Heilige Orte Der Antike: Gesammelte Studien Im Anschluss an Eine Ringvorlesung Des Exzellenzclusters Religion Und Politik in Den Kulturen Der ... Munster Im Wintersemester 2013/2014 (Kasion) 3963270284, 9783963270284

Sacred spaces are sites separated from everyday life. They are associated with symbolical and ritual activity, serving t

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Heilige Orte Der Antike: Gesammelte Studien Im Anschluss an Eine Ringvorlesung Des Exzellenzclusters Religion Und Politik in Den Kulturen Der ... Munster Im Wintersemester 2013/2014 (Kasion)
 3963270284, 9783963270284

Table of contents :
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Inhaltsverzeichnis
Einführung (Reinhard Achenbach)
Göbekli Tepe. Ein Bergheiligtum der Steinzeit (Klaus Schmidt)
Nippur. „Heiliger Ort“ der Sumerer (Hans Neumann)
Abydos. Totenstadt der Pharaonen (Julia Budka)
Zwischen Tyros und Tanger – eine Religion der Seefahrer? (Klaus Zimmermann)
Jerusalem in vorchristlicher Zeit. Vom Sitz des Thronrates der Götter zum heiligen Ort des unsichtbaren Gottes (Reinhard Achenbach)
Auf der Suche nach den Wurzeln des Erfolgs. Das Kultangebot von Delphi und Olympia im Vergleich (Ulrich Sinn)
Das Heiligtum des Iuppiter Dolichenus auf dem Dülük Baba Tepesi (Südosttürkei). Ein „heiliger Ort“ zwischen Kontinuität und Transformation (Engelbert Winter)
Roma aeterna – eine heilige Stadt in vorchristlicher Zeit? (Wolfgang Hübner)
Wie können Orte Christen heilig sein? Konstantins Kirchenbau, die „Entdeckung“ des Heiligen Landes und die Anfänge einer christlichen Sakraltopographie in der Spätantike (Johannes Hahn)
Entlegene Orte.
Mönche, Einsiedler, Heilige und ihr Publikum (Michael Grünbart)
Byzantion – Konstantinopel – Istanbul. Zur Formung eines heiligen Ortes (Georgios Makris)
Jerusalem – Al-Quds. Das Geschick der Heiligen Stadt als kultureller Prozess von Zerstörung, Verdrängung und Verlust und von Neubelebung, Schaffung und Überhöhung von Erinnerungen (Max Küchler)
Medina.
Stadt des Propheten und Camposanto des Islams (Werner Ende)
Heilige Orte der Antike in der Gegenwart: der Fall Hebron (Hans G. Kippenberg)
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Kasion 1 Heilige Orte der Antike

Heilige Orte der Antike Gesammelte Studien im Anschluss an eine Ringvorlesung des Exzellenzclusters „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne“ an der Universität Münster im Wintersemester 2013 / 2014 Herausgegeben von Reinhard Achenbach in Zusammenarbeit mit Nikola Moustakis

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Kasion 1 Zaphon

Heilige Orte der Antike Gesammelte Studien im Anschluss an eine Ringvorlesung des Exzellenzclusters „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne“ an der Universität Münster im Wintersemester 2013/2014

Herausgegeben von Reinhard Achenbach in Zusammenarbeit mit Nikola Moustakis

© 2018, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-028-4 (Buch) / ISBN 978-3-96327-029-1 (E-Book)

Kasion Publikationen zur ostmediterranen Antike Publications on Eastern Mediterranean Antiquity Band 1

Herausgegeben von Sebastian Fink, Ingo Kottsieper und Kai A. Metzler

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Heilige Orte der Antike Gesammelte Studien im Anschluss an eine Ringvorlesung des Exzellenzclusters „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne“ an der Universität Münster im Wintersemester 2013/2014

Herausgegeben von Reinhard Achenbach in Zusammenarbeit mit Nikola Moustakis

Zaphon Münster 2018 © 2018, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-028-4 (Buch) / ISBN 978-3-96327-029-1 (E-Book)

Illustration auf dem Einband: Hagia Sophia; © Georgios Makris (S. 295)

Heilige Orte der Antike Gesammelte Studien im Anschluss an eine Ringvorlesung des Exzellenzclusters „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne“ an der Universität Münster im Wintersemester 2013/2014 Herausgegeben von Reinhard Achenbach in Zusammenarbeit mit Nikola Moustakis

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Inhaltsverzeichnis REINHARD ACHENBACH Einführung ............................................................................................................ 1 KLAUS SCHMIDT Göbekli Tepe. Ein Bergheiligtum der Steinzeit .................................................. 13 HANS NEUMANN Nippur. „Heiliger Ort“ der Sumerer.................................................................... 37 JULIA BUDKA Abydos. Totenstadt der Pharaonen ..................................................................... 67 KLAUS ZIMMERMANN Zwischen Tyros und Tanger – eine Religion der Seefahrer? .............................. 95 REINHARD ACHENBACH Jerusalem in vorchristlicher Zeit. Vom Sitz des Thronrates der Götter zum heiligen Ort des unsichtbaren Gottes ........................................................ 119 ULRICH SINN Auf der Suche nach den Wurzeln des Erfolgs. Das Kultangebot von Delphi und Olympia im Vergleich ................................. 141 ENGELBERT WINTER Das Heiligtum des Iuppiter Dolichenus auf dem Dülük Baba Tepesi (Südosttürkei). Ein „heiliger Ort“ zwischen Kontinuität und Transformation 169 WOLFGANG HÜBNER Roma aeterna – eine heilige Stadt in vorchristlicher Zeit? ............................... 197 JOHANNES HAHN Wie können Orte Christen heilig sein? Konstantins Kirchenbau, die „Entdeckung“ des Heiligen Landes und die Anfänge einer christlichen Sakraltopographie in der Spätantike.............................................. 235

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Inhaltsverzeichnis

MICHAEL GRÜNBART Entlegene Orte. Mönche, Einsiedler, Heilige und ihr Publikum....................... 265 GEORGIOS MAKRIS Byzantion – Konstantinopel – Istanbul. Zur Formung eines heiligen Ortes ..... 285 MAX KÜCHLER Jerusalem – Al-Quds. Das Geschick der Heiligen Stadt als kultureller Prozess von Zerstörung, Verdrängung und Verlust und von Neubelebung, Schaffung und Überhöhung von Erinnerungen ................................................ 299 WERNER ENDE Medina. Stadt des Propheten und Camposanto des Islams ............................... 325 HANS G. KIPPENBERG Heilige Orte der Antike in der Gegenwart: der Fall Hebron ............................. 341 Register ............................................................................................................. 367

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Einführung

Reinhard Achenbach (Münster)

Heilige Orte sind von den Vollzügen des alltäglichen Lebens abgesonderte Stätten mit einer sakralen Bedeutung, sie existieren in der Geschichte der Menschheit seit frühesten Zeiten in allen Weltregionen und Kulturen.1 Sie werden verbunden mit besonderen Symbolhandlungen ritueller Natur und sind insofern auch Kultorte, die der Konstituierung gemeinschaftlicher und individueller Identität dienen.2 Der vorliegende Band versammelt zu der zum Thema reichlich vorhandenen religionswissenschaftlichen Literatur die Vorträge aus einer Ringvorlesung, die im Rahmen des Exzellenzclusters „Religion und Politik in Vormoderne und Moderne“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster im Jahr 2014 gehalten worden sind.3 Behandelt werden exemplarisch Orte der Antike aus archäologischer, althistorischer, religionswissenschaftlicher und theologischer Perspektive. Sie beschreiben auf unterschiedlichste Weise die Transformationsprozesse, die bei der Ausbildung heiliger Orte, ihrem oft über viele Jahrhunderte währenden Betrieb, ihrem Niedergang und ihrer neuerlichen Nutzung im Spiel waren. Dabei richtet sich das Interesse einerseits auf die Präsentation und Erschließung neuerer Einsichten der Forschung für eine breitere Öffentlichkeit, andererseits aber auch auf die bis in die Gegenwart reichende Wirkung von heiligen Orten, deren unmittelbare religiöse Nutzung teils andauert, teils erloschen ist, die aber gleichwohl als Menschheitserbe wichtige identitätsbildende Funktion für die historische Gedächtnis- und Erinnerungskultur besitzen.4 Besonders eindrucksvoll wird dies gegenwärtig deutlich an den Bemühungen archäologischer Institute in Berlin, Paris, London und den USA, nach der Zerstörung von Heiligtümern durch religiös-politische Fanatiker wie etwa nach der Sprengung zahlreicher Tempel und Gräber 1

Lanczkowski/Kellermann 1985, 677; Tworuschka/Tworuschka 2016. Böhm 2016. 3 Der Charakter des mündlichen Vortrages wurde in einigen Fällen beibehalten. 4 Vgl. hierzu Rüpke 2016, 27f.: „Es steht außer Zweifel, dass große öffentliche Rituale gesellschaftliche Strukturen widerspiegeln und zugleich helfen, normative und soziale Ordnungen – Werte, Hierarchien, politische Strukturen – zu errichten und zu stabilisieren, auch wenn der Beitrag solcher Rituale in pluralistischen Gesellschaften deutlich zurückgeht. Für das Individuum besitzen Rituale einen vergleichbaren Effekt. Sie stellen sich dar als Routinisierung der Reproduktion fundamentaler Sozialbeziehungen und des Embodiment, der Verleiblichung der Inhalte eines kollektiven Gedächtnisses.“ Vgl. Rappaport 1999; Assmann 1997. 2

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Reinhard Achenbach

der Oasenstadt Palmyra mit allen Kräften die Bewahrung und Restaurierung eben dieser Stätten anzustreben.5 Die ikonoklastischen Angriffe auf die in der Praxis längst nicht mehr „heiligen“ Orte, werden auch unter den Bedingungen eines säkularen Kulturbewusstseins im Sinne eines internationalen Völkerrechtsgedankens als Angriffe auf die Identität und Kultur der Völker verurteilt.6 Die Frage nach Diskontinuität und Kontinuität der Wirkungsgeschichten heiliger Orte und Räume verband die in ihrer Themenstellung und Durchführung sehr verschiedenen Beiträge. Einer der eindrucksvollsten Orte aus dem Beginn des Holozäns ist der Göbekli Tepe in Südostanatolien, ein „Bergheiligtum der Steinzeit“, so die Benennung durch den Ausgräber Klaus Schmidt. Der Band beginnt mit dem Abdruck seiner Vorlesung, die wir als Nachschrift des mündlichen Vortrags in der Form wiedergeben, wie der Autor sie gehalten hat. Kurze Zeit später verstarb er leider, so dass dies das letzte authentische Zeugnis über sein Lebenswerk darstellt, das wir mit der freundlichen Genehmigung seiner Ehefrau Çiğdem Köksal-Schmidt hier wiedergeben. Der Beitrag ist ein Zeugnis einer Kette komplexer und vielfältiger Transformationen. Zunächst wird deutlich, dass schon zu Beginn des Neolithikums und mit der Sesshaftwerdung von Menschen im Zweistromland monumentale zentrale Kultorte entstehen, denen regionale Kultorte korrespondieren. Damit repräsentieren sie einen markanten Höhepunkt in der Geschichte der menschlichen Entwicklung, was zugleich den Rückschluss zulässt, dass man auch in den vorausgehenden Perioden der Jäger- und Sammlerkulturen mit der Ausbildung heiliger Orte rechnen muss. Die eindrucksvollen anthropomorphen und theriomorphen Artefakte in charakteristischen räumlichen Anordnungen, die Zeugnisse von Opferritualen und damit verbundenen Mahlgemeinschaften und andererseits das Fehlen von Hinweisen auf Orte und Gegenstände des alltäglichen Lebens am Göbekli Tepe zeugen von einer Aussonderung heiliger Orte schon in der Frühgeschichte der Menschheit. Besonders bemerkenswert ist auch, dass der hervorragende Erhaltungszustand der Installationen darauf zurückzuführen ist, dass die letzten Nutzer der in einem Zeitraum von 1400 Jahren (9600–8200 v. Chr.) besuchten heiligen Stätten diese selbst mit Erde bedeckt und verschüttet haben, wodurch sie über viele Jahrtausende hinweg unentdeckt doch erhalten geblieben sind. Die wissenschaftliche archäologische Neuerschließung des Ortes stellt ihrerseits den Versuch dar, dessen Bedeutung für das Weltverständnis jener Epoche kultur- und religionsgeschichtlich zu ergründen. Das große Interesse an der touristischen Erschließung der Grabung schließlich macht deutlich, dass heilige

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Bredekamp 2016 spricht von einer „kämpferischen Reproduktion“. Erstmals wurde im September 2016 durch den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag die Zerstörung von Kulturgütern als Kriegsverbrechen geahndet, als man führende Mitglieder einer radikalen Hisbah-Gruppe aus Mali für schuldig befand, in Timbuktu Mausoleen und eine Gedenkstätte an einen als besonders heilig angesehenen Mann zerstört zu haben (Haneke/Scheen 2016).

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Einführung

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Orte über große Zeiträume hinweg einen Eindruck von der Ideengeschichte der Menschheit vermitteln, die selbst unter den Bedingungen der Säkularisierung noch wirksam sind. Einer der eindrucksvollsten Kultorte aus der Epoche der frühen mesopotamischen Staatenbildung ist das sumerische Nippur. Das Heiligtum des Gottes Enlil gewann im 3. und 2. Jahrtausend vor Chr. überregionale Bedeutung, zunächst als Ort der Ordal-Ermittlung in Rechtsverfahren, späterhin als Ort der Herrschaftslegitimation der sumerischen, akkadischen, babylonischen und assyrischen Könige. An die Gestalt des ursprünglichen Wind-Gotts Enlil amalgamieren sich Eigenschaften der Schöpfergottheit, des Herrschers über das Pantheon und die Schicksalstafeln der Götter und als Verleiher königlicher Herrschaftsgewalt. Rund um das Heiligtum entwickelt sich eine Schriftkultur, deren Zeugnisse neben den religiösen Texten und Inschriften auch Dokumente aus Rechtsprechung, Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft und Epik einschließen. Symbolische „Besuche“ der Götter der Städte des Umlands in Nippur verbinden regionale und zentrale Kultorte miteinander. Mit der Verlagerung der politischen und religiösen Zentralgewalt im 18. Jh. v. Chr. erfolgte auch eine Adaptation der Eigenschaften des Enlil durch den Babylonischen Reichsgott Marduk oder den assyrischen Gott Assur und die Attraktivität des altehrwürdigen Kultortes reichte bis weit in das 1. Jt. v. Chr. Das jährlich zur Erneuerung der Legitimation des Königtums dienende Akitu-Fest wird mit der Rezitation der heiligen Texte des Schöpfungsmythos, den Prozessionen der Götterbilder und der symbolischen Überreichung der Schicksalstafeln zum Mittelpunkt des Reichskultes. Hans Neumann zeigt auf, dass die geistig-religiösen Wirkungen des Ortes weit über die Periode der sumerischen Reiche bis in die hellenistische Zeit und darüber hinaus erkennbar waren. Bedenkt man zudem, dass die Modelle der Transformation der mit dem Ort verknüpften religiösen Vorstellungen und Gottesbilder sich auf die religiösen Erben der Tradition von Nippur übertragen, so wird deutlich, dass auch hier mit zahlreichen Phänomenen einer epochenübergreifenden Wirkung der altorientalischen Weltbilder zu rechnen ist. Das ist unbestreitbar auch für den Eindruck, den die ägyptischen Hochkulturen auf die Menschheitsgeschichte gemacht haben. Das macht Julia Budka am Beispiel von Abydos deutlich, dessen heilige Stätte als Totenstadt, Kultstadt und Königsstadt von der prädynastischen bis in die koptische Zeit bestand und zahlreiche Wandlungen erfahren hat. Der Ort ist ein Beleg dafür, dass die Bestattungskultur der Königszeit an vordynastische Traditionen anknüpft, somit wie in Mesopotamien so auch hier mit einer Kontinuität und Transformation religiöser Vorstellungen zwischen der vorstaatlichen und der staatlichen Epoche zu rechnen ist. Die durch den Ahnenkult geprägte Kultstätte wird zur Königsnekropole und zu einem „Ruheplatz der Götter“ (Budka, S. 70). Im Mittelpunkt des Kultes steht der Gott Osiris, ursprünglich ein chthonischer Fruchtbarkeitsgott, dessen Mythos vom Tode und Wiederaufleben den Hintergrund der Legitimation der Dynastiefolge

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Reinhard Achenbach

des ägyptischen Königtums bildet. Schon im Alten Reich ist zu beobachten, dass der Gedanke einer Erlangung des Status eines Wiederbelebten sukzessive auch auf weitere Bereiche der ägyptischen Bevölkerung übergeht. Dementsprechend kommt es zu einer Ausweitung der kultischen Aktivität im Mittleren Reich (ca. 2050–1650 v. Chr.) und zu einer Dramatisierung der Darstellung von Leben, Sterben und Wiederauferstehung der Gottheit, symbolisch auch hier dargestellt durch die Neuerschaffung der Statue des Gottes und religiösen Feiern und Prozessionen. Die Bauten aus der Zeit des Neuen Reiches unter Ramses II. verbinden den „Jenseitsort im Diesseits“ (s. Budka, S. 77) mit den weiteren großen Kultorten, Osiris symbolisiert als Verstorbener den „Vater“, als Horus den Wiederbelebten, den „Sohn“. Der Ort hat aber auch im 1. Jt. bis ins 3. Jh. v. Chr. zahlreiche kultische Aktivitäten an sich gezogen und – so zeigt J. Budka – bis in die Gegenwart die Symbolik einer „Jenseitslandschaft“ erhalten. Neben diesen gewaltigen Beispielen einer lang andauernden Religionskultur in Verbindung mit einem heiligen Ort wird man indes auch mit einer Unzahl von kleinen, spontan entstehenden und vergehenden Installationen zu rechnen haben, die teils familiär gebunden, teils mit nomadisierenden Gruppen oder mit umherziehenden Händlern oder Seefahrern verbunden sind, „heilige Orte“, deren Entstehen und Vergehen relativ kurze Zeit umfasst, Erinnerungsorte, an denen man den Göttern durch Votivgaben dankt oder ihren Beistand erbittet. Die Phönizier, die den gesamten Mittelmeerraum befahren haben, haben zum Dank für Errettung aus Seenot ihrem Gotte Pumay auf Sardinien einen Schrein errichtet, dem Baal Shamem im Tofet von Karthago Weihgaben dargebracht, und ebenso dem Meeresgott zu Tyros oder auch am Kap Soloeis (Kap Cantin) südlich von Tanger, wobei aus den unterschiedlichen Quellen meist offenbleiben muss, in welchem Verhältnis die Verehrung Melqarts, Poseidons oder Herakles an den jeweiligen Orten zueinander standen. Heilige Orte konnten somit aus unterschiedlichen Perspektiven mit kulturell verschieden verwurzelten Panthea assoziiert werden. Klaus Zimmermann spricht darum von einer Polyvalenz der verehrten Gottheiten bzw. Numina, einem Phänomen, dem man in der gesamten antiken Welt begegnen kann, sogar in der Hebräischen Bibel, wie die Erzählung von der Verehrung des „El Elyon“ von Salem durch Abraham belegt (Gen 14,20–22) oder die Jonalegende, in der erzählt wird, dass die Matrosen des Tarsis-Schiffes jeder zu seinem Gotte rufen, aber auch Jhwh als dem „Gott des Himmels“ ihre Rettung verdanken und ihm auf hoher See Opfer darbringen (Jon 1,5.16). Selbst bei den Phöniziern scheint dabei die heimische Wetter- und Stadtgottheit die Funktion auch der Meeresgottheit übernommen zu haben (so Zimmermann, S. 108), eine exklusive Meeresgottheit der Phönizier ist nicht sicher zu bestimmen. Neben Nachrichten über die Errichtung eigener Heiligtümer stehen solche über den Besuch der Heiligtümer der phönizischen Handelspartner. Bei Verträgen, die mit Eidesleistungen verbunden waren, musste man sich über die Götter, an die man sich gebunden fühlte, verständigen. Letztlich werden das die Gottheiten gewesen sein, die man als

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Einführung

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Schutzgottheit, Stadtgottheit oder Hochgott dem heimischen Pantheon untertan empfand. Betrachtet man die Geschichte der religiösen Transformationen eines heiligen Ortes wie Jerusalem im 1. Jahrtausend v. Chr. (vgl. den Beitrag von Reinhard Achenbach), so wird deutlich, dass regionale Heiligtümer bei aller Bemühung um die Wahrung einer eigenen Identität durchaus Anteil hatten an den geistigen und kulturellen Entwicklungen der sie beherrschenden Großreiche. Ägyptische, mesopotamische und phönizische Einflüsse prägen Religion und Gesellschaft des salomonischen Tempels. Allerdings führen die fundamentalen existenziellen Krisen der Herrschaftswechsel der Großreiche zu einer exzeptionellen religiösen Deutungsleistung des Judentums. Unter den Assyrern entsteht der Gedanke einer ausschließlichen Loyalität Israels gegenüber der Gottheit, die in eine herrschaftskritische Position gegenüber dem Königtum eintritt. Der Verlust des Tempels7 und Niedergang des eigenen israelitisch-judäischen Königtums führt zudem in der babylonischen Periode zu einer Trennung des monarchischen Systems von dem Gedanken eines himmlischen Königtums Gottes, die Einordnung in das Achämenidenreich führt zu einer Universalisierung des Gedankens der Ausschließlichkeit der Gottesverehrung und zu einer Form des universalistischen Monotheismus, der den Kultort lediglich als eine vorläufige irdische Lokalisierung einer unsichtbaren, immer abstrakter werdenden Idee der Präsenz des einen Göttlichen erscheinen lässt. Die Abstrahierung der Gottesverehrung vom Kultort und zugleich ihre Universalisierung hat für das Verständnis von heiligen Orten und der dort möglichen besonderen Begegnung mit der Gottheit die Folge, dass sich der Gedanke des Kultes nahezu völlig von äußeren Symbolen göttlicher Präsenz lösen kann. In der Diaspora wird der Gebetsort zum Kultort wie für Mose der Dornbusch in der Wüste. Mit der Zerstörung des zweiten Tempels werden Gebetsorte zu Abbildern eines diesseitig nicht mehr zugänglichen urbildhaften, letztendlich transzendenten Kultortes. Wichtiges Merkmal der heiligen Orte ist die Suche nach Orientierung und göttlicher Weisung in allen Bereichen des Lebens, sowohl im persönlich-familiären als auch im öffentlich-rechtlichen und politischen. Die Deutung der Welt und ihrer Zeichen zur Bewältigung der Kontingenz und das Angebot von ethischer und moralischer Orientierung bilden eine zentrale Funktion der Heiligtümer. Am Beispiel der Orakel von Olympia und Delphi beschreibt Ulrich Sinn, auf welch unterschiedliche Weise die beiden Kultorte in die Erinnerungskultur eingegangen sind. Der Ruhm Delphis reichte schon in der Antike weit über den hellenischen Bereich hinaus, seine Wirkungen gehen bis in das 4. Jh. n. Chr., in welchem der Divinationsort der christlichen Polemik erliegt. Die Bedeutung Olympias als Kultstätte und Orakel wurde gesteigert durch die dort regelmäßig durchgeführten Wettkämpfe und Panegyrien, Volksfeste und Märkte. Es sind gerade die für die

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Vgl. hierzu Maier 2016, 97–128. © 2018, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-028-4 (Buch) / ISBN 978-3-96327-029-1 (E-Book)

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Reinhard Achenbach

Hellenen identitätsstiftenden Spiele, welche in der Neuzeit der Anknüpfungspunkt zur Wiederbelebung der Olympien geworden sind. Ihr kultischer und mythischer Hintergrund ist längst verblasst, während Sieger olympischer Wettkämpfe nach wie vor zu Stiftern nationaler Identifikationsmuster und zu Idolen einer säkularen und universalen Ideenwelt werden können. Lediglich das Ritual des Entzündens einer Flamme am Ursprungsort der Spiele revoziert das Bewusstsein religiöser Ursprünge und haftet am ehemals heiligen Ort. Ein eindrucksvolles Beispiel der Adaptation vorderorientalischer Religion an die römische bieten die Funde der Grabungen des Altertumswissenschaftlers Engelbert Winter auf dem Dülük Baba Tepesi in Südostanatolien. Dort wurde ein nordwest-semitisches Heiligtum aus dem 10. Jh. v. Chr. entdeckt, welches einem Wettergott geweiht war. Eine Votivstele verweist auf ein Kultbild, wie man es auf Stelen des sog. Baal-Hadad-Typus in mehreren Exemplaren im Bereich der Levante gefunden hat und wie es vermutlich auch im Reichskult des Königreichs Israel in Bethel verehrt wurde. Schon im Grabmal des Seleukiden Antiochos I. auf dem gleichen Berg wird erkennbar, dass es in hellenistischer Zeit zu einer Verschmelzung der westlichen und östlichen Panthea gekommen ist. Aus römischer Zeit schließlich stammt ein tragbares Kultbild des Iuppiter Dolichenus, der in der gleichen Weise wie der alte Gott des eisenzeitlichen Heiligtums die Herrschaft über ein Pantheon, die Züge eines Himmels- und Wettergottes und schließlich wohl die eines Kriegsgottes in sich vereint, denn in Gestalt des Iuppiter Dolichenus findet die Verehrung eine Verbreitung vor allem durch die Soldaten des römischen Heeres bis hinauf zum Niederrhein. Es ist wohl gerade die Synthese orientalischer und westlicher Numina, die als besonders kraftvoll empfunden wurde. Infolge der Christianisierung wurde das Heiligtum durch ein Kloster überbaut, nach der Eroberung durch die Seldschuken blieb die Stätte als Friedhof erhalten, auf welchem schließlich im 16. Jh. dem islamischen heiligen Manne Dülük Baba ein Grabmal geweiht wurde, so dass auch dieser markante Ort bis in die Neuzeit mit einer gewissen spirituellen Attraktivität versehen war, dessen archäologische Erschließung selbst unter schwierigen äußeren politischen Bedingungen bis in die Gegenwart reicht. Dass eine heilige Stätte mit dem sie umgebenden heiligen Bezirk auf eine ganze Stadt ausgreift, so dass diese als Wallfahrtsort selbst zur „heiligen Stadt“ wird, setzt zumeist eine Ausdifferenzierung zwischen deren Funktion als politisches Zentrum eines Reiches und ihrer religiösen Position im Zentrum der Verehrung einer Hochgottheit voraus. Das Land Judas bzw. Israels wird erst als heiliges Land bezeichnet, als das Königtum nicht mehr existiert (vgl. Sach 2,16), Jerusalem wird heilige Stadt, als Jhwh dort gleichsam allein als universaler Königsgott verehrt wird, unter dessen Präsenz ein Ort zu einem „heiligen Land“ werden kann (Ex 3,5) und der diesen Ort „erwählt“, um „seinen Namen dort wohnen zu lassen“ (Dtn 12,11) und seinen Schutz der personalisierten „Tochter Zion“ zu gewähren (Sach 2,14; Ps 47). Geläufig wird die Bezeichnung „heiliges

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Einführung

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Land“ oder „heilige Stadt“ erst in christlicher Zeit.8 Auch Rom – darauf verweist der Beitrag Wolfgang Hübners – wird als Roma aeterna erst gegen Ende der Kaiserzeit bezeichnet, „heilige Stadt“ nennt man sie erst nach dem Niedergang des Kaisertums in christlicher Zeit mit Hinsicht auf die Zentralstellung der Kirche und des Papsttums. Gleichwohl hat es natürlich im antiken Rom seit der Frühzeit zahlreiche Heiligtümer gegeben, eine stets anwachsende Zahl von Kultstätten, an welchen Numina aus den verschiedensten Weltgegenden verehrt wurden, und in Verbindung mit dem Herrscherkult auch eine Idealisierung des Ortes der Stadtgöttin Roma bis hin zu der Überzeugung der Unüberwindlichkeit und Ewigkeit der Stadt, die im politischen wie im kosmisch-astralen Weltbild der späten Kaiserzeit das Zentrum des Imperiums bildete. Johannes Hahn beschreibt anschaulich die Anfänge der Entwicklung einer christlichen Sakraltopographie unter Konstantin d. Gr., dessen offizielle Selbstdarstellung als Kaiser auf die Nutzung christlicher Symbolik gänzlich verzichtete. Das frühe Christentum hatte – zumal nach der Zerstörung des zweiten Tempels von Jerusalem – eine spiritualisierte Vorstellung von der göttlichen Präsenz und versammelte sich in Hausgemeinden oder auch an Gräbern zum Gedenken an die Verstorbenen und Märtyrer. Kaiser Konstantin ließ in Anknüpfung an diese Stätten kaiserliche Basiliken mit prachtvoller Ausstattung errichten, die in Rom verbunden waren mit Kulthandlungen für die verstorbenen Angehörigen der Herrscherfamilie und dem Märtyrergedenken. In Jerusalem, Bethel und Mamre (bei Hebron) bewirkte die neue Architektur eine Sakralisierung der christlichen Erinnerungsorte (Hahn), in deren Mittelpunkt die Kirche über dem Grab und dem Ort der Auferstehung, also der göttlichen Epiphanie stand. Dafür musste ein „heidnischer“ Aphroditetempel weichen. Der neue „heilige Ort“ der Grabeskirche gilt zudem als das Heiligtum des „neuen Bundes“, während der ehemalige Ort des Tempels in Ruinen liegt. So geht im Christentum die Einrichtung von Sakralbauten zusammen mit der Transformation der ehemaligen spirituellen Gemeinschaftsreligion in eine Staatsreligion mit einem Pilgerwesen. Hahn betont, dass die Motive des Kaisers für die Einrichtung der kirchlichen Kultorte stark in der paganen Religiosität verwurzelt waren. Heilige Orte waren als zentrale Kultstätten vielfach Ziel von Wallfahrten, Panegyrien und Versammlungen von regional und kulturell unterschiedlich verwurzelten Angehörigen einer Religionsgemeinschaft oder aber schlicht Pilgerstätten. Mit dem Bedürfnis nach einer völligen Ausrichtung des Lebens auf die religiöse Sphäre entwickelte sich das asketische Mönchtum, das in seinen radikalen Ausprägungen Phänomene des Eremitentums und Stylitentums hervorbrachte. Michael Grünbart beschreibt das Wirken des Symeon Stylites im 5. Jh. n. Chr., dessen Weltflucht ihn zum Leben auf einer Säule trieb, die dann zum Pilgerort für zahlreiche Menschen wurde, welche den Heiligen um Fürbitte, geistlichen Rat

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Vgl. hierzu Küchler 2016, 129–166. © 2018, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-028-4 (Buch) / ISBN 978-3-96327-029-1 (E-Book)

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Reinhard Achenbach

und Heilungen ersuchten. Sein Leib und Gegenstände, die er berührt hatte, wurden nach dem Tode zu Reliquien und deren Verteilung hat wie überhaupt der Reliquienkult zu einer Vielzahl von neuen Kirchengründungen beigetragen, Kultorte, die über die Teilhabe am heiligen Gegenstand mit einem ursprünglichen Ort der spirituellen Präsenz des Göttlichen verbunden sind.9 Die Säule blieb das Ziel von Wallfahrten, dem mittlerweile infolge von Erdbeben zerfallenen Heiligtum Qal’at Sim’an wird bis in die Gegenwart eine magische Ausstrahlung zugeschrieben. Grünbart macht auf antike Parallelen zu dem Phänomen aufmerksam. Als eine moderne säkulare, auf die Natur und das Diesseits ausgerichtete Variante erscheint die 738 Tage währende Besetzung eines Mammutbaums durch die Predigertochter Julia L. Hill im Jahre 1997 mit dem Ziel der Bewahrung und Rettung der Natur, die ebenfalls eine hohe Aufmerksamkeit erweckte und dazu geführt hat, dass man sich bis heute um den Erhalt des Baumes müht.10 Ein weiteres berühmtes Beispiel für die Transformation heiliger Orte behandelt Georgios Makris in seinem Vortrag über Byzantion – Konstantinopel – Istanbul. Durch den Ausbau der kolonialen Siedlung zum Regierungssitz des Kaisers entsteht eine charakteristische christlich-römische Ausprägung des Zusammenspiels zwischen Religion und Herrschaftslegitimation, die in charakteristischen Zentralbauten der Sergios- und Bakchos-Kirche und der als Christus-Kirche konzipierten Hagia Sophia und deren Mosaiken ihren architektonischen Ausdruck findet. Nach der Eroberung durch die Osmanen ging ihre religiöse Funktion auf das islamische Sultanat und Kalifat über. Die Profanierung des Raumes durch Ata Türk im Jahre 1934 zu einem musealen Bau wird in neuerer Zeit von islamischen Kreisen infrage gestellt. Wie sich kulturelle Prozesse der Schaffung, Zerstörung, Verdrängung und Wiederbelebung heiliger Stätten in einer Kultur der Erinnerung transformieren, das verfolgt noch einmal am Beispiel Jerusalems exemplarisch Max Küchler, indem er den religionsgeschichtlichen Weg von der kanaanäischen Stadt bis zum islamischen Al-Quds nachzeichnet. Die Parallelwelten der drei monotheistischen Religionskulturen der Stadt sind in ihrer Koexistenz ambivalent: Sie können als tolerant und friedvoll erlebt werden, aber auch in dogmatische und politische Intoleranz sowie zerstörerischen Konflikten verwickelt sein; der modernen und der alten Stadt Jerusalem koinzidieren nahezu alle Formen und Weisen des Umgangs mit heiligen Orten, die man sich nur vorstellen kann. Konfligierende Positionen gibt es natürlich auch innerhalb einer Religion, wie die Spannungen in der Auslegung der Verbindlichkeit der Tora im Judentum, die Konfessionsstreite im Christentum und die heftigen Auseinandersetzungen zwischen Wahhabiten und Schiiten im Islam. In seinem Beitrag zu den heiligen Stätten von Mekka und Medina richtet Werner Ende das Augenmerk auf die Auseinandersetzungen um die Bräuche des islamischen Heiligen- und Gräberkultes um 9

Vgl. hierzu Angenendt 2010. Vgl. Fitzgerald 2002; Hill 2000.

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Einführung

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das Prophetengrab und die Gräber auf dem Baqīʿ al-Ġarqad von Medina, wobei die tiefen dogmatischen Differenzen zwischen den unterschiedlichen islamischen Glaubensrichtungen Anlass zu Skepsis geben, ob eine friedvolle Einigung in absehbarer Zeit möglich sein wird. Das gilt noch mehr für das Verhältnis der sogenannten „abrahamitischen“ Religionen zueinander, wie Hans G. Kippenberg am Beispiel der Auseinandersetzungen um Hebron und das Patriarchengrab in der Neuzeit zeigt. Das Bewusstsein einer gemeinsamen Verwurzelung vermag wohl einerseits eine Dialogkultur zu begründen, die aus der Exklusivität religiöser Identitäten herausführt.11 Andererseits führt die Glaubensüberzeugung, dass das Erbe des göttlichen Segens und der Besitz des Landes und damit des heiligen Ortes Ausdruck göttlicher Zusage und Legitimation sei, zu unüberwindlichen Positionen, vor allem dann, wenn politisch-historische Optionen auf scheinbar unerschütterliche Glaubensüberzeugungen gegründet werden. Das führt zu der paradoxalen Schlussfolgerung, dass die Freiheit der religiösen Nutzung heiliger Orte durch Angehörige unterschiedlicher Religionen nur gewonnen werden kann, wenn diese im Rahmen ihrer je eigenen Vorstellungswelt und Glaubenslehre einen Weg finden, den in der Aufklärung des 18. Jh.s entwickelten Gedanken der Toleranz auch in der jeweils eigenen Religion in einer Weise zu verankern, dass die Überzeugung der Gemeinsamkeit eine Pragmatik der gemeinsamen Nutzung des heiligen Ortes zulässt.12 Ansätze hierfür bietet die moderne Religionspraxis seit langem in der Gestalt synchron genutzter Kirchen oder auch in der interreligiösen Nutzung gemeinsamer Gebetsräume in öffentlichen Einrichtungen. Dies impliziert eine Akzeptanz der Vielfalt der spirituellen Wege schon innerhalb der eigenen Religionsgemeinschaft wie die der Möglichkeit einer inklusiven Gestalt monotheistischer Religion, welche sich auf den Gedanken der Universalität einer selbst das eigene Offenbarungsverständnis überschreitenden Wirkmacht des Göttlichen und ihrer Möglichkeiten gründet. Die Weiterentwicklung eines interreligiösen Dialoges hat dabei auch das Ziel, einem zunehmenden Unverständnis und einer Gleichgültigkeit gegenüber der Religionskultur und ihrer gesellschaftlichen Funktionen entgegenzuwirken.13 Dies würde dann allerdings auch die religiöse Akzeptanz einer Möglichkeit des Agnostizismus implizieren, wie umgekehrt auch die säkulare Kulturwelt am religiösen Erbe der Menschheit geistig partizipiert.

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Stroumsa 2015 hat die vielfältigen Gestalten und Transformationsprozesse christlicher, jüdischer und islamischer Religionskulturen und ihrer Verflechtungen in der Spätantike anschaulich beschrieben. 12 Zum Toleranzbegriff vgl. Forst 2004; Lehmann 2015; Schmidt-Leukel/Bernhardt 2005; Schmidt-Leukel 2005. 13 Vgl. Graf 2014; Habermas 2005. © 2018, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-028-4 (Buch) / ISBN 978-3-96327-029-1 (E-Book)

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Reinhard Achenbach

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Einführung

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Rappaport 2016 Rappaport, Roy A., Ritual and Religion in the Making of Humanity (Cambridge Studies in Social and Cultural Anthropology 110), Cambridge UK 1999. Rüpke 2016 Rüpke, Jörg, Religiöse Identität: Topographische und soziale Komponenten, in: Böhm 2016, 19–44. Schmidt-Leukel/Bernhardt 2005 Schmidt-Leukel, Perry / Bernhardt, Reinhold Kriterien interreligiöser Urteilsbildung, Zürich 2005. Schmidt-Leukel 2005 Schmidt-Leukel, Perry, Gott ohne Grenzen. Eine christliche und pluralistische Theologie der Religionen, Gütersloh 2005. Stroumsa 2015 Stroumsa, Guy G., The Making of Abrahamitic Religions in Late Antiquity, Oxford 2015. Tworuschka/Tworuschka 2016 Tworuschka, Monika / Tworuschka, Heilige Stätten. Die bedeutendsten Pilgerziele der Weltreligionen, Darmstadt 2016.

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Göbekli Tepe Ein Bergheiligtum der Steinzeit

Klaus Schmidt (Berlin / Erlangen)

Klaus Schmidt ist im Sommer 2014 unerwartet verstorben, es war ihm daher nicht mehr vergönnt, seinen Vortrag, den er im Rahmen der Ringvorlesung weitgehend frei gehalten hat, zur Publikation vorzubereiten. Der folgende Text basiert auf einem leicht überarbeiteten Audio-Mitschnitt, der während der Vorlesung aufgezeichnet wurde. Wir danken seiner Frau Çiğdem Kögsal-Schmidt für die Publikationsgenehmigung sowie Ricardo Eichmann und seinem Team am DAI Berlin, Orient-Abteilung, für die Abbildungen. Für die Einladung der Universität Münster, im Rahmen dieser Ringvorlesung zu sprechen, bedanke ich mich ganz herzlich. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, es freut mich, dass ich Ihnen über das Projekt am Göbekli Tepe nochmals berichten kann. Ich war ja nun in den letzten Jahren schon zwei-, dreimal in Münster gewesen. Ich werde Ihnen aber heute selbstverständlich nicht noch einmal die gleiche Geschichte wie bei diesen Besuchen vortragen. Es war uns vergönnt, in den vergangenen Jahren je eine Frühjahrs- und eine Herbstkampagne durchzuführen, so dass sich der Fundbestand weiterhin vermehrt hat. Der Grundtenor – und wir sind stolz darauf, dass wir von unseren früheren Ergebnissen nichts Wesentliches revidieren mussten – bleibt jedoch weiterhin der gleiche: Göbekli Tepe ist ohne Frage in vielerlei Hinsicht ein besonderer Platz. Schon die topographische Lage ist etwas Besonderes: Hoch oben auf einem Kalksteinplateau liegt dieser Ruinenhügel. Wir haben also an dieser Stelle keinen natürlichen Erdhügel, sondern einen von Menschenhand aufgetürmten Ruinenhügel, der durch immer wieder übereinander aufgerichtete Bauschichten entstanden ist. Ein Hügel, und das ist die nächste Besonderheit, der insgesamt in das sogenannte Pre-Pottery Neolithic datiert, das vorkeramische Neolithikum, in eine Zeit also des 10. und 9. Jahrtausends v. Chr. Die Grundlage dieser absoluten Datierung bilden kalibrierte Radiokarbondaten, so dass wir es nicht mit einer geschätzten, sondern mit einer gesicherten Datierung zu tun haben. Wir bewegen uns damit in einer Zeit, in der die Menschen weltweit noch Jäger und Sammler waren. Wir verlassen aber die große Zeit der Eiszeitjäger, die zwischen 25.000 und 10.000 v. Chr. zu datieren ist, und befinden uns © 2018, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-028-4 (Buch) / ISBN 978-3-96327-029-1 (E-Book)

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im beginnenden Holozän. Wenn wir den Göbekli Tepe mit anderen Monumenten und Kulturen vergleichen, sind wir also in einer sehr frühen Zeitstellung, die näher an der Eiszeit als am Neolithikum liegt. Der Platz erfreut sich inzwischen großer Bekanntheit, die sich auch in einer breiten finanziellen Förderung niederschlägt, wobei die Sponsoren vor allem die Konservierung und Erschließung des Platzes unterstützen. Die wissenschaftliche Betreuung wird im Wesentlichen von der Orient-Abteilung des Deutschen Archäologischen Instituts geleistet, der ich selbst auch angehöre. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft finanziert dankenswerter Weise seit drei Jahren ein auf zwölf Jahre angelegtes Langfristprojekt. Dieses Projekt ist in vier Zeitabschnitte unterteilt, von dem wir inzwischen den ersten hinter uns haben, und somit liegen nun noch neun Jahre vor uns. Das ist eine Konstellation, um die uns viele ausländische Kollegen beneiden. Jetzt aber zum Platz selbst. Im Jahre 1995, also vor Beginn unserer Arbeit, war an dieser Stelle nur ein auf einem Hügel wachsender einzelner Baum zu sehen. Der Platz wurde landwirtschaftlich genutzt, weil es sich um einen Erdhügel handelt – wenngleich auch ein künstlicher Erdhügel, wie bereits gesagt ein Ruinenhügel –, während die umliegenden Plateaus sog. „Bare Lands“ sind, also nicht nutzbare Felsflecken, die für die Bevölkerung nicht von Bedeutung waren. Erst in den umliegenden Ebenen finden sich dann wieder landwirtschaftlich genutzte Flächen. Unsere Erkenntnisse vom Göbekli Tepe, die ich Ihnen heute präsentieren werde, sind also das Ergebnis von Ausgrabungen. Sichtbar waren an der Oberfläche unzählige Feuersteingeräte, darunter sehr viele typische Artefakte, die in die Zeit des Pre-Pottery Neolithic weisen. Gefäßkeramik fand sich hingegen gar nicht. Es war also ein Leichtes, den Platz schon anhand der Oberflächenfunde im Groben in die genannte Zeit zu datieren. Es war zu diesem Zeitpunkt aber nicht klar, ob an dieser Stelle tatsächlich wichtige Baustrukturen verborgen sein werden, so dass sich eine Ausgrabung auch wirklich lohne. Nachdem ich den Platz 1994 ein erstes Mal besucht hatte und den Plan fasste, hier mit Grabungen zu beginnen, konnte dann 1995 – zunächst in sehr kleinem Stil – eine solche Grabung verwirklicht werden. Die Grabungen wurden dann in den nächsten Jahren fortgesetzt. Die erste Einschätzung erwies sich dabei als völlig zutreffend, dass es sich nicht nur um irgendeinen Ort des Pre-Pottery Neolithic handelt, sondern um einen äußerst wichtigen, gigantischen Platz dieser Zeit. Dieser liegt etwa 785 Meter über dem Meeresspiegel, er hat einen Umfang von 300 x 300 Metern und eine maximale Schichtmächtigkeit von 15 Metern. Er ist zwischen 9600 und 8200 v. Chr. zu datieren, also in das PPN A (Pre-Pottery Neolithic A) und in die erste Hälfte des PPN B (Pre-Pottery Neolithic B). Es fanden sich keinerlei jüngere Schichten. Der Platz wurde also offensichtlich um 8200 v. Chr. für immer aufgelassen. Er wurde dann von den Bauern zwar landwirtschaftlich genutzt, aber eine Nutzung als Heiligtum fand schon um diese Zeit

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ein Ende. Auf die Gründe dieser Auflassung werde ich im Laufe meines Vortrags noch eingehen. Ich habe Ihnen schon erklärt, dass wir uns am Ende des globalen Phänomens der Eiszeit bewegen. Die Eiszeit endete, wie wir heute aufgrund der Eisbohrkerne aus Grönland ganz genau wissen, um 9600 v. Chr. Es handelte sich dabei – das wissen wir heute ebenfalls sicher – um einen ganz abrupten Klimawechsel. Es war also nicht ein allmähliches Ausklingen der Eiszeit, sondern etwas, was wir heute als „rapid climate change“ bezeichnen. Diese „rapid climate changes“ gibt es mehrfach in der Erdgeschichte, auch in jüngeren Perioden. Vielleicht erleben wir gerade einen solchen „rapid climate change“, wenn er diesmal – im Gegensatz zu den vorherigen Klimawechseln – vielleicht aber selbstgemacht ist. Kommen wir nun wieder in die Zeit 9600 v. Chr. Dies ist eine ganz wichtige Zahl, denn nun änderte sich das Klima global grundlegend. Es gibt Regionen, in denen sich das Klima verschlechterte. Es gibt aber auf der anderen Seite auch viele Gegenden, die von der Klimaänderung profitierten. Aufgrund dieses klimatischen Wechsels konnte es dann im Holozän weltweit mehrfach zum Übergang von den Jäger- und Sammlergesellschaften der Eiszeit zu einer neuen Lebensform kommen, zur neolithischen Lebensform. Neolithisch ist in diesem Fall kein Begriff, der zeitlich zu definieren ist, sondern er bezeichnet vielmehr den Zustand einer Gesellschaft. Neolithisch sagt also aus, dass eine Gemeinschaft in der Lage ist, ihre Nahrung selbst zu produzieren. Neolithische Gesellschaften sind somit Nahrung produzierende Gesellschaften – im Unterschied zu den Wildbeutern der Eiszeit, zu den Jägern und Sammlern, die aus der Natur nehmen, die aber nicht selbst diese Nahrung produzieren. Diese Nahrungsproduktion ist das revolutionär Neue im Neolithikum. Im Grunde sind alle modernen Gesellschaften letztlich noch neolithische Gesellschaften, denn unsere Ernährung hat auch heute noch eine Agrarbasis. Wenn man unsere Gesellschaft unter diesem Blickwinkel sieht, hat sich seither also nichts Wesentliches geändert. Nun ist zu beobachten, dass dieser Übergang zum Neolithikum in verschiedenen Regionen unabhängig voneinander stattfindet. Um 9000 v. Chr. greifen wir also in Vorderasien einen entscheidenden Prozess. Diese Entwicklung breitete sich dann in rasantem Tempo in der gesamten Alten Welt aus, wenn auch nicht immer nach dem gleichen Muster, denn es gibt durchaus Varianten. Die Gründe für die schnelle Ausbreitung sind im Wesentlichen die folgenden: Neolithische Gesellschaften sind ihren Nachbarn überlegen, sie können mehr, sie sind leistungsfähiger, sie haben mehr Technik – auch mehr Waffentechnik. Warum habe ich diese Überlegungen zur Neolithisierung so breit angelegt? Die Antwort ist einfach: Weil sie indirekt mit unserem Platz zu tun hat. Die Neolithisierung vorderasiatischer Prägung findet in einer Region statt, die wir seit langem als „fruchtbarer Halbmond“ bezeichnen. Dies ist sozusagen die „Gunst-Region“ Vorderasiens, in der aus klimatischen und aus geographischen

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Gründen immer alles möglich war. Nach Süden schließt sich an diesen fruchtbaren Halbmond die arabische Wüste an, nach Norden hin das Taurus- und ZagrosGebirge. Zwischen diesen Landschaften eingespannt befindet sich also der fruchtbare Halbmond. Die Forschung ging lange davon aus, dass zentrale Entwicklungen im westlichen Flügel des fruchtbaren Halbmonds stattfanden. Dieser These wurde durch die Grabungen in Jericho Vorschub geleistet, die von Kathleen Kenyon in den 1950er Jahren unternommen wurden. Hier wurde das Pre-Pottery Neolithic erstmals definiert und die Stufen A und B unterschieden. Und man dachte, dass von dieser Region alles ausging. Heute wissen wir, dass der Norden weitaus wichtiger für die Entwicklung war, denn er dominierte das Geschehen. Es gibt nämlich im fruchtbaren Halbmond eine Landschaft, die als „Goldenes Dreieck“ bezeichnet wird. Der Begriff stammt von den Kollegen Olivier Aurenche und Stefan Kozlowski. Göbekli Tepe ist inmitten dieses „Goldenen Dreiecks“ gelegen und wir werden sehen, dass hier eine Verbindung besteht zwischen dem Prozess der Neolithisierung und den dort gelegenen Heiligtümern. Hier passieren Dinge, die sich in ganz spannender Weise gegenseitig ergänzen und helfen, die Entwicklungen zu erklären. Die im Neolithikum einsetzende Nahrungsproduktion begann in Vorderasien mit der Domestikation von Pflanzen, zunächst von Wildgetreiden, vor allem Einkorn und Emmer, die Vorfahren unseres modernen Weizens. Diese Entwicklung beginnt zunächst mit einer intensiven Nutzung der Wildformen. Diese werden dann in einem weiteren Schritt domestiziert, so dass die Frucht größer, dicker, fetter wird. Dies unterscheidet den Wildweizen von dem kultivierten Weizen. Diese Pflanzen werden dann weiterverarbeitet zu Brot oder zu Brei oder was auch immer man sich vorstellt, was man aus diesen Wildgetreiden machen kann. Hinzu kommen dann auch noch Hülsenfrüchte. Diese Kultivierung von Pflanzen ist die eine Basis der Nahrungsproduktion. Die andere Basis ist die Domestikation der vier Gründertiere Rind, Schaf, Ziege und Schwein. Das sind die vier Haustiere, die gemeinsam in dieser Zeit auftreten. Wir klammern den Hund an dieser Stelle aus, denn diesen gibt es schon länger: Er wurde schon im jungen Paläolithikum domestiziert, jedoch nicht als Fleischlieferant, sondern als Begleiter des Jägers. Die vier genannten Tiere wurden jedoch domestiziert, weil man sie aufessen wollte. Andere Produkte dieser Tiere – wie Wolle und Milch – werden erst später genutzt. Am Anfang war das Ziel der Domestizierung vielmehr die lebende, um das Haus herum stehende Fleischreserve. Das sind also die Entwicklungen, die das Neolithikum vorderasiatischer Prägung ausmachen. In Ostasien – man kommt schnell darauf – steht der Reis im Mittelpunkt der Domestizierung, in Afrika die Hirse, in der Neuen Welt der Mais und entsprechend auch andere Tiere. Das sind somit Neolithisierungen anderen Stils. Es ist zu betonen, dass wir es in der Alten Welt durchgängig mit der Neolithisierung vorderasiatischer Prägung zu tun haben.

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Am Göbekli Tepe sind wir nun jedoch im 10. Jahrtausend v. Chr. in einer Phase, in der die Domestikation noch nicht nachweisbar ist. Aber wir sehen, dass die Menschen auf dem Weg zu einer solchen sind. Domestikation ist ja kein Akt, der von heute auf morgen, von einer Woche auf die andere stattfindet. Es liegt auf der Hand, dass es sich dabei um einen längeren Prozess handelt, und bei den Pflanzen währte dieser vielleicht sogar noch länger als bei den Tieren. Jedenfalls sind die Menschen, die in dieser Zeit zum Göbekli Tepe kamen, offenbar die gleichen, die in ihren Dörfern dabei sind, die Domestikation zu erfinden. Ich sage bewusst „in ihren Dörfern sind sie dabei, diese zu erfinden“ – nicht also am Göbekli Tepe. Denn der Göbekli Tepe ist kein Dorf, keine Siedlung, sondern ein Heiligtum, wie es der Titel dieses Vortrages Ihnen schon andeutet. Die Menschen kommen dort hin, um bestimmte Rituale durchzuführen, sie gehen anschließend aber wieder zurück in ihre Siedlungen. Diese Dauersiedlungen liegen wahrscheinlich in einem Umkreis von 50 bis 100 km. Wir haben also – und dies ist zu betonen – bereits sesshafte Jäger und Sammler vor uns. Also ist ein erster Schritt der neolithischen Entwicklung getan. Die in Siedlungen zusammenlebenden Menschen sind aber zunächst immer noch Jäger und Sammler. Diese Lebensform ist möglich, da die Menschen so effektive Jagdstrategien entwickelt haben, wie z. B. spezielle Tierfallen und Treibjagden. Diese erfolgreichen Jagdstrategien lassen sich an den Funden vom Göbekli Tepe ablesen. Es sind an erster Stelle unheimlich viele Tierknochen zu nennen, die als Nahrungsreste zu interpretieren sind, und die meistens stark zerschlagen sind. Hinzu kommen viele Silexartefakte, zum einen Werkzeuge wie Geschossspitzen und Kratzer und zum anderen Abschläge, also Abfälle. Es ist somit eine sehr reiche Steingeräteproduktion nachzuweisen, die auf dem hochqualitativen Feuerstein basiert, der in dieser Region vorkommt. Die Fundmenge ist – um es nochmals zu betonen – immens. Wir leiden fast darunter, dass wir eine solche Fundhäufung haben, da diese ja verarbeitet werden muss. Wir werden später nochmals darauf kommen, wie eine solche Fundhäufung an diesem Ort im Vergleich zu Funden in Siedlungen zu erklären ist. Es sei an dieser Stelle noch darauf hingewiesen, dass mit den Tierknochen nicht wir als Archäologen befasst sind, sondern Kollegen von der Ludwig-Maximilian Universität in München unter der Leitung von Joris Peters, der das Institut für Domestikationsforschung leitet. Diese Kollegen befassen sich dort mit unserer Archäofauna vom Göbekli Tepe und kommen zu ganz spannenden Ergebnissen, die ich Ihnen aber leider nicht im Detail vorstellen kann. Aber ein Phänomen ist ganz klar zu erkennen: Die Fauna wird im 10. Jahrtausend v. Chr. zunächst dominiert von Gazellen. Hinzu kommen Auerochsen, Rothirsche, Wildesel, Füchse und dann noch spezielle Wildziegen. Das Wildschaf ist hingegen selten. Wir haben also zunächst eine reine Wildfauna, die von Gazellen dominiert wird. Und plötzlich sehen wir dann, dass die Anzahl der Schafe rapide ansteigt, während die Gazellen im Gegenzug zurückgehen.

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Diese Beobachtung spiegelt – kombiniert mit anderen Faktoren – die Domestikation wider, die hier nun stattfindet. Die Domestikation des Schafes, das jetzt als Herdentier gehalten wird und die Gazelle ersetzt, die nicht domestiziert werden kann. Diese Entwicklung ist etwa in die Mitte des 9. Jahrtausends v. Chr. zu datieren, also in eine Zeit, in welcher der Göbekli Tepe schon verlassen ist. In anderen Regionen beobachten wir in ähnlicher Weise die Domestikation der Wildrinder, der Schweine und der Ziegen. Diese vier Tiere (Schaf, Rind, Schwein, Ziege) werden dann das sogenannte neolithic package bilden. Hierzu kann man jetzt noch viele Aspekte anführen, die ich jedoch nicht mehr vortragen will. Ich komme daher nun zum archäologischen Befund zurück. Und an dieser Stelle ist zunächst ein kleiner Exkurs notwendig. Ein Exkurs nach Nevali Çori, eine am türkischen Euphrat gelegene frühneolithische Siedlung von Jägern und Sammlern. Sie liegt etwa 50 km nordwestlich von Göbekli Tepe. Hier wurde eine Grabung von Adnan Misir, dem damaligen Direktor des Museums in Urfa, der nächsten Provinzhauptstadt, und Harald Hauptmann von der Universität Heidelberg durchgeführt. Ich konnte dankenswerterweise an allen Kampagnen als Teilnehmer mitwirken und miterleben, wie hier ein erstes Fenster in eine Welt steinzeitlicher Siedlungen aufgestoßen wurde, wie wir sie bisher nicht kannten. Es wurde in Nevali Çori eine elaborierte Steinarchitektur freigelegt mit mehreren Wohnhäusern und einem Sondergebäude, wie wir es zuerst ganz neutral nannten. Dieses Sondergebäude hatte ein Hauptelement, das in dieser Weise zum ersten Mal in Nevali Çori entdeckt wurde. Es handelt sich dabei um monolithische und megalithische Pfeiler, die im Flachrelief Arme und Hände andeuten, so dass wir das Ganze als menschlichen Körper interpretieren können. Das Gesicht ist hingegen nie dargestellt, weil es dafür offenbar ein Darstellungstabu gab. Aber wir können so etwas wie Bekleidung erkennen: herabhängende Bänder, eine Art Schal. Auch die Füße sind nicht dargestellt. Es gibt an diesen Pfeilern nur einen Zapfen, mit dem das Ganze im Boden verankert wird. Trotz dieser fragmentarischen Darstellung ist es klar, dass wir hier eine dreidimensionale, anthropomorphe Darstellung vor uns haben. Wir haben abwechselnd die Worte „Stelen“ und „Pfeiler“ für diese Steinplatten benutzt, beides sind Wissbegriffe. Eigentlich sind es jedoch Statuen, die zwar hochstilisiert, aber eben doch als anthropomorph zu erkennen sind, und die im körperlichen Volumen wiedergegeben sind. Diese Statuen fanden sich also erstmals in Nevali Çori und sie waren der Anlass, uns in der Urfa-Region umzuschauen, und so führte der Weg dann 1994 zum Göbekli Tepe. Kommen wir somit nun wieder zu den Grabungen am Göbekli Tepe, die ich Ihnen ja am Anfang schon kurz skizziert hatte. Das Hauptgrabungsgelände umfasst vier monumentale Anlagen, die in der Reihenfolge ihrer Entdeckung A, B, C, D genannt werden (Abb. 1). Schauen wir uns diese Anlagen etwas genauer an,

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so erkennen wir wie in Nevali Çori jeweils zwei besonders große T-förmige Pfeiler in der Mitte, die umgeben sind von einem Kreis oder mehreren Kreisen gleichartiger Pfeiler, die aber kleiner als die zentralen Pfeiler gebildet sind. Wenn wir uns die Menschengestaltigkeit dieser Pfeiler vor Augen führen, dann können wir das Ganze als eine Art Versammlung T-förmiger Pfeilerwesen verstehen, zwei stehen jeweils in der Mitte und sind umgeben von weiteren, die den Kreis bilden. Wir finden hier also ähnliche Erscheinungen wie in Nevali Çori, allerdings – und das war die Überraschung – in einer nun wirklich monumentalen Art. So große Pfeiler kannten wir aus Nevali Çori nicht. In Göbekli Tepe fanden wir bis zu 5,50 Meter hohe Pfeiler. In dieser Monumentalität hatten wir solche Pfeiler wahrlich nicht erwartet. Das war eine der Überraschungen, die wir am Göbekli Tepe erlebten. Schauen wir uns die Pfeiler von Nevali Çori und vom Göbekli Tepe nun vergleichend an. In Nevali Çori haben wir Pfeiler mit Armen und Händen, soweit sie erhalten sind, aber wir haben keine weiteren Reliefs. Am Göbekli Tepe hingegen haben wir auf den Pfeilern oft keine Arme und Hände angegeben, dafür aber viele Tierreliefs, die das Ganze umso spannender machen, als dass wir aufgrund der Materialfülle einen Katalog von Darstellungen und vor allem von Kombinationen von Darstellungen entwickeln können. So erkennen wir auf Pfeiler 1 der Anlage A Schlangennetzmuster und vermutlich auch Schlangenköpfe, so dass hier wohl ineinander verflochtene Schlangenkörper zu rekonstruieren sind (Abb. 2). Unter dem Schlangennetz ist noch die Darstellung eines Vierfüßlers zu erkennen, vermutlich ein Widder. Auch Pfeiler 2 zeigt mehrere Tiere übereinander: Stier, Fuchs und Kranich (Abb. 3). Diese Anordnung wird sicherlich ihre Bedeutung gehabt haben, aber für uns ist diese Bildsprache zunächst einmal schwierig zu entschlüsseln. In Anlage B sind zwei gleichartige Darstellungen einander gegenübergestellt (Abb. 4 und 5): So tragen sowohl der östliche als auch der westliche Zentralpfeiler Fuchsreliefs. Es sei angemerkt, dass alle dargestellten Säugetiere als männliche Tiere angegeben sind. So ist also auch hier kein Fuchspaar dargestellt, sondern zwei männliche Füchse. Bei Vögeln und Schlangen ist eine solche Qualifizierung selbstverständlich nicht möglich, aber bei Säugetieren ist sie durchgängig eingehalten. Vor dem östlichen Pfeiler findet sich eine in den Boden eingelassene Kalksteinschale, die vermuten lässt, dass offenbar zwischen den Pfeilern bestimmte Rituale ausgeführt wurden. An dieser Stelle sei kurz auf den zentralen Begriff dieser Ringvorlesung eingegangen: Heiligtum. Wenn wir in späteren Perioden von Heiligtümern sprechen, haben wir es in der Regel leicht, ein solches festzumachen, weil wir schriftliche Quellen haben, die den Ort als solches benennen und genau schildern, welche Gottheit dort wie verehrt wurde. All das fehlt uns natürlich in der Prähistorie und viele Begriffe, die später selbstverständlich sind, müssen hier hinterfragt werden. Wir benutzten daher zumeist neutrale Begriffe wie „Sondergebäude“ oder „Sonderanlagen“. Aber die Befunde, wie wir sie am Göbekli Tepe haben, kombiniert

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mit dem kompletten Fehlen von Feuerstellen, von Häusern, von Spuren täglichen häuslichen Lebens, legen es doch sehr nahe, dass wir es hier mit Heiligtümern zu tun haben und nicht mit anderen Strukturen. Betrachten wir nun die Anlage D. Die monumental erhaltenen Zentralpfeiler konnten wir zunächst nicht ausgraben, weil sie leicht schief standen. Wenn wir sie tief ausgegraben hätten, wären sie sicherlich umgefallen. Ansonsten befand sich die Steinformation aber noch in originaler Lage, so dass sich die Frage stellte: Warum kann das heute noch so angetroffen werden? Die Antwort darauf lautet: Weil das Gelände noch in der Steinzeit zugefüllt wurde. Wir haben an diesem Ort also keine Zuschwemmung, keinen Sedimentationsprozess von Kräften der Natur, sondern eine artifizielle Zufüllung. Diese absichtliche Zufüllung der Anlage ist noch in die Steinzeit zu datieren, vermutlich als Teil der Rituale, die dort vollführt wurden. So ist also diese phänomenal gute Erhaltung der Monumente zu erklären. Wir konnten die Stabilitätsprobleme dann lösen und hatten Glück, dass die Pfeiler nicht im Sediment gebrochen waren. Die Pfeiler stehen in situ mit 5,50 Meter Länge in Originalaufstellung. Es war ein wirklich phänomenaler Befund, der aber leider dieses Stabilitätsproblem immer noch hat, so dass Stützkonstruktionen notwendig sind. In Anlage D liegt ein wahrer zoologischer Garten mit zahlreichen Tierdarstellungen vor uns (Abb. 6). Unter den Tieren sind beispielsweise Vögel wie Geier und Ibis, eine Schlange, eine Kröte, ein Riesenskorpion, eine Hyäne auszumachen. Hinzu kommen abstrakte Motive, an deren Bedeutung wir bislang noch rätseln. Wenn man mutig ist, obwohl man bei Deutungen eigentlich sehr vorsichtig sein sollte, dann kann man hier Symbole für Luft, Wasser und Erde erkennen. Aber diese Deutung ist bislang noch Spekulation. Ganz deutlich sind hingegen anthropomorphe Darstellungen zu erkennen: Wir sehen eine Gestalt mit Schultern, Armen und Körper, die ithyphallisch und akephal dargestellt ist. Hinzu kommen immer wieder Darstellungen von Schlangen, Insekten und Spinnen. Dies ist somit kein friedliches Szenario, dem wir hier gegenüberstehen, sondern es erinnert eher an die Unterwelt. Vor allem durch die Darstellung eines Kopflosen kommen wir in die Deutungsrichtung, dass hier ein Unterweltsgeschehen ins Bild gesetzt ist. Dabei ist noch lange nicht gesagt, welche Bedeutung diese Inszenierung hat. Aber eines ist klar: Die Darstellungen sind keine Ornamente. Es geht hier nicht um das Schmücken. Hier wird vielmehr etwas erzählt, es wird illustriert: An dieser Stelle werden Mythen der Steinzeit offenbart. Wenn wir beispielsweise die Kraniche mit ihren Beinen sehen, die eher an Menschenbeine erinnern, dann könnte man daran denken, dass Schamanen dargestellt sind, die sich gerade in Kraniche verwandeln. Das ist selbstverständlich eine Deutung, die für uns spekulativ bleiben muss, es ist aber eine Bildsprache, eine Zeichensprache, die für die steinzeitlichen Menschen lesbar war. Sie konnten diese Botschaften verstehen.

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Wir können heute nur versuchen, uns langsam an die Bedeutung dieser Bildsprache anzupirschen – und dieses versuche ich. In Göbekli Tepe finden sich im Vergleich zu den Figuren aus Nevali Çori aber Darstellungselemente, die wir bisher nicht kannten: Sie tragen einen Gürtel und einen Lendenschurz in Form eines Tierfelles, wahrscheinlich ein Fuchsfell, das vom Gürtel herabhängt (Abb. 7). Obwohl wir nicht sehen, ob die Figuren Mann oder Frau darstellen, wissen wir aufgrund der Figurinen dieser Zeit, dass Gürtelträger grundsätzlich männlich sein sollen. Also haben wir es mit einer hohen Wahrscheinlichkeit nicht mit einem Paar, Mann und Frau, zu tun, sondern mit zwei männlichen Darstellungen. Es wäre auch ein Leichtes gewesen darzustellen, wenn einer von beiden eine Frau hätte sein sollen. Es handelt sich also offensichtlich um Männer. Ja, wenn man drüber nachdenkt, sind in der gesamten Anlage nur männliche Darstellungen zu erkennen. Jedenfalls finden sich keinerlei Hinweise auf weibliche Teilnehmer an diesen Steinkreisen. Auffällig ist, dass individualisierende Symbole angefügt wurden. Dem steinzeitlichen Betrachter war sicherlich klar, wen er hier vor sich hatte: Der mit dem Stier, der mit der Mondscheibe oder mit dem Halbmond oder was auch immer für Symbole hier dargestellt sind. Anlage C wurde wahrscheinlich in der Antike oder in der Eisenzeit zerstört. Eine Riesengrube wurde eigens zu dem Zweck angelegt, die Zentralpfeiler zu zerschlagen. Im Randbereich waren die Zerstörungen zum Glück geringer. Einige Pfeiler sind in diesem Bereich zwar umgestürzt, aber Vieles ist noch intakt. Pfeiler 35 konnte beispielsweise virtuell wieder zusammengesetzt werden und wir kamen auf eine Höhe von exakt fünf Metern über dem Felspodest. An Pfeiler 27 (Abb. 8), der monolithisch gearbeitet ist, haben wir ein Hochrelief herausgearbeitet, das ein Raubtier darstellt. Dieses Raubtier-Relief befindet sich über dem Flachrelief eines Wildschweins. Wir hatten schon viele solcher Skulpturen gefunden und hielten sie am Anfang alle für eigenständige Skulpturen. Nun erkannten wir, dass viele Skulpturen ursprünglich an Pfeilern montiert waren und dann abgeschlagen wurden. Ein Großteil war wahrscheinlich als Hochrelief an solchen Pfeilern angebracht. Und diese dreidimensionalen Darstellungen zeigen einen gemeinsamen Themenkreis: aggressive Tiere, die offenbar als Wächter dieser T-Pfeiler fungieren. Jedenfalls ist dies eine vorläufige Deutung. Und diese Interpretation ist ein wichtiger Unterschied zu den Flachreliefs, deren narrativen Charakter wir ja gesehen haben. Dort werden Geschichten erzählt und hier werden diese Geschichten offenbar bewacht. Und noch eine wichtig Beobachtung darf ich Ihnen vorstellen: Die Reliefs befinden sich nicht nur auf den Pfeilern, sondern ebenso auf den sogenannten Türlochsteinen. Ich zeige Ihnen ein monumentales Stück, drei Meter im Durchmesser, aus einem Kontext, den wir erst noch näher untersuchen müssen. Es handelt sich um einen Doppeltürlochstein mit mehreren

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Wächtertieren, die offenbar hier die Eingänge bewachen (Abb. 9). In diese Wächtergruppe können wir auch die Funde von Menschengestalten einreihen, und zwar jetzt nicht die hochstilisierten Pfeilerwesen, sondern die mehr oder wenig naturalistisch dargestellten Menschenfiguren. Dieses Phänomen, dass sich der narrative Charakter der Flachreliefs in den Skulpturen nicht wiederholt, ist in ähnlicher Weise auch in Nevali Çori zu finden. Die Urfa-Region hebt sich mit diesen Besonderheiten durchaus von den Nachbarlandschaften ab. Wir waren daher nicht so sehr über die Fundgruppen überrascht, die wir am Göbekli Tepe antrafen, sondern vielmehr über die Monumentalität und vor allem die Masse, die uns am Göbekli Tepe gegenübertrat. Der Fund eines steinernen Pfahls von fast zwei Metern Höhe, der einen Tierkopf am oberen Ende trägt, verdeutlicht dies nochmals (Abb. 10). Die Augen und die Ohren zeigen ganz klar, dass es kein Mensch ist, wahrscheinlich sollte ein Löwe dargestellt werden, der vermutlich einen Menschenkopf hält, denn darunter ist klar eine menschliche Darstellung zu erkennen. Es ist offensichtlich also eine totempfahlartige Kompositdarstellung. Und auch hierzu sei gesagt, dass wir derartiges schon aus Nevali Çori kannten. Am Göbekli Tepe bekommen wir durch den Fundreichtum allerdings eine Erweiterung des Spektrums, und langsam verstehen wir mehr und mehr, was hier gezeigt ist. So haben wir auch in Nevali Çori Bruchstücke gefunden, die man zusammensetzen konnte, auf denen ein Tier einen menschlichen Kopf oder menschliche Köpfe hält. Die Tiere konnten dabei durchaus variieren. Wir können diese Motive gut mit den Bestattungssitten dieser Zeit verbinden. Oft wurden den Skeletten oder den niedergelegten Bestatteten nach einiger Zeit die Schädel entnommen. Diese wurden gesondert behandelt und dann in Gruben verbracht. Diese Besonderheit findet sich also hier im Bild wieder, und die Funde weisen wohl darauf hin, dass man sich hinter dem Dargestellten bestimmte Vorgänge vorstellte. Salopp ausgedrückt: Die Tiere verbringen die Seelen der Menschen in andere Gefilde. Das ist jedenfalls eine – wenn auch derzeit noch etwas sehr spekulative – Deutung der Bildinhalte. Was ich Ihnen bisher an Funden gezeigt habe, kommt im Wesentlichen vom Hauptgrabungsgebiet am Südhang. Inzwischen wurden vor allem am Nordwesthügel neue Flächen freigelegt, vor allem um etwas zu verifizieren, was wir in der Geomagnetik schon lange Zeit gesehen haben. Es sollten die folgenden Fragen beantwortet werden: Sind die Kreisanlagen auch hier gleich alt? Wie sieht deren Bildprogramm aus? Der Nord-West-Hügel wurde also als vergleichender Testbereich genutzt. Die anderen Abschnitte sollen in unserer Forschergeneration nicht mehr ausgegraben werden. Aber wir wollen nun doch sehen, ob das, was wir im Südosten vorgefunden haben, auch im Nordwesten anzutreffen ist, vor allem was Chronologie und Bildprogramm angeht. Erste Ergebnisse liegen nämlich bereits vor: So konnten wir erkennen, dass die T-Pfeiler in gleicher Weise offenbar mit Tierreliefs versehen sind. Pfeiler 56 soll wegen seiner besonders reichen

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Verzierung im Folgenden im Mittelpunkt stehen: Solch eine Dichte von Motiven wie an diesem Pfeiler hatten wir bislang noch nicht gesehen (Abb. 11). Eine Gruppe von über fünfzig Tieren sind hier dargestellt, sie sind ganz dicht gestaffelt: große langbeinige Vögel, viele Schlangen, kurzbeinige Vögel, Vierfüßler, Hyäne. Zudem ein großer Raubvogel, der als einziger von links auftritt, während alle anderen von rechts nach links marschieren. Adler oder Geier sind immer wieder dargestellt. Und dann ein menschlicher Kopf, der offenbar vom Körper separiert ist. Durch neue Funde auch in den zeitgleichen Siedlungen können wir erkennen, dass die Großbilder des Göbekli Tepe offenbar auf kleinen Artefakten imitiert wurden. Diese These legen Funde aus Jerf el-Ahmar nahe, eine Siedlung von Jägern und Sammlern in Nordsyrien. Wenn wir uns diese Steinplättchen ansehen, dann erkennen wir ohne große Schwierigkeiten den großen Vogel wieder, wir finden Schlangen wieder, wir finden Vierfüßler wieder. Es scheint, als ob die Großbilder rezipiert wurden, als ob sie en miniature in den Siedlungen eingeritzt wurden oder als ob solche Objekte vom Göbekli Tepe zu solchen Siedlungen gebracht wurden. Diese Bilder sind offensichtlich weit mehr als Dekor, sie lassen erkennen, dass wir es mit einem System zu tun haben, dessen Dechiffrierung wir so langsam vornehmen können. Wir können erkennen, dass die gesamte Anlage als ein Text zu verstehen ist, der aus großen Zeichen besteht, das sind die T-Pfeiler, aus mittleren Zeichen, das sind die Tierdarstellungen, und kleinen Zeichen, die entweder Tierköpfe enthalten oder abstrakte Zeichen mit noch unklarer Bedeutung. Diese Bilder zeigen uns, mit was für einem Platz wir es hier zu tun haben. Das ist keine Siedlung, denn wir haben keinerlei Spuren von häuslicher Architektur. Das ist ein Platz mit anderer Funktion, von anderer Qualität. Es ist ein Heiligtum, diese Zuordnung kann man ohne Mühe vergeben, auch wenn uns im Unterschied zu historischen Perioden alles andere fehlt, was uns dieses Heiligtum näher beschreiben würde. Gab es schon Gottheiten, die dort verehrt wurden? Oder sind es doch eher Naturelemente, die hier ins Bild gesetzt sind? Es gibt viele offene Fragen. Aber wir erkennen das Phänomen, den Mechanismus. Wir können davon ausgehen, dass große Feste den Anlass boten, dass die Jäger und Sammler Obermesopotamiens sich am Göbekli Tepe einfanden und zu bestimmten Anlässen zusammen feierten. Dabei wurden Unmengen an Fleisch verzehrt und Mengen an Tierknochen hinterlassen. Im Kontext dieser Feste sind auch Feuersteingeräte in Riesenmengen hergestellt worden, so nach dem Schlagwort: Eine Pfeilspitze vom Göbekli Tepe ist eine bessere Pfeilspitze als eine, die nicht dort oben geschlagen ist. Wir erkennen diesen Platz nun als einen Zentralort für die Jäger und Sammler der Euphrat-Tigris-Region, an dem sie sich immer wieder zusammenfanden. Bei diesen Festen war die Manpower gegeben, um diese megalithischen Anlagen überhaupt errichten zu können. Sicherlich gab es am Göbekli Tepe

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keine Tiere, die bei der Errichtung halfen, denn es gab ja noch gar keine Haustiere. Ob die Frauen ausgeschlossen waren, wissen wir nicht. So, das ist die eine Geschichte: Wir haben am Göbekli Tepe einen Platz, der als Heiligtum fungierte. Strenggenommen haben wir dort eigentlich viele Heiligtümer. Aber was hat das nun mit der Neolithisierung zu tun? Natürlich viel: Denn am Göbekli Tepe war eine Plattform gegeben, ein Kommunikationsnetz, das von hier aus gesteuert oder unterhalten wurde, in dem Innovationen sehr schnell ausgetauscht und verbreitet werden konnten. Und an dieser Stelle erinnere ich an ein Faktum, das mein Kollege Joris Peters von der Universität München herausgearbeitet hat: Die vier Gründertiere des Neolithikums wurden nicht an einem Platz domestiziert, sondern in verschiedenen Regionen. Die Rinder im Bereich des syrischen Euphrats, die Schafe im Bereich des Göbekli Tepe oder des türkischen Euphrats, die Ziegen, das sind eher Gebirgstiere, im Norden und die Schweine im Tigrisgebiet. Und dann sind diese Tiere in einem zweiten Schritt ganz schnell zusammen anzutreffen. Hier wird offenbar die Kenntnis, das Know-how, der Domestikation von Tieren ganz schnell zusammengebracht. Und ganz schnell haben die Menschen am syrischen und türkischen Euphrat, im Taurus und am Tigris alle vier Tiere: Alle haben nun Rinder, Ziegen Schweine, Schafe, obwohl sie zuerst mit nur einer Domestikation anfingen. Bei den Pflanzen scheint sich ein ähnliches Bild herauszuschälen. Offenbar fungierte der Göbekli Tepe – und vielleicht kommen bislang noch unentdeckte Plätze hinzu, die wie der Göbekli Tepe organisiert waren – wie ein Katalysator für das Schnüren des neolithischen Pakets, wenn wir dieses Bild noch einmal bemühen wollen. Ich möchte meinen Vortrag aber nicht schließen, ohne auf die Bedeutung des Göbekli Tepe für den Tourismus in der Türkei hinzuweisen. Dies ist selbstverständlich ein ganz großes Thema, denn es ist eine wichtige Aufgabe, der wir uns auch stellen. So wird das Hauptgrabungsgebiet in Kürze mit einem Dach überdeckt werden, so dass der Göbekli Tepe in adäquater Weise einer internationalen Besucherschaft präsentiert werden kann. Zudem ist ein Antrag zur Aufnahme des Göbekli Tepe in die von der UNESCO geführte Liste des Welterbes gestellt.

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Abb. 1: Das Hauptgrabungsgelände der Südostsenke des Göbekli Tepe. Foto: DAI, Plan: Klaus Schmidt

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Abb. 2: Pfeiler 1 mit einem Netz aus Schlangen, darunter ein Vierfüßler, vermutlich ein Widder. Foto: DAI, Ch. Gerber

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Abb. 3: Pfeiler 2 mit der Tiergruppe Stier, Fuchs und Kranich. Foto: DAI, Ch. Gerber

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Abb. 4: Pfeiler 9 mit dem Relief eines lebensgroßen Fuchses. Foto: DAI, K. Schmidt

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Abb. 5: Pfeiler 10, der dem Pfeiler 9 gegenüber liegt, ebenfalls mit Fuchsrelief. Foto: DAI, K. Schmidt

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Abb. 6: Pfeiler 43 aus Anlage D fällt wegen seines Motivreichtums auf: Neben verschiedenen naturalistischen Tierdarstellungen, finden sich auch abstrakte Zeichen sowie die Darstellung eines kopflosen ithyphallischen Mannes (unten rechts). Foto: DAI, K. Schmidt

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Abb. 7: Pfeiler 18 mit einem ebenfalls im Relief dargestellten Gürtel, an dem als Lendenschurz ein Fuchsfell hängt. Foto: DAI, N. Becker

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Abb. 8: Pfeiler 27 mit dem Hochrelief eines Raubtiers und dem Flachrelief eines Wildschweins. Foto: DAI, D. Johannes

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Abb. 9: Doppeltürlochstein mit mehreren Wächtertieren. Foto: DAI, N. Becker

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Abb. 10: Pfahl mit Tierkopf. Foto: DAI, N. Becker

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Abb. 11: Pfeiler 56 vom Nord-West-Hügel, eine Gruppe von mehr als 50 Tieren ist dargestellt. Foto: DAI, N. Becker

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Bibliographie Schmidt, Klaus, Sie bauten die ersten Tempel. Das rätselhafte Heiligtum der Steinzeitjäger. Die archäologische Entdeckung am Göbekli Tepe, München 2007. – Von den ersten Dörfern zu frühurbanen Strukturen, in: Jockenhövel, Albrecht (Hg.), WBG Weltgeschichte. Eine globale Geschichte von den Anfängen bis ins 21. Jahrhundert. Band 1: Vom Beginn bis 1200 v. Chr., Darmstadt 2009, 128–144. – Göbekli Tepe. A Neolithic Site in Southeastern Anatolia, in: Steadman, Sharon R. / McMahon, Gregory (Hgg.), Oxford Handbook of Ancient Anatolia. 10.000–323 B. C. E, Oxford 2011, 918–933. – Göbekli Tepe, in: Özdoğan, Mehmet / Başgelen, Nezih / Kuniholm, Peter (Hgg.), The Neolithic in Turkey. New Excavations & New Research. The Euphrates Basin, Istanbul 2011, 41–83. – Göbekli Tepe – der Tell als Erinnerungsort, in: Hansen, Svend (Hg.), Leben auf dem Tell als soziale Praxis. Beiträge des Internationalen Symposiums in Berlin vom 26.–27. Februar 2007, Bonn 2010, 13–23. – in Zusammenarbeit mit Becker, Nico / Dietrich, Oliver / Götzelt, Thomas / KöksalSchmidt, Çiğdem / Notroff, Jens, Materialien zur Deutung der zentralen Pfeilerpaare des Göbekli Tepe und weiterer Orte des obermesopotamischen Frühneolithikums, in: Zeitschrift für Orient-Archäologie 5 (2012), 14–43. – in Zusammenarbeit mit Dietrich, Oliver / Heun, Manfred / Notroff, Jens / Zarnkow, Martin, The Role of Cult and Feasting in the Emergence of Neo-lithic Communities. New Evidence from Göbekli Tepe, South-Eastern Turkey, in: Antiquity 86 (2012), 674– 695.

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Nippur „Heiliger Ort“ der Sumerer

Hans Neumann (Münster)

Unter den sumerischen, in Südmesopotamien gelegenen Städten des 3. Jahrtausends v. Chr. nahm Nippur eine herausragende Stellung ein. Im Unterschied zu den meisten anderen Städten Babyloniens verdankte der Ort dies jedoch nicht einer etwaigen machtpolitischen Dominanz im südlichen Mesopotamien, sondern seiner besonderen geistig-kulturellen und religiösen Bedeutung, die dazu führte, dass man in der Literatur im Zusammenhang mit der Geschichte, Struktur und politisch-kulturellen Rolle Nippurs auch von der „heiligen Stadt (der Sumerer)“ spricht.1 Das Wissen hierüber verdanken wir der archäologischen Erforschung des Siedlungshügels seit dem 19. Jahrhundert und der Auswertung der dabei zutage getretenen schriftlichen Quellen. Eine erste Identifizierung des modernen Nuffar, 180 km südöstlich vom heutigen Baghdad gelegen (Abb. 1), mit der antiken mesopotamischen Stadt Nippur erfolgte wohl bereits Mitte des 19. Jahrhunderts durch Julius Oppert (1825–1905),2 einen der Pioniere der assyriologischen Wissenschaften, was erstmals schriftlich durch Henry C. Rawlinson (1810–1895), einen der wesentlichen Entzifferer der babylonischen Keilschrift, bestätigt wurde.3 1851 erfolgte eine zweiwöchige Grabung am Ruinenhügel durch den englischen Ausgräber Austen Henry Layard (1817–1894) mit der Schlussfolgerung: „on the whole, I am much inclined to question whether extensive excavations carried out at Niffar would produce any very important results“,4 was sich jedoch bald als falsch herausstellen sollte.5 In der Zeit von 1888/89–1900 folgten dann amerikanische Ausgrabungen (vier Kampagnen6) seitens der University of Pennsylvania in Philadelphia unter der 1

Vgl. etwa Crawford 1959; Oelsner 1989a. Gibson 1993, 4 vergleicht Nippur sogar mit „the world’s other holy cities, such as Jerusalem, Mecca, and Rome“. 2 Dies geht aus einer Notiz von Hilprecht 1903, 11 hervor: „Die Ruinen von Nuffar repräsentieren das alte Nippur (so zuerst Oppert), ...“; vgl. auch Zettler 1997, 148. 3 Vgl. Gibson/Hansen/Zettler 1998–2001, 547: „first published note on the site“. 4 Zitiert nach Gibson/Hansen/Zettler 1998–2001, 548. 5 Vgl. im vorliegenden Zusammenhang auch Oelsner 1989a, 2; Zettler 1997, 149. 6 Vgl. Bregstein/Schneider 1992, 365.

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Leitung von John P. Peters (1852–1921) und John H. Haynes (1849–1910) sowie (ab 1899) von Hermann V. Hilprecht (1859–1925).7 1948 wurden die Grabungen in Nippur durch das University Museum of the University of Pennsylvania und das Oriental Institute of the University of Chicago unter Leitung von Donald E. McCown wieder aufgenommen. Ab 1953(–1963) erfolgten sie im Rahmen einer Joint Expedition des Oriental Institute of the University of Chicago und der Baghdad School of the American Schools of Oriental Research mit Richard C. Haines (1904–1977) als Ausgrabungsdirektor. Von 1964 bis heute (die vorläufig letzte [= 19.] Kampagne fand 1990 statt) werden die Grabungen vom Oriental Institute of the University of Chicago verantwortet, zunächst (bis 1967) unter Leitung von James E. Knudstad, ab 1972 dann unter Leitung von McGuire Gibson.8 Die Ausgrabungen wie auch die Oberflächenbegehungen ergaben, dass Nippur zu den am längsten besiedelten Orten Mesopotamiens gehört. Belegbare Ursprünge gehen bis auf das 6. Jahrtausend v. Chr. (Ubaid-Zeit) zurück. Architekturreste und Keramikfunde verweisen auf das ausgehende 4. und beginnende 3. Jahrtausend (Uruk- und Jemdet-Nasr-Zeit). Eine Besiedlung des Hügels lässt sich bis in das 8. Jahrhundert n. Chr. (also bis in islamische Zeit) nachweisen, wobei Ausgrabungen in der Umgebung von Nippur materielle Hinterlassenschaften sogar aus dem 14./15. Jahrhundert erbracht haben.9 Ausgegraben bzw. nachgewiesen wurden Tempelanlagen im Osten der Stadt (Abb. 2). Dabei handelt es sich insbesondere um das Heiligtum des Gottes Enlil, das é-kur („Haus Berg“),10 mit einer Zikkurrat,11 einem Stufentempel, wie wir ihn aus Ur, Babylon, Dūr-Kurigalzu und anderen altorientalischen Orten kennen. Angeschlossen an das Ekur war das (archäologisch nicht weiter untersuchte) é-ki-ùr („Fundament-Haus“),12 der Schrein der Göttin Ninlil, der Gemahlin des Enlil.13 Südwestlich des Ekur befand sich das Heiligtum der Göttin Inana, ein Tempelareal mit der längsten archäologisch nachweisbaren Schichtenfolge in Mesopotamien: XXII Schichten,14 die von der Mittel-Uruk-Zeit (Mitte 4. Jahrtausend v. 7

Vgl. die Einschätzungen zu den frühen Grabungen (und deren Publikation) bei Westenholz (A.) 1992 und Gibson/Hansen/Zettler 1998–2001, 548. 8 Zu den Grabungskampagnen seit 1948 vgl. den Überblick bei Zettler 1997, 149–150 und Gibson/Hansen/Zettler 1998–2001, 548 sowie die Liste bei Bregstein/Schneider 1992, 365; ebd. 358–364 findet sich eine Zusammenstellung der Ausgrabungsberichte und weiterer archäologischer Literatur zu Nippur. 9 Vgl. dazu im Einzelnen Gibson 1992. 10 Zum Tempelnamen und zur inschriftlichen Bezeugung des Ekur vgl. George 1993, 116 Nr. 677. 11 Vgl. McCown/Haines 1967. 12 Vgl. George 1993, 112 Nr. 636. 13 Vgl. die Rekonstruktion bei Gibson/Hansen/Zettler 1998–2001, 551 (Fig. 2); zu den Unsicherheiten bezüglich der Lage des Eki’ur vgl. Zettler 1992, 13. 14 So nach Zettler 1997, 150–151.

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Chr.) bis in die späte parthische Periode (2. Jh. n. Chr.) reichen, wobei man erst ab Schicht IX (Frühdynastisch I = um 2900/2800 v. Chr.) zweifelsfrei von einem Tempelbauwerk sprechen kann.15 Kultische und andere öffentliche Einrichtungen fanden sich neben Wohnhäusern auch im Westteil der Stadt. Die entsprechenden Befunde (und Texte) datieren vornehmlich aus der mittelbabylonischen bzw. Kassiten-Zeit (14./13. Jahrhundert v. Chr.) sowie aus dem frühen 1. Jahrtausend v. Chr.16 Südlich des Ekur im Osten wurden private Wohnhäuser ausgegraben, die umfangreiche Tontafelfunde erbracht haben. Letzteres hat dazu geführt, dass sich für das seit dem 3. Jahrtausend v. Chr. bewohnte sog. Schreiberviertel die von den Ausgräbern gewählte Bezeichnung „Tablet Hill“ eingebürgert hat. Die Keramiksequenz reicht hier von der altakkadischen Periode (24. bis 22. Jahrhundert v. Chr.) bis in die achämenidische Zeit (5./4. Jahrhundert v. Chr.).17 Manches von dem archäologisch feststellbaren Grundriss der Stadt findet sich auf einem einzigartigen Stadtplan von Nippur wieder, der während der vierten Grabungskampagne (1899/1900) an einer nicht mehr zu verifizierenden Stelle im Gelände von Nippur gefunden wurde.18 Die Tafel stammt wohl aus der Mitte bzw. der 2. Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. Sie verzeichnet und benennt mehrere Heiligtümer, Stadtareale, den Euphrat, Kanäle, Stadtmauern und Stadttore und einen Graben. In der Mitte der Tafel ist der Stadtname selbst zu finden (Abb. 3).19 Neben den archäologischen Funden und Befunden sind vor allem die bei den Ausgrabungen zutage gekommenen Keilschrifttafeln in sumerischer und akkadischer (= babylonischer) Sprache von besonderer Bedeutung, nicht zuletzt auch mit Blick auf die Charakterisierung von Nippur als „heiliger Ort“. So wurden allein in den Kampagnen des ausgehenden 19. Jahrhunderts mehr als 50.000 Keilschrifttafeln und Tafelfragmente gefunden, 20 die sich heute vor allem in den Archäologischen Museen von Istanbul,21 im University Museum in Philadelphia22 und in der Hilprecht-Sammlung der Universität Jena23 befinden. Unter Berücksichtigung der späteren Grabungen und anderer Umstände dürfte die Zahl der aus

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Vgl. ausführlich Zettler 1992, 21–55 sowie den Überblick bei Gibson/Hansen/Zettler 1998–2001, 551–557. 16 Vgl. Gibson/Hansen/Zettler 1998–2001, 557–562. 17 Vgl. McCown/Haines 1967 sowie den Überblick bei Gibson/Hansen/Zettler 1998–2001, 550 und 562. 18 Gleichfalls in der 4. Kampagne wurde ein Tafelfragment mit einem Zikkurrat-Grundriss gefunden; vgl. dazu Oelsner 1984 und 1989b. 19 Vgl. dazu zuletzt Oelsner/Stein 2011 (mit Literatur). 20 Vgl. Gibson/Hansen/Zettler 1998–2001, 549–550. 21 Vgl. Kraus 1947, 107–115. 22 Vgl. Kramer 1947; Gerardi 1984. 23 Vgl. Oelsner 1991, 59–60 mit Anm. 7.

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Nippur stammenden Keilschrifttexte heute weitaus höher liegen. Zu den genannten Museen und Sammlungen kamen im Verlaufe des 20. Jahrhunderts noch das Iraq Museum Baghdad, das Oriental Institute in Chicago, die Yale Babylonian Collection in New Haven und weitere Sammlungen als Aufbewahrungsorte von Nippur-Tafeln hinzu.24 Die Texte aus Nippur stammen aus fast allen Perioden altmesopotamischer Gesellschaftsentwicklung und decken einen Zeitraum von der frühdynastischen Zeit (1. Hälfte 3. Jahrtausend v. Chr.) bis zum ausgehenden 1. Jahrtausend v. Chr. ab (die letzten datierten Keilschrifttexte stammen aus der Seleukidenära, und zwar aus den Jahren 154 und 152 v. Chr.).25 Neben der imposanten zeitlichen Streuung der Quellen ist es vor allem der Inhalt der Texte, der Nippur als Fundort altorientalischen Schrifttums so bedeutsam macht: Verwaltungstexte, Rechts- und Gerichtsurkunden, königliche und private Inschriften, Briefe, literarische und religiöse sowie wissenschaftliche Texte geben Einblick in die jeweiligen sozioökonomischen Verhältnisse, in das literarische Schaffen jener Zeiten wie auch in die jeweils bestehenden und sich verändernden weltanschaulich-religiösen Vorstellungen und Praktiken sowie in die Anfänge von Medizin, Mathematik und Astronomie.26 Die archäologischen wie auch philologisch-kulturhistorischen Forschungen zu Nippur wurden 1988 aus Anlass des 100. Jahrestages des Beginns der Grabungen in Nippur auf der 35e Rencontre Assyriologique Internationale resümierend und zugleich programmatisch diskutiert. Die Beiträge dieser Tagung fanden Eingang in einen thematisch ausgerichteten Sammelband.27 Was war es aber nun, was die mit einer so reichen und bedeutsamen Dokumentation erschließbare Stadt Nippur, in den Quellen auch als das „Band von Himmel und Erde“ (dur-an-ki) bezeichnet,28 als geistig-kulturelles wie auch religiöses Zentrum Babyloniens im 3. und frühen 2. Jahrtausend v. Chr. charakterisieren lässt, und deren Strahlkraft, zwar in abgeschwächter Form und mit Unterbrechungen, aber doch wahrnehmbar mindestens bis in das ausgehende 1. Jahrtausend v. Chr. reichte? Entscheidend für die besondere Stellung der Stadt im vorstehenden Sinne war die Tatsache, dass Nippur das Heiligtum des Gottes Enlil („Herr Wind“)29 beherbergte, der vielleicht schon seit der ersten Hälfte, spätestens seit der Mitte des 3. Jahrtausends v. Chr. die führende Rolle im sumerischen Pantheon einnahm. Mit dem Aufstieg des Gottes Enlil gewann das bereits erwähnte 24

Vgl. Gerardi 1984, IX. Vgl. Streck 1998–2001b, 545 (mit Literatur). 26 Zu einer Bibliographie der „Text Publications and Interpretations“ vgl. Bregstein/ Schneider 1992, 337–357. 27 Ellis 1992. 28 Vgl. George 1992, 261. 29 So die konventionelle Deutung, die allerdings nicht unumstritten ist; vgl. Steinkeller 2010, 242; Wang 2011, 12–16; Selz 2012, 71 Anm. 36. 25

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Ekur 30 – und damit auch die Stadt Nippur – im Verlaufe des 3. Jahrtausends v. Chr. überregionale Bedeutsamkeit für den gesamten sumerischen Süden Mesopotamiens, und zwar in einer Weise, die Aage Westenholz zu der Überschrift „Ekur as a Mesopotamian Vatican“ in seiner Publikation altakkadischer Texte aus Nippur31 veranlasste.32 Wie eng die Stadt mit dem Wesen und dem Wirken ihres Gottes – zumindest seit der frühdynastischen Zeit – zusammenhing, zeigt bereits die Schreibung des Stadtnamens im Verhältnis zur Schreibung des Götternamens, auch wenn die diesbezüglichen Ursprünge noch unsicher sind und Anlass für kontroverse Diskussionen bieten:33 d

EN.LÍL = den-líl „(Gott) Enlil“ EN.LÍLki = „Enlil-Stadt“ = nibruki (akkadisch nippuru)

Unklar bleibt, was nun in besonderem Maße die Suprematie des Gottes Enlil im 3. Jahrtausend v. Chr. in Südmesopotamien letztlich begründet hatte. Die bislang diesbezüglich vorgebrachten Thesen gingen dabei u. a. von der Annahme aus, dass der Ort Nippur ursprünglich eine politische und/oder eine durch seine zentrale geographische Lage bedingte Vormachtstellung im sumerischen Süden besessen haben muss, was sich aber nicht beweisen lässt und historisch auch wenig wahrscheinlich ist.34 Es ist m. E. eher anzunehmen, dass die Ursprünge des Aufstiegs von Enlil und der sich damit verbindenden Sonderrolle Nippurs in einem alten Kultstatus dieses Ortes (dessen Existenz weit in vorstaatliche Zeit, 30

Zu den sich mit dem Tempelnamen verbindenden Vorstellungen vgl. auch Löhnert 2013, 267. 31 Im Zusammenhang mit der akkadezeitlichen Textüberlieferung (23. Jahrhundert v. Chr.) aus Nippur ist zusätzlich interessant, dass diese auch eine besondere wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung über die speziellen Forschungen zu Nippur hinaus hatte, und zwar in der Weise, dass sie den Ausgangspunkt einer internationalen forschungsprogrammatischen Debatte bildete, die sich mit den Arbeiten von Ignace J. Gelb (1907–1985) zum sog. „Zwiebelarchiv“ verband und die Frage nach dem angemessenen Verhältnis der altorientalistischen Forschungen zu Ökonomie und Sozialstruktur auf der einen Seite und zu Religion und geistiger Kultur auf der anderen Seite stellte. Zu der von I. J. Gelb polemisch vorgenommenen Unterteilung der Fachwelt in „Onionologists“ (ausgehend von dem besagten Zwiebelarchiv [mittlerweile publiziert von Aage Westenholz 1987, 87– 180], das vor allem den Anbau, die Ernte und die Verteilung sowie den Verbrauch von Zwiebeln im Bereich der Verwaltung von Nippur zum Gegenstand hat) und „Tammuzologists“ (benannt nach dem sumerisch-babylonischen Vegetationsgott Dumuzi/Tammuz) und der entsprechenden Kontroverse vgl. zusammenfassend (mit Literatur) Neumann 2007, 281–282. 32 Westenholz (A.) 1987, 29. 33 Vgl. dazu Wang 2011, 41–59 (mit Literatur); Steinkeller 2010; zuletzt Gehlken 2013. 34 Vgl. die berechtigte Kritik von Sallaberger 1997, 147 mit Anm. 3, sowie 151.

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namentlich in die Ubaid-Zeit reichte) zu suchen sein wird. Nippur war möglicherweise eben schon früh ein „heiliger Ort“ (eines Stadt- bzw. Lokalgottes „Enlil“?) 35 mit zumindest regionaler Bedeutung. 36 Jedenfalls zeugt die spezifische Schreibung des Stadtnamens spätestens seit der 1. Hälfte des 3. Jahrtausends v. Chr. von einer besonderen kultisch-religiösen Identifikation, die wir bereits als Ergebnis einer vorhergehenden Entwicklung ansehen dürfen.37 Förderlich (aber eben nicht ausschlaggebend) für die (zunehmende) überregionale Bedeutung könnte dabei durchaus die recht zentrale geographische Lage Nippurs in der südmesopotamischen Ebene gewesen sein.38 Nicht unwichtig erscheint mir im vorliegenden Zusammenhang auch die für Nippur bzw. für Stätten in seiner Umgebung seit Mitte des 3. Jahrtausends v. Chr. bis weit in das ausgehende 2. Jahrtausend v. Chr. belegbare Tatsache, dass – zumindest für den süd- und mittelbabylonischen Bereich – diese Stadt bzw. die sie umgebende Region die bevorzugte Örtlichkeit für die Durchführung des (Fluss-)Ordals im Rahmen von Gerichtsverfahren darstellte.39 Dies zeugt mit Sicherheit von einem besonderen genius loci. In der sumerischen literarisch-religiösen Tradition galt Enlil als Sohn des Himmelsgottes An und bildete mit diesem und dem Gott der Weisheit Enki die oberste sumerische Göttertrias. Zunächst seinem Vater An nachgeordnet verdrängte Enlil

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Anders Steinkeller 1999, 114 Anm. 36, der Ninurta als „the original divine ruler of Nippur“ annimmt und für den „Enlil was a secondary development in the Sumerian pantheon“, wobei er von einem semitischen Ursprung des Gottes (Ellil) ausgeht (kritisch hierzu Krebernik 1998–2001, 459), d. h., „the cult of Enlil was brought to Nippur from northern Babylonia (though in great antiquity), as a consequence of which Enlil became the overlord of Nippur and Ninurta’s father“; vgl. auch Michalowski 1998 und Selz 2012, 71 mit Anm. 36; vgl. darüber hinaus die resümierenden Bemerkungen von Wang 2013, 13–19 und Lisman 2013, 17–139 sowie im vorliegenden Zusammenhang auch Espak 2015a, 189–207 (zur Frage der Rivalität zwischen der Enki- und Enlil-Theologie in der frühen mesopotamischen Religionsgeschichte; zusätzlich Espak 2015b). Zur Problematik der frühen Schreibungen (und Lesungen), die hier nicht weiter diskutiert werden soll, vgl. die oben in Anm. 33 zitierte Literatur. 36 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Überlegungen von Gehlken 2013. 37 Vgl. auch Streck 1998–2001a, 519. 38 Vgl. Postgate 1992, 34. 39 Vgl. für die präsargonische und altakkadische Zeit Wilcke 2007a, 46 und 168 sowie demnächst ausführlich Neumann, im Druck; vgl. auch mittelbabylonisch (12. Jahrhundert v. Chr.) Parak-māri im südlichen Babylonien als Ordalstätte (Petschow 1974, 88: „zwischen Nippur und Uruk“; Nashef 1982, 215: „Lage südl. von Nippur“; Paulus 2014, 414 zu V 15: „scheint die Ordalstätte von Nippur gewesen zu sein“); dazu auch Petschow 1973, 29 Anm. 50; Paulus 2014, 414 Anm. 84. Vgl. im vorliegenden Zusammenhang auch Lieberman 1992 zu Nippur als „city of decisions“.

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den Himmelsgott von der führenden Position sowohl in der religiösen Vorstellungswelt der Sumerer als auch im Rahmen der praktischen Religionsausübung.40 Enlil war der „große Berg“ (kur-gal), der „Herr aller Länder“ (lugal-kur-kur-ra).41 Als „Richter, der für Himmel und Erde die Entscheidung fällt“ (di-ku5 ka-aš-baran-ki)42 war er Leiter der göttlichen Ratsversammlung. In Hymnen und Klageliedern der altbabylonischen Zeit (mit weiterlaufender Tradition), die Enlil als Gegenstand des (Selbst-)Preisens nennen, kommt die Suprematie des Gottes deutlich zum Ausdruck.43 Die führende Position Enlils im Pantheon fand ihren Niederschlag auch in der sumerischen mythologischen Dichtung, wie sie uns gleichfalls vornehmlich aus altbabylonischer Zeit zu Beginn des 2. Jahrtausends v. Chr. überliefert ist. Nach dem sog. „Lehrgedicht von der Hacke“ 44 erscheint Enlil als Schöpfergott, der Himmel und Erde voneinander trennte und als Weltenordner fungierte.45 Andere Texte berichten von Götterfahrten nach Nippur: Die nach Nippur reisenden Götter erbaten von Enlil Segen und Wohlergehen für ihre Städte, in denen sie jeweils residierten. Die entsprechenden sumerischen Dichtungen thematisieren derartige Besuchsfahrten u. a. seitens des Gottes Nanna aus Ur, der Göttin Nin’isina aus Isin und des Gottes Enki aus Eridu.46 Die überlieferten Beschreibungen charakterisieren einen Festablauf, für den wir ein Ritual als Rahmen annehmen dürfen. Die in der Regel jährlich stattfindenden rituellen Reisen der jeweiligen Gottheiten, physisch präsent durch ihre Statuen (und zum Teil in Begleitung des Königs durchgeführt),47 zeigen nicht nur Enlil als Göttervater und obersten Gott, sondern 40

Zu Enlil, zu dem es nach wie vor keine umfassende monographische Untersuchung jüngeren Datums gibt, vgl. im Überblick etwa Edzard 1965, 59–61 (mit älterer Literatur); Van Dijk 1971, 461–465; Krebernik 2012, 58–60; Hrůša 2015, 41–43; für die Zeit von SpätUruk bis zum Ausgang der Akkade-Zeit Wang 2011, bis zur Ur III-Zeit Such-Gutiérrez 2003, 31–108; für die altbabylonische Zeit Richter 2004, 31–51; vgl. auch Sallaberger 1997 und die oben in Anm. 35 zitierte Literatur. 41 Zu diesen (und anderen) Hauptepitheta des Enlil vgl. Edzard 1965, 60; zu den Epitheta des Enlil vgl. im Einzelnen darüber hinaus Kutscher 1975, 44–51; Such-Gutiérrez 2003, 54–56. 42 Vgl. die Hymne Enlil A, Z. 138 (Falkenstein 1959, 18); zur Hymne vgl. (mit Literatur) Wilcke 1972–1975b, 543–544; Attinger 1993, 35–36; Attinger 2015, 11; Metcalf 2015, 228. Die Hymne hatte ihren Sitz im Leben möglicherweise im Rahmen der Kultausübung in Nippur; vgl. Reisman 1970, 30. 43 Vgl. Wilcke 1976, 266, 282, 285 und 290 sowie oben Anm. 42; Such-Gutiérrez 2003, 52–54; Löhnert 2009; Metcalf 2015, 31–40. 44 Vgl. Wilcke 1972–1975a, 36–38 sowie Attinger 1993, 38 und ders. 2012, 12. 45 Vgl. Edzard 1965, 60; Pettinato 1971, 82–85; Wilcke 2007b, 28–29; Lisman 2013, 57– 59; vgl. jetzt auch Ceccarelli 2015. 46 Vgl. Edzard 1965, 75–77; Sjöberg 1957–1971; Ceccarelli 2012. 47 Vgl. Römer 1987, 175–176.

