Hatha-Yoga pro Gesundheit: Selbstwirksamkeit stärken, Wohlbefinden fördern [1 ed.] 9783666454202, 9783525454206

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Hatha-Yoga pro Gesundheit: Selbstwirksamkeit stärken, Wohlbefinden fördern [1 ed.]
 9783666454202, 9783525454206

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Hatha-Yoga pro Gesundheit Selbstwirksamkeit stärken, Wohlbefinden fördern Berufsverband Unabhängiger Gesundheitswissenschaftlicher Yogalehrender BUGY (Hg.)

Berufsverband Unabhängiger Gesundheitswissenschaftlicher Yoga-Lehrender BUGY (Hg.)

Hatha-Yoga pro Gesundheit Selbstwirksamkeit stärken, Wohlbefinden fördern

Mit einem Vorwort von Eberhard Göpel

Mit 32 Abbildungen und 24 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht

Gewidmet Rocque Lobo * 4. März 1941 – † 9. September 2019 Professor für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (Schwerpunkt Gesundheitsbildung) Experte des Hatha-Yoga

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: ElinaB, People practicing yoga together in park/Shutterstock.com Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-45420-2

Inhalt

Vorwort Eberhard Göpel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einleitung Michael Röslen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Hatha-Yoga – Grundlagen Hatha-Yoga pro Gesundheit Michael Röslen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 KörperÖkologie und Hatha-Yoga Brigitte Wagner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Hatha-Yoga – Empfinden und Handeln mit Haut und Haar Raimond Hintze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

Salutogenese – Grundlagen Gesundheitsbildung als sozialer Prozess: Das Konzept der Salutogenese Ottomar Bahrs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Salutogene Kommunikation zum Anregen der Selbstheilungsfähigkeit Theodor Dierk Petzold . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90

Selbstwirksamkeit stärken – Wohlbefinden fördern Yoga und das Gefühl für soziale Sicherheit – innen Grenze, außen Mauer? Christine Koch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Sicherheit und Verbundenheit – die Polyvagal-Theorie im Spiegel von Āyurveda und Yoga Birgit Atzl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

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Inhalt

Hatha-Yoga als körperbasierte Selbstreflexion für hochsensible Menschen Nicole Hüttner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Hatha-Yoga als Gesundheitsressource im Umgang mit Scham Claude-Hélène Mayer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Unerfüllter Kinderwunsch – ein Dialog zwischen Wollen und Nicht-Können Birgit Erdle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Im Blut getroffen sein Benedikta Hirsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Yoga und Embodiment Kerstin Schneider . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Yoga in einer Förderschule Birgit Erdle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238

Medizintechnik im Dienste von Hatha-Yoga, Selbstwirksamkeit und Wohlbefinden Technologie und Wissenstransfer: Medizintechnisch untersuchte Phänomene der interaktionellen Kohärenzdynamik Rocque Lobo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Mit Marma-Yoga® durch den Fibromyalgieschmerz – eine Fallanalyse Gisela Staffort-Hartlieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 Betrachtungen zum Spannungsfeld zwischen Yoga, Physiotherapie und Prävention Raimond Hintze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304

Vorwort Eberhard Göpel

Mit dem Titel »Hatha-Yoga pro Gesundheit. Selbstwirksamkeit stärken, Wohlbefinden fördern« hat der Berufsverband Unabhängiger Gesundheitswissenschaftlicher Yoga-Lehrender dem vorliegenden Band eine auffordernde, programmatische Orientierung gegeben. Ein Ausgangspunkt war für viele das Erfahrungs- und Gedankengut von Prof. Rocque Lobo, bei dem einige der Autor*innen dieses Buches Einführungen in dessen spezifische Verknüpfung der Tradition der ostasiatischen Meditationstechniken des Yoga mit den sich wandelnden wissenschaftlichen Gesundheitsvorstellungen »postfordistischer« kapitalistischer Industriegesellschaften erhalten haben. Sie konnten dabei den kritisch-kreativen Forschungsdrang Lobos erfahren, den dieser in seiner Zeit als Professor für Gesundheitspädagogik an der Fachhochschule München bei der Ausarbeitung neuer Praxis- und Ausbildungskonzepte für eine lebenspraktische Gesundheitspädagogik auf der Grundlage einer ebenfalls neu konzipierten Yoga-Lehre entwickelte. Die große thematische Breite der vorliegenden Beiträge dokumentiert an vielen Stellen, wie produktiv und anregend Lobos intellektuelle, gesellschaftliche und forschungspraktische Impulse im Kontext westlicher Gesundheitspraktiken zur Wirkung gelangt sind. Zertifizierte Fortbildungen für ein »Integriertes Psychosomatisches Gesundheitstraining – IPSG« oder für »Körperorientierte Soziale Intervention – KSI« dokumentieren die Spannbreite von Lobos Interessen. Seine Fähigkeit, erkenntnisfördernde Körperspannungen in der Tradition des Yoga zur aufmerksamen Wahrnehmung zu bringen und diese übend als Test der erlebenden Verunsicherung einer eingeschränkten biopsychosozialen Selbstwirksamkeit bewusst zu machen, war mit einer wachen Beobachtung und prospektiven Beschreibung der aktuellen und absehbaren kulturellen, gesellschaftlichen und sozialen Umbrüche im Übergang zu »postfordistischen« kapitalistischen Industriegesellschaften verbunden. Nach Auskunft eines Kollegen an der Münchener Hochschule hielt Lobo seine Antrittsvorlesung dort im Kopfstand auf der Bühne und provozierte

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Vorwort

damit die Zuhörer *innen mit ihrer habituell eingeschränkten, sedentären Leiberfahrung, die heute als ein zentraler gesundheitlicher Risikofaktor im Kontext chronischer »Zivilisationskrankheiten« gilt. Die drei von Dr. Rocque Lobo herausgegebenen »Jahrbücher für Yoga« aus den Jahren 1980 bis 1983, die ich in meinem Bücherregal noch fand, sind alle der Vermittlung »ostasiatischer Meditationstechniken und ihrer Anwendung in der westlichen Welt« gewidmet. Das Ziel und der zeitgeschichtliche Zusammenhang wurden 1983 auf dem Umschlag des dritten Jahrbuches wie folgt beschrieben: »In den letzten Jahren hat die psychosomatische Medizin die Engpässe einer rein psychoanalytisch orientierten Sicht der Krankheit überwunden. Ihre Neuauflage der Lösung des Leib-Seele-Problems mit einer Theorie der Krankheit, die sich auf das Relativitätsmodell der Physik stützt, öffnet die Tür für alle, die den Menschen zuerst und dann seine Krankheit sehen. Dieser Öffnung ist es zu verdanken, dass Yoga und ostasiatische Meditationstechniken einen größeren Kreis von Wissenschaftlern heute anzusprechen vermögen, denn mit Yoga wird das Leib-Seele-­Problem in einer besonderen Sprache behandelt: in der Sprache des Leidens, deren Zeichen vom Leidenden selber auf den verschiedenen Ebenen wahrgenommen und interpretiert werden. Hier sind es die Muster des körperlichen Schmerzes, das Beziehungsgeflecht sozialer Konflikte, das Raster religiöser Bilder, ihre Mystik und Symbolik voller Sehnsucht nach Befreiung vom Leid, die nach Integration suchen. In der Yoga-Tradition wird seit den Tagen ihrer Entstehung ein System für eine solche Integration angeboten; Gegensatzpaare von nur subjektiv erlebbaren Qualitäten der Empfindung wie schwer/ leicht, warm/kalt u. a. bilden die Hauptpfeiler […] Menschliches Leid wird dabei von verschiedenen Aspekten aus beleuchtet, vom Schmerz als Ergebnis der Unterdrückung natürlicher Bedürfnisse über das System der körperlichen Schmerzerfahrung in der Akupunktur bis hin zur schmerzhaften geistigen Umnachtung in der Psychose.«

Die Praxisberichte dieses Buches dokumentieren vierzig Jahre später, in welch vielfältiger Form der Selbsterfahrung, der Beratung oder der therapeutischen Unterstützung die spezifische Integration der gegensätzlich erlebten Leiberfahrungen entwicklungsfördernd genutzt werden konnte. Bemerkenswert ist aus meiner Sicht das Interesse der Autor*innen, sich in einem Berufsverband Unabhängiger Gesundheitswissenschaftlicher Yoga-Lehrender für die Weitergabe einer wissenschaftlich informierten Berufspraxis zu engagieren und ihre Erfahrungen für weiterführende öffentliche Erörterungen im Sinne von Rocque Lobo zu publizieren. Der soziokulturelle Kontext der Krankheits- und Gesundheitssemantik und der Praktiken von Bildungs- und Gesundheitsberufen wird sich in den kom-

Vorwort

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menden vierzig Jahren voraussichtlich erheblich verändern. Vor vierzig Jahren gewann die Deutung psychischer Phänomene aus neurowissenschaftlicher Perspektive einen dominanten gesellschaftlichen Einfluss. Vor dreißig Jahren, mit der neoliberalen Neuordnung der Welt, verschob sich das gesellschaftliche Interesse von den vielen Krankheiten zu individueller Gesundheit und Wellness. Vor zwanzig Jahren rückte eine systemische Perspektive auf die sozialen und ökologischen Möglichkeitsbedingungen gesunder Entwicklung ins kollektive Bewusstsein und in die Hoffnungen auf soziale Praktiken zur Förderung von Salutogenese-Prozessen. Seit zehn Jahren ist der Zugang zur gesunden Zukunft und zu den individuell angepassten Yoga-Übungen im Taschenformat des Smartphones mit der richtigen PIN und einer hackersicheren Cloud-­Verbindung weltweit verfügbar. Da sich das Tempo der politischen und wirtschaftlichen Veränderungen der Krankheits- und Gesundheitskommunikation im angekündigten Digitalzeitalter erheblich beschleunigt, erscheint es mir angeraten, auch über Seitenausgänge aus dem jeweiligen »Mainstream« zu beraten. Die Coronapandemie bietet dazu mit der Erfahrung massenmedial vermittelten globalen Irr-Sinns eine aktuelle Warnung. Hier sehe ich die anhaltende Aktualität von Lobos »Jahrbüchern für Yoga«, die in einer vergleichbar irrsinnigen gesellschaftlichen Zeit der ungebremsten atomaren Vernichtungsdrohungen zwischen West und Ost zu Beginn der 1980er Jahre veröffentlicht wurden. Wenn nun erwartbar für die nächsten zehn Jahre eine wirtschaftliche »Happiness- und Wellbeing-Phase« beim angekündigten »Great Reset« eingeläutet wird, kann die Suche nach den Schmerzpunkten des Marma-Yoga® helfen, den Bezug zum leiblichen Erleben zurückzugewinnen. In diesem Zusammenhang der kollektiven Verunsicherung hinsichtlich der jeweiligen persönlichen Lebenschancen bietet die mir weiterhin befremdliche Yoga-Praxis zumindest einen machbaren Halt. Als Anregung für einen ergänzenden Halt auf der gesellschaftlich-sozialen Ebene möchte ich auf die Möglichkeit hinweisen, nicht bei der Bildung eines Berufsverbandes stehen zu bleiben, sondern sich an einer Initiative für einen neuen Generationenvertrag zu beteiligen, der allen Menschen ein Lebensrecht in solidarischer Verbundenheit im Alltag in den Altersstufen von 0 bis 100 Jahren sichern könnte. Dies erscheint mir als eine ermutigende Perspektive zur Integration divergierender Lebensimpulse zwischen frühzeitigen Suizidgedanken und transhumanem Ewigkeitsstreben und dies entspräche sicherlich auch Dr. Rocque Lobos Intentionen.

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Vorwort

Literatur Fuchs, T. (2020). Verteidigung des Menschen. Grundfragen einer verkörperten Anthropologie. Berlin: Suhrkamp. Göpel, E. (2004). Gesundheit bewegt. Wie aus einem Krankheitswesen ein Gesundheitswesen entstehen kann. Frankfurt a. M.: Mabuse. Göpel, E. (2012). Systemische Gesundheitsförderung. Frankfurt a. M.: Mabuse. Korczak, D. (2020). Digitale Heilsversprechen. Zur Ambivalenz von Gesundheit, Algorithmen und Big Data. Frankfurt a. M.: Mabuse. Opaschowsky, H., Zellmann, P. (2018). Du hast fünf Leben! Ein Wegweiser durch die FünfGenerationen-Gesellschaft der Zukunft. Wien: Manz.

Eberhard Göpel (* 1947) Professor für Gesundheitsförderung i. R., arbeitete an Hochschulen in Bielefeld, Magdeburg und Berlin für die Entwicklung des Studienbereiches Öffentliche Gesundheitsförderung. Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit im Bereich der angewandten Gesundheitswissenschaften war er in verschiedenen zivilgesellschaftlichen Organisationen als Vorstandsmitglied tätig, u. a. der Europäischen Gesellschaft für gesundheitsfördernde Schulen, der Internationalen Union für Gesundheitsförderung und -erziehung, Paris, der Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung, Bonn, des Kooperationsverbundes Hochschulen für Gesundheit e. V., Berlin und der Deutschen Allianz gegen nichtübertragbare Krankheiten (www.dank-allianz.de, Zugriff am 24.05.2021). Er war 1981 Gründungsmitglied des »Gesundheitsladens Bielefeld« und ist weiterhin dort aktiv beteiligt. Aktuell ist er als Vorstandsmitglied der »GesundheitsAkademie. Forum für sozialökologische Gesundheitspolitik und Lebenskultur« (https://gesundheits.de, Zugriff am 24.05.2021) und im wissenschaftlichen Beirat des Dachverbandes Salutogenese tätig. Kontakt: Deppendorfer Str. 160, D-33739 Bielefeld, Tel.: 05203–883070, E-Mail: [email protected].

Einleitung Michael Röslen

Die Beiträge zu diesem Buch1 sind größtenteils in der Atmosphäre der Covid-19Pandemie entstanden. Viel Verunsicherung lag und liegt in der Luft. Das zen­ tra­le gesellschaftliche und politische Thema war und ist Gesundheit im Ringen mit ökonomischen Abwägungen. Vor ca. hundert Jahren erschien im Jahr 1925 auf dem deutschen Markt fünf Jahre nach dem Abklingen der Spanischen Grippe Gandhis Schrift »Wegweiser zur Gesundheit« (Gandhi, 1988). Von den damals weltweit ca. 50 Millionen Grippetoten2 entfielen ca. ein Drittel allein auf Indien. Gandhi verfolgt in seiner Schrift durchweg eine ganzheitliche Sichtweise, er thematisiert die Rolle des Verhaltens des Einzelnen ebenso wie den übergeordneten Lebensstil und die Lebensbedingungen. Vieles von dem, was er damals beschrieb, ist heute noch bedenkenswert und obwohl er sich selbst so nicht sah, war Gandhi doch durchströmt vom Geist eines wahrhaften Yogi. »Wegweiser zur Gesundheit« kam in einem Zeitfenster des kraftvollen kulturellen Umbruchs zur Welt. Der Erste Weltkrieg war vorüber, die Keimlinge für den Zweiten Weltkrieg wurden gerade gesetzt. In Indien selbst regten sich in den Menschen erste Stimmen gegen die Unterdrückung des Landes durch das britische Empire und Rufe nach Freiheit wurden laut. Heute, einhundert Jahre später, stehen wir mit ein wenig Glück gerade an der Schwelle zum Überwinden der Covid-19-Pandemie, eines Virus aus der Gattung der Zoonosen, sehr wahrscheinlich vom Tier auf den Menschen übergesprungen, weil die Menschheit den Wildtieren die letzten Refugien nimmt und gleichzeitig Freude daran hat, auch diese Tiere auf ihren Speiseplan zu setzen und sich einzuverleiben. Nicht wenige Wissenschaftler prognostizieren, dass wir Menschen lernen müssen, mit dem neuen Virus Covid-19 zu leben, dass weitere Pandemien viral in den Startlöchern sitzen und des Weiteren der 1 Im Sinne einer gendersensiblen Sprache werden in den Texten in zufälliger Weise die weibliche, die männliche oder auch neutrale Bezeichnungen benutzt. Die jeweils anderen sind dann mitgemeint. 2 Darunter auch der bedeutende deutsche Soziologe Max Weber ebenso wie der Großvater des 45. Präsidenten der USA (Donald Trump).

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M. Röslen · Einleitung

Klimawandel eine gigantische Herausforderung für das Leben und Überleben für uns Menschen auf dem Planeten Erde werden wird. Auf der Agenda der globalen Politik stehen Gesundheit und Klimawandel ganz oben. Sie werden fast in einem Atemzug genannt und thematisiert. Gesundheit ist letztlich nie nur individuell, gleichwohl am einzelnen Leib erlebt. Gesundheit ist ganz wesentlich eingebettet in ein soziales und ökologisches Ganzes. Gleichzeitig ist Gesundheit jedoch auch immer eine permanente Integrationsleistung des Individuums von Augenblick zu Augenblick. Was können hier Angebote zur Gesundheitsförderung leisten? In diesem Werk soll sich beispielhaft dem Hatha-Yoga zugewendet werden, welches im »Leitfaden Prävention« des Spitzenverbandes der Krankenkassen in der BRD als anerkannte Entspannungsmethode im Kontext von Stressmanagement gilt. Sich in krisenhaften Momenten und Phasen immer wieder in das potentiell kreative Nichts tiefer Entspannung sinken zu lassen, ist eine echte Ressource. Schon Abraham Lincoln (16. US-Präsident) soll gesagt haben: »Nimm dir täglich dreißig Minuten Zeit für deine Sorgen – und in dieser Zeit mache ein Nickerchen.« Rocque Lobo3 prägte für das System des Hatha-Yoga den Begriff der Verunsicherungssynthese. Lobo, gebürtiger Inder, war sechs Jahre alt, als Indien die Unabhängigkeit erlangte, und sieben Jahre alt, als Gandhi erschossen wurde. Er wurde als junger Mann Schüler von B. K. S. Iyengar, einem der bekanntesten und renommiertesten Lehrer des Hatha-Yoga in der Neuzeit. Lobo studierte zudem in Indien zunächst Ingenieurwissenschaft, Philosophie, Indologie und Theologie. In Deutschland lebte er seit Anfang der 1960er Jahre. Die verschiedenen kulturellen und wissenschaftlichen Strömungen führten Lobo zu einem HathaYoga im Sinne einer Ausleuchtung der Fähigkeiten zur Verunsicherungssynthese. Hier im Westen faszinierten ihn die Sichtweisen von Thure von Uexküll, wie dieser sie in seinen Lehrbüchern der Psychosomatischen Medizin vertrat. Lobo erkannte darin grundsätzliche Berührungspunkte zur Sāmkhya-Philosophie Indiens, die sowohl die indische Medizin des Āyurveda als auch das System des Yoga grundsätzlich prägt. Für mich persönlich – erst einfach nur Schüler bei Rocque Lobo, später Lehrbeauftragter in Sachen Yoga, schließlich Freund und Kollege – kommt in einer Textpassage aus Lobos Vorwort zu Gandhis »Wegweiser zur Gesundheit« sein zentraler innerer Spannungsdialog, der auch von soziohistorischen Bewegungen beeinflusst war, vielleicht mit am deutlichsten zum Vorschein:

3 Professor für Sozialarbeit/Sozialpädagogik mit Schwerpunkt Körperorientierte Soziale Intervention an der Fachhochschule München/FB Sozialwesen.

M. Röslen · Einleitung

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»Es ist durchaus nicht abwegig, […] den Kontrast zwischen der Wirkung der Lehren Gandhis und derjenigen der Theosophen und der New-Age-Bewegung zu skizzieren, um die Aktualität des Gandhischen Ansatzes für die moderne Gesundheitsbildung zu unterstreichen. Soziologen konstatieren heute, dass die New-Age-Bewegung zu einer weltweiten Subkultur angewachsen ist. Sie wäre von ihrer Größe her allein befähigt, eine grundlegende Veränderung in der modernen Gesellschaft zu bewerkstelligen. Dennoch gäbe es derzeit keine Evidenz dafür, daß sie politischen und sozialen Wandel beabsichtigt […]. Ihre Methoden und Ziele sind in den Bereichen der kulturellen Freizeitvergnügung beheimatet. Hier kann man sich seine Reinkarnation, seinen Aus- und Einstieg in den vergänglichen Körper, seine Trance, seine Mutation und seine Erleuchtung gönnen. Religiöse und kulturelle Toleranz wird dorthin verbannt, wo Höflichkeit und Etikette ohnehin zu Hause sind, wo Kunst und Musik ihren Deckmantel über das Bizarre und Fremde werfen, wo Eros und Liebe niemanden mehr in seinen Grundfesten so sehr erschüttern, daß er versuchen müßte, die Gewaltlosigkeit der Bergpredigt mit der Gewalt der Bhagavad Gita zusammenzubringen« (Lobo, in Gandhi, 1988, S. 1 f.).

Allein in Deutschland soll es mittlerweile ca. fünf Millionen Yoga-Übende geben. Ja – sie hätten von ihrer Quantität her allein tatsächlich die Möglichkeit, eine qualitative Veränderung hin zu (noch) mehr sozialen und ökologischen Grundlagen für alle zu beschleunigen. Lobo, seines Zeichens Professor für Gesundheitspädagogik von 1986–2006 an der Fachhochschule München, ist Begründer des sogenannten Marma-Yoga®, welches die Aspekte von Schmerz und Gewalterfahrung in die Ausleuchtung des Hatha-Yoga stellt, was viele erst einmal befremdet, wird Yoga hierzulande doch eher mit Frieden, Freude und Harmonie konnotiert. »Die Hatha-Yoga-Bewegung der damaligen Zeit [des Mittelalters, Anm. des Autors] in Indien war alles andere als eine wohlstandsgestützte Freizeitbeschäftigung. Sie war die Anklage an die Gewalt und den Krieg – daher der Name Hatha (Gewalt) […] Die Demonstration extremer Zustände der Selbstauflösung, in welchen Yoga-Initianten sich an Haken aufhängten, durch Feuer gingen, mitten im Schnee meditierten, Tage lang in der heißen Sonnenglut ohne Wasser zu trinken ausharrten, fasteten und beteten, geschah nicht um der Pflege der Gesundheit willen, sondern im Sinne der Bespiegelung der Brutalitäten der Folter der Herrschenden in der wilden körperlichen Forderung der Menschenrechte, der Selbstachtung und der Achtung vor der Instanz des menschlichen Lebens« (Lobo, 2004, S. 95).

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M. Röslen · Einleitung

In einer Analyse des Ursprungs des Hatha-Yoga berücksichtigt Birch zwar nicht den soziohistorischen Kontext, kommt jedoch zu folgender bemerkenswerten Zwischenbilanz: »In the nineteenth century some influential Indologists defined Hathayoga according to their understanding of the root hath as referring to force or violence […]. The force or violence of Hathayoga was seen as the ›self-violence‹ of extreme asceticism, and so, in the St. Petersburg Wörterbuch, Hathayoga was defined as ›a form of Yoga which includes great self-torturing.‹ […] This view of Hathayoga as self-violence continued into the twentieth century and can be seen in various Indological works« (Birch, 2011, S. 529 f.).

Aus diesem Spannungsdialog über die »reflexhafte« Neigung zu basaler Gewalt einerseits und dem Ringen um Gewaltlosigkeit (Ahimsā) andererseits entsprang schließlich das Marma-Yoga® als eine moderne Form des Hatha-Yoga, das sowohl westliche Disziplinen wie die Psychosomatik und Neuro- und Chronobiologie rezipierte wie auch die chirurgische und internistische Richtung der indischen Medizin. Letztlich scheint das Grundanliegen von Hatha-Yoga zu sein, gerade auch unter schwierig(st)en Lebensbedingungen eine selbstgesteuerte Rückanbindung an das Prinzip »Leben« zu demonstrieren, sozusagen als eine Art Machtbezeugung unbeugsamer Selbstliebe dem Prinzip Leben am eigenen Leib gegenüber. In den Bezeichnungen der beiden zentralen von Lobo geschaffenen Zertifizierungen »Integriertes Psychosomatisches Gesundheitstraining – IPSG«4 und »Körperorientierte Soziale Intervention – KSI«5 kommen zum einen diese Leitideen in moderner Gestalt und zum anderen die verschiedenen einfließenden fachlichen Strömungen gut zum Ausdruck. Es sollen im Sinne gesundheitsorientierter Sozialarbeit durch das Üben von Hatha-Yoga Kompetenzen vermittelt werden, die am jeweiligen individuellen Leib stattfindenden biopsychosozialen wie ökologischen Spannungssöge wahrzunehmen, auszugleichen und gegenzusteuern. Die stärker werdende Rezeption des Yoga im Westen in den 1960er und 1970er Jahren markierte auch das Zeitfenster, in dem solche Leitkonzepte wie Sa-

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Abschluss auf Basis des Hatha-Yoga am Institut für Soziale Arbeit der Katholischen Stiftungsfachhochschule München in den 1980er und 1990er Jahren. 5 Postgraduiertenstudium am Studienzentrum der Fachhochschule München, zeitlich im Anschluss an das IPSG.

M. Röslen · Einleitung

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lutogenese6 und Resilienz7 in die sich entwickelnden Gesundheitswissenschaften hineingeboren wurden – interessanterweise eben nicht aus der Beforschung von Menschen mit behüteter und gesicherter Biografie hervorgegangen. Die Salutogenese entstand aus einem auffälligen »Stolperstein« in Gestalt robust überlebender Frauen des Nazi-Holocaust. Die Resilienz wurzelte in der Erforschung von Biografien von Kindern aus stark benachteiligten Verhältnissen, die es dennoch »zu etwas brachten«. Die entscheidende Schnittmenge von Hatha-Yoga, Salutogenese und Resilienz hin zur Beförderung einer verbesserten biopsychosozialen Selbstwirksamkeit ist der Aspekt von Verunsicherung und Verunsicherungssynthese. Lobo stellte die Yoga-Übungen konsequent in die Perspektive eines Tests von Verunsicherung durch die Yoga-Übungen: »Die schlichte Devise beim Üben müsste heißen: ›Teste‹ Deine eigene Selbstregulationsfähigkeit in einem bewegten System. Teste, ob Du noch wahrnimmst, wie Du weg von Deiner eigenen Mitte bewegt wirst und daher alles verzerrt und verworren siehst. Teste, ob Du aus der erlebten Beschleunigung die Rückberechnung zu Deinem inneren Gleichgewicht erstellen kannst oder ob Du diese Überlast Deiner physiologischen Systeme solange auf dich nimmst, bis sie zusammenbrechen in den uns bekannten Zivilisationskrankheiten oder gar dem Sekundentod« (Lobo, 1998, S. 10).

In dem stark biografisch ausgerichteten Werk »Rette dich, das Leben ruft« schildert Boris Cyrulnik, ein bedeutender Resilienzforscher, eine Schlüsselszene seines Lebens, nämlich die, wie ihm eine Körperhaltung das Überleben ermöglichte, die einer Yoga-Übung in obigem Sinne recht nahekommt. Er klemmte sich als Kind mit allen Vieren unter die Decke einer Toilette und entkam so der fahndenden Gestapo und der Deportation (Cyrulnik, 2014, S. 24 ff.). Im Deutschen heißt es »Not macht erfinderisch«, aber hierfür muss zumindest ein Nebenfluss an Lösungskreativität auch in einer Notsituation strömen. Das ist der tiefere Sinn der teilweise bizarren (Verunsicherungs-)Übungen des Hatha-Yoga. Die Übungen des Yoga sind dazu geeignet, Empfindungen von Verunsicherung auf der konkret biologischen Ebene, auf der Ebene der Psyche oder auch auf der Ebene des Geistes auszulösen. Als Yoga wird dann die gelingende Integration bezeichnet.

6 Salus = Wohlergehen; Genese = das Hervorbringen von etwas. 7 Resilienz stammt vom lateinischen Verb »resilire« ab, was so viel bedeutet wie »zurückspringen«, »zurückprallen«.

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M. Röslen · Einleitung

Einer der Kernsätze von Antonovsky, dem Begründer der Salutogenese, lautet: »Meine fundamentale Annahme ist, daß der Fluß der Strom des Lebens ist. Niemand geht sicher am Ufer entlang. Darüber hinaus ist für mich klar, daß ein Großteil des Flußes sowohl im wörtlichen wie auch im übertragenen Sinn verschmutzt ist. Es gibt Gabelungen im Fluß, die zu leichten Strömungen oder in gefährliche Stromschnellen und Strudel führen« (Antonovsky, 1997, S. 92).

Gesundheitsförderung kommt nicht umhin, sich auch den problematischen Seiten des Lebens zu stellen. Und dieses Problemerleben ebenso wie das Lösungserleben spielen sich aus Liebe zum Leben am Körper der Einzelnen in einem umfassenden Sinne ab – nirgendwo sonst. Mit »Hatha-Yoga pro Gesundheit. Selbstwirksamkeit stärken, Wohlbefinden fördern« nehmen wir eine andere Perspektive bezüglich Hatha-Yoga ein als der Mainstream des Yoga des Westens. Wir laden ein zu einer Integration der sogenannten klista und aklita vrttis aus dem System des Yoga, der schmerzhaften wie auch nicht schmerzhaften Schwankungen, die jeder am eigenen Leib erfährt. Der Körper darf sprechen und er bekommt endlich tatsächlich Gehör – und damit auch die Ökologie, die Natur des eigenen Leibes. Wir nehmen den Auftrag zu Hatha-Yoga als Methode von Prävention und Gesundheitsförderung ernst im Sinne einer ganzheitlichen Kompetenzschulung in Eigenverantwortung – soweit sinnvoll und möglich. In diesem Sinne kommen in diesem Werk erfahrene Expertinnen, Praktiker und Theoretiker sowohl dieser Richtung des Hatha-Yoga als auch der Salutogenese zu Wort8. Rocque Lobo selbst erscheint mit seinem letzten Vortrag, den er in der Öffentlichkeit auf dem Salutogenese-Symposium 2016 in Göttingen gehalten hat. Möge die Übung gelingen. Michael Röslen, Vorstand im Berufsverband Unabhängiger Gesundheitswissenschaftlicher Yoga-Lehrender BUGY®

8 Da jeder Text in sich konsistent komponiert wurde, kommt es teilweise zu inhaltlichen Wiederholungen, die jedoch dann zum spezifischen Kontext der jeweiligen Ausführungen hinleiten. Wir haben dies weitgehend so belassen, damit der Leser die Beiträge auch unabhängig voneinander rezipieren kann.

M. Röslen · Einleitung

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Literatur Antonovsky, A. (1997). Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: dgvt. Birch, J. (2011). The meaning of Hatha in early Hathayoga. Journal of the American Oriental Society 131.4, 527–554. Cyrulnik, B. (2014). Rette dich, das Leben ruft! (3. Aufl.). Berlin: Ullstein. Gandhi, M. K. (1988). Wegweiser zur Gesundheit. Die Kraft des Ayurveda. Vorwort zur Neuausgabe von R. Lobo. München: Eugen Diederichs. Lobo, R. (1998). Yoga-Elementarkurs. Bd. 2: Atmen. Palmela: Editoria Pantainos. Lobo, R. (2004). Yoga-Elementarkurs. Bd. 3: Kreislauf (2. Aufl.). Palmela: Editoria Pantainos.

Hatha-Yoga – Grundlagen

Hatha-Yoga pro Gesundheit Michael Röslen

Hatha-Yoga ist eine im »Leitfaden Prävention« des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (GKV) nach § 20 Abs. 2 SGB V in Deutschland derzeit explizit benannte und unter bestimmten qualifizierenden Bedingungen anerkannte Methode im Kontext der Prävention und Gesundheitsförderung. Hatha-Yoga ist dem Bereich des sogenannten »palliativ-regenerativen Stressmanagements«, Entspannung, zugeordnet. Im »Leitfaden Prävention« heißt es hierzu: »Entspannungsverfahren zielen darauf ab, physischen und psychischen Spannungszuständen vorzubeugen bzw. diese zu reduzieren. Sie setzen damit im Wesentlichen auf der Ebene des palliativ-regenerativen Stressmanagements an. Die zu erlernende Entspannungsreaktion stellt den Gegenpol zu den unter Stress auftretenden körperlichen Reaktionen dar. Im Verlauf eines Entspannungstrainings wird durch regelmäßiges Üben die selbstständige Auslösung der Entspannungsreaktion gebahnt und für den alltäglichen Einsatz stabilisiert« (GKV-Spitzenverband, 2018, S. 80).

