auto fahren können. Diese Tätigkeiten im „Autopiloten“ tun zu können spart uns eine Menge Zeit und Energie. Gewohnheiten werden stärker, je öfter wir sie wiederholen und sie prägen sich tief in unser Gehirn ein. Und je stärker diese neuronalen Netzwerke werden, desto leichter wiederholen wir die entsprechende Gewohnheit. Und daran sind Prozesse in neuen und alten Gehirnanteilen beteiligt. Innere Muster sind verfestigte Gewohnheiten in der Art und Weise, wie wir denken, fühlen und handeln. Sie werden z. B. auch als neuronale Netzwerke, Modi, Schemata, Skripte, Ich-Zustände bzw. Ego-States, innere Persönlichkeitsanteile oder innere Stimmen bezeichnet und helfen uns, uns in unseren komplexen Gesellschaften zurecht zu finden. Sie sind eine Kombination aus Instinkten des „alten Gehirns“ und Fähigkeiten des „neuen Gehirns“ wie z. B. dem Vorstellungsvermögen oder dem Denken und Begründen. Das „neue Gehirn“ ermöglicht es uns, mentale Bilder zu entwerfen und uns Geschichten über uns selbst, andere und unsere Lebenswelt zu erzählen. Diese Geschichten tauchen automatisch in uns auf, wenn sie durch die entsprechenden Umstände aktiviert werden. Wenn Lebensumstände und Muster zueinander passen, ist dies sehr hilfreich. Wenn dies nicht (mehr) der Fall ist, können sie uns viele Schwierigkeiten bereiten. Diese inneren Stimmen, Impulse und Erlebnismuster sind Anteile unserer Persönlichkeit, die wie innere Personen mit unterschiedlichen Absichten, Charakteren, Bedürfnissen, Fähigkeiten, Symptomen, Funktionen und Strategien in uns wirken und eine eigene Entstehungsgeschichte haben. Sie melden sich mit ihren Anliegen bei bestimmten Anlässen oder in bestimmten Kontexten (z. B. bei der Arbeit) und nehmen inneren Raum in uns ein. Das Muster tritt dann als Urheber innerer Botschaften in Aktion. Was Muster zu sagen haben, wird uns dann als innere Stimme oder Bild bewusst und kann sich in Handlungsimpulsen manifestieren. Die inneren Stimmen können mal lauter oder leiser sein und uns mehr oder weniger hilfreich begleiten. Die wichtigsten Muster haben sich im Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen entwickelt. Manche davon sind charakteristisch für ganze Gesellschaften, andere sind spezifischer für kleinere Gruppen, Familien oder Individuen. Es gibt auch Muster, die so universell sind, dass sie fast in allen vergangenen und heutigen Kulturen auftauchen. Sie haben sich rund um Themen entwickelt, die in jeder Gesellschaft wichtig sind, wie z. B. Macht und Unterwerfung, Autorität und

Welcher Modus herrscht vor?

77

Gehorsam, Rivalität und Rang, Kooperation und Zuwendung oder männliche und weibliche Rollen1. Doch auch diese Muster können sich im Laufe der Zeit ändern, je nach dem, wie sie „gefüttert“ werden. Muster, die wir bereits in früher Kindheit entwickelt haben, arbeiten oft größtenteils ohne dass es uns bewusst wäre. Sie sind uns so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass es oft nicht leicht ist, sie zu verändern. Glücklicherweise kann uns die Achtsamkeitspraxis dabei helfen, sie uns bewusst zu machen. Das macht es einfacher, sie nicht mehr zu „füttern“ und uns mehr auf das einzulassen, was in unserem Leben jetzt eigentlich angemessen ist.

Welcher Modus herrscht vor? Basierend auf der Arbeit von Paul Gilbert2 möchten wir drei Grundmuster oder Modi vorstellen, in denen die Emotionsregulationssysteme des „alten Gehirns“ und die Funktionen des „neuen Gehirns“ miteinander verwoben sind. In jedem Muster können wir sechs Komponenten unterscheiden: Es gibt eine zugrunde liegende Motivation, die unsere Vorstellungsbilder anregt, unsere Aufmerksamkeit lenkt, unser Denken bestimmt, unser Verhalten ausrichtet und unsere Emotionen färbt. Der Alarmmodus Wenn wir die Welt als einen Ort voller möglicher Bedrohungen erleben, entwickeln wir leicht einen starken Alarmmodus (Abb. 1). Unsere primäre Motivation ist es, unser Überleben zu sichern. Daher sind wir ständig auf der Hut und halten Ausschau nach Anzeichen für Bedrohung. Bedrohungen können von Außen kommen, wenn wir uns z. B. schämen, schuldig fühlen oder Zurückweisungen von anderen erfahren, aber ebenso von innen, wenn wir z. B. emotionalen Schmerz erleben. Wir kreieren Geschichten und Bilder von dem, was schiefgelaufen ist und noch schief laufen wird. Unser Verhalten wird vermeidend und ausweichend und auf der emotionalen Ebene fürchten wir uns leicht, sind aufbrausend oder misstrauisch anderen gegenüber. Unsere Sensibilität für Gefahr und das Misstrauen, mit dem wir anderen Menschen begegnen prägen unser Denken. Und vermutlich wirst du zustimmen, dass diese Art innerer Landschaft keine ist, in der du länger verweilen möchtest. Leider ist der Alarmmodus bei vielen Menschen sehr dominant. Manchmal sind die Gründe dafür sehr offensichtlich, wenn jemand z. B. in einem Kriegsgebiet lebt oder eine Naturkatastrophe erlebt hat. Und wenigstens unterstützen sich Menschen in solchen Notsituationen dank der tend and befriend- Reaktionen gegenseitig. Manchmal sind die Gründe für einen dominanten Alarmmodus

1Gilbert

P (2000) Social Mentalities: Internal ‚social‘ conflicts and the role of inner warmth and compassion in cognitive therapy. In: P Gilbert & K G Bailey (des) Genes on the couch: Explorations in evolutionary psychotherapy (pp. 118–150). Brunner-Routledge, Hove UK. 2Gilbert P (2010) Compassion Focused Therapy. Routledge, London.

78

Modul 3: Verlangen und Muster verstehen

Abb. 1  Der Alarmmodus. (© Christian Stocker 2019. All Rights Reserved)

jedoch weniger offensichtlich. Es genügt vielleicht, in einem instabilen häuslichen Umfeld aufzuwachsen, ein Trauma durch sexuelle oder emotionale Gewalt zu erleiden, Mobbing in der Schule oder Ausbeutung bei der Arbeit zu erleben etc. Oft fühlen Menschen dadurch eine große Isolation und manchmal leiden sie jahrelang schweigend darunter. Viele verschlimmern ihre innere Bedrohungslandschaft darüber hinaus noch, indem sie sich auch noch harsch dafür verurteilen und einen starken inneren Kritiker entwickeln. Wir werden uns später noch genauer damit beschäftigen. Der Wettbewerbs- oder Antriebsmodus Ein weiteres häufiges Muster ist der Wettbewerbsmodus (Abb. 2), den wir auch als Antriebsmodus bezeichnen können. Er entwickelt sich, wenn wir die Welt als einen Ort voller begehrenswerter „Karotten“ erleben, die es zu besitzen gilt. Unser ganzes System wird angetrieben durch das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und Bereicherung. Unsere Aufmerksamkeit ist auf mögliche Belohnungen – außen oder innen – gerichtet. Äußere Belohnungen können z. B. sein geliebt und bewundert zu werden oder einen höheren Rang und Status zu erreichen. Innere Belohnungen können z. B. Gefühle von Vergnügen und Befriedigung sein. Wir träumen dann von Ruhm und Erfolg, streben nach und konkurrieren um bessere Ergebnisse und unsere Emotionen bescheren uns ein Wechselbad zwischen Verlangen und Aufregung, sowie Frustration und Neid. Unser Denken ist von all diesen Dingen geprägt.

Welcher Modus herrscht vor?

79

Abb. 2  Der Wettbewerbsmodus. (© Christian Stocker 2019. All Rights Reserved)

Diese innere Landschaft fühlt sich vielleicht nicht so angespannt an wie die des Alarmmodus, aber sie ist trotzdem weit entfernt von Frieden und Ruhe. Und obwohl Gefühle von Befriedigung angenehm sind, halten sie nicht lange an und so gibt es in diesem Muster immer mehr Bedürfnisse, als wir jemals befriedigen könnten und das Glas was wir sehen, ist immer halb leer. Durch die Betonung von Individualität und Selbstoptimierung, hat unsere westliche Kultur Wettbewerbsmodus in uns kontinuierlich gestärkt. Wir streben nach besseren Resultaten, mehr Erfolg, mehr Einkommen, mehr Freunden, mehr Zertifikaten, mehr Besitztümern, mehr, mehr, mehr… und auch nach mehr Selbstwertgefühl. Und die Samen dafür wurden vielleicht in unseren Familien gesät und in der Schule fleißig gegossen. Im Gegensatz zu früher sind heute viele Lehrer davon überzeugt, dass harte Strafen nicht zu besseren Leistungen führen. Stattdessen nutzen sie Belohnungen, um die Kinder zu motivieren. Wenn ein hoher Selbstwert aber zum Ziel an sich wird und zudem von der Zustimmung Anderer abhängt, aktiviert dies schnell den Alarmmodus und das ist natürlich keine gute Voraussetzung für entspanntes Lernen. Und so fühlen sich Kinder möglicherweise gefangen zwischen hohen Leistungsansprüchen auf der einen Seite und der Angst zu versagen auf der anderen Seite. Und keines von beiden ist eine gute Grundlage dafür, glücklich zu sein. Der Mitgefühlsmodus Die westliche Psychologie war lange Zeit der Ansicht, dass ein starkes Selbstwertgefühl (self-esteem) zentral für unser Wohlbefinden ist. Neuere Untersuchungen liefern jedoch Hinweise darauf, dass für Lebensglück und

80

Modul 3: Verlangen und Muster verstehen

Abb. 3  Der Mitgefühlsmodus. (© Christian Stocker 2019. All Rights Reserved)

Wohlbefinden ­Selbstmitgefühl viel bedeutsamer ist Selbstwertgefühl3. Selbstmitgefühl unterstützt uns dabei, unsere gemeinsame Menschlichkeit zu erkennen und fördert damit soziale Verbundenheit anstelle von Konkurrenz. Was würde geschehen, wenn Schulen und Familien mehr Wert auf Selbstmitgefühl als auf Selbstwertgefühl legen und ein Umfeld schaffen würden, in dem Kinder lernen zu kooperieren, anstatt zu konkurrieren? Weniger auf das Ergebnis fokussiert zu sein und sich wohler zu fühlen, schafft mehr Raum für Neugier, Kreativität und Lernen. Und auch Erwachsene gedeihen besser in unterstützenden Kontexten. Auf kurze Sicht machen Unternehmen, die sich um ihre Mitarbeitenden und die Umwelt kümmern, möglicherweise weniger Gewinn. Aber auf lange Sicht können sie durchaus nachhaltiger sein, wie Wissenschaftler wie Thupten Jinpa4 und Matthieu Richard5 betonen. So kann Mitgefühl letztlich auch die Wirtschaft unterstützen. Abb. 3 zeigt, wie der Mitgefühlsmodus aussehen könnte. Eine zentrale Motivation ist hier die Sorge um Wohlbefinden und Verbundenheit. Unsere Aufmerksamkeit ist weniger auf die Vermeidung von Gefahr gerichtet, sondern ist offen für unsere eigenen Bedürfnisse und die Anderer. Unser Denken ist geprägt durch eine

3Neff

K D & Vonk R (2009) Self-compassion versus global self-esteem: Two different ways of reating to oneself. Journal of Personality 77, 23–50. 4Jinpa T (2015) A fearless heart: How the courage to be compassionate can transform our lives. Avery, New York. 5Ricard M (2025) Altruism: The power of compassion to change yourself and the world. Atlantic, London.

Uns mit dem inneren Kritiker anfreunden

81

nicht-urteilende innere Haltung, die Raum für neue Perspektiven und Möglichkeiten schafft. Wir sind zudem weniger auf die Vergangenheit ausgerichtet, sondern schauen positiv in die Zukunft, was das Glas Wasser eher halb voll als halb leer erscheinen lässt. Wir verhalten uns freundlich und respektvoll und erleben Gefühle von Leichtigkeit, Zufriedenheit und Dankbarkeit.

Uns mit dem inneren Kritiker anfreunden So wie wir Muster entwickeln, die unseren Umgang mit Anderen und der Welt um uns herum prägen, so entwickeln wir auch Muster, die großen Einfluss darauf haben, wie wir mit uns selbst umgehen. Im letzten Kapitel haben wir bereits darüber gesprochen, dass es viele Menschen gibt, die sehr selbstkritisch und hart mit sich sind. Aber warum ist das so? Wir entwickeln Vorstellungen davon, wie wir sind und wie wir sein sollten und je größer weiter sie auseinanderklaffen, desto stärker fällt unsere Selbstkritik aus. Entweder kritisieren wir unser aktuelles Selbst mit Sätzen wie: „Du bist nicht gut genug!“, „Du bist dämlich!“ oder „Du bist ein Verlierer!“ (= innerer Kritiker/Kritikerin); oder wir treiben uns an (= innerer Antreiber/Antreiberin), uns in Richtung unseres idealen Selbst zu bewegen: „Du kannst es besser!“, „Du musst besser sein, als die Anderen!“, oder „Du solltest deine Eltern stolz machen!“. Viele Menschen berichten davon, dass sie diese inneren Stimmen kennen, deren beißende Kommentare verletzen und Stress und schwierige Gefühle auslösen können. Auf diese Weise stimulieren wir entweder unseren Alarm- oder Wettbewerbsmodus oder beide und viele Menschen tun dies ständig. Daraus entwickelt sich ein starker innerer Kritiker oder Antreiber – oder schlimmer noch: ein innerer Quälgeist, Tyrann oder Zyniker, der nur selten zufrieden ist, uns beständig antreibt und für jede kleine Unvollkommenheit beschimpft. Da dieses Phänomen so weit verbreitet ist, liegt die Frage nahe, ob darin vielleicht doch irgendein tieferer Sinn oder ein evolutionärer Vorteil steckt. Teilnehmerinnen und Teilnehmer der MBCL-Trainings nennen häufig spontan „gute Gründe“ (siehe Abb. 4). Es ist gut möglich, dass unsere Selbstkritik von dem Wunsch gespeist wird uns zu schützen, und der innere Kritiker oder die innere Kritikerin können durchaus die Absicht haben, uns zu helfen. Wenn er bzw. sie jedoch außer Kontrolle gerät und der Ton feindselig wird und Selbstkritik zu Selbsthass wird, entwickelt er sich zu einem inneren Quälgeist oder Tyrann oder einer Tyrannin. Und so wie es unangenehm ist in verschmutzten Landschaften zu leben und zu atmen, fühlen wir uns auch in einer inneren Landschaft unwohl, die ständig durch negative Kommentare vergiftet wird. Und wenn wir uns dann noch für unsere innere Kritik kritisieren, verstärken wir sie noch zusätzlich. Neben inneren Kritikern und Antreibern gibt es noch weitere Muster, die weit verbreitet sind und die uns das Leben schwer machen können.

82

Modul 3: Verlangen und Muster verstehen

Abb. 4  „Gute Gründe“ sich selbst zu kritisieren. (© Christian Stocker 2019. All Rights Reserved)

Ein innerer Schwarzseher oder eine Schwarzseherin ist beispielsweise sehr gut darin, immer das Schlimmste zu befürchten und Gedankenketten zu produzieren, an deren Ende stets eine Katastrophe steht: „Sicher ist es kein normaler Kopfschmerz, sondern ein Hirntumor!“. Meldet er sich auf eine solche Weise zu Wort, aktiviert dies unmittelbar unser Alarmsystem. Der oder die innere Harmonieliebende hingegen kann anderen keinen Wunsch abschlagen. „Nein“ zu sagen, fällt ihm schwer. Er verkörpert eine stark ausgeprägte „tend and befriend“ Reaktion. Niemand soll jemals gekränkt werden, uns nicht mögen oder als Last empfinden. Um den lieben Frieden zu bewahren werden eigene Bedürfnisse zurückgestellt oder vielleicht sogar gar nicht wahrgenommen. „Sei lieber vorsichtig, andere könnten sich gekränkt fühlen und sich von dir abwenden!“ flüstert er uns zu. Kommt es doch zu Disharmonie, sucht er die Schuld immer bei sich selbst. „Ich habe es vermasselt!“ denken wir dann vielleicht zerknirscht. Ein innerer Vermeider oder eine Vermeiderin veranlasst uns z. B. dazu, lieber die Fenster zu putzen, statt die überfällige Steuererklärung auszufüllen. „Es gibt viel Wichtigeres, als dieses unangenehme Zeug!“ rät er oder sie uns. Der Preis dieser Strategie ist jedoch oft hoch. Insbesondere wenn der innere Vermeider uns davon abhält, wirklich wichtige Lebensziele anzupacken. Diese Stimmen in unserem Kopf veranlassen uns zu den unterschiedlichsten Verhaltensweisen, z. B. innerer Härte, Selbstaufopferung, Rastlosigkeit, Grübeln oder Rückzug. In der Übung „Mitfühlend mit inneren Mustern umgehen“ in diesem Kapitel kannst du weitere häufige Muster kennenlernen und erforschen, die

Soziale Emotionen als Boten verstehen

83

dich möglicherweise manchmal daran hindern, der Mensch zu sein, der du eigentlich bist oder das Leben zu führen, das du wirklich leben möchtest. Gibt es einen Weg, uns mit unseren schwierigen inneren Anteilen in ihren verschiedenen Facetten anzufreunden und unsere innere Landschaft zu säubern? Ein erster Schritt kann darin bestehen zu verstehen, welche Emotionen sie nähren.

Soziale Emotionen als Boten verstehen Im Laufe der Evolution haben wir ein Bewusstsein unserer Selbst entwickelt und auch ein Bewusstsein dafür, wie andere uns sehen. Es entwickelten sich „soziale Emotionen“, zu denen z. B. Scham, Schuld, Peinlichkeit, Schüchternheit, Neid oder Stolz zählen. Diese Emotionen informieren uns darüber, wie wir uns in Relation zu anderen selbst beurteilen6. Und wenn wir uns selbst negativ bewerten, nährt dies unseren inneren Kritiker. Genau wie andere Emotionen sind auch diese Gefühle weder „gut“ noch „schlecht“. Und obwohl sie sich oft eher unangenehm anfühlen, überbringen sie uns doch wichtige Botschaften die uns helfen, uns in soziale Zusammenhänge einzuordnen und unsere Position in Gruppen zu sichern. Scham Scham kann ein sehr starkes Gefühl sein. Aus evolutionärer Sicht ist Scham ein vergleichsweise altes Gefühl und kann auch bei anderen Säugetieren, wie z. B. Affen und Hunden, beobachtet werden. Wenn wir etwas sozial Inakzeptables tun, können wir eine massive Gefahr der Ablehnung spüren, die sich manchmal sogar so überwältigend anfühlen kann, dass wir uns vielleicht wünschen, dass uns der Boden uns verschlingen möge. Situationen, in denen wir uns von anderen zutiefst beschämt fühlen, können sehr traumatisch sein. Es gibt jedoch eine gesunde Form der Scham, die für das Überleben in Gruppen wichtig ist. Schamlose Menschen verlieren bald den Respekt der Anderen, während schamempfindliche Menschen sich gezwungen sehen, sich an die Standards ihrer Gruppe anzupassen. So kann auch dieses sehr unangenehme Gefühl ein Freund sein, weil es die Gruppe vor unsozialem Verhalten und uns selbst vor Ausgrenzung schützt. Es ist nicht leicht uns der Scham zuzuwenden und sie anzuerkennen, wenn sie da ist. Die Forscherin und Autorin Brené Brown hat Scham intensiv untersucht. Sie schreibt, dass Verletzlichkeit eine der grundlegendsten Eigenschaften unseres Lebens ist, und es zu unserem Menschsein dazugehört, dass wir Fehler machen und nicht perfekt sind. Sie ermutigt uns daher, uns für das Gefühl von Scham anzuerkennen, ihm mutig und offen zu begegnen und dadurch zu erleben, wie befreiend dies sein kann7.

6Tracy J L, Robins R W & Tangney J P (eds) (2007) The self-conscious emotions: Theory and research. Guilford Press, New York. 7Brown B (2012) Daring greatly. Gotham, New York.

84

Modul 3: Verlangen und Muster verstehen

Schuld Das Gefühl der Schuld ist ausgefeilter als Scham und hat sich später in der Evolution, zusammen mit der Fähigkeit zur Empathie entwickelt. Wir müssen die Auswirkungen unseres Verhaltens auf andere verstehen, um uns schuldig zu fühlen. Während die Botschaft der Scham „Du bist inakzeptabel“ lautet, lautet die Botschaft der Schuld „Was du getan hast, ist inakzeptabel“. Gesunde Schuldgefühle motivieren uns, Fehler zu korrigieren und die Beziehung zu anderen zu verbessern. Schuld wird jedoch destruktiv, wenn wir uns für unsere Fehler schämen und in der Folge unnötig hart verurteilen. Dann wird „Ich habe etwas Schlechtes getan“ zu „Ich bin schlecht“. So können sich starke Ängste vor Fehlern entwickeln, die es uns schwer machen, etwas Neues zu lernen. Verlegenheit und Schüchternheit Die Botschaft der Verlegenheit lautet: „Dein Verhalten ist ungeschickt oder blöd.“ Schüchternheit sagt uns „Bleib besser aus dem Rampenlicht und überlasse anderen die Bühne.“ Während Scham sich oft in der Angst äußert, von der sozialen Leiter zu fallen, zeigt Schüchternheit sich in der Angst, die soziale Leiter zu erklimmen. Gefühle von Schüchternheit fühlen sich vielleicht weniger verheerend an als Scham, können aber dennoch sehr verstörend und unangenehm sein. In wettbewerbsorientierten Gesellschaften neigen Menschen dazu, sich für ihre Schüchternheit zu schämen oder sie als Schwäche zu sehen, aber Schüchternheit hat einen großen evolutionären Vorteil. Schüchternheit entwaffnet andere leicht und hilft uns, akzeptiert zu werden. Gruppen funktionieren besser, wenn nicht jeder in der ersten Reihe stehen will. Schüchterne Menschen tragen daher zur Stabilität einer Gruppe bei. Darüber hinaus sind sie sozial sensibler und emotional intelligenter als Menschen, die sich mehr in den Vordergrund drängen8. Neid und Eifersucht Wenn andere etwas für uns Begehrenswertes besitzen, reagieren wir mit Neid. Die Botschaft des Neides ist: „Andere sind dir voraus, falle nicht zurück.“ Neid drängt uns dazu, uns mit anderen zu messen und in Konkurrenz zu treten. Eifersucht kommt auf, wenn jemand das Interesse und die Zuneigung einer Person gewinnt, die uns selbst wichtig ist. Wir spüren dann den Drang, die Person mehr an uns zu binden, da wir fürchten, sie zu verlieren. Stolz und Hochmut Stolz sagt uns „Du bist toll, das hast gut gemacht.“ und hängt mit einer positiven Selbstbewertung zusammen. Die gesunde Seite des Stolzes ist, dass er unsere Position festigt und dass wir Verantwortung übernehmen, wenn etwas nicht gut läuft und wir etwas verbessern können. Der Nachteil liegt jedoch darin, dass andere möglicherweise neidisch auf uns werden. Wenn Stolz dann allerdings zu

8Henderson

L (2010) Improving social confidence and reducing shyness using Compassion Focused Therapy. Constable & Robinson, London.

Töte den Boten nicht!

85

Hochmut wird, können wir die Zuneigung anderer vollkommen verlieren. Wenn wir jedoch niemals gesunden Stolz in uns spüren, sind wir anfälliger dafür, die Botschaft unserer inneren Kritikerin bzw. unseres inneren Kritikers für bahre Münze zu halten. Als Menschen sind wir sehr gut darin, uns für alles mögliche verantwortlich zu fühlen und uns dafür „einen auf die Mütze zu geben“. Wir sind einfach keine perfekten Wesen. Wir haben nicht immer den Überblick oder handeln instinktiv, wir machen Fehler und vergessen Dinge. Für gewöhnlich tun wir dies nicht mit Absicht. Natürlich können wir uns dafür verantwortlich fühlen – dennoch ist es nicht nötig, uns selbst zusätzlich dafür zu verurteilen. Das Leben ist oft so schon stressig genug.

Töte den Boten nicht! Soziale Emotionen dienen unserem Funktionieren in Gruppen, indem sie unseren Rang und unsere Position regulieren. Sie sind Teil unseres Designs als soziale Wesen und nicht unsere Schuld! Sie können destruktiv werden, wenn sie von Geschichten des neuen Gehirns angeheizt werden, die uns sagen, dass wir nichts taugen. Übereifrige innere Anteile interpretieren die Botschaften sozialer Emotionen oft falsch. Sie verwandeln sie in Geschichten von Scham, Schuld und Misserfolg, mit denen wir uns identifizieren, bringen uns nur noch mehr schwierige Gefühle und Gedanken über uns selbst und ziehen uns in leidvolle Spiralen hinein. Dich mit diesen sozialen Emotionen anzufreunden, ist ein guter Anfang, wenn du die Beziehung zu deinen inneren kritischen Stimmen verbessern möchtest. Wie in früheren Zeiten die Überbringer unangenehmer Nachrichten auf Befehl des Königs leider oft einen Kopf kürzer gemacht wurden, so verfahren wir heute oft noch mit den „schwierigen“ Emotionen in uns selbst. Doch wir können sie auch als Boten betrachten, die sich entwickelt haben, um uns zu helfen, als soziales Wesen zu überleben. Sie bewusst als Gefühle zu erkennen wenn sie entstehen, und selbstkritische Kommentare als Gedanken zu sehen und nicht als Fakten, hilft uns, uns nicht zu übermäßig mit ihnen zu identifizieren. Auf diese Weise schaffen wir einen Raum, in dem wir mitfühlend mit Emotionen und Gedanken umgehen können, ihre hilfreichen Botschaften hören und gleichzeitig verhindern, dass sie unsere innere Landschaft verschmutzen. Es gibt viele selbstkritische oder auf andere Weise wenig hilfreiche Geschichten, die wir über uns selbst erzählen können. Die Überzeugungen und Glaubenssätze, die wir in jungen Jahren gelernt haben, können besonders stark sein und unsere Entwicklung behindern. Die nächste Übung ist ein Beispiel dafür, wie du lernen kannst, mitfühlend mit diesen inneren Mustern umzugehen.

86

Modul 3: Verlangen und Muster verstehen

Tab. 1  Innere Muster (Tabelle „Innere Muster“ übersetzt und erweitert mit freundlicher Genehmigung aus Germer, C K (2009) The Mindful path to self-compassion, Guilford Press, New York) erforschen 1 1. Meine engen Beziehungen werden in die Brüche gehen, weil die Menschen unzuverlässig und unberechenbar sind 2. Ich gehe davon aus, dass andere mir schaden wollen und auf ihren eigenen Vorteil aus sind 3. Ich kann anscheinend nicht bekommen, was ich von anderen brauche (Wärme, Aufmerksamkeit, Verständnis, Schutz, Unterstützung) 4. Ich bin ein Versager/eine Versagerin, kann nichts, verdiene es nicht, dass andere mich mögen 5. Ich bin allein in dieser Welt, anders als andere, gehöre nicht dazu 6. Ich bin langweilig und überhaupt nicht interessant für andere; sie möchten mich nicht in ihrer Gesellschaft haben 7. Ohne Hilfe komme ich in meinem Leben nicht gut zurecht und kann keine Entscheidungen treffen 8. Jeden Augenblick kann mir eine Katastrophe zustoßen, gegen die ich machtlos bin 9. Ohne Führungsgestalten fühle ich mich leer, verwirrt und verloren 10. Ich bin ein Verlierer, dumm, ungeschickt, im Vergleich mit anderen werde ich nie erfolgreich sein 11. Ich habe Anspruch auf alles, was ich bekommen kann; die anderen müssen sich nach mir richten 12. Ich bin schnell frustriert, reagiere impulsiv oder schmeiße Sachen einfach hin 13. Ich passe mich dem an, was andere von mir erwarten, aus Angst vor ihrem Zorn oder ihrer Zurückweisung 14. Ich mache mich am liebsten ganz klein, um anderen behilflich sein zu können 15. Alles dreht sich bei mir darum, die Anerkennung und Wertschätzung anderer zu gewinnen 16. Ich gehe davon aus, dass alles, was schief gehen kann, auch schief gehen wird, und dass meine Entscheidungen bestimmt falsch sind 17. Ich zeige anderen gegenüber lieber keine (positiven oder negativen) Gefühle und ziehe eine rationale Vorgehensweise vor 18. Ich bin ein Perfektionist/eine Perfektionistin, muss meine Zeit effizient nutzen und halte mich strikt an die Regeln 19. Ich habe wenig Geduld mit anderen (und mit mir selbst) und bestehe darauf, dass Menschen für ihre Fehler büßen müssen

2

3

4

5

Mitfühlend mit inneren Mustern umgehen

87

Mitfühlend mit inneren Mustern umgehen Teil 1: Innere Muster erforschen In Tab. 1 findest du 19 Sätze aufgelistet. Bitte lies sie langsam nacheinander durch und mache nach jedem Satz eine kurze Pause. Kreuze dann in der rechten Spalte an, in welchem Maß dieser Satz dein eigenes Leben prägt, bzw. wie deutlich du dich selber darin erkennst. 1 = „Ich erkenne mich überhaupt nicht“, 2 = „Ich erkenne mich ein wenig“, 3 = „Ich erkenne mich einigermaßen“, 4 = „Ich erkenne mich gut“,

5 = „Ich erkenne mich sehr gut“.

Folge beim Ankreuzen deinem ersten Impuls und achte beim Lesen mehr auf die Atmosphäre in den Sätzen als auf den genauen Wortlaut. Denke nicht lange über die Sätze nach, sondern bewerte sie danach, wie sie sich „anfühlen“. Du findest diese Tabelle auch zum Ausdrucken als Arbeitsblatt 3.2 bei den Materialien zum Herunterladen.

Teil 2, Übung: Mitfühlend mit inneren Mustern umgehen (M3_09) Nachdem du die 19 oben stehenden Sätze in der Tabelle bewertet hast, laden wir dich nun ein, dir die höher bewerteten Sätze noch einmal anzuschauen und einen von ihnen auszuwählen, bei dem du Raum fühlst, ihn dir in der folgenden Übung näher anzuschauen. Andere innere Muster kannst du zu einem späteren Zeitpunkt auf die gleiche Weise erforschen. Lies dir den betreffenden Satz noch einmal durch und lass ihn in dir nachklingen. Du kannst dann entweder die nun folgende Übung „Mitfühlend mit inneren Mustern umgehen“ als MP3 nutzen oder den folgenden Text weiterlesen.

Übung

1. Ankommen Wenn du bereit bist, kannst du nun den Augen erlauben sich zu schließen … achtsam in diesem Moment ankommen …… und behutsam einen beruhigenden Atemrhythmus einladen. 2. Situation, in der das Muster aktiv war Dich dann an eine Situation erinnern, die noch nicht so lange her ist und in der das eben ausgewählte Muster deutlich präsent war. … Und die Situation vor deinem inneren Auge lebendig werden lassen: Warst du alleine oder mit anderen? … …

88

Modul 3: Verlangen und Muster verstehen

Welche Details der Situation kannst du bemerken? … Erkunde, welche körperlichen Empfindungen, Gefühle, Gedanken und Überzeugungen präsent sind, wenn dieses Muster aktiv ist. … Gibt es einen Impuls etwas Bestimmtes zu tun oder möchtest du etwas vermeiden? … Etwas sagen oder eher zurückhalten? … Fühlst du Verlangen oder Widerstand? … Erkennst du irgendwelche Gefühle, die damit verbunden sind, wie du dich selbst in dieser Situation siehst oder wie du denkst, dass andere dich sehen? … 3. Fragen erkunden Du hörst nun einige Fragen und kannst dich überraschen lassen, was sie in dir berühren. … Und du kannst dem vertrauen, was sich von alleine zeigen möchte … immer mit dem Wissen: Es gibt keine falschen Antworten und keine Antwort ist auch in Ordnung. Achtsam mit dem zu sein, was sich von Moment zu Moment zeigt, ist Teil der Praxis. • Wie ist dieses Muster in deinem Leben entstanden? Gibt es Erfahrungen, die ihm zugrunde liegen? Gab es Umstände, in denen das Muster leicht wachsen konnte? • Wie hat sich das Muster dann weiterentwickelt? Welche Erfahrungen haben es im Verlauf deines Lebens gestärkt? • Kannst du eines der drei Regulationssysteme deutlich in diesem Muster erkennen? Die Energie von Alarm, Antrieb oder Beruhigung? Vielleicht erkennst du auch eine Stressreaktion darin: Kampf, Flucht, Erstarren, tend-and-befriend? • Hat oder hatte dieses Muster auch unerwünschte Auswirkungen und hat es Leid für dich oder Andere gebracht? Wenn ja: Auf welche Weise? • Hast du dieses Muster mit Absicht entwickelt? Oder war es eher ein Versuch zu überleben oder mit schwierigen Umständen zurecht zu kommen? • War das Muster vielleicht auch hilfreich für die? Hat es vielleicht wertvolle Dinge in dein Leben gebracht? Dinge, die es nicht gäbe, wenn du dieses Muster nicht hättest? • Mit wie vielen Menschen auf diesem Planeten teilst du dieses Muster? Einer Handvoll? Hunderten? Tausenden? Millionen? • Könntest du diesem Muster einen Spitznamen geben? Einen Namen, der ein Lächeln auf dein Gesicht zaubert, der dein Herz öffnet, die Beziehung zu diesem Muster vielleicht ein wenig leichter macht? • Was könnte ein mitfühlender Wunsch für dich selbst sein, wenn dieses Muster aktiv ist? Ein Wunsch, der den Kummer berührt, der dem Muster zugrunde liegt oder den Kummer, den es verursacht. 4. Wunsch Wenn sich bei der letzten Frage ein Wunsch gezeigt hat, kannst du diese Übung damit ausklingen lassen, dass du diesen Wunsch im beruhigenden Rhythmus des Atems wiederholst … … … Und die Übung dann in deiner eigenen Zeit beenden.

Komfortzonen ohne Komfort

89

Du kannst diese Übung zu einem späteren Zeitpunkt wiederholen und andere höher bewertete Muster erforschen. Arbeitsblatt 3.3 kann dir dabei eine Reflexionshilfe sein.

Komfortzonen ohne Komfort Die 19 Sätze in der vorangegangenen Übung stellen eine vereinfachte Liste der sogenannten „Schemata“ aus der Arbeit von Young9 und seinen Kollegen dar. Schemata sind Muster, die häufig schon in frühen, von schwierigen Lebensumständen geprägten Lebensjahren entstanden sind, im Erwachsenenalter hartnäckig bestehen bleiben und dann entsprechend maladaptiv sind. Sie haben sich also nicht an die veränderten Lebensumstände im Hier-und-Jetzt angepasst. Und weil sie uns schon so lange begleiten, fühlen sich diese Muster sehr vertraut an und geben uns das Gefühl von Sicherheit, wenn wir mit neuen Herausforderungen konfrontiert sind. Sie sind dann eine „Komfortzone“ – jedoch ohne echten Komfort, da sie ununterbrochen unseren Alarm- oder Wettbewerbsmodus aktivieren und Raum für Beruhigung und Selbstfürsorge fehlt. Die Wurzeln dieser Muster können sehr offensichtlich oder aber auch tief verborgen sein. Vielleicht wurden sie dir auch durch frühere Generationen und die Kultur, in der du aufgewachsen bist, vermittelt. Solche Muster sind Teil des Lebens. Die meisten Menschen werden zumindest einige davon erkennen. Muster können uns Schutz bieten, aber uns auch einschränken und dazu führen, dass wir uns selbst missbilligen. Missbilligen wir das Muster, wird es dadurch nicht verschwinden, denn Muster können nicht so einfach verlernt werden. Und dieser Widerstand wird unser Leid nur noch vergrößern. Sie zählen zu unseren Überlebensstrategien und wir greifen immer wieder auf diese reflexhaften, automatischen Antworten zurück, wenn, eine bekannte Bedrohung auftaucht. Natürlich können einige Muster auch mit der Zeit verblassen, wenn wir sie nicht füttern. Möglicherweise hast du bemerkt, dass bestimmte Muster auf der Liste nicht mehr so stark ausgeprägt sind, wie sie es in früheren Zeiten einmal waren. Andererseits hast du vielleicht auch Muster erlebt, die unmittelbar „anspringen“, wenn Situationen auftauchen, die den Umständen ähneln, in denen sich die entsprechenden Muster entwickelt haben. Um die ursprüngliche gute Absicht unserer inneren Muster erkennen zu können, braucht es Achtsamkeit, Weisheit und Mitgefühl. Achtsamkeit unterstützt uns darin, einen Schritt zurück zu treten, auf unsere Muster zu schauen. Auch innere Quälgeister sind Teile von uns, die ursprünglich zu unserer Unterstützung entstanden sind. Auch sie waren einst Schwerstarbeiter für eine eigentlich gute Sache und wurden zu tragischen Helden, die inzwischen leider übers Ziel hinausgeschossen sind. Mitgefühl hilft uns, ihre guten Absichten zu fühlen und wertzuschätzen, auch wenn

9Young J E, Klosko J S & Weishaar M E (2003) Schema therapy: A practicioner´s guide. Guilford Press, New York.

90

Modul 3: Verlangen und Muster verstehen

sie Leid verursachen. Auf diese Weise kann sich unsere Beziehung zu ihnen zum Positiven wandeln. Darüber hinaus kultivieren wir einen inneren Helfer oder eine innere Helferin, der bzw. die uns motiviert und uns mit weisem, mitfühlendem Rat zur Seite steht. Weitere hilfreiche Anteile, die in deinem Fürsorgesystem wurzeln und die du in diesem Mitgefühlstraining entwickelst und stärkst, können diesen Ratgebern zu Seite stehen.

Tragischen Helden mit Mitgefühl begegnen Es ist weder unser Fehler noch unsere Schuld, dass wir Muster entwickelt haben. Sie haben Vor- und Nachteile und sind alle aus dem Versuch entstanden, mit einer schwierigen Situation zurecht zu kommen. Ein inneres Muster zu erkennen ist Achtsamkeit. Milde uns selbst gegenüber zu sein und es mit gütigem Blick anzusehen, ist Selbstmitgefühl. Es ist nicht leicht, uns mehr von alten inneren Mustern zu lösen. Und es ist auch nicht sinnvoll, mit aller Kraft gegen sie anzukämpfen, um sie loszuwerden. Vielmehr möchten wir dir vorschlagen, die einmal folgenden Möglichkeiten auszuprobieren: • Das Muster achtsam wahrnehmen, wenn es auftaucht, und dir seine innere Landschaft bewusst machen: Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen. • Das Muster nicht kritisieren und nicht dagegen ankämpfen. Das nährt nur deinen inneren Kritiker oder die Kritikerin – ein weiteres Muster – und alles, was du bekämpfst, wird stärker. • Das Muster stattdessen willkommen. Vermutlich ist es aus dem Wunsch heraus entstanden, dir beim Überleben zu helfen. Und es ist gut möglich, dass dich die Situation an frühere schwierige Phasen in deinem Leben erinnert. Du kannst üben, es wohlwollend mit einem Spitznamen zu begrüßen: „Ah, da bist du ja, Rumpelstilzchen … hässliches Entlein … Mrs. Perfect … Danke, dass du vorbeigekommen bist. Nichts für Ungut, aber heute werde ich es mal ohne deine Hilfe versuchen. Und du kannst gerne in der Nähe bleiben, falls du gebraucht wirst.“ Und sogar mit einem harten inneren Kritiker können wir auf eine solche Weise sprechen: „Willkommen, du Meister der Peitsche, hast du gesehen, dass die Sonne herausgekommen ist?“ • Du kannst dich fragen, was eine mitfühlende Antwort auf die Situation wäre. Oft kann es weise sein, dem Muster nicht zu folgen, während es in anderen Momenten möglicherweise angemessener und mitfühlender ist, ihm achtsam nachzugeben – aber dann mit mehr Bewusstheit und einem klareren Verständnis. Wenn wir das innere Muster humorvoll ansprechen, ist dies viel freundlicher, als wenn wir es beschimpfen oder gar mobben. Wenn wir den inneren Anteil angreifen oder bekämpfen, ernten wir nur Feindseligkeit und keinen Respekt.

Neue Wege entdecken

91

Wenn wir ihn aber mit einem Augenzwinkern ansprechen, ist dies freundschaftlich, fürsorglich und respektvoll. Diese spielerische und humorvolle Herangehensweise wird die Wogen eher glätten. Vielleicht kann dich die folgende Entdeckung des amerikanischen Psychologen und Achtsamkeitslehrers Jack Kornfield10 bei deinen Bemühungen unterstützen. Er schreibt: „Ich dachte immer, dass wir üben sollten wie ein Samurai-Kämpfer, um frei zu werden. Aber jetzt verstehe ich, dass wir auch üben können wie die engagierte, fürsorgliche Mutter eines kleinen Kindes. Es […] hat eine ganz andere Qualität. Es ist mehr Mitgefühl und Da-sein, die uns befreien, als der ständige Versuch, einen Feind im Kampf zu besiegen.“.

Neue Wege entdecken Muster sind wie Autobahnen in einer Landschaft. Sie sind gut ausgeschildert und haben viele Auffahrten. Sobald du auf einer Autobahn bist, kannst du mit hoher Geschwindigkeit fahren. Dies ist sehr effizient, um von A (wo du nicht sein willst) nach B (wo du sein willst) zu gelangen, aber gleichzeitig auch einschränkend, denn auf einer Autobahn kann man nicht einfach anhalten. Außerdem bewegst du dich so schnell, dass du viel von der Schönheit der Landschaft verpasst. Deine Aufmerksamkeit ist auf den Asphalt gerichtet. Und wenn du achtlos im Autopilot fährst kann es leicht geschehen, dass du die Ausfahrten übersiehst. In einem achtsamen Moment kannst du erkennen, wo du bist, den Autopilotenmodus ausschalten, nach einer Ausfahrt Ausschau halten und von der Autobahn abfahren. Dann findest du dich vielleicht in unbekanntem Gebiet wieder, wo es keine Überholspuren gibt, sondern ruhige Landstraßen und fast vergessene Wanderwege, die auf deinen Karten oder den Navigationssystemen nicht zu sehen sind. Wenn du versuchst, deinen Weg in unbekanntem Terrain zu finden, ist das nicht einfach. Du bist aufgerufen regelmäßig innezuhalten, die Landschaft wahrzunehmen und sie zu „erspüren“. Das Tempo ist langsam, sodass du die Schönheit, die Herausforderungen und den Reichtum des Lebens außerhalb der „Komfortzone“ deiner Autobahn genießen kannst. Diese Metapher beschreibt, was sich in deinem Gehirn oder deinem Verhalten beobachten lässt. Die neuronalen Schaltkreise der inneren Muster sind wie Autobahnen im Gehirn, die häufig genutzt und schwer zu übersehen sind. Aus einem vertrauten Muster auszusteigen ist so, wie etwas sehr Ungewohntes zu tun. Du verlässt die Autobahn und probierst ein neues Verhalten aus, das nicht von ausgetretenen neuronalen Pfaden unterstützt wird. Und wenn du dann erlebst, dass sich dieses neue Verhalten als hilfreicher erweist, motiviert dich das, wieder so zu handeln. Denke daran: Nervenzellen die zusammen aktiviert werden, verbinden sich. Und so wird sich der neuronale Weg des Wohlbefindens umso mehr festigen,

10Kornfield

J. (2012) www.jackkornfield.com/changing-my-mind-year-after-year/(Zitat).

Modul 3: Verlangen und Muster verstehen

92

je mehr du ihn praktizierst. Und so können wir unser Gehirn trainieren, Wege zum Glück und Wohlbefinden zu bahnen. Wir möchten dich nun zu einem weiteren Schritt in der Praxis der Freundlichkeitsmeditation einladen.

Übung: Freundlichkeitsmeditation – für einen guten Freund (M3_10) Wir können das Feld unserer Freundlichkeit und unseres Mitgefühls in der nun folgenden Übung weiter ausdehnen. Bitte fühle dich frei dabei zu bleiben, Freundlichkeit zu dir selbst fließen zu lassen. Das ist völlig in Ordnung. Wenn du dich bereit dafür fühlst, den Kreis des Mitgefühls auszuweiten, kannst du dies mithilfe der Übung (und der dazugehörigen Audio-Datei als Download) ausprobieren.

Übung

1. Ankommen Ankommen in einer bequemen Haltung, … dich sanft öffnen für die Erfahrung in diesem Moment, … anerkennen, was sich jetzt zeigt. …… … Und mit allem wie es ist, einen beruhigenden Atemrhythmus erlauben. ……… 2. Freundlicher Wunsch für dich Spüren: Was wäre jetzt ein freundlicher, unterstützender Wunsch für dich? … Nach innen lauschen, was sich zeigen möchte. … Vielleicht taucht spontan etwas auf. … Und wenn nicht, passt vielleicht einer der traditionellen Wünsche für Sicherheit, Gesundheit, Lebensglück, Leichtigkeit. … Den Wunsch als Satz oder als Kernbegriff durch den Körper fließen lassen, … im Atemrhythmus oder unabhängig davon, … wenn du magst mit einem kleinen Lächeln oder einer Hand auf dem Herzen. …… … Achtsam bemerken und anerkennen, was dabei in dir geschieht. … … … Vielleicht angenehme Gefühle oder schwierige Gefühle oder auch gar nichts. … Was auch immer sich zeigt, darf genauso sein und ist Teil der Übung. … 3. Freundlicher Wunsch für eine geliebte Person Wenn du möchtest, kannst du nun den Kreis der Freundlichkeit ausweiten und dich an eine Person erinnern, die dir am Herzen liegt. … Vielleicht ein guter Freund oder Freundin, Partner, Eltern oder Großeltern, Kind oder Enkelkind, einer lieben Kollegin oder eine andere Person, die dir ein Lächeln ins Gesicht zaubert und dein Herz öffnet. … … … Dir dann vorstellen, dass diese Person vor dir sitzt oder steht und du ihr ins Gesicht und die Augen schaust. …… Spüre, wie das körperlich auf dich wirkt. … … Vielleicht gibt es auch Gefühle? … … Nach innen lauschen, ob ein freundlicher Wunsch für diesen Menschen aus deinem Herzen aufsteigt.

Tagebuch: Antriebssystem

93

…… Und diesen Wunsch sanft im beruhigenden Rhythmus des Atems wiederholen, … fließen lassen von Herz zu Herz. … Vielleicht ist es einen spontanen Wunsch, … vielleicht passt auch einer der vier traditionellen Wünsche: „Mögest du dich sicher fühlen.“ … „Mögest du gesund sein, stark … glücklich … mögest du mit Leichtigkeit leben können.“ … … … Was wäre ein schöner Wunsch für diesen Menschen, der dir am Herzen liegt? … …… Du kannst auch noch weitere gute Freunde oder Menschen, die dir nahe sind in die Übung einbeziehen … lebendig oder vielleicht schon verstorben … … Du kannst auch ein Tier wählen, z. B. dein Lieblingstier… und dir vorstellen, dass du diese Person oder dieses Tier vor dir siehst und fühlen, was da gebraucht wird …… Und diesen Wunsch sanft innerlich wiederholen … fließen lassen von Herz zu Herz …… Manchmal passt auch ein Wunsch in der Wir-Form, z. B. „Mögen wir frei sein von Kummer und Leid, … mögen wir in Ruhe und Frieden leben können, … glücklich sein.“ … Du musst dich dabei nicht anstrengen und alle lieben Menschen einzubeziehen und ihnen alles Glück zu wünschen, dass du dir nur vorstellen kannst. Und es geht auch nicht um Resultate oder um magische Effekte. Ob sich deine Wünsche auf irgendeine Weise auf die andere Person auswirken, das kann niemand wissen. In dieser Übung geht es ganz einfach darum, diese innere Haltung von Freundlichkeit für jemanden zu kultivieren, der dir am Herzen liegt. … … Den Wunsch fließen lassen und achtsam bemerken, was von Moment zu Moment geschieht. …… … Manchmal möchtest du die Sätze vielleicht ruhen lassen und nur ein oder zwei Kernbegriffe wiederholen, oder einfach die Atmosphäre von Freundlichkeit und Wohlwollen spüren. … Und wenn du schwierige Gefühle oder beunruhigende Gedanken bemerkst, kannst du sie sanft in deinem freundlichen Bewusstsein halten, wie in einer Wiege, … einen beruhigenden Atemrhythmus einladen … und dann dir selbst dann einen mitfühlenden Wunsch schenken, der berührt, was du gerade brauchst. … Wenn du dann wieder Raum dafür fühlst, kannst du zurückkommen zu dem Wunsch für die andere Person. ……… Du kannst die Übung fortsetzen, solange du möchtest.

Tagebuch: Antriebssystem Achte auf Momente, in denen das Antriebssystem aktiv ist. Du kannst deine Erfahrungen auf dem Arbeitsblatt 3.4 (Download) notieren.

Modul 3: Verlangen und Muster verstehen

94

Reflexionsfragen (aus dem Arbeitsblatt 3.4)

• • • • •

Was genau geschah in der Situation? Wie und wann hast du bemerkt, dass das Antriebssystem aktiv war? Welche Körperempfindungen konntest du wahrnehmen? Welche Gedanken und Gefühle hast du bemerkt? Was bemerkst du jetzt, während du über diese Erfahrung reflektierst? Was könnte eine mitfühlende Antwort sein?