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auch Nippur als kultisch-religiöses Zentrum, das mit Opfergaben versorgt wurde, wie dies auch durch Verwaltungstexte mit wirtschaftlichem Inhalt aus dem ausgehenden 3. und frühen 2. Jahrtausend v. Chr. bezeugt ist.48 Nach der späteren akkadischen Überlieferung war Enlil als oberster Gott zudem im Besitz der „Schicksalstafel“ (ṭuppi šīmāti) der Götter.49 Die herausgehobene Stellung Enlils führte in der babylonisch-assyrischen Überlieferung ab dem 2. Jahrtausend v. Chr. zu dem Begriff enlilūtu/ellilūtu „Enlil/Ellil-schaft“, „Enlil/Ellil-Würde“, was die Suprematie von Göttern schlechthin bezeichnete.50 So erhielt nach Ausweis des Prologs der Rechtssammlung des Königs Ḫammurapi der Stadtgott von Babylon, Marduk, von den Göttern An und Enlil die „Enlilschaft“ übertragen,51 womit gewissermaßen der Aufstieg des Gottes Marduk in der Götterhierarchie begann.52 In Assur wurde der ursprüngliche Lokalgott Aššur „assyrischer Enlil/Ellil“ (Enlil/Ellil aššurû) und damit oberster Gott. 53 Sowohl Marduk als auch Aššur stiegen im 2. Jahrtausend v. Chr. jeweils zum „Enlil/Ellil der Götter“ (Enlil/Ellil ilī) auf.54 In dem Maße, wie sich Enlils Rolle als oberster Gott verfestigte, übernahm sein Sohn Ninurta mehr und mehr die Funktion des Stadtgottes von Nippur, was insbesondere ab der altakkadischen Zeit – also seit etwa dem 23. Jahrhundert v. Chr. – der Fall ist: So wird die Eidleistung im Bereich des Rechtsverkehrs bei Ninurta und dem König geleistet, Ninurta war der „Statthalter (énsi) des Enlil“, so wie der Ensi von Nippur dem König von Akkade als Oberherrn huldigte, u. a. m. Man differenzierte nunmehr zwischen Enlil als dem überregional, sozusagen auf Reichsebene wirkenden Gott, und Ninurta, jetzt in der Funktion als Stadtgott.55 Auch wenn man nicht davon ausgehen kann, dass es bereits in frühstaatlicher Zeit einen politisch-religiösen Verbund sumerischer Städte mit Nippur als Zentrum gegeben hat,56 zeigen doch Inschriften von Herrschern altsumerischer Stadtstaaten, dass spätestens um die Mitte des 3. Jahrtausends v. Chr. Nippur eine

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Vgl dazu im Einzelnen Sallaberger 1993, 97–157; Such-Gutiérrez 2003, 67 (mit Literatur); Richter 2004, 38–41 und 181–183; Peterson 2014. 49 Vgl. Edzard 1965, 120; Lawson 1994, 19–48; Lämmerhirt/Zgoll 2009, 153. 50 Vgl. AHw 204a; CAD I/J 85b–86a; Hrůša 2015, 42. 51 Vgl. Sommerfeld 1982, 70–71. 52 Vgl. Sommerfeld 1982, 63–87; vgl auch Sommerfeld 1987–1990; Maul 1997, 119. 53 Vgl. Tallqvist 1938, 25; Hrůša 2015, 60. 54 Vgl. Tallqvist 1938, 25–26; Sommerfeld 1982, 187; Hrůša 2015, 57; CAD I/J 85b. 55 Vgl. im vorliegenden Sinne Sallaberger 1997, 153 mit Anm. 29 (Belege und Literatur); vgl. auch Such-Gutiérrez 2003, 144–145. Vgl. aber auch oben Anm. 35 zu davon abweichenden Meinungen. 56 S. oben S. 41 mit Anm. 34.

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wichtige, wenn nicht sogar entscheidende Rolle im Rahmen der Herrschaftslegitimation gespielt haben muss.57 Nippur war selbst nie Ausgangspunkt des Kampfes um politische Vormachtstellung, aber ohne Zustimmung und Wohlwollen des Gottes Enlil, und damit der Enlil-Priesterschaft, war eine dauerhafte politische Dominanz in Sumer wohl letztlich nicht zu erlangen. In den Inschriften der Fürsten E’anatum, Enanatum I. und Enmetena von Ĝirsu/Lagaš aus dem 25. Jahrhundert v. Chr., für die der Kampf um Vorherrschaft in Sumer bezeugt ist, wird dies deutlich, etwa wenn es heißt, dass dem jeweiligen König „Kraft von Enlil verliehen“ (á-šúm-ma-dEn-líl-lá) war, dass „das erhabene [Zepter] der Schicksalsentscheidung (der Gott) Enlil von Nippur her“ dem König übergeben hatte ([ĝidru]maḫ-nam-tar-ra dEn-líl-le Nibruki-ta KN(= Enmetena)-ra mu-na-an-šúm) bzw. der Herrscher „von Enlil mit Namen benannt“ wurde (mu-pà-da-dEn-líl-lá).58 Als es Lugalzagesi von Umma (um 2350 v. Chr.) schließlich – wenn auch nur für kurze Zeit – gelungen war, den Kampf um die Vorherrschaft im Süden für sich zu entscheiden und Süd- und Mittelbabylonien unter seiner Herrschaft zu vereinen, berief er sich in seinem Machtanspruch ausdrücklich auf Enlil, der „ihm das Königtum über das Land (Sumer) verliehen“ hatte.59 Die große Bedeutung, die Nippur mit seinem Enlil-Heiligtum für die Herrschaftslegitimation zu jener Zeit bereits erlangt hatte, zeigt sich nicht zuletzt auch darin, dass der Gegner des Lugalzagesi, der Begründer des Reiches von Akkade, des ersten größeren Territorialstaates in Mesopotamien, Sargon (akkadisch Šarrukīn, 2340–2284 v. Chr.), nach seinem Sieg über den Rivalen aus Sumer letzteren in einem hölzernen Halsstock ausgerechnet vor dem Enlil-Heiligtum in Nippur zur Schau stellte.60 Damit verlor Lugalzagesi sozusagen seine Legitimation, während der Akkader Sargon, dessen Dynastie sich vornehmlich auf die Götter Ilaba und Ištar berief,61 nach seinem Sieg im Süden als nunmehriger König auch des Landes Sumer um die Gunst des Enlil bemüht sein musste. Nicht umsonst nennt er sich in den Inschriften u. a. énsi-dEn-líl „Statthalter des Enlil“.62 Auch die Nachfolger des Sargon waren sich der Bedeutung Nippurs und des Enlil-Heiligtums für ihre Herrschaftslegitimation gegenüber der Bevölkerung des 57

Wesentlich zurückhaltender in dieser Frage allerdings Sallaberger 1997, 149–150 mit Anm. 8 und 12. 58 Vgl. dazu im Einzelnen mit den Belegnachweisen Selz 1992, 201–202; Wang 2011, 130–132. 59 Frayne 2008, 436 (1.14.20.1) I 36–41: u4 den-líl lugal-kur-kur-ra-ke4 lugal-zà-ge-si namlugal-kalam-ma e-na-šúm-ma-a „als Enlil, der Herr aller Länder, Lugalzagesi das Königtum des Landes gegeben hatte“; vgl. auch Such-Gutiérrez 2003, 32–34; Wang 2011, 145– 147. Zur Inschrift und zu den sich damit verbindenden machtpolitischen Konstellationen am Ende der präsargonischen Zeit vgl. (mit Literatur) Neumann 2005, 11–13. 60 Vgl. Neumann 2005, 13–14. 61 Vgl. Roberts 1972, 148–149. 62 Vgl. Kienast/Sommerfeld 1994, 218a (Belege).

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sumerischen Südens bewusst. Dies war umso nötiger, als bereits Rīmuš, wahrscheinlich der zweite Nachfolger des Sargon auf dem Königsthron,63 zu Beginn seiner Regierungszeit mit einer Rebellion der südmesopotamischen Reichsteile konfrontiert wurde.64 Damit war klar, dass die Politik der akkadischen Zentralgewalt gegenüber dem sumerischen Süden letztlich nur dann erfolgreich sein konnte, wenn man die ideologisch-religiösen Grundlagen der sumerischen Gesellschaft nicht nur beachtete, sondern sie sich auch zunutze machte. Wohl nicht zuletzt aus dieser Einsicht heraus begannen unter dem König Narām-Sîn (2260–2223 v. Chr.) umfangreiche Bau- und Rekonstruktionsmaßnahmen am Ekur in Nippur, die dann unter dessen Nachfolger Šarkališarrī (2223– 2198 v. Chr.) zu Ende geführt wurden. An dem Neubau und der prachtvollen Ausschmückung des Ekur waren zahlreiche Handwerker verschiedener Berufsgruppen beteiligt, wie Goldschmiede, Bildhauer, Steinschneider, Zimmerleute und Schmiede. In den Texten werden Dutzende derartige Berufsvertreter genannt. Riesige Mengen an Gold, Silber, Bronze und Kupfer wurden als zu verarbeitendes Material eingesetzt. Die diesbezüglichen Verwaltungsurkunden65 lassen zudem erkennen, wofür die edlen Materialien im Einzelnen gedacht waren: große Fabelwesenfiguren und geflügelte Drachen aus Kupfer mit goldplattierten Gesichtern, Standarten mit Emblemen, die das Tor flankierten, Stierfiguren, dekoriert mit Gold, Kupfernägel mit goldplattiertem Nagelkopf, zahlreiche goldene Sonnenund Mondscheiben als Kultsymbole, Votivstatuen vornehmer Akkader, gleichfalls goldplattiert, sowie hölzerne Türen, Innenbalken und Möbel. Das Bauprojekt war keine lokale Angelegenheit, sondern stand unter der Leitung hoher königlicher Beamter, was das besondere Interesse der akkadischen Zentralgewalt an der Rekonstruktion des Enlil-Heiligtums unterstreicht. Die Akkader verhandelten stets direkt mit dem obersten Tempelverwalter (saĝĝa)66 des Ekur, nicht mit der örtlichen Verwaltung. Hierzu passt auch, dass eine Tochter des Narām-Sîn, Tūtanapšum, die Hohepriesterin-Würde des Enlil in Nippur übertragen bekam.67 Für Aage Westenholz war das Ekur zu jener Zeit „not only a part of the city of Nippur but was a national sanctuary of all Sumerian as well“. Und er fügt etwas polemisch hinzu: „The analogy with the Vatican as the center of the Roman Catholic world, having a special status within the city of Rome, is obvious“.68 63

Dies ergibt sich aus einer Ur III-zeitlichen Version der Sumerischen Königliste; vgl. Steinkeller 2003, 278–279. 64 Vgl. Neumann 2005, 15–16 (mit Literatur); zusammenfassend zuletzt Foster 2016, 6–8. 65 Vgl. die eingehende Behandlung des Archivs sowie des darin dokumentierten Bauprojekts bei Westenholz (A.) 1987, 21–29. 66 Zum saĝĝa vgl. zuletzt Sallaberger/Huber Vulliet 2003–2005, 628–629. 67 Vgl. Weiershäuser 2008, 256–259 (mit Literatur); Löhnert 2014–2016. 68 Westenholz (A.) 1987, 29.

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So offensichtlich die Bemühungen insbesondere des Narām-Sîn um das Ekur durch zeitgenössische Quellen hervortreten, so widersprüchlich ist andererseits der Nachruhm, der diesem König zuteil wurde,69 nicht zuletzt bezüglich auch seines Verhältnisses zu Nippur. So erscheint er in der gegen Ende des 3. Jahrtausends v. Chr. entstandenen sumerischen Dichtung „Fluch über Akkade“ als „Unheilsherrscher“, dessen Hybris zum Untergang von Akkade geführt haben soll. Als Grund für den Zusammenbruch, bewirkt durch einen schweren Fluch der Götter, wird ein Sakrileg des Königs angegeben: die Eroberung und Plünderung von Nippur sowie die Zerstörung des Enlil-Heiligtums.70 Sowohl die dem Text zugrunde liegende Auffassung, dass der Zusammenbruch des Staates von Akkade mit der Regierungszeit des Narām-Sîn in Verbindung zu bringen sei, als auch die Angaben bezüglich der Haltung des Königs zu Nippur und dessen Hauptheiligtum widersprechen – wie gerade gezeigt – den überlieferten historischen Tatsachen. Somit dürfte es sich bei der Dichtung „Fluch über Akkade“ gewissermaßen um eine – zumindest in Teilen – politisch motivierte Tendenzschrift gehandelt haben, die ihren geistigen Ursprung möglicherweise in einer (latenten?) oppositionellen Haltung der Enlil-Priesterschaft von Nippur hatte.71 Eine erneute Bautätigkeit am Ekur setzte unter Ur-Namma (2111–2094 v. Chr.), dem Begründer der III. Dynastie von Ur, ein,72 der darüber hinaus auch wohl mit der Rekonstruktion der Stadtmauer begonnen hatte (Abb. 4).73 Diese Herrscherdynastie hatte im Unterschied zu den Akkade-Königen ihren machtpolitischen Ausgangspunkt und ihre ideologische Basis im sumerischen Süden. So ist es nur natürlich, dass Nippur das religiöse Zentrum des Reiches und das Ekur das zentrale Heiligtum bildeten.74 Nach allem, was wir wissen, war die Stadt Nippur nie ausgedehnter und entsprechend vermögender als im 21. Jahrhundert v. Chr. zur Zeit der Könige der III. Dynastie von Ur. Nach Berechnungen von Richard L. Zettler, einem der Ausgräber von Nippur, beherbergte die Stadt mit einer Ausdehnung von ca. 135 ha zu jener Zeit wahrscheinlich ca. 40–50.000 Einwohner.75 Die aus Privathäusern, aber auch aus Tempelarchiven stammenden ca.

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Vgl. Westenholz (J. G.) 1997, 173–368. Vgl. Westenholz (A.) 1999, 55 mit Anm. 209 (Literatur); zur Dichtung vgl. zuletzt Cavigneaux 2015 (Anhang, 436 mit weiterer Literatur) und Foster 2016, 350–358 sowie demnächst Attinger, im Druck. 71 Vgl. Falkenstein 1965, 48–50; Wilcke 1973, 63–64, und 1993, 33–35; vgl. auch Cooper 1983, 11 und 2001, 142. 72 Vgl. Sallaberger 1999, 139. 73 Vgl. Zettler 1992, 6 mit Anm. 7. 74 Vgl. dazu auch Sallaberger 1997, 154–155; Such-Gutiérrez 2003, 50–51. 75 Vgl. Zettler 1992, 11; vgl. auch Gibson 1992, 41–42. 70

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2.000 Urkunden belegen eine überaus umfangreiche Rechts- und Geschäftstätigkeit in der Stadt. 76 Protagonisten waren gleichermaßen Kaufleute und reiche Handwerker wie auch das höhere Verwaltungspersonal einer integrierten lokalen und überregionalen Palast- und Tempelwirtschaft.77 Auf Grund der Rolle des Enlil als oberster Gott des Reichspantheons und der damit verbundenen Legitimationsmacht waren die Durchführung des Kultes und die Versorgung des Ekur in Nippur wichtige Bereiche königlicher Politik. So rühmte sich der König Amar-Suena (2045–2037 v. Chr.), „den Enlil in Nippur berufen hatte“ (Nibruki-a dEn-líl-le mu-pà-da),78 in seinen Inschriften als „Versorger des Enlil-Tempels“ (saĝ-ús-é-dEn-líl-lá).79 Die Provinzstatthalter des Südens und des Dijāla-Gebietes waren durch einen sog. bala-Turnusdienst in einer Art Amphiktyonie vereint, in deren Rahmen sie maßgeblich auch die Heiligtümer von Nippur – und hier insbesondere das Ekur – mit Opferlieferungen, bestehend vor allem aus Tieren, versorgten.80 Der zweite König der III. Dynastie von Ur, Šulgi (2093–2046 v. Chr.), gründete im 39. Jahr seiner Regentschaft die Verwaltungsstation Puzriš-Dagān in der Nähe von Nippur, 81 über die viele dieser Viehlieferungen wie auch die vereinnahmten Tribute und Abgaben buchhalterisch

76

Vgl. Neumann 1992a. Vgl. ebd. (mit Literatur) sowie Neumann 1992b und 2007; Garfinkle 2012, 109–136. Vgl. im vorliegenden Zusammenhang auch die Aktivitäten des Kaufmanns Ur-DUN aus Nippur, die einen literarischen Nachhall in der altbabylonischen Edubba’a-Überlieferung gefunden haben; dazu Neumann 2006, 17–19 (mit Literatur); Michalowski 2011, 78–79. 78 Vgl. Seux 1967, 434; zu der sich damit verbindenden Legitimationsstrategie des AmarSuena (und seines Nachfolgers Šū-Sîn [2036–2028 v. Chr.]) vgl. Wilcke 1974, 180. 79 Vgl. Seux 1967, 440. 80 Vgl. Sallaberger 1993, 32–34 (mit Literatur) und 1999, 195–196; zum bala-System insgesamt Sharlach 2004. Zu den Opferlieferungen und -anlässen vgl. Such-Gutiérrez 2003, 56–73. 81 Vgl. Sallaberger 2006–2008. Für Sallaberger 1999, 260 ist die in der Literatur gemeinhin zu findende Interpretation der Lage von Puzriš-Dagān bei Nippur als Beleg dafür, „dass es zur Versorgung der Kulte von Nippur eingerichtet worden sei“, „zu eng und verstellt den Blick auf das Ganze, handelt es sich doch um die gesamte staatliche Viehverwaltung“, wobei er aber sehr wohl „die Pflege der Kulte und deren Versorgung mit Opfertieren“ als zentrale Aufgabe sieht. Für ihn könnte die Lage „wohl (auch) aufgrund der verkehrstechnisch besonders günstigen Lage am Euphrat im Norden des Landes gewählt worden sein“, so dass „hier … leicht die Tiere aus den nordöstlichen Randgebieten zentral erfasst und von dort aus im Lande verteilt werden“ konnten. Vgl. auch Sallaberger 2003/2004, 61 mit der Auffassung: „dass das Vieharchiv von PuzrišDagān … nahe Nippur als einer der drei Hauptstädte angesiedelt wurde, ist Ausdruck eines ausgeprägten Föderalismus des Ur III-Staates“. Beide Annahmen – Verkehrslage und Staatsföderalismus – dürften allerdings nur schwer zu beweisen sein, so dass nach wie vor die (politisch und ideell wichtige sowie administrativ sinnvolle) Nähe zum (kontinuierlich 77

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erfasst wurden, um diese dann wieder zu verschiedenen politischen, religiösen und anderen Anlässen zu verteilen, nicht zuletzt auch in starkem Maße zugunsten der Heiligtümer in Nippur.82 Die herausragende Rolle von Nippur in jener Zeit kommt auch in dem überlieferten Vorgang der Investitur der Ur III-Könige zum Ausdruck. So wissen wir, dass neben Uruk (dem Herkunftsort der Dynastie) und Ur (der königlichen Hauptstadt) Nippur einer der Krönungsorte war, das als religiöses Zentrum des Reiches den Herrschaftsanspruch des Königs legitimierte.83 Insbesondere letzteres macht deutlich, dass es in den Jahren des Niedergangs des Reiches der III. Dynastie von Ur ein kluger Schachzug des wohl aus Mari am mittleren Euphrat stammenden und in Isin eine eigene Dynastie etablierenden Išbi-Erra (2017–1985 v. Chr.) war, als er sich in der Auseinandersetzung mit IbbiSîn (2027–2003 v. Chr.), dem letzten Ur III-König, darauf berief – jedenfalls nach Ausweis der literarisch überlieferten Ur III-Königskorrespondenz der alt-babylonischen Zeit84 –, dass der Gott Enlil ihn – Išbi-Erra – als König bestätigt habe, womit die Rechtmäßigkeit von Ibbi-Sîn’s Königtum angezweifelt werden konnte.85 Tatsächlich kontrollierte Išbi-Erra die Stadt ab dem achten Jahr der Regierungszeit des Ibbi-Sîn politisch und militärisch.86 In diesem Zusammenhang ist von Claus Wilcke und Johannes J. A. van Dijk vielleicht nicht zu Unrecht vermutet worden, dass die Enlil-Priesterschaft eine gegen Ibbi-Sîn gerichtete Politik betrieben hatte, zumindest aber ihre Rolle zwielichtig war. Denn möglicherweise war es ein für den König in Nippur durch eine Opferschau angezeigtes ungünstiges Vorzeichen, das Ibbi-Sîn in Bedrängnis gebracht hatte.87 Schon bald war der König am Ende seiner Möglichkeiten. Indem Išbi-Erra Nippur dem Machtbereich des Königs entzogen hatte, war Ibbi-Sîn der religiösideellen Grundlage seiner Herrschaft beraubt. Darüber hinaus gelang es Išbi-Erra, eine Reihe lokaler Stadtfürsten auf seine Seite zu ziehen.88 In Ur dagegen verstärkte sich aufgrund der ausbleibenden Versorgung mit Getreide eine Hungersnot, und eine große Teuerung griff um sich. Zwar konnte sich Ibbi-Sîn noch eine

zu versorgenden) Hauptkultort Nippur als Begründung für die Lage des königlichen Verwaltungszentrums nicht auszuschließen ist. 82 Zu den diesbezüglichen Archiven aus Puzriš-Dagān vgl. den Überblick bei Sallaberger 1999, 238–273 und 2003–2004; zum sog. Schatzarchiv vgl. jetzt Paoletti 2012. 83 Vgl. Sallaberger 1999, 172–173. 84 Dazu zuletzt Michalowski 2011. 85 Vgl. dazu Wilcke 1970, 57–62. 86 Vgl. Wilcke 1970, 61; Michalowski 2011, 183–184. 87 Vgl. Wilcke 1970, 59–60 mit Anm. 17a. 88 Vgl. Wilcke 1970, 60–61.

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Reihe von Jahren in Ur halten, jedoch war der Zusammenbruch nunmehr unvermeidlich.89 Im 24. Regierungsjahr des Königs wurde die Hauptstadt von einer Koalitionsarmee aus Elam und Šimaški eingenommen. 90 Die Sieger brachten Ibbi-Sîn in Fesseln nach Anšan.91 Nachdem sich Išbi-Erra in Isin selbständig gemacht hatte, gelang es ihm in der Folge eines Sieges über Elam und der Einnahme von Ur, einen begrenzten Teil Südmesopotamiens zu beherrschen und – wie bereits angedeutet – eine eigene Dynastie zu etablieren. 92 In der Verwaltung wie auch in der Selbstdarstellung stand Išbi-Erra dabei allerdings noch ganz in der Tradition des Ur III-Staates und seines Königshauses.93 Insbesondere Išme-Dagān (1953–1935 v. Chr.), der dritte Nachfolger des Išbi-Erra, orientierte sich kulturell und politisch an dem Vorbild der Ur III-Zeit.94 Dieses Traditionsverständnis schloss in einem gewissen Umfang die Bewahrung und Weiterführung der an Enlil und Nippur gebundenen Legitimationsstrategien unter den frühaltbabylonischen Herrschern von Isin wie auch von Larsa mit ein.95 Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, dass in altbabylonischer Zeit bis weit in die Zeit der I. Dynastie von Babylon hinein Nippur zugleich ein Zentrum der Bewahrung und Vermittlung der sumerischen Sprache und damit der sumerischen literarischen (wie auch religiösen) Tradition war, was die entsprechenden Tafelfunde aus Nippur anschaulich zeigen. Gelehrt, gelernt und tradiert wurden die sumerischen Epen und Mythen, die Hymnen an Götter und auf Könige, die Klagelieder und Weisheitstexte u. a. m. in einer Gelehrteneinrichtung, die sich é-dub-ba-a „Haus, in dem die Tafeln verteilt werden“ nannte.96 Gegen Ende des 18. Jahrhunderts v. Chr. verlor Nippur zunehmend seine Bedeutung als geistig-kulturelles Zentrum. Es stellte nunmehr auch keinen zentralen Kultort dar, was mit den neuen politischen Bedingungen und den Veränderungen in der religiösen Vorstellungswelt der Bewohner des alten Mesopotamien zusammenhing. Die Rolle Enlils als oberster Gott nahmen fürderhin in Babylonien Marduk und in Assyrien Aššur ein. Der Aufstieg dieser Götter verband sich mit 89

Zur Regierungszeit des Ibbi-Sîn und zu den verschiedenen Faktoren, die letztlich zum Untergang des Reiches führten, vgl. zusammenfassend die komplexe Darstellung bei Michalowski 2011, 170–215. 90 Vgl. Michalowski 1989, 1–3; Sallaberger 1999, 175 mit Anm. 183 (Literatur). 91 So nach der späteren Omenüberlieferung; vgl. Michalowski 2011, 202 mit Anm. 60. 92 Vgl. Charpin 2004, 60–64. 93 Vgl. Edzard 1976–1980, 175. 94 Vgl. Tinney 1996, 63–80. 95 Vgl. dazu im Einzelnen Sallaberger 1997, 156–163; zum Verhältnis Könige von Isin und Larsa zum Enlil-Kult in Nippur vgl. Richter 2004, 31–36. 96 Zum Edubba’a (zum Terminus Volk 2000, 3 mit Anm. 13) von Nippur in altbabylonischer Zeit vgl. Waetzoldt/Cavigneaux 2009–2011, 299; vgl. im vorliegenden Zusammenhang auch Sallaberger 1997, 161 mit Anm. 59.

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dem entsprechenden Bedeutungsgewinn der zentralen Königsstädte Babylon und Assur.97 Trotzdem erlebte Nippur im Verlauf der altorientalischen Geschichte bis in hellenistische Zeit immer wieder Blütephasen mit den entsprechenden kulturellen und politisch-ökonomischen Implikationen. 98 Interessant ist dabei die von Joachim Oelsner ausgesprochene Vermutung, dass Nippur im 1. Jahrtausend v. Chr. Sitz einer spätbabylonischen Astronomenschule gewesen sein könnte, die bei Plinius d. Älteren in der Verschreibung „Hipparenum“ für Nippur (N > H) Eingang in die „Naturgeschichte“ (Plinius, naturalis historia VI 123) fand,99 so dass Nippur auch in hellenistischer Zeit offensichtlich ein Hort babylonischer Gelehrsamkeit war.100 Dass im 8. Jahrhundert n. Chr. Nippur als Sitz eines nestorianischen Bischofs diente, 101 war vielleicht kein Zufall, sondern darf möglicherweise als Nachklang der Rolle Nippurs als eines „heiligen Ortes“ verstanden werden, was noch einmal die über Jahrtausende reichende geistig-religiöse Wirkungsmacht des altmesopotamischen Nippur verdeutlichen dürfte.102

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Vgl. dazu Maul 1997, 119–122; Schaudig 2010; Machinist 2016. Vgl. im vorliegenden Zusammenhang auch die Rolle der Hethiterhauptstadt Ḫattuša nebst weiteren „heiligen Städten“ im hethiterzeitlichen Anatolien; vgl. dazu die Bemerkungen von Popko 1994, 2– 4. 98 So etwa in der Kassitenzeit (14./13. Jahrhundert v. Chr.) und später auch noch im 8./7. sowie vom 7.–5. Jahrhundert v. Chr.; vgl. dazu zusammenfassend Streck 1998–2000, 544– 545 (mit Literatur); vgl. auch Neumann 2000, 959. 99 Vgl. Oelsner 1971 und 1982; dazu Van der Spek 1992, 236–243. Vgl. auch Oelsner 1986, 292 Anm. 47 mit der Ergänzung ebd. 504–505. 100 Vgl. im vorliegenden Zusammenhang auch Oelsner 1986, 108–109; Van der Spek 1992, 240: „So there is indeed good reason to consider Nippur to have been a center of learning of the Chaldaeans in the Hellenistic period.“ 101 Vgl. Streck 1998–2000, 546. 102 Vgl. im vorliegenden Zusammenhang auch Gibson 1977, 28–29, der – vielleicht ein wenig zu pauschal, aber in der Substanz doch durchaus überlegenswert – meint: „Because it [= Nippur] was a sacred center, the city did not undergo the devasting destruction that was wrought upon political capitals in Mesopotamia, such as Ur, Larsa, Babylon and Nineveh.“

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Abb. 1: Mesopotamien in altorientalischer Zeit. Aus: McCown/Haines 1967, Taf. 1.

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Nippur

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Hans Neumann

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Wilcke, 1972–1975b Wilcke, Claus, s. v. Hymne. A. Nach sumerischen Quellen, in: Reallexikon der Assyriologie und Vorderasiatischen Archäologie 4, Berlin/New York 1972–1975, 539–544. Wilcke 1973 Wilcke, Claus, Politische Opposition nach sumerischen Quellen: Der Konflikt zwischen Königtum und Ratsversammlung. Literaturwerke als politische Tendenzschriften, in: Finet, André (Hg.), La Voix de l’Opposition en Mésopotamie. Colloque organisé par l’Institut des Hautes Études de Belgique, 19 et 20 mars 1973, Bruxelles 1973, 37–65. Wilcke 1974 Wilcke, Claus, Zum Königtum in der Ur III-Zeit, in: Garelli, Paul (Hg.), Le Palais et la Royauté (archéologie et civilisation). Compte rendu de la XIXe Rencontre Assyriologique Internationale, Paris, 29 juin – 2 juillet 1971, Paris 1974, 177–232. Wilcke 1976 Wilcke, Claus, Formale Gesichtspunkte in der sumerischen Literatur, in: Lieberman, Stephan J. (Hg.), Sumerological Studies in Honor of Thorkild Jacobsen on His Seventieth Birthday June 7, 1974 (Assyriological Studies 20), Chicago/London 1976, 205–316. Wilcke 1993 Wilcke, Claus, Politik im Spiegel der Literatur, Literatur als Mittel der Politik im älteren Babylonien, in: Raaflaub, Kurt (Hg.), Anfänge politischen Denkens in der Antike. Die nahöstlichen Kulturen und die Griechen (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 24), München 1993, 29–75. Wilcke 2007a Wilcke, Claus, Early Ancient Near Eastern Law. A History of Its Beginnings. The Early Dynastic and Sargonic Periods (Revised Edition), Winona Lake 2007. Wilcke 2007b Wilcke, Claus, Vom altorientalischen Blick zurück auf die Anfänge, in: Angehrn, Emil (Hg.), Anfang und Ursprung. Die Frage nach dem Ersten in Philosophie und Kulturwissenschaft (Colloquium Rauricum 10), Berlin/New York 2007. Zettler 1992 Zettler, Richard L., The Ur III Temple of Inanna at Nippur. The Operation and Organization of Urban Religious Institutions in Mesopotamia in the Late Third Millennium B.C. (Berliner Beiträge zum Vorderen Orient 11), Berlin 1992. Zettler 1997 Zettler, Richard L., s. v. Nippur, in: Meyers, Eric M. (Hg.), The Oxford Encyclopaedia of Archaeology in the Ancient Near East 4, New York/Oxford 1997, 148–152.

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Abydos Totenstadt der Pharaonen

Julia Budka (Wien)

Abydos liegt im heutigen Oberägypten, ca. 160 km nördlich von Luxor am Westufer des Nils, und kann als das „Mekka“ des Pharaonenreiches, als einer der heiligsten Orte des antiken Ägyptens, gelten. Seine besondere Rolle, die trotz vielfältiger archäologischer Arbeiten seit dem späten 19. Jahrhundert bis heute aber noch nicht umfassend erforscht ist, hielt bis in die spätantike und sogar mittelalterliche Zeit an, wie es sich in den Schriften Altägyptens sowie antiker Reisender widerspiegelt.1 Ziel dieses Beitrags ist ein kurzer Überblick zur Vielfalt der Monumente und Hinterlassenschaften in Abydos, wobei aktuelle Ergebnisse der Arbeiten des Osiris-Kult-Projekts des Deutschen Archäologischen Instituts Kairo besondere Berücksichtigung finden.2 Ein Abriss der diachronen Entwicklung vor Ort, von der prädynastischen bis in die koptische Zeit, soll den Wandel der heiligen Stätte hervorheben. Es geht mir aber auch darum, Abydos als Spiegel der pharaonischen Totenvorstellungen vorzustellen. Darüber hinaus kann Abydos als Beispiel für neue Erkenntnisse und offene Fragen der modernen ägyptischen Archäologie dienen. Die Besonderheit dieses Ortes ergibt sich aus einer beispiellosen engen Verknüpfung von drei funktionalen Aspekten – Abydos war in erster Linie Totenstadt, aber auch Königsstadt und Kultstadt. Der Fundplatz hatte durchwegs überregionale Bedeutung. In Abydos liegen sowohl der Bestattungsplatz der frühesten Herrscher Ägyptens (spätes 4. Jahrtausend v. Chr.), als auch Nekropolen für hohe Beamte (seit der frühen Naqadazeit, ab ca. 4000 v. Chr.) und heilige Tiere (seit der Dritten Zwischenzeit, ab ca. 1050 v. Chr.) aus vielen verschiedenen Perioden der ägyptischen Geschichte. Der Fundplatz war aber auch ein wichtiger Tempelstandort (seit der Frühzeit, v. a. vom Alten Reich bis in die Spätzeit) und zentraler Kult- und Prozessionsort sowie bedeutsamer Schauplatz für Feste und Rituale, 1

Allgemeine Literatur zu Abydos: Kemp 1975; Wegner 2001; Gestermann 2008; O’Connor 2009; Effland (A.) 2014. 2 Siehe besonders Effland (A.)/Budka/Effland (U.) 2010; Effland (A.)/Effland (U.) 2013, 56–65.

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Julia Budka

v. a. in seiner Eigenschaft als berühmter Kultort für den Gott Osiris und als die gedachte Begräbnisstätte des Gottes (seit dem späten Alten Reich, ca. ab 2500 v. Chr.).3 Der Kult für Osiris und die Funktion als überregionale Orakelstätte sind die wesentlichsten Momente des Fundplatzes, die es zudem gestatten, sämtliche Epochen miteinander zu verknüpfen und Modifikationen in Funktion und Bedeutung des Platzes festzustellen. Die Archäologie von Abydos Nach dem frühen Forscher Mariette gliedert man auch heute noch den Fundplatz in Abydos Nord, Mitte und Süd (Abb. 1).4 Die wichtigsten Denkmälerkategorien verteilen sich wie folgt: Mehrere Friedhöfe, die königlichen Talbezirke der Frühzeit und der Osiristempel am Kom el-Sultan liegen in Abydos Nord (Abb. 2).5 Die auf einem Wüstenplateau gelegenen Königsgräber von Umm el-Qaab sind westlich davon lokalisiert.6 Abydos Mitte wird von den großen königlichen Tempelanlagen aus der Zeit der 19. Dynastie7 dominiert und schließt den sogenannten „Middle Cemetery“ mit ein (Abb. 2).8 In Abydos Süd liegen Tempel und Pyramiden mit dazugehörigen Wohn- und Verwaltungsgebäuden sowie Kenotaphe („Osirisgräber“) von Königen des Mittleren und Neuen Reiches (Abb. 1).9 Die engen Zusammenhänge und Bezüge dieser Fundplätze zueinander werden seit den 1970er durch amerikanische und deutsche Missionen untersucht.10 Bestattungsplatz der Vor- und Frühzeit (ca. 4000–2700 v. Chr.) Ein diachroner Überblick zur Archäologie von Abydos beginnt idealerweise mit Umm el-Qaab und den dortigen Friedhöfen und Gräbern, die bis in die prädynastische Zeit zurückreichen. Der moderne Ausdruck Umm el-Qaab bedeutet „Mutter der Tonschalen“ – Millionen von Schalen, dargebracht als Opfer für Osiris und Zeugnis einer Jahrhunderte langen Kulttätigkeit, bedecken heute die Wüstenoberfläche rund um die antiken Gräber. 3

Vgl. Effland (U.) 2006, 131–150; Effland (U.) 2008; Effland (A.)/Effland (U.) 2013; Effland (A.) 2013b, 23–27. 4 Vgl. Mariette 1880 [1980]. Siehe O’Connor 2009, 25–29. 5 Siehe Adams 1999; Wegner 2001; Bestock 2009 sowie Kemp 1968. Vgl. auch Silverman 1989. 6 Siehe Kemp 1966; Dreyer 1999; ders. 2007b; O’Connor 2009, 137–157. 7 Vgl. Capart 1912; Calverley/Broome 1933–1958; Eaton 2004; Eaton 2007a; O’Connor 2009, 43–61. 8 Richards 1999; Richards 2003. 9 Siehe Wegner 2007; Harvey 1998; ders. 1999; ders. 2004. 10 Siehe Kemp 1966 und Kaiser 1969. Vgl. auch Pouls Wegner 2002; Budka 2006 und Bestock 2009.

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Abydos

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Der älteste Friedhof auf dem Plateau von Umm el-Qaab stammt aus der frühen Naqadazeit und trägt die Bezeichnung Friedhof U. Er wurde in den 1980er und 1990er Jahren neu vom Deutschen Archäologischen Institut Kairo untersucht.11 Für großes Aufsehen sorgte 1988 die Entdeckung des Grabes U-j, wohl die Begräbnisstätte eines Königs Skorpion der 0. Dynastie (ca. 3100 v. Chr.). 12 Schlagzeilen hat dieser Fund wegen erster Schriftzeugnisse aus dem späten 4. Jahrtausend v. Chr. und aufgrund neuer Informationen zur Chronologie der prädynastischen Herrscher gemacht. Hier sind noch diverse Details umstritten,13 aber essentiell ist die Tatsache, dass wir eine Grabentwicklung erkennen können und im Friedhof U definitiv Elitegräber konzipiert wurden, die vor die sogenannte Reichseinigung Ägyptens datieren und die frühe Bedeutung des Fundplatzes unterstreichen.14 Zum Verständnis des Kults in Abydos ist es außerdem wichtig, auf den Fund eines Opferplatzes beim Grab U-j aufmerksam zu machen: Hier wurden noch zahlreiche Gefäße in situ auf der Wüstenoberfläche gefunden, wobei es sich v. a. um kleine Opferschalen, die mit der Mündung zum Boden deponiert wurden, handelt. 15 Essentielle Aspekte des ägyptischen Totenkults waren also schon zu dieser frühen Zeit ausgeprägt und sollten eine Jahrtausende lange Tradition begründen. Aus der Phase der Reichseinigung datiert der sogenannte Friedhof B auf Umm el-Qaab – Herrscher der 0. Dynastie und König Narmer wurden hier bestattet.16 Erstmals sind auch sogenannte Talbezirke in Abydos Nord nachweisbar (Abb. 2).17 Die Königsgräber der 1. und 2. Dynastie setzen diese Tradition fort. Diese Gräber sind schon mehrfach untersucht worden, sind sie doch wesentlich für die Frühgeschichte Ägyptens. Erwähnenswert sind v. a. Arbeiten von Émile Amélineau (1895–1898) und Flinders Petrie (1899–1900).18 Mit der Entdeckung von Gräbern von Beamten der Frühzeit in Saqqara kam die Theorie auf, die abydenischen Anlagen seien lediglich Scheingräber und die Könige und ihr Hofstaat seien real in Saqqara bestattet worden.19 Erst die Nachuntersuchungen des Deutschen Archäologischen Instituts unter der Leitung von Günter Dreyer und die oben skizzierten Neuerkenntnisse zu Friedhof U haben die eindeutige Interpretation der Anlagen in Umm el-Qaab als letzte Ruhestätten der Herrscher der 11

Für eine Zusammenfassung der Ergebnisse siehe Hartung 2007. Vgl. Dreyer 1998, 143–147. 13 Siehe z. B. Breyer 2002; Höveler-Müller 2008; Regulski 2008; Wengrow 2008. 14 Vgl. Hartung 2007. Die Chronologie des Friedhofes U wurde im Detail anhand der Keramik von Rita Hartmann untersucht (Hartmann 2010). 15 Siehe Dreyer 1998, 15–16, Abb. 8 und 9. 16 Vgl. Dreyer 2007a. 17 Vgl. Bestock 2009. 18 Zur Forschungsgeschichte von Umm el-Qaab vgl. Dreyer 1999, 109–110. 19 Vgl. z. B. Stadelmann 1985, 11 und 33. 12

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Frühzeit bestätigt.20 Die frühen Königsgräber der 1. und 2. Dynastie besitzen zentrale, sehr tiefe Grabkammern, die mit Lehmziegeln verkleidet waren.21 Ab König Den ist für die Anlagen ein Treppenabgang zur Grabkammer nachweisbar. Zahlreiche Nebenkammern für Nebenbestattungen und Beigaben sind weitere Charakteristika.22 Es handelt sich um monumentale Anlagen, die mit einem wohl flachen Oberbau ausgestattet waren. Die Zuordnung der Bauten zu den einzelnen Königen gelang bereits den frühen Forschern durch Funde mit Königsnamen aus den Gräbern, besonders aber durch Steinstelen mit dem Namen des Herrschers, die idealerweise paarweise das Grab markierten.23 Das Grab des Djer ist die größte Anlage mit hunderten Nebengräbern, die unmittelbar neben Friedhof B liegt.24 Es wurde bereits im späten 19. Jahrhundert von Émile Amélineau freigelegt, der auch das berühmte Osirisbett in der Königskammer fand.25 Bei diesem handelt es sich um ein steinernes Kultbild, das den Gott Osiris mumiengestaltig auf einer Bahre liegend zeigt (Abb. 3). Spätestens im Mittleren Reich war diese Anlage folglich neuinterpretiert worden und wurde als Grabstätte des Gottes Osiris umgestaltet. Das Deutsche Archäologische Institut Kairo hat in den letzten Jahren die Anlage neu ausgegraben und wesentliche Neufunde zum Osiriskult gemacht (siehe unten). Zum Verständnis der Königsnekropole Umm el-Qaab, aber auch ihrer Umwandlung zu einem Ruheplatz der Götter, ist ein Hauptaspekt zu nennen: Bereits in der frühesten Nutzungszeit ist in Umm el-Qaab Vorgängerkult und Ahnenverehrung greifbar. Insbesondere ein Nekropolensiegel aus dem Grab des Qa’a, Herrscher der 1. Dynastie, wird von den meisten Forschern so gedeutet, dass Horus Qa’a als Erster der Westlichen vor seinen verstorbenen Vorgängern der 1. Dynastie steht und entsprechend verehrt wurde.26 Wie im Folgenden gezeigt werden wird, ist dieser Aspekt des Vorgängerkults hauptverantwortlich dafür, dass der Platz über Jahrtausende von essentieller Bedeutung für das Königtum und die Jenseitsvorstellungen im alten Ägypten wurde. Umm el-Qaab und die dortigen Königsgräber sind nicht losgelöst von den sogenannten Talbezirken im Vorfeld des Tempelkomplexes von Kom el-Sultan zu betrachten (Abb. 2).27 Diese riesigen, aus Lehmziegeln errichteten Einfriedungen geben allerdings noch heute Rätsel auf. Ähnlich wie die Grabanlagen in Umm el20

Vgl. Dreyer 2007; Hartung 2007; Hartmann 2010. Siehe Dreyer 2007b. 22 Vgl. Dreyer 2012. 23 Siehe O’Connor 2009, 148–149. 24 Vgl. Dreyer 2012. 25 Vgl. Effland (A.)/Budka/Effland (U.) 2010, 33–35. 26 Vgl. Dreyer 1996, 72–73, Abb. 26. 27 Vgl. Helck 1972; O’Connor 1989 und O’Connor 1999. 21

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Qaab, besitzen auch diese „enclosures“ Nebenbestattungen. Durch neue amerikanische Grabungen scheint nun der Nachweis der Tötung dieser Nebenbestattungen bzw. von Menschenopfern für den königlichen Königskult erbracht worden zu sein.28 Die Arbeiten unter der Leitung von David O’Connor und Matt Adams lassen außerdem vermuten, dass die Talbezirke speziell für den königlichen Totenkult errichtet worden sind – möglicherweise als kurzlebige „Festarchitektur“, die nur beim Begräbnis und eine kurze Zeitspanne eine Funktion besaß, bevor sie wieder abgerissen wurden.29 Bei einigen Talbezirken fanden sich Bootsbestattungen, die somit die ältesten Belege für eine Praxis sind, die auch bei frühzeitlichen Anlagen in Saqqara und v. a. den königlichen Pyramidenanlagen des Alten Reiches anzutreffen ist.30 Durch Neufunde bislang unbekannter Talbezirke stellt sich die Frage, ob eventuell auch für Königinnen diese Ritualbauten unweit des (Osiris-)-Chontamenti-Tempels errichtet wurden.31 Kommende Arbeiten in Abydos Nord werden hier hoffentlich weitere Klarheit schaffen. Exkurs: Der Gott Osiris Das komplexe Wesen des Gottes Osiris und die diachrone Entwicklung seines Kults sind nicht im Rahmen eines Exkurses darzustellen, aber hier seien die wichtigsten Aspekte festgehalten:32 Osiris ist ein chtonischer Fruchtbarkeitsgott mit dem zum einen zyklische Aspekte der Vegetation, zum anderen aber die kosmische Abfolge des Königshauses assoziiert sind. Wohl früh kommt es zu einer Verschmelzung des Gottes mit dem schakalsgestaltigen Nekropolenschutzgott Chontamenti, dem Ersten der Westlichen, der in Abydos früh eine wichtige Rolle spielt. Osiris hat durchweg einen sehr engen Bezug zum Königtum. Laut dem Mythos war er ehemals König auf Erden, steigt nach seiner Ermordung zum Herrscher der Unterwelt auf und wird schließlich von seinem Sohn Horus als lebender und rechtmäßiger König abgelöst. Der Osirismythos ist v. a. durch späte Quellen und antike Autoren wie Plutarch überliefert – darin werden die Ermordung des Gottes durch seinen Bruder Seth, die Rettung und Wiederbelebung des zerstückelten Leichnams durch seine Schwestergattin Isis und die anschließende Zeugung des Sohnes Horus mit Isis geschildert. Die Rache am Vatermörder Seth durch Horus und dessen anschließende legitime Herrschaftsergreifung bildet den Abschluss des Mythos. Osiris tritt stets als mumiengestaltiger Gott auf. Es gibt verschiedene Überlieferungen, wie Osiris gestorben war (v. a. ertrinken, zerstückeln), wesentlich ist

28

Vgl. O’Connor 2009, 173. Vgl. O’Connor 2009, 177–181. Vgl auch Bestock 2009, 56–57. 30 Vgl. O’Connor 1991; O’Connor 2009, 183–200, besonders fig. 96. 31 Bestock 2009. 32 Vgl. Gwyn Griffith 1982; Gwyn Griffith 2001; Wiebach-Koepke 2006. 29

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jedoch, dass er seinen Status durch die Bemühungen der Isis wieder ändert und nicht im Modus „verstorben“ bleibt. Schon in den Pyramidentexten des Alten Reiches heißt es: „Er (Osiris) lebt, der König lebt; er (Osiris) ist nicht tot, der König ist nicht tot.“ (PT 219)

Abydos entwickelte sich schon bald zu dem wichtigsten Träger des Osiriskults und war ab dem Alten Reich der wichtigste Kultort des Gottes. Nach einer Version des Osirismythos fand hier Isis den Kopf ihres Gatten. Ab der 5. Dynastie ist ein Kult für den Gott auch in Umm el-Qaab nachweisbar. Durch den Kult um den Gott Osiris erlangte die uralte Königsnekropole Abydos über den gesamten Zeitraum pharaonischer Geschichte zeitlose und andauernde Aktualität. Abydos wurde zum bevorzugten Bestattungsplatz hoher Beamter: Ideelle „Abydosfahrten“ und reale Pilgerfahrten sind wesentliche Bestandteile der Jenseitsvorstellungen der alten Ägypter. Spätestens im späten Alten Reich kam es nämlich zu einer „Entprivilegisierung“ 33 des Osirisglaubens: Jeder Verstorbene konnte durch rechtschaffene Lebensführung den Status eines wiederbelebten Osiris NN in der Unterwelt erreichen. Die Wiederbelebung erfolgt durch den Totenkult, den idealerweise der Sohn ausübt (bzw. in dessen Namen Priester handeln). Osiris und der Kult um den Gott hat von einer ursprünglich auf den rein königlichen Bereich beschränkten Funktion eine umfassende Funktionserweiterung und Ausdehnung auf alle Bereiche der ägyptischen Bevölkerung erfahren.34 Tempel und Gräber des Alten Reichs und der 1. Zwischenzeit Im Alten Reich und der 1. Zwischenzeit (ca. 2600–2050 v. Chr.) setzt erneut königliche Bautätigkeit in Abydos ein.35 Im Tempel von Kom el-Sultan sind entsprechende Aktivitäten greifbar und die Anlage ist nun bereits als Osiristempel, und nicht mehr als Heiligtum für Chontamenti, belegt.36 Zeitgleich werden aber auch große Privatgräber im „Middle Cemetery“ (Abb. 2) angelegt, die teilweise herausragenden Persönlichkeiten (z. B. dem hohen Funktionär Weni) zuzuschreiben sind.37 Erstmals sind nun auch Aspekte des Ahnenkults im privaten Bereich fassbar.38 Die erweiterte Anwendung des Osiriskults im ausgehenden Alten Reich über die königliche Sphäre hinaus ist also auch in Abydos selbst gut belegt.

33

Fitzenreiter 2008, 81. Vgl. Gwyn Griffith 2001, 615. 35 Siehe Brovarski 1994. 36 Vgl. O’Connor 2009, 81–82; Bussmann 2010, 90. 37 Vgl. Richards 1999. 38 Vgl. Richards 2003. 34

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Abydos im Mittleren Reich (ca. 2050–1650 v. Chr.) Im Mittleren Reich kommt der Fundplatz zu einer ersten Blütezeit – der Wiederbeginn an königlicher Bautätigkeit setzt unter Mentuhotep Nebhepetre ein.39 Es sind aber v. a. Herrscher der späten 12. Dynastie, Sesostris III und Amenemhat III, die in Abydos aktiv sind.40 Neufunde von amerikanischen Grabungen unter der Leitung von Josef Wegner in den Jahren 2013 und 2014 weisen darauf hin, dass diese Aktivitäten vom späten Mittleren Reich bis in die Zweite Zwischenzeit andauerten.41 An einer prominenten Stelle des natürlichen Felsmassivs im Westen des Fruchtlandbereiches ließ Sesostris III eine Terrassenanlage, einen Tempel und zahlreiche Nebengebäude errichten. Bis heute ist umstritten, ob der König im Grab an der Felsklippe begraben war oder es sich doch um einen Kenotaph handelt.42 Die bewusste Positionierung des königlichen Komplexes spricht in jedem Fall für eine nicht zufällige Bezugnahme zu Osiris – nicht nur die Achse zum Taltempel ist mit Bedacht gewählt, sondern auch die Position entlang der Klippen ermöglicht eine direkte Verbindung nach Umm el-Qaab, konkret zum Grab des Djer, das ja nun als Grab des Gottes Osiris gilt.43 Es ist mit Sicherheit kein Zufall, dass aus der Zeit Sesostris’ III erstmals verstärkt Kultaufkommen in Umm elQaab festzustellen ist – besonders die deponierte Votivkeramik dieser Zeit zeugt von einer neuen Aktivität.44 Neben der Votivkeramik sind in Umm el-Qaab im Mittleren Reich Renovierungsarbeiten an fast allen Königsgräbern nachweisbar. Im späten Mittleren Reich dürfte das oben erwähnte Kultbild des auf der Bahre liegenden Osiris im Grab des Djer eingebracht worden sein. Zu den wichtigsten Neufunden der letzten Jahre gehören in Umm el-Qaab Fragmente eines großen steinernen Schreines. Dieser Schrein scheint ehemals das berühmte Osirisbett geschützt zu haben (Abb. 3). Die von Ute und Andreas Effland vorgeschlagene Rekonstruktion des Monuments ist eine noch andauernde, langwierige Puzzlearbeit, da der Schrein absichtlich in koptischer Zeit zerstört und in teilweise sehr kleinformatige Stücke zerschlagen wurde. Nach aktuellem Wissensstand gehörten Schrein und Bett zu den wichtigsten Bestandteilen des Osirisgrabes und datieren wohl in die 13. Dynastie.45 39

Vgl. Bussmann 2010, 91. Vgl. Wegner 2007; O’Connor 2009, 96–100. 41 Zu den neuen Entdeckungen siehe http://www.penn.museum/press-releases/1032pharaoh-senebkay-discovery-josef-wegner.html (Zugriffsdatum: 25.12.2014). 42 Vgl. Stadelmann 1985, 238. In der Pyramide des Königs in Dahschur fand sich allerdings nur ein leerer Sarkophag, weshalb eine Bestattung in Abydos sehr gut möglich ist. 43 Siehe Wegner 2007, 21–22 und Abb. 7; Effland (A.)/Budka/Effland (U.) 2010, 81. 44 Siehe Effland (U.) 2006; Effland (A.)/Budka/Effland (U.) 2010, 52. 45 Vgl. Effland (A.)/Effland (U.) 2013, 17–20. 40

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Seit dem Mittleren Reich sind nicht nur wesentliche bauliche Veränderungen in Umm el-Qaab zu greifen, sondern auch die Osirismysterien in Abydos – das wichtigste Fest und entsprechende Kulthandlungen zur Wiederbelebung des Gottes. Die Grundlage der alljährlich im Monat Choiak gefeierten Mysterien um Osiris bildet der entsprechende Mythos, denn im Rahmen dieses Rituals wurde das Leben, Sterben und v. a. die Wiederauferstehung des Gottes dramatisch und symbolisch wiederholt.46 Es stellt sich die Frage, ob die vorher genannten Talbezirke nahe des Osiristempels von Kom el-Sultan, am Eingang zum Wadi, das auf das Wüstenplateau von Umm el-Qaab führt, eventuell der Ausgangspunkt der Prozession waren. Hier sind noch einige Fragen offen, aber es erscheint denkbar, dass die Osirismysterien auf dem Ablauf der Totenfeierlichkeiten der frühesten Könige basieren. Ein Teil der Kulthandlungen bei den Osirisfeierlichkeiten fand öffentlich und für jeden sichtbar statt, aber Anfang, Ende und der Höhepunkt des Rituals ‒ die Wiederauferstehung des Gottes ‒ wurde im kleinen, ausgewählten Kreis von eingeweihten Priestern zelebriert, wobei jeder unbefugte Beobachter verboten und ausgeschlossen war.47 Aus dem Mittleren Reich sind zahlreiche Quellen für die Teilnahme von Privatpersonen an den Osirismysterien überliefert. Dabei handelt es sich v. a. um Stelen, aber auch um Kenotaphe und Kultkapellen. Besonders die Stelen sind als schriftliche Informationsquellen über Art und Ablauf der Osirismysterien von großer Bedeutung.48 Im Mittelpunkt dieser Riten steht die immer wieder stattfindende Neuerschaffung einer Statue des Gottes. Die Stele des Schatzmeisters Ichernofret, die in das 19. Jahr Sesostris’ III datiert, schildert die Vorbereitungen mit zahlreichen Details.49 Die feierliche Prozession führt durch das „große Tal“ zum Grab des Gottes in Poker (pqr), in der alten Königsnekropole Umm el-Qaab, wobei das Götterbild in Begleitung von anderen Gottheiten in der Neschemet-Barke50 getragen wurde. Der allgemeine Wunsch, an diesem Zug teilzunehmen, manifestiert sich in all den Stelen und Grabanlagen, die entlang der Prozessionsstraße stehen bzw. liegen. Zwingend ist mit einer an die Prozession anschließenden Bestattung des Gottes in irgendeiner Form zu rechnen. Unklar muss hier bleiben, ob dafür das Götterbild selbst oder ein weiteres Abbild verwendet wurde, denn dieser Teil der Mysterien war wohl tatsächlich geheim und es liegen daher keine eindeutigen Berichte vor. Nach der Schilderung von Ichernofret wurde das Götterbild anschließend zurückgefahren und als wiederbelebter Gott im Tempel aufgestellt. 46

Vgl. Schäfer 1904; Eaton 2007a; Kucharek 2006. Vgl. Bonnet 1952, 496 und Effland (A.)/Budka/Effland (U.) 2010, 79. 48 Vgl. Schäfer 1904; Simpson 1974; Lavier 1989; Lavier 1998. 49 Vgl. Siehe Schäfer 194, 34–35; Otto 1966. 50 Zu den unterschiedlichen Barken und Kultbildern, besonders zur Zeit des Neuen Reiches, siehe Eaton 2007b. 47

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Auch der nächste Akt der Mysterien bleibt geheimnisvoll und wird „Die Nacht des Schlafens“, das „Schlafen des streitbaren Horus“ oder Haker-Fest genannt. Dabei handelt es sich wohl um die magische Beseelung und Wiederbelebung der Statue des Gottes durch seinen Sohn Horus im Tempel. Die Osirismysterien stehen in der Tradition des alten Königrituals von Abydos, doch durch die nunmehrige Hauptperson Osiris wurde die Handlung auf Privatpersonen ausgedehnt und die Erfüllung der Jenseitsvorstellungen des Einzelnen konnte gewährleistet werden. So entwickelte sich Abydos zum größten Provinzfriedhof des Mittleren Reiches von überregionaler Bedeutung.51 Monumentale Tempelbauten und Feste im Neuen Reich (ca. 1550–1070 v. Chr.) Eine der wichtigen Blütephasen des Fundplatzes ist das Neue Reich, die 2. Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. Nun wird nicht nur am Osiristempel im Norden gebaut, sondern entlang des Fruchtlandstreifens entstehen mehrere große Heiligtümer, wobei die Königsverehrung in Verbindung mit Osiris im Mittelpunkt steht. Aus Umm el-Qaab haben wir nun, anders als in den vorangehenden Epochen, hochqualitative Funde hoher Beamter, aber auch königliche Votivgaben belegt. Der Kult am Osirisgrab scheint intensiviert worden zu sein und war wohl noch immer für die höchste Schicht reserviert, wie Prestigeobjekte wie z. B. Uschebti und Glasgefäße zeigen.52 Besonders hervorzuheben ist die Bautätigkeit des ersten Herrschers der 18. Dynastie, von König Ahmose Nebpehtyre. Ähnlich wie schon Sesostris III, und wie es Jahrzehnte später Königin Hatschepsut in Deir el-Bahari machen wird, errichtet er einen Komplex aus Terrassentempel, Grab und Taltempel sowie eine Pyramide in Abydos Süd (Abb. 1). Diese Bautätigkeit mit bewussten Bezügen zum Alten und Mittleren Reich, aber auch mit innovativen Zügen, zeugt von Legitimitätsbestrebungen und dem Wunsch nach der Stärkung des Thronanspruchs.53 Jüngere amerikanische Grabungen, die auch moderne Prospektionsmethoden wie einen geomagnetischen Survey angewandt haben, fanden nicht nur bislang unbekannte Tempel und neue Relieffragmente, sondern können auch belegen, dass der Platz das ganze Neue Reich lang in Betrieb war – die Stätte blieb lange nach dem Tod des Ahmoses ein bedeutender und regelmäßig frequentierter Kultplatz.54

51

Siehe Richards 2005. Vgl. Effland (U.) 2006; Effland (A.)/Effland (U.) 2013, 24–26. 53 Vgl. Harvey 1998; O’Connor 2009, 105–110. 54 Vgl. Harvey 2004, 3–6; Budka 2006. 52

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Ein wichtiger Bau im Gesamtkomplex des Ahmose ist die kleine Ziegelpyramide der Großmutter des Königs: Königin Tetischeri war die Mutter beider Elternteile des Ahmose und genoss hohes Ansehen. Die berühmte Stele der Tetischeri wurde hier in der Pyramide gefunden und zeugt erneut vom Ahnenkult, der in Abydos so essentiell war. Wichtiger Fund der jüngeren Grabungen war ein großes Depot von Kultkeramik im Eingangsbereich der Pyramide. Das Material besitzt große Ähnlichkeit mit der Keramik vor dem Osirisgrab in Umm el-Qaab.55 Ahmose ist somit der Herrscher, der quantitativ den Kult rund um Osiris in Abydos massiv ausgebaut hat und bei dem ein deutlicher Ahnenkultaspekt greifbar ist. Wie bereits erwähnt, haben auch weitere Könige des Neuen Reiches Tempelbauten in Abydos errichtet. Es sind dies v. a. Thutmosis III,56 Sethos I und Ramses II. Das Prozessionsnetz erinnert an Theben und die Tempel sind als Barkenstationen für Osiris und den Königskult aufzufassen.57 So kamen unterschiedliche Barken – Königs- und Osirisbarken – bei den verschiedenen Festumzügen zum Einsatz.58 Für Ahmose ist eine Barkenprozession bis in ramessidische Zeit nachweisbar. Gut belegt sind die Umzüge für die Herrscher Sethos I und Ramses II. 59 Josef Wegner hat vorgeschlagen, bereits Sesostris III hätte in Abydos einen königlichen Barkenkult eingeführt;60 insgesamt erinnert das Konzept in Abydos an das Talfest in Theben, ein Prozessionsfest, bei dem Amun und das Königtum – sowohl des Gottes als auch des lebenden Herrschers – im Mittelpunkt stehen. Die beiden Großbauprojekte der 19. Dynastie sind die kleinere Anlage Ramses’ II und der große Bau seines Vaters Sethos I. Das Millionenjahrhaus Sethos’ I (Abb. 4) spiegelt eindrucksvoll das politische und religiöse Konzept des Herrschers wider: Seine Regierung wird nach der Amarnazeit als der Beginn einer neuen Ära zelebriert, Sethos muss sich wegen eines bürgerlichen Vaters vermehrt um göttliche Legitimation bemühen; mit dem seinem Tempel angeschlossenen Osireion geht er deshalb innovative Wege. Im Tempel selbst stehen Osiris – gemeinsam mit anderen Gottheiten – und der König im Mittelpunkt; es ist auch der theologisch wichtige Versuch, Memphis, Heliopolis und Theben kultisch an Abydos zu knüpfen.61 Schröder hat dabei die Rollenverteilung von Osiris und König treffend auf den Punkt gebracht:

55

Vgl. Budka 2006, 108–112. Vgl. Pouls Wegner 1997–1998; Pouls Wegner 2002. 57 Vgl. Eaton 2007a. 58 Vgl. Eaton 2007b. 59 Siehe Harvey 1998, 121–125; Eaton 2004. 60 Vgl. Wegner 2007, 402. 61 Vgl. David 1981; Eaton 2004; Schröder 2010. 56

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„Der abydenische Totentempel ist Millionenjahrhaus – jenseitiger Ort im Diesseits – des lebenden regierenden Königs. Was Osiris betrifft, so ist festzustellen, dass es nicht die Aspekte des Gottes als Totengott oder als Herrscher des unterweltlichen Jenseits sind, die an diesem Orte im Fokus stehen. Er ist ganz Vater. Genauso wenig wie der König als Verstorbener, d. i. Osiris-König NN, in den Vordergrund tritt. Vielmehr ist er Sohn: Er ist Horus oder, so könnte man sagen, Osiris als (lebender) Sohn.“62 Eine inhaltlich bedeutsame Szene befindet sich auf der Nordwand des ersten Hypostyls: Sethos I ist räuchernd und libierend vor Osiris und Harendotes dargestellt; es handelt sich um ein zentrales Ritual der Wiedererweckung des verstorbenen Herrschers/Gottes durch den Sohn. Dabei wird in herzförmige Gefäße libiert – mit Wasser, das der lebensspendende Ausfluss des Gottes Osiris ist. Nun ist es hochgradig bedeutsam, dass es zeitgenössische Belege für dieses Ritual am Osirisgrab in Umm el-Qaab gibt: Herzförmige Keramikgefäße, die von hohen Beamten und Priestern gestiftet wurden, wurden dort gefunden. Diese Ritualgefäße belegen, dass die im Heiligtum abgebildeten Szenen am Osirisgrab real von Priestern durchgeführt wurden.63 Die Herzgefäße zielen konkret auf die Wiederbelebung des Gottes ab – auf die Erweckung des „Herzensmüden“. Diesen passiven Zustand des Gottes, aus dem er aufzuwecken ist, kennen wir schon vom Osirisbett aus dem Grab des Djer: Mit diesem Kultbild ist der Status des Gottes dargestellt, in dem er wieder „aktiv“ genug ist, um seinen Sohn Horus zu zeugen. Die Wiederbelebung ist somit essentiell für den kosmischen Zyklus und v. a. die ägyptische Thronfolge. Das gesamte Bildprogramm im Tempel Sethos’ I verdeutlicht, dass die Kultausübung durch den Sohn (Horus) die Wiederbelebung des Vaters (Osiris) ermöglicht. Die berühmte Königsliste von Abydos im Sethos I-Tempel zeigt, dass dieses Heiligtum auch ein Kultort für königliche Ahnen war.64 Damit fügt sich der Bau in die uralte Tradition der Verehrung der Vorgänger in Abydos. Ein weiteres Element in dem komplexen Bauvorhaben Sethos’ I ist das sogenannte Osireion (Abb. 4). Hier liegt eine neue Variante eines Tempels für Osiris, hier für den verstorbenen Sethos I, vor. Der Bau erinnert mit seinem interessanten Text- und Bildprogramm an die Königsgräber im Tal der Könige, hat aber eine ganz besondere Architektur. 65 Auch die Lage des Osireions ist bedeutsam: So ist eine genaue Positionierung hinter den Osiriskulträumen des Millionenjahrhauses festzustellen. Mit einem Westpylon liegt außerdem eine Orientierung zur Wüste, nach Umm el-Qaab vor. Durch einen Dromos gibt es ferner eine weitere Verbindung nach Norden, in Richtung Kom el-Sultan zum Osiristempel. 62

S. Schröder 2010, 191. Siehe Effland (A.) 2013b. 64 Auf Abb. 4 als „Gallery of Lists“ markiert. 65 Vgl. O’Connor 2009, 50–51. 63

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Direkt vor dem Wüstenpylon befindet sich eine große Deponierung von Votivkeramik, die dem Material aus Umm el-Qaab entspricht und eine Datierung in die 25. Dynastie erlaubt.66 Somit wurde im 1. Jahrtausend v. Chr. noch immer auf die Bauten aus einer der Blütezeiten von Abydos, dem Neuen Reich, Bezug genommen. Dass dies kein Zufall ist, sondern erneut die Komplexität des Osiriskults und die Wichtigkeit von bewusster Ahnenverehrung widerspiegelt, kann anhand der Votivkeramik gezeigt werden. Osiriskult im 1. Jahrtausend v. Chr. (besonders 750–730 v. Chr.) Während der sogenannten Spätzeit der ägyptischen Geschichte (25. bis 30. Dynastie) gewann der Osiriskult landesweit immer mehr an Bedeutung – auch in Abydos ist eine verstärkte Aktivität festzustellen.67 Besonders Relikte der 25. Dynastie sind zahlreich und reichen von Bestattungen von Angehörigen der Königsfamilie, Belegen der Gottesgemahlinnen des Amun, Statuen und Stelen hoher Würdenträger bis hin zu umfangreichen Ritualrelikten in Umm el-Qaab. Dabei wurde offenbar bewusst auf Bauten der Frühzeit (Abydos Nord und Umm elQaab) und Anlagen des Neuen Reiches (Abydos Mitte rund um den Sethos I Komplex) Bezug genommen (vgl. Abb. 2). In den letzten Jahren wurden tausende Gefäße aus in situ Deponierungen im Nordwesten und Nordosten des Grabes des Djer (Abb. 5) detailliert aufgenommen und so konnte ein wesentlicher Erkenntniszuwachs zu den Niederlegungsmodalitäten während der 25. Dynastie gewonnen werden.68 Über der frühdynastischen Anlage B40 wurden bereits 1985 hunderte von spätzeitlichen Gefäßen gefunden. 69 Doch die vollständigen Ausmaße dieser Gefäßdeponierung wurden erst 2013 und nach dem Abtragen meterhoher Schutthalden deutlich: Fast dreitausend weitere Gefäße markieren den Bereich der östlichen Nebengräber des Grabes von Djer/Osiris. Die mehreren hundert vollständigen, linear aneinander gereihten Flaschen (als Depot O-NNO bezeichnet) bilden eine Straße, von der ein weiteres Teilstück vor dem Grab des Königs Dewen gefunden wurde.70 Die Gefäße säumen einen Weg, der über die Nebengräber des Osirisgrabes, am Grab des Dewen vorbei, zu einer wichtigen Landmarke im Süden ging (Abb. 6) – die deponierten Gefäße sind auf den sogenannten Südhügel ausgerichtet. Dieser natürliche Hügel wurde von Ute und Andreas Effland als zentraler Punkt in der lokalspezifischen

66

Vgl. Effland (A.)/Effland (U.) 2010, 142. Vgl. O’Connor 2009, 121–135; Effland (A.)/Budka/Effland (U.) 2010, 53–54 und 59; Budka 2012; Effland (A.)/Effland (U.) 2013, 56–81. 68 Siehe Budka 2014. 69 Vgl. Anthes 1996. 70 Vgl. Müller 2006. 67

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Kulttopographie des Osiriskults in Abydos erkannt.71 Seine Bedeutung, die noch nicht restlos verstanden ist, wird durch die Flaschenstraße, aber auch eine große Deponierung von Qaabs unterstrichen. Darüber hinaus gibt es eine direkte Verbindung zum Wüstenpylon des Komplexes von Sethos I. Bis vor kurzem waren wir der Ansicht, dass die Mehrzahl der Flaschen (Abb. 7) in Umm el-Qaab als symbolische Opfergabe für den Gott und deshalb ohne Inhalt deponiert wurde. Aber die neue, umfangreiche Deponierung O-NNO gestattet erstmals eine verlässliche Assoziation der Flaschen mit den Qaab-Schälchen – sie wurden gleichzeitig deponiert und die Qaabs sind mit konkreten Ritualen verbunden. Die Inhaltsreste erinnern an Funde am Grab des Chasechemui und des Dewen: verfestigter Sand, botanisches Material wie v. a. Blätter und kleine Zweige sowie Holzkohle. 72 Diese Ritualrelikte wurden nicht in die Flaschen selbst eingefüllt, sondern damit gefüllte Qaabs kamen ins Innere von Flaschen (Abb. 8).73 Die Vergesellschaftung von Qaabs mit vegetabilen Inhaltsstoffen, aber auch zahlreiche rituelle Unbrauchbarmachungen durch die intentionelle Durchstoßung der Gefäße sowie der Einsatz von rotem Farbbad zeigen die Komplexität der Keramikdeponierungen in Umm el-Qaab auf, wobei wir wohl von übelabwehrenden Ritualen ausgehen können. Der Kult der 25. Dynastie in Umm el-Qaab war den neuen Ergebnissen zufolge vergleichbar wie im Neuen Reich im hohen Maße strukturiert – zum jetzigen Zeitpunkt ist auszuschließen, dass die Flaschen und Schalen beliebig von Pilgern abgelegt wurden. Sie sind vielmehr Relikte eines geregelten Kults und wurden vermutlich von Priestern in Verbindung mit verschiedenen Ritualhandlungen niedergelegt – allein die Masse der Gefäße verdeutlicht, dass hier ein großer Personalaufwand und eine ausgeklügelte Logistik notwendig waren. Am ehesten ist anzunehmen, dass im Rahmen der alljährlichen Osirisfeierlichkeiten eine gewisse Anzahl von Qaab-Schälchen und Flaschen deponiert wurde. Die Machart und die große Zahl der Flaschen der 25. Dynastie in Umm elQaab sprechen für eine lokale Produktion der Gefäße.74 Die Form der Flaschen dürfte dabei auf uralte Gefäße aus den frühzeitlichen Königsgräbern anspielen: Die Spätzeitflaschen lassen sich in eine Linie mit ovoiden Gefäßen der Frühzeit stellen und bei manchen sind sogar Anklänge an die frühzeitlichen Weinkrüge

71

Vgl. Effland (A.)/Budka/Effland (U.) 2010, 82–83, Abb. 52; Effland (A.)/Effland (U.) 2010, 137–145. 72 Siehe Effland (A.)/Budka/Effland (U.) 2010, 25–30. 73 Vgl. Budka 2014. 74 Vgl. Effland (A.)/Budka/Effland (U.) 2010, 59–60.

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erkennbar.75 Dies scheint eine bewusste Bezugnahme auf den alten Kult und die „Bestattung“ des Gottes/Königs zu sein. Wandel und Kontinuität prägen also die Kultaktivitäten in Abydos, besonders aber am Osirisgrab. Diese Aspekte sind besonders gut im keramischen Material greifbar. So stehen beispielsweise die kleinformatigen Qaabs der Spätzeit in einer morphologischen und konzeptuellen Reihe mit Modellschalen des Mittleren Reiches, die im Tempelkomplex Sesostris’ III in Süd-Abydos nachgewiesen sind.76 Darüber hinaus sind auffällige Gemeinsamkeiten der spätzeitlichen Keramikdeponierungen mit dem naqadazeitlichen Opferplatz bei Grab U-j (siehe oben) festzustellen. Ich möchte dies so deuten, dass die Weiterführung lokaler Formen und Bezugsnahmen auf die erste Nutzungsphase des Friedhofs den ewigen Kultzyklus symbolisiert. Kult in Abydos zielt v. a. auf Regeneration, Anspruch auf Wiederbelebung und Legitimation ab, wobei die Gleichung Osiris = König = Gott von höchster Relevanz ist. Eine weitere Kultaktivität von langer Dauer, insbesondere während der Spätzeit bis in die Römerzeit, sind die Tierfriedhöfe in Abydos.77 Interessanterweise liegen sie an bedeutenden lokalen Landmarken wie der Tetischeri-Pyramide (siehe oben) oder am Talbezirk des König Chasechemui in Abydos Nord. Ähnlich wie für die Keramikdeponierungen sollte hier von einer Einbettung der Tiermumien in rituelle Handlungen und Feste für Osiris ausgegangen werden. In Sachen Kultkontinuität kann nochmals der Tempel Sethos’ I genannt werden. Als späteste Blüte des Osiriskults ist ein überregionaler Orakelkult des Gottes Osiris-Serapis (ptolemäisch) bzw. des Bes (v. a. römisch) greifbar. Das Heiligtum der 19. Dynastie diente dabei als Pilgerstätte, wie zahlreiche Graffiti, v. a. aus dem 10. bis 3. Jahrhundert v. Chr. belegen (u. a. auch von Olympiasiegern, die den hohen Bekanntheitsgrad des Orakels von Abydos illustrieren).78 Im Osireion finden sich Graffiti, die primär ins 5. Jahrhundert vor bis ins 3. Jahrhundert nach Chr. datieren.79 Noch in koptischer Zeit erfahren wir durch die vita eines Apa Musa (Mitte 5. bis Mitte 6. Jahrhundert n. Chr.), dass es zu Exorzismen gegen einen „Dämon“ mit dem Namen Bes im Sethos I-Tempel kam.80

75

Vgl. Effland (A.)/Budka/Effland (U.) 2010, 60 mit weiterer Literatur sowie zuletzt Budka 2014. 76 Siehe Effland (A.)/Budka/Effland (U.) 2010, 60. Zu den Parallelen im Komplex Sesostris’ III siehe Wegner 2007, Abb. 114, Nr. 91–92; Abb. 125, Nr. 100–104. 77 Siehe Ikram 2007. 78 Vgl. Effland (A.) 2013a; Effland (A.)/Effland (U.) 2013, 124–129. 79 Siehe Rutherford 2003. 80 Vgl. Effland (A.)/Budka/Effland (U.) 2010, 85–91; Effland (A.) 2013a.

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Kein Ende des Kultbetriebs Die Riten im Sethos I-Tempel enden aber nicht mit der Spätantike bzw. dem Mittelalter – noch heute sind die Sanktuare und Reliefs Ort ritueller Handlungen durch die Lokalbevölkerung, v. a. durch Frauen. Das Berühren von Reliefs soll Glück und Fruchtbarkeit bewirken, der Glaube an die Kraft des Ortes ist also noch immer stark ausgeprägt.81 Abydos hat an Faszination kaum verloren – kein Wunder, war es doch aller Wahrscheinlichkeit nach tatsächlich jener Ort, den die Ägypter mit dem Eingang in die Unterwelt assoziierten. Durch projizierte Sakralität wurde die Landschaft von Abydos zur Verbildlichung der Jenseitslandschaft – das Wadi ist der Eingang in die Unterwelt.82 Ursprung und Wandel Zusammenfassend ergibt sich die große Bedeutung von Abydos aus der diachronen Perspektive: Es ist ein besonderer Bestattungsplatz mit durchweg starkem Bezug zu Königshaus und Legitimation. Zu allen Zeiten, besonders aber im Mittleren Reich, Neuen Reich und der Kuschitenzeit (25. Dynastie), ist politische Bautätigkeit (v. a. Tempelbau) belegt. Ich sehe den (privaten und königlichen) Ahnenkult als Grundvoraussetzung für die lange Blütezeit des Fundplatzes, aber auch als essentielles Bindeglied zwischen Osiriskult und Königskult. Ursprünge, Kontinuität und Wandlungen des heiligen Ortes Abydos bieten wesentliche Ansätze, die Entwicklung der altägyptischen Kultur, insbesondere aber der pharaonischen Jenseitsvorstellungen, sichtbar zu machen. Die Bedeutung von Abydos geht auch über Ägypten hinaus und ist somit hervorragend geeignet für fächerübergreifende Darstellungen zu heiligen Orten und ihren Wandlungen.

81 82

Vgl. Effland (U.) 2000; Effland (A.)/Effland (U.) 2013, 139. Vgl. Effland (A.)/Effland (U.) 2013, 11.

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Abb. 1: Karte von Abydos. Aus: O’Connor 2009, 25 Abb. 3.

Abb. 2: Skizze zur Lage der Friedhöfe in Abydos Nord im Verhältnis zum Tempel und dem Wadi. Adaptiert nach O’Connor 2009, Abb. 66 und Aston 2009, Abb. 3.

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Abb. 3: Rekonstruktion des Osirisbetts im Schrein aus dem Grab des Djer. Zeichnung Ute Effland. Aus: Effland/Budka/Effland 2010, 34 Abb. 15.

Abb. 4: Plan des Sethos’ I Komplexes. Aus: O’Connor 2009, 47 Abb. 16.

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Abb. 5: Blick über das Grab des Djer in Richtung Eingang des großen Wadis, 2012. Foto: Julia Budka

Abb. 6: Linear aufgereihte Flaschen der Deponierung O-NNO als Wegmarkierung in Richtung Südhügel. Foto: Ute Effland

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Abb. 7: Häufige Typen der Keramikflaschen der 25. Dynastie. Zeichnungen: Julia Budka

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Abb. 8: Spätzeitflasche aus Deponierung O-NNO mit Inhaltsresten: zwei Qaabs sowie botanisches Material (Blätter und Zweige). Foto: Julia Budka

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Zwischen Tyros und Tanger – eine Religion der Seefahrer? Klaus Zimmermann (Münster) Es gibt Dinge, die wissen wir einfach. Dass die Phönizier Seefahrer waren, gehört zu diesen Axiomen: Man braucht nur einen Rundblick auf die Umschläge und Titelbilder wissenschaftlicher wie populärer Schriften zum Thema – von National Geographic bis Asterix – zu werfen, um „Phönizier“ allenthalben mit „Seefahrt“ verknüpft zu finden. Moderne Mittelmeerregionen mit phönizischer Vergangenheit nutzen das Erbe der antiken Seefahrer zur Identitätsstiftung wie zum Marketing, wie Beispiele von libanesischen Luftpostmarken aus den Jahren 1947 und 1966 bis zum Phönizierdenkmal im andalusischen Almuñécar, vom Logo des italienischen Tourismusprojekts „La rotta dei Fenici“ bis zur limitierten 50-EuroGoldprägung „The Phoenicians in Malta“ aus dem Jahr 2011 illustrieren. Dass dieses Bild nicht aus der Luft gegriffen ist, zeigt ein ebenso kursorischer Blick auf antike Darstellungen phönizischer Seefahrt: Selbst- und Fremddarstellungen von neuassyrischen Reliefs aus Chorsabad und Ninive über Münzprägungen bis zu kaiserzeitlichen Mosaiken und Sarkophagen lassen keinen Zweifel daran, dass die maritimen Aktivitäten der Stadtstaaten an der heutigen libanesischen Küste ihnen selbst wie ihren Nachbarn als distinktives Merkmal dienten. Bekanntlich gründeten die Phönizier im Zuge ihrer Fahrten vom 11. bis zum 8. Jh. v. Chr. eine Reihe von Kolonien, die sich abgesehen vom benachbarten Zypern vor allem an der südiberischen und marokkanischen Küste sowie im Bereich der großen Inseln Sardinien und Sizilien und der gegenüberliegenden nordafrikanischen Küste konzentrieren. 1 Literarische Zeugnisse und archäologische Funde informieren uns über den Vorgang, dessen Erklärung mit Handelsinteressen mittlerweile durchaus umstritten ist. Zumindest im prominenten Fall Karthago weist die Gründungslegende von der vertriebenen tyrischen Königsschwester Elissa eher in die Richtung einer Agrarkolonisation aufgrund innenpolitischer Auseinandersetzungen, wie wir sie in ähnlicher Form von der sogenannten „großen griechischen Kolonisation“ kennen.2 Und Karthago infolgedessen mit Michael Sommer als Ausnahmefall unter den phönizischen Handelsgründungen anzusehen,3 sieht ein wenig nach dem Versuch aus, das vertraute 1

Grundlegend nach wie vor Huß 1985, 4–38. Ameling 1993, 238–250. 3 Sommer 2005, 122–125. 2

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Klischee trotz eines gewichtigen Gegenbeispiels doch noch zu retten. Die Frage nach den Gründen der phönizischen Expansion ist indessen nicht Thema dieses Beitrags. Worum es auf den folgenden Seiten gehen soll, sind die Götter, bei denen die phönizischen Seereisenden Beistand suchten, die Kultorte, an denen sich dieses Bedürfnis manifestierte, und letztlich die Frage, welche Spezifika einer Seefahrerreligion sich in den auf uns gekommenen Zeugnissen zur phönizisch-punischen Religiosität ausmachen lassen – womit auch schon in groben Zügen das weitere Vorgehen skizziert ist: In einem ersten Teil wollen wir im phönizischen Götterhimmel nach besonderen Zuständigkeiten für das Meer und die Seefahrt Ausschau halten. An zweiter Stelle werden – entsprechend dem Thema dieser Ringvorlesung – „heilige Orte“ der Phönizier und Punier auf ihre spezifische Relevanz für die Seefahrt zu untersuchen sein. Und abschließend gilt es, die gewonnenen Erkenntnisse zusammenfassend unter der Fragestellung „eine Religion der Seefahrer?“ zu bewerten. I. Die Götter der Seefahrer Seit dem 18. Jahrhundert bekannt und kontrovers diskutiert ist eine phönizische Inschrift aus Nora an der Südwestspitze Sardiniens, die vor allem wegen ihres frühen Datums – Buchstaben und Formen weisen ins ausgehende 9. Jh. v. Chr. – von Bedeutung für die Chronologie der phönizischen Expansion ist.4 Der Anfang des Textes ist verloren; in den erhaltenen acht Zeilen ist nach der Nennung von Tarschisch von einem unfreiwilligen Abstecher nach Sardinien die Rede (Z. 1– 3), bei dem „er“ (der Verfasser) und die Mannschaft der „Königin“ – offenbar der Name seines Schiffes – unversehrt davongekommen sind (Z. 3–6). Zweifellos als Dank für die Rettung wurde das durch den Stein bezeichnete Gebäude (nibne: Z. 6)5 errichtet, und zwar durch den nāgir (Z. 7), den Beamten, der die Inschrift gesetzt hat und dessen Name wohl am verlorenen Anfang stand, für den Gott Pumay (Z. 8): Ein phönizisches Schiff wird auf dem Weg von oder nach Westen durch einen Sturm nach Sardinien verschlagen, wo der Verantwortliche der Expedition dem Pumay durch die Weihung eines Schreins oder Kapellchens für die Rettung dankt. Als Zeugnis für die Frömmigkeit eines phönizischen Seereisenden ist der Text kaum hoch genug einzuschätzen. Eine andere Frage ist, ob wir mit Pumay einen Seenotrettungsspezialisten vor uns haben. Wir wissen über diese Gottheit so gut wie nichts: Einige theophore Personennamen wie z. B. Pumayyaton – „Pumay hat 4

CIS I 144 (Text und Übersetzung nach Lipiński 2004, 234–247 [mit der älteren Forschung], hier 238): btršš | wgrš hᵓ | bšrdn š | lm hᵓ šl | m ṣbᵓ m | lkt nbn | š bn ngr | lpmy („in Tarshish, | and he was driven | in Sardinia. | He is safe. Safe | is the crew of the | ‚Queen‘. Structure | which the herald has built | for Pummay“). 5 Partizip nifᶜal von bny: Lipiński 2004, 240.

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gegeben“ – aus Zypern und Karthago sind alles, was wir an Vergleichsmaterial besitzen,6 so dass wir lediglich ausschließen können, dass es sich um eine der prominenteren Gottheiten des phönizischen Pantheons handelt. Ob sie auf Sardinien, vielleicht gar am Kap von Nora verehrt und deswegen von dem phönizischen Beamten für seine Rettung verantwortlich gemacht wurde oder ob der Autor ihr aufgrund seiner Herkunft persönlich verbunden war, muss sämtlich Spekulation bleiben. Sicher ist nur, dass sich der nāgir eines Formulars bedient hat, das uns aus einer Vielzahl späterer Dedikationen bekannt ist: Gegenstand der Weihung – Relativpronomen und Verb „welches errichtet hat“ –, Name des Dedikanten und Angabe des Empfängers, bestehend aus Präposition und Namen. Originalität besitzt der Vorgang also nur insofern, als der Text mit der Begründung der Dankesweihung etwas gesprächiger ist als die Masse der Dedikationen aus Karthago und anderswo, über deren Anlass wir in aller Regel nichts erfahren. Eine gewisse Zuständigkeit phönizischer Gottheiten für Meer und Seefahrt lässt sich dagegen dem Vertrag Asarhaddons mit König Baal von Tyros aus der ersten Hälfte des 7. Jh.s v. Chr. entnehmen, in dem es um Rechtssicherheit für Schifffahrt und Handel geht. Eine Reihe von Verfluchungen gegen den vertragsbrüchigen Partner am Ende des Textes enthält unter anderem den folgenden Passus: „Mögen Baᶜal Šamem, Baᶜal Malage und Baᶜal Ṣaphon einen verderbenbringenden Wind gegen eure Schiffe entfesseln, um ihre Vertäuungen zu lösen und ihnen den Ankerpfahl herauszureißen; möge eine gewaltige Welle sie im Meer versenken und eine heftige Flut sich gegen euch erheben.“7

Alle drei Götter werden vom Assyrerkönig im Falle eines Vertragsbruchs gegen die Flotte von Tyros angerufen, greifen also potentiell in die Seefahrt ein. Handelt es sich bei ihnen um die gesuchten Götter der Seefahrer? Halten wir zunächst fest, dass wir es mit drei Epiklesen des Baᶜal zu tun haben, der als Gott des Gewitters und Sturms gewiss ein plausibler Urheber von Schiffbruch ist. Baᶜal Šamem, der „Herr der Himmel“, ist vor allem in Syrien bezeugt,8 aber auch in Karthago wurde er verehrt, wenn auch wohl nicht als höchster Gott, wie man vor allem aufgrund der Reihenfolge der Götternamen in einer Weihinschrift des 3. Jh.s v. Chr. aus dem Tofet von Karthago für Baᶜal Šamem, Tinnit

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Benz 1972, 391–392; vgl. 329; Lipiński 1995, 297–306. SAA II 5 col. IV 10ʼ–13ʼ: dba-al–sa-me-me dba-al–ma-la-ge-e dba-al–ṣa-pu-nu | TU15lem-nu ina GIŠ.MÁ.MEŠ-ku-nu lu-šat-ba GIŠ.mar-kas-ši-na lip-ṭu-ur | GIŠ.ṭar-kul-la-šina li-is-su-hu e-du-u dan-nu ina [tam-t]im | li-ṭa-bi-ši-na šam-ru a-gu-u e-li-ku-nu li-l[ia]. 8 Bunnens 1986, 120 mit Anm. 4; vgl. Brody 1998, 11; Bonnet/Niehr 2010, 65–66. 7

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‚Angesicht Baᶜals‘, Baᶜal Hammon sowie einen Baᶜal MGNM9 lange Zeit angenommen hat.10 Das Formular eines solchen Textes dürfte vielmehr individuellen Motiven folgen: Nach Herbert Niehr steht „bei dieser Privatinschrift […] der persönliche Gott des Stifters voran“, der – wie aus der in Z. 4–5 genannten Aufstellung im Tempel des Baᶜal Hammon hervorgeht – „als ein theos synnaos im Tempel eines höheren Gottes“ fungiert.11 Corinne Bonnet spricht von einer „Strategie der Devotion ..., einer Wahl, die der Widmende angesichts von Zielen, die nicht deutlich sind, vorgenommen hat“.12 Sollten überstandene oder bevorstehende Gefahren einer Seereise der Grund für die Weihung an den „transregionalen Wettergott“13 gewesen sein? Auch die in dem Vertrag mit Asarhaddon an dritter Stelle genannte Gottheit ist uns halbwegs bekannt: Baᶜal Ṣaphon hat seinen Namen von dem Berg Ṣaphon südlich der Orontesmündung, der die syrische Küste eindrucksvoll beherrscht. In griechischen Quellen nach dem griechischen Namen des Berges als Zeus Kasios bezeichnet, ist er vor allem in Ägypten und Karthago durch Votive in Form eines Ankers bezeugt. 14 Zwölf Exemplare aus Ugarit stammen sämtlich aus seinem durch Inschriftenfunde gesicherten Tempel;15 an seiner Verehrung als Schutzgott der Seefahrt (bzw. des sicheren Hafens) besteht also kein Zweifel. So gut wie nichts wissen wir dagegen von Baᶜal Malage – sofern wir ihn nicht mit dem Zeus Meilichios in Verbindung bringen, den Philon von Byblos in seiner phönizischen Theologie als Erfindergott mit Hephaistos geglichen hat: „Von diesen (sc. von Agreus und Halieus, den Erfindern der Jagd und der Fischerei) stammen zwei Brüder ab, die das Eisen und seine Bearbeitung erfunden haben. Der eine von ihnen mit Namen Chusor entwickelte die Sprache und auch den Zaubergesang und die Wahrsagekunst. Er ist mit Hephaistos identisch, erfand Angelhaken, Köder, Angelschnur und das Floß und fuhr als erster der Menschen zur See. Deswegen verehrten sie ihn nach seinem Tod auch als Gott. Er wird auch Zeus Meilichios genannt.“16

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CIS I 3778 = KAI 78 Z. 1–7: ybrky wyšmᶜ ql ᶜd ᶜlm | lᵓdn lbᶜl šmm wlrbt ltnt pn bᶜl | wlᵓdn lbᶜl ḥmn wlᵓdn lbᶜl m|gnm. mnṣbt pslt [š]qd̊ –t[…]ᵓ | ᵓbn ᵓrkt bkd̊ š bᶜl ḥmn pny mbᵓ | hšmš wṣdᵓ mṣᵓ hšmš ᵓš ndr b|ᶜly … (es folgt eine Ahnenreihe des Dedikanten von 16 Gliedern). 10 So noch Huß 1985, 512; unentschieden zuletzt Lee 2015, 11–14. 11 Niehr 2003, 65. 12 Bonnet/Niehr 2010, 59. 13 Niehr 2003, 45. 14 Niehr 1995; Brody 1998, 13–19; Bonnet/Niehr 2010, 75. 15 Vgl. Brody 1998, 47–48 (mit der Rezension von Pardee 2005, hier 290 mit Anm. 22). 16 FGrHist 790 Herennius Philon von Byblos F 2 (Eus. pr. ev. 1, 10, 11): ἐξ ὧν γενέσθαι δύο ἀδελφοὺς σιδήρου εὑρετὰς καὶ τῆς τούτου ἐργασίας, ὧν θάτερον τὸν Χουσὼρ λόγους ἀσκῆσαι καὶ ἐπωιδὰς καὶ μαντείας. εἶναι δὲ τοῦτον τὸν Ἥφαιστον, εὑρεῖν δὲ καὶ ἄγκιστρον

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Die Problematik unserer Quelle liegt auf der Hand: Etwa in hadrianischer Zeit präsentierte Philon einem griechischsprachigen Publikum eine „Phönizische Geschichte“, die angeblich auf den Schriften des Sanchuniathon, eines phönizischen Gelehrten aus der Zeit Mose und Schülers des ägyptischen Gottes der Schrift Thot, beruht.17 Ohne Zweifel wurde hier in der Absicht konstruiert, die phönizische Geschichte prestigewirksam an die altehrwürdige Kultur Ägyptens anzulehnen und dem jüdischen Monotheismus gleichrangig an die Seite zu stellen. Und auf uns gekommen ist der Text durch die Vermittlung des christlichen Bischofs Eusebios, der seinerseits mit den sterblichen Ursprüngen der heidnischen Götter die Nichtigkeit des Polytheismus zu beweisen sucht. Von erheblichen Deformationen der überlieferten Inhalte ist also auszugehen. Dennoch verdient der späte Hinweis auf den ersten Seefahrer der Phönizier Zeus Meilichios in Verbindung mit einem anderen Zeugnis unsere Aufmerksamkeit: Im Zuge der persischen Eroberung Ägyptens soll Kambyses das Kultbild des Hephaistos im Heiligtum von Memphis verspottet haben, das – wie Herodot erläuternd hinzufügt – in seiner Zwergengestalt den sogenannten Pataïkoi am Bug der phönizischen Kriegsschiffe gleiche.18 Wie diese Galionsfiguren auf phönizisch hießen, wissen wir nicht, da der Historiker nur ihren – vielleicht von Ptah abgeleiteten 19 – griechischen Namen nennt. Seine Beobachtung übereinstimmender Ikonographie werden wir dagegen ernst nehmen müssen: In den apotropäischen Verzierungen der phönizischen Trieren konnte man zu Kambyses᾽ bzw. Herodots Zeiten offenbar den markanten ägyptischen Schöpfer- und Erfindergott wiedererkennen, 20 woraus sich ein Profil ergibt, das zu Philons erstem Seefahrer ChusorHephaistos bemerkenswert gut passt.21 Was den Phönizier bewog, diesen zusätzlich mit dem in der griechischen Welt seit archaischer Zeit bekannten Zeus Meilichios22 gleichzusetzen, erschließt sich indessen nicht ohne weiteres und bedarf der Erklärung. Die Wahl der obersten Gottheit des griechischen Pantheons legt den Gedanken an eine Epiklese des Baᶜal nahe. Sollte das ähnlich klingende

καὶ δέλεαρ καὶ ὁρμιὰν καὶ σχεδίαν, πρῶτόν τε πάντων ἀνθρώπων πλεῦσαι. διὸ καὶ ὡς θεὸν αὐτὸν μετὰ θάνατον ἐσεβάσθησαν. καλεῖσθαι δὲ αὐτὸν καὶ Δία Mειλίχιον. 17 Bonnet/Niehr 2010, 28–29. 18 Hdt. 3, 37, 2: ὣς δὲ δὴ καὶ ἐς τοῦ Ἡφαίστου τὸ ἱρὸν ἦλθε καὶ πολλὰ τῷ ἀγάλματι κατεγέλασε. (ἔστι γὰρ τοῦ Ἡφαίστου τὤγαλμα τοῖσι Φοινικηίοισι Παταϊκοῖσι ἐμφερέστατον, τοὺς οἱ Φοίνικες ἐν τῇσι πρῴρῃσι τῶν τριηρέων περιάγουσι· ὃς δὲ τούτους μὴ ὄπωπε, ἐγὼ ὧδε σημανέω· πυγμαίου ἀνδρὸς μίμησίς ἐστι.) 19 Vgl. How/Wells 1928, 265–266 Komm. 3, 37, 2; Asheri/Lloyd/Corcella 2007, 435 Komm. 3, 37, 2: „they could be ‚small Ptahs‘; the etymology is uncertain“. 20 Vgl. Morenz 1954; zu der in Ägypten verbreiteten Amulettform etwa Györy 2003; weitere Literatur bei Minas-Nerpel 2006, 415 mit Anm. 1134–1136; Eckert 2016, 416. 21 Zu Chusor s. Fantar 1977, 24–26; Lipiński 1995, 108–112. 22 Etwa IGDS [I] 41–50; vgl. Parker 1999, 1159–1160.

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Epitheton Malage die interpretatio graeca Meilichios inspiriert haben?23 Stellten die zwergengestaltigen Galionsfiguren der phönizischen Marine die Kreaturen eines Schöpfer-, Erfinder- und Seefahrergottes Baᶜal Malage – oder diesen selbst – dar? Auch der dritte der im Vertrag mit Asarhaddon genannten Baᶜalim wäre, falls die vorstehenden Überlegungen das Richtige treffen,24 der Seefahrt, doch nicht ihr allein zuzuordnen. Verweilen wir noch einen Moment bei den Verfluchungen des Vertrages, um einen Blick auf die Rolle Melqarts zu werfen, den wir – beeinflusst durch die Gleichsetzung mit Herakles25 – gern als den Archetyp des Reisenden zu Lande wie zu Wasser wahrnehmen und der jedenfalls einen prominenten Platz im Pantheon der westphönizischen Kolonien einnahm. „Mögen Melqart und Ešmun euer Land der Zerstörung und euer Volk der Verschleppung ausliefern; mögen sie euch aus eurem Land [entwurzeln] und Nahrung von eurem Mund, Kleidung von eurem Körper und Öl für eure Salbung hinwegnehmen“,26 so heißt es im Anschluss an die Anrufung der drei Baᶜalim um Unwetter und Seenot. Im Gegensatz zu deren Zuständigkeit für den Reiseverkehr fungiert Melqart hier eindeutig als Stadtpatron („roi de la cité“)27 von Tyros, dem (ebenso wie Ešmun für das von Tyros abhängige Sidon) allein die Sorge für die Unversehrtheit des Territoriums und das Wohlergehen der Bewohner obliegt – sofern diese nicht vertragsbrüchig werden. Dass die Stadtgottheit gleichwohl auch außerhalb des Mutterlandes weitreichende Kompetenzen besaß, entnehmen wir einer Stelle bei Diodor, der zufolge die Karthager sich in dem Krieg gegen Agathokles nach herben Rückschlägen im eigenen Land auf eine Intensivierung ihres Verhältnisses zu den Göttern besannen: „In dem Glauben, es sei insbesondere Herakles, der Patron der Kolonisten, der ihnen zürne, schickten sie eine Menge Geld und nicht wenige der kostbarsten Weihgeschenke nach Tyros. (2) Als Kolonisten aus dieser Stadt nämlich waren sie in früheren Zeiten gewohnt gewesen, dem Gott von allem den Zehnten zu schicken, was ihnen als Einnahme zugefallen war. Später aller-

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U. a. Barré 1983, 86 nimmt dagegen die Gräzisierung eines phönizischen Theonyms aus mlḥ – „Seemann“ – zu Meilichios an, von dem sich allerdings kaum eine akkadische Form Malage ableiten lässt: vgl. Bunnens 1986, 120–121; skeptisch auch Brody 1998, 12–13. 24 Anders Hvidberg-Hansen 1973, der – gestützt auf eine im Babylonischen, Ugaritischen, Aramäischen, Syrischen und Arabischen belegte Wurzel *mlg – Baᶜal Malage für die Vegetationsgottheit Dagon hält (ablehnend Teixidor 1974, 309 Nr. 56; Bonnet 1988, 40 mit Anm. 64). 25 Bonnet 1988, 399–415; Malkin 2005; Zimmermann 2015, 35. 26 SAA II 5 col. IV 14ʼ–e.17ʼ: dmi-il-qar-tu dia-su-mu-nu KUR-ku-nu a-na ha-p[e!]-┌e!┐ | UN.MEŠ-ku-nu a-na šá-la-li li-di-nu TA* KUR-ku-nu [lis-su-h]u!-┌ku!-nu!┐ | ŠUKU.MEŠ ina pi-i-ku-nu ku-zip-pi! ina la-ni-ku-nu [0?] | Ì.MEŠ ina pa-šá-ši-ku-nu lu-hal-li-qu [0]. 27 Bonnet 1988, 42.

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dings, als sie großen Reichtum erworben hatten und immer noch mehr Gewinn machten, da sandten sie nur noch ganz wenig und vernachlässigten die Gottheit.“28

Als Hauptgrund für ihren Misserfolg sahen die Karthager die Verstimmung des in der Vergangenheit vernachlässigten Melqart an, der als ὁ παρὰ τοῖς ἀποίκοις bezeichnet wird. Deutlich kommt hier zum Ausdruck, dass es sich um mehr als schlicht und einfach den Stadtgott der Mutterstadt Tyros handelt, sondern um den besonderen Patron der Kolonisten. In dieselbe Richtung weist die Bemerkung, man habe in der Vergangenheit allein diesem Gott von allem den Zehnten geschickt. Diese Bevorzugung gegenüber den übrigen tyrischen Göttern ist nur verständlich, wenn Melqart im Prozess der Kolonisation eine besondere Rolle gespielt hat. Wir erkennen also – wenn Diodor recht informiert ist – zwar keinen Gott der Seefahrt Melqart, aber doch einen besonderen Schutzgott derer, die fern der alten Heimat eine neue Existenz aufgebaut haben (und auch einen Gott, der von deren Aktivitäten im Westen in besonderer Weise profitiert). Wenn wir die Wendung ὁ παρὰ τοῖς ἀποίκοις in ihrer Unbestimmtheit ernstnehmen, galt dies nicht nur für Karthago.29 Dass Melqart und seinem Personal – jedenfalls in den von Diodor genannten früheren Zeiten intensiverer Verbindungen – aus dieser Funktion nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Bedeutung zuwuchs, ist zwar kaum konkret zu belegen, doch angesichts der weiten Verbreitung des Kultes im westlichen Mittelmeer alles andere als unwahrscheinlich.30 Ein notorisches Problem bei unserer Umschau nach den „Göttern der Seefahrer“ besteht darin, hinter dem Poseidon in griechischen Darstellungen phönizischer Aktivitäten die jeweils gemeinte phönizische Gottheit zu identifizieren.31 Wenn Werner Huß Passagen bei Hanno, Polybios und Diodor als ausreichende Evidenz dafür anführt, „daß Poseidon zum karthagischen Pantheon zu rechnen ist“,32 so bleibt doch die entscheidende Frage nach dem möglicherweise von Fall

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Diod. 20, 14, 1–2: … καὶ νομίσαντες (sc. οἱ Καρχηδόνιοι) μάλιστα μηνίειν αὐτοῖς τὸν Ἡρακλέα τὸν παρὰ τοῖς ἀποίκοις, χρημάτων πλῆθος καὶ τῶν πολυτελεστάτων ἀναθημάτων ἔπεμψαν εἰς τὴν Τύρον οὐκ ὀλίγα. ἀποικισθέντες γὰρ ἐκ ταύτης εἰώθεισαν ἐν τοῖς ἔμπροσθεν χρόνοις δεκάτην ἀποστέλλειν τῷ θεῷ πάντων τῶν εἰς πρόσοδον πιπτόντων· ὕστερον δὲ μεγάλους κτησάμενοι πλούτους καὶ προσόδους ἀξιολογωτέρας λαμβάνοντες μικρὰ παντελῶς ἀπέστελλον, ὀλιγωροῦντες τοῦ δαιμονίου. 29 Vgl. im übrigen LSJ 200 s. v. ἄποικος mit Belegen, dass ἄποικος nicht nur Personen, sondern auch Städte bezeichnen kann. 30 Bunnens 1979, 285; Bunnens 1986, 121–122. 31 Unberücksichtigt kann hier der einheimische (?) Poseidon bleiben, den nach Hdt. 2, 50, 2–3 als erste die Libyer verehrten und dessen Beziehung zu den karthagischen Meeresgottheiten wie zu dem im römischen Nordafrika verbreiteten Neptun völlig unklar ist; vgl. Fantar 1977, 31–32; Lipiński 1995, 119–120 und 390–393. 32 Huß 1985, 518.