Hierfür benennt der »Leitfaden Prävention« des GKV fünf verschiedene Verfahren: Ȥ Autogenes Training nach J. H. Schultz Ȥ Progressive Muskelrelaxation nach E. Jacobson Ȥ Tai Chi Ȥ Qigong Ȥ Hatha-Yoga Wie die anderen Methoden auch wird Hatha-Yoga im »Leitfaden Prävention«1 weder definiert noch erklärt. Er gilt als Entspannungsverfahren im Rahmen des sogenannten palliativ-regenerativen Stressmanagements, was nichts anderes bedeutet, als dass an den externen Stresskonditionen nicht angesetzt werden soll, sondern bei der Fähigkeit zum Spannungsausgleich auf individueller 1 Im Deutschen sind der (Maskulinum) und das (Neutrum) Hatha-Yoga gebräuchlich; beide Varianten werden in den Beiträgen verwendet.

M. Röslen · Hatha-Yoga pro Gesundheit

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Ebene. Ein Kernmerkmal resilienter Kompetenz ist es z. B., nicht zu lange mit einem Stressereignis »verklebt« zu bleiben, sondern sich relativ zügig davon wieder lösen zu können. Hierauf zielen diese Maßnahmen. Unter welcher Perspektive könnte es nun sinnvoll sein, Hatha-Yoga als Entspannungsverfahren im Kontext von Gesundheitsförderung zu bezeichnen?

Hatha-Yoga Hier eine Auswahl von ausgewiesenen Kennern des Hatha-Yoga und ihre Auffassung zum Gegenstand der Betrachtung: Iyengar definiert Hatha-Yoga als einen »Yoga-Weg, auf dem man durch rigorose Disziplin zur Selbstverwirklichung kommt« (Iyengar, 1995, S. 367). »Hathayoga oder der Yoga der Härte […] handelt davon, den Körper durch Reinigungsübungen, Yogaāsana und Prāṇāyāma (Atemübungen) stärker zu machen. Sie alle sind Teil des achtfachen Yoga des Patañjali« (Verma, 1998, S. 29). »Der Yoga der Körper-Disziplin wird allgemein als Hatha-Yoga bezeichnet; dabei wird nicht berücksichtigt, dass zwei Varianten zu unterscheiden sind […], und zwar HathaYoga und Ha-Tha-Yoga […] ›Hatha‹ heißt ›Gewalt‹, ›Anstrengung‹ […] Ein bekannter Vertreter der harten Methode ist […] der Yogin B. K. S. Iyengar aus Bombay sowie der in Deutschland lebende Inder Rocque Lobo«2 (Wieland, 1972, S. 370).

Lobo seinerseits stellt den Hatha-Yoga in einen soziohistorischen Kontext: »Die Hatha-Yoga-Bewegung der damaligen Zeit [des Mittelalters, Anm. des Autors] in Indien war alles andere als eine wohlstandsgestützte Freizeitbeschäftigung. Sie war die Anklage an die Gewalt und den Krieg – daher der Name Hatha (Gewalt)«3 (Lobo, 2004, S. 91 ff.).

Er befasste sich intensiv mit der Geschichte des Hatha-Yoga, gerade auch unter moslemischer Herrschaft in Indien (dem sogenannten Mogul-Reich vom 16. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts), ebenso wie mit der Epoche unter britischer 2 Beide sind mittlerweile verstorben – B. K. S. Iyengar im August 2014, R. Lobo im September 2019. 3 In seinem Buch »Yoga-Elementarkurs. Bd. 3: Kreislauf« nimmt Lobo eingehend und begründet Bezug zur Entwicklung des Hatha-Yoga unter den Umständen kriegerischer Auseinandersetzung und sozialer Unterdrückung.

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Herrschaft (19. Jahrhundert bis 1947). Er kommt in seinen Recherchen zu dem Ergebnis, dass sich in diesem Zeitfenster Hatha-Yoga aus einer Art Widerstand gegen die politische Klasse der Herrschenden entwickelte, also ähnlich dem Capoeira Brasiliens. Das (einzige) Mitglied in Sachen Hatha-Yoga der Expertenkommission des GKV im Rahmen der Weiterentwicklung des »Leitfadens Prävention«, Ausgabe 2018, Anna Trökes, bezieht sich in »Das grosse Yoga-Buch« ebenfalls auf Hatha-Yoga (Trökes, 2015, S. 14 ff.), allerdings nur um dann aus Hatha-Yoga ein Ha-Tha-Yoga abzuleiten, das in einem tantrischen Sinne als Sonne-MondAusgleich verstanden werden soll, um daraus dann wiederum ein Hatha-Yoga zu rekonstruieren: »Wörtlich übersetzt bedeutet Hatha ›gewaltsame Anstrengung, intensives Bemühen‹. In der Regel steht allerdings die mystische Übersetzung im Vordergrund: Die Silbe Ha wird mit Sonne übersetzt, Tha mit Mond«, denn, so führt Trökes weiter aus, »der Zustand der Freude wird im Hatha-Yoga als eine Möglichkeit gesehen, Gott wirklich erfahren zu können – also nicht nur an ihn zu glauben –, denn Gott ist für die Tantriker gleichbedeutend mit Freude und Glückseligkeit« (Trökes, 2015, S. 29 f.).4

In der Wisdom Library findet man das Wort »Hatha« aus sechs verschiedenen Sprachen des indischen Kulturraumes übersetzt. Sowohl in Pali als auch in Sanskrit wird »Hatha« die Wortbedeutung »violence« (Gewalt) gegeben (Wisdom Library, Zugriff am 29.12.2020). Auf der Internetseite von »learnsanskrit.cc« findet man für »Hatha« fol�gende Wortbedeutungen: slaugther (schlachten), killing (tötend), stroke (Schlag), violence (Gewalt), man stricken with dispair (ein von Verzweiflung geplagter Mensch), obstinacy (Hartnäckigkeit), force (Kraft, Gewalt, Macht), absolute or inevitable necessity (absolute oder unausweichliche Notwendigkeit), oppression (Unterdrückung), act of pillage or plundering (plündern, Plünderung), blow (Schlag), pertinacity (Hartnäckigkeit), going in the rear of an enemy (hinter die feindlichen Reihen gehen).5 In einer sehr gründlichen Recherche kommt Jason Birch von der Oxford University zu folgendem Schluss:

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Es muss hier die Frage erlaubt sein, ob in diesem Sinne dann den Yoga-Lehrenden sozusagen die Rolle eines »göttlichen Erfahrungscoaches« zukommt. 5 https://www.learnsanskrit.cc/index.php?all=Show+all+search+results&tran_input=hatha&script=hk&mode=3; Zugrif am 22.06.2021).

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»Rather than the metaphysical explanation of uniting the sun (ha) and moon (tha), it is more likely that the name Hathayoga was inspired by the meaning ›force‹« (Birch, 2011, S. 548).

Die Kerninhalte von »force« wiederum sind »Macht« und »Gewalt« (www.dict. cc; englisch-deutsch; Zugriff am 24.05.2021). Vieles weist demnach darauf hin, dass mit Hatha tatsächlich die Erfahrung bzw. Auseinandersetzung mit Gewalt, Macht, Härte gemeint ist. Diese, erfahren von außen, werden von einem Lebewesen normalerweise als Schmerz empfunden. Unangenehme Empfindungen aus dem inneren Raum werden ebenfalls als Schmerz erfahren, manchmal auch als Gewalt von innen wie z. B. Albträume, heftige Zahnschmerzen, Ischialgien, Trigeminusneuralgien u. a. m. In den Yoga-Lehrsätzen des Patañjali wird zwischen klista und aklista vrttis unterschieden, zwischen schmerzhaften und nicht schmerzhaften Schwankungen. Von einer Sonne-Mond-Balance ist dort nicht die Rede. Allerdings kann eine zu starke Erhitzung (Sonne) oder eine zu starke Abkühlung (Mond) schmerzhafte Schwankungen, z. B. Temperaturmissempfinden, hervorrufen oder bei einer hitzigen Debatte mangelt es an einer inneren kühlenden »Bremse« oder in einer frostigen sozialen Umgebung fehlt die Fähigkeit zur herzlichen »Erwärmung«. Die Wahrnehmung eines jeglichen Interpreten des Hatha-Yoga ist naturgemäß relativ zu seinem Wahrnehmungs- und Deutungsfilter. Aus diesem wesentlich auch kulturell geprägten Filter leitet sich dann ab, welche Fragen in einem hermeneutischen Sinn an Text und Inhalt gestellt werden. So ist es absolut kein Wunder, wenn ein Mensch mit kultur-christlichem Hintergrund und mechanistischer Weltsicht zu anderen Interpretationen kommt als z. B. ein Native Speaker des indologischen Kulturraumes mit einem durch die Sāmkhya-Philosophie geprägten Denken. Für unseren Zusammenhang bleibt festzuhalten: Der Begriff »Hatha« beinhaltet Aspekte wie »Gewalt«, »Härte«, »Macht«.

Verunsicherung, Schmerz, Nicht-Schmerz Das Erleben von Schmerz bzw. Nicht-Schmerz ist zentral für die Sichtweise des Yoga und insbesondere auch für Hatha-Yoga. Nicht von ungefähr stammt aus dem Kulturraum des Hatha-Yoga auch der sogenannte Fakirismus. Fakire demonstrieren ihre Fähigkeiten zur Schmerzresilienz.

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»Der Schmerzforscher Wolfgang Larbig fand in einem Schmerzexperiment mit einem Fakir heraus, dass es diesem durch eine erlernte ›aktive Aufmerksamkeitsfokussierung‹ möglich ist, die nozizeptiven Reize in solch einem Maße zu unterdrücken, dass er keinen Schmerz empfindet« (Meyer, 2008, S. 200).

Im Hatha-Yoga als Methode zur Gesundheitsförderung wird das Erleben einer Grenze durch Schmerz als Leitkategorie verwendet im Sinne eines Sensibilitätstrainings für sinnvolle Begrenzungen. Diese Grenzerfahrungen dienen der Reflexion der (nozizeptiven6) Reflexe, auf deren Hintergrund dann auch Entspannung im eigentlichen Wortsinn eintreten kann. Der Yoga-Übende ist dazu angehalten, seine von Schmerz befreite Form zu finden sowohl im Kontext des Übens als eben auch in achtsamer Begegnung mit seiner höchstpersönlichen Befindlichkeit. In den Übungen und Haltungen des Hatha-Yoga erlebt der Yoga-Übende potentiell verunsichernde Provokationen. In diesen Verunsicherungen »spricht« der Körper, der so bezeichnete Sharira, zu den Übenden – reflexhaft auf konkret biologischer, psychischer und/oder mentaler Ebene. Diese reflexhaften Antworten können die Yoga-Übenden nutzen, um in einen reflektierenden Dialog mit sich selbst durch den Sharira (den Körper) zu treten. Schmerz/Nicht-Schmerz in einem umfassenden, ganzheitlichen Sinn sind Schlüsselkategorien für Yoga und Leitlinien für eine Reflexion der eintretenden Reflexe beim spezifischen Üben von Hatha-Yoga. In den Patañjali-Sūtren7 sind fünf Quellen für Schmerz (klista vrtti) benannt, die einerseits einer Art spezifischer Psychosomatik zugeordnet werden können und andererseits eben auch Ausdruck kultur- und personenspezifischer Hermeneutik sind: 1) AVIDYĀ Nach Lobo: »Die Unfähigkeit, sich in eine kreative Entspannungslage zu versetzen (Alpha-/Theta-Wellen im EEG) und eine Situation anders sehen zu können. Üblicherweise wird dieser Begriff mit ›Unwissenheit‹ übersetzt« (Lobo, 2001, S. 250). Nach Verma: »Ignorance is considering the non-eternal, the impure, the distressful and that which is not soul to be eternal, pure, joyful and soul« (Verma, 1996, S. 79). Nach Iyengar: »Verwechslung des Vergänglichen mit dem Unvergänglichen, des Un6 Nozizeptiv = schmerzempfindlich, an der Nozizeption (Schmerzempfindung) beteiligt. 7 Die klassischen Lehrsätze des Yoga basieren auf bereits vorchristlichen Texten.

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reinen mit dem Reinen, des Schmerzes mit der Lust und dessen, was nicht das Selbst ist, mit dem Selbst« (Iyengar, 1995, S. 151).

2) ASMITĀ Lobo: »›Ich-bin-heit‹: eine der fünf Hauptblockierungen der Weisheit im Sinn des Yoga. Der Konkurrenzkampf, der schon in der Schule anfängt, verstärkt Asmitā« (Lobo, 2001, S. 249). Verma: »Egotism is to identify the power that sees with the power of seeing« (Verma, 1996, S. 80). Iyengar: »Ichhaftigkeit ist die Gleichsetzung des Sehers mit dem Instrument des Sehens« (Iyengar, 1995, S. 152).

3) RĀGA Lobo: »Die Wallung des Blutes« (Lobo, 2001, S. 253). Verma: »Desire (is that which) dwells on pleasure« (Verma, 1996, S. 81). Iyengar: »Lust führt zu Begierde und emotionalem Anhaften« (Iyengar, 1995, S. 153).

4) DVESÁ Lobo: »Zwietracht, auch Zwiespalt in den körperlichen Funktionen« (Lobo, 2001, S. 250). Verma: »Aversion (is that which) dwells on distress« (Verma, 1996, S. 81). Iyengar: »Unglücklichsein führt zu Haß« (Iyengar, 1995, S. 153).

5) ABHINIVESĀ Lobo: »Der Drang nach dem Lebensgenuß […] Die Spirale von Bedürfniserzeugung und Bedürfnisbefriedigung verstärkt Abhinivesā« (Lobo, 2001, S. 249). Verma: »The tenacity to (hold on to) life is an innate property even among the wise« (Verma, 1996, S. 81). Iyengar: »Selbsterhaltung oder das Haften am Leben (ist das subtilste aller Leiden). Man findet es sogar bei Weisen« (Iyengar, 1995, S. 153).

Sind die Yoga-Lehrsätze des Patañjali vorrangig kognitiv-mental ausgerichtet, findet man im Āyurveda, der indischen Medizin, zusätzlich auch konkret somatisch ausgerichtete Ursachen. So bezeichnet Nanal Schmerz als Schlüsselfigur für Āyurveda und führt einige Quellen für Schmerzerleben aus dem Madhavinadana an: – Überanstrengung – Verlust von Gewebe durch mangelhaften Stoffwechsel – Trauma durch Sturz oder Schlag

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Langes Aufbleiben bei Nacht Unterdrückung natürlicher Bedürfnisse des Körpers Extreme Kälte Chronische Reizung von Gewebe Chronische Einnahme reizintensiver Substanzen Kummer, Furcht, Begierde (Nanal, 1980, S. 159 ff.)

Zusätzlich zu den Ausführungen über mögliche Schmerz verursachende Dispositionen, Orientierungen und Handlungen werden in den beiden ersten Trainingsmodulen des Yoga nach Patañjali auch ethische Orientierungen gegeben.

Ahimsā und Yoga Bemerkenswerterweise ist Ahimsā (Nicht-Verletzen, keine Gewalt zufügen) das erste ethische Postulat innerhalb des ersten Trainingsmoduls Yama der acht Trainingsmodule, wozu nicht nur die Gewaltanwendung gegenüber der Außenwelt gemeint ist, sondern auch gegenüber sich selbst – es wird hier nicht zwischen dem Objekt der Handlung unterschieden. Dieses Objekt kann auch die eigene Person sein wie z. B. bei einer Selbstverletzung. In der Wisdom Library findet man Ahimsā übersetzt mit »Non-injury« (Wisdom Library; Zugriff: am 22.06.2021).8 Vor diesem Hintergrund kann sich auch der Sinngehalt dessen erhellen, was mit »Yoga« wohl gemeint ist. Die klassische Definition von Yoga gemäß des zweiten Lehrsatzes nach Patañjali lautet: »YOGAŚ CITTAVṚTTINIRODḤA« – Yogaś citta vrtti nirodha.

Diese vier Worte des Sanskrit werden je nach Paradigma und entsprechender Hermeneutik recht unterschiedlich übersetzt. Bei Iyengar finden wir: »Yoga ist das Aufhören aller Bewegungen im Bewusstsein« (Iyengar, 1995, S. 83). Bei 8 »Ahimsā is a Sanskrit term meaning to do no harm (literally: the avoidance of violence—himsa) […] Ahimsā is a rule of conduct that bars the killing or injuring of living beings. It is closely connected with the notion that all kinds of violence entail negative karmic consequences […] The earliest references to ahimsā are found in the texts of historical Vedic religion, dated to 8th century BCE. Here, ahimsā initially relates to ›non injury‹ without a moral connotation, but later to non violence to animals and then, to all beings« (https://www.wisdomlib.org/definition/ahimsa; dort: »General definition in Hinduism«; Zugriff am 22.06.2021).

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Verma heißt es: »Yoga is the hindering of the modifications of the thinking principle« (Verma, 1996, S. 43). Lobo kommt zu folgender Übersetzung: »Yoga ist das langsame Anhalten (nirodha) der Bewegung (vṛtti) des Phänomens (citta)« (Lobo,2005, S. 68) und schlägt damit eine Brücke zu den modernen Neurowissenschaften wie auch zum Konstruktivismus. Um diesen (Bewusstseins-)Zustand, genannt »Yoga«, leichter aktivieren zu können, empfehlen die Sūtren des Patañjali acht Übungspfade: Ȥ Yama: Ahimsā (frei von Gewaltanwendung), Satya (Aufrichtigkeit); Asteya (nicht stehlen); Brahmacarya (der achtsame Umgang mit Begierden und Leidenschaften); Aparigraha (nicht haben wollen) Ȥ Niyama: Sauca (sowohl physische, emotionale als auch geistige Reinigung); Santosha (Zufriedenheit); Tâpa (Selbstdisziplin); Japa (stille Wiederholung persönlich gehaltvoller »Formeln«); Îśvarapraṇidhāna (Hingabe an Isvara, den tiefsten Wunsch des Herzens) Ȥ Āsana: Sitz; Körperhaltung, in der »stilles Glück« sich zeitigt Ȥ Prāṇāyāma: die Disziplin des Steuerns von Lebensenergie durch Atmen Ȥ Pratyahara: zwar eine objektbezogene Ausrichtung der Sinne, jedoch nicht mit emotionaler »Einfärbung« Ȥ Dharana: die Disziplin, die Aufmerksamkeit auf den inneren Raum zu lenken Ȥ Dhyana: das Verweilen in Dharana Ȥ Samadhi: das dualisierende Erleben wird aufgehoben; es kommt zu einer Koninzidenz von universellem mit dem individuellen Bewusstsein/Geist; die Trennung von Ich-Raum und Außenraum ist aufgehoben wie in einem Zustand des Gesättigt-Seins der Sinne Das System »Yoga« ist entwickelt worden, um das naturgemäß angelegte Leiden jeglicher fühlender Existenz zu überwinden, und zielt hierbei letztlich auf das Erleben von Samadhi, einem spezifischen Geistes-/Bewusstseinszustand als einem bedingungslosen Ruhen in sich selbst. Fakire versuchen anhand ihrer Fähigkeiten zum Schmerzhandling, diese Dimension eines »Jenseits von Schmerzempfinden« bei lebendigem Leibe aufzuzeigen. Yoga bietet für das Ziel von Samadhi verschiedene Trainingsmodule an. Das in der real existierenden Gesundheitsförderung der Bundesrepublik Deutschland anerkannte Hatha-Yoga fokussiert insbesondere auf die Module Āsana (Körperhaltung, in der schmerzfreies Glück erlebt wird) und Prāṇāyāma (Atemübungen, die die Fähigkeit zur Selbstregulation unter Manipulation des Atemstroms testen) sowie Pratyahara (einfaches Gewahrsein; dieser Ebene bedient sich z. B. insbesondere das sogenannte Achtsamkeitstraining MBSR, Mindfulness Based Stress Reduction) und möchte sie zur zielgerichteten Gesund-

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heitsförderung und hier zum intentionalen Auslösen der Entspannungsreaktion einsetzen. Will man Hatha-Yoga als ein ganzheitliches Entspannungstraining, als Methode der Gesundheitsförderung im westlichen Kontext einsetzen, stellt sich immer noch die Frage nach dem »Körper« des Einzelnen und dessen Funktionsabläufen, in dessen innerem Kontext die Entspannungsreaktion durch das Praktizieren von Hatha-Yoga ablaufen möge. Was soll überhaupt mit Körper gemeint sein?

Zum Körperbegriff im Yoga Der indische Körperbegriff lautet »Sharira«: »Sharira is a Sanskrit word meaning ›body‹. In Hinduism, an individual is considered to be composed of three bodies: the karana sharira (causal body), sukshma sharira (subtle body), and karya sharira (gross body). These three bodies are connected and a person functions best when they are in harmony with one another« (yogapedia. com; Zugriff am 28.05.2021).

Mit »causal body« sind die spezifischen Wirkkräfte gemeint, die eine (Wieder-)Geburt hervorbringen. Mit »subtle body« sind die Ebenen des nicht konkret greifbaren, jedoch erlebbaren »Energiekörpers« gemeint9 und mit »gross body« dann das, was wir im Westen in der Regel unter »Körper« verstehen. In der westlichen Medizin scheinen noch am ehesten die Psychosomatik bzw. Somatopsychik sowie die moderne Neurobiologie und -psychologie geeignet zu sein, um das, was mit »Sharira« gemeint ist, zu erfassen. Nach Lobo ist die Leitidee für diese Art von Körperbegriff z. B. gemäß der Gherandasamhita (einem bedeutsamen Text über Hatha-Yoga aus dem 17. Jahrhundert), dass der Körper des Menschen die Vermittlungsinstanz ist zwischen dem menschlichen Lebenswillen schlechthin und seinen Umweltbedingungen. Die Äußerungen des Körpers – Haltung und Atmung – sind empfindliche Fühler dieser Vermittlung. Mit anderen Worten: Was der einzelne Mensch durch Sharira erlebt, sind individuelle Aufbereitungen, Konstruktionen seiner Innen-AußenweltKommunikation. Bestenfalls ist der erlebende Mensch frei von Schmerz in 9 Hierher gehört dann auch die Lehre von den Chakren und den Nadis, aber auch die Lehre von den Marmas der chirurgischen Richtung des Āyurveda, die ein Bindeglied zwischen »subtle body« und »gross body« darstellen.

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einem umfänglichen Sinn und in ausbalanciertem Wohlbefinden, ein Zustand, der in Yoga mit sattva bezeichnet wird. Hier ist die Brücke zur Gesundheitsförderung – die Wahrscheinlichkeit für das Entstehen von sattva als wohlbefindlichem Lebensfluss zu erhöhen.

Gesundheitsförderung im 21. Jahrhundert durch Hatha-Yoga Gesundheitsförderung durch Hatha-Yoga zielt auf einen Prozess der Kompetenzvermittlung hin zu einer gelingenden, sprich: nach Möglichkeit schmerzfreien »Innen-/Außenwelt-Kommunikation«. Eine sehr hilfreiche Sicht von Gesundheit und Gesundheitsförderung bietet hier Knörzer: »Gesundheit ist die Fähigkeit eines Systems, innerhalb seiner autopoietischen Organisation immer wieder auf Perturbationen seiner inneren und äußeren Welt durch Veränderungen so zu reagieren, dass es wieder zu seiner Homöostase findet« (Knörzer, 1994b, S. 68).

Hierzu passt hervorragend das Denkmodell aus der Sāṃkhya-Philosophie des indischen Kulturraumes: Ȥ Es gibt Bewegungen in der Außenwelt. Ȥ Es gibt Bewegungen im Innenraum. Ȥ Es gibt Prinzipien – Guṇas sowie Doṣas und Sub-Doṣas –, die die Beziehung zwischen den beiden Bewegungen in der jeweiligen aktuell erlebenden Person beschreiben (z. B. warm/kalt; hart/schwer u. a.). Wenn das erlebende Subjekt z. B. »kalt« empfindet, dann ist dies das Ergebnis der individuellen Aufbereitung von Bewegungen sowohl der Innenwelt wie auch der Außenwelt mit der möglichen Äußerung »Mir ist kalt.« Ȥ Es gibt Merkmale (Lakshanas), die eine von diesen Prinzipien zusammengehaltene Assoziationskette darstellen und vom wahrnehmenden Bewusstsein des Erlebenden registriert und bewertet werden. Ȥ Ein Bruch in der wohlbefindlich, sattvisch fließenden Assoziationskette wird als eine Blockierung bzw. als Variante von Schmerz in einem umfänglichen Sinne erlebt, als eine Diskrepanz zwischen einem erlebten Ist-Zustand und einem gewünschten Soll-Zustand. Ȥ Es gibt Stellen im Körper-Psyche-Geist-System (Sharira), an denen sich die Brüche einer schmerzfrei fließenden Assoziationskette sensibler in Er-

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Hatha-Yoga – Grundlagen

scheinung bringen als an anderen. Diese Stellen werden als Marmas bezeichnet. Ȥ Mit den Übungsmodulen Āsana und Prāṇāyāma aus dem System des HathaYoga findet nicht nur ein spezifisches Training statt, sondern auch ein Test. KULTUR

Gemeinde

Lebensweise Familie Psychosozioökonomische Umwelt

Persönliches Verhalten Geist Medizinisches Versorgungssystem

Arbeit Körper

Seele

Physikalische Umwelt

Humanbiologie

Die von Menschen gemachte Umwelt

BIOSPHÄRE

Abbildung 1: Virabhadrāsana systemisch betrachtet (verändert nach Hancocks »Mandala-­ Modell der Gesundheit«, vgl. Blättner u. Waller, 2011, S. 83)

Man kann davon ausgehen, dass unterschiedliche Formen von »Gewalt«-Einwirkung im erlebenden Individuum potentiell Schmerz auslösen, wovon sich das Individuum im Sinne seines naturgegebenen Ziels nach schmerzfreier Homöostase wieder befreien möchte – weg von Gewalt qua Schmerz. Eine solche Gewalt-/Schmerzeinwirkung kann selbstinduziert sein (z. B. Sonnenbrand, »Kater« nach Alkoholabusus, Sadomasopraktiken) oder fremdinduziert (z. B. durch Mobbing, häusliche Gewalt, Unfallgeschehen, multiresistente Keime, Krieg, Naturgewalten u. a.) oder auch durch eine immanente dysfunktionale Regulation (wie z. B. Migräne, Phobien, Autoimmunerkrankungen u. a.). All diese Varia-

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tionen von Gewalt können die Stressreaktion aktivieren. Jegliche Stressreaktion geht letztlich mit einem Bedrohungserleben einher – »Ich weiß nicht, ob ich das schaffe, und deshalb erhöhe ich den Blutdruck, schütte mehr Cortisol aus, erhöhe die Muskelspannung, bleibe länger wach usw.« –, von dem der Erlebende wieder wegkommen möchte in einen ausgeglichenen, schmerzfreien Zustand. Wenn man nicht von einem traditionellen mechanistischen Reiz-ReaktionsModell ausgehen will (Engel, 1996, S. 3 ff.), sondern von einem modernen systemisch-konstruktivistischen Ansatz, muss man Gesundheitsförderung verstehen als einen salutogen systemisch-dynamischen Lern- und Lehrprozess mit der zentralen Fragestellung: »Was ist die Bedeutung eines Geschehens für mich?« Ein sehr anschauliches Beispiel für eine solche Reflexion und einen inneren Diskurs liefert z. B. Dychtwald (1981, S. 83 ff.) mit seinen Ausführungen über einen Knorpelriss in seinem linken Knie, den er mit einem Entscheidungskonflikt über »bleiben oder gehen« konnotierte. Dychtwald erlebte ein Knietrauma, als ihm die Kündigung seines ihm lieb gewordenen Domizils, seines Zuhauses, erklärt wurde. Es kam zu einer inneren Zerreißprobe zwischen »Ich muss gehen« und »Ich will aber bleiben«. Inmitten dieses teils unbewussten inneren Dialogs kam es zu einer Läsion des Knies. Hätte Dychtwald in dieser Situation Hatha-Yoga aus salutogen systemischer Sicht geübt, hätte es gut sein können, dass z. B. gerade in Stehübungen eine Instabilität auffällig geworden wäre, die dann einer Art Einsichtsmeditation anheimgestellt hätte werden können. Zu solch einer modernen, aufgeklärten Sichtweise passt es nicht, Yoga-Übungen anzubieten, die für dieses und jenes gut sein sollen, wie man es leider landauf landab antrifft, sondern die Yoga-Übung selbst ist für den übenden »Sharira« (Begriff für das verkörperte Individuum, s. o.) eine Reizaktivierung, die in einen systemischen Kontext eingebettet ist, auf die Blackbox des Übenden trifft und in ihr lösungsorientiert verarbeitet wird. Die Yoga-Übung ist eine willentlich induzierte Intervention ohne mechanistische Wirkungsprognostik. In diesem Sinne konstatieren auch Dalmann und Soder (2013, S. 106): »Yogapraxis muss verstanden werden als ein spezifischer Impuls, der auf sehr komplexe, extrem vernetzte Systeme trifft. Diese Lebenssysteme werden dabei nicht aus dem Dornröschenschlaf geweckt, sondern begegnen dem Impuls aus einer wohlstrukturierten, hohen und ständig auf Gesundheit ausgerichteten Aktivität heraus. Sie reagieren nun in ihrer Gesamtheit auf den besonderen ›Impuls Yoga‹. Ihre Antwort entwickelt sich dabei entlang ihren eigenen Möglichkeiten und Strukturen von Selbstorganisation.«

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Dies ist in völliger Übereinstimmung mit der Handlungsanleitung zum Üben von Yoga gemäß des Lehrssatzes zwölf bei Patañjali – wiederholend und frei von Erwartungen. Diese zwei Kriterien, »Wiederholung« und »Frei-von-ErwartungSein«, sind Kernkriterien für eine evidenzbasierte Testung. Der Yoga-Übende wird dergestalt zum salutogenen Experten10 in eigener Sache und die YogaÜbung wird zum salutogenen Experiment. Eine Übung im Sinne des Hatha-Yoga ist eine Art Fragestellung und testet unter der Perturbation durch Yoga-Übung die Fähigkeit zur schmerzfreien Homöostase bzw. stellt die Frage nach der Bedeutung eines Schmerzes für die Übende. Zur Erinnerung: »Die Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung fasst die wichtigsten Aktionsstrategien und Handlungsbereiche der Gesundheitsförderung zusammen […] Als Handlungsstrategien […] werden hervorgehoben: 1) Anwaltschaft für Gesundheit (»advocacy […]) […]; 2) Befähigen und ermöglichen (»enable«) […] Empowerment […] 3) Vermitteln und vernetzen (mediate […]) […] Die fünf vorrangigen Handlungsfelder und -ebenen der Gesundheitsförderung sind: 1) Entwicklung einer gesundheitsfördernden Gesamtpolitik […] 2) Gesundheitsfördernde Lebenswelten schaffen […] 3) Gesundheitsbezogene Gemeinschaftsaktionen unterstützen […] 4) Persönliche Kompetenzen entwickeln […] 5) Die Gesundheitsdienste neu oreintieren« (BZgA, 2003, S. 74 f.).