Zusammenfassung Im dritten Kapitel erforschen wir, wie wir achtsam und mitfühlend mit Verlangen und inneren Mustern umgehen können. Die Prozesse des „alten“ und „neuen Gehirns“ lassen Muster entstehen, die uns dabei helfen, miteinander und mit bestimmten Herausforderungen umzugehen. Diese Muster führen jedoch zu Schwierigkeiten, wenn sie in Situationen „anspringen“, die andere Reaktionen erfordern würden. Wir behandeln in diesem Kapitel drei Muster des „neuen Gehirns“, die ihre Wurzeln in den drei emotionalen Regulationssystemen haben: den Alarmmodus, den Wettbewerbs- oder Antriebsmodus und den Mitgefühlsmodus. Wir befassen uns außerdem u.a. mit der inneren Kritikerin bzw. dem inneren Kritiker – einem weit verbreiteten selbstkritischen inneren Muster – und damit, wie dieser innere Kritiker durch soziale Emotionen wie Scham, Schüchternheit und Schuldgefühlen genährt wird.

Übungsvorschläge

Formal: • Erforsche das Feld von Verlagen noch weiter, indem du die Übung „Mitfühlend mit Verlangen umgehen“ praktizierst (Audio-Datei M3_08 und Arbeitsblatt 3.1, darauf kannst du deine Erfahrungen notieren). • Wende dich noch weiteren höher bewerteten inneren Mustern zu und praktiziere mit ihnen die Übung „Mitfühlend mit inneren Mustern umgehen“ (Audio-Datei M3_09 und Arbeitsblatt 3.2 und 3.3). • Praktiziere die „Freundlichkeitsmeditation – für einen guten Freund“ (Audio-Datei M3_10). • Praktiziere die formalen Übungen aus Kap. 1 und 2 (z. B. „Ein sicherer Ort“, „Ein mitfühlender Gefährte“), wenn du sie als wertvoll empfindest. Informell: • Praktiziere regelmäßig den „Atemraum mit Freundlichkeit“ (Audio-Datei M1_01) und bei Bedarf auch den „Atemraum mit Mitgefühl“ (AudioDatei M2_05), aus Kap. 2.

Tagebuch: Antriebssystem

• Nutze die „Selbstmitgefühls-Erinnerung“ aus Kap. 2, um zu üben, in schwierigen Momenten mitfühlend auf deinen Kummer zu antworten. • Tagebuchübung: Richte deine Aufmerksamkeit auf Momente, in denen dein Antriebssystem aktiv ist. Deine Erfahrungen kannst du auf dem Arbeitsblatt 3.4 (Download) notieren.

Arbeitsblätter zum Herunterladen für Modul 3:

3.1 Mitfühlend mit Verlangen umgehen 3.2 Innere Muster erkennen 3.3 Mitfühlend mit inneren Mustern umgehen 3.4 Tagebuch: Antriebssystem

Elektronisches Zusatzmaterial M3_08 Mitfühlend mit Verlangen umgehen M3_09 Mitfühlend mit inneren Mustern umgehen M3_10 Freundlichkeitsmeditation – für einen guten Freund

95

Modul 4: Mitgefühl verkörpern Ohne Schlamm kein Lotus

Möge Freundlichkeit in deinem Blick sein, wenn du nach innen schaust. (John O´Donohue)

Übung: Mitgefühl fließt in alle Richtungen In den Übungen, die wir bislang praktiziert haben, konntest du erleben, dass es möglich ist, mit der Richtung zu spielen, in die Freundlichkeit und Mitgefühl fließen. Wir können uns nämlich vorstellen, dass beides von einer anderen Person zu uns selbst fließt oder von uns selbst zu einer anderen Person oder sogar, dass dieser Strom von einem Teil von uns zu einem anderen Teil von uns fließt1. Es ist wichtig, Mitgefühl in alle diese Richtungen fließen zu lassen, damit es erblühen kann. Wenn wir uns vorstellen, von anderen Menschen Mitgefühl zu empfangen kann es passierten, dass Befürchtungen aufsteigen, diese könnten nicht da sein, wenn wir sie in der Zukunft einmal brauchen (siehe Modul 2). Vielleicht taucht auch der Gedanke auf, dass jemand nur freundlich ist, weil er oder sie etwas von uns möchte. Wenn wir Mitgefühl zu anderen Menschen fließen lassen, kann das auch die Befürchtung auslösen, diese würden unsere Großzügigkeit womöglich

1Zu den Fließrichtungen von Mitgefühl und ihren Blockaden siehe: Gilbert P (2009) The compassionate mind. Constable & Robinson, London; Jinpa T (2015) A fearless heart. Averey, New York.

Zusatzmaterial online Zusätzliche Informationen sind in der Online-Version dieses Kapitel (https://doi. org/10.1007/978-3-658-26824-4_5) enthalten. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Stocker et al., Mitgefühl üben, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26824-4_5

97

98

Modul 4: Mitgefühl verkörpern

ausnutzen oder uns mit ihren Problemen überfordern oder abhängig von uns werden. Wenn wir uns selbst Mitgefühl schenken, könnte das Anlass zu der Sorge sein, dass wir schwach und nachgiebig oder traurig und deprimiert werden könnten. Oder möglicherweise fühlen wir uns auch unwürdig, diese Freundlichkeit zu empfangen, oder denken, wir hätten es nicht verdient. Keine dieser Befürchtungen ist in irgendeiner Weise falsch. Vielmehr ist es Teil der Übung, sie achtsam und freundlich wahrzunehmen, zu verstehen und ihnen mitfühlend zu begegnen. Wenn du bemerkst, dass der Fluss des Mitgefühls in irgendeine Richtung blockiert zu sein scheint, kannst du eine passende Übung wählen, die den Fluss in diese Richtung zu unterstützt. In diesem Kapitel möchten wir dir eine neue Übung vorstellen, in der das Vorstellungsvermögen wieder eine wichtige Rolle spielt und in der du dir vorstellst, dass du selbst ein mitfühlender Mensch bist. Und bevor wir dazu kommen noch eine kleine Übung, die du vielleicht aus deiner Kindheit kennst.

So tun, als ob Wir laden dich nun ein, dich selbst bei zwei kurzen Experimenten zu beobachten. Experiment 1 Tue fünf Minuten so, als ob du stinksauer wärest. Mache dabei ein ärgerliches Gesicht und nimm eine wütende und aufgebrachte Körperhaltung an. Verkörpere den Ärger, so gut du kannst. Du darfst dich völlig diesem Ärger hingeben. Was geschieht dabei in deinem Gesicht und im Rest des Körpers, im Geist und mit deinem gefühlsmäßigen Zustand? Experiment 2 Tue nun fünf Minuten so, als ob du glücklich wärest. Lächle und erlaube eine Körperhaltung, die Freude ausdrückt. Verkörpere diese Freude so gut wie möglich, indem du dich ganz darauf einlässt. Was bemerkst du jetzt im Gesicht, im Körper, im Geist und in deinem gefühlsmäßigen Zustand? Du kannst deine Beobachtungen auf dem Arbeitsblatt 4.1 notieren. Auch wenn du dich vielleicht nicht für einen talentierten Schauspieler hältst, hast du höchstwahrscheinlich sehr unterschiedliche Auswirkungen dieser beiden Experimente festgestellt. Und wir glauben ziemlich sicher zu wissen, welche der beiden Rollen du wählen würdest, wenn du sie den Rest deines Lebens spielen müsstest.

Übung: Mitgefühl fließt in alle Richtungen

99

Unsere Fantasie hat einen starken Einfluss auf unser Gehirn, unseren Körper und unser Wohlbefinden. Im Englischen sagt man: Neurons that fire together, wire together2 (zu deutsch: Neuronen, die mit einander feuern, vernetzen sich). Heute ist dies eine bekannte Redensart in der Neuropsychologie. Wir entwickeln bestimmte neuronale Netzwerke, die am Anfang einem selten betretenen Pfad gleichen und die sich durch häufige Nutzung zu einer viel befahrenen Autobahn entwickeln können. Wie wir bereits im zweiten Kapitel gesehen haben, kann unser Vorstellungsvermögen uns helfen, Mitgefühl zu entwickeln. Wenn wir allerdings nicht bewusst mit unserem Vorstellungsvermögen arbeiten, wird es sehr wahrscheinlich unbewusst mit uns arbeiten. Oftmals schickt es uns nämlich an Orte, die unser Leid vergrößern. „Unechte“ Bilder, von dem was wir fürchten oder begehren, können sehr realistische Auswirkungen auf uns haben und viel Kummer in uns erzeugen, z. B. wenn wir die halbe Nacht wach liegen und daran denken, was am nächsten Tag alles schief gehen kann. In solchen Fällen fragen wir uns meist jedoch nicht kritisch, ob so ein Horrorszenario wohl „echt“ ist. Leider sind die Auswirkungen allerdings schon echt: wir fühlen uns elend, unser Körper reagiert gestresst und wir liegen wach im Bett. Das Vorstellungsvermögen arbeitet dann unbewusst gegen uns, und das passiert leider oft, wenn es automatisch und unbemerkt seine Arbeit verrichtet. Und der Stress, der durch ein unnötig aktives Alarm- und Antriebssystem entsteht, kann unsere Gesundheit belasten. Wenn du dir vorstellst, eine mitfühlende Person zu sein, fühlt sich das wahrscheinlich nicht sofort „echt“ an. Aber wenn du dies übst, kann es „echte“ Auswirkungen in deinem Körper geben, die für dich selbst und die Menschen um dich herum heilsam sind. Anfänglich ist diese Übung für gewöhnlich etwas mühsamer, doch nach einer gewissen Zeit gelingt es immer leichter. Übung macht den Meister: wir brauchen überhaupt nicht daran zu glauben, dass unsere Vorstellungen „echt“ sind. Wir brauchen nur so „zu tun als ob“ und auf die Auswirkungen dieser Vorstellungen achten – denn die sind sehr wohl echt und wir können sie fühlen und bemerken. In diesem Mitgefühlstraining üben wir, unsere Vorstellungskraft für uns arbeiten zu lassen, um so Freundlichkeit und Mitgefühl in uns zum erblühen zu bringen. Dabei geht es nicht darum, auf oberflächliche Weise eine Rolle zu spielen, sondern diese Rolle so zu verkörpern, als wolltest du damit einen Oskar gewinnen. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass Menschen, die sich für die Dauer von nur zwei Wochen täglich für fünf Minuten die „bestmögliche Version ihrer selbst“3 (Best Possible Self) vorstellten, optimistischer waren. Dieser Optimismus trägt wiederum zur psychischen und körperlichen Gesundheit bei.

2Hebb D (2002) The organization of behavior. A neuropsychological theory. Erlbaum Books, Mahwah, N.J. (Nachdruck der Ausgabe New York 1949). 3Meevissen Y M C, Peters M L & Alberts H J M E (2011) Become more optimistic by imagining a best possible self: Effects of a two week intervention. Journal of Behavior Therapy and Experimental Psychiatry, 42, 371–378.

100

Modul 4: Mitgefühl verkörpern

In der folgenden Übung geht es deshalb darum, dir die mitfühlendste Version deiner selbst vorzustellen.

Übung: Mitgefühl verkörpern/der Mitgefühlsmodus (M4_11) Übung 1. Ankommen Dir erlauben eine bequeme Haltung im Sitzen oder Liegen zu finden … dich sanft öffnen und sanft anerkennen, was sich gerade zeigt … … … und einen beruhigenden Atemrhythmus zulassen, … vielleicht mit einem kleinen Lächeln oder einer Hand auf dem Herzen. … … … Achtsam bemerken und anerkennen, was dabei geschieht. … Alles darf sein, wie es ist. … 2. Ein sicherer Ort, ein mitfühlendes Wesen Du bist nun eingeladen, auf spielerische Weise mit deiner Vorstellungskraft zu üben, indem du zuerst die Vorstellung eines sicheren Ortes einlädst, wo du dich geborgen fühlst und sicher – offen dafür, wie er sich dieses Mal zeigen möchte. … … … Diesen Ort mit allen Sinnen wahrnehmen. … … … Dann die Vorstellung eines mitfühlenden Wesens einladen, dass an diesem Ort erscheint, … oder auch unabhängig von dem Ort, wenn du nicht so viel Kontakt damit hattest. … … … Was für ein Wesen möchte sich diesmal zeigen? … … … Dir vorstellen, dass das Wesen dich annimmt, wie du bist … dir das Beste wünscht … dir mit tiefer Freundlichkeit begegnet … … Dir vorstellen, wie dieses Wesen alle Qualitäten von Freundlichkeit und Mitgefühl verkörpert. … 3. Mitgefühl verkörpern Dir nun vorstellen, dass du selbst Mitgefühl verkörperst, und dass all die Qualitäten, die du dir in deinem mitfühlenden Begleiter oder Begleiterin vorgestellt hast, auch in dir selbst vorhanden sind. … … … Erlaube deinem Vorstellungsvermögen auf spielerische Weise eine mitfühlende Version von dir selbst zu erschaffen, während du achtsam erkundest, was dabei so geschieht. … … Dies darf einfach eine Übung sein und es geht nicht darum, etwas Bestimmtes zu erreichen. … Dir also vorstellen, … • … dass du zutiefst empfindsam bist für deine Bedürfnisse und die Bedürfnisse Anderer, und dich dafür einsetzt, Leid zu lindern und Glück zu fördern. • … dass du mitfühlen kannst … dich einfühlen kannst in die Erfahrungen die entstehen und verstehen kannst, was in unserem menschlichen Geist und Herzen vor sich geht. • … dass du Mut hast dem Schwierigen zu begegnen, Leid zu tolerieren und solange präsent mit ihm zu sein, wie es nötig ist.

Übung: Mitgefühl verkörpern/der Mitgefühlsmodus

101

• … dass du Weisheit und eine nicht-urteilende Haltung verkörperst. Du hast die Lektionen des Lebens gelernt und weißt, wann es Worte braucht und wann Taten. Dass du geduldig bist, Raum für Nichtwissen und Anfängergeist lässt und offen bist für neue Möglichkeiten. • … dass dein ganzes Wesen von Wärme, Freundlichkeit, Ruhe und Verspieltheit durchdrungen ist. 4. Auswirkungen erkunden Und während du dir jetzt vorstellst, Mitgefühl zu verkörpern, bemerke, wie sich diese Vorstellung in dir auswirkt. … Erkunde, was im Körper geschieht … in seiner Haltung, der Qualität der Empfindungen, seiner Temperatur … im Gesicht, in den Augen, im Mund, im Hals, in der Brust, im Bauch, in den Armen und Beinen … den ganzen Körper einbeziehen. … Wie wirkt sich diese Vorstellung auf deinen Geist und eine Stimmung aus? … … Alle Erfahrungen, die sich zeigen, sind Teil der Praxis und können bewusst anerkannt werden, auch Reaktionen auf die Übung oder Gedanken wie „Ich kann das nicht“ oder Gefühle von Enttäuschung oder Frustration. … Du verkörperst bereits Mitgefühl, wenn du all das in freundlichem Gewahrsein zu hältst. … Und je öfter du übst diese mitfühlende Version deiner selbst zu sein, desto vertrauter wird es für dich werden. Du darfst also ganz geduldig mit dir sein. … … … Achtsam anerkennen was auch immer sich gerade zeigt, und dir wieder und wieder vorstellen, Mitgefühl in seinen sanften und kraftvollen Qualitäten zu verkörpern. … Du kannst dir auch vorstellen Mitgefühl zu verkörpern und auszustrahlen, wenn du etwas Schmerzhaftes in dir oder in jemand anderem anschaust… und dir vorstellen, dass Mitgefühl von dir dorthin fließt, wo es gebraucht wird. Die Übung in deiner eigenen Zeit beenden … und du kannst dich daran erinnern, dass du immer wieder zu ihr zurückkehren kannst. Auf dem Arbeitsblatt 4.2 (Download) kannst du deine Erfahrungen während dieser Übung notieren.

Reflexionsfragen (aus dem Arbeitsblatt 4.2)

• Wie hat sich die Vorstellung, dass du selbst ein mitfühlendes Wesen bist, körperlich ausgewirkt? • Welche Auswirkungen auf deine Gedanken und Gefühle hast du bemerkt? • Wie hat es sich auf deine innere Haltung gegenüber dir selbst, anderen und deiner Umwelt ausgewirkt, als du Mitgefühl verkörpert hast? • Was bemerkst du jetzt, während du deine Erfahrung in der Übung reflektierst? • Wenn du dir jetzt vorstellst, Mitgefühl zu verkörpern: Was könnte eine mitfühlende Antwort auf eine aktuelle Schwierigkeit in deinem Leben sein?

Modul 4: Mitgefühl verkörpern

102

Der Lotus des Mitgefühls Die Lotusblume ist ein altes Symbol für Mitgefühl. Die Blüte erhält ihre Nährstoffe aus dem Schlamm, in dem die Pflanze ihre Wurzeln hat. Je tiefer die Wurzeln sich in den Schlamm erstrecken, desto schöner wird die Blüte. Bei uns Menschen ist es ähnlich: Je tiefer wir in Kontakt mit unserem Leiden gehen, desto mehr kann unser Mitgefühl erblühen. Oder wie man in Asien sagt: No mud no lotus, also ohne Schlamm kein Lotus. Im MBCL verbinden wir das Symbol des Lotus mit Erkenntnissen der westlichen Psychologie. Wie du vielleicht bereits bemerkt hast, ist Mitgefühl kein simples Etwas, sondern eine Haltung dem Leiden gegenüber, die aus verschiedenen Anteilen besteht, die wir in Qualitäten und Fähigkeiten unterteilen können. In Abb. 1 findest du eine Übersicht der verschiedenen Aspekte, die diese mitfühlende Haltung ausmachen. Ausgehend von Paul Gilberts4 „Kreis des Mitgefühls“ haben wir auf Anregung einer Kursteilnehmerin den „Lotus des Mitgefühls“ entwickelt. Natürlich ist auch dieses Modell nicht perfekt, aber es kann uns dabei unterstützen, die verschiedenen Elemente des Mitgefühlstrainings umfassender zu verstehen. • Das Herz der Lotusblume – das Mitgefühl selbst – zeigt sich dem Leiden der Welt, wenn die Blütenblätter sich entfalten. Zunächst müssen wir uns diesem Leid zuwenden, es berühren und uns darauf einstellen. • Die inneren Blütenblätter repräsentieren die Qualitäten, die wir brauchen, um uns mitfühlend mit dem Leiden zuzuwenden, wenn es entsteht. • Die äußeren Blütenblätter repräsentieren die Fähigkeiten, die wir brauchen, um Leiden aktiv zu lindern. Wenn es uns möglich ist, uns mit dem Leiden auseinanderzusetzen, können wir beginnen, auf heilsame Weise darauf zu antworten. • In der Enge von Alarm- oder Wettbewerbsmodus, kann sich kein Mitgefühl entwickeln. Die vier Schwimmblätter stehen darum für Umgebungsbedingungen, unter denen der Lotus wachsen und gedeihen kann. Sie repräsentieren die Atmosphäre von Ruhe, Wärme, Freundlichkeit und Verspieltheit und damit den Grundton des Beruhigungssystems. Du kannst dich beim Lesen fragen, welche von ihnen du derzeit schon leicht verkörpern kannst und für welche du noch mehr Übung benötigst. Dabei ist es gut zu wissen, dass sie sich alle gegenseitig unterstützen und am besten gleichzeitig kultiviert werden.

4Gilbert

P (2009) The Compassionate Mind. Constable & Robinson, London.

Der Lotus des Mitgefühls

103

Abb. 1  Der Lotus des Mitgefühls. (© Christian Stocker 2019. All Rights Reserved)

Qualitäten

Qualitäten die wir brauchen, um uns mitfühlend dem Leiden zuzuwenden: Sorge für Wohlbefinden: Die grundlegende Motivation von Mitgefühl ist, gut für uns selbst und andere zu sorgen. Damit einher geht der Wunsch und die Entschlossenheit, Leiden zu verhindern oder zu lindern und Wachstum, Wohlbefinden und Glück zu fördern, wo immer wir können. Sensitivität (Empfindsamkeit): Die Fähigkeit mit dem Herzen zu lauschen, zu spüren, was wir selbst und andere brauchen und uns darauf einzustellen. Emotionale Resonanz: Die Fähigkeit, mit jemandem zu fühlen, d. h. uns emotional berühren zu lassen und mitzuschwingen mit Freude und Leid in uns selbst und anderen. Charles Darwin5 hat diese Fähigkeit später in seinem Leben untersucht und betrachtet sie als eine der wichtigsten, überlebensrelevanten Fähigkeiten bei höher entwickelten Säugetieren.

5Charles Darwins Interesse an Emotionaler Resonanz wird hervorgehoben in Keltner, D (2009) Born to be good. W. W. Norton, New York.

Modul 4: Mitgefühl verkörpern

104

Empathie (Einfühlungsvermögen): Das Vermögen uns in uns selbst und andere einzufühlen und hineinzuversetzen und die inneren Welten, Motive und Verhaltensweisen zu verstehen. Während emotionale Resonanz vor allem auf einer gefühlsmäßigen Ebene geschieht, beinhaltet Empathie auch die kognitive Qualität des Verstehens. Empathie ist essenziell für den Aufbau von Beziehungen. Mitgefühl braucht Empathie, aber Empathie alleine, ohne die anderen Qualitäten, ist nicht notwendigerweise mitfühlend. Wenn die Fürsorge für Wohlbefinden fehlt, kann Empathie zum Beispiel dafür verwendet werden, andere im Sinne unseres eigenen Vorteils zu manipulieren. Auch erfolgreiche Verkäufer, Betrüger oder Folterknechte besitzen sie. In all diesen Fällen ist zwar Empathie anwesend, Mitgefühl jedoch nicht. Beim Mitgefühl gibt es, neben Empathie, auch noch andere mitfühlende Qualitäten, wie z. B. Freundlichkeit, Milde und Fürsorge für das Wohlbefinden von uns selbst und von anderen. Problematisch wird es auch, wenn wir empathisch mit anderen sind und dabei vergessen, uns gut um uns selbst zu kümmern. Wir sehen dies häufig bei Menschen in pflegenden Berufen, die deshalb besonders burnoutgefährdet sind. Oft wird in diesem Zusammenhang auch von „Mitgefühlsmüdigkeit“ gesprochen, wenn Menschen dieser Berufsgruppen ihre Arbeit nicht mehr ausüben können. Matthieu Richard6 führt jedoch an, dass die Bezeichnung „Mitgefühlsmüdigkeit“ irreführend ist, und dass wir eher von „Empathiemüdigkeit“ sprechen sollten. Denn wenn Mitgefühl in beide Richtungen fließt und somit unser eigenes Leid genauso berührt wie das Leid Anderer, ist dies nicht ermüdend. Mut und Stresstoleranz: Mitgefühl braucht sowohl Sanftheit als auch Stärke. Wir benötigen Mut, um dem Leid zu begegnen, besonders wenn es sich uns in Form unserer inneren Quälgeister zeigt. Genauso brauchen wir Mut, um uns unsere Verletzlichkeit einzugestehen und unsere Herzen berühren zu lassen. Unerfreuliches oder Schmerzhaftes gelassen und aufmerksam in unser Bewusstsein kommen zu lassen und die eigenen Reaktionen zu beobachten, ohne sie ausleben zu müssen erfordert außerdem Toleranz und ausreichende Widerstandskraft gegen Stress. Damit wir auch angesichts andauernder Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten gelassen bleiben und mit den unvermeidlichen Formen von Schmerz und Leid mitfühlend umgehen zu können, brauchen wir ein psychisches Immunsystem, das stark genug ist. Weisheit: Mitgefühl braucht neben einem offenen Geist und Respekt für die Komplexität des Daseins auch die Fähigkeit, Situationen mit einer nicht-urteilenden inneren Haltung zu begegnen.

6Ricard

M (2015) Altruism. Atlantic, London.

Der Lotus des Mitgefühls

105

„Nicht-urteilend“ bedeutet hier aber nicht, dass wir nicht bewerten dürfen oder keine Vorlieben haben sollten. (Be-)Urteilen zu können, ist sogar notwendig und praktisch im Leben. Weisheit bedeutet, uns jedoch unserer Urteile bewusst zu sein und ihnen nicht einfach im Autopiloten zu folgen, sondern sie mit unserer Absicht in Einklang zu bringen, Leiden zu lindern und Wohlbefinden zu fördern. Weisheit hilft uns dabei, mit Geduld und Anfängergeist bei einer Frage zu bleiben, wenn es (noch) keine klaren Antworten gibt und möglichen Folgen unseres Handelns abzuschätzen. Letztendlich beinhaltet Weisheit auch die Unterscheidung zwischen dem, was hilfreich und dem was schädlich ist. Fähigkeiten

Um Leiden zu lindern können wir in verschiedenen Bereichen mitfühlende Fähigkeiten entwickeln: Aufmerksamkeit: Achtsame Aufmerksamkeit ermöglicht es uns, bewusst zu bemerken, was wir in diesem Moment erleben. Als Schlüsselfähigkeit bereichert sie sowohl die Qualität unseres Erlebens als auch die Qualität unseres Tuns. Und sie ist essenziell für alle anderen Fertigkeiten, die wir hier beschreiben. „Energy flows where attention goes“ heißt es im Englischen, was soviel bedeutet wie, dass das, was unsere Aufmerksamkeit bekommt, wächst. Wenn unsere Fähigkeit zu Mitgefühl in all seinen Qualitäten wachsen soll, ist es wichtig, unsere Aufmerksamkeitsfokus weise auszurichten und achtsam zu erkunden, was dort geschieht. Sinnliche Wahrnehmung: Unser Gehirn scheint sich im Laufe der Evolution mehr dahingehend entwickelt zu haben, Bedrohung zu erkennen und abzuwehren, als Angenehmes wahrzunehmen. Das Alarmsystem ist sehr wertvoll fürs Überleben, aber da es auch in Situationen anspringt, die keine echte Bedrohung darstellen, erzeugt es oft zusätzlichen Stress in uns. Paul Gilbert sagt in diesem Zusammenhang etwas provozierend, dass unser Gehirn eine Fehlkonstruktion ist (wörtlich: It´s a crap design). Um ein gesundes Gegengewicht dazu herzustellen und als ein Weg zum Glück, ist es deshalb wichtig, dass wir positiven Erfahrungen durch unsere Sinne extra Raum geben. Rick Hanson7 nennt das „Taking in the good“, das Gute in sich aufnehmen. Es beinhaltet das bewusste Zulassen und Genießen von visueller Schönheit, angenehmer Klänge und Musik, leckerer Gerüche und Geschmackserfahrungen sowie wohltuender Berührung. Ein weiteres einfaches Beispiel dieser Praxis ist es, den Körper zu spüren und dabei einen beruhigenden Atemrhythmus zuzulassen, so, wie wir es auch schon in den ersten Kapiteln z. B. beim Genussspaziergang beschrieben haben.

7Hanson

R (2013) Hardwiring happiness. Harmony, New York.

106

Modul 4: Mitgefühl verkörpern

Emotionen: Bestimmte Emotionen, wie z. B. Freude, Dankbarkeit oder liebevolle Verbundenheit können wir bewusst nähren und feiern, während wir andere Emotionen, wie beispielsweise Eifersucht oder Hochmut, mitfühlend anerkennen können, ohne ihnen zu folgen. Eine Schlüsselrolle spielt dabei unsere Fähigkeit, bewusst einen „Schritt zurück zu treten“ und Emotionen in einem offenen, freundlichen Gewahrsein halten zu können. Wenn sie freudvoll und erhebend sind, können wir sie bewusst schätzen und genießen. Wenn sie traurig und schmerzhaft sind, können wir sie in Güte wiegen und beruhigen, wie eine fürsorgliche Mutter, die ihr unruhiges Baby hält. Wenn die Emotionen überschäumen und potenziell schädlich sind, können wir ihnen gelassen begegnen. Wichtig ist dabei auch die Gefühlstönung, mit der wir sie wahrnehmen. Wenn der Ton warm und verständnisvoll ist, hat dies einen völlig anderen Charakter, als wenn die Tönung frostig und distanziert ist. Denken und Argumentieren: Aus der Achtsamkeitspraxis wissen wir, dass der gewaltsame Versuch, Gedanken zu ignorieren oder zu ändern nur noch mehr Leid erschafft. Unsere Gedanken achtsam zu beobachten ist eine wichtige Fähigkeit, die es uns ermöglicht, einen Perspektivenwechsel vorzunehmen und aus den beengten Sichtweisen des Alarm- und Antriebssystems auszusteigen. Abgesehen davon, dass wir Gedanken kommen und gehen lassen können, haben wir auch die Möglichkeit weise zu wählen, welche wir weiterdenken und zum Ausdruck bringen möchten. Das kann uns helfen Perspektiven und Argumente zu nähren, die dazu dienen Leiden zu lindern und Glück zu unterstützen. Der östliche Weise Shantideva liefert uns ein schönes Beispiel für Metakognition und heilsames Denken: „Warum über etwas bekümmert sein, dem man abhelfen kann? Und gibt es keine Abhilfe, was nutzt es da, sich zu bekümmern?“8. Wie wir diese Art des Denkens kultivieren können, werden wir auch im nächsten Abschnitt noch weiter erforschen. Vorstellungsvermögen: Wir können mit unserer Fähigkeit mitfühlende und heilsame innere Bilder in uns wachzurufen arbeiten. Vorstellungen von einem „Sicheren Ort“, „Mitfühlenden Gefährten“ oder auch die Vorstellung, selbst Mitgefühl zu verkörpern können krankmachenden Bildern, die durch Angst und Hass in uns entstehen, heilsam entgegen wirken. Verhalten: Viele Religionen und Weisheitstraditionen betonen, wie wichtig es ist, sich mitfühlend, respektvoll, gewaltlos und freundlich zu verhalten und zu sprechen. Die Goldene Regel „Behandle andere so, wie du selbst behandelt werden möchtest“ ist eine der größten Errungenschaften der Menschheit und hat universelle Verhaltensregeln wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen inspiriert. Es ist gleichermaßen wichtig, uns gemäß dieser universellen Richtlinien zu verhalten und dabei auch in jeder Situation auf die Weisheit unseres Herzens zu hören.

8https://zitate-aphorismen.de/autor-in-zitate/shantideva/

Den inneren Helfer nähren

107

Den inneren Helfer nähren Im Modul 3 haben wir untersucht, warum wir so leicht einen inneren Kritiker oder sogar einen inneren Tyrannen entwickeln. In diesem Kapitel beleuchten wir, wie wir einen inneren Helfer nähren können. Dies erfordert geduldiges Üben, da unser Gehirn – ohne unser Verschulden – in erster Linie auf das unmittelbare Überleben (Alarm- oder Wettbewerbsmodus) und nicht auf nachhaltiges Wohlbefinden (Mitgefühlsmodus) ausgerichtet ist. Im letzten Abschnitt haben wir das Denken und Argumentieren bereits als Kanal genannt, durch den wir Mitgefühl entwickeln können. Im Folgenden vergleichen wir die Perspektive eines inneren Kritikers mit der Perspektive eines inneren Helfers. Tab. 1 zeigt die Unterschiede im Denken dieser beiden Anteile. Einerseits kann unser Denken aus der Perspektive des Alarm- oder Antriebsmodus heraus geschehen. Dann kritisiert uns ein innerer Kritiker auf unfreundliche Art. Andererseits kann das Denken auch aus dem Mitgefühlsmodus heraus geschehen. Dann korrigiert uns ein innerer Helfer auf freundliche Weise. Beide unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich des Inhalts ihrer Gedanken, sondern auch in ihrer inneren Haltung und Gefühlstönung. Wir können sie vergleichen mit dem Unterrichtsstil eines kritischen, ungeduldigen Lehrers, der ein Kind mit Lernschwierigkeiten erniedrigt und bestraft, und dem eines freundlichen und fürsorglichen Lehrers, der geduldig, fürsorglich und unterstützend handelt. Tab. 1  Innere/r Kritiker/in und inne/r Helfer/in Innerer Kritiker

Innerer Helfer

• Einseitig auf das Negative gerichtet • Fokus auf das, was nicht da ist (das Glas ist halb leer) • Sieht Fehler und Defizite: „Was ging schief, was ist jetzt verkehrt, was wird zukünftig schief gehen?“ • Bestraft für das, was geschehen ist • Misstrauisch gegenüber der Zukunft, Angst vor Misserfolg • Harte, ungeduldige, demütigende Haltung

• Offen für die gegenwärtige Erfahrung • Baut auf das auf, was schon gut ist (das Glas ist halb voll) • Sieht Wachstum und Entwicklung: „Was lief gut, gelingt jetzt, was ist zukünftig möglich?“

• Vergibt, was geschehen ist • Ermutigt im Bezug auf Zukunft, hofft auf Erfolg • Freundliche, geduldige, unterstützende Haltung • Versucht zu verstehen, was schiefgelaufen ist • Intolerant in Bezug auf das, was schiefund lädt dich ein, aus Fehlern zu lernen gelaufen ist, klagt dich an für Fehler • Greift dich als Person an („Du bist falsch!“) • Bezieht sich auf dein Verhalten („Diese Handlung hat jene Auswirkung.“) • Ruft Scham und Angst vor Ablehnung hervor • Ruft ein gesundes Schuldgefühl und Reue hervor • Sorgt dafür, dass du ins Grübeln verfällst und • Hilft, dir Gedanken über die Folgen für alle Beteiligten zu machen. dir Sorgen über die Konsequenzen für dich selbst machst • Hilft dir, Verantwortung zu übernehmen, • Macht dich gereizt und ängstlich, lässt dich Wiedergutmachung zu leisten und Kontakt meiden oder ablehnen Beziehungen zu heilen.

108

Modul 4: Mitgefühl verkörpern

In welcher Spalte in Tab. 1 erkennst du deine Art des Denkens und deine Haltung dir selbst gegenüber am deutlichsten? Jeder von uns würde seine Kinder wohl lieber auf eine Schule schicken, in der freundliche und geduldige Lehrer unterrichten. Und doch fällt es vielen von uns schwer, einen freundlichen inneren Lehrer zu kultivieren. Falls du dich in der rechten Spalte wiedererkennst – herzlichen Glückwunsch! Wenn du dich eher in der linken Spalte wiedererkennst kannst du dich ebenfalls freuen, nämlich darüber, dass du es erkannt hast. Das ist nämlich stets der erste wichtige Schritt auf dem Weg zu einer neuen inneren Haltung. Dieses Erkennen ermöglicht es uns, den inneren Kritiker nicht weiter zu nähren und einen inneren Helfer zu stärken und so eine heilsamere Beziehung zu uns selbst zu entwickeln. In den ersten drei Modulen des MBCL-Kurses haben wir viele neue Übungen und Hintergrundinformationen vorgestellt. Übungen, die sich auf unsere inneren Schwierigkeiten konzentrieren, wie Widerstände, Verlangen und innere Muster, können ziemlich herausfordernd sein. Um mehr Raum zu schaffen, halten wir die vierte Sitzung etwas leichter und kultivieren Freundlichkeit und Mitgefühl, basierend auf Übungen, die bereits bekannt sind. Hier ist eine weitere Erweiterung der Freundlichkeitsmeditation, die den Kreis des Mitgefühls auf neutrale Personen erweitert.

Übung: Freundlichkeitsmeditation – für eine neutrale Person (M4_12) Übung 1. Ankommen Eine bequeme Haltung finden, … dich sanft öffnen, … anerkennen, was sich gerade zeigt … … … und einen beruhigenden Atemrhythmus zulassen. … … … 2. Freundlicher Wunsch für dich Spüren: Was wäre ein freundlicher, unterstützender Wunsch für dich in diesem Moment? … Nach innen lauschen, was sich zeigen möchte. … Vielleicht taucht spontan etwas auf, oder vielleicht passt auch einer der traditionellen Wünsche für Sicherheit, Gesundheit, Lebensglück, Leichtigkeit. … … … Den Wunsch als Satz oder Kernbegriff fließen lassen, … im Atemrhythmus oder unabhängig davon, … vielleicht mit einem kleinen Lächeln oder einer Hand auf dem Herzen. … … … Und achtsam bemerken und anerkennen, was dabei geschieht. … … 3. Freundlicher Wunsch für eine neutrale Person Wenn du möchtest, kannst du nun den Kreis der Freundlichkeit ausweiten und eine neutrale Person einbeziehen. Jemand anderen als „neutral“ zu empfinden, ist eigentlich ziemlich ungewöhnlich. Denn wenn wir genauer hinspüren, gibt es oft subtile Sympathien oder Antipathien. Mit „neutral“

Übung: Freundlichkeit für den Körper









109

ist hier jemand gemeint, den du nicht gut kennst oder dem du zufällig begegnest. Einen Menschen, zu dem du keine besondere Beziehung hast oder suchst. Vielleicht jemand, den du an der Bushaltestelle gesehen hast oder der neben dir an der Ampel wartet. Wenn du eine neutrale Person gefunden hast kannst du dir vorstellen, dass sie vor dir steht oder sitzt … sie anschauen … und dir bewusst machen, dass dieser Mensch – wie du auch – sich nichts anderes wünscht als glücklich zu sein – genau wie du. … Dass dieser Mensch verletzlich ist. … Und spüren, was du ihm oder ihr Freundliches wünschen könntest … … z. B. „Mögest du dich sicher fühlen … glücklich … entspannt …“ … Sanft innerlich wiederholen – wenn du magst im Rhythmus des Atems oder unabhängig davon … … Achtsam wahrnehmen, was dabei geschieht. … Du kannst schrittweise noch einige weitere Personen oder Tiere einbeziehen, die auch „neutral“ sind. … So können wir ein empfindsames Herz für Menschen und Tiere kultivieren, mit denen wir keine besondere Beziehung haben, die uns aber trotzdem begegnen und auch auf diesem Planeten leben. Wenn du bemerkst, dass deine Aufmerksamkeit wandert oder innere Schwierigkeiten auftauchen, kannst du jederzeit zum Selbstmitgefühl zurückkehren. … Wenn du dann Raum dafür fühlst, dich wieder dem Wunsch für eine neutrale Person zuwenden. … … … Und so noch eine Weile da sein mit einem Wunsch für dich, für eine neutrale Person, … oder auch einfach mit Achtsamkeit für das, was von Moment zu Moment entsteht und vergeht.

In diesem Kapitel laden wir dich dazu ein zu üben, Mitgefühl zu verkörpern. Aus diesem Grund möchten wir dir einige Übungen zur Körperwahrnehmung und achtsamen Bewegung anbieten, die auf bereits bekannten Achtsamkeitsübungen aufbauen.

Übung: Freundlichkeit für den Körper (M4_13) Übung 1. Ankommen Du bist eingeladen, dich ein dich in einer bequemen Haltung auf eine Unterlage zu legen, die weder zu hart noch zu weich ist … … … und auch darauf achten, dass es warm genug für dich ist. … … … Einen beruhigenden Atemrhythmus zulassen, … … … der Körper darf sich ganz der Schwerkraft überlassen und die Muskeln dürfen entspannen. … …

110

Modul 4: Mitgefühl verkörpern

Dir bewusst werden, wie der Körper atmet und durch den Boden getragen wird. … … 2. Angenehmer Körperteil Nimm nun mit einem Teil deines Körpers Kontakt auf, mit dem du dich zufrieden und wohl fühlst. Vielleicht weil er sich stark oder gesund anfühlt oder gut aussieht oder weil er ein zuverlässiger Begleiter ist, gut funktioniert, oder weil er dir Freude macht. … … … Bemerke, wie sich dieser Teil anfühlt und spüren, was er braucht. … … … Und dann einen freundlichen Wunsch zu diesem Teil fließen lassen. … … So, wie du einem anderen Menschen Freundlichkeit schenken kannst, kannst du auch Freundlichkeit zu einem Körperteil fließen lassen, mit dem du eine gute Beziehung hast – als ob er eine Person wäre. Was auch immer dein rationaler Geist darüber denkt. … … Vielleicht Sätze wie: „Mögest du dich gesund und glücklich fühlen, … dich entspannt und umsorgt fühlen, … das Gute im Leben genießen.“, oder was auch immer jetzt gut passt. … … … Du kannst auch dem Atem erlauben, dich zu unterstützen, z. B. indem du zu diesem Teil hin atmest und dich auf ihn einstimmst: „Mögest du …“ … und ihm dann mit dem Ausatmen Freundlichkeit senden: „… dich glücklich fühlen“ … … Auf diese oder eine andere Weise, die sich natürlich für dich anfühlt. … … … Und den gebenden und den empfangenden Aspekt erkunden: Wie kann der Wunsch von diesem Teil des Körpers empfangen? … … … Fühle dich frei die Worte zu ändern oder auch deine innere Haltung, um das empfangen zu erleichtern … … … Noch weitere Körperteile einbeziehen, mit denen du eine gute Beziehung hast, und auch ihnen einen freundlichen Wunsch schenken. … … … 3. Atem Dann zurückkehren zum Atem … … einen beruhigenden Rhythmus einladen … … … 4. Neutraler Körperteil Nun Kontakt mit einem Körperteil aufnehmen, zu dem du eine eher neutrale Beziehung hast, den du nicht so gut kennst. … Vielleicht weil du ihn nur selten bemerkst, weil du ihn nicht oft siehst oder fühlst … … Dich sanft auf ihn einstimmen … und Worte der Freundlichkeit zu ihm einfließen lassen … z. B. „Mögest du dich angenommen fühlen.“, „Mögest du auch zum Körper gehören.“, oder „Ich wünsche dir Glück.“ … … … Und spüren, wie der Wunsch empfangen werden kann … … … Dabeibleiben, oder noch ein oder zwei weitere neutrale Körperteile einbeziehen … dich auf sie einstimmen … und einen freundlichen Wunsch fließen lassen … 5. Atem Dann wieder zurückkehren zum Atem … Die Aufmerksamkeit wieder auf dem Atem ruhen lassen … … einen beruhigenden Rhythmus einladen, wenn das hilfreich ist … … … 6. ‚Schwieriger‘ Körperteil

Achtsame Bewegungsübungen

111

Dann mit einem Teil des Körpers Kontakt aufnehmen, mit dem die Beziehung eher schwierig ist. Vielleicht, weil du dich nicht wohl mit ihm fühlst, dich für ihn schämst, ihn nicht so schön findest, wenn du ihn im Spiegel siehst, oder weil er verletzlich ist, häufig schmerzt, … vielleicht war er einmal verletzt und wurde operiert. … Einen Körperteil auswählen und dich auf ihn einstimmen … und spüren: Was ist sein tieferes Bedürfnis? … … … Und einen mitfühlenden, einen unterstützenden Wunsch zu diesem Teil fließen lassen … … vielleicht im beruhigenden Rhythmus des Atems … „Mögest du dich so gesund wie möglich fühlen, … dich mutig fühlen, … stark sein und das Leid tragen können.“ … oder „Ich wünsche dir Trost, … Freundlichkeit, … all die Fürsorge, die du brauchst.“ … … … … Spüren, wie der Wunsch empfangen werden kann. … …. … Fühle dich frei, die Worte zu ändern um das Annehmen zu unterstützen. … … … Gedanken und Gefühle, die dabei kommen, in einem offenen, freundlichen Gewahrsein halten … Auch schmerzhaften Gefühlen und Traurigkeit Raum geben … … … Und so noch eine Weile dabeibleiben, oder noch einen anderen Teil des Körpers einbeziehen, mit dem es auch nicht so leicht ist für dich. 7. Der ganze Körper Die Übung abschließen, indem du dein Gewahrsein auf den Körper als Ganzes ausweitest, und ihn in einer Umarmung von Freundlichkeit und Mitgefühl hältst … … Dieser Körper, mit all seinen verschiedenen Teilen, der dich schon dein ganzes Leben lang begleitet … in freudigen Zeiten … in schwierigen Zeiten … Der eigentlich auch ein Weggefährte ist. … … Ihn umarmen und ihm Freundlichkeit und Dankbarkeit anbieten … „Mögest du dich sicher fühlen, … so gesund wie möglich, … stark und mutig, … ganz und gar friedlich.“ … … … Wenn du gleich die Klangschale hörst, auf eine für dich angenehme Weise beenden … … Und du kannst so oft du möchtest zu dieser Übung zurückkommen. Es kann eine schöne Weise sein, eine heilsame Beziehung zu deinem Körper zu pflegen.

Achtsame Bewegungsübungen Genauso, wie du dem Körper Freundlichkeit schenken kannst, wenn er still sitzt oder liegt, ist dies auch in Bewegung möglich. Du kannst achtsame Bewegungsübungen oder Yoga, wie du sie vielleicht aus dem MBSR-Achtsamkeitstraining kennst, vertiefen, indem du die freundliche innere Haltung explizit kultivierst. Genau wie bei Bewegungsübungen im Achtsamkeitstraining geht es hier nicht darum, bestimmte Erfahrungen zu erzeugen – was auch immer du erlebst, ist völlig in Ordnung. Es geht eher darum, wie du die Übungen ausführst (nämlich

112

Modul 4: Mitgefühl verkörpern

mit Freude und Aufmerksamkeit), als darum, was du tust (etwas leisten). Sanfte Selbstmassage oder das Klopfen von Gesicht und Körper kann die Körperwahrnehmung unterstützen. Während du dies tust, kannst du auch immer abwechselnd auf den Teil in dir achten, der gibt und dann auf den, der empfängt. Wenn du achtsame Dehnungs- oder Yoga-Bewegungen praktizierst, beobachte, wie der Atem sich mit den Bewegungen verändert. Du kannst dem Atem auch erlauben, die Bewegungen auf spielerische Weise zu leiten. Beginne immer mit einem beruhigenden Atemrhythmus und lasse dann die Bewegungen dem Atem folgen. Die Bewegungen können zu Anfang kleiner sein und sich vergrößern, in dem Maße, wie der Atem sich vertieft. Wir haben uns dafür entschieden, in dieses Arbeitsbuch nur einige wenige Übungen aufzunehmen. Mehr Bewegungsübungen, bei denen Sanftheit eine wichtige Rolle spielt, findest du im Qi Gong und Tai Chi oder in dem Buch Gut leben trotz Schmerz und Krankheit9von Vidyamala Burch. Im Folgenden möchten wir jedoch einige Beispiele geben die zeigen, wie wir während einer Sitzung spielerisch achtsame Bewegungsübung anbieten.

Atmung des Herzens • Finde eine aufrechte Haltung, die Beine etwas weiter als hüftbreit geöffnet, Knie und Fußgelenke sind locker, der untere Rücken sanft gestreckt. • Erlaube den Armen langsam bis in Schulterhöhe vor dem Körper anzusteigen. Die Ellbogen sind dabei nach außen gebeugt, so als würdest du einen großen Baum umarmen. Die Schultern sind entspannt und die Handflächen sind leicht nach innen zu dir hingewendet. • Den Handflächen nun mit dem Einatmen erlauben sich in Richtung Herz zu bewegen und dich gleichzeitig sanft aus den Knien aufrichten. Dabei kannst du spüren, wie sich der Brustkorb öffnet und mit dem Einatmen weitet. • Drehe mit der Ausatmung die Handflächen von dir weg und bewege die Arme wieder vom Körper weg nach vorne bewegen und ein wenig in den Knien nachgeben. Mit dieser Geste kannst du die Vorstellung einladen, sanft loszulassen. • Und dann mit dem Einatmen die Handflächen wieder nach innen drehen und in Richtung deines Herzens wandern lassen, dabei die Knie sanft ein wenig mehr strecken. Wiederhole diese Übung einige Male und konzentriere dich dabei auf die Qualitäten von Liebe, Freude oder Dankbarkeit. Du kannst dir mit der Einatmung innerlich z. B. auch sagen: „Ich empfange Liebe.“ und mit der Ausatmung „Ich gebe Liebe.“.

9Burch

V (2009) Gut leben trotz Schmerz und Krankheit: Der achtsame Weg, sich vom Leid zu befreien. Arkana, München.

Achtsame Bewegungsübungen

113

Das Herz öffnen • Finde einen aufrechten Stand. Die Füße stehen etwas mehr als hüftbreit auseinander, Knie und Fußgelenke sind leicht gebeugt. Die Arme sind vor dem Unterbauch gekreuzt – rechts über links. • Erlaube den Ellbogen mit dem Einatmen nach oben zu steigen, als wolltest du deinen Pullover ausziehen. • Die Arme dann über dem Kopf öffnen den Körper sanft dehnen. • Mit dem Ausatmen dürfen die Arme dann langsam seitlich neben den Körper sinken und sich wieder vor dem Unterbauch kreuzen – jetzt links über rechts. Dabei leicht in den Knien nachgeben. Du kannst die Übung einige Male wiederholen und die Arme dabei im Wechsel kreuzen. Spüre, was während der Bewegung im Körper geschieht und achte dabei besonders auf den Herzbereich. Oft entsteht bei Dehnungen wie dieser das Bedürfnis zu gähnen und das ist sehr willkommen. Gähnen ist ein Ausdruck von Entspannung und zeigt, dass das Beruhigungssystem aktiv wird.