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zu Fall wechselnden phönizischen Äquivalent dieses „Poseidon“ offen; hypothetische Identifikationen mit Baᶜal Ṣaphon oder Baᶜal Roš33 kranken schon an der grundsätzlichen Wesensverschiedenheit olympischer und semitischer Götter, deren Gleichsetzung notwendigerweise nur Teilaspekte erfasst.34 Werfen wir daher im Folgenden einen gesonderten Blick auf einige der Poseidones in der griechischen Literatur. Das Kolonisationsunternehmen, das einen Karthager namens Hanno im 6. oder 5. Jh. v. Chr. an die afrikanische Atlantikküste führte, begann mit einer Gründung, die im eigentlichen Sinne keine war: „Als wir aber auf die hohe See gelangt waren, passierten wir die Säulen, segelten draußen zwei Tage weiter und gründeten eine erste Stadt, die wir Thymiaterion nannten; sie beherrschte eine weite Ebene. (3) Sodann segelten wir nach Westen und trafen auf das mit Bäumen bestandene libysche Vorgebirge Soloeis. (4) Wir errichteten dort ein Heiligtum des Poseidon, gingen wieder an Bord und nahmen Kurs nach Süden ...“35

Zwei Angaben zwingen uns zu der Annahme, dass es sich bei dem Thymiaterion des Berichts36 um eine Siedlung anstelle des heutigen Tanger handelt, dessen Berbername Tangi/Tingi zu der römischen Form Tingis wurde: erstens die Entfernung von zwei Tagereisen zur Meerenge von Gibraltar in Verbindung mit dem Hinweis auf eine weite Ebene, dazu die Tatsache, dass die halbkreisförmige, etwa 7 km lange Bucht von Tanger in diesem Küstenabschnitt den einzigen brauchbaren Hafen bietet, und zweitens die Angabe (§ 3–4), dass von dem westlich von Thymiaterion gelegenen Vorgebirge Soloeis aus die weitere Fahrt nach Süden ging. Zwar sind Himmelsrichtungsangaben in antiken Texten grundsätzlich nicht auf die Goldwaage zu legen,37 aber dass der Verfasser überhaupt eine Richtungsangabe macht, spricht für eine signifikante Kursänderung, die westlich von Gibraltar nur an dieser Stelle erfolgt sein kann.38 Funde aus den Nekropolen in der Umgebung der modernen Stadt belegen eine phönizische Präsenz seit dem 8./7. Jh. v. Chr.; was Hanno in Karthago als „Grün33

Huß 1985, 522 (mit der Literatur); zu letzterer Gottheit Fantar 1977, 120–124; Brody 1998, 21–22. 34 Ein entsprechendes caveat äußert Huß 1985, 521 selbst. 35 Hann. peripl. 2–4 (GGM I 1–3): ὡς δ᾽ ἀναχθέντες τὰς Στήλας παρημείψαμεν καὶ ἔξω πλοῦν δυοῖν ἡμερῶν ἐπλεύσαμεν, ἐκτίσαμεν πρώτην πόλιν, ἥντινα ὠνομάσαμεν Θυμιατήριον· πεδίον δ᾽ αὐτῇ μέγα ὑπῆν. (3) κἄπειτα πρὸς ἑσπέραν ἀναχθέντες ἐπὶ Σολόεντα, Λιβυκὸν ἀκρωτήριον λάσιον δένδρεσι, συνήλθομεν· (4) ἔνθα Ποσειδῶνος ἱερὸν ἱδρυσάμενοι πάλιν ἐπέβημεν πρὸς ἥλιον … 36 Vgl. Steph. Byz. s. v.: Θυμιατηρία, πόλις Λιβύης; dazu Lipiński 2004, 426–427. 37 Zimmermann 1999, 113 mit Anm. 454 und 117 mit Anm. 472; Zimmermann 2007, 45; zuletzt Arnaud 2014, bes. 47–65. 38 Anders Huß 1985, 79, der Thymiaterion mit Mehdiya identifiziert.

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dung“ meldet, war also formal bestenfalls eine Neugründung, faktisch jedenfalls eine Übernahme karthagischer Kontrolle über die phönizische Kolonie.39 Dasselbe gilt für das markante Cap Spartel/Soloeis, auf dem sich jedenfalls seit der phönizischen Besiedlung eine Kultstätte befand. Wenn Hanno hierzu schreibt ἔνθα Ποσειδῶνος ἱερὸν ἱδρυσάμενοι, dann wird man sich hinter dieser Formulierung in erster Linie eine Kulthandlung, vielleicht ein paar Verschönerungsmaßnahmen vorzustellen haben. Der eigentliche Sinn des Unternehmens, das für Hanno und seine Begleiter einen Aufstieg von zwei bis drei Stunden bedeutete, bestand nach Edward Lipiński in einer Wallfahrt: „a pilgrimage the purpose of which was to sacrifice there to Poseidon“.40 Wer aber war dieser Poseidon? Etwas mehr Information zu der Kultstätte bietet ein anonymer Periplus des 4. Jh.s v. Chr., der fälschlich dem Skylax von Karyanda zugeschrieben wurde und älteres Material aus unterschiedlichen Quellen kompiliert. In der Beschreibung der libyschen (im Sinne von afrikanischen) 41 Küste nennt Pseudo-Skylax: „ ... ein(en) Fluß Krabis und ein(en) Hafen und eine Stadt der Phoiniker mit Namen Thymiateria. Von Thymiateria (gelangt man) zum Vorgebirge Soloeis, das markant ins Meer ragt. Diese gesamte Gegend Libyens ist ausgesprochen berühmt und heilig. Auf der Spitze des Kaps steht ein großer Altar der Sühne Poseidons. Auf dem Altar sind menschliche Gestalten, Löwen und Delphine abgebildet: Es heißt, Daidalos habe ihn geschaffen.“42

Dass das Thymiateria bei Pseudo-Skylax mit dem Thymiaterion bei Hanno identisch ist, können wir getrost annehmen; beide Texte beschreiben westlich davon dieselbe prominente Landmarke, auf der die Phönizier einen „Poseidon“ verehrten. Und die Verzierung des Altars dieses phönizischen Poseidons unter anderem mit Delphinen weist in der Tat auf die See als eines seiner Ressorts hin. Einen entscheidenden Hinweis auf die Identität der Gottheit verdanken wir dem epigraphischen Befund des frühen 3. Jh.s v. Chr. aus dem zyprischen Lapethos, wo der archiereus und die Priester des Poseidon Narnakios einen gewissen Numenios aufgrund früherer und aktueller Großzügigkeit mit einer Statue und ihn 39

Lipiński 2004, 445–446. Lipiński 2004, 447. 41 Vgl. Zimmermann 1999, 64 mit Anm. 225. 42 [Skyl.] peripl. 112 (GGM I 93): … Κράβις ποταμὸς καὶ λιμὴν καὶ πόλις Φοινίκων Θυμιατηρία ὄνομα. ἀπὸ Θυμιατηρίας εἰς Σολόεντα ἄκραν, ἣ ἀνέχει μάλιστα εἰς τὸν πόντον. τῆς δὲ Λιβύης πᾶσα αὕτη ἡ χώρα ὀνομαστοτάτη καὶ ἱερωτάτη. ἐπὶ δὲ τῷ ἀκρωτηρίῳ τῆς ἄκρας ἔπεστι βωμὸς μέγας ποινής Ποσειδῶνος. ἐν δὲ τῷ βωμῷ εἰσὶ γεγραμμένοι ἀνδριάντες, λέοντες, δελφῖνες· Δαίδαλον δέ φασι ποιῆσαι. Infolge eines Überlieferungsfehlers ist die Passage in die Beschreibung der Atlantikküste (μετὰ δὲ Λίξον …) geraten, während sie ursprünglich vor die Beschreibung von Gades in § 111 gehört (Lipiński 2004, 337 mit der Textkorrektur 342–343). 40

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sowie seine Nachkommen für alle Zeit mit der Befreiung von Opferabgaben geehrt haben.43 Die Prominenz des Wohltäters wie die Bedeutung des Heiligtums legen dessen Identifikation mit dem Tempel des Melqart, in dem sich etwa zur gleichen Zeit der ptolemäische Beamte Yatonbaᶜal mit einer Statue verewigt hat,44 zwingend nahe: „By the Greeks Melqart was honoured in Larnaca as Poseidon Narnakios. Both Melqart and Poseidon were gods of navigation.“ 45 Und dass Melqart in dieser Funktion auch ohne weiteres mit einem Delphin assoziiert werden konnte, zeigt eine Reihe tyrischer Silberprägungen des 4. und frühen 3. Jh.s v. Chr.,46 auf deren Avers eine mit einem Bogen bewaffnete, bärtige Gestalt auf einem geflügelten Hippokamp übers Meer reitet, das durch einen Wellenkamm und einen Delphin dargestellt ist. Die Rückseite präsentiert mit einer Eule, einem Krummstab und einem Dreschflegel aus Ägypten wohlbekannte Symbole der Königsherrschaft, die – so Lipiński – auf milk qart, „the king of the city“, anspielen und den Reiter auf der Vorderseite als Melqart identifizieren. Zählen wir nun gleichsam ‚eins und eins‘ zusammen – die interpretatio graeca Melqarts als Poseidon auf Zypern, den Delphin als Begleiter Melqarts in der phönizischen Münzikonographie, schließlich die Generalzuständigkeit des Melqart für die Kolonisten nach Diodor (den Ἡρακλῆς τὸν παρὰ τοῖς ἀποίκοις, dessen Vernachlässigung den Karthagern die Invasion des Agathokles beschert hatte) 47 –, dann spricht einiges dafür, dass es Melqart war, der auf dem delphinverzierten Altar Poseidons am exponierten Kap Soloeis, gegenüber seinem Heiligtum in Gades, die Opfer der Atlantikfahrer an der afrikanischen Küste entgegennahm,48 was dem

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LBW 2779 Z. 7–10: ἔδοξεν Πραξιδήμ[ῳ] τῷ ἀρχιερεῖ καὶ τοῖς ἱερεῦσι | τοῦ Ποσειδ[ῶ]νος τοῦ Ναρν[α]κίου δοῦναι | Νουμηνίῳ καὶ ἐγγόνοις [ὅτ]αν θύωσιν | ἀτέλε[ιαν] τῶν ἱερῶν εἰς τὸ ἅπαντα χρόνον; zur Korrektur von Λαρν[α]κίου zu Ναρν[α]κίου (Z. 8) Masson 1977, 327 mit Anm. 75; zur ἀτέλεια τῶν ἱερῶν vgl. Dem. or. 20, 127–129; vermutlich um den Sohn des Geehrten handelt es sich bei dem strategos Heragoras, Sohn des Numenios LBW 2780. 44 KAI 43 Z. 2–3: hsml z mš ᵓnk Ytnbᶜl rb ᵓrṣ … | … ᵓš yṭnᵓt ly ᵓbmqdš mlqrt; zum Verständnis von Z. 2 Xella 2001, 26; zu dem mit rb ᵓrṣ („Großer des Landes“) wiedergegebenen Amt (toparches oder hyparchos) Huß 2011, 156. 45 Parmentier 1987, 405 Anm. 18; ähnlich Greenfield 1987, 397. 46 BMC Phoenicia, cxxvi–cxxix und 229–232 Nr. 11–22. 25–42 mit Taf. XXVIII 16–17; XXIX 1–6. 8–16; XLIV 2–3; dazu Fantar 1977, 30–31; Lipiński 2004, 428. 47 Diod. 20, 14, 1 (s. o. Anm. 28). 48 Dass Melqart in dieser Funktion auch der Adressat von Opfern karthagischer Feldherren an Poseidon in den Jahren 480 (Diod. 11, 21, 4) und 406 v. Chr. (Diod. 13, 86, 3) war, ist zumindest nicht unwahrscheinlich. Brody 1998, 23–26 und 33–38 unterscheidet dagegen grundsätzlich zwischen dem phönizischen „Poseidon“, „the god riding on a winged seahorse“ und „Milqart, a different type of nautical guardian“.

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Ort zugleich die Verehrung als Schauplatz des Heraklessieges gegen Antaios eingetragen zu haben scheint.49 Jedenfalls dürfen wir uns nicht daran stören, dass der Übersetzer von Hannos Bericht ebenso wie Pseudo-Skylax von Poseidon statt von Herakles spricht, mit dem Melqart seit dem 5. Jh. v. Chr. üblicherweise geglichen wurde:50 Antiker Synkretismus folgt nicht der Konsequenz, die der moderne Forscher sich bisweilen wünscht. Der antike Betrachter sieht in der Gottheit des fremden Systems nicht die Person, die nur ein Äquivalent im eigenen System zulässt, sondern die Funktion, für die auch das eigene Pantheon mitunter mehrere Spezialisten aufweist. Die Polyvalenz Melqarts (Herakles und Poseidon) ist vor diesem Hintergrund ebenso plausibel wie die Suche nach nur einem phönizischen „Poseidon“51 verfehlt. Mit welcher Diversität wir vielmehr zu rechnen haben, zeigt der epigraphische Befund aus Delos, wo diverse landsmannschaftlich organisierte Berufs- und Kultgenossenschaften unter anderem von Phöniziern bezeugt sind: Wenn der Geldwechsler Philostratos, Sohn des Philostratos, aus Askalon dem Poseidon Askalonites um die Wende vom 2. zum 1. Jh. v. Chr. einen Altar geweiht hat52 und der Verein der Poseidoniasten aus Berytos etwa zu gleicher Zeit ein Heiligtum der θεοὶ πάτριοι unterhielt,53 so kannte man offenbar auch in diesen beiden Städten eine Gottheit, deren Eigenschaften einem in der griechischen Fremde lebenden Gläubigen die Gleichung mit Poseidon nahelegten. Wer aber verbirgt sich hinter dem Poseidon, bei dessen jährlichem Opferfest die tyrischen Herakleisten auf Delos ihren Priester Patron, Sohn des Dorotheos, künftig für dessen erfolgreiches Bemühen um die Einrichtung eines Kultbezirks des ἀρχηγὸς τῆς πατρίδος Herakles zu ehren beschlossen?54 Haben wir aufgrund der verschiedenen Namen mit 49

So Lipiński 2004, 427–430. Hdt. 2, 44; vgl. Bonnet 1988, 47–77; zuletzt Lee 2015, 17. 51 So etwa Fantar 1977, dessen erklärte Absicht, „le dieu de la mer“ bzw. „cette divinité marine“ zu identifizieren, schon im Vorwort zum Ausdruck kommt (5–6). 52 I. Délos 1720–1721 (ca. 100 v. Chr.): Φιλόστρατος Φιλοστράτου | Ἀσκαλωνίτης τραπεζιτεύων | ἐν Δήλῳ ὑπὲρ τῆς Ἀσκαλωνι|τῶν πόλεως καὶ γυ|ναικὸς καὶ τέκνων, | Ποσειδῶνι Ἀσκαλωνίτῃ; vgl. Bruneau 1970, 266. 53 I. Délos 1774 Z. 1–2: τὸ κοινὸν Βηρυτίων Ποσειδωνιαστῶν ἐμπόρων καὶ ναυκλήρων καὶ ἐγδοχέων | τὸν οἶκον καὶ τὴν στοὰν καὶ τὰ χρηστήρια θεοῖς πατρίοις ἀνέθηκεν; ausführlich zu dieser Institution Bruneau 1970, 622–630; Bruneau 1978; zum architektonischen Befund Trümper 2002; zu Poseidon als Stadtgottheit von Beirut Lipiński 1995, 116– 120, hier 119: „On ignore malheureusement quel était son nom phénicien …“ 54 I. Délos 1519 (154/53 v. Chr.) Z. 11–16: … παρεκάλεσεν (sc. Πάτρων Δωροθέου) τὸ | κοινὸν ἐξαποστεῖλαι πρεσβείαν πρὸς τὸν δῆμον τὸν Ἀθη|ναίων ὅπως δοθῇ αὐτοῖς τόπος ἐν ὧι κατασκευάσουσιν τέ|μενος Ἡρακλέους τοῦ πλείστων [ἀγαθ]ῶν παραιτίου γ[ε]|γονότος τοῖς ἀνθρώποις, ἀρχηγοῦ δὲ τῆς πατρίδος ὑπά[ρ]|χοντος; 35–41: δεδόχθαι τῶι κοινῶι τῶν Τυρίων Ἡρακλειστῶν | ἐμπόρων καὶ ναυκλήρων ἐπαινέσαι Πάτρωνα 50

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Philippe Bruneau in ihm eine andere tyrische Gottheit als den Stadtherrn Herakles Melqart zu sehen?55 Oder ließen unterschiedliche Facetten des Melqart von Tyros selbst innerhalb ein und desselben Kontextes seine Identifikation mit Herakles als Gildenpatron wie mit Poseidon als Empfänger eines spezifischen Opfers zu? Die verschiedentlich festgestellte Nähe zwischen Melqart und Poseidon spricht ebenso für letztere Deutung wie die Unwahrscheinlichkeit, dass die Herakleisten als Bühne für die Ehrung des Initiators von Heiligtum und Kult das Fest einer anderen als der Hauptgottheit gewählt hätten. Ob die Annäherung des Herakles der tyrischen Herakleisten an Poseidon unter dem Einfluss der Poseidoniasten aus Berytos erfolgte, ob sie gar auf eine Fusion beider Vereine vorausweist,56 muss Spekulation bleiben. Festzuhalten bleibt indessen, dass wir uns bei dem Verzicht auf exklusive Göttergleichungen zur Konsequenz zwingen müssen: Nicht einmal ein Opfer phönizischer Herakleisten für Poseidon stellt, wie es scheint, eine methodisch tragfähige Grundlage dar, auf zwei verschiedene phönizische Gottheiten zu schließen. Übertragen wir diese Erkenntnis zuletzt auf die bei Polybios überlieferte Liste der Schwurgottheiten zu Beginn des Vertrages zwischen Hannibal und König Philipp V. von Makedonien aus dem Jahr 215 v. Chr.:57 In mehreren Triaden erscheinen die karthagischen Götter in griechischer Übersetzung; um ihre Identifikation ringt die Forschung bis heute. Dass es sich bei dem Herakles der zweiten Trias im vorliegenden historischen Kontext58 um Melqart handelt, der zudem als Patron der Mutterstadt Tyros neben dem Genius von Karthago passend platziert ist, darf als communis opinio bezeichnet werden.59 Die Annahme, dass mit dem an dritter Stelle der dritten Trias genannten Poseidon infolgedessen nicht Melqart gemeint sein kann, auf der alle Deutungsversuche dieser Trias implizit beruhen, Δω|ροθέου καὶ στεφανῶσαι αὐτὸν κατ᾽ ἐνιαυτὸν χρυ|σῶι στεφάνωι ἐν ταῖς συντε[λου]μέναις θυσίαις | τῶι Ποσειδῶνι ἀρετῆς ἕνεκεν καὶ καλοκαγαθί|ας ἧς ἔχων διατελεῖ εἰς τὸ κοινὸν τῶν Τυρί|ων ἐμπόρων καὶ ναυκλήρων. 55 Bruneau 1970, 266 („Poseidon de Tyr“) und 622. 56 Die Diskussion bei Bruneau 1970, 626. Gerade das von Bruneau gegen einen solchen Zusammenschluss angeführte Argument des Fehlens von Herakles unter den θεοὶ πάτριοι der Poseidoniasten entfällt allerdings, wenn es sich bei dem Herakles der Herakleisten und dem Poseidon der Poseidoniasten um ein und dieselbe phönizische Gottheit handelt. 57 Polyb. 7, 9, 2–3: ἐναντίον Διὸς καὶ Ἥρας καὶ Ἀπόλλωνος, ἐναντίον δαίμονος Καρχηδονίων καὶ Ἡρακλέους καὶ Ἰολάου, ἐναντίον Ἄρεως, Τρίτωνος, Ποσειδῶνος, ἐναντίον θεῶν τῶν συστρατευομένων καὶ Ἡλίου καὶ Σελήνης καὶ Γῆς, ἐναντίον ποταμῶν καὶ λιμένων καὶ ὑδάτων, (3) ἐναντίον πάντων θεῶν ὅσοι κατέχουσι Καρχηδόνα, ἐναντίον θεῶν πάντων ὅσοι Μακεδονίαν καὶ τὴν ἄλλην Ἑλλάδα κατέχουσιν, ἐναντίον θεῶν πάντων τῶν κατὰ στρατείαν, ὅσοι τινὲς ἐφεστήκασιν ἐπὶ τοῦδε τοῦ ὅρκου. 58 Zu Herakles/Melqart-Bezügen in Hannibals Selbstdarstellung zuletzt Zimmermann 2015. 59 Vgl. Walbank 1967, 48 Komm. 7, 9, 2; zuletzt Lee 2015, 17.

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erscheint jedoch angesichts der festgestellten Mehrgesichtigkeit dieses Gottes nicht zwingend. Anstatt aufs Geratewohl an einen der drei Baᶜalim, vielleicht Baᶜal Ṣaphon,60 aus dem Vertrag mit Asarhaddon zu denken, mag es näherliegen, mit jenem zweiten Aspekt Melqarts zu rechnen, der ihm – ebenso wie dem Hauptgott von Beirut – regelmäßig die Identität des griechischen Poseidon verlieh. Bemerkenswert ist immerhin, dass mit Triton noch eine zweite Meeresgottheit angerufen wird,61 was in Verbindung mit der göttlichen Personifikation der Häfen am Ende von § 2 eine gewisse Prädominanz des maritimen Elements im karthagischen Götterhimmel zum Ausdruck bringt und insofern für unsere Gesamtfragestellung nicht ohne Bedeutung ist. Insgesamt lässt sich jedoch am Ende der Umschau nach spezifischen Meeresund Seefahrergöttern im phönizischen Pantheon eine auffällige Negativbilanz ziehen, die Corinne Bonnet jüngst wie folgt formuliert hat: „Man muss noch die schwierige Frage der Existenz oder Nicht-Existenz eines phönizischen oder punischen Gottes des Meeres aufwerfen, eines Gottes, der vergleichbar wäre mit Yammu im ugaritischen Bereich. Es steht außerhalb jeglichen Zweifels, dass dieser Bereich einer besonderen Aufmerksamkeit der Völker, die uns hier interessieren, unterlag. Man hat aber eher den Eindruck, dass die Kontrolle des Meeres ein Aspekt der Vorrechte unterschiedlicher männlicher und weiblicher Gottheiten war. So etwa des Baᶜal Ṣaphon, des Melqart, des Baᶜal Malage, der Aštarte, der Isis usw.“62

Beim Versuch, diesen Befund zu erklären, müssen wir uns notwendigerweise auf das Feld der Hypothesen begeben. Wenn die Phönizier, die doch erwiesenermaßen beträchtliche Aktivitäten zur See entfaltet haben, entgegen unserer Erwartung kein Bedürfnis entwickelten, das Wohlergehen dieser Aktivitäten in die Hände eines Spezialisten zu legen, so ist vielleicht unsere Frage falsch gestellt, unsere Erwartungshaltung verfehlt: Unsere Gewährsleute, vor allem die Griechen, sahen die Phönizier aus der Fremdperspektive, kannten sie überwiegend aus ihren eigenen Häfen und von ihren Märkten. Das Stereotyp des Seefahrer- und Händlervolkes, allgegenwärtig seit dem homerischen Epos,63 ist wesentlich dieser perspektivischen Verzerrung geschuldet,64 prägt indessen unsere Wahrnehmung bis heute. Dass der Phönizier selbst sich als Repräsentant eines „Seefahrervolkes“ definierte, steht dagegen keineswegs fest. Er verfolgte seine Interessen in der Heimat 60

Lee 2015, 22 (mit Hinweis auf den hypothetischen Charakter aller bisherigen Vorschläge). 61 Einen Kult des Triton kennen wir aus Arados (Bonnet/Niehr 2010, 76); zu dessen Interpretation als Kusor Lee 2015, 22. 62 Bonnet/Niehr 2010, 76; eine Absorption der Funktion des ugaritischen Meeresgottes Yammu durch die phönizischen Stadtgottheiten vermutet Storm 2001, 151. 63 Hom. Od. 13, 272–286; 14, 287–309; 15, 415–475. 64 Ameling 1993, 274 mit Anm. 193.

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wie in Übersee, sah gegebenenfalls in einer Reise oder Flottenoperation ein notwendiges Mittel zum Zweck;65 ob ihm dabei sein persönlicher Schutzgott oder der tyrische Melqart oder ein gnädiger Baᶜal des Wetters beistand, mag für ihn eine Frage individueller Frömmigkeit gewesen sein – während wir, ausgehend vom Axiom einer ganz besonders ausgeprägten Seefahrernatur der Phönizier, nach deren unverwechselbarem Niederschlag in Religion und Religiosität fahnden. Geben wir uns mit dem Befund einer fehlenden göttlichen Gesamtverantwortung für Meer und Seefahrt vorerst zufrieden und nähern wir uns dem Thema noch einmal von der anderen Seite an, indem wir „heilige Orte“ der Phönizier und Punier und deren Aussagekraft für eine spezifische „Religion der Seefahrer“ unter die Lupe nehmen. II. Heilige Orte der Seefahrer Auf den ersten Blick banal erscheint eine Beobachtung Aaron J. Brodys, die jedoch für unsere Fragestellung von wesentlicher Bedeutung ist: Eindeutige Hinweise auf Kult mit Bezug auf See und Seefahrt wie Ankersteine, Schiffsmodelle und ähnliche Votivgaben stammen ausschließlich aus Tempeln in Küstenstädten, fehlen dagegen in zeitgleichen Heiligtümern des Binnenlandes völlig.66 Mit anderen Worten: die spezifische Verehrung göttlicher Begleiter auf See ist kein Phänomen der kanaanäisch-phönizischen Religion, sondern einer mehr oder weniger abgeschlossenen Gruppe, die aufgrund ihrer Aktivitäten zur See67 auf deren Beistand in besonderer Weise angewiesen war. Das Fehlen einer dominanten, exklusiven Meeresgottheit im phönizischen Pantheon, die Tatsache, dass vielmehr Wetter- oder Stadtgottheiten die betreffende Funktion neben anderen zufällt, kann vor diesem Hintergrund kaum überraschen. Wenden wir uns dagegen den Quellen zur phönizischen Kolonisation zu, so frappiert auf Anhieb die Tendenz, mit der ersten Niederlassung sogleich den Bau eines Tempels zu verbinden – sofern nicht überhaupt nur der Tempel erwähnt

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Dass das Heck der karthagischen Kriegsschiffe im Zweiten Punischen Krieg keine Meeresgottheit, sondern der gehörnte libysche Ammon zierte (Sil. 14, 436–439: ferus inde citatum / missile adorata contorquet Sabratha puppe – / Hammon numen erat Libycae gentile carinae / cornigeraque sedens spectabat caerula fronte; dazu Brody 1998, 20), könnte man für symptomatisch halten, sofern man dem Detail der späten Quelle Vertrauen schenkt. 66 So Brody 1998, 61 im summary am Ende seines Kapitels über „Seaside Temples and Shrines“ (39–61). 67 Zu Vorstellungen von göttlicher Präsenz während der Seereise selbst Brody 1998, 63– 72 („Sacred Space Aboard Ship“) und 73–85 („Religious Ceremonies Performed by Levantine Sailors“).

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ist.68 Zu den ersten Maßnahmen der Kolonisten von Gades gehörte der Bau des repräsentativen Heraklestempels und die Einrichtung des Kultbetriebs; 69 die Gründung von Utica wird von Plinius mit dem Baubeginn des Apollontempels gleichgesetzt;70 für Paphos und Kythera besteht Herodots einzige Angabe zu phönizischer Präsenz in der Erwähnung von Aphroditetempeln;71 in Thasos hätten Phönizier auf der Suche nach Europa ein Heraklesheiligtum gegründet, das Herodot selbst besucht hat;72 auf Rhodos ist es wieder ein Heiligtum des Poseidon, das Kadmos aus Dankbarkeit für Rettung aus Seenot errichtet haben soll,73 und in Memphis wohnen Tyrier um ein Heiligtum, das Herodot der „fremden Aphrodite“ zuschreibt, in der wir wohl Aštarte zu sehen haben.74 Der kritischen Überprüfung bedarf indessen die Frage, inwieweit den genannten Zeugnissen tatsächlich Spezifika phönizischer Expansion zu entnehmen sind: Hinweise griechischer Autoren auf Tempelbau durch die ersten phönizischen Siedler stimmen bemerkenswert mit dem Ablauf eines griechischen Kolonisationsunternehmens überein;75 der Dank des Kadmos für seine Errettung auf See folgt einem verbreiteten griechischen Motiv.76 Ob die griechische Überlieferung den Phöniziern hier schlicht Analogie zu eigenen Praktiken unterstellte oder ob ihr im Kern authentische Nachrichten von phönizischen Aktivitäten zugrunde la-

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So Bunnens 1979, 282 (mit den im Folgenden genannten Beispielen). Diod. 5, 20, 2: καὶ πρῶτον μὲν ἐπ᾽ αὐτοῦ τοῦ κατὰ τὰς στήλας πόρου πόλιν ἔκτισαν (sc. οἱ Φοίνικες) ἐπὶ τῆς Εὐρώπης, ἣν οὖσαν χερρόνησον προσηγόρευσαν Γάδειρα, ἐν ᾗ τά τε ἄλλα κατεσκεύασαν οἰκείως τοῖς τόποις καὶ ναὸν Ἡρακλέους πολυτελῆ, καὶ θυσίας κατέδειξαν μεγαλοπρεπεῖς τοῖς τῶν Φοινίκων ἔθεσι διοικουμένας. 70 Plin. nat. 16, 216: memorabile et Uticae templum Apollinis, ubi cedro Numidica trabes durant ita, ut positae fuere prima urbis eius origine annis MCLXXVIII … 71 Hdt. 1, 105, 3: ἔστι δὲ τοῦτο τὸ ἱρόν (sc. τῆς ἐν Ἀσκάλωνι πόλι οὐρανίης Ἀφροδίτης), ὡς ἐγὼ πυνθανόμενος εὑρίσκω, πάντων ἀρχαιότατον ἱρῶν, ὅσα ταύτης τῆς θεοῦ· καὶ γὰρ τὸ ἐν Κύπρῳ ἱρὸν ἐνθεῦτεν ἐγένετο, ὡς αὐτοὶ Κύπριοι λέγουσι, καὶ τὸ ἐν Κυθήροισι Φοίνικές εἰσι οἱ ἱδρυσάμενοι ἐκ ταύτης τῆς Συρίης ἐόντες. 72 Hdt. 2, 44, 4: ἀπικόμην δὲ καὶ ἐς Θάσον, ἐν τῇ εὗρον ἱρὸν Ἡρακλέος ὑπὸ Φοινίκων ἱδρυμένον, οἳ κατ᾽ Εὐρώπης ζήτησιν ἐκπλώσαντες Θάσον ἔκτισαν … 73 Diod. 5, 58, 2: μικρὸν δ᾽ ὕστερον τούτων τῶν χρόνων Κάδμος ὁ Ἀγήνορος, ἀπεσταλμένος ὑπὸ τοῦ βασιλέως κατὰ ζήτησιν τῆς Εὐρώπης, κατέπλευσεν εἰς τὴν Ῥοδίαν· κεχειμασμένος δ᾽ ἰσχυρῶς κατὰ τὸν πλοῦν καὶ πεποιημένος εὐχὰς ἱδρύσασθαι Ποσειδῶνος ἱερόν, διασωθεὶς ἱδρύσατο κατὰ τὴν νῆσον τοῦ θεοῦ τούτου τέμενος καὶ τῶν Φοινίκων ἀπέλιπέ τινας τοὺς ἐπιμελησομένους. 74 Hdt. 2, 112, 2: περιοικέουσι δὲ τὸ τέμενος τοῦτο (sc. τοῦ Πρωτέος) Φοίνικες Τύριοι, καλέεται δ᾽ ὁ χῶρος οὗτος ὁ συνάπας Τυρίων στρατόπεδον. ἔστι δὲ ἐν τῷ τεμένεϊ τοῦ Πρωτέος ἱρόν, τὸ καλέεται ξείνης Ἀφροδίτης; zur Identifikation mit Aštarte Lloyd 1988, 45 Komm. 2, 112; Müller 2000, 10–11. 75 Vgl. etwa Malkin 1987, 135–186 („Sanctuaries for the Gods“). 76 Mit weiteren Belegen Brody 1998, 48. 69

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gen, die sich – à la grecque erzählt – von jenen griechischer Seefahrer und Kolonisten kaum unterschieden, ist oft nicht ohne weiteres zu klären. Jedenfalls eignen sich derartige Notizen nur bedingt als Grundlage, um ein besonderes Profil phönizischer Seefahrerheiligtümer zu rekonstruieren. Inspiriert von dem Tempelbau auf Kap Soloeis im Bericht Hannos wie von antiken und nachantiken Parallelen formulierte Pierre Cintas die These, es handele sich bei frühen Heiligtümern in Hafennähe jeweils um den Ort, an dem die gelandeten Phönizier ihr erstes Opfer dargebracht hatten77 – was per se weder unwahrscheinlich noch zu beweisen ist. An die Funktion von Asylorten denkt – ausgehend von Herodots Ausführungen zur memphitischen „fremden Aphrodite“78 – René Rebuffat: Wurde man als Schiffbrüchiger an eine fremde Küste verschlagen, so hatte man in der Regel nach wenigen Tagen Aufenthaltsrecht für die Reparatur der Schäden das Land wieder zu verlassen, wofür zum einen der Paris-Aufenthalt bei Proteus in Ägypten nach Herodot, zum anderen der erste karthagisch römische Vertrag nach Polybios Belege bieten.79 Befand sich dagegen in der Nähe ein Heiligtum, so konnten die Schiffbrüchigen dort Schutz finden.80 Sollten die Phönizier mehr oder weniger systematisch Heiligtümer entlang den meistbefahrenen Seerouten eingerichtet haben, um auf diese Weise Verlusten an Menschen, Material und Ware vorzubeugen?81 Die Gefahr, mit derartigen Hypothesen in das alte Klischee einer mittelmeerumspannenden phönizischen Wirtschaftspolitik zurückzufallen, liegt auf der Hand. Ganz sicher kam dagegen nach Guy Bunnens den Heiligtümern eine hohe Bedeutung im institutionalisierten Umgang mit der jeweiligen einheimischen Bevölkerung zu:82 Zwangsläufig riefen Unterschiede in Sprache, Gebräuchen und Gesetzen Misstrauen auf beiden Seiten hervor. Bei wiederholtem Aufenthalt an einem Ort musste es sich daher anbieten, das gegenseitige Verhältnis unter den Schutz einer dauerhaft installierten Gottheit zu stellen. Eine höhere Macht wachte fortan über die Erfüllung eingegangener Verpflichtungen, die sich dort im Übrigen bestens archivieren ließen. Geschäfte unter dem Schutz der Gottheit bedeuten aber zugleich Einkünfte der Gottheit. Trifft das skizzierte Modell zu, dann war ein Aufstieg dieser Heiligtümer zu ansehnlicher wirtschaftlicher Bedeutung vorprogrammiert. Beruhte die langjährige Abgabe des Zehnten an den Melqart von

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Cintas 1950, 505 und 582–583; Cintas 1970, 312. Hdt. 2, 112–115. 79 Rebuffat 1966. 80 So in dem Heraklestempel Hdt. 2, 113, 2. 81 So Bunnens 1979, 283–284. 82 Bunnens 1979, 284. – Um „interkulturelle Kontaktzonen“ handelte es sich nach Eckert 2016 (dessen Studie allerdings nicht mehr systematisch berücksichtig werden konnte) auch bei den griechischen Heiligtümern der „Aphrodite der Seefahrer“. 78

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Tyros nach Diodor83 auf entsprechenden Einnahmen der Götter der nordafrikanischen Kolonie? Das Heiligtum des thasischen Herakles in Tyros84 – offenbar ein Pendant zu der Gründung phönizischer Kolonisten auf Thasos – war vielleicht weniger der Ausdruck eines besonderen Booms des thasischen Melqart in der Metropole als vielmehr Instrument direkter Kontrolle über die Einkünfte auf der lukrativen Insel. Heiliger Ort und Schauplatz weltlicher Interessen wären in diesem Fall eng miteinander verflochten gewesen, die Götter der politischen Gemeinschaft ihrer Gläubigen recht nahe gestanden, was allenfalls insofern überraschen kann, als wir infolge lückenhafter Kenntnis und divergierender Gottesvorstellungen im allgemeinen zu einer eher distanzierten Sicht auf das phönizische Pantheon neigen. Der karthagische Rat tagte zuweilen in geheimen Angelegenheiten im Tempel des Ešmun – so berichtet zumindest Livius,85 der freilich keine ganz untendenziöse Quelle zur politischen Praxis der Karthager ist, aber abgesehen von dem unterschwelligen Vorwurf der Geheimniskrämerei an dieser Stelle eigentlich keinen Grund zur Manipulation hat. Mit der gebotenen Vorsicht gegenüber dem Einzelzeugnis kann man also auch hier aus der Nutzung des heiligen Ortes auf enge Verflechtungen zwischen Religion und Politik schließen. * * * Fragen wir uns zusammenfassend, welche Aspekte die phönizisch-punische Religion als eine Religion der Seefahrer charakterisieren, so fällt das Ergebnis überraschend bescheiden aus. Eine deutliche Fokussierung auf die Seefahrt, wie man sie in der Tradition der klassischen Überlieferung zum „Seefahrervolk“ erwarten könnte, ist den spärlichen Angaben zum phönizischen Pantheon nicht zu entnehmen. Eine klare Festlegung der Zuständigkeit für Meer und Seefahrt scheint es nicht gegeben zu haben, was nur den Schluss zulässt, dass für den phönizischen Gläubigen selbst die Seefahrt ein Lebensbereich unter vielen war, in dem ihm eine Vielzahl von Göttern – persönliche Schutzgottheiten, Stadtgottheiten, Wettergottheiten – als Helfer zur Verfügung stand. Wenn die Seefahrt die phönizische Religion geprägt hat, so tat sie dies auf zweierlei Art und Weise. Zum einen, indem sie identitätsstiftende Traditionen in der Fremde zu verstärken half, wie wir an Details der Ausstattung und des Kultes 83

Diod. 20, 14, 2 (s. o. Anm. 28). Hdt. 2, 44, 3: εἶδον δὲ ἐν τῇ Τύρῳ καὶ ἄλλο ἱρὸν Ἡρακλέος ἐπωνυμίην ἔχοντος Θασίου εἶναι. 85 Liv. 41, 22, 2: compertum tamen arunt legatos ab rege Perseo vse, iisque noctu senatum in aede culapi datum esse; 42, 24, 3: in aede Aesculapi clandestinum eos per aliquot noctes consilium principum habuisse; vgl. Bonnet/Niehr 2010, 141. 84

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in den großen Kolonien beobachten können, die in auffälliger Weise dem tyrischen Vorbild entsprechen: etwa die beiden Säulen im Heiligtum des tyrischen Melqart im Bericht Herodots86 und die entsprechenden Säulen im Heiligtum von Gades, die Strabon in seiner Ortsbeschreibung als eine Deutungsmöglichkeit der „Säulen des Herakles“ nennt.87 Bonnet spricht von einem regelrechten „Klonen“ des Mutterheiligtums, „um den ‚Töchtern von Tyros‘ die Geburt zu ermöglichen“.88 Zum anderen liefert die Seefahrt dem System einen beständigen Zufluss an Impulsen von außen. Für deren Nutzung ist die Entwicklung von Herakles/ Melqart das beste Beispiel. Und die Weltentstehungslehre eines Philon von Byblos zeigt im Rückblick, wie die herkömmliche phönizisch-punische Kultur auf den neuen, großen „Resonanzboden“ reagierte, den die Hellenisierung des Orients bot.89 Zur Dynamik und Anpassungsfähigkeit der phönizisch-punischen Religion im Zuge dieser Prozesse haben die Seefahrer viel beigetragen. Von einer „Religion der Seefahrer“ zu sprechen, würde der Komplexität phönizischer Kultur und Religion dagegen nicht gerecht.

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Hdt. 2, 44, 2. Strab. 3, 5, 5, C 170. 88 Bonnet/Niehr 2010, 137. 89 Bonnet/Niehr 2010, 182 unter Verweis auf Bowersock 1990 (bes. 45–51); speziell zu Philon Müller 2000, 21–24. 87

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Abkürzungen BMC Phoenicia = Hill, George F., Catalogue of Greek Coins in the British Museum: Phoenicia, London 1910. CIS = Renan, Ernest u. a., Corpus inscriptionum Semiticarum, Paris 1881–1962. FGrHist = Jacoby, Felix u. a., Die Fragmente der griechischen Historiker, Berlin u. a. 1923–. GGM = Mullerus, Carolus, Geographi Graeci minores, 2 Bde., Paris 1855–1861. I. Délos = Durrbach, Félix u. a., Inscriptions de Délos, 7 Bde., Paris 1926–1972. IGDS = Dubois, Laurent, Inscriptions grecques dialectales de Sicile. Contribution à l᾽étude du vocabulaire grec colonial [Bd. 1] (Collection de lʼÉcole française de Rome 119), Rom 1989; Bd. 2 (Hautes Études du monde gréco-romain 40), Genf 2008. KAI = Donner, Herbert / Röllig, Wolfgang, Kanaanäische und aramäische Inschriften, Wiesbaden 52002. LBW = Le Bas, Philippe / Waddington, William H., Inscriptions grecques et latines recueillies en Grèce et en Asie Mineure, 2 Bde., Paris 1870. LSJ = Liddell, Henry G. / Scott, Robert / Jones, Henry S., A Greek-English Lexicon, Oxford 91940 mit Glare, Peter G. W. / Thompson, Anne A., Revised Supplement, Oxford 1996. SAA = Parpola, Simo u. a., State Archives of Assyria, Helsinki 1987–.

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Jerusalem in vorchristlicher Zeit Vom Sitz des Thronrates der Götter zum heiligen Ort des unsichtbaren Gottes

Reinhard Achenbach (Münster)

1. Frühgeschichte Palästina und Israel liegen auf einer Landbrücke, die drei Kontinente miteinander verbindet, nämlich Afrika, Asien und Europa. Die alten Verbindungswege führen entlang der Küste, durch die Jordansenke und jeweils über die Höhenrücken des judäisch-ephraimitischen und des ostjordanischen Gebirges. Jerusalem liegt an einer West-Ost-Verbindung vom Mittelmeer über das Gebirge hin zum Jordan und zur Nordspitze des Toten Meeres.1 Der Kern der ältesten Stadtbesiedlung Jerusalems befand sich auf dem Hügel südöstlich des heutigen „Haram“, also des Berges, auf dem sich die Al-Aqsa-Moschee und der Felsendom als Wahrzeichen der Stadt erheben. Die Besiedlungsspuren reichen zurück in das Chalkolithikum im 4. Jahrtausend v. Chr. Im 3. Jahrtausend v. Chr. finden sich schon Anzeichen einer frühen, städtischen Siedlungskultur. Im 2. Jahrtausend v. Chr. teilten sich die Ägypter im Süden, die Hethiter in Kleinasien und die Babylonier in Mesopotamien die ökonomische Kontrolle der Regionen einschließlich der Handels- und Verkehrswege. In Jerusalem manifestierte sich eine Gesellschaft, die in Verbindung mit anderen Städten Palästinas eigene Handels- und Wirtschaftsinteressen gegenüber den großen Mächten zu behaupten suchte. Die ältesten Belege für den Namen „rushalimmu“ (= „Berggipfel Schalems“*) finden wir auf ägyptischen „Ächtungstexten“, das sind Tonscherben oder figürliche Darstellungen, auf die man die Namen von Feinden schrieb, um diese dann in einem magischen Ritual zu zertrümmern.2 Die älteste Mauer ist in der mittleren Bronzezeit um 1750 v. Chr. zu datieren,

1

Nördlich davon liegt eine der ältesten Städte der Welt, Jericho. Keel 2007, 51 Abb. 10; Weippert 2010, 41 A.76. 44: Listen mit solchen Namen sind aus dem 18. Jh. v. Chr. bewahrt; zwei weitere Texte nennen die Namen von Stadtfürsten Jerusalems, jaqir-chammu – der (göttliche) Beschützer ist weise – und saza’nw – der Kluge? (vgl. Keel 2007, 88). 2

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das Stadtgebiet umfasste etwa 4,5 ha und vermutlich ca. 1800 Einwohner, hinzu kam die Bevölkerung des Umlandes, die die Stadt mit Lebensmitteln versorgte und ihrerseits handwerkliches Können, Handelskapazität und militärischen Schutz in Anspruch nahm. Ein Siegelabdruck der Zeit zeigt zwei Männer, die einander zum Bunde die Hand reichen – ein Symbol für die über die Grenzen der Stadt reichenden Verbindungen.3 In der Zeit zwischen 1600 und 1500 v. Chr. gewannen die sog. „Hyksos“, „Fremdländer“ (vermutlich indo-arische Gruppen) starken Einfluss in Ägypten und Palästina. Erst Thutmosis III. (1490–1436/1486–1425* v. Chr., 18. Dynastie) gelang es im 15. Jh. v. Chr., die Hyksos aus Ägypten zu vertreiben. Durch regelmäßige Feldzüge nach Palästina und Syrien, die Eroberung von Megiddo und Kadesch am Orontes erlangte er eine Vormachtstellung über die Region, die er um 1448 v. Chr. durch einen Vertrag mit dem indo-arischen Mitanni-Reich im Norden stabilisierte.4 In Jerusalem finden sich auf Skarabäen der Zeit Hinweise darauf, dass man ihn als Siegergestalt und „vollkommenen Gott, Herrn der beiden Länder“5 besonders verehrt hat. 2. Amarnazeit und Spätbronzezeit In der Spätbronzezeit ist an dem regen Güteraustausch zwischen Ägypten und Jerusalem erkennbar, wie stark das Städtchen ökonomisch durch die 18. Dynastie eingebunden wurde. Die Stadtfürsten galten als Stadtgouverneure Ägyptens, hazannu genannt, hielten die Oberhoheit und die Maat, die göttliche Lebensordnung, aufrecht und versicherten sich der Gunst der Pharaonen durch den Austausch von Geschenken. Im 14. Jh. v. Chr. verloren die Ägypter wieder an Einfluss in der Region. Es kam zu Spannungen zwischen dem Pharao und der Priesterschaft des Amun in Theben. Amenophis IV., genannt Echnaton, strebte mit der Neugründung der Stadt Achet-Aton (El Amarna) eine Neuausrichtung der gesamten ägyptischen Religion an, indem er Aton über alle Götter Ägyptens erhob. Aus der Zeit seiner Regentschaft sind zahlreiche diplomatische Korrespondenzen erhalten geblieben. Aus ihnen wird deutlich, dass Echnaton seiner Funktion als Ordnungsmacht in Palästina nicht mehr gerecht wurde. Es kam zu Verarmung, Schuldsklaverei und Zerwürfnissen in den Städten, in denen z. T. die aus Ägypten vertriebenen Hyksos sich als Führungsschicht angesiedelt hatten. Die sozialen Konflikte führten 3

Keel 2007, 87 Abb. 30. Kulturell und geistig standen die Städte weiterhin unter starkem Einfluss der ägyptischen Kultur, wie etwa die Motive der Siegel, Schmuck und Keramiken bezeugen, während die im Norden gelegene Festungsstadt Hazor im 18. Jh. v. Chr. stärker in das mesopotamische Staaten- und Handelssystem eingebunden war (Weippert 2010, 63). 4 Weippert 2010, 95–110. 5 Keel 2007, 101–102.

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schließlich zur Bildung von Freischärlergruppen, den sog. „Hapiru“. Es gelang dem Stadtkönig von Sichem, Labaju, mit Hilfe seiner eigenen Truppen und von Söldnertruppen dieser Ha-pi-ru, weite Gebiete des nord-palästinischen Berglandes zu beherrschen. Sein Vorstoß richtete sich auch gegen den Einflussbereich des Stadtkönigs von Jerusalem. Nach und nach wurde Jerusalem durch die Truppen der Koalitionäre eingekesselt und durch die Söhne Labajus einer akuten Bedrohung ausgesetzt. Aus dem Archiv des Pharao sind einige Briefe des Jerusalemer Königs erhalten. Sein Name Abdi-Hepa (Diener der Göttin Hepa) deutet auf hurritische Herkunft, denn Hepa war die Paredra des hurritischen Wettergottes Teschub. Die Bitten des Abdi-Hepa an den Pharao sind gleichermaßen verzweifelt wie vergeblich: „Zum König, meinem Herrn, meiner Sonne, sprich folgendermaßen: AbdiHeba, dein Diener, zu den Füßen des Königs, meines Herrn, falle ich siebenund noch einmal siebenmal nieder. Siehe, der König, mein Herr, hat seinen Namen auf den Osten und den Westen gelegt. Eine Ruchlosigkeit ist es, die man an mir begangen hat. Siehe, ich bin kein Stadtherr, sondern ein Soldat des Königs, meines Herrn! Siehe, ich bin ein Freund des Königs und ein Tributbringer des Königs bin ich ... Es kümmere sich der König um sein Land! Das Land des Königs geht verloren! Ganz und gar wird es mir weggenommen, Krieg gibt es gegen mich. ... Ich bin einem Apiru gleich gemacht, und sehe die Augen des Königs, meines Herrn nicht, obwohl Krieg geführt wird gegen mich. Ich bin wie ein Schiff mitten im Meer ausgesetzt.“ VAT 1643; EA 2886

In den Amarna-Briefen ist der Name der Stadt erstmals in seiner klassischen Form bezeugt: äg. uru-salim, akk. uru-shalimu, kanaan./hebr. jeru.shalem: Stadt/ Gründung Schalems. Schalem war der Gott der Abendröte und des Abendsterns, sein Zwillingsbruder Schahor Gott der Morgenröte. Letzterer geleitet den Sonnengott aus der finsteren Unterwelt hinauf, Schalem begleitet ihn am Abend bei seinem Abstieg in das Dunkel. Die zwei Gottheiten waren in der kanaanäischen Mythologie verankert und wurden mit ägyptischen Deutungen verbunden. Die spätere hebräische Aussprache des Namens Jerushalajim hat ihre Wurzeln vermutlich in der hellenistischen Bezeichnung hiero-solyma, die das Etymon mit „heilige (Stätte) des Friedens (Schalom)“ assoziierte.7 Nach der Krise der Amarna-Zeit gelang es zu Beginn des 13. Jh.s v. Chr. den Herrschern der 19. Dynastie (vor allem Sethos I., 1290–1279 v. Chr.), die Kontrolle über zahlreiche Städte in Palästina wiederum zu erlangen. Sein Sohn Ramses II., der große Herrscher der 19. Dynastie (1279–1213 v. Chr.), schloss nach einer verlustreichen Schlacht bei Kadesch gegen die Hethiter 1259 v. Chr. mit diesen einen Staatsvertrag. Kleinfunde aus der Ramessidenzeit belegen seine 6 7

Weippert 2010, 138–140. Keel 2007, 49–59.

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Herrschaft auch über Jerusalem. Nachdem der Sohn Ramses II., Merenptah, den Versuch der Libyer verhindert hatte, sich im Nildelta anzusiedeln, musste er am Ende des Jahrhunderts in Palästina die ägyptische Herrschaft erneut sichern; in einer Inschrift von ca. 1209 v. Chr. wird zum ersten Mal Israel erwähnt (Merenptah-Stele, Zeile 26–27):8 „Die Fürsten sind niedergeworfen ... Tahnu ist zugrundegegangen, Hatti friedlich, Kanaan ward geplündert mit allem Schlechten, Askalon ward weggebracht, Geser gepackt, Jenoam zunichte gemacht, Israel liegt brach ohne Samen ...“

Erstmals wird hier also ein Gentilizium, ein irgendwie stammesmäßig oder clanmäßig strukturierter Verband mit Israel bezeichnet. Mehr wissen wir von dieser Gruppe nicht. Im 13. und 12. Jh. v. Chr. führte eine Dürreperiode zu erheblichen Wanderbewegungen im gesamten östlichen Mittelmeerraum und in Mesopotamien. Es kam in Palästina und Ägypten zu einem verstärkten Siedlungsdruck durch migrierende und kolonisierende Völker, die sogenannten „Seevölker“. Sie setzten sich an den Küsten fest, beherrschten weite Bereiche des Seehandels und strebten danach, ihre Versorgung aus dem Hinterland durch die dort ansässigen Bevölkerungen zu sichern. Zu ihnen gehören die in der Bibel sog. „Philister“, äg. pelestin. Es bedurfte erheblicher Anstrengungen der Ramessiden, die Seevölker abzuwehren. Ägypten vermochte die Kontrolle über die Handelswege und Städte in Palästina nicht mehr aufrecht zu erhalten. Während in der Spätbronzezeit ein neuerlicher Niedergang der Städte zu konstatieren war (Sichem wurde z. B. stark beschädigt), begannen zahlreiche Stämme und kleinere Gruppen, die zuvor im Umland der Städte ihr Auskommen gefunden hatten, sich im bis dahin weniger besiedelten Bergland anzusiedeln. Zwar konnte Ramses III. (1187–1156 v. Chr.) zeitweise einige Städte wie Gaza, Lachisch und wohl auch Jerusalem halten, aber insgesamt war der Niedergang der bronzezeitlichen Stadtkulturen nicht aufzuhalten. Dementsprechend sind aus der späten Bronzezeit in Jerusalem phasenweise verringerte Besiedlungsspuren erhalten. Eine Mauer von nennenswerter Schutzkraft scheint es nicht gegeben zu haben, vielleicht aber hat man die Siedlung auf dem Südosthügel durch besondere Stützmauern stabilisiert. Beim Übergang in die Eisenzeit war das Umland von Jerusalem anscheinend ebenfalls nur schwach besiedelt. Die Expansion der Philister zwang diese stammesgesellschaftlich organisierten Gruppen, die sich im Bergland angesiedelt hatten, zu Zusammenschlüssen. Ihnen gelang es, sich in gewissen Gebieten des Berglandes zu behaupten. Es bildete sich eine Reihe von Stammesverbänden heraus, die nach und nach die Kontrolle über die Region gewannen. So gelang es beispielsweise einem Bündnis von

8

Textausgabe vgl. Kitchen 2003; Übersetzung Kaiser 1988, 544–552.

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Israeliten und ehemaligen Bewohnern der Stadt Gibeon, eine wichtige Verbindungsstraße im Norden von Jerusalem zu kontrollieren (Jos 9–10). Verstärkt worden sind diese Gruppierungen möglicherweise durch Semiten, die aus dem Kernland Ägyptens flüchteten und im Zuge einer Neuansiedlung im palästinischen Bergland sich unter dem Namen Israel mit den dortigen Gruppen verbanden. Was die Stadtentwicklung Jerusalems angeht, so kann man in der ausgehenden Spätbronzezeit unter dem Einfluss der 19. Dynastie der Pharaonen (zwischen 1250 und 1190 v. Chr.) beobachten, wie einerseits um die Quelle des Gihon herum und im unteren Teil des Südosthügels einerseits ein System von Stützmauern entsteht, das sich in einer gestuften Konstruktion nach oben hin fortsetzt und die Bebauung auf dem Hügel absichert.9 Zwischen den Archäologen herrscht ein heftiger Streit über die Datierung dieser Konstruktion. E. Mazar, D. Tarler, J. M. Cahill und N. Naamann nehmen eine Datierung gegen Ende von SBZ II bzw. zu Beginn von EZ I an (zwischen 1250 und 1150 v. Chr.), also kanaanäisch und vordavidisch, K. Kenyon, Y. Shiloh, E. Noort, I. Finkelstein und M. Steiner datieren die Bauaktivität in die beginnende EZ II, d. h. in das 10./9. Jh. v. Chr., also nachsalomonisch!10 3. Das davidische Königreich Juda Die biblischen Überlieferungen über den Aufstieg Davids und die Komplikationen über dessen Thronfolge in den Samuels- und Königsbüchern beruhen auf Dichtungen aus der höfischen Epik Jerusalems. Sie wurden nach der Zerstörung Jerusalems von Schriftgelehrten tradiert, die sich an der Theologie des Deuteronomiums orientierten und die das Königtum im Sinne einer „deuteronomistischen“ Lehre streng danach beurteilten, ob es der Forderung der Alleinverehrung Jahwes, des Gottes Israels, entsprochen habe oder nicht. Nach den Erzählungen der Samuelsbücher war es zunächst einem aus benjaminitischem Geschlecht stammenden Anführer namens Saul gelungen, einen Verbund der Stämme im ephraimitischen Gebiet zu bilden, der sich gegenüber Gebietsansprüchen ostjordanischer Völkerschaften hatte behaupten können. Seinem Gefolge gehörte ein junger Mann aus einer judäisch-bethlehemitischen Familie an, der sich aber von Saul trennte, sich zunächst mit Philistern verbündete, danach eine eigene Guerillatruppe gründete, die die Siedlungsgebiete der judäischen und südlichen Sippen gegen Überfälle von marodierenden Araberstämmen absicherte. Die Judäer machten David an der Grablege ihres Ahnherrn Abraham in Hebron in einem Ritual der Machtübertragung zum „gesalbten“ Anführer (hebr.: māšîaḥ, Gesalbter). Einige Stämme aus dem Norden schlossen mit ihm einen Vertrag, 9

Keel 2007, 122 Abb. 82; 124 Abb. 83. Eine Einführung in die moderne Diskussion bieten Finkelstein 2001/2003 und Grabbe 2007. 10

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wodurch er als Heerführer und König der Stämme Israels und Judas galt. Die kleine kanaanäische Festungsstadt Jerusalem lag in einem „trockenen Gebiet“ (Jebusiterland) zwischen judäischem und israelitischem Stammesgebiet. Es gelang David und seinen Truppen, die Ortslage einzunehmen. Die Eroberungslegende in 2 Sam 5,6–10 und 1 Chr 11,4–9 behauptet, einer seiner Vorkämpfer, Joab, sei es als Erstem gelungen, die vermutlich besonders gefestigte Anlage um die GihonQuelle herum einzunehmen. Die Einnahme der Stadt bedeutete zugleich die Integration einer kanaanäischen Stadt in ein von Stämmen beherrschtes Gebiet im judäischen und ephraimitischen Bergland. In der Folgezeit kam es zu einem sukzessiven Ausbau der Stadt, der hier im Einzelnen nicht näher diskutiert werden kann. Ethnisch und kulturell war die Bevölkerung heterogen. Aus dem fragmentarischen Wissen über die Stadtreligion können wir vermuten, dass die Stadtfürsten und die Bewohnerschaft sich geistig und religiös einerseits an ägyptischen Ideen orientierten, wonach der König in einer besonderen Beziehung zum Sonnengott stand und der Stadtgott Schalem als dessen Diener galt. Andererseits wurden die kanaanäischen Gottheiten verehrt, wie der Gott El, Vater der Götter und Herr des göttlichen Thronrates. Neben Schalem gab es Zedek, den Gott der Gerechtigkeit (Adonizedek: Jos 10,1.3; Melchizedek: Gen 14,18; Ps 110,4), Baal, den Wettergott und Sieger über die Chaosmacht und Bringer von Regen und Fruchtbarkeit, sowie die Göttinnen des Kampfes und der Liebe Astarte und Aschera. Infolge der davidischen Eroberung wurde nun der Berggott Jahwe als Schutzgott und als Kriegsgott verehrt. Es war ein Berggott aus dem Süden, den dort schon seit langem die Shasu-Beduinen verehrt hatten, die in einem Gebiet vom Sinai bis hinauf zur Jesreel-Ebene siedelten und die ihr Stammland Jahu-Land nannten.11 In den ältesten Schichten des Psalters ist erkennbar, wie er zugleich auch mit Zügen einer Wetter-Gottheit vom Baal-Hadad-Typus assoziiert und verehrt wurde.12 Von Jahwe fehlt bis heute ein sicherer ikonischer Beleg, d. h. wir müssen davon ausgehen, dass die Gottheit anikonisch verehrt wurde und als unsichtbar galt.13 Besonderes Ansehen genoss bei den Stämmen im ephraimitischen Gebirge ein Orakelgerät, die Lade, eine tragbare kastenförmige Sänfte mit einem Schrein- oder einem Throngebilde obenauf, von dem aus die Gottheit Orakel erteilt hatte. Diese Lade, für die es in Ägypten gewisse Analogien gab, wurde von 11

Leuenberger 2014; ders. 2011. Müller 2008. 13 Allerdings scheint nach Auffassung einiger Religionswissenschaftler gerade die Heftigkeit, mit der in nachexilischer Zeit gegen eine ikonisch gebundene Götterverehrung und für ein Bilderverbot gekämpft wurde, darauf hinzudeuten, dass es Jahwe-Bilder gegeben hat, vgl. hierzu Uehlinger 2003; ders. 1997. Edelman 1995 nimmt an, dass auf einer JehudMünze von ca. 380 v. Chr. möglicherweise noch eine bildliche Repräsentation Jhwhs zu sehen sei. 12

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David nun aus dem Bergheiligtum der Stämme Schilo nach Jerusalem an die Gihon-Quelle überführt, wo sie zunächst in einem Zelt verehrt wurde. Es gelang David, sich als Herrscher zunächst in der eroberten Stadt zu behaupten, wo er eine größere Wohnanlage (Palast) bewohnte. Die Archäologin Eilat Mazar, die in den letzten Jahren die Ausgrabungen auf dem Südosthügel und südlich des Haram leitet, ist überzeugt, in ihren jüngsten Ausgrabungen einer größeren Hausanlage aus der Eisenzeit diesen Palast Davids gefunden zu haben, aber Kleinfunde deuten darauf hin, dass es sich wohl eher um Häuser führender Persönlichkeiten der Stadt handelte. Es wird vermutet, dass sich die davidische Anlage weiter oben auf der Zionsfestung befunden hat. David, der zunächst mit der Tochter des Saul Michal verheiratet gewesen war, hatte Söhne von sechs weiteren Ehefrauen (2 Sam 3,2–4), als er eine Affäre mit der Ehefrau des hethitischstämmingen Jerusalemers Bathsheba einging (2 Sam 11). Als es um die Thronfolge ging, scheiterte sein Sohn Absalom in einem Aufstand gegen den Vater, ein Putschversuch unter dem Benjaminiter Scheba schlug ebenfalls fehl. Auch der Versuch Adonjas, der Sohn der Haggit, sich mit den Judäern zu verbünden und den Thron zu erringen, misslang. Schließlich waren es der kanaanäische Priester Zadok, der Heerführer Benaja, die Guerillatruppenführer Schimi und Rei sowie der Prophet Nathan, die Salomo an die Macht brachten. Salomo knüpft an die alte ägyptisch-kanaanäische Königsideologie an und erbaut auf dem Zionsberg einen eigenen Königspalast und einen Tempel nach phönizischem Vorbild, in dessem Allerheiligsten er einen Cherubenthron einrichtet, neben dem die „Lade“ als das tragbare Kriegsorakel-Palladium steht. Auf diesem Thron wird nun Jahwe als El-Gottheit verehrt, also als Herrscher des Pantheons, der die Kontrolle über die Gerechtigkeitsordnung übernimmt. JHWH hält Thronrat unter den Göttern, die Jerusalemer Götter werden ihm untergeordnet.14 Psalm 29 besingt die Einnahme der Rolle des Stadt-Gottes durch Jahwe: „Gebt, ihr Götter, Jahwe Ehre und Macht! Gebt Jahwe die Ehre seines Namens, werft euch nieder vor Jahwe in heiliger Pracht. Jahwe hat seinen Thron eingenommen über der Urflut, Jahwe thront nun als König in Ewigkeit. Jahwe gebe seinem Volke Macht, Jahwe segne sein Volk mit Frieden!“

Und in Psalm 85,11.13–14: „Gnade und Wahrheit finden einander, Zedek und Schalem*/Schalom küssen einander, Jahwe verleiht seinen Segen 14

Zur synthetischen Gestaltung des frühen Kultes in Jerusalem vgl. auch die instruktive Darstellung bei Römer 2014.

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und unser Land gibt seine Frucht, Zedek /Gerechtigkeit geht vor ihm her und Schalem* folgt dem Weg seiner Schritte.“

Jahwe galt als Herrscher über die El-Söhne, nahm also die Position des Göttervaters El ein. Ihm wurde Aschera als weibliche Göttergestalt zur Seite gestellt.15 Der König übernahm als Diener des Reichsgottes Jahwe die oberste Gerichtsgewalt. In der Tempelhalle vor dem Allerheiligsten wurden ein Opfertisch mit Speiseopfern (Schaubrottisch) und ein Räucheraltar installiert, dazu Symbole und Abbilder verschiedener Numina. Die Serafen, geflügelte Mischwesen, ähnlich den geflügelten Uräusschlangen, galten als Hüter des Allerheiligsten, Abbildungen finden sich auf diversen Siegelabdrücken.16 Im Vorhof wurden ein Brandopferaltar und daneben eine Reihe von wichtigen Kultgeräten (Wasserbecken etc.) installiert. Der Tempelbau wies symbolische Elemente eines Palastes auf, der von Motiven eines Gartens geziert wurde, so in den baumartigen Bronzesäulen Boas und Jachin, aber auch in den Verzierungen von Granatapfel und anderen Pflanzen. Granatäpfel zierten die Kapitelle der Säulen, Pflanzenverzierungen unterstrichen die Gartensymbolik und ließen den Tempel als Teil einer lebenspendenden Umgebung erscheinen. Salomos Nachfolger Rehabeam vermochte es allerdings nicht, die politische Kontrolle über den Stämmebund aufrecht zu erhalten. Die Stämme im Norden trennten sich von dem gemeinsamen Verbund und so blieb das Königreich Juda für sich. Ein Grund hierfür dürfte auch gewesen sein, dass der Pharao Scheschonq I. in mehreren Feldzügen nach Palästina die ägyptische Kontrolle über Städte der Philister, der Israeliten (Gibeon und Megiddo) und Judäer (Jerusalem wird geplündert, 1 Kön 14,25–26) wieder herstellte und die Abtrennung Israels von Juda unterstützte. Judäa blieben größere Zerstörungen erspart. Im Norden bildeten die Israeliten ein eigenes Reichsheiligtum in Bethel, in dem statt des Cheruben ein Stierbild im Zentrum des Allerheiligsten stand, vermutlich wohl auch als Piedestal eines anikonisch (?) verehrten Gottes Jahwe.17 Das Nordreich Israel musste sich gegen das gleichermaßen aufsteigende aramäische Königtum im Norden behaupten. Zeitweise waren Juda und Israel Aliierte im Kampf gegen den gemeinsamen Feind. Im 9. Jh. v. Chr. kam es unter dem Einfluss der Phönizier, mit denen sich das Königshaus der Omriden verschwägerte, zu einer ökonomischen und kulturellen Blüte. Die Gründung der Hauptstadt Samaria und die Einrichtung eines Baal-Tempels führten zu einer Verlagerung der Reichsreligion. Durch Verschwägerung war Jerusalem dem Omridenhaus verbunden, zeitweise ökonomisch von ihm abhängig.

15

Hartenstein/Jeremias 1999. Keel 2007, 388–390; ders. 1977, 70–115; Riede 2011. 17 Schwemer 2001; ders. 2006. 16

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4. Die Assyrerherrschaft In der 2. Hälfte des 9. Jh.s v. Chr. griff das expandierende Assyrerreich nach den Territorien Israels und Palästinas. Der Jahwe-gläubige Putschist Jehu, der den Sturz der Omriden betrieben hatte, wurde Tributär Salmanassars III. Konnten sich beide Königreiche in der 1. Hälfte des 8. Jh.s v. Chr. noch behaupten, so wuchs der Druck in der 2. Hälfte des 8. Jh.s v. Chr. an. Die Assyrer beherrschten sowohl die ostjordanischen Handelswege durch das ammonitische und moabitische Gebiet als auch die Straßen durch das Phönizier- und Philisterland an der Küste. Mit der neuen politischen Dimension der imperialen Herrschaft verändert sich auch das Gottesbild. Jahwes Geschichtshandeln erlangt eine über das Gebiet Israels hinausreichende Dimension. In einer Visionsschilderung, die uns das Jesajabuch überliefert (Jes 6),18 wird erzählt, dass der Prophet im Tempel die Gottheit auf ihrem himmlischen Thron schaute, umgeben von der feurigen Gestalt ihres Lichtglanzes, der Saum ihres Gewandes erfüllte die Thronhalle des Tempels. Umgeben war sie von Serafen, schlangengestaltigen, geflügelten Mischwesen, die den Thron durch unablässiges Rufen schützten und riefen: „Heilig, heilig, heilig ist Jahwe, der Führer der Heerscharen, seine machtvolle Kavod-Lichtgestalt beherrscht die gesamte Erde!“ Jes 6,3

Hiernach ist es also Jesaja, der erstmalig erkannt und formuliert hat, dass das Tempelgebäude die Gottheit nicht fassen kann. Heilig ist nicht der Ort als solcher, sondern heilig ist die Gottheit, die ihre universale Präsenz an diesem Ort dem Blick des Visionärs enthüllt. Dieser überwältigenden Vision fühlt sich Jesaja nicht gewachsen. Er muss ein Reinigungsritual mit feurigen Kohlen überstehen. Und er muss – so die Erzählung – erkennen, dass das Volk der Wucht der Botschaft dieser Gottheit nicht gewachsen ist, sondern sich ihr verschließt und verstockt. Er sieht den Untergang einer ganzen Generation vor sich, übrig bleibt nur eine geringe Schar, ein „heiliger Same“, die kleine Schar derer, die die neue Dimension dieses Wandels dereinst zu erfassen imstande sein wird. Der Versuch von Aramäern und Israeliten, Juda in eine antiassyrische Koalition zu zwingen, scheiterte: König Ahas unterwarf sich den Assyrern, Damaskus und Samaria wurden von den Assyrern erobert. 722 v. Chr. hörte das Königreich Israel auf zu existieren. Zunächst kam es zu einer gewissen Expansion der Stadt, vor allem durch die Zuwanderer aus dem Norden, aber auch dadurch, dass Hiskia durch Baumaßnahmen die Festungsstädte als Fluchtburgen für die Landbevölkerung zu sichern suchte. Der Versuch des Königs Hiskia, sich mit Ägypten gegen Assur zu verbünden, scheiterte; es kam zu einem verheerenden Eroberungsfeldzug der Assyrer durch Juda. Alle Festungsstädte wurden erobert, Jerusalem blieb 18

Für die Analyse der Präsenztheologie dieses Textes vgl. Hartenstein 1997.

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übrig „wie ein Wachhüttchen im Gurkenfeld“ (Jes 1,8). 701 v. Chr. wurde Jerusalem durch Sanheribs Truppen belagert. Der Abzug der Assyrer nach einer Zeit der Belagerung wird als Wunder erlebt, war vielleicht aber nur das Ergebnis entsprechender Verhandlungen Hiskias. Später wurde der Vorgang als Aufschub eines endgültigen Gottesgerichts interpretiert. Die Könige von Juda (Hiskia, Manasse und Amon) waren Vasallen des assyrischen Großkönigs, dem es mit der Eroberung Ägyptens gelang, sein Reich zu einem ersten „Weltreich“ auszudehnen. Am Tempeleingang Jerusalems wurde als Zeichen der assyrischen Rechtsordnung das Symbol des Sonnen-Gottes Schamasch, ein Pferdewagen, aufgestellt. Im Tempel wurde der Vasallenvertrag deponiert, der die Könige durch Eid zur absoluten Treue gegenüber den Königen Assurs und ihren Söhnen verpflichtete. Erst im letzten Viertel des Jahrhunderts, als sich abzeichnete, dass das Assyrerreich ins Wanken geriet und das neubabylonische Reich die Vorherrschaft in Mesopotamien anstrebte, entwickelte sich unter dem König Josia in Jerusalem eine Emanzipationsbewegung, die auf eine neue Stärkung der Jahwe-Religion und Nation Judas ausgerichtet war. Ihr Programmsatz ist das berühmte „Schema‘ Jisrael!“:19 „Höre Israel, Jahwe ist unser Gott, Jahwe ist einzig! Und du sollst loyal lieben Jahwe, deinen Gott, mit deinem ganzen Bewusstsein, deiner ganzen Existenz und deinem ganzen Vermögen!“ Dtn 6,4–5

Gegen die durch Eide erzwungene, religiös abgesicherte politische Loyalität gegenüber dem Großkönig stellt das Deuteronomium erstmal die Loyalität gegenüber dem Reichsgott. Die „Deuteronomisten“ verfolgten das Ziel, die verschiedenen lokalen Ausprägungen der Jahwe-Verehrung in einem zentralen Kultus zu vereinheitlichen. Verehrte man zuvor den Jahwe von Teman oder von Bethel oder von Jerusalem, so soll nun Jahwe nur noch an einem alle Israeliten verbindenden „erwählten“ Ort stattfinden, wo sich Israel regelmäßig auf die Gefolgschaft gegenüber seinem Gott verpflichtete. Das deuteronomistische Geschichtswerk erzählt davon, dass Josia das Volk in einem religiösen Gegenvertrag auf die Treue zu Jahwe allein verpflichtet habe und die Kultsymbole der polytheistischen Periode aus dem Tempel geräumt sowie das Schamasch-Symbol der Assyrer beseitigt habe (2 Kön 23). Die Ägypter, welche die Assyrer nach dem Fall der Hauptstadt Ninive 612 v. Chr. gegen die Babylonier unterstützten und zugleich die Dominanz über Juda zurückgewinnen wollten, hinderten Josia an einer Ausdehnung seiner Herrschaft (Josia fällt in einer Schlacht gegen Necho II. 609 19

Zu den exegetischen und historischen Hintergründen der Formel und ihrer Entstehungsgeschichte vgl. Otto 2012, 793–803.

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v. Chr.) und setzten als Nachfolger statt seines Sohnes Jehoachas einen dem Pharao genehmen König namens Jehojakim ein (608–598 v. Chr.). Sie konnten jedoch das Vordringen des Babylonierreiches nicht aufhalten. 605 v. Chr. wurde Jerusalem Teil der babylonischen Provinz Juda. 5. Die Babylonierherrschaft In der babylonischen Epoche20 kehren die Jerusalemer zu den alten, polytheistischen Kultpraktiken zurück. Das Ezechielbuch berichtet zudem von einem gewissen Einfluss der babylonischen Divinationspraxis (Ez 13). Besonders die Verehrung der Himmels-Königin lebte wieder auf (Jer 7 und 44). 598 v. Chr. besteigt Jehojachin den Thron. Trotz der Warnungen des Propheten Jeremia verstärkt sich die antibabylonische Haltung in Jerusalem. Ein Heer Nebukadnezars (605–562 v. Chr.) erobert 597 v. Chr. die Stadt und deportiert Königshaus und Priesterschaft, darunter den Priester und Propheten Ezechiel. Als der von den Babyloniern eingesetzte König Zedekia versucht, ein antibabylonisches Bündnis zu bilden, erobern die Babylonier die Stadt erneut, bestrafen die Königsfamilie mit dem Tode und brennen den Jahwe-Tempel nieder als Sanktion gegen den Bruch des Treueides. Das Königreich Juda hat daraufhin aufgehört zu existieren. Eine größere Zahl aus der Bevölkerung wird deportiert, ein Teil verbleibt aber im Umfeld der Stadt und in Juda, um landwirtschaftliche Produkte nach Mesopotamien zu liefern. Die Provinzialverwaltung wird in Mizpa, einige Kilometer nördlich Jerusalems, angesiedelt. Auf den Ruinen des Tempels finden Klagegottesdienste statt. Die im Lande Verbliebenen hoffen auf die Rückkehr Jahwes und die Wiedergewinnung des verlorengegangenen Landbesitzes, während Fremde sich der herrenlosen Güter bemächtigen. In jüdischen Kolonien, wie etwa der Ortschaft Al Jahudu bei Babylon, erhoffen die Exulanten die verborgene Präsenz ihres Gottes und richten ihre Gebete nach Jerusalem aus. 21 In einer Kolonie bei Nippur hat Ezechiel die Vision eines himmlischen Thronwagens, auf dem Gott aus Jerusalem auszieht und über der Schar der Exulanten unsichtbar verharrt (Ez 1–3; 10–11). Der Stadtgott hat die Stadt verlassen. Das Exil wird geradezu als Gottesgericht über den Polytheismus Israels interpretiert. So wie Gott einst sich der Assyrer bemächtigte, um sein Gericht an Israel zu vollstrecken, so dient ihm nun Babylon als Werkzeug seines Handelns.

20

Eine ausführliche Darstellung hat Albertz 2001 vorgelegt; zu einzelnen historischen Problemen vgl. Lipschits/Blenkinsopp 2003. 21 Zur Geschichte der babylonischen Golah vgl. Albertz, 2001, 66–68; 86–87; zu den Keilschrifturkunden über das Leben exilierter Juden vgl. Lenz 2009; zu Al Jahudu vgl. Pearce/ Wunsch 2014.

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Gegenüber den machtvollen Prozessionen der Götterbilder am jährlichen Neujahrs-Fest in Babylon,22 an dessen Höhepunkt dem König die Schicksalstafeln mit den Bestimmungen der Götter überreicht wurden, betonen die Judäer die Unsichtbarkeit ihres Schöpfergottes, der seinen Willen dereinst für alle Zeiten in den Tafeln des Dekaloges festgelegt habe. Prophetische Gestalten unterstützen die Frommen in der kritischen Zurückweisung und Ablehnung der Bilderkulte Babylons. Priester formulieren gegenüber dem babylonischen Schöpfungsmythos des Enuma-Elisch einen eigenen Schöpfungs- und Sintflut-Mythos und dehnen den Gedanken der Einheit Jahwes aus, indem sie nun die Einheit einer universalen Göttlichkeit mit dem Gott Israels betonen und dessen Einzigkeit gegenüber der Vielfalt und Multiperspektivität des babylonischen Pantheons hervorheben. So wie Jahwe es einst vermochte, Israel aus Ägypten zu befreien, so wird er auch die babylonische Herrschaft beenden. Der Ursprung des wahren Kultes lag in der Wüste. Der Gründungsmythos des Exodus wird in einen neuen Narrativ gefasst. Die Bundestheologie wird durch die Erzählung von der Offenbarung des Bundesgesetzes am Sinai erweitert, dessen Höhepunkt in der Offenbarung des Gesetzes bestand. Israel verdankt seine Erwählung schon der Begegnung mit Jahwe am Gottesberg, nicht erst Josia hat den Bund zwischen Jahwe und Israel begründet, schon Mose hat aufgrund des Dekaloges den Bund vermittelt. Dessen Hauptgebot verbietet nicht allein die Herstellung von Götterbildern, es verbietet Israel die Verehrung anderer Götter schlechthin. Infolge der Exilserfahrung verändert sich mit dem Gottesbild auch die „Theologie des heiligen Ortes“. Die Exoduserzählung gewinnt eine neue Bedeutung als Gründungsmythos Israels, das dereinst von Gott dadurch erwählt wurde, dass es aus der Sklaverei befreit wurde: die Befreiung aus imperialer Tyrannei zur freien Ausübung der Religion. Und das heißt: Die Verehrung eines bildlosen, unsichtbaren, universalen Gottes der Befreiung tritt identitätsstiftend in den Mittelpunkt der religiösen Anschauungen. Im Exodusbuch wird die Erzählung von einer Vision des Mose überliefert (Ex 3). Die Gottheit erscheint wiederum umgeben von einem feurigen Lichtglanz. Dieser aber kondeszendiert nicht in einem Gebäude, von ihm geht auch keine Zerstörung aus, der Senaeh/Sinai-Dornbusch verbrennt nicht, doch wird auch diese Gottheit von einem himmlischen Diener, hebr. mal’akh = Bote aus der Götterwelt (lat. Angelus, „Engel“) geschützt. Als Mose sich nun der Feuererscheinung naht, ruft ihm warnend die Gottheit zu: „Nähere dich nicht herzu, ziehe deine Sandalen aus von deinen Füßen, denn die Stelle, auf der du stehst, ist heiliger Boden!“ Ex 3,5

22

Sallaberger/Pongratz-Leisten/Haas 2001; Maul 1998.

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Der Ort wird durch die kontingente Kondeszendenz und Präsenz der Gottheit selbst für den Moment geweiht, an dem sie sich selbst dem religiösen Bewusstsein erschließt – mitten in der Wüste, unerwartet, in irgendeinem Dornbusch – und der Mensch muss ihr unmittelbar, mit bloßen Füßen, gegenübertreten, schützt durch sein Tuch sein Angesicht aus Ehrfurcht vor solcher Unmittelbarkeit der Begegnung von Angesicht zu Angesicht. Und die Gottheit offenbart nicht ihren Namen, also den Kern ihres Wesens, sondern sagt: „Ich werde sein, der ich sein werde!“ Ex 3,14

Damit ist die Grundlage für die neue Tempeltheologie formuliert: Der Tempel ist nicht als solcher ein „heiliger Ort“, sondern er wird dadurch geweiht, dass die Gottheit in großer Unabhängigkeit ihn als Ort ihrer Kondeszendenz und Präsenz erwählt.23 Die Priesterschaft des zweiten Tempels entwickelte den Gedanken der Heiligkeit des Tempels und der Stadt allerdings so weiter, dass eine Kasuistik des Sakralen entstand, um die Reinheit des Ortes und der Kultgemeinschaft zu schützen und zu gewährleisten. Die Juden in der Diaspora waren gleichwohl der Überzeugung, dass die Gottheit sich auch dem Individuum fern vom Tempelort zuwende, ohne Kultritual, allein im Gebet und in der unmittelbaren Anrede. So wird die Gottheit in der Fremde in einer anderen Weise unmittelbarer Präsenz erfahrbar: in der Vision, im göttlichen Wort, in der Antwort des Anbetungsgestus. Die Existenz der Erzeltern, die ohne ein Bild allein dem Wort und der Führung Gottes in der Fremde folgen, wird geradezu zum Urbild für das Leben in der Fremde und in der Ferne vom Kultort. 6. Die Perserzeit Die Eroberung Babylons durch die Perser im Jahre 539 v. Chr. besiegelt das Ende des neu-babylonischen Reiches. Die Achämeniden übernehmen die alten Provinzen in Syrien und Palästina und dehnen ihre Herrschaft bis nach Ägypten aus. Den Judäern wird die Rückkehr nach Juda und Jerusalem ermöglicht, sie dienen im persischen Heer. Allerdings unterbinden die Perser das Wiedererstehen einer davidischen Dynastie unter dem Neffen Jojachins Serubbabel. Lediglich der Wiederaufbau des Tempels wird ermöglicht, Juda bleibt als Distrikt Jehud unter der Oberaufsicht eines persischen Verwaltungsbeamten. Die Herrschaft der Perser legitimiert ein „Orakel an Kyros“ (Jes 45,1–7), wonach Jahwe als Begründer des persischen Reiches um Israels willen erscheint. Während die Perser die Verehrung des Ahura-Mazda in den Mittelpunkt ihrer Reichsideologie stellen, leugnen die 23

Hierzu Achenbach 2008; Hartenstein 2012.

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Judäer aber jegliche Existenz anderer Gottheiten neben Jahwe: Er gilt als alleiniger Gott in einem universalen Sinne. Gegen den Henotheismus der Perser wird das Legitimationsorakel für die Perserherrschaft in Israel mit einer strikten, exklusiven monotheistischen Aussage akzentuiert: „Ich bin Jahwe und niemand sonst, außer mir gibt es keinen Gott! Ich gürte dich (mit den Insignien der Macht), ohne dass du mich erkannt hast, damit die Völker erkennen sollen vom Aufgang der Sonne und vom Untergang her, dass es keinen (anderen Gott) gibt außer mir: Ich bin es, Jahwe, und niemand sonst, der das Licht bildet und die Finsternis schafft, der Heil wirkt und Unheil schafft, ich, Jahwe, bin es, der alles bewirkt!“ Jes 45,5–7

Wie Ahura-Mazda wird Jahwe strikt anikonisch verehrt. Im Allerheiligsten des zweiten Tempels findet sich kein Bild, kein Symbol der Präsenz. Das Allerheiligste bleibt vollkommen leer! Jahwes „Lichtglanz“ umgibt den Tempel als Himmelsgott in seinem himmlischen Thron. Draußen, vor dem Allerheiligsten symbolisiert lediglich die Menorah, der siebenarmige Leuchter, dass Gottes Augen über die Erde wachen (Sach 4,10b; Ex 25,31–40; 27,20–21; Lev 24,2–3; Num 8,1–4), und der Schaubrottisch (Ex 25,23– 30) bezeugt die Mahlgemeinschaft der Gottheit mit der Kultusgemeinde. Das Feuer, das die Opfer verzehrt, ist das Medium, durch das Gott seine Heiligkeit der Tempelgemeinde veranschaulicht. Wer hinter dem Feuer das Angesicht Gottes schaut, erblickt es nur vor seinem inneren Auge, in der Gemeinschaft der Kultgemeinde in Anbetung und Lobgesang.24 Die Exodus- und Wüstenwanderungserzählung von der wandernden umwölkten Feuersäule, in welcher der Lichtglanz Jahwes manifest wird und inmitten des Volkes präsent bleibt, liest sich wie ein religiöser antitypischer Mythos gegenüber der Mitführung des heiligen Feuers durch die Magier-Priester im Perserheer.25 Im Unterschied zu einer rein vergeistigten Gottesverehrung, wie sie vielerorts von Juden praktiziert wurde, stand im Zentrum des Tempelkultes selbst ein umfänglicher Opferkult: Die Kultgemeinschaft mit der Gottheit aus Anlass der Wallfahrtsfeste und bei familiaren Anlässen für Dank und Bitte stand wie überall in der Antike im Mittelpunkt des Tempelbetriebs. Daneben wurden Opfer zur Sühne für Schuld vollzogen und Reinigungsrituale nach Krankheit und Verunreinigung

24 25

Hartenstein 2008. Achenbach 2003, 550–553.

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durch Blut oder Kontakt mit dem Tode. Eine umfängliche priesterliche Systematik der Sühne-, Buß- und Lösungsrituale bestimmte die Opferarten und die am Sabbat orientierten Kultkalender. Auch über das Asyl- und Ordalwesen wachte die zentrale Priesterschaft in Jerusalem und an einigen auserwählten Asylorten. Die Tora umfasste auch das Wächteramt über das Gesetz, sofern es in lokaler Selbstbestimmung praktiziert werden konnte.26 In der Mitte des 5. Jh.s v. Chr. ermöglichten die Perser dem judäischen Gouverneur Nehemia, eine Mauer um den Stadtkern zu ziehen und von dem Temenos des zweiten Tempels ein Areal abzugrenzen, innerhalb dessen eine Beachtung priesterlicher Toraregeln möglich war, insbesondere die Beachtung der Sabbatruhe. Anfang des 4. Jh.s v. Chr. verkündete der Schriftgelehrte Esra eine Form der Tora, die der israelitischen Kultusgemeinde einen höheren Grad der Selbstbestimmung ermöglichte, sie durch die Durchsetzung von Grundregeln der Endogamie und des Ausschlusses von Exogamie zu einer religiösen Sondergruppierung werden ließ. Als solche genoss sie den Schutz des persischen Reiches bis zuletzt, was wohl erklärt, dass Juden auch bis zuletzt bereit waren, im persischen Heer zu kämpfen. Das kultische und religiöse Leben am zweiten Tempel blühte auf, wer sich dem strengen Ethos von Sühne, Heiligung und Exklusivismus nicht unterwerfen wollte, konnte zu dem expandierenden Jahwe-Heiligtum in Samaria wallfahrten, das eine Konkurrenzstellung zu Jerusalem entwickelte.27 Außerhalb Jerusalems entwickelte sich eine Diaspora, die sich teils mehr, teils weniger an den Vorgaben aus Jerusalem oder Samaria orientierte. Die Verinnerlichung und Spiritualisierung der Jahwe-Frömmigkeit ermöglichte die Entwicklung einer aus Gebet und Beachtung von Sabbat, Beschneidung und Speisevorschriften lebenden Identität, die allerdings auf die Manifestation einer kultischen Gestalt in Jerusalem oder Samaria bzw. am Garizim noch angewiesen war. Vor allem aber war Gottes Gegenwart nun in der heiligen Schrift, der Tora, in seinem Wort erkennbar und spürbar. 7. Hellenistisch-römische Zeit28 Alexander der Große ist vermutlich an Jerusalem mehr oder weniger achtlos vorbeigezogen. War Samaria für die Perser noch von einer gewissen strategischen Bedeutung gewesen, so hatte Jerusalem sich vor allem als hierokratisch gelenkte

26

Die Rekonstruktion der Geschichte des Judentums in persischer Zeit ist höchst komplex und vielfach umstritten. Vgl. hierzu Kratz 2013a; ders. 2013b; Lipschits/Knoppers/ Oeming 2011; Albertz/Lipschits/Knoppers 2007. Zur Genese des Pentateuch in persischer Zeit vgl. Otto 2007. 27 Knoppers 2013. 28 Vgl. zur Einführung Haag 2003.

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Tempelstadt behauptet, von der selbst keinerlei militärische Optionen ausgingen. Das Idealbild des Jerusalemer Königs formulierte Sach 9,9: „Siehe, dein König kommt zu dir, gerecht und siegreich ist er, demütig und auf dem Esel reitend.“ Ptolemäus I. eignete sich Ägypten an und eroberte 301 v. Chr. auch Jerusalem (Ios. ant. Iud. 12,1; Ios. c. Ap. 1,22,208–211). Die Ptolemäer verlangten hohe Steuerpachten und so gelang es nur führenden Familien wie den Tobiaden, unter ihrer Regentschaft zu Wohlstand zu gelangen. Die Frömmigkeit der Jerusalemer wurde immer mehr zu einer „Armen-Frömmigkeit“: Der Gerechte kollaboriert nicht mit den polytheistischen Hellenisten. Sie erwarteten infolge der sechs großen Kriege im 3. Jh. v. Chr. zwischen Ptolemäern und den über Syrien und Samaria herrschenden Seleukiden irgendwann geradezu ein göttliches Völkergericht, das dem Ganzen ein Ende bereiten würde. Die ägyptischen Diaspora-Juden genossen allerdings im Ptolemäerreich gewisses Ansehen: Ökonomisch profitierten sie vom Handel, weltanschaulich galten sie wegen ihrer strikt monotheistischen Ausrichtung und der Bildlosigkeit ihres Gottesglaubens als interessant. In ihrem Gebets- und Versammlungshaus (Proseuche, Synagoge) übersetzte man Teile der heiligen Schriften ins Griechische. Mancher Nichtjude begann, sich für die Tora dieses so friedlichen Volkes in Jerusalem zu interessieren und zum Tempel zu pilgern, ja, in manchen erwachte sogar die Idee, dass Jerusalem zu einem internationalen Ort der Torabelehrung und der Befriedung der Völker werden könnte (Jes 2,1–5). Als die Seleukiden die Ptolemäer bezwangen und die Herrschaft über Jerusalem erlangten, waren die wichtigen Familien gespalten in Anhänger der Ptolemäischen und der Seleukidischen Herrschaft. Ein Teil war nach Samaria abgewandert. Die Besetzung des hohepriesterlichen Amtes in Jerusalem wurde in diese Auseinandersetzungen involviert. Unter Antiochus IV. kam es zu einem Versuch der konsequenten Hellenisierung des Kultes. Antiochus wandelt Jerusalem zu einer Militärkolonie um und versieht den Brandopferaltar mit einer Batyle, einem Stein, der dem „Herrn des Himmels“ (Baal Schamajim) geweiht ist: Jahwe wird als eine Manifestation des Zeus angesehen. Die Priesterfamilie der Tobiaden zieht sich ins Ostjordanland zurück, die Priesterfamilie der Oniaden orientiert sich nach Ägypten, wo einer ihrer Söhne, Onias IV., in Leontopolis einen jüdischen Tempel gründet. Die Familien des Mattathias und des Hasmon rufen zum Aufstand gegen Antiochus auf. Es gelingt ihnen, die Unterstützung der antihellenistisch gesonnenen Chasidim zu gewinnen und 164 v. Chr. Jerusalem und den Tempel zurückzuerobern. Im Jahre 152 v. Chr. übernimmt Jonatan das Amt des Hohepriesters und wird zugleich von den Seleukiden in diesem Amt anerkannt. Er und seine Nachfahren bilden ein Priester-Königtum aus, das eine Judaisierung Judas und Samarias anstrebt. Der alte Einsetzungspsalm für die Könige Judas klingt nun wie ein Triumphlied:

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„Warum sind die Nationen in Aufruhr und sinnen die Völker Nichtiges? Die Könige der Erde erheben sich, und es verschwören sich die Fürsten gegen Jahwe und seinen Gesalbten. Aber der im Himmel thront, lacht, Jahwe spottet über sie! ‚Ich habe selbst meinen König eingesetzt auf dem Zion, meinem heiligen Berge!‘“ Ps 2

Im Jahre 109 v. Chr. zerstören die Hasmonäer das Heiligtum der Samaritaner auf dem Garizim. In Jerusalem bildet sich gegenüber der Priesterpartei der „Zadokiden“ die religiöse Parteiung der „Pharisäer“ heraus. Andere Oppositionelle ziehen sich in die Wüste zurück und werden Anhänger der radikalen Basisgemeinschaft von Qumran. Die Königsherrschaft der Hasmonäer zerfällt, als sich die Brüder Hyrkan und Aristobul um die Macht zerstreiten, und sie endet mit der Eroberung Jerusalems durch die Römer im Jahre 63 v. Chr. Ptolemäus setzt Hyrkan als Hohenpriester ein. Unter Cäsar wird das Königtum 37 v. Chr. Herodes dem Großen als einem socius rex übergeben, der mit den Hasmonäern verschwägert war. Seine Bautätigkeit ist immens, sie führt unter anderem zu einem letzten großen Ausbau des Jerusalemer Tempels, der mittlerweile als Wallfahrtsheiligtum große Zahlen von Pilgern zu versorgen hatte. Die machtvollen Mauern, die das Areal umgeben, sind z. T. bis heute erhalten. Nach Herodes zerfiel das Königtum in der Provinz Judäa. Ein Aufstand von radikalen Unbabhängigkeitsgruppen, sog. „Eiferern“ (Zeloten) und „DolchKämpfern“ (66–74 n. Chr.) führte zur Zerstörung des zweiten Tempels, ein neuerlicher Aufstand (132–135 n. Chr.) unter Bar Kochba wurde brutal niedergeschlagen. Die Juden wurden aus Jerusalem vertrieben, die Stadt wurde zur römischen Garnisonsstadt. Das rabbinische Judentum formierte sich unabhängig von einem Kultort, ebenso das aus dem Judentum hervorgegangene Christentum. 8. Ausblick Was aber war aus dem „heiligen Ort“ geworden? In der Theologiegeschichte des zweiten Tempels lässt sich eine sukzessive Spiritualisierung der Präsenzvorstellungen beobachten. Die Gottheit ist wirkmächtig durch ihren Geist, er ist es, der im Tempel in die Mitte der Gemeinde tritt: „Mein Geist steht in eurer Mitte, fürchtet euch nicht!“ Hag 2,5

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Dieser ist wirksam im göttlichen Wort und also in der Tora des Mose und in den Schriften der Propheten. Der irdische Tempel kann die Gottheit nicht fassen, darum wird auch der Cherubenthron und die Lade nicht erneuert (Jer 3,13–18). Gottes Angesicht ruht auf der Stadt, dem Zionsberg, dem Heiligtum, wenn die Tora gelehrt wird (vgl. Dtn 4,10–24), in seinem heiligen Namen, der in der priesterlichen Segenshandlung auf Israel gelegt wird, ist er gegenwärtig. Als Symbol der Vergegenwärtigung genügt seit der Zerstörung im Jahre 70 n. Chr. die alte Tempelmauer. Der äußere Ort ist lediglich der Haftpunkt des religiösen Bewusstseins, das unter den Bedingungen der Zeit nach einem Mittelpunkt sucht. Nach der Zerstörung des zweiten Tempels hielten darum die Rabbinen an dem Gedanken der bleibenden Präsenz Gottes in Jerusalem fest. Im Midrasch Shemot Rabba II zu Ex 3,1 heißt es: „So steht geschrieben Habak. 2,20: ‚Und der Ewige in seiner heiligen Stätte.‘ Vor der Zerstörung des Tempels, sagte R. Samuel bar Nachman, ruhte die Schechina darin s. Ps. 11,4: ‚Der Ewige hat im Himmel seinen Thron gegründet‘. Nach R. Eleasar aber ist die Schechina nicht aus dem Tempel gewichen, wie es heisst 2. Chron. 7,16: (Gott sprach zu Salomo:) ‚Meine Augen und mein Herz sollen immer dort sein‘, und ebenso heisst es Ps. 3,5: ‚Mit meiner Stimme rufe ich zum Ewigen, und er antwortet mir von seinem heiligen Berge.‘ […] Obgleich der Tempel zerstört ist, so ist Gott doch nicht von da gewichen. R. Acha sagte: Nie wich die Schechina von der Mauer an der Abendseite, wie es heisst Cant. 2,9: ‚Siehe, er steht hinter unsrer Mauer‘ vergl. Ps. 11,4: ‚Seine Augen schauen, seine Augenwimpern prüfen die Menschenkinder.‘ R. Janai erklärte: ‚Obgleich seine Schechina im Himmel ist, so blicken doch prüfend seine Augen auf die Menschenkinder.‘“29

Die große kulturhistorische Leistung der Theologie des zweiten Tempels von Jerusalem besteht in der vollkommenen Spiritualisierung des Gottesbildes, wodurch die vollkommene Spiritualisierung des heiligen Ortes ermöglicht wurde.

29

Wünsche 1882, 30; vgl. b.Yoma 21b; Abelson 1912; Goldberg 1969.

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Jerusalem in vorchristlicher Zeit

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Auf der Suche nach den Wurzeln des Erfolgs Das Kultangebot von Delphi und Olympia im Vergleich

Ulrich Sinn (Würzburg)

Die Heiligtümer des Apollon in Delphi und des Zeus in Olympia nahmen bereits in der Antike einen hervorgehobenen Rang unter den griechischen Sakralstätten ein. Diese Einschätzung hat bis heute Bestand und dies nicht nur in der „breiten Öffentlichkeit“. Zahlreiche vergleichende Studien mit weit gestreuter Akzentuierung sind beredte Zeugnisse dieser Beurteilung auch durch die Wissenschaft.1 Dabei wird in der Regel auf Unterschiede abgehoben: Delphi, die Orakelstätte, die mit moralisch-ethischem Anspruch Einfluss auf die individuelle Lebensgestaltung und die Entscheidungen der politischen Verantwortungsträger innerhalb und außerhalb der griechischen Staatenwelt nimmt. Olympia, die Wettkampfstätte, an der sich ursprünglich von ihren Heimatstädten geförderte, später dann auf den individuellen Erfolg erpichte Sportler im athletischen Agon messen. Delphi, eine Stätte, die weit über die griechische Welt hinaus Anziehungskraft besitzt – Olympia, das sich dezidiert an Bewohner mit dem Bürgerrecht griechischer Poleis wendet. Häufig werden auch die augenfälligen geographischen und topographischen Unterschiede als bemerkenswert betont: Delphi in majestätischer Bergwelt an den Hängen des Musenbergs Parnass im Zentrum des Mutterlandes, Olympia im äußersten Westen idyllisch im breiten Tal des sich der Küste nähernden Alpheios gelegen. Bei alledem steht außer Frage: Im allgemeinen Bewusstsein unserer Zeit ist Olympia wegen der – vermeintlich – in guter antiker Tradition stehenden „Olympischen Spiele der Neuzeit“ ungleich stärker verankert als Delphi. Wird das der Stellung beider Sakralstätten gerecht? Erste Annäherung: Ein Blick auf die neuzeitliche Rezeption 1733 veröffentlichte Pietro Metastasio sein Drama „L’Olimpiade“. Die von vielen Irrungen und Wirrungen geprägte Handlung ist nach Art eines Mythos in einer Sofern nicht anders angegeben, stammen die Übertragungen der griechischen und lateinischen Quellentexte ins Deutsche vom Autor. 1 In Auswahl: Felten 1982; Morgan 1990; Maaß 1992; Maaß 2007, 108–112; Neer 2007; Frielinghaus 2010; Scott 2010.

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märchenhaften Sphäre angesiedelt. Ein gewisser Megakles erringt im Olympischen Wettkampf den Sieg. Als Preis erhält er die schöne Aristeia aus Athen zur Braut. Die genauen Anweisungen für das Bühnenbild greifen unverkennbar wesentliche Merkmale der aus der Antike überlieferten Nachrichten über das Erscheinungsbild des Heiligtums auf. Im 18. und frühen 19. Jahrhundert wurde Metastasios Textvorlage mehr als sechzig Mal vertont und fand mit seinen vielfältigen musikalischen Fassungen in ganz Europa großen Anklang – so auch in Wien.2 Hier wurde der bedeutende Vordenker der griechischen Unabhängigkeitsbewegung Rigas Velestinlís, genannt Pheraios, mit dem Libretto vertraut. Rigas hielt sich von 1794 bis 1796 in Wien auf, um von hier aus für die Idee eines vom Osmanischen Reich unabhängigen Balkanstaates zu werben.3 Ihm stand ein Staat vor Augen, der den gesamten Balkan südlich der Donau bis zu deren Mündung ins Schwarze Meer umfassen und natürlich die ägäischen Inseln, aber auch das westliche Kleinasien einschließlich Konstantinopels einbeziehen sollte. Die räumliche Ausdehnung des von ihm konzipierten Föderalstaats unter griechischer Führung manifestierte Rigas in einem monumentalen Tafelwerk, das er unter der Bezeichnung Χάρτα τῆς Ἑλλάδος (Geographische Urkunde Griechenlands) in den Jahren 1796 und 1797 in hoher Auflage verbreitete.4 Die „Charta“ ist ein beredtes Zeugnis der Vorgehensweise Rigas, der nicht als eifernder Umstürzler agierte, sondern als belesener Kenner der griechischen Geschichte und Kultur für seine Idee warb. Seine „Charta“ trägt mit ihren eingefügten Plänen und Abbildungen von antiken Stätten, Bauten und Münzen Züge eines historisch-archäologischen Kompendiums des Griechentums von der Antike bis weit in die Neuzeit.5 Mit gleicher Intention legte er 1797 ein Sammelwerk vor, das drei von ihm ins Neugriechische übersetzte Dichtungen vereinte, darunter unter dem Titel „Olympia“ auch die als Drama ausgearbeitete Übertragung des

2

Zur Oper L’Olimpiade: Maeder 1993; Puchner 2009, 428 mit Anm. 254. – Zur Rezeption des Librettos in Wien auch: Ghelen 1764. 3 Zu Rigas Velestinlis als Wegbereiter des Widerstands gegen das Osmanische Reich: Baumstark 1999, 253–254 Kat. Nr. 61 [E. Turczynski]; Georgiadis 2000, 17–18. Nach 1841 schuf Peter Hess für die nördlichen Arkaden des Münchner Hofgartens einen Bilderzyklus, der in 39 Szenen die Geschichte des griechischen Freiheitskampfes erzählt. Die Bildfolge beginnt mit einer Würdigung Rigas. Die Darstellung trägt den Titel „Rigas begeistert die Griechen für die Freyheit“. Zum Bilderzyklus von Peter Hess im Hofgarten der Münchner Residenz: Baumstark 1999, 306–313 und 334–336 zu Kat. Nr. 168 und 129 [S. Fastert]. 4 Kolorierter Kupferstich, in zwölf Blättern, 205 x 209 cm. Athen, Nationalhistorisches Museum, Inv.-Nr. 640: Baumstark 1999, 255 Kat. Nr. 62 [A. Solomou-Prokopiou]; Livieratos 2008. 5 Pazarli 2008.