Gesundheitsförderung hat den Auftrag, einer auf Selbstbestimmung und Em­ powerment ausgerichteten salutogenen Didaktik zu folgen. Wie passen hier Begriffe wie »Schmerz« und »Gewalt« zu einer modernen aufgeklärten Sichtweise von Hatha-Yoga im Kontext von Gesundheitsförderung und Prävention? In aller Regel sind Gesundheitsförderung und Prävention gemäß »Leitfaden Prävention« Angebote an Erwachsene und richten sich damit mitnichten an biografisch »unbeschriebene Blätter«. Wer sich für Hatha-Yoga interessiert, bringt unterschiedliche Erwartungen mit, die sich häufig genug auch auf erlebte Defizite des Körper-Psyche-Geist-Systems, eben des Sharira, beziehen, auf kleinere oder größere Abweichungen vom schmerzfreien Wohlbefinden. Welcher Gestalt soll an dieser Stelle die gemäß »Leitfaden Prävention« gewünschte und postulierte »gesunde Versicherte« als Teilnehmerin sein? Ist es der nicht krankgeschriebene Arbeitnehmer, der mit Rückenschmerzen zur Arbeit 10 »Experte« im besten ursprünglichen Sinne – nämlich der, der über Erfahrung verfügt.

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und abends zum Hatha-Yoga geht, in der Hoffnung auf Schmerzerlösung? Ist es die wegen eines grippalen Infektes nicht im Bett liegende Hausfrau und Mutter? Ist es der in Sachen Blutdruck medikamentös ein- und hergestellte Normotoniker? Ist es die wegen eines Prolapsgeschehens vor drei Jahren operierte Sportlerin, die aktuell frei von Beschwerden ist? Was ist mit all den medizinisch betrachtet »chronisch Kranken«, die aber ihrer Arbeit nachgehen oder die sich um ein pflegebedürftiges Familienmitglied kümmern oder, oder, oder? Gehören solche versicherten Mitbürger hier zum präventiven Auftrag nach § 20 Abs. 2 SGB V oder sind sie per se ausgenommen? Beispiel »Rückenschmerzen«: »Zur Verbreitung von Rückenschmerzen in Deutschland stehen Ergebnisse aus mehreren regionalen und nationalen Untersuchungen zur Verfügung. Diese weisen übereinstimmend eine hohe Prävalenz von Rückenschmerzen in der Bevölkerung aus. Ergebnisse aus der Deutschen Gesundheitsberichterstattung des Bundes […] zeigen, dass die Stichtagprävalenz von Rückenschmerzen ›heute‹ (ohne Angaben zum Schweregrad der Beschwerden) in verschiedenen Regionen zwischen 32 % und 49 % liegt. Die Angaben zur Lebenszeitprävalenz (mindestens einmal im Leben Rückschmerzen) liegen zwischen 74 % und 85 %. Das heißt, nur rund 20 % der Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer hatten nach eigenen Angaben noch nie Rückenschmerzen erlebt. Möglicherweise wird die Prävalenz der Beschwerden noch unterschätzt, da ein Teil der Patientinnen und Patienten länger zurückliegende Rückenschmerzepisoden schlicht vergessen oder ›wegerklärt‹ hat (z. B. Rückenschmerzen im Zusammenhang mit einer Schwangerschaft). Die Unterschiede zwischen Frauen und Männern sind in allen diesen Studien gering und nicht immer signifikant […]. Mit den Ergebnissen der Deutschen Rückenschmerzstudie kann auch belegt werden, dass von den befragten Personen 7 % von schweren und 9 % von erheblich behindernden Rückenschmerzen berichteten« (Robert Koch-Institut, 2012, S. 12 f.).

Wer aus der Population »Menschen mit Rückenschmerzen« darf denn im Sinne des Leitfadens Prävention auf der Suche nach Entspannung an Angeboten des Hatha-Yoga teilnehmen? Ich führe seit Jahren schriftliche Eingangsbefragungen durch und frage dabei nach vorhandenen Beschwerden, auf die Rücksicht genommen werden sollte. Rückenbeschwerden und Stress gehören mit ca. 80 % zu den wesentlichen Motiven, ein Angebot mit Hatha-Yoga aufzusuchen. Dass dies kein Ausnahmephänomen ist, belegen eindrucksvoll die aktuellen Zahlen für Schmerzmittel, die »gern« auch bei Schmerzen im Bewegungsapparat eingenommen werden – häufig auch auf ärztliche Empfehlung. »Der Umsatz im Segment Schmerzmittel wird 2021 etwa 540 Mio. Euro betragen. Laut Pro-

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Hatha-Yoga – Grundlagen

gnose wird im Jahr 2025 ein Marktvolumen von 634 Mio. Euro erreicht; dies entspricht einem jährlichen Umsatzwachstum von 4,1 % (CAGR, 2021–2025)11. Umgerechnet auf die Bevölkerungszahl werden in diesem Markt im Jahr 2021 etwa 6,43 Euro pro Kopf umgesetzt« (Statista.de; Schmerzmittel; Zugriff am 28.05.2021). Es wäre an dieser Stelle wirklich interessant zu wissen, wie viel Schmerzmittel im Blut der Yoga-Übenden während eines Übungstermins vorhanden ist und die Erfahrung von Yoga auch als Körpersensibilitätstraining verzerrt. Beispiel Stress: »Sechs von zehn Menschen in Deutschland fühlen sich gestresst – unabhängig davon, ob beruflich oder privat. Ein knappes Viertel der Bevölkerung, 23 % geben sogar an, häufig gestresst zu sein. Immerhin: Demgegenüber stehen aber auch 40 %, die sich selten oder nie gestresst fühlen. Beim Thema Stress liegen Frauen und Männer annähernd gleichauf. 63 % der Frauen stehen immer wieder unter Strom, bei den Männern sind es 58 %. Die vorherige TK-Stressstudie von 2013 hatte noch ergeben, dass 63 % der Frauen und 52 % der Männer unter Stress leiden. Die Frauen halten also ihr Stresslevel, die Männer holen auf« (Techniker Krankenkasse, 2016, S. 6 f.).

Halten wir fest: Zum realen Alltag eines Anbieters von Hatha-Yoga gehört, dass das Gros der Besucher*innen über Schmerzerfahrung und auch Schmerzerleben im oben dargestellten Sinne verfügt, das heißt, die Besucher kommen als »beschriebene Blätter« mit ihren schmerzhaften wie nicht schmerzhaften Lebenserfahrungen, eben mit ihrem biopsychosozialen, biografisch entwickelten Sosein, und sie kommen mit dem Auftrag der Kompetenzvermittlung zum salutogen besseren Umgang mit ihren Belastungen, entweder aus dem inneren oder äußeren Raum. Sie erwarten auftragsgemäß kompetente biopsychosoziale Lebenshilfe, nämlich sich in eine am eigenen Leib erfahrene Spannungssituation hinein zu entspannen und die Stressbewegungen immer mehr in Eigenregie langsam anhalten zu können. Hier scheint es eine Auftragsdivergenz zu geben zwischen den Teilnehmenden an Angeboten der Primärprävention und dem Auftrag der Krankenkassen an die Anbieter. Und gleichzeitig ist zu konstatieren, dass gerade auch der Bereich mit tertiärpräventivem Auftrag, also der konkret ärztlichmedizinische Bereich, mittlerweile gern bei verschiedenen Beschwerdebildern empfiehlt »Machen Sie doch mal Yoga!« und damit eigentlich eine Leistungsdelegation vornimmt. 11 CAGR = Compound Annual Growth Rate bezeichnet eine angenommene Entwicklungsrate zwischen zwei definierten Jahren, hier zwischen 2021–2025.

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Strukturelle Gewalt und Embodiment Die Yoga-Übungen werden unterschiedlich geübt, mal mit offenen, mal mit geschlossenen Augen. Immer jedoch gilt ein gehöriger Anteil der Wahrnehmung – Stichwort »doppelte Blickrichtung« – den auffällig werdenden Bewegungen aus dem Innenraum des Übenden. Wenn in den Yoga-Lehrsätzen als erste ethische Orientierung Ahimsā, Gewaltfreiheit gilt, dann hat es Sinn, sich auch mit der Introjektion sogenannter struktureller Gewalt in das eigene Leib-Seele-System zu befassen. Strukturelle Gewalt meint nicht die direkte Gewaltinteraktion zwischen zwei oder mehreren Personen, sondern eine feldsystemische Dynamik, bestehend aus Zeitgeist, soziopolitischen Verhältnissen, Werten in Lebenswelten u. a. So lernen etwa viele Kinder schwarzer Familien in den USA, wie spezifisch sie sich gegenüber der Polizei präventiv verhalten sollen, um die Wahrscheinlichkeit einer Gewaltentstehung zu verringern. Das wiederum unterscheidet sich nicht wirklich von den Verhältnissen sozialer Unterdrückung, z. B. zu Zeiten der Apartheid in Südafrika oder zu der Zeit Indiens vor der Unabhängigkeit im Jahr 1947.12 »Das Begriffspaar der strukturellen Gewalt impliziert, dass die Gewalt in sozialen Interaktionsformen und Prozessen eingebettet ist und nicht, wie bei der personalen, direkten Gewalt, unmittelbar von Personen ausgeht und umgesetzt wird […]. Das bedeutet letztlich, dass die Grundbedürfnisse eines Menschen unter Bedingungen der strukturellen Gewalt durch äußere, relationale Zwänge beeinträchtigt werden. Verkürzt gesagt: Das Potential, selbstbestimmt glücklich zu sein, (siehe ›pursuit of happiness‹ als Topos des verfassungsgeschichtlichen Studienfelds) wird verhindert. Folglich besteht strukturelle Gewalt immer dann, wenn ein in einem sozialen Interaktionssystem involvierter Akteur seinem Positions-, Status- oder Rangveränderungswillen zur Sicherung seiner menschlichen Grundbedürfnisse nachgeht, dieser Wille aber eine indirekte, stillschweigende, hingenommene oder institutionell verfasste Blockade erfährt« (Grant-Hyford u. Scheyder; S. 2 f.; unter: https://www.galtung-­ institut.de/papers/G-I-WP-2016-06-SG.pdf; Zugriff am 12.08.2021. 12 Es gibt eine dreiteilige Dokumentation über »Die Geschichte des Rassismus«, in der auch gezeigt wird, wie das indische Volk unter der englischen Herrschaft gelitten hat (s. Bayern TV; https://www.br.de/fernsehen/ard-alpha/programmkalender/ausstrahlung-2208660.html; Zugriff am 28.05.2021). Es muss die Frage erlaubt sein, wie die Yogis und Yoginis unter diesen Gewaltverhältnissen gelebt haben. Manche wurden wie Zirkusakrobaten vorgeführt, s. hierzu z. B. die Filmrecherche »Der atmende Gott« (2012) unter http://www.deratmendegott.de (Zugriff am 28.05.2021).

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Strukturelle Gewaltverhältnisse kommen in den unterschiedlichsten Lebenssettings vor: Betrieb, Familie, Gemeinde, Nachbarschaften, Institutionen und anderen Settings.13 Gewalt, die sich im Außen abspielt, wird ggf. in das Innenleben des Individuums mit Schmerz übersetzt. Man weiß aus der heutigen Neurowissenschaft, dass sich biologischer Schmerz der gleichen Schmerzareale im Gehirn bedient wie emotional erlebter Schmerz, wie er z. B. bei Mobbing, der Verweigerung der Zugehörigkeit zu einem sozialen Wir-System, erlebt wird. »Wenn ich jemanden dadurch kränke, dass ich ihn unfair behandle bei der Verteilung von Ressourcen, dann reagieren die Ekelsysteme. Oder wenn jemand dadurch gekränkt wird, dass die Gruppe ihn ausschließt oder sie ausschließt und sagt: ›Du gehörst nicht mehr zu uns‹, dann reagieren die Schmerzsysteme. Die Schmerzsysteme des menschlichen Gehirns reagieren nicht nur auf zugefügten körperlichen Schmerz, sondern auch auf soziale Ausgrenzung und Demütigung. 2003 hatte die amerikanische Sozialpsychologin Naomi Eisenberger Personen untersucht, die in einem Computerspiel virtuellen Mitspielern Bälle zuwerfen sollten. Nach einer Weile spielten die virtuellen Figuren allerdings allein. Die Folge: Probanden äußerten sich nicht nur gekränkt über die Ausgrenzung – sie reagierten später auch körperlich stärker auf Schmerzreize. Im Blut von Menschen, die soziale Ablehnung erfahren, fanden Forscher zudem erhöhte Anteile entzündungsfördernder Botenstoffe, die die Schmerzwahrnehmung weiter steigern« (Heller, 2020).

Ich habe selbst mehr als 25 Jahre Angebote mit Betrieblichem Gesundheitsmanagement durchgeführt und mich als Sozialwissenschaftler und Gesundheitspädagoge ausgiebig auch mit impliziten Gewaltstrukturen in der Arbeitswelt befasst. Ein typisches Beispiel ist hier die Arbeitszeitgestaltung, die immer noch – trotz eingehender Forschung und Kenntnislage – viel zu wenig als Grundlage einer Arbeitsorganisation die Bedürfnisse der menschlichen Zeitgestalt nimmt, sprich Chronobiologie, sondern der Mensch hat sich so gut wie möglich in eine Maschine-Mensch-Interaktion einzubinden. Die Frühsozialisation hierfür findet bereits in den Grundschulen statt, wohin Kinder zu ihrer chronobiologischen Unzeit gehen und chronobiologisch lernunfähig die »erste Stunde« über sich ergehen lassen müssen. Folgerichtig ist das Thema »Zeit« bzw. das Lebensgefühl, zu wenig Zeit zu haben, eines der großen Themen im real existierenden Yoga-Unterricht. 13 S. zum Thema auch Bauer (2011). Hier wird z. B. auch Armut als Quelle für ungleiche Bildungschancen und damit auch für Schmerz und Gewalt thematisiert. Oder soll der Übende eines »Yoga des Westens« seine möglicherweise prekären Verhältnisse als Erleuchtungshilfe nehmen?

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Schmerzhafte und nicht schmerzhafte Schwankungen Es ist interessant, dass in den Patañjali-Sūtren zwischen klista und aklista vrttis unterschieden wird, also zwischen schmerzhaften und nicht schmerzhaften Schwankungen. Es heißt nicht »freudhafte und nicht freudhafte« Schwankungen, sondern eben »schmerzhafte und nicht schmerzhafte«. Die Lehrsätze des Patañjali benennen in den Sūtren 30 und 31 auch ausdrücklich Hindernisse für das Erleben von Yoga: Krankheit, Trägheit, Zaudern und Zweifeln, Nachlässigkeit, Faulheit in der Disziplin des Übens, Anhaften an sinnlichen Genüssen, irrige Sichtweisen, Unkonzentriertheit und Unbeständigkeit beim Üben, im Zustand von Kummer Verweilen, Schmerzen, Zittern und Seufzen. Insofern ist es durchaus gerechtfertigt, dass Yoga im Allgemeinen und Hatha-Yoga im Besonderen als Weg der Auseinandersetzung im Sinne eines existentiellen Schmerzdialogs eines Menschen ausgeleuchtet wird und damit auch als ein Weg zur höchstpersönlichen Sinngebung, muss sich der Mensch doch immer wieder durch ein Dickicht an Fragestellungen durchfinden wie etwa »Warum gerade ich?«, »Was soll das denn nun wieder?«, »Wofür soll das gut sein?«, »Geht das weg … und wenn nicht, was bedeutet das dann für mich?« – und viele andere mögliche schmerzbegleitende Fragen. Dort, wo den Übenden des Hatha-Yoga die Moderation dieses höchst persönlichen, salutogenen, existentiellen und ganzheitlichen Schmerzdialogs entweder aus Unkenntnis, Unwissen, Unfähigkeit, Unwillen oder anderweitiger Motivation vorenthalten wird, gerät das Üben eines so etikettierten »Hatha-Yoga« zu einer entfremdeten und entfremdenden Besinnungsgymnastik und wird seiner impliziten Potenz zu genuiner Gesundheitsförderung eben im Sinne der Ottawa-Charta entledigt. So lautet der Auftrag u. a. auch an die Methode Hatha-Yoga als Verfahren des sogenannten palliativ-regenerativen Stressmanagements in diesem Kontext gemäß GKV-»Leitfaden Prävention«: »Durch das Erlernen eines Entspannungsverfahrens wird die Fähigkeit zur Selbstregulation von psycho-physischen Stressreaktionen verbessert. Die verschiedenen Entspannungsverfahren lösen ungeachtet ihrer methodischen Unterschiede eine sogenannte Entspannungsreaktion aus14 […] Entspannungsverfahren zielen darauf ab, physischen und psychischen Spannungszuständen vorzubeugen bzw. diese zu re14 Dieses Postulat darf in dieser Form getrost in Frage gestellt werden. Die Aussage gewährt tiefen Einblick in ein Reiz-Reaktions-Modell-Denken, das dem 17. Jahrhundert entstammt. Genauso könnte man sagen: »Die verschiedenen sexuellen Stimulationstechniken lösen ungeachtet ihrer Methodik, Interaktion und des Kontextes die Orgasmusreaktion aus.«

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duzieren. Sie setzen damit im Wesentlichen auf der Ebene des palliativ-regenerativen Stressmanagements an. Die zu erlernende Entspannungsreaktion stellt den Gegenpol zu den unter Stress auftretenden körperlichen Reaktionen dar. Im Verlaufe eines Entspannungstrainings wird durch regelmäßiges Üben die selbstständige Auslösung der Entspannungsreaktion gebahnt und für den alltäglichen Einsatz stabilisiert […] Zielgruppe: Versicherte mit Stressbelastungen, die ein Verfahren zur gezielten Dämpfung der akuten Stressreaktion erlernen und über dessen regelmäßige Anwendung zu vegetativ wirksamer Erholung und Regeneration finden möchten […] Für Versicherte mit akut behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankungen sind die Maßnahmen kontraindiziert« (GKV-Spitzenverband, 2018, S. 79 f.).

Die Entspannungsreaktion möge als ein ausgewogener Aktivierungsrhythmus zwischen sympathikotonen und vagotonen Abläufen kurz umrissen sein. Nun kann es durchaus sein, dass ein gestresster Versicherter in seiner Freizeit, wenn er ein entsprechendes Yoga-Ambiente besucht, eine Entspannungsreaktion erfährt. Im Sinne einer Pawlow’schen Konditionierung kann es des Weiteren sein, dass das System dieser Person sich darauf freut, immer wenn sie »zum Yoga geht«, sich entspannen zu können, und allein deswegen schon Entspannungseffekte ablaufen. Es wäre ggf. zu testen, ob diese Person nicht auch durch Seilhüpfen in geselliger Runde – eventuell erweitert durch das Singen munterer Lieder analog zum Mantra-Chanten in einschlägigen Yoga-Angeboten – eine ähnliche Entspannungsreaktion erfährt. Damit ist die Befähigung zum Transfer in Belastungssituationen jedoch mitnichten abrufbar, weil das Setting, die Didaktik und die Herangehensweise einen solchen Transfer nicht vermitteln. Anders jedoch kommt es zu einer entsprechenden Kompetenzschulung im Sinne des »Leitfadens Prävention«15 und der Ottawa-Charta, wenn die YogaÜbungen selbst als spezifische Belastungssituationen vermittelt werden, in denen man z. B. reflexhaft einen Kloß im Hals bekommen kann, weiche Beine, einen harten Nacken oder Druck im Kopf – und dann die körpergeleitete Frage aufgeworfen wird, wie das System des Einzelnen in dieser spezifischen »Blackbox-Belastungssituation16«, genannt Āsana bzw. Prāṇāyāma, seine Regulation so verändern kann, dass er sich in diese spezifische Belastungssituation hinein entspannen kann, wenn die Situation nach allgemeinen Spielregeln die Ent15 »Primärpräventive Interventionen müssen neben der Vermeidung von Risikofaktoren für spezifische Erkrankungen auch gesundheitsfördernde (= die Ressourcen Wissen, Motivation und Kompetenzen stärkende) Elemente enthalten« (Leitfaden Prävention des GKV-Spitzenverbandes, 2018, S. 51). 16 Als Blackbox-Situationen gelten Ereignisse, bei denen jemand aufgrund seiner Erfahrungen keine Anhaltspunkte der Orientierung hat, es ist wie Fahren im Nebel.

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spannungsreaktion erlauben würde, soll heißen, wenn nach allgemeiner Einschätzung die Situation nicht eine spezifische Erregungsreaktion erklärbar und verständlich macht.17 In der indischen Medizin Āyurveda findet man mit Sata Krivakala ein überaus hilfreiches, sechsstufiges Modell einer Krankheitsentwicklung (Heyn, 1983, S. 215 ff.): Stufe 1: Sancaya – es kommt zu ersten Symptombildungen wie dem Erleben von Kälte oder besonderer Wärme, Härte, Steifigkeit, Piksen, Druck, Schwere, Völlegefühl usw. Stufe 2: Prakopa – die Symptome von 1) verstetigen sich und werden noch etwas deutlicher. Stufe 3: Prasara – die Symptome können nicht mehr übergangen werden und es treten Zweifel auf, ob man nicht wirklich erkrankt ist (das Völlegefühl aus Stufe eins und zwei entwickelt sich z. B. zu Erbrechen und Durchfall u. a.). Stufe 4: Stana Samsraya – manifeste Erkrankung. Stufe 5: Vyakati – Verstetigung und Verstärkung von Stufe vier. Stufe 6: Bheda – hier entscheidet sich der Verlauf in Richtung Heilung, Komplikation, Sekundärerkrankung, Chronifizierung, Versterben.18 Die Aufmerksamkeit des Yoga-Praktizierenden wird dann durch Phänomene (Reize, Symptome) aus dem äußeren oder inneren Raum kanalisiert. Im Sinne selbstbestimmter Prävention und Gesundheitsförderung könnte der Übende dann z. B. Symptombildungen der Stufe 1, Sancaya, und der Stufe 2, Prakopa, zum Gegenstand seiner Betrachtung machen (Reflexion der Reflexe) und seine Entscheidungen treffen, die folgendermaßen aussehen könnten: 1. Ich warte einfach mal ab, ob es sozusagen von allein wieder weggeht. 2. Ich ergreife Gegenmaßnahmen durch Mittel aus der Hausapotheke, wozu auch Übungen aus dem Repertoire von Āsana und Prāṇāyāma gehören kön17 Ein kleines Beispiel aus meiner fast 30-jährigen Berufspraxis als betrieblicher Gesundheitscoach und Yoga-Lehrer möge dies erhellen. Welches ist der salutogene Umgang mit einer Situation im Büro, in dem hintereinander zwei Schreibtische stehen und Person A chronische Nackenverspannungen hat – und deswegen zum Yoga kommt – im Kontext, dass Kollege B Mobbingattacken gegen A fährt? Meines Erachtens muss hier das salutogen orientierte Üben von Hatha-Yoga dazu anregen, wie handlungsorientiert eine Veränderung der Situation und eben nicht nur der Regulation aussehen kann. Der Hartspann im Nacken ist erstmal eine sehr sinnvolle Schutzreaktion gegen die atmosphärischen »Pfeile«, die von Kollege B abgeschossen werden. 18 Diese Dramaturgie einer Gesundheits-Krankheits-Dynamik lässt sich derzeit eindrücklich am Covid-19-Geschehen ablesen.

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nen ebenso wie der Kamillentee oder die Arnikasalbe oder auch das adaptierende Verändern der Yoga-Übung in die schmerzfreie Möglichkeit hinein. 3. Ich glaube, ich muss einen Experten (Arzt, Therapeuten, Heilpraktiker, Apotheker o. Ä.) aufsuchen. Da die Teilnehmenden an Yoga-Angeboten mit vielerlei Beschwerden zum Yoga gehen, so wie sie auch mit diesen Beschwerden einkaufen gehen oder Auto fahren, verlangt das primärpräventive Setting jedoch eine bewusste salutogene Didaktik. Gern wird im Yoga-Unterricht gesagt »Geh nur bis zu deiner Grenze«, sozusagen als didaktischer Goldstandard des Yoga-Übens, aber es fehlt sehr häufig der moderierte Dialog mit dieser Grenze. Hier jedoch liegt meines Erachtens ein großes Feld brach, nämlich das der gekonnten Vermittlung ggf. zur Sekundär- und Tertiärprävention, zur wissenden Weiterleitung innerhalb des Gesundheitssystems eben dann, wenn die Selbstregulation nicht ausreicht, um einen beschwerdereduzierten Zustand zu erleben.

Grundlegende Lehrsätze des Yoga und der Salutogenese Die Lehrsätze des Patañjali bestehen aus vier Teilen mit 51, 55, 55 und 34 Lehrsätzen, genannt Sûtren, insgesamt also 195 Lehrsätze. Für unsere Erörterung ganz wesentlich sind: Lehrsatz 2: Yogaś – citta – vṛtti – nirodha »Yoga ist das langsame Anhalten (nirodha) der Bewegung (vṛtti) des Phänomens (citta)« (Lobo, 2005, S. 68). Phänomene können nur in einem erlebenden Subjekt stattfinden. Ob Phänomene stattfinden, kann jemand als totes Subjekt nicht sagen. Die Bewegung, erlebte Phänomene langsam (!) anzuhalten, das ist Yoga. Die Yoga-Übende hat dann die inneren Bewegungen ausgespannt. Sie ist dann entspannt. Lehrsatz 3: Tadu drastuh svarupe ’vasthanam »Dann ist der (Standort des) Seher(s) in seiner eigenen Form« (Lobo, 2005, S. 69). Im Zustand des Yoga ist der Übende dann bei sich selbst, jenseits von Bewegungen und Verzerrungen, die durch Wahrnehmungs- und Deutungsfilter geprägt sind. Die Yoga-Übende (die Seherin) würde dann feststellen: »Jetzt bin ich wirklich bei mir.«

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Lehrsatz 4: Vṛtti sārupyam itaratra »Ist dieser (Standort) von Bewegung geprägt, so ist der Seher anderswo« (Lobo, 2005, S. 70). In allen anderen Zuständen ist die Yoga-Übende anderswo, eben verklebt bzw. identifiziert mit den Phänomenen. Lehrsatz 5: Vṛḥttayaḥ pañcatayyaḥ kliṣtaakliṣtāḥ »Die Bewegungen des Phänomens sind fünferlei, gequält (schmerzhaft/verletzt) oder nicht gequält (nicht schmerzhaft/verletzt)« (Lobo, 2005, S. 74). Die Lehrsätze definieren zunächst (Buch I, Lehrsatz 6) fünf Bewusstseinsphänomene, die nicht schmerzhaft oder auch schmerzhaft in Erscheinung treten: allgemeingültiges Wissen (Pramāṇa), Irrtum (Viparvaya), Phantasie/Vorstellung (Vikalpa), Schlaf (Nidrā), Erinnerung (Smrtî). Als schmerzhaft erlebte Bewutsseinsphänomene (Buch II, Lehrsatz 3) gelten sie als verursacht durch Nicht-Wissen (Avidyā), Ich-Bezogenheit (Asmitā), Wallung des Blutes (Rāga), Zwietracht (Dvesá) und unbedingtes Lebenwollen (Abhiniveshā). Die Perspektive in den Yoga-Lehrsätzen des Patañjali hat eine große Nähe zu einer der zentralen Aussagen Antonovskys im Rahmen seiner Ausführungen zum Konzept der Salutogenese, welches besonders in den Beiträgen von ­Ottomar Bahrs und Theodor Dierk Petzold in diesem Buch beleuchtet wird. »Meine fundamentale Annahme ist, daß der Fluß der Strom des Lebens ist. Niemand geht sicher am Ufer entlang. Darüber hinaus ist für mich klar, daß ein Großteil des Flusses sowohl im wörtlichen wie auch im übertragenen Sinn verschmutzt ist. Es gibt Gabelungen im Fluß, die zu leichten Strömungen oder in gefährliche Stromschnellen und Strudel führen« (Antonovsky, 1997, S. 92).

Ich erlaube mir, dies auf den Kontext des Übens von Hatha-Yoga zu übertragen: »Wie wird man, wo immer man sich in dem Fluß befindet, dessen Natur von historischen, soziokulturellen und physikalischen Umweltbedingungen bestimmt wird, ein fähiger Praktizierender des Hatha-Yoga?« (abgeändert nach Antonovsky, 1997, S. 92).

Dieses Werk ist dieser Fragestellung gewidmet und liefert hierzu Anregungen zu Grundlagen, Beispielen aus der Gesundheitsförderung und der Primär- und Tertiärprävention sowie zu Entwicklungsperspektiven.

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Hatha-Yoga: ein salutogen möglicher Weg als Ziel 1. Im »Leitfaden Prävention« der Spitzenverbände der Krankenkassen ist für das Handlungsfeld des sogenannten palliativ-regenerativen Stressmanagements die Methode Hatha-Yoga als Entspannungsverfahren für die Zwecke der Prävention und Gesundheitsförderung benannt. 2. Gesundheitsförderung kann als Prozess einer ganzheitlichen Ermächtigung salutogen orientierter Selbstbestimmung verstanden werden, wozu dann auch das Training von Kohärenz, Resilienz und Selbstwirksamkeit gehört. 3. Hatha-Yoga ist ein Fachbegriff mit zwei Wortgehalten: Hatha und Yoga. 4. »Hatha« bezeichnet so viel wie »Gewalt«, »Macht«, »Härte«, welche vom Individuum ggf. als »Schmerz« decodiert und erfahren werden. 5. »Yoga« selbst bezeichnet das »langsame Anhalten der Bewegung des Phänomens« (Lobo) in einem erlebenden Individuum. 6. Im Kontext von Hatha-Yoga sind die Orientierungshilfen des Übenden »Schmerz« (klista vrtti) oder eben »Nicht-Schmerz« (aklista vritti). 7. Yoga-Übungen sind Experimente mit der Wahrheit des Körpers (Sharira) als individuellem Erlebens- und Deutungsraum zur Testung von Bewegungen/ Schwankungen am eigenen lebendigen System. 8. Das Üben von Hatha-Yoga im Sinne des Auftrages zur Gesundheitsförderung und Prävention kann zu einem salutogenetisch wirksamen Entspannungstraining werden, wenn die Yoga-Lehrenden über entsprechende inhaltliche und didaktische Kompetenzen verfügen. 9. Hierfür wünschenswert sind Sensibilität und Wissen zur Unterscheidung von primär-, sekundär- und tertiärpräventiven Handlungsebenen. 10. Das Üben von Yoga als salutogen wirksames Sensibilitätstraining für Erwachsene kann so zu einem Lernprozess wahrhafter Selbstliebe gegenüber sich selbst und anderen werden auf der Grundlage bewussten Bemühens um Gewaltfreiheit – Ahimsā. Literatur Antonovsky, A. (1997). Salutogenese. Zur Entmystifizierung von Gesundheit. Tübingen: dgvt. Bauer, J. (2011). Schmerzgrenze. Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt. München: Karl Blessing. Birch, J. (2011). The meaning of Hatha in early Hathayoga. Journal of the American Oriental Society, 131 (4), 548. Blättner, B., Waller, H. (2011). Gesundheitswissenschaft. Eine Einführung in Grundlagen, Theorie und Anwendung (5. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer. Dalmann, D., Soder, M. (2013). Heilkunst Yoga. Yogatherapie heute. Konzepte, Praxis, Perspektiven. Berlin: Viveka. Dychtwald, K. (1981). Körperbewusstsein. Essen: Synthesis.