Sanft schwingen und federn • Beginne im aufrechten Stand und spüre die Füße am Boden. Verlagere dann das Gewicht von rechts nach links und wieder zurück. Drücke dich dabei abwechselnd ein wenig mit den Füßen vom Boden ab, sodass die Arme locker beginnen um den Körper zu pendeln und erlaube deinem Körper sanft in eine Drehbewegung zu kommen. Dabei darf sich auch die Wirbelsäule mitdrehen. Nimm dir paar Minuten Zeit, die Empfindungen im Körper zu spüren. Und die Rotation dann langsam ausklingen lassen und dir erlauben, im Stehen auszuruhen und der Bewegung nachzuspüren. • Beginne dann, sanft aus den Knien und Knöcheln heraus auf der Stelle zu federn, wobei deine Füße am Boden bleiben. Lasse den ganzen Körper locker der Bewegung folgen. Allmählich kann ein angenehmer Rhythmus entstehen, so als ob du auf einem Tier reiten würdest. … Du kannst mit einem langsamen Elefantentempo beginnen, dann sanft schneller werden. Wenn du möchtest, bis hin zum Tempo eines Shetlandponys in schnellem Trab. Für ein paar Minuten in dem Tempo fortfahren, das dir angenehm ist und dann die Bewegungen allmählich ausklingen lassen und zum Stillstand kommen. Bemerke dann zum Abschluss die Energie, die durch den Körper fließt, einschließlich aller Empfindungen in den Handflächen.

114

Modul 4: Mitgefühl verkörpern

Geben und empfangen • Beginne im aufrechten Stand. Lasse die Arme mit dem Einatmen nach oben bis über den Kopf steigen. Dabei zeigen die Handflächen zum Kopf wie zwei Duschköpfe, die sich über dir befinden. • Visualisiere einen Lichtschauer, Wärme oder heilsame Energie, die aus deinen Handflächen auf dich herab und an deinen Körper entlang strömt und vom Körper aufgenommen wird. • Gleichzeitig den Händen mit dem Ausatmen erlauben, vom Kopf ausgehend langsam zum Nacken, Brustkorb und Bauch zu wandern, bis sie wieder seitlich neben dem Körper sind und deine Arme locker am Körper herabhängen. Wiederhole die Bewegung einige Male und achte dabei mal mehr auf den gebenden und dann wieder mehr auf den empfangenden Aspekt dieser Übung. Du kannst auch erkunden wie es sich anfühlt, wenn du den Händen erlaubst auf andere Weise über den Körper zu wandern.

Übung: Gehen mit Freundlichkeit (M4_14) Man kann Freundlichkeit auch beim Gehen oder Spazieren entwickeln. Im MBSR-Kurs wird die Gehmeditation normalerweise in einem langsamen Tempo praktiziert. Hier verbinden wir nun das achtsame Gehen mit Freundlichkeit.

Übung 1. Ankommen Finde für die Übung einen stimmigen Ort – drinnen oder draußen – wo du ungestört auf und ab oder im Kreis gehen kannst. Beginne damit innezuhalten und achtsam zu bemerken, wie der Körper jetzt stehst. Die Füße auf dem Boden, hüftbreit auseinander, die Knie sanft gebeugt, Oberkörper, Nacken und Kopf entspannt aufgerichtet. Die Arme dürfen locker seitlich hängen, wenn das angenehm ist, den Blick ein paar Meter vor dir auf den Boden gerichtet. Freundlich die Empfindungen im Körper bemerken, die Stimmung in diesem Moment, Gedanken, die aufsteigen … 2. Beruhigender Gehrhythmus Du kannst nun beginnen zu gehen. Und auch hier einen beruhigenden Gehrhythmus einladen. Einen Rhythmus, der Körper und Geist entspannt. Je nach innerer oder äußerer Situation kann dieser Rhythmus unterschiedlich sein: zum Beispiel langsamer, wenn dir angenehm warm ist oder schneller, wenn du frierst.

Übung: Gehen mit Freundlichkeit

115

Du kannst dem Atem erlauben sich in dem beruhigenden Gehrhythmus niederzulassen. … Freundlich die Bewegungen des Körpers spüren, wenn du so gehst. … … 3. Freundlicher Wunsch für dich Dich dann fragen: Was könnte jetzt ein freundlicher Wunsch für mich selbst sein? Nach innen lauschen, was sich zeigen möchte … Und wenn sich jetzt nichts zeigt, kannst du immer mit einem der traditionellen Wünsche für Glück, Gesundheit, Sicherheit oder Leichtigkeit üben. … … … Den Wunsch sanft innerlich wiederholen und auf natürliche Weise mit dem Rhythmus deiner Schritte fließen lassen. … … Abhängig vom Tempo kannst du mit jedem Schritt den ganzen Satz sagen: „Möge ich Ruhe erfahren.“, oder nur den Kernbegriff: „Ruhe“ oder „Möge“ wenn der linke Fuß aufsetzt, „ich“, mit dem rechten Fuß, „Ruhe“ mit dem linken Fuß und „erfahren.“ mit dem Rechten … … Die Worte wiederholen, solange es hilfreich für dich ist. … … … Und wenn du dich eingehüllt fühlst in eine freundliche Atmosphäre, kannst du die Worte loslassen und ganz einfach achtsam mit der Erfahrung von Freundlichkeit in diesem Moment sein … wertschätzen, was du erlebst … und wenn die Verbindung zur Freundlichkeit weniger wird, den Wunsch wieder innerlich sprechen. Bei diesem Wunsch bleiben, oder auch wechseln, wenn sich ein anderer Wunsch zeigt, der jetzt besser passt. Und wenn es verwirrend ist, die Worte mit den Bewegungen der Füße zu verbinden, kannst du den Wunsch einfach so auf angenehme Weise fließen lassen. … … 4. Ausweiten Du kannst die Übung ausweiten auf Menschen, die in deinen Gedanken auftauchen, z. B. auf einen Wohltäter, eine Wohltäterin … eine geliebte oder eine neutrale Person. … … Und wenn du jetzt nicht allein bist, kannst du freundliche Wünsche zu Menschen oder Tieren fließen lassen, die du gerade siehst oder hörst. … Du brauchst dafür keinen Blickkontakt zu haben. Auch hier geht es nicht um Resultate, sondern darum, eine freundliche innere Haltung den Wesen gegenüber zu kultivieren, denen du zufällig begegnest. Und es kann eine spielerische und auch heilsame Übung sein, neutralen Wesen freundliche Wünsche zu schenken, wo auch immer du gehst und stehst. … … Du kannst diese Übung an verschiedenen Orten und mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten praktizieren. Langsam gehend, aber auch spazierend in einem Wald, in einer Einkaufsstraße oder auf dem Flur eines Krankenhauses … … Du kannst mit dem freundlichen Wunsch spielen, und ihn einmal dir selbst schenken und dann wieder jemand anderem, der zufällig vorbeikommt. So kann sogar das Gehen in einer stressigen Umgebung eine spielerische und entspannende Note bekommen.

Modul 4: Mitgefühl verkörpern

116

Tagebuch: Innerer Kritiker Achte auf Momente, in denen sich die innere Kritikerin oder der innere Kritiker deutlich zeigt. Und anstatt dich für seine Existenz zu kritisieren kannst du dich fragen, was in solchen Momenten eine mitfühlende Antwort wäre. Dazu kannst du dir auf dem Arbeitsblatt 4.3 Notizen machen.

Reflexionsfragen (aus dem Arbeitsblatt 4.3)

• • • • •

In welchen Situationen hat sich der innere Kritiker gezeigt? Wie hast du den inneren Kritiker bemerkt? Was hat der innere Kritiker zu dir gesagt? Was hast du körperlich und emotional dabei bemerkt? Was erlebst du jetzt, während du diese Erfahrung reflektierst? Was könnte eine mitfühlende Antwort sein?

Zusammenfassung Im vierten Kapitel behandeln wir die Qualitäten und Fähigkeiten sowie die Atmosphäre von Mitgefühl anhand des „Lotus des Mitgefühls“. Darüber hinaus erforschen wir, wie ein innerer Helfer uns unterstützen kann und wie unser Vorstellungsvermögen dabei hilft, Mitgefühl zu verkörpern. Wir weiten die Übung der Freundlichkeitsmeditation auf neutrale Personen aus und zu guter Letzt stellen wir einige Übungen vor, die uns beim Entwickeln von Freundlichkeit für unseren Körper helfen und Übungen, die beim Gehen oder Spazieren durchgeführt werden können.

Übungsvorschläge Formal: • Lies und praktiziere die Übung „So tun, als ob“. Du kannst deine Erfahrungen aus der Übung auf dem Arbeitsblatt 4.1 notieren (Download). • Praktiziere regelmäßig die Übung „Mitgefühl verkörpern/der Mitgefühlsmodus“ (Audio-Datei M4_11.) Du kannst deine Erfahrungen auf Arbeitsblatt 4.2 notieren. • Praktiziere die Vorschläge für die „Freundlichkeitsmeditation – für eine neutrale Person“ (Audio-Datei M4_12). • Praktiziere die Bewegungsübungen mit Achtsamkeit. • Praktiziere die Übungen aus den vorherigen Kapiteln, wenn du fühlst, dass sie wertvoll für dich sind.

Tagebuch: Innerer Kritiker

117

Informell: • Praktiziere regelmäßig den „Atemraum mit Freundlichkeit“ (Audio-Datei M1_01), aus dem ersten Kapitel und bei Bedarf auch den „Atemraum mit Mitgefühl bei emotionalem Schmerz“ aus Kap. 2 (Audio-Datei M2_05). • Nutze, wann immer nötig, die „Selbstmitgefühls-Erinnerung“ aus Kapitel 2. • Tagebuchübung: sei dir täglich deiner Erfahrungen mit einem inneren Kritiker bewusst. Diese kannst du auf dem Arbeitsblatt 4.3 (Download) notieren.

Arbeitsblätter zum Herunterladen für Modul 4:

4.1 So tun, als ob 4.2 Mitgefühl verkörpern/der Mitgefühlsmodus 4.3 Tagebuch: Innerer Kritiker

Elektronisches Zusatzmaterial M4_11 Mitgefühl verkörpern/der Mitgefühlsmodus M4_12 Freundlichkeitsmeditation – für eine neutrale Person M4_13 Freundlichkeit für den Körper M4_14 Gehen mit Freundlichkeit

Modul 5: Selbst und andere – den Kreis des Mitgefühls erweitern Geben und empfangen. Mit jedem Atemzug

Wenn du schnell gehen willst, gehe allein. Wenn du weit gehen willst, gehe mit anderen. (Afrikanisches Sprichwort)

Du bist nun bei der Hälfte dieses Buches angelangt. Wir möchten dich einladen, einen Moment innezuhalten und über die erste Hälfte dieses Trainings zu reflektieren. Was hast du bislang gelernt? Gab es Auswirkungen auf dein Leben? Erkenne mit Freundlichkeit und Milde an, was auch immer während dieser Reflexion in dir aufsteigt, ganz gleich, ob es Einsichten, Hindernisse, Enttäuschungen oder Zweifel sein mögen. Was möchtest du dir für die zweite Hälfte dieses Kurses selbst wünschen? In diesem Modul möchten wir weiter erforschen, wie wir mitfühlend mit uns selbst und anderen sein können. Wie können wir mitfühlend auf Leid antworten? Vielleicht werden wir sensitiver für die Bedürfnisse anderer, wenn wir zuerst lernen die Bedürfnisse von leidenden Anteilen in uns selbst zu spüren. Wir möchten dich einladen, dies in der folgenden Übung eingehender zu tun. Du benötigst dafür auch Stift und Papier.

Zusatzmaterial online Zusätzliche Informationen sind in der Online-Version dieses Kapitel (https://doi.org/10.1007/978-3-658-26824-4_6) enthalten. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Stocker et al., Mitgefühl üben, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26824-4_6

119

120

Modul 5: Selbst und andere – den Kreis des Mitgefühls erweitern

Übung: Ein mitfühlender Brief Übung

Mache es dir zunächst bequem und folge der Anleitung aus der Übung „Mitgefühl verkörpern/der Mitgefühlsmodus“ aus dem vorhergehenden Kapitel. Nimm dir die Zeit, die du brauchst, um mit der mitfühlenden Version deiner Selbst in Kontakt zu kommen und Mitgefühl zu verkörpern. Wenn du dann bereit dafür bist, nimm Verbindung mit einem Bereich in deinem Leben auf, den du als schwierig oder schmerzhaft erlebst. Du brauchst dafür nicht das Schwierigste auszuwählen, sondern etwas, das in diesem Moment gut für dich handhabbar ist. Vielleicht eine schwierige Situation, die vor Kurzem aufgetreten ist, oder die schon länger zurück liegt und die immer noch Unbehagen auslöst. Vielleicht war sie geprägt von schmerzhaften Gefühlen oder scharfer Selbstkritik. Und während du dir jetzt vorstellst, dass du Mitgefühl verkörperst, schaue auf die leidende Version deiner Selbst in dieser schwierigen Situation. Stelle dir vor, wie du dein leidendes Selbst von deinem mitfühlenden Selbst aus anschaust und den tiefen Wunsch verspürst, dieses Leiden zu lindern. Voller Freundlichkeit und Mitgefühl, Weisheit und Einfühlungsvermögen. Um Wärme, Trost, Kraft oder Unterstützung zu schenken. Wie sieht diese leidende Version deiner Selbst aus? Siehst du eine verängstigte, wütende, traurige, einsame oder verwirrte Version deiner Selbst? Wie ist ihr Gesichtsausdruck und ihre Körperhaltung? Was tut sie? Wie verhält sie sich? Lass deinen Blick erfüllt sein mit Freundlichkeit, wenn du dein leidendes Selbst anschaust. Spüre, was es braucht. Welche Qualitäten von Mitgefühl werden benötigt? Vielleicht Sanftheit, Wärme und Zuwendung, oder Mut und Kraft, oder Geduld und Verständnis? Was wäre eine weise, mitfühlende Antwort? Gib Schwierigkeiten und Fragen Raum, wenn sie sich zeigen. Vielleicht gibt es keine einfachen Antworten. Lasse Nichtwissen zu und sei mit dem, was auch immer sich zeigt, bis eine stimmige Antwort auftaucht. Nimm nun Papier und Stift und schreibe einen mitfühlenden Brief an den leidenden Teil deiner Selbst. Das „Du“ ist dabei der leidende Teil in dir, den du mit deinem Vornamen ansprechen kannst und das „Ich“ ist dein mitfühlendes Selbst, das diese Worte schreibt. Lasse die Worte einfach aus einer offenen, spielerischen und leichten Haltung heraus kommen. Du brauchst dich dabei nicht besonders zu bemühen, es „gut“ zu machen oder etwas zu erzwingen. Auch wenn es nur ein Satz oder einige Worte sind, die du schreibst, ist es in Ordnung. Es ist eine Übung, keine Prüfung. Falls dir Zeichnen leichter fällt als Schreiben, ist das auch eine Möglichkeit, dich auszudrücken. Wenn du bemerkst, dass du die Verbindung zu deinem mitfühlenden Selbst verloren hast, erkenne mit Milde an, was sich zeigt. Auch wenn es Zweifel, Unsicherheit oder Widerstand gegen die Übung sind. Lade dann

Übung: Ein mitfühlender Brief

121

einen beruhigenden Atemrhythmus ein und wenn du wieder Raum dafür fühlst, kannst du dir wieder vorstellen, Mitgefühl zu verkörpern. Wenn es gerade schwierig ist, dich mit deinem mitfühlenden Selbst zu verbinden, kannst du auch deinen mitfühlenden Gefährten oder Gefährtin als Unterstützung beim Schreiben zu Hilfe holen. Wie würde er oder sie in Kontakt sein mit dem leidenden Teil in dir? Wie würden sie ihn sehen? Was würden sie sagen? Vielleicht ist es keine zusammenhängende Geschichte, die sich zeigt, sondern eher Schlüsselwörter oder kurze Sätze, Metaphern oder auch Zeichnungen. Erlaube dir, dich überraschen zu lassen, was sich zeigen möchte. Gönne dir nach ungefähr zehn Minuten eine Pause und lies dir den Brief noch einmal in Ruhe durch. Drückt der Inhalt Mitgefühl aus? Wie ist der Tonfall – warm, freundlich, geduldig und spielerisch? Oder hat sich hier und da doch unbeabsichtigt eine subtile Kritik oder ein Urteil eingeschlichen („Du hättest doch …“, „Du solltest nicht …“, „Du musst doch bloß …“?). Wenn du dergleichen bemerkst: wunderbar! Dir bewusst zu machen, wie eine innere Kritikerin oder ein Kritiker – vielleicht auch in Verkleidung – in deinen Worten auftauchen kann, um den Zeigefinger zu heben, ist ein wichtiger Teil dieser Übung. Antworte mitfühlend auf das, was auftaucht. Dein leidendes Selbst schenkt dir wertvolles Feedback wie der Tonfall, die Worte und Bilder ankommen. Wie möchte es gesehen und angesprochen werden? Kann dein leidendes Selbst das Mitgefühl empfangen und annehmen? Fehlt in dem Brief noch etwas, was dein leidendes Selbst unbedingt hören möchte? Eine Kernbotschaft oder ein letzter Satz? Zögere nicht, deinen Brief zu ändern, anzupassen oder zu erweitern. Du kannst die Übung auch noch erweitern, indem du den Brief, während dir vorstellst Mitgefühl zu verkörpern, dem leidenden Selbst vorliest. Entweder in deiner Vorstellung oder aber – wenn du ungestört bist – auch tatsächlich laut. Wie sprichst du den leidenden Teil deiner Selbst an? Wie begegnest du ihm? Passt dein Tonfall zu dem, was du sagen möchtest? Ist das Tempo ruhig und geduldig? Klingen die Worte warm und freundlich? Kannst du spüren, welche innere Haltung du einnehmen könntest, die es deinem leidendes Selbst erlaubt, sich für die Worte zu öffnen? Vielleicht ist es hilfreich, diese Übung vor einem Spiegel durchzuführen, sodass du dich selbst beim Vorlesen sehen kannst. Wie sind dabei deine Körperhaltung und dein Gesichtsausdruck? Gibt es ein Lächeln auf deinen Lippen? Wie kommen die Worte aus deinem Mund? Kommen sie von Herzen, sind sie aufrichtig und schwingt darin Mitgefühl mit? Wenn du spürst, dass es schwierig ist gleichzeitig vorzulesen und zuzuhören, kannst du auch eine Aufnahme machen, während du Mitgefühl verkörperst und sie dir später aus dem leidenden Selbst heraus anhören. Deiner Kreativität sind bei dieser Übung keine Grenzen gesetzt. Erkunde, was dir dabei hilft, eine innige und heilende Verbindung zwischen dem Geben und dem Empfangen von Mitgefühl zu ermöglichen.

122

Modul 5: Selbst und andere – den Kreis des Mitgefühls erweitern

Keine Sorge, diese Übung ist keine Prüfung. Es ist nur eine andere Form der Übung. Die Einladung ist, ihr mit Offenheit zu begegnen, zu erkunden und zu ihr zurückzukehren, wann immer sie hilfreich sein könnte. Wir alle haben unsere Vorlieben für bestimmte Übungen. Und die Übungen, die wir anfangs nicht mögen, könnten diejenigen sein, die uns kraftvolle Einsichten schenken, wenn wir mit freundlicher Neugierde zu ihnen zurückkehren. Nimm dir Zeit, bei verschiedenen Gelegenheiten einen mitfühlenden Brief zu schreiben und verschieden innere Schwierigkeiten zu adressieren. Verbinde dich dafür zuerst mit dem Mitgefühlsmodus oder dem mitfühlenden Gefährten, bevor du deinen Stift in die Hand nimmst. Viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die zunächst Widerstand gespürt haben, entdeckten dann, wie heilend diese Übung sein kann. Außerdem gibt es, wie bei jeder Praxis, auch hier keine richtigen oder falschen Erfahrungen. Uns achtsam dessen bewusst zu werden, was sich gerade zeigt, ob angenehm oder unangenehm, öffnet bereits den Raum für neue Entdeckungen und Erkenntnisse. Hier findest du noch einige Fragen und Hinweise zu deiner Unterstützung:

Reflexionsfragen

Während du diesen mitfühlenden Brief schreibst, frage dich, ob darin folgendes zum Ausdruck kommt: • Sensitivität (Empfindsamkeit): Erkennt der Brief den Schmerz des leidenden Selbst an? Beispielsweise „Ich sehe die Tränen in deinen Augen“, „Ich höre das Zittern in deiner Stimme.“ oder „Ich nehme die Anspannung in deinen Händen wahr.“ • Emotionale Resonanz: Wird in den Worten spürbar, welches Leid die leidende Version deiner Selbst erlebt und was das in dir auslöst? Beispielsweise „Es berührt mein Herz, dich so zu sehen. Ich fühle wirklich mit dir mit.“ • Empathie (Einfühlungsvermögen): Zeigt der Brief Verständnis für die Gefühle, Gedanken und das Verhalten des leidenden Selbst? Beispielsweise „Natürlich warst du enttäuscht, als dein Freund nicht angerufen hat! Ich verstehe, dass du finstere Gedanken hattest, dass du dachtest, du wärest wertlos. Das hat dich wahrscheinlich an vergangene Erfahrungen erinnert, als du dich verlassen gefühlt hast. Ich kann verstehen, dass du dich im Bett verkrochen und dir die Decke über den Kopf gezogen hast.“ • Mut und Stresstoleranz: Vermittelt der Brief, dass du dich mutig den Schwierigkeiten stellst und das Schwierige hälst? „Ich bin hier und bleibe bei dir, wenn du es möchtest. Ich habe keine Angst vor schmerzhaften Gefühlen. Ich kenne sie gut. Sie tun weh, doch sie können dabei helfen, Geduld und Resilienz zu entwickeln. Wir brauchen uns weder in ihnen zu verlieren, noch brauchen wir sie abzublocken. Lass uns einfach hören, was sie uns zu sagen haben.“

Übung: Ein mitfühlender Brief

123

• Sorge für Wohlbefinden & Weisheit: Drückt der Brief eine tiefe Motivation aus, sich um das Wohl des leidenden Selbst zu kümmern? Bringt er Weisheit zum Ausdruck – nicht nur in dem, was gesagt wird, sondern auch in dem, wie es gesagt wird? Ist die Grundhaltung offen, nicht-urteilend und verspielt? Beispielsweise „Ich wünschte, es gäbe einen Weg, deinen Schmerz zu lindern. Lasse mich wissen, was du brauchst. Einfach mit dem zu sein, was gerade ist, ist vielleicht alles, was nötig ist. Lass uns geduldig sein und dabei zuschauen, wie der Schlamm sich setzt, bis das Wasser wieder klar ist … Kannst du dich erinnern, was dir in der Vergangenheit gutgetan hat? Dieses Lied zu hören, … den Hund zu streicheln, … in die Sauna zu gehen, … mit deinem Neffen herumzutoben? Ich wünsche mir wirklich, dass du etwas findest, das dir hilft. Du brauchst nichts zu erzwingen, probiere es einfach aus, wenn du dich bereit dazu fühlst.“ Varianten dieser Übung • Wenn du es schwierig findest, in Kontakt zu kommen mit deinem mitfühlenden Selbst, kannst du den Brief aus der Warte deines mitfühlenden Gefährten oder deiner Gefährtin schreiben. Welche Worte und welchen Tonfall würde er oder sie wählen? • Du kannst den Brief auch an einen inneren Kritiker richten oder an eines der Muster, die du in Modul 3 in der Übung „Mitfühlend mit inneren Mustern umgehen“ als zutreffend für dich erkannt hast. Du darfst dabei Kreativität und Humor einladen. Als Anrede passt vielleicht „Lieber innerer Quälgeist …“, „Hallo Mrs. Perfect, …“, „Sehr geehrter Herr Workaholic, ich bitte um Verzeihung, dass ich etwas von Ihrer kostbaren Zeit in Anspruch nehme …“, „Geliebte Raupe Nimmersatt …“. Wenn du bei einer solchen Schreibübung viel Widerstand empfindest, kannst du die Schwierigkeit in dir selbst ansprechen, mit der du gerade konfrontiert bist: „Lieber Widerstand, …“ • Wenn du sowieso ein Tagebuch führst, kannst du das mitfühlende Schreiben auch dort praktizieren. Nimm Kontakt auf mit deinem Mitgefühlsmodus, bevor du mit deinen Tagebucheinträgen beginnst. Einer unserer Teilnehmenden am MBCL-Kurs war ein begeisterter Rapper. Er beobachtete, wie sich seine Worte und Reime veränderten, wenn er aus dem Mitgefühlsmodus heraus rappte. • Es ist auch möglich, einen mitfühlenden Brief an eine Person zu richten, die dir am Herzen liegt oder um die du dir Sorgen machst. Vielleicht ist es auch jemand, mit dem du eine schwierige Beziehung hast. Diesen Brief brauchst du nicht tatsächlich abzuschicken. Es ist zuallererst eine Übung für dich selbst, in der es darum geht, zu erforschen, wie dein mitfühlendes Selbst anderen antworten würde.

124

Modul 5: Selbst und andere – den Kreis des Mitgefühls erweitern

Womit identifizierst du dich? Wenn ich loslasse, was ich bin, werde ich zu dem, der ich sein könnte. (Lao Tzu)

In der vorangegangenen Übung hast du vielleicht einen Eindruck davon gewinnen können, was wir1 „Identifikation“ nennen. Oft sind wir damit beschäftigt, uns mit etwas zu identifizieren und meist sind wir uns dessen nicht bewusst. In unserem Leben spielt das Zusammensein mit anderen eine wichtige Rolle. In unseren Beziehungen geht es auch immer ums Vergleichen und Einordnen unserer selbst im Bezug auf andere. Von Kindesbeinen an lernen wir, die Welt in „Ich“ und „NichtIch“ zu unterteilen. Diese Identifizierung kann ein Gefühl von Sicherheit vermitteln und ist auch meist nützlich und nötig. Es wäre schließlich schwierig, als „Niemand“ zur Arbeit zu gehen. Die Kündigung ließe wohl nicht lange auf sich warten. So entwickeln wir eine Vorstellung von uns selbst und auch verschiedenste Selbstbilder. Auch wenn wir glauben, wir würden uns stets auf ein solides, unveränderliches Selbst beziehen, wenn wir von „Ich“, „mich“ und „mein“ sprechen, ist dies doch nicht immer der Fall. Obwohl es sich meist für uns wie ein „Selbst“ anfühlt, so bestehen wir doch im Grunde aus mehreren „Selbsten“, also Anteilen, mit denen wir uns identifizieren (siehe auch „Gewohnheiten und Muster“ in Modul 3). Von welchem „Selbst“ aus betrachten wir jedoch das andere „Selbst“? Tun wir es aus einem kritischen Selbst, einem gleichgültigen Selbst oder einem liebevollen Selbst? Schauen wir auf ein scheiterndes Selbst, ein langweiliges Selbst, ein erfolgreiches Selbst? Die Qualität der Beziehung und auch unser „inneres Wetter“ kann sich dramatisch verändern, je nach dem, aus welchem Selbst heraus wir beobachten und auf welches Selbst wir schauen. Diese Selbstbilder, mit denen wir uns identifizieren, können einerseits Halt geben, andererseits auch im Weg stehen. Insbesondere, wenn wir uns an ein unveränderliches Selbstbild oder „Ego“ klammern oder uns gar mit ihm verwechseln – unabhängig von den Umständen, in denen wir uns befinden. Vielleicht macht die folgende Geschichte dies noch deutlicher: 

1Hier

Der Schiffbrüchige Ein Schiffbrüchiger kämpft ums Überleben in rauer See. Er ist schon sehr erschöpft und freut sich daher, als ein Stück Treibholz vorbei schwimmt, an dem er sich festklammern kann. „Das Holz wird mir helfen, den Kopf ohne viel Kraftaufwand über Wasser zu halten und wieder zu Atem zu kommen.“ denkt er sich. Als die See sich beruhigt, spürt er, wie ausgekühlt er inzwischen ist und beginnt sich umzuschauen. Nach einer Weile sieht er in der Nähe ein großes Fass treiben. Er entschließt sich, das Treibholz loszulassen und schwimmt zur Tonne. Dort angelangt, kann er darauf klettern. „Nun kann ich meinen Körper in der Sonne aufwärmen.“ denkt er erleichtert. An das Treibholz verschwendet

präsentieren wir nur eine kurze Zusammenfassung der psychologischen Erkenntnisse des Selbst-Konzeptes. Für eine detailliertere Darstellung siehe Van den Brink E & Koster F (2015) Mindfulness-Based Compassionate Living. Routledge, London.

Womit identifizierst du dich?

125

er keinen Gedanken mehr. Doch nach einer Weile wird er durstig und hungrig und begreift, dass eine steuerlose Tonne ihm nicht wirklich weiterhelfen kann. Am nächsten Tag sieht er in der Ferne ein leeres Rettungsboot, das sich wohl von dem Schiff losgerissen hat, auf dem er war, bevor es sank. Ohne lange zu überlegen verlässt die Tonne und schwimmt zum Boot. Die Tonne hat er bereits vergessen, als er erschöpft ins Rettungsboot klettert. „So ein Glück: hier gibt es sogar Ruder und ein kleines Rettungspaket mit Wasser und Proviant.“ Er isst und trinkt und seine körperlichen Kräfte kehren zurück. Er beginnt, in die Richtung zu rudern, in der er Land vermutet. Nach langer Zeit wird seine Mühe belohnt: Land in Sicht! Er zieht das Boot, das seine Rettung war, an den Strand und läßt es zurück, um zu dem Dorf zu laufen, das er in der Ferne entdeckt hat. „Hurra!“ denkt er, „Dort sind Menschen, die mir helfen werden.“. Das Boot am Strand hat er angesichts der Vorfreude auf menschlichen Kontakt bereits vergessen.

Das Problem der übermäßigen Identifikation Wäre es nicht tragisch, wenn du ein Schiffbrüchiger wärest, der sich ans Treibholz klammert, während das Rettungsboot an dir vorbei treibt? Du kannst dich mit dem Gedanken vertraut machen, dass dein „Ego“ nur ein Werkzeug zum Überleben ist. Auch wenn dein Ego so tut, als wäre es unersetzlich, ist es doch nur ein Konstrukt deines Geistes. Und wie alle Konstrukte ist es veränderlich und unbeständig. Es kann vorübergehend nützlich sein, muss aber überarbeitet werden, wenn sich die Umstände ändern. Das Treibholz, die Tonne und das Boot sind Metaphern für verschiedene Formen, die unser Ego annehmen kann. Vorübergehend können sie sehr nützlich sein, sogar lebensrettend, aber es kommt eine Zeit, in der es besser ist flexibel zu sein und sie wieder loszulassen, um etwas anderes zu ergreifen. Das Hilfsmittel hat seine Aufgabe dann erfüllt und wird für ein anderes, brauchbareres Hilfsmittel zurückgelassen. Wir überleben nicht dadurch, dass wir uns an ein Hilfsmittel festklammern, sondern durch unsere Fähigkeit, ein einschränkendes Selbstbild wieder hinter uns zu lassen, um uns mit einem hilfreicheren Selbstbild zu identifizieren. Sowohl Identifikation als auch Disidentifikation können hilfreiche Prozesse sein. Eine übermäßige Identifikation kann jedoch Stress verursachen und viel Energie verbrauchen. Ein wichtiger Faktor für psychische Gesundheit ist die Flexibilität hinsichtlich dessen, womit wir uns identifizieren. Diese Flexibilität kann uns dabei helfen, zu überleben, zu wachsen und zu gedeihen. Vielleicht denkst du jetzt: „Moment mal, ich spüre doch definitiv eine Art Kontinuität im Verlauf der Zeit. Ich lebe schon immer in meinem Körper, als Kleinkind, als Kind, als Teenager und jetzt als Erwachsener. Mein Selbst war also schon immer da. Ist dieses fortwährende Etwas etwa nicht mein wahres Selbst?“ Du hast Recht, wir können dieses Gefühl des „Selbst“, des Seins, nicht verleugnen.

126

Modul 5: Selbst und andere – den Kreis des Mitgefühls erweitern

Wir erleben uns als „Erfahrender“ unserer Erfahrungen und als derjenige, der sich mit der Identifikation identifiziert. Du könntest dies dein „wahres Selbst“ nennen, wenn du möchtest. Doch hat dieses Selbst wirklich eine feste Identität? Wir können es vielleicht treffender als ein flexibles oder gar „leeres“ Selbst begreifen, das sich im Laufe des Lebens mit unterschiedlichen Inhalten füllt2. Bewusste oder unbewusste Identifikation Wenn wir uns diesen Prozess der Identifikation nicht achtsam bewusst machen, findet er oft unbemerkt und im Autopilot statt. Insbesondere, wenn wir häufig in der rauen See des Antriebs- und Alarmmodus unterwegs sind, schnappen wir natürlich schnell das nächstbeste Muster, um uns vor dem „Ertrinken“ zu retten. Wenn wir uns mit den mentalen Bildern, die wir von uns selbst gemacht haben, zu sehr identifizieren, bleiben wir leicht in starren Mustern und unglücklichen Beziehungen stecken – sowohl im Bezug zu uns selbst, als auch im Bezug auf andere. Auch eine eingeschränkte Sicht auf die Selbstbilder anderer kann zu Problemen führen. Statt ihres möglichen Potenzials, sehen wir in anderen dann womöglich nur nutzloses Treibholz. Die Qualität, die unsere Beziehung zu anderen hat, hängt zum einen stark von dem Selbstanteil ab, von dem wir schauen und zum anderen auch davon, auf welchen Teil in unserem Gegenüber wir schauen. Es macht einen Riesenunterschied, ob wir aus einem anklagenden Selbst auf ein scheiterndes Gegenüber schauen oder aus einem mitfühlenden Selbst auf ein leidendes Gegenüber. Es wäre also hilfreicher, die durch starke Gefühle und inneren Urteile aufgewühlte See zu beruhigen, indem wir zuerst dem Beruhigungssystem mehr Raum geben und unseren Geist und unser Herz öffnen.

Übung: Freundlichkeitsmeditation – für eine „schwierige“ Person (M5_15) Wer auf Rache sinnt, der träufelt unbemerkt auch ein schleichendes Gift in den eigenen Becher. (Dietrich Uecker)

Im ersten Modul haben wir bereits Freundlichkeitsmeditation für uns selbst geübt und diese Praxis dann auf Wohltäter, geliebte Personen, Familie und Freunde und auch auf neutrale Personen ausgedehnt. In der nachfolgenden Übung geht es nun darum, diese Praxis auch auf „schwierige“ Personen auszudehnen. Bitte beachte, dass „schwierig“ hier in Anführungsstrichen steht. Damit möchten wir betonen, dass die Person nicht aus sich heraus schwierig „ist“, sondern dass du gegenwärtig

2Siehe

auch „Self-as-context“ und „Self-as-content“ in Hayes S, Strohsal K & Wilson K (2012) Acceptance and commitment therapy: The process and practice of mindful change. Guilford Press, New York.

Übung: Freundlichkeitsmeditation – für eine „schwierige“ Person

127

die Beziehung zu dieser Person als schwierig erfährst. Vielleicht ist sind es Menschen, die dich z. B. verletzt oder respektlos behandelt haben, mit denen du im Streit liegst oder in Konkurrenz stehst, die dich aufregen oder in deren Gegenwart du dich unsicher oder unbehaglich fühlst. Die nächste Übung „Freundlichkeitsmeditation – für eine „schwierige“ Person“ gibt dir nun die Möglichkeit, in einem geschützten Rahmen mit einer solchen Person Freundlichkeit zu üben.

Übung

1. Ankommen Eine bequeme Haltung finden … und die Achtsamkeit einladen … dich sanft öffnen für das, was gerade vorbei kommt… … und einen beruhigenden Atemrhythmus zulassen. … … 2. Freundlicher Wunsch für dich und andere Spüren, wie du jetzt hier bist. Was wäre ein freundlicher, ein mitfühlender Wunsch für dich jetzt? … Bemerken, was sich vielleicht zeigen möchte, … … vielleicht ein spontaner Wunsch … oder einer der traditionellen Wünsche für Sicherheit, Gesundheit, Lebensglück, Leichtigkeit. … … … Den Wunsch als Satz oder Kernbegriff zu dir fließen lassen … im ruhigen Rhythmus des Atems, oder unabhängig davon, … … vielleicht auch mit einem Lächeln oder einer Hand auf dem Herzen, … … … .. ihn dir zu Herzen nehmen. … … … Achtsam bemerken, was dabei geschieht, … … es anerkennen. … … Und wenn du möchtest, die Freundlichkeit ausweiten und jemanden einbeziehen, dem du viel verdankst, … einen Wohltäter einbeziehen, … jemanden, der dir am Herzen liegt… dem du vielleicht viel verdankst, … … … ihn oder sie vor dir sehen. … … … Was wäre ein freundlicher Wunsch, unterstützender Wunsch für diesen Menschen? … … … Den Wunsch fließen lassen von Herz zu Herz. … … … 3. Freundlicher Wunsch für eine schwierige Person Dann eine Person in diesen Kreis der Freundlichkeit einbeziehen, mit der du es nicht so leicht hast. Und du darfst freundlich mit dir sein und nicht mit deinem größten Feind beginnen. Finde jemanden, mit dem du dich irgendwie unwohl fühlst und wo du Raum dafür fühlst, mit dieser Person zu üben. … … Vielleicht jemand, über den du dich schnell ärgerst, der dich verletzt hat oder respektlos zu dir war oder dich kritisiert oder ignoriert hat … … Diese Person mit einem stimmigen Abstand vor dir sehen … ihr vielleicht in die Augen schauen … und spüren, was das macht. … … … Du kannst dich daran erinnern, dass dieser Mensch – genau wie du auch – nicht perfekt ist, … verletzlich … und versucht glücklich zu sein und frei sein möchte von Leid. … … Auch er oder sie war einmal ein Kind und hat wahrscheinlich Schmerz und Kummer erlebt, und versucht nun in dieser verrückten Welt zu leben, … wie wir alle.

128

Modul 5: Selbst und andere – den Kreis des Mitgefühls erweitern

Es geht bei dieser Praxis nicht darum, verletzendes Verhalten zu tolerieren oder zu beschönigen. Es ist eher eine Einladung Frieden zu schließen mit dem Menschen hinter dem Verhalten. … … Behutsam spüren ob es möglich ist, dieser Person einen freundlichen Wunsch zu schenken, einen Wunsch ohne Eigeninteresse … z. B. „Mögest du dich sicher fühlen, … frei sein von Leid, … Frieden erfahren.“ … … Die Reaktionen wahrnehmen, wenn du diesen Wunsch innerlich wiederholst … Du musst dich nicht unbedingt wohl damit fühlen. Es ist ganz normal, dass sich dabei vielleicht alter emotionaler Schmerz zeigt, … das Gefühl verletzt worden zu sein oder ungerecht behandelt oder vernachlässigt. … … Diese Gefühle können es uns auch schwer machen, bei der Übung zu bleiben. … Du kannst mutig anerkennen, wenn sich schwierige Gefühle zeigen … oder Widerstand. … Sie sind Teil dieser Übung und wir können sie geduldig in einem Raum freundlicher, nicht-urteilender Achtsamkeit halten. … … Und jeder Zeit kannst du wieder Mitgefühl mit dir selbst zu üben. Denn wenn Kummer auftaucht bist du die Person, die in diesem Moment am meisten Mitgefühl braucht. … Wenn du dann wieder Raum dafür fühlst, kannst du zu dem Wunsch für die „schwierige“ Person zurückkehren. … … … Manchmal gibt es auch einen Wunsch in der Wir-Form, der verbindend ist und Raum gibt: z. B. „Mögen wir uns sicher fühlen … oder geborgen fühlen.“ oder „Mögen wir Wege miteinander finden.“ … Bevor wir zum Ende kommen, kannst du dich wertschätzen für den Mut diese Übung zu machen. … Eine besondere Art zu enden ist es, dir vorzustellen, dass all die Menschen aus den verschiedenen Kategorien, mit denen du bisher praktiziert hast, um dich herum versammelt sind. … … Dir vorstellen, dass du mit ihnen in einem Kreis sitzt, … mit einem oder mehreren Wohltätern, mit Menschen deines Herzens, neutralen Menschen und auch Menschen, mit denen es nicht so leicht ist … und freundliche Wünsche zu allen fließen lassen – auch zu dir selbst, als Teil der Gruppe: … … „Mögen wir uns sicher fühlen, … Glück erfahren, … mögen wir gesund sein, … mit Leichtigkeit leben können.“ … „Möge es Frieden und Harmonie für uns alle geben.“ Bleib so noch etwas sitzen oder liegen, … mit Freundlichkeit, Mitgefühl oder Achtsamkeit … bis zum Erklingen der Klangschale. Manchmal kann es auch unterstützend sein, zusätzlich mit der Vorstellung eines oder einer „mitfühlenden Gefährten bzw. Gefährtin“ (siehe Modul 2) zu arbeiten, der oder die dich in der Übung begleitet. Wichtig ist, nichts zu erzwingen. Wenn du sehr viel Widerstand dabei spürst, diese Übung mit einer bestimmten „schwierigen“ Person durchzuführen, dann suche dir vielleicht zunächst eine

Übung: Freundlichkeitsmeditation – für eine „schwierige“ Person

129

etwas weniger schwierige Person. Oder lasse diese Übung vorerst bei Seite, und praktiziere die Freundlichkeitsmeditation für dich selbst oder für einen guten Freund oder für Menschen, die dir am Herzen liegen. Im weiteren Verlauf des Trainings kannst du den Kreis der Freundlichkeit dann noch auf Gruppen, Nationen bis hin zu allen Lebewesen ausdehnen. Diese Reihenfolge wird gewöhnlich auch in buddhistischen Traditionen gewählt. Dort wird die Übung „Metta“ oder „Praxis der liebenden Güte“ genannt3. Man muss allerdings keine Buddhistin oder Buddhist sein oder werden, um von dieser Übung zu profitieren. Im MBCL haben wir eine etwas flexiblere und zugänglichere Form dieser Praxis entwickelt, die leicht geübt werden kann, ohne irgendeiner Tradition gegenüber respektlos zu sein. Wir haben diese Praxis „Freundlichkeitsmeditation“ genannt. Man könnte sie vielleicht – mit einem kleinen Augenzwinkern – auch „Metta light“ nennen. „Light“ bedeutet hier allerdings nicht, dass weniger Übung erforderlich wäre oder die Praxis keine Tiefe hätte. Es bedeutet vielmehr, dass die Form und Dosis der Übung an die Bedürfnisse derer angepasst sind, die sie in einem säkularen, nicht-religiösen Kontext üben. Weshalb es wertvoll ist, auch mit „schwierigen“ Person zu üben Während es noch relativ leicht ist, Freundlichkeit für Personen zu üben, die wir kennen und mögen, ist es doch für viele eine ziemliche Herausforderung, dies auch mit „schwierigen“ Personen zu praktizieren. Wenn du dir eine solche Person vergegenwärtigst, denkst du wahrscheinlich automatisch „Weshalb ist dieser Mensch bloß so schwierig/böse/gemein/blöd/? Warum tut er, was er tut und macht mir damit das Leben so schwer?“ Die Antwort lautet schlicht: um zu überleben; um Schmerz zu vermeiden und sein Leben angenehmer zu gestalten. Niemand wünscht sich Angst, Stress oder körperliche Schmerzen – auch nicht die Person, mit der du derzeit Schwierigkeiten hast. In diesem Punkt sind wir alle gleich: wir möchten Sicherheit, Berechenbarkeit, Zufriedenheit und Wertschätzung in unserem Leben. Und um dies zu bekommen, tun wir manchmal auch ziemlich dumme, gemeine oder unschöne Dinge. Indem wir uns diese grundlegende Gleichheit von uns selbst und anderen bewusst machen, können wir manchmal jenseits der trennenden Unterschiede auch den Aspekt des gemeinsamen Menschseins sehen, der uns alle verbindet. Wie wir in der Übung gesehen haben, kann es auch hilfreich sein, zwischen dem Verhalten und der Person zu unterscheiden. Es geht nicht darum, das respektlose oder verletzende Verhalten dieser „schwierigen“ Person gut zu heißen, sondern Freundlichkeit zu üben für die verletzbare, nicht perfekte Person hinter diesem Verhalten. Hinzu kommt, dass auch eine „schwierige Beziehung“ mit jemand eine Beziehung ist. Abneigung oder gar Hass kann uns sogar immer fester an genau die Person binden, die wir mit allen Kräften loswerden oder bekämpfen wollen! Oft sind gerade die schwierigsten Beziehungen die dauerhaftesten.

3Salzberg

S (2005) Loving-Kindness. Shambala, Boston.

Modul 5: Selbst und andere – den Kreis des Mitgefühls erweitern

130

Wenn wir die Beziehung zu „schwierigen“ Menschen positiv verändern möchten, ist es deshalb wichtig, zunächst an der eigenen inneren Haltung zu arbeiten. Die gesamte Natur in der wir leben ist „interdependent“, d. h. besteht aus einem Gewebe wechselseitiger Abhängigkeiten. Dies gilt selbstverständlich auch für unsere Beziehungen. Was geschieht, wenn ich meine abweisende Haltung dieser „schwierigen“ Person gegenüber ändere? Was verändert sich zwischen uns, wenn ich meine Barrieren ein Stück weit auflöse? Welche positiven Veränderungen kann ich dadurch an mir selbst feststellen? Weitere hilfreiche Anregungen und Praxistipps für die Übung der Freundlichkeitsmeditation findest du auch in einer Übersicht zusammengefasst im Abschnitt „Herausforderungen in der Freundlichkeitsmeditation“.

Freundlichkeit anderen gegenüber entwickeln Freundlichkeitsmeditation kann grenzenlos, zeitlich und räumlich unbegrenzt praktiziert werden. Wir können alle Menschen, Tiere oder andere Wesen – aus der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – einbeziehen. Es ist eine achtsamkeitsbasierte Übung, die dich einlädt, neugierig zu erforschen, was passiert, wenn du mit Gegenübern aus unterschiedlichen Kategorien arbeitest. Wichtig ist, zu verstehen, dass es hierbei nicht um „je mehr, desto besser“ geht. Es ist kein Wettlauf mit dem Ziel, die Goldmedaille in bedingungsloser Liebe für alle Lebewesen zu gewinnen. Gönne es dir, das Tempo, die Häufigkeit, die Reihenfolge und die Empfänger deiner Freundlichkeit achtsam und mitfühlend auszuwählen. Es geht bei dieser Praxis nicht darum, ein bestimmtes Resultat zu erreichen oder auf magische Weise bei unserem Gegenüber etwas zu verändern. Ob unsere guten Wünsche beim Anderen Auswirkungen zeigen oder nicht, ist nicht wichtig. Was wir mit den Übungen kultivieren, ist eine freundliche innere Haltung uns selbst und anderen gegenüber. Diese veränderte innere Haltung kann unsere Beziehung zu uns selbst und auch zu anderen verändern. Daher können wir auch mit Menschen üben, die bereits verstorben sind. Mitgefühl zu verkörpern ist eine wertvolle Übung, die du wieder und wieder praktizieren kannst, auch während der Freundlichkeitsmeditation. Lasse die freundlichen Wünsche von deinem mitfühlenden Selbst fließen, ganz gleich, ob zu dir selbst, oder zu einer anderen leidenden Person. 

Mikro-Momente von Positivitätsresonanz  Barbara Fredrickson4 hat mit Ihrem Team in Forschungen gezeigt, dass die Praxis der liebenden Güte positive Auswirkungen hat. Sie definiert „Liebe“ als einen „MikroMoment von Positivitätsresonanz“. Damit ist gemeint, dass unsere Gehirne, Herzen und Körper im Einklang mit einander und mit denen

4Fredrickson,

B.L. (2013). Love 2.0. Penguin, New York.

Übung: Mitfühlend atmen – eine Alternative ohne Worte

131

der betreffenden Person schwingen, wenn wir Liebe erfahren. Jeder von uns kennt wahrscheinlich den Moment, wenn das Lächeln eines Fremden und unser eigenes Lächeln sich in einer flüchtigen Sekunde treffen und dann weiter in uns nachklingen. Es ist auch möglich, diesen inneren Resonanzraum zu spüren und zu stärken, wenn wir mit einer freundlichen Intention innerlich einen Wunsch an jemand anderen richten, völlig unabhängig davon, ob dieser Wunsch durch die andere Person beachtet und erwidert wird. Selbst wenn wir die reale Person nicht tatsächlich sehen können, hat die Freundlichkeitsmeditation für uns selbst und unsere innere Haltung gegenüber der anderen Person wahrscheinlich positive Auswirkungen. Und das kann sich auch positiv auf die Beziehung auswirken, wenn wir die Person im wirklichen Leben treffen. Nicht zuletzt können wir diese Mikro-Momente auch spüren und erleben, wenn wir uns selbst einen freundlichen Wunsch schenken, und so einen inneren Resonanzkreis entstehen lassen.

Herausforderungen in der Freundlichkeitsmeditation In der Freundlichkeitsmeditation können unterschiedliche Erfahrungen und verschiedene Schwierigkeiten auftauchen, je nachdem, mit welcher Kategorie von Personen diese Praxis durchgeführt wird. Dabei werden oft auch Bereiche in dir selbst sichtbar, die der Freundlichkeit bedürfen. Und das kann sowohl beim üben mit einer „schwierigen“ Person geschehen (was nicht so überraschend ist), aber genauso gut mit allen anderen Personen. Dann ist es gut, dich zu erinnern, dass du immer wieder zu mitfühlenden Wünschen an dich selbst zurückkehren und die innere positive Resonanz mit den leidenden Teilen in dir selbst pflegen kannst. Wenn du dich auf diese Weise wieder mit der Ruhe des Beruhigungssystems verbindest, spürst du vielleicht den Raum, um wieder zu den Anderen zurückzukehren. In Tab. 1 findest du einige hilfreiche Hinweise und Tipps für die Praxis der Freundlichkeitsmeditation.

Übung: Mitfühlend atmen – eine Alternative ohne Worte Manche Menschen finden nicht so leicht einen Zugang zur Freundlichkeitsmeditation, oder haben den Eindruck, dass die freundlichen Wünsche nach einer Weile verblassen und an Bedeutung verlieren. Dann kann die folgende Praxis eine erfrischende Alternative sein. Sie kommt ohne Worte aus und stammt von einer alten und bewährten tibetisch-buddhistischen Meditation ab, die Tonglen genannt wird, was so viel wie „Nehmen und Geben“5 bedeutet. Wir haben die Übung

5Chödrön P (2001) Tonglen – Der tibetische Weg mit sich und anderen Freundschaft zu schließen. Arbor Verlag, Freiamt.