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Metastasio-Librettos der „L’Olimpiade“.6 Im Vorwort betonte er ausdrücklich, das Werk sei „zur Aufklärung der griechischen Nation“ bestimmt. Alle diese Aktivitäten sind im Kontext des maßgeblich von Rigas betriebenen Planes zu sehen, die Griechen mit ihrer großen Vergangenheit vertraut zu machen und in ihnen das Bewusstsein ihrer nationalen Zusammengehörigkeit zu schärfen. Nichts schien ihm besser geeignet, als die Einrichtung eines Nationalfestes nach antikem Vorbild. Dass die Vorlage dafür einzig in Olympia zu suchen sei, stand für Rigas außer Frage.7 Hat die Fokussierung auf Olympia ihre historisch fundierte Berechtigung? Wäre nicht Delphi eine ebenbürtige Alternative gewesen? Lassen wir zu Beginn der vergleichenden Betrachtung von Delphi und Olympia zunächst eine antike Stimme zu Wort kommen. Annäherung auf den Spuren des Strabon Schlüsseltexte für die Auseinandersetzung mit der Bedeutung und Entwicklung der beiden Heiligtümer sind nach meinem Dafürhalten die zusammenfassenden Kurzdarstellungen, die der in der Forschung für sein fundiertes Quellenstudium geschätzte Kulturgeograph und Universalhistoriker Strabon in seinem Werk „Geographiká“ rückblickend vom Zeitpunkt der Niederschrift um die Zeitenwende formuliert hat. Die einschlägige Passage zur Charakterisierung Olympias lautet: „Seine Berühmtheit erlangte das Heiligtum ursprünglich (ἐξ ἀρχῆς) durch das Orakel des Zeus Olympios. Als dieses an Bedeutung verlor, verblasste nicht etwa zugleich auch das Ansehen (δόξα) des Heiligtums. Im Gegenteil, seine Bedeutung (αὔξησι) nahm bekanntlich sogar noch zu, nun ausgelöst einerseits durch das Volksfest (διά τε τὴν πανήγυριν …) und durch den Wettkampf, dessen Sieger einen Kranz empfingen und der unter allen Wettkämpfen als der ehrwürdigste angesehen wurde (… καὶ τὸν ἀγῶνα τὸν Ὀλυμπιακόν, στεφανίτην τε καὶ ἱερὸν νομισθέντα τῶν πάντων).“ Strab. 8,3,30 p. 353

Die Charakterisierung Delphis hat Strabon nicht so bündig formuliert, wie er es im Fall von Olympia gehandhabt hat.8 Zu Beginn des Abschnitts über Delphi (9,3,2) bezeichnet er den Ort als einen der beiden bedeutsamsten (ἐπιφανέσταται) innerhalb von Phokis und zwar wegen seines Heiligtums und dessen uraltem Orakel (διὰ τὸ ἱερὸν τοῦ Πυθίου Ἀπόλλωνος καὶ τὸ μαντεĩον ἀρχαĩον ὄν). Zum Orakel heißt es dann später ergänzend (9,3,6), ihm verdanke das Heiligtum: „die 6

Rigas gab seinem Sammelwerk den Titel „Ηθικός Τρίπους“ (Belehrender Dreifuß); Puchner 2009, 427–429. 7 Georgiadis 2000, 36. 8 Strab. 9,3,2–7 p. 417–420.

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größte Wertschätzung (τὸ πλεĩον τιμή), da es im Ruf stehe, seine Weissagungen seien unter allen Orakelstätten die ‚wahrhaftigsten‘ (ἀψευδέστατος).“ Obendrein komme Delphi auch seine geographische Lage zugute, denn es liege im Zentrum der gesamten griechischen Welt (τῆς γὰρ Ἑλλάδος ἐν μέσῳ πώς ἐστι τῆς συμάσης). Da der Ort sogar für den Mittelpunkt der bewohnten Erde (τῆς οἰκουμένης) gehalten werde, trage er auch den Namen „Nabel der Welt“ (ὀμφαλόϛ τῆς γῆς). Seiner günstigen Lage verdanke Delphi, dass sich die Bevölkerung hier leicht einfinden konnte (συνῄεσάν τε ῥᾳδίως), das sei in erster Linie den Anwohnern der näheren Umgebung (μάλιστα δʼ οἱ ἐγγύθεν) zugutegekommen. In diesem Zusammenhang spricht er die Funktion des Heiligtums als das sakrale Zentrum der Amphiktyonie (τὸ Ἀμφικτυονικὸν σύστημα) an (9,3,7). Gleich zweimal betont Strabon die Diskrepanz zwischen dem glanzvollen Erscheinungsbild des Heiligtums in früherer Zeit und dem gegenwärtigen verarmten Zustand (9,3,4: ὠλιγώρηται δʼ ἱκανῶς καὶ τὸ ἱερόν, πρότερον δ’ ὑπερβάλλόντωϛ ἐτιμήθη; 9,3,8: νυνί γέ τοι πενέστατόν ἐστι τὸ ἱερόν πρότερον δὲ πολυχρήματον ἦν). Als Wesenszüge der vergangenen Blütezeit führt Strabon (9,3,4) die Errichtung der Schatzhäuser durch Städte und Potentaten, die Bildwerke von führenden Künstlern, die Pythischen Spiele und die große Anzahl der überlieferten Orakelsprüche an. Fasst man diese Ausführungen vergleichend zusammen, verbindet beide Heiligtümer, dass ihr Aufstieg zu viel beachteten Kultplätzen maßgeblich vom Ansehen ihres Orakeldienstes und von der Attraktivität ihrer Wettkämpfe begünstigt worden ist. Doch spricht Strabon darüber hinaus auch Merkmale an, in denen sich eine Differenzierung abzeichnet: Nur im Falle von Olympia hebt er die Strahlkraft der Panegyris hervor, während er wiederum nur für Delphi die Pracht der Bauten und Kunstwerke anspricht. Diese vier Faktoren – Orakel, Agone, Ausstattung und Panegyris – sollen im Folgenden unter Einbeziehung der Schriftzeugnisse und der archäologischen Befunde näher ausgeleuchtet werden, um dadurch die Aussagekraft der Einschätzung durch Strabon auf den Prüfstand zu stellen. Abschließend soll dann kurz noch einmal der Blick auf die eingangs angesprochene so einseitig auf Olympia fokussierte Rezeptionsgeschichte gerichtet werden. Delphi und Olympia als Orakelstätten Für das Orakel von Delphi bestätigt die Sichtung der archäologischen, literarischen und epigraphischen Zeugnisse eine klare Übereinstimmung mit den Ausführungen Strabons. Durch die rühmende Darstellung bereits in den Homerischen Epen9 und im wohl gleichfalls frühen „Homerischen“ Apollon-Hymnus10 ist die 9

Hom. Il. 1,72; 9,404–405; Hom. Od. 8,79–80. H. Hom. Ap. 179–546.

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besondere Wertschätzung des Orakels bereits für das 8. und 7. Jh. v. Chr. bezeugt. Das Spektrum der Fragen, die der Pythia vorgelegt wurden, umfasste alle Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens.11 Besonders aktiv wirkte das Orakel auf die Gesetzgebung griechischer Poleis ein. In einigen Fällen gingen von Delphi Impulse für die Kolonisation aus. Seine Autorität war auch bei militärischen Auseinandersetzungen gefragt. 12 Die Zahl der Ratsuchenden ist selbst in der nur bruchstückhaften Überlieferung beeindruckend. Dabei ist bemerkenswert, dass auch Fremde aus Kleinasien, von der italischen Halbinsel und aus Ägypten der Pythia ihr Vertrauen schenkten. Viele Sprüche des Orakels wurden als zeitlos gültige Orientierungen einer ethischen und moralischen Lebensführung aufgenommen. Folgerichtig ist das Wirken der Pythia nicht allein Gegenstand der Historiographie. Wesentliche Reflexe finden sich in der Dichtkunst und in philosophischen Schriften. Ihre nachhaltige Verbreitung verdankten die Sprüche der Pythia Editionen wie der um 200 v. Chr. erschienenen Schrift „Über Orakel“ (περί χρησμῶν) des Mnaseas aus Patara. Vorübergehend sah sich das Orakel in Delphi im 4. Jh. v. Chr. einem Rückgang der Frequentierung ausgesetzt. Doch gewann es im 2. Jh. v. Chr. das Vertrauen von Ratsuchenden zurück. Bei merklich nachlassendem Zustrom seit dem 2. Jh. n. Chr. tat das Delphische Orakel noch bis in die späte Kaiserzeit Dienst. Dabei sah es sich vielfacher Polemik aus Kreisen der Christen ausgesetzt. Im 4. Jh. n. Chr. überzog der Kirchenlehrer Gregor von Nazianz das Wirken der Pythia mit beißendem Spott: Sie verkünde nur Märchen und dummes Gerede; der vermeintlich heilige Lorbeer sei nichts anderes als ein ganz gewöhnliches Gewächs. Diese herabsetzenden Worte Gregors sind Teil einer gegen Kaiser Julian gerichteten Schmäh-Rede. Dessen Maßnahmen zur Wiederbelebung der antiken Kulte führten zu einer weiteren Steigerung der Anfeindungen seitens der Christen. Geschickt bedienten sie sich dabei auch des Delphischen Orakels selbst: Sie verbreiteten die Nachricht, Julian habe sich seinen religionspolitischen Schwenk durch Befragung der Pythia absichern wollen. Genüsslich brachten sie die als „Letztes Orakel“ in die Geschichte eingegangene Antwort unter das Volk: „Sagt dem Kaiser: Ohne Wirkung ist der kunstvolle Sitz des Gottes. Apollon hat sein Obdach verloren, die weissagende Kraft des Lorbeers und des Wassers der Quelle ist versiegt.“13 Ob authentisches Dokument oder Legende – in den Augen der Kirchenlehrer galt Delphi noch im 4. Jahrhundert als ein so wirkungsmächtiges Bollwerk gegen die ungehinderte Ausbreitung ihrer Religion, dass sie mit solcher Vehemenz zu 11

Eine konzise Darstellung des Orakels in Delphi mit umfangreicher Bibliographie und ausführlichen ikonographischen, literarischen und epigraphischen Belegen bei Suárez de la Torre 2000; Arnush 2005. 12 Zur Einbindung von Sehern in das Kriegswesen: Burkert 2000. 13 Maaß 1993, 17–19.

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Werke gingen. Auch hier finden wir Strabons Darstellung bestätigt: Seine Achtung als eine der bedeutsamsten Sakralstätten der Antike verdankte Delphi maßgeblich seinem Orakel. Was Strabon freilich nicht vorhersehen konnte: Die von den Kirchenvätern als gefährlich erachtete Autorität seines Orakels sollte Delphi in der Spätantike und damit auch in der nachantiken Rezeption zum Nachteil gereichen. Auch zur Einrichtung der Orakelstätte in Olympia leistete Delphi seinen Beitrag. Legt man die bei Pindar überlieferte Gründungslegende zugrunde, sind die Seher in Olympia von Delphi aus in ihren Orakeldienst eingesetzt worden. In seiner für die Siegesfeier des Hagias aus Syrakus 468 v. Chr. verfassten sechsten Olympischen Ode gibt Pindar folgende Darstellung des Vorgangs: Am Gestade des Alpheios habe Apollon mit der arkadischen Königstochter Euadne einen Sohn gezeugt: Iamos. Den habe er später zu sich nach Delphi geholt, ihn in der Seherkunst unterwiesen, um ihm dann gemeinsam mit Herakles in Olympia am Aschenaltar des Zeus eine eigene Orakelstätte einzurichten14. Herr des Orakels war Zeus. Apollons Rolle beschränkte sich auf die eines Mentors der olympischen Seher. Pindar beendet die Schilderung der Gründung des Orakels mit der Huldigung: „Seitdem gewann höchsten Ruhm (πολυκλειτόϛ) in Hellas der Iamiden Geschlecht. Segen umgab sie; und ehrend Tugend und Mut, schreiten auf leuchtender Bahn sie hin.“ Pind. O. 6,70–73

Aus der Sammlung der einschlägigen Belege durch Ludwig Weniger geht hervor, dass die Iamiden und an ihrer Seite die Seher aus dem Geschlecht der Klytiaden darauf spezialisiert waren, Rat in Kriegsangelegenheiten zu erteilen. In der Regel begaben sie sich dafür an den Ort der Kampfhandlungen. Weniger bezeichnete die olympischen Seher denn auch als „Feldpriester“.15 Zu den in ganz Griechenland wahrgenommenen Leistungen zählte ihre wegweisende Mitwirkung bei den Entscheidungsschlachten in Platää und später in Aigospotamoi.16 Das hohe Ansehen der olympischen Sehergeschlechter zeigt sich auch in der Berufung einiger ihrer Mitglieder in die Dienste fremder Herren und Städte – stets sind sie als Ratgeber in Kriegsangelegenheiten gefragt.17 14

Pind. O. 6,30–77. Weniger 1915, 73 und 112. 16 Weniger 1915, 68–82; die Auflistung der olympischen „Feldpriester“ beginnt mit der aktiven Teilnahme eines Iamiden bei der Gründung von Syrakus (Pind. O. 6,6) und endet mit dem Wirken des Sehers Thrasybulos in einer sonst nicht überlieferten um 250 v. Chr. ausgetragenen Schlacht Mantineias gegen Sparta (Paus. 6,2,4; 8,10,5). 17 Ein namentlich nicht genannter Iamide tat Dienst am Hof des Polykrates in Samos (Hdt. 3,132); der Iamide Kallias war in Sybaris für den König Telys tätig, wechselte dann aber, nachdem sein Seherspruch missachtet wurde, das Lager und verhalf den Krotoniaten zum 15

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Pindar formulierte den Text, als das Orakel von Olympia im Zenit seines Wirkens stand. Der Rat der Olympischen Seher war freilich nur während der kurz bemessenen Spanne vom 8. bis zum 4. Jh. v. Chr. gefragt.18 Zu ihrem Wirken nach der Mitte des 4. Jhs. v. Chr. liegen nur noch disparate Zeugnisse vor. Bezüglich des konkreten Vollzugs und insbesondere auch der den Sehern vorgelegten Fragen sind sie wenig aufschlussreich.19 Weniger umreißt ihre Tätigkeit zusammenfassend mit folgenden Worten: „Darin, daß sie den Opfern beiwohnten und den Vorgang beobachteten, bestand die Hauptaufgabe des olympischen Seheramts. Die heilige Handlung lag bei den Darbringungen des Staates den Theokolen mit ihren Spondophoren ob. Aber die Seher verfolgten alle Vorgänge der Opferung mit Aufmerksamkeit und urteilten auf Grund ihrer Sachkenntnis, ob die Darbringung Erfolg habe und von der Gottheit wohlgefällig aufgenommen werde, und im Anschluss daran, ob das Gebet des Opfernden Erhörung finde.“20

Auch während der römischen Kaiserzeit taten Seher (μάντεις) noch immer Dienst. In den Kultpersonalinschriften sind sie prominent an dritter Stelle aufgelistet.21 Auch jetzt noch waren es Angehörige der beiden Sehergeschlechter der Iamiden und Klytiaden. Ihnen oblag nun in erster Linie die Pflege des Zeusaltars, dessen Aschenkegel sie in einem jährlich vollzogenen Ritual festigten.22 Auch bei dem monatlichen Opfervollzug an allen Altären im Heiligtum sind sie zugegen.23 In Olympia war man sich der Bedeutung des Orakels für das Aufblühen des Kultplatzes und dessen Aufstieg zu dem wohl bekanntesten Heiligtum im Mittelmeerkulturraum offensichtlich bewusst. Gemessen an der langen Dauer des Kultbetriebs vom späten 11. Jh. v. Chr. bis in das zweite Jahrzehnt des 5. Jhs. n. Chr. prägte der Orakeldienst nur während einer vergleichsweise kurzen, wenn auch entscheidenden Phase das Kultgeschehen in Olympia – und dies zudem mit einem sehr eingeschränkten Wirkungsfeld. Der archäologische Befund bestätigt Strabons Darstellung vom Impuls gebenden Charakter des Orakels und dessen frühzeitigem Verblassen.

Sieg gegen Sybaris (Hdt. 5,44); bei seiner Teilnahme am Feldzug der Zehntausend versichert sich Xenophon als Feldherr vor dem Angriff gegen den Perser Asidates der Auskunft des elischen Sehers Vasias (Xen. an 7,8,10); weitere Belege bei Weniger 1915, 73– 78. 18 Weniger 1915, 68–75. 19 Weniger 1915, 82–104. 20 Weniger 1915, 96. 21 Dittenberger/Purgold 1896 [1966], 135–234 Nr. 58–141; Weniger 1915, 53–66; Siewert/Tauber 2013, 65–68 Nr. 17 und 18. 22 Paus. 5,13,11; 5,15,9; Sinn 2005, 362–365. 23 Paus. 5,15,10.

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Delphi und Olympia als Wettkampfstätten In den ersten Jahrzehnten des 6. Jhs. v. Chr. erfuhr die griechische Agonistik einen grundlegenden Wandel. In dichter Folge ordneten viele Städte die in ihren Heiligtümern ausgetragenen Wettkämpfe neu. 586/5 oder 582/1 v. Chr. erweiterten die Amphiktyonen in Delphi das ursprünglich rein musische Programm um athletische Agone.24 582/1 v. Chr. hat Korinth im Poseidon-Heiligtum in Isthmia erstmals Wettkämpfe für Athleten ausgerichtet.25 Kleonai reagierte 573 v. Chr. mit athletischen Agonen im Zeus-Heiligtum von Nemea.26 Wenige Jahre später folgte Athen, wo seit 566/5 v. Chr. zusätzlich zu den „Kleinen Panathenäen“ die „Großen Panathenäen“ als pentetärisches Fest gefeiert wurden.27 Auch an Olympia ging diese Reorganisation des Wettkampfwesens nicht spurlos vorüber: Etwa um 560/550 v. Chr. wurde das Zeus-Heiligtum erstmals mit einem architektonisch gefassten Stadion ausgestattet.28 Die vier Heiligtümer, deren Agone den „Periodos“ bildeten, richteten schon vor dessen Einrichtung Wettkämpfe aus. Doch nur die Olympien konnten schon vor der Zäsur im frühen 6. Jh. v. Chr. auf eine mehr als einhundertjährige weit überregionale Wettkampfgeschichte verweisen. Aus der literarischen Überlieferung lässt sich ableiten, dass Freunde aber ebenso auch Kritiker des Athletentums spätestens im 6. Jh. v. Chr. an erster Stelle nach Olympia blickten, wenn sie sportliche Leistungen kommentierten. Mit scharfen Worten kritisiert Xenophanes die Verherrlichung von erfolgreichen Athleten: „Freilich, falls einer den Sieg mit den hurtigen Füßen erstreitet Oder im fünffachen Kampf drüben im Haine des Zeus Nahe dem Pisas-Quell in Olympia oder als Ringer Oder auch weil er der Faust schmerzende Künste versteht Oder im schrecklichen Allkampf, wie sie ihn nennen: Dem wird sein wachsender Ruhm hoch von den Bürgern bestaunt. […] Wahrlich ein wenig erfreulicher Brauch, wenn Bürger zu Unrecht Höher bewerten die Kraft als einen tüchtigen Geist.“

Xenophanes schließt mit dem Vorwurf an die Athleten, dass sie mit ihrem egoistischen Schielen auf ihre durch einen Sieg in Olympia schnell zu erringende Populariät nichts zum Erhalt ihrer Heimatstadt beitragen: „Dadurch füllen sie nicht, glaubt mir’s, die Speicher der Stadt.“29 24

Zur Datierung der ersten Pythien: Brodersen 1990: 586/5 v. Chr. als Wert-Agon, 582/1 v. Chr. als Kranz-Agon; Perrot 2009: 582/1 v. Chr. 25 Gebhard 1992, 73–74. 26 Miller 1992, 81. 27 Bentz 1998, 11–12. 28 Kyrieleis 2011, 121–122; Hellner 2012, 278–281. 29 Xenophan. 2. Elegie.

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In seinen Epinikien vertritt Pindar die Überzeugung, dass sich ein Athlet erst dann zu den wirklich Besten zählen durfte, wenn ihm ein Sieg in Olympia gelang. So lässt er das Siegeslied für Arkesilaos aus Kyrene, der 462 v. Chr. bei den Pythien das Wagenrennen gewonnen hatte, mit dem Wunsch enden: „Des Zeus mächtiger Wille lenkt ihm teurer Männer Schicksal. Zu ihm bete ich, in Olympia solch eine Ehre noch zu verleihn.“ Pind. P. 5,122–124 (Übersetzung O. Werner)

In der Ode für den Ringer Theaios aus Argos, der mehrmals in Delphi, Nemea und Isthmia zum Sieger ausgerufen worden war, zögert Pindar nicht, den Finger in die Wunde der Erfolglosigkeit bei den Wettkämpfen in Olympia zu legen: „Vater Zeus, wonach ihm der Sinn steht, darüber schweigt ihm der Mund; allen Tuns Endziel liegt bei dir; nicht Mühsal scheuenden Herzens, nein, Mut beweisend, erfleht er sich Huld.“ Pind. N. 10,29–30 (Übersetzung O. Werner)

Diese beiden Passagen stehen im Einklang mit der Wertung, die Pindar in seiner 468 v. Chr. verfassten 6. Olympischen Ode vornimmt. Dort bescheinigt er dem Zeusheiligtum, die hier ausgetragenen Wettkämpfe seien die bedeutsamsten von allen (μέγιστος ἀέθλων). Spätestens im frühen 5. Jh. v. Chr. waren die Olympien, die Pythien, die Isthmien und die Nemeen aus dem Kreis der zahllosen Wettkämpfe als „KranzAgone“ hervorgehoben. Für die Athleten war die Teilnahme mit dem erstrebenswerten Ziel verbunden, durch unmittelbar aufeinanderfolgende Siege an allen vier Stätten („Periodos“) den Ehrentitel „Periodonike“ zu erwerben.30 Allen „KranzAgonen“ gemeinsam war ferner die sanktionierte Entlehnung ihres Regelwerks durch Wettkämpfe in anderen Heiligtümern, die sich dann als „Olympien-gleich“ (agon isolympios), „Pythien-gleich“ (isopytios) usw. bezeichnen durften. Die Kriterien bei der Wahl des als Vorbild auserkorenen Wettkampfs sind nicht durchgängig zu erkennen. Doch gab wohl nicht zwingend die Reputation, sondern vorrangig das Programm den Ausschlag. So entschied man sich bei der Neugründung des „Leokophryena“ im Artemisheiligtum von Magnesia am Mäander für die Pythien, weil man nicht nur athletische, sondern auch musische Agone ausrichten wollte. Ferner dürfte bei der Bezugnahme auf die Pythien eine Rolle gespielt haben, dass man zur Wiederbelebung des Festes und den damit verbundenen AsylieVereinbarungen das Orakel von Delphi befragt hatte.31

30

Zur Einrichtung der Kranzagone und des Periodos: Ulf 1997, 53–56; Czech-Schneider 1998, 355–382. 31 Chaniotis 1999, 54–64.

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Was war die Ursache dafür, dass ein Sieg in Olympia ein höheres Renommee einbrachte als ein Erfolg in Delphi? Die Voraussetzungen für einen sachgerechten Vergleich des Wettkampfgeschehens in Delphi und Olympia sind wegen der stark differierenden Überlieferungslage problematisch. So listet Pausanias im Rahmen seiner in der Mitte des 2. Jhs. n. Chr. verfassten Beschreibung Olympias die Namen und Leistungen von 197 Olympioniken auf, die im Heiligtum mit der Errichtung von Siegerstatuen verewigt worden sind. Dadurch erfahren wir unter anderem Wesentliches über die Herkunft der in Olympia erfolgreichen Sportler. In Delphi, dessen Wettkämpfe durch die Einbeziehung musischer Agone deutlich umfangreicher und inhaltlich dadurch anspruchsvoller waren, lässt er seine Leser mit einer wahrlich bemerkenswerten Begründung im Stich: „Ich werde nun über die Weihgeschenke sprechen, die meiner Meinung nach einer Erwähnung wert sind. Die wenigsten Menschen interessiert es, etwas über die Teilnehmer an den musischen Wettbewerben zu erfahren. Das gleiche gilt für zahlreiche unter den Athleten. Die Athleten aber, die Bemerkenswertes geleistet haben, wurden schon in meiner Beschreibung Olympias gewürdigt.“ Paus. 10,9,1–2

Die Suche nach einer Antwort auf die Frage nach der Ursache für den Vorrang der Olympien findet Nahrung bei einem anderen Vergleich: Sowohl für Olympia als auch für Delphi wurden in der Antike Listen der Wettkampfsieger angefertigt. Das auf Aristoteles und seinen Neffen Kallisthenes zurückgehende Verzeichnis der Sieger in Delphi hat seinen Weg nicht in die Neuzeit gefunden. 32 Anders erging es der im späten 5. Jh. v. Chr. von Hippias aus Elis vorgelegten Olympionikenliste. Sie liegt uns mit mancherlei Fehlstellen in hellenistischen und spätantiken Abschriften vor. 33 Inschriftenfunde aus den Grabungen konnten einige Lücken schließen oder falsche Ergänzungen korrigieren.34 Ungeachtet der bereits in der Antike angezweifelten und heute als Fiktion eingeschätzten Eintragungen zu den ersten Jahrzehnten35 lag nach damaliger Einschätzung offenbar nur mit dieser Chronik ein Kalendarium vor, das in ganz Griechenland gleichermaßen verstanden wurde: Nur die Namen der in Olympia erfolgreichen Athleten waren in aller Munde. Am Datum ihres Sieges konnte man sich überall in der griechischen Welt orientieren. Die Zeitgenossen des Hippias, die Historiker Herodot und Thukydides, bestimmten den Zeitpunkt eines Ereignisses noch mit der Nennung der Amtszeit eines hohen Würdenträgers in der 32

Zur Delphischen Siegerliste: Maaß 1993, 77 mit Lit. in Anm. 8. Wacker 2012, 269–273. 34 Zuletzt Siewert/Tauber 2013, 75–86 Nr. 21–33. 35 Zum aktuellen Forschungsstand kritisch zusammenfassend: Kyrieleis 2011, 132–133; Christesen 2007. 33

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jeweiligen Stadt. Thukydides behalf sich damit, die Amtsträger mehrerer Städte anzugeben. Das erweiterte die Nachvollziehbarkeit zumindest auf einen größeren geographischen Raum. Im 3. Jh. v. Chr. ergänzte der auch historisch versierte Geograph Eratosthenes die Siegerliste des Hippias durch eine Synopse der bis dahin gebräuchlichen lokalen Jahreszählungen. Damit gab er den Anstoß, dass die Olympionikenliste die Vielzahl der lokalen Zeitrechnungen ablöste. 700 Jahre hindurch, vom 3. Jh. v. Chr. bis in das ausgehende 4. Jh. n. Chr., war die Olympiadenzählung in der griechisch geprägten Welt das kanonische Zeitmaß, aber auch in Rom wusste man die Angaben der Olympiadenzählung mit dem eigenen Zeitsystem ab urbe condita zu korrelieren. Wie stark das agonistische Geschehen in Olympia auf die Wahrnehmung in der griechischen Welt ausstrahlte, lässt sich an der Passage eine Rede des Isokrates nachvollziehen. Sie betrifft das Verhalten des Alkibiades, der seine politische Karriere durch einen Olympiasieg beflügeln wollte. Isokrates zitiert den Sohn des Alkibiades mit folgenden Worten:36 „Mein Vater sah, dass die Festversammlung in Olympia (τὴν ἐν Ὀλυμπίᾳ πανήγυριν) von allen Menschen hoch geschätzt und bewundert wurde und dass die Griechen dort ihren Reichtum, ihre Körperkraft und ihre Erziehung zur Schau stellten. Er erkannte, dass die dort erfolgreichen Athleten beneidet und die Heimatstädte der Sieger berühmt wurden, und er wusste, dass Leistungen, die man in der Heimatstadt Athen vollbringt, zwar dem einzelnen jeweils bei seinen Mitbürgern Ansehen einbringen, dass aber die in Olympia erbrachten Leistungen den Ruhm der Heimatstadt in ganz Griechenland (εἰς ἅπασαν τὴν Ἑλλάδα) vermehrten. Er wandte sich deshalb der Pferdezucht zu. Er schickte seine Pferde ins Rennen und übertraf nicht nur alle seine Gegner, sondern auch alle, die jemals vorher siegreich gewesen waren.“ Isokr. 16,32

Die Rechnung ging auf. Seinen triumphalen Erfolg in Olympia feierte Alkibiades im Jahr 416 v. Chr. Ein Jahr später trat er vor die athenische Volksversammlung und hielt eine flammende Rede, mit der er die Bürger zu einem Feldzug gegen die sizilischen Städte Selinus und Syrakus aufstachelte – natürlich mit ihm als Feldherrn. Die Warnungen seines um Frieden bemühten Widersachers Nikias liefen ins Leere; gegen das populistische Auftreten des „Helden von Olympia“ hatte er keine Chance. Die Volksversammlung ließ sich blenden und stimmte für den Feldzug, der mit einer katastrophalen Niederlage Athens endete. Das für unsere Frage entscheidende Stichwort in der Rede das Isokrates ist die „Panegyris“, die Strabon in der Nachfolge des Orakels in Verbindung mit dem Agon als herausragendes Merkmal benennt.

36

Isokr. 16,32; Mauritsch 2012, 182–184.

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Die Panegyris in Delphi und Olympia Als Panegyris bezeichneten die Griechen ganz allgemein ein festliches Ereignis, zu dem sich eine große Teilnehmerzahl zusammenfand.37 Angesprochen war in erster Linie die Bevölkerung der Stadt, die das Fest ausrichtete. Die Verantwortlichen konnten aber weitere Gäste aus Städten einladen, mit denen besondere Beziehungen bestanden. Eine Panegyris wurde im Heiligtum begangen, insofern ist sie im Bereich des Sakralwesens verortet. Der im Deutschen gern dafür verwendete Begriff „Kultfest“ ist jedoch irreführend, weil er die in den antiken Quellen hinreichend bezeugte Eigenständigkeit einer Panegyris gegenüber den rituellen Elementen des Festes nicht angemessen gewichtet. Ein anschauliches Beispiel für die gebotene Differenzierung liefern die Inschriften zur Neugründung der Leukophryena im Artemis-Heiligtum von Magnesia am Mäander. In der offiziellen Bezeichnung des zwischen 221 und 206 v. Chr. konstituierten Festes werden folgende drei Elemente separiert aufgeführt: Opferhandlungen, Panegyris und Agon (θυσίας καὶ πανήγυριν καὶ ἀγῶνα)38. In der facettenreichen schriftlichen Überlieferung zum Wesen einer Panegyris schält sich überdeutlich deren grundsätzlich sinnenreicher, entspannter, aber auch kommerzieller Charakter heraus. Mit einer kleinen Auswahl von drei Texten lässt sich die auf einer Panegyris herrschende Atmosphäre anschaulich vermitteln.39 Zunächst eine Szene aus der Komödie „Der Frieden“ des Aristophanes. Als Anführer einer Truppe von Kriegsverdrossenen will Trygaios die Friedensgöttin Eirene aus der Gewalt ihres Widersachers Polemos befreien. Von seinen Mitstreitern verlangt Trygaios volle Konzentration auf die gefahrvolle Aktion, doch ihnen steht der Sinn nach Tanz und Frohsinn. Um seine Mannen bei Laune zu halten, verweist Trygaios getreu dem Motto „erst die Arbeit, dann das Spiel“ auf das reiche Angebot an späteren Vergnügungen. Unter den von Trygaios aufgezählten Möglichkeiten einer genussvollen Zerstreuung fehlt nicht die Anregung zum Besuch einer Panegyris (εἰς πανηγύρεις θεωρεῖν).40 Bei Platon findet sich die Geschichte von dem Pamphylier, dem es ermöglicht worden war, das Wohlbefinden jener Verstorbenen zu beobachten, die von den Himmelsrichtern für ihren gerechten Lebenswandel belohnt wurden. Er vergleicht deren Dasein mit dem Behagen von Teilnehmern an einer Panegyris (ἀσμένας εἰς τὸν λειμῶνα ἀπιούσας οἷον ἐν πανηγύρει κατασκηνᾶσται). 41 Eine weitere Facette der Atmosphäre auf einer

37

Zur Panegyris allgemein: Ziehen 1949; Nilsson 1955, 826–831. Chaniotis 1999, 58. 39 Anschauliche Beschreibungen finden sich auch bei Thuk. 3,104, 3–6 (Delos); Athen. 4 p. 139–140 (Amyklaion); Ail. var. 3,1 (Tempetal). 40 Aristhoph. Pax 342. 41 Plat. pol. 10 p. 614e. 38

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Panegyris soll mit den leicht überspitzten Worten des Dion Chrysostomos angesprochen werden: „Zur Zeit der Isthmischen Spiele nun, als alles am Isthmos versammelt war, machte sich auch Diogenes auf den Weg dorthin. Er besuchte gern die festlichen Versammlungen der Griechen (παρετύγχανε δὲ ταῖς πανηγύρεσιν), um dort Charakterstudien zu betreiben und zu erkunden, was die Menschen umtreibt, weshalb sie sich auf Reisen begeben oder worauf sie sich etwas einbilden. […] Zu jener Zeit war es auch, dass man rings um den PoseidonTempel beobachten konnte, wie erbärmliche Sophisten schrien und sich gegenseitig beschimpften, ihre sogenannten Schüler miteinander stritten, viele Prosaisten ihre stumpfsinnigen Schreibereien vorlasen, viele Dichter ihre Werke rezitierten und beim Publikum Beifall ernteten, viele Gaukler ihre Kunststücke zeigten, viele Wahrsager die Zeichen deuteten, zahllose Redner das Recht verdrehten und nicht wenige Krämer verhökerten, was sie gerade hatten.“ Dion Chrys. Or. 8,6.9 (Übersetzung W. Elliger)

Ausgehend von solchen Quellen verwendet Ludwig Ziehen für den griechischen Terminus „Panegyris“ im Deutschen die m. E. treffende Bezeichnung „Volksfest“.42 Derartige Volksfeste in Verbindung mit Kulthandlungen und Wettkämpfen sind aus dem Festwesen der griechischen Städte nicht wegzudenken. Als Austragungsstätten erlebten die Heiligtümer während der Festzeit ihren stärksten Zustrom und bezüglich ihrer Infrastruktur auch ihre größte Herausforderung. Bezogen auf die hier einem Vergleich unterzogenen Feste in Delphi und Olympia verdient eine Passage in Philostrats Werk über das Leben des Apollonios von Tyana Aufmerksamkeit: Apollonios wird auf seine Besuche sowohl der Olympien wie der Pythien angesprochen:43 „Man sagt, die Besucher der Pythien würden mit dem Klang von Blasinstrumenten, Gesängen und dem Klang der Lyra begleitet. Man dankt ihnen ihr Kommen mit Aufführungen von Komödien und Tragödien, und schließlich präsentiert man ihnen Darbietungen und Wettkämpfe, ausgeführt von nackten Athleten. In Olympia jedoch befreit man sich von allem Überflüssigen und des Platzes Unwürdigem. Die Besucher der Olympien werden wie zu Zeiten des Herakles einzig versorgt mit den Darbietungen der nackten Athleten.“ Philostr. v. Ap. 6,10

Apollonios bringt diesen Vergleich, um den Unterschied zwischen den indischen und den griechischen Weisheitslehrern zu erläutern. Während jene die Menge mit allen denkbaren aufreizenden Verlockungen und Zaubereien auf sich aufmerksam

42 43

Ziehen 1949, 582; ähnlich auch Weiler 2004b, 180–181. Philostr. v. Ap. 6,10; Maaß 1993, 79.

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machen, wie es den zu den Pythien geladenen Gästen widerfahre, übe man sich bei den Griechen in der Weisheit ebenso bodenständig und entblößt von allen äußerlichen Genüssen wie die ohne Bekleidung agierenden Athleten bei den Olympien. Diese allegorische Differenzierung beider Feste spiegelt das so unterschiedliche Erscheinungsbild beider Sakralstätten wider. Delphi zog seine Besucher sowohl im Temenos des Apollon wie im Bezirk der Athena durch die große Zahl prachtvoller und abwechslungsreich gestalteter Bauten in den Bann.44 Olympia fügte sich mit seinem Heiligen Hain und der vergleichsweise sparsamen, mit Ausnahme des Zeus-Tempels wenig beeindruckenden Bebauung45 harmonisch in die umgebende Natur ein. Dies hat augenscheinlich auch Pindar so empfunden, in dessen Olympischen Oden sich stimmungsvolle Naturbeobachtungen finden lassen.46 Dennoch: Obwohl Delphi ebenso wie Olympia regelmäßig seine Spondophoren aussandte, um zum Fest einzuladen, erzielte es für seine Pythien nicht die gleiche Anziehung wie Olympia für die Olympien. In seiner 468 v. Chr. verfassten sechsten Olympischen Ode, bescheinigt Pindar dem Zeusheiligtum, das „volkreichste Fest“ auszurichten (ἐορτάν τε κτίσῃ πλειστόμβροτον).47 Zahlreich sind die Belege, dass es die in ihrem Umfang einzigartige Ansammlung von Menschen aus allen Regionen der griechischen Welt mit ihren überseeischen Kolonien war, die Olympia gegenüber den anderen Festorten attraktiver machte. Von den Intentionen, die Alkibiades zu seinem Auftritt in Olympia führten, war bereits die Rede. In die gleiche Richtung weist eine Passage in Lukians Schrift über den Historiker Herodot. Darin versetzt er seine Leser in die Zeit kurz nach der Mitte des 5. Jhs. v. Chr. zurück, als Herodot sein Geschichtswerk vollendet hatte und es nun bekannt machen wollte. Lukian schreibt:48 „Von einer Stadt zur anderen zu reisen und sein Werk nacheinander erst den Athenern, dann den Korinthern und Argivern und schließlich den Spartanern jeweils gesondert vorzulesen, hielt er für zu umständlich und zu langwierig. So war er auf der Suche nach einem Ort, an dem er auf eine Resonanz bei allen Griechen (τοὺς Ἕλληνας ἅπαντας) hoffen konnte. Zu seinem Glück

44

Maaß 1993, 152: „Die Menge der Schatzhausbauten bildete einen Inbegriff des delphischen Heiligtums.“; zu den Schatzhäusern: Partida 2000. 45 Während Strabon für Delphi die architektonische Ausstattung rühmend hervorhebt, geht er in seinen Ausführungen zu Olympia auf die Architektur nicht ein. Pausanias reduziert seine Beschreibungen olympischer Bauten mit dürren Worten auf äußerliche Fakten. 46 Philipp 2006. 47 Pind. O. 6,69. 48 Lukian. Herod. 1–2 (in Auszügen, übertragen vom Autor); als von Herodot geschickt gewählte Gelegenheit spricht Lukian die Panegyris in Olympia nochmals in Abschnitt 7 an.

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stand gerade das große Fest der Olympien (Ὀλύμπια τὰ μεγάλα) bevor. Eine günstigere Gelegenheit für sein Ansinnen, alle Griechen auf einmal zu erreichen, hätte er sich nicht wünschen können. Er wartete also ab, bis das Volksfest (πανήγυρις) sehr gut besucht und die besten Männer aus allen Teilen Griechenlands (ἁπανταχόθεν) waren. Dann trat er im rückwärtigen Raum (ὀπιστοδόμος) [des Zeus-Tempels] auf und las aus seinem Geschichtswerk vor. Danach war sein Name bekannter als die der Olympiasieger. Wer ihn nicht in Olympia selbst gehört hatte, erfuhr es von denen, die vom Fest (πανήγυρις) in ihre Heimat zurückgekehrt waren. Nach diesem Erfolg gab es in der griechischen Welt niemanden mehr, dem der Name und das Werk des Herodot unbekannt gewesen wäre. Durch den Auftritt bei einer einzigen, das ganze Volk erfassenden Menschenansammlung erhielt er für sein Geschichtswerk einhellige Zustimmung (ἐν μιᾷ συνόδῳ πάνδημόν τινα κοινὴν ψῆφον τῆς Ἑλλάδος). Als Übermittler fungierte kein Herold des Zeus, es waren die Teilnehmer am Fest, die die Kenntnis in allen Städten verbreiteten (ἐν ἁπάσῃ πόλει, ὅθεν ἕκαστος ἧν τῶν πανηγύριστῶν).“ Lukian. Herod. 1–2

Um ein Bad in der Menge zu nehmen, reiste auch Themistokles nach Olympia. Der Feldherr, auf dessen Rat hin sich die griechische Flotte 480 v. Chr. in der Meerenge bei Salamis auf eine Seeschlacht gegen die Perser eingelassen und gesiegt hatte, konnte sich seines Ruhmes nur für kurze Zeit erfreuen. Seine Popularität begann zu wanken, als sich Sparta den kriegsentscheidenden Sieg über die Perser in der Feldschlacht bei Platää 479 v. Chr. auf die eigenen Fahnen schreiben konnte. Das zähe Ringen des Themistokles um Ansehen und Macht ist Thema mancher Berichte in der griechischen Geschichtsschreibung.49 Vom Ehrgeiz getrieben, so Plutarch, setzte sich Themistokles 476 v. Chr. durch den Besuch der ersten Olympischen Panegyris nach dem Ende der Perserkriege wirkungsvoll in Szene: „Als dann bei der nächsten Feier der Olympischen Spiele (τὰ Ὀλύμπια) Themistokles im Stadion erschien, vergaßen die Zuschauer, wie berichtet wird, völlig die Kämpfenden, sahen den ganzen Tag nur auf ihn und zeigten ihn den Fremden unter freudigem Händeklatschen. Er selbst gestand seinen Freunden, jetzt ernte er den Lohn für seine Mühen um Griechenland.“ Plut. Them. 17,2–18,1

Die Olympien des Jahres 324 v. Chr. standen ganz im Zeichen eines politischen Ereignisses von besonderer Tragweite. Beunruhigt über die große Zahl der in Griechenland umherirrenden Flüchtlinge und Verbannten, für deren Zunahme Alexander d. Gr. selbst Mitverantwortung trug, veranlasste der in Babylon weilende Makedonenkönig eine Manifestation in Olympia. Auch er nutzte die Panegyris als Auditorium für sein Anliegen. Diodor beschreibt das Geschehen wie 49

Hdt. 8,123–125; Diod. 11,27; Plut. Them. 15–17.

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folgt: „Kurz vor seinem Tod hatte Alexander entschieden, alle Flüchtlinge und Verbannten in ihre Heimatstadt zurückzuführen […]. Rechtzeitig zu den Olympien (τὰ Ὀλύμπια) schickte er Nikanor aus Stageira mit einem Schreiben nach Griechenland, das die Anordnungen zur Rückführung der Verbannten enthielt. […] Nach der Verlesung brandete in der Volksmenge (τὸ πλῆθος) lauter Beifall auf. Die Besucher der Panegyris (οἱ κατὰ τὴν πανήγυριν) bekundeten ihre Freude über die Wohltat des Königs. Es waren mehr als 20.000 Verbannte zur Panegyris gekommen.“ Diod. 18,8,2–5 (in Auszügen)

Im späten 3. Jh. v. Chr. sahen sich die Römer auf Sizilien als neue Herren der Insel in einer ähnlichen Situation. Auch hier waren die kriegerischen Auseinandersetzungen mit zahllosen Vertreibungen und Verbannungen verbunden gewesen. Viele der Flüchtlinge hatten im griechischen Mutterland Zuflucht gesucht. 208 v. Chr. war es das Anliegen der Römer, sie in ihre Heimatstädte zurückzuholen. Dazu liegt die Berichterstattung des Livius vor: „In diesem Sommer fanden die Olympien (Olympiae ludicrum), die größte Zusammenkunft ganz Griechenlands (maximo coetu Graeciae), statt. Zu dieser Versammlung (concilium) sandten sie Lucius Manlius mit dem Auftrag, anwesende Kriegsflüchtlinge und die von Hannibal aus Tarent Verbannten zur Heimkehr einzuladen.“ Liv. 27,35

Diese kleine Auswahl, die sich leicht um weitere Belege erweitern lässt,50 steht im Einklang mit Pindars Charakterisierung der Olympischen Panegyris als größtes Volksfest der Griechen. Fügt man dieser Aussage die Passage aus Pindars zehnter Olympischer Ode hinzu, in der er den Gründungsvorgang durch Herakles beschreibt, führt das zu einem archäologischen Befund, der den Vorrang Olympias gegenüber Delphi verständlich machen kann. In Pindars mythischer Version heißt es zur Vorgehensweise des Herakles:51 „Er steckte den heiligen Hain ab dem höchsten Vater, und durch Umhegung sonderte er die Altis aus auf reinem Platz. Aber die Ebene ringsum bestimmte er für die Erquickung beim Mahl.“ Pind. O. 10,45–47 (Übersetzung Dornseiff)

Das von Pindar im Gewand des Mythos geschilderte Geschehen findet im archäologischen Befund folgende Entsprechung: Etwa um 700 v. Chr. wurden seitlich des sakralen Zentrums rund um den Zeusaltar erhebliche Erdarbeiten durchgeführt. Im Osten planierte man das leicht wellige Areal so weit ein, dass hier nun 50 51

Weiler 2004b, 182–195. Zu Pind. O. 10,45–47 ausführlich Sinn 2004, 115–125.

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Raum für eine erste Laufbahn geschaffen wurde. Zeitgleich verlagerte man das Bett des im Winter reißenden Kladeos weit nach Westen und hielt ihn hinter einer Ufermauer vom Zentrum fern. Das auf diese Weise neu hinzugewonnene Areal wurde durch massive Erdanschüttungen auf das Niveau des ursprünglichen Sakralgeländes angeglichen. Tiefbrunnen, aus denen das reichlich vorhandene Grundwasser geschöpft werden konnte, zahlreiche Feuerstellen, Reste von Essund Trinkgeschirr sowie Bratspieße (Obeloi) lassen keine Zweifel an der Nutzung: Hier lagerten die Festbesucher und erfreuten sich der kulinarischen Annehmlichkeiten der Panegyris.52 Die grundlegende Neustrukturierung des Heiligtums führt zu der Frage, was den offenkundig um 700 v. Chr. einsetzenden starken Zustrom von Festbesuchern ausgelöst hat, durch den sich Olympia als die am stärksten frequentierte Panegyris etablierte. Einen ersten Hinweis liefert die Koinzidenz mit den bei Pindar erwähnten, zeitgleich einsetzenden Kontakten zwischen Olympia und der Magna Graecia. Ein archäologischer Befund in Olympia führt einen Schritt weiter: Aus dem angesprochenen Zeitraum stammen zahlreiche Votivgaben altitalischer und etruskischer Provenienz des späten 8. und 7. Jh. v. Chr. Holger Baitinger hat den aus Waffen, Rüstungen und Schmuck bestehenden Komplex im Kontext entsprechender Funde aus anderen griechischen Heiligtümern untersucht. Er wertet diese Weihungen gut begründet allgemein als Beleg für „die gestiegene Bedeutung des Platzes [Olympia] in spätgeometrischer und früharchaischer Zeit.“53 Mit welcher Intention könnten sie nach Olympia gelangt sein? Eine Region, in der Griechen und Etrusker im späten 8. und 7. Jh. v. Chr. nachweislich unmittelbar aufeinandertrafen, war Campanien mit seinen vorgelagerten Inseln. Mit Waffen ausgetragene Auseinandersetzungen sind nicht auszuschließen, aber eben auch nicht bezeugt. Zum Verhältnis beider Bevölkerungsgruppen hat Mariassunta Cuozzo kürzlich eine vergleichende Analyse der Funde aus den griechischen Gräbern in Pithekoussai und der etruskischen Nekropole von Pontecagnano vorgelegt. Die Zusammensetzung der Grabbeigaben lässt auf einen regen wechselseitigen Austausch schließen. Cuozzo erkennt darin ein friedliches Neben- und Miteinander von Griechen und Etruskern in dieser Region.54 Ein hohes Maß an Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass in der Magna Graecia siedelnde Griechen Überbringer der angesprochenen Votivgaben in Olympia waren. Für die Militaria unter den Weihgaben ist vor dem Hintergrund der Untersuchungen Cuozzos eine Erklärung denkbar, wie sie zum Beispiel im Hera-Heiligtum auf Samos für einige der ägyptischen und assyrisch-babylonischen Bronzen gegeben wird. Unverkennbar nahmen sie mit ihrer Ikonologie Bezug auf den samischen Kult, der Hera als Hüterin

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Sinn 1991, 36–37 mit Literatur in Anm. 17–22. Baitinger 2011, 86. 54 Cuozzo 2013, 304. 53

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des Hauses und der Familien galt.55 In Olympia sind Weihungen von Waffen und Rüstungen sinnfällige Votive für Zeus als den Lenker der Kriege. Zu den aus dem Westen anreisenden Besuchern der Olympien zählten im frühen 7. Jh. v. Chr. bereits auch Athleten. Die für diese Zeit als vertrauenswürdig anzusehende Siegerliste verzeichnet für das Jahr 672 v. Chr. den Sieg des Boxers Daïppos aus Kroton. Sechs Olympiaden später feierten zwei Athleten aus Syrakus Erfolge in Olympia. Und 616 v. Chr. reihte sich der Sybarit Philytas oder Philotas in die dann immer dichter werdende Folge von Olympiasiegern aus der Ferne, vor allem aus Sizilien und Unteritalien ein. Diesen Zuspruch erlebte Olympia zu einer Zeit, in der die Pythien noch nicht ihre oben angesprochene Reorganisation erfahren hatten und bevor der Sitz der Amphiktyonie – vermutlich zu Beginn des 6. Jhs. v. Chr. – vom Demeter-Heiligtum in Anthela bei den Thermopylen in das Apollon-Heiligtum in Delphi verlegt worden war56. Fast ein ganzes Jahrhundert hindurch konnte sich Olympia konkurrenzlos einer Anziehungskraft erfreuen, die ihm auch in der Folgezeit einen stärkeren Zuspruch seiner Panegyris gegenüber den drei weiteren Austragungsstätten von „Kranzspielen“ sicherte. Durch seine „Westkontakte“ hat Olympia frühzeitig eine spezifische Prägung erhalten.57 Privilegien für Besucher Olympias aus griechischen Orten in Übersee sind in einer leider nur fragmentarisch erhaltenen Bronzeinschrift aus der Zeit um 500 v. Chr. dokumentiert58. In solcher Rücksichtnahme auf griechische Festteilnehmer aus großer Ferne spiegelt sich der Charakter der olympischen Panegyris als ein im Wortsinn pan-hellenisches Fest. Gegenüber Delphi ist „panhellenisch“ als einschränkend zu verstehen, bezog Delphi seine „Kundschaft“ ja auch aus der nicht-griechischen Welt.59 Ein fester Bestandteil jeder Panegyris waren, wie bereits herausgestellt, Markt und Handel.60 Das Schicksal des Apollon-Heiligtums auf der Insel Delos lehrt, wie sehr das Wohl und Wehe eines Heiligtums auch von dem mit der Panegyris verbundenen Marktgeschehen abhängen konnte. Strabon benennt die starke Prägung der Delischen Panegyris durch Handel und Warenaustausch mit denkbar klaren Worten:

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Kyrieleis 1979; Jantzen 1972. Zur Diskussion um den Zeitpunkt der Verlegung des Sitzes der Amphiktyonie: Maaß 1993, 42 mit weiterer Literatur. 57 Philipp 1994; Baitinger 2011, 83–85; Nafissi 2012 mit umfangreicher Literatur; Baumeister 2012. 58 Siewert/Tauber 2013, 29–31 Nr. 4. 59 Maaß 2007, 108: „Olympia mutet mit den jeweils mächtigen Gemeinden oder Stammesverbänden der Peloponnes und den Herrschern der Kolonien in Großgriechenland als Teilnehmern am Kult ‚griechischer‘ an: In Delphi spielten Orientalen und Etrusker in der Überlieferung eine größere Rolle.“ 60 Prott/Ziehen 1906, Nr. 256; Nilsson 1955, 831; Dillon 1997, 214–217. 56

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„Die Panegyris ist gewissermaßen ein Handelsmarkt.“ ἥ τε πανήγυρις ἐμπορικόν τι πρᾶγμά ἐστι. Strab. 10,5,4 p. 48661

Strabon beschreibt den Zustand des 2. und frühen 1. Jhs. v. Chr. und benennt ausdrücklich die Vorteile, die der Handelsplatz Delos aus der Ausschaltung der korinthischen Häfen im Jahr 146 v. Chr. bezog. Er führt dann aus, wie die Verwüstungen des Heiligtums durch die Truppen des Mithridates und der damit verbundene Verlust seines Status als Handelsplatz den Niedergang des ganzen Heiligtums beförderten. Die symbiotische Verbindung von Markt und Panegyris klingt in einer oft zitierten Passage in Ciceros Tusculanae Disputationes an: Auf die Frage, was einen Philosophen von den übrigen Menschen unterscheide, habe Pythagoras ausgeführt: „[…] das Leben scheine ihm gleich zu sein wie das Volksfest (mercatus), das mit der großartigsten Ausstattung von Spielen und in der Anwesenheit ganz Griechenlands abgehalten zu werden pflege.“ […] qui haberetur maximo ludorum apparatu totius Graeciae celebritate. Cic. Tusc. 5,3,9

Dass Cicero mercatus als lateinisches Synonym für den griechischen Terminus Panegyris verwendet, ist nicht ungewöhnlich und steht gerade im vorliegenden Fall außer Frage, denn im weiteren Verlauf des referierten Dialogs heißt es, ein mercatus sei ein Treffpunkt von Menschen mit unterschiedlichen Ambitionen – Athleten erhoffen sich Ruhm und Ehre durch einen Sieg im Wettkampf, Käufer und Verkäufer kommen um des Erwerbs und Gewinns willen, eine dritte Gruppe aber ist einzig daran interessiert, alles Geschehen mit Interesse zu verfolgen. Philosophen verstünden ihr Leben, als seien sie in ein Volksfest hineinversetzt (quasi in mercatus profectos): Einige seien auf Ruhm erpicht, andere auf finanziellen Gewinn. Einige wenige aber hielten beides für nichtig; sie sähen sich durch Erkenntnis und Weisheit belohnt. Diese Passage in den Tusculanae Disputationes wird meist konkret auf Olympia bezogen.62 Doch weder im Dialog selbst, noch in dessen weiterem Kontext gibt es eine entsprechende Verortung. Wenn man in dem Text überhaupt eine topographische Angabe aufspüren möchte, käme allenfalls das Zeus-Heiligtum von Nemea mit seiner Panegyris in Frage, denn der Gesprächspartner des Pythagoros ist Leon, der Herrscher von Phlius, dessen Territorium Nemea benachbart war. Der im Dialog unternommene Vergleich bezieht sich allgemein auf die Institution

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Auch Paus. 3,23,3 sagt von Delos, es sei den Griechen einst ein Handelsplatz gewesen (τότε ἐμπόριον τοῖς Ἕλλησιν), ebenso 8,33,2. 62 Weiler 1997, 196–197.

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des mercatus / der Panegyris. Die dem Text innewohnende Charakterisierung besitzt für alle Panegyreis Gültigkeit und kann daher zunächst einmal nicht zur Differenzierung der Panegyreis von Olympia und Delphi beitragen. Dass Olympia als Marktplatz eine besondere Bedeutung hatte, ergibt sich aus einem anderen Grund: Das Zeus-Heiligtum war nicht nur Austragungsstätte der pentetärischen Olympien. Es stellte seine Festwiese darüber hinaus jährlich für drei weitere Panegyreis zur Verfügung. Diese wenig beachtete Information verdanken wir wiederum Strabon. Er schreibt: „Nahe der Mündung [des Alpheios] liegt, achtzig Stadien von Olympia entfernt, der Heilige Hain (ἄλσος) der Artemis Alpheiona oder Alpheiusa, beide Namen werden verwendet. Für diese Göttin findet jährlich eine Panegyris in Olympia statt (ταύτῃ δὲ τῇ θεῷ καὶ ἐν Ὀλυμπίᾳ κατ̕ ἔτος συντελεῖται πανήγυριϛ…), in gleicher Weise begeht man dort auch die Feste für Artemis Elaphia und Artemis Daphnia (… καθάπερ καὶ τῇ Ἐλαφίᾳ καὶ τῇ Δαφνίᾳ).“ Strab. 8,3,12 p. 343

Als eine wichtige Verehrungsstätte der Artemis lernen wir das Zeus-Heiligtum von Olympia auch durch die Beschreibung des Pausanias kennen. Keine Gottheit ist dort neben Zeus so präsent wie Artemis.63 Ihr sind dort sieben Altäre gewidmet.64 An einem dieser Altäre wurde sie als „Agoraia“ (Hüterin des Marktes)65 verehrt. In der Nähe hatte Zeus mit der gleichen Epiklese einen Altar66. Die beiden Gottheiten, zu deren Ehren im Sakralgelände von Olympia Panegyreis ausgerichtet wurden, besaßen dort also jeweils einen Altar, der konkret Bezug auf den Markt nahm. Dieser Befund wird zusätzlich noch dadurch erhärtet, dass sich die ungefähr zu ermittelnde Position der Altäre im Süden des Heiligtums mit der Region deckt, in der untrügliche Hinterlassenschaften des Marktgeschehens als Bodenfunde gesichert sind: Bronzegewichte67 und Maßgefäße68. Das vielfältige Marktgeschehen im Zeus-Heiligtum von Olympia war, so darf man die aufgezeigten Befunde wohl deuten, nicht nur eine Begleiterscheinung der 63

Grundlegend zur Verehrung der Artemis in Olympia und am Unterlauf des Alpheios: Weniger 1907; Sinn 1981, 25–43. 64 Heiden 2012, 145–146. 65 Weniger 1907, 100 deutet die Epiklese fälschlicherweise als Hinweis auf einen politischen Kontext der an diesem Altar vollzogenen Riten; seine damit einhergehende Lokalisierung des Altars „neben dem Rathause von Olympia“ lässt sich nicht halten: Pausanias gibt an „außerhalb der Altis, rechts des Leonidaion“ (Paus. 5,15,4). 66 Paus. 5,15,4. 67 Hitzl 1996; Baitinger/Eder 2001, 192; Baitinger 2011, 167 mit der Zurückweisung der These von Peter Siewert, die Bronzegewichte als Substitute an Stelle der Dedikation von Waffen interpretiert; siehe dazu auch Frielinghaus 2011, 230–231 mit Anm. 1129; zur Datierung: Siewert/Tauber 2013, 233–242. 68 Hamdorf 1981; Schilbach 1999; Siewert/Tauber 2013, 248–257.

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großen Anziehungskraft des Heiligtums, sondern trug seinerseits entscheidend zu dessen schließlich auch Delphi übertreffender Popularität bei. Die bis in die Spätantike anhaltende Pflege der entsprechenden Infrastruktur darf als weiteres Indiz dieser Deutung gelten.69 In zahlreichen Studien haben Andreas Gutsfeld und Stephan Lehmann aufgezeigt, dass die vier alten im „Periodos“ verbundenen Heiligtümer bis in das 5. und 6. Jh. n. Chr. hinein betriebsam waren.70 Doch nur für Olympia war der Weg in das Bewusstsein der Neuzeit konfliktfrei geebnet. Bezogen auf Delphi und Olympia hat Michael Maaß eine wohl entscheidende Ursache für die unterschiedliche Bewertung in nachantiker Zeit knapp und bündig so formuliert: „Die christlichen Kirchenväter gestanden, in Anlehnung an den Apostel Paulus (1. Kor. 9, 24–25), olympischen Ideen wegen ihres sportlichen Ethos eine Geltung zu – im Gegensatz zu den delphischen Lehren, die als Täuschung und Verblendung angefeindet wurden.“71 Doch die Wurzeln für die letztlich auch Delphi übertreffende Bedeutung Olympias waren bereits in der Antike angelegt. Während Delphi sich schon früh für Auftritte und Weihungen auch von den Nachbarn der Griechen im Westen und Osten öffnete und sich damit zu einem Kulturen übergreifenden Zentrum entwickelte, verstand sich Olympia durch alle Phasen seiner Geschichte dezidiert als ein Treffpunkt aller Hellenen.72 So ist es nur folgerichtig, dass die patriotischen Griechen im ausgehenden 18. Jahrhundert und in ihrer Folge dann auch die Gründerväter des Neuen Griechenland den Geist des antiken Olympia beschworen. Ausklang Kommen wir abschließend deshalb noch einmal auf die eingangs dargelegte Vision des Rigas Pheraios zurück. Rigas blieb es verwehrt, die spätere Realisierung seiner Pläne zu erleben.73 Doch seine Idee, das wiederbelebte Griechenland durch eine gemeinsame Feier nach dem Vorbild der Olympischen Panegyris zu einen, wurde in den Folgejahren kontinuierlich gepflegt.74

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Zum Markt und zur Versorgung der Festteilnehmer zusammenfassend: Sinn, 2004, 115– 125 und 172–173; Kyrieleis 2011, 111–115. 70 Gutsfeld/Lehmann 2008 mit weiterer Literatur; Sinn 2012, 107–109; Hoppe u. a. 2012; Vött 2013. 71 Maaß 2007, 112. 72 Entsprechend auch Maaß 1992, 93; Weiler 1997, 191–193; siehe auch hier Anm. 59. 73 Rigas wurde 1798 in Triest verhaftet, in Wien verhört, an die Osmanischen Behörden in Belgrad ausgeliefert und dort ohne weiteres Verfahren zum Tode verurteilt: Baumstark 1999, 255 Kat. Nr. 63 [A. Moutafidou]. 74 Georgiadis 2000, 37–44; Weiler 2004a, 428–429.

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Nur für kurze Zeit spielten bei den Überlegungen, im Neuen Griechenland ein nationales Fest nach antikem Vorbild zu etablieren, auch die weiteren Panhellenischen Heiligtümer eine Rolle: 1835 legte Ioannis Kolettis dem gerade inthronisierten König Otto I. ein von dem Dichter Panagiotis Soutsos ausgearbeitetes Memorandum vor, das den Titel trug „Vorschlag zur Einführung nationaler Gedenktage und Staatlicher Spiele nach dem Vorbild der Feste des Altertums.“75 Die Bezugnahme auf antikes Ideengut war in diesem Papier nicht allein auf Olympia fokussiert. Ausdrücklich ist von allen Panhellenischen Spielen des Altertums die Rede. Doch der Vorschlag blieb ohne Resonanz. Zudem geht aus den übrigen Verlautbarungen von Soutsos sehr klar hervor, dass ihm neben Olympia nur die Panathenäen mit ihrem auch musischen Programm als Leitbild vor Augen standen. So lässt er in seinem 1833 veröffentlichten Gedicht „Nekrikos Dialogos“ den Geist des Platon folgende Worte an die Verantwortungsträger im befreiten Griechenland sprechen: „Lasst doch den Streit um Nichtigkeiten. Ihr Elenden, besinnt euch auf eure Vergangenheit. Sagt mir, die Zeiten alter Größe, wohin sind sie entschwunden? Wo ist der Glanz Olympischer Agone? Wo ist die Feier der Panathenäen?“76

1859 fanden in Athen die ersten „Olympien“ statt. Mit ihrem Programm, das neben den athletischen Agonen auch Künstlern eine Bühne bot und eine große Waren- und Handelsmesse einbezog, stellten sich diese Olympien dezidiert in die Tradition des antiken Festes. Der Charakter einer panhellenischen Panegyris, eines Festes aller Griechen, fand seinen Niederschlag nicht zuletzt in der Mitwirkung der „Auslandsgriechen“, der Griechen auch aus jenen Regionen und Städten, die 1859 noch nicht dem Osmanischen Reich angehörten. 77 Wahrlich eine Wiederbelebung des Olympischen Festes im Geist der antiken Panegyris – Erinnerungskultur vom Feinsten. Nach zwei weiteren Olympien in den Jahren 1870 und 1875 fand die Rezeption der antiken Panegyris in neuzeitlichem Gewand mit den Olympien von 1888/89 ihr Ende.78

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Georgiadis 2000, 37–41; Decker 2012. Übersetzung des Autors nach dem Abdruck des Gedichts bei Georgiadis 2000, 38. 77 Georgiadis 2000, 45–54 mit einer ausführlichen Darlegung aller Elemente des Festprogramms. 78 Eine ausführliche Darstellung der Entwicklung, die zur Etablierung der „Olympischen Spiele der Neuzeit“ führte, bei Georgiadis 2000, 81–311. 76

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Delphi und Olympia

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Das Heiligtum des Iuppiter Dolichenus auf dem Dülük Baba Tepesi (Südosttürkei) Ein „heiliger Ort“ zwischen Kontinuität und Transformation∗

Engelbert Winter (Münster)

Die herausragenden Denkmäler Kommagenes, die der am mittleren Euphrat gelegenen Landschaft eine über ihre Grenzen hinausreichende Bedeutung verleihen, sind seit langem bekannt. Für unser Wissen über den hellenistischen Herrscherkult sind sie unverzichtbar.1 Insbesondere das inmitten der faszinierenden Bergwelt des Taurusgebirges auf über 2000 m gelegene Grabmal Antiochos I. auf dem Nemrud Dağ, der sog. „Thron der Götter“, beeindruckt. Er ist symbolträchtiger Ausdruck für die Brücke, die dieser König zwischen Ost und West schlagen wollte, war eine der beiden für die Kultfeierlichkeiten zu Ehren seiner Person bestimmten Kultterrassen doch nach Osten in Richtung seines persischen Erbes ausgerichtet, während die andere den Blick nach Westen auf die griechisch-makedonische und römische Welt öffnete. Auf diese Weise demonstrierte Antiochos sein Bestreben, die königliche Herrschaft in der Nachfolge Alexanders d. Gr., ebenso in der Tradition des persischen Großkönigs Dareios I. darzustellen. Der in dem Pantheon Antiochos I. manifeste Orient-Okzident-Gedanke ist angesichts der Einmaligkeit dieses Götterkosmos zu Recht aber schon häufig betont worden.2



Der vorliegende Beitrag fasst mit Blick auf die der Ringvorlesung „Heilige Orte“ zugrundeliegende Fragestellung die zentralen Ergebnisse der seit 2001 im Heiligtum des Iuppiter Dolichenus auf dem Dülük Baba Tepesi nahe der antiken Stadt Doliche durchgeführten Forschungen zusammen und resümiert die von den beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den verschiedenen Teilbereichen erzielten Ergebnisse, die im Detail in der im Anmerkungsapparat zitierten Literatur ausgeführt sind. Der Vortragsstil ist dabei weitestgehend beibehalten worden. 1 Zum kommagenischen Herrscherkult vgl. u. a. Dörrie 1964; Wagner/Petzl 1976; Wagner 1983; Jacobs 1998; Crowther/Facella 2003; Mittag 2004; Facella 2006, 251–297; Mittag 2011; Jacobs 2012; Wagner 2012. 2 So u. a. Dörrie 1964, 185–186; Hoepfner 2012, 128–130; Jacobs 2012; Wagner 2012, 47.

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Doliche – Heimat des Iuppiter Dolichenus Neue Funde aus der südlichen Kommagene werfen dagegen Licht auf eine Gottheit, die innerhalb der römischen Religionsgeschichte des 2. und 3. Jhs. n. Chr. eine zentrale Rolle spielt: Iuppiter Dolichenus.3 Dessen Heimat war die antike Stadt Doliche, die nordwestlich der südostanatolischen Metropole Gaziantep, unmittelbar gegenüber dem heutigen Dorf Dülük liegt (Karte 1). Die um 300 v. Chr. gegründete Stadt lag an wichtigen Handels- und Heerstraßen in einer Region, die als Brücke zwischen Kleinasien, Syrien und Mesopotamien diente. Seit dem späten Hellenismus befand sie sich im Hinterland der römischen Euphratgrenze und damit im Spannungsfeld zwischen Rom und Iran.4 Warum aber der Stadtgott eines ansonsten eher unbekannten Ortes wie Doliche zu reichsweiter Bedeutung und sein Name damit weit nach Westen gelangen konnte, bleibt zunächst offen. Klar ist, dass sein Kult im 2./3. Jh. n. Chr. zu den wichtigsten im Imperium Romanum zählte, in einer Epoche der religiösen Neuorientierung, die schließlich in den Triumph des Christentums mündete und in der verschiedene Kulte ursprünglich orientalischer Gottheiten dank ihrer stärker heilsorientierten Ausrichtung eine Blüte erlebten. Zu diesen zählte auch der Gott von Doliche, ein mächtiger Himmelsgott, zumeist auf dem Stier stehend dargestellt, mit den Attributen Blitzbündel und Doppelaxt in den Händen. Die Inschriften weisen auf seine Allmacht. Iuppiter Optimus Maximus Dolichenus galt als sanctus und aeternus, er wurde als conservator totius mundi verehrt.5 Ein entscheidender Faktor für die Verbreitung des Kultes war dessen Popularität unter den Soldaten. Die militärischen Netzwerke und der Austausch von Truppenteilen ermöglichten es, dass vor allem entlang der Grenzen des Reiches der Gott schnell in die religiöse Welt dieser Regionen integriert war.6 Diese Bemerkungen können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kenntnisse über Iuppiter Dolichenus und seinen Kult unbefriedigend sind; denn trotz einer hohen Zahl archäologischer und epigraphischer Zeugnisse vor allem aus den Rhein- und Donauprovinzen sind zentrale Fragen, den Gott und seinen Kult betreffend, unbeantwortet. Dies gilt in besonderem Maße für das Zentrum des Kultes in dessen Heimatstadt selbst; denn im Gegensatz zu den Kulten des Mithras, der Kybele oder der Isis lässt sich als Ursprung des Dolichenus-Kultes ein konkreter Ort, ein einzelnes Heiligtum ausmachen.

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Zum Kult des Iuppiter Dolichenus, seinen Denkmälern und seiner Verbreitung vgl. u. a. Merlat 1951; Merlat 1960; Speidel 1978; Hörig/Schwertheim 1987; Blömer/Winter 2012; Blömer 2013; Winter 2013a. 4 Winter 2004, 54–59; Winter 2012, 162. 5 Generell zur epigraphischen Evidenz: Hörig/Schwertheim 1987. 6 Collar 2011; Collar 2012.

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Das Heiligtum des Iuppiter Dolichenus

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Das Heiligtum auf dem Dülük Baba Tepesi Bereits Franz Cumont hatte dieses Heiligtum zu Beginn des 20 Jhs. auf dem ca. 3 km vom antiken Stadtgebiet entfernt liegenden Dülük Baba Tepesi, einem 1204 m hohen Berg, lokalisiert (Karte 2).7 Schon zu Cumonts Zeiten gab es dort aber – abgesehen von spärlichen Streufunden – keine sichtbaren Überreste. Ausgrabungen schienen kaum aussichtsreich, die Forschung zu Iuppiter Dolichenus konzentrierte sich in der Folge auf die stetig wachsende Zahl von Denkmälern aus dem Westen des Imperium Romanum. Systematische Untersuchungen im heimatlichen Heiligtum blieben aus. Die Situation änderte sich erst 2001. Seitdem finden dort mit Erlaubnis der türkischen Antikendirektion und Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft historisch-topographische und archäologische Untersuchungen statt. Ziel des vorliegenden Beitrages ist es zunächst, die gewonnenen Erkenntnisse über die Entwicklung dieses Kultplatzes vom frühen 1. Jt. v. Chr. bis ins Mittelalter nachzuzeichnen,8 um dann insbesondere der Frage nach den Ursprüngen des Iuppiter Dolichenus-Kultes und seinen möglichen altorientalischen Wurzeln Aufmerksamkeit zu schenken. Die römische Epoche Wenden wir uns in einem ersten Schritt dem kaiserzeitlichen Heiligtum zu. Zahlreiche in diese Epoche zu datierende Umfassungs- und Terrassenmauern erlauben die Rekonstruktion eines heiligen Bezirks, der aus separaten Höfen bestand. Insbesondere im Norden und Osten können wir verschiedene, bis zu 50 m lange Abschnitte der Temenosmauern fassen. Klar zeichnet sich ein künstlich angeschütteter quadratischer Vorplatz ab, der zu allen Seiten von Mauern umschlossen war. Von Osten her war der Platz durch eine Freitreppe aus Basaltstufen zu betreten (Abb. 1). Diese besteht aus acht Stufen und ist auf einer Breite von fünf Metern erhalten. Zudem konnte ein seitlicher Abschnitt des römischen Treppenaufgangs entdeckt werden. Insgesamt fünf Basaltstufen steigen von Süden her in rechtem Winkel zur Hauptflucht der Treppe an. Die im rechten Winkel auf die Freitreppe zuführende seitliche Freitreppe konnte inzwischen vollständig freigelegt werden – einschließlich der die große Freitreppe einfassenden Wangenmauern. Die Gesamtsituation spricht für einen sehr aufwendig gestalteten Eingangsbereich, der als dreiseitig umlaufende Freitreppe zu rekonstruieren sein dürfte. Im Inneren des Heiligtums zeugen zahlreiche Mauerzüge und weitläufige Fundamente von einer komplexen Bebauung in römischer Zeit. Die offenen Bereiche des Heiligtums sind im 2. Jh. n. Chr. mit polygonalen Basaltplatten gepflastert worden.

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Cumont 1917, 182–186. Winter 2011; Winter 2013b; Winter 2014.

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Da wegen tiefgreifender Zerstörungen kaum aufgehendes Mauerwerk erhalten ist, kommt der Untersuchung von zumeist als Spolien verbauten Architekturgliedern und Bauornamentikfragmenten besondere Bedeutung zu. 9 Die Gestaltung des sakralen Bezirks mittels Hallenbauten belegen dorisch-ionische Kapitelle und Kapitelle tuskanischer Ordnung, letztere sind aufschlussreiche Zeugnisse auch für den starken italischen Einfluss an diesem an der östlichsten Peripherie des Reiches gelegenen Ort. Die Analyse der Dekorformen weist auf eine erste Ausbauphase in der 1. Hälfte des 1. Jhs. n. Chr. In antoninisch-severischer Zeit kommt es dann zu einem neuerlichen baulichen Aufschwung. Verschiedene Bauglieder können dabei aufgrund ihrer Größe und einer übereinstimmenden Bearbeitungsqualität dem sakralen Zentralbau zugeordnet werden. Sie erlauben inzwischen die erste Rekonstruktion eines Tempels korinthischer Ordnung mit attisch-ionischen Basen und einem aus Dreifaszien-Architrav und einfachem Fries bestehenden Gebälk.10 Aufgrund einer zu postulierenden Säulenhöhe von ca. 10,45 m, einer Gesamthöhe der Fassade mit gegliedertem Gebälk und flach geneigtem Giebeltympanon von mindestens ca. 17,80 m sowie einer angesichts fehlender Fundamentreste nur mit großer Vorsicht zu rekonstruierenden Stylobatbreite von ca. 20,10 m und einer sich daraus ableitenden Gebäudetiefe von ca. 33,70 m ist sicherlich nicht von einem Antentempel auszugehen. Die Rekonstruktion einer mit sechs freistehenden Säulen geschmückten Tempelfront eines Prostylos entspräche einem im kaiserzeitlichen Kleinasien geläufigen Tempeltyp. Von besonderem Interesse sind diejenigen Funde, die Auskunft über die religiöse Funktion des Ortes geben. Vor allem eine Vielzahl inschriftlich erhaltener Weihungen zeugt von intensiven Kultaktivitäten an diesem Ort. Erwähnt seien lediglich ein bronzenes Täfelchen, das dem erhörenden Gott von Doliche durch einen gewissen Gaius in Erfüllung eines Gelübdes geweiht wurde,11 das noch unpublizierte Fragment eines Votivblechs für Iuppiter Dolichenus mit der aus dem Westen bekannten Formulierung (natus) ubi ferrum nascitur12 oder ein ebenfalls noch unpubliziertes Stelenfragment mit einer nackten Hermesfigur und einer vierzeiligen griechischen Inschrift, die einen gewissen Iulios Zo[…] nennt, wohl Zosimos oder Zoilos, der aufgrund eines göttlichen Befehls dem Gott von Doliche eine Stele geweiht hat. Dass auf der Stele selbst nicht der die Weihung empfangende Gott selbst dargestellt, sondern stattdessen Hermes gezeigt wird, ist ein Indiz, dass sich das Dolichener Pantheon nicht auf das Götterpaar Iuppiter Dolichenus und Iuno Regina beschränkte. Die Verehrung weiterer Gottheiten an diesem 9

Oenbrink 2008. Der Vorschlag für eine erste Rekonstruktion geht auf Herrn PD Dr. Werner Oenbrink (Köln) zurück. 11 Facella/Winter 2008, 220–223. 12 Zu dieser Formel und ihrer (noch nicht hinlänglich geklärten) Bedeutung vgl. u. a. Theotikou 2004, 25–29; Blömer 2012, 48–50; Facella 2013. 10

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Das Heiligtum des Iuppiter Dolichenus

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Ort bezeugt auch ein dem Gott Turmasgades geweihter Altar. Bemerkenswert ist die hohe Zahl lateinischer Inschriften im Vergleich zu anderen Orten der Region, ein klarer Hinweis auf Besucher aus dem lateinischsprachigen Westen, unter denen – das zeigen die Inschriften auch – Angehörige des Militärs in besonderer Weise in Erscheinung traten.13 Dazu passt die Vielzahl der geborgenen Militaria, Reste von Trachtbestandteilen sowie Schutz- und Angriffswaffen, die von der Präsenz römischer Soldaten künden und anzeigen, dass römische Soldaten aus dem Westen des Imperiums das Heiligtum besuchten.14 Besonders qualitätsvoll ist der Teil einer sog. lorica plumata, eines besonderen Typs des römischen Schutzpanzers, der in der Kaiserzeit äußerst aufwendig gestaltet war und von dem nur sehr wenige Exemplare erhalten sind (Abb. 2). Zu deuten sind diese Funde als Weihungen römischer Soldaten an Iuppiter Dolichenus. Sie bestätigen die Vermutung, dass Truppenverschiebungen im Kontext der römischen Partherfeldzüge für die Verbreitung des Kultes von Bedeutung waren. In diesen Kontext dürfte auch ein südlich des antiken Stadtgebiets von Doliche gefundener, 1,54 m x 0,48 m großer Grabstein eines römischen Legionärs aus Apulum, mit Relief und lateinischer Inschrift auf seiner Vorderseite, gehören.15 Es handelt sich um ein Grabmonument, das ein Aurelius Valerianus, ein duplicarius der legio XIII (tredecima) Gemina, für seinen toten Kameraden errichtet hat. Die Grabstele bezeugt die Anwesenheit von Soldaten aus Dakien, einem Zentrum der Iuppiter Dolichenus-Verehrung, in Doliche. Wann in dessen Heiligtum der Kultbetrieb zum Erliegen kam, ist ungewiss. Im Jahr 253 n. Chr. zerstörte der Perserkönig Šāpūr I., wie wir aus seinem Tatenbericht wissen, auch Doliche. Ein Brandschutthorizont aus der Mitte des 3. Jhs. n. Chr. zeigt, dass das Heiligtum auf dem Dülük Baba Tepesi betroffen war. Gleichwohl bedeutete dies nicht dessen Aufgabe. Wahrscheinlich endete die Verehrung des Iuppiter Dolichenus analog zu anhaltenden Kulttätigkeiten in anderen Heiligtümern der Region in der 2. Hälfte des 4. Jh. n. Chr. Das Kloster des Heiligen Salomon Klar ist, dass das Ende des paganen Kultbetriebs nicht das Ende der Nutzung des Gipfelareals bedeutete. Eine komplexe Bebauung der Nachheiligtumsphase belegt nicht nur die Kontinuität der Besiedlung dieses Platzes, sondern auch die für viele andere Orte bekannte Inbesitznahme prominenter paganer Heiligtümer durch Christen.16 Bereits zu Beginn der Grabungen zeigte sich im Fundmaterial,

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Vgl. zu den bisher auf dem Dülük Baba Tepesi gefundenen und bereits publizierten kaiserzeitlichen Inschriften: Facella 2008; Facella/Winter 2008. 14 Fischer 2011. 15 Facella/Speidel 2011. 16 Winter 2011, 10–11; Winter 2014, 8–10.

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dass der Dülük Baba Tepesi bis weit ins Mittelalter als christlicher Kultort diente. Christliche Inschriften wie die Votivplatte mit großem Kreuz und umlaufender griechischer Inschrift für den in der byzantinischen Epoche beliebten Märtyrer Theodoros Stratelates oder ein Keilstein mit syrischer Inschrift um ein nestorianisches Kreuz, die einen Priester aus Edessa namens Abraham nennt, der sich an der Finanzierung eines Gebäudes beteiligt hatte, wiesen frühzeitig auf die Existenz einer Kirche bzw. eines Klosters.17 Diese – auch aufgrund der Auswertung schriftlicher Quellen des Mittelalters – gehegte Vermutung wurde durch weitere Zeugnisse in syrischer Sprache eindrucksvoll bestätigt. Eine in das Jahr 1040/41 n. Chr. zu datierende Inschrift, die an Baumaßnahmen oder Restaurierungsarbeiten erinnert, ist nicht nur Beleg für Aktivitäten im Kloster noch im 11. Jh. n. Chr., sondern nennt neben den Namen beteiligter Kleriker den Ortsnamen Dolik und den Name des Klosters: Es ist das Kloster des Heiligen Salomon.18 Der repräsentative Charakter einer weiteren syrischen Inschrift und deren Inhalt weisen diese als Erinnerung an eine bedeutende Gründung aus (Abb. 3). Das angegebene Datum 807/08 n. Chr. ist nach Einschätzung Pier Giorgio Borbones durchaus kompatibel mit der „Einrichtung“ (tuqana) des Klosters oder auch eines mit ihm verbundenen prestigeträchtigen Gebäudes. Der zwölfzeilige syrische Text nennt die Namen derjenigen Protagonisten – vom Bischof bis zu den Diakonen und dem „Rest der Brüder des Konvents“ –, die an der Maßnahme beteiligt waren.19 Lage und Ausdehnung des Klosters sind im archäologischen Befund gut zu fassen: Es hatte sich im Vorhof des antiken Heiligtums angesiedelt. Erhalten ist eine zusammenhängende vielräumige Bebauung der nachantiken Epoche mit verschiedenen Umbauphasen, die als Teil der genannten Klosteranlage identifiziert werden konnte. Ihre Ruinen zählen zu den eindrucksvollsten Zeugnissen auf dem Dülük Baba Tepesi (Abb. 4). Im Norden befinden sich Raumeinheiten, die zu Wohn- und Wirtschaftszwecken genutzt wurden. Zudem konnte ein großer Küchenraum freigelegt werden. Nach seiner Zerstörung durch ein Feuer wurde er aufgelassen. Dadurch sind ein großer Backofen und ein Herd ebenso noch gut erhalten wie Teile der Ausstattung, darunter eine Handmühle, Werkzeuge aus Eisen, eine Bronzekanne sowie, direkt vor dem Ofen, ein Brotstempel, der für die Herstellung eucharistischen Brotes nötig war (Abb. 5).20 Zwar ist eine detaillierte Raum-Funktions-Analyse innerhalb des Klosterareals auf der Grundlage der bisher freigelegten Befunde schwierig, aus der Blütezeit des Klosters im 8.–11. Jh. n. Chr. stammen aber wertvolle Einzelfunde, die erste Überlegungen erlauben. So sind noch unpublizierte Ton- und Bleibullae deutliche Hinweise auf ein Klosterarchiv, in dem Dokumente und Briefe gesammelt und 17

Facella/Stanke 2011. Borbone 2014, 133–137. 19 Borbone 2014, 127–132. 20 Blömer/Winter 2005, 202–203; Facella/Stanke 2011, 167–170. 18

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Das Heiligtum des Iuppiter Dolichenus

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aufbewahrt wurden. Für das 9. Jh. n. Chr. findet sich zudem in den Kolophonen zweier syrischer Handschriften die Nennung „des Sünders Simon, aus dem Konvent des Mar Salomon bei Dülük“, der beide Manuskripte kopiert hatte. Eine der beiden Abschriften wurde im Auftrag des Theotokos-Klosters in der Sketischen Wüste (Wadi Natrun) in Ägypten angefertigt. Offenbar verfügte die Klostergemeinschaft auf dem Dülük Baba Tepesi über weitreichende Kontakte.21 Und: Die Existenz eines Skriptoriums und wohl auch einer Bibliothek im Kloster des Mar Salomon zumindest in mittelbyzantinischer Zeit darf doch als sehr wahrscheinlich gelten. Dazu passen auch dünne Beschlagbleche aus Metall, die für Möbel und Architektur zu zierlich scheinen und an eine Interpretation als Buchbeschlag oder Teil einer Buchschließe denken lassen.22 Die Zahl aussagekräftiger Kleinfunde aus dem Kloster ist hoch, unter den numismatischen Funden ragen eine Goldmünze Iustinians mit dem kaiserlichen Porträt auf der Vorderseite und der Darstellung einer sitzenden Victoria auf dem Revers sowie ein ausgesprochen schöner Dinar heraus, die Goldmünze innerhalb des islamischen Währungssystems. Der perfekte Zustand der Münze erlaubt die vollständige Lesung der Legenden sowie die exakte Datierung in das Jahr der Hedschra 333 (=AD 944–945) und deren Zuweisung in die Zeit der Herrschaft Muhammads ibn Tughj, des Gründers der Dynastie der Ikhshiden, die über Ägypten und Syrien von 935 bis 969 n. Chr. herrschte. Insgesamt ist es also möglich, auf dem Dülük Baba Tepesi ein bedeutendes und literarisch relativ gut bezeugtes Kloster der früh- und mittelbyzantinischen Zeit – aus seinen Reihen ging eine große Zahl von Bischöfen hervor und 956 n. Chr. wurde hier sogar der Patriarch von Antiocheia bestattet – archäologisch zu untersuchen – eine vielversprechende Perspektive. 1156 n. Chr. eroberten die Seldschuken Doliche. Dies scheint das Ende des Klosters bedeutet zu haben. Wohl neuzeitliche beigabenlose Steinkistengräber zeigen an, dass das Areal aber als Friedhof weitergenutzt wurde. Diese Bestattungen gehören zur letzten Nutzungsphase. Eine fortgesetzte religiöse Bedeutung des Gipfels sicherte das spätestens im 16. Jh. n. Chr. errichtete, und erst vor kurzem zerstörte Grab eines islamischen Heiligen, des Dülük Baba. Nach ihm hat der Berg seinen Namen, dessen religiöse Anziehungskraft offensichtlich bis auf den heutigen Tag bei der einheimischen Bevölkerung ungebrochen ist.23

21

Borbone 2014, 135–137 mit den entsprechenden Quellenbelegen. Diesen Hinweis verdanke ich Frau Dr. Constanze Höpken (Köln). 23 Ergeç/Wagner 2012, 156. 22

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Das frühe Heiligtum in der mittleren und späten Eisenzeit Damit lassen sich an diesem Ort Kulthandlungen über lange Zeiträume hindurch kontinuierlich fassen, sicherlich ein Glücksfall im Hinblick auf Fragen zur Kultkontinuität. Und diese Erkenntnis gilt nicht nur für die bislang aufgezeigten Epochen; denn die Verehrung des Gottes von Doliche an diesem Ort reicht offensichtlich weit zurück. Dieser Nachweis ist angesichts der umstrittenen Kontinuitätsfrage vieler Kulte im Nahen Osten von paradigmatischer Bedeutung und in seiner Klarheit eines der überraschendsten wie zentralsten Ergebnisse. Auffällig war bereits in den ersten Jahren der Grabung das Auftauchen zahlreicher Kleinfunde der späten Eisenzeit, die große Beachtung fanden. Die sich früh abzeichnende Bedeutung des Dülük Baba Tepesi als regionaler Kultplatz bereits in der ersten Hälfte des 1. Jts. v. Chr. spiegelt sich inzwischen auch im Baubefund. Mächtige Mauersockel zeugen davon, dass bereits in der Eisenzeit aufwendige Bauten existierten. Neben dem Abschnitt einer mächtigen Umfassungsmauer, die sich inzwischen über 70 m nachvollziehen lässt, sind Teile von Bauten innerhalb dieser Umfriedung freigelegt worden. Erhalten sind jeweils die Bruchsteinsockel, die z. T. noch bis zu 1,80 m hoch anstehen und eine Breite von bis zu 2,50 m erreichen. Das frühe Heiligtum präsentiert sich aktuell als rechteckiger, umfriedeter Bezirk mit einer Fläche von ca. 2000 m2 auf dem höchsten Punkt des Gipfels.24 Inner- und außerhalb dieses Bezirks sind gewaltige Aschedeponierungen entdeckt worden, die als Opferabfälle zu identifizieren sind. Sie sind mit den Knochen von vielen Tausend Tieren durchsetzt, die im Heiligtum geopfert wurden. Das Zentrum der Kulthandlungen lässt sich daher wohl als Aschealtar rekonstruieren, wie dies auch von anderen Gipfelheiligtümern bekannt ist. Archäozoologische Untersuchungen haben aufschlussreiche Einblicke in die Kultpraxis des frühen Heiligtums geliefert und lassen einen spezifischen Ablauf der Opferhandlungen erkennen. Diese weisen beispielsweise auf ein einheitliches Alter der geopferten Tiere (ca. 3 Monate), so dass wir von gewaltigen Mengen wertvoller Jungtiere ausgehen können, die anlässlich der Opferfeierlichkeiten im Heiligtum geschlachtet wurden. Dabei wurden für die Götter ausschließlich die rechten hinteren Unterschenkel verbrannt, der restliche Körper zum Verzehr der Kultteilnehmer zubereitet.25 Interessanterweise zeigen die Untersuchungen auch, dass diese Opfersitten der Eisenzeit weitgehend ungebrochen bis in die römische Epoche hinein beibehalten wurden, ein wichtiges Indiz für Fragen kultischer Kontinuität im Heiligtum. Aus den eisenzeitlichen Opferdeponierungen konnten aber nicht nur Knochen, sondern auch zahlreiche Votivgaben geborgen werden. Unter diesen Funden ragt

24 25

Zur Gestalt des eisenzeitlichen Heiligtums: Winter 2011, 3–5; Winter 2014, 3–5. Pöllath/Peters 2011.

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Das Heiligtum des Iuppiter Dolichenus

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ein in Quantität wie Qualität einzigartiger Komplex überwiegend späteisenzeitlicher Schmucksteine, Amulette, Stempel- und Rollsiegel aus dem achten bis vierten Jahrhundert v. Chr. hervor (Abb. 6). Auch wenn die Darstellungen nicht unmittelbar auf den Gott von Doliche bezogen sind, drückt ihre Weihung eine starke persönliche Frömmigkeit der Menschen aus. Sie übergaben dem Gott Objekte, die eng mit der eigenen Identität verbunden waren. Die hohe Zahl der geborgenen Siegel weist nachhaltig auf die Rolle, die ihnen im Kult zukam. Diese Praxis der massenhaften Siegelweihungen ist aus anderen zeitgenössischen Heiligtümern bisher nicht bekannt. Mit über 3000 Perlen und Amuletten sowie 660 vorwiegend späteisenzeitlichen Stempel- und Rollsiegeln zählt der Fundkomplex zu den größten Siegelkonvoluten dieser Zeit, die je geborgen werden konnten. Auf dem Boden der Türkei ist er einzigartig.26 Für Fragen der Chronologie sind die Ergebnisse der jüngsten Kampagnen von besonderer Bedeutung. Bis 2010 schien es, dass erst in achämenidischer Zeit ein regelrechtes Heiligtum auf dem Dülük Baba Tepesi existierte. Dieses für sich genommen bereits wichtige Ergebnis kann weiter modifiziert werden. Zunächst belegt die Auswertung der Keramik, dass eine Nutzung des Gipfels spätestens im 10. Jh. v. Chr. einsetzt.27 Auffallend ist ein hoher Anteil an Importkeramik aus Zypern, Anatolien und der Levante, seit dem 6. Jh. v. Chr. auch aus Athen.28 Immer mehr kleine Votive sind zudem der Zeit zwischen dem 9. und 7. Jh. v. Chr. zuzuordnen, sind gegebenenfalls auch älter zu datieren, so eine männliche Terrakottafigurine oder die Bronzefigur eines Hirschkalbs, die enge Parallelen zu griechisch-geometrischen Figurinen aufweist.29 Der bislang wichtigste Einzelfund für die Kenntnis des frühen Heiligtums ist das Fragment einer syro-hethitischen Votivstele aus Basalt mit der Darstellung des Oberschenkels und Oberkörpers einer weiblichen Göttin (Abb. 7). Gut vergleichen lässt sich das Fragment mit Darstellungen weiblicher Hauptgottheiten aus Nordsyrien. Der Fund gewinnt an Bedeutung, da sich auf der Rückseite der Stele eine hieroglyphenluwische Inschrift befindet, wohl die Votivinschrift eines hochrangigen Beamten. Ikonographie und Palaeographie legen eine Entstehung der Stele im frühen 9. Jh. v. Chr. nahe.30 Genese und Entwicklung des Kults von der späthethitschen Zeit bis in die römische Epoche Aufgrund der Übereinstimmungen in der Darstellungsweise war sehr früh festgestellt worden, dass Iuppiter Dolichenus mit dem altorientalischen Wettergott in

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Schachner 2008; Schachner 2011; Schachner 2014. Öğüt 2014. 28 Zur attischen Importkeramik auf dem Dülük Baba Tepesi: Oenbrink 2014. 29 Schachner 2014, 41. 30 Simon 2014; Blömer/Messerschmidt 2014. 27

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Verbindung stand. Die zentralen Elemente seiner Ikonographie – das Stehen auf dem Stier und die drohende Pose mit erhobener Axt in der Rechten und Blitzbündel in der Linken – entsprechen dem Bild des Wettergottes, wie es von vielen Stelen der Eisenzeit bekannt ist. Da jedoch Nachweise für den Dolichener Kult aus der Zeit vor dem 1. Jh. v. Chr. nicht existierten, blieb offen, ob tatsächlich von einer Kultkontinuität seit der Eisenzeit auszugehen war. Möglich schien, dass das Bild des Gottes als bewusster Rückgriff auf altehrwürdige Traditionen erst in hellenistisch-römischer Zeit neu geschaffen wurde. Da nun aber gesichert ist, dass Kulthandlungen im Hauptheiligtum des Gottes bis in das frühe 1. Jt. v. Chr. zurückreichen, scheint sich die Lücke zwischen der römischen und der eisenzeitlichen Gottheit zu schließen. In diesem Kontext verdient die erste bildliche Darstellung des Gottes aus Doliche selbst Beachtung (Abb. 8).31 Es handelt sich um eine Stele aus Basalt von 1,30 m x 0,70 m Größe. Das Bildfeld teilt sich in zwei Zonen. In der unteren stehen zwei Männer um einen Altar. Sie sind durch ihre Tracht als syrische Priester gekennzeichnet. Im oberen Hauptfeld sieht man den Gott mit seiner Partnerin. Der auf dem Stier stehende Gott trägt einen langen spitzen Bart. Den Kopf bedeckt eine konische Kappe, die mit Hörnern geschmückt ist. Das überlange Haupthaar fällt zum Zopf geflochten in den Rücken hinab und rollt sich am Ende ein. In der angewinkelten Linken hält der Gott ein Blitzbündel. Ihm gegenüber steht auf einem Hirsch seine weibliche Begleiterin. Auch ihr fällt das Haupthaar als Zopf in den Rücken. In der Rechten hält sie einen Spiegel, in der Linken einen runden Gegenstand, der als Granatapfel zu deuten ist. Wie bei Iuppiter Dolichenus sticht auch bei ihr die starke Anlehnung an altorientalische Vorbilder hervor. Dass es sich bei dieser Stele überhaupt um ein späteres Erzeugnis handelt, zeigt sich erst in Details der Opferszene im unteren Bildfeld, wo griechisch-römische Formen zu erkennen sind. Über den Aufstellungskontext der Stele können keine Aussagen gemacht werden. Wahrscheinlich handelt es sich um die Weihung einer der lokalen Bevölkerung angehörenden Person, die innerhalb des Heiligtums im Freien aufgestellt und unmittelbar auf den Boden gesetzt war. Dieser Typ von Basaltstelen ist in der Region weit verbreitet. Überraschen mag das Fehlen einer Inschrift, die den Stifter des Bildwerkes zu erkennen gibt. Dies entspräche aber griechisch-römischem Usus, die meisten aus Südostanatolien stammenden Basaltstelen mit Götterdarstellungen nennen den Namen des Stifters hingegen nicht. Damit lässt nicht nur der Stil der Bildhauerarbeit und der Typus der Stele sondern auch der Modus der Selbstdarstellung des Stifters die Stele als ein lokales Erzeugnis erkennen. Diese kann nur als Reflex auf ein in der Eisenzeit geschaffenes Kultbild verstanden werden, das bis in die römische Kaiserzeit im Heiligtum präsent war. Die Überein-

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stimmung der Darstellung mit eisenzeitlichen Vorbildern lässt kaum einen anderen Schluss zu. Es zeichnet sich somit ab, dass Teile der lokalen Bevölkerung in Doliche ihre Götter länger als gedacht in ihrer ursprünglichen Gestalt verehrt haben. Im Kontext dieser Erkenntnisse verdient das erwähnte Fragment der syro-hethitischen Votivstele erneut Interesse.32 Anhand der erhaltenen Darstellung und der Gestaltung des Steines lässt sich erschließen, dass das Relief wahrscheinlich zwei Figuren zeigte, die sich gegenüberstanden. Einen Hinweis, wer gemeinsam mit der Göttin dargestellt war, ergibt der Vergleich mit der vollständig erhaltenen Stele aus römischer Zeit, die das Götterpaar von Doliche zeigt. Ikonographie, aber auch Position der Göttin auf dieser Stele stimmen auf ganz frappierende Art und Weise mit der Darstellung auf dem Stelenfragment des 9. Jhs. v. Chr. überein, so dass das römische Relief als Kopie der eisenzeitlichen Darstellung zu sehen ist. Demnach wäre auf der syro-hethitischen Stele neben der Göttin der Wettergott von Doliche zu ergänzen. Wir hätten also mit diesem Neufund einen Teil des „Urbildes“ des Iuppiter Dolichenus und der Iuno Regina vor uns. Lokalreligion und Reichskult33 Was bedeuten nun diese Funde? Sie geben mehr als alle aus dem Westen des Reiches überlieferten Bilder Aufschluss darüber, in welcher Gestalt der Gott in seiner Heimat verehrt wurde. Sie präsentieren den Gott in altorientalischer Tradition und vermitteln eine Vorstellung, wie die lokale Bevölkerung den Gott sah. Für die Erforschung der Entwicklungsgeschichte eines der wichtigsten sog. „orientalischen“ Kulte sind sie von großer Bedeutung. Dies gilt auch für eine im Kultgeschehen verwendete römerzeitliche Bronzeapplik mit der Darstellung des Iuppiter Dolichenus, die zu einem Standartenaufsatz gehörte und den Charakter eines mobilen Kultbildes hatte, das bei Prozessionen im Heiligtum mitgeführt werden konnte (Abb. 9).34 Die Applik demonstriert nachhaltig die verschiedenen Facetten des Kultes, die Integration divergierender religiöser Systeme in römischer Zeit, wenn man sie der Basaltstele entgegenstellt. Während die Stele, die ebenfalls aus römischer Zeit stammt, das Götterpaar klar in altorientalischer Tradition wiedergibt, zeigt die Bronze, die grundsätzlich dem gleichen Bildschema folgt, den Gott in römischer Militärtracht und phrygischer Mütze – Elemente, die wir von der Mehrzahl der westlichen Bildnisse kennen. In der Bronze spiegelt sich somit der durch westliche Einflüsse transformierte Kult, der zu einer Reichsreligion geworden ist. Diese kosmopolitische Ausprägung des

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Vgl. zum Folgenden Blömer/Messerschmidt 2014, 27–29. Vgl. dazu umfassend Blömer/Winter 2012. 34 Vgl. zum Folgenden die Überlegungen von Blömer 2012, 65–71. 33

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Kultes existierte im Heiligtum auf dem Dülük Baba Tepesi parallel zu den weiterhin wirksamen autochthonen Vorstellungswelten und Formensprachen. Da dieser Kult trotz der durch die Migration bedingten Entgrenzung Doliche weiterhin als ein konstitutives Zentrum und lieu de mémoire wahrnimmt, gelangt das transformierte Gottesbild als backflow wieder ins Heiligtum zurück und trifft dort auf die Formen der traditionellen Verehrung. Basaltstele wie Bronzeapplik weisen somit auf die Varianz innerhalb eines Kultes an einem Ort und dessen Eingebundensein in verschiedene Diskursebenen. Die deutlich gewordene Relevanz des Dülük Baba Tepesi für Fragen nach der Kontinuität lokaler Kultur und Religion von der Eisenzeit bis in die römische Epoche ist jüngst durch einen überraschenden Neufund bestätigt worden, wirft dieser noch einmal in besonderer Weise Licht auf die Bedeutung dieses „heiligen Ortes“ für die Religionsgeschichte dieser Region.35 Geborgen werden konnte eine Basaltstele mit unbekannter Götterdarstellung, die mit dem Bildfeld nach außen in eine Mauer des Klosters des Heiligen Salomon verbaut war (Abb. 10). Die Stele ist 1,50 m hoch, 0,69 m breit und 0,24 m tief. Abgebrochen sind der obere Abschluss, ein Teil des oberen linken Randes sowie größere Partien der Rückseite. Alle Details sind mit einer hohen graphischen Präzision dargestellt, die ansonsten von den lokalen Reliefs römischer Zeit aus Kommagene nicht bekannt ist. Die Basaltstele zeigt eine männliche Gottheit, die aus einem Blattkelch erwächst (Abb. 11). Dessen langer Stiel steigt aus einem Kegel auf, der mit astralen Symbolen verziert ist. Aus den Flanken des Kegels wachsen ein langes Horn und ein Baum empor, den der Gott mit seiner Rechten umfasst. Verschiedene ikonographische und motivische Details – etwa die Gestaltung des Bartes, die Haltung der Arme sowie der rechten Hand oder der Baum – verweisen auf Darstellungen aus der Eisenzeit im frühen 1. Jt. v. Chr. Die Gestaltung des Gewandes und die Gesamtkomposition der Stele machen aber deutlich, dass es sich um eine Arbeit der römischen Epoche handelt. Die Darstellung der Stele kennt kaum Parallelen. Unklar ist, um wen es sich bei der Gottheit handelt. Es könnte sich um eine Fruchtbarkeits- bzw. Vegetationsgottheit handeln, angezeigt durch den Baum, den der Gott umfasst. Auch wenn dies zum jetzigen Zeitpunkt nur erste Überlegungen sein können – die Relevanz dieses einzigartigen Reliefs ist evident. Die dargestellte Gottheit steht offenkundig in altorientalischer Tradition und zeigt erneut, dass das Heiligtum auf dem Dülük Baba Tepesi ein Ort war, an dem eisenzeitliche Traditionen bis in die römische Zeit lebendig waren.

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Pressemitteilung des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ der WWU Münster: http://www.uni-muenster.de/Religion-und Politik/aktuelles/2014/ nov/PM_ Unbekannte_ Goetterdarstellung_entdeckt.html (Zugriffsdatum 08.09.2016).

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Fazit Der Dülük Baba Tepesi ist einer der wenigen „heiligen Orte“ Südostanatoliens, an dem ein kontinuierlicher Kultbetrieb über Jahrtausende hinweg archäologisch zu fassen ist. Die dortigen Forschungen sind in eine Vielzahl für die Kultur- und Religionsgeschichte des Nahen Ostens vom frühen 1. Jt. v. Chr. bis ins Mittelalter hinein wichtiger Diskurse eingebunden. Für die persische Periode scheint die Grabung für die Regionen des antiken Nordsyrien der aktuell wichtigste Fundplatz. Darüber hinaus ist die Verbindung von Lokalkult und Reichskult sicherlich eines der bemerkenswertesten Ergebnisse, welches zeigt, dass nach der Ausbreitung des Kultes in römischer Zeit das Dolichener Heiligtum nicht mehr nur den religiösen Bedürfnissen der lokalen Bevölkerung diente, sondern auch für Anhänger des Gottes aus anderen Regionen des Imperiums einen Bezugspunkt darstellte. Doliche erweist sich somit als Schnittstelle, an der Bild und Idee eines vorderasiatischen Religionskonzepts bewahrt und schließlich so erfolgreich „globalisiert“ wurden, dass sie den Weg bis weit in den Westen fanden. Zudem führt die Erforschung des hellenistisch-römischen Heiligtums auf dem Dülük Baba Tepesi vor dem Hintergrund der sich immer klarer konturierenden direkten Anbindung an die vorhellenistische Religion zu einer neuen, differenzierteren Perspektive auf die Entwicklung lokaler religiöser Vorstellungen in römischer Zeit.