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Michael Röslen (*1954) Sozialwissenschaftler mit Schwerpunkt Humanisierung der Arbeitswelt, Sozialpsychologie und Medizinsoziologie. Mehrfache Weiterbildungen im Bereich Gesundheitsförderung, darunter als Pädagoge für Integriertes Psychosomatisches Gesundheitstraining und Yoga-Gesundheitstrainer BUGY . 35 Jahre tätig als Yoga-Lehrer; 25 Jahre Erfahrung in Betrieblichem Gesundheitsmanagement; fünf Jahre wissenschaftlicher Mitarbeiter und zehn Jahre Lehrbeauftragter der Abteilung Medizinische Soziologie und Medizinische Psychologie der Universitätsmedizin Göttingen. Gründungsmitglied und Vorstand im Berufsverband Unabhängiger Gesundheitswissenschaftlicher Yoga-Lehrender BUGY . Gründungs- und Vorstandsmitglied im Dachverband für Salutogenese. Kontakt: Wilhelm-Bendick-Str. 35, D-37130 Gleichen, E-Mail: [email protected]

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KörperÖkologie und Hatha-Yoga Brigitte Wagner

Ein salutogenetisches Konzept der Gesundheitsförderung auf der Grundlage von Yoga und Āyurveda nach Rocque Lobo1 Seit Beginn der Ökosystemforschung der 1970er Jahre hat die ökologische Denkweise Einzug in die westlichen Wissenschaften genommen und vernetztes Denken wurde zum Leitmotiv (Vester, 1988). Die Ökologie erforscht das dicht geknüpfte Beziehungsgefüge zwischen verschiedenartigen Lebewesen, und zwar auf der Ebene der einzelnen Organismen, ihren Funktionen und Wechselwirkungen auf allen Ebenen dieses Systems, den verschiedenartigen Umweltfaktoren und deren Auswirkungen auf dieses Gefüge. KörperÖkologie überträgt diese Betrachtungsweise auf den menschlichen Körper. Der Körper ist Schnittpunkt seiner innerkörperlichen wahrnehmenden Welt und seiner physiologischen und biologischen Rhythmen und Regelmechanismen in Wechselwirkung mit seiner sozialen und ökologischen Umwelt. KörperÖkologie bringt dabei den Menschen mit seiner subjektiven Wahrnehmung ins Blickfeld und liefert so Impulse für den selbstverantwortlichen Umgang mit Krankheit und Gesundheit. Krankheitssymptome zeigen sich als Ergebnis missglückter Synchronisation. Gesundheitsbildung und Prävention setzt auf diese Weise weder ausschließlich an der persönlichen Verantwortung noch ausschließlich an den gesellschaftlichen Verhältnissen an, sondern muss den individuellen und den sozialen Körper zueinander in Beziehung setzen, um zu erfahren, ob eine Selbstregulation möglich ist oder die Elastizität der miteinander kommunizierenden Systeme bereits ausgereizt ist. Am Beispiel einer Teilnehmerin (Uta)2 einer Ausbildungsgruppe wird im Folgenden dieser körperökologische Ansatz erläutert und der Gruppenkontext dargestellt. Es werden 1 Prof. Dr. Rocque Lobo, Katholische Stiftungsfachhochschule München, entwickelte ab den 1970er Jahren seine Ideen aufgrund seiner Erfahrungen mit Hatha-Yoga und Āyurveda. Diese Konzepte wurden von ihm seitdem weiterentwickelt zum Intergierten Psychosomatischen Gesundheitstraining (IPSG), zum Marma-Yoga und zum shake-spear-Aktivierungstraining . 2 Vorbemerkung: Die Tatsache, dass die genannte Versuchsperson (Uta) weiblich ist, habe ich zum Anlass genommen, auch für Begriffe, die in der verallgemeinernden Form gewohnheits-

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Hatha-Yoga – Grundlagen

sowohl der individuelle Körper als auch der Gruppenkörper in die Betrachtung einbezogen. Im Anschluss werden die Bedeutung des Ansatzes für eine salutogenetische Gesundheitsbildung und der Bezug zur Umwelt erläutert.

KörperÖkologie und Körpersprache Wichtige Bausteine dieses Konzepts sind die Marma-Lehre nach Lobo, Āyurveda, die Yoga-Übung als Test, die Reflexion der Reflexe, die Verunsicherungssynthese und das sogenannte Schmerzparadigma. Ein weiterer Baustein sind zusätzliche Testverfahren, wie am Beispiel des Geh- und Drehtests erläutert wird. Wichtige Grundlage für die Realisierung dieses Ansatzes ist die Sensibilisierung für die eigene subtile Körperwahrnehmung. Körpersprache meint hier nicht Gesten, Haltung oder Mimik, sondern subjektive Wahrnehmungen in den »Geweben«, also die Sprache, in welcher der Körper in den Yoga-Übungen zum Wahrnehmenden spricht. Durch zusätzliche Phänomene wie z. B. einen roten Kopf und kalte Füße, die auch für den äußeren Betrachter zugänglich sind, werden die Selbstwahrnehmung und die Fremdwahrnehmung zueinander in Beziehung gesetzt. Als assoziatives Ordnungssystem für diese Wahrnehmungen dient die Elementenlehre und die Begrifflichkeit des Āyurveda: Den Elementen »Erde«, »Wasser«, »Feuer«, »Luft« und »Raum« werden im Āyurveda bestimmte Eigenschaften zugeordnet und als »Lakshanas«3 im Körper wahrnehmbar. Die Zuordnung basiert auf elementaren Eigenschaften, z. B. Feuer = erhitzend, Wasser = flüssig etc. Die zehn gegensätzlichen Eigenschaftspaare (Guṇas), die im Āyurveda zur Beurteilung von Substanzen, aber auch für Empfindungen und Verhalten herangezogen werden (Tab. 1), sind gleichzeitig Eigenschaften der fünf Elemente (Mahābhūtas)4.

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mäßig in der männlichen Form benutzt werden, die weibliche Form zu verwenden. Ich bitte daher männliche Leser, sich von diesen Formulierungen ebenso angesprochen zu fühlen. Es werden hier die Sanskrit-Begriffe beibehalten, da sie aus einer Kultur kommen, deren Denkweise nicht mit der unsrigen übereinstimmt, und Übersetzungen daher immer unzulänglich bleiben. »Elemente« ist die gängige Übersetzung, wobei eher an das »Prinzip Feuer« etc. zu denken ist.

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Tabelle 1: Guṇas, Mahābhūtas, Lakshanas Guṇa/Lakshana

Mahābhūta

Guṇa/Lakshana

guru

schwer

Erde

laghu

leicht

Mahābhūta Feuer, Luft, Raum

śita

kühlend

Wasser, Luft

uṣna

erhitzend

Feuer

snigdha

viskös, ölig

Wasser

rūkṣa

trocken, rauh

Feuer, Luft

manda

langsam

Erde, Wasser

tîkṣṇa

schnell

Feuer

sthîra

stabil

Erde

sara

fließend

Wasser

kaṭhina

hart

Erde

mṛdu

weich

Wasser, Raum

pichila

schleimig

Wasser

viśada

klar

Erde, Feuer

ślakṣṇa

weich

Raum

khara

rauh

Erde, Luft

sthūla

grob

Erde

sūkṣma

subtil

Feuer, Luft, Raum

sandra

halbfest

Erde

drava

flüssig

Wasser

Durch den Versuch, das körperlich Wahrgenommene zu verbalisieren und den Elementen zuzuordnen, wird die Sensibilität trainiert. Dies führt zu einer immer deutlicher werdenden Bewusstheit für den Ist-Zustand und für das, was Ausgleich im Sinne von Homöostase verschaffen würde. Erfahrungen aus den Yoga-Übungen lassen sich mit zunehmendem Training der Sensibilität auch auf Alltagssituationen übertragen. Wir gehen also von der Grundannahme aus, dass eine geschulte Übende eine Wahrnehmung für die Vorgänge in den »Geweben« entwickeln kann. Die »Lakshanas« sind bei diesem Konzept die Grundzeichen der Körpersprache. Mit zunehmender Sensibilisierung lernt die Übende auch komplexere Vorgänge zu »verstehen« und zu deuten, genauso wie beim Lesen von Poesie nicht mehr das einzelne Wort von Bedeutung ist. Dieses Lernen der »Sprache des Körpers« vollzieht sich immer in Bezug zum sozialen Kontext der Gruppe, den Bedingungen des Alltags und der Umwelt, das heißt, in einem anderen Kontext »spricht« der Körper unter  Umständen anders.

Der individuelle Körper und sein Potential – Prakrti Nach der āyurvedischen Lehre entsteht Krankheit durch ein Ungleichgewicht der fünf Elemente (Prinzipien) »Erde«, »Wasser«, »Feuer«, »Luft« und »Raum« im Körper. Die Art der Gefährdung des Gleichgewichts hängt von der »Prakrti« ab. »Prakrti« ist ein grundlegender Begriff aus dem Āyurveda und bedeutet so viel wie »das, was vor dem Tun steht«, die innere Natur oder auch »die Ursache für die Erscheinungsform eines Menschen« (Lobo, 2001). »Prakrti« zeigt sich durch eine Vielzahl von körperlichen, charakterlichen und interaktiven

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Hatha-Yoga – Grundlagen

Phänomenen der Betreffenden und wird ebenfalls durch die fünf Elemente (Mahābhūtas) in jeweils unterschiedlicher Gewichtung beschrieben (Verma, 1992, S. 70 ff.). Daraus ergeben sich drei biologische Prinzipien, mit denen der Organismus die Homöostase mit seiner Umwelt wiederherzustellen versucht, genannt »Doṣas«, die zum einen als Potential zu verstehen sind, zum anderen aber auch zu einer Krankheitsfalle werden können. Auch sie werden durch die Elemente definiert und als Kapha (Erde und Wasser), Vata (Luft und Raum) und Pitta (Feuer) bezeichnet. In der Prakrti-Analyse wird untersucht, zu welchen Potentialen und Krankheitsfallen die Einzelne neigt, um daraus abzuleiten, was sie tun kann, um sich im Lebensfluss gesund zu erhalten. »Prakrti« ist jedoch nicht deterministisch, sondern als Hypothese auf der Basis von Phänomenen zu verstehen. Das Ziel ist, die »eigene Natur« zu erkennen und ausgleichend zu handeln. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die »sichtbare Prakrti« durch das »autobiografische Selbst« oder das »kulturelle Selbst«, also die Identifikation mit Erfahrungen im Sozialisationsprozess oder Identifikation mit der Kultur, in welche die Übende geboren ist, beeinflusst wird. Theoretisch könnte also z. B. das »autobiografische Selbst« gesundheitsrelevantes Handeln behindern. Das Prakrti-Konzept fordert dadurch immer wieder zur Selbstreflexion auf der Körperebene auf, da es für die Übende gilt, zwischen »Potential« und »Falle« bzw. »Störung« zu unterscheiden. Die Prakrti zeigt sich besonders in verunsichernden Situationen, wenn es gilt, »Inkompetenz« auszugleichen. Āyurveda unterscheidet nicht zwischen Körper, Geist und Seele5, es geht daher immer um Inkompetenz, die sich körperlich zeigt und erlebbar ist, wenn man sich diesem »Schmerz der Verunsicherung« aussetzt. In der »Verunsicherungssynthese« wird der Körper eingeladen, diesen Impuls zu nutzen, um sich auf seine Kompetenzen der Gegenregulation zu besinnen und so die Selbstregulation zu stärken. Eine »Pitta«-Persönlichkeit, die in Verunsicherung »reflexhaft«6 auf ihre »Pitta«-Kompetenz zurückgreift, könnte sich durch ein »Zuviel-des-Gleichen« vom gesundheitsförderlichen Zustand wegbewegen. Sie muss also ihre »Reflexe reflektieren«.

5 Das Wort, welches im Āyurveda für »Körper« benutzt wird, ist »Sharira«, vereinfacht übersetzt: »das, was auseinanderfällt«. 6 »Reflex« ist hier im weitesten Sinne zu verstehen als eine Handlung, die automatisch passiert.

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Geh- und Drehtest als Beispiel eines interaktiven Testverfahrens Durch die Orientierung in Zeit und Raum unter Ausschaltung des Sehens ist solch eine Verunsicherung des Körpers gegeben. Die Art, wie dieses Pro­blem gelöst wird und wie sich unter diesen Bedingungen die Anpassung an das Gruppengeschehen vollzieht, wird im sogenannten Geh- und Drehtest untersucht: Die Teilnehmerinnen (hier der Ausbildungsgruppe) gehen dafür mit verbundenen Augen – einmal allein und einmal in der Gruppe, bei Letzterem von einer Partnerin geführt – durch den Raum. Dies jeweils einmal geradeaus gehend und einmal, indem sie sich um die eigene Achse drehen. Beim Allein-­Gehen hat jede die eigene Zeit zur Verfügung. Von der Partnerin werden währenddessen ihre Schritte gezählt und die Zeit gestoppt. Beim Gehen und Drehen mit der Gruppe muss die Partnerin zusätzlich durch leichtes Dirigieren dafür sorgen, dass die gesamte Gruppe zur gleichen Zeit am Ziel ist. Hierbei ist lediglich die Erfahrung von »gebremst werden« oder »beschleunigt werden« und die sich auf der Körperebene zeigende »Lösung« relevant. Für jede Teilnehmerin ergeben sich also vier Werte für die Schritte pro Sekunde (Tab. 2). Tabelle 2: Testergebnis Geh- und Drehtest für Uta Geradeaus allein

Geradeaus mit Gruppe

17 Schritte

15 Schritte

8,9 Sek. = 1,91/Sek.

5,8 Sek. = 2,59/Sek.

Drehen allein

Drehen mit Gruppe

21 Schritte

13 Schritte

14,16 Sek. = 1,48/Sek.

8,75 Sek. = 1,49/Sek

Uta ist geradeaus allein langsamer als mit der Gruppe und macht weniger Schritte pro Sekunde. Beim Drehen allein war sie schnell losgerannt, hatte aber dann die Orientierung verloren und brauchte mehr Zeit als mit der Gruppe. Trotzdem erhöhten sich ihre Schritte/Sekunde nur minimal, sie ist also auf der Körperebene fast gleich schnell. Dies passt zunächst zu ihrer Erfahrung in Bezug auf ihren Alltag: »Ich habe oft das Gefühl, dass ich mit anderen zusammen schneller sein könnte. Ich beneide Leute, die sich in einem Gruppenzusammenhang getragen fühlen und damit leistungsfähiger sind als ich. Bei Arbeitsaufgaben, die nicht in einem Kontext stehen, verliere ich manchmal die Orientierung für das Ziel oder will zu viele Ziele gleichzeitig.«

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Hatha-Yoga – Grundlagen

Im Ergebnis des Geh- und Drehtests haben sich also Phänomene gezeigt, die Uta auch aus ihrem Alltag kennt. Auch im Test hilft ihr sowohl beim Drehen als auch beim Gehen die Gruppe zur Orientierung. Ihr innerer Antrieb wird aber beim Drehen durch die Gruppe viel weniger beschleunigt. Die Geradeausbewegung steht nach Lobo assoziativ für: Ȥ Leistung, Zielstrebigkeit Ȥ Skelettmuskulatur Ȥ Oberflächenmuskulatur, große Bewegungen, Fortbewegung Ȥ Bewegung auf dem Land Ȥ sympathikoton Die Geradeausbewegung wird mit dem Aktivitäts-/Passivitätsrhythmus in Zusammenhang gebracht. Die Drehbewegung entspricht demnach assoziativ: Ȥ vom Ziel weg Ȥ viszerale Muskulatur Ȥ Tiefenmuskulatur Ȥ Feinregulierung der Bewegung Ȥ parasympathikoton Ȥ Bewegung im Wasser Sie wird mit Temperaturrhythmus und Wasserhaushalt in Zusammenhang gebracht. Uta bekommt durch den Geh- und Drehtest direkte Hinweise auf ihre Prakrti und ihre »Doṣas«, gleichzeitig Hinweise zu einigen Marmas, die weiter unten noch erläutert werden: Sie steigert bei der Geradeausbewegung ihre Schrittzahl, um mit den anderen in Gleichklang zu kommen, zeigt damit eine starke »Vata/Pitta«-Komponente, die sie in die Gefahr bringt, sich zu stark zu erhitzen. Hierfür belastet sie mehr die »Schnellen«, das sind Sehnen-Marmas im Fußballen. Bei weiten anstelle von schnellen Schritten würden in den Beinen die »Weiten«, Blutgefäß-Marmas in den Oberschenkeln oder die Muskel-Marmas der Unterschenkel (Abb. 1) mehr ins Spiel kommen. Uta bekommt also durch die Verbindung des Testergebnisses mit dem Wissen über die Marmas Hinweise auf ihre Übungspraxis im Yoga, bei der sie die Belastung dieser Marmas testen kann bzw. ihre Wahrnehmung für die Über- oder Unterbelastung dieser Marmas schult.

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Herz, Brhatis

»Die Weiten«

A

B

C

Muskelmarma der Wade D Die innerkörperlichen Regelmechanismen zur Erhaltung der Homöostase (A) stehen in Wechselbeziehung mit der Sozietät (B) und der Umwelt (C) zu bestimmten Tageszeiten, Jahreszeiten, Klimabedingungen (D), die sich ebenfalls gegenseitig beeinflussen. Die Marmas sind die »Fenster« zwischen »innen« und »außen«.

Abbildung 1: Marmas als Fenster zwischen inneren Rhythmen und äußeren Anforderungen

Die Marmas Die Marma-Lehre des Suśruta kennt 107 Stellen im Körper, die als Wach- und Warnposten bezeichnet werden. Sie leuchten in der Wahrnehmung auf, wenn die Regulationsrhythmen des Körpers im Zusammenspiel mit seiner Umwelt auseinanderzufallen drohen. Dieses Aufleuchten kann sich durch Schmerz (im eigentlichen Sinn) oder andere Wahrnehmungen wie z. B. Unlust, Kraftlosigkeit, Ärger, Ungeduld (Schmerz im erweiterten Sinn) vollziehen. In diesem sogenannten Schmerzparadigma dient der »Schmerz« als Orientierung für Veränderung (Lobo, 2005). Das Wort »Marma« bedeutet so viel wie »Drehtür«, aber auch »Eingang zu einem Heiligtum«. Dort kann etwas Unerwartetes geschehen, sowohl »Tod« als auch »Leben«. Diesem Ort muss man sich behutsam und achtsam nähern. Die Marmas werden nach fünf verschiedenen Geweben des Körpers klassifiziert – Blutgefäße, Muskeln, Sehnen, Knochen, Gelenke – und einer Zeitstruktur, z. B. »sofort tötend«, »langsam deformierend«. Sie liegen an Stellen, an denen – in unserer naturwissenschaftlichen Sprache ausgedrückt – zwei oder mehrere physiologische Rhythmen oder Regelmechanismen so aufeinander-

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Hatha-Yoga – Grundlagen

treffen, dass es unvorhersagbar wird, in welche Richtung, nämlich Krankheit oder Gesundheit, sich das Gleichgewicht verschieben wird. Die hier dargestellte Betrachtungsweise folgt Erklärungsmodellen, die aus der Erforschung biologischer Rhythmen, Phasensingularitäten (Winfree, 1988) abgeleitet sind. Die Geografie kennt solche Phasensingularitäten an auf der Erde verteilten Orten, z. B. dort, wo Ebbe und Flut zusammenfallen; Nord- und Südpol sind Beispiele dafür in Bezug auf Zeitrechnung und Längengrade.7 Die Marmas und ihre Lage sind den āyurvedischen Ärzten seit Jahrhunderten bekannt und von ihnen systematisiert worden. Der Versuch, die Marmas des Körpers anatomisch exakt zu lokalisieren, ist jedoch der falsche Weg zu ihrem Verständnis. Im Gegensatz zu unserer naturwissenschaftlichen Anatomie, die sich in ihrem Ursprung auf die Struktur des toten, sezierten Lebewesens beruft bzw. Erkenntnisse aus indirekten, durch Apparate vermittelten Daten ableitet, bezieht sich die Marma-Lehre auf den lebenden Organismus und seine lebendigen Funktionen und Aussagen über »Schmerz« oder »Nicht-Schmerz«, Letzteres im erweiterten Sinn des oben genannten Schmerzparadigmas. In diesem Zusammenhang ist es das Verdienst von Lobo, die überlieferte Marma-Lehre in einem Kontext von moderner Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaft neu zu interpretieren (Lobo, 2005–2012). Es ist zu erwarten, dass die neu erwachte Erforschung der Faszien in Zukunft viele dieser Erkenntnisse auch aus biomedizinischer Sicht bestätigen wird (Schleip, 2014). Nach Schleip (2014) ist das feine Fasziengewebe von einer Vielzahl von Nerven und Rezeptoren besetzt, deren Erforschung noch aussteht.

Übertragung in das Alltagsgeschehen Im Alltag werden für Uta unter bestimmten Umständen zwei Blutgefäß-Marmas deutlich wahrnehmbar: Ȥ das Herz, es wird als »sofort-tötendes« Marma (sadyapranahara) bezeichnet. Ihm wird die Eigenschaft des Feuers (agneya) zugeschrieben und es bedroht das Wachbewusstsein. In ihm ist nach āyurvedischer Lehre (Lobo, 2001) die rechte Hirnhälfte und das Zwischenhirn, also die emotionale Seite, getroffen. Außerdem spürt sie oft die 7 Auch bei der Erforschung biologischer Rhythmen hat Winfree (1988) bei der Untersuchung mehrerer rhythmischer Faktoren, die das Schlüpfverhalten von Fliegen beeinflussen, Phasenkombinationen gefunden, bei denen es unvorhersagbar wird, welcher Rhythmus daraus entsteht.

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Ȥ »Brhatis« zwischen den Schulterblättern rechts und links der Wirbelsäule. Sie werden als »in der Zeit tötend« (kālantara) bezeichnet und betreffen den Schnittpunkt der Aktivität beider Hirnhälften. Ihnen werden Eigenschaften sowohl des Wassers als auch des Feuers zugeschrieben (saumya und agneya). In der Lehre des Āyurveda ist das Herz die hauptsächliche Synchronisationsinstanz. Es vermittelt zwischen den innerkörperlichen Rhythmen und der Außenwelt durch die Informationen, die über die Sinnesfelder vermittelt und im Nervensystem verarbeitet werden. Das Herz als »verunsichertes Organ« ist Uta sehr gut bekannt, sowohl durch direkte als auch indirekte Kreislaufsymptome: »Vor ein paar Jahren trat bei mir das erste Mal Herzrasen auf. Es war ein nächtlicher Anfall, der mich sehr ängstigte. Bei der anschließenden ärztlichen Untersuchung wurde kein organischer Befund festgestellt. Im Verlauf der Untersuchung wurde das Herzrasen noch zweimal ausgelöst. Einmal nach einem Belastungs-EKG und einmal im Wartezimmer, als ich Mithörerin einer Unterhaltung zweier Herzpatienten über ihre Operationen wurde. Später tauchten Schwindel- oder Schwächegefühle mit oder ohne Herzrasen recht unvorhersehbar immer wieder auf. Ich wusste eigentlich nicht, wie ich diese Zustände verhindern könnte. Ich fühlte mich dann nicht fähig, ›etwas in die Hand zunehmen‹. Ich fühlte mein Leben existentiell bedroht. Insofern ist mir die Klassifizierung des Herzens als ›Sadyapranahara-Marma‹ (= sofortiger Verlust des Bewusstseins) körperlich nachvollziehbar.«

Ihre eigenen Schilderungen passen zu einer »Bedrohung durch Luft und Raum (= Vata)« zusammen mit ihrer eigenen, stark ausgeprägten Bereitschaft zu zielstrebiger Leistung, welche »Pitta« (Feuer = schnell, klar, leicht) zuzuordnen wäre. Im Verlauf ihrer IPSG-Ausbildung lernte sie durch Yoga-Übungen, mit solchen Verunsicherungen anders umzugehen, und die Symptome hatten sich verändert: »Herzrasen trat jetzt aber ohne Panikgefühl auf, sodass ich mir dies genauer ansehen konnte. Ich machte dabei die Entdeckung, dass es bei mir zwei verschiedene Typen von Herzrasen gibt: Erstens bei emotionaler Verunsicherung in der Beziehung zu einer Person oder in Bezug auf Vorgehensweisen oder Entscheidungen, die für mich eine persönliche Relevanz haben. Dabei habe ich manchmal das Gefühl, von außen angetrieben zu werden. Zweitens in der Ruhephase nach einer körperlichen Belastung, z. B. bei einer Tanzveranstaltung oder Ähnlichem. Beiden Typen gemeinsam ist, dass ich äußerlich ganz ruhig bin. Beide Typen unterscheiden sich aber in der Möglichkeit der Beeinflussung. Bei ›emotionaler Verunsicherung‹ hilft mir eine Verlängerung der Ausatmung (apana vayu). Bei der zweiten Variante scheint aber gerade ein Gefühl

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Hatha-Yoga – Grundlagen

von Ausatmen, Ausruhen, Fallenlassen mein Herzrasen auszulösen. Der Rhythmus springt aber sofort wieder auf das ›normale‹ Maß um, und zwar in der Pause nach einer langsamen Einatmung (vyana vayu).«

Im Sinne von KörperÖkologie könnte man hier folgende Hypothese aufstellen: Die Symptome des Herzrasens erfolgen aufgrund von zwei verschiedenen Arten der Bedrohung, die hier elementar/körperlich wahrgenommen werden: 1. Bedrohung durch »Feuer« (keine Zeit) »Raum« (nichts Konkretes) »Luft« (kein Boden) → also insgesamt: Pitta/Vata 2. Bedrohung durch »Erde« durch eine Beeinträchtigung des Gefühls von Schwere, Fallenlassen (Kapha). Im ersten Fall erfolgt die Beruhigung durch das »Umschalten« auf ein Gefühl von Loslassen, Abstandnehmen. Hierdurch kann sie einer inneren emotionalen Überlastung entgegenwirken. Im zweiten Fall scheint ein Sog in Richtung Erde/Wasser (Hingabe) zu bestehen, der jedoch mit der Bewegung in der Peripherie nicht im Einklang steht. Sie kann gegenregulieren, indem sie ihrem Herzen »Raum« gibt und in der Atempause (vyana vayu) beides miteinander in Einklang kommen lässt. Zu den Brhatis, die Uta im Alltag häufig zu spüren bekommt, erzählt sie Folgendes: »Gerade in der letzten Zeit, wo ich mich damit beschäftige, meine Abschlussarbeit zu schreiben, schmerzt mir jeden Morgen der Rücken zwischen den Schulterblättern und im Nacken. In gesteigerter Form geht dies Hand in Hand damit, dass ich die Schultern hochziehe und den Kopf wegen Nackenschmerzen nicht mehr drehen kann. […] Ich lernte, dass ich durch ein Gefühl von ›mich in weiche Kissen fallen lassen‹ diese Schmerzen loswerden konnte.«

Eine ähnliche Erfahrung geglückter »Umschaltung« hatte sie in einem anderen Zusammenhang gemacht: »Nach einem Wochenendaufenthalt kam ich mit einer trockenen fiebrigen Erkältung zurück. Montag morgens schleppte ich mich durch die Stadt und ärgerte mich über meinen dicken Kopf und dass mir jeder Schritt zu viel war, wo ich doch schon so langsam ging. Eigentlich wollte ich doch noch an den Schreibtisch! Zu Hause angekommen legte ich mich auf den Boden und machte einige mir vertraute, sanfte

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Yoga-Übungen. Plötzlich bemerkte ich, wie sich meine Nase befeuchtete und der Kopf frei wurde. Den Rest des Tages konnte ich gut am Schreibtisch sitzen und arbeiten. Ich hatte plötzlich die Assoziation, dass allein die Tatsache, dass ich trotz Erkältung unbedingt arbeiten wollte, mir die unangenehmen Symptome verstärkt hatte. Es war wieder, als ob ich in der Übung auf ›Bewässerung‹ umgeschaltet hatte. Es ging also nicht um Tun oder Nicht-Tun, sondern darum, mit welcher inneren Einstellung ich es tat.«

In beiden Fällen war es offenbar gelungen, dass Uta durch Umschalten auf »Wasserqualitäten« eine zeitweilige Synchronisation erreichen konnte. Sie war in der Lage, den »Reflex Leistungsdruck« zu reflektieren, der ihr mitunter erst durch die Empfindungen in den Marmas bewusst wird. In den Brhatis, dem Schnittpunkt zweier Regulationsfunktionen, drückt sich das körperliche Erleben als Schmerz aus, wenn zwischen beiden ein Ungleichgewicht besteht. Im Fall dieses Blutgefäß-Marmas geht es dabei um das Zusammenspiel der hormonellen Regulation über das Blut an der Innenwand der Blutgefäße mit den Informationen aus der Willkürmotorik, die an der Außenwand der Blutgefäße registriert werden. Diese Rückkoppelung ist über die Empfindung der Übenden und über die gleichzeitige Schau »nach innen« und »nach außen« möglich, die an den Marmas wahrnehmbar wird. Wenn Uta »Wasserqualitäten« meint, so sind dies körperliche Wahrnehmungen (Lakshanas) von »śita« (kühlend), »snigda« (ölig), »manda« (langsam), »pichila« (schleimig), »sara« (fließend), »mrdu« (weich) und »drava« (flüssig) (Tab. 1, S. 47), die sie als Gegenregulation empfindet. Durch »physiologisch richtiges« Üben kann sie versuchen das Ungleichgewicht zu verringern, welches zum Schmerz geführt hat.