132

Modul 5: Selbst und andere – den Kreis des Mitgefühls erweitern

Tab. 1  Herausforderungen in der Freundlichkeitsmeditation Freundlich- Tipps für die Praxis keit für … Wohltäter

Geliebte Personen oder Freunde

Neutrale Personen

„Schwierige“ Personen

Mögliche Schwierigkeiten

• Sorgen über das • Wähle jemanden, den Wohlbefinden dieser du für seine Weisheit geliebten Person oder oder Freundlichkeit Angst, diese Person zu bewunderst verlieren • Du brauchst keine • Traurigkeit, weil diese persönliche Beziehung Person möglicherzu dieser Person zu weise weit weg oder haben und sie/er muss bereits verstorben ist nicht perfekt sein • Ein geliebtes Haustier, ein Kind oder eine freundliche Großmutter, die bereits verstorben ist, sind genauso geeignet

Was eventuell hilft • Erkenne achtsam an, was auch immer sich zeigt • Kehre zum Selbstmitgefühl zurück, wann immer Leid in dir selbst auftaucht • Lasse einen beruhigenden Atemrhythmus oder ein Lächeln zu • Lege eine oder beide Hände auf dein Herz oder den Bauch oder eine andere Körperstelle

• Sorge um das Wohl• Beginne mit einer ergehen dieser Person Person, die dir am Herzen liegt und die dir • Eifersucht, wenn diese • Stelle dir vor, dass du Person mehr Glück ein Lächeln ins Gesicht Mitgefühl mit all seinen hat, als du selbst zaubert. Qualitäten verkörperst • Praktiziere dann auch mit • Irritation, wenn diese Person deine Bedürfanderen, aber bemühe • Kehre erst zum Anderen nisse übersieht dich nicht, absolut jeden, zurück, wenn du inneren der dir am Herzen liegt, Raum dafür fühlst in die Übung mit aufzunehmen. Es ist nur eine • Visualisiere die andere Übung, kein Wettkampf. Person in einem für dich • Langeweile • Wähle eine Person, die angemessenen Abstand • Gleichgültigkeit du irgendwo gesehen hast oder einen sehr ent- • Müdigkeit • Stelle dir vor, dass du • Ungeduld fernten Bekannten der anderen Person ins • Diese Person muss nicht Gesicht und in die Augen absolut „neutral“ sein schaust • Erst eine neutrale Person visualisieren, dann eventuell noch mehr neutrale Personen in die Übung mit aufnehmen • Widerstand • Wähle nicht gleich deinen größten Feind, son- • Emotionaler Schmerz, Ärger, Angst, Trauer dern jemanden, für den • Gedanken und du derzeit genug Raum Gefühle im Bezug und Ressourcen hast auf die ungerechte • Stelle dir diese Person in Behandlung durch einem für dich sicheren diese Person und stimmigen Abstand vor

(Fortsetzung)

Übung: Mitfühlend atmen – eine Alternative ohne Worte

133

Tab. 1  (Fortsetzung) Freundlich- Tipps für die Praxis keit für …

Mögliche Schwierigkeiten

• Mache dir bewusst, dass auch diese Person ­verletzlich und nicht perfekt ist – genau wie du. • Es geht nicht darum, das respektlose oder verletzende Verhalten dieser Person gut zu heißen, sondern Freundlichkeit zu üben für die verletzbare, nicht perfekte Person hinter diesem Verhalten  ich überwältigt • Beginne mit einer kleine- • S Gruppen ren Gruppe, der du selbst f­ ühlen durch die von MenIntensität des Leids angehörst, nimm dann schen oder in manchen Gruppen andere Gruppen hinzu. anderen (z. B. verursacht Erinnere dich daran, Lebewesen durch Krieg, Armut, dass du Gruppen nicht Naturkatastrophen, benachteiligst, wenn Krankheiten etc.) du sie vorerst noch •G  efühl von nicht in die Übung mit Hoffnungslosigkeit ­aufnimmst und Machtlosigkeit • Du kannst mit dem Fokus spielen, d. h. eine Person aus der Gruppe heranzoomen, deren Gesicht du kennst (wenn auch nur von einem Foto) und dann den Fokus wieder auf die gesamte Gruppe ausweiten • Sich überwältigt Alle Wesen • Beginne damit, dir fühlen durch das Leid bewusst zu machen, dass in der Welt oder die alle Wesen verletzlich Unendlichkeit des sind, älter werden und Universums schließlich sterben • Sie alle möchten ihr Leid • Sich unbedeutend fühlen und die lindern und ihre Bedürf­Verbindung mit sich nisse zu erfüllen selbst verlieren

Was eventuell hilft •R  eflektiere über die gemeinsame Menschlichkeit: „Diese Person wünscht sich frei zu sein von Leid – genau wie ich selbst“. • Wechsle zwischen der Du- und der Wir-Form, z. B. „Mögen wir in Harmonie leben“. •Ü  be andere ausgleichende Herzensqualitäten im Wechsel, z. B. Mitfreude, wenn du Eifersucht bemerkst; Gleichmut, wenn du dich überwältigt fühlst (siehe auch Modul 6 und 7) •Ü  be im Wechsel „Mitfühlendes Atmen“ (siehe nächste Übung)

134

Modul 5: Selbst und andere – den Kreis des Mitgefühls erweitern

‚­Mitfühlendes Atmen‘ genannt (man könnte auch von „Tonglen Light“ sprechen) und sie etwas an den säkularen Kontext des MBCL-Trainings angepasst. Diese Übung kann sich anfangs merkwürdig anfühlen und auch einigen Mut erfordern. Es geht nämlich darum, etwas Paradoxes zu tun, was zunächst im Widerspruch zu unserem gewohnten Instinkt steht: in uns mehr Nähe mit dem zuzulassen, was wir sonst als ungewünscht ansehen und das wegzugeben, was wir sonst lieber bei uns behalten möchten. Beim Mitfühlenden Atmen ist es jedoch wichtig, die Übung spielerisch und mit leichtem Herzen zu praktizieren. Gönne dir Raum und arbeite mit dem, was du derzeit handhaben kannst.

Übung: Mitfühlend atmen – für dich selbst (M5_16) Übung

1. Ankommen Eine bequeme Haltung im Sitzen finden, und dich verbinden mit Achtsamkeit. Anerkennen was auch immer sich manifestiert, im Körper und im Geist. … … … Dann Raum geben für einen beruhigenden Atemrhythmus. … … … Dem Atem erlauben ungehindert hinein und heraus zu fließen, … … allen Poren erlauben sich zu öffnen, um zu empfangen, … … dich füllen lassen, … … und das Empfangene dann wieder weggeben. … … … Den ganzen Körper beatmen … Jeder Atemzug ein müheloser Austausch mit der Umwelt … ein Willkommenheißen … und ein Schenken oder Austausch mit der Umgebung. … Und wenn du in der Übung die Anspannung von Alarm oder Antrieb spürst … Widerstand oder Verlangen … dann ist es gut zu wissen, dass du in jedem Moment pausieren kannst und wieder einfach achtsam dabei sein kannst … Sanftheit zulassen … und auch dem Atem wieder Raum geben sich zu beruhigen. … … … 2. Mitfühlend atmen mit einer Schwierigkeit von dir Du bist jetzt zu einem Experiment eingeladen, das einigen Mut und Bereitschaft erfordert. Im Anfang kann es sich merkwürdig anfühlen, weil es eine paradoxe Übung betrifft. Erinnere dich nun an einen Bereich in deinem Leben, wo du Spannung und Stress erfährst … Etwas Schwieriges. … … … Es muss aber nicht das Schwierigste sein. Du kannst dir erlauben etwas zu wählen, bei dem du Raum fühlst, jetzt damit zu arbeiten. … … … … Vielleicht ein körperlicher Schmerz, oder eine emotionale Schwierigkeit … … Und du kannst deine Vorstellungskraft einladen und dich überraschen lassen, was sich zeigen möchte. … … … Dir vorstellen, dass diese Schwierigkeit oder dieser Schmerz vor dir ist und du ihn anschauen kannst: Wie sieht er aus? … Vielleicht eine dunkle Farbe? … Oder es erscheint ein Bild, das diese Schwierigkeit irgendwie

Übung: Mitfühlend atmen – für dich selbst











135

symbolisiert? … Es kann auch eine andere Sinnesqualität geben: Ein unangenehmer Geruch, ein bitterer Geschmack, ein schrilles Geräusch. …. Oder eine gefühlsmäßige körperliche Qualität die du dabei erfährst, z. B. Anspannung oder Härte. … … Oder vielleicht die emotionale Atmosphäre die du dabei spüren kannst, z. B. die Energie von Ärger oder Müdigkeit. … … Auf eine ungezwungene Weise entdecken, was sich zeigen möchte. … … … Und dir dann vorstellen – und das fühlt sich zu Anfang vielleicht erst mal merkwürdig an – dass du die sinnliche oder emotionale Qualität dieses Schmerzes beim Einatmen willkommen heißt, … ihn mit dem Atem einlädst … und er sich dann in dir in eine heilende Qualität verwandelt, die du mit dem ausatmen mit der Umgebung teilst, … … … nicht um etwas ‚wegzuatmen‘, sondern wie ein offenes Experiment. Neugierig und ungezwungen erkunden was geschieht, wenn du das Vorstellungsvermögen so für dich arbeiten lässt. … Vielleicht atmest du Dunkelheit ein, dann kannst du Helligkeit ausatmen. … Einen unangenehmen Geruch einatmen, einen angenehmen Duft ausatmen. … Einen bitteren Geschmack einatmen, Süße ausatmen, … Härte einatmen, Entspannung ausatmen, … eine dunkle Atmosphäre von Angst oder Erschöpfung einatmen und eine helle Atmosphäre von Wohlbefinden oder Ruhe ausatmen. … … … Und was macht das mit dir? Was macht dieses Experiment körperlich? Und emotional? … Und was macht es mit deiner Haltung der Schwierigkeit gegenüber? … … … Und alle Erfahrungen dürfen dazu gehören. Du kannst dir die Zeit nehmen dich vertraut zu machen mit dieser merkwürdigen Übung. … Unser normales Stresssystem mag keine Probleme, aber jetzt laden wir sie ein mit dem Einatmen, und teilen etwas Heilsames mit der Umgebung mit dem ausatmen. … Wenn du bemerkst, dass das Alarmsystem oder das Antriebssystem sich deutlich zeigt, dann kannst du die Angst, den Widerstand oder das Verlangen anerkennen und pausieren mit Achtsamkeit … und dich wieder verbinden mit einem beruhigenden Atemrhythmus. … Und nur dann weiter machen mit der Übung, wenn du Raum dafür fühlst – ohne Zwang. … Oder dich dann verbinden mit einer sinnlichen Qualität des Widerstands oder des Verlangens … und diese Qualitäten mit dem einatmen hinein lassen, … sich verwandeln lassen in eine hilfreiche Alternative, die du zu dem Widerstand fließen lässt. … Du kannst bei einer Schwierigkeit bleiben oder noch weitere Schwierigkeiten in dieser Weise erkunden. … Vielleicht sind sie weniger persönlich als wir sie oft empfinden. Wir können sie anerkennen mit Achtsamkeit; und mit mitfühlendem Atmen können wir sie auch willkommen heißen. Nicht mit der Absicht etwas verschwinden zu lassen, sondern freundlich und behutsam mit einer Schwierigkeit atmen. „Mitfühlendes Atmen“, das man manchmal auch gleichmütiges Atmen nennen könnte. …

136

Modul 5: Selbst und andere – den Kreis des Mitgefühls erweitern

Du kannst das mitfühlende Atmen auch mit achtsamen Bewegungen verbinden. … Dabei die Arme und/oder Hände beim Einatmen des Schmerzes in einer empfangenden Geste zum Herzen oder zum Bauch bringen … … und mit dem Ausatmen die Arme und Hände in einer schenkenden Bewegung wieder öffnen nach außen, … die Bewegungen mit dem Atem verbinden, und dir vorstellen, dass du einatmest, was schmerzt … … und ausatmest, was heilt, … … … mit oder ohne Bewegung. So, wie es für dich stimmig ist. … … So können wir mitfühlend atmen mit Schwierigkeiten in unserem Leben … und freundlich bemerken was bei der Übung geschieht. … Schlamm einatmen, einen Lotus ausatmen. … … Anerkennen, wie es jetzt ist – mit dem Wissen: Es gibt keine falschen Erfahrungen. … … Und immer kannst du die Übung so verändern, dass sie zu deinen Bedürfnissen passt. …… Und die Übung so fortsetzen, solange du möchtest. Diese Übung kann sich anfangs merkwürdig anfühlen und auch einigen Mut erfordern. Es geht nämlich darum, etwas Paradoxes zu tun, was zunächst im Widerspruch zu unserem gewohnten Instinkt steht: in uns mehr Nähe mit dem zuzulassen, was wir sonst als ungewünscht ansehen und das wegzugeben, was wir sonst lieber bei uns behalten möchten. Auch in der westlichen Psychologie gibt es Ansätze, die ähnlich arbeiten. In der sogenannten Expositionstherapie setzen sich Betroffene gezielt den Situationen oder Objekten aus, vor denen sie Angst haben, um zu erfahren, dass die Welle der Angst auch von selbst wieder abklingen kann. Beim Mitfühlenden Atmen ist es jedoch wichtig, die Übung spielerisch und mit leichtem Herzen zu praktizieren. Gönne dir Raum und arbeite mit dem, was du derzeit handhaben kannst.

Emotionale Resilienzimpfung Wie ist es dir in dieser Übung ergangen? Vielleicht war es ungewohnt oder sogar irritierend, das Unangenehme oder Schmerzhafte einzuatmen und das Angenehme oder Heilsame auszuatmen. Wahrscheinlich wäre es dir spontan anders herum lieber gewesen. Wir können diesen Prozess jedoch als eine Art „psychologische Grippeschutzimpfung“ betrachten. Genau wie bei einer körperlichen Impfung, bei der eine kleine, handhabbare Menge Viren oder Giftstoffe vom Körper aufgenommen werden, sodass sich Antikörper bilden können, geht es hier darum, emotionale Widerstandskraft aufzubauen. Diese emotionale Resilienz wird gestärkt, wenn du es zulässt, dass das emotional Schmerzhafte im Herzen aufgenommen wird. Natürlich in einer Dosis, die handhabbar ist und in einem Tempo, das den Heilungsprozess unterstützt.

Übung: Mitfühlend atmen – für andere

137

Es kann bei dieser Übung auch wertvoll sein, dir vor Augen zu führen, aus welchem der drei emotionalen Regulationssysteme heraus du gerade praktizierst. Übst du mit Anspannung aus dem Alarmsystem heraus? Oder versuchst du, es wirklich gut zu machen aus deinem Antriebssystem heraus? Dies achtsam zu bemerken, schafft von alleine mehr Raum, um aus dem Beruhigungssystem heraus üben zu dürfen. Indem du etwas Schwieriges aufnimmst und gleichzeitig das Alarmsystem beruhigst bzw. etwas Begehrenswertes weggibst und gleichzeitig das Antriebssystem beruhigst, lernst du, dich auf eine altruistische Art und Weise dem Leiden gegenüber zu verhalten. Die Übung ist sicher nicht dafür gedacht, um alles Stressige in deinem Leben weichzuspülen und wegzuschaffen. Es geht mehr darum, spielerisch mit dem Vorstellungsvermögen zu arbeiten. Mit schmerzhaften und heilsamen Qualitäten zu arbeiten, die vielleicht gar nicht so persönlich sind, sondern die einfach empfangen und geteilt werden können. Mit dieser paradoxen Übung trainieren wir unser inneres Immunsystem, indem wir freiwillig das Schwierige in uns aufnehmen und das Kostbare mit der Welt um uns herum teilen. Diese Praxis kann eine zu starke Identifikation mit dem Leiden auflösen und Großzügigkeit im Geben von Heilsamem fördern. Sie öffnet unsere Herzen für das Leid, unabhängig davon, wer der oder die Leidende ist. Deshalb laden wir dich in der nun folgende Übung jetzt dazu ein, „Mitfühlendes Atmen“ auch für andere zu üben.

Übung: Mitfühlend atmen – für andere (M5_17) Übung

1. Ankommen Eine bequeme Haltung finden, und dich verbinden mit Achtsamkeit. Anerkennen was sich manifestiert im Körper und im Geist. … … … Und dann Raum geben für einen beruhigenden Atemrhythmus. … … … Wenn du möchtest, kannst du die Praxis des mitfühlenden Atmens nun auch auf andere ausweiten – genauso wie bei der Freundlichkeitsmeditation. Auch jetzt brauchst du dich nicht anzustrengen. Gönne dir Zeit und Raum um zu erkunden was sich stimmig anfühlt und auch um regelmäßig zu pausieren, dich mit einem beruhigenden Atemrhythmus zu verbinden und/oder mit Achtsamkeit für das, was du erfährst zu sitzen. … 2. Geliebte Person Wenn du Raum dafür fühlst, kannst du dir nun jemanden ins Gedächtnis rufen, mit dem du eine warmherzige und liebevolle Verbindung hast. Das kann jemand aus deiner Familie sein, ein guter Freund oder eine Freundin oder jemand anderes, der dir am Herzen liegt. … … Und dich dann mit etwas verbinden, das schmerzhaft, traurig oder schwierig im Leben dieser Person ist. … … Und erkunde, ob es eine sinnliche Qualität gibt, die

138

Modul 5: Selbst und andere – den Kreis des Mitgefühls erweitern

du dir leicht dabei vorstellen oder fühlen kannst. … … Vielleicht ist der Schmerz dunkel, oder gibt es ein Bild, das diese Schwierigkeit symbolisiert? Oder vielleicht ein schrilles Geräusch? Ein unangenehmer Geruch oder Geschmack? Oder eine körperliche Qualität, wie ein hartes oder ein schweres Gefühl? Oder vielleicht die emotionale Atmosphäre, die du spüren oder dir vorstellen kannst bei diesem Schmerz? … … … Und dann diese Qualität oder dieses Gefühl mit der Einatmung bis in alle Poren deines Körpers einladen… Und eine innerliche Verwandlung erlauben, sodass die Ausatmung dann begleitet wird von dieser heilsamen Alternative, die den Schmerz lindern könnte. … … Zum Beispiel Dunkelheit einatmen und Licht oder Leichtigkeit ausatmen. Kälte oder Härte einatmen und eine wohltuende Wärme ausatmen. Hoffnungslosigkeit, Trauer oder Einsamkeit einatmen und Vertrauen, Ruhe oder Unterstützung schenken mit dem ausatmen. … … … Zu Beginn kannst du bewusst etwas tiefer ein- und ausatmen, bis irgendwann von selbst ein ruhiger, natürlicher Atemrhythmus entsteht. … … Und du brauchst Geräusche, Gedanken, Gefühle, innerlichen Widerstand oder Verlangen nicht als störend zu empfinden, sondern kannst sie einfach freundlich anerkennen, wenn sie in den Vordergrund kommen. … Und dann einfach wieder zur Übung zurückkehren. Regelmäßig innerlich pausieren und freundlich und achtsam anerkennen was das mit dir macht so zu atmen … körperlich … emotional. … Du kannst bei der geliebten Person bleiben oder auch andere geliebte Personen und auch Haustiere in die Übung mit aufnehmen … 3. Neutrale Person Als nächstes bist du eingeladen, dich mit einer Person zu verbinden, die für dich eher neutral ist. Eine Person die du nicht gut kennst. … … … Du kannst dir bewusst machen, dass auch diese Person die eine oder andere Art von Leiden kennt, und dass du auch dieses Leiden sanft mit der Einatmung in dich hinein lassen kannst … Dir dann vorstellen, dass es sich beim Übergang von Einatmung zu Ausatmung in eine heilsame Qualität verwandelt, die du dann mit dem ausatmen zu dieser neutralen Person fließen lässt. … … Wenn du möchtest, die Übung auch noch auf andere neutrale Personen ausweiten. … 4. ‚Schwierige‘ Person Wenn du innerlich Raum dafür spürst, kannst nun mit einer Person Kontakt aufnehmen, mit der du eine eher schwierige Beziehung hast. … Dabei darauf achten, dass sich die Schwierigkeit handhabbar für dich anfühlt. Verbinde dich dann mit dem leidenden Anteil in diesem Menschen. Vielleicht ist er oder sie sehr traurig, fühlt sich vielleicht ungeliebt, einsam oder unsicher. … Diesen Schmerz sanft mit dem einatmen in dich aufnehmen … und etwas Heilsames, was gebraucht wird, ausatmen. … … …

Übung: Mitfühlend atmen – für andere

139

Vielleicht zeigen sich schmerzhafte Gefühle in dir, dann kannst du mitfühlend mit dem Schmerz oder der Traurigkeit atmen, die du selbst in diesem Moment erlebst. Oder auch wieder einfach achtsam mit dem sein, was gerade geschieht. 5. Gruppen Du kannst dir nun das Leid einer bestimmten Gruppe von Menschen ins Gedächtnis rufen: ihre Verletzbarkeit, Rückschläge, die sie erleiden, Krankheit, Verlust oder Gewalt. … Dir vorstellen, wie du das Leiden dieser Menschen immer wieder einatmest und innerlich aufnimmst, z. B. als dunkle Energie, … die sich innerlich wandelt in weißes oder goldenes Licht, das du dann mit dem ausatmen mit dieser Gruppe teilst. … … … Du kannst diese Übung auch auf andere Gruppen ausweiten, für die du dich öffnen kannst. Vielleicht Menschen oder auch Tiere, … mitfühlend mit ihrem Leid atmen, immer mit der Möglichkeit zu dir selbst zu wechseln und mitfühlend mit Leid in dir zu atmen, wenn sich da etwas zeigt. Du kannst das mitfühlende Atmen auch wieder mit achtsamen Bewegungen verbinden. … Dabei die Arme und/oder Hände beim Einatmen des Schmerzes in einer empfangenden Geste zum Herzen oder zum Bauch bringen … … und mit dem Ausatmen die Arme und Hände in einer schenkenden Bewegung wieder öffnen nach außen, … mit oder ohne Bewegung. So, wie es für dich in diesem Moment stimmig ist. … … 6. Alle Menschen Dir nun zum Abschluss der Übung vorstellen, dass du den Schmerz und die Traurigkeit aller Menschen und Tiere auf diesem Planeten mit dem einatmen aufnimmst … und dass sie sich in eine universelle heilende Energie verwandeln, die du mit dem ausatmen in die Welt fließen lässt. … … … Das Schmerzhafte empfangen und das Heilsame schenken … fließen lassen in die Welt, in der wir leben. Und so kann diese paradoxe Übung das Gefühl für unsere gegenseitige Verbundenheit und gemeinsame Menschlichkeit vertiefen, und uns auch bewusst machen, was hilfreich sein könnte … für uns selbst und oder für andere mit denen wir leben. Vielleicht nährt diese Art zu atmen auch unsere innere Immunität und ermöglicht ein tieferes Verständnis für das alte chinesische Sprichwort: Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen einige Menschen Mauern und andere Windmühlen. Im Alltag gibt es viele Gelegenheiten, „Mitfühlendes Atmen“ zu praktizieren. Es gibt Momente, in denen du mit Leid in dir selbst oder in anderen Menschen oder Lebewesen konfrontiert bist, und nicht recht weißt, was du sagen oder tun könntest. Es kann auch sein, dass du dich mit einer leidenden Person oder einem leidenden

140

Modul 5: Selbst und andere – den Kreis des Mitgefühls erweitern

Anteil in dir selbst unverbunden fühlst. Vielleicht arbeitest du mit Menschen, denen du nicht helfen kannst, hast es mit Personen zu tun, die krank, dement oder sterbend sind, siehst im Fernsehen die Opfer von Krieg und Katastrophen. In all diesen Momenten kann „Mitfühlendes Atmen“ hilfreich sein. Gerade wenn wir manchmal nichts tun können im Angesicht des Leids anderer und uns deshalb machtlos fühlen, kann das mitfühlende Atmen, das wir manchmal auch „Gleichmütiges Atmen“ nennen, sehr wertvoll sein. Du kannst es dann wie beim „3-Minuten Atemraum“ auch als informelle Praxis im Alltag anwenden. Es kann dir dabei helfen, dich wieder handlungsfähig und selbstwirksam zu fühlen. Und mit heilsamer Absicht tust du etwas Wertvolles für dich und für andere, auch wenn es scheinbar klein ist.

Übung: Atemraum mit „Mitfühlendem Atmen“ Übung

1. Ankommen Im ersten Schritt Pause machen dürfen vom Tun … und mit Achtsamkeit anerkennen, was sich gerade manifestiert in Körper und Geist, … auch die schmerzhaften Erfahrungen. … … … Empfindungen im Körper anerkennen und innerlich benennen, wenn das hilfreich ist: „Spannung im Kiefer, … Nacken, … in den Schultern.“, oder: „Schwere im Brustraum“, „flacher Atem“. … … Gefühle benennen: z. B. „Da ist Angst, oder Irritation“ oder: „Ein Teil von mir ist traurig, … schämt sich.“ … … Gedanken als Gedanken erkennen und benennen, wenn das hilfreich ist: „Selbstkritische Gedanken“, „Sorgenvolle oder urteilende Gedanken“, „Dunkle Gedanken“. … 2. Beruhigender Atemrhythmus Und dich dann im zweiten Schritt mit dem Atem verbinden, … … ihm Raum geben, sich zu beruhigen, … … vielleicht Beruhigung unterstützen durch ein Lächeln, … oder eine Hand auf dem Körper, … … oder durch die Vorstellung eines sicheren Ortes … oder mitfühlendem Gefährten. … … … Den Atem durch den Körper fließen lassen, … ein Öffnen erlauben, … ein Entspannen, … … … den ganzen Körper beatmen. … … Jeder Atemzug ein müheloser Austausch mit der Umwelt, … … jedes Einatmen ein Willkommenheißen, … jedes Ausatmen ein Schenken, ein Geben. … 3. Einatmen was schmerzt, ausatmen was heilt Und dich im dritten Schritt auf das Leiden einstimmen, das gerade da ist. … Vielleicht dein eigenes, oder das anderer, … … vielleicht körperlich oder emotional. … Und in deiner Fantasie Raum erlauben für die Qualitäten, die dieses Leiden haben könnte. … … Wie sieht es aus? … Wie riecht oder schmeckt es? … Wie hört es sich vielleicht an? … Vielleicht Körperempfindungen von Anspannung oder Härte, die damit verbunden sind … oder eine emotionale Atmosphäre? Die Energie von Ärger, Müdigkeit. … … …

Tagebuch: Innerer Helfer

141

Dieses Leid beim Einatmen willkommen heißen, … einladen, … wo es sich in dir in eine heilende Qualität verwandelt, die du mit dem Ausatmen schenkst, … … … die Auswirkungen spüren … … … und wenn du die Energie von Alarm oder Antrieb spürst, kannst du dich immer wieder mit einem beruhigenden Atemrhythmus verbinden. … Wenn du bereit bist, die Übung dann in deiner Zeit beenden.

Tagebuch: Innerer Helfer Achte diese Woche auf Momente, in denen sich ein innerer Helfer zeigt. Das Arbeitsblatt 5.1 kann dich ebenfalls darin unterstützen, täglich eine Erfahrung zu beschreiben, die du machst, wenn ein innerer Helfer sich zeigt.

Reflexionsfragen (aus dem Arbeitsblatt 5.1)

• • • • •

Was genau passierte in der Situation? Wie hast du den inneren Helfer bemerkt? Was hat der innere Helfer zu dir gesagt? Was hast du körperlich und emotional dabei bemerkt? Was erlebst du jetzt, während du diese Erfahrung reflektierst? Was könnte eine freundliche Antwort sein?

Zusammenfassung Im fünften Kapitel beschäftigen wir uns unter anderem eingehender mit Mitgefühl in unseren Beziehungen zu anderen. Indem wir uns weniger mit bestimmten Anteilen in uns identifizieren, können wir auch hier unseren Horizont erweitern. In den Übungen dieses Kapitels geht es weiterhin darum, mit Hilfe unseres Vorstellungsvermögens eine sehr mitfühlende Version unserer Selbst zu verkörpern. Indem wir einen mitfühlenden Brief an uns selbst verfassen, üben wir uns darin, wie ein mitfühlender Teil in uns einen leidenden Teil in uns unterstützen kann. In der Praxis der „Freundlichkeitsmeditation“ üben wir, mit Schwierigkeiten mitfühlend umzugehen. Das „Mitfühlende Atmen“ kann dafür eine Alternative ohne Worte sein.

Übungsvorschläge

Formal: • Nimm dir Zeit, den mitfühlenden Brief weiter auszuarbeiten bzw. weitere Briefe an dich zu schreiben. • Erweitere die Freundlichkeitsmeditation durch die Praxis mit einer „schwierigen“ Person (Audio-Datei M5_15)

142

Modul 5: Selbst und andere – den Kreis des Mitgefühls erweitern

• Praktiziere „Mitfühlendes Atmen“ – für dich selbst und für andere (Audio-Datei M5_16 und 17). Wenn diese Praxis dir liegt, kannst du sie als Alternative zu Freundlichkeitsmeditation auch öfter praktizieren. • Praktiziere die Übungen aus den vorherigen Kapiteln, die wertvoll für dich sind. Informell: • Praktiziere regelmäßig den „Atemraum mit Freundlichkeit“ (Audio-Datei M1_01) aus dem ersten Modul und bei Bedarf auch den „Atemraum mit Mitgefühl bei emotionalem Schmerz“ aus Modul 2 (Audio-Datei M2_05) oder die „Selbstmitgefühls-Erinnerung“ aus Modul 2. • Tagebuchübung: sei dir täglich deiner Erfahrungen mit dem inneren Helfer bewusst. Diese kannst du auf dem Arbeitsblatt 5.1 (Download) notieren.

Arbeitsblätter zum Herunterladen für Modul 5

5.1 Tagebuch: Innerer Helfer

Elektronisches Zusatzmaterial M5_15 Freundlichkeitsmeditation – für eine „schwierige“ Person M5_16 Mitfühlend atmen – für dich selbst M5_17 Mitfühlend atmen – für andere

Modul 6: Glück nähren Freunde fürs Leben finden

Möge die Blüte des Mitgefühls wachsen in der fruchtbaren Erde der Freundlichkeit, benetzt vom frischen Wasser der Mitfreude, im kühlen Schatten des Gleichmuts. (Tibetisches Sprichwort)

Glück nähren Durch die Übung von Mitgefühl entsteht in uns oft auch ein tieferes Verständnis unseres gemeinsamen Menschseins. Da wir häufig mehr auf die Unterschiede zwischen uns und anderen schauen ist es hilfreich, den Blick zu weiten und uns bewusst zu machen, dass uns Menschen doch viel mehr verbindet als trennt. Wir alle müssen nämlich mit einem nicht perfekten Gehirn und Körper leben. Und wir alle sind mit Vergänglichkeit konfrontiert und möchten glücklich und frei von Leiden sein. In diesem Kapitel wirst du weitere Übungen kennenlernen, die dieses Verständnis des gemeinsamen Menschseins unterstützen. Wir werden schauen, wie wir unsere Herzensqualitäten noch weiter auf andere Menschen und schlussendlich alle fühlenden Wesen ausweiten können. Im Mitgefühlstraining richten wir unsere Aufmerksamkeit zunächst einmal auf vorhandenes Leid und darauf, wie es gelindert werden kann. Die Linderung von Leid ist jedoch nicht das Einzige, was zu unserem Lebensglück beiträgt. Vielmehr ist es gleichermaßen wichtig, auch die freudigen Momente des Lebens wahrzunehmen und ganz bewusst zu genießen. Auch hierzu wirst du Übungen in diesem Kapitel finden.

Zusatzmaterial online Zusätzliche Informationen sind in der Online-Version dieses Kapitel (https://doi. org/10.1007/978-3-658-26824-4_7) enthalten. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Stocker et al., Mitgefühl üben, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26824-4_7

143

144

Modul 6: Glück nähren

Weißt du noch, …? Wenn du in einem Garten gehst, schaust du dir die Dornen oder die Blumen an? Verbringe mehr Zeit mit Rosen und Jasmin. (Rumi)

Im Kapitel über das zweite Modul in diesem Buch haben wir bereits darüber gesprochen, dass unser Gehirn mehr aufs Überleben ausgerichtet ist als aufs Glücklichsein. Unsere Erinnerung funktioniert wie Klettband für das Negative und wie Teflon für das Positive1. Uns das Schlechte und Unangenehme in Erinnerung zu rufen geschieht meist mühelos, von ganz alleine und ist nichts, was wir üben müssen. Um uns deutlicher an die schönen Momente zu erinnern, bedarf es für viele Menschen etwas mehr Übung. Hierbei geht es nicht darum, im Antriebsmodus angenehmen Erfahrungen hinterherzujagen, sondern aus dem Beruhigungssystem heraus offen zu sein für positive Erfahrungen und diese tief in uns aufzunehmen und zu genießen. So bleiben uns diese Momente besser im Gedächtnis und wir können auch später wieder auf sie zurückgreifen. Im ersten Kapitel hast du bereits den „Genussspaziergang“ kennengelernt, der dir dabei helfen kann, freudvolle und nährende Momente wahrzunehmen, während sie geschehen. Nun folgt eine weitere Übung, mit der du deine Fähigkeit stärken kannst, Freude und Genuss mithilfe deiner Vorstellungskraft und deiner Erinnerung zu kultivieren.

Übung: Genuss erinnern und auskosten (M6_18) Übung

1. Ankommen Bequem sitzen oder liegen, … … Pause machen dürfen, vom Beschäftigtsein, … aufmerksam anwesend in diesem Moment. … … … Einen beruhigenden Atemrhythmus zulassen, … … den Körper der Schwerkraft überlassen. … … 2. Sehen Du kannst dich nun überraschen lassen, was auftaucht mit der Einladung dich an eine Situation zu erinnern, in der du etwas gesehen hast, das dich mit Freude erfüllt hat. … … Vielleicht das Lächeln auf dem Gesicht oder in den Augen eines geliebten Menschen, … … spielende Kinder, … eine schöne Blume, oder Landschaft, … ein Sonnenuntergang oder ein Kunstwerk. … … … Dir vorstellen, dass du jetzt wieder siehst, was du damals gesehen hast. … … … Was war es, was dich berührt hat, dich mit Freude erfüllt hat? … Farben, Formen, Details. … … … Bemerke was geschieht,

1Hanson

R, Mendius R (2009) Buddha's brain: The practical neuroscience of happiness, love & wisdom. New Harbinger Publications, Oakland, CA.

Übung: Genuss erinnern und auskosten

145

wenn du dich jetzt wieder mit dieser Erfahrung verbindest. … Was spürst du im Gesicht, … Körper, … im Herzbereich? … 3. Hören So kannst du dich auch eine Situation erinnern, in der du etwas gehört hast, was dir Freude gemacht hat. … … Vielleicht das Geräusch von Lachen, … Vogelzwitschern, … sanfte Wellen, … oder Musik. … Und dir vorstellen, dass du es jetzt wieder hörst. … … … Was war es an dem Klang, das dich berührt hat, dir Freude machte? … … … Die Details erkunden und spüren, was im Körper und im Herzen geschieht, wenn du dir etwas vorstellst, … diese Verbindung von Geist und Körper erkunden, … als Achtsamkeitsübung. Es braucht dabei keine speziellen Effekte zu geben, … einfach beobachten, was das so macht. … 4. Riechen Vielleicht erinnerst du dich auch an eine Situation, in der du etwas gerochen hast, das dich mit Freude erfüllt hat. … Vielleicht ein Geruch, … Essen, … oder ein schöner Geruch oder Duft in der Natur. … … … Die wieder vorstellen, dass du es jetzt riechst, … … es wieder einatmen, … … dich erfüllen lassen. … … Und was macht das jetzt mit dir? In der Nase, … im Körper? … 5. Schmecken Und so gibt es vielleicht auch etwas, was du geschmeckt hast, was dir Freude gemacht hat. … … Dir vorstellen, dass du das jetzt schmeckst, was du damals geschmeckt hast. … … Was passiert da im Mund, … auf der Zunge, … im ganzen Körper? … … Jetzt wieder genießen, was du damals genossen hast. … … … 6. Berührung Vielleicht erinnerst du dich an eine Situation, wo du etwas berührt hast, das Freude in dir geweckt hat, … etwas Warmes, Weiches vielleicht, … das Haar eines geliebten Menschen oder das Fell deines Haustieres. … Vielleicht die Wärme der Sonne auf deiner Haut … oder eine kühle Brise, … Sand unter den Füßen. … … Stelle dir vor, dass du jetzt berührst, was du damals berührt hast … oder wie du berührt wurdest, … … die Berührung empfangen. … … Und was macht das jetzt mit dir? … Im Bereich der Haut … und im ganzen Körper, … im Herzbereich? 7. Geist Diese fünf Sinne, die du gerade erforscht hast, verbinden uns mit der Außenwelt. Und es gibt auch noch einen sechsten Sinn: den Geist, mit dem wir nach innen schauen können, auf das, was wir denken und fühlen. … Auch das kann uns Freude schenken. … Vielleicht erinnerst du dich an einen Moment der Einsicht, eine Erfahrung von: „Ah, jetzt verstehe ich!“ … … oder ein Berührtwerden durch ein schönes Gedicht oder weise Worte, … ein inneres Bild, dass dich unterstützt, durch das du Freude erlebt hast, … … Dankbarkeit gespürt hast. … … Dir vorstellen, dass du

146

Modul 6: Glück nähren

jetzt erlebst, was du damals erlebt hast. … …. … Was macht das jetzt mit dir, wenn du dich wieder damit verbindest? … … … Paradoxerweise kann diese Übung auch Trauer nach oben bringen. … Trauer über das Verlorene wecken … oder den schmerzhaften Wunsch nach dem, was fehlt. … … Wenn das so ist, ist es vielleicht möglich, dies anzuerkennen und wertzuschätzen als Teil der Übung, der eine mitfühlende Antwort braucht. … … Du kannst so lange bei all dem Guten bleiben, wie du möchtest … und diese wundervolle Erfahrung der Freude entdecken. … … Wir können überall Freude finden, wenn wir die Türen unserer Sinne öffnen und uns die Zeit nehmen, bewusst damit zu verweilen. Selbst inmitten der tiefsten Dunkelheit kann ein Licht auftauchen, dass unser Herz mit Freude erfüllt. Auch die Erfahrung von dem Lindern des Leidens in unsere Mitgefühlspraxis kann eine tiefe Freude aufwecken. Du kannst diese Übung beenden mit einer Hand auf dem Herzen. … Und die Fähigkeit des Herzens wertschätzen, sich anfüllen zu lassen mit Freude … … … und auch dich selbst wertzuschätzen dafür, dass du dir die Zeit für diese Übung genommen hast.

Drei Wege zum Glück Wir haben ja bereits darüber gesprochen, dass mit dem Antriebssystem verbundene Emotionen und Empfindungen angenehm sind, aber auch kürzer andauern als jede, die mit dem Beruhigungssystem verbunden sind. Aus dem Antriebssystem heraus nach Glück zu streben, wird jedoch eher Frustrationen, Enttäuschungen und Süchte hervorrufen und uns eher unglücklich als glücklich machen. Wie heißt es so schön: „Wer dem Glück hinterherrennt, läuft daran vorbei2“. Aus der Glücksforschung3 ist bekannt, dass es bei Glückserfahrungen nicht so sehr darauf ankommt, was geschieht, sondern eher, wie jemand sich auf diese Ereignisse bezieht. Großer Luxus muss nicht notwendigerweise eine Quelle des Glücks sein, während uns schmerzhafte Momente durchaus dem Glück näher bringen können, wenn es uns gelingt, sie mitfühlend anzunehmen. In der sogenannten Positiven Psychologie werden mindestens drei Bereiche unterschieden, die zu einem glücklichen Leben beitragen4 (siehe Abb. 1).

2Harris

R (2014) Wer dem Glück hinterherrennt, läuft daran vorbei – ein Umdenkbuch. Goldmann Verlag, München. 3Lyubomirsky S (2007) The how of happiness: A ractical guide to getting the life you want. Sphere, London. 4Seligman

M (2002) Authentic happiness: Using the new positive psychology to realize your potential for lasting fulfillment. Free Press, New York.

Vier Lebensfreunde

147

Abb. 1  Drei Wege zum Glück. (© Christian Stocker 2019. All Rights Reserved)

Indem wir unser Beruhigungssystem mit Übungen wie dem Genussspaziergang und dem bewussten Erinnern und Auskosten schöner Erfahrungen stärken, kultivieren wir ein freudvolles Leben. Übungen, die das Verständnis unseres gemeinsamen Menschseins vertiefen und die uns Verbundenheit und Interdependenz mit allen Lebewesen erfahren lassen, unterstützen uns dabei engagiert zu leben. Uns darüber klar zu werden, welche Werte uns wichtig sind und unserem Leben eine Richtung geben unterstützt uns dabei, sinnerfüllt zu leben. Hierauf werden wir einige Seiten später im Kapitel „Was ist dir wirklich wichtig im Leben?“ noch näher eingehen.

Vier Lebensfreunde Bislang haben wir uns hauptsächlich mit der Praxis von liebevoller Freundlichkeit und Mitgefühl beschäftigt. Nun möchten wir zwei weitere Herzensqualitäten miteinbeziehen: Mitfreude und Gleichmut. In der buddhistischen Psychologie5 werden diese Qualitäten auch „Brahmaviharas“ oder die „Vier Unermesslichen“ oder „Vier Grenzenlosen“ genannt. Sie sind nicht durch unser Ego begrenzt, sie führen uns vom Ego-System zum Öko-System. Sie sind selbstübersteigend und reichen weiter, als die normalen Grenzen von Zeit und Raum. Und sie können – genau wie Achtsamkeit – unbegrenzt entwickelt werden. Wenn sie vervollkommnet sind, haben sie die Eigenschaft, ausnahmslos und ohne Begrenzung alle Lebewesen mit 5Feldman C (2017) Boundless heart: The Buddha’s path of kindness, compassion, joy and equanimity. Shambhala, Boulder, CO.

148

Modul 6: Glück nähren

Abb. 2  Das innere Barometer. (© Christian Stocker 2019. All Rights Reserved)

einzuschließen. Im Gegensatz zu unserer westlichen Welt ist es in vielen asiatischen Kulturen ganz selbstverständlich, dass diese vier Herzensqualitäten sowohl in der Beziehung zu anderen als auch im Umgang mit der eigenen Person geübt werden. Im MBCL nennen wir diese vier Herzensqualitäten die „Vier Lebensfreunde“. Wenn wir diese Qualitäten in uns kultivieren, können sie uns durch unser Leben hindurch begleiten und uns in allen Lebenslagen unterstützen. Wir alle besitzen gewissermaßen ein „inneres Barometer“ (Abb. 2), der uns anzeigt, welche dieser vier Herzensqualitäten wir in welcher Situation am besten praktizieren können: • Liebevolle Freundlichkeit ist ein Allwetterfreund und kann jederzeit praktiziert werden – insbesondere bei heiter bis wolkigem Himmel. Die Praxis der liebevollen Freundlichkeit ist eine stete, vorbehaltlose Haltung der Verbundenheit, die alle Lebewesen einschließt – auch die eigene Person. Sie beinhaltet den Wunsch, dass alles Wesen glücklich sein mögen. • Wenn Freundlichkeit auf Leiden trifft, verwandelt sie sich in Mitgefühl. Die folgende östliche Weisheit beschreibt dies sehr schön: „Der Regenbogen des Mitgefühls erscheint, wenn die Sonnenstrahlen der Freundlichkeit, die Tränen des Leidens und der Betrübnis berühren.“ Genau das ist es, was wir benötigen, wenn unser inneres oder äußeres Wetter trostlos, kalt und regnerisch ist. Mitgefühl beinhaltet den Wunsch, dass alles Wesen frei von Leiden sein mögen. • Freundlichkeit wird zur Mitfreude, wenn schönes, sonniges und warmes Wetter vorherrscht. Wir freuen uns, genießen und wissen diesen Zustand wertzuschätzen. Mitgefühl beinhaltet den Wunsch, dass alles Wesen frei von Leiden sein mögen. • Gleichmut ist der stabile Rahmen für unser inneres Barometer, der uns auch bei extremen Temperaturen und bei unvorhersehbaren oder stürmischen ­Wetterlagen Halt gibt. Diese Gelassenheit bedeutet Zuverlässigkeit, Stabilität,

Vier Lebensfreunde

149

die Fähigkeit, Extreme aushalten zu können, inmitten von Tumult standhaft zu bleiben und mit unerschütterlicher Fürsorge zu handeln. Gleichmut unterstützt uns dabei, auch im größten Chaos mit unserer inneren Mitte, der Stille und der Geräumigkeit in uns in Kontakt zu bleiben. Jede dieser vier Qualitäten kann wie eine Medizin wirken, wenn wir in Zuständen gefangen sind, die unser Leben vergiften und die unsere Herzen eng und kalt werden lassen. Freundlichkeit ist beispielsweise ein wirksames Gegenmittel zum Hass, Mitgefühl hilft gegen Grausamkeit, Mitfreude lindert den Neid und Gier und Gleichmut wirkt Hochmut und übermäßigen Vorlieben und Abneigungen entgegen. Die Praxis aller vier Lebensfreunde unterstützt uns darin, innere Zustände auszubalancieren und bewahrt uns auch vor möglichen Fallgruben einer zu einseitigen Übung. Tab. 1 zeigt die vier Herzensqualitäten in der Übersicht. Achtsamkeit hat auch immer eine subtil gleichmütige Qualität. Sie drückt sich darin aus, dass wir das, was wir erleben, gelassen und nicht urteilend wahrnehmen. Diese heilsame Qualität unterstützt uns dabei, zu bemerken, wenn wir beim Praktizieren einer der „Vier Lebensfreunde“ versehentlich in eine Fallgrube getappt sind, d. h. eine Qualität kultivieren, die diesem Lebensfreund zwar ähnelt, aber letztlich eher Leid bringt. Wenn wir achtsam bemerken, dass sich unsere Praxis in eine solche, nicht hilfreiche Richtung entwickelt, können wir diese ausgleichen, indem wir einen oder auch mehrere andere Lebensfreunde mehr in den Mittelpunkt stellen. Wenn wir beispielsweise Gleichgültigkeit statt Gleichmut in uns bemerken, kann die Praxis von Mitgefühl ausbalancierend wirken. Für viele Menschen sind die folgenden zwei Metaphern hilfreich, um die Praxis der „Vier Lebensfreunde“ zu verdeutlichen. 

Die freundliche Lehrerin  Die freundliche Lehrerin verkörpert eine Haltung der Freundlichkeit, um ein Klima in ihrer Klasse zu schaffen, in dem sich die Kinder wohlfühlen und entwickeln können. Sie freut sich mit den „Einserschülern“ an deren Erfolgen, steht den Kindern mit Lernschwierigkeiten mitfühlend und unterstützend zur Seite und begegnet herausfordernden Kindern mit unerschütterlichem Gleichmut. Sie kann ihre eigenen Gefühle und die der Kinder auf hilfreiche Weise regulieren, fördert und fordert, setzt Grenzen und schafft ein positives Lernklima für alle.



Die liebevollen Eltern Wir können die vier Herzensqualitäten auch mit Gefühlen von Eltern vergleichen, die vier Kinder haben: ein Kleinkind, ein Kind mit Behinderung, ein ausgelassener Teenager und ein bereits erwachsenes Kind, das selbständig seinen Lebensweg geht. Im Kontakt mit dem Kleinkind kultivieren sie liebevolle Freundlichkeit, dem Kind mit Behinderung begegnen sie mitfühlend, der ausgelassene und manchmal auch aufgeregte oder mürrische Teenager braucht ihre Gelassenheit und der junge Erwachsene, der das Leben selbständig entdeckt und genießt, weckt Mitfreude in ihnen.