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Karte 1: Nordsyrien in hellenistischer und römischer Zeit. Foto: Michael Blömer

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Karte 2: Topographische Karte von Doliche und dem Dulük Baba Tepesi. Foto: Karl P. Krüger

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Abb. 1: Östliches Vorplateau, Gesamtsituation von Süden, kaiserzeitliche Treppe und Reste der sich oberhalb anschließenden Pflasterung

Abb. 4: Klosterbereich im nordwestlichen Vorplateau

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Abb. 2: Fragment einer Lorica Plumata, Bronze, römische Kaiserzeit, Fund-Nr. 10_2005-204

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Abb. 3: Syrische Inschrift, Fund-Nr. 11_403-401

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Abb. 5: Brotstempel, Fund-Nr. 11_354-401

Abb. 6: Stempel- und Rollsiegel vom Dülük Baba Tepesi

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Abb. 7: Fragment einer syro-hethitischen Votivstele vom Dülük Baba Tepesi, Fund-Nr. 11_317-400, Vorderseite

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Abb. 8: Stele mit dem Götterpaar von Doliche, Fund-Nr. 06_718-400

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Abb. 9: Bronzeapplik in Gestalt des Iuppiter Dolichenus, Fund-Nr. 09_310-204

Abb. 10: Fundsituation einer Basaltstele mit unbekannter Götterdarstellung vom Dülük Baba Tepesi

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Abb. 11: Basaltstele mit unbekannter Götterdarstellung vom Dülük Baba Tepesi, Fund-Nr. 14_426-400

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Roma aeterna – eine heilige Stadt in vorchristlicher Zeit? Wolfgang Hübner (Münster)

Heute heißt die Stadt Rom „heilig“ besonders als Zentrum des katholischen Christentums, als Stadt der Apostelfürsten Petrus und Paulus, der Märtyrer und Päpste, mit seinen sieben Pilgerkirchen, wo seit 1300 periodisch das Heilige Jahr gefeiert wird. Dagegen findet sich im Rom der Republik und der frühen Kaiserzeit wenig genuin Heiliges – im Gegenteil: sehr viel Unheiliges.1 Das Epitheton sacrosancta finden wir für Rom erst in dem Isisbuch des Apuleius.2 Selbst in der etwa gleichzeitigen überschwänglichen Romrede des Aelius Aristides kommt das Wort ἱερός nur am Rande vor.3 Dennoch ist in der reichen Sekundärliteratur über die vorchristliche Roma aeterna4 manchem Gelehrten der Begriff des „Heiligen“ aus der Feder geflossen. Ausgangspunkt für Altroms prätendierte „Heiligkeit“ ist nicht die grandiose Natur des Ortes wie etwa im Falle Delphis, gelegen auf einem Hochplateau in 700 m Höhe zwischen dem heiligen Hafen Kirrha in der Tiefe und dem knapp zweieinhalbtausend Meter hohen Parnass, 5 nicht die Sukzession uralter Kulte, auch nicht irgendwelche Dämpfe, die eine Mantik inspiriert haben könnten, wenn auch bei der Via tecta am Nordrand des Marsfeldes wegen des vulkanischen Bodens einer der vielen antiken Eingänge zur Unterwelt gesucht wurde, doch hatte dies nicht dieselbe hohe Bedeutung wie etwa das Wadi im Westen von Abydos. Ausgangspunkt war also weder die Unnahbarkeit noch die Unverletzlichkeit des Ortes – im Gegenteil: In der Weltstadt Rom wimmelte es nur so von Menschen aller Nationen. Es fehlt auch eine mythische Begründung. Instruktiv ist noch einmal der Vergleich mit Delphi. Der dortige Omphalos-Stein zeigte beiderseits je

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Vgl. Jens 1959, 115 „Rom ist eine heidnische Stadt, weder griechisch noch christlich, von Anfang an bestimmt, dem hellenischen Geist eine Heimat zu geben.“ 2 Apul. metam. 11,26,3 sacrosanctam istam civitatem – „jene heilig geweihte Stadt“. 3 Aristid. Εἰς Ῥώμην 99 über die Städte im Reich: οἷον πῦρ ἱερὸν καὶ ἄσβεστον οὐ διαλείπει τὸ πανηγυρίζειν („wie ein heiliges und unverlöschliches Feuer hört es nicht auf, gefeiert zu werden“). 4 Richter 1909–1915, 136. Bibliographie, besonders zur Spätantike, bei Maier 1955, 43– 44 Anm. 2. 5 Dies hebt Roux 1976, 12–13 hervor.

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einen goldenen Adler. Nach einer vermutlich erst später daraus entwickelten Legende soll die Orakelstätte in der Weise gefunden worden sein, dass Zeus zwei Adler von der West- und der Ostgrenze der Welt losgeschickt habe, die sich, mit derselben Geschwindigkeit fliegend, zentripetal in der Erdmitte getroffen hätten.6 Ganz anders und geradezu unheilig ist die Gründungslegende Roms mit dem Brudermord des Romulus an Remus. Der Althistoriker Hermann Strasburger hat plausibel gemacht, dass die ursprüngliche Aeneas-Legende (also einer Kolonisierung Italiens von dem zerstörten Troja aus) erst ziemlich spät in einer Art „Danaergeschenk“ romfeindlicher Geschichtsschreibung durch den Brudermord verdrängt wurde. In der Version des Livius spielt nun wiederum ein Vogelflug in zwei Richtungen eine Rolle, aber eben ganz anders:7 Es geht um die Inauguration, also den Akt der Sakralisierung eines Ortes. Die Zwillingsbrüder Remus und Romulus erheischen jeder für sich ein Augurium, Remus auf dem Aventin und Romulus auf dem Palatin. Zuerst erscheinen dem Remus sechs Geier, danach dem Romulus zwölf. Remus pocht auf die zeitliche, Romulus auf die numerische Priorität. Im

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Scholion zu Pind. Pyth. 4,6 ἔνθα ποτὲ χρυσέων: λόγος τις τοιοῦτος περιηχεῖ, ὅτι ὁ Ζεύς, καταμετρήσασθαι τῆς οἰκουμένης τὸ μεσαίτατον βουληθεὶς ἴσους κατὰ τὸ τὰχος ἀετοῦς ἐκ δύσεως καὶ ἀνατολῆς ἀφῆκεν· οἳ δὲ διιπετάμενοι συνέπεσον ἀλλήλοις κατὰ τὴν Πυθῶνα, ὥστε τὴν σύμπτωσιν ὁρίζειν αὐτόθι τῆς ὅλης οἰκουμένης τὸ μεσαίτατον. ὕστερον δὲ σημεῖον τοῦ γεγονότος καὶ χρυσοῦς ἀετοὺς κατασκευάσας ἀνέθηκε τῷ τοῦ θεοῦ τεμένει. („wo einst der goldenen : Eine Erzählung lautet allenthalben etwa folgendermaßen: dass Zeus, als er das Zentrum der bewohnten Erde messen wollte, gleich schnell fliegende Adler vom Sonnenuntergang und vom Sonnenaufgang starten ließ. Diese flogen ihre Strecke und trafen bei dem [delphischen] Python aufeinander. Daher definierte dieses Zusammentreffen ebenda das Zentrum der gesamten bewohnten Welt. Später erstellte er als Zeichen des Geschehenen auch goldene Adler und stellte sie im Tempelbezirk des Gottes als Weihgabe auf.“). Ähnlich das Scholion zum nächsten Vers Pind. Pyth. 4,7 Διὸς αἰετῶν· ὅτι ὑπὸ τοῦ Διὸς ἀφεθέντες ἐκ τῶν περάτων τῆς γῆς συνέπεσον ἐνθαῦτα, καὶ οὕτως ἐγνώσθη τὸ μέσον τῆς γῆς. ὧν εἰκόνες οἱ χρυσοῖ ἀνέκειντο παρὰ τὸν ὀμφαλὸν ἀετοί. („Adler des Zeus: Weil die von dem Zeus von den Grenzen der Erde ausgeschickten Adler dort zusammentrafen. Und so wurde die Mitte der Erde erkannt, wofür die goldenen Adler neben dem Nabel als Abbilder geweiht waren.“) und Strabo 9,3,6 (= frg. 54 [27] SnellMaehler): ὅτι συμπέσοιεν ἐνταῦθα οἱ ἀετοὶ ἀφεθέντες ὑπὸ τοῦ Διός, ὁ μὲν ἀπὸ τῆς δύσεως („Weil dort die von Zeus ausgeschickten Adler zusammentrafen, der eine vom Sonnenuntergang …“). Die drei Quellen verwenden das Verbum συμπίπτειν („zusammentreffen“) und stimmen darin überein, dass zuerst die West- und dann die Ostgrenze genannt wird – so wie antike Periplus-Berichte des Mittelmeeres in der Regel im Westen beginnen. Vgl. ferner Plut. def. orac. Anfang; Lucian. salt. 38 mit Scholion (ed. C. Jacobitz IV, 1841, 144). Die Quellen wurden sorgfältig zusammengetragen von Roscher 1913/1974, 54–105. Die Deutung als Mitte der Erde dürfte allerdings erst nachträglich hinzugefügt worden sein: Nilsson 1941/1976, 204. 7 Liv. 7,1–2. Zu der komplexen und späten Entstehung dieser Legende insgesamt Strasburger 1968, über Livius 33.

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Zweikampf erschlägt Romulus seinen Bruder. War es bei Delphi die geographische, fast naturwissenschaftliche Dimension des orbis terrarum, so entscheidet in Rom ein Kampf um die Macht. Rom hatte zunächst kein sakrales Zentrum, sondern nur sieben Hügel und viele Heiligtümer. „Kein Ort ist frei von religiöser Weihe und Göttern“, lässt Livius den Furius Camillus sagen.8 Rom galt als „das Haus aller Götter“.9 Die Heiligtümer wurden im Laufe der Jahre ständig durch fremde Kulte vermehrt, so dass man von einer „Akkumulierung von Sakralität“ hat sprechen können.10 So stellte etwa Vespasian die vorher desakralisierten Kultgegenstände des zerstörten Tempels von Jerusalem in seinem neuen Templum Pacis triumphal zur Schau.11 Einen Tempel der Göttin Roma hat erst Hadrian bauen lassen. Zu seiner Zeit sprach man längst von der Roma aeterna. Bei diesem Begriff überlagern sich zwei Vorstellungen: zum einen die Roma als Stadtgöttin, zum anderen „Rom als Idee“ – so der Titel eines berühmten Aufsatzes von Friedrich Klingner aus dem Jahre 1927, 12 entstanden im Zuge der Ganzheits- oder Gestaltpsychologie der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Diese Idee einer Roma aeterna diente in den 30er Jahren Romain Rolland oder Ernst Robert Curtius als eine Art Kultursymbol, das die erträumte Einigung Europas ermöglichen sollte.13 Demgegenüber warnt aber Manfred Fuhrmann im Epochenjahr 1968 vor illusionistischen oder erbaulichen Konstruktionen.14 Inzwischen ist jedoch wieder ein neues Interesse für Zeichen und Symbole erwacht. So bietet etwa die neueste Auflage von „Religion in Geschichte und Gegenwart“ von 2004 erstmalig einen Artikel „Romidee“. 15 Die Augsburger rechtshistorische Dissertation von Peter Kreutz versucht die Genese dieses abstrakten und amorphen, ahistorischen und von den Bindungen des historisch-geographischen Kontextes losgelösten Gedankenbildes zu ergründen. Die 8

Liv. 5,52,2 nullus locus in ea [sc. urbe] non religionum deorumque est plenus. („Kein Ort in jener Weltstadt ist frei von religiösen Bindungen und Göttern.“). 9 Ov. fast. 4,270 dignus Roma locus, quo deus omnis eat („Rom ist ein würdiger Ort, an dem jeglicher Gott Platz nehmen kann.“), vgl. dazu den Kommentar von Bömer 1957– 1958, II 232; trist. 1,5,70 imperii Roma deumque locus („Rom, der Ort des Reiches und der Götter“). Lucan. 3,91 deum sedes („Sitz der Götter“). 10 Cancik/Cancik-Lindemaier 2003, 44; Cancik 2006, 11–12; 18. Vgl. schon Heinze 1921, 19 über die Fähigkeit, Fremdes zu amalgamieren. 11 Vgl. Panzram 2002, 175–176. Später ließ Kaiser Elagabal den heiligen Stein aus dem Sonnentempel von Emesa (dem heute umkämpften Homs) nach Rom schaffen und dort einen prächtigen Tempel bauen. 12 Klingner 1927; vgl. den Aufsatz seines Lehrers Richard Heinze (1921). Zur Geschichte des Begriffs „Idee“: Mittelstraß 2008, 516–519 (mit Bibliographie). 13 Hausmann 2013, besonders 24; 32. 14 Fuhrmann 1968, besonders 540; 561. 15 Cancik 2004; vgl. schon Cancik/Cancik-Lindemaier 2003, 52 über Ammian: „mit Exkursen zu Geschichte und Gegenwart der Stadt“.

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Idealisierung Roms beginnt bereits bei Cicero und Tacitus und setzt sich nostalgisch in der Zeit des Niederganges etwa im Symmachus-Kreis fort, bevor sie Augustin in De civitate dei unter dem Einfluss der platonischen Ideenlehre christlich umformte. Es ist gerade die Zeit der späten Republik, die in der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts idealisiert wird und weitgehend unser Rombild bestimmt.16 Frühere Formen der Hypostasierung Roms können somit als Nährboden für die spätere „Heiligsprechung“ der Stadt angesehen werden, wie auch die jüngste Zentralitätsforschung wieder neu gezeigt hat: Religionsgeographie, Religionsästhetik und Religionssoziologie versuchen am Beispiel Roms verschiedene Teilaspekte eines übergeordneten kulturellen geistigen Raumes zu erschließen.17 I. Rom als Göttin Die Athener trugen die Stadtgöttin Ἀθήνη schon in ihrem Namen. Dagegen scheint der Kult einer Göttin Roma den Römern ursprünglich fremd gewesen zu sein.18 Die ersten Roma-Tempel entstehen nicht in Rom selbst, sondern im Osten des Reiches,19 zuerst ein Tempel der Urbs Roma im Jahre 195 v. Chr. in Smyrna.20 Augustus verbindet den Roma-Kult mit dem Kaiserkult:21 Er lässt auf der Athener Akropolis im Jahre 27 v. Chr. hinter dem Parthenon einen Monopteros der Roma und des Augustus errichten. Weitere Tempel in Ostia und Pola sollten folgen. Der am 1. August 12 v. Chr. in Lyon von seinem Adoptivenkel, dem älteren Drusus, geweihte Altar der Roma und des Augustus sollte als sakraler Mittelpunkt die drei neuen gallischen Provinzen verbinden. Statt eines Kultes der patria oder der res publica wählte der Kaiser also die an den vergöttlichten Romulus erinnernde Dea Roma.22 Im Blick auf die Integration der Bevölkerung symbolisierten die Stadt Rom und der Kaiser die römische Staatsidee, geboren aus einem

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Kreutz 2008, besonders 17; 249–250. Dies ist zu betonen gegen die Meinung von Eigler 2003, 183, die Kaiserzeit steige nach Cassiodor zur römischen Geschichte schlechthin auf. 17 Cancik/Schäfer/Spickermann 2006, 3; Cancik 2006, 16. 18 Latte 1960, 312–313. 19 Wissowa 1912/1971, 338–342; Hommel 1976, 341–363. Aus dem Osten stammt auch die Vorstellung von einer „ewigen Stadt“. 20 Tac. ann. 4,56,1 templum urbis Romae („Tempel der Weltstadt Rom“). – Falsch die Angabe von Knoche 1952, 333, in Rom habe das neue Kultbild des von Q. Lutatius Catulus im Jahre 69 v. Chr. nach einem Brand restaurierten Jupitertempels die Figurine der Göttin Roma auf der Hand getragen – jedenfalls nach der Quellenangabe „Dio Cass. 40,2,3“. Sollte Dio Cass. 45,2,3 gemeint sein, hat Catulus eine Traumvision gehabt, in der der Knabe bei einer Jupiter-Prozession eine Rom-Statuette ἐς τὸν … κόλπον („in dem Busen“) getragen habe. 21 Wissowa 1912/1971, 80; Bayet 1969, 184; Latte 1960, 306–313. 22 Vgl. Dragendorff 1937; Knoche 1952, 339.

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Sendungsbewusstsein und gepaart mit dem Willen zu Macht und Ordnung.23 Wegen der ursprünglich sakralen Ausprägung des römischen Rechts bzw. der juristischen Ausprägung der römischen Religion gab es in Rom keine Trennung zwischen sakralem und öffentlich-rechtlichem sowie politischem Bereich.24 In der Hauptstadt selbst hat Augustus der Dea Roma zwar keinen Tempel geweiht, doch ließ er sie auf der Ostseite der Ara Pacis Augustae bildlich darstellen: Auf der linken Seite der Außenwand erscheint als Relief – sehr gut erhalten – die Göttin Pax mit Zügen der Tellus und der Venus als Göttin der Fruchtbarkeit,25 rechts gegenüber – leider fast ganz zerstört – wahrscheinlich die Göttin Roma als Ausdruck der Mütterlichkeit, aber auch der Wehrhaftigkeit (Abb. 1). 26 Der schließlich von Hadrian im Jahre 112 n. Chr. gestiftete Roma-Tempel war seinerzeit der größte in Rom. Er wurde auch Templum Urbis oder Urbis fanum („Heiligtum der Weltstadt“) genannt.27 Stiftungstag war der 21. April, also der legendäre Gründungstag der Stadt Rom, das alte Fest der Parilia. Es handelt sich um einen Doppeltempel der Venus Felix (also der Stammmutter der Aeneaden) und der Roma Aeterna, um einen durch und durch griechischen Tempel in Dipteros-Form mit zwei kolossalen, nach dem bekannten Palindrom ROMA – AMOR28 spiegelbildlich Rücken an Rücken angeordneten Sitzstatuen: Roma Aeterna nach Westen zum Forum (also zur Stadtseite hin) blickend,29 bewaffnet, mit langem Gewand und nach dem Vorbild der Athena Parthenos des Phidias die Siegesgöttin in der Hand tragend, und Venus nach Osten zum Kolosseum hin (also stadtaus-

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Über weitere Tempel in Ostia und Pola s. Zanker 2009, 306–308. Hadrian wird dies später in Tarraco, dem Zentrum der hispanischen Provinz, mit einem Augustus-Tempel wiederholen: Kuhlmann 2002, 152. 24 Bergemann 1992, 80. 25 Zanker 2009, 164–168 und 257. Vgl. Hommel 1976, 339: Der domina Roma („Herrin Rom“) ist in Rom eine mütterliche Versinnbildlichung vorausgegangen. 26 Vgl. Knoche 1952, 338–339 mit Verweis auf Pasqui 1903; Mlasowsky 2010, 60. 27 Vgl. Prud. c. Symm. 1,219 delubrum Romae („Heiligtum der [Göttin] Roma“) und 1,221–222. Urbis Venerisque pari se culmine tollunt / temple („Mit gleichem Giebel erheben sich die Tempel der Weltstadt und der Venus“), ferner Wissowa 1912/1971, 340. 28 Das Palindrom wurde auch (anonym) erweitert: Roma tibi subito motibus ibit Amor (auf Deutsch etwa: „Rom wird sogleich mit Bewegungen zu dir zukommen“), vgl. Kytzler 1972, 23 sowie Kytzler 1993, 304–305 zu Rut. Nam. 1,204; Henke 2007, 219–220 zu Sidon. epist. 9,14,4 Roma tibi subito moribus ibit amor (auf Deutsch etwa: „Rom wird sogleich mit seinen Sitten zu dir kommen“). Zu gewagt erscheint der Gedanke von Otto 2010, 144–145 zu Mart. epigr. 5,7,5 Veneris: „Mit Venus ist an dieser Stelle Rom gemeint.“ Über weitere Anagramme mit dem Namen Roma Paschoud 1967, 152 zu Claud. 26,546–547. 29 Nur diese Cella samt der Basis des Kultbildes ist erhalten, weil sie in das Kloster S. Francesco eingebaut wurde.

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wärts) gerichtet. Da das Epitheton Felix ursprünglich die Fruchtbarkeit hervorhebt, wiederholt das Paar Venus und Roma den Gegensatz von Tellus und Roma auf der Ara Pacis. Der katholisch erzogene Georg Wissowa30 spricht hier von „einer göttlichen Verkörperung der Reichshauptstadt, die mit ihrer großen Vergangenheit und der ganzen Pracht ihrer Bauten und Kunstwerke umso mehr als etwas Hohes und Heiliges sich darstellte, je mehr sich der Gegensatz zwischen Rom (bzw. Italien) und den Provinzen geltend machte.“ Auf Münzen erscheint die Göttin Roma bereits seit 82 v. Chr.: der Göttin Italia die Hand gebend und mit dem römischen Machtsymbol des Globus (Abb. 2).31 Wietere Münzen zeigen sie (Abb. 3 links) als helmbewehrten weiblichen Kopf (allerdings auch als Diana gedeutet) oder als eine kriegerisch hochgeschürzte Amazone mit Helm, Reiterstiefeln und Zepter (Abb. 3 Mitte) oder als langgewandete Pallas (Abb. 3 rechts). Zum Romkult gehörte auch das Fest der Ῥωμαῖα nach dem Vorbild der athenischen Panathenäen, diese wurden aber nur außerhalb von Rom gefeiert, nicht in Rom selbst.32 An ihrer statt gab es die Ludi saeculares („Jahrhundertspiele“), die seit dem Jahre 249 v. Chr. belegt sind und von Augustus wiederbelebt wurden.33 Zu den archäologischen Zeugnissen kommt die Dichtung. Wenn denn die griechische Dichterin Melinno34 wirklich ins zweite vorchristliche Jahrhundert gehört, ist sie die erste, die einen Hymnos in sapphischen Strophen auf die Göttin angestimmt hat. Wieder wird die Idee vom Osten an Rom herangetragen. Rom heißt dort eine „Herrin“ (ἄνασσα), was dann Horaz und Livius mit domina Roma übersetzen sollten.35 Dort klingt auch schon der Gedanke einer ewigen Herrschaft an: 36 „die du auf Erden den Olymp bewohnst, den auf ewig unzerstörbaren“, 30

Wissowa 1912/1971, 340. Wissowa besuchte das katholische St. Matthias-Gymnasium zu Breslau. Vgl. Koch 1952/1960, 129 auf Rom bezogen: Die Heiligkeit eines Ortes bleibt trotz des Wandels der Kulte bestehen. Erst auf der allerletzten Seite heißt es bei Christ 1938, 202 über das christliche Rom: „Heilige Bürger birgt es in seinen Mauern.“ Der Österreicher Weißengruber formuliert: „Hatte schon Vergil die ganze römische Geschichte als Heilige Geschichte dargestellt.“ (Weißengruber 1980, 23). 31 Vgl. Hommel 1976, 332. 32 Vgl. Pfister 1914. 33 Aus der reichen Literatur seien genannt: Nilsson 1920; Pighi 1965; Freyburger 1993; Champeaux 2007. Vorläufer sind die ludi Tarentini, die den chthonischen Göttern geweiht waren. 34 Melinno anth. lyr. II fasc. 6, p. 209–210; Diehl, in fünf sapphischen Strophen. Die Überlieferung bei Stobaios 3,7,12 im Zusammenhang mit περὶ ἀνδρείας („Über die Tapferkeit“) ruht auf einem Missverständnis, weil Stobaios εἰς ῥώμην als „an die Kraft“ deutet: Hommel 1976, 361–363. – Zur Romdichtung allgemein Kytzler 1972. 35 Hierzu Hommel 1976, 332. 36 Melinno anth. lyr. II fasc. 6, p. 209–210, Vers 3–4.

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σεμνὸν ἣ ναίεις ἐπὶ γᾶς Ὄλυμπον αἰὲν ἄθραυθστον. Der erste römische Dichter, der die Roma anredet, ist Horaz in einem pindarischen Siegeslied.37 Vergil personifiziert sie im sechsten Buch der Aeneis im Zusammenhang mit Romulus, von dem er auch ihren Namen ableitet.38 Bezeichnenderweise erscheint dort der Name Roma – so wie auch sonst immer wieder am Hexameterende, und das in alter Hymnentradition (wie etwa Ἀθήνη und dann auch der Stadtname Ἀθῆναι). Vergil vergleicht ihren Aufzug mit dem Löwenwagen der Göttin Cybele,39 deren Mauerkrone an die Mauern Roms erinnert,40 ein weiterer Hinweis auf den orientalischen Ursprung.41 Mit einer Mauerkrone erscheint die Göttin Roma dann auch bei Lucan: Als göttliche Erscheinung warnt sie den betenden Caesar vor der Überschreitung des Rubicon.42 Die Beispiele mehren sich dann in der Spätantike, der Dichter Prudentius resümiert mit einem Wortspiel: 43 „Der Name des Ortes (Rom) gilt als eine göttliche Macht“, nomenque loci ceu numen habetur, wobei er an ein frühes Verbot, den eigentlichen Namen der Stadt auszusprechen,44 anknüpfen konnte. II. Rom als abstrakte Idee Einige Eigenschaften der Göttin Roma bereiten schon die abstrakte Idee der Roma aeterna vor. Ich übergehe die nachträgliche volksetymologische Ableitung des (ursprünglich etruskischen) Namens Roma von griechisch ῥώμη „Stärke“ (was

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Hor. carm. 4,4,37 quid debeas, o Roma, Neronibus … („was du, o Roma, den Neronen [= Drusus und Tiberius] verdankst.“). 38 Verg. Aen. 1,277 Romanos ... suo de nomine dicet („Er wird sie nach seinem Namen ‚Römer‘ nennen“), dazu Birt 1887; Opelt 1965, 53. 39 Verg. Aen. 6,781–787. Das Epitheton turrita („mit Türmen versehen“) für Cybele kehrt bei Claud. 24,170 wieder, ausführlicher bei Rut. Nam. 1,117 aurea turrigero radient diademata cono („golden wird der Stirnreif mit türmetragenden Kegelspitzen strahlen“). 40 Über dieses orientalische Sinnbild Hommel 1976, 343–363. 41 Varro sieht in der Göttin Cybele sogar ein Symbol des orbis terrae: ant. rer. div. 16 frg. 267 bei Aug. civ. 7,24 p. 304,12 D. quod tympanum habeat, significari esse orbem terrae („Weil sie [die Göttermutter] die Pauke hat, bedeute dies, sie sei der Erdkreis.“). 42 Lucan. 1,186–202, insbesondere 1,188 turrigero ... vertice („mit türmetragendem Scheitel“); 1,119–120 summique o numinis instar / Roma fave coeptis („O Rom, Gleichnis der höchsten Göttermacht, begünstige meine Unternehmung.“). 43 Prud. c. Symm. 1,220. 44 Solin. 1,4 traditur etiam proprium Romae nomen, verum tamen vetitum publicari („Man sagt, dass es sogar verboten sei, den eigentlichen, aber wahren Namen Roms zu veröffentlichen.“), reiches Material bei Arthur S. Pease zu Cic. nat. deor. 3,56, dazu noch Plin. nat. 3,65 Roma ipsa, cuius nomen alterum dicere arcanis caerimoniarum nefas habetur („Rom selbst, dessen andere Namen in geheimen Zeremonien zu erwähnen als Frevel betrachtet wird.“).

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auch zu Valentia latinisiert wurde),45 sowie die „stille Etymologie“ robur Romanum („das römische Kernholz / die römische Kraft“).46 Häufig genannt wird vielmehr die räumliche Ausdehnung und die zeitliche Grenzenlosigkeit des Reiches: „le double impérialisme romain“47. 1. Die räumliche Ausdehnung In seinem carmen für die Säkularspiele des Jahres 17 v. Chr. betet Horaz feierlich, und wieder handelt es sich um eine sapphische Strophe: Alme Sol, curru nitido diem qui promis et celas aliusque et idem nasceris, possis nihil urbe Roma visere maius. „Segensreicher Sonnengott, der du im glänzenden Gefährt den Tag hervorbringst und verbirgst und zugleich als ein anderer und derselbe geboren wirst, du kannst nichts Größeres als die Weltstadt Rom betrachten.“ Hor. carm. saec. 9–12

Zutreffend hat man formuliert:48 „Damit erweckt der Dichter die Vorstellung der maiestas der Stadt.“ Der Sonnengott möge auf seinem Weg von Osten bis zum Westen nichts Großartigeres sehen als Rom.49 Die Aretalogie des Sonnengottes bezieht sich also in erster Linie auf die Ausdehnung des Reiches. 50 Seitdem 45

Aristid. Εἰς Ῥώμην 8, dazu die Erläuterungen von Klein 1983, 69. Vgl. auch Opelt 1965, 49–52. 46 Birt 1887; Opelt 1965, 49. 47 Ossner 1969, 495 „du double impérialisme romain – de l’espace, du temps – dans l’Énéide.“ Vgl. die Gliederung der Dissertation von Christ 1938, 4–59 räumliche Ausdehnung, 59–72 zeitliche Ewigkeit. 48 Knoche 1952, 347 Anm. 89. Bei Liv. 5,54,4 sagt schon Furius Camillus nach der Zurückdrängung des Galliereinfalls im vierten Jahrhundert v. Chr.: argumento est ipsa magnitudo tam novae urbis („Als Argument dient die Größe einer solch neuen Weltstadt selbst.“). Vgl. Aristid. Εἰς Ῥώμην 63 μεγάλοι μεγάλως ἐμερήσατε τὴν πόλιν („Weil ihr groß seid, ist euch die Stadt großartig zu Teil geworden.“). 49 Vgl. Aristid. Εἰς Ῥώμην 10: Das römische Reich füllt die ganze Sonnenbahn aus; sogar Horazens Gebetswunsch findet sich bei ihm wieder. Andere astronomisch-geographische Ausdrücke für die Ausdehnung des Reiches sammelt Christ 1938, 53–57. 50 Später ausgeweitet von Rut. Nam. 1,57–58: volvitur ipse tibi, qui continet omnia, Phoebus / eque tuis ortos in tua condit equos („Es wälzt sich für dich Phoebus, der alles umfasst, / und die Rosse, die aus deinem Bereich hervorgegangen sind, führt er in deinen Bereich nieder.“). – Ohne Bezug zum Sonnenlauf Aug. civ. 5,13 p. 217,10 D. imperii latitudine et magnitudine inlustrius („berühmter durch die Ausdehnung und Größe des Reiches“).

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Alexander ein Weltreich geschaffen hatte, entwickelten die Stoiker die Idee des Kosmopolitismus. So nennt der ältere Plinius 51 das römische Imperium „eine einzige Heimat aller Völker auf dem gesamten Erdkreis“ – una cunctarum gentium in toto orbe patria, oder wie es Aelius Aristides in seinem RomPanegyrikos formuliert:52 „weil der Staat etwas Gemeinschaftliches ist und wie eine einzige Stadt“ – διὰ … τὸ κοινὸν εἶναι τὴν πολιτείαν καὶ οἷον πόλεως μιᾶς. Andere sprechen von einer ἐπιτομή („Abkürzung“),53 heute würde man sagen: einer „mise en abîme“, einer konzentrierten Spiegelung. Diese imperialistische, auf dem Prinzip der Herrschaft beruhende Romideologie setzt sich in den Wunschbildern54 der theodosianischen Zeit fort.55 2. Die zeitliche Ausdehnung: die Ewigkeit Ein Widerspruch des antiken Weltbildes besteht darin, dass der Kosmos zwar als räumlich begrenzt, aber zeitlich unbegrenzt angesehen wurde. So galt auch die Roma aeterna zwar als räumlich begrenzt, aber zeitlich unvergänglich. Der römische Ewigkeitsgedanke hat nichts von der griechischen Philosophie geerbt, die erkannt hat, dass etwas, was unvergänglich sein soll (ἄφθαρτος), keinen Anfang kennen darf (ἀγέννητος). Wenn also eine Stadt irgendwann gegründet wurde, muss sie auch irgendwann vergehen. Bei den Römern bleibt der Begriff aeternitas („Ewigkeit“, griechisch αἰών56) unreflektiert,57 er ist vielmehr emotional gefärbt: 51

Plin. nat. 3,39 quae ... sparsa congregaret imperia ritusque molliret et tot populorum discordes ferasque linguas sermonis commercio contraheret ad conloquia et humanitatem homini daret breviterque una cunctarum gentium in toto orbe patria fieret („die die verstreuten Reiche zusammenführte und die Feiern milderte und die unterschiedlichen und wilden Sprachen von so vielen Völkern durch die Kommunikation der [urbanen] Rede zum gemeinsamen Sprechen vereinheitlichte und dem Menschen Menschlichkeit verlieh und im ganzen Kreise aller Völker zu einem einzigen Vaterland wurde.“). 52 Aristid. Εἰς Ῥώμην 65, vgl. 80: Statt übermäßiger Stadtmauern garantiert Rom eine Umwallung des ganzen Reiches; 102: Der ganze Erdkreis ist ein οἶκος. 53 Athenaios 1,36 p. 20b τὴν Ῥώμην πόλιν ὲπιτομὴν τῆς οἰκουμένης („die Stadt Rom eine Abbreviatur der bewohnten Welt“), hierzu Cancik 2006, 15. 54 Vgl. die Formulierung von Ossner (1969), 493 „la volonté de durée infinie“. 55 Claudian im dritten Buch der Laudes Stilichonis (Claud. 24,130–173), besonders 24,159–160 nec terminus umquam / Romanae dicionis erit („Und niemals wird es je ein Ende des römischen Machtbereichs geben.“), überboten von Rut. Nam. 1,47–164 mit dem Beginn exaudi, regina tui pulcherrima mundi („Höre, allerschönste Königin deiner Welt.“), dazu kritisch Fuhrmann 1968, 560: im Gegensatz zu dem Zwangsstaat, dessen Kräfte erschöpft waren. 56 Hierzu Degani 1961, 127–128. 57 Cic. rep. 3,34 stellt die Ewigkeit als Postulat auf: debet enim sic constituta esse civitas, ut aeterna sit („denn ein Staat muss so verfasst sein, dass er ewig dauert“), vgl. Christ 1938, 59. Zur Ikonographie Belloni 1981.

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Die politische Idee wird zum Slogan. Die Römer werden, so hoffte man, „auf ewig unbesiegt“ bleiben, semper invicti, oder wie Polyän formuliert: „Ihr pflegt stets zu siegen“. 58 Sinnfällig und gleichsam magisch erzwungen wurde die ewige Dauer im Staatsherd des Vestatempels, dessen Feuer Tag und Nacht betreut wurde, weil es nie ausgehen durfte.59 Die berühmte Jupiter-Prophezeiung im ersten Buch der Aeneis:60 imperium sine fine dedi („Ich habe [dir] ein Reich ohne Ende gegeben.“) vereint die räumliche und zeitliche Unbegrenztheit – Jupiter verheißt ein Reich, das unabhängig von allen Krisen und Katastrophen der Geschichte fortbesteht. Diese Idee der Unvergänglichkeit wird seit Augustus an den Herrscher gebunden.61 So heißt es in einer Inschrift von Kaiser Tiberius: „geboren zur ewigen Dauer des römischen Namens“ 62 – nati ad aeternitatem Romani nominis. Nero stiftet große Spiele pro aeternitate imperii („zur Ewigkeit des Reiches“),63 und auf Münzen erscheint als 58

Polyaen. 1,1 αἰεὶ εἰώθατε νικᾶν, vgl. Lucil. frg. 613 Romanus populus victus ... bello vero numquam („das römische Volk im Krieg wahrlich niemals besiegt“), weitere Stellen bei Gernentz 1918, 90; Christ 1938, 141–144: invictus („unbesiegt“) klingt stärker als victor („Sieger“). 59 Vgl. Verg. Aen. 2,297 aeternum ... ignem („das ewige Feuer“); Hor. carm. 3,5,11 aeternae ... Vestae („der ewigen Vesta [= Göttin des Herdfeuers]“); Liv. 26,27,14 Vestae aedem ... et aeternos ignes et conditum in penetrale fatale pignus imperi Romani („das Heiligtum der Vesta und die ewigen Feuerbrände und das in einen schicksalhaften inneren Kern gegründete Unterpfand des römischen Reiches“); Ov. fast. 3,421–422. ignibus aeternis aeterni numina praesunt / Caesaris („Den ewigen Feuerbränden geht die göttliche Macht des ewigen Kaisers voran.“); Vell. 2,131,1 (Schlussgebet) perpetuorum ... custos Vesta ignium („Vesta, Hüterin der unablässigen Feuerbrände.“). Dazu Cumont 1896, 436– 437; 441 (orientalische Herkunft); Wissowa 1912/1971,156–161; Koch 1952/1960, 130– 131; Id. 1958, 1770–1771. In einer Schwurformel heißt es bei Val. Max. 4,4,11: per ... aeternos Vestae focos ... iuro („Ich schwöre bei den ewigen Herden der Vesta.“). Im penus Vestae („geweihten Hausrat“) wurde das Palladium, das nach der Trojalegende von Himmel herabgefallen sein soll, aufbewahrt, vgl. das Ende der Camillusrede bei Liv. 5,54,7: hic Vestae ignes, hic ancilia caelo demissae („Hier sind die Feuerbrände der Vesta, hier der Schild vom Himmel herabgeschickt.“). 60 Verg. Aen. 1,278–279 his ego nec metas rerum nec tempora pono, / imperium sine fine dedi („Diesen Dingen setze ich weder Ziele noch Zeitgrenzen, / ich habe ein Reich ohne Grenze verliehen.“) und Christ 1938, 62. Über die Nachdichtungen dieser berühmten Stelle Gernentz 1918, 41–42; weitere Stellen 40–46. 61 Literatur hierzu bei Bömer 1957–1958, Ovidius, 59 zu Ov. fast. 1,530 et fiunt ipso sacra colente deo („Und es werden Opfer stattfinden, die einer, der selbst Gott ist, darbringt.“). 62 CIL XI,2 4170 (Umbrien). Allerdings muss Tac. Ann. 3,6 angesichts des verstorbenen Kronprinzen Germanicus zugeben: principes mortales, res publica aeterna („Die Herrschenden sind sterblich, doch der Staat ist ewig.“). 63 Suet. Nero 11,2 ludis, quos pro aeternitate imperii susceptos appellari maximos voluit („in den Spielen, von denen er wollte, dass sie die größten genannt würden, weil sie im

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Begriff oder Göttin die Aeternitas („Ewigkeit“) seit augusteischer Zeit in äußerst vielfältigen Darstellungen (Abb. 4), besonders seit 69/70 n. Chr. unter Vespasian nach dem Trauma der Bürgerkriege des Vierkaiserjahres.64 Sie dient somit der Reichspropganda. Prägnant formuliert Jacqueline Champeaux: „L’Éternité romaine est une Éternité impériale.“ 65 3. Die Zentralität In der administrativen, ökonomischen 66 wie geistigen Mitte dieses ewig gedachten Organismus mit seiner straffen Heeres- und Verwaltungsorganisation befindet sich die Stadt Rom. Die etymologische Verwandtschaft von urbs („Weltstadt“) und orbis („Erdkreis“) wurde in der modernen Sprachwissenschaft zwar früher einmal vertreten, gilt aber heute nicht mehr. Obgleich das Wort orbis in der Antike sogar manchmal mit anlautendem u- geschrieben wurde,67 gibt es damals nur einen schwachen Ansatz bei Varro: ab orbe et urvo Urbes [sc. vocabant] („sie benannten die Weltstädte nach dem Kreis und dem [krummen] Pflug“), 68 die Städte heißen also nach dem orbis und der Krümmung eines Pfluges, mit dem der Grundriss festgelegt wurde. Immerhin spielen Cicero, Properz und Ovid mit der willkommenen Assonanz der beiden Wörter im Sinne einer „stillen Etymologie“.69 Verhältnis zu der Ewigkeit des Reiches veranstaltet wurden.“), dazu Koch 1952/1960, 133–134. 64 Aus der reichen Literatur vgl. Zepf 1927; Degani 1961; Alföldi 1979, 5–6; 20–25; Quet 1981a; Ead. 1981b, 102. 65 Champeaux 2007, 48, vgl. 49 „A Rome, l’éternité est un des attributs du pouvoir: éternité du monde, éternité de l’empereur; éternité et l’empire vont de pair.“ – Eigentümlicherweise formuliert Aelius Aristides, Εἰς Ῥώμην 29 die Ewigkeit nur als Wunsch (wie bei Horaz die maiestas): συνευχομένη μένειν τὸν ἅπαντα αἰῶνα τήνδε τὴν ἀρχήν („darum betend, dass diese Herrschaft die gesamte Ewigkeit dauere.“). Am Ende der Rede geradezu als Gebet (109): τὴν ἀρχὴν τήνδε καὶ πόλιν τήνδε θάλλειν δι’ αἰῶνος καὶ μὴ παύεσθαι. … („dass diese Herrschaft und diese Stadt die Ewigkeit hindurch blühen und nie ein Ende finden möge.“). Dagegen rhetorisch überhöht 108: Seine Rede müsste so lang werden wie die „ganze Ewigkeit“: ὁ πᾶς αἰών. 66 Dies betont Aristid. Εἰς Ῥώμην 11–13. 67 Bohnenkamp 1978, 906, Z. 66–71. 68 Varro ling. 5,143 post ea qui fiebat orbis, urbis principium, [...] quare et oppida quae prius erant circumducta aratro ab orbe et urvo Urbes („Der Kreis, der danach entstand, war der Anfang der Großstadt [...], weswegen auch die kleineren Städte, die vorher vom Pflug umzirkt waren, nach dem Kreis und dem Pflug Städte [sc. genannt wurden]“). Zur modernen Etymologie sowie zum Bedeutungsspektrum Roscher 1913/1974, 6–19. 69 Cic. Cat. 1,4,9 qui de huius urbis atque adeo de orbis terrarum exitio cogitent („Welche Leute sich über den Untergang dieser Stadt und sogar des [ganzen] Erdkreises Gedanken machten.“) u. ä., dazu Christ 1938, 81–83. Vgl. später Rut. Nam. 1,66 urbem fecisti, quod

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Die Zentralität ist jüngst vielfach zum Gegenstand der religionssoziologischen Forschung geworden.70 Mehrere Bauten, Bilder und Akte versinnbildlichen das Zentrum des Reiches. Im Jahre 20 v. Chr. ließ Augustus als curator viarum („Betreuer der Straßen“) am Forum in der Nähe des Saturn-Tempels den „goldenen Meilenstein“, das miliarium aureum, errichten, und zwar als Mittelpunkt des landesweiten Straßennetzes (Abb. 5).71 Man hat lange vermutet, dass es auf der anderen Seite der Rostra („Schiffsschnäbel“) einen zweiten Mittelpunkt gab, genannt „Nabel der Stadt“, umbilicus Urbis, für den man sogar einen Monopteros annahm (Abb. 6).72 Doch hat man zu Recht gefragt, warum es denn zwei Mittelpunkte sein mussten. Kai Brodersen hat dagegen wahrscheinlich gemacht, dass das ursprüngliche Miliarium („Meilenstein“) in nachkonstantinischer Zeit in Umbilicus („Nabel“) umbenannt wurde.73 Gerade diesen Bezirk hat dann ein schwäbischer Literat „heilig“ genannt.74 Er beruft sich dabei auf die fokussierte Sakralität im „Nabel der Welt“ von Delphi.75 Von dem delphischen ὀμφαλὸς γῆς gab es mehrere Nachbildungen.76 Strabon77 nennt ihn die Mitte der Oikumene und die Mitte ganz Griechenlands. Solche Gedanken unterliegen bekanntlich dem historischen und politischen Wandel. So

prius orbis erat („Du hast zu einer Weltstadt gemacht, was vorher ein bloßer Kreis war.“). Zur Relation von Stadt und Reich Aristid. Εἰς Ῥώμην 9, vgl. 63 ὥσπερ ἐν μιᾷ πόλει πάσῃ τῇ οἰκουμένῃ πολιτευόμενοι („die sich wie in einer einzigen Stadt in der gesamten bewohnten Welt politisch betätigen“), vgl. 59 ἀρχή („Herrschaft“) = οἰκουμένη („bewohnte Welt“) und 61. 70 Cancik/Schäfer/Spickermann 2006. 71 Tac. hist. 1,27. Von Augustus als curator viarum („Hüter der Straßen“) im Jahre 20 v. Chr. aufgestellt. 72 Coarelli 1999, danach Cancik/Cancik-Lindemaier 2003, 55; Cancik 2006, 17. 73 Brodersen 2003, besonders 281: Beide Monumente sollen der Bedeutung Roms als Zentrum sichtbaren Ausdruck verleihen; Id. 1996/1997, 274. 74 Rombach 1984, 46–55 „Im heiligen Bereich des Forums“, besonders 50 „den ganzen, einst als heilig geltenden Bereich“. 75 Über den Nabel der Welt bei den verschiedensten Völkern Roscher 1913/1974, 20–36 (über Rom auf Seite 35); Amandry 1992. 76 Roscher 1913/1974, 80–93. Pausan. Descr. 10,16,3 berichtet von einer der Nachbildungen außerhalb des Tempels, vgl. Herrmann 1959, 17. 77 Strab. 9,3,6 p. 419 τῆς γὰρ Ἑλλάδος ἐν μέσῳ πώς ἐστι τῆς δὲ ἐντὸς Ἰσθμοῦ καὶ τῆς ἐκτός, ἐνομίσθη δὲ καὶ τῆς οἰκουμένης („Er befindet sich irgendwie in der Mitte Griechenlands [innerhalb und außerhalb des Isthmos], man glaubte aber auch [in der Mitte] der bewohnten Welt.“).

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wird der Anspruch auf die Weltmitte von dem Römer Varro energisch zurückgewiesen.78 Für ihn ist der Nabel Italiens vielmehr eine Insel in einem See in Mittelitalien bei Rieti.79 Sinnfällig wird die „mythical centrality“ seit alters in der Form des Rundtempels. Die griechische Hestia beschützte ursprünglich den heimischen focus („Herd“). In Athen bekam sie einen Rundtempel zum Schutz der Gemeinde und der Stadt.80 Eine bedeutende Rolle spielt die Ausweitung vom Privathaus auf die Stadt bei der römischen Vesta,81 weil sich das Volk der Römer mehr als die griechische Polis als eine große Hausgemeinschaft, eine familia, verstand.82 Die Verehrung eines Genius populi Romani („Genius des römischen Volkes“) (auch Genius publicus [„öffentlicher Genius“] oder Genius urbis Romae [„Genius der Weltstadt Rom“] genannt) entsprach der Genius-Verehrung eines privaten Hausherrn.83 Der Rundtempel der Vesta auf dem Forum galt als der älteste in Rom,84 die Vestalinnen, die über das Feuer zu wachen hatten, waren direkt dem Pontifex maximus („Oberpriester“) unterstellt. Von daher bekommt die Errichtung eines zweiten Vestatempels durch den im Jahre 12 v. Chr. zum Pontifex maximus aufgestiegenen Augustus bei seinem Privathaus auf dem Palatin ein besonderes Gewicht.85 Im Kosmosmodell des Pythagoreers Philolaos86 bezeichnet Ἑστία („die Göttin 78

Varro ling. 7,17 bei der Interpretation des Tragödienverses trag. inc. 19 [Ribbeck] O sancte Apollo, qui umbilicum certum terrarum optines („O heiliger Apoll, der du den bestimmten Nabel der Länder innehast.“). 79 Plin. nat. 3,109 in agro Reatino Cutiliae lacum, in quo fluctuetur insula, Italiae umbilicum esse M. Varro tradit („Varro überliefert, dass sich der Nabel Italiens in den Thermen von Cotilia in der Landschaft Reate befinde, in denen eine Insel schwimmt.“), vgl. Roscher 1913/1974, 34. Über spätere „Nabel“ der Welt Dempsey 1918, 48 Anm. 1. 80 Vgl. hierzu Vernant 1963/1985 nach Gernet 1951. 81 Die etymologische Verwandtschaft von Hestia und Vesta wird heute kaum noch bestritten: Hommel 1972, 398, weiterführend Pötscher 1987, 749–750. 82 Pötscher 1987, 745, vgl. 756: „Im großen Haus der römischen Staatsfamilie, deren Mittelpunkt Vesta ist.“ 83 Wissowa 1912/1971, 179. 84 Die erhaltenen Reste stammen vom Anfang des dritten Jahrhunderts v. Chr. Ovid lässt den Tempel von Numa gegründet sein, vgl. Liv. 1,20,5. 85 Vgl. Wissowa 1912/1971, 76–77 und 161 mit Anm. 2. Gernet 1951, 29–30 sieht darin einen „ricorso“ zur Grundbedeutung des familiären Herdes im Privathaus. – Es sei nicht verschwiegen, dass Vesta als Göttin des Dezembers und Schutzgöttin des Steinbocks, des Zeichens des Augustus, fungiert: Manil. 2,445 angusta [augusta cod. M] fovet Capricorni sidera Vesta („Die engen [erhabenen var. l.] Sterne des Steinbocks wärmt die Göttin Vesta.“); 4,243 Vesta tuos, Capricorne, fovet penetralibus ignes („Vesta wärmt in ihrem Heiligtum, o Steinbock, deine Feuer.“). Zum Steinbock als Zeichen des Augustus vgl. jetzt Terio 2006. 86 Philolaos A 16 und B 7 D.–K., dazu Burkert 1960, 217–218; 227; 293; 316–320. Hiervon

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des Herdfeuers“) sogar das Zentralfeuer seines Universums, entsprechend erklärt Ovid die forma rotunda („Rundform“) des Vesta-Tempels eben damit, dass auch die kugelförmige Erde frei in der Mitte des Universums schwebe; unter beiden befinde sich das „wachsame Feuer“:87 Vesta eadem est et terra, subest vigil ignis utrique. significatque deam terra focusque suam. terra pilae similis nullo fulcimine nixa … „Vesta ist dasselbe wie die Erde, beiden liegt das wachsame Feuer zugrunde. Die Erde und der Herd bezeichnen (je für sich) die zugehörige Göttin. Der Erde einem Ball ähnlich, auf keiner Stütze ruhend …“ Ov. fast. 6,267–269

In einem jüngeren Aufsatz wurde versucht, das Vesta-Feuer, das niemandem zu Gesicht kommen durfte, dem Innenraum und den Jupiter der capitolinischen Trias dem Außenraum zuzuordnen. 88 Das bedeutet methodisch und teilweise sogar auch inhaltlich eine Rückkehr zum Strukturalismus der 60er Jahre. Während auf die Forschungsgeschichte zwar insofern eingegangen wird, als die Instrumentalisierung des Feuerkultes im „Dritten Reich“ genüsslich angeprangert wird, fehlt jeglicher Hinweis auf einen jüngeren Vorgänger, den Strukturalisten Jean-Pierre Vernant,89 der in seiner Opposition die griechische Hestia (die nach Platon beim Aufbruch der Zwölfgötter als einzige im Hause bleibt)90 als Göttin der Ruhe und des Innenraumes dem reisigen Hermes als dem Gott der Bewegung und der Außenwelt gegenüberstellt. Dass auf diese Weise Jupiter einerseits und Merkur andererseits als Kontrastgottheit zur Hestia Vesta austauschbar werden, zeigt zum einen die Beliebigkeit dieser Forschungsrichtung, zum anderen aber auch die Verwandtschaft der beiden Planetengötter Jupiter und Merkur im antiken Weltbild:

leitet Plat. Phaedr. 247A (s. u. Anm. 90) die Sesshaftigkeit der Göttin ab, dazu Pötscher 1987, 744. Vgl. auch Roscher 1913/1974, 62–63 zu Eur. Ion 462 μεσόμφαλος ἑστία („der Herd, nabelhafter Mittelpunkt“). 87 Vgl. Varro ant. div. 16 frg. 281 quod ipsa sit terra („weil sie die Erde sei“); Sall. Περὶ θεῶν 6 Ἑστία = γῆ („Vesta = Erde“), dazu Cancik-Lindemaier 1997, 164–167, ohne auf die griechischen Vorbilder einzugehen. Hinzu kommt die volksetymologische Ableitung des Namens Ἑστία von (καθ)έζεσθαι („sich setzen“): Hübner 1995, 67–68. 88 Cancik-Lindemaier 1997, 171–175 über die Dialektik von Innen – Außen, Irrfahrt – Ruhe, Geheimnis – Öffentlichkeit und zwar unter Zurückweisung der „anthropologischen“ Übertragung der Opposition auf die beiden Geschlechter bei Koch, dieser nennt (1958) 1771, 50 aber nur das weibliche Geschlecht. 89 Vernant 1963/1985, 13–18; Hestia bedeutet „le clos“, „le dedans“, „le fixe“, Hermes dagegen „le dehors“, „l’ouverture“, „la mobilité“, vgl. dazu Hübner 1986. 90 Plat. Phaedr. 247A μένει γὰρ Ἑστία ἐν θεῶν οἴκῳ μόνη („Hestia bleibt nämlich allein im Hause der Götter“).

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Unter den drei äußeren Planeten vermittelt Jupiter ebenso zwischen dem langsamen und sonnenfernen Saturn (seinem alten Vater Kronos) einerseits und dem schnellen sonnennahen Mars (seinem ungestümen Sohn Ares) andererseits, wie unter den drei inneren Planeten Merkur zwischen der sonnennahen Venus einerseits und der sonnenfernen Luna andererseits.91 Die jüngere Kognitionsforschung hat erkannt, dass ein junger Mensch nicht etwa in einem seit Eratosthenes etablierten Koordinatenschema mit zwei sich rechtwinklig schneidenden Parallelen operiert, sondern gleichsam „egozentrisch“ nach Art der Vektorenrechnung mit radialen Winkeln.92 Der menschliche Körper dient also der Raumorientierung als zentraler Bezugspunkt.93 Michel Foucault hat dies brillant formuliert, wenn er vom Menschen sagt: „Il est le grand foyer [= focus] des proportions.“ 94 Heute übt der Begriff „Zentrum“ erneut seinen Zauber aus (vom Einkaufszentrum bis zum Eroszentrum): In solchen Zentren fokussiert sich eine geballte Kompetenz oder ein reichhaltiges Warenangebot, so dass dort viele Besucher erwartet werden wie Pilger an einer heiligen Orakelstätte. Alte Pilgerzentren sind heute zu Tourismus-Zentren geworden. Die Römer verwirklichten diese Zentralität nicht nur verkehrsstrategisch in ihrem vielbewunderten Straßennetz,95 sondern auch sonst in ihrer zentralistischen Reichsorganisation. Aber es geht nicht nur um Fokussierung, sondern auch um konzentrische Ausweitung. Nach der Zurückdrängung der Gallier im vierten Jahrhundert v. Chr. lässt Livius den Furius Camillus sagen, dass Rom die Mitte Italiens einnehme und dass diese Mitte auf Expansion angelegt sei:96 regionum Italiae medium, ad incrementum urbis natum unice locum („die Mitte der Gebiete Italiens, einen Ort, 91

Hierzu Hübner 1983/1986, 7–8. Vgl. Brodersen 2003, 49–53. 93 Selbst in dem streng wissenschaftlichen geographischen Koordinatensystem des Eratosthenes heißt der „Ursprung“ weiter ὀμφαλός („Nabel“), dieser befand sich auf der Insel Rhodos mit seinem Sonnenheiligtum, vgl. Geus 2002, 274–275, und noch die römischen Feldmesser bezeichneten den Kreuzungspunkt von cardo („Drehpunkt, vertikale Linie“) und decumanus („Querlinie“) als umbilicus („Nabel“). 94 Foucault 1966, 38: „L’espace des analogies est au fond un espace de rayonnement. De toutes parts, l’homme est concerné par lui; mais ce même homme, inversement, transmet les ressemblances qu’il reçoit du monde. Il est le grand foyer des proportions, – le centre ou les rapports viennent s’appuyer et d’où ils sont réfléchis à nouveau.“ Deutsche Übersetzung Foucault 1971, 53. 95 Das geflügelte Wort „alle Wege führen nach Rom“ ist in der Antike allerdings nicht belegt. Die romfeindlichen Juden verglichen Rom mit einer Spinne im Netz (Cancik 2006, 9), der französische Schriftsteller Michel Butor mit dem strahlenförmig von Paris ausgehenden Eisenbahnnetz in Frankreich, das Paris auf dem Streckenplan zu einem „schwarzen Stern“ macht („La Modification“, 1957, S. 231): „L’étoile noire“ – dazu genauer Hübner 2013, 39–40. 96 Liv. 5,54,4. Zum römischen Machtstreben Heinze 1921, 15. 92

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auf einzigartige Weise auf Wachstum angelegt.“). Im Zuge der Akkumulierung von Sakralität wurden mehrere Kulte und Kultgegenstände nach Rom deportiert wie zum Beispiel etliche Obelisken aus Ägypten. Wenigstens drei Exemplare dieses „Obeliskenwaldes“ standen auf der Mittelmauer (spina) inmitten eines Zirkus (und einer dann auch im Hippodrom von Konstantinopel). Derjenige im Circus maximus (der jetzt auf der Piazza del Popolo steht) war, wie die Hieroglyphen zeigen, ursprünglich dem Sonnengott geweiht. Ihn hatte Augustus aus Heliopolis nach Rom schaffen lassen und dem römischen Gott Sol geweiht. Er hat damit den ägyptischen Herrschaftsanspruch über das gesamte Gebiet, das vom Sonnenauge erfasst wird, auf das römische Reich übertragen97 und bekräftigt damit das, worum Horaz noch fromm gebetet hatte: possis nihil urbe Roma visere maius („Du kannst nichts Größeres / als die Weltstadt Rom betrachten.“).98 Und als Constantius II. nach dem Vorbild des Augustus einen weiteren aus Ägypten herbeigeschafften und ebenfalls dem Sonnengott geweihten Obelisken im Zirkus aufstellen wollte, rechtfertigte er die sakrale Umwidmung damit, dass das Monument nunmehr der Roma, nach seinen Worten „dem Tempel der ganzen Welt“, geweiht werde, was der Historiker Ammian ausdrücklich billigt: „indem er zu Recht glaubte, nichts gegen die religiöse Weihe zu unternehmen, wenn er das von ‚einem einzelnen Tempel‘ (uno templo) entfernte Wunder nun der Roma weihte, das heißt ‚im Tempel der ganzen Welt‘ (in templo mundi totius)“ 99. Hier treffen sich Sakrileg und ubiquitäre All-Heiligkeit. Von der Stadt Rom und dem Volk der Römer wurde der Name Roma später tatsächlich immer weiter ausgedehnt, bis hin einerseits zum „heiligen römischen Reich deutscher Nation“ mit seiner „romanischen“ Epoche samt dem „romanischen“ Baustil und andererseits auf die gesamte Sprachfamilie der Romania einschließlich des Staates gleichen Namens. 97

CIL VI 702 Soli donum dedit („Er gab [es] dem Sonnengott zum Geschenk.“), vgl. Plin. nat. 36,64 obeliscos ... Solis numini sacratos („Obelisken ... der göttlichen Macht der Sonne geweiht.“); Tert. spect. 8 circus Soli principaliter consecratur („Der Zirkus ist vor allem dem Sonnengott geweiht“), dazu Cancik/Cancik-Lindemaier 2003, 45–49, ferner Amm. 17,4,12 Deo Soli speciali munere dedicatus („dem Sonnengott in einem besonderen Akt gewidmet“). 98 Wenig bekannt ist die kosmische Ausdeutung der Zirkus-Rennbahn: Die Wagengespanne mit ihren verschiedenen Farben (besonders den Blauen und Grünen) wurden als Abbild der Planetenbewegungen durch den Tierkreis angesehen. Anth. 197 Riese, vgl. Wuilleumier 1927, 191–194; Buchner 1982, 7–19. So imitiert noch heute die elliptische Form des Petersplatzes mit seinem Obelisken in der Nähe des einstigen neronischen Zirkus die inzwischen erkannte keplersche Ellipse. 99 Amm. 17,4,13: nihilque committere in religionem recte existimans, si ablatum uno templo miraculum Romae sacraret, id est in templo mundi totius („und in dem richtigen Glauben, nichts gegen die göttliche Bindung zu begehen, wenn er das von einem Tempel entfernte Wunder der Roma weihte, das heißt im Tempel der gesamten Welt.“).

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4. Maß und Gerechtigkeit Und doch sind der Ausdehnung Grenzen gesetzt. Auch hier kommt die Mahnung wieder aus dem Osten. Die „Mitte“ ist ja auch ein Terminus der aristotelischen kasuistischen Ethik: Die μεσότης liegt zwischen „Übermaß“ (ὑπερβολή) und „Defizienz“ (ἔλλειψις). Und noch einmal lohnt sich ein Blick auf Delphi, denn als Vorläufer dieser Lehre kann die „delphische Maßethik“ gelten, die betont: „Das Schönste ist das Maß“ (ἄριστον τὸ μέτρον) oder „Nichts im Übermaß“ (μηδὲν ἄγαν).100 Der Historiker Herodot101 lokalisiert seine Heimat Ionien in der gemäßigten Region zwischen den Äthiopiern im Süden und den Skythen im Norden, Platon und Aristoteles dann ihrerseits Griechenland zwischen Norden und Süden bzw. zwischen Winter und Sommer,102 und in augusteischer Zeit nennt Dionys von Halikarnass103 Italien ein wohltemperiertes Land, mit einer „Luft, die in den Jahreszeiten ausgewogen gemischt ist“ – ἀέρα κεκραμένον ταῖς ὥραις συμμέτρως, entsprechend rekurriert sein Zeitgenosse Vergil104 auf die εὐκρασία („gute Mischung“) der gemäßigten Jahreszeit: hic ver assiduum („Hier herrscht beständiger Frühling.“), und er kontrastiert seine Heimat mit der Maßlosigkeit des Morgenlandes einerseits und der Winterstrenge der Hyperboreer andererseits.105

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Vgl. hierzu Schadewaldt 1965. Her. 1,142; Aethiopien 2,22, Skythien 4,28–31. Vgl. auch Ps. Hippokr. Περὶ ἀέρων ὑδάτων τόπων 12 sowie Berger 1903, 4. 102 Plat. Tim. 24C und Epin. 987D, Aristot. pol. 7,6 p. 1327b20. Ägypten: Diod. 1,10,1 διά τε τὴν εὐκρσίαν τῆς χώρας („durch die ausgeglichene Mischung des Landes“) und Iustin. 2,1,7 (Gegensatz zu Skythien) Aegyptum ita temperatam semper fuisse, ut neque hiberna frigora nec aestivi solis ardores incolas eius premerent („Ägypten sei stets so [klimatisch] ausgeglichen gewesen, dass weder die winterlichen Kältetage noch die Hitzeperioden der sommerlichen Sonne deren Einwohner zu schaffen gemacht hätten.“). Vgl. Hübner 1995, 229 mit Anm. 299; über die Zonenlehre Id. 2001, 17. Auf die Rhetorik übertragen von Quint. inst. 12,10,18: Die Rhetorenschule von Rhodos vermittelt zwischen Asianismus und Attizismus. 103 Dionys. Hal. ant. rom. 1,37,5 (Abschluss des Kapitels über die Beschaffenheit Italiens): ἀέρα κεκραμένον ταῖς ὥραις συμμέτρως, ὡς ἥκιστα πημαίνειν κρυμῶν ὑπερβολαῖς ἢ θάλπεσιν ἐξαισίοις καρπῶν τε γένεσιν καὶ ζῴων φύσιν („die Luft in den Jahreszeiten nach Maß gemischt, dass sie das Wachstum der Pflanzen und die Geburt von Tieren in geringstem Maße durch übermäßige Perioden von Kälte oder exuberante Wärmeperioden schädigte.“). 104 Verg. georg. 2,136–176, insbesondere 2,149, später ausgeweitet von Rut. Nam. 1,113 vere tuo numquam mulceri desinit annus („In deinem Frühling hört das Jahr nie auf besänftigt zu werden“); vgl. Gernentz 1918. 105 Verg. georg. 2,136–154; 3,339–383, dazu Burck 1929, 309–310 „gesegnetes Land der Mitte“; Klepl 1940, 83: Land der Mitte und des Frühlings; Klingner 1927, 76–77. Vgl. auch Varro rust. 1,2,4: der Norden ist die interior pars („der innere Teil“) der Welt, dagegen Italien 101

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Weiter ausgreifend überträgt dann der Lehrdichter Manilius, dessen Gedicht unter Augustus und Tiberius entstanden ist, die Lehre von der aurea mediocritas („die goldene Mittlerschaft“) auf die drei damals bekannten Kontinente des orbis tripartitus („des dreigeteilten Erdkreises“): 106 Afrika zeichnet sich aus durch seine wilde und monströse Fauna, Asien durch die Abundanz seiner Flora und Bodenschätze, in Europa gibt es hingegen – so sagt er – statt materieller Reichtümer hochgebildete Menschen sowie geistige und technische Kunstfertigkeiten.107 An erster Stelle steht jedoch auch bei dem Römer die Stadt Athen wegen der berühmten Redner:108 maxima terra viris et fecundissima doctis urbibus: in regnum florentes oris Athenae. „ein Land, höchst bedeutend an Männern und höchst fruchtbar an gelehrten Großstädten: Athen blühend in Richtung auf das Vorherrschen der Redekunst.“ Manil. 4,686–687

Beginnt der Europa-Abschnitt mit Athen, so endet er mit Italien und Rom, sodass die beiden Eigennamen Italia und Roma den Vers rahmen und die beiden Städtenamen Athenae und Roma wieder einmal in hymnischer Tradition am Versende stehen. Hyperbolisch heißt es:109 Italia in summa, quam rerum maxima Roma imposuit terris caeloque adiungitur ipso. „Italien an höchster Stelle, das das höchst bedeutende Rom auf die Lande gesetzt hat und dem Himmel selbst wird es beigeordnet.“ Manil. 4,694–695

Europa gilt als ein Kontinent der Hochkultur und die Stadt Rom als Zentrum einer gerechten Herrschaft und deren Organisation durch Gesetze, des technischen Fortschritts und der Zivilisation. So erfasst denn die ausgewogene Mitte selbst den politischen Bereich. Auch im Umgang mit gegnerischen Völkern gilt das rechte Maß zwischen übermütiger temperatior („gemäßigter“) sowie die Camillusrede bei Liv. 5,54,4 nach der Zurückdrängung der Gallier: regionum Italiae medium ... locum („den mittleren Ort der Gebiete Italiens“). 106 Manil. 4,658–695, dazu Hübner 1984, 230–240. 107 Vgl. Abry 1998. 108 Vers 687 urbibus GL wird gehalten von van Wageningen, Shackleton Bailey (der aber für doctis konjiziert: Achaeis) und Flores (über Housman „inutilit[er]“), vgl. 5,475 doctior urbe sua („gelehrter als seine eigene Stadt“); dagegen orbibus M („mit den Kreisen“), artibus („mit den Künsten“) [Housman, Goold, Fels und Liuzzi 1994]. – Das Wort maxima („die höchst bedeutende“) dürfte eine Enallage sein und sich inhaltlich auf viris („durch die Männer“) beziehen. 109 In dem Adjektiv summa spiegelt sich die alte Rivalität zwischen der wohltemperierten Mitte einerseits und dem Gipfel als höchster Machtentfaltung andererseits.

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superbia („Hochmut“) und weichherziger misericordia („Bejammerung“) (die bei den Römern eine Untugend war). 110 Hier greift die berühmte Mahnung des vergilischen Anchises an Aeneas:111 parcere subiectis et debellare superbos. „die Unterworfenen schonen und die Übermütigen bezwingen.“ Verg. Aen. 6,853

Das Bild des austarierten Gleichgewichts begegnet dann sogar im Panegyrikos des Aelius Aristides: 112 „eines Geschlechts, das zu allen übrigen ein Gegengewicht bildet.“ Auch Cicero legitimiert den römischen Staat im Somnium Scipionis am Ende von De re publica letztlich durch die ausgewogene Harmonie des Planetensystems.113 Zur Kosmologie gehört in jener Zeit auch die Astrologie. Der Dichter Manilius begründet die wohltemperierte Körpergestalt der Römer sowohl planetar als auch zodiakal. In seiner Ethnographie heißt es: Venus (die Stammmutter der Aeneaden) und der kriegerische Mars (der Vater des Romulus)114 prägten das Aussehen der Römer, und beide Götter werden planetar gedeutet:115 Martia Romanis urbis pater induit ora Gradivumque Venus miscens bene temperat artus. „Der Vater der Weltstadt hat die Römer mit martialischen Gesichtern bekleidet Und Venus mäßigt die Glieder des Gradivus116, sie in rechter Weise mischend.“ Manil. 4,718–719

110

Das zeigt Senecas Dialog De clementia (Sen. clem. 2,4,1): Falsch gesteigerte severitas („Strenge“) ist crudelitas („Grausamkeit“), falsch gesteigerte clementia („Milde“) ein Zeichen von misericordia („Weichherzigkeit“). 111 Hierzu Augustin bei Hagendahl 1966, 514. 112 Aristid. Εἰς Ῥώμην 63 γένους ἀντιρρόπου πᾶσι τοῖς λοιποῖς, wiederholt 79 im Hinblick auf die maßvollen Stadtmauern: zwischen Sparta (die Mauern sind einzig die Verteidiger) und Babylon (die übermäßigen Mauern der Semiramis), 90 im Hinblick auf die Mischverfassung: οἱονεὶ κρᾶσις ἁπασῶν τῶν πολιτειῶν („gleichsam wie eine Mischung aller [möglichen] Staatsformen“). 113 Vgl. Topitsch 1972, 44–47 zum politisierten Kosmos. – Verfehlt Koch 1952/1960, 136: „Die Roma aeterna-Idee der Augusteer ist in einem eminenten Sinn unkosmisch, assoziiert allein die Begriffe Staat, Stadtgründer, Gründungsaugurium, Jupiterprophetie, Weg durch die Zeit in aeternum.“ Vgl. oben über die Gleichung Vesta = Erde. 114 So jedenfalls eine Legendenversion: Strasburger 1968, 24. 115 Zur Symmetrie des chaldaeischen Planetensystems Hübner 1983/1986, 7–8. Zur temperatio der Sonne vgl. Christ 1938, 135. Ohne diesen astrologischen Bezug Rut. Nam. 1,57 auctores generis Venerem Martemque fatemur („Wir bekennen, dass Venus und Mars die Begründer [unseres] Geschlechts sind.“). 116 Mit Gradivus ist Mars gemeint.

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Diese beiden Gottheiten standen nicht nur auf dem Giebel des Mars UltorTempels nebeneinander (Abb. 7), sondern auch im Planetensystem der Astrologen. Handelt es sich doch um diejenigen Planeten, die sich beiderseits der Sonne bewegen (in Wirklichkeit umgeben sie die Erde). Noch heute bezeichnen ihre Symbole die beiden Geschlechter. Die von Manilius genannte „Mischung“ (miscens) der beiden Gottheiten hat nach dem berühmten homerischen Mythos zunächst eine erotische Bedeutung: Mars vereinigt sich mit Venus.117 Doch die Fortsetzung temperat bezieht sich eindeutig auf das astrologisch wie politisch relevante Ideal des Kräfteausgleichs.118 Sonst beschäftigt sich Manilius jedoch fast ausnahmslos mit den Tierkreiszeichen. Italien ordnet er in seiner zodiakalen Geographie, d. h. der Verteilung von zwölf Ländern der bekannten Welt auf die zwölf Zeichen des Tierkreises, auf den Erdkreis,119 der Waage zu. Wieder steht der Name Roma hymnisch am Hexameterende:120 Hesperiam sua Libra tenet, qua condita Roma orbis et imperium retinet discrimina rerum lancibus et positas gentes tollitque premitque. „Das Westland hält die ihm verwandte Waage, unter der Rom gegründet wurde, und die Herrschaft über den Erdkreis; sie tariert die Unterschiede der Mächte aus und erhebt die auf den Waagschalen niedergelegten Völker und drückt sie nieder.“ Manil. 4,773–775

Dieselbe Zuteilung wiederholt in neronischer Zeit sein Lehrdichter-Kollege Dorotheos von Sidon auf Griechisch. Italien „dreht sich“ unter den Waagschalen:121 Ἰταλίη χώρη τε πέλει πλαστίγγας ὑπ’ αὐτάς. „Und das Land Italien bewegt sich unter den Waagschalen selbst.“ Dor. apud. Heph. 1,1,121

117

Hom. Od. 8,266–343. Burkert 1960 hat gezeigt, dass Ares und Aphrodite auch kultisch zusammen verehrt wurden. Vgl. auch Pötscher 2001, 20–21: Ares und Aphrodite sind in Theben verheiratet, ihre Kinder heißen Phobos, Deimos und Harmonia, ferner Julian, Caesares 36 p. 335D: Caesar wünscht sich als Schutzgottheit Mars und Venus. 118 Hierüber Hübner 1984, 225–231 u. ö. 119 Hierzu Hübner 1995, 245–247; de Callataÿ 2001, 52–54 mit weiterer Literatur. 120 Manil. 4,773–775, im Sinne der von Housman erklärten Konstruktion. Zu dieser Stelle Abry 2000, 103–105; Hübner 2011a, 42–43. Im Übrigen soll bei der Gründung Roms der Mond in der Waage gestanden haben: Tarutius Firmanus bei Cic. div. 2,98, vgl. dazu den Kommentar von A.S. Pease. Andere Quellen berücksichtigen alle sieben Planeten: Solin. 1,18 und Lyd. mens. 1,14, dazu Grafton/Swerdlow 1986; Abry 1996, 131–132; Heilen 2007. 121 Dorotheos von Sidon Appendix II p. 428 [Pingree 1976], überliefert bei Heph. 1,1,121.

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Eine Waage gab es als Sternbild zwar schon bei den Babyloniern, in den „Tierkreis“ (ζῳδιακός) wurde sie allerdings erst als letztes Zeichen eingefügt,122 und zwar als Zeichen des Herbstäquinoktiums, wie Varro sagt123: Libra aequinoctium (sc. significat) („Die Waage bedeutet die Tagundnachtgleiche“). In diesem Sinne hat Vergil dem Augustus die Waage als Sternbild seiner Wahl empfohlen,124 was der Erklärer Servius auf die Gerechtigkeit bezieht.125 Manilius entspricht diesem Gedanken mit dem wägenden Auf und Ab der Völker am Hexameterschluss nach einem traditionellen Schema: tollitque premitque („sie erhebt und drückt nieder“). Zu der Metapher „die Waage hält das zugehörige Italien“ (Italiam sua Libra tenet) muss man wissen, dass die Antike die Waage des Tierkreises oft mit einer menschlichen Trägerfigur darstellt. Aus den vielen Beispielen sei ein Detail eines Reliefs aus Modena aus dem zweiten Jahrhundert gezeigt (Abb. 8). 126 Dieser Ikonographie folgt die Metapher Hesperiam sua Libra tenet („Das Westland hält die ihm verwandte Waage.“). Auf diese Weise wird der Waagehalter, die wägende Person, zu einem Sternbild, das Italien gleichsam in der Hand hält wie seine Waage, so wie das Land seinerseits die verschiedenen Völker auf die Waagschalen legt. Man machte das seelenlose Gerät der Waage vor allem deswegen zu einem menschengestaltigen Zeichen,127 damit der ζῳδιακός weiter ein „Kreis von Lebewesen“ bleiben und zudem die Waage zusammen mit Zwillingen und Wassermann ein regelmäßiges Dreieck bilden konnte, das der Luft zugeordnet wurde, 128 d. h. dem idealen Element, das wiederum vermittelt zwischen dem 122

Hierzu Hübner 1977, 50–56 mit ähnlichen Versen, die den Gleichgewichtszustand ausdrücken. Hierher gehört allerdings nicht Ps. Cypr. (Novatian.) spect. 9,2 terrae molem libratam cum montibus („die mit den Bergen ausgegelichene Masse der Erde“), was Freund 2000, 202–203 nach Verg. georg. 1,208–209 erklärt, dagegen richtig Henke 2001, 209. Es handelt sich nicht um ein „Faktum der natürlichen Zeiteinteilung“, sondern um das schwebende Gleichgewicht der Erde inmitten des Kosmos, vgl. etwa Hübner 1984, 158 zu Plin. nat. 2,10 librari medio spatio tellurem („dass die Erde in der Mitte des Raumes im Gleichgewicht schwebt.“); Firm. Mat. 1 praef. 5 quae ratio terram ipsam in media parte positam librata aequabilitatis moderatione suspendat („welches Maß die Erde selbst, die in der Mitte niedergelegt ist, in einem ausgewogenen Verhältnis des Gleichgewichts aufhängt.“). Freund hat seinen Fehler der zweiten, „korrigierten“ Auflage 2003, 204–205 nicht zurückgenommen – wofür schreibt man Rezensionen? 123 Varro Ling. 7,14. 124 In einer poetisch äußerst raffinierten Periphrase: Verg. georg. 1,32–35, dazu Hübner 1977. 125 Serv. georg. 1,33 p. 140,25 Augustum … iustum propter Libram … fore significat („Er deutet an, dass Augustus wegen der Waage gerecht sein werde.“). 126 Vgl. Hübner 1977, 50–56 und das Repertorium von Gundel 1992. Beispiele aus der Neuzeit bei Hübner 2013, 256 mit Abb. 205. 127 Hübner 1982, 130–135 unter Nr. 3.12 und S. 483–487. 128 Hübner 1982, 238–245 unter Nr. 7.1; Id. 1984, 150–174 zu Manil. 2,244–255.

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Energieüberschuss des Feuers oben am Himmel einerseits und den beiden passiven Elementen, Erde und Wasser, ganz unten andererseits, die promiscue das „feminine“ Sechseck ausmachen (Abb. 9). In der Verteilung der zwölf Tierkreiszeichen auf den menschlichen Körper erhält die Waage den Schwerpunkt, das Gesäß, und zwar mit der Metapher des „Regierens“,129 und dieser aufrechte Körper befindet sich in einem höchst fragilen Gleichgewicht.130 Manilius benutzt für die stehenden Zeichen das von libra abgeleitete Verbum librare („austarieren“):131 aut quae recta suis librantur stantia membris. „oder die (Zeichen), die aufrecht stehend mit ihren Gliedern ausbalanciert sind.“ Manil. 2,247

So wie Vergil in den Georgica die Waage dem Augustus als Zeichen anempfohlen hat, bezieht sie auch Manilius auf seinen Herrscher:132 qua genitus Caesarque meus melius nunc condidit urbem et propriis frenat pendentem nutibus orbem. „unter der mein Kaiser geboren wurde und jetzt auf bessere Weise die Weltstadt gegründet hat, und mit seinen eigenen Befehlen den schwebenden Weltkreis zügelt.“ Manil. 4,776–777

In dem textlich schwierigen ersten Vers wird nicht ganz klar, welcher Kaiser gemeint ist. Sei es nun weiter Kaiser Augustus133 oder der Thronfolger Tiberius,134 wichtig bleibt die Metapher frenat („er zügelt“), die den Hexameterschluss tollitque premitque („er erhebt und drückt nieder“) inhaltlich wieder aufgreift, sowie das Partizip pendentem („den schwebenden“), mit dessen Verbalstamm auch das Kompositum libripens („Waagehalter“) gebildet ist. Das Verbum

129

Manil. 2,462 Libra regit clunes („Die Waage regiert [regelt] die Hinterbacken.“) und 4,707 Libra colit clunes („Die Waage pflegt die Hinterbacken.“), dazu Bouché-Leclercq 1899, 319: „les fesses, qui tiennent le corps en équilibre dans la station droite“, ferner Hübner 2013, 20; 196–197. 130 Zur Geschichte der prekären aufrechten Stellung des Menschen jetzt Bayertz 2012. 131 Manil. 2,247. Die Waage gehört allerdings gegen das trigonale System zu den sitzenden Zeichen, sie hat ihre Position mit der Jungfrau vertauscht: Hübner 1984, 160. 132 Caesarque meus („und mein Kaiser“) mit der Überlieferung und Enrico Flores gegen Arthur E. Housman, ebenso urbem (orbem val. l.) mit Christ 1938, 82; Brind’Amour 1983, 65–68. 133 So de Callataÿ 2001, 58–59, danach Volk 2009, 156–159. 134 Housman schon im Anhang zur Edition des ersten Buches 1903, 98, sodann 1913 und in der Edition von Buch 4 1920 bzw. 1932 ad l. mit der Konjektur Caesar melius („der Kaiser auf bessere Weise“).

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pendēre „schweben“, ein Lieblingswort des Dichters,135 bezeichnet ein delikates Gleichgewicht, das sowohl den Mikrokosmos wie den Makrokosmos bestimmt: Der menschliche Körper, das wohlregierte römische Weltreich, die Skala der vier Elemente und schließlich der gesamte Kosmos mit der zentralen Erde schweben in einem labilen Gleichgewicht. Die Analogie zu der zentralen Luft, zu der die zodiakale Waage ja gehört, stellt der Dichter selbst her:136 terra quoque aerias leges imitata pependit. „Auch die Erde wiederholt das Gesetz der Lüfte und hat einen schwebenden Zustand angenommen.“ Manil. 1,201

Erst in jüngster Zeit haben wir wieder ein Gefühl für das fragile Gleichgewicht der natürlichen Kräfte bekommen, und in diesem Gleichgewicht empfanden die Römer etwas von Unantastbarkeit, von Heiligkeit – so wie das Adjektiv „heilig“ wahrscheinlich von „heil“ im Sinne von „unversehrt“, „gesund“ abzuleiten ist. Doch zurück zur zodiakalen Geographie. Auf das Zeichen der Waage folgt im Tierkreis der Skorpion. Denkt man an den Vortrag über die Seemacht der Phönizier,137 dann könnte man daran erinnern, dass der Skorpion nach der damaligen Lehre zum Dreieck der wasserverbundenen138 Zeichen gehört. Sogar das ideologische Vorurteil des handelsschlauen Volkes könnte mit diesem Zeichen begründet werden. 139 Doch Manilius bleibt hier den astrothetischen Gegebenheiten näher: inferius victae sidus Carthaginis arces ... (sc. eligit). „Das unterhalb gelegene Gestirn (wählt) die Burg des besiegten Karthago.“ Manil. 4,778

Wichtig ist hier die Umschreibung des Zeichens als inferius ... sidus („das Gestirn unterhalb“): Der Skorpion ist nicht nur das erste Zeichen, das nach der äquatorialen Waage ganz auf der südlichen Hemisphäre liegt, sondern seine Sterne, besonders der „marsgleiche“ (weil rötliche) Antares, befinden sich noch weiter südlich 135

Hübner 1984, 225–227 u. ö., siehe den Index 315; Id. 2010, Index 266 über Buch 5. Vgl. das Wortspiel Manil. 1,173 quod nisi librato penderet pondere tellus, […] („Wenn aber die Erde nicht im austarierten Gleichgewicht schwebte, […]“) sowie 1,180 medio suspensa manet („In der Mitte verharrt sie aufgehängt.“) u. ö. Über das Weiterwirken im Mittelalter Finckh 1999, 13 und 214. 137 Der verschriftlichte Beitrag findet sich ebenfalls in diesem Band: Klaus Zimmermann, Zwischen Tyros und Tanger – eine Religion der Seefahrer? 138 Hübner 1982, 238–241 unter Nr. 7.111; Hübner 1984, 150–158. 139 Manil. 2,635 saepe est et subdolus actus („Oft ist auch die Handlung hinterlistig.“); Heph. 3,16,5 δολερόν („hinterhältig“), vgl. Hübner 1982, 220–221 unter Nr. 4.51; Abry 2000, 103. 136

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der Ekliptik, was auch sonst astrologisch ausgedeutet wird.140 Der Gedanke der Inferiorität verrät wieder das römische Konkurrenzdenken. Im späten vierten Jahrhundert unterstellt der Astrologe Paulus Alexandrinus – eben in Alexandrien – aus feindlicher Perspektive dem Skorpion nicht etwa (wie Manilius) Karthago, sondern eben seine Bezwingerin Italien.141 Es ist erwiesen, dass er aus derselben früheren Quelle geschöpft hat, die auch dem Manilius vorlag.142 Aus dieser Verschiebung von der Waage zum Skorpion erhellt eine Rivalität um den idealen Platz unter der Waage. Obwohl der Skorpion ursprünglich einmal mit der Waage ein einziges Zeichen bildete, steht er nun in einem scharfen Wertkontrast. Erneut zeigt sich, wie sehr die ideologische Interpretation des Sternhimmels vom jeweiligen politischen und geographischen Standpunkt abhängt. Zusammenfassung Insgesamt finden wir also in der Republik und der frühen Kaiserzeit nur wenig im strengen Sinne Heiliges. Weder die griechische Junktur ἱερὰ Ῥώμη noch die lateinische Entsprechung sacra oder sancta Roma ist in dieser Zeit belegt. Rom ist kein geologisch inspirierender Ort, seine sieben Hügel weisen vielmehr auf Diversität. Rom ist ursprünglich weder eine Orakel- noch eine Pilgerstätte. Der Kult einer Göttin Roma drang erst spät vom Osten in Italien und in die Hauptstadt ein. Nach orientalischem Muster verband er sich mit dem Kaiserkult. Macht und Expansion stehen im Vordergrund. Der Begriff der aeternitas ist unphilosophisch emotional und aus politischem Machtstreben oder Wunschdenken erwachsen. Er manifestiert sich allenfalls in dem unauslöschlichen heiligen Feuer des VestaTempels, in der alten Vorstellung von einem zentralen focus („Herd“), einem Brennpunkt, in dem sich in Analogie zum Haus wie zum Universum zentripetal die zentrifugalen Kräfte von Familie, Staat und Kosmos bündeln. Die räumliche Zentralität und der organisatorische, politisch-militärische Zentralismus und das darin begründete Machtreben werden gebändigt durch den moralischen Gedanken der Ausgewogenheit, in der die Extreme nach delphisch-aristotelischer Maßethik auf gerechte Weise ausgeglichen werden, und dieses ideelle Gleichgewicht wird kosmisch legitimiert.

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Dorotheos-Fragment, ed. Hübner 1982, 342, 22 ἔξω τοῦ ζῳδιακοῦ ἔρριπται („Er ist aus dem Tierkreis ausgestoßen.“), dazu ibid. 99–101 unter Nr. 2.12. Diesen Text hat David Pingree in seiner Ausgabe von 1976 nicht berücksichtigt, vgl. Hübner 2011b, 118–122. 141 Paul. Alex. 2 p. 6,13; 10,5. 142 Es handelt sich vermutlich um die „Astrologenbibel“ von Nechepso-Petosiris, vgl. Boll 1903, 297, die älteste Form der astrologischen Geographie; de Callataÿ 2001, 35: Die Liste war schon dem Teukros von Babylon (spätestens erstes Jahrhundert v. Chr.) bekannt; de Callataÿ 2002, 88–93.

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Abb. 1: Dea Roma auf der Ara Pacis. (Mlasowsky 2010, 60).

Abb. 2: Römische Münze, 82 v.Chr. (Hommel 1976, 331).

Abb. 3: Römische Münzen mit der dea Roma. (Hommel 1971, 341).

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Abb. 4: Münzen mit der Göttin Aeternitas. (Alfödi 1979, Taf. 12).

Abb. 5: Miliarium Aureum auf dem Forum. (Zanker 1972, Abb. 41).

Abb. 6: Umbilicus Romae. (Rombach 1984, 49).

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Abb. 7: Giebel des Mars Ultor-Tempels auf einem claudischen Altar. (Zanker 1990, 199 Abb. 150).

Abb. 8: Relief von Modena, 2. Jh. n. Chr., Ausschnitt: Libra mit libripens (Hübner 2013, 79 Abb. 51 – Detail).

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Δ1 Feuer currentia ἡγεμονικά Δ3 Luft recta … stantia παρηγεμονικά Δ4 Wasser iacentia

Δ2 Erde sedentia

Δ4 Wasser iacentia

ὑποτακτικά = θηλυκά (zweites Sechseck)

Abb. 9: Die Hierarchie der Dreiecke der vier Elemente im Tierkreis. (nach Hübner 2011c, 401 Abb. 14).

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Wolfgang Hübner

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Wolfgang Hübner

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Wolfgang Hübner

Hübner 2001 Hübner, Wolfgang, Geographischer und astrologischer Zonenbegriff in der Antike, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 24 (2001), 13–28. Hübner 2011a Hübner, Wolfgang, Cum fera ductorem rapuit Germania Varum. De clade Variana et victoria Actiaca apud Manilium poetam, in: Ad fines imperii Romani Anno bismillesimo cladis Varianae. Acta Conventus Academiae Latinitatis fovendae XII Ratisbonensis 15.–19. Sept. 2009, ed. Jan-Wilhelm Beck (Supplementa Humanistica Lovaniensia 28), Leuven 2011, 61–74. Hübner 2011b Hübner, Wolfgang, Dorothée de Sidon: l’édition de David Pingree, in: La poésie astrologique dans l’Antiquité. Textes réunis par Isabelle Boehm et Wolfgang Hübner. Actes du colloque organisé les 7 et 8 décembre 2007 par J.-H. Abry (Université Lyon 3) avec la collaboration de I. Boehm (Université Lyon 2), Paris 2011 (Collection Centre d’Études de Recherches sur l’Occident Romain 38), 115–133. Hübner 2011c Hübner,Wolfgang, L’anthropologie des astrologues, in: Jouanna, Jacques / Fartzoff, Michel / Bakhouche, Béatrice (Hgg.), L’Homme et la Science, Actes du XVIe congrès international de l’Association Guillaume Budé, Université Paul-Valéry Montpellier III, 1er–4 septembre 2008, Paris 2011, 389–413. Hübner 2013 Hübner, Wolfgang, Körper und Kosmos. Zur Ikonographie der zodiakalen Melothesie (Gratia. Tübinger Schriften zur Renaissanceforschung und Kulturwissenschaft 49), Wiesbaden 2013. Jens 1959 Jens, Walter, Die Götter sind sterblich, Pfullingen 1959. Klein 1981 Klein, Richard, Die Romrede des Aelius Aristides. Einführung, Darmstadt 1981. Klein 1983 Klein, Richard (Hg.), Die Romrede des Aelius Aristides, herausgegeben, übersetzt und mit Erläuterungen versehen, Darmstadt 1983. Klepl 1940 Klepl, Herta, Lukrez und Virgil in ihren Lehrgedichten. Vergleichende Interpretationen, Diss. Leipzig, Dresden 1940 (Ndr. Darmstadt 1967). Klingner 1927 Klingner, Friedrich, Rom als Idee, Die Antike 3 (1927), 17–34, abgedruckt in: Römische Geisteswelt, München 51965, 645–666. Knoche 1952 Knoche, Ulrich, Die augusteische Ausprägung der dea Roma, Gymnasium 59 (1952), 324– 349. Koch 1952/1960 Koch, Carl, Roma aeterna, Paideuma. Mitteilungen zur Kulturkunde 1949, 219–240, er-

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Wie können Orte Christen heilig sein? Konstantins Kirchenbau, die „Entdeckung“ des Heiligen Landes und die Anfänge einer christlichen Sakraltopographie in der Spätantike

Johannes Hahn (Münster)

I. Die Nachricht vom Tode Kaiser Konstantins am 22. Mai 337 verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der römischen Mittelmeerwelt, vom Schwarzen Meer bis nach Britannien und Spanien, nach Afrika, Ägypten und Palästina. Der Herrscher, der das immer noch gewaltige Imperium Romanum in blutigen Bürgerkriegen erobert und so nach Jahrzehnten der Samtherrschaft mehrerer Kaiser – der von Diokletian begründeten Tetrarchie – sich zum Monarchen erhoben und eine neue Dynastie begründet hatte, war nach über 30 Jahren Herrschaft verstorben.1 Allein der Begründer des römischen Kaisertums mehr als drei Jahrhunderte zuvor, Augustus, hatte länger regiert, nämlich 44 Jahre. Was hatte dieser Kaiser, Konstantin, der bereits in seiner Zeit „der Große“ genannt wurde und den nicht erst wir heute als Persönlichkeit von eminent geschichtsmächtiger, von epochaler Bedeutung betrachten, in jenen gut drei Jahrzehnten geleistet? Die allermeisten Zeitgenossen hätten auf die Frage nach der eigentlichen Lebensleistung Konstantins zweifellos ohne zu Zögern geantwortet: Er hat das Reich stabilisiert, ihm statt des prekären Herrschaftssystems der diokletianischen Tetrarchie neuerlich eine kraftvolle Monarchie gegeben, vor allem aber: Er hat dem Reich wieder äußere Sicherheit verschafft, seine mächtigen Feinde besiegt, zudem unter gewaltigen finanziellen Anstrengungen die Außengrenzen mit kaum zu überwindenden Grenzanlagen gesichert.2 1

Eine Auswahl guter, als Einstieg geeigneter jüngerer Monographien und Sammelwerke zu Konstantin: Wallraff 2013; Rosen 2013; Ehling/Weber 2011; Herrmann-Otto 2009; Demandt/Engemann 2006; Lenski 2006; Bleckmann 2003. 2 Die zeitgenössische pagane Historiographie ist für uns verloren. Der zu einem nicht näher zu bestimmenden Zeitpunkt zwischen 337 und 414 schreibende nicht-christliche anonyme Verfasser der Origo Constantini Imperatoris bietet einen ideologisch völlig neutralen, nüchternen Bericht der Karriere und Leistungen Konstantins mit bemerkenswerter Betonung von dessen militärischen Leistungen bei der Abwehr nicht-römischer Gegner. Er geht

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Kein Wort hingegen von der Religionspolitik des Kaisers, von der Legalisierung und Ausbreitung des Christentums und dem kometenhaften Aufstieg der Kirche unter dem Schutz und der persönlichen Förderung des Kaisers, keine Rede von einem Christen Konstantin. 3 Und jene überwältigende, nicht-christliche Mehrheit der Untertanen hätte, so muss man bei unvoreingenommener Betrachtung sagen, mit dieser Wahrnehmung wohl recht gehabt, jedenfalls gute Gründe für ihr Urteil anführen können. Denn ungeachtet der unbestrittenen Hinwendung Konstantins zum Christentum, der beispiellosen und wegweisenden Förderung des christlichen Glaubens und der Kirche durch den Herrscher: In der offiziellen Selbstdarstellung, der auf reichsweite Wahrnehmung und Wirkung bei allen Untertanen zielenden Repräsentation des Kaisers Konstantin spielte seine persönliche Hinwendung zum Christentum nahezu keine Rolle – ja, man möchte sogar sagen: ist ein frappierendes faktisches Schweigen konstatierbar. Betrachtet man nämlich die Münzprägung Konstantins und damit das Medium imperialer Repräsentation, das allen Untertanen zugänglich war und das die politischen Schlüsselbotschaften der kaiserlichen Regierung bis in die entlegensten Winkel des Reiches visuell transportierte – im Übrigen ein Medium, dessen sich Konstantin in einer an Augustus erinnernden, in der späteren Kaiserzeit jedenfalls unübertroffenen ikonographischen Vielfalt und Intensität bediente4 –, so finden wir hier in den konstantinischen Massenprägungen vor allem militärische, die kaiserliche Sieghaftigkeit und die Sicherheit des Reiches unterstreichende Bildmotive, hingegen keinerlei christliches Bildprogramm. 5 Das sollte überraschen. Denn römische Kaiser, die massive Religionspropaganda in ihrer Münzprägung betrieben, ihre persönliche Schutzgottheit oder deren Kult wieder und wieder auf hingegen an keiner Stelle auf die religiöse Haltung Konstantins oder seine Religionspolitik ein; siehe König 1987, besonders 14–20. 3 Die aus Sicht nicht-christlicher Zeitgenossen geringe Sichtbarkeit und Relevanz der religionspolitischen Wende Konstantins spiegelt auch die jüdische Überlieferung. In der rabbinischen Literatur findet der Kaiser nur ein einziges Mal Erwähnung: für seine Gründung Konstantinopels als Rivalin des zerstörten Jerusalems – nicht aber als Initiator einer religionspolitischen Wende, machtvoller Förderer der christlichen Kirche oder entscheidender Impulsgeber für die Entstehung eines christlichen „Heiligen Landes“ in Palästina. Hierzu Irshai 2009b, 391–392. 4 Zur Münzprägung Konstantins siehe R.-Alföldi 1963; Ehling 2012; beachte zuletzt vor allem Wienand 2012, 43–45 und passim. Das Standardwerk zur Münzprägung Konstantins ist Bruun/Sutherland/Carson 1966, mit ausgezeichneter Einleitung in die konstantinische Münzprägung von Patrick Bruun, 1–75. Verschiedene Online-Ressourcen bieten hierzu Aktualisierungen, so Online Coins of the Roman Empire (OCRE). 5 Wienand 2012 umfassend zur Sieghaftigkeit in der konstantinischen Münzprägung und weiteren Medien kaiserlicher Propaganda. Zur Bedeutung der konstantinischen Wehrbauten etc. nun grundlegend Ćurčić 2010. Zur äußerst seltenen christlichen Symbolik auf konstantinischen Münzen Bruun 1962.

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den Rückseiten ihrer Münzen abbilden ließen, waren im 3. Jahrhundert keinesfalls selten: Es sei hier nur an den jungen Elagabal erinnert, der für wenige Jahre, 218 bis 222, in jugendlichem Alter regierte, die römische Bevölkerung mit dem befremdlichen Kult eines Baal aus seiner syrischen Heimat Emesa regelrecht traktierte, massenhaft entsprechende Münzen prägen ließ und schließlich nicht zuletzt seiner unerträglichen Religionspolitik wegen gewaltsam beseitigt wurde.6 Konstantin selbst stellte sich unmittelbar nach Übernahme der Herrschaft – noch innerhalb des tetrarchischen Systems, als selbsternannter Nachfolger seines 305 verstorbenen Vaters Constantius – in dieselbe Tradition, indem er, wie andere Kaiser vor ihm, den Sonnengott zu seiner persönlichen Schutzgottheit erhob, ihn als Sol Invictus der Reichsöffentlichkeit als seinen heilbringenden Schlachtenbegleiter (comes) präsentierte. Tatsächlich dürfte kein Gott von einem römischen Kaiser in mehr Münzemissionenen propagiert worden sein als dieser „unbesiegbare Sol“ vom jungen Konstantin, und dies für nahezu zwei Jahrzehnte.7 Für Konstantin aber gilt: Auch wenn er seit seinem Schlachtensieg über seinen Rivalen Maxentius an der Milvischen Brücke bei Rom am 28. Oktober 312 mit großem persönlichen Einsatz Christentum und Kirche in aller Öffentlichkeit förderte – ein Verhalten, das völlig im Einklang mit römischen Wertvorstellungen stand, ehrte er doch die Gottheit, die nach seinem späteren Bekenntnis ihm seinen Sieg geschenkt hatte und auch künftig Sieghaftigkeit versprach –, so verzichtete er dennoch in den kommenden 25 Jahren darauf, diese „neue“ Religion, die wenige Jahre zuvor noch in den Christenverfolgungen der Tetrarchen kriminalisiert und blutig unterdrückt worden war, als präferierte, gar als Staatsreligion auf seinen Münzen zu propagieren. Sol dominierte zunächst weiter die konstantinische Münzprägungen – und ebenso die Ikonographie des Triumphbogen Konstantins in Rom aus dem Jahr 315 –, trat dann erst langsam in den Hintergrund, um schließlich ganz aus den Münzbildern zu verschwinden.8 Doch anders als zwei disparate Prägungen mit dem Christogramm aus den Jahren 315 bzw. 325/6 suggerieren – es handelt sich um das berühmte Silbermultiplum von Ticinum mit dem (winzigen) Christusmonogramm im Stirnjuwel des Kaiserporträts und eine Bronzemünze um 325 mit demselben Symbol auf der eine Schlange durchbohrenden Kaiserstandarte, beides extrem seltene Emissionen9 –, welche in zahllosen Publikationen immer wieder abgebildet werden und so in der Konstantin-Rezeption 6

Zur Herrschaft und Religionspolitik Elagabals siehe Frey 1989; Arrizabalaga y Prado 2010; Rowan 2012; Icks 2012 (engl.) und 2014 (dt.). 7 Wienand 2013; Bergmann 2006; Löhr 2007. 8 Bruun 1958; R.-Alföldi 1963; R.-Alföldi 1964 [2001]; R.-Alföldi 1999, 172–173; Leeb 1992, 17–26; Wienand 2011; Wienand 2012, 182. 9 Von dem Silbermultiplum, ohnehin eine Sonderprägung zu Geschenkzwecken, sind nur drei Stücke bekannt. Der Bronzefollis (RIC 19) von 325/6 wurde nur in der Münzstätte Konstantinopel geprägt und ist, obwohl sicherlich als Umlaufmünze vorgesehen, heute so

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regelrecht ikonische Bedeutung gewonnen haben, kommt es unter Konstantin zu keiner Ausbildung einer christlichen Münzikonographie, bleibt die neue Religion und ebenso des Kaisers neuer göttlicher comes ohne Widerhall auf diesem zentralen Medium kaiserlicher Propaganda, findet im Münzbild keine „Verchristlichung der imperialen Repräsentation unter Konstantin“ (Rudolf Leeb) statt. II. Nun ließe sich fragen: Was haben diese Beobachtungen mit dem Thema zu tun, das doch heilige Räume, heiliges Land, und die Bedeutung Konstantins für deren Entstehung im spätantiken Christentum in den Blick nehmen will? Es ist – wollen wir entscheidende Aspekte, Motive und Entwicklungen bei der Entfaltung und Diskussion dieses Themas überhaupt in den Blick bekommen können – nicht nur hilfreich, sondern zwingend notwendig, zunächst das vertraute, christlich dominierte, nachgerade einseitig fixierte Konstantin-Bild aufzugeben, mithin Konstantin nicht aus der Perspektive der Nachwelt zu betrachten, also als Wegbereiter des christlichen Europa, als ersten christlichen Kaiser.10 Ersteres – Wegbereiter des christlichen Europa – trifft in historischer (Retro-)Perspektive zweifellos zu, aber schon die zweite Aussage – erster christlicher Kaiser – ist hochproblematisch: Selbst wenn wir davon ausgehen, dass Konstantin sich auf dem Totenbett taufen ließ, dass er sich bereits lange zuvor als glühender Verehrer des Christengottes bezeichnet und immer wieder entsprechend agiert hat, so ist die Frage nach der Eigenart dieses seines Christentums, nach der persönlichen Religiosität, gar nach den theologischen Überzeugungen Konstantins keineswegs gelöst.11 Ich werde versuchen zu zeigen, dass grundlegende Initiativen des Kaisers – grundlegend für die weitere Entwicklung der christlichen Kirche und ebenso der christlichen Frömmigkeit –, nämlich sein Kirchenbau und seine „Entdeckung“ des Heiligen Landes, gerade nicht unmittelbar aus dem Kontext des Christentums des frühen 4. Jahrhunderts heraus zu erklären sind, vielmehr wesentlich der persönlichen Vorstellungswelt Konstantins entsprangen, welche hier tiefgreifend von Überzeugungen geprägt war, die wir als traditionell, im Grunde als pagan oder heidnisch bezeichnen müssen. Die Einbeziehung des konstantinischen Kirchenbaus in die folgende Diskussion verdankt sich dabei zwei Gründen: Zum einen steht die Errichtung von selten, dass sich die Vermutung (so Peter Weiß mündlich) vertreten lässt, dass die Emission nur partiell zur Auslieferung kam bzw. zurückgezogen wurde: Das Christusmonogramm mag als unzweideutige kaiserliche propagandistische Aussage als zu problematisch empfunden worden sein. 10 Siehe so etwa, exempli gratia, Brandt 2007. 11 Siehe hier nur die souveräne Darstellung der kontroversen Diskussionen um die Persönlichkeit und Religion Konstantins von Richard Flower (2012) im Kontext seiner Sammelrezension fünf jüngerer Konstantin-Monographien.