Der Gruppenkörper Das Ergebnis des Geh- und Drehtests lässt sich auch als »Gruppenkörper« auswerten und in Beziehung zu Uta setzen. In diesem »Gruppenkörper« – als Zusammenschau der Einzelergebnisse der Gruppe – wird die soziale Komponente des Standpunktes der Einzelnen und ihrer Regulationsmöglichkeiten im Spannungsfeld der sozialen Umwelt deutlich. Durch eine grafische oder mathematische Strukturierung des Materials ergibt sich die Möglichkeit, die einzelnen Positionen zu hinterfragen, die dann durch das subjektive Erleben der Betroffenen »verlebendigt« werden. Zwei Personen an ähnlichen Stellen des sozialen Feldes, die sich durch die Einzelergebnisse in Bezug zur Gruppe

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Hatha-Yoga – Grundlagen

ergeben, können ihren Standort subjektiv unterschiedlich erleben. Jemand, der allein langsam ist und in der Gruppe noch langsamer wird, könnte sich an diesem Standort im sozialen Feld wohlfühlen oder in eine Depression geraten. Der Austausch hierüber macht die Relativität der verschiedenen »subjektiven Wahrheiten« innerhalb der Gruppe deutlich, was für den Erkenntnisgewinn sowohl für die Einzelne als auch für die Gruppe wichtiger ist als eine Klassifizierung oder Zuschreibungen. Fasst man die Einzelwerte des Geh- und Drehtests als Gruppenergebnis zusammen, erhält man ein Bild über die »Söge« innerhalb der Gruppe und die Standorte jeder Einzelnen. Es gibt diejenigen, die im Vergleich zum Gruppenmittel beschleunigt oder verlangsamt werden, in der Geradeaus- und/oder Drehbewegung. Aus der Verrechnung der Werte lässt sich auch das (rechnerische) Maß der einwirkenden individuellen und sozialen Söge bzw. des Bewegungsspielraumes der einzelnen Person beschreiben. Im Gruppenkontext gibt es nach Lobo folgende soziale Kategorien, die in Beziehung zum eigenen Erleben gesetzt werden müssen: Ȥ tamas = Dunkelheit, Versachlichung, Kälte, Erstarrung Ȥ rajas = Zweifel, Konflikt, Unschlüssigkeit, Überhitzung Ȥ sattva = Lebensfluss, Sattheit, Gesundheit Die Werte des Geh- und Drehtests wurden diesen sozialen Kategorien folgendermaßen zugeordnet: Ȥ Die Teilnehmerinnen sind im »tamas«, wenn sie mit der Gruppe langsamer werden, bremsen und ihren Abstand zum Gruppenmittelwert verringern. Ȥ Die Teilnehmerinnen sind im »rajas«, wenn sie entweder mit der Gruppe schneller oder langsamer werden, sich der Abstand zum Gruppenmittelwert jeweils aber vergrößert. Ȥ Die Teilnehmerinnen sind im »sattva«, wenn sie mit der Gruppe schneller werden, sich ihr Abstand zur Gruppe trotzdem verringert. Sie können sich also im Schutz der Gruppe beschleunigen. Als Ergebnis für Uta zeigt sich, dass sie in der Geradeausbewegung die Schnellste ist und dabei gleichzeitig mit der Gruppe noch schneller wird. Sie entfernt sich damit weiter von der Gruppenmitte, geht voll in die Divergenz und nimmt so eine Außenseiterposition in der Gruppe ein. Der Quotient ihrer Geradeausbewegung zeigt einen großen Spielraum, aber auch ein hohes Maß an Spannung, also eine extreme »rajas«-Situation. Für die Drehbewegung ergibt sich nur ein sehr geringer »individueller Sog«. Uta befindet sich bei der Drehbewegung im »sattva«-Bereich, aber sehr nahe dem »tamas«, das heißt, ihr Bewegungsspiel-

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raum ist nicht groß. Der überwiegende Teil der Gruppe befindet sich unter dieser Auswertungsperspektive bei der Drehbewegung im »rajas«. Die Frage, die dies aufwirft, lautet: Ist Uta gut im Ausbalancieren dieser Spannung, möglicherweise durch eine starke Sicherheit in ihrer Emotionalität, oder besteht die Gefahr fehlender Flexibilität in den Blutgefäßen, die vielleicht schon das Ergebnis einer Überhitzung durch die Geradeausbewegung ist? Hören wir hierzu, wie sich Uta in der Gruppe wahrnimmt: »Die Gruppe wirkt auf mich stets chaotisch und leistungsorientiert. In der thematischen Auseinandersetzung ist sie dabei sehr strukturlos. Wenn ich mal was auf den Punkt bringen will, versuche zu ordnen oder zu strukturieren, dringe ich meist nicht durch. […] Auch in der Freizeit, die wir miteinander verbringen, bin ich oft enttäuscht und genervt, wenn es keinen Zusammenhalt gibt. Keiner kann sich für etwas Gemeinsames entscheiden und alles zerstreut sich in kleine Grüppchen. […] Nach so einem Ausbildungswochenende bin ich manchmal völlig ›durch den Wind‹. Ich spüre da sehr viel Bedrohung durch Luft und Raum.«

Um in eine »sattva«-Position zu kommen, würde Uta sich wünschen, die Gruppe wäre insgesamt schneller, denn an den »sattva-Plätzen« würde sie sich eingeengt fühlen. Das bedeutet, um von der Gruppe »getragen« zu werden, sich im Schutz der Gruppe entfalten zu können, müsste die Gruppe schneller sein als sie selbst. Eine Möglichkeit für Uta wäre, ihre Schnelligkeit in der Geradeaus-Funktion, also ihren inneren Ansporn, zu bremsen, damit sie auf einem anderen Ausgangsniveau wieder beschleunigen kann, was für sie, als die Schnellste in der Gruppe, eine hohe Anforderung an ihre Regulationsfähigkeit bedeuten würde. Möglicherweise könnte sie so aber ihre Kräfte besser einsetzen. Auch aus der Perspektive der Gruppe gibt es Möglichkeiten der Veränderung, sofern die Gruppe stabil und unterstützend sein will. Einmal über die einzelnen Standorte und die »individuellen Realitäten« ausgetauscht, kann sich das Verhalten jeder Einzelnen ändern und somit ein neues Gruppenergebnis entstehen, falls dies die Regulationsfähigkeit der Einzelnen nicht überfordert. In weiterer Konsequenz kann die Anwendung dieses Konzepts sogar notwendig machen, das gesellschaftliche oder ökologische Umfeld in die Betrachtung einzubeziehen. Wie verarbeitet Uta die Ergebnisse für sich? »Die Arbeit mit den Marmas, mit der wachsenden Bewusstheit für die Gewebe, machte mir vieles auf der körperlichen Ebene klar. Das fühlt sich anders an, als wenn ich das intellektuell (miss-)verstanden hätte. Im Moment wird mir meine Bedrohung durch

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›Feueraspekte‹ wie verinnerlichter unbewusster Leistungsdruck und überbetonte Zielstrebigkeit besonders deutlich. […] Auf jeden Fall ist mir vieles in Bezug auf meine Befindlichkeiten klarer geworden.«

Die Bedeutung des Konzepts für die Gesundheitsbildung Uta hat seit ihrer Schulzeit oft mit Kreislaufsymptomen wie »Wetterfühligkeit«, außerdem mit nervösen Oberbauchbeschwerden zu tun. In den letzten Jahren kamen zu diesem Symptomkomplex Schwindelanfälle, Herzschmerzen und schließlich zeitweise auftretendes Herzrasen, häufige Schlafstörungen mit diffusen körperlichen Symptomen und Angstzuständen hinzu. Organische Befunde waren nie festzustellen. Die Diagnose ihrer Ärzte lautete »vegetative Dystonie« oder »funktionelle kardiovaskuläre Regulationsstörungen«. Wie wir gesehen haben, ist Uta äußerst sensibel gegenüber »Vata«-Qualitäten in der Sozietät, aber auch der nicht-sozialen Umwelt. Dies ist ihre körperliche Realität, die sich immer wieder zeigt. Die »medizinischen Etiketten«, die sie als Diagnose bekam, gaben ihr noch keine Hinweise darauf, auf welcher Ebene ihrer neuronalen, muskulären oder endokrinen Wechselwirkungen sie lernen müsste gegenzuregulieren. Eine Annäherung hieran ist möglich durch das Sich-­Einlassen auf den »Schmerz der Verunsicherung« – in Yoga-Übungen und in den alltäglichen Beziehungsnetzen –, um hier den eigenen Standpunkt immer wieder neu zu bestimmen und in der Rückkopplung mit der Sozietät zu überprüfen. Uta könnte eventuell in einer »Kapha«-Falle landen, wenn sie Autogenes Training als Therapie wählen würde, da dann ihre eigenen KaphaAnteile (schwer etc.) zu sehr verstärkt würden. Ebenso könnte sie sich beim Kreislauftraining überlasten, hätte sie nicht bereits eine Sensibilität für das Ungleichgewicht in der Belastung ihrer Sehnen-, Muskel- und Blutgefäß-Marmas entwickelt.

Yoga-Übungen als Test Yoga-Übungen dienen in diesem Konzept einerseits als Test der Synchronisationsfähigkeit zwischen den verschiedenen außer- und innerkörperlichen Rhythmen und Regulationsmechanismen und andererseits der Erfahrbarkeit von »Umschaltprozessen«. Diese Erfahrungen können und sollten in den Alltag integriert werden. Auf diese Weise ist der Betroffenen die Kompetenz für die eigenen Symptome selbst in die Hand gegeben. Dies steht im Gegensatz zu unserem

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herkömmlichen Arzt-Patient-Verhältnis, in dem der Arzt der Fachmann und die Patientin der Laie ist. Die im körperökologischen Ansatz erworbene Kompetenz wird im Sinne von Gesundheitsförderung im Idealfall bereits wirksam, bevor ein Symptomkomplex zu einer Krankheitsdiagnose wird und den Besuch des Arztes notwendig macht. In den Yoga-Stellungen (Āsanas) werden die Wahrnehmungen in den Marmas überprüft und die Selbstregulation wird eingeladen, sich im Sinne von Gesundheit einzustellen – in Abhängigkeit von Jahreszeit, Tageszeit, Lebenszeit und sozialem Umfeld. Dies vollzieht sich allerdings nur durch die »beseelte Übung«, was auch als »Hinwendung in meditativem Zwiegespräch« ausgedrückt werden kann. Dabei ist weniger »sprechen« gemeint, sondern eher »offen zugewandt« mit der »Bewusstheit für das, was ausgleicht«. Die gelungene Synchronisierung zeigt sich dabei durch die Merkmale in Kopf, Rumpf, Atmung, Armen, Beinen und Schleimhäuten – je nachdem, welche »Bedrohung« des Körpers durch die Yoga-Übung simuliert wird – und muss in jeder Situation des Übens überprüft werden. Sinnvolles Üben besteht also nicht im Auswählen von Übungen, denen eine bestimmte Wirkung nachgesagt wird, sondern ereignet sich durch das Überprüfen der Merkmale und die Anpassung daran. Genauso wenig wie dieses Ergebnis voraussagbar ist, trifft es zu, dass jede »Sympathikotonikerin« die gleichen Symptome zeigt oder jede »Vata/Pitta«-­Prakrti funktionelle Kreislaufstörungen ausbildet. Die Yoga-Unterrichtende bietet den Yoga-Übenden den Versuchsaufbau dieses »Experiments« an, außerdem die Möglichkeit des Austauschs, um die für sie relevanten Erfahrungen zu machen, und sorgt dafür, dass Lernen in der Gruppe möglich ist. Durch die Gruppe als Feedback-Mechanismus ist die Einzelne gezwungen, den eigenen Standort zu überprüfen. Jedoch bedingen sich die Gruppenmitglieder gegenseitig in ihrer Zuordnung. Durch diese Auswertungspraxis werden die unterschiedlichen Perspektiven zwischen jeder Teilnehmerin und der übrigen Gruppe deutlich. Die eigene Wahrnehmung wird relativiert, ohne ihre Wirklichkeit zu verlieren, und dadurch wird das Spannungsfeld zwischen individueller und sozialer Gesundheit wahrnehmbar. Soziale Gesundheit meint hier ein gesundheitsförderliches Umfeld für die Einzelne und gleichzeitig Gruppenzusammenhalt. Die Erkenntnisse daraus haben eine individuelle, soziale und ökologische Dimension. Die einmal erlangte Sensibilisierung der Einzelnen für dieses Beziehungsgefüge lässt sich auf jede Alltags- und jede Gruppensituation übertragen.

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Hatha-Yoga – Grundlagen

Die Rolle der Lehrperson Der präventive Effekt von Yoga ergibt sich nicht von selbst, sondern ist erheblich davon abhängig, auf welche Weise die Übungen angeleitet werden. Die Anleitende (Experimentatorin) muss sich in Kommunikation mit der Übenden begeben, um das Übungsangebot an das Testergebnis der unter ihrer Leitung Übenden anzupassen und zu einer Erweiterung des Erfahrungshorizontes zu animieren. Sie muss dafür die kommunikative Fähigkeit besitzen, sich in die Wirklichkeit und die assoziative Logik der Kommunikationspartnerin hineinzuversetzen. Hierzu gehören seitens der Anleitenden die Fähigkeit der Analyse wie auch Empathie und Einfühlungsvermögen, aber auch das Wissen um Wirkung und Gefahren von Yoga-Übungen. Erkenntnisse aus der Biopsycho­immunologie, Chronobiologie, den Neurowissenschaften und anderen Lebenswissenschaften geben immer wieder neue Möglichkeiten der Vermittlung von Lernfeldern in den Yoga-Übungen. Diese Streiflichter auf die moderne Forschung der Disziplinen der westlichen Wissenschaften machen Parallelen zwischen den verschiedenen Paradigmen plausibel. Dies sollte möglichst nicht dazu verleiten, das eine Wissenschaftssystem mit dem anderen zu erklären.

Fazit Das Individuum als Schnittpunkt zwischen innerkörperlichen Regulationsmechanismen und biologischer und sozialer Umwelt ist immer wieder neu herausgefordert, Experte für die eigene KörperÖkologie zu sein und dadurch im Sinne von Gesundheit und Stressprävention selbstbestimmt zu handeln. Durch die Sensibilisierung für die Vorgänge in den Körpergeweben und die Möglichkeit der Überprüfung der Stellgrößen der inneren Regulationsprozesse durch physiologisch richtiges Üben von Yoga-Āsanas wird die Möglichkeit eröffnet, die Selbstregulation zu stärken. Durch Betrachtung sowohl des individuellen Körpers als auch des Gruppenkörpers wird das Gruppengeschehen körperlich erlebbar und werden auch der Gruppe Hinweise auf mögliche Gegenregulation gegeben. Die Deutungshoheit liegt dabei beim übenden Individuum in seiner assoziativen Logik. Dieser Beitrag ist eine leicht geänderte Fassung des Artikels unter demselben Titel, veröffentlicht in der Zeitschrift »Der Mensch«, 51–52 1+2, S. 53–60, 2015.

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B. Wagner · KörperÖkologie und Hatha-Yoga

Literatur Lobo, R. (1985). Lehrmaterialen zum Integrierten Psychosomatischen Gesundheitstraining. München: Katholische Stiftungsfachhochschule. Lobo, R. (2001). Grundlagen des Āyurveda (2. Aufl.). München/Palmela: Institut für Gesundheitspädagogik/Editora Pantainos. Lobo, R. (2005). Yoga – Sensibilitätstraining für Erwachsene. Bd. 1. Palmela: Editora Pantainos. Lobo, R. (2005–2012). Sensibilitätstraining für Erwachsende. Bde. 1–3 (2. Aufl.). Palmela: Editora Pantainos. Schleip, R. (2014). Lehrbuch Faszien. München: Elsevier. Verma, V. (1992). Āyurveda – Der Weg des gesunden Lebens. München: O. W. Barth. Vester, F. (1988). Leitmotiv vernetztes Denken. Für einen besseren Umgang mit der Welt. München: Wilhelm Heyne. Winfree, A. T. (1988). Biologische Uhren. Zeitstrukturen des Lebendigen. Heidelberg: Spektrum der Wissenschaften.

Brigitte Wagner ist promovierte Diplom-Biologin, Ökologin, Gesundheitspädagogin (IPSG), Yoga-Lehrerin (BUGY) sowie Marma-Yoga -Lehrerin. Sie ist Vorstand im Yoga-Berufsverband BUGY . Kontakt: Wilhelm-Bendick-Str. 35, D-37130 Gleichen, Tel.: 05508-7299052.

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Hatha-Yoga – Empfinden und Handeln mit Haut und Haar Raimond Hintze

Neben die Krisen, Kriege und Katastrophen dieses Jahrtausends ist die Gewissheit gerückt, dass das Fortbestehen des Ökosystems in der für uns gewohnten und lebenswichtigen Weise bedroht ist. Der Mensch betreibt Raubbau an den Ressourcen der Welt und überzieht sie mit seinen Abfallprodukten. Er fördert ein massives Artensterben in Flora und Fauna und eine globale Klimaveränderung. Es lässt sich glaubwürdig nicht bestreiten, dass die Zeichen für die Zukunft schlecht stehen. Naturkatastrophen geschehen häufiger und wirken großflächiger. Es werden vermehrt Migrationsbewegungen und Kriege um Ressourcen und Lebensraum entstehen. Die wichtigen Fragen für die Menschheit betreffen nicht mehr nur einzelne Regionen, sondern sie sind von globalem Ausmaß. Warum sind diese Verunsicherungen in einem Text über Yoga und Āyurveda zu erwähnen? Wollen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Yoga-Kurs nicht gerade dieses Elend und diesen Schrecken vergessen und trotz allem genussvoll entspannen?

Sehen, was ist Yoga präsentiert sich in der westlichen Welt als eine Art Gymnastik. Sie dient der Verbesserung der Beweglichkeit und Geschicklichkeit sowie der Förderung von Entspannungsfähigkeit und Spiritualität. Āyurveda ist bekannt durch anspruchsvolle Wellnessmaßnahmen und heilsame Würz- und Kochtechniken. Das individuelle Wohlbefinden steht im Mittelpunkt und soll erhalten oder wieder verbessert werden. Zwei indische Fachleute sagen dazu: »Āyurveda ist ein wissenschaftlicher Weg, wie man gesund leben kann« (Nanal, 1980, S. 2), und »Āyurveda ist also die Wissenschaft, die das Leben in seiner Gesamtheit betrachtet. Sie beschäftigt sich deshalb mit den Einflüssen, die auf unser Leben einwirken und ihm nützen oder schaden – mit Ernährung oder Verhaltensweisen genauso wie mit Arzneimitteln« (Ranade, 1994, S. 13).

R. Hintze · Hatha-Yoga – Empfinden und Handeln mit Haut und Haar

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Jeder Mensch kann nur für sich ermessen, was zu leben für ihn bedeutet und wie sich die äußeren Einflüsse für ihn auswirken. Rocque Lobo spricht im Nachwort zu Gandhis Buch »Wegweiser zur Gesundheit« von einem »radikalen körperökologischen Ansatz« (Gandhi, 1992, S. 196). Auf dem Weg zur Gesundheit ist Gandhis Blick nicht allein auf den menschlichen Körper fixiert, sondern er bezieht die soziale, biologische und ökologische Wirklichkeit mit ein. Die britische Kolonialzeit hatte die Bevölkerung entmündigt und in eine lethargische Haltung gestürzt. Die traditionelle Heilkunst Āyurveda war ohne Bedeutung und die Lebensbedingungen waren in einem beklagenswerten Zustand. Gandhis Buch sollte ein Aufruf dazu sein, das eigene Leben wieder verantwortlich zu führen und sich dazu einen eigenen Spielraum zu erkämpfen. In der heutigen Zeit nennen wir das Selbstermächtigung und Selbstregulation. Der āyurvedische Arzt lehrt uns, für die Körperökologie sensibel zu werden. Nach Lobo ist »der Vaidya ein Arzt, der zum Sehen verhilft«. Denn »das erste Leiden ist Avidyā oder ›Nichtsehen-können‹ (Nicht-Wissen)« (Lobo, 1990, S. 59), und es ist eine der fünf schmerzvollen Schwankungen, die Patañjali in seinen Yoga-Sūtras beschreibt und die wir Yoga-Übenden versuchen, in unserem Üben aufzulösen. Für das Sehen der eigenen Kompetenzen und Fähigkeiten, für das Durchschauen der eigenen Verstrickungen und Fallen sowie der Finten und Täuschungen der anderen benötigen wir weniger einen Heiler oder Guru als eine Pädagogin und Begleiterin. Unter deren Anleitung gilt es, in der Übungspraxis die Sinne zu schärfen für das Leben schlechthin. Stellen wir uns eine Feier vor. Im einen Fall könnte zur besten Unterhaltung ein talentierter Conférencier durch eine perfekt choreografierte Show geleiten. Er wüsste genau, wie gewünschte Emotionen im Publikum zu erzeugen sind. Im anderen Fall wäre nur ein grober Rahmen vorgegeben und eine Moderatorin würde durch ein offenes Raster führen, das den Gästen Raum für ihre eigene Entfaltung bieten würde. Momente der Kommunikation und des Miteinanders, des Gebens und Nehmens könnten sich entwickeln. Jede Person ist mitverantwortlich dafür, dass das Fest mit Leben erfüllt wird. Nur in dieser Form ist der Unterricht von Yoga wirklich eine Gesundheitsmaßnahme, die ihrem Namen gerecht wird. Hatha-Yoga ist dann pro Gesundheit, wenn es ein pädagogisch unterstütztes Fördern von Selbstermächtigung und Kompetenz ist.

Sāmkhya Die Sāmkhya-Philosophie, eine der Grundsäulen des Āyurveda und Yoga, beschreibt genau, wie wir die Verknüpfung mit der Welt in unserem Körper erfahren können. Dazu dienen die zehn Felder der Wahrnehmung und Handlung.

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Hatha-Yoga – Grundlagen

Gehör-, Geruchs-, Gesichts-, Geschmackssinn und die somatoviszerale Sensibilität bilden die fünf Wahrnehmungsfelder oder Eingangstore für die Außenwelt. Hände, Füße, Geschlecht, After und Mund bilden die fünf nach außen wirkenden Handlungsfelder. Die Begriffe »Wahrnehmungs- und Handlungsfelder« verdeutlichen die Bandbreite eines lebendigen Austauschs zwischen dem Körper und dem umgebenden Netzwerk. Es ist jeweils der gesamte Körper, der entweder hört, schaut, berührt, schmeckt oder riecht. Empfindungen stellen sich im Kontakt mit den Grundbausteinen des Lebens (Feuer, Wasser, Erde, Luft und Äther) ein und beschreiben die Qualität der Kommunikation zwischen der Innen- und Außenwelt. Das Element Wasser kann eine tragende, eine kühlende oder fließende Qualität haben und vermitteln. Unter dem Einfluss von Wasser kann eine Handlung oder eine Wahrnehmung leicht und flüssig erscheinen. Wasser kann die Schleimhäute feucht benetzen und auf diese Weise das Atmen, Riechen und Schmecken intensivieren. Wir kennen Beschreibungen derartiger Empfindungen aus unserem Alltagserleben. Der Duft einer Speise oder eine angenehm reizende soziale Umgebung lassen den Mund wässrig werden. In einer verunsichernden Prüfungssituation wird der Mund trocken und das Reden wird erschwert. Das Empfinden erfolgt vor dem kognitiven Wahrnehmungsprozess, in welchem sich ein Subjekt konstituiert. Ein Reiz, von den Sinneszellen der Augen, der Ohren, der Haut, der Muskulatur oder der Gelenke kommend, lässt eine Empfindung bereits im Grenzbereich zur Wortbildung entstehen. Es ist der Schauer von Kälte, der einem den Rücken herunterläuft, bevor das Wort »Kälte« sich im Geist herauskristallisiert. Es bleibt später zu ergründen, ob uns kalte Winterluft umwehte oder die Kälte der sozialen Landschaft frösteln hat lassen. Die Grenze zwischen Innen- und Außenwelt, zwischen Subjekt und Objekt, verwischt, wenn akustische Schwingungen der Luft erst in den Tiefen des Innenohres, Geschmack und Geruch erst im Inneren des Mund- und Nasenraumes in elektrische Impulse umgewandelt werden. Auch in die andere Richtung wird die Grenze des Körpers unschärfer, wenn ein Baggerfahrer geschickt die gewissermaßen inkorporierte Baggerschaufel bewegt oder ein Drohnenpilot einen Feind in einer Entfernung von vielen tausend Kilometer beobachten und töten kann. In einer Yoga-Āsana testen wir den Prozess des Austauschs im ökologischen Netzwerk. Auf diese Weise stellen wir uns der Frage nach unserem Sein. »Das philosophische Experiment der Yogis besteht darin, die Erfahrung der Gleichzeitigkeit des Erlebens der Außen- und der Innenwelt unter der Ausschaltung der Dominanz der Einen oder der Anderen zu testen« (Lobo, 2005, S. 126).

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Im Moment der Gleichzeitigkeit streben wir die Empfindungen von Sattheit, Genährtheit, Schmerzlosigkeit und Schutz im sozialen Raum an. Wir können sie erleben, wenn die Felder der Wahrnehmung und der Handlung zur Ruhe kommen. Während einer Yoga-Standhaltung würden sich die Gefühle von Ruhe, Stabilität, Gleichgewicht und elastischer Ausdauer einstellen. Wir könnten diese Āsana lange Zeit genießen, ohne dass sich eine Form von Ermüdung einstellen würde.

Der phänomenologische Blick In Bezug auf die Felder der Wahrnehmung Geschmack und Geruch schreibt die Philosophin Corine Pelluchon inspiriert von Emmanuel Levinas: »Der Genuss bringt auch eine Form von Übereinstimmung oder Harmonie zwischen mir und der Welt zum Ausdruck, es erscheint leicht, glücklich zu sein, das Glück, ob wir es anerkennen oder es vergessen haben, scheint diese Leichtigkeit zu sein, dieses Einverständnis mit den Dingen, die uns nähren«. Und »die Welt ist Nahrung, und dass ich mich nähre, bezeugt einen ursprünglichen Bezug zu den Dingen und eine Genussbeziehung, in der ich nicht esse, um zu leben, sondern in der Essen Leben ist. So strebe ich nach dem, was ich zum Leben brauche, und weil das mein Leben erfüllt und mich befriedigt, nähre ich mich sogleich von diesen Tätigkeiten, die mich leben lassen. Das Glück beschreibt diese Unabhängigkeit in der Abhängigkeit, die sich in eine Souveränität des Ichs verwandelt, weil dieses an den Dingen Gefallen hat, die es leben lassen« (Pelluchon, 2020, S. 37).

Nach der Phänomenologie von Levinas ist das Sich-Nähren, das Verinnerlichen von Nahrung kein Prozess, der Leben ermöglicht, sondern er ist das Leben selbst. Āyurveda beschreibt den Zugang zum Gut-Leben, zum Ganz-im-Körper-Sein. Wenn Pelluchon von einem Streben spricht, dann ist es das Streben der Handlungsfelder. Wenn sie von einem Nähren spricht, dann ist es das Nähren der Wahrnehmungsfelder im Āyurveda. Ihre Phänomenologie schließt eine Verantwortlichkeit für das eigene Handeln ein. Einen Respekt vor dem, was uns leben lässt. Im Yoga gilt es, das Herz in die Handlungsprozesse mit einzubeziehen. Als Kontrollinstanz ist es über den Blutkreislauf und das Nervensystem mit den Feldern verknüpft. In einer Āsana prüfen wir, ob das Herz durch unsere Art zu handeln unter Spannung gerät. Wir können unser Sein an der Grenze zwischen Gehen und Bleiben, zwischen Wollen und Lassen in den Standübungen testen und in den Atemübungen zwischen Genuss und Gier, zwischen Freiheit und Rückzug. Bezogen auf die aktuellen Krisen der Menschheit könnte das Einnehmen einer

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Hatha-Yoga – Grundlagen

isometrischen Āsana einen Anlass zum Innehalten, zum Reflektieren des eigenen Handelns und Standpunktes in Relation zum Leben bieten. Gandhi schrieb 1925: »Wer auch Sinn und Gefühl hat für die moralische und soziale Seite der Frage, sei daran erinnert, dass Tee, Kaffee und Kakao gewöhnlich von Arbeitern angebaut werden, die unter Kontrakt arbeiten, was nur eine andere Bezeichnung für Sklaverei ist. Sähen wir mit eigenen Augen die schändliche Behandlung, die den Arbeitern auf den Kakaoplantagen zuteil wird, so würden wir für immer auf den Genuss des Kakaos verzichten. Überhaupt: wenn wir uns darum bekümmerten, wie unsre Nahrungsmittel hergestellt werden, würden wir auf neunzig Prozent davon verzichten« (Gandhi, 1992, S. 55).

Unsere Bildung und unsere Informiertheit lassen uns heute vieles wissen, wenn wir es denn sehen wollen. Vielleicht fehlt uns die Sensibilität oder der Mut, um die Wirkung dieses Wissens auf unsere Körper, auf unsere Herzen zu erkennen. Für Pelluchon ist der Akt des Essens ein entscheidender Aspekt des Lebens. Nach der Sāmkhya-Philosopie sind alle Felder der Empfindung und der Handlung Aspekte, an denen das Leben aufleuchtet. Anhand der individuell verschiedenen Lebenskonzepte (Prakriti) gestaltet sich das individuelle Ich und sein Handeln in der Welt. Akzeptiert man dieses Denken, dann drängen sich essentielle Fragen auf. Wenn Essen zu leben bedeutet, welche Gestaltungsinstanz hat dann das Fleisch aus Großschlachtereien, das in den bundesdeutschen Durchschnittsmengen täglich von den Bürgern gegessen wird? Was macht es mit unserem Leben, wenn Arbeiter in Schlachtereien unter den allseits bekannten, elendigen Zuständen arbeiten müssen und wenn Nutztierzüchter das Nutz-Leben unter den entsprechenden Bedingungen und zu niedrigsten Abnahmepreisen in ihren Ställen produzieren müssen? Soziale Verhaltensmuster und innere Haltungen haben einen deutlichen Einfluss auf unseren Stoffwechsel. Der Hirnforscher, Internist und Diabetologe Achim Peters schreibt dazu: »Hinter dieser Situation des gemeinsamen Essens und Teilens steht ein komplexer Lernvorgang, bei dem die Nahrungsaufnahme mit sozialen Verhaltensmustern verknüpft wird. Die Entscheidung, Nahrung mit einem oder mehreren Menschen zu teilen, wird in den höheren Hirnregionen getroffen. Dabei spielen der Präfrontale Kortex und die Amygdala erneut eine wesentliche Rolle. Wenn man selbst hungrig ist und auf Essen verzichtet, um jemand anderen an der Mahlzeit teilhaben zu lassen, erfordert dies die Aktivierung des Brain-Pulls1, damit die Hirnversorgung gesichert bleibt« (Peters u. Junge, 2013, S. 275). 1

Die Kraft, mit der das Gehirn Glukose aus dem Körper einfordert.

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Er wünscht sich eine metabolische Erziehung für Kinder und Jugendliche, um sie für diese Zusammenhänge sensibel zu machen. An anderer Stelle schreibt er: »Im Wesentlichen geht es darum, im Einklang mit sich und den Signalen aus dem Körper zu leben (also auch zu essen) und dabei möglichst alles auszuschalten, was diesen Einklang stört« (Peters u. Junge, 2013, S. 272).

Mit den Atemübungen des Yoga (Prāṇāyāma) im morgendlichen Zustand des Fastens haben wir eine ausgefeilte Technik zur Hand. Mit ihr können wir im Sinne Peters’ metabolischer Erziehung unsere Art der Nahrungsaufnahme und des Lebens reflektieren. Aus āyurvedischer Sicht beschreibt Metabolismus die Art, wie wir über die fünf Elemente die Welt in uns abbilden. Die Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing beschreibt mit anschaulichen Worten das mögliche Empfinden, wenn wir uns im Prāṇāyāma ganz auf das Ein- und Ausströmen der Luft, auf den feinen Geruch und Geschmack in Nase und Mundraum konzentrieren. Sie schreibt: »Geruch ist schwer definierbar. Seine Wirkungen überraschen uns. Wir wissen nicht genau, wie wir Geruch in Worte fassen sollen, selbst wenn unsere Reaktionen stark und eindeutig sind. Die Menschen riechen und atmen mit demselben Atemzug. Geruch scheint fast so schwierig zu beschreiben wie Luft. Im Unterschied zu dieser ist der Geruch jedoch auch Zeichen für die Anwesenheit eines Anderen, auf die wir bereits reagieren. Wenn wir reagieren, führt uns das immer auch zu etwas Neuem; wir sind nicht mehr ganz wir selbst – oder nicht mehr jenes Selbst, das wir gerade noch waren, sondern jenes, das sich in einer Begegnung mit dem Anderen befindet. Begegnungen nehmen von Natur aus einen ungewissen Ausgang; wir werden auf unvorhersehbare Weise verwandelt« (Lowenhaupt Tsing, 2018, S. 68).

Yoga zu üben bedeutet die Begegnung mit dem anderen zu suchen. Mit einer Āsana nehmen wir eine Haltung in und zur physischen und sozialen Umwelt ein. Wir werden sensibel für das Belebte und Unbelebte und legen Rechenschaft ab über unsere Reflexe und unser Handeln in dieser Welt.

Die ökologische Verunsicherung In der vorchristlichen Zeit wirkte neben dem sozialen Umfeld die Biosphäre mit ihren unerklärlichen Erscheinungen, die man religiös zu erklären versuchte, auf das Leben der Menschen. Verunsicherungen, Krisen und Bedrohungen for-

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Hatha-Yoga – Grundlagen

derten den innerkörperlichen Zusammenhalt (Āyus) des einzelnen Menschen und der Gesellschaft heraus. »Der Zusammenhalt in der menschlichen Gesellschaft hat seine Entsprechung im menschlichen Körper. Das Auseinanderfallen der menschlichen Gemeinschaft äußert sich in einem Auseinanderfallen des menschlichen Körpers in krankhafte Zustände, die von langer Hand vorbereitet sind« (Lobo, 1987, S. 23).