Modul 6: Glück nähren

150 Tab. 1  Vier

Herzensqualitä-

Lebensfreund

Ausgangspunkt Motivation

Liebevolle Freundlichkeit

Die Wahrnehmung und das Bewusstsein des Guten und das Streben, glücklich zu sein

Der Wunsch und die Hass, Wut, Bereitschaft, Wohl- Ärger, Angst, Furcht, Besorgsein zu fördern nis, Groll, Vorurteilen, vorschnellem Bewerten, Widerstand, Langeweile

Anhaftung an positive Resultate oder angenehme Gefühle, übermäßige Gefühlsseligkeit oder Sentimentalität

Mitgefühl

Die Wahrnehmung und das Bewusstsein von Schmerz und Leiden

Der Wunsch und die Härte, HerzloBereitschaft, Leiden sigkeit, Gleichgültigkeit, zu lindern Grausamkeit, Schadenfreude

Mitleid, übermäßige Betroffenheit, Schwermütigkeit, Hoffnungslosigkeit

Mitfreude

Die Wahrnehmung und das Bewusstsein von Wohlstand und Erfolg

Der Wunsch und die Bereitschaft, sich an Glück und Erfolg zu freuen

Eifersucht, Neid und Missgunst, Gier, Konkurrenzdenken, Rivalität, mangelnder Wertschätzung (auch für uns selbst)

Heuchelei, übermäßige Aufregung, Suche nach dem „Kick“, Euphorie

Gleichmut

Die Wahrnehmung und das Bewusstsein von Disbalance und Unbeständigkeit

Der Wunsch und die Bereitschaft, inneren Frieden, Balance und Geräumigkeit zu üben

Übermäßiges Gleichgültigkeit, VerantworApathie tungs-gefühl, Hochmut oder Minderwertigkeits-gefühl, extremer Vorliebe oder Abneigung, Überidentifikation, Fanatismus

Heilsame Antwort bei …

Mögliche Fallgrube

Bereitschaft zur Vergebung ten Rache ist eine faule Art zu trauern. (Unbekannt)

Während uns die Erfahrung von Verbundenheit mit Anderen glücklich macht, bringt Isolation eher Leid. Was kann uns helfen, wenn die Verbindung zu uns selbst oder einem anderen blockiert zu sein scheint? Im letzten Kapitel hast du

Bereitschaft zur Vergebung

151

bereits eine Übung kennengelernt, in der es darum ging, einer „schwierigen“ Person (oder einem ungeliebten Anteil in dir selbst) liebevolle Freundlichkeit entgegen zu bringen. Möglicherweise war dies keine leichte Übung für dich. Vielen Menschen fällt es nicht leicht, anderen oder sich selbst Fehler zu verzeihen. Doch wir alle verletzen einander von Zeit zu Zeit. Manchmal absichtlich, oft jedoch unabsichtlich. Wenn wir uns selbst oder andere dann hassen und in Übelwollen, Groll, Rachegedanken und innerer Härte gefangen sind, entsteht nur noch mehr Leid. Zum Glück können wir mit Hilfe unseres „neuen Gehirn“ Vergebung kultivieren. Dies wollen wir hier weiter vertiefen und uns mit der Bereitschaft zur Vergebung beschäftigen, die auch in vielen Weisheitstraditionen als sehr wichtig erachtet wird. Forschungsergebnisse der modernen Psychologie bestätigen, dass die Bereitschaft zur Vergebung der Königsweg zur emotionalen Gesundheit ist6. Vergebung ist daher kein Luxus, sondern wirklich notwendig, um unsere Gesundheit zu erhalten. Um zu vergeben brauchen wir neben Mitgefühl auch ebenso viel Gelassenheit. Sie ermöglicht es uns, den Blick zu weiten und trotz starker Emotionen und scharf verurteilender Gedanken innerlich in Balance zu bleiben. Die folgenden drei Übungen sind inspiriert von Tara Brach7 und können unsere Bereitschaft zu vergeben fördern. Wenn du sie praktizierst ist es wichtig, deine eigenen Grenzen zu spüren und zu respektieren und inneren Widerständen mitfühlend zu begegnen, wenn sie auftauchen. In der ersten Übung erkunden wir, wie wir uns selbst gegenüber eine verzeihende Haltung zulassen können. In der zweiten Meditation kannst du dich darin üben, jemand anderen um Verzeihung zu bitten. In der dritten Übung geht es schließlich darum, die Bereitschaft zu entwickeln, einem anderen Menschen zu verzeihen. Bitte beachte, dass es bei diesen letzten beiden Übungen zunächst einmal nur darum geht, die Möglichkeit zu vergeben in dir selbst zu erkunden und zu kultivieren. Später kannst du dich dann immer noch entscheiden, ob du tatsächlich auf andere zugehen möchtest und um Verzeihung bittest bzw. Ihnen Vergebung anbietest. Alle drei Praktiken können uns dabei helfen, eine heilsamere Beziehung zu uns selbst oder zu Anderen zu entwickeln oder sogar zu vertiefen. Es ist nicht wichtig, die Übungen in einer bestimmten Reihenfolge zu praktizieren. Wähle einfach die

6Hall, J H & Fincham F D (2005) Self-forgiveness: The stepchild of forgiveness research. Journal of Social and Clinical Psychology, 24, 621–637; Toussaint L & Friedmann P (2008) Forgiveness, gratitude and well being: The mediating role of affect and beliefs. Journal of Happiness Studies, 10, 635–654. 7Brach T (2004) Radical Accceptance. Bantam, New York.

152

Modul 6: Glück nähren

Übung aus, die dich in diesem Moment am meisten anspricht. Dabei kannst du dir noch einmal bewusst machen, dass es nicht darum geht, sofort zu verzeihen. Vielmehr geht es hier darum, einen heilsamen Prozess in Gang zu setzen, der Zeit und Raum benötigt.

Übung: Dir selbst verzeihen (M6_19) Übung

1. Ankommen Du kannst auch diese Übung damit beginnen, das Licht der Achtsamkeit auf das scheinen zu lassen, was gerade da ist, … … … anerkennen, was sich zeigt … und Entspannung zulassen, … dem Atem sanft erlauben, sich zu beruhigen, wenn das hilfreich ist. … … … Und du kannst die Achtsamkeit und – wann immer es hilfreich ist – einen beruhigenden Atemrhythmus mitnehmen in die diese Übung, die etwas Mut und Bereitschaft erfordert. Wir alle haben Dinge in unserem Leben getan, die wir bedauern und bei denen wir innere Härte uns selbst gegenüber spüren. … … In dieser Übung bist du nun eingeladen, ein solches Gebiet in deinem Leben zu erkunden. … Ein Gebiet, das du nicht so leicht akzeptieren kannst. … … Gönne es dir, zu Beginn etwas zu wählen, das sich jetzt handhabbar anfühlt. Du kannst später etwas Schwierigeres erkunden, wenn du Raum dafür fühlst. … … Vielleicht hast du etwas getan oder gesagt, das jemanden verletzt hat, oder etwas nicht getan, was du hättest tun sollen. … Vielleicht hast du einen Freund oder eine Freundin enttäuscht, vielleicht hast du auf unangemessene Weise mit deinem Kind geschimpft, einen Geburtstag vergessen, dein Haustier vernachlässigt oder es vermieden, deinem Partner oder deiner Partnerin die Wahrheit zu sagen. Vielleicht warst du unhöflich oder einfach nicht nett, wenn du die Möglichkeit dazu gehabt hättest, vielleicht haderst du oder bist ungeduldig mit einer Gewohnheit in deinem Leben. … … … Und vielleicht spürst du Scham, Schuld oder Reue, wenn du dich jetzt daran erinnerst. … … … Und im nächsten Schritt innehalten, … dem Beruhigungssystem Raum geben, … … … dem Körper erlauben, sich zu entspannen, … … … einen beruhigenden Atemrhythmus zulassen. … … … Und es kann ­hilfreich sein, dich mit einem mitfühlenden Gefährten zu verbinden, …

Übung: Dir selbst verzeihen

153

… oder dich an die Möglichkeit zu erinnern, selbst Mitgefühl zu verkörpern – jetzt und jedes Mal, wenn du vielleicht bemerkst, dass du über dich urteilst. 2. Bereich innerer Härte erkunden Du kannst dich dann in diesem Gebiet innerer Härte umschauen, und es – wie eine innere Landschaft – neugierig erkunden. … Was gibt es zu entdecken? … … Wie fühlt sich der Körper an? … … Welche Gefühle Tauchen auf? … … Welche Gedanken sind da? Anerkennen was sich zeigt in dieser Landschaft innerer Härte und dich mit dem tiefen Wunsch verbinden, das Leiden zu lindern. … … … Während du dieses Gebiet innerer Härte erkundest, kannst du einige Fragen hineinlassen und beobachten, was sie im Inneren berühren. … … Mit den Fragen sein und achtsam bemerken, welche Reaktionen oder Antworten sich von selbst zeigen. … … … Und wenn sich nichts zeigt, dann ist das genauso in Ordnung. … … Die erste Frage: Wie ist diese Landschaft innerer Härte entstanden? … … … Und wie hat es sich weiterentwickelt? … Hast du dieses Gebiet eigentlich absichtlich entwickelt? … Wahrscheinlich nicht. Normalerweise machen wir so etwas nicht absichtlich. Aber manchmal ist die Weisheit im Urlaub. Dann machen wir dumme Dinge, … reagieren impulsiv, … werden angetrieben von Angst oder Sorgen, … sind manchmal gefangen in unseren inneren Mustern. … Manchmal scheint es so, als ob wir etwas absichtlich gemacht hätten, aber wenn wir zurück schauen können wir anerkennen, dass wir in jenem Moment wie betäubt waren von Ärger oder Verlangen oder Eifersucht. … … … Wir vergessen innezuhalten, bevor wir handeln und haben oft auch keinen Überblick über die Auswirkungen unseres Verhaltens. … Ein bisschen ja, aber nicht über alle. … … Und würdest du wieder so handeln mit der Weisheit, die du jetzt hast? Was denkst du: Wie viele Menschen gibt es auf dieser Welt, die in ihrem Leben etwas ähnliches getan haben? Hunderte? Tausende? Millionen? Hast du vielleicht auch etwas Wertvolles daraus gelernt, oder könntest etwas daraus lernen? Es geht bei dieser Übung nicht darum, Fehler oder unangemessenes Verhalten zu beschönigen. Und doch können wir Freundlichkeit üben mit der verletzlichen, unvollkommenen Person hinter diesem Verhalten: mit uns selbst. … … Nicht perfekt, wie die meisten Menschen … Wir alle tun manchmal Dinge, die wir später bereuen. … … Vielleicht ist dies ein schöner Moment, deine Unvollkommenheit anzuerkennen und Frieden mit dir selbst zu schließen. …

154

Modul 6: Glück nähren

3. Dir selbst verzeihen Du kannst dieses Wort kosten: „Verzeihen“. … … … Wie wäre es, dir selbst zu verzeihen? … … Wenn du möchtest, kannst du es einfach ausprobieren und innerlich sagen: „Ich sehe, was ich mir oder anderen angetan habe. Ich möchte daraus lernen. Ich sehe, dass Nicht-Verzeihen nur noch mehr Leid bringt. Ich verzeihe mir.“ … … … Kannst du diese Worte von Herzen sagen und auch empfangen? … … Achtsam bemerken, was geschieht. … … Es gibt keine falschen Erfahrungen … Vielleicht mildern die Worte die innere Härte, vielleicht auch nicht. … … Und wenn die Worte empfangen werden können, kannst du sanft wiederholen: „Ich verzeihe mir.“ oder: „Dir ist verziehen.“. … Aber vielleicht merkst du auch, dass das zu schnell ist, und dass du dir selbst jetzt nicht wirklich verzeihen kannst. … Dann ist es vielleicht möglich, dass du dir einen Wunsch schenkst, der sich auf die Bereitschaft zu verzeihen bezieht: „Möge ich mir jemals verzeihen.“ oder: „Möge ich je in diesem Punkt Freundschaft mit mir schließen.“ … … … … Vielleicht mit einem sanften Lächeln oder einer Hand auf dem Herzen … Vielleicht passt das Wort „verzeihen“ oder „Bereitschaft zu verzeihen“ auch nicht so gut für dich. Dann geht es vielleicht mit anderen Worten oder Sätzen. … Vielleicht ist ein Wunsch möglich, der sich auf „Versöhnung“ oder „Vergebung“ bezieht: „Möge ich mir für dieses Verhalten vergeben … oder mich mit mir versöhnen.“ … Oder ein Wunsch für „Bereitschaft zur Vergebung.“ oder „Beruhigung“, „Trost“, „Frieden“ … … oder der Wunsch: „Möge ich aus meinen Fehlern lernen.“ … … Oder auch ein Wunsch in der Wir-Form, wenn du jemand anderem Leid zugefügt hast: „Mögen wir Frieden miteinander finden“ … oder irgend etwas Anderes, was die Härte sanfter machen könnte. … … … Erkunden, was am meisten Resonanz hat, … … wofür es Raum gibt … … … und spüren, was dabei in dir geschieht, … … im Körper, Geist und Herzen. … … … Dir den Wunsch schenken, … sanft fließen lassen … … … und vielleicht auch empfangen, … … … vielleicht in der Ich-Form: „Möge ich …“ oder Wir: „Mögen wir …“ … … … Manchmal gibt es auch keine passenden Worte. Vielleicht möchtest du dann das mitfühlende Atmen üben, das keine Worte braucht. … Dir vorstellen, dass du die Härte, den Schmerz, den Widerstand vor dich hinstellt, … ihn einatmen und in dir in eine sanfte Energie umwandeln lassen, die du ausatmest. … … Und wenn du jetzt nicht so viel Raum um das Thema fühlst, dass du erkundet hast, kannst du dir selbst dafür verzeihen und wertschätzen, dass du mit dieser schwierigen Aufgabe begonnen hast.

Übung: Um Verzeihung bitten

155

Diese Übung kann auch einen weiteren wertvollen Aspekt beinhalten. Manchmal lernen wir etwas dazu, indem wir noch einmal über etwas reflektieren, das schiefgelaufen ist. Und diese wertvolle Erkenntnis, kann uns in die Zukunft ­ begleiten. Es gibt ein Gedicht von Antonio Machado, das dies sehr treffend zum Ausdruck bringt: Als ich schlief letzte Nacht träumte ich – welch wunderschöner Irrtum! – dass ich einen Bienenstock in meinem Herzen hatte und die goldenen Bienen machten weiße Waben und süßen Honig aus meiner alten Bitterkeit. Auf dem Arbeitsblatt 6.1 (Download) kannst du deine Erfahrungen während dieser Übung notieren. Reflexionsfragen (aus dem Arbeitsblatt 6.1)

• • • • •

Welches Gebiet innerer Härte hast du erforscht? Welche Körperempfindungen konntest du wahrnehmen? Welche Gedanken oder Gefühle kamen auf? Wie ist dieses Gebiet innerer Härte entstanden? Hast du es damals absichtlich entwickelt? Und konntest du die Konsequenzen voraussehen? • Wie war es, dir selbst Vergebung anzubieten? • Was war am stimmigsten: Ein verzeihender Wunsch? Oder ein Wunsch für Versöhnung, Versöhnungsbereitschaft oder Beruhigung? Ein Wunsch etwas daraus zu lernen? Das mitfühlende Atmen? Oder etwas Anderes, was die Härte sanfter machen könnte? • Was bemerkst du jetzt, während du über diese Übung reflektierst? Was könnte jetzt ein freundlicher Wunsch für dich selbst sein?

Übung: Um Verzeihung bitten (M6_20) Sorry seems to be the hardest word. (Elton John und Bernie Taupin, 1976)

Übung

1. Ankommen Eine bequeme Haltung finden im Sitzen oder Liegen. … Achtsam die Stimmung anerkennen. … Gedanken, die vielleicht vorbeikommen, …

156

Modul 6: Glück nähren

Körperempfindungen, … Momente, in denen es Hören gibt oder Zuhören, … oder die Atembewegungen spüren. … … … Dem Körper einen beruhigenden Atemrhythmus erlauben. … … … Auch in dieser Übung kannst du jederzeit zurückkommen und einfach achtsam mit dem sein, was sich gerade zeigt … … und wieder Beruhigung zulassen, … dem Atem erlauben sich zu beruhigen. … … … In der Übung kannst du deine Bereitschaft erkunden, jemanden den du verletzt oder geschädigt hast, oder dem du in irgendeiner Weise Unrecht getan hast, um Verzeihung zu bitten. Gönne es dir auch in dieser Übung etwas zu wählen, das sich handhabbar anfühlt. Du kannst später immer etwas Schwierigeres erkunden, wenn du Raum dafür fühlst. … … Im wirklichen Leben kann um Verzeihung bitten schwer sein. Nicht umsonst ist Elton Johns Lied „Sorry seems to be the hardest word“ zu einem Klassiker geworden. Du brauchst dich nicht bereit dafür zu fühlen, jemanden ganz real um Verzeihung zu bitten. Du kannst damit anfangen, indem du das nur in deiner Vorstellung tust. Und es ist nicht wichtig für diese Übung, ob er oder sie dir verzeihen kann. Alles was du tust ist, von deiner Seite aus den Weg zur Versöhnung mit diesem Menschen zu ebnen. Und natürlich ist es schwer, um Verzeihung zu bitten, wenn du dir selbst nicht verzeihen kannst. Wenn du also spürst, dass das so ist, … dann kann es hilfreich sein, milde zu dir selbst sein und zurück zu kehren zu der Übung „Dir selbst verzeihen“. 2. Situation erinnern und um Verzeihung bitten Erinnere dich dann – an die Situation, in der du die andere Person verletzt hast. … .. Vielleicht in Gedanken, … oder mit Worten oder durch dein Verhalten … … … und den Schmerz sehen, den du diesem Menschen möglicherweise zugefügt hast, … … … auch den Details erlauben zurückzukommen. … … … Und dir diese Person dann vor dir vorstellen, … … Verbindung aufnehmen … und den Schmerz, die Enttäuschung, die Verlassenheit fühlen, die er oder sie vielleicht gefühlt hat. … … Und spüren: Ist es möglich milde zu sein mir deiner eigenen Unvollkommenheit? … … … Stelle dir dann vor, dass du deinem Gegenüber in die Augen schaust, … … vielleicht sanft den Namen flüstern und diese oder ähnliche Worte sagen: „Ich sehe, dass ich dich verletzt habe und ich bedauere, was ich getan habe. Ich bitte dich, mir zu verzeihen.“ … Oder: „Es tut mir so leid. Mögest du mir irgendwann verzeihen können. … oder: Mögen Freundlichkeit und Verständnis in deinem Blick sein, wenn du mich anschaust … oder: „Mögen wir in Frieden leben.“… … … Sanft erkunden, welche Worte du zu diesem Menschen sagen könntest. … … … Und wenn es hilfreich ist, eine oder beide Hände auf dein Herz legen, … oder auf deinen Bauch. … … … Achtsam bemerken, was in dir geschieht, wenn du so um Verzeihung bittest. … … …

Übung: Anderen verzeihen

157

Wenn das mitfühlende Atmen wertvoll für dich ist, kannst du dem auf sanfte Weise Raum geben … und zum Beispiel die Anspannung oder Enttäuschung dieses Menschen einatmen, … … und Entspannung oder Trost ausatmen. … …. … Mitfühlend atmen als eine Möglichkeit sanft in Kontakt zu sein mit der Schwierigkeit.

Übung: Anderen verzeihen (M6_21) Groll ist wie Gift zu trinken und dann zu hoffen, dass es deine Feinde tötet. (Nelson Mandela)

Im dritten Bereich des Verzeihens kultivieren wir die Bereitschaft, einem anderen Menschen zu verzeihen, dass er uns – bewusst oder unbewusst – verletzt hat. Praktiziere diese Übung nur, wenn du Raum dafür fühlst und dir vorstellen kannst, dass du diesem Menschen je verzeihen könntest. Mache dir bewusst, welchen Wert es hat, behutsam zu untersuchen was geschieht, wenn du auf eine sanftere Weise auf jemanden schaust, der dich verletzt hast. Es ist auch hilfreich zu bedenken, dass vor allem wir selbst es sind, die leiden, wenn wir in Rachegedanken oder Groll feststecken. Wenn du in dieser Übung Widerstand oder Bitterkeit erfährst, kann dies mit sanfter Achtsamkeit anerkannt werden. Möglicherweise bist du dann selbst in diesem Moment derjenige oder diejenige, die am meisten Liebe und Mitgefühl benötigt. Wenn du später Raum dafür fühlst, kannst du zu dieser Übung zurückkehren und es noch einmal probieren.

Übung

1. Ankommen Mit Achtsamkeit sitzen, … … … einen beruhigenden Atemrhythmus einladen. … … … Wenn es hilfreich ist, kannst du auf spielerische Weise einen mitfühlenden Gefährten an deine Seite einladen, … oder dir vorstellen, Mitgefühl zu verkörpern. … … … Aus dieser achtsamen und mitfühlenden inneren Haltung heraus möchten wir dich zu einer neuen Herausforderung einladen. … … So wie du in deinem Leben andere verletzt hast, kann es auch Menschen geben, die dich verletzt haben. Wenn sich dein Herz ihnen gegenüber verhärtet hat, ist dies ein dritter Bereich der Vergebung, den du erkunden kannst. … … Bitte wende dich diesem Bereich nur zu, wenn du genug Raum dafür in deinem Herzen spürst und dein Geist offen dafür ist. … Und du musst nicht mit der schwierigsten Person beginnen. Und bei der Vergebung für andere geht es auch nicht darum, unangemessenes Verhalten zu beschönigen. … Es geht vielmehr darum, unnötiges Leiden zu stoppen. …

158

Modul 6: Glück nähren

2. Situation erinnern und verzeihen Und vielleicht erinnerst du dich an eine konkrete Situation, in der jemand dich enttäuscht hat, … wo du dich betrogen fühlst, … zurückgestoßen, … missbraucht. … … … Was geschieht, wenn du dich an eine schmerzvolle Situation denkst? … … … Vielleicht ist da Wut, Eifersucht, Scham? … Und die Gefühle mit Achtsamkeit halten, … … … mit Sanftheit spüren, wie sich der Schmerz im Körper zeigt, … … … welche Gedanken daran kleben, … … vielleicht Vorwürfe. … … … Anderen zu vergeben beginnt mit Selbstmitgefühl, … also damit, deinen eigenen Schmerz und deine Gefühle achtsam anzuerkennen … und auch die Urteile und Geschichten, die dazu gehören. … … … Und wenn du deinen Kummer und die damit verbundenen Gefühle sanft und mitfühlend halten kannst, fühlst du dich vielleicht bereit dafür, hinter dieses Verhalten zu schauen, … … … dein Herz für eine Person zu öffnen, die dich verletzt hat. … … … Kannst du in dieser Person einen Menschen sehen, der nicht perfekt und verletzlich ist, wie du selbst? … … Einen Menschen, der sich danach sehnt glücklich zu sein und frei zu sein von Kummer und Leid? … … … Vielleicht hatte er oder sie unter den Bedingungen, die zu dem verletzenden Verhalten geführt haben, auch keine wirkliche Wahl, … … … konnte die Folgen dieses Verhaltens nicht abschätzen. … … … Und selbst, wenn es absichtlich geschehen ist, ist dieser Mensch vermutlich früher einmal von Anderen schlecht behandelt worden. … Wenn du jetzt Raum dafür fühlst, kannst du dir diese Person in sicherer Entfernung vorstellen … und spüren, ob ein Schritt in Richtung Vergebung möglich ist. … … … Du kannst ihm oder ihr in die Augen schauen, … ihren Namen nennen und diese oder ähnliche Worte innerlich sagen: „Ich spüre meinen Schmerz und die Reaktionen auf das, was du getan hast. … Es ist nicht einfach für mich, aber ich möchte tun was ich kann, um das Leid zu lindern, das durch dein Verhalten entstanden ist, … in mir und in dir. … … Natürlich können wir die Vergangenheit nicht ändern, aber wir können auf eine bessere Zukunft hoffen. … … … Wir sind alle nicht Vollkommen und haben uns viele unserer Lebensumstände nicht ausgesucht. Was du getan hast, war nicht richtig, aber ich sehe dich als Mensch … und ich vergebe dir.“ Du kannst sanft einen freundlichen Wunsch für diese Person wiederholen, … in der Du- oder Wir-Form, zum Beispiel: „Mögen wir frei sein von Leid. … Mögen wir in Frieden leben. … Möge Weisheit erwachsen aus unseren Fehlern.“. … … … Achtsam bemerken, was bei den Worten geschieht. … Erlaube es dir die Worte zu verändern, wenn du spürst, dass es jetzt schwer ist zu verzeihen. … … Und du kannst immer wieder zum Selbstmitgefühl zurückkommen, mit Wünschen wie: „Möge ich jemals

Dankbarkeit



159

vergeben können, … verzeihen können.“ oder: „Möge ich offen sein für Versöhnung.“ … … … Sanft erkunden, was sich jetzt stimmig anfühlt. … Und was macht das mit dir? Körperlich? Und emotional? Und alle Erfahrungen dürfen dazu gehören. … … Wenn es schwierig für dich ist, dann könnte das mitfühlende Atmen hilfreich sein. … Vielleicht fühlst du Bitterkeit oder Enttäuschung, dann könntest du deinen Schmerz einatmen … und Weichheit ausatmen. … … Oder auch einer gleichmütigen Reflexion Raum geben und dich erinnern: „Ich kann die Anderen nicht ändern, aber ich kann gut für mich selbst sorgen.“ … … Und so lange du möchtest hier sitzen … und immer kannst du wieder zurückkommen und einfach achtsam mit dem sein, was sich gerade zeigt, … … oder bis du die Klangschale hörst.

Wenn wir schmerzhafte Gebiete in uns erkunden ist es nicht ungewöhnlich, wenn sich dabei Gefühle von Traurigkeit zeigen, die damit verbunden sind. Doch dieser Schmerz kann uns auch bewusst machen, was für uns selbst wirklich wichtig ist. Wenn mehr Vergebung möglich wird, kann uns dies mit großer Dankbarkeit und tiefem Frieden erfüllen. Dann nämlich, wenn wir beginnen zu spüren, dass uns wirklich vergeben wurde, oder dass wir jemand anderem wirklich vergeben können. Und wenn wir wertschätzen können, dass wir etwas aus unserem Schmerz und Leid gelernt haben.

Dankbarkeit Es ist nicht das Glück, das uns dankbar macht, sondern es ist die Dankbarkeit, die uns glücklich macht. (David Steindl-Rast)

Wenn wir etwas bekommen, was uns wichtig ist, kann uns dies froh und glücklich stimmen. Und mit Dankbarkeit können wir wirklich wertschätzen, was wir empfangen haben. Diese Freude und Dankbarkeit können wir fortan immer im Herzen mit uns tragen. Wie du vielleicht in der Übung „Genuss erinnern und auskosten“ erlebt hast, sind Glück und Dankbarkeit eng miteinander verbunden. Glück kann sich jedoch auch einstellen, wenn ein Schmerz nachlässt oder es uns möglich war, Frieden mit einer schwierigen Situation zu schließen. Dankbarkeit kann uns auch mit dem verbinden, was wirklich zählt und dem, was für uns zu einem sinnerfüllten Leben beiträgt. Die Frage „Was ist der Sinn deines Lebens?“ lässt sich wohl weder durch rationales Nachdenken noch durch Bücher wirklich je befriedigend beantworten. Dankbarkeit hingegen ist direkt fühlbar und erlaubt es uns auf einer tieferen Ebene zu erkennen, was für uns wirklich im Leben zählt.

160

Modul 6: Glück nähren

Dass es heilsam sein kann, achtsam zu bemerken was unser Herz mit Dankbarkeit erfüllt, haben auch wissenschaftliche Studien nachgewiesen. Sie konnten zeigen, dass eine regelmäßige Dankbarkeitspraxis dazu beiträgt, dass Menschen sich glücklicher fühlen und gesünder sind8. Die folgende Übung kann ein Ausgangspunkt für die Erforschung dessen sein, wofür du in deinem Leben dankbar bist.

Übung

1. Ankommen Finde eine bequeme Haltung im Sitzen, Liegen oder Stehen und öffne das Gewahrsein für die Erfahrungen in diesem Moment. Erkenne an, was auch immer sie gerade zeigt, ohne etwas davon als Störung zu betrachten. 2. Beruhigender Atemrhythmus Spüre, wie der Atem fließt. Und wenn es hilfreich ist, kannst du den Atem freundlich einladen, sich etwas zu verlangsamen und zu vertiefen und so einen beruhigenden Atemrhythmus zulassen. 3. Wofür kann ich dankbar sein in meinem Leben? Du kannst nun eine Frage an dein Innerstes stellen und dich überraschen lassen, was sich als Antwort zeigen möchte. Die Frage lautet: Wofür kann ich dankbar sein in meinem Leben? Worüber kann ich mich freuen in meinem Leben? Dies können Umstände sein oder Ereignisse, Menschen, Tiere oder die Natur … Vielleicht kommen Erinnerungen an Dinge, die vor kurzem erlebt hast oder die schon länger zurück liegen. Und du kannst das, was sich zeigt innerlich lebendig werden lassen, als ob es jetzt geschähe und spüren, was beim erinnern im Körper, im Geist und im Herzen geschieht. Vielleicht gibt es auch Qualitäten an dir selbst, für die du dankbar bist. Das können Begabungen, Fähigkeiten oder Eigenschaften sein … Dinge, die du gelernt, entwickelt oder mit anderen geteilt hast … Halte die Dinge, die dich mit Dankbarkeit erfüllen, eins nach dem anderen in deinem Gewahrsein und frage dich jedes Mal: Was ist es, das die Saite der Dankbarkeit in mir zum Schwingen bringt? Was spüre ich in meinem Körper, meinem Herzen und Geist? Was erlebe ich, wenn ich darüber reflektiere?

8Emmons

R A & McCullough M E (2003) Counting blessings versus burdens: An experimental investigation of gratitude and subjective well-being in daily life. Journal of Personality and Social Psychology, 84, 377–389.

Übung: Lotus aus dem Schlamm

161

Auf diese Weise kannst du die Landschaft der Dankbarkeit erkunden. Und wenn du dir Notizen machen möchtest, kannst du das Arbeitsblatt 6.2 dazu verwenden.

Übung: Lotus aus dem Schlamm Es ist der Gegenwind, der den Drachen steigen lässt. (Chinesisches Sprichwort)

Viele bekannte Märchen und Heldengeschichten fußen oft darauf, dass die Protagonisten schwierige Situationen überwinden oder ihnen ein Licht aus der Dunkelheit erscheint. Die wahrscheinlich größte menschliche Fähigkeit besteht nämlich darin, auch aus den schlimmsten Umständen etwas zu lernen oder sogar gestärkt aus ihnen hervorzugehen. Die nun folgende Übung kann dir dabei helfen, schwierige und schmerzhafte Erfahrungen, die du in deinem Leben bereits gemacht hast, mit anderen Augen zu sehen und zu erkennen, was daraus Wertvolles für dich erwachsen ist.

Übung

1. Ankommen und beruhigender Atemrhythmus Beginne die Übung, indem du in einer bequemen Haltung ankommst … Die Erfahrungen in diesem Moment achtsam anerkennen … und einen beruhigenden Atemrhythmus einladen. 2. Eine Schwierigkeit aus der Vergangenheit erinnern Verbinde dich nun sanft mit einer schwierigen Zeit in deinem Leben, einer großen Herausforderung oder Krise. … Wähle etwas, bei dem du Raum fühlst, darüber zu reflektieren. Nimm dir Zeit, diese dunkle Wolke in deiner Geschichte zu betrachten. Dann beginne zu erkunden, ob du – wenn du jetzt so zurück schaust – etwas Gutes entdecken kannst, das aus dieser Schwierigkeit entstanden ist. Hast du vielleicht etwas daraus gelernt, was du vielleicht sonst nicht hättest lernen können? 3. Eine gegenwärtige Schwierigkeit erinnern Erinnere dich nun an einen dunklen Bereich in deinem gegenwärtigen Leben. Etwas, das schwierig oder leidvoll für dich ist oder an ein Dilemma. Welches Körnchen Gold wünscht du dir, möge aus dieser Schwierigkeit entstehen? Was wünscht du dir daraus gelernt zu haben, wenn du später einmal darauf zurückschauen wirst? Oder, um es anders zu formulieren: Welche Lotusblüte hoffst du, wird aus diesem Schlamm wachsten? Du kannst auf diese Weise auch über andere schlammige Bereiche deines Lebens reflektieren und über die Lotusblüten, von denen du dir wünscht, dass sie daraus erwachsen mögen. 4. Freundlicher Wunsch für dich selbst Du kannst mit freundlichen Wünschen enden, die sich auf die Lotusblüten beziehen, die sich in dieser Übung gezeigt haben, und den Wunsch oder die Wünsche sanft im beruhigenden Rhythmus des Atems durch dich hindurchfließen lassen.

162

Modul 6: Glück nähren

Du kannst diese Übung mit einer Partnerin oder einem Partner machen und ihr bzw. ihm von dem Guten berichten, dass für dich aus der schwierigen Zeit in deinem Leben erwachsen ist. Dabei könnt Ihr so vorgehen, dass eine(r) von euch beiden schweigend zuhört, während der/die Andere spricht. Tauscht im Anschluss daran dann die Rollen. In einem letzten Schritt könnt Ihr euch dann Zeit nehmen, um euch in einem achtsamen Dialog über folgende Fragen auszutauschen: Wie war meine Erfahrung zu sprechen, während mein Gegenüber mir zuhörte? Wie war meine Erfahrung zuzuhören, während mein Gegenüber sprach? Was habe ich dabei in meinem Herzraum gespürt?

Was ist dir wirklich wichtig im Leben? Willst du wissen, was du willst, musst du schauen, was du tust. (Rudolf Dreikurs)

Im Folgenden geht es darum, wie wir ein sinnerfülltes Leben gestalten können. Es ist eine Einladung an dich zu erforschen, was dir im Leben wirklich wichtig und wertvoll ist, was dein Herz berührt und deinem Handeln eine Ausrichtung gibt. Im Einklang diesen Werten zu leben, schenkt uns Vitalität und Freude und lässt unser Herz aufgehen. Richten wir unser Denken und Handeln hingegen nicht an ihnen aus, verschließt sich unser Herz und unser Mut und unsere Kraft schwinden dahin. Wir können Werte wie Fixsterne am Himmelszelt betrachten. Sie bilden zusammen die uns bekannten Sternbilder und sind so eine gute Orientierungshilfe für Reisende und Seefahrer. Werte können unserem Leben eine Richtung geben – gerade bei rauer See. Sie sind keine Ziele die wir erreichen und „abhaken“ können, sondern eher so etwas wie gewählte Lebensrichtungen.9 Aus unseren Werten lassen sich jedoch wertvolle erreichbare Ziele ableiten und diese wiederum spiegeln sich in unserem Denken und Handeln wieder. Zu wissen was uns wirklich wichtig ist hilft uns zu erkennen, welche Richtung wir einschlagen wollen und unterstützt uns dabei, den roten Faden unseres Lebens zu erkennen. Das ist besonders dann wichtig und hilfreich, wenn die See rau und aufgewühlt ist, d. h. innere oder äußere Lebensumstände schwierig sind oder schwierige Gefühle und Gedanken unser Erleben dominieren. Angenommen, es wäre einer deiner Werte ein liebevoller Mensch zu sein. Dann würdest du dein Handeln an diesem Wert ausrichten und z. B. ein offenes Ohr für Sorgen und Nöte deines Kindes haben, deinen Partner oder deine Partnerin bei

9Hayes

S & Smith S (2007) In Abstand zur inneren Wortmaschine: Ein Selbsthilfe- und Therapiebegleitbuch auf der Grundlage der Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT). dgvt Verlag, Tübingen.

Übung: Wissen was zählt – deine Werte entdecken

163

beruflichen Vorhaben unterstützen oder dir selbst nach einem langen Tag Zeit zum Ausruhen gönnen. Liebe ist also kein Ziel, das wir erreichen können, sondern ein Wert, der unserem Tun eine Richtung gibt und sich in Aktivitäten wieder spiegelt. Edle Werte zu haben, ist an sich schon wundervoll, hilft jedoch niemandem, wenn wir sie nicht in unserem Tun zum Ausdruck bringen – sozusagen mit unseren Händen, Füßen und mit unserem Mund. Es geht also darum, Dinge zu tun, die uns wichtig sind und sie nicht nur innerlich zu schätzen. Oder um es mit Erich Kästner zu sagen: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“ Unsere Werte können unser Handeln in den verschiedenen Bereichen unseres Lebens prägen. Und je nach Lebensbereich können auch verschiedene Werte mehr oder weniger im Vordergrund stehen. In deiner Partnerschaft, deinen Freundschaften, in der Familie oder anderen sozialen Kontakten mögen vielleicht ähnliche Werte handlungsleitend sein. Für Beruf, Freizeit, Gesundheit, Lernen oder im Bezug auf Gesellschaft, Umwelt oder Spiritualität können es wiederum jeweils wieder andere Werte sein, an denen sich dein Verhalten ausrichtet. Als Kinder übernehmen wir zunächst die Werte unserer Bezugspersonen. Später machen wir vielleicht andere Erfahrungen, kommen mit neuen Ideen in Kontakt, lernen komplexere Zusammenhänge kennen und dies kann unsere Werte verändern und formen. Uns unserer tieferen Werte deutlicher bewusst zu sein kann uns dabei unterstützen, unser Leben mit ihnen in Einklang zu bringen und die ihnen innewohnende Energie und Freude zu erfahren.

Übung: Wissen was zählt – deine Werte entdecken Wer ein „Warum“ zum Leben hat, erträgt fast jedes „Wie“. (Friedrich Nietzsche)

Unser Leben an unseren Werten auszurichten, erfüllt es mit Sinn, Lebendigkeit und Glück. Uns in dieser wandelbaren Welt immer wieder an dem auszurichten, was wir wirklich als wertvoll erachten, erhöht unsere psychische Flexibilität und fördert unsere geistige Gesundheit10. Wenn wir mutig dem Ruf unseres Herzens folgen, bereichert dies unser Leben nicht erst später, sondern bereits in genau diesem Moment. Natürlich werden wir auf unserem Weg in ein mehr wertegeleitetes Leben immer wieder Hindernissen begegnen. Diese schmälern jedoch den Wert der Werte nicht. Im Gegenteil: „In deinen Werten wohnt dein Schmerz, in deinem Schmerz wohnen deine Werte“ heißt es in der ACT11 (Acceptance & Commitment Therapy) so treffend. In der folgenden Übung kannst du deine persönlichen Werte erkunden. 10Hayes

S, Strohsal K & Wilson K (2004) Akzeptanz und Commitment Therapie: Ein erlebnisorientierter Ansatz zur Verhaltensänderung. CIP-Medien, München. 11Hayes S & Smith S (2007) In Abstand zur inneren Wortmaschine: Ein Selbsthilfe- und Therapiebegleitbuch auf der Grundlage der Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT). dgvt Verlag, Tübingen.

164

Modul 6: Glück nähren

Abb. 3  „Werte als Fixsterne“ (© Christian Stocker 2019. All Rights Reserved)

Deine Werte Übung

Beginne damit achtsam zu pausieren, und erlaube Entspannung im Körper. Reflektiere dann darüber, was dir wirklich wichtig ist. Was würdest du dir im Leben wirklich wünschen? Vielleicht hilft es dir, dir vorzustellen, wie du in zehn oder zwanzig Jahren auf dein Leben zurückblicken möchtest, oder wenn dein Ende nahe ist. … Du kannst auch einen Schritt weiter gehen und dir vorstellen, dass deine Lieben zu deiner Beerdigung versammelt sind. Was möchtest du, dass sie über dich und dein Leben sagen? Was wünscht du dir, wie sie dich erinnern sollen? Welche Worte wären passend in deiner Grabrede? Nimm dir Zeit, um diese und die folgenden Fragen zu beantworten. Wenn keine Antworten kommen, kannst du die Fragen einsinken lasen und spüren, was sich von ihnen berühren lassen möchte. • Was sind deine Werte? Wofür soll dein Leben stehen? • Wie bringst du diese Werte in deinem Alltag zum Ausdruck? • Was hindert dich daran, diese Werte zum Ausdruck zu bringen? • Was könnte dich dabei unterstützen, deine Werte zu leben? Was könnte ein freundlicher oder mitfühlender Wunsch für dich sein? Auf dem Arbeitsblatt 6.3 kannst du deine Antworten notieren.

Übung: Freundlichkeitsmeditation – für alle Wesen

165

Welche Werte scheinen wie Fixsterne von deinem Himmel (Abb. 3) und geben dir Orientierung in deinen Lebensbereichen? Vielleicht gibt es auch einige Sterne, die besonders hell leuchten, die dir am wichtigsten sind? Und um herauszufinden, ob ein Wert tatsächlich dein Wert ist, gibt es zwei einfache Fragen, die du dir stellen kannst: 

• „Ist mir das wirklich wichtig, oder mache ich es nur, weil es sich so gehört oder weil andere es von mir erwarten?“ • „Würde ich es auch tun, wenn keiner davon erfahren würde?”

Wenn jemand versucht, einer anderen Person zu helfen, ohne dass dies allein aus der Erfüllung beruflicher Verpflichtungen entsteht, spricht man von „prosozialem Verhalten“. Auch dieses Verhalten wird – wie jedes Verhalten – von bestimmten Wertvorstellungen geleitet. Die Wissenschaft bestätigt zunehmend, was wir schon immer aus unseren Weisheitstraditionen wussten: dass prosoziale Werte am stärksten mit Glück12 verbunden sind. Was könnte passender sein, als nun die Übung der Freundlichkeitsmeditation auf die ganze Welt und alle Wesen ausdehnen und damit dieses Kapitel zu beschließen?

Übung: Freundlichkeitsmeditation – für alle Wesen (M6_22) Die Übung der Freundlichkeitsmeditation werden wir nun auf die ganze Welt und alle Wesen ausdehnen.

Übung

1. Ankommen Eine bequeme Haltung im Sitzen oder Liegen finden. … Das Gewahrsein öffnen für das, was sich jetzt zeigen möchte, … … freundlich anerkennen. … … Und dem Atem erlauben einen beruhigenden Rhythmus zu finden. 2. Freundlicher Wunsch für dich Du kannst dich nun fragen: Was wäre ein freundlicher Wunsch für mich jetzt? … Lauschen, ob etwas aus dem Herzen aufsteigt. … … Vielleicht ein spontaner Wunsch oder einer der traditionellen Wünsche. … … Und den Wunsch fließen lassen zu dir, … ihn schenken und empfangen. … 3. Freundlicher Wunsch für eine Gruppe Und wenn du möchtest, nun eine Gruppe auswählen, zu der du gehörst. Zum Beispiel deine Familie, deine Arbeitskollegen, deinen Sportverein, deine Meditationsgruppe, die Menschen auf deiner Straße, dein

12Klein

S (2014) Survival of the nicest. The Experiment, New York; Ricard M (2015) Altruism. Atlantic, London.

166

Modul 6: Glück nähren

Dorf, deine Stadt, dein Land. … Was wäre ein freundlicher Wunsch für diese Gruppe? … … … Den Wunsch sanft im beruhigenden Rhythmus des Atems wiederholen … „Mögen wir uns sicher fühlen, … gesund, … glücklich, … unbeschwert.“ Ein Wunsch, der gut passt für diese Gruppe. … … … Den Wunsch auf bequeme Weise wiederholen – vielleicht im Rhythmus des Atems oder unabhängig davon. … … … 4. Den Kreis ausweiten Wenn du möchtest, auch andere Gruppen einbeziehen. Vielleicht Gruppen, von denen du in den Nachrichten gehört hast, Menschen in anderen Ländern, anderen Teilen der Welt, Männer, Frauen, Kinder, ältere Menschen, Gruppen von Tieren. … … … Es darf spielerisch sein. Du musst nicht alle einbeziehen. … … Wenn du bemerkst, dass Überforderung da ist oder das Gefühl nichts ausrichten zu können, oder du dich vielleicht klein und unbedeutend fühlst, ist das immer eine Einladung zurückzukehren zum Selbstmitgefühl. Und wenn du wieder Raum dafür fühlst, kannst du dich wieder einer Gruppe zuwenden und einen freundlichen Wunsch dorthin fließen lassen. … … … Vielleicht bemerkst du, dass es gerade nicht so leicht ist, dich mit einer Gruppe zu verbinden. Dann kannst du damit experimentieren, das Gesicht eines Menschen aus dieser Gruppe, den oder die du vielleicht aus dem Fernsehen oder von einem Foto kennst, heran zu zoomen. Du kannst dir vorstellen, dass sich Eure Blicke treffen und dir bewusst machen, das dieses menschliche Wesen sich – genau wie du – wünscht glücklich zu sein und frei von Leid. … … … Freundlichkeit oder Mitgefühl zu diesem Menschen fließen lassen. … … … Dann auch wieder heraus zoomen, wenn du magst, und der ganzen Gruppe Freundlichkeit senden: … „Möget Ihr frei sein von Kummer und Leid, … unbeschwert leben können, … Frieden und Harmonie finden.“. Und wenn Zweifel aufsteigen, ob dein Wunsch überhaupt etwas bewirken kann, diese Gedanken und Gefühle achtsam anerkennen. Wir können nicht wissen, ob unsere Wünsche Effekte auf Andere, aber wir können bemerken, wie diese wohlwollende Haltung auf uns selbst wirkt. … … … Sanft anerkennen, was sich gerade zeigt … … und dich frei fühlen, dir selbst Freundlichkeit zu schenken, wenn du sie brauchst, … … so lange, bis du wieder Raum dafür fühlst, zu den Gruppen zurück zu kehren. … … … Du kannst diese Übung mit Freundlichkeit für alle Wesen, Menschen, Tiere, Pflanzen und Bäume beenden und alle Wesen im Universum einbeziehen, ganz gleich, ob sie in der Vergangenheit gelebt haben, in der Gegenwart oder zukünftig leben werden. Die Praxis der Freundlichkeit ist grenzenlos, weil unser Vorstellungsvermögen und unsere zartfühlenden Herzen grenzenlos sind. „Mögen sich alle Wesen sicher fühlen, … gesund, … glücklich, … mit Leichtigkeit leben.“ … „Mögen alle Wesen in Frieden mit sich selbst und untereinander leben..“

Tagebuch: Mitgefühl annehmen

167

Tagebuch: Mitgefühl annehmen Achte diese Woche auf Momente, in denen du Freundlichkeit und Mitgefühl von anderen annimmst. Wann geschieht dies, was erlebst du in diesen Momenten? Nutze das Arbeitsblatt 6.5 (Download), um deine Erfahrungen zu beschreiben. Reflexionsfragen (aus dem Arbeitsblatt 6.5)

• • • • •

Was genau geschah in der Situation? Wie und wann hast du bemerkt, dass du Mitgefühl annimmst? Welche Körperempfindungen hast du dabei bemerkt? Welche Gedanken und Emotionen kamen auf? Was nimmst du nun wahr, während du über diese Übung reflektierst?

Zusammenfassung Im sechsten Kapitel beschäftigen wir uns mit den grenzenlosen Qualitäten des Herzens, die wir als die „Vier Lebensfreunde“ bezeichnen: Liebevolle Freundlichkeit, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut. Wir vertiefen unsere Praxis, indem wir diese vier in der richtigen Balance kultivieren. Weiterhin erforschen wir, wie Glück wachsen kann, indem wir ein angenehmes, engagiertes und sinnerfülltes Leben führen und uns unserer Werte bewusstwerden. Außerdem beschäftigen wir uns mit der Bereitschaft zur Vergebung, die ein Weg sein kann, um Risse in unseren Beziehungen mit uns selbst oder mit anderen zu heilen.

Übungsvorschläge

Formal: • Nimm dir Zeit, die Übung „Genuss erinnern und auskosten (Audio-Datei M6_18)“ zu praktizieren • Erforsche einen oder mehrere Bereiche, in denen es um die Bereitschaft zur Vergebung geht: Sich selbst verzeihen, um Verzeihung bitten, einem anderen Menschen verzeihen (Audio-Dateien M6_19, 20 und 21). • Erweitere die „Freundlichkeitsmeditation“ auf Gruppen und schließlich die ganze Welt und alle Wesen (Audio-Datei M6_22). • Reflektiere über Dankbarkeit (Arbeitsblatt 6.2), den „Lotus aus dem Schlamm“ und deine Werte (Arbeitsblatt 6.3). • Fühle dich frei, die Übungen aus den bisherigen Kapiteln zu praktizieren, wenn du den Eindruck hast, dass dies wertvoll für dich ist. Informell: • Praktiziere regelmäßig den „Atemraum mit Freundlichkeit“ (Audio-Datei M1_01), aus dem ersten Kapitel und bei Bedarf auch den „Atemraum mit

168

Modul 6: Glück nähren

Mitgefühl bei emotionalem Schmerz“ aus Kap. 2 (Audio-Datei M2_05) oder die „Selbstmitgefühls-Erinnerung“ aus Kap. 2 oder den „Atemraum mit mitfühlendem Atmen“ aus Modul 5. • Tagebuchübung: sei dir täglich bewusst, wenn du Mitgefühl empfängst. Dies kannst du auf dem Arbeitsblatt 6.4 (Download) notieren.

Arbeitsblätter zum Herunterladen für Modul 6: 6.1 Dir selbst verzeihen 6.2 Dankbarkeit 6.3 Deine Werte 6.4 Tagebuch: Mitgefühl empfangen

Extra Modul in Stille Zwischen dem sechsten und siebten Modul eines MBCL-Trainings wird üblicherweise eine extra Übungseinheit angeboten, in der wiederholt und vertieft wird, was bis dahin gelernt wurde. Dieses Modul wird in Stille durchgeführt, d. h. die Übungen werden zwar angeleitet, aber die Teilnehmenden tauschen sich nicht direkt über ihre Erfahrungen aus, wie dies in anderen Modulen der Fall ist. Dieses Modul in Stille kann den gleichen zeitlichen Umfang wie die anderen Trainingsmodule des Kurses haben. Wir empfehlen jedoch, sich etwas mehr Zeit zu nehmen. Ein halber oder ganzer Übungstag, wie in MBSR-Kursen üblich, ist ideal. Falls du dieses Buch als Selbsthilfebuch nutzt und den MBCL-Kurs in eigener Regie durchführst, kannst du dieses extra Stille-Modul individuell zusammenstellen und als Mini-Retreat zu Hause durchführen. Du kannst dafür die Übungsbeschreibungen im Buch und die Audio-Dateien nutzen. Im MBCL-Kurs wird deine Lehrerin oder dein Lehrer die Inhalte zusammenstellen und dabei Übungen im Sitzen, Liegen und in der Bewegung miteinander kombinieren.