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Kirchen durch Konstantin in Palästina – also in Jerusalem (dem Ort der Passion Jesu), in Mamre (wo Gott sich Abraham gezeigt hatte), in Bethlehem (der Geburtsstätte Jesu) – am Anfang der Entwicklung des Heiligen Landes, zum anderen lassen sich bereits bei diesen Bauprojekten Motive und Wirkungen aufzeigen, welche in einem enormen Spannungsfeld zum frühchristlichen Kirchenverständnis stehen. Vor allem aber rückt in beiden Fällen die Frage der Heiligkeit von Orten (bzw. von Raum) in den Fokus und damit ein sakrales Verständnis, das, wie zu zeigen sein wird, dem frühen Christentum fremd war. Dieses Verständnis wird vielmehr, so die hier vorgetragene These, entscheidend durch Konstantin und seine Initiativen in den Fokus christlicher Religionspraxis gerückt: Wenn man so will, eine weitere konstantinische Revolution von enormer Tragweite. Diese Revolution begann nahezu buchstäblich am Abend des Sieges Konstantins über Maxentius. Politisch setzte der junge Kaiser Anfang 313 in der sogenannten „Mailänder Vereinbarung“12 die reichsweite Duldung des Christentums durch – nach knapp drei Jahrhunderten der Illegalität. In der von ihm eroberten alten Hauptstadt des Imperiums, Rom, aber begannen unmittelbar die Planungen für die Errichtung repräsentativer Verehrungsstätten bzw. von Versammlungshäusern – wir nennen sie Kirchen – für die Anhänger der Gottheit, die Konstantin den Triumph in der Entscheidungsschlacht geschenkt hatte und deren Kult er nun mit allen Mitteln förderte. Dies war konventionelle römische Politik: Der siegreiche Feldherr löste Versprechen, vota, ein, die er seinem Schlachtengott für den Fall des Sieges in Aussicht gestellt hatte. Natürlich waren dies in erster Linie prächtige Heiligtümer, templa, also dieser besonderen Gottheit geweihte, exklusiv zu ihrer Verehrung bestimmte und deshalb dem profanen Leben von nun an entzogene Bezirke und Baulichkeiten – nicht zu vergessen natürlich die dazugehörigen wertvollen Weihgeschenke, für den Kult notwendiges Inventar usw. III. Diese kaiserlichen Stiftungen in Rom waren, nach dem Jahr 312/13, die bedeutenden Kirchenbauten des Lateran – die Konstantin als seine erste Kirchengründung, wohl bereits um 313/15, bezeichnenderweise als Salvatorkirche benannte –, St. Peter, SS. Marcellino e Pietro an der Via Labicana, San Sebastiano, Santa Croce in Gerusalemme, Santa Agnese und Mausoleum der Constantina Augusta (heute Santa Costanza) u. a.13 Mehrheitlich nahe der Katakomben und

12

Zu den Einzelheiten und der Bedeutung dieser politischen Verständigung zwischen Konstantin und Licinius, welche bei Lactant. Mort. Persec. 48 bewahrt ist (und zuweilen fälschlich als Edikt von Mailand bezeichnet wird), konzise Piepenbrink 2002, 43–46 mit weiterführender Literatur. 13 Siehe zusammenfassend und in differenzierter Perspektive zum konstantinischen – und

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der traditionellen Begräbnis- und Versammlungszentren der Christen platziert wurden diese kaiserlichen Prestigebauten allesamt in monumentaler Form errichtet. Die Architekten Konstantins konnten allerdings auf keine christliche Bauform zurückgreifen, da eine solche nicht existierte: Wir wissen fast nichts über christliche Versammlungshäuser in vorkonstantinischer Zeit, es handelte sich aber nicht um Bauten mit einer spezifischen Architektur, sondern – neben teils auch für liturgische Zwecke genutzten größeren Grabanlagen (Mausoleen, Martyrien) – um temporär oder dauerhaft umgenutzte Wohnhäuser, vielleicht auch wohlhabender aristokratischer Eigentümer, um kleinere insulae o. ä., die wir als domus ecclesiae (Hauskirchen) bezeichnen.14 Die konstantinischen Architekten, welche – bei der Mehrzahl der genannten römischen Kirchen auf kaiserlichem Grund – Gebäude errichten sollten, die nicht nur gemeindliche Erfordernisse erfüllen, sondern auch den imperialen Ansprüchen einer repräsentativen Baustiftung Genüge tun sollten, entschieden sich in Rom und ebenso später in Palästina für einen in anderen Kontexten bewährten Bautyp, die Basilika, eine vielfältig variierbare und nutzbare Bauform, die im Wesentlichen aus einer großen, ggf. mehrschiffigen Halle mit Balkendach bestand.15 Dieser Bautyp, der als christliches Versammlungshaus nun tatsächlich eine konstantinische Innovation darstellt und die Tradition des Kirchenbaus jedenfalls im Westen bis heute dominiert, ist uns aus eigenem Erleben nun so vertraut, dass wir die mutmaßliche innergemeindliche Sprengkraft dieser ersten repräsentativen Kirchenbauten kaum mehr erfassen können. Die Basilika – ursprünglich Königshalle – war öffentliche, ja staatliche Architektur: Sie diente in verschiedenen Varianten seit Jahrhunderten als Marktgebäude, Exerzierhalle, Empfangshalle, Thronsaal – aber auch als Tempel und Gerichtsgebäude. Keine zeitgenössische Quelle überliefert uns, wie die Christen Roms auf diese kaiserlichen Geschenke reagierten, ob es Ablehnung und Auseinandersetzungen gab, geben konnte, wie es – modern gesprochen – um die Akzeptanz dieser Gebäude, die nunmehr das christliche Gemeindeleben beherbergen sollten, bestellt war. Man bedenke: Von nun an sollten sich Gläubige in einem architektonischen Ambiente versammeln und ihre Gottesdienste, das Abendmahl, feiern, in dem in der Zeit der Verfolgungen, nur wenige Jahre zuvor, noch die Christenprozesse durchgeführt worden waren, wo kaiserliche Richter in den Apsiden der Hallen Todesurteile gefällt hatten, wo Familienangehörige und Glaubensbrüder und ‑schwestern zur Folter und Hinrichtung abgeführt worden waren! Auch befanden

zu den Anfängen des christlichen – Kirchenbau: De Blaauw 2006; De Blaauw 2013; Brandenburg 2013, 54–113 mit vorzüglicher Diskussion und Bebilderung. 14 Dassmann/Schöllgen 1986, hier III d: Von der Hausgemeinde zur Hauskirche; Brenk 2003; Diefenbach 2007, 331–333; Brandenburg 2013, 11–15 mit souveränem Abriss. 15 Arnolds 2007; Christern 1986.

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sich in wohl jeder öffentlichen Basilika, gleich welcher primären Nutzung, Götterstatuen und Schreine für pagane Gottheiten und wurden entsprechende Kulthandlungen vorgenommen. Hier wurden auch der Kaiser und seine Vorgänger als Götter verehrt, die religiöse Identität des römischen Gemeinwesens insgesamt inszeniert und zelebriert. Jene Bauten stellten so in unterschiedlichem Maße zugleich sakrale Räume dar16 – die um jeden Preis zu meiden aber allzeit strenges Gebot für jeden gläubigen Christen war. Sollen wir ernsthaft annehmen, dass Christen, welche die Verfolgungen der Tetrarchen überlebt hatten, die prächtigen neuen Gotteshäuser, welche der Kaiser als selbsternannter Patron der Kirche ihnen freigebig schenkte, mit Freuden entgegennahmen und begeistert frequentierten? Die Basilika als Gotteshaus, als ein templum, als sakraler Raum – diese eigentlich pagane Konnotation muss für jene Christen unübersehbar gewesen sein. Für Neuchristen allerdings, die, ob aus genuin religiösen oder aber aus opportunistischen Motiven, seit der konstantinischen Wende in großer Zahl in die christlichen Gemeinden strömten und das Christentum schnell zur Massenbewegung werden ließen, erleichterte eben diese Architektur und ihre Anmutung zweifellos den Übergang, begegneten sie hier doch vertrauten Eindrücken, erfüllten sich ihre Erwartungen an einen einer Gottheit und ihrem Kult würdigen Raum. Und auch hier leistete Konstantin in den von ihm gestifteten Kirchen seinen unmissverständlichen Beitrag: Der Liber Pontificalis, die offizielle päpstliche Chronik der Kirche Roms,17 listet uns nämlich die Schenkungen und Ausstattungen auf, die der Kaiser seinen Kirchenstiftungen zur Absicherung und zur Versorgung des Klerus sowie des Gottesdienstes zur Verfügung stellte. Allein für den Lateran, die Bischofskirche Roms, stellte Konstantin als Innenausstattung zahllose kostbare Gegenstände zur Verfügung: angeblich silberne Statuen des Erlösers und der Apostel sowie von vier Engeln in einem fastigium, einer prächtigen überdachten bühnenartigen Konstruktion mit zwei Ansichtsseiten, das alleine 2.025 Pfund Silber gewogen habe; eine Verkleidung für die Apsis aus purem Gold mit einem gewaltigen, kunstvollen Hängeleuchter von 75 Pfund Gold, eine weitere goldene Apsis-Ausschmückung im Gewicht von 500 Pfund, sieben Altäre von jeweils 200 Pfund Silber, sieben Goldschalen von umgerechnet je knapp 10 kg, 16 weitere aus Silber von gleichem Gewicht, sieben goldene Trinkgefäße von jeweils 10 Pfund Gewicht, 20 aus Silber von jeweils 15 Pfund, weitere Trinkgefäße u. a. aus Gold und Silber; weiterhin, zur Ausschmückung (bzw. Beleuchtung) der Basilika einen 16

Dieser Sachverhalt wird in der Forschung kaum beachtet; siehe beispielsweise nur die Äußerung in der sonst vorzüglichen kunsthistorisch-archäologischen Monographie von Jonathan Bardill 1982, 230: „The design of the Roman assembly hall ... was particularly appropriate to the Church's purpose, being an official building type of a suitable scale and grandeur, untainted by pagan religious associations“ (meine Hervorhebung). 17 Einführend zu dieser Quelle Davies 2000, Introduction xi–l.

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prachtvollen Goldkandelaber für kostbares Nardenöl am Altar, aus 30 Pfund Gold, einen weiteren aus Silber von 50 Pfund, 45 Kandelaber von jeweils 30 Pfund Silber für das Hauptschiff der Basilika, weitere über 100 massive silberne Kerzenständer von jeweils 20 Pfund Gewicht etc. Die jeweils über 170 Objekte in Gold oder Silber für den Apsis-Bereich bzw. die Basilika selbst summieren sich zu einem Gesamtgewicht von 343 kg Gold (1.055 Pfund) und über 1,6 t Silber (4.975 Pfund, entsprechend ca. 1.617 kg).18 Diese prachtvolle Dekoration entsprach zweifellos imperialen Ansprüchen und führte Christen wie Heiden die Macht des neuen Gottes vor Augen. Doch sie unterschied sich natürlich in nichts von den kostbaren Ausstattungsrepertoires, die auch paganen Heiligtümern von einem Kaiser – so selbstverständlich nur wenige Jahre zuvor noch dem Sonnengott durch Konstantin – gestiftet wurden! Wenig spricht dafür, dass solches Kultinventar und solch kostbare Ausstattungsstücke, die ja Weihgeschenke darstellten, mithin zugleich die Sakralisierung des Kultortes beförderten, jemals zuvor in christlichen Versammlungshäusern ihren Platz gefunden hatten. Die kaiserliche Protektion, die konstantinischen Geschenke, näherten den neuen christlichen Kirchenraum jedenfalls in repräsentativer Hinsicht einem traditionellen Heiligtum an: So wie der kaiserliche Stifter in traditioneller, altrömischer – wir können auch sagen: paganer – Weise durch reiche materielle Zuwendungen seinen persönlichen Heilsgott zu ehren, herauszuheben suchte, ihm einen angemessenen Verehrungs- und Sakralraum zu verschaffen bemüht war. Was werden aber die christlichen Gläubigen beispielsweise angesichts des kostbaren fastigium und seiner Säulenreihe von lebensgroßen, vollplastischen Statuen des Erlösers und der Apostel gedacht haben? In der Spätantike, das ist bezeichnend, soll man nie wieder von solchen „christlichen Weihgeschenken“ hören. Es liegt auf der Hand, dass diese konstantinischen Maßnahmen in der Tradition antiker Sakralvorstellungen völlig konventionell waren: Konstantins Denken und Handeln wurzelte schließlich in eben dieser Vorstellungswelt. Ihre tiefgreifende Problematik erhalten sie allein im Kontext der christlichen Vorstellung und Verortung von Heiligkeit, auf die im Weiteren noch einzugehen sein wird.

18

Lib. Pontif. 34, 9–12. Das Gold entspricht damit nach heutiger Bewertung (Stand Januar 2014) € 9.706.900,–, das Silber € 737.352,–. Dazu kommen Liegenschaften in verschiedenen Teilen des Reiches, deren jährliche Erträge sich auf knapp über 10.000 Solidi addieren: Dies bedeutet einen Gesamtertrag von umgerechnet 46 kg Gold, der nach heutiger Bewertung € 1.301.800,– entspricht. Beachte hierzu Geertman 2004, vor allem zur Lateransbasilika und den dortigen Donationen Konstantins (mit Text auf 76–78); De Blaauw 2013. – Das reichhaltige Inventar und seine detaillierte Aufzählung erinnert an die für den Tempel Salomos in Jerusalem überlieferte Ausstattung und ihre einzelnen Gegenstände: 1 Kg 6 und 7, 13–15. Leader-Newby 2003, 61–66; Caseau 2007, bes. 554–556.

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IV. Konstantins idiosynkratische, pagan geprägte religiöse Denkwelt und architektonische Gestaltungsmacht schlug sich in der Ausgestaltung seiner römischen Kirchenstiftungen noch in einer weiteren, aus christlicher Sicht höchst problematischen, nur als anstößig zu bezeichnenden Hinsicht nieder. Die von ihm nun neu gestaltete Sakraltopographie der Hauptstadt sollte nämlich zugleich persönlichen, imperialen und dynastischen Zwecken dienen, die in der modernen Forschung allerdings oft unterbelichtet bleiben.19 Der Kaiser oktroyierte nämlich den von ihm erbauten Umgangsbasiliken, an deren Ort, den Nekropolen und Katakomben an der Peripherie Roms, traditionell das christliche Totengedenken gefeiert wurde, die memoria an Angehörige der Kaiserfamilie auf. Denn diese Basiliken wurden – heute noch am besten erkennbar an S. Agnese mit der damit verbundenen S. Costanza – bereits bei ihrer Errichtung mit repräsentativen imperialen Mausoleen als integralen Bauelementen verknüpft: In ihnen sollen später Angehörige der Kaiserfamilie – Constantina, die Tochter des Kaisers, in S. Costanza, die Mutter Helena in SS. Pietro e Marcellino (wo Konstantin selbst ursprünglich seine letzte Ruhestätte vorgesehen zu haben scheint, wie der für Helena dort schließlich verwendete Schlachtensarkophag aus Porphyr nahelegt) u. a. – bestattet werden. 20 Diese Kirchen dienten mithin zugleich zu nichts Geringerem als dem kaiserlichen Totenkult bzw. überhaupt dem Kaiserkult: Alle liturgischen Handlungen in ihnen dienten zugleich dem Kult für das hier ruhende Mitglied der Kaiserfamilie, das zunächst als einziger Leichnam im Gebäude selbst bestattet war, während benachbarter Friedhof, Katakomben und Märtyrergräber von der Kirche aus aufgesucht werden mussten. Konstantin verankerte den kaiserlichen Totenkult in der christlichen Totenkultpraxis, und er platzierte hierzu die imperialen Grabstätten unmittelbar im Raum des christlichen Gottesdienstes. Nachdem kaiserliche Mausoleen als bedeutsame Sakralorte fungierten, dort so auch regelmäßig Opfer- und Kulthandlungen für die toten Herrscher bzw. Angehörige der domus divina vorgenommen wurden, musste diese Sakralität nun gleichermaßen den neu monumentalisierten Kirchenraum erfassen: Dieser war nun zwangsläufig gleichfalls sakraler Raum – und sollte sich aufgrund der alsbald sich hier hinein verlagernden genuin christlichen Heiligenverehrung, im Besonderen durch die Einlagerung von Reliquien, ohnehin zu einem solchen weiter entfalten.

19

Eine markante Ausnahme stellt hier zuletzt Diefenbach 2011 dar. Zu den architektonischen Befunden und zur schlüsselhaften Bedeutung der Mausoleen, welche sich auch architektonisch unmittelbar in die Tradition der tetrarchischen Herrschermausoleen einreihen, Rasch 1998; Rasch/Arbeiter 2007; De Blaauw 2008; De Blaauw 2013; Diefenbach 2007; Johnson 2009. Für die weitere zeitgenössische Großarchitektur – Thermen, Horrea, (Palast-)Aulen u. a. – und ihren Einfluss siehe Schweizer 2005. 20

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V. Die hier für den neuen christlichen Versammlungsraum, die Basilika, herausgestellten treibenden Motive des konstantinischen Kirchenbauprogramms erhalten ihre eminente Sprengkraft durch einen zuletzt bereits angedeuten schlichten Sachverhalt: Die frühchristliche Kirche lehnte die Vorstellung von jeglicher Art von Heiligkeit für einen Raum oder ein Gebäude ab. Sie bestritt – in radikaler Ablehnung der Überzeugungen ihrer paganen Umwelt, aber ebenso des Judentums! – kategorisch die Präsenz des Heiligen an einem bestimmten Ort. Vor allem negierte sie die Auffassung, dass Gott und seine Verehrung überhaupt an einen spezifischen Ort gebunden sein könne. Das prophetische Jesus-Wort „Frau, glaube mir, es kommt die Zeit, dass ihr (scil. die Samaritaner) weder auf diesem Berge (= Garizim) noch zu Jerusalem (im jüdischen Tempel) den Vater anbeten werdet. Es kommt die Zeit …, dass die wahrhaftigen Anbeter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit … Gott ist Geist, und die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten!“21

war für sie unzweideutig. In der Apostelgeschichte heißt es: „Gott, der die Welt erschaffen hat und alles in ihr, er, der Herr über Himmel und Erde, wohnt nicht in Tempeln, die von Menschenhand gemacht sind.“22

Die weitere frühchristliche Tradition lässt keinen Zweifel am Fortgelten dieses Prinzips. Der Apologet Justin formuliert Mitte des 2. Jahrhunderts: „Der Gott der Christen ist nicht auf einen bestimmten Ort (τόπος) eingeschränkt. Unsichtbar ist er und erfüllt Erde und Himmel. Darum kann er von seinen Anhängern überall angebetet und verherrlicht werden.“23

Ein Jahrhundert später stellte der große griechische Theologe Origenes in direkter Auseinandersetzung mit heidnischer Kritik am Christentum unmittelbar die pagane Kultfrömmigkeit in Frage, da sie das Göttliche mit bestimmten Orten verknüpfe, es daran binde. Er hielt dem entgegen: „Wir benötigen keinen Tempel, um Gott zu begegnen. Götter halten sich nicht an einem bestimmten Ort auf.“24 21

Joh. 4,21–24. Apg 7,48–50, dabei Jes 66,1–2 zitierend. Vgl. die Kritik des Paulus an den heidnischen Tempeln als „menschengemachten“ Wohnsitzen der Götter in seiner Rede auf dem Areopag in Athen: Apg 17,24–25. Siehe auch Hippolyt. In Dan. comm. 1,17 [GCS Hippol. 1,28]: „Denn nicht ein Ort wird die Kirche genannt, auch nicht ein Haus von Stein und Lehm erbaut … Die hl. Versammlung der in Gerechtigkeit Lebenden …, dies ist die Kirche, das geistliche Haus Gottes.“ 23 Mart. Iust. 3,1. 24 Orig., c. Cels. 7,35. Sehr differenzierte und ausgewogene konzise Darstellung des gesamten Sachverhaltes in Brandenburg 2013, 11–15. Weiter zu berücksichtigen De Blaauw 22

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„Warum sollen Orte heilig sein?“ Die an ihre pagane Umwelt gerichtete Frage der Christen hatte zu Konstantins Zeit nicht an Bedeutung verloren, vor allem war es eine zentrale christliche Glaubensgewissheit, die ihr zugrundelag. Orte, Raum – anders als Zeit – hatten Christen aufgrund ihrer Gottesvorstellung nie interessiert. Allein die im 2. Jahrhundert einsetzende Märtyrerverehrung hatte über die an den Begräbnisorten der Märtyrer, der Glaubens- und Blutzeugen der jungen Kirche, regelmäßig stattfindende Erinnerung an jene und über die Feier von Gottesdiensten an diesen Orten Ansätze einer ortsgebundenen bzw. -fokussierten Frömmigkeit hervorgebracht. Die Verehrung herausragender verstorbener Persönlichkeiten war aber auch der paganen Umwelt vertraut, ja wohl sogar das Vorbild für die spätere Märtyrerverehrung: Heroen wurden in Schreinen (heróa) verehrt; Christen nannten die Begräbnisorte ihrer Glaubenszeugen martyria.25 Zweifellos verstand Konstantin, auch wenn uns entsprechende Selbstäußerungen fehlen, seine stadtrömischen Kirchen als architektonische Manifestationen sakraler Orte. Die Mehrzahl der Kirchen hatte er ja auch an Orten, nämlich den Begräbnisplätzen von Märtyrern, errichten lassen, die nach seinem Verständnis eine besondere Präsenz des Göttlichen beanspruchen konnten und mithin unzweifelhaft Heiligkeit besaßen. Wie die weitere Geschichte der Kirche, der Liturgie und der populären Verehrungsformen allein im Verlauf des 4. Jahrhunderts zeigt, sollte der Kaiser mit diesem Verständnis und mit seinen baulichen und weiteren Initiativen, ohne dies wissen zu können, in regelrecht prophetischer Weise Entwicklungen befördern und beschleunigen, welche dem spätantiken Christentum in vielerlei Hinsicht ein neues Antlitz und Selbstverständnis verliehen. VI. Konstantins Innovation, ja Revolution der christlichen Sakraltopographie beschränkte sich nicht auf den Kirchenbau und die Sakralisierung christlicher Versammlungsräume. Historisch und religiös noch bedeutsamer und folgenreicher waren die – neuerlich der persönlichen religiösen Gedankenwelt des Kaisers entspringenden – überraschenden Initiativen und Maßnahmen in einer unbedeutenden Grenzregion des römischen Reiches: in Palästina. In wenig mehr als zehn Jahren schuf Konstantin hier mit der Auszeichnung einer Handvoll Orte der christlichen Heilsgeschichte durch repräsentative Kirchenbauten die Grundlagen für das, was schon christliche Zeitgenossen nun als „Heiliges Land“ wahrnahmen und aufzusuchen begannen: Bereits im Jahr 333 reiste ein anonymer Pilger aus Bordeaux quer durch das Imperium, um die neuerrichteten konstantinischen Kirchen in Mamre, Bethlehem und Jerusalem zu besichtigen, vor allem aber um den 2008; Dassmaeusenn/Schöllgen 1986. 25 Zum weiten Spektrum antiker Heroenverehrung und seinen Berührungen mit dem Christentum Jones 2010. Siehe auch Speyer 1988.

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durch diese markierten neuen Sakralorten des Christentums Reverenz zu erweisen.26 Bis zu dieser spirituellen Erfahrung war allerdings ein gewaltiger Weg zu gehen. Nur einige schlüsselhafte Aspekte der hier verfolgten Problemstellung können im Weiteren skizziert werden, so soll die paradoxe Dynamik der Sakralisierung christlicher Erinnerungsorte in Palästina unter Konstantin verdeutlicht werden. Jerusalem: Möglicherweise war der Name, ja die Existenz dieser Stadt Konstantin vor seiner Hinwendung zum Christentum völlig unbekannt. Und das, obwohl er als junger Mann in der Begleitung Diokletians auf dessen Orientreise im Jahr 302 an genau diesem Ort einmal Station gemacht hatte. Doch war die historische Stadt und ihre religiöse und politische Identität von den Römern zwei Jahrhunderte zuvor, im Gefolge der Niederwerfung der großen jüdischen Aufstände, so gründlich ausgelöscht und zudem die gesamte jüdische Bevölkerung dauerhaft vertrieben worden, dass selbst ein römischer Statthalter Syriens um das Jahr 310 auf die Erwähnung des Stadtnamens bei einer Gerichtsbefragung ratlos reagierte, den Namen noch nie vernommen hatte. An der Stelle existierte seit 135 allerdings eine neu errichtete römische Bürgerkolonie, Aelia Capitolina – diese aber bis in die Spätantike eine gänzlich bedeutungslose Provinzstadt.27 Immerhin, sie besaß die Infrastruktur einer römischen Stadt, vor allem Forum und eine Vielzahl paganer Tempel. Ungewöhnlich an ihr – und alleiniges Zeichen einer früheren Geschichte – war nur das brachliegende Gelände des früheren Tempelberges, beachtliche 20 % des Stadtareals. Einmal im Jahr wurde es Juden, denen das Betreten der Stadt ansonsten streng verboten war, gestattet, diesen Ort aufzusuchen und die Zerstörung und den Verlust ihres Kultortes, ja der biblischen Geschichte insgesamt zu betrauern. Die weitgehende Bedeutungslosigkeit, der die Stadt anheimgefallen war, erstreckte sich auch auf die Christen – zumindest spielte der historische Ort der schlüsselhaften Ereignisse des neutestamentlichen Heilsgeschehen in vorkonstantinischer Zeit praktisch keine Rolle, und gleiches gilt grosso modo auch für die weiteren Stätten der biblischen Geschichte. Eusebius von Caesarea, der erste Kirchenhistoriker, zugleich Zeitgenosse Konstantins und später Biograph des Herrschers, vermag nur wenige Personen anzuführen, welche im 2./3. Jahrhundert die Stadt um der Orte Christi willen aufgesucht hätten. So sei Alexander, ein späterer 26

Zum Pilger von Bordeaux, seinem Itinerarium und religiösen Interesse siehe Irshai 2009a. Zum Phänomen in Palästina und seiner historischen Entwicklung insgesamt Hunt 1982. Die enorme dynamische Entwicklung des Heiligen Landes, die Erschließung zahlloser weiterer relevanter Stätten für christliche Pilger und die Ausbildung einer regelrechten Infrastruktur für die nun in das Land strömende Zahl von Besuchern spiegelt bereits der zeitlich nächste uns erhaltene Pilgerbericht, der der Egeria (ca. 381/384). Hierzu mit Abdruck des Textes und Erläuterungen Wilkinson 1999 und Röwekamp 2000. 27 Drijvers 2013.

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Bischof Jerusalems, aus Kleinasien nach Jerusalem gereist, „um hier zu beten und die Stätten zu besuchen“.28 Doch kann dieses so formulierte spezifische Interesse auch von Eusebius retrospektiv so explizit beigelegt worden sein, um eine Verehrungstradition zu konstruieren. Die Belege für frühe christliche Pilger sind rar, meist späteren Datums und so auch die Äußerungen über ihre Motive. Offen muss bleiben, ob die kleine christliche Gemeinde, die in Aelia Capitolina im 2. und 3. Jahrhundert mit einer Kirche auf dem Berg Zion existierte, eine Rolle bei der Bewahrung eventuellen Wissens um die Lokalisierung von heilsgeschichtlichen Ereignissen in Jerusalem spielen konnte. 29 Die Anfänge des Interesses Konstantins an Jerusalem liegen im Dunkeln. Klar ist aber, dass erst 324 n. Chr., mit dem Sieg über Licinius und der Gewinnung der Alleinherrschaft, auch die östlichen Provinzen des Imperium Romanum sich Konstantins politischem Gestaltungswillen erschlossen. Und nicht nur diese, sondern das ganze Reich wurden jetzt vom ungebremsten religionspolitischen Aktivismus des Kaisers überrollt. Bereits im folgenden Sommer fand in Nizäa das große Konzil statt, zu dem Hunderte Bischöfe aus allen Provinzen geladen waren und in dem weitreichende theologische und administrative Entscheidungen getroffen, ja kaiserlicherseits die Grundlagen einer Reichskirche gelegt wurden. Anders als noch in Rom 313 war Konstantin nun auch theologisch versiert und mit den biblischen Schriften jedenfalls in Grundzügen vertraut. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass der in Nizäa anwesende Jerusalemer Bischof Makarios, unter Verweis auf die apostolische Tradition Jerusalems – der Herrenbruder Jakobus galt als erster Gemeindeleiter – nicht nur Rangprivilegien für seine Diözese erwirkte, sondern es ihm auch gelang, unter Hinweis auf die Wirkungsstätten Christi das Interesse Konstantins für seinen Bischofssitz zu wecken und so die kaiserliche Patronage für ambitionierte Kirchenbauprojekte zu gewinnen, welche zugleich zur Erhöhung seiner eigenen Stellung und der seiner Diözese beitragen sollten.30 Tatsächlich ist es nämlich Kaiser Konstantin, der nun Jerusalem wieder zur Existenz verhelfen wird, es in die Karte des weltlichen Imperium neu einschreibt (wobei aber die „weltliche“ römische Stadt Aelia Capitolina administrativ davon unberührt bleibt) und, mehr noch, den Ort zum primären spirituellen Bezugsort seiner persönlichen Gottesverehrung und auch der christlichen Religion, alsbald der Reichsreligion, erhebt. Eusebius, der Konstantin-Biograph, der sich vor allem als Propagandist des Herrschers und hier eines christlichen Kaisers Konstantin verstand, ist unser entscheidender Zeuge für alle Geschehnisse in Jerusalem und Palästina. 31 Als 28

Euseb. hist. eccl. 6,11,2. Hunt 1999; Irshai 2006. 30 Drake 2000, 274–275. 31 Einführend zu Eusebius Grant 1980; Barnes 1981, 81–188; Winkelmann 1991; Winkelmann 2006. 29

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Bischof von Caesarea, der Provinzhauptstadt, konnte er die Entwicklungen aus nächster Nähe wahrnehmen – verfolgt in seiner Darstellung aber immer zugleich auch eine eigene Agenda und vor allem ein eigenes Geschichtsbild. Schon in seinem kirchenhistorischen Werk hatte er der Errichtung von Gemeindebauten besondere Aufmerksamkeit geschenkt und den Bau großen Versammlungshäuser bereits unter der Tetrarchie als den herausragenden Indikator des Aufschwungs der Kirche betont.32 Für Eusebius manifestiert sich der Siegeszug des Christentums erst recht nach der konstantinischen Wende über seine dynamische bauliche Konkretion: Der Wiederaufbau und die Neuerrichtung von Kirchen stellen so das entscheidende Symbol der neuen Zeit und des endgültigen Durchbruchs des christlichen Glaubens dar. Eusebius entfaltet diese zeithistorische Perspektive zugleich zu einem Leitmotiv seines Konstantinbildes, zu einem Charakterzug des idealen christlichen Herrschers. Programmatische Zuspitzung erfährt diese Verbindung von Herrscher und Kirchenbau bei Eusebius erst recht in der Vita Constantini, seiner Biographie Konstantins, die er bald nach Konstantins Tod verfasste.33 Die Darstellung der Errichtung der Basiliken in Palästina (nicht hingegen die der stadtrömischen) erhält hier breitesten Raum – auch wenn Eusebius sich über die Motive Konstantins nicht allzu klar äußert. Er schreibt: „Der gottgeliebte Konstantin setzte eine sehr bedeutende Sache in der Provinz Palästina ins Werk, die es wert ist, erwähnt zu werden. Was aber war das? Es schien ihm wichtig, dass er die Berühmtheit und Verehrungswürdigkeit des allerseligsten Platzes der Auferstehung des Erlösers in Jerusalem allen kundtun müsse. Sofort ließ er dort nämlich ein Bethaus errichten.“34

Der Ort der Auferstehung Christi – für einen antiken Menschen verständlich zugleich als die Epiphanie eines Gottes oder Theophanie – stand für Konstantin offenbar im Vordergrund, wobei dieser zugleich die Grabstätte implizierte: ersteres eine Perspektive, die traditionellem, paganem Denken wohlvertraut war und einem Herrscher wie Konstantin in besonderer Weise anstand. „Gegen alle Erwartung”, so erklärt Eusebius, sei die Auffindung des Grabes geglückt. Der kaiserliche Auftrag, eben jenen Ort zu finden, wurde damit erfüllt – und man könnte sagen, dass Konstantin hiermit eine der bedeutendsten archäologischen Entdeckungen der Geschichte gelungen ist. Die Auffindung des Grabes galt dem Kaiser als martyrion, als Zeugnis der Auferstehung Christi.

32

Euseb. hist. eccl. 8,1,5–6. Grundlegend hierzu Cameron/Hall 1999. Siehe auch Bleckmann 2007. Weiterhin v. a. Cameron 1997. 34 Euseb. vita Const. 3,25. 33

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VII. Mehrere Umstände der Freilegung der Grabstätte Christi verdienen an dieser Stelle Erwähnung. Das Grab wird als Höhle oder Grotte geschildert – ebenso wie später die Geburtsstätte Jesu in Bethlehem und die Stelle auf dem Ölberg, von der Christus zum Himmel aufgefahren sei. Diese Triade von Höhlen in Jesu Leben gemäß der eusebianischen Überlieferung ist befremdlich; Paul Walker, in seinem wichtigen Buch Holy City, Holy Places, gestand 1990, dass die Vorliebe des Eusebius für Höhlen doch „slightly puzzling“ sei (26). Doch ist es durchaus fraglich, ob wir es hier wirklich mit der Vorliebe eines zeitgenössischen Bischofs für Christus-Grotten zu tun haben. Viel näher liegt es, dass unser Biograph an dieser Stelle Überzeugungen Konstantins widergibt, dass dieser also sich jene von ihm gesuchten Schlüsselorte der christlichen Heilsgeschichte nur als Grotten vorstellen konnte – und so eben auch von seinen Beauftragten vor Ort vorstellungs- und wunschgemäß solche besonderen natürlichen Räume gefunden wurden, unabhängig davon, dass die Evangelien sie mit keinem Wort erwähnen.35 Ist dies wirklich überraschend? Tatsächlich verweist dieser Sachverhalt doch schlicht neuerlich auf die Verankerung der Vorstellungswelt Konstantins in der paganen Tradition. Grotten oder Höhlen wurden im antiken Denken als Orte mystisch-religiöser Initiation betrachtet: In den griechischen Göttermythen stößt man so allenthalben auf sie – man denke nur an die Zeus-Grotte auf dem kretischen Ida, in der verborgen der künftige Göttervater ungefährdet aufwachsen konnte –, und ebenso wurden solche Naturgegebenheiten im Mittelmeerraum allenthalben als Aufenthaltsorte von Göttern identifiziert und als heilige Orte verehrt.36 Sollte da nicht auch Konstantins neuer Gott bzw. der Gottessohn, während er auf Erden wandelte, mit Grotten nicht nur in Kontakt, sondern in entscheidenden Momenten seiner irdischen Existenz und des von seiner Person ausgehenden Heilsgeschehens in diesen geborgen gewesen und von ihnen in das hiesige oder aber jenseitige Leben getreten sein? Eine zutiefst pagan geprägte Herangehensweise und religiöse Perspektive Konstantins lässt sich auch an anderer Stelle bei der Aufnahme der großen Kir-

35

Eusebius gibt in seiner Rede zu den Tricennalia, dem 30-jährigen Thronjubiläum des Kaisers – Euseb. laud. Const. 9,17 – deutlich zu erkennen, dass die Bestimmung der Grotten durch Kaiser Konstantin erfolgte, der drei Orte ausgewählt habe „die durch drei mystische Grotten ausgezeichnet waren, und … sie mit reichen Bauten (geschmückt habe), indem er der Grotte der ersten Erscheinung Gottes die gebührende Achtung erwies (i. e. die Geburtskirche in Bethlehem), die andere aber auf der Anhöhe durch die Erinnerung an die letzte Auferstehung ehrte (i. e. die Himmelfahrtskirche auf dem Ölberg) und die mittlere durch die Siege des Heilandes (Grabeskirche) verherrlichte. Das alles schmückte der Kaiser, wodurch er allen das Zeichen des Heils verkündete“. 36 Speyer 1982 mit einer Vielzahl von Belegen aus der gesamten antiken Welt.

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chenbauprojekte in Palästina aufzeigen – der Kirchenbauten und Orte, welche zunächst die Keimzelle, später aber die Schlagader des christlichen Heiligen Landes bilden sollten. Dies soll hier neuerlich am Fall der Jerusalemer Grabeskirche exemplifiziert werden.37 Alle konstantinischen Baumaßnahmen wurden nämlich, so wird berichtet, in bereits sakralisierter Umgebung in Angriff genommen. In Aelia Capitolina musste zunächst, dies behauptet jedenfalls Eusebius, ein Tempel der Aphrodite beseitigt werden, und damit ein Kult, der Konstantin aufgrund hier geübter Kultpraktiken in besonderer Weise verhasst war. Da das Heiligtum sich im Zentrum der Aelia Capitolina befand, war die kultische Mitte der römischen Stadt betroffen: Faktisch wurde nun die religiöse Identität dieser Stadt ausradiert – eine Voraussetzung dafür, dass das irdische Jerusalem wieder entstehen, von Konstantin auf die säkulare Karte gesetzt werden konnte. Die Überbauung des Christus-Grabes sei dabei, so legt Eusebius ebenso wortreich wie fragwürdig dar, früher von Heiden vorgenommen worden, welche „die Grotte des Erlösers durch fluchbeladene Abscheulichkeiten“ – eben den Kult der Aphrodite – hatten überdecken und vergessen machen lassen wollen. Konstantin nun, so berichtet Eusebius, „ … befahl nach Anrufung Gottes, seines Beistandes, den Platz zu reinigen … Und kaum war der Befehl gegeben, so wurde der Tempel, dieses Machwerk des Truges, von oben bis unten gänzlich zerstört und die Wohnstätten des Irrglaubens mitsamt ihren Götzenbildern und Dämonen vernichtet und gereinigt. Doch damit war dem Eifer des Kaisers noch nicht Genüge getan; wiederum befahl er, das Material des zerstörten Tempels, das Holz und die Steine, wegzuräumen und möglichst weit von dem Ort wegzuschaffen … Und er befahl, an jener Stelle auch den Boden tief aufzugraben und samt dem Schutt möglichst weit zu entfernen, da er durch Dämonen besudelt und befleckt sei.“38

Was wir hier lesen, ist die Schilderung einer umfassenden und systematischen Reinigung und Auslöschung eines heidnischen Kultplatzes – zugleich die erste planmäßige Zerstörung eines Tempels mitsamt Kultbildern und Ausstattung in der Spätantike. Vor allem aber haben wir hier das frappierende Zeugnis eines Denkens sakraler Verunreinigung und purifikatorischer Notwendigkeit vor uns.39 Als solches spiegelt es allerdings zutiefst pagane Überzeugungen, beruht auf Reinheitsvorstellungen, die in der gesamten antiken Welt verbreitet waren, aber – dies ist zu betonen – in dieser physischen Ausprägung keine Relevanz im christlichen Denken besaßen. Die ausführliche eusebianische Schilderung der Reinigung der Umgebung des Jesus-Grabes verfolgt dabei einen doppelten Zweck: Zum einen unterstreicht sie, 37

Biddle u. a. 2000; Corbo 1981–1982; Krüger 2000; Morris 2005, 1–40. Euseb. vita Const. 3,26,3.6. 39 Eingehend hierzu Hahn 2000, hier 270–274. Vgl. auch Hahn 2015. 38

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gerade auch in der Negation der Sakralsprache zur Verunglimpfung des Aphrodite-Kultes, die immanente Heiligkeit des Platzes aufgrund der Existenz des Grabes Christi – dieses wird so bereits vorab als außerordentlicher sakraler Ort definiert. Zum anderen vermag Eusebius so das aggressive anti-pagane Vorgehen Konstantins wirkungsvoll in Szene zu setzen, welches in eklatantem Gegensatz zur christlichen Tradition der ersten drei Jahrhunderte stand. Denn bei aller Distanzierung von der heidnischen Umwelt und der hier praktizierten Kulte und Riten hatte das frühe Christentum es doch immer peinlich vermieden, heidnische Heiligtümer oder Götterbilder zu attackieren.40 Konstantins Vorgehen bedeutet einen Einschnitt, suggerierte, jedenfalls in der Darstellung des Eusebius, eine generelle Kriegserklärung an die paganen Kulte und deren irregeleiteten Konzepte von Heiligkeit. Zugleich werden den obsoleten andersgläubigen Kulten und Sakralorten, jedenfalls in Palästina, unmittelbar christliche Verehrungsorte entgegengesetzt, welche die spirituelle Wirksamkeit der Vorgängerbauten zu übertreffen beanspruchen, mithin einen noch weitergehenden Anspruch an Sakralität erheben, ja behaupten, Orte unvergleichlicher Heiligkeit zu sein. Eusebs eingehende Schilderung der vom Kaiser veranlassten Zerstörungen darf allerdings keinesfalls als objektive Berichterstattung missverstanden werden: Der Biograph bemühte sich in der Vita Constantini nach Kräften, Konstantin den Zeitgenossen und der Nachwelt als Protagonisten einer offensiv anti-heidnischen Politik vorzustellen und ihn insbesondere als systematischen Zerstörer heidnischer Kultstätten zu präsentieren. Dieses Darstellungsziel ist kunstvoll mit einer anderen Absicht Eusebs verknüpft: Seine Behauptungen über ein Vorgehen Konstantins gegen heidnische Kultstätten finden sich immer wieder mit Erklärungen über ein weitreichendes Kirchenbauprogramm des Kaisers vereint: in unserem Fall die Zerstörung des Aphrodite-Tempels mit der Errichtung der Grabeskirche. Eusebius verbindet in geschichtstheologischer Fokussierung pointiert den endgültigen Niedergang des Heidentums und die bauliche Monumentalisierung des siegreichen Christentums mit dem Wirken Konstantins.41 Die religionspolitische Agenda und entsprechende Rhetorik des Biographen dominiert seine Schilderung in solch massiver Weise, dass darüber die von ihm behaupteten Abläufe in unauflösliche Widersprüche geraten: Zunächst erklärt Eusebius, Konstantin habe den Auftrag zur Errichtung einer Kirche über dem Grab 40

Can. 40 des Konzils von Elvira (306/312) verweist darauf, dass eine Zerschlagung von Götterbildern o. a. weder in den Evangelien erwähnt werde noch in der Zeit der Apostel stattgefunden habe; Christen, die aufgrund solcher Übergriffe hingerichtet würden, seien nicht als Märtyrer zu betrachten. Euseb. Mart. Pal. 4,8–9 berichtet von Fällen, in denen Christen versuchten, offizielle Kulthandlungen zu unterbinden. Zur Entwicklung der kirchlichen Einstellung gegenüber der Zerstörung heidnischer Kultbilder Thornton 1986; Kristensen 2013. 41 Euseb. vita Const. 3,47–58.

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Christi gegeben; dann aber wird, damit unvereinbar, eben dieses Zeugnis der Auferstehung (bzw. der Epiphanie) Christi „gegen alle Erwartung“ erst im Verlauf des Abrisses des Aphrodite-Tempels und der Reinigung des Tempelareals gefunden. Für Konstantin stand die Heiligkeit des Ortes, den nun seine erste Kirche umfassen und mit außerordentlicher Pracht schmücken sollte, jedenfalls von Beginn an außer Frage: Dies zeigt sein erhaltener Brief an Bischof Makarios von Jerusalem, in dem er diesen mit der Errichtung des Gotteshauses betraut. Er spricht hier von dem Wunder, „dass das lange unter der Erde verborgene Kennzeichen (γνώρισμα) jenes heiligsten Leidens“ unbemerkt blieb, nun aber von ihm habe freigelegt werden können, und fordert den Bischof auf, „dass wir jenen heiligen Ort (τὸν ἱερὸν ἐκεῖνον τόπον) durch die Schönheit von Bauten schmücken … den Ort, der von Anfang an durch das Urteil Gottes heilig gewesen ist, sich aber als noch heiliger erwiesen hat (ἁγιώτερον δ’ ἀποφανθέντα), als er den Beweis für die Passion des Erlösers ans Licht gebracht hat.“ 42

Auch in Mamre, dem Ort der Theophanie Jahwes vor Abraham, ist es das erklärte Ziel des Kaisers, die Heiligkeit des Ortes „vor jeder Entweihung zu bewahren sowie ihm seine ursprüngliche Heiligkeit wieder zurückzuerstatten, damit auf ihm nunmehr dem allmächtigen Gott, unserm Erlöser, dem Herrn der Welt, die gebührende Verehrung dargebracht werde.“43

Und erneut soll der Ort zunächst von allen Spuren heidnischen Götzendienstes gründlich gereinigt werden, bevor eine der christlichen Kirche würdige Basilika errichtet werde.44 Wir dürfen zusammenfassen: Konstantin, der Stifter dieser Kirchen, profiliert sich in Jerusalem, in Bethlehem und in Mamre als Propagandist von nun auch christlicher topographischer Heiligkeit.

42

Euseb. vita Const. 3,30,1. Euseb. vita Const. 3,53,4: „Da dem nun also ist, ist es angemessen, wie es mir scheint, durch Eure Sorgfalt diesen Platz sowohl rein von jeder Befleckung (μιάσματος) zu bewahren als auch ihm seine ursprüngliche Heiligkeit wieder zurückzuerstatten, damit auf ihm nur mehr dem allmächtigen Gott, unserm Erlöser, dem Herrn der Welt, die gebührende Verehrung dargebracht werde. Das müßt Ihr mit der gehörigen Sorgfalt beobachten, wenn anders Eure Erhabenheit meine Wünsche, die vorzugsweise aus der Verehrung Gottes hervorgehen, erfüllen will, wovon ich ja völlig überzeugt bin.“ 44 Euseb. vita Const. 3,53,2: „ ... dass unserm erlauchten Comes und Freund Acacius unser schriftlicher Befehl eröffnet worden ist, ohne allen Verzug sowohl alle Götzenbilder, die sich an dem genannten Orte vorfinden sollten, dem Feuer zu übergeben, als auch den Altar von Grund aus zu zerstören und, um es kurz zu sagen, alles derartige von dort vollständig verschwinden zu lassen und mit aller Kraft und auf alle Weise die ganze Umgebung eifrigst 43

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VIII. Unter Konstantin wandelt sich jetzt aber auch grundlegend die Weise, wie Christen ihre Kirchen betrachten und über sie sprechen. Und es ist Eusebius, der Bischof und Kirchenhistoriker, der für uns erstmals diese neue Wahrnehmung der christlichen Versammlungsstätten zum Ausdruck bringt: Er verwendet jetzt jene Bilder und Assoziationen, welche das Alte Testament zur Beschreibung der Stiftshütte, des Tempels Salomons, der Arche und anderer heiliger Objekte gewählt hatte. Christliche Versammlungsorte werden nun jenen Aufenthaltsorten Gottes im Alten Testament angeglichen bzw. immer wieder mit ihnen verglichen, um seine Präsenz im Gottesdienst der Christen hervorzuheben: der Christen, welche er durch den Neuen Bund anstelle der Juden zu seinem auserwählten Volk erhoben hat. Der Rhetorik der Heiligkeit des Gotteshauses, die vor diesem Hintergrund nunmehr ihren Einzug in die Sprache der Predigt und die Inszenierung des Gottesdienstes nimmt, bedient sich Eusebius von Caesarea erstmals im Jahr 315 in seiner Rede zur Einweihung der Kirche von Tyros – eine Basilika –, welche nach ihrer Zerstörung ein Jahrzehnt zuvor in der diokletianischen Verfolgung nunmehr als kaiserliche Stiftung wieder aufgebaut worden war.45 Vor dem versammelten Klerus und Gemeindevolk wird hier erstmals die symbolische Bedeutung der christlichen Kirche als Gebäude, und nicht als Gemeinde, entfaltet. In einem rhetorischen Feuerwerk führt Eusebius zunächst konventionelle typologische und neuplatonische Interpretationen von Kirche, Stiftshütte und Tempel zusammen und fügt diesen wiederum prophetische und messianische Themen hinzu, die er auf die nun eingetretene tiefgreifende historische Transformation bezieht, die konstantinische Wende. Der anschließende Lobpreis auf das Gebäude, auf die feierlichen Prozessionen und Reden zu seiner Eröffnung sowie auf den kaiserlichen Stifter mündet in die Skizze eines christlichen Konzepts von heiligem Raum, das traditionelle und neuartige Vorstellungen verbindet: Innovativ ist dabei die Verbindung von einerseits biblischen Vorstellungen und andererseits römischimperialen Konventionen und Themen und ihre Anwendung auf ein spezifisches christliches Kirchengebäude.46 So vermag Eusebius seinen Mitbischof Paulinus, den Erbauer der Kirche, als den zu bezeichnen, dem Gott habe die Ehre zuteil werden lassen, „sein Haus auf der Erde“ zu errichten und es für Christus, seinen Sohn, wiederzuerbauen. zu reinigen. Danach soll er, so wie ihr selber es bestimmen werdet, auf eben diesem Platze eine Basilika erbauen, die der katholischen und apostolischen Kirche würdig ist.“ 45 Eusebius fügte die von ihm gehaltene Rede später in das 10. Buch seiner Kirchengeschichte ein: hist. eccl. 10,4,16. 46 McVey 2010, bes. 45–50 mit exzellenter Interpretation. Beachte auch Simmons 2001, 597–607; Smith 1989; Heyden 2012, 86: „Eusebius ist der erste christliche Theologe, der eine Kirche explizit als ‚Heiligtum‘ (ἱερεῖον) und ‚Tempel‘ (νέως) bezeichnete.“

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Eusebius erklärt den neuen, größeren Kirchenbau jeglichen Lobes für würdig und preist seine Schönheit durch Aufzählung und eingehende Schilderung aller baulichen Elemente: so drei imposante Eingänge, Kolonnaden, die Pracht der verwendeten Materialien, die Throne, Bänke, der Altar, die Schranke, welche den Altar umgibt, sein „Heiligstes des Heiligen“: τὸ τῶν ἁγίων ἅγιον θυσιαστήριον.47 So säkular, ja profan diese Rhetorik erscheinen mag, sie ist doch durchsetzt und getränkt mit Bildern und Parallelen aus dem Alten Testament, verweist vor allem ständig auf biblische Beschreibungen des Jerusalemer Tempels, evoziert so die Sakralität dieses Bauwerkes und Raumes und überträgt die Heiligkeit jenes alten, nun zerstörten Gotteshauses auf den in Tyros wiedererrichteten Kirchenbau. Eusebius gelingt es in seiner Rede, mit seiner kunstvollen Verknüpfung von Themen und Bildern aus Philosophie, Rhetorik, Kaiserideologie und biblischer Theologie, eine neue, programmatische Erklärung zur Heiligkeit von Orten, die dem christlichen Gottesdienst gewidmet – „geweiht“ – sind, zu formulieren. Die Abkehr von der traditionellen christlichen Auffassung, dass doch eigentlich nur eine Gemeinde von Gläubigen heilig sein könne, ist dem Bischof dabei, wie sich zwischen den Zeilen und bei der Entfaltung einzelner apologetischer Argumente leicht erkennen lässt, wohl bewusst. Es ist die unerwartete Entwicklung der politischen und religiösen Ereignisse, die überraschende Hinwendung Konstantins zur christlichen Religion und deren unvermutet einsetzende massive Förderung durch den Staat, welche Eusebius dazu bewegte, die traditionelle christliche, auf Aussagen im Neuen Textament beruhende Auffassung, dass Orten keine Heiligkeit innewohnen könne, aufzugeben. IX. Eusebius berichtet, dass Konstantin, als er im Frühjahr 337 im kleinasiatischen Nikomedia seine Todesstunde gekommen fühlte, die Bischöfe seiner Umgebung zu sich rief und um die Taufe bat. Er erklärte ihnen, dass er gehofft hatte, diese „an den Strömen des Jordan zu empfangen, an denen auch der Erlöser als Vorbild für uns seine Taufe erhalten hatte.“ 48 Es fällt schwer, sich die spektakuläre Inszenierung und reichsweite Aufmerksamkeit auch nur vorzustellen, welche eine Taufe Konstantins im Jordan bedeutet hätte – und erst recht ihre mutmaßlichen Folgewirkungen für die christliche Kirche und das Heilige Land, wäre sie denn zustande gekommen.49 Tatsächlich hat Konstantin das Heilige Land, die von ihm dort errichteten Kirchen, die schnell wachsende Zahl an christlichen Verehrungsstätten in Jerusalem und Palästina und den anschwellenden Strom der Pilger nie mit eigenen Augen 47

Euseb. hist. eccl. 10,4,37–46 (Zitat 44). Euseb. vita Const. 4,62,2. 49 Zur Interpretation dieses Plans siehe Wienand 2012, 464–465 mit älterer Literatur. 48

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erblickt. Auch den atemberaubenden Ausbau der von ihm inaugurierten christlichen Topographie Jerusalems sollte er nicht erleben: Die Stätten der Passion Christi – jede als locus sanctus nun exakt fixiert – wurden miteinander verbunden und eine liturgische Abfolge für jeden frommen Besuch entwickelt, ja noch im 4. Jahrhundert eine ausgeprägte Stationsliturgie formuliert, welche gläubigen Christen die Heilsbotschaft des Neuen Testamentes, das Leben und Sterben Jesu, bei ihrer Pilgerschaft vor Ort nicht nur vermittelte, sondern sie es performativ erfahren, nacherleben ließ. Auch die von den heiligen Stätten ausgehende machtvolle Verbreitung des Reliquienkultes, welche mittels des Exportes von Reliquien eine unbeschränkte Expansivität christlicher Heiligkeit zur Folge hatte, setzte zwar unmittelbar ein, blieb Konstantin aber unbekannt – wie auch die Verbreitung des Märtyrer- und Heiligenkultes als eines reichsweiten Phänomens, bei dem Objekte (z. B. Partikel des Kreuzes Christi) und Reliquien biblischer und christlicher Protagonisten (etwa des Protomärtyrers Stephanus) aus Palästina eine herausragende Rolle spielten, im gesamten antiken Mittelmeerraum die Heiligkeit von Kirchen begründeten. Die außerordentliche Wirkung der Förderung der heiligen Stätten durch Konstantin, ja überhaupt seine persönliche Initiative, das Land der Bibel christlicherseits als reales Land und tatsächlichen Schauplatz der Heilsgeschichte wahrzunehmen und es darüber zugleich als unerschöpfliche spirituelle Quelle zu entdecken und eben als Heiliges Land zu verstehen – diese Wirkung, welche die weitere Geschichte der Kirche, des Orients, ja des ganzen Mittelmeerraumes und darüber hinaus prägen sollte, bleibt von diesen historischen Details gänzlich unberührt. Das hauptsächliche Anliegen der Darlegungen dieses Beitrages war aber aufzuzeigen, dass die von Konstantin inaugurierte und wirkungsmächtig in Gang gesetzte christliche Verehrung der Heiligen Stätten, ja die Entdeckung der Heiligkeit von Orten und von kirchlichen Kultorten, Kirchen, insgesamt, einer persönlichen Religiosität des Kaisers entsprang, die zugleich tief in paganen Vorstellungen wurzelte, mithin auf Prägungen, die Konstantin weit vor seiner Zuwendung zum Christentum erfahren hatte. Dass jene Prägungen nun, im 4. Jahrhundert, auch atemberaubende Wirkungen auf die Heiligkeitsvorstellungen, Frömmigkeitsformen, Liturgie und anderes in der christlichen Kirche ausüben sollten, bedeutet weit mehr als eine Ironie der Geschichte. Mit der konstantinischen Wende trafen nicht nur unterschiedliche Vorstellungen von Heiligkeit – christliche, pagane, jüdische – aufeinander und traten nun sogar in einen verstärkten Wettbewerb. Vor allem das Christentum, jetzt auf dem Weg zur Mehrheits-, ja Staatsreligion, sah sich gefordert, sein radikal spirituelles Heiligkeitskonzept zu modifizieren, sich in seiner Umwelt populären Heiligkeitsvorstellungen – so der Sakralität von Orten – teilweise zu öffnen und überhaupt sich den stärker materiell und performativ orientierten sakralen Erwartungen seiner Umgebung nicht länger zu verschließen. Das 4. Jahrhundert ist dasjenige, in

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dem mehr als je zuvor und danach von der Kirche Vorstellungen und Praktiken akzeptiert, angepasst oder auch absorbiert werden, die in der frühen Kirche strikt abgelehnt worden waren. Konstantin, dem ersten christlichen Kaiser, kommt mit seinem bemerkenswerten religiösen Gestaltungswillen bei diesem Prozess eine oft unterschätzte Rolle zu. Denn es sind nicht zuletzt seine religiösen Initiativen, vor allem sein kirchliches Bauprogramm, die in mehrfacher Hinsicht traditionelle religiöse Vorstellungen transportierten, von den Bischöfen der Kirche aber aus sehr unterschiedlichen Motiven dennoch akzeptiert oder hingenommen wurden. Diese Initiativen schufen im Besonderen die Voraussetzung dafür, dass vom nunmehr Heiligen Land atemberaubende Entwicklungen ausgehen konnten, welche die Kultur der christlichen Frömmigkeit tiefgreifend verändern sollten.

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Abkürzungen RIC = Bruun, Patrick / Sutherland, Carol H. V. / Carson, R. A. G., The Roman Imperial Coinage. Constantine and Licinius: AD 313–337 (The Roman Imperial Coinage VII), London 1966. GCS = Die Griechischen Christlichen Schriftsteller der ersten Jahrhunderte

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Entlegene Orte Mönche, Einsiedler, Heilige und ihr Publikum

Michael Grünbart (Münster)

Im Folgenden wird ein Ort behandelt, der paradigmatisch für viele christlich geprägte Wallfahrtsstätten und Pilgerzentren im östlichen Mittelmeerraum steht. Es geht hier nicht um Jerusalem oder Abu Mina in Ägypten, sondern um Qal’at Sim’an („Festung des Symeon“). Qal’at Sim’an liegt im nordsyrischen Kalksteinmassiv, einer Kulturlandschaft, die nicht nur in der Spätantike ein politischer Spielball zwischen dem römischen Reich und Persien war, sondern auch im Hochmittelalter und danach stets eine Zone von Interessenskonflikten darstellte.1 Die gebirgige Region dehnt sich über etwa 140 km von Norden nach Süden aus und liegt parallel zur Mittelmeerküste. Im Westen ist sie begrenzt durch die Ebene des Flusses Orontes, im Osten fällt sie sanft in das innere Plateau Syriens ab. Das Massiv erhebt sich etwa 400 bis 500 m über den Meeresspiegel, einige Berggipfel ragen mehr als 800 m hoch. Den visuellen Eindruck des Landes prägt der rote zerbröselnde Kalkstein. Es herrscht großer Wassermangel, und man stößt auf keine Flüsse oder Seen: Immerhin fällt so viel Regen, dass das kostbare Nass in Zisternen gespeichert werden konnte. Die heutige Situation dürfte sich nicht wesentlich von der Spätantike unterschieden haben. Der Reichtum der Region speiste sich vor allem aus den Ölbaumkulturen. Bekannt ist die Gegend durch etwa 120 spätantike Siedlungen, die in der Fachliteratur als „Tote Städte“ bezeichnet werden.2 Diese weisen überraschend intakte Bauensembles auf. Die Gebäude, die oft mehrgeschossig erhalten geblieben sind, wurden aus dem lokalen Kalkstein mörtellos aufgezogen. Inschriften zeigen, dass die Region vom 1. Jahrhundert bis in die Jahrzehnte vor der arabischen Eroberung im 2. Viertel des 7. Jahrhunderts prosperierte. Die Siedlungen wurden aber nicht zerstört, sondern im Laufe des 8. Jahrhunderts nach und nach verlassen. Bevor der Ort Qal’at Sim’an, seine Besonderheit sowie die dort entstehende Erinnerungskultur diskutiert werden sollen, wird eingangs auf zwei wesentliche

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Einen breiten Überblick bieten Ruprechtsberger 1993 und Peña 1997. Strube 1996; Foss 1996, 48–53.

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Michael Grünbart

Erscheinungen im Umgang mit dem Heiligen hingewiesen, die man im 4. Jahrhundert fassen kann. Das Heilige und die Einstellung zur Körperlichkeit Im frühen Christentum legte man ursprünglich wenig Wert auf heilige Orte, was sich aber durch seine Duldung – ab 313 – schlagartig zu ändern, wenn nicht gar gefördert zu werden schien. Kaiser Konstantin, ab 324 Alleinherrscher über das römische Reich, ließ Bauten an wichtigen heilsgeschichtlichen Orten errichten, z. B. in Jerusalem die Grabeskirche.3 Der sofort einsetzende Pilgertourismus, der mit der Ausbreitung der Helenalegende angeheizt wurde,4 reflektiert den Wunsch, biblische Orte in Augenschein zu nehmen und aus der Nähe erleben zu können.5 Gleichzeitig wird das Bedürfnis sichtbar, die Heilsgeschichte zu historisieren und damit greifbar zu machen. Es gibt Berichte davon, dass Pilgerinnen und Pilger die Heiligen Schriften gleichsam als Reiseführer benutzten.6 Die zweite Frage kreist darum, was von den Christen überhaupt verehrt wurde oder angebetet werden durfte. Ein wesentlicher Unterschied der neuen Religion zu paganen Glaubensströmungen bestand ja darin, alles Statuenhafte und Bildhafte (= Götzenhafte) abzulehnen, ja sogar zu verdammen. Im frühen Christentum bediente man sich bildhafter Zeichen (z. B. der Fisch als Symbol für Jesus Christus), die zwei Funktionen ausübten: Einerseits war man durch diese Kodierung geschützter vor Verfolgung, andererseits konnte man dadurch der Frage nach Darstellbarkeit oder Undarstellbarkeit des Göttlichen ausweichen. Trotzdem fanden christliche Themen im Römischen Reich schon vor dem Jahr 312 (Schlacht an der Milvischen Brücke zwischen Konstantin und Maxentius) Verbreitung: In den Katakomben Roms etwa oder der ältesten bekannten christlichen Kapelle (1. Hälfte 3. Jahrhundert) in Dura Europos (Ostsyrien) stieß man auf Malereien biblischen Inhalts.7 Wie pragmatisch die Bildervorschriften in anderen Religionsgemeinschaften umgangen wurden, zeigt die Synagoge am selben Ort: Alttestamentliche Freskenzyklen wurden trotz des jüdischen Bilderverbotes angefertigt und überdauerten nahezu unbeschadet die Zeiten.8 Eusebios von Kaisareia, Kirchenschriftsteller und Biograph Kaiser Konstantins des Großen, sprach sich gegen die Anbringung von Bildern der Apostel und

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Corbo 1998. Siehe auch den Beitrag von Johannes Hahn in diesem Sammelband. Drijvers 1997; und besonders Drijvers 1992. Helena, die Mutter Kaiser Konstantins, bereiste das Heilige Land und entdeckte das Kreuz Christi („Wahres Kreuz“). 5 Mango 1995. 6 Allgemein Kötting 1980. 7 Gutmann 1992. 8 Steinlauf 2004. 4

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Entlegene Orte

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Christus im Kirchenraum aus.9 Die restriktiven theologischen Meinungen konnten sich jedoch nicht durchsetzen und die Gotteshäuser erhielten zunehmend prachtvolle Ausstattungen, die in nichts antiken Kultstätten nachstanden. Dieser Aufwand diente natürlich auch dazu, die Christengemeinden in Glaubensdingen einprägsam zu unterweisen und die kirchliche Macht zu visualisieren. Eindrucksvoll präsentiert sich noch heute die Mosaikausstattung des Baptisterium von San Vitale (Ravenna) aus der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts.10 Die zunehmende Verehrung des Bildes wird ab dem Beginn des 8. Jahrhunderts zum theologischen Problem in der Orthodoxie, welches erst mehr als 100 Jahre später gelöst werden konnte, wobei die Vermittlerfunktion jeglicher bildlichen Darstellung betont wurde.11 Wie verhielt sich die neue Religion zum toten Körper und zum Körperlichen? Was sich in der christlichen Glaubensrichtung sofort abzeichnete, war die Wichtigkeit des Habhaftwerdens von Reliquien, Resten von heiligen Männern und Frauen, Märtyrerinnen und Märtyrern, was einen grundsätzlichen Bruch zu traditionellen Sepulkralbräuchen und -bestimmungen darstellte, denn die sterblichen Überreste mussten nach antiken Vorstellungen sofort bestattet werden und durften keineswegs verlagert oder gar berührt, ausgestellt und verehrt werden.12 Verehrt wurden allerdings die Grabstätten, die jedoch im Allgemeinen nicht zugänglich waren. In Ägypten kam es zu einer Kollision von Vorstellungen in der Spätantike: Nach wie vor spielte bei den Kopten die Mumifizierung von toten Körpern eine große Rolle, was aber in der gnostischen Schriften aus Nag Hammadi negativ bewertet wird.13 Die Dynamis (Kraft) eines Heiligen, Märtyrers oder Thaumaturgen (Wundertäters) wirkte auch noch nach seinem Tode weiter – der anglo-kanadische Wissenschaftler John Wortley hat das mit der Radioaktivität verglichen, die sowohl nahezu ewig nachstrahlt als auch in jedem Teilchen die volle Wirkungskraft entfaltet.14 Auf der anderen Seite tritt mit dem Christentum eine zunehmende Distanzierung zum Körper und Körperlichen in Erscheinung, das Leugnen körperlicher Bedürfnisse zählt auf einmal zu den höchsten Tugenden, was den Weg zum Heil befördert und im besten Fall zur Gottesschau führt.

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Siehe dazu Gero 1981; Thümmel 1984. Angiolini Martinelli 1997. 11 Einen profunden Überblick bietet Brubaker 2012. 12 Angenendt 1997, besonders Kapitel XI: Die Reliquien; zur Geschichte der Reliquien s. Toussaint 2011. 13 Dazu Fischhaber 1997. 14 Wortley 2006/2009, 6. 10

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Michael Grünbart

Formen der Askese und des Mönchtums Die Abwendung von der Welt entwickelte sich in der neuen Religion zu einem Ideal, das unterschiedlich gelebt wurde.15 Die Flucht aus der materiellen Welt und die Opposition zu körperlichen Bedürfnissen führten aus der Zivilisation in das rauhe, kaum bewohnte und bewohnbare Land, gemeinhin Wüste genannt. Ägypten entwickelte sich zu einem Raum mit mönchisch geprägten Landschaften, wobei man hier grundsätzlich zwischen dem Gott gewidmeten Leben Einzelner und Gemeinschaften von Mönchen unterscheiden kann. Die Einzelaskese (Anachorese) steht dem Gruppenleben (koinobitischen Leben) gegenüber.16 Was sich vor allem in der hagiographischen und kirchenhistorischen Literatur niederschlug, war die Wichtigkeit der Darstellung des exzeptionellen, einfachen und selbstkasteienden Lebens. Es schien geradezu ein Wettstreit hinsichtlich der Askesepraktiken zu herrschen: Einmauern, Eingraben, Hungern, Schlafentzug etc.17 Als die Spitze der Übungen wurde das Stylitentum, d. h. das Stehen/Leben auf einer Säule oder einer erhöhten Plattform, angesehen. Diese Form der Askese war ab dem 4. Jahrhundert besonders in Syrien verbreitet,18 die sich rasch in der ganzen christlichen Welt herumsprach, ungläubiges Staunen hervorrief und den Praktizierenden zu dem „holy man“ par excellence stilisierte.19 Styliten und Stylitinnen (es gibt auch Frauen) – hin und wieder nennt man sie auch „Säulige“ – genossen höchste Bewunderung und besaßen Autorität; diese extremste Form von Askese verwirklicht die stabilitas loci, also Ortsgebundenheit, in drastischer Weise.20 Schon die Pilgerin Egeria schreibt in ihrem Reisebericht, der zwischen 381– 384 entstanden ist, Folgendes: Als wir in Harran (= Karrhai, im Norden Syriens) waren, „trafen wir es über Erwarten günstig, daß wir die sowohl wahrhaft heiligen Gottesmänner, die mesopotamischen Mönche, dort sahen, als auch diejenigen, deren Ruhm und Lebensweise weithin erschallt; ich hätte es niemals für möglich gehalten, sie sehen zu können, nicht als ob es Gott unmöglich gewesen wäre, mir auch dieses zu gewähren, (er gewährte mir ja alles andere), sondern weil ich hörte, daß sie außer an Ostern und an diesem Tag (dem Fest des hl. Elpidius am 23. April) nicht von ihren ‚Aufenthaltsorten‘ herabsteigen, wie sie solche 15

Röcke 2010. Goehring 1999. 17 Markschies 2004. 18 Lafontaine-Dosogne, 1967; Peña u. a. 1975; Peña 2000, 94–101 (Qal’at Sem’an: Saint Siméon Protostylite). Grundlegend Schachner 2010 (mit Inventar). 19 Kötting 1953; Renger/Stellmacher 2012. „Holy man“ ist der Fachterminus, der seit Peter Brown für den spirituell wirkenden, göttlich inspirierten Wundertäter verwendet wird; bequem zugänglich auch auf Deutsch, Brown 1998. 20 Zu Mönchtum und Autorität s. Caner 2002. 16

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Entlegene Orte

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Menschen sind, dass sie viele Wunder wirken – und weil ich nicht wußte, in welchem Monat der genannte Gedächtnistag lag.“21

Styliten wurden lebende Volksheilige, zogen Scharen von Schaulustigen und Ratsuchenden an, galten mehr noch als die „reinen“ Wüstenheiligen.22 Auch im Westen war ihr Wirken gut bekannt, da früh Berichte von Reisenden wie eben Egeria und Übersetzungen der Viten von Heiligen ins Lateinische dorthin gelangten. Es dürfte auch nicht an Nachahmungsversuchen gefehlt haben. Gregor von Tours schreibt im 6. Jahrhundert, dass der Langobarde Wulflaich in den Ardennen eine Säule besteigen wollte; die Bischöfe der Gegend stimmten dagegen und begründeten ihre Entscheidung damit, dass das raue Klima eine solche Lebensweise, wie sie in Syrien möglich ist, nicht zulasse.23 Die Styliten kann man zahlenmäßig fassen: Im 5. Jahrhundert sind sechs belegt, im 6. Jahrhundert 29. Auch in dem Gesandtschaftsbericht Karls des Großen von 809 sind Styliten im Heiligen Land verzeichnet,24 bis ins 19. Jahrhundert hat man Nachrichten von 84 Styliten, darunter auch zwei Frauen. Styliten gründeten keine Gemeinschaften, sondern gaben ihr Wissen an einzelne Schüler weiter. Nicht zu übersehen ist, dass bei all diesen Praktiken dem Publikum eine wichtige Rolle zukam, ein Stylit zog Leute an – David Frankfurter spricht von „magnetic cult and attraction“ – ein Säulenheiliger lebte von seiner Interaktion mit den Zuschauern.25 Um diese Attraktion zu veranschaulichen, genügt ein Blick in die moderne Aktionskunst: Explizit auf das spätantike Phänomen bezieht sich der amerikanische Künstler David Blaine in seiner New Yorker Performance, die hunderte Schaulustige anzog.26 Die Figur des Styliten taucht auch in Luis Buñuels Film „Simón del desierto“ auf (1965).

21

Egeria Itinerarium 20,6 (Übersetzung Röwekamp 2000). Brennecke 2002. 23 Greg. Tur. Franc. 8,15 (Edition Krusch/Levison 1951 [1993]). 24 McCormick 2011. 25 Frankfurter 1990. 26 Im Mai 2002 bestieg David Blaine in New York eine 30 m hohe Säule, auf der sich eine Plattform mit 55 cm im Quadrat befand. Er blieb dort 35 Stunden ohne Verpflegung stehen und sprang dann in einen Berg von Pappkartons. – Die Aktion hieß Vertigo und der Künstler formulierte: „The idea for this challenge dates back to the 5th century. There is a group of ascetics called Stylites or pillar-hermits. The most famous one was San Simeon. The Stylites stood on pillars as an act of protest against the decadence of their time. San Simeon believed this brought him closer to God.“ Diese Performance ist anzusehen unter: http://www.davidblaine.com (Zugriffsdatum: 08.09.2016). 22

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Ursprünge des Stylitentums / Der syrische Kontext Man hat sich öfters die Frage gestellt, woher diese besondere religiöse Praxis herstammen könnte, die immer noch Faszination ausübt. Ist es eine spontane Erfindung oder wirken hier andere Vorstellungen weiter? Wird etwas überdeckt? Einen Erklärungsversuch scheint Lukian, Schriftsteller des 2. Jahrhunderts, zu bieten, der auch Syrien bereiste und ein Werk über die syrische Göttin schrieb. Er besuchte den Tempel der Atargatis/Dea Syria (mit Aphrodite verglichen) bei Hierapolis, etwa 180 km östlich von Antiochia am Orontes entfernt und somit gar nicht so weit weg vom Aufenthaltsort unseres Heiligen. Er beschreibt den Tempel der syrischen Göttin und den dort stattfindenden Gottesdienst: „Der Platz, wo der Tempel situiert ist, ist ein Hügel. Er liegt in der Mitte der Stadt, und zwei Mauern umgeben ihn. (…) Die Propyläen des Tempels gehen Richtung Norden, die Höhe beträgt etwa 100 Ellen. Innerhalb der Propyläen sind die Phalloi, die Dionysos errichtet hat, sie sind 300 Ellen hoch. Einer dieser Phalloi wird zweimal im Jahr von einem Mann bestiegen, der dort sieben Tage lang lebt. Der Grund für seinen Aufstieg scheint folgender zu sein: Die meisten Leute denken, dass er dort oben mit den Göttern kommuniziert und um Segen für ganz Syrien bittet, und sie hören seine Gebete aus der Nähe. Andere glauben, dass es für das Heil Deukalions sei, im Gedenken an das Unglück, als die Menschheit in das Gebirge stieg und auf die höchsten Bäume aus Angst vor den Wasserfluten. Mich überzeugt das auch nicht. Ich glaube, dass das ebenfalls zu Ehren des Dionysos gemacht wird, und ich schließe es aus dem folgenden. Alle, die Phalloi für Dionysos errichten, platzieren hölzerne Figuren auf die Spitze dieser Phalloi, aus welchem Grund vermag ich nicht zu sagen. Aber ich glaube, dass der Mann in Anlehnung an diese hölzerne Figur auf den Phallos steigt. Der Aufstieg funktioniert folgendermaßen: Er umschling sich und den Phallos mit einem Seil, dann klettert er auf Holzstückchen, die an den Phallos im Abstand von einem Fuß genagelt sind, hoch. Wenn er hoch steigt, reißt er das Seil (abrupt) nach oben wie ein Wagenlenker. Wenn man das niemals gesehen hat, aber das Besteigen von Dattelpalmen in Arabien oder Ägypten oder sonst wo, dann weiß man, wovon ich spreche. Wenn er den Endpunkt seines Aufstiegs erreicht hat, dann wirft er ein anderes Seil ab, das er mit sich gebracht hat, dieses Mal ein langes, und er zieht hoch, was er wünscht, Holz und Kleidung und Ausrüstung, womit er sich einen Sitz wie ein Nest baut und darinnen sitzt; und er bleibt dort die Anzahl von Tagen, die ich erwähnte. Viele Besucher geben Gold, Silber oder Bronzemünzen in einen Korb, der vor dem Phallus steht, jeder nennt dabei seinen Namen. Ein Helfer, der daneben steht, ruft den Namen hinauf. Wenn er den Namen hört, macht er für den betreffenden ein Gelöbnis und wenn er betet, schlägt er einen Bronzegegenstand welches laut und schrill tönt, wenn es geschlagen wird. Er schläft nicht, denn wenn sich Schlaf seiner bemächtigte, dann kletterte ein Skorpion die Säule hinauf, weckte ihn auf und täte ihm ein Unheil an: So ist

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die Bestrafung, wenn er in Schlaf fällt. Ihre Geschichte über den Skorpion ist heilig und gottgefällig, aber ich kann nicht sagen, ob sie wahr ist. Ich dachte, dass auch die Angst runterzufallen, dazu beiträgt, nicht einzuschlafen.“27

Lukian verwendet den Terminus „Phalloi“ für die Säulen, wobei hier Ironie durchklingen mag: Lukian kommt auf die Bezeichnung, da der Tempel mit Dionysos in Verbindung steht.28 Die Ähnlichkeiten mit den Askese praktizierenden Männern 200 Jahre später sind frappant, nicht nur die Form des Lebens auf der Säule – hier zeitlich begrenzt – und die Vermittlerrolle zwischen Göttlichem und Irdischem. Möglicherweise blieb dies im Gedächtnis der Bevölkerung,29 doch hat David Frankfurter, der die „Stylite continuity“ umfassend diskutierte, auch andere Lösungsmöglichkeiten geboten. Nochmals sollen die drei Punkte angeführt werden, die man sich als mögliche Parallelen zu der Praxis des in Bälde auftretenden Symeon Stylites, dessen im katholischen und koptischen Kalender am 27. Juli und in der Orthodoxie am 1. September gedacht wird,30 sehen kann: a) Der Säulenbesteiger frönt einem gewissen Asketismus, wenngleich von viel kürzerer zeitlicher Dauer (sieben Tage gegen einen unbegrenzten Zeitraum); b) die Beziehung zwischen dem Ritual und einem allgemeinen Interesse sind fassbar, die Motivation und das Anliegen des Säulenbesteigers sind Gebete für die Besucher und ganz Syrien, wobei eine Gebühr entrichtet wird; c) der Kletterer, der bei Lukian nicht als Priester (hiereus) oder heiliger Mann bezeichnet wird, also nicht zum Personal des Tempels gehörte, wirkt als Vermittler.31 Aber einige große Unterschiede bestehen: Bei Symeon sind es asketische Gründe, die den Ausschlag für die Weltflucht geben; das Verweilen auf einem kleinen Platz erschwert die Lebensführung. Ein Gegenargument für die Kontinuität ist auch, dass die Quellen des 5. Jahrhunderts betonen, dass Symeon hier innovativ war; pagane Praktiken werden nicht erwähnt oder in Misskredit gebracht, wie dies in anderen Fällen öfters vorkommt.32 David Frankfurter macht vielmehr darauf aufmerksam, dass auf der gesamten arabischen Halbinsel Steindenkmäler, heilige Steine und auch Säulen kultische Bedeutung hatten (in diesem Zusammenhang sei an die Kaaba in Mekka erinnert, wo der schwarze Stein nach wie vor als Kultstein verehrt wird, was auch in dieser

27

Lukian. De Dea Syria 28–29 (Übersetzung Clemen 1938; vgl. auch Lightfoot 2003). Frankfurter 1990, 170. 29 Brown 1998, 91. 30 Der 1. September ist der Beginn des orthodoxen Kirchenjahres: Das zeigt die Bedeutung dieses Heiligen! 31 Frankfurter 1990, 171. 32 Frankfurter 1990, 175. 28

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Tradition steht).33 In diesem geographischen Raum existierte ein buntes Gemisch religiöser Vorstellungen und Traditionen. Stelen/Säulen (baitylia/baityloi) mit Mondsicheln an den Enden findet man schon auf frühen Zylindersiegeln; sie stellen eine Gottheit dar, die nicht dargestellt wird oder werden soll. Auf Steinreliefs sind solche Säulen abgebildet (z. B. im Tempel der Atargatis in Dura Europos).34 Noch Jakob von Sarug, der syrische Kulte im 6. Jahrhundert beschreibt, macht auf die Wichtigkeit der Heiligkeit hoher Plätze, wo solche Säulen oder Steine deponiert sind, aufmerksam; dort wurden Opfer gebracht und der Kontakt mit der Götterwelt hergestellt.35 In Syrien gab es früh christliche Zentren, die umfassende Christianisierung blieb jahrhundertelang aber auf die urbanen Zentren beschränkt. Früh verwahrten Orte auch besondere Heiltümer bzw. Reste des Christentums. Ja, die Historisierung und Verortung des Glaubens scheint einer der wichtigsten Prozesse in der Genese des spätantiken Christentums zu sein. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an Antiocheia am Fluß Orontes, wo es zur ersten Translation von Reliquien eines Heiligen kam. Babylas störte die Orakelstätte in Daphne, so dass Kaiser Julian 362 verfügte, die Gebeine des Heiligen umbetten zu lassen. Antiocheia war die wichtigste Reliquienstadt nach Rom – alle Heiligen waren hier vertreten: Phokas, Thekla, die 40 Märtyrer, Sergios, Menas, Euphemia, Antiochus, die sieben makkabäischen Brüder und so fort. In diesem Raum spielte sich auch die berühmte Abgarlegende ab, die sich mit der ostsyrischen Stadt Edessa, heute Urfa, verbindet, wo ein Abdruck des Antlitzes Christi aufbewahrt wurde, also eine Berührungsreliquie des Heilands. Abgar war der erste – legendäre – christliche König in der Region. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass der syrische Raum bis weit ins 6. Jahrhundert keineswegs ein religiös homogener, christianisierter Raum war. Dieser Abdruck Christi, in byzantinischen Quellen Mandylion genannt, gehört bis heute zu den eindrücklichsten Zeugnissen christlicher Reliquienverehrung.36 Besonders im nordsyrischen, ländlich geprägten Siedlungsraum (mit vielen Dörfern) hielten sich pagane Traditionen bis weit ins 6. Jahrhundert, wie anhand von Heliopolis/Baalbek demonstriert werden konnte. Noch unter Kaiser Tiberios II. (572–582), also nach Justinian, waren die Christen eine Minderheit dort! Durch die Gegend liefen wichtige Handelsrouten vom Zweistromland zum Mittelmeer, auf die arabische Halbinsel und nach Armenien.

33

Wheeler 2006. Lightfoot 2003, 53 (Abb. 23); Hutter 1993. 35 Martin 1875; vgl. Frankfurter 1990, 182–183. 36 Siehe allgemein Wolf u. a. 2004; Calderoni Masetti u. a. 2007. 34

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Symeon Stylites der Ältere Der berühmteste Säulenheilige ist Symeon der Ältere, der im Folgenden exemplarisch vorgestellt werden soll:37 Über das Leben des Heiligen, der als Archeget einer neuen Askesepraxis gilt, ist man gut unterrichtet, da Theodoret von Kyrrhos, ein zeitgenössischer Freund des Asketen, in seiner Geschichte der Mönche von Syrien, verfasst 444 – also etwa 15 Jahre vor dem Tode Symeons –, darauf eingeht und nach Symeons Tod auch eine Vita auf Altsyrisch geschrieben wurde (um 470).38 Geboren wurde Symeon etwa 388 in einem Dorf bei Nikopolis im südlichen Kleinasien. Er ging früh in seinem Leben zu Asketen, nach zwei Jahren trat er um 402 in ein Kloster bei Teleda ein (Tell’Ade im Gebel Sim’an), wo er etwa zehn Jahre verbrachte, 412 zog er nach Telannisos (Telneschin) weiter (zwölf Stunden mit dem Pferd von Antiocheia entfernt), wo er drei Jahre in einer Klostergemeinschaft lebte, hielt es dort aber nicht aus oder umgekehrt, die Gemeinschaft ertrug die extremen Praktiken Symeons nicht. Er stand während der Fastenzeit aufrecht, fastete wochenlang (40 Tage), kniete ununterbrochen und ließ sich fesseln; angeblich war er zwei Jahre lang bis zur Brust eingegraben, hängte sich nachts einen Stein um den Hals, um den Schlaf zu bezwingen. Dies führte zu einem veränderten Körperbewusstsein und zu erweiterten Sinneszuständen. Das Kloster verließ er nach drei Jahren, da sein Auftreten „gemeinschaftssprengend“ wirkt; er stieg auf einen Berg nahe Telannisos, wo er von einem Priester Daniel ein Grundstück geschenkt erhielt – dort errichtete er ein Mauerrund ohne Dach, den Hügel verließ er für den Rest seines Lebens nicht mehr. Symeon wurde von Visionen heimgesucht, ein Mann mit einem Feuergesicht erschien ihm. Dieser entspricht Engeln im Alten und Neuen Testament, wo diese mit Lichtattributen ausgestattet sind. Engel dienen dazu, zu zeigen, wie Gott gepriesen werden soll. Symeon wird von Engeln angewiesen, während des Gebets die Hände hinter dem Rücken zu falten, sich zu bücken, sich nach einiger Zeit wieder aufzurichten und seinen Blick sowie seine Hände gegen den Himmel zu strecken – er erhält also Anweisung und Initiation in eine Körperpraxis zum Zwecke der Vervollkommnung. Engelsgestalten umgeben oft die Asketen, die eine vita angelica führen.39 Wenn diese Wesen nachgeahmt werden, dann bedeutete dies, den Bereich des Menschlichen zu übertreffen und zu verlassen, was wiederum große Bewunderung generierte.

37

In Syrien findet man an vielen Stellen Reste von Säulen, die von Mönchen benutzt wurden, siehe Schachner 2010. 38 Canivet/Leroy-Molinghen 1979, 158–215; Gutberlet 1926, 156–170. 39 Nach Mt 22,30: Die Auferstandenen seien wie die Engel.

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Symeon stand also dort und bewegte sich niemals von seiner Stelle. Er erregte rasch Aufsehen bei der Bevölkerung, denn der Ort war gut gewählt: Eine Handelsstraße führte in Wurfweite an dem Platz des Asketen vorbei. Mit einer 20 Ellen langen Kette ließ er sich zunächst an den Felsen schmieden. Darauf verzichtete er wieder, als ihn der Bischof Meletios kritisierte, der meinte, für einen Asketen müsse allein der Wille ausschlaggebend sein, um seinen Ort nicht zu verlassen. Die Reaktion des Heiligen folgte prompt: Er stellte sich auf einen zwei Ellen hohen Stein mit etwa 130 cm hoher Brüstung an jeder Seite – fünf Jahre verbrachte er darauf und folgte dem Ideal der stabilitas loci. Dieses Podest wurde nach und nach erhöht, da er zunehmend von Schaulustigen und Pilgern bedrängt wurde. Diese wollten in direkten Kontakt zu ihm treten, man zupfte Haare aus seinem Fellgewand, alles was er berührte, war heißbegehrt, sogar die Linsen, die er von seinem Mahle übrigließ, wurden als Eulogien (Segenspruch, dann heilige Andenken) verteilt.40 Allmählich bildete sich eine Säule, die etwa 20 Meter hoch war. Die Plattform dürfte knapp zwei Quadratmeter groß gewesen sein, allerdings hatte diese nach wie vor eine Brüstung, was man auch in den vielen Darstellungen des Styliten erkennen kann. 41 Über eine Leiter wurde die Grundversorgung sichergestellt. Über die Hygieneverhältnisse ist nur wenig bekannt.42 Theodoret von Kyrrhos schreibt, dass Symeon an Festtagen die ganze Nacht hindurch mit erhobenen Händen stand, ohne vom Schlaf bezwungen zu sein. Nachdem er zunächst 40 Tage lang ohne Nahrung an einem Balken auf der Säule festgebunden gestanden hätte, habe er es später geschafft, ohne Hilfsmittel Askese zu betreiben. Eine Novität kreierte der erfindungsreiche Asket, in dem er Stehen mit Verbeugungen kombinierte: Beim Bücken neigte er die Stirn bis zu seinen Zehen – ein Pilger zählte einmal bis 1244, dann hörte er aus Ermüdung auf. Wenn man die Berichte über den Heiligen zusammennimmt, dann lassen sich einige Gemeinsamkeiten erkennen: 1) Seit frühester Jugend an wurden die Praktiken von Gott vermittelt, 2) das Niveau des Könnens steigerte sich durch beständige Wiederholung und erhöhte Anforderungen, 3) das Verhältnis zu Gott wurde verstetigt und der Heilige gegen Satan immunisiert. Theodoret spricht in seiner Beschreibung des Heiligen von theama43 – Schauspiel – die Askese hat also auch besonders performativen Charakter. Theodoret von Kyrrhos (gest. 458) schrieb:

40

Überblick bei Stuiber 1966; Wessel 1971. Rekonstruktion bei Schachner 2010, 352. 42 Siehe aber Caseau 2005. 43 Theodoret von Kyrrhos, Historia religiosa 26,12,38.40 (Edition, Übersetzung ins Französische und Kommentar s. Canivet/Leroy-Molinghen 1979). 41

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„Nicht nur die Bewohner unseres Landes drängen sich dort zusammen, sondern auch Ismaeliten, Perser, und die von ihnen unterjochten Armenier, Iberer, Homeriten und Völkerschaften, die noch weiter im Innern wohnen. Es kommen auch viele vom äußersten Westen, Spanier und Briten und Gallier. Von Italien brauchen wir gar nicht zu sprechen. Denn so berühmt soll der Mann in dem großen Rom sein, dass man in allen Vorräumen der Werkstätten kleine Bilder von ihm aufgestellt hat zur Übelabwehr und als Schutzmittel.“44

Der heilige Mann zog also Leute unterschiedlichster Herkunft und sogar anderer Religionen an, wobei man sich nicht des Eindrucks erwehren kann, dass seine körperliche Leistung mehr zählte als die Verbreitung der christlichen Lehre. Der Säulenheilige als lebende Ikone In der Erforschung der Heiligenlegenden werden oft Vergleiche mit der Ikonenmalerei eingeführt, bzw. sprechen die Texte selbst eine solche Sprache: Stehen war wie Schweigen; Psalmensingen, Fasten und Nachtwache eine gängige asketische Tradition – dass Symeon immer besser und geübter wurde, wird als Zunahme von Standhaftigkeit gewertet. Symeon übertrumpfte die gestorbenen Heiligen, da er noch lebte! Er übertraf die Strenge des Fastens hinsichtlich Moses und Elias, ja sogar Jesus. Symeon war größer als Petrus und Paulus, da er nicht auf der Erde wandelte und predigte, seine Gebete wirkten überall Wunder. Um die Säule organsierte sich der Wallfahrtsbetrieb. Man kam einzeln oder in Prozessionen zu dem Ort – man holte Rat ein, ersuchte um Heilung von Krankheiten und Gebrechen; Fürbitten in Zeiten von Dürre. Symeon wirkte nun auch als Thaumaturgos (als Wundertäter), sein Ruhm drang weit über Syrien hinaus.45 Symeon wurde auch als Experte in religiösen Dingen befragt, öfters kamen kaiserliche Gesandtschaften zu ihm, die Rat suchten. Man darf nicht vergessen, dass 451, also acht Jahre vor seinem Tod, das Konzil von Chalkedon stattfand. Die Heiligkeit des Ortes Die Besucher des Ortes wollten sich etwas von ihrem Eindruck bewahren und nahmen dankbar etwas mit: etwa Erde von seinem Standort. Oft wurde diese mit Wasser vermischt und mit Stempelabdrücken versehen. An vielen Wallfahrtsorten etablierte sich eine florierende Andenkenproduktion.46 Die Pilgerinnen und Pilger konnten einfache Tonabdrücke, Flaschen, Lampen, Metallplättchen etc. mit nach Hause nehmen. Staub wurde geformt und mit einem Kreuz bestempelt, bald 44

Theodoret von Kyrrhos, Historia religiosa 26,11 (Edition, Übersetzung ins Französische und Kommentar s. Canivet/Leroy-Molinghen 1979). 45 Vikan 1984, 67–73. 46 Generell zu Wallfahrt und Pilgerwesen Vikan 2010.

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wurden die Stücke mit eigenen Bildmotiven geschmückt, die Rückschlüsse auf Herkunft gaben, bzw. den Pilgernden ein bildliches Andenken gaben. Besonders geschätzt wurden die Stücke, die der Heilige selbst in der Hand gehabt hatte.47 Säulenheilige findet man auf vielen Gegenständen abgebildet: Ein bekanntes Sujet ist der Heilige, der über eine Leiter versorgt wird und der von Gott inspiriert wird (dargestellt durch einen Vogel bzw. eine Taube, die einen Kranz als Siegeszeichen überbringt). 48 Tragbare Andenken waren Erdmedaillons, 49 Glasanhänger,50 Bleimedaillons,51 Fingerringe52 oder Glasgefäße.53 Als Symeon am 1. oder 2. September 459 starb, erlosch die Anziehungskraft des Ortes nicht. Um seine sterblichen Überreste entbrannte ein Streit. Der Leichnam wurde unter großem militärischen Schutz nach Antiocheia gebracht. Der Bischof von Antiocheia ließ ihn in der Großen Kirche bestatten und ihm eine eigene Kapelle errichten. Kaiser Leon I. (457–474) verfügte, Teile seiner Gebeine nach Konstantinopel bringen zu lassen (gegen antiochenischen Wunsch, da der Heilige in Antiocheia gegen Naturkatastrophen und als Schutz gegen Feinde gebraucht wurde). Welchen Stellenwert heilige Männer in dieser Zeit hatten, zeigt das Beispiel des Daniel Stylites (ca. 409–493), der in Syrien sozialisiert ab etwa 460 in Anaplus bei Konstantinopel auf einer Säule lebte und von dort aus auch den Kaiser beriet. Als strenger Miaphysit beeinflusste er Leon I. gegen den alanisch/ostgotischen Heermeister Aspar sowie seine Söhne Patricius und Ardabur, die 471 während eines Gastmahls niedergemacht wurden.54 Der Kirchenschriftsteller Euagrios Scholastikos sah um 560 in Antiocheia noch das Haupt des Heiligen Symeon, wunderte sich, dass nur einige wenige Zähne fehlten, die Verehrer mitgenommen hatten.55 Auch die Kette des Heiligen, die er um den Hals hatte, war noch dort zu sehen.56

47

Vikan 2010, 56–58. Zum Beispiel Ruprechtsberger 1993, 421 Nr. 49 (Steinrelief aus Hama); Wamser 2004, Nr. 296: Basaltrelief aus Berlin (SBM inv. 9/63) und Nr. 297: Kalksteinrelief; auf Silberblechen in Tiflis und Paris siehe Vikan 2010, Abb. 32 und 52. 49 Ruprechtsberger 1993, 422–423, Nr. 50–52; Wamser 2004, Nr. 298–303. 50 Wamser 2004, Nr. 304–307, vier Glasanhänger. 51 Wamser 2004, Nr. 310 und Nr. 311. 52 Wamser 2004, Nr. 309. 53 Wamser 2004, Nr. 308; das flaschenförmige Objekt besteht aus honiggelbem und blauem Glas, auf allen Seitenwänden sind abstrahierte Säulendarstellungen. 54 Kolditz 2013. 55 Whitby 2000, chap. I 13. 56 Whitby 2000, ebenda. 48

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Qal’at Sim’an (Felsen Symeons) Nicht nur die sterblichen Überreste, auch die Orte, an denen die heiligen Männer wirkten, wurden verehrt und pilgermäßig besucht, bei Symeon dem Älteren änderte die Tatsache, dass seine Gebeine nach Antiocheia und Konstantinopel überführt wurden nichts daran, dass er an seinem Wirkungsort weiterhin verehrt wurde. Das Besondere bei diesem Kult ist, dass sich ein Ort, insbesondere die Säule des Heiligen, weiterhin als Anziehungspunkt hielt. Wahrscheinlich auf Initiative des Kaisers Zenon (475–492), der aus dem südöstlichen Kleinasien stammte und auch durch das Wirken Daniel Stylites mit der Geschichte Symeons wohl vertraut gewesen sein dürfte, wurde eine gewaltige Pilgerkirche und ein Baptisterium um die Säule herum gebaut (Qal’at Sim’an = die Festung Symeons) – die Anlage gehört zu den größten Baudenkmälern der Spätantike, von dem auch noch Reste erhalten geblieben sind. Man kann aufgrund der Reste die Konzeption des Ortes gut rekonstruieren – vor allem die Dimensionen lassen staunen.57 Die Anlage kann nur durch zentrale, kaiserliche Unterstützung errichtet worden sein und ist ein Zeichen christlicher Dominanz. Man betrat die Anlage durch ein Tor und folgte dann einer Prozessionsstraße, um zur Säule auf dem Hügel hinaufzusteigen, die zwar unter freiem Himmel stand, aber von mächtigen Seitenschiffen umgeben war. Die Anlage bot auch den Pilgerreisenden mannigfaltige Unterkunftsmöglichkeiten. Der Ort wurde nie zerstört – es gab auch nach dem Schwinden der Bedeutung der Verkehrsverbindung und der Ausdünnung der Bevölkerung in diesem Landstriche weiterhin Pilgerbetrieb. Bis in die Gegenwart kamen auch immer wieder Nomaden an die Stelle, um den Stein zu verehren, und hier schließt sich der Kreis. Schluss Bei Symeon kann man einen Ausschnitt des religiösen Alltagslebens in der Spätantike gut fassen. Es zeigt sich, wie inhomogen die Glaubenslandschaft in dieser Zeit noch war und wie wichtig es war, Glaubensansichten zu verorten. Die materiellen und schriftlichen Zeugnisse vermitteln das Bild eines oft aufgesuchten heiligen Mannes, der ständig übte und dadurch asketisches Erfahrungswissen erzeugte – das impliziert natürlich auch das Wissen, wie Übungen durchzuführen sind, darüber hinaus den Zugang zur göttlichen Heilkraft und die Gabe der Prophezeiung. Öfters werden Konversionen zum christlichen Glauben an der Säule berichtet, was auch zeigt, dass das Christentum nach wie vor eine Option unter vielen in religiösen Dingen war. Symeon erregte primär durch seine extreme Askeseleistung Aufmerksamkeit; er wirkte als Vermittler zwischen Himmel und Erde und ihm werden auch wundertätige Fähigkeiten zugeschrieben. 57

Krencker 1939; Deichmann 1982; Sodini u. a. 2002–2003; Hadjar 2000.

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Symeon war eigentlich kein Mann des Wortes, ließ aber trotzdem täglich Rat und Unterweisung den Umstehenden/Untenstehenden zukommen, seine Grenzerfahrungen machten ihn zu einem anerkannten Experten, der auch vom weltlichen Herrscher kontaktiert wurde. Einer der Nachahmer Symeons, Daniel Stylites, ließ sich eine Säule gegenüber von Konstantinopel aufstellen – er wirkte erfolgreich als Berater von Kaiser Leon I. und Zenon, der die Säulenstätte Symeons zu einem hervorragenden Kultort ausbauen ließ (Daniel war allerdings nur 33 Jahre auf seiner Säule). Bei der Betrachtung der Heiligen auf den Säulen dürften den spätantiken Besuchern auch die Standbilder von Kaisern in den Sinn gekommen sein, die in vielen Großstädten die Plätze zierten. Der Heilige lebte auf der Säule, während das Stand- oder Reiterbild des Kaisers aus toter Materie bestand. Der Ort der Verehrung reflektiert die Dynamiken eines Wallfahrtsortes: Besuchte man ihn zunächst des lebendigen Heiligen wegen, so bewunderte man dann die Säule, die zu einer Stele wurde. Symeon stand lange Zeit aufgrund seiner asketischen Leistung als einziger Byzantiner im Guiness Book of Records, allerdings in der Rubrik pole sitting, also Pfahlsitzen, der Rekord hält nun schon 1554 Jahre!