Yoga und Āyurveda wurden damals für die Pflege des Zusammenhalts entwickelt. Die aktuelle Bedrohung des Zusammenhalts besitzt eine neue Dimension. Die Wissenschaft belegt, dass unsere Existenz auf diesem Planeten nicht mehr wie selbstverständlich gesichert ist. Es ist nicht mehr die mythische und unbändige Natur, die uns in Schrecken versetzen sollte, auch wenn sie mit Dürren, Bränden und Überschwemmungen Regionen der Welt verwüstet. Wir verstellen, aufgerüstet mit einem gewaltigen technologischen Machtpotential und einer großartigen Effizienz, direkt oder indirekt die gewohnten und für uns lebenswichtigen Parameter der Biosphäre (im Āyurveda Śarira genannt) – und das von langer Hand. In den Gesellschaften droht eine lebensbejahende Atmosphäre (Sattva) durch Demagogie und Popularismus in Richtung emotionaler und körperlicher Zerrissenheit (Rajas) oder in einen Mangel an Lebens- und Zukunftsperspektive (Tamas) abzugleiten. Eine Beschäftigung mit Yoga und Āyurveda allein aus dem Antrieb heraus, die eigene Gesundheit zu verbessern, verkennt die Abhängigkeit von der Gesundheit der umgebenden Lebenswelt. Wie können wir in einer erodierten Umwelt und umgeben von prekären Lebens- und Zukunftsbedingungen von Gesundheit sprechen? Wollen wir Yoga nur nutzen, um besser wegschauen und das gewohnte Leben weiterführen zu können? Neurowissenschaftlich betrachtet, eröffnet Yoga uns über den präfrontalen Kortex einen nüchternen und kühlen Zugang zu unserer Amygdala, zu unseren Emotionen. Es gibt uns die Möglichkeit, unsere Lebensstrategien unter Stressbedingungen, in einer Verunsicherung zu testen und zu modulieren. Das ist hilfreich, denn »Stress kann ein Störfaktor für Kognition, Impulskontrolle, emotionale Regulierung, Entscheidungsfindung, Empathie und Prosozialität sein« (Sapolsky, 2018, S. 178).

Yoga lehrt uns genau zu prüfen, welchen Reizen mit welchen Intensitäten wir uns aussetzen wollen. Der Primatologe und Neurowissenschaftler Robert Sapolsky schreibt zu den Reizen, die unseren Geschmack und unseren Geruch bombardieren:

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»Jetzt stehen uns Hunderte sorgfältig auf den Verbrauchergeschmack zugeschnittene Lebensmittel zu Verfügung und verschaffen uns eine Überfülle von Geschmackserlebnissen, an die ein paar natürliche Lebensmittel nicht heranreichen können. Früher hatten die Menschen trotz aller Entbehrungen etliche bescheidene, mühsam erkämpfte Lusterlebnisse. Heute haben wir Drogen, die Lustexzesse und Dopamin­ eruptionen erzeugen, die tausendmal intensiver sind als alles, was wir in der alten drogenfreien Welt erleben konnten« (Sapolsky, 2018, S. 94).

Er schließt auf bedrückende Weise den Bogen zu dem menschlichen Raubbau an der Biosphäre: »Die andere Folge ist, dass wir uns schließlich an diese künstlichen Intensitätsexplosionen gewöhnen. Hätten uns Ingenieure konstruiert, würden wir umso weniger verlangen, je mehr wir konsumieren. Doch die Tragödie des Menschen liegt häufig darin, dass sein Hunger immer größer wird« (Sapolsky, 2018, S. 95). Und weiter: »Wenn wir wissen, dass unser Verlangen befriedigt werden wird, gilt die Lust mehr dem Verlangen als dessen Befriedigung« (S. 96).

Ausblick Wir können versuchen uns zu besinnen, diesen Mechanismen auf die Schliche zu kommen und uns der Zwänge und Manipulationen zu entledigen. Satt zu werden, ist nicht mehr nur eine ökonomische Frage. Es stellt sich auch die Frage, ob ein Nahrungsmittel es wert ist, gegessen zu werden, in den Prozess unseres Lebens eingeschlossen zu werden. Die Frage nach dem Sinn unseres Lebens, die wir uns beim Üben von Yoga stellen, an dem Ort von Sein und Nicht-Sein, lässt uns tief in ein Empfinden für das Leben eintauchen und unser Handeln oder Nicht-Handeln reflektieren. So können wir die Gefühle von Verantwortlichkeit und Respekt gegenüber der eigenen Gesundheit und der Gesundheit der belebten und unbelebten Biosphäre stärken. Dabei unterstützt uns ein Vaidya, der Arzt, der zum Sehen verhilft, oder eine geübte Yoga-Lehrerin im Sinne von Hatha-Yoga pro Gesundheit. Dann kultivieren wir eine wahre Freude an dem Leben, das uns durchdringt und das wir sind.

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Hatha-Yoga – Grundlagen

Literatur Gandhi, M. (1992). Wegweiser zur Gesundheit. Die Kraft des Ayurveda. München: Eugen Diederichs. Lobo, R. (1987). Āyurveda. Besser leben im Rhythmus der Zeit. Zürich: M & T. Lobo, R. (1990). Traum und Karma im Āyurveda. Philosophie und Praxis. München: Eugen Diederichs. Lobo, R. (2005). Yoga – Sensibilitätstraining für Erwachsene. Bd. 1. Palmela: Editora Pantainos. Lowenhaupt Tsing, A. (2018). Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus. Berlin: Matthes & Seitz. Nanal, B. P. (1980). Grundlagen des Āyurveda. München: Förderverein für Yoga und Āyurveda. Pelluchon, C. (2020). Wovon wir leben. Eine Philosophie der Ernährung und der Umwelt. Darmstadt: Wissenschaftliche Verlagsbuchgesellschaft. Peters, A., Junge, S. (2013). Das egoistische Gehirn. Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft. Berlin: Ullstein. Ranade, S. (1994). Āyurveda – Wesen und Methodik. Heidelberg: Karl F. Haug. Sapolsky, R. (2018). Gewalt und Mitgefühl. Die Biologie des menschlichen Verhaltens. München: Hanser.

Raimond Hintze (*1960) praktiziert Hatha-Yoga bereits seit seiner Jugend. Er arbeitete als Ingenieur im technischen Bereich, bevor er sich zur Physiotherapie umorientierte. Fortbildungen zum Pädagogen für Hatha-Yoga als Integriertes Psychosomatisches Gesundheitstraining (IPSG) und shake-spear-Aktivierungstraining schlossen sich an. Als Physiotherapeut und Yoga-Lehrer praktiziert er in eigener Praxis. Kontakt: [email protected], www.physioaktiv-bergedorf.de

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Salutogenese – Grundlagen

Gesundheitsbildung als sozialer Prozess: Das Konzept der Salutogenese Ottomar Bahrs

Lange Zeit wurde Gesundheit nicht explizit definiert. Sie wurde erst dann zum Thema, wenn sie nicht mehr selbstverständlich verfügbar war und sich die Organe gewissermaßen zu Wort meldeten. Gesundheit erschien so als »Schweigen der Organe« (Canguilhem, 2013). Mit seinem Konzept der Salutogenese hat Aaron Antonovsky aufgezeigt, dass neben Krankheit auch Gesundheit entsteht und es, obschon beides aufeinander verweist, je unabhängige Entwicklungspfade gibt (Antonovsky, 1979; 1997). Antonovskys Konzept ist auf großes Interesse gestoßen, sodass in rascher Folge mehrere Handbücher und Sammelbände (Lamprecht u. Johnen, 1994; Schüffel et al., 1998; Wydler, Kolip u. Abel, 2002; Jork u. Peseschkian, 2003) zu diesem Thema erschienen und die BZgA ein Gutachten in Auftrag gab, das Aussagekraft und Reichweite des Konzepts im Hinblick auf Gesundheitsförderung und Prävention beurteilen sollte (Bengel, Strittmatter u. Willmann, 1998). War das Modell der Salutogenese tatsächlich geeignet, einen Paradigmenwechsel von einer pathogenetischen zu einer ressourcenbezogenen Orientierung zu fundieren? Das Thema ist unverändert aktuell, aus der Frage nach der Eignung aber eine vorsichtig bejahende Antwort geworden (Nowak, 2019; Österreichische Plattform Gesundheitskompetenz, 2019), und der Anwendungsbereich einer salutogenetischen Orientierung wird zunehmend ausdifferenziert.

Der Ausgangspunkt: Die Entdeckung eines Wunders Das Salutogenese-Konzept geht auf den amerikanisch-israelischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky zurück. Er hatte in den 1960er Jahren eine Studie mit Frauen in der Menopause unter der Annahme durchgeführt, dass belastende Lebenserfahrungen die Anpassung an das Klimakterium erschwerten. Diese These ließ sich grundsätzlich auch statistisch belegen, und damit hätte sich Antonovsky als Forscher zufriedengeben können. Unter den Befragten aber befand sich auch eine Reihe von Überlebenden von Konzentrationslagern – und bei näherer Betrachtung stellte Antonovsky fest, dass 29 % dieser Frauen den Be-

O. Bahrs · Gesundheitsbildung als sozialer Prozess: Das Konzept der Salutogenese

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fragungsdaten zufolge physisch und psychisch gesund waren (Antonovsky, 1997, S. 15 ff.). Wie war das möglich? Was war das Geheimnis dieser Frauen, die trotz hochbelastender Erfahrungen über derartiges Bewältigungspotential verfügten?

Der positiv abweichende Fall als systematischer Ausgangspunkt Damit verschob sich die Aufmerksamkeit. Neben der Frage danach, welche Belastungen und Risiken mit größerer Wahrscheinlichkeit (gesundheitliche) Krisen nach sich ziehen, galt es zu eruieren, was positive Verläufe begünstigt und gesund erhalten kann. In biografischen Interviews suchten Antonovsky und seine Mitarbeiter nach Schlüsseln für die erstaunlichen Ressourcen in der Überzeugung, dass die »positive Devianz« auf Potentiale hinweisen könnte, die grundsätzlich auch anderen Menschen zur Verfügung stehen – ein Denkansatz, der für eine gesundheitsförderliche Praxis bedeutsam ist (Mittelmark, Bull u. Bouwman, 2017a).

Das Kohärenzgefühl Es dauerte mehrere Jahre, bis sich für Antonovsky die erhobenen umfangreichen und komplexen Informationen zu einem Muster fügten. Grundlegend sei für die Befragten ein tiefes Gefühl des Vertrauens in die Gestaltbarkeit ihrer Welt gewesen, für das er den Begriff des Sense of Coherence (SOC, Kohärenzgefühl oder auch Sinn für Kohärenz) erfand (Antonovsky, 1979; 1997). »Das SOC (Kohärenzgefühl) ist eine globale Orientierung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß man ein durchdringendes, andauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, dass 1. die Stimuli, die sich im Verlauf des Lebens aus der inneren und äußeren Umgebung ergeben, strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind; 2. einem die Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Anforderungen, die diese Stimuli stellen, zu begegnen; 3. diese Anforderungen Herausforderungen sind, die Anstrengung und Engagement lohnen« (Antonovsky, 1997, S. 36).

Das Kohärenzgefühl beschreibt demnach eine grundlegende zugewandte Einstellung zur Welt und fungiert als Filter für Wahrnehmung, Bewertung und Handlungssteuerung. Sie lässt sich in drei Dimensionen beschreiben, die als

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Salutogenese – Grundlagen

Verstehbarkeit (comprehensibility), Handhabbarkeit (manageability) und Bedeutsamkeit/Sinnhaftigkeit (meaningfulness) bezeichnet werden. Die drei Dimensionen verweisen wechselseitig aufeinander.1 Die kognitive Komponente der Verstehbarkeit erlaubt es, die vielfältigen Informationen zu bündeln und eine als chaotisch erscheinende Welt innerlich zu ordnen. Daraus lassen sich Handlungsanforderungen und Handlungsimpulse ableiten, und die Dimension der Handhabbarkeit bezieht sich auf das Ausmaß, in dem eine gelingende Umsetzung erwartet wird. Handhabbarkeit resultiert sowohl aus dem Betreffenden selbst zur Verfügung stehenden Bewältigungsressourcen wie auch aus der Möglichkeit, bei Bedarf auf kompetente Unterstützung zurückgreifen zu können. Die motivationale Komponente der Bedeutsamkeit ist nach Antonovsky die wichtigste und bezieht sich darauf, dass zentrale Aspekte des eigenen Lebens als sinnvoll und als Quelle von Zufriedenheit empfunden werden. Besonders relevant sind dabei »die eigenen Gefühle, die unmittelbaren interpersonellen Beziehungen, die wichtigste eigene Tätigkeit sowie existentielle Fragen (wie Tod, unvermeidbares Scheitern, persönliche Fehler, Konflikte und Isolation)« (Antonovsky, 1997, S. 39).

Das Kohärenzgefühl ist im Verständnis von Antonovsky keine Persönlichkeitseigenschaft, sondern eine »dispositionale Orientierung« (Antonovsky, 1997, S. 164), die sich lebenslang in der Auseinandersetzung eines jeden Menschen mit seiner Umwelt ausbildet (Lindström u. Eriksson, 2019), im Großen und Ganzen aber stabil bleibt. So lässt sich das Kohärenzgefühl als Sedimentierung von Lernerfahrungen begreifen, die für jeden Menschen spezifisch sind. Je ausgeprägter das Kohärenzgefühl, umso größer sind die Potentiale für eine aktive und erfolgreiche Bewältigung von Herausforderungen.

1 Obgleich die genannten Dimensionen Abschattungen des Kohärenzgefühls darstellen, hat sich in der Rezeption die verkürzende Rede von Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit durchgesetzt. Damit wird meines  Erachtens einem objektivistischen Missverständnis Vorschub geleistet. Antonovsky ging es jedoch um die subjektive Weltsicht der Befragten, unabhängig davon, wie deren Triftigkeit aus der Sicht anderer beurteilt werden mag. Diese Unterscheidung ist für eine auf Gesundheitsförderung zielende Praxis von elementarer Bedeutung. Information und Aufklärung stärken das Gefühl von Verstehbarkeit nicht, wenn sie nicht in die jeweilige subjektive Theorie des Adressaten integriert werden können – eher im Gegenteil, weil sie dann Gefahr laufen, ein Gefühl des Ausgeschlossenseins von Entscheidungsprozessen zu triggern.

O. Bahrs · Gesundheitsbildung als sozialer Prozess: Das Konzept der Salutogenese

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Wie bildet sich das Kohärenzgefühl? Leben kann nach Antonovsky als kontinuierliche Auseinandersetzung mit der Um- und Mitwelt verstanden werden. Er spricht metaphorisch vom Strom des Lebens, der friedlich vor sich hin fließen, aber auch zum reißenden Strom werden kann, in dem es Klippen zu umschiffen und Hindernisse aus dem Weg zu räumen gilt. Wir alle befinden uns inmitten dieses Stromes. »Niemand geht sicher am Ufer entlang« (Antonovsky, 1997, S. 92). Um die Herausforderungen erfolgreich bewältigen zu können und, um im Bild zu bleiben, zum guten Schwimmer zu werden, gilt es, die Situationen und die verfügbaren Ressourcen adäquat einzuschätzen und flexibel zu reagieren. Dabei greifen wir auf innere und äußere Ressourcen wie z. B. verfügbare soziale Unterstützung, Bildung, Finanzen, Ich-Identität, körperliche Ausstattung usw. zurück, und es braucht unsere Kompetenz und Bereitschaft, diese zu nutzen (Antonovsky, 1997, S. 16; Idan, Eriksson u. Al-Yagon, 2017). In der Regel können diese in unterschiedlichen Situationen hilfreich sein, sodass sie als generalisierte Widerstandsressourcen bezeichnet werden.2 Gelegentlich kann weitere Unterstützung notwendig werden – im metaphorischen Sinne Schwimmwesten oder auch Rettungskräfte –, die als spezifische Widerstandsressourcen eine begrenzte Reichweite haben und gezielt ausdifferenziert bzw. in Anspruch genommen werden (Mittelmark, Bull, Daniel u. Urke, 2017b). Die Erfahrung der Bewältigung von Herausforderungen wird von einem Gefühl von Stimmigkeit begleitet und mentalisiert, sodass sich das Kohärenzgefühl als beständig aktualisierte Repräsentanz von Gelingenserfahrungen verstehen lässt. Antonovsky nennt als förderliche Rahmenbedingungen: »Konsistente Erfahrungen schaffen die Basis für die Verstehbarkeitskomponente, eine gute Belastungsbalance diejenige für die Handhabbarkeitskomponente und, weniger eindeutig, die Partizipation an der Gestaltung des Handlungsergebnisses diejenige für die Bedeutsamkeitskomponente« (Antonovsky, 1997, S. 93; Hervorhebungen durch O. B.).

Für das Gefühl von Bedeutsamkeit ist neben den Partizipationschancen auch die Erfahrung von Zugehörigkeit und verlässlichen Beziehungen insbesondere in der Primärgruppe von besonderem Gewicht. Insgesamt gründet das Kohärenzgefühl damit auf der Erfahrung regelhafter und verlässlicher sozialer Beziehungen als 2 Wenn die entsprechenden Ressourcen nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen, spricht Antonovsky von (generalisierten bzw. spezifischen) Widerstandsdefiziten.

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Bestandteil einer sozialen Praxis, in der sich ein jeder von Geburt an vorfindet und zu der ein jeder seinerseits seinen Beitrag leistet. Ob der Strom des Lebens in einer gegebenen Situation als Gefahr oder als stimulierende Herausforderung begriffen oder auch missachtet wird, ist Resultat und Ausdruck eines je individuellen Bewertungsprozesses, der vor dem Hintergrund der aktuellen Ausprägung des Kohärenzgefühls erfolgt. Antonovsky postuliert, dass Menschen mit einem ausgeprägten Kohärenzgefühl besonders flexibel und umsichtig bei der Wahl ihrer Ressourcen sind und daher mit größerer Wahrscheinlichkeit eine krisenhafte Situation bewältigen können (Antonovsky, 1997, S. 130). Positive Bewältigungserfahrungen führen wiederum zur weiteren Stärkung des SOC, während ein Scheitern tendenziell zu einer Schwächung führt und weiteres Scheitern wahrscheinlicher macht.

Entwicklung des Kohärenzgefühls im Verlauf des Lebens Mit Antonovsky kann das Leben insgesamt als Lernprozess verstanden werden, in dem sich auch das Kohärenzgefühl ausformt. Der Strom des Lebens fließt gerichtet, aber mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Zeiten der Veränderung wirken beschleunigend, Lebensphasen also, in denen erwartbare Übergänge mit Rollenwechseln und neuen Anforderungsprofilen einhergehen (Eintritt in den Kindergarten, Einschulung, erste Liebesbeziehungen, Übergang in Beruf/Studium, Familiengründung, Berentung u. Ä.), oder auch kritische Lebensereignisse, die ebenfalls eine Neuordnung des Alltagslebens verlangen (Tod naher Angehöriger, Erkrankung, Trennungen, Arbeitslosigkeit, wirtschaftlicher Ruin usw.). Antonovsky hat darauf aufmerksam gemacht, dass sich die für die Entwicklung des Kohärenzgefühls relevanten Erfahrungsbereiche im Verlauf des Lebens verschieben. Im (frühen) Kindesalter ist die familiale Interaktion bestimmend, in der Adoleszenz erlangt die Gleichaltrigengruppen zunehmend an Bedeutung, während im Erwachsenenalter die Arbeitswelt maßgeblichen Einfluss hat (Antonovsky, 1997, S. 95 ff.). Die Zusammenhänge sind mittlerweile auch für weitere Altersphasen beschrieben (Mittelmark et al., 2017c; Mittelmark et al., im Druck). Die anfängliche These, dass die Entwicklung des Kohärenzgefühls im Großen und Ganzen mit Erreichen des Erwachsenenalters und der erwartbar dauerhaften Rollenübernahme in Beruf und eigener Familie abgeschlossen sei und größere Schwankungen danach nur noch in Phasen entscheidender Lebensveränderungen zu erwarten seien (Antonovsky, 1997, S. 114 ff.), ist etwas modifiziert

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worden. So zeigte es sich, dass die Stärke des Kohärenzgefühls bis ins hohe Alter tendenziell zunimmt (Lindström, 2019), ein Befund, der mit der Dynamisierung der Lebensverhältnisse in Verbindung gebracht werden kann, die mit der Notwendigkeit lebenslangen Lernens einhergeht.

Kohärenzgefühl und Gesundheit Wie oben beschrieben, war Antonovsky auf der Suche nach der Erklärung dafür, dass Menschen trotz (mutmaßlich) traumatisierender Erfahrungen vergleichsweise »gesund« geblieben waren, auf das Phänomen des Kohärenzgefühls aufmerksam geworden. Mögliche Schlussfolgerungen sind: Ȥ Ein hohes Kohärenzgefühls puffert Belastungen ab und schützt ein Stück weit vor Erkrankung (Antonovsky, 1997, S. 142 ff.). Ȥ Es gibt neben dem Pfad der Entwicklung zur Krankheit bzw. zum Kranksein (Pathogenese) einen davon unabhängigen parallelen Pfad zur Entwicklung von Gesundheit (Salutogenese). Man ist damit nicht »gesund« oder »krank«, und die dichotome Unterscheidung ist zugunsten eines »Gesundheits-­ Krankheits-Kontinuums« aufzugeben (Antonovsky, 1997, S. 21 ff.). Diese veränderte Fragerichtung hat zur Schöpfung des Neologismus »Salutogenese« – von »salus« (lateinisch = heil, gesund) und »genese« (griechisch = Herausbildung, Entstehung, Entwicklung) geführt. Gesundheit ist demnach nicht einfach vorhanden, sondern wird immer erneut hergestellt – und zwar auch dann, wenn es bereits »Krankheit(en)« gibt. Im diagnostisch-therapeutischen Prozess hat daher neben die Exploration von Bedingungen, die die Ausbildung einer Krankheit begünstigen können, gleichberechtigt die Erkundung von Ressourcen zu treten, die der Förderung von Gesundheitsbildung dienen können. Die Entstehung von Gesundheit ist, ebenso wie die Entstehung von Krankheit(en), eingelassen in die je spezifische Biografie. Wie aber lässt sich die je individuelle Ausbildung von Gesundheit nachvollziehen, wenn diese einerseits kein selbstverständlicher »Besitz« ist und doch andererseits nur im Fall ihrer Infragestellung zum Thema wird? Über die Geschichte kann die betroffene Person am besten in Form des Erzählens von Geschichten Auskunft geben, transportieren doch Narrationen die emotionale Beteiligung und ermöglichen zugleich ein Stück weit Selbstaufklärung, weil der/ die Erzählende sich gegenüber dem/der Zuhörenden verständlich zu machen versucht (und damit auch selbst Distanz gewinnen kann). Auch hier lohnt der Blick auf »positive Abweichungen«, Situationen also, in denen – entgegen der

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Erwartung der/des Betroffenen – trotz Belastung eine eigenständige Lösung gefunden werden konnte. Narrationen haben daher ein Selbstheilungspotential (Nünning u. Nünning, 2019). Antonovsky verweist darauf, dass Bewältigungsmechanismen, die sich in einer spezifischen Situation als erfolgreich erwiesen haben, in einer anderen Situation scheitern können. Dies lässt sich auf die Unterscheidung von »gesund« und »krank« übertragen. Eine ganzheitliche Reaktion, die in einer spezifischen Situation als »krank« erscheinen mag, kann Konsequenzen haben, die retrospektiv als »Gesundung« bewertet werden mögen. Daher schlage ich vor, die Einschätzung der Position auf dem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum um die Betrachtung des gemeinsamen Gesundheits-Krankheits-Prozesses zu ergänzen. Der individuelle Gesundheits-Krankheits-Prozess ist eine »Anpassung der ganzen Person an seine [sic!] ganze Vergangenheit, seine ganze Gegenwart und an die sichtbaren Gestalten seiner Zukunft« (Sartre, 1977–1979, Bd. 1, S. 178).

Sozialisation und Individuation: Vom Mandat zur Mission Als Sozialepidemiologe und Stressforscher war Antonovsky es gewohnt gewesen, nach sozialen Determinanten von Krankheitsrisiken zu fragen. Die vergleichende Auswertung der Tiefeninterviews führte ihm jedoch die Relevanz des sinnhaften Aufbaus der sozialen Welt und damit der persönlichen Weltsichten vor Augen. »Ich hatte mich dem Argument verschrieben, dass die Art, wie gut man schwimmt, zwar nicht ausschließlich, aber zu einem wesentlichen Anteil durch den SOC determiniert ist. Unter den objektiv gleichen Charakteristika des Flusses werden die Menschen unterschiedlich gut oder schlecht zurechtkommen« (Antonovsky, 1997, S. 92).

Damit wird zur entscheidenden Frage, wie es dem konkreten Individuum gelingt, die Bedingungen des eigenen Bedingtseins in Richtung auf eine selbst gestaltete Zukunft zu überschreiten und sich zu der/dem zu machen, der man ist (Sartre, 1964, 1977–79; Ventegodt, Andersen u. Merrick, 2003). Dies ist eine der zentralen Fragen, denen Jean-Paul Sartre in seinem Werk nachgegangen ist. Ich möchte dies im Folgenden knapp zitieren, auch wenn die beiden Autoren – obgleich Zeitgenossen – meines Wissens nicht bewusst aufeinander Bezug genommen haben. Die Entwicklung des Menschen kann als eine widersprüchliche Einheit der Formung zum Mitglied der Gesellschaft (Sozialisation) und Ausgestaltung sei-

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ner einzigartigen Eigenschaften (Individuation) verstanden werden. Sartre geht in seinem Konzept der existentiellen Psychoanalyse von einer doppelten Geburt des Menschen aus, die er Konstitution (Sartre, 1977–1979, Bd. 1) und Personalisation (Sartre, 1977–1979, Bd. 2 u. 3) nennt. Einerseits findet sich der Mensch als biologisches und soziales Wesen in einer Welt sozialer Tatsachen wieder. So bestimmen Körper, Geschichte und Umwelt a priori die Chancen für den sozialen Platz, den eine Person einnehmen kann und der einen Teil des sozialen Körpers konstituiert: »Der Sinn eines Lebens geschieht dem Lebenden durch die menschliche Gesellschaft, die ihn trägt, und durch die Eltern, die ihn hervorbringen« (Sartre, 1977–1979, Bd. 1, S. 142).

Andererseits reproduziert und transformiert sich der gesellschaftliche Körper durch die soziale Praxis der Gesellschaftsmitglieder, die sich durch ihre Entwürfe zu Individuen machen und damit gewissermaßen selbstbestimmte Orte besetzen. »Leben heißt, Bedeutung hervorbringen« (Sartre, 1977–1979, Bd. 1, S. 25).

Sartre geht – ähnlich wie Antonovsky – von einem autopoietischen Prozess aus. Der Mensch ist in jeder Situation mit einer vorstrukturierten Welt mit verschiedenen (Denk- und) Handlungsmöglichkeiten konfrontiert, die er nicht gleichzeitig nutzen kann. Er muss (mit immer unvollständigen Informationen) Entscheidungen treffen. Die jeweiligen Wahlen sind frei, doch manifestiert sich in ihnen der charakteristische Stil, auf den hin sich in der Serie der einzelnen Projekte das individuelle Leben als Gesamtwerk organisiert. Der Modus der Wahl einer selbststrukturierten Welt ist seinerseits bedingt, Sartre spricht hier von einem Mandat. »Die grundlegenden Verhaltensweisen nimmt man nur an, wenn sie vorher existieren« (Sartre, 1977–1979, Bd. 1, S. 53).

Mit dieser Annahme wird die vorgefundene Aufgabe (Mandat) auf ein selbstbestimmtes Ziel (Mission) hin überschritten, Sinn und Bedeutung sind mithin doppelt determiniert.

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Die Rolle des Körpers Antonovsky hat angenommen, dass die Stärke des SOC – vermittelt über das Potential zu gezieltem Umgang mit Stress  – direkt die körperliche Selbstregulation und das Wohlbefinden sowie längerfristig Entstehung und Verlauf insbesondere chronischer körperlicher Erkrankungen beeinflusst (Antonovsky, 1997, S. 123 ff.). Mögliche Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden hat er hingegen für unwahrscheinlicher gehalten. Die Hervorhebung der Körperprozesse hat einige Autoren verwundert (z. B. Bengel et al., 1998, S. 43), zumal Antonovsky explizit für ein holistisches Verständnis von Gesundheit und Krankheit plädiert (Antonovsky, 1997, S. 23 ff.). Tatsächlich werden die körperlichen Prozesse bei Antonovsky, abgesehen von Verweisen auf physiologische und immunologische Korrelate, wenig thematisiert. Geht man davon aus, dass dem Körper als Mittler zwischen inneren und äußeren Anforderungen eine Doppelfunktion zukommt und er gewissermaßen als Tor zu unserer Umwelt fungiert, so werden Antonovskys These ebenso wie die Kritik an ihr gleichermaßen plausibel. Einerseits kann der Körper als ein Ding unter Dingen betrachtet werden, sozusagen als eine Maschine, die sich nach beschreibbaren Regeln selbst steuert. Andererseits kann er als interpretierender und sich ausdrückender Bedeutungsträger gesehen werden, in dem soziale Regeln eingeschrieben, manifestiert, ausgedrückt und neu erfunden werden (siehe auch Clemenz, 1986). Die Konstitution, als sinnstiftender Körper, wird zunächst in der Säuglingspflege vermittelt. In diesen Interaktionen beziehen sich die Beteiligten besonders deutlich als »ganze Menschen« aufeinander, sodass der sich entwickelnde Modus von Handeln und Erleiden als grundlegende Einstellung zur Welt und zu sich selbst die soziopsychosomatische Einheit des Leibes betrifft und eine affektive Struktur hat. Sie verweist auf jenen »verborgenen Kern, in dem der erlebte Körper und der Sinn sich mischen, jene Ununterschiedenheit, die empfunden wird als die körperliche Textur der Leidenschaften« (Sartre, 1977–1979, Bd. 1, S. 56). Wenn der gelebte Körper immer schon als Einheit körperlicher und psychischer Prozesse zu verstehen ist, wird die Frage danach, wer angefangen hat, nachrangig. Der Kohärenzsinn bezieht sich der Sache nach auf den ganzen Menschen – und im »Handbook of Salutogenesis« (Mittelmark et al., 2017c; 2. Aufl.: Mittelmark et al., im Druck) finden sich dementsprechend auch vielfältige Belege für die Zusammenhänge zwischen SOC und allen gesundheitsbezogenen Prozessen. Die Selbstregulation und der Eindruck/Ausdruck des lebendigen Körpers (Leib) sind Ergebnis eines kontinuierlichen beziehungsbezogenen Lernprozesses, wobei der SOC als dessen virtuelle Koordinationszentrale fungiert. Der spezi-

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fische Stil der Beziehungsgestaltung kann sich auch im Gesundheits- und Krankheitsverhalten sowie in der Symptombildung darstellen, insofern diese als Teil eines kommunikativen Prozesses und als aktive Äußerungsformen verstanden werden können (Sartre, 1977–1979; von Weizsäcker, 1956; von Uexküll, 2004). Damit kann auch die Rekonstruktion der Symptombildungen im Kontext der Lebensgeschichte einen Schlüssel zum Verständnis des Weltbildes (und damit zur Entwicklung des SOC) darstellen.