Beispiel für den möglichen Ablauf einer Übungseinheit in Stille (4 h)

• Sitzmeditation: Freundlichkeitsmeditation – für dich selbst/einen Wohltäter/einen guten Freund (20 min) • Achtsame Bewegungsübungen (10 min) • Gehmeditation: Liebevolle Freundlichkeit für dich/neutrale Personen (10 min) • Übung im Liegen: Vorstellungsübung „Ein sicherer Ort“/„Ein mitfühlender Gefährte“/„Mitgefühl verkörpern“ (25 min) • Sitzmeditation: Liebevolle Freundlichkeit für dich selbst/schwierige Person im Wechsel mit „Mitfühlendem Atmen“ (25 min)

Übung: Body-Scan mit Dankbarkeit

169

• Achtsames Genießen (Pause in Stille mit Tee/Kaffee/leichtem Essen) gefolgt von einem „Genussspaziergang“ (insgesamt 60 min) • Sitzmeditation: „Genuss erinnern und auskosten“ (20 min) • Übung im Liegen: „Freundlichkeit für den Körper“ oder „Body-Scan mit Dankbarkeit“ (20 min) • Sitzmeditation: Vorstellungsübung „Der Pferdeflüsterer“ (siehe nachfolgende Anleitung) oder „Der Fluss des Lebens“ aus Modul 8 (25 min) • Achtsame Bewegungsübungen (10 min) • Sitzmeditation: Freundlichkeitsmeditation – für alle Wesen (15 min) Wenn du dieses Modul alleine durchführst, fühle dich frei, den Ablauf und die Übungen nach deinen Bedürfnissen zu kombinieren und durch stille, ungeführte Achtsamkeitspraktiken zu ergänzen. Du kannst die Audio-Dateien nutzen oder dich selbst anleiten. Falls du gemeinsam mit anderen zu Hause praktizieren möchtest, könnt ihr euch auch mit dem Anleiten abwechseln. Ein Timer und eine Klangschale oder Glocke sind dabei unterstützend. Eine Übung, die wir auch während des Stille-Moduls anbieten, ist eine Variante des Body-Scans, den du wahrscheinlich aus dem Achtsamkeitstraining kennst.

Übung: Body-Scan mit Dankbarkeit (M6_23) Übung

1. Ankommen Einen ruhigen Ort für diese Übung finden, wo du dich hinlegen möchtest. … … … Der Körper darf es bequem haben, warm und gut gestützt. … … Wenn du nicht lange liegen kannst, fühl dich frei deine Haltung zu verändern und an deine Bedürfnisse anzupassen. … … Vielleicht möchtest du auch sitzen oder halb liegen, unterstützt von Kissen. … … … In dieser Übung bist du eingeladen, mit der Aufmerksamkeit durch jeden Teil des Körpers zu wandern – so, wie du das auch schon vom Body-Scan kennst. … Diesmal mit besonderem Augenmerk darauf, eine tiefe Wertschätzung und Dankbarkeit für den Körper zu entwickeln. Beginnen, indem du den Körper bewusst wahrnimmst, wie er jetzt hier ist. … … Die Oberfläche spüren, auf der er liegt … und vielleicht die sanften Empfindungen von Luft, … … von Stoffen, die ihn einhüllen. … …. Dich der Schwerkraft hingeben, … … Spannung loslassen, die jetzt nicht nötig ist, … … … dem Körper erlauben sich zu entspannen, zu beruhigen … …. und darauf vertrauen, dass du gehalten bist, ohne dich anstrengen zu müssen. … … … Den Körper als deinen treuen Begleiter wertschätzen, … … in seiner Unvollkommenheit, … verletzlich, manchmal krank und älter werdend. … … …. Dem Körper erlauben, einfach hier zu sein … … in deinem freundlichen und fürsorglichen Bewusstsein zu ruhen, wie in einer Wiege

170

Modul 6: Glück nähren

… … … und ihn den Frieden und die Stille genießen lassen, die entsteht, wenn er einfach so sein kann, wie er ist. … … … 2. Füße Und dann langsam die Aufmerksamkeit zu den Füßen bringen, … sie willkommen heißen … und alle Empfindungen bemerken, die sich dort zeigen. … … Empfindungen von Temperatur oder Berührung, Leichtigkeit oder Schwere, Energie oder Vibration. … … … Du kannst dir klar machen, wie diese Füße deinen Körper an so viele Orte getragen haben … … seit du laufen gelernt hast – bis heute. … … … Was könntest du diesen Füßen wünschen? … … … Den ruhigen Rhythmus des Atems spüren, … … die Aufmerksamkeit behutsam mit dem Einatmen zu den Füßen fließen lassen, … … … sie spüren … … … und ihnen mit dem Ausatmen einen freundlichen oder wertschätzenden Wunsch schenken. … …. … Zum Beispiel: „Möget ihr stark und gesund sein.“ … oder: „Möget ihr euch wohl fühlen.“ … oder: „Danke, dass ihr mich Tag für Tag getragen habt.“. … … Als ob sie gute Freundinnen/Freunde wären, … …. … ihnen von Herzen das Allerbeste wünschen, … … … sie für all das, was sie für dich getan haben, wertschätzen … … … und achtsam bemerken, wie sie diese Freundlichkeit und Wertschätzung annehmen können. … … … 3. Beine Dann weiter wandern mit der Aufmerksamkeit und die ganzen Beine spüren, … mit den Knöcheln … Unterschenkeln, … Knien, … Oberschenkeln, … Hüften. … … … Und sie alle wertschätzen für das, was sie dir ermöglichen: stehen, gehen, klettern, Rad fahren, vielleicht tanzen. … … … Jeden Teil deiner Beine spüren: die Knochen, … … Muskeln, … … Gelenke. … … Und Freundlichkeit und Dankbarkeit zu all diesen Teilen fließen lassen, … … … … Wellen der Freundlichkeit und Dankbarkeit durch die Beine hindurchfließen lassen, … wenn du möchtest im Rhythmus des beruhigenden Atems … … und spüren, wie dies empfangen werden kann. … … … 4. Becken und Wirbelsäule Dann weiter wandern und das Becken und die Wirbelsäule spüren, … … … dir bewusst machen, wie sie dich mit ihrer Kraft und Flexibilität aufrecht halten und Gleichgewicht ermöglichen … … und ihnen Freundlichkeit und Dankbarkeit schenken. … … … 5. Rumpf Dann weiter zum Bauch und Brustkorb wandern, … … sanft Kontakt aufnehmen mit den inneren Organen … … und dir bewusst machen, wie sie dir Tag für Tag ermöglichen lebendig zu sein, … … von dem Moment deiner Entstehung bis jetzt, … … … dieses wunderbare Verdauungssystem, das Nährstoffe aus dem Essen aufnimmt, und Dinge, die nicht gebraucht werden, ausscheidet. … … … Die Nieren, die ein Gleichgewicht von Mineralien und Flüssigkeiten ermöglichen, … … … die Lungen, die die

Übung: Body-Scan mit Dankbarkeit

171

Luft ein- und ausatmen, … … ein ständiger Austausch mit der Umwelt, mit anderen Lebewesen, … … … dein Herz und die Gefäße, durch die das Blut durch den Körper fließt und alle Organe und Teile des Körpers ernährt und entgiftet. … … … All diese Körperteile sanft wahrnehmen und wertschätzen, … … ihnen Freundlichkeit und Dankbarkeit anbieten … und bemerken, wie dies empfangen wird. … … … Selbst wenn Funktionen geschwächt oder verloren gegangen sind, kannst du diese Teile immer noch für das wertschätzen, was sie in deinem Leben ermöglicht haben, … ihnen Dankbarkeit dafür senden, wie sie dir gedient haben … und für das, was sie dir jetzt bedeuten. … … … Diese leidenden Teile des Körpers können eine Einladung sein, deine Mitgefühlspraxis zu vertiefen. … … … 6. Arme Dann weiter nach oben zu den Armen wandern … und die Schultern, Arme, Hände, Finger spüren. … … … Sie wertschätzen dafür, dass sie es dir ermöglichen, dich zu bewegen, Dinge zu tragen, vielleicht ein Instrument zu spielen, Gesten zu machen, zu berühren und zu fühlen, zu schreiben. … … … Und mit jedem Atemzug Freundlichkeit und Dankbarkeit zu ihnen fließen lassen. … … … Und bemerken, was in dir geschieht, wenn du auf diese Weise gibst … … und empfängst. … … … 7. Kopf Weiter fließen mit der Aufmerksamkeit zum Kopf … …. und mit Wertschätzung den Hals und den Kehlkopf spüren … den Mundraum, Kiefer, Zunge, Zähne. … … Körperteile die es dir ermöglichen zu essen, zu sprechen, zu schmecken. … … … Die Muskeln im Gesicht, mit denen du ausdrücken kannst, was du fühlst, … … … die Nase, mit der du atmest und riechst, … …. die Augen, mit denen du sehen kannst, … … die Ohren, die es dir ermöglichen zu hören. … … … Dankbarkeit zu all diesen Bereich fließen lassen, … … einsinken lassen. … … … Und auch das Innere deines Kopfes spüren: das Gehirn, das jeden Moment Eindrücke verarbeitet, die hineinkommen und hinaus gehen, … … … … das über das komplexe Nervensystem mit allen Teilen des Körpers kommuniziert. ……… 8. Haut Dann die Haut spüren, die den Körper einhüllt, … … die ihn vor Einflüssen aus der Umwelt schützt, … … … das wahrnehmen von Kontakt, Textur, Temperatur ermöglicht. … … … Vielleicht ist sie glatt, vielleicht faltig oder vernarbt, … …. … mit tiefer Freundlichkeit und Wertschätzung deine Haut spüren. … … … 9. Ganzer Körper Dann die Aufmerksamkeit auf den ganzen Körper ausweiten, und Milde, Freundlichkeit zu jeder Zelle fließen lassen, … … … vielleicht getragen vom Rhythmus des Atems. … … … Dir eine Welle der Wertschätzung und Dankbarkeit vorstellen, die mit jedem Atemzug durch den Körper

Modul 6: Glück nähren

172

fließt, … vom Kopf bis zu den Zehenspitzen … und wieder zurück, … … … oder wenn sich das für dich natürlicher anfühlt: von der Körpermitte zur Haut und wieder zurück. … … … Dem Körper erlauben sich auszuruhen, in einem heilsamen Bad von Freundlichkeit, von Wertschätzung, von Mitgefühl und Dankbarkeit. … …… Du kannst dir Zeit lassen, die Übung in aller Ruhe zu beenden, … … … vielleicht die Finger und Zehen ein wenig bewegen, … spüren, was der Körper braucht, … … wie er bewegt werden möchte. … … … Und wenn du möchtest, ihm noch ein paar achtsame Dehnungen schenken, bevor du zurückkehrst in deinen Tag. Eine andere Übung während dieses Extra-Moduls basiert auf einer Metapher, die durch eine Erzählung von Nicholas Evans13 inspiriert ist, die auch verfilmt wurde: der Pferdeflüsterer. Aus didaktischen Gründen haben wir eine vereinfachte Version dieser Geschichte genutzt, die auf viele Details des Originals verzichtet und dafür andere Aspekte hervorhebt. Die Audio-Datei heißt „Sitzen wie ein Pferdeflüsterer“ (M6_24).

Übung: Sitzen wie ein Pferdeflüsterer (M6_24) Diese Übung kannst du im Sitzen oder Liegen praktizieren. Gib zunächst der Achtsamkeit Raum und lade auch einen beruhigenden Atemrhythmus ein. Und dann lasse mit entspannter Aufmerksamkeit folgende Geschichte auf dich wirken:

Übung

Ein Mädchen, das mit ihrem Pferd durch den Schnee reitet, wird durch einen riesigen Lastwagen angefahren. Obwohl das Mädchen und das Pferd schwer verletzt werden, überleben sie dieses Unglück. Das Pferd ist jedoch so traumatisiert, dass das Mädchen nach dem Unfall keinen Kontakt mehr herstellen kann zu dem Tier. Das Pferd ist zu ängstlich geworden und dem Mädchen fällt es sehr schwer zu akzeptieren, was geschehen ist und mit ihren Verletzungen zurechtzukommen. Die Mutter des Mädchens geht für ihre Tochter und das Pferd auf die Suche nach Hilfe und Heilung und entdeckt, dass es einen sogenannten „Pferdeflüsterer“ gibt. Ein Mann, der eine besondere Gabe hat, mit Pferden umzugehen. Sie macht mit ihrer Tochter und dem Pferd eine weite Reise zu dem abgelegenen Ort, wo der Pferdeflüsterer wohnt und schildert ihm das

13Evans

N (2009) The Horse Whisperer. Delacorte Press, New York.

Übung: Sitzen wie ein Pferdeflüsterer

173

Problem. Er ist ein Mann, der wenig Worte verliert. Er übernimmt den Pferdeanhänger und fährt zu einer stillen und weitläufigen Wiese. Dort öffnet er den Anhänger und das Pferd springt augenblicklich heraus und rennt weit weg. Der Pferdemann macht sich dann auf eine sehr außergewöhnliche Art an die Arbeit und unternimmt keinen Versuch, um das Pferd einzufangen. Stattdessen sitzt oder steht er ruhig und gelassen irgendwo auf der Wiese: „Ich kann hier endlos lange bleiben, ich werde nicht weggehen und ich werde auch nicht näherkommen.“ Ab und zu flüstert er sanft etwas – sonst tut er nichts. Das Pferd, das ein sehr scharfes Gehör hat, ist doch fasziniert von dem einzigen lebendigen Wesen in der Nähe und kommt langsam, Schritt für Schritt, näher. Auch als das Pferd nur noch wenige Meter entfernt ist, unternimmt der Pferdeflüsterer keinen einzigen Versuch, das Pferd zu fangen. Erst als das Pferd selbst mit seiner Nase den Mann an der Schulter, am Arm und am Hut berührt, gibt er dem Pferd einen sanften Klaps oder streichelt es. Natürlich erschrickt das Pferd zu Beginn und zieht sich wieder etwas zurück – für den Pferdemann ist das jedoch in Ordnung. Er bleibt einfach sehr geduldig und in sich ruhend wo er ist und flüstert ab und zu etwas Freundliches. Als das Pferd schließlich selbst Kontakt aufnimmt und den Kopf auf der Schulter des Mannes ruhen lässt, erlaubt es ihm, seinen Hals zu streicheln. Anscheinend kommt das Pferd so mehr und mehr zur Ruhe und gewinnt allmählich Vertrauen zu dem Mann. Er kann sich dem Pferd nun nähern und es irgendwann sogar satteln und reiten. Das Mädchen, das nun versteht, weshalb der Mann „Pferdeflüsterer“ genannt wird, lernt, wie sie auch wieder mit dem Tier in Kontakt kommen kann: mit Geduld und Freundlichkeit. Sie ist überglücklich, als das Pferd sie schließlich auch wieder als Reiterin akzeptiert und ihre Freundschaft wiederhergestellt ist. Möglicherweise ist diese Geschichte ein inspirierendes Bild und du kannst dir vorstellen, selbst so zu sitzen, wie ein Pferdeflüsterer. Alles was du erlebst, Gedanken, Emotionen, Geräusche, Körperempfindungen, kannst du als Pferde betrachten. Als ob sich alle deine Erfahrungen auf einer grenzenlos großen Wiese frei bewegen könnten. Manchmal kommt nur eine einzige Erfahrung, manchmal sind es mehrere. Manchmal sind sie ganz ruhig … und manchmal wild und ungestüm. Du brauchst alle diese Erfahrungen weder zu fangen noch wegzuscheuchen, sondern kannst sie freundlich und gelassen begrüßen, wenn sie da sind und so lange sie da sind. Du bist da, wenn sie dich besuchen kommen. … In einem Moment sind es vielleicht Gedanken, die du sanft begrüßen und freundlich streicheln kannst, im nächsten Moment vielleicht das Hören oder das Fühlen streicheln, ohne, dass du dabei etwas festhalten oder loswerden müsstest.

174

Modul 6: Glück nähren

Manchmal kann da auch eine ganze Herde von Pferden sein. Auch die brauchst du nicht unter Kontrolle zu bringen, sondern kannst sie einfach ruhig begrüßen und benennen, indem du z. B. innerlich sagst: „Geschäftigkeit“. Und wenn es manchmal keine Erfahrungen gibt, dann kannst du ruhig anwesend sein im ‚Stall der Achtsamkeit‘ und dich verbinden mit den Bewegungen des Atems. So kannst du sitzen wie ein Pferdeflüsterer, … oder eine Pferdeflüstererin. Und besonders wenn sich ein verletzter, schüchterner oder misstrauischer Teil deiner Selbst zeigt, ist es hilfreich, sich an die Weisheit und die Geduld des Pferdeflüsterers zu erinnern. Es gibt noch eine zweite wertvolle Perspektive in dieser Übung, nämlich die Perspektive des Pferdes. Manchmal spüren wir ein Gebiet in unserem Leben wo es viel Schmerz und Härte gibt. Und genau wie das Pferd sich nicht zwingen lässt, so können wir solche Gebiete in unserem Leben auch nicht zwingen sich zu beruhigen. Aber wenn so ein Gebiet angenommen werden kann wie es ist und ihm freundlich und geduldig zugesprochen wird, dann fühlt so ein verletzlicher Anteil vielleicht irgendwann den Raum von selbst näher zu kommen … und berührt deinen Geist und dein Herz. Und dann kannst auch du diesen inneren Anteil sanft berühren, ohne etwas zu erzwingen, … dich um ihn kümmern, ihn willkommen heißen. Und in Momenten, in denen sich nichts deutlich zeigt, kannst du dich mit den Atembewegungen verbinden. Und du kannst so noch sitzen bleiben, mit der Geduld und dem Gleichmut eines Pferdeflüsterers, einer Pferdeflüstererin, … so lange du willst. Diese Geschichte ist eine Metapher dafür, wie sich eine mitfühlende Haltung in eine gleichmütige Haltung verwandeln kann. Auf diese Weise können wir mit verletzten Anteilen in uns in Kontakt kommen, die bislang noch vor freundlichen Berührungen zurückgeschreckt sind. Wir üben so gelassen und geduldig wie ein Pferdeflüsterer oder eine eine Pferdeflüstererin zu praktizieren, um eine Heilung unserer inneren Beziehung zu ermöglichen.

Elektronisches Zusatzmaterial M6_18 Genuss erinnern und auskosten M6_19 Dir selbst verzeihen M6_20 Um Verzeihung bitten M6_21 Anderen verzeihen M6_22 Freundlichkeitsmeditation – für alle Wesen M6_23 Body-Scan mit Dankbarkeit M6_24 Sitzen wie ein Pferdeflüsterer

Modul 7: Weisheit und Mitgefühl im Alltag Heartful mind, mindful heart

Die Entwicklung von Mitgefühl und Weisheit geschieht nicht von heute auf morgen. (S. H. Dalai Lama)

Nun, wo wir uns allmählich dem Ende des Kurses nähern, wollen wir erforschen, wie wir die Praktiken dieses Trainingsprogramms mehr und mehr mit dem täglichen Leben verbinden können. Es geht ja nicht nur darum, formal auf dem Meditationskissen Mitgefühl zu praktizieren, sondern dieser Herzensqualität auch informell im Alltag mehr Raum zu geben. Wenn wir Mitgefühl mit uns selbst und anderen üben, beginnen wir unsere Gefühle auf eine neue, heilsamere Art und Weise zu regulieren. Ebenso verändert sich durch diese Entscheidung auch unsere innere Haltung und die Motivation, aus der heraus wir handeln. Da wir jedoch viele unserer alltäglichen Aktivitäten unbewusst und im Autopiloten-Modus ausführen, ist es hilfreich, hier mehr Licht ins Dunkel zu bringen. Die nun folgende Übung lädt dich dazu ein, einen „normalen“, durchschnittlichen Tag in deinem Leben vor diesem Hintergrund einmal etwas näher zu betrachten und zu erkunden, wie das Praktizieren von Mitgefühl deinen Alltag bereichern kann.

Übung: Ein Tag in deinem Leben Übung

Erlaube dir zunächst einige Minuten, um achtsam innezuhalten und einen beruhigenden Atemrhythmus zuzulassen. Nimm dann ein Blatt Papier zur Hand und unterteile es in drei Spalten. Die linke Spalte ist dabei breit, die Zusatzmaterial online Zusätzliche Informationen sind in der Online-Version dieses Kapitel (https://doi. org/10.1007/978-3-658-26824-4_8) enthalten. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Stocker et al., Mitgefühl üben, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26824-4_8

175

176

Modul 7: Weisheit und Mitgefühl im Alltag

mittlere und die rechte Spalte schmaler. Du kannst dafür ein A4-Papier im Hochformat in der Mitte senkrecht falten und dann die rechte Hälfte nochmals in der Mitte durch einen Falz senkrecht unterteilen. Die einfachste Möglichkeit besteht darin, das Arbeitsblatt 7.1 für diese Übung herunterzuladen und zu nutzen. 1. Aktivitäten des Tages auflisten Schreibe in der linken, breiten Spalte die Aktivitäten eines durchschnittlichen Tages untereinander. Beginne mit dem Aufwachen und ende mit dem zu Bett gehen. 2. Rechte Spalte: Fürsorge für dich selbst Schreibe nun über die rechte Spalte „Fürsorge für mich selbst“ und darunter die Zahlen 1–5 (1 steht für „überhaupt nicht“ und 5 steht für „wirklich sehr“). Kreuze dann Zeile für Zeile an, inwieweit du diese Aktivität aus Fürsorge, Mitgefühl oder Freundlichkeit für dich selbst verrichtest. Wenn du am Ende des Tages angelangt bist, knicke diese Spalte nach hinten, sodass du sie nicht mehr sehen kannst. 3. Mittlere Spalte: Fürsorge für andere Schreibe nun über die mittlere Spalte (die nun noch neben der Spalte mit den Aktivitäten sichtbar ist) „Fürsorge für andere“ und auch jeweils die Zahlen 1–5 (1 steht für „überhaupt nicht“ und 5 steht für „wirklich sehr“). Kreuze dann Zeile für Zeile an, inwieweit du diese Aktivität aus Fürsorge, Mitgefühl oder Freundlichkeit für andere verrichtest. Wenn du fertig bist, falte das Blatt wieder vollständig auf, sieh dir deine Liste noch einmal in aller Ruhe an und lasse sie auf dich wirken. Bemerke achtsam, welche Reaktionen dabei in dir aufsteigen und nimm dir dann Zeit, um über eine Reihe von Fragen zu reflektieren.

Reflexionsfragen

• Sind die Werte, die du angekreuzt hast, in beiden Spalten gleich? Sind die Ziffern für „Selbstfürsorge“ und „Fürsorge für andere“ bei spezifischen Aktivitäten gleich oder unterscheiden sie sich? • Gibt es eine Balance zwischen „Dich-um-dich-selbst-kümmern“ und „Dich-um-andere-kümmern“? Und wie zufrieden bist du mit der Gewichtung, die „Selbstfürsorge“ und „Fürsorge für andere“ in deinem Alltag haben? • In welcher Beziehung stehen hohe bzw. niedrige Werte zu deinem Energieoder Stress-Level? Was nährt oder erfrischt dich? Was zehrt oder macht dich müde? • Erinnere dich daran, dass die drei emotionalen Regulationssysteme auch Motivationssysteme genannt werden. Welches der drei Systeme (Alarm-, Antriebs- oder Beruhigungssystem) zeigt sich vielleicht mehr in deinem

Übung: Was nährt, was zehrt?

• • • •

177

Alltagshandeln? Gibt es vielleicht bestimmte Stressreaktionen oder innere Muster, die du darin erkennst? Spürst du vielleicht einen inneren Kritiker, Antreiber oder Helfer in dir, während du diese Tätigkeiten verrichtest? Was motiviert dich auf einer tieferen Ebene zu diesen Handlungen? Sind sie im Einklang mit deinen Kernwerten? Geht es bei diesen Aktivitäten um „Ich-zuerst“, „Du-zuerst“ oder „Wir-zusammen“? Könntest du vielleicht mehr Freundlichkeit und Mitgefühl in deinen Alltag bringen, indem du bestimmten Alltagstätigkeiten mehr oder weniger Raum gibst? Falls es schwierig ist, das, was du tust, zu verändern, ist es dir dann vielleicht möglich, das „Wie“, also die Haltung und Motivation hinter der Aktivität, zu verändern? Was könnte dich dabei unterstützen, es „mit Liebe“ zu tun?

Da in Wirklichkeit kein Tag wie der andere ist, laden wir dich ein, diese Übung zu einem späteren Zeitpunkt gelegentlich zu wiederholen, wenn vielleicht ganz andere Aktivitäten auf der Tagesordnung stehen. Wende dich dann auch noch einmal neu den oben stehenden Reflexionsfragen zu. Nicht immer bestätigen unsere Erfahrung und die achtsame Reflexion unsere (Vor-)Urteile über eine bestimmte Aktivität.

Übung: Was nährt, was zehrt? Auch wenn es manchmal notwendig ist, Dinge aus dem Alarm- oder Antriebsmodus heraus zu tun, kostet das doch eher Kraft. Selbst Aktivitäten, die auf den ersten Blick eigentlich selbstfürsorglich oder nährend wirken, können sich bei näherer Betrachtung als Energieräuber entpuppen. Das hängt häufig damit zusammen, dass diese Aktivitäten hauptsächlich dafür verwendet werden, etwas Angenehmes zu erreichen oder etwas Unangenehmes zu vermeiden. Hier einige Stimmen von Kursteilnehmerinnen und Kursteilnehmern 

Michael  bemerkt nach der Übung „Ein Tag in deinem Leben“, dass die Aktivität „abends gemütlich auf der Couch fernsehen und dabei mit den Kumpels via Handy chatten“, die er zunächst als sehr nährend eingestuft hatte, eigentlich weder nährend für ihn selbst, noch fürsorglich für seine Freunde war. Im Rahmen der Übung wurde ihm plötzlich bewusst, dass das Gegenteil der Fall war: sein Antriebsmodus ließ ihn parallel Neuigkeiten aus dem Weltgeschehen und aus dem Bekanntenkreis hinterherjagen. Gleichzeitig war auch der Alarmmodus aktiv, da er befürchtete den Anschluss zu verlieren, wenn er nicht pausenlos mit den Freunden in Kontakt war. Er beschließt, zukünftig nicht mehr gleichzeitig fernzusehen und zu chatten, sondern eher ab und zu auf seinen Atem zu achten und ihm zu erlauben, in einen beruhigenden Rhythmus zu finden. Seinen Freunden will er mitteilen, wann er Zeit zum Chatten hat.

178

Modul 7: Weisheit und Mitgefühl im Alltag

Christina berichtet, dass sie derzeit eine kranke Kollegin vertrete und daher viele Überstunden mache. Sie dachte zunächst, dies sei sehr mitfühlend für andere und wenig mitfühlend für sich selbst. Nach eingehender Reflexion wurde ihr aber deutlich, dass sie auch der Firma und dem Chef Ihre Loyalität zeigen wollte (Du-zuerst-Motivation) und auf eine Beförderung hoffte (Ich-zuerst-Motivation). Sie wird sich klar darüber, dass die vielen Überstunden sie auf Dauer sehr auslaugen und dass sie damit riskiert, als nächste in Ihrem Team auszufallen. Darunter würden nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Firma und ihre Familie leiden. Wenn sie jedoch ein besseres Gleichgewicht wiederherstellt, d. h. mehr Pausen zulässt und dem Beruhigungssystem mehr Raum gibt, kümmert sie sich nicht nur um sich selbst, sondern auch ihre Familie, ihr Chef, die Firma und deren Kunden werden davon profitieren (Wir-zusammen-Motivation). Sie beschließt weniger Überstunden zu machen und mit ihrem Vorgesetzten darüber zu sprechen, weshalb diese Selbstfürsorge am Ende für alle Beteiligten vorteilhafter ist. Kathrin erzählt, dass sie normalerweise unter Zeitdruck den Hund ausführt, bevor sie zur Arbeit geht. Sie gab dieser Situation eine hohe Punktzahl bei der Fürsorge für den Hund und eine niedrige Punktzahl bei der Selbstfürsorge. Bei der Reflexion merkt sie jedoch, dass ihr dank ihres Hundes eine wunderbare Möglichkeit geboten wird, den Tag mit einem achtsamen Genussspaziergang zu beginnen, der auch freundlich und fürsorglich für sie selbst ist. Dies kann auch dem Rest des Tages eine achtsamere und freundlichere Note verleihen. Es muss sie keine zusätzliche Zeit kosten, es ist lediglich ein Wechsel der Motivation. Markus fährt, wie er berichtet, mit dem Fahrrad zur Arbeit, anstatt das Auto zu nehmen. Im Bereich Selbsfürsorge gibt er sich dafür die volle Punktzahl, weil es ihn fit hält. Er gibt dieser Tätigkeit allerdings keine Punkte im Bezug auf „Mitgefühl für andere“. Doch seine Reflexionen während der Übung lassen ihn erkennen, dass seine Fitness doch auch anderen dient. Sie lässt ihn in besserer Stimmung zur Arbeit kommen, sodass er für seine Kollegen und Kunden besser da sein kann. Außerdem ist das Radfahren eine Art und Weise, sich umweltfreundlich fortzubewegen. Bei genauerer Betrachtung erkennt Mark, dass diese Aktivität überhaupt nicht egoistisch ist. Er freut sich, dass seine Motivation für das Radfahren mit dem in Einklang steht, was er schätzt, nämlich mit Menschen in Verbindung zu sein und sich um den Planeten zu kümmern. Claudia ist alleinerziehend und spricht darüber, dass sie es schwierig findet, ihre beiden kleinen Kinder nach einem arbeitsreichen Tag ins Bett zu bringen. Sie sind immer laut und ausgelassen, gerade dann, wenn Claudia sich verzweifelt nach etwas Ruhe und Frieden sehnt. Sie verliert dann oft die Beherrschung und fühlt sich danach schuldig. Sie hat diese Aktivität „Kinder ins Bett bringen“ auf beiden Seiten niedrig

Übung: Was nährt, was zehrt?

179

bewertet und weint, als sie gefragt wird, wie diese Punktzahl im Verhältnis zu dem steht, was ihr im Leben wirklich wichtig ist. Zweifellos sind ihre Kinder für sie das Allerwichtigste und den Tag in Harmonie zu beenden, wäre natürlich viel besser. Sie beschließt, ihren beiden Kleinen ab jetzt abends mehr Zeit zu schenken und sie zu ermuntern, über ihren Tag zu berichten. Außerdem möchte Claudia ihnen eine Geschichte vorlesen. Auf diese Weise kann das Zubettbringen für alle nährend sein.

Auch Aktivitäten, die dazu dienen, anderen zu helfen, können sehr kräftezehrend sein, wenn sie aus einer „Du-zuerst“-Motivation entspringen oder durch die automatische Reaktion von „tend & befriend“ motiviert sind und eigene Bedürfnisse dadurch vernachlässigt werden. Wenn helfende Handlungen durch eine „Ich-zuerst“-Motivation bestimmt sind, geht es oft eher darum, gemocht zu werden oder eine Belohnung zu erhalten. Auch die Angst, ignoriert oder zurückgewiesen zu werden kann dabei eine Rolle spielen. In Tab. 1 findest du die drei Motivationssysteme, deren Motivation, ihren Fokus der Aufmerksamkeit und das charakteristische Verhalten noch einmal in einer kurzen Übersicht. Vom Ego-System zum Öko-System Mit jedem Atemzug stehen wir im Austausch mit anderen lebenden Wesen und dem Rest der Welt. Wenn wir uns selbst und andere als miteinander verbunden und wechselseitig auf einander angewiesene Wesen sehen können, stellen wir häufig fest, dass Fürsorge für andere ähnlich wichtig ist, wie Fürsorge für uns selbst. Kümmern wir uns weise und mitfühlend um uns selbst, können auch andere davon profitieren. Kümmern wir uns weise und mitfühlend um andere, werden auch wir selbst davon profitieren. Tab. 1  Die drei Motivationssysteme Motivation

Aufmerksamkeit

Verhalten

Alarmsystem

Schutz & Sicherheit

Kämpfen, flüchten, Fokussiert (auf die „Stöcke“, d. h. erstarren (Ich-zuerst) auf die Bedrohung) Tend & befriend (Du-zuerst)

Antriebssystem

Belohnung & Besitz

Fokussiert (auf die „Karotte“, d. h. auf die Belohnung)

Beruhigungssystem

Ruhe & Geborgenheit Offen Ausruhen & Verdauen Soziale Verbindung (Sowohl auf interne (Wir-zusammen) wie auch externe Phänomene, für einen selbst und andere)

Jetzt zugreifen! (Ich-zuerst)

180

Modul 7: Weisheit und Mitgefühl im Alltag

Untersuchungen haben gezeigt, dass Paarbeziehungen besser gedeihen und länger bestehen, wenn die Partner sich mehr um ihre gemeinsame Beziehung und die gemeinsamen Bedürfnisse kümmern als um die individuellen Bedürfnisse des Einzelnen1. Die „Wir-zusammen-Motivation“ oder das „Ökosystem“ bringt also auf lange Sicht mehr Vorteile als die „Ich-zuerst- “ bzw. „Du-zuerst-Motivation“ des einzelnen „Ego-Systems“. Diese Tatsache gilt wahrscheinlich auch für alle anderen Beziehungen. Wenn wir die Welt zu einem besseren Ort machen möchten, gibt es keine geeignetere Stelle, um damit zu beginnen, als bei uns selbst. Nicht, indem wir uns selbst weiterhin als Ego-System begreifen, sondern als Teil eines größeren Öko-Systems. Ego-Systeme müssen sich ständig gegen andere Ego-Systeme verteidigen. Gesunde Öko-Systeme hingegen lassen einen flexiblen Austausch ihrer Bewohner und das Teilen von Ressourcen zu. So können alle gedeihen.

Von formaler zu informeller Praxis Im bisherigen Verlauf dieses Trainings hast du eine ganze Reihe von formalen Übungen kennengelernt, die du zu Hause auf dem Kissen oder der Matte üben kannst. Die informellen Übungen, wie z. B. die Selbstbeobachtung im Alltag (Tagebuchübungen), die verschiedenen Formen des Atemraumes und die Selbstmitgefühls-Erinnerung können leicht zwischendurch praktiziert werden. Diese kürzeren Übungen sind das Bindeglied zwischen der formalen Praxis und dem Alltag, sodass sich allmählich immer öfter Freundlichkeit und Mitgefühl dort zeigen, wo du sie am meisten benötigst: im „echten“ Leben. Es gibt jedoch noch unzählige weitere Möglichkeiten, wie wir die formale Praxis von Mitgefühl, Freundlichkeit, Mitfreude und Gleichmut in unser tägliches Leben einfließen lassen können. Hier einige Beispiele: • Du kannst mit Gleichmut anerkennen, wenn du aus dem Alarm- oder Antriebssystem heraus mit Ungeduld reagiert hast, wenn eigentlich Geduld hilfreich gewesen wäre. • Wenn du im Stau oder an der Ampel stehst, kannst du den Fahrern und Mitfahrern anderer Autos freundliche Wünsche schenken.

1Crocker

J & Canevello A (2012) Egosystem and Ecosystem: Motivational Perspectives on Caregiving. In S L Brown, R M Brown & L A Penner (Eds.) Moving beyond Self-Interest: Perspectives from Evolutionary Biology, Neuroscience, and the Social Sciences (pp. 212–223). Oxford University Press, New York.

Übung: Atemraum für weises und mitfühlendes Handeln

181

• Wenn ein Rettungswagen ein Rettungswagen mit Blaulicht vorbeifährt, kannst du mitfühlende Wünsche zu dem Menschen in Not fließen lassen oder mitfühlend mit seinem Schmerz atmen. • Wenn du zum Beispiel auf den Bus wartest, kannst du Dankbarkeit für die wärmenden Sonnenstrahlen auf deiner Haut kultivieren. Und wenn es regnet kannst du dir bewusst machen, dass jeder Tropfen die Pflanzen nährt und Leben ermöglicht. • Erlaube dir Gleichmut zu üben, wenn dir bewusst wird, dass deine Hilfe von Menschen zurückgewiesen wird, die dir etwas bedeuten. Jeder ist letztlich für sich selbst verantwortlich. • Du kannst Mitfreude mit der Kollegin üben, die dir von ihrem erfolgreichen Projekt oder ihrer Beförderung erzählt. • Du kannst üben, einem inneren oder äußeren Kritiker freundlich und aus dem Mitgefühlsmodus heraus zu antworten. • Wenn du mit einem Menschen in Kontakt bist, der sehr krank oder nicht ansprechbar ist, kannst du mitfühlend mit seinem Schmerz atmen. • Wenn du Krieg und Katastrophen in den Nachrichten siehst, kannst du auf das Leid der anderen Menschen mit mitfühlenden Wünschen antworten. Wenn du dich angesichts des Leids in der Welt hilflos fühlst, kannst du mitfühlende oder gleichmütige Wünsche zu dir selbst fließen lassen. • Du kannst deine Worte und Handlungen ganz bewusst in Wärme und Freundlichkeit einbetten. Auch deine Körperhaltung, dein Lächeln, dein Blick und deine Stimme können diese freundliche, mitfühlende innere Haltung widerspiegeln. Erlaube dir, flexibel, kreativ und spielerisch an die Sache heranzugehen, um so Wege zu finden, die formale Praxis in die Tätigkeiten deines Alltags einfließen zu lassen.

Übung: Atemraum für weises und mitfühlendes Handeln Im MBCT (Mindfulness-Based Cognitive Therapie) wird der sogenannte „DreiMinuten-Atemraum“ als ein Eckpfeiler des Trainingsprogramms genutzt und in verschiedenen Varianten eingesetzt.2 Die ersten beiden Schritte dieser Praxis gleichen sich jeweils, im dritten Schritt wird der Fokus dann spezifisch auf ein Feld gerichtet, das besonderer Aufmerksamkeit bedarf. Die folgende Übung adaptiert diesen Atemraum. Im Mittelpunkt stehen dabei ein Erkenntnisgewinn und eine weise und mitfühlende Entscheidungsfindung. Erforsche in dieser Übung, was deine Motivation bestimmt und was deine Handlungen antreibt. Dies gilt insbesondere für Situationen, in denen du sonst im „Autopilot“ reagierst oder ein Dilemma dich zweifeln lässt.

2Segal S V, Williams J M G & Teasedale J D (2013) MIndfulness-Based Cognitive Therapy for depression. Guilford Press, New York.

182

Modul 7: Weisheit und Mitgefühl im Alltag

Übung

1. Präsent sein mit offener und freundlicher Aufmerksamkeit Genau wie im ersten Schritt des Atemraumes beginne damit, dir gewahr zu werden, was in diesem Moment geschieht. Welche Körperempfindungen, Gedanken, Gefühle zeigen sich? Frage dich dann: Was motiviert mich jetzt gerade? Vielleicht spürst du die Energie des Alarmoder Antriebssystems? Oder ist es die des Beruhigungssystems? Gibt es Tendenzen, dich auf etwas zuzubewegen oder dich von etwas zu entfernen? Den Wunsch, eine Erfahrung haben oder vermeiden zu wollen? 2. Einen beruhigenden Atemrhythmus zulassen Im zweiten Schritt bist du eingeladen, deine Aufmerksamkeit dem Atem zuzuwenden und sanft einem beruhigenden Atemrhythmus Raum zu geben. Auch Anspannung, die nicht mehr benötigt wird, darf sich lösen. 3. Eine weise und mitfühlende Handlung wählen Wende dich nun im dritten Schritt deinem Körper als Ganzem zu und lasse folgende Fragen in dir nachklingen: Was wäre jetzt eine weise und mitfühlende Wahl, was könnte ich sagen oder tun? Woraus soll meine Motivation entspringen: aus dem Alarm, Antriebs- oder Beruhigungssystem? Was wäre jetzt im Einklang mit meinen Werten? Was würde ein innerer Helfer oder ein mitfühlender Gefährte mir raten? Wenn mehr Klarheit in dir entstanden ist, bewege dich in die Richtung, die dir passend erscheint. Vielleicht ist es die gleiche Richtung, die du bislang eingeschlagen hast, doch jetzt hast du sie bewusster gewählt und bist dir über das, was dich motiviert, klarer geworden. Vielleicht möchtest du auch eine neue Richtung einschlagen, die mehr von Freundlichkeit und Mitgefühl bestimmt ist. Möglicherweise hast du den Eindruck, dass dir noch nicht klar genug ist, wie es nun weitergehen kann. Dann ist es wichtig, auch dies anzuerkennen, bevor du etwas tust. Sieh es als Einladung, dir noch ein wenig mehr Zeit und Raum dafür zu gönnen, achtsam in Kontakt mit der Situation zu sein und zu erspüren, wohin dein Weg geht. Erlaube dir innezuhalten und dich mit einer nicht-urteilenden Haltung in das hinein zu entspannen, was in diesem Moment da ist. Vielleicht möchtest du die Übung mit einem Wunsch verbinden, der dir passend erscheint, z. B. „Möge ich ruhig und geduldig sein“, „Möge ich mit diesem Dilemma sein, bis eine Lösung sich von selbst zeigt“ oder „Mögen meine Entscheidungen weise und mitfühlend für mich und andere sein“.

Weise und mitfühlend handeln Es gibt Situationen, die eine Sofortmaßnahme erfordern. Nicht umsonst besitzen wir einen Überlebensinstinkt, der uns dann blitzschnell reagieren lässt. In vielen anderen Situationen ist es hingegen nicht nötig, sofort zu reagieren. Wenn du dir

Praktische Ethik

183

unsicher darüber bist, was ein nächster Schritt sein könnte, empfiehlt es sich, erst einmal einen Moment mit der Situation zu sein (z. B. indem du dir Zeit für den oben beschriebenen Atemraum gönnst), bevor du etwas tust. Tara Brach nennt dies auch „die heilige Pause“. Sie kann den Boden bereiten für kluges und mitfühlendes Handeln. Sich diese „heilige Pause“ zu gönnen, hilft wahrzunehmen, was für dich selbst und andere in dieser Situation am nötigsten und hilfreichsten ist. Manchmal ist es auch klug, bewusst nicht zu handeln. Aus einer Haltung des „Nicht-Wissens“ heraus, kann Weisheit sich am ehesten entfalten. In manchen Situationen sind auch die anderen Herzensqualitäten gefragt. Wenn du dich dann entschließt, mitfühlend zu handeln, kann dies in unterschiedlichster Art und Weise zum Ausdruck kommen, beispielsweise so: • Aktiv den Kontakt zu einem neuen Kollegen suchen und ihn zum Kaffee einladen. • Für eine kranke Nachbarin einkaufen gehen. • Einem trauernden Freund eine Postkarte schreiben. • Jemandem voll und ganz zuhören, ohne gleich Ratschläge geben zu müssen. • Eine Hilfsorganisation finanziell unterstützen. • Jemandem durch eine deiner Fähigkeiten zur Seite stehen, der in diesem Bereich nicht so sattelfest ist (z. B. die Steuererklärung machen, den neuen Wasserhahn montieren, etc.). • Denke auch daran, dir selbst Freundlichkeit zu schenken, indem du dir etwas Nährendes, Beruhigendes oder Energiespendendes gönnst. Wie wäre es z. B. mit einem Spaziergang, einem schönen Film, einer heißen Badewanne oder einem Überraschungsbesuch bei einem Freund oder einer Freundin?

Praktische Ethik Jeder Gedanke in unserem Geist, jedes Wort, das wir aussprechen und jede Handlung, die wir körperlich vollziehen, hat Auswirkungen. Manchmal sind diese Auswirkungen nicht offensichtlich. Dennoch treffen wir damit immer eine ethische Wahl. Damit ist nicht die Art von Ethik gemeint, die uns vermittelt, was „richtig und falsch“ oder „gut und schlecht“ ist, sondern eher eine praktische Ethik, die uns heilsame und unheilsame Auswirkungen im Blick behalten lässt. Mitgefühlsübungen können uns darin unterstützen, uns dieser ethischen Dimension unserer Gedanken, Worte und Taten bewusster zu werden. Es gibt viele Lebensregeln, die über die Jahrhunderte in unterschiedlichsten Traditionen überliefert wurden. Mit am bekanntesten ist dabei vielleicht „Was du nicht willst, das man dir tu´, das füg auch keinem andern zu.“ oder als sogenannte „Goldene Regel“ positiv formuliert: „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst.“ Auch wissenschaftliche Forschungsergebnisse aus den Bereichen Psychologie, Genetik, Neurowissenschaften und auch Ökonomie zeigen, dass Altruismus, Großzügigkeit und prosoziales Verhalten nicht

184

Modul 7: Weisheit und Mitgefühl im Alltag

nur denjenigen zugutekommen, die sie empfangen, sondern auch denen, die sie praktizieren3: Wenn wir etwas für andere tun, werden wir selbst glücklicher. Noch dazu kommt – wiederum eine altbekannte Lebensregel – „Wer Gutes tut, dem wird (selbst) Gutes widerfahren“. Was in der Theorie schön und einleuchtend klingt, ist jedoch in der Praxis nicht immer einfach und oft gewöhnungsbedürftig. Evolutionär bedingt sind wir nämlich meist geneigt, ein Problem so schnell wie möglich aus der Welt schaffen zu wollen, um wieder auf der sicheren Seite und in der Komfortzone zu sein. Doch das Leben stellt uns immer wieder vor neue Herausforderungen und hält jede Menge Dilemmata bereit, die nicht sofort gelöst werden können. Auch wenn das Alarm- und Antriebssystem uns am liebsten schnelle Antworten anbieten möchten, ist es ratsam, zunächst auf die Weisheit des „Nicht-Wissens“ zu vertrauen. Ein guter Anfang für eine praktische Ethik ist es, zunächst mit nicht-urteilender Achtsamkeit innezuhalten, d. h. eine „heilige Pause“ zu machen und jede Situation in ihrer Einzigartigkeit anzuerkennen. Nur so lässt sich mitfühlend erspüren, was ein kluger nächster Schritt im Hier-und-Jetzt sein könnte. Unreflektiert nur dem Impuls des Herzens zu folgen wird manchmal auch „törichtes Mitgefühl“ genannt. Wer z. B. einem alkoholkranken Freund eine Flasche Wein schenkt, um ihn aufzumuntern, handelt mit gedankenlosem Herzen (mindless heart). Von „törichter Achtsamkeit“ kann man sprechen, wenn ein herzloser Geist (heartless mind) mit scharfer Aufmerksamkeit, jedoch völlig ohne wohlwollendes Einfühlungsvermögen agiert. Obwohl wir jemandem helfen könnten, tun wir es dann nicht, da wir vielleicht denken, dass sowieso alles vergänglich ist und dass Leiden einfach zum Leben dazugehört. Die Praxis des Mitgefühls erfordert immer auch eine Abstimmung auf das, was nötig ist. Manchmal brauchen wir Sanftmut und Zärtlichkeit, was Kristin Neff4 auch als „Yin-Mitgefühl“ bezeichnet. In anderen Momenten brauchen wir eher den Mut und die feste Entschlossenheit von „Yang-Mitgefühl“ oder „fierce compassion“ (kraftvollem Mitgefühl). Ethische Entscheidungen brauchen immer Weisheit und Mitgefühl zugleich. Das freundliche Herz profitiert dabei von der Weisheit (mindful heart), der kluge Geist profitiert von der Freundlichkeit (heartful mind). Beide werden eins. So ist es möglich, zu fühlen, was im Gegenüber vorgeht und was die Situation auf emotionaler Ebene erfordert und gleichzeitig klug abzuwägen, was zu tun ist. Und so lassen sich so viel heilsame Auswirkungen und so wenig unheilsame Auswirkungen wie möglich für eine größtmögliche Anzahl von Betroffenen erzielen. Diese praktische Ethik kann nur aus einer inneren Ruhe heraus entstehen, die dem Beruhigungssystem entspringt. Wie wir bereits gesehen haben, ist es sehr

3Klein

S (2010) Der Sinn des Gebens: Warum Selbstlosigkeit in der Evolution siegt und wir mit Egoismus nicht weiterkommen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main; Ricard M (2015) Altruism. Atlantic, London. 4Neff K, Germer C (2018) The Mindful Self-Compassion Workbook: A Proven Way to Accept Yourself, Build Inner Strength, and Thrive. Guilford Press, New York.

Übung: Gleichmut

185

schwer, ethisch zu handeln, wenn die Motivation vom Alarm- oder Antriebssystem befeuert wird, die uns Fehler fürchten oder nach Belohnungen dürsten lassen. Wer mit sanftem Geist und klugem Herzen durchs Leben geht, wird bemerken, dass eine weise Entscheidung im richtigen Moment ganz von selbst entsteht, genau wie ein Apfel, der vom Baum fällt, wenn er reif ist. Falls du die Erfahrung machst, dass deine manchmal unüberlegten Handlungen viel Chaos anrichten oder dein Leben bislang eher einer Achterbahnfahrt gleicht, da dein Alarm- und Antriebssystem dich ständig hin und her zerren, kann die nun folgende Übung möglicherweise hilfreich für dich sein. Sie macht die stabilisierende Qualität des Gleichmutes erfahrbarer.