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Entlegene Orte

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Michael Grünbart

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Byzantion – Konstantinopel – Istanbul Zur Formung eines heiligen Ortes

Georgios Makris (Münster)

Als im Juli 306 Constantius Chlorus, der Kaiser (Augustus) des westlichen Teils des Römischen Reichs, in Eboracum, dem heutigen nordenglischen York, starb und seine Truppen seinen Sohn Konstantin zu seinem Nachfolger ausriefen, war dies ein Putsch gegen das damalige System der Tetrarchie; zum Augustus durfte nur ein Caesar erhoben werden, Konstantin jedoch war dies nicht. Zudem hatte die Erhebung zum Caesar per Adoption zu erfolgen, und dies bedeutete, dass eine dynastische Thronfolge, wie die Erhebung Konstantins eine war, im System keinen Platz hatte. Dem Unterlaufen des Nachfolgesystems ließ Konstantin auf dem Weg der Stabilisierung des Reichs, wie er sie verstand, d. h. auf dem Weg zur Alleinherrschaft einschließlich der Durchsetzung des dynastischen Prinzips, weitere Schritte folgen: Um sich von seinen damaligen Mitherrschern zu distanzieren, setzte er sich von den Christenverfolgungen ab; er beseitigte dann seine Mitherrscher einen nach dem anderen; er wandte sich dem Eingottglauben zu, dem die Zukunft zu gehören schien und den er als Voraussetzung für ein religiös einheitliches und damit befriedetes Reich ansah; er integrierte das sich trotz Verfolgungen ausbreitende Christentum; er baute schließlich zwischen 324 und 330 Byzantion zur Kaiserstadt Konstantinopel auf. Ob es sich bei Konstantinopel zunächst um ein „neues“ oder um ein „zweites Rom“, ob es sich um die neue Haupt- oder um eine kaiserliche Residenzstadt handelte, sei dahingestellt. Vom Resultat her war Konstantinopel die Kaiserstadt par excellence der anbrechenden Zeit des christlichen Kaiserreichs, „Zargrad“ in den süd- und ostslavischen Sprachen. Gewiss agierte Konstantin bei dieser Neugründung in bester hellenistischer und tetrarchischer Manier – denken wir an Alexander und Alexandria, Diokletian und Nikomedia oder Galerius und Thessalonike! Darüber hinaus kam freilich durch die Neugründung auch eine Entwicklung zum Abschluss, die heute in der breiteren Öffentlichkeit oft einseitig im Zusammenhang mit Bürgerkriegen, Verschwörungen, Meuchelmorden sowie, oberflächlich, mit den Beziehungen Kleopatras zu Julius Caesar und Marcus Antonius wahrgenommen wird: Konstantin vollzog das, wofür etwa Pompeius und Caesar und Marcus Antonius mit dem Leben hatten bezahlen müssen, als sie es versuchten: die Verlegung des politischen Schwerpunkts

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des Römischen Reichs in den damals militärisch, wirtschaftlich und kulturell wichtigen Osten. Die drei Siedlungsnamen „Byzantion“, „Konstantinopel“ und „Istanbul“ lassen sich gegenständlich nicht gleichsetzen, obwohl der Titel dieses Beitrags auf den ersten Blick solches zu suggerieren scheint. Byzantion war nämlich viel kleiner als Konstantinopel; Konstantinopel war kleiner als Konstantiniyye, wie es als Hauptstadt des Osmanischen Reichs offiziell hieß; und Konstantiniyye war wesentlich kleiner als die heutige Weltmetropole Istanbul mit knapp zwanzig Millionen Einwohnern. Noch eine Einschränkung: Wegen jahrtausendealter Siedlungskontinuität sowie infolge der Überbauung durch Istanbul trägt die Stadtarchäologie wenig zu unseren Kenntnissen über Konstantinopel bei. Von der Stadtmauer etwa, die Konstantin hatte bauen lassen, sind bisher keine archäologischen Reste gefunden worden; die Rekonstruktion ihres Verlaufs basiert auf wenig gesicherten Informationen in schriftlichen Quellen. Die imponierende Landmauer, die wir noch heute im Westen der Altstadt von Istanbul sehen können, wurde Anfang des 5. Jahrhunderts unter Theodosius II. errichtet. Bei den Kirchengebäuden scheint zunächst die Situation etwa angesichts der Hagia Sophia, der Hagia Irene und des Pantokratorkomplexes (heute Molla Zeyrek Camii) besser zu sein, repräsentativ für die Wirklichkeit ist jedoch eher die Tatsache, dass etwa von mehr als zwanzig in den Quellen bezeugten, den Heiligen Theodoroi gewidmeten bedeutenden mittelalterlichen Kirchen und Klöstern in Konstantinopel keine Reste gefunden worden sind. Unproblematisch ist bei unserem Thema hingegen die Periodisierung; die Gründung und Inaugurierung Konstantinopels 324 bzw. 330 sowie die osmanische Eroberung 1453 sind, zusammen mit der Einnahme und Plünderung der Stadt 1204 durch die Barone des 4. Kreuzzugs, die Hauptzäsuren. Griechische Siedler aus Megara und anderen dorischen Städten hatten 685 v. Chr. am südöstlichen Ausgang des Bosporos Chalkedon und siebzehn Jahre später am südwestlichen Ausgang Byzantion gegründet. Eine nachträglich geschaffene Legende führt den Namen der Stadt auf einen Kolonistenanführer Byzas aus Megara in Attika zurück, in Wirklichkeit ist aber der zugrundeliegende Wortstamm nicht griechisch; vielmehr begegnet er in vielen Ortsnamen der Region wie Bizye und Dakibyza. Er wird illyrisch oder thrakisch sein und bedeutet „Wasser“ oder „Brunnen“. Möglicherweise wegen des Wassers ließen sich die griechischen Kolonisten dort nieder, und ihr Verhältnis zu den Thrakern der Umgebung war nicht immer friedlich. Herodot, der Geschichtsschreiber der griechisch-persischen Kriege, ein begnadeter Erzähler, legt dem persischen Feldherrn Megabazos (gestorben ca. 493 v. Chr.) eine denkwürdige Anekdote in den Mund: „Als er, [Megabazos], sich in Byzantion aufhielt … sagte er, ‚Damals müssen die Chalkedonenser gerade blind gewesen sein; sie hätten doch nicht den

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Byzantion – Konstantinopel – Istanbul

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schlechteren Platz gewählt, wo ein schönerer vorhanden war, wenn sie nicht blind gewesen wären‘.“ Hdt. 4,144

Die Blindheit der Chalkedonenser wurde sprichwörtlich, die Megabazos-Anekdote wird dem gebildeten Konstantin sicherlich bekannt gewesen sein. Stolz nahmen die Konstantinopolitaner des Mittelalters den angeblichen Ausspruch des persischen Generals als immer wiederkehrenden Gemeinplatz in die zahlreichen Lobreden auf ihre Stadt zusammen mit deren zentralen Lage inmitten des Reichs, zwischen Asien und Europa, dem Schwarzen Meer und dem Mittelmeer auf. Dennoch hatte Byzantion die unterstellte strategische und wirtschaftliche Bedeutung nicht gehabt; politisch spielte es in der zweiten Liga der Lokalmächte, und seine in der Tat geographisch zentrale Lage am Ende der Via Egnatia, welche die Adriaküste mit dem Bosporos verband, führte in erster Linie dazu, dass es von allen Kriegen in der Region betroffen war und immer wieder verwüstet wurde. Eine weitere feste Vorstellung über Byzantion, die der Realität kaum entspricht, ist die des Goldenen Horns als Naturhafen und strategischen Vorteil. Das war es nicht. Die antike Stadt an der Spitze der Halbinsel hatte an ihrer dem Goldenen Horn zugewandten Seite keinen Hafen. In byzantinischer Zeit lagen die wichtigen Hafenanlagen, etwa Boukoleon, Kontoskalion, der Sophien-, der Julians- sowie der jüngst ausgegrabene Theodosiushafen, an der Süd-, der Marmarameerküste Konstantinopels, die Schutz vor dem im Bosporos vorherrschenden starken Nordwind bot. Mit anderen Worten: Selbst wenn die von byzantinischen Geschichtsschreibern und Rednern hervorgehobenen Vorzüge der Stadt es gewesen sein sollten, die Konstantin veranlassten, Byzantion zur Kaiserstadt aufzubauen, ist festzuhalten, dass die Stadt ihre strategische und wirtschaftliche Bedeutung erst dadurch erlangte, dass Konstantin sie auserkor und zum neuen urbanen Mittelpunkt des bald christlichen Weltreichs bestimmte sowie dass er und seine Nachfolger sie durch eine gewaltige Bautätigkeit dazu aufbauten. Die große Kirche (d. h. die Hagia Sophia), die Hagia Irene, die nicht erhaltene Apostelkirche mit dem kaiserlichen Mausoleum, der Kaiserpalast, die Chalke (das mit Bronzetoren versehene monumentale Vorgebäude des Palastes), die kaiserlichen Fora, ein Senatshaus, ein Kapitol, große Bäder, der Hippodrom mit dem ägyptischen Obelisken, der bronzenen Schlangensäule vom alten Dreifuß aus Platäa, das Aquädukt und vieles mehr gehen auf den Gründerkaiser oder seine Nachfolger im 4. und 5. Jh. zurück. Die Neuheit eines großen Teils der Stadt in Verbindung mit dem Fehlen von bedeutender Vergangenheit sowie von christlichen Wurzeln ließ dabei erhebliche Gestaltungsmöglichkeiten zu. Zum bereits erwähnten Attribut „Neues Rom“ sei angemerkt, dass es Ähnlichkeiten zwischen Konstantinopel und Rom sehr wohl gab und zwar sowohl nachahmungs- als auch funktionsbedingt. Indessen ist vieles, wie etwa die in der mittelalterlichen Rhetorik ad nauseam bemühten sieben Hügel Konstantinopels, frei

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erfunden; die Stadt Konstantins umschloss keine sieben Hügel, die wesentlich größere Stadt, deren westliche Grenze ab dem 5. Jahrhundert die theodosianische Mauer bildete, enthielt wesentlich mehr als sieben Hügel, wenn man Anhöhen so bezeichnen möchte, die meistens nicht viel mehr als kleine Bodenerhebungen sind. Ein weiterer Topos in den Lobreden auf Konstantinopel, die Assoziierung mit Jerusalem, beruhte gewiss nicht auf urbaner Ähnlichkeit noch auf einem politischen Kontinuitätsnarrativ, sondern eher auf der Ansammlung von Reliquien. Sie begann mit der Translation jener von Andreas, Timotheus und Lukas und wurde im Laufe der Jahrhunderte durch zahlreiche weitere ergänzt. Die prominentesten darunter sammelte man in der bereits erwähnten Apostelkirche, die auch als kaiserliches Mausoleum diente. Zahlreiche weitere Reliquien, die mit der Passion Christi zusammenhingen, lagen später in der Pharos-Kirche im Großen Palast im Ostteil der Stadt. Konstantinopel beherbergte mehr als 3500 Reliquien von knapp 500 verschiedenen Heiligen, sie waren ein Teil seines Reichtums und wurden ihm 1204 zusammen mit den Zimelien und den Kunstwerken zum Verhängnis; sie zählten zu den Hauptzielen des systematischen Raubs durch die Kreuzfahrer. Das Attribut „Neues Jerusalem“ können wir auch als Metapher für den ab dem 5. Jh. zunehmend sakralen Charakter der Stadt und des öffentlichen Lebens verstehen, wie er sich etwa in der kaiserlichen Repräsentation offenbart. Evident wird diese Entwicklung durch die Gegenüberstellung zweier homologer Kaiserbildnisse, nämlich des Reliefs mit Theodosius I. am Marmorsockel des ägyptischen Obelisken im Hippodrom (Abb. 1) und des Mosaiks mit Justinian in der mittleren Zone der nördlichen Apsiswand der Kirche San Vitale in Ravenna (Abb. 2). Der Obelisk wurde im Jahr 390 aufgerichtet, das Mosaik wird bald nach 540 entstanden sein und folgt sicherlich Konstantinopolitaner Vorlagen. In beiden Bildnissen erscheint der Kaiser in Begleitung seines Hofstaates: Würdenträger, Leibgarde, bei Theodosius auch dessen Söhne Arcadius und Honorius (Justinian war kinderlos). Während beide Kaiser tiefgläubige Christen waren, spielt die Religiosität in der Darstellung des Theodosius keine Rolle. Dennoch wirkt das Relief dezidiert hieratisch. Von Justinians Bildnis hingegen strömt dezidiert Sakralität aus. Dies liegt nicht nur daran, dass der Kaiser eine Prozession leitet und dass seine prachtvolle Tracht priesterlich wirkt, sondern auch am ikonographischen Typus; das Bildnis nähert sich offensichtlich Darstellungen von Jesus mit den Aposteln. Hinzu kommt der Nimbus um den Kopf des Kaisers. Isoliert betrachtet lassen sich die einzelnen bildnerischen Elemente auch als primär kaiserliche Insignien verstehen, in ihrer Gesamtheit jedoch dokumentieren sie, dass das Kaisertum in der Zeit Justinians als heiligmäßig galt. Justinian, der Konstantinopel ein einziges Mal wegen einer Pilgerfahrt verlassen hatte, ist der erste Kaiser, der sein Amt demgemäß auffasste. Ein weiterer Beitrag von ihm dazu, dass Konstantinopel zu einem heiligen Ort wurde, war der Bau der Hagia Sophia.

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An der Stelle einer ursprünglich vielleicht von Konstantin in Auftrag gegebenen und durch einen Brand zerstörten Sophienkirche war 415 unter Theodosius II. ein Neubau fertiggestellt worden, eine monumentale fünfschiffige Basilika mit Säulenvorhalle, die wiederum, so berichten unisono die Quellen, 532 im NikaAufstand, der gegen Justinian gerichtet war, ausbrannte. Auf Betreiben des Kaisers sowie nach Entwürfen und unter Leitung des Anthemios von Tralleis und des Isidoros von Milet wurde dann innerhalb von fünf Jahren die Kirche etwa in ihrer heutigen Form am gleichen Platz errichtet. Indessen ist es kaum glaubhaft, dass ein Bauvorhaben dieser Monumentalität hätte in nur fünf Jahren entworfen, logistisch vorbereitet und fertiggestellt werden können; die Pläne müssen wesentlich früher gefasst worden sein. Die Berichte über den Nika-Aufstand in den Quellen sind ohnehin übertrieben; etwa dass Soldaten das Hippodrom stürmten und 35000 versammelte Aufständische getötet hätten, ist wirklichkeitsfremd; wäre nämlich die riesige theodosianische Hagia Sophia ausgebrannt, wären bei den entstandenen infernalen Temperaturen die Marmorteile zu Gips geworden, sie sind jedoch intakt geblieben und ohne Brandspuren sorgfältig einplaniert worden; man kann sie heute noch sehen (Abb. 3). Anthemios war kein Baumeister, kein Architekt, sondern Experimentalphysiker und in erster Linie Spezialist für Geometrie und Trigonometrie der Kugel. Die Hagia Sophia war anscheinend ein Experiment von ihm, das ihm allerdings nicht ganz gelang; bereits während der Bauarbeiten drohte die Kirche unter dem Druck der Kuppel zu kollabieren. Gerettet wurde sie durch massives offenes oder getarntes Strebewerk sowie durch die bis zur Kuppel reichende zinnenartige Erweiterung des Mauerwerks (Abb. 4), die dann, nicht zuletzt in der osmanischen Moscheearchitektur, auch als dekoratives Element verstanden und übernommen wurde. Das Anbauen des Strebewerks erfolgte bei diversen Restaurierungen im Laufe der Jahrhunderte, wobei nicht allen Strebepfeilern konkrete Restaurierungen zugewiesen werden können. Die Westostachse der mittelalterlichen, in der orthodoxen Welt auch der heutigen Kirchen richtet sich bekanntlich stets nach Osten, d. h. nach dem Aufgang der Sonne an den Tag-und-Nachtgleichen im März und im September. Bei der Hagia Sophia aber richtet sich die Hauptachse gut 33° weiter gen Süden. Das ist nicht in Richtung Jerusalem, sondern der astronomische Breitengrad, an dem die Sonne an Weihnachten aufgeht. Darauf hat der renommierte Astronom Eugène Antoniadi vor einem Jahrhundert in seiner bahnbrechenden mehrbändigen Monographie über die Hagia Sophia hingewiesen. Es gab allerdings eine weitere Kirche in Konstantinopel mit identischer Orientierung: die den Heiligen Sergios und Bakchos geweihte Palastkirche Justinians, als er noch Mitkaiser war, die allerdings erst kurz nach dem Beginn seiner Alleinherrschaft 527 fertiggestellt wurde. Heute wird der gut erhaltene Bau als Moschee benutzt (Küçük Ayasofya Camisi,

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Abb. 5). Nur mit Vorkenntnissen kann sich der Besucher vorstellen, dass der unscheinbare Bau zu den Meisterstücken der Weltarchitektur zählt. Die Stifter, Justinian und seine Gattin Theodora, kennen wir aus einer Inschrift in der Kirche, der Name des Architekten hingegen ist nicht überliefert. Bei der Sergios- und Bakchos-Kirche handelt sich um den ersten Zentralbau überhaupt. Damit sind hier keine überwölbten runden Gebäude wie etwa das Pantheon in Rom, die Rotunde in Thessalonike oder das Grab des Theoderich in Ravenna gemeint, sondern eine statisch und ästhetisch grundverschiedene Konstruktion: Eine Kuppel mit großen Fenstern schwebt über einem virtuellen Oktagon, wobei der von der Kuppel erzeugte Druck über Pendentifs seitlich auf außerhalb, am Rande des Oktagons stehende Pfeiler abgeleitet wird. Ein Zentralbau ist statisch umso kühner, je flacher die Kuppel ist, und die Kuppel der Sergios- und Bakchos-Kirche ist ausgesprochen flach (Abb. 6). Möglicherweise war ähnlich flach auch die erste Kuppel der Hagia Sophia, die 553, 26 Jahre nach der Einweihung im Jahr 537, einstürzte. Auf jeden Fall ist die Hagia Sophia im soeben skizzierten Sinne der zweite Zentralbau in der Geschichte der Architektur. In der Bezeichnung der Sergios- und Bakchos-Kirche als Küçük Ayasofya („Kleine Hagia Sophia“) hat der türkische Volksmund Substanzielles verpackt; die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Konstruktionen sind frappant. Wenn wir uns vorstellen, dass eine senkrechte Ebene die Sergios- und Bakchos-Kirche entlang der Nord-Süd-Achse zweiteilt (Abb. 7; die Ebene würde die drei Leuchten im Vordergrund tangieren), wenn wir dann die so entstehenden Hälften des Baus virtuell gen Ost bzw. gen West auseinanderziehen und anschließend den entstehenden Zwischenraum mit einer neuen, höheren Kuppel überdecken, haben wir ein exaktes architektonisches Modell der Hagia Sophia kreiert. Es wäre folglich plausibel anzunehmen, dass Justinian den Bau der Hagia Sophia lange vor dem Nika-Aufstand konzipiert und geplant hatte. Artemios und Isidoros, dieser ein begnadeter Baumeister, jener ein genialer Mathematiker, errichteten für ihn zunächst die Sergios- und Bakchos-Kirche als Probebau. Als dann Justinian Alleinherrscher wurde und ihm die Finanzen des Staates uneingeschränkt zur Verfügung standen, nutzte er die Tumulte des Aufstandes und eventuell dabei entstandene leichte Schäden an der theodosianischen Hagia Sophia aus, um diese planieren und die neue Hagia Sophia bauen zu lassen. Wem war aber die Große Kirche geweiht? Man kann den Begriff Sophia bis zur kaiserlichen Tugend der sapientia zurückverfolgen, die nachträglich christianisiert wurde, und man kann sogar augenzwinkernd spätere Heiligenlegenden über eine Märtyrerin zur Kenntnis nehmen, die Sophia geheißen haben soll. Relevant für unsere Frage ist jedoch die explizite Bezeichnung im 1. Korintherbrief (1, 24) von Christus als „Gottes Weisheit“. In der Tat, die Hagia Sophia war eine

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Byzantion – Konstantinopel – Istanbul

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Christuskirche, sie feierte am 24. Dezember. Beziehen wir jetzt auch die Orientierung der Kirche hin zum Himmelspunkt, wo die Sonne an Weihnachten aufgeht, in die Überlegungen ein, so ist folgendes Konzept vorstellbar: Während des Morgengottesdienstes beim Tagesanbruch des Weihnachtstages betritt der Kaiser den Kirchenraum durch das Kaisertor, durchschreitet die vier grünen Streifen auf dem Fußboden, welche für die vier Flüsse des Paradieses stehen, und begibt sich auf den Ambo. Dort trifft er den Patriarchen, der aus dem Altarraum auf den Ambo kommt, und tauscht mit ihm den Friedenskuss. Wenn in diesem Moment die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne direkt durch die östlichen Kuppel- und Apsisfenster einbrechen, von der Goldfläche der Kuppel gebündelt werden und auf Kaiser und Patriarch fallen, um sogleich den ganzen Raum mit Licht zu durchfluten, könnte dies von den Teilnehmern am liturgischen Geschehen als das Paradies auf Erden empfunden werden. Diese Vermutungen finden ein ausdrucksvolles Gegenstück in der aus dem 12. Jahrhundert stammenden altrussischen Chronik „Erzählung der vergangenen Jahre“ (bekannt auch als Nestorchronik) über die Christianisierung und Taufe der Russen im Jahr 987. Ursache und Folge verwechselnd schildert der Chronist die Form der Liturgie als den Grund dafür, dass die Russen das Christentum in seiner orthodoxen Form annahmen. Ihr noch heidnischer Fürst Vladimir, um sich für das Richtige für sich und für sein Volk zu entscheiden, hatte Boten ausgesandt, welche die fremden Religionen erkunden sollten. Die Boten fanden am Islam Betrübtheit, bei den lateinischen Christen aber das Fehlen von Schönheit im Gottesdienst auszusetzen. Sie berichteten ihrem Fürsten: „Und wir kamen zu den Griechen und wurden dorthin geführt, wo sie ihrem Gott dienen. Und wir wissen nicht, ob wir im Himmel oder auf Erden gewesen sind. Gibt es doch auf Erden nichts dergleichen zu schauen noch solche Schönheit, und wir vermögen das gar nicht zu erzählen. Wir haben nur erfahren, dass Gott dort unter den Menschen weilt, …“ Nestorchronik zum Jahr 987, dt. Übers. nach Reinhold Trautmann1

Der Chronist nennt den Ort des (fingierten) Geschehens nicht, es liegt jedoch auf der Hand, dass er Konstantinopel und die Hagia Sophia meinte. Ab dem 11. Jh. begann der Abstieg des Oströmischen Reichs; aus dem Weltreich von ehemals war eine Regionalmacht geworden; die italienischen Handelsstädte kontrollierten das Wirtschaftsleben, Reichsteile gingen für immer verloren, die Türken marschierten in Kleinasien ständig vor. Es entstanden zwar bedeutende Bauten wie das Pantokratorkloster mit seinen drei Kirchen und vorbildlich strukturierten Einrichtungen – Krankenhaus, Altersheim, Armenhaus –, doch die Katastrophe bahnte sich an. Das in der Stadt aufgetürmte Gold, die Zimelien, die 1

Reinhold Trautmann, Die altrussische Nestorchronik Povest' vremennych let, Leipzig 1931, 77,14–20.

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Georgios Makris

Reliquien, lockten die Kreuzfahrer, die 1203 vor Konstantinopel erschienen. Von einem venezianischen Schiff namens „Mundus“ mit bis dahin unvorstellbar hohen Masten konnte 1204 der Widerstand an einer Stelle der Seemauer überwunden werden; die Stadt unterlag faktisch der überlegenen westlichen Technik. Im direkten Kampf mit den eindringenden Kreuzrittern auf der Mauer waren die griechischen Soldaten chancenlos, Konstantinopel wurde erobert und gründlich geplündert, das Reich wurde zerschlagen. In der Folgezeit wurden auch Bauteile und Plastiken aus Kirchen der Stadt in den Westen gebracht. Eine Ausnahme bildete hier die Hagia Sophia; die kostbaren liturgischen Geräte wurden geplündert, die Einbauten jedoch nicht, weil die Kirche als Sitz des lateinischen Patriarchen diente, der immer ein Venezianer war. Die 1204 eingeleitete lateinische Herrschaft war von relativ kurzer Dauer, im Jahr 1261 war Konstantinopel wieder griechisch und die Hauptstadt des Byzantinischen Reichs. Dieses war nun zunächst eine mittlere Regionalmacht, die freilich bald unter dem Druck der Türken im Osten und der Serben im Westen zu einem machtlosen Kleinstaat herabsank. Gleichwohl kommt es bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts in Konstantinopel zu einer erstaunlichen kulturellen Blüte; man kann von einer Epoche des Humanismus und der Renaissance sprechen. Die Früchte dieses Humanismus liegen uns noch heute vor in einer Fülle von Handschriften, die für viele antike Autoren die ältesten, für andere die besten Textzeugen darstellen, aber auch in der Kunst, wie dies an einem um 1300 entstandenen herrlichen Deësis-Mosaik (Christus in der Mitte, Maria und Johannes der Täufer flankierend) an einer einfachen, breiten Wandfläche in der südlichen Empore der Hagia Sophia sichtbar wird (Abb. 8). 1354 setzten die Türken nach Europa über, Konstantinopel war bald nur noch auf dem Seeweg frei zugänglich. Neubauten, selbst ein angemessener Unterhalt der bestehenden Gebäude, von der Mauer abgesehen, waren kaum möglich. Der Abschluss einer Union mit der westlichen Kirche 1439 führte zu einem Kreuzzug gegen die Türken, der allerdings 1444 bei Varna in Bulgarien mit einem Desaster endete; das osmanische Heer war damals die effizienteste Kriegsmaschinerie in Europa. Unter dem jungen Sultan Mehmet und seinem Vertrauten, dem Zaganos Pascha, Anführer einer auf Expansion setzenden Partei bei den Osmanen, belagerten schließlich die Türken im Frühjahr 1453 mit einer riesigen Armee Konstantinopel. Zum Verhängnis wurde Konstantinopel jetzt seine hohe Landmauer; durch ihre Höhe bot sie der Artillerie der Osmanen – einer neuen, zum ersten Mal bei einer Belagerung groß eingesetzten Waffe – die perfekte Angriffsfläche. Die Stadt fiel am 29. Mai 1453. Unmittelbar nach der Erstürmung wurden die Hagia Sophia von Sultan Mehmet durch ein in ihr abgehaltenes Gebet für den islamischen Kult übernommen, die Mosaikbilder anschließend durch Putz überdeckt. Als Folge der Eroberung

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Byzantion – Konstantinopel – Istanbul

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Syriens und Ägyptens am Anfang des 16. Jahrhunderts wurde Konstantiniyye zum Sitz des Kalifats und die Hagia Sophia oder Ayasofya zur Moschee des Kalifen, des Sultans. Im Jahr 1573 ließ Sultan Selim II. durch den Hofarchitekten Sinan gründliche Reparaturen der Moschee unternehmen. Zeit seines Lebens wird Sinan, der geniale Erbauer einiger der schönsten und eindrucksvollsten Moscheen Istanbuls, sich mit der Hagia Sophia und ihrer schwer erschließbaren Struktur auseinandersetzen. 1847–1849 wurde der Bau im Auftrag des Reformsultans Abdülmecid durch die Schweizer Architekten Gaspare und Giuseppe Fossati in einer bis dahin beispiellosen Aktion gründlich restauriert. Dabei wurde ein großer Teil der Mosaiken freigelegt sowie anschließend neu überputzt. Auch die systematische archäologische Erfassung des Baus setzte ein. Kemal Atatürk, Gründer und Oberhaupt der Türkischen Republik, beauftragte 1932 das Byzantine Institute of America mit der Freilegung und Konservierung der Mosaiken, was anscheinend mit der damals einsetzenden Orientierung der türkischen Politik nach den USA zusammenhing. 1934 wurde die Moschee durch einen Erlass Kemals dem Kult entzogen und 1935 zum Museum umgewandelt. Aktuell werden in der Türkei Stimmen laut, welche die Rückverwandlung zur Moschee fordern.

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Abbildungen (vom Autor)

Abb. 1: Kaiser Theodosius I. und Hofstaat.

Abb. 2: Kaiser Justinian und Hofstaat.

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Byzantion – Konstantinopel – Istanbul

Abb. 3: Ruinen der theodosianischen Hagia Sophia.

Abb. 4: Hagia Sophia (SW-Ansicht).

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Abb. 5: Sergios- und Bakchos-Kirche (Küçük Ayasofya Camisi) (NO-Ansicht).

Abb. 6: Sergios- und Bakchos-Kirche (Küçük Ayasofya Camisi) – Die Kuppel.

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Byzantion – Konstantinopel – Istanbul

Abb. 7: Sergios- und Bakchos-Kirche (Küçük Ayasofya Camisi) – Innenraum.

Abb. 8: Antlitz Christi, Deësis-Mosaik, Hagia Sophia.

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Jerusalem – Al-Quds Das Geschick der Heiligen Stadt als kultureller Prozess von Zerstörung, Verdrängung und Verlust und von Neubelebung, Schaffung und Überhöhung von Erinnerungen

Max Küchler (Fribourg)

In Münster, dieser Hauptstadt des Königreichs Zion in den kurzen Jahren 1534– 1535, über die mindestens 4000 Jahre alte Stadt Jerusalem zu sprechen, hat seinen eigenen Reiz, da im historischen Spezialfall Münster die Aspekte des Vergessens und Neubelebens, des Schaffens und Überhöhens von Erinnerungen, die zum Geschick des judäischen Jerusalem gehören, wie Stichflammen aufleuchten. Was in Jerusalem in einem ununterbrochenen, kreativen und destruktiven Prozess der Umsetzung von Erinnerung in Hunderten von Jahren stattfand, dauerte in Münster nur wenige Monate. Und die an beiden Orten für das Eschaton erhoffte Ewigkeit endete sowohl in Münster wie in Jerusalem in einer Katastrophe. Ich möchte gerne, aber ungebührlich, mein Jerusalem sagen, weil diese Stadt der Kanaanäer, Israeliten, Juden, Christen und Muslime mir lebensgeschichtlich so bedeutsam geworden ist, dass ich für sie das Wesentliche meiner letzten zwanzig Jahre akademischer Tätigkeit eingesetzt habe, wie meine Publikationen zu Jerusalem und vor allem das Buch meines Lebens „Jerusalem. Ein Handbuch und Studienreiseführer zur Heiligen Stadt“ zeigen.1 Die kritisch-begeisterte Auseinandersetzung mit der Geschichte und dem Geschick dieser Stadt machte sie mir zu einem Erinnerungsort, an den ich immer wieder zurückkehre … zurückkehren muss, den ich aber stets auch wieder verlassen muss, weil die Realität meine Erinnerungen stört und ich immer wieder Distanz brauche, um die Stadt neu in jener faszinierenden Stärke zu erleben, in der ich sie erhalten will. Erinnern und Verdrängen sind deshalb nicht nur fast paradigmatische Prozesse der Moderne und meines Erachtens wesentliche Komponenten der Geschichte Jerusalems, sie prägen auch mein persönliches Verhältnis zu dieser Stadt.

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Die vollständigen bibliographischen Angaben sind am Ende des Beitrags zusammengestellt.

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Max Küchler

Prozesse des Erinnerns und Verdrängens Der Blick auf die Prozesse des Erinnerns und Verdrängens erlaubt es, die Geschichte der Stadt Jerusalem einmal auf eine etwas andere Weise zu betrachten, über die bloße Ereignisgeschichte hinaus, deren Einzelelemente man mit mehr oder weniger großer Gelehrsamkeit beschreiben kann, als dramatischen Prozess des Bewahrens und Verdrängens von Erinnerung, der von der Zerstörung bis zur Wiederbelebung, ja Überhöhung immer wieder neu in Erinnerung gebrachter und in Steinen verwirklichter Traditionen reicht. Wir haben im Bereich des Politischen und Religiösen im letzten Jahrhundert in Europa und besonders in Deutschland ganz monumentale Erfahrungen von Verdrängung und Zerstörung, aber auch von Zulassen und Bewältigen von Erinnerung gemacht. Auch in der Schweiz gab es ein großes, erstauntes Augenreiben, als der so genannte Bergier-Bericht unrühmliche helvetische Tatsachen ans Licht holte, welche die heroische Geschichtsschreibung der Eidgenossen über den Zweiten Weltkrieg längst ins Vergessen versenkt zu haben glaubte. Und Israel beglaubigt sich immer wieder seiner Existenz – und manchmal mit für uns erschreckenden Verhaltensweisen –, indem es immense Anstrengungen macht, das monumental-böse Geschehen der Schoah nie mehr der Vergessenheit anheimfallen zu lassen. Israel ist aber auch ein grandioses Beispiel dafür, wie das unaufhörliche Erinnern an Jerusalem durch die Jahrhunderte hindurch den Wunsch wachhielt, nächstes Jahr in Jerusalem zu sein, in jenem Jerusalem, das seit dem Jahr 70 n. Chr. als jüdische Stadt realpolitisch zu existieren aufgehört hatte. Die Geschichte Jerusalems spiegelt diese Prozesse der Zerstörung, der Wiedergewinnung, der Pflege und Überhöhung von Erinnerungen auf besonders intensive Art wider. Die verschiedenen, sich im Lauf der Geschichte ablösenden Kulturen sind hier ja nicht einfach vergangene Sachverhalte, an die man sich gerne oder ungerne oder gar nicht erinnert, sondern sie sind – mindestens drei von ihnen: die israelitisch-jüdische, die christliche und die muslimische – noch unvermindert und voller Anspruch gegenwärtig. Man kann Jerusalem ja nicht betreten, ohne – wie ich im Vorwort zum Jerusalem-Band schrieb – von ihren „monotheistischen Gottheiten geradezu angefallen“ zu werden, weil deren religiöse Ausschließlichkeitsansprüche unvermindert andauern. Schofarklang, Glockengeläut und Muezzinrufe bilden dabei die dreifach monotheistische Melodie dieser Stadt, – nur vom Gesang und von den Gebeten der alles begründenden, polytheistischen Kanaanäer ist nichts mehr zu hören. Das Waffengeklirr nicht nur der Römer, sondern aller Epochen hat aber leider auch in der Gegenwart (noch) kein Ende gefunden! 1. Die kanaanäische Kultur –Verdrängte und hervordrängende Erinnerung Mit den Kanaanäern ist jene erste Epoche angesprochen, die für die Geschichte Jerusalems grundkonstitutiv ist, die aber in der Bibel dem Vergessen ausgeliefert

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Jerusalem – Al-Quds

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wurde und jahrtausendelang ausschließlich als Negativ-Erinnerung zur Beschreibung der Größe Israels diente. Sie kann und muss deshalb als erster Akt im Drama des Erinnerns der Geschichte Jerusalems betrachtet werden. Die Stadtkönige von Uruschalim, von denen wir aus den ägyptischen Ächtungstexten und Amarna-Briefen einige Namen kennen, haben Israel nämlich nicht nur eine mächtige und fast uneinnehmbare Stadtanlage gegeben oder übergeben müssen, die kanaanäischen Bewohner der Stadt haben Israel zudem ganz wesentliche kulturelle und religiöse Impulse vermittelt. Beide Aspekte, die trotz ihrer Wichtigkeit historisch vergessen gingen, seien an drei Sachverhalten, einem archäologischen, einem ikonographischen und einem administrativen, kurz aufgezeigt. a) Die „Davidsstadt“ als archäologisch erwiesene Stadtfestung der Kanaanäer Wer heute die so genannte „Davidsstadt“ besucht, findet zuerst einmal gar nichts von David und Salomo. Selbst wer Eilat Mazars gewagter Annahme, den Palast Davids entdeckt zu haben, zustimmen möchte, kann unter dem Gitterboden des Eingangsareals zum archäologischen Park in Wirklichkeit nur ein paar kümmerliche Steinstrukturen entdecken, denen jene Mindestdosis an Evidenz fehlt, die es für einen Königspalast braucht. Auf der Suche nach der ältesten Bewohnerschaft Jerusalems kommt man im so genannten „Warren-Tunnel“ – unter der kanaanäischen und der israelitischen Stadtmauer hindurch – zu den von den Kanaanäern erbauten Türmen aus zyklopischen Steinblöcken, welche die Gihonquelle und ein riesiges Wasserbecken schützen. Wir befinden uns bei diesem imposantesten Teil der Ausgrabungen des Südosthügels in einem Festungs- und Wasserwerk der kanaanäischen Bewohner und Herrscher über Uruschalim (das in der Bibel seltsamerweise nirgends belegt ist und verdeckend Jebus genannt wird). Wer solche Befestigungswerke bauen konnte, besaß nicht nur großes technisches Know-how und die entsprechenden finanziellen Mittel, er brachte damit auch zum Ausdruck, dass die Stadt reich und mächtig war und begehrlichen Angriffen von außen, z. B. der Philister, durchaus widerstehen konnte … und offenbar auch (mindestens) ein Jahrtausend lang widerstanden hat – bis David kam und die Stadt nahm und übernahm. Diese (mindestens) tausend Jahre werden meist – und nicht nur von den israelischen Reiseführern – schlichtweg verschwiegen.

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b) Die ikonographisch erwiesene Kultur der Kanaanäer Othmar Keel hat in seiner „Geschichte Jerusalems“2 vor allem anhand der Kleinfunde und deren Ikonographie deutlich gemacht, dass eine intensive religiöse Kultur der Kanaanäer in Uruschalim existierte. Diese war wesentlich sowohl vom vorderasiatischen Kult des Wettergottes wie vom ägyptischen Kult des Sonnengottes bestimmt, die beide eine Tendenz zur Ausschließlichkeit hatten. Die dominante weibliche Gottheit war die Muttergöttin Cheba, die der Aschirat von Ugarit entspricht. Schalim war als Gott der Abenddämmerung innerhalb des kanaanäischen Pantheons eine lokale Option, die sich in der Namensgebung UruSchalim(um), „Gründung Schalims“, spiegelt. El selbst, der Vater von Schalim, spielte offensichtlich in Uruschalim keine zentrale Rolle, wurde aber zusammen mit Zedek und Schamasch mit dem dominanten Sonnenkult verbunden. Diese religiöse Welt spiegelt sich in den über 100 Siegeln, die in den Ausgrabungen am Ölberg (Dominus Flevit) südlich des Haram (durch Eilat Mazar), in der Davidsstadt (durch Eli Schukron und Ronny Reich) und in der Mamilla-Nekropole gefunden wurden und im neuesten Band des Korpus der Stempelsiegel von Othmar Keel zum Teil erstmals publiziert werden.3 Der größte Teil dieser lokalen ikonographischen Zeugnisse weist ägyptische Hieroglyphen wie z. B. die geflügelte Sonnenscheibe, das Udschat-Auge oder Skarabäen auf und stammt aus der Mittelbronzezeit, also aus jener Zeit der Kanaanäer, die sehr stark in einer von Ägypten geprägten Kulturwelt lebten. Othmar Keel hat darüber hinaus den Sachverhalt stark machen können, dass der im kanaanäischen Tempel von Uruschalim zelebrierte Sonnenkult den mobilen JHWH-Kult der israelitischen Dorf- und Stammeskultur wesentlich umgeprägt hat. Die Ausrichtung des Tempels nach Osten, die auch bei den beiden Nachfolgebauten (des Serubbabel und des Herodes) beibehalten wurde, ist doch wirklich auffällig, da der Zugang der Menschen nur von den anderen Himmelsrichtungen her möglich war. Offensichtlich war bei der Planung des Tempels ein kultisches Element mitbestimmend, das mit dem Aufgang der Sonne im Osten verbunden war. Dies zeigt sich im so genannten „Tempelweihspruch“: „Der SONNE im Himmel hat JHWH zur Kenntnis gegeben: ‚Um im Dunkeln zu hausen, baue ER (SALOMO) mein Haus, für SICH (jedoch) ein erhabenes Haus, um zu hausen in Neuheit!‘ “ 1 Kön 8,12–13 || 3 Kön 8,53a LXX

Danach hat die Sonne(ngottheit) im Himmel ihren Platz, JHWH jedoch im geheimnisvollen Dunkel seines Heiligtums und Salomo schließlich in seinem neuen

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Die vollständigen bibliographischen Angaben sind am Ende des Beitrags zusammengestellt. 3 Keel 2017.

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Palast. Offenbar wurde unter Salomo ein Tempel errichtet, der den Kult des himmlischen Sonnengottes mit dem des verborgenen Gottes Israels verband. c) Die Übernahme administrativer und militärischer Institutionen der Kanaanäer Ein weiterer Aspekt ist die Übernahme administrativer und militärischer Institutionen der Kanaanäer, welche die eher spontanen Entscheidungsorgane der Israeliten für eine städtisch-stabile Lebenswelt überhaupt funktionsfähig gemacht haben. Ohne darauf einzugehen, fasse ich den erstaunlichen Sachverhalt in den Worten von Othmar Keel zusammen: „David nahm zwar als Judäer vor rund 3000 Jahren in Jerusalem Residenz. Die Erben seiner Macht aber waren nicht seine judäischen Landsleute, sondern Salomo“, der Sohn der Jerusalemerin Batseba, „dessen wichtigste Parteigänger alteingesessene Jerusalemer Stadtbewohner waren, also Mitglieder jener Volksgruppe, die die alttestamentliche Überlieferung … später unter dem Namen Kanaanäer als Kontrastgruppe und Negativfolie zum wahren Israel hinstellt“.4 d) Die damnatio memoriae der Kanaanäer Die Kanaanäer sind das älteste Beispiel, wie eine in Jerusalem einst blühende Kultur trotz und vielleicht gerade wegen ihrer starken Anziehungskraft und wegen ihres entsprechend starken Einflusses so vollständig in die Vergessenheit gebracht wurde, wie dies im Fluch Noachs in Gen 9,25–27 über „Cham, den Vater Kanaans“ nicht deutlicher zum Ausdruck gebracht werden kann: „Verflucht sei Kanaan, der Sklave der Sklaven sei er seinen Brüdern! Gepriesen sei JHWH, der Gott Sems, und Kanaan sei sein Sklave! Weiten Raum gebe Gott Japhet, – er wohne in den Zelten Sems – und Kanaan sei sein Sklave!“

Es brauchte die moderne Archäologie, um die Kanaanäer wieder aus dem Fluch des Vergessens hervorzuholen und als wesentlichen Bestandteil der israelitischen Kultur aufzuweisen. Es ist deshalb an der Zeit, nicht 3000 Jahre Jerusalem zu feiern, sondern mindestens 4000 Jahre und die Kanaanäer als fundamentalen Sockel der darauf sich türmenden Kulturen der Israeliten, Juden, Christen und Muslime zu würdigen. Sie stellen die unterste Lage der „vertikalen Ökumene“ dar, die Jerusalem in seiner Baugeschichte darstellt … und es ist stets gefährlich, die je untere Schicht zu leugnen!

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Keel 2007, 189.

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2. Salomos Tempel – Von der kanaanäischen Anlage zum jüdischen Tempel-„Archetyp“ a) Anlage und Ausstattung – kanaanäisch beeinflusst Es ist hier nicht der Ort, diesen Tempel zu beschreiben. Die vielfachen, auf den biblischen Texten und auf religionsgeschichtlicher Vergleichsarbeit beruhenden Rekonstruktionen zeigen, dass die kanaanäischen Elemente im salomonischen Tempel vielfach vorhanden waren. Dies dokumentiert nicht nur die Ostung des Tempels, dies zeigt sich auch in der Ausstattung des Tempels: Da zur Zeit Salomos noch kein Bilderverbot bestand, war die reiche ornamentale Ausgestaltung des Tempels mit floralen und tierischen Motiven und das Vorhandensein von allerlei Kultgeräten eine Selbstverständlichkeit. Wahrscheinlich gehörten deshalb die in den Baunotizen der Königs- und Chronikbücher genannten Kultgegenstände wie die weibliche Aschera, die eherne Schlange, die Pferde und der Sonnenwagen zur ursprünglichen religiösen Ausstattung des recht interkulturellen Tempels Salomos. Erst die so genannten deuteronomistischen und chronistischen Autoren der Bibel haben diese Gerätschaften grundsätzlich als Kultobjekte verworfen, die von gottlosen Königen wie Manasse (2 Kön 21,4–7; 23,12) eingeführt worden seien. Die frommen Könige wie Hiskia (2 Kön 18,4) oder Joschija (2 Kön 22–23) haben nach diesen Autoren durch ihre Reinigungsaktionen jeweils den Tempel wieder zu jener puristisch reinen JHWH-Verehrung zurückgeführt, die sich im 8. und 7. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung immer mehr durchsetzte. Im purifizierten JHWH-Tempel sollte und konnte man den kanaanäischen Urgrund schließlich nicht mehr erkennen. Der Tempel Salomos bot einst nicht nur für die Heftigkeit und Ausschließlichkeit JHWHs, sondern auch für die Heiterkeit des die Welt beherrschenden, Gerechtigkeit und Recht schaffenden Sonnengottes Raum an. Die Dosierung an Interkulturalität hing dann in der weiteren Geschichte Jerusalems jeweils davon ab, wie stark der Gott Israels mit anderen Gottheiten oder Mächten in Verbindung gesehen werden durfte, ohne dass dessen Identität und Ausschließlichkeit gefährdet erschienen. Aus der heutigen Sicht und angesichts heutiger kulturzerstörerischer Eiferer – man denke stellvertretend an die Bücherverbrennungen aller Jahrhunderte und besonders an die von den Taliban 2001 zerstörten Buddha-Statuen im afghanischen Bamiyan – stellen die Purifizierungen des Jerusalemer Tempels ein radikales Verdrängungsgeschehen dar, das die kanaanäisch inspirierten, bildlich-ornamentalen Elemente nicht mehr dulden konnte. Aber es brauchte Jahrhunderte, bis die Verdrängung mindestens im Tempelbereich vollbracht war. Dass jedoch in fast allen israelitischen Häusern der Davidsstadt, nur wenige Meter außerhalb des Tempels, kleine Fruchtbarkeitsstatuetten gefunden wurden, zeigt deutlich auf, wie im privaten Bereich die alten göttlichen Helfer bei der Zeugung der Kinder und zum Schutz der Frauen weiter ihre Dienste tun durften.

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b) Die literarisch anwachsende Wichtigkeit des Ersten Tempels Doch werfen wir noch einen Blick auf das literarische Schicksal des Tempels. In den biblischen Geschichtswerken zeigt sich bei der Beschreibung der beiden zentralen Bauten der Stadt, dem Tempel und dem Palast, ein Prozess der stets anwachsenden Wichtigkeit des Tempels. Der salomonische Tempel war nach seiner Ausdehnung und Bauzeit gemäß den ältesten Beschreibungen in 1Kön 6–7 kaum mehr als die königliche Palastkapelle: Tempel: 30 m x 10 m x 15 m (L/B/H) Palast: 100 m x 50 m x 30 m

Bauzeit: 7 Jahre Bauzeit: 13 Jahre

Der Palast hatte also ursprünglich die dreifache Länge, die fünffache Breite, die doppelte Höhe und brauchte eine fast doppelt so lange Bauzeit! In der nachexilischen Geschichtsschreibung hingegen ist der israelitische Königspalast nur noch in schwachen Konturen zu erkennen, während der Tempel sich als eigenständige Größe in voller Pracht entfaltet. Dem Tempel ging es in der literarischen Rezeption wie dem Riesen Goliat: Beide wurden im Lauf der Rezeptionsgeschichte immer größer! Im Unterschied zu David, dessen Kleinheit immer heldenhafter wurde, verschwand der Königspalast schließlich vollständig. Dies entsprach natürlich den unterschiedlichen historischen und kulturellen Konstellationen in und um Jerusalem: Unter der Herrschaft der israelitischen Könige stand der Palast als politischer Entscheidungsort im Zentrum des Stadtgefüges, unter der alleinigen Herrschaft der Hohepriester hingegen, also in der ersten nachexilischen Zeit, als es kein Königtum in Israel mehr gab, wurde der Tempel in seiner Bedeutung als religiöser und politischer Entscheidungsort mächtig, ja übermächtig. Einen Königspalast gab es auch real nicht mehr. c) Die theologische Anreicherung des Ersten Tempels In der Exilszeit begann der salomonische Tempel zum alles dominierenden Prototypen, oder besser, nach Josephus, zum „Archetypen“ der israelitischen und ausschließlichen Gottesverehrung zu werden. Zwischen der Zerstörung des Ersten und der Wiedererrichtung des Zweiten Tempels ereignete sich etwas Erstaunliches. In den Reden des Deuterojesaja wird Jerusalem zum ersten Mal ʿir haqodesch, „Stadt des Heiligtums“, „Stadt der Heiligkeit“ oder „heilige Stadt“ genannt. Das Heiligtum beginnt also, den Namen der Stadt zu überprägen und der Stadt selbst den Charakter der Heiligkeit zu geben. Diese Erhöhung der schon in den Psalmen hoch besungenen Stadt in den Bereich der Heiligkeit findet sich in der weiteren jüdischen Literatur und Ikonographie: bei Neh 11,1.18, der damit die Rückkehrer zur Niederlassung in Jerusalem überreden will, in der apokalyptischen Literatur (Dan 9,24: 70-Wochen-Vision), auch in den Qumrantexten (ʿyr hq(w)dš) und im Evangelium des Matthäus 4,5; 27,53. Die Münzen der jüdischen

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Max Küchler

Aufstände werden diesen Ausdruck wieder als Propagandaslogan Jeruschalem haqedoschah tragen und er wird als Bestandteil der muslimisch-arabischen Namengebung al-Quds und in der Pilgersprache als „Heilige Stadt“ bis heute von Juden, Christen und Muslimen gebraucht. Es ist aber gut, sich immer wieder in Erinnerung zu rufen, aus welcher Not der Zerstörung dieser Name beim zweiten Jesaja geboren wurde. Er ist sozusagen eine Proklamation der hohen Würde der Stadt im Zustand ihrer tiefsten Erniedrigung und er sollte nicht im Sinne einer ideologia gloriae verwendet werden. 3. Serubbabels Tempel – Der Zweite Tempel als beweinenswertes Nachbild des salomonischen Archetyps Alle weiteren Zweiten und Dritten Tempel waren Versuche, dem purifizierten und heilig gesprochenen Archetypen nachzueifern. Einen lehrreichen Ausgangspunkt geben dafür der Bau und die Einweihung des Zweiten Tempels, der unter den persischen „Bevollmächtigten“ (pachad) Scheschbazzar und besonders Serubbabel im Jahr 520 v. Chr. errichtet wurde. a) Ein beweinenswertes Nachbild Salomos Zuerst wurde nach dem Exil (538 v. Chr.) der erst unter dem König Ahas (736– 721 v. Chr.) in der 2. Hälfte des 8. Jh. v. Chr. erbaute Brandopferaltar „auf seinen alten Fundamenten“ wieder errichtet (Esr 3,6), sodass der theologisch so notwendige Opfergottesdienst sofort wieder vollzogen werden konnte. Aber der Tempel JHWHs war noch nicht fundamentiert (We-hechal JHWH lo jussad)! Erst Jahre später „legten die Bauleute die Fundamente (jissedu) des Tempels JHWHs“ (Esr 3,10a), in dem der Gott Israels dann residieren oder vielmehr geheimnisvoll anwesend sein wird. Die „Fundamentlegung“ samt dem offiziellen Begleitpersonal und dem „ganzen Volk“ ist in Esr 3,10b–13 feierlich beschrieben: „Die Priester standen, in Byssus gekleidet, mit den Trompeten da, die Leviten, die Söhne Asaphs, aber mit Cymbeln, um JHWH nach der Anordnung Davids, des Königs von Israel, Lob zu singen. Sie stimmten JHWH ein Lobund Danklied an: ‚Denn er ist gut, denn ewig währet seine Gnade über Israel (also Ps 100 oder 136).‘ Das ganze Volk erhob ein lautes Jubelrufen beim Lobgesang auf JHWH wegen der Fundamentierung (husad) des Hauses JHWHs.“

Bis dahin ist alles Jubel und Trubel beim Klerus und beim Volk. Doch dann folgt in V. 12 die erstaunliche Beschreibung eines aufmerksamen Beobachters: „Viele alte Leute von den Priestern, Leviten und Familienhäuptern, die mit ihren Augen den Ersten Tempel mit seinen Fundamenten (hechal ha-rischon bi-sodo) gesehen hatten, weinten laut auf.“

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Dieses „laute Weinen“ der Alten, das sich mit dem „lauten Freudengeschrei“ der anderen vermischte und deshalb von der Menge nicht wahrgenommen wurde (vgl. Esr 3,13), wird offensichtlich durch die Diskrepanz der neuen Tempelanlage zum salomonischen Tempel der vorexilischen Zeit hervorgerufen. Der Vergleich, den diese Alten noch aus der Erinnerung machen konnten, weil sie den salomonischen Tempel vor dem Exil noch selbst gesehen hatten, brachte sie zum Weinen! Die Realität, in der sie lebten, blieb für sie so weit hinter dem erinnerten Tempel zurück, dass ihnen das Klatschen und Jubeln verging und nur noch die Trauergeste des Weinens blieb! Diese Szene weist zwei Aspekte des Erinnerns auf: Einerseits weiß man um die theologische Wichtigkeit des Tempeldienstes und beginnt den Bau des neuen Tempels, auch wenn dieser erst – trotz vieler äußerer Widerstände und innerer Lahmheit, welche der Propheten Haggai brandmarkt, – unter Serubbabel abgeschlossen wird. Andererseits hat man noch die Erinnerung an die Größe und den Glanz des ursprünglichen Tempels, an die man in der eigenen tristen Wirklichkeit des nachexilischen Aufbaus nicht mehr herankommen konnte. b) Ein verdichteter und überhöhter Ort des Heiles Mit diesem offensichtlich beweinenswerten Nachbild Salomos lebten die Juden der achämenidischen und hellenistischen Zeit und es wurde zum Zentrum des in der Diaspora weltweit zerstreuten Judentums. In diesem halben Jahrtausend der Unscheinbarkeit angesichts der großen Tempelbauten der Antike ereignete sich mit der „heiligen Stadt“ wiederum – wie schon in der Exilszeit – etwas Erstaunliches: Kontrapunktisch zur mageren Wirklichkeit geschieht ein gewaltiger Ausbau des theologischen Gehaltes des Tempelberges und des Tempelhauses, eine Belegung des Ortes mit zahlreichen, ihm ursprünglich fremden Inhalten. Der Tempelberg wird zum Berg, dessen Fels den Schlussstein der Schöpfung, den ʾeven schetijah, bildet, der also den Ausbruch des Chaos verhindert und die Weltordnung garantiert. Ein Fels hatte bis dahin für die Wahl des Tempelplatzes nirgends eine Rolle gespielt, stets war es einfach der die Stadt dominierende höchste Punkt. Der Tempelberg zieht Paradiestraditionen an sich, sodass von ihm einst sogar die Ströme des Paradieses wegflossen. Der Tempelberg wird der paradiesische Ort sowohl der Erschaffung wie auch der Beerdigung Adams. Er wird zum Berg, auf dem Noach nach der Sintflut sein das Wohlwollen Gottes mit der Welt bewirkendes, „lieblich duftendes“ Opfer darbrachte. Er wird zum höchst bedeutsamen Berg Moria, wo auch Abraham zum Beweis seines Gehorsams und stellvertretend für alle Söhne Abrahams seinen Sohn zu opfern bereit war. Er wurde so zum geographischen, aber viel mehr noch zum theologischen Zentrum, zum „Nabel der Welt“ (erstmals: Jubiläenbuch 8,12), an dem sich das Schicksal der Welt in dieser Geschichte entscheiden wird.

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Dieses Phänomen der Anreicherung, ja geradezu Aufblähung eines Ortes durch neue religiöse Inhalte ist typisch für einen Ort, dessen aktuelle Größe nicht den monumentalen oder spirituellen Erwartungen entspricht, welche aus der Tradition, das heißt der Erinnerung der Pilger mit ihm verbunden sind. Erst Herodes wird diesen unbefriedigenden Sachverhalt beenden, indem er den erinnerungsmäßigen Soll-Zustand mit dem zu beschauenden Ist-Zustand zur Deckung bringt. 4. Der Tempel Herodes des Großen – Die Wiedererstehung und Überbietung des salomonischen Archetyps Es kann jetzt wiederum nicht um eine Beschreibung dieser gewaltigen Tempelanlage gehen, wie sie vor allem bei Flavius Josephus (Bell. 5,136–247) und im Mischna-Traktat Middot vorliegt. Man kann die Anlage zwar auf vielfachen Rekonstruktionen, besonders den archäologisch abgestützten Zeichnungen von Martha und Lee Ritmeyer,5 bestaunen, man kann die Esplanade in der virtuellen Welt des Internets auch ein wenig begehen, tatsächlich sehen kann man von ihr – außer in den unteren Schichten der Umfassungsmauer – keinen einzigen Steinblock. Die dramatische Geschichte Jerusalems hat alle Spuren des einst für die Ewigkeit gebauten Tempelhauses verwischt. a) Überbietung aller Prachtbauten und Rückbindung an den salomonischen Archetypen Die gesamte Tempelanlage muss aber auf die damaligen Menschen einen großartigen Eindruck gemacht haben, was verschiedene Texte belegen: Der Evangelist Markus spricht vom Staunen der Jünger Jesu, dieser Pilger aus der Provinz (wie Gerd Theißen sie nennt), ob der „gewaltigen Steine“ (13,2 parr). Bei Lukas sind diese Quader mit ihren glatten Spiegeln und dem äußerst präzisen Randschlag für Jesus jedoch nur ein schönes Stück des baldigen Untergangs der Stadt … und Jesus weint auf der Anhöhe des Ölbergs darüber (Lk 19,41–44; erinnert in Dominus Flevit). In der rabbinischen Literatur gibt es mehrfach die Aussage: „Wer den Bau des Herodes nicht gesehen hat, hat nie ein prachtvolles Gebäude gesehen.“6

Und Josephus spricht immer wieder von einem Bau, der jede antike Vorstellung übertraf (Bell. 5,187.189): Da war alles aus „massiven Goldplatten“ und „blendend weißem“ Stein, sodass er „wie eine schneebedeckte Felskuppe“ oder gar wie die Sonne selbst leuchtete. Lassen wir Josephus die rhetorischen Übertreibungen, er schreibt ja – bezeichnenderweise – zu einer Zeit, als diese Pracht schon über

5

6

Cf. https://www.ritmeyer.com, zuletzt aufgerufen am 29.03.2018. Beispielsweise: bSukka 51a.

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30 Jahre der völligen Zerstörung im Jahre 70 n. Chr. anheimgefallen war und nur noch in der überhöhenden Erinnerung bestand. Das Paradies kann man eben stets nur in seiner verlorenen Pracht beschreiben! Wichtiger ist für unser Thema die Frage nach der Rückbindung dieses neuen Heiligtums an dasjenige Salomos. Josephus, dem ich eine gut getroffene Schilderung der Absichten Herodes des Großen zutraue, erzählt dazu in den Antiquitates Folgendes: „Im 18. Jahr seiner Regierung [= 20/19 v. Chr.] nahm HERODES … noch ein schwieriges Werk in Angriff. ER ging nämlich daran, den Tempel Gottes in weit größerem Umfang und viel höher zu errichten; denn ER glaubte, dieses Werk müsse herrlicher sein als alles, was ER bisher zustande gebracht hatte, und ER würde SICH dadurch ein dauerndes Andenken sichern.“ Ios. ant. Iud. 15,3807

Die Komparative „größer“, „höher“ besagen die Überbietung der Dimensionen des voraus gehenden „Tempels Gottes“, während das „herrlicher“ die Überbietung der Pracht aller sonstigen Bauten des Herodes ausdrückt. Die Pracht hat die eben angesprochene Schilderung des Josephus schon ins Mythologische erhöht, die Ausweitung der Dimensionen hingegen lässt sich an den Phasen des Ausbaus des Tempelbereichs anschaulich machen: Die architektonische Entwicklung des Tempelberges zeigt deutlich, wie sich eine Schicht um die andere gelegt hat, von der salomonischen Palast-/Tempelanlage auf der höchsten Stelle, über das Quadrat des Zweiten Tempels, dessen südliche Erweiterung durch die Hasmonäer bis zur monumentalen Plattform des Herodes, die sich das Berg- und Talgelände der Hügelstadt fast gewalttätig unterwirft, um noch größer und höher bauen zu können! Es ist sozusagen eine architektonische Erinnerungszwiebel, eine steinerne Ummantelung, die jeweils die vorausgehende Phase einschließt. Herodes begründet nach Josephus sein monumentales Bauvorhaben, indem er auf die beiden vorausgehenden Phasen des Tempels zurückgreift, die offenbar in der Erinnerung des Volkes durchaus präsent waren: In einer Rede an das Volk habe Herodes nämlich angegeben, dass die Heimkehrer aus dem babylonischen Exil „nicht die Gelegenheit hatten, den ersten Archetyp ihrer Gottesfurcht“, d. h. den salomonischen Tempel, „wieder bis zur ursprünglichen Höhe aufzuführen“ (Ant. 15,386). Gerade deshalb haben ja damals beim Serubbabel-Bau „die alten Leute“, die noch die Erinnerung an Salomos Prachtbau hatten, geweint. Diesem Mangel wollte er abhelfen, indem er seinem Tempel die „ursprünglichen“ Dimensionen des Archetypen verschaffte und gleichzeitig auch sich selbst „ein dauerndes Andenken“ sicherte. Das Tempelhaus wurde in eineinhalb Jahren und die Säulenhallen mit den Umfassungsmauern in acht Jahren erstellt. Obwohl – wie Texte und die Archäologie aufweisen – noch Jahrzehnte weitergebaut wurde, wurde in den Jahren 9 7

Vgl. Ios. bell. Iud. 1,401.

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oder 8 v. Chr. in einer großartigen Zeremonie die Einweihung des Tempels gefeiert. Diese Einweihung wird bezeichnenderweise mit dem Ausdruck „Neugründung“ (ἀνάκτισιν) bezeichnet,8 was deutlich macht, dass Herodes offenbar nicht die Absicht hatte, den beweinten nachexilischen Tempel Serubbabels etwas aufzupolieren. Er griff über diesen auf den Tempel Salomos zurück, den er „von Grund auf“ (ἀνά-) neu errichtete, also eigentlich einen Dritten Tempel baute, der dem ersten, salomonischen Archetypen entsprach, diesen aber an Höhe, Größe und Pracht weit übertraf. b) Die Errichtung einer hellenistisch-römische Königsstadt mit einem jüdischen Tempel Herodes verstand es aber auch, den Tempelbau zur Selbstverherrlichung einzusetzen, indem er die Neugründung des Tempels mit dem Jahrestag seines Regierungsantrittes verband und als einen „Akt der Frömmigkeit“ darstellte, „durch welchen er Gott das ihm geschenkte Königtum vergelten könne“ (Ant. 15,387). Darüber hinaus verwirklichte er stillschweigend mit dem Bau der riesigen Plattform ein hellenistisch inspiriertes Stadtzentrum, das zum großen Teil von Plätzen und öffentlichen Gebäuden besetzt war … und natürlich auch einen Tempel aufwies. Die herodische Tempelanlage ist meines Erachtens ein Paradebeispiel, wie Tradition und Innovation so miteinander verbunden werden konnten, dass zwar eine neue Stadt und ein neuer Tempel entstanden, die Neuheit aber gerade dem erwünschten und erinnerten Archetyp des Tempels so entsprach, dass der alte Traum der Juden von Salomos Tempel erfüllt wurde … und für den Hellenisten und Römer Herodes gleichzeitig mitten im Hügel eine großzügige Stadtanlage hellenistisch-römischer Prägung – seine jüdische Königsstadt – entstand. Den Königspalast allerdings, den hatte er wohlweislich am sicheren, dem Meer zugewandten Westrand der Stadt erbaut. 5. Die Zerstörung von Tempel, Stadt und Erinnerung durch die Römer a) Die endgültige damnatio memoriae Jerusalems … Wir wissen, dass nur wenige Jahre nach Abschluss der Bauarbeiten die Zerstörung über Stadt und Tempel hereinbrach. Ob die Zerstörung des Tempels nun in der Absicht des römischen Feldherrn Titus lag oder nicht (es gibt beide Traditionen), der Tempel samt den Vorhöfen und den Hallen wurde jedenfalls am 10. Ab (Juli/Aug.) des Jahres 70 n. Chr. von der römischen Armee eingeäschert (Ios. bell. Iud. 6,281–283). Die Umfassungsmauern blieben vorerst bestehen und wurden erst zu einem späteren Zeitpunkt ein Stück weit niedergerissen. Seit dem Jahre 70 n. Chr. gibt es in Jerusalem keinen jüdischen Tempel mehr und nach dem 8

Ios. ant. Iud. 15,421.

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Zweiten Jüdischen Krieg (132–135 n. Chr.) wurde die alte Stadt dem Erdboden gleichgemacht, wurde eine neue Stadt angelegt und, um alle Erinnerungen an Jerusalem zu begraben, die römische Militärkolonie Aelia Capitolina gegründet. Das war die von den Römern definitiv gedachte damnatio memoriae Jerusalems und des jüdischen Gottes: Das pflügende Ochsengespann (Abb. 1.a) und der Jupiter-Tempel auf den Hadriansmünzen (Abb. 1.b) bezeugen dieses römische Projekt der Auslöschung jeder Erinnerung. Die Römer hatten in ihren Eroberungsträumen jedoch nicht mit der unglaublichen Hartnäckigkeit des für sie nicht mehr existierenden jüdischen Volkes gerechnet. Es wäre ein anderes, weites Gebiet, darzulegen, wie im Lauf der Jahrhunderte bei jeder historischen Gelegenheit, die sich bot, bei den Juden die in der Asche der Zerstörung glimmende Erinnerung an den Tempel sofort wieder zu neuen Projekten des Wiederaufbaus des Tempels aufflammte. Ich habe sie in meinem Jerusalem-Buch in der notwendigen Ausführlichkeit behandelt, nenne hier aber nur die beiden wichtigsten historischen Versuche. b) … und zwei Erinnerungsrevolten Schimʿon ben Kosiba propagierte im Zweiten Jüdischen Krieg (132–135 n. Chr.) den Bau eines neuen Tempels, indem er auf seinen silbernen Kriegsmünzen (Abb. 2) aller vier Jahre auf der Vorderseite die Tempelfront mit dem Toraschrein anbrachte. Auf den beiden Münzen ist dabei gut ersichtlich, dass im ersten Kriegsjahr (a) auf der Vorderseite JER-USCHA-LEM die eigentliche Propagandaidee war und auf der Rückseite die Hoffnung auf die „Erlösung (geʿullah) Israels“ festgehalten wurde, während ab dem zweiten Kriegsjahr (b) SCHIM-ʿON sich selbst mit seinem messianisch aufgeladenen Stern (vgl. Num 24,17) auf die Vorderseite der Münzen prägte und auf der Rückseite die „Freiheit (charut) Jerusalems“ propagierte – eine schöne numismatische Darstellung dessen, wie sich bei Bar Kochba Rückbezug (a) mit Innovation, ja Revolution messianischer Prägung (b) verbunden hat. Noch deutlicher macht dies die Münze, die dominant im Vordergrund die beiden werbenden Symbole des Sukkot-Festes, den Feststrauß (Lulav) und die Zitrusfrucht (Etrog) zeigt (Abb. 3), im Hintergrund jedoch – da sie eine Überprägung einer römischen Tetradrachme ist – noch ganz deutlich das Porträt des römischen Kaisers Vespasian durchblicken lässt. Dem Kaiser Vespasian, dem Zerstörer des Zweiten Tempels, werden hier die Symbole des neu zu erweckenden Kultes und Tempels – sprichwörtlich – aufs Haupt geschlagen! Doch reichten die Mittel nicht aus, um den Kaiser ganz zum Verschwinden zu bringen. Das ist ein revolutionärer Versuch der Auslöschung der Erinnerungsperson, die aus jüdischer Perspektive Vernichtung bedeutete. Das Heer Hadrians machte diesem irren militärischen Unternehmen – wenn auch unter großen Verlusten – ein grausiges Ende. In der Folge war sein Jupiter-Tempel (vgl. Abb. 1b) auf dem westlich lie-

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genden neuen Forum die dominante Größe, während der verwüstete und zerfallene ehemalige Tempelplatz, vielleicht mit zwei kaiserlichen Reiterstatuen versehen, und der Antonia-Felsstumpf die absolute Macht der Römer über die Stadt demonstrierten. Als zweites nenne ich das Bauprojekt Kaiser Julians des Abtrünnigen: Im Zuge der Aufwertung der paganen und jüdischen Kultur und Religion hatte dieser Kaiser 362 n. Chr. alle Materialien beschaffen lassen, um auf seiner vermeintlich siegreichen Rückkehr aus dem Krieg gegen die Perser den unterdessen wieder errichteten „Tempel des höchsten Gottes“ der Juden einzuweihen. Wie er in seinem Brief 89a formuliert, wollte er damit auch den Propheten Jesus von Nazaret, der die völlige Zerstörung des Tempels vorhergesagt habe, Lügen strafen. Was dann geschah, ist bezeichnend für den intensiven Erinnerungsverbund, in dem Jerusalem auch für die Christen stand: Da der Bau mit der Räumung der Trümmerlandschaft der Esplanade begann, sah der Zeitgenosse Kyrill von Jerusalem die Prophezeiung von Mk 13,2: „kein Stein wird auf dem andern bleiben“ als erfüllt an und befürchtete darin das Fanal für die Ankunft des Antichrists (vgl. Katechesen 15,15). Die an Jerusalem gebundene Vorstellung vom Ende der Zeiten war mit einem Schlag wieder wach und setzte die Stadt in apokalyptische Aufregung! Doch am 27. Mai 363 n. Chr. machten nach Kyrill und vielen weiteren antiken Autoren offenbar ein Erdbeben und eine Feuersbrunst dem ganzen Bauvorhaben Julians – und damit auch dem christlichen apokalyptischen Spuk – ein Ende. Julians Versuch, das Rad der Geschichte zurückzudrehen und die alten Traditionen wieder aufleben zu lassen, scheiterte an seinem militärischen Misserfolg, und seine Projekte wurden von seinen Nachfolgern nicht mehr weiter verfolgt. Vorerst hielten die Römer und in ihrem Gefolge die Christen die Erinnerungsmacht fest in ihren Händen. 6. Die Erinnerungsmacht der paganen und christlichen Römer/Byzantiner a) Die Pflege der Erinnerung an die definitive Zerstörung des Tempels Der Tempelplatz blieb von 70 n. Chr. bis gegen Ende des 7. Jh. n. Chr. eine riesige, verwüstete Fläche. Die städtebauliche Unsinnigkeit, kostbarsten Bauplatz mit riesigen Zisternen an hervorragender Stelle jahrhundertelang dem Verfall anheim zu geben, war eine Konsequenz der römischen und dann auch christlichen Machtdemonstration. Eusebius von Cäsarea (um 320 n. Chr.) beschreibt dies triumphierend wie folgt: „Die Römer bearbeiten ihn (den Tempelplatz) wie den Rest der Gegend und wir haben ihn selbst gepflügt und besät gesehen ... Die Bewohner der Stadt beziehen Materialien von ihm für ihre privaten, gemeinsamen und öffentlichen Bauten. So bietet sich den Augen das betrübliche Schauspiel, dass aus dem Tempel – sogar aus dessen einst unbetretbaren und heiligen Teilen –

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Steine bezogen werden für Götzenheiligtümer und zur Ausrüstung von öffentlichen Schauplätzen.“ Demonstratio Evangelica 8,3

Die Verwahrlosung des ehemals heiligsten Ortes der Welt war auch ein wichtiger Bestandteil nicht nur der christlichen Jerusalem-Theologie, sondern auch der entsprechenden Pilgerpraxis. Die neuen großartigen Heiligtümer Konstantins des Großen, im Westen die Auferstehungs-Basilika und auf dem Ölberg die EleonaBasilika, waren die neuen Orte des Heiles, die so angelegt waren, dass man von ihnen auf die Verwüstung des jüdischen Tempelplatzes blicken konnte. Nach Kyrill von Jerusalem stellte der zum Acker verkommene und als Steinlieferant ausgebeutete Tempelplatz einen weiteren anschaulichen Beweis dar, dass die Juden die Stunde ihrer Heimsuchung nicht erkannt hätten und ihr Tempel als Strafe zerstört worden sei: „Jesaja, der vor fast 1000 Jahren lebte, schaute den Sion gleich einem Zelt. Noch stand damals die Stadt, mit Plätzen geschmückt und mit Würde bekleidet. Gleichwohl sagt er: Sion wird wie ein Acker gepflügt werden (= Micha 3,12 = Jer 26,18). Was sich jetzt, in unserer Zeit, erfüllt hat, hatte er vorausgesagt. Achte auf die Genauigkeit der Aussage: Verlassen wird die Tochter Sions sein wie eine Hütte im Weinberge und wie eine Laube im Gurkenfeld (= Jes 1,8). Und wirklich ist jetzt die Stätte voller Gurken!“ Katechesen 16,18

Kyrill hat in seinen Katechesen seinen Zuhörern an Ort und Stelle jeweils augensichtlich aufgezeigt, was die Geschichte aus den Juden gemacht hat und wie die christlichen Heiligtümer nicht an der Stelle, sondern anstelle der einstigen jüdischen Heiligtümer und Paläste standen. Man ging als christlicher Jerusalempilger nicht auf den Platz des ehemaligen Tempels – das taten nur die Juden (und mit ihnen der sympathisierende Pilger von Bordeaux) einmal im Jahr, um am lapis pertusus zu trauern – als Christ ging man auf den Ölberg, um von der EleonaBasilika aus die Bewahrheitung der jesuanischen Prophetie zu sehen: „Kein Stein wird auf dem anderen bleiben“. Dies ist Verdrängung, ja bewusste Zerstörung der vorhergehenden jüdischen Wirklichkeit, wobei die Erinnerung an die definitive Zerstörung den eigentlich theologischen Wert ausmachte, weil die Endgültigkeit der Zerstörung den Pilgern die Gewissheit verschaffte, dass das Heil nun endgültig auf die Christen hinübergegangen war. Die Jerusalem-Vignette auf dem Madaba-Mosaik (Abb. 5) zeigt diesen Sachverhalt bildlich auf frappante Weise: Wo ist da die riesige Esplanade des Tempelplatzes? Sie ist zum bedeutungslosen Plätzchen (VII) geworden, das außerhalb des Stadtgefüges liegt, welches durch die beiden Prachtstraßen und die vielen christliche Kirchen geprägt ist.

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b) Die Translatio der jüdischen Traditionen auf christliche Heiligtümer Die Christen Jerusalems lebten jedoch durchaus weiterhin in einem Erinnerungskontinuum, das sie mit den Juden und der Bibel Israels einerseits verband, andererseits zutiefst trennte. Aus ihrer vielfach belegten heilsgeschichtlichen Geschichtsinterpretation, die aus einigen prophetischen Texten des Alten Testaments gespeist wurde, geht deutlich hervor, dass die wichtigsten Inhalte der israelitischjüdischen Religion in überhöhter – biblisch gesprochen: erfüllter – Weise auf christliche Heiligtümer übertragen wurden. Ich möchte die Bewahrung und Neugestaltung jüdischer Traditionen durch die Christen nur stichwortartig an vier religiösen Vorstellungen aufweisen: Die Vorstellung von Jerusalem als Mitte oder dem Nabel der Welt wird in die Auferstehungskirche verlegt, wo er heute in der griechisch-orthodoxen Mittelkirche steht. Die Christen haben dazu Ps 74,12 (= 73,12Vulg) zu Hilfe genommen, wo es heißt, dass „Gott … inmitten der Welt (be-qêrêv ha-ʾareṣ / in medio terrae) Heil bewirkt hat“, was für Christen nur Golgota bezeichnen kann. – Die Wiedergutmachung der Schuld Adams kommt dadurch zum Ausdruck, dass unter der Stelle auf dem Golgota-Felsen, wo das Kreuz stand, die Adamskapelle eingerichtet wurde. Dass das Blut Jesu, des neuen Adam, über den Schädel des ersten Adam floss, ist die narrative, imaginative und pilgertechnisch gelungene Darstellung des hohen theologischen Gedankens von der Rettung der ganzen, in Adam dem Tod verfallenen Menschheit durch Jesu Tod am Kreuz. – Das Sohnesopfer, das Abraham auf dem Berg Moria, also auf dem Tempelberg, zu vollbringen bereit war, hat in Jesus am gekreuzigten Sohn Gottes seine absolute Erfüllung und Universalität erfahren. – Schließlich, und damit verbunden: Die Opfer im Tempel, deren Wichtigkeit seit der Errichtung des Opferaltars unter Achas anwuchs und zur eigentlichen Funktion der Versöhnung Gottes mit dem sündigen Volk gedieh, sind durch das als Opfer gedeutete Sterben Jesu am Kreuz ein für alle Male überholt und unnötig geworden (vgl. Röm 3,21–26), was der zerstörte Tempel täglich sichtbar demonstriert. Soviel zum negativen und positiven Erinnerungsgeschehen, das sich im christlich-byzantinischen Jerusalem abgespielt hat: Es war ein komplexer Prozess von Zerstörung, Verdrängung, Wiederaufnahme, Übertragung und theologischer Überhöhung von Erinnerungen, durch den sich die theologische Struktur der christlichen Kirchen Jerusalems, besonders natürlich der Grabeskirche, ergab. Die Kreuzfahrer werden dies auf nochmals ganz neue Weise machen, doch soll dieses kurze Zwischenspiel in der islamischen Geschichte Jerusalems (100 Jahre während 1300 Jahren) zugunsten des Geschicks Jerusalems in der muslimischen Zeit übersprungen sein.

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7. Al-Quds – Abd al-Maliks neuer Tempel Salomos a) Renaissance biblischer Erinnerungen Die Reinigung der seit dem Jahre 70 n. Chr. systematisch vernachlässigten Esplanade setzte der städtebaulichen Demonstration der Verworfenheit des jüdischen Tempels endlich ein Ende und nach fast 700-jähriger Negativ-Erinnerung wurde der heilige Berg mit der noch sichtbaren herodianischen Umfassungsmauer erstmals wieder in seiner alten Qualität als Ort biblischer und jüdischer Gottesverehrung positiv wahrgenommen. Omar ließ als erstes nach dem legendären „Gebetsort Davids“ suchen, dem ältesten Anhaltspunkt in der israelitischen Zeit – und fand ihn natürlich auch. Die Gebetsnische in der Mitte der Südmauer des Haram, in der heutigen Omar-Moschee östlich der Aqsa-Moschee, zeugt noch davon. Dann geschah die Freilegung des Heiligen Felsens, der zwar ursprünglich keine Rolle spielte, aber im Lauf der Zeit als Grundstein der Schöpfung und Opferstein Noachs und Abrahams zum mythologischen Zentrum des Tempelplatzes avancierte. Dies führte schließlich zur Proklamation des ganzen Haram als Moschee, das heißt als muslimische Stätte der Verehrung Allahs, bei welcher die Erinnerung an die biblische Geschichte das ganz Spezifische ausmachte. Klaus Bieberstein, Andreas Kaplony und Benjamin Z. Kedar sehen im Felsendom geradezu eine Wiedererstehung des salomonischen Tempels. Nach Bieberstein „geben frühislamische Quellen unzweifelhaft zu erkennen, wie sehr man den Felsendom in der Tradition des Salomonischen Tempels stehend verstand. So galt der Fels als Anfang der Schöpfung: Auf ihm stand Gott 40 Jahre, bevor er mit der Schöpfung begann; von ihm gehen die Ströme des Paradieses aus; auf ihm wurde Adam erschaffen; von ihm fuhr Gott nach der Schöpfung in den Himmel auf; er allein wurde von der Sintflut nicht überspült; auf ihm brachte Noah nach der Sintflut sein erstes Opfer dar; ihn bestimmte Abraham als Gebetsrichtung (arabisch: Qibla); über ihm sah Jakob die Himmelsleiter (vgl. Gen 28,12) und auf ihm errichtete Salomo seinen Tempel (vgl. 1 Kön 6–8)“.9 Diese in aller Kürze aufgezählten, im Felsendom wieder aufgenommenen Elemente der israelitisch-jüdischen Tradition machen es aus, dass man im Felsendom den real existierenden Dritten Tempel sehen kann. b) Die muslimische Neudeutung auf Mohammed Die Neugestaltung der Tempeltradition ist dann durch die Tradition von der nächtlichen Entrückung Mohammeds von Mekka nach Jerusalem (arabisch al-Israʾ, wörtlich „Auszug“) nach Sure 17,1 und seiner Himmelsreise (arabisch alMiʿradsch, wörtlich „Leiter“) nach Sure 17,93–94; 53,1–12; 81,23 geschehen.

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Diese letztere Tradition der Himmelsreise Mohammeds hat die ältesten, schöpfungstheologischen und eschatologischen jüdischen Traditionen immer stärker in den Hintergrund gedrängt und diese schließlich ersetzt. Erst die wissenschaftliche Arbeit von muslimischen, israelischen und christlichen Forschern an den ältesten Traditionen des Islam und die Analyse der Bauten haben die biblischen Grundtraditionen in der Neuzeit wieder sichtbar und bewusst gemacht. 8. Der jüdische Trampelpfad der Erinnerung … Zum Abschluss soll noch das signifikante Geschick der Juden in dieser Zeit in den Blick kommen. Diese ältesten Repräsentanten der alten Erinnerungstraditionen über den Tempel durften sich zu Beginn der frühmuslimischen Zeit in einem ersten jüdischen Viertel nahe beim Tempel niederlassen. Voller Erwartung verbanden sie mit der Freilegung ihres Tempelberges einmal mehr ihre stets wachen messianischen Hoffnungen. Im zeitgenössischen apokalyptischen Text „An jenem Tag“ (aus der Kairoer Geniza)10 heißt es: „Israel wird von all seinen Sünden befreit und wird nicht mehr vom Haus des Gebets ferngehalten werden.“11

Und in den noch unter dem Kalifen Omar verfassten „Geheimnissen des Rabbi Schimon bar Jochai“ wird prophezeit: „(Omar) wird ein mächtiger Herrscher und ein Freund Israels sein. Er wird ihre und des Tempels Wunden wieder heilen, den Berg Morija reinigen und zur Gänze planieren lassen und Israel aufrufen, dort eine Stätte der Anbetung auf dem Grundstein (der Welt) zu errichten.“12

Nach einigen arabischen und jüdischen Texten war es einigen Juden zu Beginn gestattet, den Haram zu betreten und gewisse Dienste zu verrichten, zur großen Enttäuschung der Juden wurde jedoch in der Folge ihr Zugang zum Haram stets restriktiver gestaltet und schließlich verboten. Es blieb den Juden schließlich nur eine traurig-sehnsüchtige Ersatzhandlung, nämlich das Umschreiten der Mauern des Haram. Der Madrich Jeruschalajim, der älteste jüdische Jerusalemführer (auch aus der Geniza von Kairo), beschreibt diesen Trampelpfad der Juden des 10. Jh. n. Chr. Ich habe diesen Text im Anhang des Jerusalem-Bandes in deutscher Sprache erstmals vorgestellt. 13 Es ist ein ergreifendes, unbedingt zu lesendes Zeugnis, wie die jüdischen Pilger auf ihrem Weg der Süd- und Westmauer des Haram entlang und dann auf den Ölberg hinauf ihre alten biblischen und rabbinischen Traditionen wachriefen, sie auch mit frühchristlichen und muslimischen 10

Zu den Texten aus der Kairoer Geniza cf. Stemberger 2001/2002. Peters 1985, 192. 12 Jellinek 1853–1857 [1967], III 79. 13 Küchler 2007, 1145–1146. 11

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Traditionen positiv und negativ verbanden … und sehnsüchtig mit dem Ruf versahen, dass „der Zion doch schnell getröstet werde“! 9. … neueste Projekte eines Dritten jüdischen Tempels … Wir wissen alle, dass dieser Wunsch nach der Tröstung Zions in jüngster Zeit auf verschiedene Weise zu Projekten konkretisiert wurde, die vom Bau eines virtuellen Tempels mit virtuellen Opfern (unter Kontobelastung) über einen Kubus (nach Ezechiel) oberhalb des Tempelberges bis zu einem neuen Tempelgebäude nördlich oder südlich des Felsendomes, ja anstelle des Felsendomes reichen. Die „Gläubigen des Dritten Tempels“ sehen aufgrund ihrer Interpretation der Bibel – wieder einmal – den Zeitpunkt gekommen, den noch nie realisierten Tempelentwurf Ezechiels (Ez 40–48) in historische Wirklichkeit umzusetzen. Seit Jahren sind im Institut du Temple in Jerusalem Repliken der Kultgegenstände hergestellt, sodass der Kult – wenn der Messias kommt – sofort wieder nach den rabbinischen Vorschriften vollzogen werden kann. Einige spekulativ-archäologische Beiträge versuchen, den „Gründungsstein“ mit der Qubbat al-Arwah auf der inneren Plattform nordwestlich des Felsendomes zu identifizieren und mit dem ezechielischen Tempelentwurf topographisch zu verbinden. Und recht zahlreiche jüdische Traktate beschreiben anhand mittelalterlicher und späterer rabbinischer Traditionen die topographischen und kultischen Details des zukünftigen Dritten Tempels. Wenn religiös-politischer Fanatismus sich dieser ungeheuren Kraft und Hartnäckigkeit der jüdischen Erinnerung an den einstigen Tempel zu Nutze macht, kann man nur hoffen, dass israelische Politik und jüdische Weisheit das Schlimmste zu verhüten mögen. 10. … und eine Gegen-Utopie Ich möchte dagegen ein anderes Bild stellen, das aus der alten jüdischen Jerusalem-Tradition kommt und in der letzten Illustration zum Ausdruck gebracht wird. In einer Pesach-Haggada des Jahres 1665 (Abb. 4) sehen wir die ummauerte Stadt Jeruschalem, deren Tore alle weit offen stehen. Links unten kommt der Messias auf dem Esel (aus Sach 9,9) angeritten und Elias verkündet vorausgehend mit dem Schofar dessen Ankunft. Rundherum aber kommen die Menschen aller Nationen, wie ihre unterschiedlichen Kopfbedeckungen zeigen, zwischen den Bergen hervor und streben Jerusalem zu. In der Mitte der Stadt steht der Tempel, dieses eschatologische Zentrum der Welt, in der Gestalt – man schaue und staune – in der Gestalt des Felsendoms! Das ist ökumenische jüdische Eschatologie … und zugleich eine Anleitung, mit den bestehenden Gebäuden aus dem großen Fundus der gemeinsamen Erinnerungen eine gemeinsame Stätte der Gottesverehrung zu schaffen.

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Abb. 1.a

Abb. 1.b Abb. 1.a.und 1.b.: Bronzemünzen des Kaisers Hadrian (130–138) Abb. 1.a Vorderseite: Porträt Hadrians mit Umschrift IMP CAES TRAIANO HADRIANO [AUG PP], Rückseite: Die Stadtgrenze pflügendes Ochsengespann, darüber Legionsstandarten mit lateinischer Umschrift COL(onia) AEL(lia) KAPIT(itolina) COND(ita). Abb. 1.b Vorderseite: Porträt Hadrians mit Umschrift IMP CAES TRAI HADRIAN AUG, Rückseite: Distyle Tempelfassade mit der Kapitolinischen Trias Jupiter (mit Szepter, sitzend), Minerva (rechts) und Juno (links), mit lateinischer Umschrift COL(onia) AEL(ia) CAP(itolina). Aus: Frederic W. Madden, Coins of the Jews, London 1881, 249, Abb. 1; 250, Abb. 3.

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Abb. 2.a

Abb. 2.b Abb. 2.a und 2.b: Silbertetradrachme (überprägt) aus dem ersten (a) und dem zweiten (b) Jahr des Zweiten Jüdischen Krieges (132–135) Abb. 2.a Vorderseite: Tetrastyle Tempelfassade mit Toraschrein und flachem Dach, mit paläohebräischer Umschrift J[E]R USCH[A] L[E]M; Rückseite: Lulav und Etrog mit paläohebräischer Umschrift schenat ʾachat le-geʾullat jiṣraʾel, „Jahr eins der Erlösung Israels“. Abb. 2.b Gleiche Bildmotive wie a, doch neue paläohebräische Umschriften: Vorderseite: SCH[I]M [Stern] ʿON; Rückseite: le-charut Jeruschalem, „zur Freiheit Jerusalems“. Münzen des Bibel und Orient-Museums Fribourg, gezeichnet von Ulrike Zurkinden.

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Abb. 3: Silbertetradrachme (überprägt) aus dem Zweiten Jüdischen Krieg (132–135): Lulav und Etrog mit paläohebräischer Umschrift sch(enat)B le-char[ut] jiṣraʾel – „J(ahr) 2 der Freih(eit) Israels“; darunter noch erkennbar das bekränzte Haupt Vespasians, mit fragmentarischer lateinischer Umschrift ]AUTO[. Aus: The Abraham Bromberg Collection of Jewish Coins, Part II, Zürich/Beverly Hills 1992, 46, Abb. 411; gezeichnet von Ulrike Zurkinden.

Abb. 4: Pesach-Haggada (Venedig, 1655): Die ummauerte Stadt Jeruschalem mit offenen Toren und dem Felsendom, als Ziel der eschatologischen Völkerwallfahrt. Links unten kommt der Messias auf dem Esel (aus Sach 9,9) angeritten und Elias verkündet ihn mit dem Schofar. Aus: Zev Vilnay, The Holy Land in Old Prints and Maps, Jerusalem 21965, 80, Nr. 51.

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Abb. 5: Jerusalem-Vignette auf dem Madaba-Mosaik (um 600), Stadtansicht aus dem Westen (außer der Auferstehungsbasilika) und rekonstruierter Stadtplan (von oben): Der Tempelplatz ist Nr. VII. Aus: Józef T. Milik, La topographie de Jérusalem vers la fin de l’époque byzantine (Mélanges de l’Université Saint Joseph 37, Fasc. 7), Beyrouth 1961, Pl. I u. II; umgezeichnet von Johannes Kügerl und Siegfried Ostermann.

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Bibliographie Zitierte Literatur Jellink 1967 Jellink, Adolph (Hg.), Bet ha-Midrasch. Sammlung kleiner Midraschim und vermischter Abhandlungen aus der älteren jüdischen Literatur, Teil 3, Jerusalem 31967. Keel 2017 Keel, Othmar, Corpus der Stempelsiegel-Amulette aus Palästina/Israel. Von den Anfängen bis zur Perserzeit, Bd. 5: Von Tel el-˓Idham bis Tel Kitan (Orbis Biblicus et Orientalis, Series Archaeologica 35), Fribourg/Göttingen 2017. Keel 2007 Keel, Othmar, Die Geschichte Jerusalems und die Entstehung des Monotheismus (Orte und Landschaften der Bibel IV/1; in 2 Teilen), Göttingen 2007. Küchler 2007/2014 Küchler, Max, Jerusalem. Ein Handbuch und Studienreiseführer zur Heiligen Stadt (Orte und Landschaften der Bibel IV/2), Göttingen 2007; 2. völlig überarbeitete Auflage 2014. Peters 1985 Peters, Francis Edward, Jerusalem. The Holy City in the Eyes of Chroniclers, Visitors, Pilgrims, and Prophets from the Days of Abraham to the Beginning of Modern Times, New Jersey 1985. Stemberger 2001/2002 Stemberger, Günter, Jüdische Apokalyptik in Spätantike und Mittelalter, in: Apokalypse, Schlaraffenland, Jahrtausendwende. Beiträge des öffentlichen Symposiums des Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft veranstaltet in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis für Mittelalter-Studien der Universität Salzburg vom 24. bis 26. Februar 2000 in der Universität Salzburg (Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 13), Frankfurt am Main 2001/2002, 11–28. Weitere Grundlagenliteratur Keel, Othmar, Jerusalem und der eine Gott. Eine Religionsgeschichte, Göttingen 2011. Küchler, Max / Uehlinger, Christoph (Hgg.), Jerusalem. Texte – Bilder – Steine. Zum 100. Geburtstag von Hildi und Othmar Keel-Leu (Novum Testamentum et Orbis Antiquus 6), Fribourg/Göttingen 1987. Darin besonders: Goldman, Yohanan P. / Küchler, Max / Alobaidi, S.-J., Le plus ancien guide Juif de Jérusalem Der älteste jüdische Jerusalem-Führer (Library of the University of Cambridge. T.-S. Fragments (arabic) 53. Dr. Hirschfeld Selection No.2). Fac-similé et transcription, Traduction française, Commentaire (français) de J. Braslavi, Faksimile und Transkription, Deutsche Übersetzung, (Französischer) Kommentar von J. Braslavi, 37–81. Küchler, Max, Moschee und Kalifenpaläste Jerusalems nach den Aphrodito-Papyri, in: Zeitschrift des Deutschen Palästinavereins 107 (1991), 120–143. – Ein jüdischer Jerusalem-Führer aus der Kairoer-Geniza (UCL, T.-S. Arabic Box 53, f.2), Teil I: Der Text und sein Kontext, in: Bulletin der Schweizerischen Gesellschaft für Judaistische Forschung 1 (1992), 10–25.

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– Die „Probatische“ und Betesda mit den fünf stoai (Joh 5,2), in: Kessler, Andreas / Ricklin, Thomas / Wurst, Gregor (Hgg.), Peregrina Curiositas. Eine Reise durch den Orbis Antiquus zu Ehren von Dirk Van Damme (Novum Testamentum et Orbis Antiquus 27), Fribourg/Göttingen 1994, 127–154. –

Der zweite und die dritten Tempel von Jerusalem. Oder: Heiligste Institutionen im Zentrum und am Rand, in: Küchler, Max / Reinl, Peter (Hgg.), Randfiguren in der Mitte. Hermann-Josef Venetz zu Ehren, Luzern/Fribourg 2003, 205–222.

– Meine Augen haben ihr Heil gesehen (fast Lk 2,30). Das Mariengrab im Kedrontal als Ausdruck des christlichen Paradoxes vom Glauben aus dem Sehen des Abwesenden, in: Böhler, Dieter / Himbaza, Innocent / Hugo, Philippe (Hgg.), L’Ecrit et l’Esprit. Etudes d’histoire du texte et de théologie biblique en hommage à Adrian Schenker (Orbis Biblicus et Orientalis 214), Fribourg/Göttingen 2005, 160–182. –

Die hellenistisch-römischen Felsgräber im Kedrontal. Priesterlich-aristokratische Grabpracht im Angesicht des Zweiten Tempels, in: Küchler, Max / Schmidt, Karl M. (Hgg.), Texte – Fakten – Artefakte. Beiträge zur Bedeutung der Archäologie für die neutestamentliche Forschung (Novum Testamentum et Orbis Antiquus 58), Fribourg/Göttingen 2006, 103–141.



Heil ergehen in Jerusalem, in: Pichler, Josef / Heil, Christoph (Hgg.), Heilungen und Wunder. Theologische, historische und medizinische Zugänge, Darmstadt 2007, 162– 187.



„Niemand verändert deinen heiligen Ort …“. Zum antik-jüdischen Hintergrund der ersten Stanza von Ode Salomo 4, in: Allen, Pauline / Franzmann, Majella / Strelan, Rick (Hgg.), „I Sowed Fruits into Hearts“ (Odes Sol. 17:13). Festschrift Michael Lattke (Early Christian Studies 12), Strathfield 2007, 107–115.



Amphorenstempel in Jerusalem. Ein übersehener Bildträger im Palästina der hellenistischen Zeit, in: Bickel, Susanne / Schroer, Silvia / Uehlinger, Christoph (Hgg.), Bilder als Quellen – Images as Sources. Studies on Ancient Near Eastern Artefacts and the Bible Inspired by the Work of Othmar Keel (Orbis Biblicus et Orientalis, Sonderband), Fribourg/Göttingen 2007, 329–348.

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Medina Stadt des Propheten und Camposanto des Islams1

Werner Ende (Freiburg)

Dieser Beitrag muss mit einem Geständnis beginnen, nämlich diesem: Ich war noch niemals in Medina. Es ist auch sehr unwahrscheinlich, dass ich die Stadt jemals besuchen werde, denn ich bin nicht Muslim, und Nichtmuslimen ist zumindest das Betreten des inneren, „heiligen“ Bezirks verboten. Dennoch glaube ich in der Lage zu sein, mich über Medina zu äußern, da es in reichem Maße schriftliche und bildliche Materialien über die Stadt und die dort befindlichen, den Muslimen heiligen Stätten gibt. Zunächst einige allgemeine Bemerkungen zum „Heiligen“ im islamischen Glaubensleben, in der Glaubenspraxis und in der islamischen Geschichte: Der Islam bzw. die islamisch geprägten Gesellschaften kennen heilige Orte, Gegenstände und Zahlen, heilige Schriften, Tage bzw. Zeiten des Jahres und, nicht zuletzt, heilige Menschen (und zwar Männer wie Frauen, noch lebende Personen oder verstorbene). Es gibt im Islam keine „Heiligsprechung“ im engeren Sinne, wie sie etwa das katholische Christentum praktiziert. Es fehlt die entsprechende Institution, die dies als formalen Prozess vollziehen könnte. Die Verehrung von Orten, Gegenständen, Personen etc. knüpft in manchen Fällen an Äußerungen im Koran oder in der Prophetenüberlieferung (ḥadīṯ, im Folgenden: Hadith) an, kann aber auch andere, spätere Ursprünge haben. In jedem Fall manifestiert sie sich – im Laufe der Geschichte – als eine bestimmte Form von Verehrung durch (mehr oder weniger viele) Gläubige. Das Maß dieser Verehrung mag durchaus unterschiedlich sein und dürfte kaum je einer durch Gelehrte, Herrscher oder andere Instanzen

1

Da der vorliegende Beitrag sich nicht in erster Linie an ein Fachpublikum im engeren Sinne richtet, wurde auf die Nennung arabischer und anderer orientalischer Quellen und Darstellungen verzichtet. Die Titel einiger der wichtigsten finden sich in den Publikationen, die in den Anmerkungen 2 bis 6 genannt und im Literaturverzeichnis aufgenommen sind.

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festgelegten Rangfolge unterliegen. Die „gefühlte“ Heiligkeit lässt sich weder messen noch kontrollieren.2 Manche der entsprechenden Orte, Gegenstände, Personen etc. haben von Anfang an (und behalten auf Dauer) nur lokales oder regionales Gewicht, anderen kommt ursprünglich, bzw. früher oder später, universale Bedeutung zu. In einigen Fällen ist zu beobachten, dass sie von Muslimen und Nichtmuslimen gleichermaßen oder zumindest in ähnlicher Weise verehrt werden. Zu den heiligen Orten des Islams zählen ganze Städte, aber auch isolierte Örtlichkeiten bzw. Gegenstände wie Höhlen, Haine, Quellen, Bäume oder Steine. Nicht selten finden sich dort Heiligengräber, und in Verbindung damit eventuell auch Reliquien unterschiedlicher Art. Die heiligen Orte mit ihren daselbst befindlichen, als verehrungswürdig geltenden Stätten und Objekten repräsentieren eine lebendige Erinnerungskultur. In den Vorstellungen der Besucher und Besucherinnen geht es vor allem um Hoffnungen und Erwartungen. Man verspricht sich von den Besuchen den Segen Gottes oder eines/einer Heiligen, dessen/deren Fürbitte bei Gott oder direkte Hilfe in der Not. Besonders ausgeprägt ist der Kult um Heilige und deren Grabstätten bei Anhängern der islamischen (sunnitischen wie schiitischen) Mystik sowie generell im schiitischen Islam. Über Jahrhunderte haben populäre, z. T. heterodoxe Formen ihres jeweiligen Glaubenslebens die Praxis der Mehrheit der Muslime in aller Welt dominiert, und bis zu einem gewissen Grade ist dies auch heute noch so. Dies hatte sowohl Einfluss auf die Häufigkeit und Intensität von Besuchen bei den heiligen Stätten als auch auf das Verhalten der Besucher selbst. Während die Mekka-Pilgerfahrt (ḥaǧǧ) zwar eine religiöse Pflicht ist, aber von der Mehrheit der Muslime aus unterschiedlichen Gründen nicht geleistet werden kann, ist der Besuch (ziyāra) bei einer (vom eigenen Wohnort aus gesehen mehr oder weniger nahe gelegenen) Wallfahrtsstätte mit ihren Heiligengräbern und anderen verehrungswürdigen Örtlichkeiten im Allgemeinen viel einfacher. Es ist relativ leicht, diesen Besuch im Laufe eines Lebens wiederholt zu vollziehen. Daraus erklärt sich z. B. die außerordentliche Bedeutung von historisch höchst zweifelhaften, aber sehr populären Wallfahrtsstätten – so etwa Mazar-e Sharif in Afghanistan, wo das vermeintliche Grab ʿAlī ibn Abī Ṭālibs, des ersten Imams der Schia, verehrt wird, wenngleich die überwältigende Mehrheit der Muslime überzeugt ist, dass sich dieses in Nadschaf befindet. Die Wallfahrt zu solchen Orten – aber auch nach Medina – gilt grundsätzlich nicht als ḥaǧǧ. Selbst eine wiederholte ziyāra dorthin kann keineswegs als Ersatz für die Mekka-Pilgerfahrt gelten, wird aber bei manchen einfachen Gläubigen als irgendwie äquivalent aufgefasst. 3 Unter 2

Aus der Fülle der wissenschaftlichen Literatur seien hier lediglich genannt: Tworuschka 1994a und 1994b; Hirschler 2006; Gramlich 1987. 3 Siehe dazu Meri 2002, 524–539 und Kriss/Kriss-Heinrich 1960.

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allen frommen Besuchen, die ein Muslim oder eine Muslima durchführen kann, hat die ziyāra nach Medina eine überragende Bedeutung. Sie gilt im religiösen Sinne als außerordentlich verdienstvoll und wird als spirituelles Erlebnis von vielen Muslimen sehr tief empfunden. In zahlreichen Schriften muslimischer oder nichtmuslimischer Autoren wird eine Rangfolge der drei für den Islam heiligsten Städte angeführt: Mekka – Medina – Jerusalem. Die beiden erstgenannten werden häufig in einem Atemzug als ḥaramān bzw. ḥaramayn (im Folgenden: Haramayn) bezeichnet. Beide Städte, im Westen der Arabischen Halbinsel, in der Region Ḥiǧāz (Hedschas) gelegen, sind in der Tat von der Frühzeit des Islams bis in die Gegenwart eng – wenn auch nicht immer nur freundschaftlich – miteinander verbunden gewesen. Die Bezeichnung ḥaramān/ḥaramayn (ein sog. Dual, von arab. „heilig, geheiligt, Heiligtum“ etc.), verweist auf die besondere, von Gott verliehene Weihe und Würde der beiden Städte. Seit dem 12. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung haben muslimische Herrscher, denen die Oberhoheit über Mekka und Medina zugefallen war, den Titel „ḫādim al-ḥaramayn aš-šarīfayn“ in Anspruch genommen, d. h. „Diener (od. Hüter) der beiden hochedlen Heiligen Stätten“. Seit 1986 legen die Könige von Saudi-Arabien besonderen Wert auf die Führung und internationale Anerkennung dieser alten Bezeichnung.4 Die Frage, inwiefern Jerusalem, das als Stadt insgesamt bzw. dessen Tempelberg ebenfalls als ḥaram bezeichnet wird, aus muslimischer Sicht gegenüber Mekka und Medina als nachrangig anzusehen sei oder nicht, ist interessant, kann hier aber nicht erörtert werden. Während es Orte gibt, die erst durch ein islamisches Heiligengrab (oder deren mehrere) als Siedlung entstanden sind (so etwa die schiitischen Wallfahrtsstätten Nadschaf und Kerbela im Irak), reicht die Vergangenheit nicht nur von Jerusalem, sondern auch die von Mekka und Medina in vorislamische Zeit zurück. Die frühe Geschichte dieser beiden Städte liegt, was die Ergebnisse kritischer Forschung angeht, in wesentlichen Einzelheiten nach wie vor im Dunklen. Gründliche archäologische Forschung, die die traditionelle, legendär überwucherte Überlieferung korrigieren könnte, ist bisher in den Haramayn und deren näherer Umgebung nicht möglich. Es geht mir im Folgenden nicht darum zu beschreiben (bzw. darüber zu spekulieren), „wie es denn eigentlich gewesen sei“, sondern darum zu zeigen, was Muslime meinen, was die religiös-historische Wahrheit über die Haramayn darstelle und welche Bedeutung Medina in dieser Hinsicht zukommt. Dabei zeigt sich, dass die muslimische Überlieferung nicht widerspruchsfrei ausfällt, und dass 4

Zur Geschichte des Ehrentitels s. Lewis 1978, 899–900. – Zur Stadtgeschichte von Mekka und Medina s. Watt 1991 und Watt/Winder 1986; zu Medina außerdem Schöller 2003. – Zur Entwicklung des Prophetengrabes und seiner Umgebung zum „heiligen Ort“ in den ersten drei Jahrhunderten der islamischen Geschichte s. Munt 2014. Zur MekkaPilgerfahrt s. Wensinck u. a. 1971, ferner Faroqhi 1990 und Stratkötter 1991.

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nicht zuletzt der konfessionelle Gegensatz zwischen Sunniten und Schiiten, der (cum grano salis) in Medina seinen Ursprung hat, ein einheitliches Bild der Vergangenheit nicht zulässt. Unabhängig von dieser konfessionell beeinflussten Sichtweise hat auch eine gewisse Rivalität zwischen Mekka und Medina (eine Rivalität, wie sie ebenso zwischen eher „unheiligen“ Städten bestehen kann) dazu beigetragen, dass die oben genannte Rangfolge (Mekka vor Medina) keineswegs unumstritten war und ist, und zwar anscheinend von frühislamischer Zeit an. Stets ging es dabei – in erster Linie – um das religiöse Prestige der wichtigsten heiligen Stätten in Mekka und Medina und deren unmittelbarer Umgebung. Im Mittelpunkt steht die Kaʿba einerseits (sie wird im Koran mehrmals genannt) und die Moschee des Propheten mit seinem dort befindlichen Grab andererseits. Als sakraler Bau, dessen Grundmauern von Abraham und dessen Sohn Ismāʿīl errichtet worden sein sollen (so Koran 2:127, dort Bayt Allāh), war und ist die Kaʿba und damit Mekka schwerlich zu übertreffen, doch hat es über Jahrhunderte immer wieder einige Muslime – darunter wichtige Autoren – gegeben, die eine Art Gleichrangigkeit oder gar Überlegenheit Medinas nachzuweisen versucht haben. Der Rangstreit um die Vorzüge (faḍāʾil) Medinas gegenüber Mekka kann weniger auf koranische Aussagen Bezug nehmen als vielmehr auf ein gewisses Bild vom (angeblichen oder tatsächlichen) Gang der frühislamischen Geschichte, sowie auf den Propheten-Hadith. Allein schon der Glaube daran, dass Gott diese Stadt als Zielpunkt der Hidschra (dār al-hiǧra) gewählt hat, dass Muḥammad daselbst die Grundlagen eines gottgewollten Gemeinwesens errichten und von dort aus schließlich das von Heiden beherrschte Mekka erobern konnte, liefert für manche Muslime ein wesentliches Argument zugunsten von Medina. Eine Fülle von Worten des Propheten, in denen er seine Liebe zu Medina bekundet und den besonderen Segen Gottes für die Stadt bezeugt, soll den Anspruch noch verstärken. Als besonders gewichtig kann in dieser Hinsicht zum Beispiel folgender Satz gelten: Mā bayna baytī wa-minbarī rawḍa min riyāḍ al-ǧanna, d. h. „Was zwischen meinem Haus und meiner Kanzel liegt, ist ein Garten des Paradieses“.5 Die als rawḍa (Garten) bezeichnete Fläche von ca. 15 m x 22 m bildet bis heute einen reich geschmückten, viel besuchten Ort innerhalb des Moschee-Komplexes. Zentrum desselben, aber für Besucher im Allgemeinen völlig verschlossen, ist das in unmittelbarer Nähe befindliche eigentliche Prophetengrab, die sogenannte ḥuǧra šarīfa. Im Inneren dieses Raumes sind, der muslimischen Geschichtsschreibung zufolge, auch zwei der engsten Gefährten Muḥammads, nämlich Abū Bakr und ʿUmar, beigesetzt worden. Es handelt sich um die beiden ersten Nachfolger (Kalifen/von arab. ḫalīfa) in der Leitung der Gemeinde. Ursprünglich lag diese Gruppe von drei Gräbern nicht innerhalb der von Muḥammad errichteten 5

Zum Rangstreit zwischen Mekka und Medina hinsichtlich ihrer Heiligkeit und anderer Vorzüge s. Arazi 1984 und Casewit 1991, 5–22.

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Moschee, wurde aber, so die Überlieferung, bereits unter dem Umayyadenkalifen Al-Walīd ibn ʿAbd al-Malik in deren Bereich einbezogen. Dies sei in den Jahren 707–710 geschehen. Angeblich ist 1278–1279 erstmals eine Kuppel darüber errichtet worden. Im 19. Jahrhundert (evtl. aber schon früher) hat sie einen grünen Anstrich erhalten. Diese Kuppel mag kein herausragendes Werk islamischer Architektur sein, gehört aber zu den Bauten, deren Abbildung von vielen Millionen Muslimen in aller Welt auf den ersten Blick erkannt wird.6 In der Gegenwart gibt es nicht wenige Gläubige, die sich im Hinblick auf den Fortbestand dieser Kuppel und des Prophetengrabes Sorgen machen, ja sogar die Zerstörung fürchten. Davon berichte ich später mehr. Neben der Moschee ist es vor allem der alte Friedhof von Medina, Baqīʿ alĠarqad, auch bekannt als Ǧannat al-Baqīʿ, der zu den Vorzügen der Stadt gezählt wird (Abb. 1). Es handelt sich um den ältesten islamischen Friedhof überhaupt, und zwar insofern, als der Überlieferung nach der Prophet selbst dieses Terrain für die Verstorbenen seiner Gemeinde ausgesucht hat. Zwar gibt es auf dem alten Friedhof in Mekka, genannt Al-Maʿlā, einige Gräber, die bestimmten vor der Hidschra verstorbenen Muslimen zugeschrieben werden (z. B. Ḫadīǧa, Muḥammads erste Ehefrau), doch als erster, neu und bewusst angelegter islamischer Friedhof hat allein der Baqīʿ (so die übliche Kurzbezeichnung) zu gelten.7 Der Engel Gabriel soll den Propheten gelehrt haben, wie die dort begrabenen Muslime bei jedem Besuch zu grüßen sind. Am Tage des Jüngsten Gerichts werden sie es sein, deren Gräber – nach denen Muḥammads und seiner beiden Gefährten Abū Bakr und ʿUmar – sich öffnen, und erst danach die des Maʿlā in Mekka. Die Engel werden dann – so eine Überlieferung – den gesamten Friedhof von Medina an seinen Rändern hochheben und ihn sanft im Paradies absetzen. Auf dem Baqīʿ al-Ġarqad liegen der Legende nach 10.000 (nach anderen Überlieferungen: 7000 oder weniger) Prophetengefährten begraben, ferner die meisten seiner Ehefrauen, mehrere Töchter, Tanten und weitere Angehörige, außerdem der dritte Kalife ʿUṯmān ibn ʿAffān, des Weiteren der Begründer der malikitischen Rechtsschule Mālik ibn Anas und viele andere bekannte oder weniger bekannte Personen aus der Frühzeit des Islams. Die genaue Lage der Grabstätten ist, abgesehen von den soeben Genannten, in vielen Fällen nicht festzustellen, in anderen umstritten – so etwa mit Bezug auf Fāṭima az-Zahrāʾ, eine Tochter des Propheten und Mutter zweier Imame der Schia, Al-Ḥasan und Al-Ḥusayn ibn ʿAlī. Nach islamischer Überlieferung hat Muḥammad persönlich die Beerdigung einiger seiner Gefährten und Angehörigen durchgeführt bzw. beaufsichtigt. Seine diesbezüglichen Worte, Handlungen und Verhaltensweisen sind früher oder

6 7

Zur Baugeschichte der Moschee s. Behrens 2007. Siehe Ende 2010, sowie Ende 2012.