Erkrankung und Gesundung Ich möchte im Folgenden Körperbildung und Bedeutungszuschreibung knapp veranschaulichen (Leder, 1990; Bahrs, 2012), in Bezug zur Formierung des Kohärenzgefühls setzen und andeuten, wie die Entstehung von Symptomen als gleichzeitiger Prozess von Erkrankung und Gesundung sowie der Entstehung von Widerstandsdefiziten und Ressourcen verstanden werden kann. Die Informationen entstammen der Begleitforschung zur hausärztlichen Versorgung von Patienten mit chronischen Krankheiten und werden andernorts ausführlich dargestellt (Bahrs, Deymann u. Henze, im Druck). Pamela Smith (anonymisierter Name) war zum Zeitpunkt der Erhebungen gut fünfzig Jahre alt, glücklich verheiratet, hatte zwei erwachsene Kinder sowie pflegebedürftige Eltern. Sie stammt aus einer Industrieregion, der fleißige Vater war in einem technischen Beruf tätig, die Mutter Hausfrau. Rückenprobleme begleiteten Pamela Smith bereits ein Leben lang. In der Kindheit war sie aufgrund einer Erkrankung ihrer Mutter früh auf sich allein gestellt und entwickelte auch in der Sorge um ihre jüngere Schwester erstaunliche soziale Kompetenzen. Zu diesem Zeitpunkt wurden die Rückenprobleme als Skoliose diagnostiziert, später war von Beckenschiefstand die Rede. Beides könnte auf strukturelle Probleme hinweisen (Generalisierte Widerstandsdefizite, GWD), die Auswirkungen wurden durch Physiotherapie bestenfalls begrenzt (Spezifische Widerstandsdefizite, SWD). Nach Ausbildung in einem technischen Beruf, auf dem zweiten Bildungsweg erworbenem Hochschulzugang und Studium in einer männerdominierten Disziplin sowie mehrjähriger Berufstätigkeit heiratete sie und gebar ihre beiden Kinder. Ein massiver Bandscheibenvorfall zwang sie zur Berufsaufgabe und Neudefinition ihrer Ziele, und sie machte Erfahrungen mit Behandlern unterschiedlicher Disziplinen. Neben der therapeutischen Unterstützung konnte sie eigeninitiativ erleben, dass Tanzen und Taiji nicht nur die Beweglichkeit fördern (Spezifische Widerstandsressourcen, SWR), sondern auch Spaß machen und mit

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Geselligkeit einhergehen (Generalisierte Widerstandsressourcen, GWR). Ihre Schwester, eine Physiotherapeutin, unterstreicht den Erfolg: »Ich hätte nie gedacht, dass du deinen Rücken wieder so gerade bekommst« (SWR → GWR → SOC). Mit zunehmendem Alter traten im Kontext familiärer Belastungen durch Pflegeaufgaben weitere Erkrankungen der Augen und des Herz-KreislaufSystems auf, und Pamela Smith musste akzeptieren, dass sie den Heilungsprozess nur bedingt beeinflussen kann (GWD). Sie erlitt einen weiteren Bandscheibenvorfall und erlebte, dass die Muskeln zeitweise gegeneinander arbeiteten (SWD). Diese Spannung kann als Ausdruck einer mangelnden Passung zwischen inneren und äußeren Anforderungen gesehen werden (von Uexküll, 2004). Die Muskulatur, so erklärte ihr der Hausarzt in einem ausführlichen Gespräch, ist das größte Sinnesorgan des Körpers. Gefühle, Spannungen sowie äußere und innere Anforderungen werden auch über die Muskelfasern vermittelt. Die Körperhaltung im Kontext ihrer Lebenssituation gesamthaft interpretierend (SOC), riet der Hausarzt zu einer grundlegenden Haltungsänderung (GWR). Pamela Smith registrierte, dass sie ihre Ziele aus den Augen verloren hatte, und suchte therapeutische Unterstützung im komplementärmedizinischen Bereich (Akupunktur) (SWR) sowie in ausführlichen Gesprächen mit ihrem Hausarzt. Vor allem aber profitierte sie von ihrem selbst gewählten Hobby, dem Malen (SWR → GWR). »Wenn ich male, dann bin ich irgendwie abgeschaltet, dann bin ich ganz bei mir. […] Ich bin dann einfach wie weggebeamt.« (SWR → GWR → SOC)

Sense of Coherence und Sense FOR Coherence Unabhängig von den jeweiligen Ursachen können Krisen und lang andauernde Probleme dazu führen, dass Hilfe von Gesundheitsfachkräften benötigt wird, die bei der Formulierung individueller Gesundheitsziele und bei der Entwicklung von Wegen zu deren Erreichung entsprechend der Situation, der Person und des Problems Unterstützung leisten. In welcher Form auch immer die Unterstützung stattfindet – immer wird sie in eine Form des Dialogs eingebunden sein, bei dem eine wesentliche Aufgabe darin besteht, die oft auch für die Hilfesuchenden selbst nicht bewussten impliziten persönlichen Lebensziele deutlich werden zu lassen, vor deren Hintergrund Hilfeleistung und Veränderungsprozesse ihren Sinn gewinnen. Damit dies gelingen kann, muss der/die Hilfeleistende ein Gespür für das Kohärenzgefühl des Gegenübers entwickeln und den eigenen Sense for Coherence schärfen. Meier Magistretti, Topalidou und Meinecke (2019b) führen aus, dass dafür dem Bedürfnis der Hilfesuchenden nach Sicherheit und nach Stärkung ihrer Bewältigungskompetenzen Rechnung getragen werden muss.

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Mehr noch: Das Gespür für die je individuelle Situation muss für Hilfesuchende erfahrbar werden und auch Hilfeleistende in dieser Beziehung als kohärent erlebbar sein. Der/die Hilfesuchende kann sich so in der Interaktion mit professionellen Ansprechpartnern als Person ernst genommen und wertgeschätzt fühlen und sich selbst und seine/ihre Beziehungen neu erleben. Er/ sie lernt, in einem geschützten Raum bisher unbekannte Ressourcen zu nutzen, und kann in der Folge das Entwicklungspotential im Alltag erproben und stabilisieren. In diesem Lernprozess gibt es immer wieder Situationen, in denen die Beteiligten unterschiedliche Auffassungen darüber haben, ob ein Verhalten oder Zustand als »krank« oder »gesund« zu bewerten ist oder nicht. Was als »Gesundheit« gilt, ist damit auch Ergebnis von Aushandlungen, die in zwischenmenschlichen Beziehungen stattfinden (Balint, 1957). Gesundheit ist (auch) zwischen den Menschen, und somit ist auch eine soziale »Behandlung« erforderlich, um zur sozialen Gesundung beizutragen (von Weizsäcker, 1930).

Qualitätszirkel: Chance für Empowerment der Helfer und Professionsentwicklung 2019 habe ich an einem Kongress für personzentrierte Medizin teilgenommen, der sich mit Burnout befasste (12th Geneva Conference on Person Centered Medicine). Viele Beiträge arbeiteten die hohe Arbeitsbelastung der Hilfeleistenden heraus, die mit der Zunahme von psychischen und sozialen Problemen ihrer Klienten korrespondierte. Die Intensivierung des Leidens an Überforderungen, die aus gesellschaftlichen Veränderungen resultieren und nur begrenzt therapeutisch beeinflussbar sind, überfordert ihrerseits die Möglichkeiten der Helfer, eine Situation, die sich in der Covid-Krise noch verschärft hat. Damit wird klar, dass die Helfer ihrerseits Unterstützung benötigen – und folgerichtig wurde die Forderung nach Selbsthilfe laut. Mit dem Instrument des Qualitätszirkels liegt hierfür ein Verfahren vor, dass sich in den vergangenen dreißig Jahren im Gesundheits- und Sozialbereich bewährt hat. Sicher, es vermag nur in begrenztem Rahmen Strukturveränderung zu initiieren, derer es zur allgemeinen Senkung der Risikolast bedürfte. Wohl aber ist es möglich, durch Ressourcenorientierung und wechselseitige emotionale und fachliche Unterstützung eine salutogene Orientierung zu fördern, derer auch die Hilfeleistenden mit Bezug auf ihr eigenes Kohärenzgefühl und mit Bezug auf die Hilfesuchenden im Sinne eines sense FOR ­coherence bedürfen.

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Qualitätszirkel ist eine Bottom-up-Methode der Qualitäts- und Professionsentwicklung, die sich in unterschiedlichen Varianten vor allem bei niedergelassenen Ärzten, in der Pflege, in der berufsübergreifenden Versorgung sowie im Bereich von Gesundheitsförderung und Prävention durchgesetzt hat (Bahrs u. Andres, 2016). Qualitätszirkel sind Kleingruppen mit ca. 8–12 Teilnehmenden, die sich freiwillig, kontinuierlich (ca. alle 4–6 Wochen; ca. 2 Stunden pro Sitzung) treffen, um themen- und zielbezogen die Qualität der gesundheitsbezogenen Arbeit unter Berücksichtigung der eigenen Erfahrungen zu besprechen. Die Teilnehmenden sehen sich als gleichberechtigte Experten, die in ihrem Arbeitsalltag bestmögliche Lösungen für je individuelle Situationen zu finden suchen, und angesichts der Komplexität der Aufgaben moderatorengestützt wechselseitig voneinander lernen können. Gerade weil sie selbst als gleichsam teilnehmende Beobachter die Struktur ihrer »Fälle« mit beeinflussen, kann die Außensicht der sich einfühlenden Kolleginnen und Kollegen zur Perspektivenerweiterung beitragen. Die Teilnehmenden erfahren durch die Gruppe fachliche und persönliche Unterstützung, die alle Dimensionen des Kohärenzgefühls betrifft und dazu befähigt, ihrerseits gestärkt in den Alltag zurückzukehren. Ein zentrales Ergebnis der Qualitätszirkelarbeit ist, dass die Teilnehmenden zunehmend erkennen, dass das, was sie für »Fehler« gehalten haben, oft kreative Leistungen waren, die für bestimmte Fälle und Personen geeignet waren und als Leistungen anerkannt und bewahrt werden sollten. In diesem Sinne können diese »abweichenden Fälle« zur wertvollen Ressource werden. Auch bietet ein Qualitätszirkel die Chance, das soziale Netzwerk zu erweitern: Ein interprofessioneller Qualitätszirkel etwa ermöglicht vertiefte Einblicke in die Arbeit anderer Berufsgruppen und erlaubt es, die eigenen Möglichkeiten und Grenzen am Beispiel konkreter Personen realistisch einzuschätzen, Vorurteile abzubauen und neue Kooperationspartner zu gewinnen (Bahrs u. Andres, 2016). Insgesamt zeigen die Fallbesprechungen im Qualitätszirkel, dass eine salutogenetische und personzentrierte Orientierung für die Fachkräfte keine zusätzliche Aufgabe darstellt, die sie näher an ein Burnout bringt, sondern sie im Gegenteil dabei unterstützt, ihre primäre Aufgabe als Helfende zu erfüllen (Bahrs, 2019). Dies trägt zum Empowerment der Fachkräfte bei. Qualitätszirkel können daher das Kohärenzgefühl auf der Ebene der Person, der Institutionen und der politischen Führungsgremien stärken (Tab. 1).

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Tabelle 1: Nutzen von salutogen orientierten Qualitätszirkeln Dimension nach Antonovsky

Teilnehmende

Institutionen

Berufsverbände und Kostenträger

Gefühl von Verstehbarkeit

(Selbst-)Reflexion Wissenszuwachs Perspektivwechsel

Transparenz

Professionalisierung

Gefühl von Handhabbarkeit

Flexibilität und Handlungssicherheit Delegierbarkeit

Effektivität (z. B. durch bessere Kooperation und Abstimmung)

Förderung einer Kultur der Qualitätsentwicklung

Gefühl von Bedeutsamkeit/ Sinnhaftigkeit

Zugehörigkeit Erfahrene Wertschätzung im Qualitätszirkel Selbstvertrauen Identifikation mit der Tätigkeit Berufszufriedenheit Stolz und Dankbarkeit

Corporate Identity Betriebsklima Wettbewerbsvorteil

Imagegewinn Gestaltungschancen

Aktuelle Bedeutung der Salutogenese Bengel et al. (1998) konstatierten, dass die Rezeption des Salutogenese-Konzepts häufig oberflächlich erfolgt sei und lediglich schlagwortartig Bezug auf das Konzept genommen werde, um die eigene Position zu untermauern. Möglicherweise würde Antonovsky sich wenig daran stören, galt ihm doch die Frage als wichtiger als die Antwort. Er begrüßte eine diskursive Auseinandersetzung, ließ aber alternative Erklärungsansätze gelten. Ganz in diesem Sinne haben Lindström und Eriksson (2019) das Umbrella-Konzept der Salutogenese entworfen, das eine Vielzahl ressourcenorientierter Ansätze unter dem Schirm der Salutogenese koexistieren lässt. Auffällig ist, dass ein expliziter Bezug auf Antonovskys Entwurf vor allem in den skandinavischen Ländern erfolgt ist. Dort entstand eine internationale Arbeitsgruppe zur Salutogenese-Forschung, und von dort ging auch die Initiative für das »Handbook of Salutogenesis« (Mittelmark et al., 2017c; 2. Aufl.: Mittelmark et al., im Druck) aus, in dem ein vorzüglicher Überblick über den aktuellen Stand von Forschung und Umsetzung zu Fragen der Salutogenese gegeben wird. Mittlerweile ist in der Schweiz ein zweites Zentrum entstanden und ein deutschsprachiges aktuelles Handbuch unter dem schönen Titel »Salutogenese kennen und verstehen« erarbeitet worden (Meier Magistretti, Lindström u. Eriksson, 2019a). In Deutschland ging das erste Interesse von klinischen Disziplinen wie der Psychosomatik (Lamprecht u. Johnen, 1994), der Allgemeinmedizin (Jork u.

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Peseschkian, 2003; Bahrs u. Matthiessen, 2007; Petzold, 2013), der Familientherapie, der Onkologie oder auch von Palliativmedizin und Rehabilitation aus (Schüffel et al., 1998), während das Echo aus dem Bereich der akademischen Public Health verhaltener war. In den Pflegewissenschaften wurde Salutogenese früh aufgegriffen und zum festen Bestandteil des Curriculums. In den Gesundheitswissenschaften avancierte Salutogenese geradezu zum Leitkonzept (Blättner u. Waller, 1995), die inhaltlichen Übereinstimmungen mit der ­Ottawa-Charta der Gesundheitsförderung sind eklatant (Lindström u. Eriksson, 2019). Weitere Anwendungsfelder sind Frühförderung und Erziehung (Krause u. ­Lorenz, 2009), seelische Gesundheit (Krause u. Mayer, 2012), systemische Therapie und Organisationsentwicklung (Mayer u. Hausner, 2015) sowie Seelsorge (Schneidereit-­Mauth, 2015). Mit seinem holistischen Ansatz ist das Salutogenese-Konzept auch für im Gesundheitswesen Tätige mit einem komplementärmedizinischen Ansatz attraktiv. Dieses Feld ist auch international bislang wenig erforscht und lädt geradezu ein für praxisbegleitende Studien. Diese – sicher nicht abschließende – Aufstellung zeigt, dass eine salutogenetische Orientierung mittlerweile disziplinübergreifend insbesondere in beziehungsintensiven Tätigkeitsbereichen auf Interesse stößt. In den jeweiligen Disziplinen vertreten die Protagonisten Minderheitspositionen, weshalb ein disziplinübergreifender Austausch naheliegt. Hierfür bieten sich in Deutschland der Dachverband Salutogenese (www.dachverband-salutogenese.de, Zugriff am 03.06.2021) und die Zeitschrift »Der Mensch – Zeitschrift für Salutogenese und anthropologische Medizin« an (z. B. Matthiessen, 2010; Petzold u. Bahrs, 2014).

Auf dem Weg in eine »gesunde Gesellschaft«? Der Zugang zu Ressourcen – ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital – ist sozial ungleich verteilt. Damit sind auch die Chancen für Gelingenserfahrungen sozial ungleich verteilt, sodass erwartbar auch die Stärke des Kohärenzgefühls wesentlich von der sozialen Lage und von geteilten Erfahrungen in sozialen Milieus abhängt (Antonovsky, 1997, S. 93). Wenn Gesundheit aber zwischen den Menschen liegt, dann wird die je individuelle Stärkung des Kohärenzgefühls nie ausreichen können: Gesundheitsbildung ist gesellschaftliche und lebenslange Aufgabe, die alle Gesellschaftsmitglieder betrifft. In Antonovskys Worten: »the key lies in a society and in people who care about others« (nach Haugan u. Eriksson 2019, S. 379).

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Während Antonovsky damit Fürsorge offenkundig zum Leitprinzip einer salutogenetischen Orientierung erklärt, hat er vor den Gefahren eines positiven Gesundheitsbegriffs gewarnt, mit dem die Expertenschaft der Betroffenen außer Kraft gesetzt und Medikalisierung begünstigt wird. »Ich bin mir völlig darüber im Klaren, dass eine Implikation des salutogenetischen Ansatzes für die institutionelle Organisation des Gesundheitssystems einer Gesellschaft die endlose Expansion sozialer Kontrolle in den Händen derjenigen ist, die dieses System beherrschen. […] Die Richtung der Antwort, insofern es überhaupt eine gibt, liegt exakt in der Frage, wer das System dominiert« (Antonovsky, 1997, S. 28).

Diese Position ist aktueller denn je. Anders als von manchem gehofft, drängt die Coronakrise nicht aus sich selbst heraus zu vernünftigen Lösungen. Was im gesellschaftlichen Sinne als »gesund« wird gelten können, ist Gegenstand sozialer Auseinandersetzung. Literatur 12th Geneva Conference on Person Centered Medicine – promoting wellbeing and overcoming burn-out. 25.-27. März 2019. https://www.personcenteredmedicine.org/doc/2019-pdf/04/12GC-Booklet.pdf (Zugriff am 03.06.2021). Antonovsky, A. (1979). Health, stress and coping. San Francisco: Jossey-Bass. Antonovsky, A. (1997). Salutogenese. Zur Entmystifizierung von Gesundheit. Tübingen: dgvt. Bahrs, O. (2012). Hermeneutisches Fallverständnis – Versuch einer Annäherung. Zeitschrift für Allgemeine Medizin, 88, 355–361. doi:10.3238/zfa.2012.0355-0361. Bahrs, O. (2019). Burnout from a social scientist’s perspective. International Journal of Person Centered Medicine, 9 (1), 45–56. Bahrs, O., Andres, E. (2016). Qualitätszirkel – Professionsentwicklung im Gesundheitswesen. In: M. Dick, W. Marotzki, H. Mieg (Hrsg.), Handbuch Professionsentwicklung (S. 295–309). Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Bahrs, O., Deymann, F., Henze, K. H. (im Druck). Salutogenesis and the Sense of Coherence in middle adulthood. In: M. B. Mittelmark, G. F. Bauer, L. Vaandrager, J. M. Pelikan, S. Sagy, E. Eriksson, B. Lindström C. Meier Magistretti (im Druck), The handbook of salutogenesis (2nd Edition). Springer. Bahrs, O., Matthiessen, P. F. (2007). Gesundheitsfördernde Praxen – Die Chancen einer salutogenetischen Orientierung in der hausärztlichen Praxis. Bern: Hans Huber. Balint, M. (1957/1980). Der Arzt, sein Patient und die Krankheit (5. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Bengel, J., Strittmatter, R., Willmann, H. (1998). Was erhält Menschen gesund? Antonovskys Modell der Salutogenese – Diskussionsstand und Stellenwert. Band, 6. Köln: BZgA. Blättner, B., Waller, H. (1995/2011). Gesundheitswissenschaft – Eine Einführung in Grundlagen, Theorie und Anwendungen (5. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer. BZgA (2018). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. doi: 10.17623/BZGA:224E-Book-2018. Canguilhem, G. (2013). Schriften zur Medizin – Mit einem Nachwort von Michael Hagner. Zürich: Diaphanes.

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Salutogenese – Grundlagen

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Dr. Ottomar Bahrs (*1951) war nach seinem Studium der Sozialwissenschaften bis 2017 an medizinsoziologischen, medizinpsychologischen und allgemeinmedizinischen Universitätsabteilungen als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent tätig. Jetzt ist er freier Mitarbeiter am Institut für Allgemeinmedizin in Düsseldorf, Sprecher des Dachverbandes Salutogenese e. V. in Göttingen und Moderator von Qualitätszirkeln im Gesundheits- und Sozialwesen. Arbeitsschwerpunkte: Arzt-Patienten-Kommunikation, Professions- und Qualitätsentwicklung (insbesondere in der ambulanten Versorgung), Umgang mit chronischem Kranksein, Selbsthilfeförderung, Salutogenese sowie qualitative Forschung. Er gehört der Arbeitsgruppe psychosomatische Grundversorgung der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (DEGAM), der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Soziologie (DGMS), der International Association for Communication in Healthcare (EACH) und der Society for Theory and Research on Salutogenesis (STARS) an. Er ist Autor einer Reihe von Büchern und Artikeln sowie verantwortlicher Herausgeber der Zeitschrift DER MENSCH. Kontakt: Immanuel-Kant-Str. 12, D-37083 Göttingen, E-Mail: [email protected].

Salutogene Kommunikation zum Anregen der Selbstheilungsfähigkeit Theodor Dierk Petzold

»Ich möchte lange gesund bleiben!« oder »Ich möchte gern dieses und jenes machen können« – mit solchen Vorstellungen, Wünschen oder Hoffnungen kommen viele Menschen in die Präventionsangebote. Die gesunde Selbstregulation und Heilung unseres Organismus funktionieren zielorientiert. Wenn unsere Haut verletzt ist, heilt die Wunde in Richtung heiler Haut. Wenn wir eine Infektion haben, strebt unser Organismus samt Immunsystem danach, dass alle Organe möglichst gut zusammenarbeiten – womöglich besser als vorher, wenn wir noch etwas aus der Erkrankung gelernt haben. Wie unser Immunsystem neue Antikörper bildet, können wir neue Verhaltensweisen lernen wie gesündere Ernährung, Bewegung oder Ruhephasen: etwas, was für uns stimmig ist. In der Salutogenen Kommunikation lassen wir unser Denken und Handeln vom Ziel her und damit von der erwünschten Entwicklung in Richtung Stimmigkeit wie Heilsein bestimmen. Diese ständig vorhandene Orientierung lebender Organismen hat bisher kaum Eingang in die wissenschaftliche Theoriebildung der Medizin gefunden. Die Medizin denkt noch ganz überwiegend pathogenetisch und in der einfachen mechanistisch-linearen Kausallogik alter Naturwissenschaften. Der wohl bekannteste amerikanische Psychoonkologe Lawrence LeShan hat in 1960er Jahren in der Praxis der Psychotherapie schon ganz explizit den Wechsel in der Herangehensweise vollzogen, nachdem er zehn Jahre klinischer Tätigkeit frustriert reflektiert hatte. Bis dahin habe er, wie auch alle anderen Medizinerinnen1 und Psychotherapeutinnen, drei handlungsleitende Fragen im Hinterkopf gehabt, wenn er einem Patienten begegnete (Tab. 1, linke Spalte). Diese Fragen habe er dann grundlegend geändert und auf zwei leitende Fragen reduziert (Tab. 1, rechte Spalte). 1 Um dem Genderaspekt auch in der Sprache halbwegs gerecht zu werden, ohne die Lesbarkeit stark einzuschränken, verwende ich im Plural immer die weibliche Form, es sei denn, es sind ausschließlich männliche Wesen gemeint, und bleibe im Singular bei der herkömmlichen männlichen Form, es sei denn, es ist konkret ein weibliches gemeint.

T. D. Petzold · Salutogene Kommunikation zum Anregen der Selbstheilungsfähigkeit

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Tabelle 1: Leitende Fragen im Hintergrund bestimmen die innere Haltung und die Ausrichtung der Aufmerksamkeit (LeShan u. Büntig, 2010) Pathogenetische Orientierung

Salutogenetische Orientierung

1. Was ist krank am Patienten (Diagnose)?

1. Was ist o. k., gesund, stimmig am Patienten (Gesundheitsziele und Ressourcen)?

2. Was ist die Ursache der Krankheit?

2. Was will und kann er (und können wir) tun, damit es ihm besser geht?

3. Wie können wir die Krankheit bekämpfen bzw. wie müssen wir mit ihr umgehen?

Daraufhin, so LeShan, habe er etwa 50 % Remissionen bei seinen Krebspatientinnen erlebt, ohne dass in der Klinik die ärztlichen Therapien geändert wurden. Vorher hatte er keine erlebt. Remission bedeutet Stillstand, Besserung oder Genesung des Tumorleidens. Damit hat LeShan die wichtigste Umstellung im Denken von der pathogenetischen zur salutogenetischen Orientierung in Bezug auf Therapie vorweggenommen. Er hat in der praktischen Psychoonkologie gezeigt, dass die innere Einstellung des Therapeuten auf heilsame Ziele therapeutisch positiv wirkt. Er nannte es: »Die Melodie des eigenen Lebens finden« (LeShan u. Büntig, 2010). In der Salutogenen Kommunikation SalKom® kultivieren wir diese Einstellung. Sie ist eine lösungs- und ressourcenorientierte Gesprächsmethode zur dialogischen Anregung gesunder Entwicklung. Sie hat viele Wurzeln in unterschiedlichen Therapiemethoden, zu guter Letzt ist sie eine Weiterentwicklung des Autonomietrainings von Grossarth-Maticek (2000). Der Medizinsoziologe Aaron Antonovsky (1997) hat mit der Salutogenese die Frage nach der Entstehung von Gesundheit neu in die modernen Wissenschaften eingebracht. Auf unsere praktisch-therapeutische Arbeit bezogen lautet sie: Wie können sich Menschen gesund entwickeln?

Neue Fragen für die Medizin – Antworten aus der Chaosforschung Woher kommen die Informationen des Zieles? Woher weiß der Organismus, wie er sich gesund entwickelt? Das sind neue Fragen für die Medizin, die aus der alten naturwissenschaftlichen Logik heraus nicht gestellt wurden. Dabei gibt es neben unserer täglichen Erfahrung noch eine Menge von Forschungen, die die große Bedeutung von Motivation (als bewegendem Ausdruck der Zielorientierung verstanden) sowie auch von Wunsch und Hoffnung (auch als emotionale Resonanz auf ein inneres Ziel zu verstehen) für Heilungsprozesse zeigen (Latham

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Salutogenese – Grundlagen

u. Locke, 1991; Locke u. Latham, 2002; Rollnick u. Miller, 2004; Grawe, 2004; Lown, 2004; von Weizsäcker, 1951). Da die Chaosforschung als moderne Wissenschaft einige Antworten gefunden hat auf die Frage, wie aus Chaos Ordnung entsteht, und genau diese Frage auch die Frage von Gesundung einschließt, liegt es nahe, bei der Chaosforschung nach passenden Denkmodellen zu suchen. Für das Entstehen von Ordnung aus chaotischen Bewegungen haben Chaosforscher sogenannte Attraktoren wie Attraktiva2 verantwortlich gemacht, die als imaginäre Informationen dafür sorgen, dass die bewegten Teile sich in vielen Annäherungsschritten (Iterationen) an die Ordnung dieser Attraktiva annähern (Kriz, 1999, 2017; Peitgen, Saupe u. Jürgens, 1994; Petzold, 2000a, b, c, 2017, 2021). Attraktiva entsprechen attraktiven Gesundheitszielen. So sehe ich den Ursprung der Zielinformationen für gesunde Entwicklung in Attraktiva, die jedem immanent sind – die allerdings so komplex sind, dass wir sie mit unserer Sprache häufig nicht exakt beschreiben können. Wir haben bei diesen komplexen und mehrdimensionalen Attraktiva für menschliche gesunde Entwicklung auch nicht den Anspruch, dass wir sie mit mathematischen Gleichungen genau erfassen und mit Algorithmen erreichen können. Die Ergebnisse der Chaosforschung zeigen, dass Systeme in ihren oft scheinbar chaotischen Bewegungen letztlich doch einer imaginären attraktiven Information einer Attraktiva folgen können – dass also Masse (= Energie) einer Information folgen kann. Das entspricht zwar nicht dem alten, wohl aber einem neuen naturwissenschaftlichen Denken, und besonders auch unseren alltäglichen Erfahrungen. Wenn wir z. B. das tun, was wir uns vornehmen und vorstellen, dann folgen die Energie und Masse unseres Körpers den Informationen, 2 In der Chaosforschung werden die Ziele von Annäherungsprozessen »Attraktor« genannt. Attraktoren sind abstrakte Informationen, die einen mehr oder weniger stabilen Zustand eines dynamischen Systems kennzeichnen. Die Information dieses attraktiven Zustands ist als abstrakte Größe in einem virtuellen Möglichkeitsraum zu denken. Sie ist dort als eine ruhende, durch Attraktivität wirkende Information zu verstehen, ähnlich wie der »unbewegte Beweger« bei Aristoteles. Da die Endung »tor« in »Attraktor« dagegen eine aktive Qualität bezeichnet und sich diese Informationen in Bezug auf Menschenleben in ihrer Komplexität einer Berechenbarkeit prinzipiell entziehen, nennen wir diese in der Salutogenen Kommunikation »Attraktiva«. Attraktiva kann als Singular oder Plural verwendet werden. Attraktiva entsprechen in der funktionalen Bedeutung weitgehend den Soll-Zuständen in der Kybernetik, den »Leitideen« Kants, der Ideenwelt Platons, den »Causae formalis et finalis« sowie den »Entelechien« Aristoteles‹, der »Information« Thomas von Aquins, Idealen und Vorbildern in der Psychologie – im Laufe der Geschichte und der Gegenwart gibt es eine Menge von Worten zur Beschreibung desselben Phänomens. Auch »Geist« bzw. »Gott« wird für dieses Phänomen »ursächlich« genannt. Möglicherweise kann die moderne Wissenschaft mit Begriffen der Chaosforschung eine Grundlage für eine gemeinsam verständliche Sprache sein.

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die unser Gehirn gebildet und an die Muskeln weitergegeben hat. Auf dieser Grundlage beruht die Wirkung von Beratung und Psychotherapie bzw. Anleitung von Gruppen wie der Macht der Sprache. In Attraktiva liegt der Ursprung unserer Motivation. Damit wir motiviert werden, kommt noch ein aktueller Anlass dazu: eine Wahrnehmung von bedeutsamer Abweichung des Ist-Zustandes von einer Attraktiva – dann ist, wie man sagt, »das Bedürfnis geweckt«. Zum Beispiel liegt der Soll-Wert unseres Blutzuckers bei ca. 100 mg/dl. Richtig Hunger bekommen wir aber erst, wenn er beispielsweise unter 70 mg/dl geht. Ähnlich funktionieren auch andere physische Bedürfnisse wie nach Bewegung, Stabilität, Ruhe und Entspannung sowie psychische Bedürfnisse nach sozialer Nähe, Kooperation, kultureller Anerkennung, Gerechtigkeit usw. Attraktiva sind die Zielgrößen in den vielfältig verknüpften Regelkreisen unseres Menschseins, die Wundheilungen genauso leiten wie alle anderen Gesundungs- und Selbstregulationsvorgänge auch in Familien und anderen lebenden Systemen. Attraktiva ziehen uns ins Leben und in alles, was damit verbunden ist. Sie nehmen deshalb eine zentrale Stellung im Modell unserer kommunikativen und kooperativen Selbstregulation ein. Unser Leben dreht sich um unsere Attraktiva. Die Annäherung an sie kann individuell ganz chaotische Wege gehen (s. Abb. 1, S. 96).

Bedeutung von Attraktiva für Gesundheitstrainings Für unser Denken und Vorgehen in Prävention, Beratung und Therapie bedeutet das, dass wir bei der Anamnese, der Betrachtung der Vorgeschichte einer Erkrankung, z. B. einer Adipositas mit Bluthochdruck usw., nicht bei der Benennung einer Ursache wie zu viel Essen und zu wenig Bewegung stehenbleiben, sondern gemeinsam erkunden, was den Betroffenen zum abweichenden Verhalten von seiner gesunden Attraktiva geführt hat. Welche anderen Attraktionen haben das Verhalten motiviert? Und wie können sie sich wieder der Attraktiva Gesundheit so unterordnen, dass es eine gesunde Entwicklung geben kann? Wie kann ein Mensch in nachhaltige Resonanz mit seinen motivierenden Gesundheits-Attraktiva kommen? Für die Anleitung von Körperübungen– auch in Gruppen – bedeutet das, dass wir nach Möglichkeit Gesundheitsbedürfnisse der Übenden aufnehmen und deren Ziele mit dem Sinn und Zweck der Übungen zusammenbringen, auch dementsprechend die Übungen vorschlagen. Auf diese Weise kommt es zu einer stimmigen Kooperation zwischen Leitung und Gruppe.