Übung: Gleichmut (M7_25) Gelassenheit ist die Geräumigkeit von Herz und Geist, die den Rahmen für die unbegrenzte Natur von Freundlichkeit, Mitgefühl und Mitfreude bietet. Diese ruhige Ausgeglichenheit erlaubt es uns, auf den Wellen unserer Erfahrungen zu reiten, ohne uns in unseren Reaktionen zu verlieren. (Sharon Salzberg)

Übung

1. Ankommen Eine bequeme Haltung finden, … … … achtsam anerkennen, was von Moment zu Moment geschieht. … … … Und einen beruhigenden Atemrhythmus zulassen, … … … Körper und Geist erlauben, sich zu entspannen. … … … So wie wir Freundlichkeit und Mitgefühl kultivieren können, können wir auch die Qualität von Gelassenheit entwickeln. Um dieser Herzqualität Raum zu geben, kannst du zuerst über die Vergänglichkeit reflektieren, die überall in unserem Leben anwesend ist. Du kannst dich auch mit einer Metapher, einem Bild verbinden, zum Beispiel einem ruhigen Berg oder stillen, spiegelnden See. Vielleicht kann auch das sogenannte Gelassenheitsgebet ein Gefühl für Gleichmut vermitteln: „Gib mir die Gelassenheit, die Dinge anzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, die Dinge zu ändern, die ich kann und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ … … … 2. Neutrale Person Du kannst dich nun an jemanden erinnern, der mehr oder weniger neutral für dich ist, … vielleicht jemand Unbekanntes, dem du vor kurzem zufällig auf der Straße oder in der Warteschlange begegnet bist. … … Diese Person vor dir sehen und dir bewusst machen, dass auch sie verletzlich ist, altert, krank wird, Verluste und Tod erlebt, … … dass er oder sie Trauer und Freude erlebt, wie jeder Mensch. … … Und wenn du möchtest, diesem Menschen einen Wunsch für Gelassenheit schenken. Zum Beispiel: „Mögest du die Dinge annehmen können, wie sie sind. … …

186

Modul 7: Weisheit und Mitgefühl im Alltag

… Mögest du in deiner Mitte ruhen, inmitten all der Veränderungen des Lebens. … … Mögest du Frieden erfahren angesichts von Vergänglichkeit und Unvorhersehbarkeit.“. … … … Wenn du möchtest, auch andere neutrale Personen einbeziehen. … … … 3. Du selbst Dann dir selbst einen Wunsch für Gelassenheit schenken, z. B. „Möge ich mich inmitten der Turbulenzen des Lebens Ruhe und Ausgeglichenheit erfahren.“ … … „Möge ich annehmen können, dass die Dinge kommen und gehen.“ … … „Möge ich Frieden und Harmonie finden mit Freude und Traurigkeit, Gesundheit und Krankheit, Erfolg und Misserfolg.“ … … … „Möge ich Verluste akzeptieren und offen sein für das, was daraus erwachsen kann.“ … … … „Möge ich gelassen bleiben angesichts von Vergänglichkeit, Altern, Verlust und Tod.“ … … … Oder dir bewusst machen, dass du die Vergangenheit nicht ändern kannst … und keine vollständige Kontrolle über die Gegenwart hast, …. die Zukunft nicht vorhersehen kannst … … … und nur das tun kannst, was in deiner Verantwortung liegt. … … … Wenn du dir schnell Sorgen über das Verhalten anderer machst, kann es hilfreich sein zu erkennen, dass jeder letztlich selbst für sein Handeln verantwortlich ist. … … Und dir bewusst machen oder wünschen: „Möge ich akzeptieren, dass ich Andere nicht verändern kann. Aber ich kann ihnen Freundlichkeit und Mitgefühl anbieten.“ … … … „Möge ich weise unterscheiden zwischen dem, was in meiner Verantwortung liegt und was nicht, … … zwischen dem, was hilfreich und was schädlich ist.“ … … … 4. Guter Freund oder geliebte Person Wenn du möchtest, einen guten Freund oder Freundin oder einen geliebten Menschen einbeziehen, ihm oder ihr einen Wunsch für Gelassenheit schenken. … … … 5. Schwierige Person Und wenn du Raum dafür fühlst, kannst du auch eine schwierige Person einbeziehen … … … Dabei geht es nicht darum, ihr Verhalten zu beschönigen oder zu dulden, sondern zu erkennen, dass auch dieser Mensch verletzlich und unvollkommen ist – genau wie du. … … … Dir bewusst machen oder wünschen: „Du bist für deine Entscheidungen selbst verantwortlich und trägst die Folgen deines Handelns. Ich kann nicht für dich entscheiden, aber ich kann dir Klarheit und Weisheit wünschen.“ … … … „Ich kann dein Leiden nicht verhindern, aber ich kann dir Ruhe und Frieden wünschen.“… … … Vielleicht passt auch ein Wunsch in der WirForm: z. B. „Mögen wir Frieden finden, … Harmonie, … Weisheit.“, … …… 6. Gruppen Wie bei der Freundlichkeitsmeditation kannst du auch hier alle Menschen, Tiere oder Lebewesen einbeziehen. … … Genauso auch Gruppen. … …

Vom Winde verweht

187

Für Menschen in Kriegs- und Katastrophengebieten könnte ein Wunsch sein: „Möget Ihr Ruhe finden inmitten von Krankheiten, … inneren Frieden angesichts der Unkontrollierbarkeit und Unvorhersehbarkeit.“. … … … 7. Alle Wesen Du kannst enden mit Wünschen für alle Wesen: „Mögen alle Wesen Ruhe erfahren inmitten der Unsicherheiten des Lebens.“ „Mögen alle Wesen zurechtkommen mit Vergänglichkeit, Altern und Tod.“ „Mögen alle Wesen das Kommen und Gehen im Leben annehmen können.“ „Mögen alle Wesen Frieden finden inmitten des Aufruhrs des Lebens, … Ruhe inmitten der Turbulenzen, … Gleichgewicht inmitten der Instabilität, … Harmonie inmitten der Dissonanzen.“ „Mögen alle Wesen mit sich und anderen in Frieden leben.“ „Mögen alle Wesen einen stillen Geist und ein offenes Herz erfahren.“ „Mögen alle Wesen in Frieden leben.“ Und noch einige Momente sitzen, mit den Gedanken an Gleichmut im Angesicht der wundersamen Wendungen im Leben, bis die Klangschale erklingt.

Vom Winde verweht Gelassenheit ist wie der heitere Himmel. Nicht besonders geschmeichelt durch den Regenbogen. Nicht besonders belästigt durch die Sturmwolken. (Dudjom Rinpoche)

Im Osten gibt es die Metapher der sogenannten „Acht weltlichen Winde“. Sie bestehen aus vier polaren Gegensätzen. Vier dieser Winde sind angenehm, die anderen vier unangenehm. Die acht weltlichen Winde sind: Erfolg – Misserfolg Ob beruflich oder privat, in Beziehungen, Wettbewerben oder im Spiel: manchmal haben wir Rückenwind und sind erfolgreich, manchmal herrscht Gegenwind und wir haben Misserfolg. Lob – Tadel Wahrscheinlich bekommt jeder Mensch lieber Anerkennung als Kritik. Denn davon hängt für viele ab, ob der persönliche Wert in Beziehung zu anderen Individuen vermehrt oder vermindert wird. Während wir manchmal zum Himmel gelobt werden, hagelt es in anderen Momenten scharfe Kritik.

188

Modul 7: Weisheit und Mitgefühl im Alltag

Ruhm – Schande Hier geht es um unseren guten bzw. schlechten Ruf, der das Ansehen und Renommee in der Gesellschaft vermehrt oder vermindert. Werden wir im Freundeskreis oder der Öffentlichkeit für gewisse Fähigkeiten, Qualitäten oder Wesenszüge eher beachtet und geachtet bzw. ignoriert oder gar verachtet? Gewinn – Verlust Nicht nur materieller Besitz und Wohlstand können sich vermehren oder vermindern, sondern z. B. auch Macht, Einfluss und Kontrolle. Wir erhalten, erschaffen und gewinnen etwas oder Dinge wachsen und nehmen an Wert zu. Und wir verlieren etwas, geben Dinge weg oder sie werden uns weggenommen, sie gehen kaputt oder verlieren den Wert, den sie einmal für uns hatten. Das, was wir als angenehm empfinden (Erfolg, Lob, Ruhm, Gewinn), lässt instinktiv unser Antriebssystem anspringen. Wir möchten mehr davon. Das, was wir als unangenehm empfinden (Misserfolg, Tadel, Schande, Verlust), führt in uns automatisch zu Ablehnung, Sorgen oder Verdruss. Unser Alarmsystem wird aktiviert. Gefangen in dieser Reaktivität wird es schwierig, mitfühlend zu handeln, da Antriebs- und Alarmsystem dem Beruhigungssystem kaum Raum lassen. Was können wir tun? Solange wir glauben, dass es irgendwie doch möglich sein muss, im Leben nur Angenehmes zu erfahren und Unangenehmes vollständig verschwinden zu lassen, werden diese acht Winde wehen und eine sehr große Rolle in unserem Leben spielen. Um eine stufenweise Entwicklung von Gleichgewicht, Gleichmut und Großherzigkeit zu ermöglichen, kann es wertvoll sein, diese Windrichtungen immer wieder zu prüfen und die eigene Reaktivität zu erkennen. Indem du dich in Gleichmut übst und mehr Leichtigkeit und Humor zulässt, ganz gleich, ob du eine Situation gerade als angenehm, unangenehm oder neutral empfindest, kannst du so mit der Zeit in dir mehr Raum für das Beruhigungssystem entstehen lassen.

Übung: Mitfreude (M7_26) Mitfreude ist eine der vier Herzensqualitäten zusammen mit Freundlichkeit, Mitgefühl und Gleichmut. Beim Üben von Mitfreude entwickeln wir die Fähigkeit, uns selbst und anderen etwas Freudiges zu gönnen. Die Qualität von Mitfreude mehr in uns zu kultivieren ist besonders dann hilfreich, wenn wir den Eindruck haben, selbst zu kurz gekommen zu sein, oder glauben, dass andere bevorteilt wurden. Oft erleben wir dann Neid, Missgunst, Eifersucht und Gier. In diesem Fall kann die nun folgende Übung Raum geben und eine heilsame Alternative sein.

Übung: Mitfreude

189

Übung

1. Ankommen Eine bequeme Haltung finden, … achtsam innehalten, … Beruhigung einladen, … … … dem Atem erlauben, sich zu beruhigen. … … … 2. Geliebte Person In dieser Übung erkunden wir den letzten der vier Lebensfreunde: die Mitfreude. Beginne, indem du dich mit einer geliebten Person oder einem Freund oder Freundin verbindest, von dem du weißt, dass er oder sie im Moment Glück oder Erfolg im Leben hat. … … … Dir vorstellen, dass du diese Person anschaust, … … die Freude sehen, die sich in ihren Körper, ihrem Gesicht, ihren Augen ausdrückt. … … … Und dir vorstellen, dass auch du jetzt diese Freude fühlst. … … … Und diesem Menschen von Herzen einen mitfreudigen Wunsch senden. … … Zum Beispiel: „Mögest du dein Glück feiern. … „Mögest du deinen Erfolg genießen.“ … „Möge dein Wohlstand wachsen und nie enden.“ … „Mögest du das Gute im Leben wertschätzen.“. … … … Du kannst bei einer geliebten Person bleiben oder, wenn du möchtest, die Übung auf andere geliebte Menschen in deinem Leben ausweiten. … … … 3. Du selbst Du kannst dich auch mit dir selbst freuen. … … Verbinde dich dafür mit etwas Freudigem, das dir passiert ist oder das du jetzt gerade erlebst. … … … Gefühle und Empfindungen wertschätzen, die dazu gehören. … … … Und dir selbst einen mitfreudigen Wunsch schenken, … zum Beispiel: „Möge ich diese Freude wirklich zu schätzen wissen.“ … „Möge ich das Gute im Leben feiern.“ … „Möge ich die Freude in meinem Herzen genießen.“ … … … 4. Neutrale Person Du kannst nun noch jemanden in diese Übung einbeziehen, der eher neutral für dich ist. … Vielleicht eine Passantin, die du getroffen hast. … … Und die durch ihre Körpersprache, ihren Gesichtsausdruck oder den Tonfall ihrer Stimme Freude in dir geweckt hat. … … … Dir vorstellen, dass du diese Person anschaust … und mitfreudige Wünsche fließen lassen von Herz zu Herz: „Mögest du die Freuden des Lebens zu schätzen wissen und genießen.“. … … Diese Worte wählen oder andere, die sich stimmig anfühlen. … … … 5. Schwierige Person Die schwierige Person in dieser Übung könnte jemand sein, den du beneidest, … vielleicht um seine oder ihre glücklichen Lebensumstände oder Erfolge. … … Die Praxis der Mitfreude ist eine besonders hilfreiche Medizin, wenn wir Gefühle von Neid oder Eifersucht erleben. … …

190

Modul 7: Weisheit und Mitgefühl im Alltag

Wenn du dich bereit dazu fühlst, kannst du dir jemanden vorstellen, den du beneidest, … … diese Person anschauen … … und dir bewusst machen, dass dieser Mensch sich – genau wie du – wünscht glücklich zu sein. … … Und dann einen großzügigen, mitfreuenden Wunsch zu dieser Person fließen lassen: … „Mögest du dein Glück genießen.“ … „Mögest du deine Erfolge feiern.“ … „Mögest du das Gute genießen, das das Leben dir schenkt.“ … „Mögest du innere Freude genießen.“ Wenn es hilfreich ist, kannst du auch die Wir-Form benutzen: „Mögen wir die Gaben des Lebens feiern.“ … oder: „Mögen unsere Herzen gefüllt sein mit Dankbarkeit.“. … … … Und wenn das üben von Mitfreude oder Großzügigkeit gegenüber dieser schwierigen Person alte Bitterkeit weckt, kann dies achtsam anerkannt werden. … … … Vielleicht kannst du mit Freundlichkeit und Mitgefühl wertschätzen, das zu erkennen. … … Du kannst immer zu einem mitfühlenden Wunsch für dich zurückkommen, denn du bist es, der diese Bitterkeit jetzt erlebt. … … 6. Gruppen Wenn du Raum dafür fühlst, kannst du jetzt Gruppen von Menschen einbeziehen. … Eine Gruppe erinnern, die vor kurzem etwas Freudiges erlebt hat oder erfolgreich war. … … Vielleicht eine Gruppe zu der du selbst gehörst, oder die du aus den Nachrichten kennst, … … z. B. eine Partei, die die Wahlen gewonnen hat oder eine Sportmannschaft, die ein Spiel gewonnen hat, … … oder eine Social-Media-Gruppe, die eine freudige Nachricht geteilt hat. … … … Dieser Gruppe von Herzen gratulieren: … „Möget ihr diese Freude wertschätzen und mit anderen teilen.“ … „Möget Ihr Euer Glück wertschätzen und feiern.“ … „Möget Ihr die Freude in Eurem Herzen bewahren.“. … …… Und du kannst mit Wünschen für alle Wesen enden: „Mögen alle Wesen das Gute im Leben genießen und mit anderen teilen.“ „Mögen alle Wesen glücklich sein.“ „Mögen alle Wesen die Großzügigkeit von Mitfreude genießen.“ Und noch eine Weile sitzen mit der Intention, ein offenes und freudvolles Herz zu kultivieren. Und mit Wertschätzung und Offenherzigkeit für alles, was sich in diesem Moment zeigt.

Übung: Ein mitfühlender Frühwarnplan Wir nähern uns dem Ende unseres Trainings und möchten dich daher mit der folgenden Übung einladen zu reflektieren, was dich dabei unterstützen kann, die Übungspraxis auch im Anschluss an das Training aufrecht zu erhalten und das Gelernte mehr und mehr in deinen Alltag mitzunehmen.

Übung: Ein mitfühlender Frühwarnplan

191

Nimm dir Zeit zu überlegen, welche formalen und informellen Achtsamkeitsund Mitgefühlsübungen du in der nächsten Zeit praktizieren möchtest und wie du ich im Alltag an sie erinnern kannst. Nimm dabei freundlich wahr, was dich bei deinen Entscheidungen motiviert. Ist es eher das Alarm-, Antriebs- oder Beruhigungssystem? Nährt dich das, was du tust oder zehrt es an deinen Ressourcen? Bist du eher fokussiert auf „Ich-zuerst“, „Du-zuerst“ oder „Wir-zusammen“? Auf Ego-System oder Öko-System? Bewegst du dich in Richtung deiner Werte? Sind deine Entscheidungen achtsam und mitfühlend? Selbst, wenn es dir für gewöhnlich gut gelingt, dich um dich und andere zu kümmern, gibt es doch Lebensphasen, in denen Stress im Vordergrund steht, du dich verletzlich fühlst oder eine größere Gefahr besteht, in alte unheilsame Muster zurückzufallen. Es hat sich immer wieder als hilfreich erwiesen, vorausschauend einen Frühwarnplan zu erstellen. Er kann dir dabei helfen zu vermeiden, dich wieder in leidvolle Gewohnheiten zu verstricken. Das ist besonders dann bedeutsam, wenn du Erfahrung mit Burn-Out, Depression, Angstzuständen oder Süchten hast.

Übung

Die folgenden Schritte können dich dabei unterstützen, einen Frühwarnplan zu erstellen. Du kannst dafür auch das Arbeitsblatt 7.2 (Download) nutzen: 1. Risiko- oder Stresssituationen Erstelle eine Liste von Risiko- oder Stresssituationen, die einen Rückfall bei dir auslösen können. Das können z. B. ein Umzug sein, Urlaubsperioden, Verlust oder Zurückweisung, Konflikte mit anderen, Liebeskummer, Kritik auf der Arbeit, ein Wechsel im Job, Termindruck, finanzielle Probleme, etc. 2. Warnsignale Liste auf, welche (ersten) Warnsignale einen bevorstehenden Rückfall ankündigen und darauf hinweisen, dass deine Gesundheit aus dem Gleichgewicht zu geraten droht. Dies können beispielsweise sein: Anhaltende Sorgen, Konzentrationsprobleme, Reizbarkeit, Traurigkeit, Kopfschmerzen, Schmerzen im unteren Rücken oder andere körperliche Unpässlichkeiten, Schlafprobleme, Schwierigkeiten morgens aus dem Bett zu kommen, Appetitlosigkeit oder Frustessen, verstärktes Trinken von Alkohol oder Rauchen, Anklammern an andere oder sozialer Rückzug, etc. Achte bitte besonders auf die frühen Warnsignale, insbesondere Körperempfindungen, die Unwohlsein ausdrücken, kreisende Gedanken oder emotionales Unbehagen. 3. Was ist dann zu tun? Liste Handlungen auf, die in einem solchen Fall hilfreich und mitfühlend für dich sein können. Was hat sich in der Vergangenheit als wirksam und wohltuend erwiesen? Wie kannst du gut für dich sorgen,

Modul 7: Weisheit und Mitgefühl im Alltag

192

wenn ­ Warnsignale auftauchen? Wie schaffst du Raum für Ruhe und Entspannung? Gibt es Tätigkeiten, die dir Freude bereiten oder die du besonders gut kannst? Was gibt dir Energie, welche „Energieräuber“ solltest du vermeiden? Welche Übungen dieses Trainingsprogramms könnten hilfreich für dich sein? Wie könntest du dir selbst noch helfen und wer aus deinem Umfeld könnte dich unterstützen? Wann und wo suchst du professionelle Hilfe? Bitte bedenke: Es ist gut, den mitfühlenden Frühwarnplan dann zu erstellen, wenn du dich stabil fühlst und nicht erst in stürmischen inneren Wetterlagen. Und es geht hier auch nicht darum, den perfekten Frühwarnplan zu entwickeln und sofort alle möglichen Details zu berücksichtigen. Auch ein nicht perfekter Plan wird dir in schwierigen Zeiten eine wertvolle Hilfe auf dem Weg zu mehr Selbstmitgefühl und Selbstfürsorge sein und du hast immer die Möglichkeit, ihn um neue, hilfreiche Aspekte zu ergänzen. Wenn du möchtest, können dich auch dein innerer Helfer oder ein mitfühlender Gefährte bei der Ausarbeitung des Frühwarnplanes unterstützen. Was würden sie dir empfehlen? Manchmal ist es klug, dich sanft und doch bestimmt dazu zu motivieren, mehr Aktivitäten auszuführen. Im MBCT-Kurs hierbei Aktivitäten unterschieden, die ein Gefühl von Freude (pleasure) geben und Aktivitäten, die ein Gefühl von Selbstwirksamkeit (mastery) entstehen lassen. Es kann wertvoll sein, beide Arten in deinen Frühwarnplan aufzunehmen. Sie können dir helfen, dich aufzuraffen oder aus einer Vermeidungshaltung herauszukommen. Manchmal ist es hingegen klug, sich weniger vorzunehmen. Insbesondere, wenn du dazu neigst, dich aus dem Alarm- oder Antriebssystem heraus zu überfordern. Jeweils abhängig von der Situation, können unterschiedliche Strategien wohltuend sein. Der Frühwarnplan darf sich auch weiterentwickeln, wenn du Neues lernst oder dich immer besser kennenlernst. Lass ihn mit dir mitwachsen und ergänze bei Bedarf neue Details, wie z. B. berührende Symbole, mitfühlende Briefe, inspirierende Zitate oder Gedichte. So wird der Frühwarnplan zu einem „Mitgefühls-Survival-Kit“ oder zu einem mitfühlenden Gefährten für dich. Für manche ist es auch hilfreich, den Frühwarnplan mit anderen (z. B. Lebensgefährten und Freunden) zu teilen oder ihn so aufzuhängen, dass öfter einmal der Blick darauf fällt.

Tagebuch: Mitgefühl schenken Achte diese Woche auf Momente, in denen du anderen durch deine Handlungen und Worte aus dem Herzen heraus Freundlichkeit und Mitgefühl entgegenbringst. Wann geschieht dies, was erlebst du in diesen Momenten? Nutze das Arbeitsblatt 7.3 (Download), um deine Erfahrungen zu beschreiben.

Tagebuch: Mitgefühl schenken

193

Reflexionsfragen (aus dem Arbeitsblatt 7.3)

• • • • •

Was genau geschah in der Situation? Wie und wann hast du bemerkt, dass du anderen Mitgefühl schenkst? Welche Körperempfindungen hast du bemerkt? Welche Gedanken und Emotionen kamen auf? Was nimmst du jetzt wahr, während du über diese Erfahrung reflektierst?

Zusammenfassung Im siebten Kapitel beschäftigen wir uns mit dem Thema Motivation und damit, wie wir weise und mitfühlende Handlungen in den Alltag integrieren können. Wir erforschen, wie wir uns mitfühlend um uns selbst und andere kümmern können, was uns nährt und was an unseren Ressourcen zehrt. Wir reflektieren, wie wir von der formalen zur informellen Praxis kommen können und wie sich Gleichmut und Mitfreude praktizieren lassen. Wir beschäftigen uns mit praktischer Ethik und damit, wie wir wiederkehrenden Herausforderungen zukünftig mit Hilfe eines Frühwarnplanes begegnen können.

Übungsvorschläge Formal: • Praktiziere die Übungen aus den vorangegangenen Kapiteln, die wertvoll für dich sind. Wenn du bislang die „Freundlichkeitsmeditation“ oder das „Mitfühlende Atmen“ mit Anleitung praktiziert hast, experimentiere dann damit, wie es ist, dich selbst anzuleiten • Übe die „Freundlichkeitsmeditation“ im Wechsel mit der Meditation über „Gleichmut“ (Audio-Datei M7_25) oder „Mitfreude“ (Audio-Datei M7_26). Du kannst auch „Freundlichkeitsmeditation – die gesamte Sequenz“ praktizieren (Audio-Datei M8_28). • Arbeite die Übung „Ein Tag in deinem Leben“ (Arbeitsblatt 7.1) und „Ein mitfühlender Frühwarnplan“ (Arbeitsblatt 7.2) weiter aus. Informell: • Praktiziere regelmäßig den „Atemraum mit Freundlichkeit“ (Audio-Datei M1_01), aus dem ersten Kapitel und bei Bedarf auch den „Atemraum mit Mitgefühl bei emotionalem Schmerz“ aus Kap. 2 (Audio-Datei M2_05) oder die „Selbstmitgefühls-Erinnerung“ aus Kap. 2. • Werde dir bei Entscheidungsschwierigkeiten bewusst, aus welchem Motivationssystem heraus du gerade handelst. • Praktiziere auch den „Atemraum für weises und mitfühlendes Handeln“, insbesondere, wenn es dir schwerfällt, eine Entscheidung zu treffen oder wenn du bemerkst, dass du im Autopilot handelst • Tagebuchübung: sei dir täglich bewusst, wenn du Mitgefühl schenkst, nutze dafür das Arbeitsblatt 7.3 (Download)

194

Modul 7: Weisheit und Mitgefühl im Alltag

Arbeitsblätter zum Herunterladen für Modul 7

7.1 Ein Tag in deinem Leben 7.2 Mitfühlender Frühwarnplan 7.3 Tagebuch: Mitgefühl schenken

Elektronisches Zusatzmaterial M7_25 Gleichmut M7_26 Mitfreude

Modul 8: Das Leben heilen Den Weg des Mitgefühls weiter gehen

There is a crack in everything That´s how the light gets in. (Leonard Cohen, „Anthem“ 1992)

In seinem Buch „Das weise Herz“ berichtet Jack Kornfield1 zu Beginn von einem Tempel in Sukhotai, Thailands alter Hauptstadt. Dort stand einst eine große Buddhastatue aus Ton, die wahrscheinlich nicht zu den beeindruckendsten Abbildern des Erwachten zählte, jedoch schon sehr alt war und auch deshalb behütet und verehrt wurde. Irgendwann jedoch bekam der Ton Risse und eine Restaurierung der Statue schien von Nöten. Als ein neugieriger Mönch diese Risse näher untersuchte, sah er einen goldenen Schimmer, der durch die Sprünge im Ton schien. Nach dieser Entdeckung legten die Mönche vorsichtig das Innere der Statue frei: eine der größten und schönsten goldenen Statuen des Buddha, die je in Süd-Ost Asien erschaffen wurde! Heute zieht diese Statue viele Pilger aus dem ganzen Land an. Der Riss in allen Dingen Unter allem Schmerz, aller Zerrissenheit und aller Verwirrung, die wir als Menschen erleben, liegt vielleicht auch ein Reichtum und eine Schönheit, die nur darauf warten, von uns entdeckt zu werden. Es gibt viele Geschichten von Menschen, die trotz – oder vielleicht sogar gerade wegen – ihrer schwierigen Lebensumstände und Schicksalsschläge haben gedeihen und wachsen können. Manche davon sind

1Kornfield J (2008) Das weise Herz – Die universellen Prinzipien buddhistischer Psychologie. Arkana, München.

Zusatzmaterial online Zusätzliche Informationen sind in der Online-Version dieses Kapitel (https://doi.org/10.1007/ 978-3-658-26824-4_9) enthalten. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Stocker et al., Mitgefühl üben, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26824-4_9

195

196

Modul 8: Das Leben heilen

berühmt geworden, wie z. B. Nelson Mandela und sein Kampf gegen die Apartheid. Er saß 27 Jahre im Gefängnis, bevor er der erste schwarze Präsident Südafrikas wurde. Oder Malala aus Pakistan, die sich für die Rechte anderer Mädchen einsetzte und, auch nach einem beinahe tödlichen Attentat auf sie, ihre Mission fortsetzte und die jüngste Friedensnobelpreisträgerin wurde. Ob wir nun weltbekannt werden oder nicht: Wir alle können das Gold in uns und in unserem Leben entdecken, indem wir achtsam und mitfühlend die Risse darin erforschen. Mit einer Haltung, die „Vollkommenheit in der Unvollkommenheit“ verkörpert, entwickeln wir die Fähigkeit, auch Schmerzen, schwierigen Emotionen, erbittertem Widerstand, großem Verlangen und innerlichen Quälgeistern mit Freundlichkeit und Achtsamkeit zu begegnen. Die Unzulänglichkeiten in unserem Leben können zu unseren größten Lehrmeistern werden. Statt sie zu bekämpfen oder sie zu vermeiden oder sich ganz in ihnen zu verlieren, können wir innehalten und uns von ihnen den Weg zu unseren tieferen Werten weisen lassen. Obwohl wir in unserer modernen westlichen Gesellschaft über ein komplexes und gut ausgebautes Gesundheitssystem verfügen, kann uns dies nicht völlig vor dem Leid schützen, das unvermeidlicher Teil des Menschseins ist. Wir selbst sind es, die gefragt sind, hier Verantwortung für uns zu übernehmen. Die Praxis der Achtsamkeit und des Mitgefühls kann uns darin entscheidend unterstützen. Überall in der Natur ist die Kraft der Selbstheilung zu beobachten. Wenn wir uns von Herzen unseren Verletzungen und Verlusten zuwenden, können auch wir diese Fähigkeit zur Selbstheilung nutzen und die uns innewohnende angeborene Güte entdecken. Indem wir lernen, achtsam zu erspüren, was es braucht, unsere Wunden bestmöglich zu versorgen und zu pflegen, entwickeln wir Fähigkeiten, die nicht nur uns selbst zugute kommen, sondern auch anderen. Die Praxis von Achtsamkeit und Mitgefühl wird sicher nicht immer zu einer Befreiung vom Leiden führen, jedoch häufig eine Befreiung inmitten des Leidens ermöglichen. Es wird immer Unzulänglichkeiten geben, die wir nicht heilen können. Doch wir können zu einer Ganzheit finden, die auf einer tieferen Ebene liegt, wenn wir es lernen, unsere Einstellungen zu verändern und mit diesen Unvollkommenheiten in Frieden zu leben. Genau hier, in dieser oft hektischen und manchmal schrecklichen Welt.

Verwundete Heiler Einige Wunden können nicht geheilt werden, aber selbst sie können eine Heilung auf anderen Ebenen ermöglichen. Es gibt in der griechischen Mythologie den Zentauren Chiron, der als der „Verwundete Heiler“ bekannt wurde. Die Zentauren waren halb Mann, halb Pferd und oft mutige und wilde Kreaturen. Chiron war jedoch ein sensibler und weiser Zentaur, der viel über Medizin und die Heilung

Übung: Der Fluss des Lebens

197

von Kranken wusste. Eines Tages wurde er selbst von einem vergifteten Pfeil verwundet. Aufgrund des starken Giftes konnte die Wunde nicht heilen und er musste sie täglich mit größter Sorgfalt versorgen. Da er unsterblich war, konnte er nicht an seiner Wunde sterben und so von seinem Leiden befreit werden. Je geschickter er bei der Pflege seiner Wunde wurde, desto besser wurde er auch darin anderen zu helfen und entwickelte sich zu einem angesehenen Lehrer in der Kunst der Heilung. Am Ende wurde er dann doch von seinem eigenen Leiden befreit, als er seine Unsterblichkeit freiwillig aufgab. Wenn wir lernen, unsere Wunden bewusst zu versorgen, zu erspüren, was sie benötigen und uns dann so gut wie möglich um sie zu kümmern, entwickeln wir Fähigkeiten, die uns und anderen zugute kommen. In unseren modernen Gesellschaften neigen wir dazu, uns auf professionelle Heiler zu verlassen, die darin ausgebildet sind, Krankheiten zu heilen und die unterschiedlichsten Probleme für uns zu behandeln. Aber sie können jenes Leiden nicht heilen, das ein unvermeidlicher Teil des Menschseins ist. Hierfür sind wir selbst verantwortlich und die Praxis der Achtsamkeit und des Mitgefühls kann hier eine große Hilfe sein. Sie bringt uns vielleicht nicht immer Befreiung vom Leiden, aber sie kann oft Freiheit im Leiden bringen – genau hier, inmitten unserer hektischen Welt. Es wird immer Unvollkommenheiten geben, die wir nicht heilen können, doch wir können auf einer tieferen Ebene ganz werden, wenn wir lernen, mit ihnen zu leben und unsere festen oder – bezogen auf Chiron’s Geschichte – „verewigten“ Vorstellungen über diese Unvollkommenheiten aufzugeben. So können wir alle selbst zu verwundeten Heilern werden. Ein sehr konkreter Weg, um mit sich selbst und auch anderen in eine gute Verbindung zu kommen und Vertrautheit und Nähe zu entwickeln, ist die Beziehung zum eigenen Körper. Genau wie im Achtsamkeitstraining im letzten Modul der Body-Scan noch einmal praktiziert wird, können wir auch in der letzten Sitzung des MBCL-Kurses eine abgewandelte Variante anbieten, die Freundlichkeit, Wertschätzung und Dankbarkeit für den Körper miteinbezieht. Du hast diesen „Body-Scan mit Dankbarkeit“ (M6_23) bereits in der Stille- und Übungseinheit kennengelernt. Alternativ dazu kann die letzte Kurseinheit auch mit einer anderen Übung beginnen, die die Teilnehmerinnen und Teilnehmer selbst wählen. Wenn die nun folgende Vorstellungsübung noch nicht während des Extra-Moduls in Stille durchgeführt wurde, kann sie – mit ihrer Metapher vom „Fluss des Lebens“ – ebenfalls ein schöner Abschluss dieses Kurses sein.

Übung: Der Fluss des Lebens (M8_27) Übung

Nimm dir Zeit, um eine bequeme Haltung zu finden, … im Sitzen oder Liegen, … freundlich bemerken was gerade kommt und geht. … Alle Erfahrungen können begrüßt werden als Teil der Übung. …

198

Modul 8: Das Leben heilen

In dieser Übung muss gar nichts Besonderes passieren. Du kannst immer entscheiden, ob du der Anleitung folgen möchtest, oder lieber deinen eigenen Weg gehst. … … Manchmal möchtest du vielleicht etwas länger irgendwo verweilen, manchmal brauchst du weniger Zeit … Beides ist in Ordnung. … Auch diese Übung darf leicht und spielerisch sein. Du kannst deine Vorstellung einladen, für dich zu arbeiten und dich dabei überraschen lassen, was sich zeigen möchte. Dir jetzt vorstellen, es gibt NICHTS. Die allererste Erfahrung ist noch nicht da. Du weißt nicht einmal, was eine Erfahrung ist. … Es gibt nichts und du weißt nichts. … … … Und aus diesem Nichts entsteht die erste Erfahrung, wie ein Wassertropfen, der aus einer Quelle entspringt. Der erste Erfahrungstropfen ist die Empfindung der Luft, die durch die Nasenöffnungen hineinströmt. … … Der nächste Tropfen die Empfindung, dass die Luft ausströmt, … … …Tropfen für Tropfen reihen sich die Atemempfindungen aneinander und bilden ein winziges Rinnsal, das im Flussbett des Bewusstseins gehalten ist. … … Das Flussbett weitet sich, wenn weitere Empfindungen des Atems dazu kommen, … Empfindungen in der Nase, im Hals, in der Brust, im Bauch, … die zu einem kleinen Bach werden, und mühelos im Flussbett des Bewusstseins fließen. … … … Dieses Flussbett, das sich weitet und ausdehnt, wenn aus dem Nichts noch mehr Empfindungen aus dem Körper und den Sinnen kommen und einmünden. … … … Wärme und Kühle, … Bewegung und Ruhe, … Spannung und Entspannung, … Schwere und Leichtigkeit, … Empfindungen von Geruch und Geschmack, … Klänge und Stille, … Farbe und Form, … Empfindungen von berühren und berührt werden, … angenehm und unangenehm. … … … Das Flussbett des Bewusstseins hält alles gleichermaßen … … und weitet sich mühelos mit dem wachsenden Strom, … … hält diesen wachsenden und fließenden Fluss, und gibt Raum für alles, was kommt und geht. … Es kann auch Bilder und Erinnerungen an vergangene Zeiten geben, die aus dem Nichts im Strom des Bewusstseins aufsteigen, … … Erinnerungen aus der Kindheit, … deutlich oder weniger deutlich. … Bilder von Menschen, mit denen du aufwachsen bist, … Eltern, Großeltern, Brüder oder Schwestern, Betreuerinnen vielleicht, … Menschen, denen du viel verdankst. … … Vielleicht Bilder der Umgebung, … dein Zuhause, Freunde, Tiere, dein Spielzeug von Damals. … Erinnerungsbilder aus der Vergangenheit, die aus dem Nichts aufsteigen, … … schmerzhaft oder freudig … … und das Flussbett deines Bewusstseins weitet sich mühelos, … gibt Raum für das, was sich zeigt und lässt es auch wieder weiter fließen. … Erinnerungen an den Kindergarten, Schulen, Lehrer, Klassenkameraden, … … … Dinge, die du auf die harte Tour gelernt hast und auf die weiche Tour, … … … Erinnerungen an Erfolg und Misserfolg, … … an ­nährende

Übung: Der Fluss des Lebens

199

Momente, … an schmerzhafte Momente, … … an Leichtigkeit und Schwere. … … … Und für alles gibt es Raum im Flussbett deines Bewusstseins, … … Dinge, die du magst oder ablehnst, … schätzt oder verachtest. … Du selbst als Kleinkind, … Grundschulkind, … als Teenager, … Student oder Studentin. … Wie du eine Welt entdeckst, die größer und größer wird, … … Sexualität entdeckst, … … Freuden und Enttäuschungen erlebst, … Freundschaften schließt und verlierst, … geliebt wirst oder auch nicht, … dich bewegst und reist. … Orte, an denen du lebst, … zur Schule gehst, … arbeitest, … Menschen, die in dein Leben kommen – und wieder gehen, … harmonische Beziehungen, … schwierige Beziehungen, … Zeiten, in du dich bereichert fühlst oder einsam. … Wenn du Stromschnellen bemerkst, … Wasserfälle, … Hindernisse, … Strudel, … kannst du dem Flussbett des Bewusstseins erlauben sich zu weiten, sodass der Strom wieder fließen kann, … dieses Flussbett, das ruhiger und breiter wird und Raum für Alles bietet, das Raum braucht. … … … Alle Bilder oder Erinnerungen an dein Leben können in den Strom hineinfließen, … sogar die lange vergessenen. … … Es gibt Raum in deinem Bewusstsein für alles, womit du dich jemals identifizierst und identifiziert hast, … deine Qualitäten und Fähigkeiten, … deine Talente und Unvollkommenheiten, … Aufgaben und Rollen, … Gruppen und Netzwerke, … für deine Überzeugungen und Meinungen, … für all die Geschichten, die du über dich selbst, über andere und die Welt erzählst, … für alles, dass du „ich“ „mich“ oder „mein“ nennst, … … für all das gibt es Raum im Strom des Bewusstseins. … Und ebenso für alles, mit dem du dich nicht identifizierst. Für jedes „Nicht-Ich“, „Nicht-mich“, „Nicht-mein“ gibt es Raum, … … für „uns“ und für „sie“, für Freund und Feind. … … Alles, was dir nah und fremd ist, kann sich mit dem Strom verbinden. … Nicht nur Vergangenheit und Gegenwart finden Raum im Flussbett des Bewusstseins, sondern auch Bilder der kommenden Zeiten, … Pläne und Träume, … Versprechen, die die Zukunft für dich bereit hält, … Hoffnungen und Ängste, … subtile Ahnungen und tiefe Herzenswünsche, … Visionen von Harmonie und Frieden genauso wie von Unheil und Finsternis, … Bilder von Himmel und Hölle, …. es gibt Raum für alle Absichten und alles, was dir am Herzen liegt, … auch für das noch Unbekannte, … … sogar für das Unvorstellbare. … … Und so dem Fluss erlauben zu wachsen, … … gehalten von einem Flussbetts des Bewusstseins, das sich immer mehr weitet und vertieft, … sich mühelos an das anpasst, was Raum braucht … und dessen Ufer so weit auseinander gehen, dass man von einer Seite aus die andere nicht sehen kann, … immer weiter, … immer tiefer, … … … der Fluss wird zum Meer, … … das Meer zum Ozean, … … grenzenlos weit, grenzenlos tief, … … ein Herz, so groß wie die Welt, … in dem Platz ist für ALLES. …

200

Modul 8: Das Leben heilen

So fließt der Fluss unseres Lebens dahin, zwischen der Weisheit von Nichts … und der Liebe zu allem. Wenn du möchtest, bleib noch ein wenig sitzen oder liegen mit dem, was aus dieser Übung in dir nachklingt, bis du die Klangschale hörst. Ist es möglich, dich gleichzeitig mit dem kleinsten Erfahrungstropfen vertraut zu machen und dich weit für den grenzenlosen Ozean der Möglichkeiten zu öffnen? Vielleicht erscheint es dir unmöglich, wenn du es als etwas betrachtest, dass es zu erreichen gilt. Und doch kann es vielleicht dein natürlicher Geisteszustand sein, sobald du aufhörst danach zu streben, jemand anderes zu sein als der, zu dem du von Moment zu Moment wirst. Wenn du zulässt, dass sich dein Leben wie ein fließender Fluss entfaltet. Ohne dem Impuls vor etwas zurück zu weichen (Alarmsystem) oder dem Drang, irgendwo hin gelangen zu wollen (Antriebssystem), sondern auf entspannte Weise (Beruhigungssystem) mit den Erfahrungen sein, wie sie kommen und gehen. Und vielleicht ist es auf diese Weise möglich, dich überall geborgen und zu Hause zu fühlen. Wir können eine Offenheit verkörpern, die grenzenlos ist und in der alles sein darf. Ein sicherer Ort für alles, was wir von Moment zu Moment erleben.

Rückblick & Ausblick Im letzten Modul des MBCL-Kurses geht es auch darum, dass die Teilnehmenden sich darüber austauschen, was sich im Laufe der Wochen für sie entwickelt hat. Gemeinsam reflektieren wir darüber, wie sie diesen Weg des achtsamen Mitgefühls weiter begehen können. Wir laden dich ein, nun über folgende Fragen zu reflektieren. Du kannst dafür auch das Arbeitsblatt 8.1 „Evaluation des Kurses“ (Download) nutzen.

Reflexionsfragen aus dem Arbeitsblatt 8.1

• Mit welchen Erwartungen hast du dich für diesen Kurs angemeldet oder begonnen, dieses Buch zu lesen? Du kannst noch einmal nachschauen, was du ganz zu Beginn auf dem Arbeitsblatt 0.1 „Gewünschte Entwicklungen“ (Im Kap. Einleitung & Grundlagen) notiert hast. • Was hast du seitdem auf deinem Weg gelernt? • Was war schwierig und was war hilfreich für dich? • Was möchtest du fortsetzen? Welche formelle und informelle Praxis? Was könnte dir dabei helfen? • Gibt es ein Symbol (Objekt, Postkarte, Gedicht, Zitat, etc.) das ausdrückt, was für dich in diesem Kurs wichtig war und welches dir als hilfreiche Erinnerungsstütze in der Zukunft dienen kann?

Den inneren Garten pflegen

201

Vielleicht ist es dir wie vielen anderen Teilnehmenden ergangen, und du hast etwas Unerwartetes gelernt. Vielleicht konntest du einen Lotus im Schlamm finden, etwas Wertvolles in den schwierigen Dingen entdecken. Manche deiner Erwartungen haben sich vielleicht erfüllt, während andere unerfüllt geblieben sind. Und obwohl dieser Kurs nun zu Ende ist, geht die Reise weiter. Es ist genauso wie in der letzten Sitzung des Achtsamkeitstrainings in der wir sagen, dass die letzte Einheit niemals endet, sondern der Beginn vom Rest deines Lebens ist.

Den inneren Garten pflegen In seinem Buch „Die Kuh, die weinte“ spricht Ajahn Brahm2, ein bekannter buddhistischer Lehrer, von der Wagenladung voller Mist, die das Leben manchmal ungefragt über uns auskippt. Statt den Mist mit uns herumzutragen und mit unserem Schicksal zu hadern, empfiehlt er, lieber Schubkarre, Mistgabel und Spaten zur Hand zu nehmen und den Mist im Garten unseres Herzens zu verbuddeln. Irgendwann wird der Morgen kommen, an dem der Misthaufen abgetragen und unser Garten voll duftender Blumen und köstlicher Früchte ist. So können wir Schmerz und Leid als „Dünger des Lebens“ willkommen heißen und mit ihrer Hilfe eine reiche Ernte einfahren. Die Praxis des achtsamen Mitgefühls gleicht in gewisser Weise dieser inneren Gartenarbeit. Wir können die Übungen in diesem Training in drei Bereiche einteilen, die allen Gartenfreunden bekannt vorkommen dürften: 1. Die Blumen der Achtsamkeit und der Herzensqualitäten wachsen lassen 2. Mit schädlichen Einflüssen umgehen 3. Wenig fruchtbare Ecken des Gartens liebevoll und geduldig nähren und pflegen 1. Die Blumen der Achtsamkeit und der Herzensqualitäten wachsen lassen So wie wir uns entscheiden können, in unserem Garten Gemüse, Früchte und Blumen anzubauen, so können wir Achtsamkeit, Mitgefühl und andere Qualitäten im Garten unseres Herzens kultivieren. Im MBSR- oder MBCT-Kurs oder einem vergleichbaren Achtsamkeitstraining hast du bereits den Boden bereitet und die Saat ausgebracht, die nun erblühen kann. Wie der Boden, das Klima, die Lichtverhältnisse und vieles mehr das Wachstum von Pflanzen beeinflussen, brauchen auch unsere inneren Qualitäten günstige Bedingungen, um wachsen und gedeihen zu können. • Diese Kategorie beinhaltet informelle Übungen wie zum Beispiel den beruhigenden Atemrhythmus, den Atemraum mit Freundlichkeit/Mitgefühl, und das Nähren des Beruhigungssystems durch Sinnesgenuss (z. B. durch den Genussspaziergang).

2Brahm A

(2010) Die Kuh, die weinte. Lotos Verlag, München.

202

Modul 8: Das Leben heilen

• Formelle Übungen dieser Kategorie sind Vorstellungsübungen wie „Ein sicherer Ort“, „Ein mitfühlender Gefährte“ und „Mitgefühl verkörpern/der Mitgefühlsmodus“. Andere Übungen entstammen verschiedenen Traditionen und nähren die Vier Lebensfreunde: „Freundlichkeitsmeditation“, „Mitfühlendes Atmen“, „Gleichmut“ und „Mitfreude“. Darüber hinaus gehören auch Übungen wie „Freundlichkeit für den Körper“, „Body-Scan mit Dankbarkeit“, „Bewegen und Gehen mit Freundlichkeit“, „Genuss erinnern und auskosten“ und „Dankbarkeit“ zu dieser Kategorie. Und natürlich gibt es auch noch eine Vielzahl von Möglichkeiten die formellen Übungen informell in deine Alltagsaktivitäten einfließen zu lassen. 2. Mit schädlichen Einflüssen umgehen So wie Unkraut, Schädlinge, Hitze, Frost, Dürre oder Überschwemmungen deine Gartenpflanzen schädigen können, treten möglicherweise auch im täglichen Leben Schwierigkeiten auf, die deinem inneren Garten Schaden zufügen können. Es gibt verschiedene Übungen, die dich dabei unterstützen, mit schwierigen Bedingungen weise und mitfühlend umzugehen. – In stressigen Situationen und bei schwierigen Entscheidungen oder Dilemmata können die informellen Übungen wie die verschiedenen Atemräume (Atemraum mit Mitgefühl, Mitfühlendes Atmen, Klug und mitfühlend entscheiden) und die Selbstmitgefühls-Erinnerung nützlich sein. – Um der unserer automatischen Reaktivität weise zu begegnen, kannst du die Übungen „Mitfühlend mit Widerstand/Verlangen/inneren Mustern umgehen“ oder auch der „Mitfühlende Brief“, den du einem leidenden Teil in dir schreibst, nutzen. Und so, wie wir unseren Garten nicht jeden Tag wässern müssen, wenn es nicht trocken ist, kannst du diese Übungen einfach bei Bedarf praktizieren. 3. Wenig fruchtbare Ecken des Gartens liebevoll und geduldig nähren und pflegen Einige Bereiche des Gartens können so unfruchtbar, verfallen oder verunreinigt sein, dass dort nichts wächst. Es braucht spezielle Pflege und einen erfahrenen Gärtner, um auch diese Böden wieder fruchtbar zu machen. Ebenso kann es in uns selbst schwer verletzte, abgelehnte oder verhärtete Teile geben, die einer besonderen Pflege bedürfen. Diesen inneren Wüsten haben es vielleicht besonders schwer, Freundlichkeit zu empfangen und reagieren möglicherweise mit Schmerz (backdraft). Hier braucht es viel Geduld und Feingefühl, um Zuwendung und Freundlichkeit angemessen zu dosieren. Dabei ist es wichtig, zunächst einmal in Kontakt mit diesen kummervollen Bereichen zu kommen und zu sorgsam auf ihre tieferen Bedürfnisse zu lauschen, um dann die passenden Übungen auszuwählen.

Und wie geht es weiter?

203

Hier kann es hilfreich sein, dir vorzustellen, dass dein Kummer an einem sicheren Ort, von einem mitfühlenden Gefährten oder von dir als mitfühlendem Wesen gehalten werden kann. Möglicherweise ist auch sanftes mitfühlendes Atmen, das Schreiben eines mitfühlenden Briefes, Freundlichkeitsmeditation mit einem schwierigen Gegenüber oder Vergebung hilfreich. Zusätzlich kann vielleicht auch die Arbeit mit den Metaphern „Der Pferdeflüsterer“ und „Der Fluss des Lebens“ unterstützend sein. Resilienz als neue Definition für Gesundheit Gesundheit bedeutet nicht die völlige Abwesenheit von Krankheiten. Es bedeutet auch nicht Wohlergehen unter stets perfekten Umständen. Die Widerstandskraft vieler Pflanzen wird häufig erst durch weniger perfekte Umstände gestärkt. Die Auseinandersetzung mit Widrigkeiten lässt ihre Wurzeln wachsen und macht sie stärker und belastbarer. Ähnlich ist es bei uns selbst. Wenn wir lernen, mit Misserfolgen klug umzugehen und aus ihnen zu lernen, werden wir resilienter und wachsen mit diesen Herausforderungen. Resilienz gilt als die neue Definition für Gesundheit für Menschen und Gemeinschaften3. Gesundheit ist die Kapazität durch schwierige Bedingungen zu wachsen und zu erblühen.