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später als maßgeblich aufgefasst und zum Kernbestand der schariarechtlich vorgeschriebenen Begräbnispraxis gemacht worden. In diesen Zusammenhang gehört die gerade auch in der Gegenwart heftig umstrittene Frage nach der Anbringung von Schmuck, Lampen etc. bzw. von beschrifteten Grabsteinen sowie der Errichtung von Grabkuppeln.8 Insofern gehört der Baqīʿ al-Ġarqad zu den prägenden Orten der islamischen Geschichte – selbst wenn dies vielen Muslimen nicht voll bewusst ist und die Regeln der Scharia auch im Falle der Beerdigung und des Totengedenkens bei weitem nicht immer und überall beachtet werden. Im Laufe der folgenden Jahrhunderte und bis in die Neuzeit hat der Baqīʿ als Begräbnisstätte für die meisten Bewohner von Medina gedient – alteingesessene wie Zuwanderer (darunter berühmte Religionsgelehrte und Sufis). Gelegentlich wurden Muslime aus mehr oder weniger entfernten Regionen nach ihrem Tode dorthin überführt und beigesetzt. Auch im 19. und 20. Jahrhundert haben prominente Persönlichkeiten der islamischen Welt auf diesem Friedhof ihre letzte Ruhestätte gefunden – so der Führer des muslimischen Widerstands gegen das Vordringen der Russen im Kaukasus, Šāmil (gest. 1871 in Medina), und der König von Libyen, Idrīs I. (gestorben 1983 im Exil in Kairo). Eine kurze Bemerkung möchte ich zu den Zuwanderern machen: Diese bildeten über Jahrhunderte einen wesentlichen Anteil an der Stadtbevölkerung. Eine bedeutende Gruppe unter ihnen waren die muǧāwirūn bzw. (weibl.) muǧāwirāt, „fromme Aufenthalter“ aus vielen Ländern, die aus unterschiedlichen Gründen nach Medina kamen: So etwa politische Asylanten, pensionierte hohe Beamte, Notabeln, Witwen von Herrschern, ferner Studenten, Sufis, „Aussteiger“ vielerlei Art und Bettler. Die Heiligkeit der Stadt bot ihnen Schutz, spirituelle Nähe und – durch Spenden und Subsidien – eine gewisse Sicherung der materiellen Existenz. Bei diesen finanziellen Zuwendungen handelte es sich meist um Erträge aus „frommen Stiftungen“ (awqāf ), die aus anderen Ländern wie z. B. Ägypten, Iran oder aus muslimischen Fürstentümern Indiens für bestimmte Bevölkerungsgruppen (vor allem Familien der Prophetennachkommen oder die muǧāwirūn) zur Verfügung gestellt wurden. Den meisten der „frommen Aufenthalter“ lag daran, in der Nähe des Prophetengrabes und des Baqīʿ zu leben. Viele von ihnen waren gekommen, um nach ihrem Tode dort beerdigt zu werden. Und so geschah es dann meist auch.9 Das Verhältnis dieser Personen zu den Alteingesessenen bzw. zu den durchreisenden Pilgern war anscheinend nicht immer spannungsfrei. Generell lässt sich sagen, dass auswärtige Besucher, die ihre Eindrücke notiert haben, nicht unbedingt ein durchweg positives Bild von den Bewohnern der heiligen Stadt und ihren frommen Gästen zeichnen mochten.

8 9

Halevi 2007; Halevi 2013; Leisten 1998. Ende 1993, 293–294, speziell zu Medina s. Behrens 2007, 288–297.

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Medina, sozusagen die erste „Hauptstadt“ des jungen islamischen Staates, hat schon im 7. Jahrhundert seinen Status als Machtzentrum verloren. Ähnliches gilt für Mekka. Über Jahrhunderte gerieten die Haramayn unter die Kontrolle fremder Dynastien, die freilich für Mekka und Medina eine lokale, lose Herrschaft durch einheimische Familien aus der Nachkommenschaft des Propheten akzeptierten. Die Oberhoheit bedeutete für jene Dynastien – nicht zuletzt für die Osmanen, die von 1517 bis 1919 aus der Ferne und (abgesehen von der spätesten Zeit ihrer Herrschaft) nur indirekt über die Haramayn regierten – ein außerordentliches Machtsymbol. Im Zusammenhang mit internen Kämpfen und zwischenstaatlichen Rivalitäten ergab sich daraus allerdings auch eine politische und finanzielle Bürde.10 Die andauernden, gelegentlich sich verschärfenden Probleme der Herrschaft über Medina lassen sich auch und gerade an der Geschichte des Baqīʿ al-Ġarqad zeigen: Die Errichtung von Grabmälern auf diesem Friedhof, deren Ausstattung, Bewachung, Pflege und eventuelle Restaurierung sowie die Erhaltung der äußeren Begrenzungsmauern des Gräberfeldes, die Regulierung des Zugangs von Besuchern und dergleichen – all das war nicht selten umstritten. Es ist zu bedenken, dass der Baqīʿ der älteste, durchgängig bestehende und meistbesuchte Friedhof der gesamten islamischen Welt ist. Seine teilweise Zerstörung durch die saudischen Wahhabiten im Jahre 1805 und dann (mit bis heute anhaltender Wirkung) 1926 hat dazu geführt, dass sein gegenwärtiger Zustand ebenso wie die Hoffnung auf eine Restauration in erheblichen Teilen der internationalen panislamischen Öffentlichkeit ein akutes Thema darstellt. Dabei ist Folgendes zu beachten: Jene Akte der Zerstörung bedeuten für die Wahhabiten nicht mehr und nicht weniger als die Wiederherstellung der Heiligkeit des Friedhofes. Für die zahlreichen Gegner der Wahhabiya handelt es sich jedoch um den Ausdruck sektiererischen Wahns, nämlich um die Schändung heiliger Stätten. Zwischen beiden Positionen ist eine Vermittlung nur schwer bzw. gar nicht möglich. Auch das strenge Regime, dem das Verhalten der Pilger auf dem Friedhof wie auch innerhalb der Prophetenmoschee unterworfen ist, wird seitens der meisten nicht-wahhabitischen Besucher naturgemäß als Ungerechtigkeit und Demütigung empfunden. Dazu gehört nicht zuletzt das (nach wahhabitischer Doktrin) generell für Frauen geltende Verbot, den Friedhof zu betreten.11 Zum besseren Verständnis ist es hier wohl angebracht, einige Probleme des muslimischen Heiligen- und Gräberkults zu skizzieren: Die Motive und das faktische Verhalten bei Besuchen an heiligen Orten waren schon früh Gegenstand von innermuslimischen Kontroversen. Nicht selten ging es um die Echtheit der Überlieferung über diese Orte (z. B. wegen des Verdachts falscher Zuschreibung

10 11

Ende 2015. Siehe dazu Ende 2012, bes. 189–197 und die dort genannte Literatur.

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oder konfessionell motivierter, extrem übersteigerter Ausschmückung der Ursprungslegende), aber auch um die Bewertung des Geschehens an einem einzelnen Heiligengrab oder einem Wallfahrtsort (z. B. unerlaubte Annäherung von Männern und Frauen im Gedränge der Besucher sowie anderes, von nicht wenigen Beobachtern als schamlos empfundenes Treiben). Hoch umstritten, und zwar auch und gerade mit Bezug auf Medina, ist die Frage der Absicht, die die Besucher und Besucherinnen mit ihrer Wallfahrt verbinden: Was ist ein legitimes Motiv und was nicht? Umstritten ist hier in erster Linie der Wunsch vieler Gläubiger, beim Besuch von Heiligengräbern die dort bestatteten Toten einschließlich des Propheten um Vermittlung (tawassul) bei Gott zu bitten, in diesem Zusammenhang Eide zu leisten, Opfergaben niederzulegen, sich auf oder bei den Gräbern niederzuwerfen, dort das rituelle Gebet zu verrichten und dergleichen mehr. Gegen dieses überaus weit verbreitete Verhalten haben sich im Verlauf der Geschichte immer wieder einmal einzelne Personen oder ganze Gruppen bzw. Bewegungen gewandt. Besonders vehemente Kritik an derartigen Praktiken kommt von Angehörigen der sunnitischen Rechtsschule der Hanbaliten (benannt nach Aḥmad ibn Ḥanbal, gest. 855). Maßgeblich für unser Thema ist das entsprechende Wirken des hanbalitischen Gelehrten Aḥmad ibn Taymiyya, der 1328 in Damaskus starb.12 Auf seine Lehren berief sich (gegen den Widerstand auch von Hanbaliten) im 18. Jahrhundert Muḥammad ibn ʿAbd al-Wahhāb (gest. 1792), der Begründer der sogenannten „Wahhabiya“ in der zentralarabischen Landschaft Nadschd. Seine rigorose Interpretation des allgemein anerkannten Prinzips des Monotheismus (tawḥīd) läuft darauf hinaus, dass die allerorten weit verbreiteten Vorstellungen und Bräuche des islamischen Heiligen- und Gräberkults in Wirklichkeit unerlaubte Neuerungen (arab. Singular bidʿa) darstellen und zum Polytheismus (širk) führen. Die wahren Gläubigen seien streng dazu verpflichtet, dagegen vorzugehen, notfalls die Bezichtigung des Unglaubens (takfīr) auszusprechen und gegen Menschen und Sachen eventuell auch physische Gewalt anzuwenden. Nicht zuletzt Grabaufbauten, beschriftete Grabsteine, Moscheen über Gräbern und dergleichen seien – notfalls gewaltsam – zu beseitigen. Dies alles wird mit Hadithen zu stützen versucht. Dabei gehe es, so die Wahhabiten, im Prinzip keineswegs darum, das Andenken der Toten zu beschädigen, sondern nur um die Abwehr aller äußeren Anlässe, durch die die Muslime in den Polytheismus abgleiten könnten.13 Anhänger Muḥammad ibn ʿAbd al-Wahhābs und seiner politischen Verbündeten aus der Fürstenfamilie der Saʿūd haben vom frühen 19. Jahrhundert an versucht, ihre Doktrin auch außerhalb der Region Nadschd durchzusetzen. Beutelust 12

Memon 1976; Olesen, 1991. Zur wahhabitischen Bewegung, zu ihrem Gründer und ihrer Doktrin s. Peskes 1993. Dazu sowie zur weiteren Entwicklung s. auch Peskes/Ende 2002; zur Rolle der Wahhabiya im Rahmen des Königreichs Steinberg 2002 und Ende 2005. 13

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und religiöser Eifer waren dabei gleichermaßen wirksam. 180214 wurde das schiitische Heiligtum von Kerbela überfallen, geplündert und schwer beschädigt. 1803 folgte Mekka und 1805 Medina. Das Ausmaß der damaligen Zerstörung von Mausoleen und anderen Bauten in den Haramayn scheint im Detail nicht ganz geklärt zu sein. Die Kuppel über dem Prophetengrab blieb jedenfalls weitgehend unangetastet. Erheblich hingegen waren die Zerstörungen auf dem Friedhof AlBaqīʿ. Dort wurde vor allem das größte Gebäude, das Mausoleum der Ahl al-bayt – in dem sich die Gräber von vier schiitischen Imamen befinden – schwer beschädigt. Nach der Vertreibung der Wahhabiten aus dem Hedschas 1812/13 durch ägyptische Truppen sind die wichtigsten Grabbauten auf dem Baqīʿ zwar auf Befehl osmanischer Sultane restauriert worden, doch fielen sie im April 1926 einem erneuten, verheerenden Angriff zum Opfer (Abb. 2). Zu den für viele Muslime bitteren Begleitumständen der Zerstörungen von 1926 gehört der Umstand, dass ein wahhabitischer Kadi, ʿAbdallāh ibn Bulayhid, einige der prominentesten sunnitischen Gelehrten von Medina dazu zwang, in Gestalt einer Fatwa die bisherigen Zustände zu verdammen und die Demolierung von Mausoleen und dergleichen zu rechtfertigen.15 In manchen Teilen der islamischen Welt, so etwa in Pakistan, veranstalten (sunnitische und schiitische) Sufis und andere Gegner der Wahhabiya – sowie generell Schiiten – alljährlich am 8. Tage des Monats Šawwāl einen Gedenk- und Protesttag sowohl gegen jene Zerstörungen von 1926 als auch gegen den Fortbestand des in ihren Augen tristen, ja unwürdigen Zustands dieses Friedhofs. An der (oft durch aktuelle politische Ereignisse angeheizten) Empörung haben auch rezente Maßnahmen der saudischen Behörden wie die Einrichtung von betonierten Fußwegen durch das Gelände des Baqīʿ und der Bau einer neuen, durchaus stattlichen hohen Friedhofsmauer nichts ändern können. Eine regelrechte Rekonstruktion der Mausoleen ist auf absehbare Zeit offenbar ausgeschlossen. Die saudische Regierung lehnt bisher auch alle Angebote panislamischer Organisationen oder einzelner Regierungen (so etwa Irans) eindeutig ab, sich an den Kosten einer (eventuell nur partiellen) Restaurierung zu beteiligen. Ein Sonderfall bleibt das künftige Schicksal der oben genannten ḥuǧra šarīfa, also des Prophetengrabes nebst den Gräbern von Abū Bakr und ʿUmar (Abb. 3). 1926 verstand es der spätere Gründerkönig Saudi-Arabiens, ʿAbd al-ʿAzīz, international bekannt als Ibn Saʿūd (gest. 1953), seine Gefolgsleute an der Zerstörung dieser heiligen Stätte zu hindern. Dies geschah durch listiges Hinhalten und Ablenken der Eiferer. Anscheinend lieferten er und seine wahhabitischen Berater damals jedoch keine eindeutige Begründung für ihr Zögern – so etwa das denkbare 14

Die auch in der Fachliteratur häufig genannte Jahreszahl 1801 beruht auf einem alten Irrtum. 15 Rutter 1928 [1930], 562–564; Ende 2012, 190–191.

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Argument, dass die wahhabitische Doktrin im Falle eines Prophetengrabes eine Ausnahme von jener Regel zulasse, wonach Grabmäler innerhalb einer Moschee nicht zu dulden seien. In der Folgezeit haben immer wieder einmal einzelne Wahhabiten ihrem Unbehagen gegenüber der nun seit Jahrzehnten anhaltenden, für sie sehr störenden Situation Ausdruck gegeben. Dies geschah (und geschieht auch gegenwärtig) häufig recht verhalten und im Halb-Verborgenen. Allerdings führt neuerdings die öffentliche Debatte in Saudi-Arabien über die Erweiterung des Haram-Areals von Medina und die damit im Zusammenhang stehende Umgestaltung der gesamten Innenstadt dazu, dass das Thema an Aktualität gewonnen hat. Die Diskussion gehört in den weiteren Rahmen eines Streits über den Abriss zahlreicher historischer Bauten (inkl. einiger vernachlässigter Moscheen) im Umkreis der Prophetenmoschee. In diesem Zusammenhang lässt sich die Entstehung eines aktiven, geschickt argumentierenden „islamischen“ Denkmalschutzes beobachten. Dessen Wortführer würden vermutlich den Mut finden, sich jeglichem versuchten Angriff auf die ḥuǧra šarīfa und deren Kuppel zu widersetzen. Was andererseits die wahhabitischen Eiferer betrifft, so ginge es ihnen, wenn man ihnen freie Hand ließe, zunächst einmal darum, den direkten baulichen Zusammenhang zwischen der Moschee und dem Prophetengrab zu beseitigen und wohl auch die Grabkuppel abzutragen. Für den Fortbestand der eigentlichen ḥuǧra šarīfa ließe sich wahrscheinlich eine Kompromisslösung finden. Darauf kann ich hier allerdings nicht eingehen.16 Durch die Frage, wie mit dem Prophetengrab einerseits und mit dem Baqīʿ andererseits umzugehen sei, wird von Zeit zu Zeit eine innerislamische Debatte wiederbelebt, die im Grunde seit 1926 besteht: Es geht um Bestrebungen zugunsten einer panislamischen Kontrolle über die Haramayn, also einer Internationalisierung der heiligen Stätten einschließlich der Friedhöfe Al-Maʿlā und Al-Baqīʿ. Forderungen dieser Art werden gelegentlich von Regierungen islamischer Staaten im Zusammenhang mit anderen, akuten politischen Streitigkeiten erhoben und verschwinden meist recht schnell wieder von der Tagesordnung. Unabhängig davon betreiben jedoch bestimmte muslimische Organisationen, besonders in einigen asiatischen Ländern, eine kontinuierliche Agitation in diese Richtung und fordern z. B. eine Einschaltung der Arabischen Liga, der Vereinten Nationen bzw. der UNESCO.

16

Behrens 2007, 155–157. Berichte in der internationalen Presse, wonach seitens der saudischen Behörden eine Trennung des Prophetengrabes von der eigentlichen Moschee bzw. die Zerstörung der „grünen Kuppel“ angestrebt werde, sind bisher stets zurückgewiesen worden – so etwa mit dem Argument, es handle sich um Erwägungen einzelner, nicht maßgeblicher Personen. Als Beispiel siehe „The Independent“ (London), 1.9.2014, und die Replik der zuständigen saudischen Behörde in „Arab News“ (Dschidda), 5.9.2014.

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Die saudische Regierung ist gegenwärtig sehr wohl in der Lage, derartige Ansinnen abzuwehren. Sollte in Zukunft jemals eine Situation entstehen, in der eine panislamische Kontrolle über die Haramayn realistisch erscheint, dann ist freilich eines zu bedenken: Angesichts der religiös-politischen Zerklüftung der islamischen Welt wäre nicht zu erwarten, dass unter einer derartigen Kontrolle Frieden, Harmonie und Sicherheit einkehren und langfristig erhalten werden könnten. Sowohl Mekka als auch Medina, die Stadt des Propheten, werden wohl noch lange umstritten bleiben.

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Abb. 1: Der Friedhof von Medina, ca. 1907. Rechts im Bild das Mausoleum mit den Gräbern von vier Imamen der Schia und des Prophetenonkels Abbas, des Vorfahren der Abbasidendynastie. https://en.wikipedia.org/wiki/Al-Baqi (Zugriff am 26.06.2017)

Abb. 2: Die Gegenwart, ca. 2010. Unbeschriftete rohe Steine, die die Lage der Gräber der Imame sowie des Grabes von Abbas markieren sollen. Saudische Wächter achten darauf, dass die Pilger die flache steinerne Begrenzung des 1926 zerstörten Mausoleums nicht überschreiten. https://mehfilehazratabbas.wordpress.com/cities/medina-city-of-prophet/jannat-ul-baqi/ (Zugriff am 26.06.2017)

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Abb. 3: Blick vom Friedhof auf die Prophetenmoschee. In der Mitte die Kuppel, unter der sich das Grab Muhammads und die Gräber der Kalifen Abu Bakr und Umar befinden. http://www.hajij.com/en/islamic-countries-and-sects/holy-places/item/1188-al-baqi-ce metery (Zugriff am 26.06.2017)

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Abkürzungen EI 2 = Encyclopaedia of Islam, 2nd. ed., 12 Bde. und Indexband, Leiden 1960–2009. EI 3 = Encyclopaedia of Islam, 3rd ed., Leiden 2007ff.

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fahrt nach den Berichten des Ibrāhīm Rif'at Bāšā: Mir'āt al-Ḥaramain (Islamkundliche Untersuchungen 145), Berlin 1991. Tworuschka 1994a Tworuschka, Udo, Heiliger Raum und Heilige Stätte aus der Sicht der Religionsphänomenologie, in: Tworuschka, Udo (Hg.), Heilige Stätten. Die bedeutendsten Pilgerziele der Weltreligionen, Darmstadt 1994, 1–8. Tworuschka 1994b Tworuschka, Udo, Islam, in: Tworuschka, Udo (Hg.), Heilige Stätten. Die bedeutendsten Pilgerziele der Weltreligionen, Darmstadt 1994, 70–91. Watt 1991 Watt, Montgomery W. u. a., s. v. Makka in: EI 2, VI (1991), 144–146. Watt/Winder 1986 Watt, Montgomery W. / Winder, Richard B., s. v. Al-Madīna, in: EI 2, V (1986), 994– 1007. Wensinck u. a. 1971 Wensinck, Arent J. / Jomier, Jacques / Lewis, Bernard, s. v. Ḥadjdj, in: EI 2, III (1971), 31–38.

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Heilige Orte der Antike in der Gegenwart: der Fall Hebron

Hans G. Kippenberg (Bremen)

Mein Aufsatz gliedert sich in zwei Teile: Ich werde im ersten Teil das Konzept der „Abrahamitischen Religionen“ (im Englischen „Abrahamic Religions“) und seine Geschichte behandeln – die Beschwörung eines gemeinsamen Erbes von Juden, Christen und Muslimen und was mit dieser Beschwörung bezweckt wird. Im zweiten Teil werde ich auf das Heiligtum Abrahams in Hebron eingehen, die Patriarchenhöhle bzw. die Ibrahim-Moschee in Hebron und den erbitterten Streit von Juden um dieses. In diesem Zusammenhang möchte ich fragen, woran es liegt, dass das, was im ersten Teil meines Vortrags als eine Gemeinsamkeit erscheint, heutzutage einen schweren Konflikt begründet. Francis Peters veröffentlicht 1982 in erster Auflage ein Buch mit dem Titel „Children of Abraham: Judaism, Christianity, Islam“ und trägt darin sechs Besonderheiten zusammen, die diese drei Religionen miteinander teilen: „Gemeinschaft und Hierarchie“; „Das Gesetz“; „Schrift und Tradition“; „Die Liturgie“, „Askese und Mystik“ sowie „Theologie“. 20 Jahre später schreibt er das ganze Buch noch einmal vollkommen neu, und fügt zwei Kapitel hinzu „Die Verheißung und ihre Erben“ sowie „Ein umstrittenes Erbe“.1 Die Darstellung ist in kurzer Zeit revisionsbedürftig geworden. John Esposito, bekannter Islamwissenschaftler aus den USA, schreibt im Vorwort zur zweiten Auflage, dass trotz oder gerade wegen großer Familienähnlichkeit die Beziehungen zwischen Judentum, Christentum und Islam oft voller Spannung, Konflikt und Verfolgung sind und dies auch auf Abraham zutrifft.2 Die Notwendigkeit einer neuen Darstellung veranlasste einige Jahre später einen weiteren Autor, Aaron W. Hughes, Religionswissenschaftler von der Rochester Universität (New York), die Entstehung und Verbreitung des Konzeptes zu untersuchen.3 Dass sich Judentum, Christentum und Islam auch auf Abraham zurückführen bzw. berufen, ist bekannt. Juden sehen sich als Nachkommen Abrahams. Der Ahnherr Israels wird wegen seines unbedingten Vertrauens auf die Verheißung des Land Palästina und großer Nachkommenschaft sowie wegen

1

Peters 2004, xv. Peters 2004, xi. 3 Hughes 2012, 2. 2

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seines Gehorsams, als Gott von ihm die Opferung des geliebten Sohnes Isaak verlangt, als Vorbild geschätzt. Christen sehen sich als spirituelle Erben Abrahams, der aus Gnade gerechtfertigt wird und ohne Gesetz. Und Muslime sehen sich als die wahren Verehrer des unverfälschten Monotheismus von Abraham.4 Erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts wurden diese Auffassungen zu dem Konzept „Abrahamische Religionen“ vereinheitlicht. Es ist dies ein Fall von „invention of tradition“ (Hobsbawm/Ranger), den Aaron W. Hughes genau untersucht hat.5 Man suchte nach einem gemeinsamen Repräsentanten des kulturellen Erbes Europas im Kampf gegen den säkularen Materialismus. Einflussreiche Stimmen beriefen sich auf Abraham als gemeinsamen Ursprung der drei monotheistischen Religionen. Unter den Dokumenten des Vaticanum II (1962–1965) preisen einige die Muslime wegen ihrer Gottesverehrung. Sie würden zwar nicht an Jesus als Gott glauben, aber anerkennen ihn doch wenigstens als Gottes Propheten. 6 Und auch die christlich-jüdischen Beziehungen wurden als „abrahamische“ neu definiert.7 Nach dem Angriff auf die USA 09/11 verband man mit dieser Kategorie die Erwartung, dass die Konflikte zwischen Christen, Juden und Muslimen, wie sie sich inzwischen herausgebildet hatten und in den Schriften von Samuel Huntington zum „Clash of Civilizations“ dramatisiert worden waren, überwunden werden könnten. Abraham sei doch der gemeinsame Ursprung der religiösen Traditionen von Juden, Christen und Muslimen.8 Wir können seitdem und in wachsender Anzahl interreligiöse Dialoge, akademische Publikationen, Konferenzen, Stiftungen von Lehrstühlen beobachten, die sich dieser Idee verpflichtet wissen. So richtete beispielsweise die Universität Oxford 2008 einen Lehrstuhl für das „Studium der Abrahamischen Religionen“ in der neu gestalteten „Fakultät für Theologie und Religion“ ein. Von dem Inhaber der Professur wird erwartet, dass er hilft, ein Verständnis für die drei verschiedenen Religionen in der Öffentlichkeit zu begründen und einen positiven Beitrag zu einer kreativen Koexistenz dieser Glaubensgemeinschaften in der gegenwärtigen Welt zu leisten.9 Als Guy G. Stroumsa aus Jerusalem im Jahre 2009 als erster Inhaber des Lehrstuhls seine Antrittsvorlesung hielt, da machte er die Wandlung „From Abraham’s Religion to the Abrahamic Religions“10 zu seinem Thema. Er konnte zeigen, wie weit verbreitet, aber 4

Blum 1998. Hobsbawm/Ranger 1983. 6 Hughes 2012, 65–71. 7 Hughes 2012, 71–75. 8 Hughes 2012, 85–91. 9 So die Neuausschreibung der Stelle im Jahr 2013: http://www.ox.ac.uk/media/global/wwwoxacuk/localsites/currentvacancies/furtherparticularsforprofessorships/Professorship_of_the_Study_of_Abrahamic_Religions_[271112].pdf (Zugriff: 08.09.2016). 10 Veröffenlicht unter Stroumsa 2011. 5

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Heilige Orte der Antike in der Gegenwart

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auch wie divers die Auffassungen von Abraham in der Geschichte der Religionen war. Sie zu studieren „might offer a way out of the exclusiveness of conflicting religious identities“.11 Die biblische Erzählung Eine der ältesten Bezeugungen von Abraham ist die biblische Tradition der Verheißung Gottes an Abraham im jüdischen Buch Genesis Kapitel 12–25. Sie beginnt mit der Verheißung, die Abraham/Abram empfängt, als er in Mesopotamien daheim ist. Er wurde Migrant, denn er kommt aus einem anderen Land als Palästina/Israel, aus Ur. Er zog von dort nur deshalb fort, weil er den Worten des Herren vertraute: „Ziehe hinweg aus deinem Land und aus deiner Verwandtschaft und aus dem Haus deines Vaters in das Land, das ich dir zeigen werde. Ich will dich zu einem großen Volk machen und will dich segnen und deinen Namen groß machen. Und du wirst ein Segen sein.“ Gen 12,1–2

In den Abraham-Sagen, wie Hermann Gunkel sie nannte, die sich von Genesis Kapitel 12 bis Kapitel 26 erstrecken, finden sich alle die Elemente, die in Judentum, in Christentum und Islam Abrahams Vorbildlichkeit begründen: dass er Träger der Verheißung des Landes ist (Gen 12,1–2), dass er auch ohne Gesetzesgehorsam (das Gesetz gab es noch nicht) seine Rechtfertigung vor Gott durch den Glauben an diese Verheißung erfährt und dass er bereit ist, auch seinen geliebten Sohn zu opfern, wenn Gott es befiehlt (Gen 22). Noch sind diese Elemente in dem Zyklus friedlich vereinigt. Zu diesem Sagenzyklus gehört der Erwerb einer Familiengrabstätte in Kirjat Arba (der erste Name von Hebron) bzw. Hebron (Josua 14,15). Die einst kanaanäische Stadt selber soll alt sein, gegründet noch vor der ägyptischen Stadt Zoan, weiß Numeri 13,22 zu berichten. Nach dem Tode seiner Frau lässt sich Abraham eine Grabstätte zu ihrer Bestattung nicht etwa von den Hethitern schenken, sondern besteht darauf, das Grundstück mit der Höhle Machpela darauf von dem Hethiter Ephron für vierhundert Lot Silber zu kaufen. Diese Höhle geht also in seinen Besitz über: „[…] vor den Augen der Hethiter, vor den Augen aller, die in das Tor seiner Stadt gekommen waren.“ Gen 23,18

Aus dem landlosen Migranten ist rechtmäßig ein Grundbesitzer geworden. Nach biblischer Überlieferung wurden in der Höhle dann nicht nur Sarah, Abrahams

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Stroumsa 2011, 22.

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Frau, sondern auch Abraham selber, Isaak, Rebekka, Jakob und Lea bestattet. Der Kauf wird von Juden heute wegen des rechtmäßigen Erwerbs gerne zitiert; mit ihm beginne die Geschichte der Juden im Land, heißt es bei Jerold S. Auerbach.12 Hier wirft der heutige Streit um den rechtmäßigen Besitz der Stadt und des Landes seinen Schatten auf die Deutung der Erzählung. Ob ein (sagenumwobener) Kauf in so grauer Vorzeit jüdische Besitzansprüche auf das gegenwärtig von Palästinensern besessene Land wirklich rechtfertigen kann, wird nicht weiter in Frage gestellt. Zur Geschichte dieses Orts gehört die Aufforderung Gottes an Abraham, in das Land Moria zu gehen und seinen Sohn Isaak/Ismael zu opfern (1. Mose 22, 1f). Abraham machte sich also mit seinem Sohn auf den Weg und begann mit den Opfervorbereitungen (22,3). Gerade dieses Element, dieser vorbildliche Gehorsam, wird insbesondere im Islam herausgestellt. Weiter finden wir in den Sagen eine Ablehnung der Verehrung anderer Götter sowie von Heiraten mit Nichtgläubigen. Auch wird die Erlösung des erwählten Volkes von Unterdrückung und Segen verheißen. Schließlich treten in der Bibel Propheten auf, die den Nachkommen Abrahams Unheil ankünden, wenn sie von dem Glauben an Gott und an die Verheißung abfallen, also von dem Bund. Abraham

Sarah Isaak

Hagar aus Ägypten Ismael

Jakob

12 Stämme Israels Kanaan

12 Fürstenstämme östl. v. Ägypten

Judentum

Christentum Islam

12

Auerbach 2009, 11.

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Dieses ist der Plot, der die biblische Struktur begründet und von dort aus auch übernommen wurde: Im Christentum ist Abraham gerecht, ohne dass er schon das Gesetz kannte, und im Islam ist er derjenige, der bereit war, seinen Sohn zu opfern. An der Genealogie des Abraham und seinen Nachkommen erkennen wir, dass die sich auf Ismael, Sohn Abrahams mit Hagar, Berufenden das Volk der Araber bilden. Sie alle sind in diesem Sinne Abrahams Nachkommen und teilen seinen monotheistischen Glauben und die ihm gegebene Verheißung. Die Gründung ihrer zentralen Kultstätte, der Kaʿba, führten die Muslime auf Ibrahim/ Abraham zurück (Sure 2,127; 22,26). Die Knappheit des Segens In dem biblischen Text der Verheißung steckt ein kleiner Satz, der leicht übersehen werden kann: „Segnen will ich, die dich segnen. Wer dir aber flucht, den will ich verfluchen. Und Segen sollen durch dich erlangen alle Sippen der Erde.“ Gen 12,3

Dieser Satz, dass die, die ihn segnen, auch gesegnet sind auf der einen Seite und die, die ihn verfluchen, auch verflucht sind auf der anderen Seite, öffnet eine Perspektive auf viele andere biblische Geschichten. Mit dem Segen hat es in der biblischen Tradition eine eigene Bewandtnis, wie Regina Schwartz überzeugend in einer Studie dargestellt hat.13 Man kann sich ihre Argumentation sehr gut klarmachen, wenn man zwei ihrer Beispiele betrachtet. Kain, der Ackerbauer, brachte dem Herrn ein Opfer von den Früchten des Feldes dar; sein Bruder Abel, der Schäfer, brachte ein Opfer von den Erstlingen seiner Schafe. Ohne dass er eine Erklärung gibt, sah der Herr wohlgefällig auf Abel und sein tierisches Opfer; Kain und sein pflanzliches Opfer hingegen verwarf er. Der eine war gesegnet, der andere wurde verflucht. In seiner Wut darüber erschlug Kain seinen Bruder Abel. Hier mündet die Vergabe des Segens in Gewalt; denn der Segen ist unteilbar. Und noch ein zweites Beispiel: Jakob erschleicht sich die Segnung seines blinden Vaters Isaak, indem er ihm vorspielt, er sei Esau (Gen 27). Als dann der wirkliche Esau heimkehrt und um den Segen bittet, da erfährt er von seinem Vater, dass er bereits Jakob gesegnet hat. Als Esau ihn fragt: „Vater, hast Du mir keinen Segen vorbehalten? (36) antwortet Isaak: Nein. Ich habe ihn zum Herrn über Dich eingesetzt und alle seine Brüder ihm zu Knechten gegeben. Mit Korn und Wein habe ich ihn versehen, was kann ich da noch für Dich tun, mein Sohn?“ Gen 27,36–37 13

Schwartz 1997.

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Und noch auf eine weitere Erzählung, in der diese Knappheit des Segens zum Ausdruck kommt, muss man verweisen: die Landverheißung. Die Israeliten erheben einen Anspruch auf das Land, nicht weil sie im Land geboren sind, sondern weil Gott es ihnen verheißen hat: „Wenn der Herr, dein Gott, dich in das Land bringt, in das du ziehst, um es in Besitz zu nehmen, und er viele Nationen vor dir vertreibt […], die größer und stärker sind als du, sollst du sie der Vernichtung weihen. Du sollst keinen Bund mit ihnen schließen und sie nicht verschonen.“ Dtn 7,1–2

Nicht jeder hat Anteil am Segen, vielmehr ist der Mangel als ein Prinzip der Handlung der Bibel geradezu eingeschrieben, wie R. M. Schwartz feststellt: ein Land, ein Volk, eine Nation. Der Segen Abrahams kann somit nur einmal vergeben werden. Dies alles macht die Konflikte um den Ort, an dem Abraham und die Patriarchen beigesetzt worden sind, verständlich. Die biblische Höhle von Machpela, die christliche Kirche und die Ibrahim-Moschee in Hebron sind Orte des Segens für die einen und Verfluchung der anderen. Der Glaube an die allen gemeinsame Segnung durch Abraham begründet zwischen Juden, Christen und Muslimen nicht ein Bewusstsein von Gemeinsamkeit, sondern der Konkurrenz. Ein geteiltes Heiligtum Die arabische Ortsbezeichnung ‫ ﺍﻟﺨﻠﻴﻞ‬al–Chalīl leitet sich von dem koranischen Chalīl Allah, Freund Gottes, ab und entspricht dem hebräischen Ortsnamen Hebron ‫ חברון‬Chebron, der sich auf das hebräische Chaber ‫חבר‬, Freund, bezieht. Der Ort trägt den Bezug auf Abraham somit in der hebräischen und arabischen Sprache in seinem Namen. An anderer Stelle wird in der Bibel davon gesprochen, Abraham habe einen Altar bei der Terebinthe Mamres zu Hebron gebaut (Gen 13,18). Schließlich wird die Höhle, in der sich die Gräber der Patriarchen befinden, Machpela („die doppelte“) genannt. Der Bezug Abrahams zu Hebron und besonders zu Machpela wurde von Juden, Christen und Muslime gleichermaßen hergestellt. Im Judentum war Hebron außerdem Königsstadt gewesen. Kirjat Arba (Jos 20,7; Ri 1,10) war eine alte kanaanitische Siedlung, bevor Josua sie eroberte (Jos 10, 36–37), die siebeneinhalb Jahre unter David Königsstadt war (2 Sam 2,11). Erste jüdische Bauten entstanden unter König Herodes im 1. Jahrhundert vor Christus und wurden mehrfach restauriert. Die heutige, mächtige Umfassungsmauer stammte aus dieser Zeit. In byzantinischer Zeit entstand eine große Kirche über dem Patriarchengrab. Araber machten aus ihr nach der Eroberung eine Moschee. Die Kreuzfahrer vertrieben, als sie 1100 die Stadt eroberten, die jüdische Gemeinde aus der Stadt und richteten ein christliches Kloster, das Augustinerkloster, ein. Um 1119 schufen sie die Abrahamskathedrale, die der islamische Herrscher Saladin 1187 wiederum zur Moschee machte. Jüdische und

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christliche Pilger durften zunächst noch weiterhin darin beten, erst der Nachfolger Baibar I. verbot beiden 1266 den Zutritt. 1318–1320 erbauten die Muslime noch eine zweite Moschee. Juden war es nur gestattet, sich bis zur siebten Stufe der Zugangstreppe aufzuhalten. Auf die Eroberung durch die Osmanen 1517 folgte ein Pogrom. Erst nach 1540 bauten aus Spanien vertriebene sephardische Juden eine Abraham Avinu („Abraham unser Vater“) Synagoge. Die jüdische Gemeinde wuchs wieder, bis sie 1775 wegen eines angeblichen Verbrechens eine hohe Strafe zahlen musste. Die kleine Gemeinde wuchs nach 1817 auf bald 700 Personen im Jahr 1838. Wohlhabende Juden bauten große Häuser, darunter das Beit Romano und die Klinik Beit Hadassah. Mit der britischen Verwaltung wurde es möglich, eine neue Yeshiwa zu gründen, die allerdings nach einem arabischen Pogrom mit 67 Toten und 60 Verletzten Hebron verlassen musste. Die Heiligkeit, die Hebron und besonders dem Patriarchengrab zukam, war bedingt von den exklusiven Ansprüchen der drei Religionen. Hebron bzw. das Patriarchengrab war ein heiliger Ort, auf den alle drei Religionen Anspruch erhoben. Die Heiligkeit kam dabei nicht nur dem Ort an sich zu, sondern gehörte allen Abraham-Verehrern, obwohl sie sprachlich und ethnisch verschieden waren. Im östlichen Mittelmeer gab es lange Zeit solche Orte, die Angehörige verschiedener Religionen für heilig hielten;14 die religiösen Unterschiede traten dabei vor der gemeinsamen Nachbarschaft zurück. Hebron und die Patriarchenhöhle im Nahostkonflikt 1929 war ein dramatisches Jahr in Palästina. Die Erklärung des britischen Außenministers Balfour im Jahr 1917, die Errichtung einer Heimstätte der Juden in Palästina mit Wohlwollen zu betrachten, hatte zu einem Zuzug von Juden aus den Staaten Europas geführt. Antisemitismus und Pogrome hatten Juden den Glauben an eine Zukunft jüdischen Lebens in Europa geraubt. Das Ende des osmanischen Reiches 1922 im Friedenvertrag von Lausanne beseitigte noch bestehende Hindernisse für zionistische Pläne. Doch traf dieser Zuzug, im jüdischen Verständnis Aliya (Aufstieg – nach Jerusalem; Immigration von Juden nach Palästina, Einwanderung), zuweilen auf gewalttätigen Widerstand vor Ort. So starben in Hebron 67 Menschen bei einem Massaker von Palästinensern im Jahre 1929. Es handelte sich um Mitglieder der kleinen, 500 Personen zählenden jüdischen Gemeinde von Hebron, die dort schon länger gelebt hatte. Daraufhin verließen alle anderen Juden, die in Hebron lebten, ihre Stadt und zogen an andere Orte, vor allem nach Jerusalem. Seit 1931 haben wieder Juden in Hebron gelebt, mussten aber 1936 durch britische Truppen vor erneuten Gewalttaten von Palästinensern in Sicherheit gebracht werden. Doch warteten und hofften sie auf eine Rückkehr.

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Albera/Courouci 2012.

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Nach dem Sechstagekrieg 1967 kehrten Juden in das von israelischen Streitkräften besetzte Hebron zurück. Insbesondere die Erinnerung an das Massaker von 1929 brachte die Regierung Israels dazu, zu akzeptieren, dass sich Israelis in Hebron ansiedelten. Das internationale Recht erlaubte keine Annexion eines eroberten Gebietes, die Ansiedlung der eigenen Zivilbevölkerung in besetzten Gebieten war unzulässig. 15 Derjenige, der diese Aktion initiiert hatte, war Rabbi Moshe Levinger (1935–2015).16 Er kam aus einer Talmud-Schule in Israel, die der Auffassung war, dass man sich in einem Prozess der messianischen Wiederherstellung Israels befindet. Endlich sollte Gott seinem Volk Israel den verheißenen Segen schenken. Religiöser Zionismus Schon lange bevor palästinensische Gebiete mit jüdischer Vorgeschichte unter die Kontrolle des Staates Israel kamen, entstand unter den Rabbinern Israels eine Deutung der Situation, die den Unterschied zwischen Zionismus und Judentum eliminierte. Zionismus war eine säkulare Bewegung, eine politische Bewegung der Etablierung eines Staates, der den Juden Schutz bot und sie vor den schrecklichen Pogromen und Verfolgungen bewahrte, die man in den Staaten Europas und anderswo erlebte. Judentum hingegen war eine Geschichtstheorie, wonach die Juden trotz aller Verfolgung und Unterdrückung auf eine Geschichte des Heils und der Erlösung hoffen dürfen: Gegenwärtig leben sie im Exil, doch die Hoffnung auf eine endgültige Befreiung und endgültige Erlösung durch den Messias aus dem Stamme Davids haben sie nie aufgegeben. Beide Elemente, Zionismus und Judentum, die diametral entgegengesetzt sind im Blick auf die Situation Israels in der Gegenwart, kamen in dem Urteil eines Rabbis zusammen. Es war Rabbi Abraham Isaak Kook (1865–1935), der als Hauptrabbi für die westlichen zionistischen Juden verantwortlich war. Aus der Sicht strikter Orthodoxie, der sog. Ultra-Orthodoxie, der er nahe stand, war es unakzeptabel und ein Zeichen von Unglauben, dass Juden im Land Israel, im biblischen Land, Ackerbau betreiben. Das sei nur denkbar, nachdem der Messias zurückgekehrt, das Exil beendet und die Erlösung eingetreten ist. Solange dies nicht der Fall ist, sind jene, die aus Europa nach Palästina kommen und Ackerbau betreiben, Ungläubige. So das ultraorthodoxe Verständnis. Diese negative Beurteilung der Siedler wollte Rabbi Abraham Isaak Kook nicht teilen. Er überlegte, ob nicht vielleicht die säkulare Lebensweise der Siedler eine erste Etappe im Erlösungsprozess sei. Ohne zu wissen, was sie tun, hätten die säkularen jüdischen Siedler diesen Prozess mit ihrer

15 16

Quigley 2005. Heilman 1997 behandelt den Aufstieg von Rabbi Levinger.

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Bearbeitung des Landes vorangetrieben. Eine Art List der Heilsgeschichte ließ sie für ein anderes Ziel arbeiten, als sie selber dachten. Der Rabbiner Abraham Isaak Kook und sein Sohn Zvi Yehuda Kook (1891– 1982) hatten mit dieser besonderen Lehre eine Talmud-Schule namens Merkaz ha-Rav-Kook (Rabbi Kook Zentrum) begründet. Hinzu kam kabbalistisches Gedankengut: In Gestalt der zionistischen Siedler sei das Heilige im Profanen erschienen und durch ihre Umkehr nach Zion befördern sie den Wiederherstellungsprozess (Tikkun). Zwar begreife der säkulare Zionismus seinen geschichtstheologischen Ort selber nicht, unbeabsichtigt erfülle er aber diese Mission. Diese spezifische Verbindung von politischem Zionismus und einem strengen Judentum fand Eingang in ihre Ausbildungsstätte, die Yeshiwa Merkaz ha-Rav-Kook (Rabbi Kook Zentrum). Hier wurde gelehrt, dass die angehenden jungen Rabbiner in einem Land leben, das sich im Prozess eines heilsgeschichtlichen Prozesses befindet. 17 Kooks Sohn, Zvi Yehuda Kook, ist in die Geschichte der Siedlerbewegung durch einen ganz besonderen Vorgang eingegangen. Am Nationalfeiertag des Jahres 1967, drei Wochen vor Beginn des Sechstagekriegs, brach er in einer Predigt in der Yeshiwa plötzlich in eine Klage darüber aus, dass Hebron, Sichem (Nablus), Jericho und Anatot 1947 durch den Teilungsplan der Vereinten Nationen und den darauf folgenden Krieg „von Israel losgerissen“ worden seien. „Sie haben mein Land geteilt“, schrie er. Dann rief er kraftvoll und mit ungestümer Liebe zur Tora und zur Ehre Gottes: „Wo ist unser Hebron? Haben wir es vergessen? Wo ist unser Sichem? Vergessen wir es auch? Wo ist unser Jericho? Vergessen wir es ebenfalls? Und wo ist unser Transjordanien? Wo ist jedes Stück dieses Landes Gottes?“ 18

Diese Rede war aus der Rückschau ein mehr als erstaunlicher Akt, denn drei Wochen später korrigierten die Truppen Israels das angeprangerte Unglück und eroberten genau die Städte, deren Verlust Rabbi Kook beklagt hatte. Der Sechstagekrieg, der nur drei Wochen später folgte, war in ihren Augen ein Krieg der Erlösung: Das biblische Land wurde von den Ungläubigen erlöst. Zvi Yehuda Kook, der 1982 verstorben ist, erlangte durch seine Ansprache das Ansehen eines schon fast biblischen Propheten, obwohl seine Ansprache eher in das Genre der Klagelieder als der prophetischen Rede gehört. Doch die Erinnerung machte daraus Prophetie. Wenn manche bezweifeln, dass es so etwas im 20. Jahrhundert gibt, dann ist dieser Mann ein gutes Beispiel für die Existenz. Als Israel 1967 im Sechstagekrieg siegte, deuteten die Anhänger dieser Yeshiwa dies als eine weitere Etappe im Prozess der Heilsgeschichte. Entsprechend sprachen sie von einem „Krieg der Erlösung“ und gaben den besetzten Gebieten 17 18

Zu den beiden Kooks siehe: Aran 1997. Bericht über diese Predigt Kook 1991, 337–340, Zitat Seite 339.

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die biblischen Namen von „Gaza“, „Judäa“ und „Samaria“, abgekürzt in der Sprache der religiösen Siedler mit Yesha („Erlösung“ – was bald auf Autoaufklebern gezeigt wurde). Jetzt sei es die Aufgabe gläubiger Juden, dies zu verstehen und sich in diesen verheißenen biblischen Gebieten niederzulassen. Und anders als die übrigen Rabbinerschulen, deren Schüler vom Wehrdienst befreit waren, hielt die Merkaz ha-Rav-Kook den Wehrdienst ihrer Schüler für geboten. Sie sollten Torastudium und Wehrdienst verbinden können.19 Der militärische Oberrabbiner hat die Klagemauer in Jerusalem nach der Besetzung des Jordanischen Teils dann als Erster besucht, er war also auch an dem zweitwichtigsten Ort des religiösen Israels der Erste.

Abb. 1: Rabbi Shlomo Goren hießt die israelische Fahne am Grab von Machpela. Aus: Eretz Yisrael, 8. Juni 196720

Zu diesem Foto heißt es in der Zeitung Eretz Yisrael, aus der es stammt: „Yom Chevron (Hevron Liberation Day)! HaRav Shlomo Goren at Ma’arat Machpela –The improvised flag was created from an Arab surrender flag. Exactly 48 years ago HaRav Shlomo Goren, chief Rabbi of the Israeli army, some how by mistake, found himself alone at the entrance to Hebron. Surprisingly he saw white flags on the roof tops of the homes around him, a sign of surrender. He went directly to Ma’arat Machpela and put up the Israeli flag. He then shot open the gates to the Ma’arah and went inside to daven (Yiddisch: das rituelle Gebet sprechen). Please share this incredible story to celebrate the liberation of the 2nd Holiest city to the Jewish nation.“

19

Kippenberg 2008, Kapitel 6: Israels Kriege der Erlösung, 101–122. Bildnachweis: http://66.media.tumblr.com/2212893e71f201ef94540d60cbf764f4/ tumblr_nog4wfJRVl1s4lolfo1_500.jpg (abgerufen am 09.09.2016).

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Besetzung Hebrons durch Israel In der Besiedlung der besetzten Gebiete, besonders Hebrons, bildeten Absolventen der Merkaz ha-Rav-Kook die Speerspitze.21 Ein besonderer Heißsporn war der oben erwähnte Rabbi Moshe Levinger (1935–2015). Levinger reservierte 1968 für den 25. April im Parkhotel von Hebron einen Raum für eine größere Gesellschaft. Der arabische Besitzer hatte keine Bedenken, obwohl der Tag auf das Passahfest fiel. Es kamen 82 Personen. Als sie in dem Parkhotel feierten, erinnerten Levinger und die Gäste daran, dass das Land, auf dem sie sich befanden, das alte biblische Land ist. Zwei Tage nach der Feier erklärte er, dass die Gruppe in Hebron zu bleiben gedenke. Der Verteidigungsminister Moshe Dayan wollte sie noch aus dem Hotel entfernen, doch andere hochrangige Israelis unterstützen diese und waren gegen einen Abzug. Schließlich wurden sie auf dem Kasernengelände der Israelis bei Hebron untergebracht, wo für 120 Personen Unterkünfte geschaffen wurden. Tatsächlich wuchs die Gruppe Israelis weit darüber hinaus. Auf dem Gelände wurde eine Yeshiwa, eine Talmud-Schule, geschaffen, sie ersetzte die alte, 1929 zerstörte.22 Nachdem Rabbi Levinger mit den Seinen nach Hebron aufbrach und anschließend in andere biblische Orte im Westjordanland zog, machten andere es ihnen nach. Die Regierung Israels war in dieser Sache gespalten. Eine geänderte Bereitschaft, in die besetzten Gebieten überzusiedeln, wurde erst nach dem Oktober 1973 signalisiert, als ein Überraschungsangriff von Ägypten und Syrien an dem Versöhnungstag, dem höchsten religiösen Festtag Israels, erfolgte und Israel biblisches Land an Araber zurückgeben musste. Von den Rabbinern und Theologen des religiösen Zionismus wurde der sogenannte Yom-Kippur-Krieg als Strafe Gottes dafür gedeutet, dass die Juden es unterlassen hätten, das erlöste Land zu besiedeln. Gusch Emunim, der Block der Gläubigen, wuchs nun zu einer schlagkräftigen Organisation mit einer ganz einfachen Botschaft heran: Der messianische Geschichtsprozess hat begonnen, das Land Israel ist heilig, die jüdische Besiedlung des Landes beschleunigt die Erlösung und hat Vorrang vor allem anderen, die Palästinenser haben hingegen kein Anrecht auf das Land. 23 Das war die Auffassung von Gusch Emunim im Jahre 1975, als die Arbeiterregierung mehr oder weniger zögerlich dieses Projekt einer Besiedlung der besetzten Gebiete durch religiöse Zionisten noch unterstützte. Das sollte sich zwei Jahre später ändern. Mit Likud und der Regierung, die dann antrat, fand diese Bewegung auch

21

Berichte von den Ereignissen in Hebron von: Aran 1991; Aran 1997; Gorenberg 2006, 129–162. 22 Ein beschönigender Bericht in http://www.hebron.com/english/article.php?id=225 (abgerufen am 08.09.2016). 23 Bericht über die Gründung und Theologie von Gush Emunim von Aran 1991; siehe auch Aran 1990; Gorenberg 2006, 265–269, 274–276, 282, 290–295.

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von Regierungsseite offiziell Unterstützung. Damit geriet die offizielle Politik Israels in Widerspruch zum Völkerrecht, denn im internationalen Recht kann ein Anrecht auf Land nicht über seine militärische Eroberung begründet werden. Alles das, was von Armeen in einem fremden Land besetzt wird, ist besetztes Gebiet und untersteht als solches klaren rechtlichen Einschränkungen. Der Besatzungsmacht ist es nicht gestattet, Bevölkerung der besetzten Gebiete in andere Gebiete zu deportieren und eigene Bevölkerung in diesen Gebieten anzusiedeln. Dieses internationale Recht wird aber von den Siedlern und dann eben auch von der entsprechend positiv eingestellten Regierung Israels ignoriert. In Abbildung 2 sieht man das Ende dieser Entwicklung. Die weißen Punkte sind arabische Siedlungen und die schwarzen Punkte jüdische Siedlungen in dem von Israel besetzten Gebiet, das als West Bank oder Westjordanland zwischen 1948 und 1967 zu Jordanien gehörte. Hebron ist auf der Karte mit arabischer Bevölkerung angegeben, als arabische Stadt neben der Siedlung Kirjat Arba, die von jüdischen Siedlern in diesem Gebiet errichtet worden war. Es gibt in Hebron selbst – in der Altstadt – noch eine weitere kleine Gruppe von israelischen Familien, die von einer vergleichsweise großen Zahl ständig präsenter israelischer Soldaten vor der umgebenden palästinensischen Bevölkerung geschützt wird, diese aber auch ständig provoziert: Es herrscht dort ein dauernder Kleinkrieg. Ein paar Zahlen zu der Besiedlung der von Israel besetzten Gebiete verdeutlichen dies. Vorangetrieben wird/wurde die Besiedlung von der Siedlungsorganisation Amana, auf die die israelische Regierung wenig Einfluss hat, sie bestand schon bevor es den Staat Israel gab und operierte dann später einfach weiter. Diese Organisation sorgt(e) dafür, dass Juden aus dem Ausland nach Palästina/Israel kamen und sich (auch) in den besetzten Gebieten niederließen. So wuchs die Zahl der Siedler in den besetzten Gebieten von 1978 bis 1985 von 7000 auf 42.000. 1990 waren es 76.000 und in den Neunzigerjahren 100.000 Einwohner in 137 Siedlungen. Im Jahr 2006 waren es dann 440.000 Siedler an 205 Orten.24 Diese Orte sind keine arabischen Orte mehr, sie sind Gebietskörperschaften Israels.

24

Zahlen bei Benvenisti 1995, 61–62; offizielle Daten zu 2001 und 2003 des „Israeli Bureau of Statistics“ (ohne Ost–Jerusalem) bei Pape 2005, 49; Zahlen der Webseite der „Foundation for Middle East Peace“ im Juni 2014: 382.000 Siedler (ohne Ost–Jerusalem) in 121 offiziell anerkannten Siedlungen (http://fmep.org/issues/settlements; abgerufen am 08.09.2016); außerdem leben 375.000 in umstrittenen (disputed) Nachbarschaften von Jerusalem (http://www.breakingisraelnews.com/26966/jewish–population–in–judea–and– samaria–growing–significantly; abgerufen am 08.09.2016).

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Abb. 2: Arabische und jüdische Siedlungen im Westjordanland. Aus: Benvenisti 1995, 63.

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Die Umwandlung von arabischem in judäisches Land machte nicht vor Hebron und der Patriarchenhöhle halt. Nach der Besetzung Hebrons 1967 war der Hauptrabbi der „Israeli Defense Forces“, Generalmajor Rabbi Shlomo Goren, der erste Jude, der die Höhle von Machpela betrat. Seitdem haben Juden darum gekämpft, das Recht wiederzubekommen, an dem Ort zu beten. Die Verwaltung liegt ebenso wie die des Tempelbergs in Jerusalem, in den Händen einer islamischen Stiftung, eines Waqf. Jüdischen Gebeten und Praktiken am Patriarchengrab sind Restriktionen auferlegt, der Heiligkeit des Ortes in der jüdischen Tradition zum Trotz. Für die jüdischen Pilger aber wurde eine Synagoge errichtet unter Aufsicht der Waqf-Verwaltung. Waqf (pl. auqāf) sind fromme Stiftungen, sie werden vom islamischen Recht geschützt, und können nicht nur von Muslimen, sondern auch von Juden und Christen für ihre Gebetsstätten in Anspruch genommen werden. Es ist ein „wichtiges Element religiöser und sozialer Ordnung in islamisch geprägten Gesellschaften“.25 Wenn man sich das Heiligtum im Grundriss anschaut (Abb. 3), dann erkennt man, wie ein islamischer und ein jüdischer Teil getrennt wurden. Im jüdischen Teil befinden sich die Kenotaphe von Lea und Jakob, von Sarah und Abraham, im islamischen von Rebekka und Isaak. Über 300.000 Gläubige besuchen jährlich die Höhle von Machpela. Sie ist geteilt in drei Räume: das Zelt Abrahams, das Zelt Isaaks, und das Zelt Jakobs. Zu dem Zelt Isaaks, dem größten Raum, haben Juden nur an zehn Tagen des Jahres Zugang. Das alles erinnert sehr stark an das Katharinenkloster auf dem Sinai. Auch dies ein vergleichbar festungsartiger Bereich, in dem mehrere Gebäude auf engstem Raum nebeneinander stehen: eine Moschee, eine Kirche, ein Ort zur Erinnerung an den Exodus der Juden aus Ägypten, der brennende Busch. Vieles, was als große Erzählung im Exodus enthalten ist, findet man auf dem kleinen Areal des Katharinenklosters versammelt. Auch dieser heilige Ort untersteht einer spezifischen Verwaltung in islamischen Händen, der Waqf-Verwaltung, die aber – weil der Islam sowohl das Judentum als auch das Christentum anerkennt – keine Schwierigkeiten hat, eben an diesen Orten auch Nicht-Muslimen das Recht der Verehrung zu geben. An dem Katharinenkloster, das ja geographisch auch nicht weit entfernt von Hebron gelegen ist, kann man erkennen, wie ein solches Heiligtum in seiner Geschichte entstanden und ein Ort von Pilgerfahrten geworden ist. Die gemeinsame Nutzung heiliger Plätze, „shared sacred spaces in the Mediterranean“ ist keine Besonderheit, die wir nur in Hebron beobachten können, sondern ist in islamischen Ländern verbreitetet. Es handelt sich um eine Tradition im Mittelmeerraum des ehemaligen osmanischen Reichs, die kürzlich genauer studiert worden ist.26

25 26

Dazu Meier/Pahlitzsch/Reinfandt 2009; das Zitat ist auf Seite 1 zu lesen. Albera/Couroucli 2012.

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Das Konzept von waqf (fromme Stiftung) drückt die Vorstellung eines Gottesdienstortes aus, dessen Zugehörigkeit zum Islam eine rechtlich gesicherte sakrale Ordnung für Juden und Christen einschließt.

Abb. 3: Grundriss der Höhle von Machpela.27

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Bildnachweis: Foto von Thomazzo, https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/e/e3/Machpela_eng.jpg (eingesehen am 07.09.2016).

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Differenzen werden gewalttätig Die physische Aufteilung von Machpela in zwei getrennte Gottesdienstorte von Juden und Muslimen demonstriert eine Umkehrung dieser Wertung. Die entgegengesetzten Ansprüche auf den sakralen Ort werden nicht mehr durch den gemeinsamen Ahnherren Abraham entschärft. Die gemeinsame Erinnerung wird zum Zankapfel zwischen beiden Gemeinschaften. Die Spannungen mündeten dann in Gewalttaten.28 Eine dieser Gewalttaten ging von dem Arzt Dr. Baruch Goldstein aus, der kurz zuvor aus den USA nach Kirjat Arba, der jüdischen Siedlung am Rande von Hebron, gezogen war und am Purimfest, als er zum Beten in die Höhle der Patriarchen gehen will, von arabischen Jugendlichen hören musste: „Tötet die Juden“ und andere gehässige Losungen. Zugleich nahm er wahr, dass israelische Soldaten dabeistanden, ohne einzugreifen. Da rannte er voller Wut zurück nach Hause, holte sein Maschinengewehr, betrat das Heiligtum von der Seite der Muslime her und eröffnet das Feuer auf die dort Betenden. Dies geschah am frühen Morgen des 25. Februars 1994. 29 Menschen starben, 150 wurden verletzt. Nachdem er sein Maschinengewehr leergeschossen hatte, wurde er von den aufgebrachten Überlebenden dieses Massakers zu Tode getrampelt. Dem Täter, der der Gegenkultur von Meir Kahane verbunden war, wurde dann folgender Grabstein errichtet: „Hier ruht der heilige Dr. Baruch Kappel Goldstein, gesegnet sei das Andenken dieses aufrichtigen und heiligen Mannes. Möge der Herr sein Blut rächen, der seine Seele der jüdischen Religion und dem jüdischen Land geweiht hat. Seine Hände sind unschuldig, sein Herz ist rein. Er wurde als Märtyrer am 14. Adar Purim im Jahr 5754 getötet.“

Das Purim-Fest verleiht der Tat nochmals eine eigene Bedeutung. Zu Purim erinnert man sich des Vorhabens der Perser, Juden zu töten. Eine Geschichte, die am persischen Königshof spielt, die von Esther, einer Jüdin, aufgedeckt wird, und die damit endet, dass diejenigen, die die Juden töten wollten, selber getötet werden, und die Juden es sind, die befreit werden. Diese Geschichte wird zu Purim jährlich wiederholt und gefeiert. Und immer ist sie mit einem drohenden Unterton behaftet: Das ist es, was denen widerfährt, die uns fluchen! Die Bedrohten sind letztlich die Sieger, die sie bedrohen, werden hingegen grausam bestraft.29 Die Bereitschaft, selber zur gewaltsamen Verteidigung des Rechtes Israels an dem Land Palästina zu schreiten, zeigte im Jahre 1995 Jigal Amir, Student der Bar-Ilan-Universität. Er war bei der Beisetzung von Baruch Goldstein dabei und kannte die Diskussionen, die unter den Rabbinern der Vereinigung bezüglich der erlösten Gebiete – der besetzten Gebiete – geführt wurden. In Oslo (und anderen 28 29

Sprinzak 1999, 1–4; 238–243; 258–266. Horowitz 2008, 4–12.

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Orten) verhandelte 1993/94 die Führung der PLO in Vertretung der Palästinenser mit der Regierung Israels unter dem Ministerpräsidenten Rabin über einen Frieden. Israelis waren bereit, besetzte Gebiete an eine Palästinensische Behörde zur Verwaltung zu übergeben, unter der Voraussetzung, dass die Palästinenser aus ihrer Charta das Ziel der Eliminierung Israels streichen und jede Gewalt gegen Israel und seine Bürger einstellen. Die Rabbiner der besetzten Gebiete waren gegen diese Verhandlungen und argumentierten: Wer für die Rückgabe des Landes votiert, ist wie jemand, der seine Brüder zu Dieben erklärt.30 So erklärten sie die Verhandlung als Akt des Unglaubens an die Verheißung Gottes an Abraham. Man nimmt die Erfüllung dieser Verheißung lieber selber in die Hand. Eine rabbinische Tradition wurde in Umlauf gebracht, genannt din rodef: Dies ist die Pflicht, einen Juden zu töten, der das Leben oder den Besitz eines anderen Juden gefährdet. Eine Gruppe von Aktivisten versammelte sich vor der Residenz des Premierministers Jitzchak Rabin und führte das schlimmste jüdische Verfluchungsritual aus, das es gibt: Pulsa di Nura (aramäisch), wörtlich übersetzt „Feuerflamme“. In diesem Ritual heißt es: Es geht kein Monat vorbei und derjenige, über den dieses Verfluchungsritual ausgeübt wird, wird nicht mehr leben. Der Talmud-Student Jigal Amir, bestärkt von diesen rabbinischen Stellungnahmen und dem Ritual, sieht sich zur Tat ermächtigt und ermordete 1995 den Ministerpräsidenten während einer Friedenskundgebung. Anders als im Falle der beiden Städte Jericho und Gaza, die der neuen palästinensischen Behörde unterstellt wurden, wollten die Israelis eine Fortdauer ihrer Besatzung in Hebron. Es war für sie unvorstellbar, dass Hebron politisch/rechtlich eine palästinensische Stadt wird. Dazu vereinbarten sie mit der palästinensischen Delegation in dem „Protocol Concerning the Redeployment“ in Hebron im Januar 1997 unterschiedliche Zonen: eine, in der die palästinische Seite das Sagen hatte, und eine, in der Israel es hatte.31 Der Teil, der als H 1 bezeichnet wurde und in dem 80% der arabischen Bevölkerung oder 150.000–250.000 Menschen lebten, wurde den Palästinensern zugeschlagen, der Teil, der als H 2 bezeichnet wurde, umfasste 20% und in ihm lebten 30.000–35.000 Palästinenser. In diesem Teil lagen die Qasba (Altstadt) und die Höhle von Machpela bzw. die Ibrahim-Moschee und andere islamische Institutionen. Dieser Teil der Palästinenser musste unter der israelischen Herrschaft und der IDF (Israel Defense Forces) leben, weil es in diesem Innenstadtbereich eine Gruppe von 450 Israelis gab, die sich weigerte, nach Kirjat Arba in die jüdische Siedlung zu ziehen. Sie bestand darauf, dass Hebron eine jüdische Stadt ist. Nicht die Demographie war der Grund für diese Behauptung, sondern die Auffassung, der Sechstagekrieg als Krieg der Erlösung habe den alten biblischen Ort mit seinem Heiligtum von den Heiden erlöst. 30

Karpin/Friedman 1998, 102–130. Der Text ist zu finden unter http://www.jewishvirtuallibrary.org/jsource/Peace/hebprot.html (aufgerufen am 08.09.2016). 31

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Abb. 4: Zonenteilung auf der Grundlage des „Protocol Concerning the Redeployment“.32

Aber es gibt auch die andere Geschichte: die Geschichte der Palästinenser. Diese erleben nach 1946, dass ihr Land zunehmend verschwand: „Palestinian loss of land“ (Abb. 5). Dies geschieht in Etappen: der UN-Teilungsplan 1947, der darauf folgende Krieg zwischen Juden und Palästinensern, dann die Katastrophe (nakba) von 1967, als nur die Westbank palästinisch blieb. Und dieses Gebiet wurde dann noch zunehmend durch die israelische Siedlungspolitik fragmentiert. Es gibt wilde Diskussionen über die Prozente der den Arabern verbliebenen Gebiete. Ebenso ist umstritten, was die verschiedenen Nachfolgestaaten des Britischen Mandatgebiets (Ende 1947) – von Jordanischem Staatsgebiet (endete 1986) und Ägyptischem Staatsgebiet (Gaza bis 1967) – für den Rechtsstatus der besetzten Gebiete des Westjordanlands nach der Teilung des Gebietes zwischen Juden und Arabern besagen. So bezweifelt Israel, dass es um besetzte Gebiete im Sinne der internationalen Konventionen gehen kann. Unabhängig davon wird das 32

Bildnachweis: http://www.jewishvirtuallibrary.org/jsource/images/maps/h1h2map.gif (eingesehen am 08.09.2016).

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ganze Gebiet zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan, zwischen Galiläa und dem Toten Meer von Israel als Eretz Israel beansprucht. Auf der Seite der Palästinenser taucht eine ähnliche Deutung auf, die im Zusammenhang der Intifada öffentlich beschworen wird, die aber schon bzw. erst in den dreißiger Jahren in Auseinandersetzung mit der jüdischen Beanspruchung des Landes entstanden war.33

Abb. 5: „Palestinian Loss of Land“ 1947 bis 2012.34

1987 brach die Intifada, der Aufstand der Palästinenser, aus und es wird infolgedessen die islamische Widerstandsbewegung Hamas begründet. Hamas ist eine Abkürzung, die „Eifer“ bedeutet. Dieser Eifer wird vom Muslim verlangt. Und ein Jahr später wird von dieser Gruppe, die aus den Muslim-Brüdern im Gazastreifen hervorgegangen war, eine Charta veröffentlicht. Darin heißt es: „Palästina ist islamisches Waqf-Land“. Die Muslime der Eroberungszeit haben es den muslimischen Generationen bis zum Tag der Auferstehung als Waqf übertragen, ein unveräußerliches Stiftungsland, über das nicht zu verhandeln ist, es ist sakrosankt. Der Einsatz für dieses Land, der Patriotismus, ist Teil der Religion.35 Dies ist eine islamistische Deutung. Sowie auf der Seite Israels eine religiöse Sprache für das 33

Krämer 2002, 292–296. Bildnachweis: http://immediateexpulsionofallisraelidiplomatsfromireland.org/palestinian-loss-of-land-1947-to-present/ (zuletzt aufgerufen am 08.09.2016). 35 Zur Geschichte von Hamas: Hroub 2000; Mishal/Sela 2000; Baumgarten 2006; Croitoru 2007; Chehab 2007. 34

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besetzte Gebiet in Anwendung kommt – religiöse Zionisten sprechen von „Erlöstem Land“ –, so tun es die palästinensischen Moslembrüder und reklamieren mittels ihrer religiösen Sprache das Land für sich. Diese Entwicklung berührt die Funktion von Sprache. Man kann lange über Definitionen von Religion diskutieren, aber Religion bezogen auf Verhältnisse, die im Hinblick auf Zeit, auf Geschichte, auf Natur, auf Territorium, auf Biographie existieren, ist charakterisiert durch eine eigene Sprache. Das ist das auffälligste Merkmal, wenn ein säkularer Konflikt religiös wird. Sehr früh gab es in Israel Bedenken, das Hebräische zur Alltagssprache, zur politischen Sprache zu machen. Gershom Scholem schrieb in einem Briefaustausch mit Franz Rosenzweig in den Zwanzigerjahren: „Dies Land [Palästina] ist ein Vulkan. Er beherbergt die Sprache. Unheimlicher als das arabische Volk steht eine andere Drohung vor uns, die das zionistische Unterfangen mit Notwendigkeit heraufbeschworen hat: Was ist mit der Aktualisierung des Hebräischen? Muss nicht der Abgrund einer heiligen Sprache, die in unsere Kinder gesenkt wird, wieder aufbrechen? Man glaubt, die Sprache bewältigt zu haben, ihr den apokalyptischen Stachel ausgezogen zu haben, aber das ist nicht wahr. Es ist schlechthin unmöglich, die zum Bersten erfüllten Worte zu entleeren. Möge uns nicht der Leichtsinn zum Verderben werden.“36

Und das trifft in ähnlicher Weise auch auf die islamische Sprache zu, die zur Beschreibung dieses Konfliktes genutzt wird, denn mit der Sprache werden zugleich ganz bestimmte Handlungsanreize gesetzt. Es macht eben einen Unterschied, ob man im Fall von Juden in Palästina von „Einwanderung“ oder von „Rückkehr“ spricht, und damit das sogenannte Rückkehrrecht von Juden nach Palästina als ein religiös verbürgtes Recht wertet; ob man von „Ausland“ spricht oder von „Diasporaexil“; ob von „Palästina“ oder dem „Land Israel“, von „Besetzung“ von Gebieten oder von „Erlösung“, von „Besiedeln“ oder von „Antritt eines verheißenen Erbes“. Hier lässt Foucault grüßen: Die Sprache ist nicht nur eine neutrale Bezeichnung für Sachverhalte, vielmehr sind in ihr jeweils ganz bestimmte Handlungslegitimationen angelegt. Gut erfasst wird dieses Phänomen von Silberstein in seinem Buch über postzionistische Debatten in Israels Kultur.37 So hat der Konflikt, der als ein territorialer Konflikt 1967 begonnen hat und wesentlich in der Rechtsprache zu Hause war, durch die Siedler eine Veränderung erfahren und sich an dem Modell von jüdischer Gemeinschaftsreligiosität orientiert. Man kann das Modell im Sinne von Max Weber als eine Art Idealtypus beschreiben. Es tritt selten oder nie rein auf, kann aber helfen, soziales Handeln zu

36 37

Zitiert nach Mosès 1992, 215–217. Silberstein 1999.

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rekonstruieren. Dieser Typus besteht aus mehreren Elementen: Die religiöse Gemeinschaft ist Adressat einer Heilszusage und damit selbst Gegenstand des Glaubens; die lokalen Religionsgemeinden sind Teil einer transzendenten Gemeinschaft und einer von der Weltgeschichte unterschiedenen Heilsgeschichte – in diesem Zusammenhang finden sich dann die Konzepte von Volk Gottes und Umma. Dann zweitens: Gemeinschaftsreligiosität verlangt von ihren Angehörigen, einander in Not beizustehen. Weber hat das „Brüderlichkeitsethik“ genannt, man könnte es auch „religiöse Solidaritätsethik“ nennen. 38 Dann weiter: Sie fordert von ihren Mitgliedern in Zeiten, in der ihre Existenz bedroht ist, also die Gemeinschaft selber bedroht ist, die Bereitschaft, für den Glauben zu sterben. Märtyrerkult und das Bekämpfen von Apostasie werden zum Vorbild. Dann – letztlich auch nicht unwichtig – dass eine solche Gemeinschaftsreligiosität öffentliche Anerkennung von den anderen sozialen Ordnungen und Mächten, in der sie sich entwickelt, als Garant von Gemeinwohl verlangt, also eine Art Verrechtlichung einfordert. Dieses Paradigma der Gemeinschaftsreligiosität tritt nun zu diesem Konflikt hinzu und mobilisiert immer mehr Angehörige der Gemeinschaft. Ich komme zum Ende: Was heißt dies alles für Hebron und seine gegenwärtige Geschichte? Der amerikanische Kulturanthropologe Arjun Appadurai hat darüber nachgedacht, was lokaler Zusammenhang unter den Bedingungen der Globalisierung heißt.39 Seine Studien zeigen, dass ein lokaler Zusammenhalt nach sehr verschiedenen Modellen sozialer Form gebildet sein kann. Er ist keineswegs natürlich, sondern vielmehr hergestellt, er ist von Beziehungen (relational) und Kontexten bestimmt, von einem Sinn für soziale Nähe und Ferne, die durch interaktive Technologien entsteht. Eine Verschiebung von einst selbstverständlicher Nachbarschaft zu einer Produktion von Lokalität findet statt. Nachbarschaft bezieht sich auf lokale Gemeinschaften, die die Modelle des Zusammenlebens unterschiedlich realisieren. Auch die Einwohnerschaft Hebrons anerkennt die Sakralität ihres Ortes – doch wird sie neu begründet. Noch immer ist es der Ort des von Juden, Christen und Muslimen gemeinsam verehrten Abraham. Doch ihre Gemeinsamkeit wird brüchig. Das Heiligtum wurde im Mittelalter schon von Kirche und Moschee repräsentiert. Jetzt aber wird das Heiligtum nicht allein aufgespalten in einen jüdischen und einen islamischen Ort der Verehrung. In den Jahren der Besiedlung Palästinas durch Juden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird aus diesem Nebeneinander ein Konflikt von Juden und Arabern um das Land. Der Konflikt gipfelte 1929 in einem Pogrom, dem viele Juden zum Opfer fielen und der überlebende Juden zum Verlassen Hebrons veranlasste. Nachdem die Israelischen Streitkräfte im Sechstagekrieg 1967 das Westjordanland und damit auch Hebron eroberten, und in Oslo 1994/95 in den Verträgen mit den Palästinensern festlegten, welche der besetzten Gebiete des Westjordanlands unter jüdische und 38 39

Kippenberg 2011, 92–122. Appadurai 1996, chapter 9.

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welche unter palästinensische Verwaltung kamen, teilten sie 1998 Hebron vertraglich in zwei Zonen, eine palästinensische und eine israelische. Die Israelis befreiten das Abraham Heiligtum so von heidnischer Herrschaft. Schlussfolgerung In dem Werk von Jerold S. Auerbach „The Hebron Jews: Memory and Conflict in the Land of Israel“ begegnet ein Zitat, das die Entwicklung gut trifft. Es stammt von Yigal Yadin, dem bedeutenden Archäologen und zweiten Generalstabschef der israelischen Armee: „This generation has created a new religion, the religion of history, a belief in the history of its people as a religious faith.“40

Der Sieg der israelischen Truppen über die arabischen Armeen Ägyptens und Syriens samt der Eroberung „biblischer“ Orte hat den Glauben daran, sich in der heilsgeschichtlichen Periode der Wiederherstellung Israels im Heiligen Land zu befinden, begründet. Dass Hebron, das laut Rabbi Kook von Israel losgerissen worden war, nun aber wieder zu Israel gehörte, war ein zusätzliches Indiz dafür, dass es einst biblisch war, auch wenn heute überwiegend Palästinenser darin lebten. Die Deutung des Sechstagekrieges als Krieg der Erlösung begründete einen neuen Glauben. Und zu diesem Glauben gehörte, dass Abraham die Höhle von Machpela rechtmäßig erworben habe und sie daher den jüdischen und nicht den arabischen Nachkommen Abrahams gehört. Die Teilung der Stadt trug diesem Glauben Rechnung. Hatte der Glaube an die Sakralität des Ortes die gemeinsame Nutzung des Heiligtums durch Juden, Christen und Muslime ermöglicht, so führte der Glaube an die politisch-militärische Erwählung der Juden dazu, dass im Komplex neben der Moschee eine Synagoge errichtet wurde und in Mitten der Altstadt eine kleine Gruppe jüdischer Siedler lebte, um den jüdischen Anspruch auf die ganze Stadt aufrecht zu erhalten, dabei allerdings von der israelischen Armee geschützt werden musste. Die Geschichte des Heiligtums in Hebron zeigt, dass die Sakralität eines Ortes, die von verschiedenen Religionen – Juden, Christen, Muslime – anerkannt wurde, auf den Glauben dieser Religionsgemeinschaften an sich selber überging und damit unter neuen Bedingungen eine alte Formel variierte: Wer meinen Abraham segnet, sei gesegnet; wer meinen Abraham verflucht, sei verflucht.

40

Auerbach 2009, 84. Yadin bezweifelt, dass es sich bei der Machpela um das Grab jüdischer Patriarchen handelt; eher seien dort arabische Sheikhs bestattet.

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Register 1 Geographische Bezeichnungen Abydos 3, 67–86, 197 Achet-Aton/El Amarna 120 Aelia Capitolina 246f., 250, 311 Ägypten 67–86, 98f., 104, 110, 120–124, 127f., 130f., 134, 145, 175, 212f., 235, 265, 267f., 270, 293, 302, 330, 344, 351, 354, 362 Akkade/Akkader/akkadisch 3, 39– 47, 100 Al Jahudu 129 Al–Chalīl siehe Hebron Alpheios 141, 146, 160 Al-Quds siehe Jerusalem Anaplus 276 Anatot 349 Anšan 50 Antiocheia 175, 272f., 276f. Assur 44, 51, 127f. Assyrien/Assyrer/assyrisch 3, 5, 44, 50, 97, 127–129 Athen/Athener 142, 148, 151, 154, 162, 177, 200–203, 209, 214 Ayasofya siehe Hagia Sophia Babylon/Babylonien/Babylonier/ babylonisch 3, 5, 37–51, 100, 119, 128–131, 155, 215, 217, 309 Bethel 6f., 126, 128 Bethlehem 239, 245, 249, 252 Byzantion 8, 285–287 Chorsabad 95 Delos 105, 152, 158f. Delphi 5, 141–162, 197–199, 208, 213 Doliche 169–191 1

Dülük Baba Tepesi 6, 169–191 Dura Europos 266, 272 Dūr-Kurigalzu 38 Elam 50 Eridu 43 Fruchtbarer Halbmond 15f. Gades 103, 104, 109, 112 Garizim 133, 135, 244 Gaza 122, 350, 357–359 Gaziantep 170, siehe auch Doliche Gibeon 123, 126 Gihon (Quelle) 123–125, 301 Ĝirsu/Lagaš 45 Göbekli Tepe 2, 13–35 Goldenes Dreieck 16 Golgota 314 Haram 119, 125, 302, 315f., 327, 334 Harran (=Karrhai in Syrien) 268 Hatti 122 Ḫattuša 51 Hazor 120 Hebron 7, 9, 123, 341–362 Heliopolis (Ägypten) 76, 212 Heliopolis (Baalbek) 272 Hethiter 119, 121, 343 Isin 43, 49f. Israel/Israeliten/israelitisch 5f., 119–136, 299–321, 341–362 Istanbul siehe Konstantinopel Isthmia 148f. Jehud 131 Jerf el-Ahmar 23 Jericho 16, 119, 349, 357 Jerusalem 5–8, 37, 119–136, 199, 236, 239, 242–255, 265f., 288f.,

Kursiv gesetzte Zahlen: Stichwort wird nur in den Anmerkungen erwähnt. © 2018, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-028-4 (Buch) / ISBN 978-3-96327-029-1 (E-Book)

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299–321, 327, 342, 347, 350, 354 Jordan 119, 254, 359 Juda/Judäa/Judäer/judäisch 6, 123– 135, 303, 350 Kadesch 120f. Kanaan/Kannanäer 122, 299–304, 344 Kap Soloeis (=Spartel) 4, 102–104, 110 Karthago/Karthager 4, 95–112, 219f. Kerbela 327, 333 Kirjat Arba 343, 346, 352, 356f. siehe auch Hebron Kleonai 148 Kom el-Sultan 68, 70, 72, 74, 77 Kommagene 169–191 Konstantiniyye siehe Konstantinopel Konstantinopel 8, 212, 236f., 276– 278, 285– 297 Kythera 109 Lachisch 122 Lapethos 103 Larsa 50f. Lateran 239, 241 Leontopolis 134 Machpela 343, 346, 350, 354–357, 362 Magna Graecia 157 Mamre 7, 239, 245, 252, 346 Mari (Syrien) 49 Medina 8f., 325–337 Megiddo (Israel) 120, 126 Mekka 8, 271, 315, 326–335 Memphis 76, 99, 109 Mesopotamien 3, 23, 37f., 41, 45, 50, 52, 119, 122, 128f., 170, 343 Mizpa 129 Molla Zeyrek Camii 286 Moria 307, 314, 344 Nadschaf 326f. Nadschd 332 Nemea 148f., 159 Nemrud Dağ 169 Nevali Çori 18f., 21f.

Niffar siehe Nippur Ninive 95, 128 Nippur 3, 37–55, 129 Nora (Sardinien) 96f. Nuffar siehe Nippur Ölberg 249, 302, 308, 313, 316 Olymp 202 Olympia 5, 141–162 Ostia 200 Palästina/Palästinenser 119–123, 126f., 131, 235f., 239f., 245– 251, 255, 341–362 Palatin 198, 209 Palmyra 2 Paphos 109 Parnass 141, 197 Perser 131–133, 147, 155, 173, 275, 312, 356 Philister 122f., 126f., 301 Phokis 143 Phönizier 4, 95–112, 125–127, 219 Platää/Platäa 146, 155, 287 Poker (Ägypten) 74 Pola 200 Punier 96, 108 Puzriš-Dagān 48f. Qumran 135, 305 Ravenna 267, 288, 290, 294 Rhodos 109, 211, 213 Rom/Römer 7, 46, 135, 151, 156, 170f., 197–224, 246f., 272, 275, 290, 300, 310–312 Salvatorkirchen (Rom) 239 Samaria 126f., 133f., 350 Ṣaphon 98 Saqqara 69, 71 Sardinien 4, 95–97 Sergios- und Bakchos-Kirche 8, 289f., 296f. Sichem 121f., 349 Šimaški 50 Sinai 124, 130, 354 Sizilien 95, 156, 158 Sumer/Sumerer 3, 37–51 Syrien 23, 97, 120, 131, 134, 170, 175, 177, 181f., 246, 265f., 268– 276, 293, 351, 362

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Register

Tahnu 122 Tanger (auch Tangi/Tingi) 4, 95, 102 Tarschisch 96 Thasos 109, 111 Theben (Ägypten) 76, 120 Thymiaterion, -ia 102f. Tyros 4, 95, 97, 100f., 106, 111f., 253f. Ugarit 98, 107, 302 Umm el-Qaab 68–80

369

Ur 38, 43, 46–51, 62–66, 343 Urfa-Region 18, 22 Uruk 38, 42f., 49 Uruschalim 301f., siehe auch Jerusalem Utica (Tunesien) 109 West Bank / Westjordanland 351– 353, 358, 361 Zion 6, 125, 135f., 247, 317, 349 Zypern 95, 97, 104, 177

Gottheiten und Heroen

Aeternitas 207, 222 Ahura-Mazda 131f. Amun 76, 78, 120 An 43f. Antaios (Riese der gr. Mythologie) 105 Aphrodite 7, 109f., 216, 250–252, 270 Apollon 109, 141, 144–146, 154, 158 Ares 211, 216 Artemis 149, 152, 160 Aschera 124, 126, 304 Assur/Aššur 3, 44, 50 Aštarte 107, 109, 124 Atargatis 270, 272 Athena 154, 201 Aton 120 Baal 97–99, 102, 107f., 124, 126, 237 – Hadad 6, 124 – Hammon 98 – Malage 97f., 100, 107 – MGNM 98 – Roš 102 – Šamem 97 – Ṣaphon 97f., 102, 107 – Schamajim 134 – Shamem 4 Bes 80f. Cheba 302

Chontamenti 71f. Chusor 98f. Cybele siehe Kybele Dagon 100 Demeter 158 Diana 202 Dionysos 270f. Eirene 152 El 124–126, 302 El Elyon 4 Enki 42f. Enlil 3, 38–50, 53, 55 Ešmun 100, 111 Harendotes 77 Hepa 121 Hephaistos 98f. Herakles 4, 100, 105f., 109–112, 146, 153, 156 Hermes 172, 210 Hestia 209f. Horus 4, 70f., 75, 77 Ilaba 45 Inana 38, 53 Isis 71f., 107, 170 Ištar 45 Italia 202 Iuno Regina 172, 179 Iuppiter Dolichenus 6, 169–181, 189f. Jahwe(h)/Jhwh 4, 6, 123–135, 252 302–306

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Register

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Jupiter 200, 206, 210f., 215, 311, 318 Kronos (Gestalt der gr. Mythologie) 211 Kybele 170, 203 Luna 211 Marduk 3, 44, 50 Mars 211, 215f., 223 Melqart 4, 100f., 104–108, 110– 112 Merkur 210f. Mithras 170 Nanna 43 Neptun 101 Nin’isina 43 Ninlil 38 Ninurta 42, 44 Osiris 3f., 67–80, 83 Pax 201 Poseidon 4, 101–109 – Askalonites 105 – Heiligtum in Isthmia 148, 153 – Narnakios 103 Pumay 4, 96 Remus (Gestalt der röm. Mythologie) 198 Roma 7, 199–203, 220f.

Romulus (Gestalt der röm. Mythologie) 198–200, 203, 215 Saturn 208, 211 Schahor 121 Schalem/Schalim 119, 121, 124– 126, 302 Schamasch 128, 302 Serapis 80 Seth 71 Sol 212, 237 Tellus 201f. Thot 99 Triton 107 Turmasgades 173 Venus 201f., 211, 215f. Vesta 206, 209f., 215, 220 Yammu 107 Zedek 124–126, 302 Zeus 134, 198 – Agoraios 160 – Grotte auf Kreta 249 – Kasios 98 – Malage 100 – Meilichios 98–100 – von Nemea 148, 159 – von Olympia 141, 143, 146–149, 154–156, 158, 160

Personen der Antike und Vormoderne Abel 345 Abgar (V.) (König von Edessa) 272 Abraham 4, 123, 239, 252, 307, 314f., 328, 341–347, 354, 356f., 361f. Absalom 125 Adam 307, 314f. Aelius Aristides 197, 205, 207, 215 Aeneas 198, 215 Ahas (König von Juda) 127, 306 Aḥmad ibn Ḥanbal 332 Aḥmad ibn Taymiyya 332 Ahmose I. (Pharao) 75f. Alexander der Große 133, 155f., 169, 205, 285

Amar-Suena (König von Ur) 48 Amenemhat III. (Pharao) 73 Amenophis IV. siehe Echnaton Anthemios von Tralleis 289 Antiochos I. (seleukidischer König) 6, 169 Antiochus IV. (seleukidischer König) 134 Aristobul II. (König von Judäa) 135 Aristoteles 150, 213 Asarhaddon (assyrischer König) 97f., 100, 107 Augustus (röm. Kaiser) 200–202, 206, 208f., 212, 214, 217f., 235f. Baal von Tyros (König) 97

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Register

Bar Kochba 135, 311 Benaja 125 Cäsar/Caesar, Caius Iulius 135, 216, 285 Chasechemui (Pharao) 79f. Chasidim 134 Cicero, Marcus Tullius 159, 200, 207, 215 Constantius I. (römischer Kaiser) 237, 285 Constantius II. (oströmischer Kaiser) 212 Daniel Stylites 276–278 Dareios I. (persischer Großkönig) 169 David (König von Israel) 123–125, 131, 301–306, 315, 346, 348 Den (Pharao) 70 Deuterojesaja 305 Dewen (Pharao) 78f. Diodor von Sizilien 100f., 104, 111, 155 Djer (Pharao) 70, 73, 77f., 83f. Drusus, Nero Claudius 200, 203 E’anatum (König von Lagaš) 45 Echnaton (Pharao) 120 Elagabal (römischer Kaiser) 199, 237 Elias 275, 317, 320 Enanatum I. (König von Lagaš) 45 Enmetena (König von Lagaš) 45 Eratosthenes von Kyrene 151, 211 Esau 345 Esra 133 Euadne (Figur der gr. Mythologie) 146 Euagrios Scholastikos 276 Eusebios/Eusebius von Caesarea 99, 246–254, 266, 312 Ezechiel 129, 317 Gregor von Nazianz 145 Gregor von Tours 269 Hadrian (römischer Kaiser) 199, 201, 311, 318 Hagias aus Syrakus 146 Hammurapi (König von Sumer und Akkad) 44

371

Hannibal 106, 156 Hanno 101–103, 105, 110 Hapiru 121 Hasmon/Hasmonäer 134f., 309 Hatschepsut (Pharaonin) 75 Herodes d. Gr. 135, 302, 308–310, 346 Herodot 99, 109f., 112, 150, 154f., 213, 286 Hippias aus Elis 150f. Hiskia (König von Juda) 127f., 304 Horaz 202–204, 207, 212 Hyksos 120 Hyrkan (Hohepriester) 135 Iamiden 146f. Ibbi-Sîn (Herrscher von Ur) 49f. Ichernofret (Schatzmeister) 74 Isaak 342, 344f., 354 Išbi-Erra (König von Isin) 49f. Ismael 344f. Išme-Dagān (assyrischer König) 50 Isokrates (griechischer Redner) 151 Jakob 315, 344f., 354 Jehojachin 129 Jehojakim (König von Juda) 129 Jehu 127 Jeremia 129 Jesaja 127, 313 Jesus von Nazaret 239, 244, 250, 266, 275, 288, 308, 312, 314, 342 Joab 124 Jonatan 134 Joschija/Josia (König von Juda) 128, 130, 304 Julian (römischer Kaiser) 145, 272, 312 Justinian (röm. Kaiser) 272, 288– 290, 294 Kadmos 109 Kain 345 Kallisthenes von Olynth 150 Kambyses (achämenidischer Großkönig) 99 Klytiaden 146f.

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Konstantin d. Gr. (röm. Kaiser) 7, 235–256, 266, 280, 285–289, 313 Labaju (König von Sichem) 121 Lea 344, 354 Leon I. (oström. Kaiser) 276, 278 Leon von Phlius 159 Livius (Titus Livius Patavinus) 111, 156, 198f., 202, 211 Lucan (Marcus Annaeus Lucanus) 203 Lugalzagesi (sumerischer König) 45 Lukian von Samosata 154, 270f. Makarios (Bischof von Jerusalem) 247, 252 Manasse (König von Juda) 128, 304 Manilius, Marcus 214–220 Melchizedek 124 Melinno 202 Mentuhotep Nebhepetre (Pharao) 73 Merenptah (Pharao) 122 Mithridates (König von Pontos) 159 Mnaseas aus Patara 145 Mohammed/Muḥammad 315f., 328f., 337 Mose(s) 5, 99, 130, 136, 275 Narām-Sîn (König von Akkad) 46f. Narmer (ägyptischer König) 69 Nathan (Prophet) 125 Nebukadnezar II. (neubabylonischer König) 129 Necho II. (Pharao) 128 Nehemia 133 Nero (römischer Kaiser) 206 Noah/Noach 303, 307, 315 Omriden 126f. Onias IV. (Hohepriester) 134 Otto I. (röm.-dt. Kaiser) 162 Ovid (Publius Ovidius Naso) 207, 210 Paulus Alexandrinus (Astrologe) 220

Paulus (Apostel) 161, 197, 244, 275 Pausanias 150, 160 Petrus 197, 275 Phidias 201 Philipp V. von Makedonien 106 Philolaos von Kroton 209 Philon von Byblos 98f., 112 Pindar 146f., 149, 154, 156f. Platon 152, 162, 200, 210, 213 Plinius d. Ältere 51, 109, 205 Plutarch 71, 155 Polyän 206 Polybios 101, 106, 110 Properz 207 Prudentius (Aurelius Prudentius Clemens) 203 Pseudo-Skylax 103, 105 Ptolemäus I. 134f. Qa’a (Pharao) 70 Ramses II. (Pharao) 4, 76, 121f. Ramses III. (Pharao) 122 Rebekka 344, 354 Rehabeam 126 Rei 125 Rīmuš (König von Akkad) 46 Salmanassar III. (König von Assyrien) 127 Salomo(n) (König von Israel) 125f., 136, 242, 253, 301–310, 315 Sanchuniathon 99 Sanherib (assyrischer König) 128 Šāpūr I. (Sassanidenherrscher) 173 Sarah 343f., 354 Sargon (König von Akkad) 45f. Šarkališarrī (König von Akkad) 46 Saul 123, 125 Scheba 125 Scheschonq I. (Pharao) 126 Schimʿon ben Kosiba 311 Schimi 125 Seleukiden 6, 40, 134 Selim II. (Sultan) 293 Serubbabel 131, 302, 306–310 Sesostris III (Pharao) 73–76, 80 Sethos I. (Pharao) 76–81, 83, 121

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Register

Skorpion (Pharao) 69 Strabon 112, 143f., 146f., 151, 154, 158–160, 208 Šulgi (König von Ur) 48 Symeon Stylites 7, 265, 271, 273– 278 Tetischeri (Ägyptische Königsgemahlin) 76, 80 Theaios aus Argos 149 Themistokles 155 Theodoret von Kyrrhos 273–275 Theodoros Stratelates 174 Theodosius I. (oströmischer Kaiser) 288, 294 Theodosius II. (oströmischer Kaiser) 286, 289 Thukydides 150f. Thutmosis III. (Pharao) 76, 120 Tiberios II. (oströmischer Kaiser) 272

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Tiberius (Tiberius Iulius Caesar Augustus) 206, 214, 218 Tobiaden 134 Tūtanapšum (Priesterin) 46 Ur-Namma (sumerischer König) 47, 55 Varro (Marcus Terentius Varro) 203, 207, 209, 217 Vergil (Publius Vergilius Maro) 202f., 213, 215, 217f. Vespasian (römischer Kaiser) 199, 207, 311, 320 Wulflaich 269 Xenophanes von Kolophon 148 Zadok/Zadokiden 125, 135 Zedekia (König von Juda) 129 Zeloten 135 Zenon (römischer Kaiser) 277f.

Personen der Moderne Amélineau, Émile 69f. Amir, Jigal 356f. Antoniadi, Eugène 289 Cumont, Franz 171 Gibson, McGuire 38 Goldstein, Baruch 356 Goren, Shlomo 350, 354 Haines, Richard C. 38 Haynes, John H. 38 Hilprecht, Hermann V. 37f. Ibn Saʿūd ʿAbd al-ʿAzīz 333 Kenyon, Kathleen 16, 123 Knudstad, James E. 38 Kolettis, Ioannis 162 Kook, Abraham Isaak 348f., 362 Kook, Zvi Yehuda 349 Layard, Austen Henry 37

Levinger, Moshe 348, 351 Mazar, Eilat 123, 125, 301f. McCown, Donald E. 38 Metastasio, Pietro 141–143 Muḥammad ibn ʿAbd al-Wahhāb 332 Oppert, Julius 37 Peters, John P. 38 Petrie, Flinders 69 Rawlinson, Henry C. 37 Rigas Velestinlís 142f., 161 Šāmil 330 Selim II. 293 Soutsos, Panagiotis 162 Westenholz, Aage 41, 46 Zettler, Richard L. 47

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Register

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Sachregister Agon/Wettkampf 5f., 141–162 Ahnenkult 3, 70, 72, 76–78, 81 Al-Aqsa-Moschee 119 Amana 352 Amphiktyonie/Amphiktyonen 48, 144, 148, 158 Ara Pacis 201f., 221 Askese 268–278, 341 Asyl/Asylie/Asylanten 110, 133, 149, 330 Athlet(en) 148–154, 158f. Auferstehungskirche, -basilika 313f., 321 Baqīʿ al-Ġarqad 9, 329–337 Basilika/-en 7, 240–244, 248, 252f., 289, 313, 321 Chasidim 134 Cheruben/Cherubenthron 125f., 136 Christ(en)/Christentum/christlich 5, 7–9, 99, 145, 161, 170, 173f., 200, 235–256, 265–278, 285, 287f., 291, 299, 303, 306, 312– 314, 316, 325, 327, 341–347, 354f., 361f. Deësis-Mosaik 292, 297 Dekalog 130 Deuteronomium 123, 128 Diaspora 5, 131, 133f., 307, 360 Domestikation/Domestizierung 16–18, 24 Eid/Eidleistung 4, 44, 128f., 332 Ekur 38–41, 46–48 Eleona-Basilika 313 Engel 130, 241, 273, 329 Enuma-Elisch 130 Epiphanie 7, 248, 252 Eretz Israel 359 Exodus 130, 132, 354 Felsendom 119, 315, 317, 320 Fest 3, 5, 23, 43, 67, 71, 74–76, 80, 105f., 130, 132, 143, 149, 151– 162, 201f., 268, 274, 311, 351, 356, siehe auch Panegyris

Forum Romanum 201, 208f., 222 Ǧannat al-Baqīʿ siehe Baqīʿ alĠarqad Genius-Verehrung 209 Grab/Gräber – Abraham 123 – Abydos 68–80, 83 – ʿAlī ibn Abī Ṭālib 326 – Antiochos I. 6, 169 – Christi 248–252 – Chasechemui 79 – Djer 70, 73, 77f., 83f. – Dewen 78f. – Doliche 173, 175 – Dülük Baba 6, 175 – Islam 326, 329, 331–333, 336f. – Kirjat Arba 343 – Muhammed 337 – Osiris 68, 70, 73–80, 83 – Patriarchen 9, 346f., 354 – Pithekoussai 157 – Prophetengrab 9, 327–330, 333f. – Theoderich 290 – Umm el-Qaab 68–80 Grabeskirche 7, 249–251, 266, 314 Gusch Emunim 351 Hadith 325, 328, 332 Hagia Irene 286f. Hagia Sophia 8, 286–293, 295, 297 Hamas 359 Hanbaliten 332 Hapiru 121 Haramayn 327, 331, 333–335 Hasmon/Hasmonäer 134f., 309 Hidschra 328f. Ibrahim-Moschee 341, 346, 357 Ilaba 45 Islam/islamisch 6, 8f., 38, 175, 286, 291f., 314–316, 325–335, 341–362 Isthmien 149 Juden/Judentum/jüdisch 5, 8f., 99, 129, 131–135, 211, 244, 246,

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Register

253, 255, 266, 299f., 303–307, 310–317, 322, 341–362 Kaaba/Kaʿba 271, 328, 345 Katakomben 239, 243, 266 Katharinenkloster (Sinai) 354 Kirche(n) 7–9, 174, 197, 235–256, 276f., 286–292, 296f., 313f., 346, 354 Kloster des Heiligen Salomon 173–175, 180 Lade 124f., 136 Leukophryena 152 Ludi saeculares 202 Madaba-Mosaik 313, 321 Mahl/Mahlgemeinschaft 2, 132, 156, 240, 274, 276 Markt 5, 107, 158–161 Märtyrer 7, 174, 197, 245, 251, 255, 267, 272, 290, 356, 361 Menorah 132 mercatus 159f. Merkaz ha-Rav-Kook 349–351 mil(l)iarium aureum 208, 222 Molla Zeyrek Camii 286 Mönch/Mönchtum 7, 265, 268f., 273 Moschee 119, 289, 293, 315, 328– 334, 337, 341, 346f., 354, 357, 361f. Mysterien 74f. Nabel/Omphalos 144, 197f., 208– 211, 307, 314 Nekropole 6, 69, 75, 102, 243 siehe auch Grab – Abydos 3, 67–75, 80 – Baqīʿ al-Ġarqad 9, 329–337 – Doliche 175 – Mamilla 302 – Medina 329–333 – Mekka 329 – Pontecagnano 157 – Saqqara 69, 71 Nemeen 149 Neolithikum 2, 13–35 Neolithisierung 15f., 24 Obelisk 212, 287f. Olympien 148–162

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Omphalos siehe Nabel Orakel – Abydos 68, 80 – Daphne 272 – Delphi 5, 141, 143–146, 149, 198 – an Kyros 131 – Lade 124f. – Olympia 5, 143–147, 151 Panathenäen 148, 162, 202 Panegyrikos 205, 215 Panegyris/Panegyreis/Panegyrien 5, 7, 144, 148–162 Parilia (Fest) 201 Patriarchengrab 9, 346f., 354 Patriarchenhöhle 341, 347, 354 Periodos 148f., 161 Pilger/in(nen) 72, 79, 135, 211, 245–247, 255, 266, 274–277, 308, 313, 316, 330f., 336, 347, 354 – fahrt(en) 72, 288, 326f., 354 – kirche 197, 277 – stätte 7, 80, 220 – zentren 211, 265 Prophet/Prophetie 125, 127, 129f., 136, 215, 244, 307, 312f., 325, 328–337, 342, 344, 349 Proseuche 134 Prozession 3f., 67, 74, 76, 130, 179, 200, 253, 275, 277, 288 Pythia 145 Pythien 148f., 153f., 158 Qal’at Sim’an 8, 265, 268, 277 Reliquien 8, 243, 255, 267, 272, 288, 292, 326 Rostra 208 Sabbat 133 Salvatorkirchen (Rom) 239 San Vitale (Ravenna) 267, 288 Schiiten 8, 326–328, 333 Sechstagekrieg 348f., 357, 361f. Serafen 126f. Sergios- und Bakchos-Kirche 8, 289f., 296f. Sportler siehe Athlet Stiftshütte 253 Stylit/Stylitentum 7, 268–278

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Synagoge 134, 266, 347, 354, 362 Taufe 254, 291 Tempel (Jerusalem) 5, 7, 125–136, 302–321 Tempelberg 246, 307, 309, 314, 316f., 327, 354 Templum Urbis / Urbis Fanum 200f. Tora/Toraschrein 8, 133–136, 311, 319, 349f. Totenkult 69, 71f., 243 Umbilicus Romae/Urbis 208, 222

Volksfest 5, 143, 153, 155f., 159, siehe auch Agon, mercatus, Panegyris Wahhabiten/Wahhabiya 8, 331– 334 Wallfahrt/Wallfahrtsstätte 6–8, 103, 132, 135, 265, 275, 278, 320, 326f., 332 Waqf 354f., 359 Wettkampf siehe Agon Zadokiden 135 Zeloten 135 Zikkurat 38f. Zionismus 348–351

© 2018, Zaphon, Münster ISBN 978-3-96327-028-4 (Buch) / ISBN 978-3-96327-029-1 (E-Book)