Und wie geht es weiter? Damit der Vogel der Erleuchtung fliegen kann, muss er zwei Flügel haben: den Flügel der Weisheit und den Flügel des Mitgefühls. (Zen-Spruch)

Du bist nun beinahe am Ende dieses Praxisbuches angelangt. Wie kann es nun für dich weiter gehen? Erlaube dir, deinen eigenen Weg bei der Pflege deines inneren Gartens zu finden. Statt Vorbilder nachzuahmen, kannst du – mehr und mehr – ein Vorbild für andere sein, indem du einen mitfühlenden Umgang mit dir selbst und deinem Leid verkörperst. Auch wenn dies nach den Maßstäben deines kritischen Geistes manchmal noch sehr bescheiden zu gelingen scheint. Es erfordert viel Mut, uns der eigenen Verletzlichkeit bewusst zu sein und unsere ureigensten Antworten auf die Fragen des Lebens zu finden. Dies ist die Grundlage eines weisen und mitfühlenden Lebens und Zusammenlebens mit anderen.

3Zautra

A J, Hall J S & Murray K E (2010) Resilience: A new definition of health for people and communities. In Reich J R, Zautra A J & Hall J S (Herausgeber) Handbook of Adult Resilinece (S. 3–30). Guilford, New York.

204

Modul 8: Das Leben heilen

Es gibt viele Arten, deinen inneren Garten weiter zu pflegen. Während für die einen die tägliche formale Praxis unverzichtbar ist, üben andere nur dann und wann. Manche finden es schwierig, im Alltag Mitgefühl zu üben, wenn die formale Praxis nicht kontinuierlich aufrechterhalten wird, für andere geschieht dies jedoch ganz natürlich und „von selbst“. Alleine zu praktizieren ist für manche das Mittel der Wahl, andere brauchen die Unterstützung einer Gruppe, um zu meditieren. An vielen Orten gibt es Meditationsgruppen verschiedenster Traditionen, in denen geführte Meditationen angeboten werden. Manchmal ist auch ein Retreat, d. h. ein Zeitraum des meditativen Rückzugs, nützlich, um die Achtsamkeitspraxis wieder aufzufrischen oder weiter zu vertiefen. Vermehrt gibt es auch Online-Trainingsprogramme, die eine Fortführung der Praxis in eigener Regie ermöglichen. Ehemalige Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Achtsamkeitsoder Mitgefühlstrainings gründen am Ende des Trainings manchmal auch Praxisgruppen, in denen sie mit den Audio-Dateien und Kursmaterialien weiter üben oder sich gegenseitig selbst anleiten. Am Ende dieses Kapitels findest du auch eine Reihe von Büchern und hilfreichen Webseiten, um weiter mit diesem Thema in Verbindung zu bleiben. Falls du in deiner Übungspraxis mit Themen oder Schwierigkeiten konfrontiert wirst, die dir zu groß erscheinen, um sie alleine bearbeiten zu können, suche dir bitte professionelle Unterstützung, z. B. bei einem MBCL-Lehrer, Coach oder Therapeuten. Es ist keine Schande, sich Hilfe zu holen, sondern ein Akt der Freundlichkeit dir selbst gegenüber! Wenn du dieses Buch genutzt hast, um den Kurs zu Hause für dich zu absolvieren, dann könnte die Teilnahme an einem MBCL-Gruppentraining vielleicht dennoch eine Bereicherung für dich sein. Viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer schätzen gerade den Austausch mit Gleichgesinnten und die direkte Erfahrung des gemeinsamen Menschseins im Kurs. Inzwischen gibt es mehr und mehr zertifizierte MBCL-Lehrerinnen und -Lehrer, die auch im deutschsprachigen Raum MBCL-Kurse anbieten. Eine Übersicht findest du auf www.institut-fuer-achtsamkeit.de/leistungsspektrum/mbsr/mbsr-lehrende-finden. Wir wünschen dir, dass das achtsame Mitgefühl dir wie ein Kompass stets die Richtung in deinem Leben weisen möge. Mögest du in Sicherheit sein. Mögest du frei von Leiden sein und inmitten der Unvollkommenheiten des Lebens Ganzheit finden. Mögest du das innere Glück genießen und in Frieden mit dir selbst und mit den Menschen um dich herum leben. Mögest du deine Flügel von Weisheit und Mitgefühl ausbreiten und dir selbst Heilung bringen und auch jene Leben heilen, die du berührst.

Und wie geht es weiter?

205

Zusammenfassung Im achten Kapitel beschäftigen wir uns damit, wie Mitgefühl die Heilungsprozesse in unserem Leben unterstützen kann. Außerdem blicken wir zurück auf alle formalen und informellen Praktiken und Übungen im Kurs und zeigen auf, wie eine zukünftige Übungspraxis aussehen könnte.

Übungsvorschläge

• Nutze das Arbeitsblatt 8.1, um über den Prozess des Kurses zu reflektieren. • Überlege, welche Übungen du in den kommenden Wochen praktizieren und vertiefen möchtest. • Eine Zusammenfassung des gesamten Kurses findest du auf dem Arbeitsblatt 8.2. Du kannst es nutzen, um dir auch in Zukunft immer wieder die wichtigsten Themen und Übungen unseres Kurses ins Gedächtnis zu rufen.

Arbeitsblätter zum Herunterladen für Modul 8:

8.1 Evaluation des Kurses 8.2 Überblick über die Kurseinheiten

Elektronisches Zusatzmaterial M8_27 Der Fluss des Lebens M8_28 Freundlichkeitsmeditation – Die gesamte Sequenz

Anhang

Übersicht der Übungen mit Audio-Dateien Module 1–8 @ M1_01 Atemraum mit Freundlichkeit

40

@ M1_02 Ein sicherer Ort

40

@ M1_03 Freundlichkeitsmeditation – für dich selbst

40

@ M2_04 Mitfühlend mit Widerstand umgehen

69

@ M2_05 Atemraum mit Mitgefühl bei emotionalem Schmerz

69

@ M2_06 Ein mitfühlender Gefährte

69

@ M2_07 Freundlichkeitsmeditation – für einen Wohltäter

69

@ M3_08 Mitfühlend mit Verlangen umgehen

95

@ M3_09 Mitfühlend mit inneren Mustern umgehen

95

@ M3_10 Freundlichkeitsmeditation – für einen guten Freund

95

@ M4_11 Mitgefühl verkörpern/der Mitgefühlsmodus

117

@ M4_12 Freundlichkeitsmeditation – für eine neutrale Person

117

@ M4_13 Freundlichkeit für den Körper

117

@ M4_14 Gehen mit Freundlichkeit

117

@ M5_15 Freundlichkeitsmeditation – für eine „schwierige“ Person

142

@ M5_16 Mitfühlend atmen – für dich selbst

142

@ M5_17 Mitfühlend atmen – für andere

142

@ M6_18 Genuss erinnern und auskosten

174

@ M6_19 Dir selbst verzeihen

174

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Stocker et al., Mitgefühl üben, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26824-4_10

207

208

Anhang

@ M6_20 Um Verzeihung bitten

174

@ M6_21 Anderen verzeihen

174

@ M6_22 Freundlichkeitsmeditation – für alle Wesen

174

@ M6_23 Body-Scan mit Dankbarkeit

174

@ M6_24 Sitzen wie ein Pferdeflüsterer

174

@ M7_25 Gleichmut

194

@ M7_26 Mitfreude

194

@ M8_27 Der Fluss des Lebens

205

@ M8_28 Freundlichkeitsmeditation – Die gesamte Sequenz

205

Im Appendix: Grundlagen @ G_01 Atem-Meditation

224

@ G_02 Body-Scan

224

Liste der Arbeitsblätter Die folgenden PDF-Dokumente können unter https://www.springer.com/de/ book/9783658268237 heruntergeladen werden. Sie sind ausschließlich für den persönlichen, nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt. Einleitung & Grundlagen 0.1 Gewünschte Entwicklungen 0.2 Verlauf der Übungspraxis Module 1–8 1.1 Ein sicherer Ort 1.2 Freundlichkeit für dich selbst 1.3 Tagebuch: Beruhigungssystem 2.1 Mitfühlend mit Widerstand umgehen 2.2 Ein mitfühlender Gefährte 2.3 Tagebuch: Alarmsystem

Liste der Arbeitsblätter

3.1 Mitfühlend mit Verlangen umgehen 3.2 Innere Muster erforschen 3.3 Mitfühlend mit inneren Mustern umgehen 3.4 Tagebuch: Antriebssystem 4.1 So tun, als ob 4.2 Mitgefühl verkörpern/der Mitgefühlsmodus 4.3 Tagebuch: Innerer Kritiker 5.1 Tagebuch: Innerer Helfer 6.1 Dir selbst verzeihen 6.2 Dankbarkeit 6.3 Deine Werte 6.4 Tagebuch: Mitgefühl annehmen 7.1 Ein Tag in deinem Leben 7.2 Mitfühlender Frühwarnplan 7.3 Tagebuch: Mitgefühl schenken 8.1 Evaluation des Kurses 8.2 Überblick über die Kurseinheiten

209

Anhang

210

Das MBCL-Curriculum im Überblick

Christian Stocker 2019. All Rights Reserved.

Das MBCL-Curriculum im Überblick

Übersicht zum Buch: Stocker, C., Willms, J., Koster, F., Van den Brink, E. (2019) Mitgefühl üben. Das große Praxisbuch Mindfulness-Based Compassionate Living (MBCL). Springer, Wiesbaden. ISBN 978-3-658-26823-7

211

212

Anhang

Regelmäßige Praxis und Übungen bei Bedarf Insgesamt hast du eine Fülle von Übungen in diesem Programm kennengelernt. Sie alle sind wertvoll und um dir den Überblick und die Auswahl zu erleichtern, möchten wir sie an dieser Stelle ein wenig „sortieren“ (Abb. 1). Einige Übungen

Abb. 1  Regelmäßige Praxis und Übungen bei Bedarf

Weitere Informationen zum Lesen, Hören und Surfen

213

eigenen sich sehr für die regelmäßige Praxis, andere kannst du eher bei Bedarf praktizieren. Wieder andere zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich über mehrere Module hinweg erweitern. Einige lassen sich auch zu Gruppen zusammenfassen, um bestimmte Themen zu vertiefen, wobei es zwischen diesen Clustern auch manche Berührungspunkte und Überschneidungen gibt. Regelmäßige Praxis • Mit dem Vorstellungsvermögen das Beruhigungssystem nähren und Mitgefühl verkörpern • Die vier Lebensfreunde entwickeln • Informelle Übungen um das Beruhigungssystem zu nähren und Mitgefühl zu entwickeln Bei Bedarf • Mit Schwierigkeiten arbeiten • Hilfreiche Metaphern • Weitere Reflexionsübungen In diesem Raum der Möglichkeiten kannst du aus vielen Puzzleteilen eine für dich passende, individuelle Übungspraxis zusammensetzen, in der Eines ins Andere greift.

Weitere Informationen zum Lesen, Hören und Surfen Hier findest du eine kleine Auswahl an Buchtiteln aus der schnell wachsenden Literatur, die sich für ein breites Publikum eignen. Außerdem haben wir auch Webseiten mit weiterführenden Informationen aufgeführt. Achtsamkeit Heike Alsleben, Achtsame Wege aus der Depression. Scorpio Verlag, 2018. Jeffrey Brantley, Der Angst den Schrecken nehmen. Achtsamkeit als Weg zur Befreiung von Ängsten. Arbor Verlag, 2009. Vidyamala Burch, Gut leben trotz Schmerz und Krankheit. Der achtsame Weg, sich von Leid zu befreien. Goldmann Arkana Verlag, 2009. Jon Kabat-Zinn, Gesund durch Meditation. Fischer Verlag, 2013. Jon Kabat-Zinn, Im Alltag Ruhe finden. Meditationen für ein gelassenes Leben. Fischer Verlag, 2015. Jon Kabat-Zinn, Zur Besinnung kommen. Die Weisheit der Sinne und der Sinn der Achtsamkeit in einer aus den Fugen geratenen Welt. Arbor Verlag, 2006. Jack Kornfield, Joseph Goldstein, Einsicht durch Meditation. Die Achtsamkeit des Herzens. Arbor Verlag, 2018.

214

Anhang

Linda Lehrhaupt & Petra Meibert, Stress bewältigen mit Achtsamkeit. Zu innerer Ruhe kommen durch MBSR. Kösel Verlag, 2010. Linda Lehrhaupt, Die Wellen des Lebens reiten. Mit Achtsamkeit zu innerer Balance. Kösel Verlag, 2012. Linda Lehrhaupt, Petra Meibert und Karin Krudup, Stress bewältigen mit Achtsamkeit. MBSR- und Achtsamkeitsübungen für jeden Tag. Kösel Verlag, 2013. Edel Maex, Mindfulness. Der achtsame Weg durch die Turbulenzen des Lebens. Arbor Verlag, 2008. Heike Mayer, Achtsam leben. Das kleine 1x1 für ein Leben im Hier und Jetzt. Scorpio Verlag, 2015. Saki Santorelli, Zerbrochen und doch ganz. Die heilende Kraft der Achtsamkeit. Arbor Verlag, 2009. John Teasdale, Mark Williams, Zindel V. Segal, Das MBCT-Arbeitsbuch: Ein 8-Wochen-Programm zur Selbstbefreiung von Depressionen und emotionalem Stress. Arbor Verlag, 2015. Mark Williams, John Teasdale, Zindel V. Segal, Jon Kabat-Zinn, Der achtsame Weg durch die Depression. Arbor Verlag, 2009. (Selbst-)Mitgefühl Erik van den Brink & Frits Koster, Mitfühlend leben. Mit Selbst-Mitgefühl und Achtsamkeit die seelische Gesundheit stärken. Mindfulness-Based Compassionate Living – MBCL. Kösel Verlag, 2013. Christopher Germer, Der achtsame Weg zur Selbstliebe. Arbor Verlag, 2015. Paul Gilbert, Mitgefühl. Arbor Verlag, 2011. Paul Gilbert & Choden, Achtsames Mitgefühl. Ein kraftvoller Weg, das Leben zu verwandeln. Arbor Verlag, 2014. Kristin Neff, Selbstmitgefühl. Kailash Verlag, 2012. Vertiefende und weiterführende Literatur Karen Armstrong, Die Botschaft. Der Weg zu Frieden, Gerechtigkeit und Mitgefühl. Pattloch Verlag, 2012. James Baraz & Shoshana Alexander, Freude. Herder Verlag, 2013. Tara Brach, Mit dem Herzen eines Buddha. Heilende Wege zu Selbstakzeptanz und Lebensfreude. O. W. Barth Verlag, 2013. Brené Brown, Verletzlichkeit macht stark. Wie wir unsere Schutzmechanismen aufgeben und innerlich reich werden. Goldmann Verlag, 2017. Pema Chödrön, Meditieren, Freundschaft schließen mit dir selbst. Kösel Verlag, 2013. Pema Chödrön, Tonglen – Der tibetische Weg mit sich und anderen Freundschaft zu schließen. Arbor Verlag, 2001. Barbara Fredrickson, Die Macht der Liebe. Ein neuer Blick auf das größte Gefühl. Campus Verlag, 2014. Rick Hanson & Richard Mendius, Das Gehirn eines Buddha. Arbor Verlag, 2010.

Weitere Informationen zum Lesen, Hören und Surfen

215

Lynne Henderson, Finde den Mut, du selbst zu sein. Wie die Compassion Focused Therapy helfen kann, Schüchternheit zu überwinden. Arbor Verlag, 2012. Dalai Lama & Desmond Tutu, Das Buch der Freude. Lotos Verlag, 2016. Marie Mannschatz, Lieben und loslassen. Durch Meditation das Herz öffnen. Theseus Verlag, 2002. Mathieu Ricard, Allumfassende Nächstenliebe. Altruismus – die Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit. EditionBlumenau, 2017. Sharon Salzberg, Metta-Meditation, Buddhas revolutionärer Weg zum Glück. Arbor Verlag, 2003. Daniel J. Siegel, Mindsight – Die neue Wissenschaft der persönlichen Transformation. Goldmann Verlag, 2012. Weiter surfen www.institut-fuer-achtsamkeit.de Webseite des Institutes für Achtsamkeit und Stressbewältigung. Hier findest du neben ausgebildeten MBSR- und MBCT-Lehrenden auch Informationen über MBCL in Deutschland und der Schweiz sowie über die Weiterbildung zur/zum MBCL-LehrerIn www.mbsr-verband.org Webseite des deutschen MBSR- und MBCT-Verbandes. Hier kannst du u.a. anhand deiner Postleitzahl einen MBSR-/MBCT-/MBCL-Kurs in deiner Nähe finden www.mbsr-verband.ch www.mbsr-mbct.at Webseiten des MBSR-Verbandes für die Schweiz und Österreich www.compassionateliving.info Webseite von Frits Koster www.mbcl.org Webseite von Erik van den Brink www.achtsamkeit-willms.de Webseite von Jana Willms www.abenteuer-achtsamkeit.de www.mitgefuehlspraxis.de Webseiten von Christian Stocker

Appendix

Übung: Atemmeditation (G_01) Die Atmung geschieht einerseits meist automatisch und von selbst, andererseits können wir sie auch bewusst wahrnehmen und sogar verändern. In der Atemmeditation bist du eingeladen, den natürlich fließenden Atemrhythmus und die damit verbundenen Körperempfindungen bewusst zu spüren, ohne etwas daran zu verändern.

Übung

1. Sitzhaltung finden Erlaube Dir innezuhalten … die Geschäftigkeit des Alltags loslassen … und dich dir selbst mit einer freundlichen und interessierten inneren Haltung zuwenden. … … Finde für die Übung eine aufrechte und gleichzeitig bequeme Haltung. … Eine Haltung die für dich ein inneres Gefühl von Wachheit und Würde ausdrückt. … … … Spüre, wie der Körper von der Unterlage getragen wird, gestützt wird … … und spüre auch das sanfte Wachsen des Rückens nach oben … … … Das Becken in einer mittleren Stellung, sodass sich die Wirbelsäule über dem Becken aufrichten kann … … der Kopf ruht zwischen den Schultern … … … Die Hände ruhen bequem auf den Oberschenkeln, auf den Knien oder ineinander … … Du kannst den Augen erlauben, sich sanft zu

Zusatzmaterial online Zusätzliche Informationen sind in der Online-Version dieses Kapitel (https://doi. org/10.1007/978-3-658-26824-4_11) enthalten. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Stocker et al., Mitgefühl üben, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26824-4_11

217

218

Appendix

s­ chließen, wenn das angenehm für dich ist, oder sie leicht geöffnet halten, mit weichem Blick auf den Boden vor dir. … … … 2. Den Atem spüren Und dann – wenn du so weit bist – behutsam spüren, wie der Körper jetzt atmet … … … wie die Luft hinein und wieder hinaus fließt … … … Wo spürst du am lebendigsten, dass der Körper atmet? … … Vielleicht im Bauch, der sich sanft hebt und senkt … … vielleicht im Brustkorb … … oder im Bereich der Nase … … … … Wenn du den Bereich gefunden hast, wo der Atem jetzt am lebendigsten spürbar ist, kannst du der Aufmerksamkeit erlauben, sich in den Atemempfindungen nieder zu lassen … … … Du darfst dem Atem erlauben ganz von alleine zu kommen und zu gehen. Du brauchst nichts zu tun, nichts zu verändern. Alles darf einfach so sein wie es jetzt ist. … … Wach und interessiert spüren wie es sich körperlich anfühlt, wenn der Atem kommt und geht … … … Vielleicht fühlt sich der Atem gerade ruhig an oder tief: dann bemerkst du das. … Oder er fühlt sich holprig an oder flach: dann bemerkst du das – mit der gleichen freundlichen Aufmerksamkeit. … … … Mit der Aufmerksamkeit auf den Wellen von Einund Ausatmung reiten, wie ein kleines Blatt auf der Oberfläche eines Sees ……… 3. Abschweifen bemerken, benennen und zurückkehren Wenn du nach einer Weile bemerkst, dass sich der Geist von der Atemempfindung wegbewegt hat, … erkenne an, wo du warst. … Und es hilfreich für dich ist, kannst du eine kleine innere Notiz machen: denken, denken, oder planen, oder erinnern, oder grübeln. Dann löse dich freundlich davon, und kehre mit der Aufmerksamkeit zurück zum Atem. … … Immer wieder … klar und freundlich … zurückkommen zu diesem Atemzug, der jetzt geschieht. … … Sanft mit der Aufmerksamkeit auf den Wellen der Atmung reiten … … und geduldig wieder und wieder zurückkehren zum Atem. … Ohne Drama … … … Und dich dann darauf einstimmen, die Übung langsam zu beenden … … … Spüren, was der Körper jetzt braucht … … seinen Bedürfnissen folgen … vielleicht sanft bewegen … genüsslich räkeln … tiefer atmen … … … Und wenn Du so weit bist, kannst du den Augen behutsam erlauben sich zu öffnen … und in aller Ruhe zurückkehren in deinen Tag. Der Atem findet immer in der Gegenwart statt, wenn du seiner Gewahr wirst, verankerst du dich im Hier und Jetzt. Als biologischer Prozess ist die Atmung ein neutrales Meditationsobjekt, das jederzeit verfügbar ist. Der Atem ist auch Spiegel unseres Befindens: jede Emotion, jede Stimmung hat ihren eigenen Atemrhythmus. Der Fluss des Atems wird normalerweise durch das autonome Nervensystem ohne unser bewusstes Zutun geregelt, er kann jedoch auch willentlich gesteuert werden.

Übung: Body-Scan

219

Bei der achtsamen Beobachtung des Atems üben wir es, loszulassen und geschehen zu lassen. Man könnte dies auch „aktives Nicht-Tun“ nennen. Da Atmung mit Bewegung und Empfindungen im Körper verbunden ist, erleichtert dies vielen Menschen die Fokussierung der Aufmerksamkeit. Durch die Atembeobachtung kannst du dich nicht nur darin üben, deine Aufmerksamkeit bewusst auszurichten und fokussiert im Moment zu halten, sondern auch deine Wahrnehmung von der äußeren Umgebung auf dein inneres Erleben im Körper zu lenken. Wenn der Geist früher abschweift – das wird es früher oder später – kann das „Benennen“ hilfreich sein, um zunächst achtsam anzuerkennen, wohin die Aufmerksamkeit gewandert ist, um dann bewusst und sanft wieder zum Atem zurückzukehren.

Übung: Body-Scan (G_02) In dieser Übung geht es darum, den Körper mit all seinen Empfindungen mit einer wachen, freundlichen und annehmenden inneren Haltung zu erkunden.

Übung

1. Ankommen im Moment Finde für die Übung einen ruhigen Platz, an dem du dich geborgen fühlst und wo du nicht gestört wirst. Du kannst dich auf den Rücken legen, auf eine Matte oder eine dicke Decke … vielleicht mit einem Kissen unter dem Kopf oder den Knien und so, dass der Körper warm bleibt. … Wenn du nicht gut auf dem Rücken liegen kannst, fühle dich frei, eine andere Lage zu wählen, die bequem für dich ist. Die Beine sind ausgestreckt, wenn das angenehm ist, und die Füße dürfen nach außen sinken. Die Arme liegen neben oder auf dem Körper … und wenn es stimmt, den Augen erlauben sich sanft zu schließen … … Und du kannst dir noch einmal bewusst machen, dass die Zeit für diese Übung eine Zeit ist, die du dir selbst schenkst. Zeit, um Pause zu machen vom Beschäftigt-Sein, vom Tun … und auf freundliche und interessierte Weise Kontakt mit dir aufzunehmen … und deine körperliche Lebendigkeit zu spüren. Es ist gut zu wissen, dass es bei dieser Übung nichts zu leisten oder zu erreichen gibt. Und es geht auch nicht darum zu entspannen oder ruhig zu werden. Was wir üben ist, die Aufmerksamkeit bewusst zu lenken um die Empfindungen in den verschiedenen Teilen des Körpers wahrzunehmen und anzunehmen, was gerade da ist – ganz egal, ob eine Erfahrung gerade angenehm oder weniger angenehm ist. Während der Übung werden wahrscheinlich immer wieder Gedanken im Geist aufsteigen. Das ist ganz natürlich. … Wenn du merkst, dass du denkst, kannst du dich dafür entscheiden die Gedanken jetzt nicht weiterzudenken. Erlaube ihnen vorüber zu ziehen wie Wolken am ­

220

Appendix

­ immel … und bringe die die Aufmerksamkeit dann sanft und doch klar H zurück zu den Anleitungen, die du hörst. Bringe die Aufmerksamkeit dann sanft zum Körper … … spüre, wie er jetzt hier sitzt oder liegt … … Und vielleicht auch noch etwas verändern an deiner Haltung, um des dir noch bequemer zu machen … … gibt es irgendwo Spannung, die jetzt eigentlich nicht mehr nötig wäre, und die sich vielleicht lösen darf, wenn du sie bemerkst … … … dich tragen lassen von der Unterlage … anvertrauen. Wende dich dir selbst nun ganz bewusst zu und spüre, wie du jetzt hier sitzt oder liegst. … … Vielleicht fühlst du dich angespannt … oder ruhig und entspannt … vielleicht müde oder schläfrig … Was auch immer du spürst: Du musst nichts tun, nichts verändern. Alles darf genau so sein, wie es ist. 2. Atem spüren Und wenn du soweit bist sanft fühlen, wie der Körper atmet. … … … Wo fühlst du den Atem am lebendigsten? … Vielleicht spürst du wie sich der Bauch oder Brustkorb beim Einatmen weitet … und beim Ausatmen zurück sinkt … … … vielleicht die Berührung der Luft im Bereich der Nase … … … Dem Atem erlauben auf seine eigene Weise ein und aus zu fließen… dich atmen lassen … … und spüren, wie es geschieht. … … … Mit der Aufmerksamkeit auf den Wellen der Atmung reiten, wie ein kleines Blatt, das auf der Oberfläche eines Sees schwimmt … … … 3. Füße und Beine Und wenn du bereit bist, mit der Aufmerksamkeit zu den Zehen des linken Fußes fließen… und den großen Zeh spüren … den kleinen Zeh und die Zehen dazwischen. … Und dir bewusst werden, welche Körperempfindungen dort spürbar sind … … … Ganz normale Körperempfindungen. Vielleicht ist da ein prickeln, ein jucken, Wärme oder Kühle, ein pochen … und wenn du nichts fühlst, dann ist das genauso in Ordnung. Dann kannst du dir einfach bewusst sein, wie sich dieses Nichts-Fühlen anfühlt. … Dann weiter fließen mit der Aufmerksamkeit zur linken Fußsohle … mit ihren Wölbungen … ihren Rändern … Dann die Ferse … vielleicht die Stelle, wo sie die Unterlage berührt … … Dann sanft durch den Fuß hindurch gleiten mit der Aufmerksamkeit und den Fußrücken spüren … … dir bewusst werden, was du dort spürst … oder vielleicht auch nicht spürst … Dann weiter zum linken Fußgelenk … mit dem Außenknöchel … dem Innenknöchel … und auch ins Gelenk hinein spüren … … und dann den ganzen linken Fuß mit allen Empfindungen wahrnehmen … … Und dann weiter hinauf gleiten zum linken Unterschenkel … … Spüre die Rundung der Wade … vielleicht Kontakt mit dem Boden … …. dann durch den Unterschenkel hindurch gleiten und das Schienbein fühlen … und dann alle Empfindungen im linken Unterschenkel spüren. – Empfindungen an der Oberfläche, – und auch in der Tiefe – – –

Übung: Body-Scan

221

Und dann die Aufmerksamkeit weiter hinauf gleiten lassen zum linken Knie … … die Kniescheibe spüren … die Kniekehle … die Seiten des Knies… weiter zum linken Oberschenkel, mit seiner Rückseite … vielleicht gibt es Kontakt mit der Unterlage … … und dann hindurch fließen durch den linken Oberschenkel und auch die Vorderseite spüren – vom Fußgelenk bis rauf zur Hüfte … … … dich für die Empfindungen im ganzen linken Bein öffnen … deine Lebendigkeit … … Und dann die Aufmerksamkeit von der linken Hüfte hinüber zur rechten Hüfte gleiten lassen … und das ganze rechte Bein hinunter, bis zu den Zehen des rechten Fußes. Und du kannst dich überraschen lassen, was hier spürbar ist … … vielleicht die große Zehe … den kleinen Zeh … die Zehen dazwischen … Vielleicht spürst du auch die Zwischenräume zwischen den Zehen … … Dann weiter fließen zur rechten Fußsohle … mit ihren Wölbungen … Rändern … … Dann weiter zur rechten Ferse … vielleicht gibt es Empfindungen von Kontakt zum Boden … und dann durch den Fuß hindurchfließen und den rechten Fußrücken spüren … … Dann weiter nach oben wandern, zum rechten Fußgelenk … den Außenknöchel spüren … den Innenknöchel … und auch ins Gelenk hinein … Dann den ganzen rechten Fuß spüren … von den Zehenspitzen bis rauf zum Fußgelenk … Erlaub den Empfindungen so zu sein, wie sie sind … sie empfangen … registrieren …. ohne dich dabei anzustrengen. … … Dann dem Fuß erlauben, mehr in den Hintergrund zu treten … und weiter wandern zum rechten Unterschenkel … die Rundung der Wade … … und hindurch gleiten und das rechte Schienbein spüren … … vielleicht ist da Trockenheit spürbar … Wärme oder Kühle … … Dann langsam weiter zum rechten Knie … mit seiner Kniescheibe … der weichen Haut in der Kniekehle … die Seiten des Knies … … Dann weiter fließen zum rechten Oberschenkel mit seiner Rückseite … … vielleicht gibt es Kontakt mit der Unterlage … … und hindurchfließen und die Empfindungen auf der Vorderseite des Oberschenkels empfangen … vom Knie bis hinauf zur Leiste … … 4. Rumpf Dann den Bereich zwischen rechter und linker Hüfte spüren … den Beckenbereich … die Vorderseite des Beckens … die Genitalien … und auch die Rückseite des Beckens, die Gesäßhälften … vielleicht den Kontakt mit der Unterlage… … Empfindungen von Druck vielleicht … oder Schwere … Dann weiter fließen mit der Aufmerksamkeit zum unteren Rücken. … Öffne dich behutsam für die Empfindungen hier. … Was ist spürbar? … Und es ist gut möglich, dass du bei dieser Reise durch den Körper zu Bereichen mit intensiven Empfindungen kommst. … Du dich dann – so, wie es möglich ist – sanft für die Empfindungen öffnen … ihnen für

222

Appendix

d­ iesen Moment erlauben da zu sein … mit ihnen atmen … und bemerken, was im Licht dieser freundlichen, nicht-urteilenden Achtsamkeit geschieht … … Und vielleicht bemerkst du Gedanken oder vielleicht auch Impulse dich zu bewegen. Und du kannst ihnen dann erlauben vorüber zu ziehen, und zurückkommen und den Körper spüren. Die Aufmerksamkeit jetzt wieder in den unteren Rücken bringen und dich öffnen, für das, was dort jetzt spürbar ist … … Dann weiter hinauf und den oberen Rücken spüren … die Schulterblätter … den Raum zwischen den Schulterblättern … und dann den ganzen Rücken – vom Becken bis zu den Schultern wahrnehmen … die Empfindungen empfangen … … Vielleicht spürst du die Bewegung des Brustkorbs durch den Atem … … oder Kontakt mit der Unterlage … … wach … aufmerksam … und annehmend mit den Empfindungen sein … …. Die Aufmerksamkeit dann langsam hinunter zum Unterbauch fließen lassen … und die Empfindungen empfangen … … dann langsam weiter zum Oberbauch … … und dann den ganzen Bauchraum. … …. Und du kannst dem Atem erlauben auf seine Weise zu kommen und zu gehen … … nichts tun müssen … nichts verändern müssen … einfach da sein mit dem Atem, wie er fließen will … … … Dann weiter hinauf und den Brustkorb spüren … … vielleicht Berührung der Kleidung … oder das Herz … die Atmung … … 5. Hände und Arme Und wenn du so weit bist, mit der Aufmerksamkeit langsam zu den Schultern kommen … und dann beide Arme hinunter fließen bis zu den Fingerspitzen beider Hände … … und die Empfindungen in den Fingerspitzen fühlen … … Vielleicht ist da ein prickeln oder Wärme oder Kühle … … Und dann weiter hinauf und alle deine Finger fühlen … … weiter zu den Handflächen … und auch dem kleinen Raum, der immer darunter ist … … dann hindurch fließen durch die Hände und die Handrücken spüren … vielleicht den Kontakt mit der Luft … der Decke … Dann weiter nach oben wandern und die Handgelenke spüren. … Dann weiter … zu den Unterarmen, bis hinauf zu den Ellbogen … die knöcherne Rückseite beider Ellbogen fühlen … und auch die weiche Haut in den Ellbeugen … … Dann weiter und die Empfindungen in den Oberarmen fühlen … bis zu den Achselhöhlen … 6. Schultern, Hals und Kopf Und dann mit der Aufmerksamkeit zu den Schultern fließen und die Empfindungen im Schulter-Nacken-Bereich wahrnehmen … ein Bereich, wo sich oft Spannung sammelt … … Und wie ist es jetzt dort? … Was ist spürbar? … … Die Empfindungen wahrnehmen und da sein lassen … Dann mit der Aufmerksamkeit zur Vorderseite des Halses gleiten, und die Kehle spüren … … vielleicht spürst du auch die Luft, die ein bisschen kühler kommt, als sie geht … … …

Übung: Body-Scan

223

Weiter hinauf und die Kiefergelenke spüren … und dann den ganzen Kiefer bis zur Kinnspitze … … alle Empfindungen spüren … … Dann weiter zu den Lippen … vielleicht sind sie feucht, oder trocken … vielleicht sind sie in Kontakt miteinander, oder auch nicht … Dann in den Mundraum gleiten und die Zähne spüren … das Zahnfleisch … die Zunge, wie sie im Mund liegt … den Gaumen … den Rachen … … Spüre das Innere der Wangen … und dann das Äußere … dann weiter zur Nase … mit dem Nasenrücken … den Nasenflügeln … den Nasenöffnungen … vielleicht ist die Berührung der Luft spürbar … … Dann weiter fließen zu den Wangenknochen, bis hinauf zu den Schläfen … zu den Augen, und die Augenlieder spüren … die Augäpfel in den Höhlen … die Augenbrauen … den Raum zwischen den Augenbrauen … den ganzen Bereich um die Augen herum … die Schläfen … und die Stirn … das ganze Gesicht spüren … Dann weiter fließen und den behaarten Teil des Kopfes spüren… die Kopfhaut … vielleicht den Kontakt mit der Unterlage … und dann weiter, wenn du so weit bist, und die weiche Haut hinter den Ohren spüren, wo keine Haare sind … die Ohrmuscheln … die Innenohren … Und dann mit der Aufmerksamkeit zum höchsten Punkt des Kopfes fließen… zum Scheitelpunkt … Welche Empfindungen sind hier spürbar? … … 7. Körper als Ganzes und Abschluss Und wenn du bereit bist, der Aufmerksamkeit erlauben sich vom Scheitelpunkt aus auszubreiten und den ganzen Körper einzuhüllen, als stündest du unter einer wohltemperierten Dusche … Den Kopf spüren… die Schultern… die Arme… bis hinunter zu den Fingerspitzen … den Rumpf … das Becken … die Beine … bis zu den Zehenspitzen … ein ganzes Universum an Empfindungen … … manche deutlicher spürbar … … andere subtiler … … angenehme Empfindungen … unangenehme Empfindungen … neutrale Empfindungen … wie sie kommen und gehen … sich wandeln und verändern … … … sie anerkennen, wie sie sind … … freundlich … interessiert … Und wenn du so weit bist, kannst du dem Körper als Ganzes und den Empfindungen erlauben mehr in den Hintergrund zu treten … … und die Aufmerksamkeit wieder zum Atem bringen … … … spüren, wie er fließt … … dieser Atemzug … und dieser … … Dich atmen lassen. Der Körper weiß schon, wie das geht … … … Stimme dich nun darauf ein, die Übung in deiner Zeit zu beenden … … Spüren, was der Körper jetzt braucht … was gut tut … … vielleicht etwas tiefer atmen … sanft bewegen, dehnen, genüsslich räkeln und strecken … … und wenn du so weit bist, den Augen erlauben sich zu öffnen und etwas Licht hinein lassen … Und dann – in aller Ruhe – zurückkehren in deinen Tag.

224

Elektronisches Zusatzmaterial G_01 Atem-Meditation G_02 Body-Scan

Appendix

Stichwortverzeichnis

A Acceptance & Commitment Therapy (ACT), 163 Achtsamkeit, 8, 31, 48, 49, 64, 89, 90, 149, 184, 196 Achtsamkeitstraining, 7, 9 Achtsamkeitstrainingsprogramm, 8 Achtsamkeitsübung formale, 191 informelle, 191 Alarmmodus, 77, 126, 177 Alarmsystem, 24, 25, 31, 46, 51, 105, 137, 179, 188 Tagebuch, 68 Altruismus, 53, 137, 183 Angst, 25, 56, 61, 84, 107, 150, 179, 191 Antreiber, 81 Antriebsmodus, 78, 107 Antriebssystem, 24, 26, 31, 37, 58, 60, 63, 74, 106, 137, 146, 179, 188 Tagebuch, 93 Arbeitsblätter, 13, 40, 69, 95, 117, 142, 168, 194, 205, 208 Ärger, 23, 56, 98, 132, 150 Argumentieren, 106, 107 Armstrong, Karen, 53 Atemmeditation, 56, 217 Atemraum, 18, 180, 201 für weises und mitfühlendes Handeln, 181 mit Freundlichkeit, 18, 49 mit mitfühlendem Atmen, 140 mit Mitgefühl, 49 Atemrhythmus, beruhigender, 18, 31, 56, 105, 112, 132, 201 Atmen, 37, 81, 133, 136, 181 mitfühlendes, 131, 137, 154, 168, 202 Atemraum, 140 für andere, 137 für dich selbst, 134

Audio-Datei, 13, 207 Aufmerksamkeit, 25, 26, 30, 56, 76, 78, 80, 105, 184 B Backdraft, 56, 57, 61 Bedrohung, 26, 30, 52, 77, 105, 179 äußere, 46 innere, 46 Bedürfnis, 24, 51, 56, 76, 78, 80, 119, 180 Belohnung, 27, 74, 78, 179 Beruhigungssystem, 24, 26, 29, 30, 57, 60, 63, 113, 146, 179, 184, 188, 213 Tagebuch, 39 Berührung, 31, 38, 54, 56, 105, 148, 192 Bindung, 26, 28, 31, 58, 179 Body-Scan mit Dankbarkeit, 169 Brach, Tara, 151, 183 Brahm, Ajahn, 201 Brief, mitfühlender, 120, 202 Brown, Brené, 83 Burch, Vidyamala, 112 Burn-Out, 52, 191 C Chiron, 196 Cohen, Leonard, 195 Common humanity, 47 Compassion Focused Therapy (CFT), 18 D Dalai Lama, 53, 175 Dämonen, 41, 42 Dankbarkeit, 39, 81, 106, 145, 159, 160, 169 Darwin, Charles, 52, 103

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Stocker et al., Mitgefühl üben, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26824-4

225

226 Denken, 21, 30, 77, 106, 107, 162 de Waal, Frans, 52 Dissoziation, 26 Dreikurs, Rudolf, 162 Du-zuerst, 52, 54, 179, 180, 191 E Egoismus, 53 Ego-System, 147, 179, 191 Eifersucht, 75, 84, 106, 132, 150 Einfühlungsvermögen (Empathie), 53, 104, 122, 184 Einstein, Albert, 63 Emotion, 21, 23, 106 soziale, 83, 85 Empathie (Einfühlungsvermögen), 84, 122 Entspannung, 54, 113, 192 Erschöpfung, 27, 52 Erstarren, 26, 46, 47, 51, 179 Evans, Nicholas, 172 Evolution, 15, 20, 23, 30, 51, 52, 75, 81, 83, 105, 184 F Farbe, 37, 54 Fight and flight, 28 Fixsterne, 162, 165 Flucht, 46, 47, 51, 179 Fluss des Lebens, 197, 203 des Mitgefühls, 98 Form, 37 idealisierende, 59 Forschung, 130, 151, 183 Fredrickson, Barbara, 130 Freundlichkeit, 13, 18, 23, 31, 37, 47, 49, 52, 53, 56–59, 61, 97–99, 102, 104, 111, 132, 143, 148, 149, 151, 173, 176, 180, 183, 184, 196, 201, 202, 204 anderen gegenüber, 130 beim Gehen, 114 für den Körper, 109, 169, 202 liebevolle, 147, 148, 150, 168 Freundlichkeitsmeditation, 130, 131, 203 für alle Wesen, 165 für eine „schwierige“ Person, 126 für eine neutrale Person, 108 für einen guten Freund, 92 für einen Wohltäter, 67 für sich selbst, 34 Herausforderungen, 131 Frühwarnplan, 191

Stichwortverzeichnis Fühlen, 25, 38, 46, 63 Fürsorgesystem, 29, 90, 102 G Garten, 144 innerer, 204 unseres Herzens, 201 Geduld, 18, 56, 59, 105, 107, 132, 173, 180, 182, 202 Gefährte, mitfühlender, 64, 106, 123, 128, 192, 202 Gehirn, 19, 27, 31, 46, 51, 61, 92, 99, 105, 107, 130, 143, 144 achtsames, 22 altes, 47, 76, 77 neues, 47, 63, 76, 77, 151 Genuss, 26, 144 Genussspaziergang, 38, 105, 147, 201 Germer, Christopher, 47, 55, 56 Geruch, 38, 54 Geschmack, 38, 54, 105 Gesundheit, 191, 203 emotionale, 151 Gilbert, Paul, 17, 22, 24, 56, 64, 102 Gleichgültigkeit, 23, 132, 150 Gleichmut, 52, 133, 143, 147–150, 180, 185, 188, 202 Glück, 20, 22, 24, 60, 92, 98, 103, 143, 146, 150, 159, 163, 189 Glücksforschung, 146 Goethe, Johann Wolfgang, 75 Großzügigkeit, 54, 75, 97, 183 Grübeln, 21, 48, 51, 63, 82, 107 H Habsucht, 75 Hanson, Rick, 30, 105 Heartful mind, 175, 184 Heartfulness, 55 Heartless mind, 184 Helfer, innerer, 90, 107, 192 Tagebuch, 141 Herz, 26, 31, 49, 55, 75, 106, 113, 130, 132, 136, 160, 163, 184, 185 Herzensqualitäten, 133, 143, 147, 148, 183, 188, 201 Hochmut, 75, 85, 106, 149, 150 Homo sapiens sapiens, 22, 23 I Ich-zuerst, 52, 54, 179, 180, 191 Identifikation, 47, 125, 126, 137

Stichwortverzeichnis J John, Elton, 155 K Kabat-Zinn, Jon, 23 Kampf, 25, 37, 46, 47, 51, 54, 75, 90, 91, 132, 179 karuna, 53 Keltner, Dacher, 53 Klang, 37, 54 Kornfield, Jack, 195 Körper, 16, 22, 26, 31, 38, 39, 46, 49, 54, 57, 59, 63, 105, 109, 111, 125, 132, 136, 143 Körperhaltung, 98, 181 Kritiker äußere, 181 innerer, 78, 81, 83, 90, 107, 181 Tagebuch, 116 L Lao Tzu, 124 Lebensfreunde, 189 Lehrhaupt, Linda, VIII Leiden, 17, 48, 49, 61, 105, 137, 148, 184, 196, 197 Liebe, 34, 53, 57, 75, 130, 148, 163 Lotus des Mitgefühls, 102, 103 M Mandela, Nelson, 157, 196 MBCL s. Mindfulness-Based Compassionate Living MBCT s. Mindfulness-Based Cognitive Therapy McGonigal, Kelly, 46 Metapher, 213 Metta, 129 Mindful heart, 175, 184 Mindfulness, 55 Mindfulness-Based Cognitive Therapy (MBCT), 8, 11, 18, 181, 192 Mindfulness-Based Compassionate Living (MBCL), 10, 13, 16, 81, 102, 148, 204 Mindful Self-Compassion (MSC), 10 Mindless heart, 184 Misstrauen, 56, 77 Missverhältnis, evolutionäres, 20

227 Mitfreude, 62, 133, 143, 147, 148, 150, 180, 188, 202 Mitgefühl, 15, 17, 31, 38, 42, 49, 52–54, 59, 143, 148–150, 176, 180, 201 verkörpern, 97, 100, 106 Mitgefühlsforschung, 10 Mitgefühlsmodus, 79, 122, 202 Mitgefühls-Survival-Kit, 192 Mitgefühlstraining, 10, 58, 61, 63, 99, 143, 204 Mitleid, 54, 61, 150 Modus, 77, 91 Motivation, 24, 60, 80, 103, 150, 175, 181, 185 Du-zuerst-Motivation, 178 Ich-zuerst-Motivation, 179 Wir-zusammen-Motivation, 178 Motivationssystem, 29, 179 MSC s. Mindful Self-Compassion Musik, 37, 105, 145 Muster, 75, 77, 81, 89–91, 191 inneres, 76, 89, 202 mitfühlendes Umgehen, 87 Mut, 17, 37, 41, 59, 61, 104, 122, 134 N Neff, Kristin, 47, 48, 184 Negativitäts-Tendenz, 46 Neid, 26, 78, 84, 149, 150, 188 Neuropsychologie, 99 Neurowissenschaft, 20, 64, 183 Neurozeption, 30 Nietzsche, Friedrich, 163 O O´Donohue, John, 97 Öko-System, 147, 179, 191 Ort, sicherer, 32, 168, 202 Oxytocin, 28, 31, 51 P Panik, 25, 57 Parasympathikus, 27 Pferdeflüsterer, 169, 172, 203 Porges, Stephen, 30 Positivitätsresonanz, 130 Praxis formale, 180, 204 informelle, 180 Proust, Marcel, 41

Stichwortverzeichnis

228 Q Quälgeist, 47, 81, 89, 104, 123, 196 R Reflexion, 34, 37, 39, 45, 66, 68, 74, 89, 94, 101, 116, 119, 141, 155, 159, 167, 176, 178, 193, 200, 213 Regulationssystem, emotionales, 15, 23, 29, 77, 137 Reptiliengehirn, 20, 21, 52 Resilienzimpfung, emotionale, 136 Resonanz, 49, 131 emotionale, 103, 122 Rest and digest, 27 Richard, Matthieu, 104 Rinpoche, Dudjom, 187 Route kurze/niedrige, 21, 31, 51 lange/hohe, 21, 31 Ruhe, 27, 30, 37, 54, 63, 79, 184, 186, 192 Rumi (ind. Dichter), 75, 144 S Säkular, 129, 134 Salzberg, Sharon, 185 Säugetiergehirn, 53 altes, 20 neues, 20 Scham, 83, 85, 107, 152, 158 Schemata, 76, 89 Schmerz, 22, 26, 54, 57, 58, 61, 104, 112, 134 emotionaler, 43, 48, 77, 132, 136 Schüchternheit, 83, 84 Schuld, 22, 49, 75, 77, 82, 84, 85, 107, 152 Seins-Modus, 27 Selbstisolation, 47 Selbstkritik, 47, 56, 61, 81 Selbstmitgefühl, 10, 29, 41, 47, 48, 53, 55, 56, 59, 61, 80, 90, 132, 158 Selbstmitgefühls-Erinnerung, 48, 52, 180, 202 Selbstmitleid, 75 Selbstwertgefühl, 31, 79, 80 Sensitivität, 17, 103, 122 Sicherheit, 26, 38, 56, 89, 124, 179 Siegel, Daniel, 59 Stolz, 81, 83, 84 Stresshormon, 27 Stressreaktion, 26, 47, 51, 58, 63 Stresstoleranz, 104, 122

Sucht, 21 Survival, 192 of the fittest, 52 of the kindest, 53 T Tagebuch, 123, 180 Alarmsystem, 68 Antriebssystem, 93 Beruhigungssystem, 39 innerer Helfer, 141 innerer Kritiker, 116 Mitgefühl annehmen, 167 Mitgefühl schenken, 192 Tend and befriend, 51, 77, 82, 179 Therapie, 38, 56 Toleranz, 104 Tonglen, 131 Traurigkeit, 57, 132, 139, 159, 191 Trost, 120, 154, 157 Tun-Modus, 27 Twain, Mark, 45 Tyrann, 81, 107 U Überidentifikation, 47, 48, 150 Übung, informelle, 213 Uecker, Dietrich, 126 Unterwerfung, 26, 76 Urge Surfing, 74 V Vagotonus, 31 Vagus-Nerv, 27 Verbundenheit, 26, 48, 54, 106, 147, 148, 150 Vergebung, 49, 151, 154, 159 Verhalten, 24, 25, 77, 82–84, 106, 107, 133, 137, 158, 163, 179 prosoziales, 28, 165, 183 Verlangen, 62, 71, 74, 75, 78, 196, 202 Verlegenheit, 84 Verspieltheit, 62, 101, 102 Verzeihung, 151, 152, 155–157 Vier Lebensfreunde, 147, 202, 213 Vorstellung, 17, 32, 38, 43, 62, 64, 76, 77, 81, 106, 124, 144, 165, 202 Vorstellungsvermögen, 63, 99, 106, 137, 213

Stichwortverzeichnis W Wahrnehmung, sinnliche, 105 Wärme, VII, 26, 31, 37, 55, 57, 86, 102, 138, 145, 181 Weisheit, 18, 23, 53, 75, 89, 104, 123, 132, 148, 165, 183, 184, 203 Werkseinstellung, 31, 63 Werte, 54, 60, 147, 162, 163, 196 Wettbewerbsmodus, 78, 79, 81, 89, 102, 107 Widerstand, 25, 32, 37, 56, 60, 62, 89, 132, 150, 196, 202 Widerstandskraft, 104, 136, 203 Wilde, Oscar, 74

229 Williams, Mark, X Wir-zusammen, 52, 54, 179, 191 Wohlbefinden, 26, 32, 61, 63, 79, 92, 99, 103–105, 107, 123, 132 Y Yoga, 54, 111 Z Zuwendung, 53, 57, 77, 120, 202