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Salutogenese – Grundlagen

Zum Beispiel Klaus R., 51 Jahre alt, Lehrer, Familienvater: Nachdem die akute Gefahr einer Querschnittslähmung bei einer Wirbelsäulenerkrankung behoben war, kam er zur Rehabilitation. Dabei ging es darum, in Zukunft ein Leben mit mehr Wohlbefinden zu leben und auch einen Rückfall zu vermeiden. In mehreren therapeutischen Gesprächen wurde ihm deutlich, dass er in der Zeit vor seiner Erkrankung seine Belastungsgrenzen nicht mehr gespürt hatte und den Stress in der Schule gar nicht mehr als solchen wahrgenommen, sondern als normal betrachtet hatte. Sein inneres Bild seiner Attraktiva war gewesen: in der Schule als idealer Lehrer zu funktionieren, (auch) um die Familie gut zu ernähren (ein besserer Vater zu sein, als sein eigener es gewesen war). Von diesem inneren Bild von normal = ideal und idealer Ehemann und Vater ausgehend, beurteilte er seinen Körper, der normal oder optimal funktionieren sollte – wenn er das nicht tat, sollte der Arzt dafür sorgen. In den therapeutischen Gesprächen suchten wir Beziehungsmuster in der Kindheit, die möglicherweise dazu geführt haben konnten, dass er jetzt den Stress als normal betrachtet. Dass er sich lange über seine Grenzen hinweg um die Erfüllung eines Lehrerideals bemühte – so stark, dass die Wahrnehmung des eigenen Körpers und erst recht des Gefühlslebens abgeschnitten war (von einem Psychiater bekam er die Diagnose »Anankastische Persönlichkeitsstörung«). Er war bei seiner Mutter allein aufgewachsen; sein Vater hatte die Familie verlassen und die Beziehung zu ihm später verleugnet. Je mehr er den Schmerz über die Enttäuschung in der Beziehung zu seinem Vater zuließ und damit den Ursprung seines internalisierten Vaterideals loslassen konnte, desto mehr konnte er auch seine hedonistischen emotionalen und physischen Bedürfnisse wahrnehmen. Er konnte seine idealisierte Vorstellung von normaler Funktion und Vaterideal relativieren und ein neues Gefühl für innere Stimmigkeit entwickeln. Er lernte, seine Körpersymptome als frühe Warnsignale, als Erinnerungen an Entspannung, positiv anzunehmen. Aus dieser verbesserten Selbstwahrnehmung heraus fand er neue Möglichkeiten zur Bedürfniskommunikation und konnte seinen Beruf sowie auch seine Vaterrolle bis zum Rentenalter gut ausfüllen.

Das Modell kommunikativer und kooperativer Kohärenzregulation Um uns gedanklich den Attraktiva für die Gesundheitsarbeit anzunähern, gehen wir jetzt von der Frage aus: Was ist das größtmögliche Wohlbefinden, die größtmögliche Stimmigkeit mit der »größtmöglichen Eigenaktivität« für den Übenden? Von dieser Frage lassen wir uns leiten. Mit dieser Frage verbinden wir

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uns mit dem Ursprung von Gesundheit, dem Kohärenzstreben. Mit dieser Intentionalität gehen wir an unsere Arbeit, in den Kontakt mit Patientinnen. Grundlegend für die Salutogene Kommunikation ist die Evidenz, dass durch menschliche Kommunikation und Kooperation die gesunde Selbstregulation von Menschen angeregt werden kann (Grossarth-Maticek, 2000; 2003; Grawe, 2004; LeShan u. Büntig, 2010; Petzold, 2005, 2011a, 2015, 2021; Petzold u. Lehmann, 2009, 2011; Schemmel u. Schaller, 2003; Vohs u. Baumeister, 2011; Faulstich, 2008; Lown, 2004). Was können wir nun genau unter gesunder Selbstregulation und Selbstheilungsfähigkeit verstehen? Im Zentrum der gesunden Selbstregulation des Menschen steht sein Streben nach stimmiger Verbundenheit (Kohärenz als übergeordnete Haupt-­Attraktiva). Sein Leben dreht sich um Kohärenzerleben. Antonovsky (1997) sieht im Kohärenzgefühl eine zentrale Grundlage für Gesundheit. Kohärenzgefühl entsteht im Menschen durch Erleben von stimmiger Verbundenheit (Petzold, 2011b, 2012a, 2012b, 2021). Dies entspricht den Erkenntnissen der Neuropsychotherapie von Klaus Grawe, der dieses innere und äußere Stimmigkeitserleben »Konsistenzregulation« nennt und schreibt: »Konsistenzregulation findet ganz überwiegend unbewusst statt und durchzieht so sehr das ganze psychische Geschehen, dass es angemessen erscheint, von einem obersten oder pervasiven Regulationsprinzip im psychischen Geschehen zu sprechen« (Grawe, 2004, S. 190 f.).

Attraktiva beinhaltet auch, dass das Ziel attraktiv sein soll, es sind also Ziele gemeint, die subjektiv (intrinsisch) motivieren. Stimmige Verbundenheit löst ein Gefühl der Freude und des Wohlbefindens aus. Attraktiva werden subjektiv oft unscharf und imaginär als Wunsch, Vision, Utopie, Ideal wahrgenommen. So ist die WHO-Definition von Gesundheit »vollkommenes […] Wohlbefinden«, und von Uexküll und Wesiack (1991) sehen »Gesundheit als Idealbegriff«. Gesunde Selbstregulation ist ein ständiger Annäherungsprozess an Attraktiva, die ein Mensch allerdings nie dauerhaft stabil erreichen kann (schon weil sie abstrakte, auch ideale Systemzustände beschreiben und weil der Organismus immer auch physikalischen Kräften ausgesetzt ist, die in Richtung Unordnung/Entropie gehen). So bleibt gesunde Entwicklung ein lebenslanger Prozess der Annäherung an Gesundheit – an stimmige Verbundenheit. Dieser Annäherungsvorgang findet aufgrund der drei prozessualen Grundfähigkeiten des Menschen bzw. aller Lebewesen in drei Phasen statt: 1. Wahrnehmen und bewerten; 2. Handeln und kooperieren und 3. Bilanzieren, reflektieren und lernen. Diese Grundfähigkeiten

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Salutogenese – Grundlagen

können wir kommunikativ mit drei Fragen anregen (s. u. Drei entscheidende Fragen, Petzold, 2021).

Abbildung 1: Modell der Selbstregulation Unser Leben dreht sich um unsere Attraktiva, letztlich um Kohärenz/stimmige Verbundenheit. Es beginnt damit, dass wir diese wahrnehmen – unbewusst und bewusst. Sie sind maßgeblich dafür, was jedem bedeutsam ist. Aus der subjektiven Bedeutsamkeit entsteht die Motivation zum Handeln. Nach der Interaktion mit der Umgebung bilanzieren und reflektieren wir, ob wir mit der Interaktion unserem attraktiven Ziel nähergekommen sind. Die Erfahrung und das Ergebnis gehen in den nächsten Zyklus der Selbstregulation ein.

Der innerlich wahrgenommene attraktive Soll-Zustand führt zu unseren Bedürfnissen. Mit Bedürfnissen seien hier alle Grundbedürfnisse (Maslow, 1954/2008; Grawe, 2004; Tomasello, 2010; 2020) gemeint sowie auch tiefe Wünsche, hedonistische und persönliche wie gesellschaftsbezogene Anliegen, die womöglich zu einer Sinnerfüllung führen können (Grawe, 2004; Grossarth-Maticek, 2003; Grossarth-Maticek u. Petzold, 2007; Petzold, 2009, 2013). Im Einzelnen kann ein Mensch sein Potential bestmöglich verwirklichen, indem er die Schritte der Selbstregulation immer wieder implizit und explizit vollzieht. 1. Er nimmt Angenehmes und Unangenehmes differenziert wahr und bewertet es subjektiv. Bewerten bedeutet, etwas einen Wert zu geben. Damit ist hier etwas anderes gemeint, als etwas unter normativen kulturellen Aspekten zu be- oder verurteilen.

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Er geht immer wieder in Bezug, in Resonanz zu seiner höchsten Attraktiva. Diese bildet die innere Orientierung für die Wahrnehmung und den inneren Maßstab für die Bewertung der Ist-Zustände. Die höheren Attraktiva liegen meist im Verborgenen und können deshalb häufig nur vage angegeben werden (»Über die Verborgenheit der Gesundheit« schreibt Gadamer, 1993). Er braucht immer wieder entspannte Ruhephasen, um sich innerlich mit diesen zu verbinden. Er nimmt die aktuellen Abweichungen des Ist-Zustands von maßgeblichen Attraktiva wahr. Diese erscheinen als Bedürfnisse, Wünsche oder Anliegen. Er bewertet die Abweichungen, wie bedeutsam diese für ihn aktuell sind. Daraus entsteht die Motivation zum Handeln (die motivierende Komponente der Bedeutsamkeit bei Antonovsky, 1997). Die erste entscheidende Frage lautet: Was ist dir bedeutsam? 2. Er gestaltet seine Kommunikation, seine Interaktion und Kooperation, sein Verhalten derart, dass er möglichst Verständnis und stimmige Resonanz für seine Bedürfnisse und Anliegen bekommt, dass er sich möglichst effektiv seiner Attraktiva, seinem Soll-Zustand annähert (Komponente der Handhabbarkeit bei Antonovsky). Übungen können dabei helfen. Die zweite entscheidende Frage lautet: Was willst und kannst du tun? 3. Er lernt aus dem Verlauf und Ergebnis seiner Aktivität für die Annäherung an seine Attraktiva. Für Lernvorgänge in kulturellen Zusammenhängen werden die Lernziele und -ergebnisse meist von den Institutionen der Kultur vorgegeben. In der gesunden Stimmigkeitsregulation geht es nun darum zu überprüfen, ob die vorgegebenen Lernziele auch den eigenen entsprechen, die sowohl aus eigenen Interessen herrühren können wie auch aus übergeordneten familiären, kulturellen, globalen und geistigen (Komponente der Verstehbarkeit bei Antonovsky). Auch in Bezug auf Symptome stellen wir deshalb die Frage nach dem Verstehen der damit verknüpften heilsamen Informationen. Die dritte entscheidende Frage lautet: Was willst und kannst du lernen? Diese drei Schritte beziehen sich auf Phasen der Kohärenzregulation, die permanent aufeinanderfolgend immer wieder und auch gleichzeitig in verschiedenen Lebensdimensionen ablaufen. So reguliert sich der Sauerstoffgehalt des Blutes minütlich, der Nahrungsstoffwechsel stündlich bis täglich, unsere zwischenmenschlichen Beziehungen altersabhängig über Tage und Monate und unsere Berufsausübung über noch längere Zeiträume bis hin zur Regulation unserer

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Lebensaufgabe, ihrem Finden, Nachgehen und Reflektieren. Die Regulation gesunder Entwicklung findet also in verschiedenen Lebensräumen wie -dimensionen statt – immer in Kommunikation und Kooperation mit der Umgebung: physisch – emotional – mental – geistig. Für die gesunde Entwicklung sind demnach eine erfolgreiche Kommunikation und Kooperation entscheidend. Drei motivationale Systeme führen vom Wahrnehmen zum Handeln. Wenn wir etwas als attraktiv wahrnehmen, wird unser motivationales Annäherungssystem stimuliert. Wenn wir etwas als bedrohlich bewerten, wird das Abwendungssystem (auch oft Vermeidungssystem genannt) aktiviert (Grawe, 2004; Elliot, 2008; Bauer, 2004). Letzteres ist mit dem Angstzentrum und dem Stresssystem eng verknüpft. Das Annäherungssystem dagegen schafft über Dopaminausschüttung im Lustzentrum mit einem Lustgefühl (im Englischen »wanting«) eine innere Belohnung. Es sorgt dafür, dass wir weiter aktiv auf dem Wege der Annäherung an unsere attraktiven Ziele bleiben. Die dritte motivationale Einstellung ist die der Kohärenz3, gefühlt Gelassenheit (in der Suchtforschung als bewertendes »liking« gekennzeichnet; Grawe, 2004; Elliot, 2008; Petzold, 2021; Esch, 2017). In diesem Kohärenzmodus können wir sowohl attraktive Verlockungen (unser »wanting«) als auch Bedrohungen etwas distanziert wahrnehmen, diese ganz gelassen in ihrer Bedeutsamkeit bewerten (»liking«) und uns dann entsprechend verhalten. Das Kohärenzsystem ist das übergeordnete motivationale System, das für Stimmigkeit innen und außen von einer Metaperspektive aus sorgt. Es aktiviert u. a. wohl besonders im Präfrontalcortex, wo viele Bahnen der anderen motivationalen Systeme zusammenlaufen, wo ein Zentrum für Sinn und Fairness nachgewiesen wurde (Knoch, 2007). In dieser übergeordneten Kohärenzfunktion sorgt es wohl auch für unser Kohärenzgefühl, den »sense of coherence«, den Antonovsky (1997) als zentral für unsere Entwicklung in Richtung Gesundheit erforscht hat. Hirnforscher sehen in der übergeordneten Funktion unseres Gehirns auch ein Streben nach Kohärenz (Grawe, 2004). In dieser Funktion können wir den sogenannten inneren Beobachter oder inneren Arzt erkennen. So spielt der motivationale Kohärenzmodus für unsere Heilungsbemühungen eine wichtige Rolle (Petzold, 2021). 3 Dieses dritte motivationale System wurde lange als Teil des Annäherungssystems betrachtet. Aus der Suchtforschung wurde aber klar, dass es ein eigenes drittes System geben muss, das uns ermöglicht, auf ein im Englischen »wanting« genanntes, Dopamin versprechendes Annäherungsziel, wie z. B. eine Droge, zu verzichten. Im Englischen wurde es im Unterschied zu »wanting« »liking« genannt, was als vernunftgesteuerte Bewertung zu verstehen ist. Im Deutschen gibt es noch keine einheitliche Bezeichnung dafür. Aufgrund seiner Funktion, für Kohärenz innen und außen zu sorgen (Grawe, 2004 zur Stimmigkeitsregulation), nennen wir es in der Salutogenen Kommunikation »Kohärenzsystem« bzw. »Kohärenzmotivation«.

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Gesunde Stressregulation Wenn uns eine Gefahr bedroht (das kann auch eine seelische Kränkung sein), versuchen wir, diese abzuwenden – entweder durch Kampf oder Flucht. Wenn uns das gelungen ist, ist unser Selbstvertrauen gestärkt und wir fühlen uns erst mal sicher, für die nächste Bedrohung gut gerüstet, und können uns wieder unseren Annäherungszielen zuwenden.

Abbildung 2: Stressregulation bei Herausforderung Die Stressregulation beginnt damit, dass ein Mensch eine Situation als bedrohlich bewertet. Dann springt sein Abwendungssystem an und er bemüht sich, die Bedrohung abzuwenden. Wenn er damit erfolgreich ist, stärkt das sein Selbstvertrauen und er kann entspannen und sich wieder Annäherungs- und Kohärenzzielen zuwenden (Eustress). Wenn er die Bedrohung nicht abwenden kann, bleibt die Gefahr bestehen und der Stress wird stärker: Es entsteht Disstress (s. Abb. 3).

Wenn es uns nicht gelingt, die Gefahr abzuwenden, wird unser Abwendungssystem noch aktiver, unsere Aufmerksamkeit für Gefahren wird erhöht, wir nehmen schon geringste Warnzeichen für Gefahren wahr, und der Stresspegel steigt an (s. Abb. 3). Wenn eine solche (z. B. traumatische) Erfahrung in der frühen Kindheit gemacht wurde, kann es nachfolgend dazu kommen, dass an vielen Stellen eine Bedrohung gesehen wird, dass vieles als bedrohlich erlebt wird – z. B. die Arbeitssituation in der Schule.

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Dann beeinflussen die Aktivitätszustände dieser neuropsychischen motivationalen Systeme auch unsere Wahrnehmung: Wenn wir im Abwendungsmodus sind, nehmen wir stärker Gefahren wahr; wenn wir im Annäherungsmodus sind, nehmen wir mehr die schönen Seiten unserer Umgebung wahr – das Glas ist halb leer oder halb voll. So konnte Klaus R. zunächst nicht zur Entspannung kommen und zeigte diverse Symptome. Je mehr er sich im Gespräch sicher fühlte, desto mehr fielen ihm Annäherungsziele ein und andersherum: Je mehr er sich attraktiven Dingen widmete, desto mehr Zugang fand er zu seinen Ressourcen und konnte er sich geborgen fühlen. In dem Modell der kommunikativen Kohärenzregulation kann man diesen Vorgang, der bei vielen Menschen mit langwierigen Erkrankungen zu beobachten ist, wie folgt veranschaulichen.

Abbildung 3: Stressregulation und Disstress Wenn der Versuch, eine Bedrohung abzuwenden, scheitert, verstärkt der Organismus zunächst seine Wahrnehmung der Gefahr und die Abwendungsbemühungen. Bei wiederholtem Scheitern mit anhaltend gefühlter Gefahr kommt es zu chronischem Disstress mit Stresssymptomen. Spätestens dann – besser schon vorher – braucht es ein Abschalten vom Außen, ein Innehalten mit einer Wende nach innen und ein Besinnen auf eigene Kohärenz- und Annäherungsziele. Das ist die Kunst des sogenannten Stehaufmännchens.

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Kooperationsphasen und Selbstregulation Die Anleitung einer Übungsgruppe sowie auch von individuell Übenden verstehen wir genauso wie Beratungsgespräche als Kooperation zum Zwecke der gesunden Entwicklung der Übenden. In dieser Kooperation finden wir systemisch verstanden top-down, bottom-up und partnerschaftliche Aspekte. Top-down ist sowohl darin zu sehen, dass das Wohl des Gesundheit Suchenden maßgeblich für die Aktivität des Anleiters ist, dieser also bottom-up diesem Ziel dient, als auch dass er als Gesundheitsexperte top-down dem Übenden Ratschläge bis hin zu Handlungsanweisungen gibt. Dieser wiederum bringt bottom-up seine individuellen Bedürfnisse und Befunde in den Übungsablauf ein. So zirkuliert eine systemische Bottom-up- und Top-down-Kooperation. Partnerschaftlich ist die Kooperation von gleichberechtigten Menschen, die freiwillig die systemischen Rollen der Kooperation eingehen. Dabei bleiben sie als Menschen Kooperationspartnerinnen auf Augenhöhe.

Abbildung 4: Top-down- und Bottom-up-Aspekte von Kooperation in Systemen Die Kommunikation und Kooperation der Teilsysteme findet in der Kohärenz des Übersystems statt. Dadurch wird diese Kohärenz hergestellt und aufrechterhalten. Die Leitung vertritt in ihrer Funktion die Macht und Verantwortung des gemeinsamen Übersystems. Dabei steht sie auch in Resonanz zu größeren Übersystemen wie besonders der Kultur. Teilsysteme können auch in Resonanz zu ihren Über-Übersystemen wahrnehmen und agieren – mitwissen und handeln.

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1. Kooperationsphase: einstimmen und abstimmen Die Kooperation beginnt schon vor der Kooperation – und zwar mit der Einstellung des Gesundheitsarbeiters und auch mit der Motivation des Übenden (Gendlin, 2004; Grawe, 2004). Diese Intentionalität zur Gesundheitsaktivität liegt oft im Verborgenen und im unscharf Komplexen – es bedarf einer heuristischen Einstellung4, einer Suche nach einer möglichst einfachen Annäherung an eine komplexe Attraktiva, an eine Lösung im Komplexen. Als professionelle Anleiterinnen ist unsere Intentionalität zur Kooperation mit Gesundheit Suchenden offen für eine Abstimmung mit ihrer Intention und lässt sich nicht durch andere konkrete Attraktionen ablenken (wie z. B. Geld sparen, Richtlinien erfüllen …). Es ist bisweilen schwierig, über die Intentionalität zu reden, weil Gesundheit so komplex und unbestimmt und gleichzeitig individuell ist. Gigerenzer (2007) u. a. sprechen in diesem Zusammenhang von »Intuition« oder »Bauchgefühl«. Gerade diese Eigenschaft aber macht die Attraktiva so nachhaltig wirksam und unter unterschiedlichen Bedingungen flexibel anpassungsfähig. Eine gemeinsame Intentionalität ist die Voraussetzung für eine gute Kooperation (Tomasello, 2011), also auch für erfolgreiche gesundheitsbildende Maßnahmen. In der ersten Phase eines Klientengespräches erzählt dieser in der Regel von seinen Problemen und wie es dazu gekommen ist – warum er jetzt professionelle Hilfe braucht. Als Therapeutinnen nennen wir das »Anamnese«, die Vorgeschichte seiner Erkrankung. In dieser Phase ist es unsere Hauptaufgabe, aufmerksam und aktiv zuzuhören. Insbesondere gilt es, die expliziten und impliziten Motivationen und Ressourcen des Klienten wahrzunehmen, seine attraktiven Gesundheitsziele und persönlichen Fähigkeiten. Für die komplexen Vorgänge des Lebens, wie insbesondere alle Entwicklungsvorgänge, wozu Gesundung gehört, spielt das implizite neuropsychische Verarbeitungssystem die größere Rolle: Das explizite Verarbeitungssystem kann pro Sekunde 40–50 Bits verarbeiten, das implizite etwa 40–50 Millionen Bits. Neben den explizit mitgeteilten Fakten beobachten wir deshalb die impliziten Botschaften, den Tonfall, die Haltung, die Mimik und Gestik, und hören, ob zwischen den Worten Signale von Besserungstendenzen, von Stärke und Freude, von Hoffnung und positiver Motivation wahrzunehmen sind. Daraus können wir Rückschlüsse auf Bedürfnisse und attraktive Ziele und Fähigkeiten ziehen. 4

Heuristisch ist eine Einstellung, die nach einem Lösungsweg eines komplexen Problems von einer antizipierten Lösung her sucht und dabei mithilfe weniger Informationen eine möglichst gute Entscheidung trifft.

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Im Übergang von der ersten zur zweiten Kooperationsphase kann der Gesundheitsarbeiter schon Hypothesen zu Teilaspekten der gesunden Entwicklung des Patienten bilden. Zum Beispiel war nach dem Bericht von Klaus R. (s. S. 94) meine Hypothese, dass er in der Beziehung zu seiner Jetzt-Familie sowohl eine gesunde Attraktiva für Entspannung und emotionale Geborgenheit hatte wie auch eine Ressource dazu. Diese Hypothese kann der Therapeut allerdings nicht bilden, wenn er nur mit dem Leiden, den Problemen der Patientinnen empathisch ist und mitleidet. Er muss seine Aufmerksamkeit wie auch sein Mitgefühl auf die motivierenden attraktiven Gesundheitsziele und die Fähigkeiten und andere Ressourcen des Patienten richten. Heuristisch findet er erst angemessene Lösungsmöglichkeiten, wenn er sich auf die Attraktiva des Patienten einstimmt, sich in dessen Stimmigkeitsregulation einfühlt und mitdenkt. So ist der salutogene Gesundheitsarbeiter ein kooperativer Begleiter des Gesundheit Suchenden in dessen Selbstregulation.

Abbildung 5: Patient und begleitender Helfer im Dialog

Zum Beispiel: Martin A., 42 Jahre alt, Handwerkermeister, war mit einem Tinnitus rechts beim HNO-Arzt, der ihm zehn Infusionen und Pentoxifillin (ein durchblutungsförderndes Medikament) für drei Monate verordnet hatte (ty-

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pisch für eine pathogenetisch orientierte »Kurzschluss-Entscheidung«, Petzold u. Bahrs, 2013, S. 267; Petzold, 2021). Da er diese Behandlung nicht so gern über sich ergehen lassen wollte, fragte er mich, ob es noch andere Möglichkeiten gäbe. Ich bat ihn, mir genau zu schildern, wie, wann und wo das Ohrgeräusch zum ersten Mal aufgetreten ist und es stärker bzw. schwächer wird. Er berichtete, dass es im Zusammenhang mit einem größeren Geschäftsprojekt vor einem halben Jahr richtig deutlich geworden sei. Besonders intensiv werde es, wenn er Termine mit Kundinnen oder möglichen Geschäftspartnerinnen habe, meist am Nachmittag. Wenn er es schaffe, sich mittags hinzulegen, verschwindet das Ohrgeräusch. Im Gespräch kamen noch verschiedene Aspekte aus seiner Familie zur Sprache, die zeigten, dass der Vater arbeitsbedingt wenig zu Hause war, und die Mutter eine engere Bindung zum Sohn pflegte. Eine konkrete Lösung seiner Problematik ergab sich recht einfach dadurch, dass er seine Entspannungsfähigkeit in der Mittagszeit als Ressource pflegt und auch weiter immer wieder auf das Gefühl von Entspannung achtet sowie auf einen guten Rhythmus von Entspannung und Anspannung. Dadurch konnte er sowohl seine beruflichen Ziele verfolgen als auch Raum für seinen Wunsch nach Geborgenheit in der Entspannung finden. Nach diesem Gespräch konnte er mit seinen Ohrgeräuschen derart salutogen umgehen, dass diese sich nur noch selten meldeten und wenn, dann eine wichtige Erinnerung an seine Attraktiva waren. 2. Kooperationsphase: Wahrnehmen und finden, was bedeutsam ist In der ersten Kooperationsphase war der Blick zurück gerichtet auf die Entstehung der aktuellen Situation, die Anlass für das Hilfesuchen beim Gesundheitsarbeiter war. In dieser Phase haben wir uns als Übungsleiter schon auf die Teilnehmenden eingestimmt und womöglich schon eine gemeinsame Sprache gefunden, was eine gute Voraussetzung für ein kooperatives System wie eine Übungsgruppe ist. In der Salutogenen Kommunikation beschränken wir unsere Empathie nicht auf das Leiden des Patienten, sondern richten sie ganz bewusst auf seine Bedürfnisse, Anliegen und positiv erlebten Aspekte wie Freude, Wohlbefinden, Stimmigkeit, seine attraktiven Gesundheitsziele sowie Fähigkeiten und andere Ressourcen: auf seine Selbstheilungsfähigkeit. Diese Art der Empathie bildet bereits einen zentralen Baustein unserer ganzheitlichen Diagnose. Diese ist nicht nur eine Krankheitsdiagnose, wie sie in der pathogenetisch orientierten Medizin gestellt wird, sondern eine ganzheitliche Diagnose, die die Selbstregulationsfähigkeit, die Gesundheitsziele und Ressourcen miteinbezieht. Damit sind wir in der 2. Phase des salutogenen Dialogs.

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Jetzt können wir die Aufmerksamkeit auf die Gegenwart richten, zum gegenwärtigen Möglichkeitsraum. Das beginnt mit der Wahrnehmung des aktuellen Befindens, Befundes und Bedürfnisses: Wie wünscht sich der Teilnehmende die Lösung des Ist-Problems für die Zukunft? Was ist seine Wunschlösung? Hier und jetzt im Wünschen kann das motivationale Potential aktiviert werden, das gewährleisten soll, dass wirklich das »Wirklich-Mögliche« (Fischer, 2013; von Weizsäcker, 2005), »größtmögliche Eigenaktivität« (WHO, 1981, S. 9) angesteuert wird; dass wir nicht schon vorab resigniert mit einem sehr suboptimalen Ziel zufrieden sind, wie es in der heutigen Definition von »Chronikern« zum Ausdruck kommt (Petzold u. Bahrs, 2013; Wilm, 2013). Diese gemeinsam abgestimmte Intentionalität ist die Grundlage für die dann folgende Kooperation. Im Teilnehmenden an gesundheitsförderlichen Übungen läuft während der Teilnahme ein intensiver Suchvorgang nach einer Lösung seines Problems. Das führt dazu, dass er offen besonders für Lösungsimpulse ist und so am leichtesten in Resonanz mit Impulsen vom Berater geht, wenn diese eine Annäherung an seine Attraktiva erwarten lassen, versprechen oder ermöglichen. Ein besonders eindrucksvolles, weil ungewolltes und ungeahntes Beispiel zur Dynamik der Selbstregulation berichtet der weltbekannte Herzchirurg Bernard Lown aus Harvard in seinem Buch »Die verlorene Kunst des Heilens«. Trotz pathologischer Befundmitteilung reagiert ein Patient salutogen: Ein schwer herzkranker Patient, den sie in der Klink schon aufgegeben hatten, zeigte überraschend eine deutliche Besserung und konnte sogar wieder entlassen werden – für Lown ein »Wunder«. Der Patient berichtete sechs Monate später bei einer Konsultation, wie dies »Wunder« geschehen war: »Am Donnerstagmorgen kamen Sie mit Ihrem ganzen Tross herein, stellten sich um mein Bett herum und schauten drein, als läge ich bereits im Sarg. Sie haben Ihr Stethoskop auf meine Brust gesetzt und jedermann gedrängt, sich den ›gesunden Galopp‹ anzuhören. Ich dachte mir, wenn mein Herz noch zu einem kräftigen Galopp fähig ist, könnte ich ja gar nicht im Sterben liegen. Und von Stund an ging’s bergauf mit mir. Sehen Sie, Herr Doktor, es war gar kein Wunder. Der Geist hat den Körper bezwungen« (Lown, 2004, S. 110 f.). Der Patient hat die Worte des Arztes (die eigentlich eine tödliche Diagnose bezeichneten) in Unkenntnis so uminterpretiert, dass sie für seine Selbstheilung gut waren. Oft ist es hilfreich, das attraktive Ziel, die Hoffnung oder Erwartung der Teilnehmenden explizit zu erfragen (Zielfindung). Das erfüllt zweierlei Zweck: Erstens kann sich der Übungsleiter dann sicherer sein, dass er mit seiner Intention und seinen Übungen mit den Teilnehmenden übereinstimmt und damit die Grundlage für eine gute Kooperation gegeben ist. Dann kann er auch zum besseren gemeinsamen Verstehen auf die wichtigsten Begriffe der Teilnehmenden

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eingehen. Zweitens wird beim Übenden das Ziel, auch Bedürfnis, in seiner Attraktivität verstärkt, wenn er es explizit in der Gruppe benannt hat. Das macht den Sinn von Zielvereinbarungen aus (goal setting: Petzold, 2021). 3. Kooperationsphase: Eigenaktivität und anregende Hilfen In den ersten beiden Phasen der Kooperation ging es darum, Bereiche von Unstimmigkeit und Stimmigkeit im Erleben des Gesundheit Suchenden zu teilen, ihre Wechselbeziehung zu klären und ggf. zu dynamisieren, wo erforderlich. Jetzt geht es darum, mehr Erfolg (= Stimmigkeit) durch Handeln, in der Bedürfniskommunikation und Kooperation – also beim Annähern an die gesunden Attraktiva – zu finden. Die erste Phase ist weitgehend bestimmt von der Narration des Suchenden, die zweite mehr von den Fragen des Gesundheitsarbeiters. In der dritten Phase wird nun gemeinsam nach einer stimmigen konkreten Lösung der Unstimmigkeiten gesucht. Dabei soll der nächste Schritt zur Annäherung an Stimmigkeit und Gesundheit machbar werden. Dieser nächste Schritt kann eine Aktivität (z. B. bestimmte Übungen oder ein Gespräch mit Angehörigen oder Kolleginnen, eine Ernährungsumstellung, Verhaltensänderung, sogar auch Tablettenschlucken) sein oder auch ein relativ passives Erdulden einer Behandlung – je nachdem, was gerade stimmig ist. Für das Handeln spielt die innere Wechseldynamik zwischen Abwendungs-, Annäherungs- und Kohärenzsystem in mehreren Lebensdimensionen eine besondere Rolle. In dieser dritten Phase geht es um entweder Abwehr/Vermeidung oder Annäherung oder Kohärenzerleben in Gelassenheit. Langwierig Erkrankte zeigen hier oft ein ambivalentes bis widersprüchliches (oft double-bind-)Verhalten. Sie möchten sich dann einerseits einem attraktiven Ziel annähern, wie z. B. ihrer Zugehörigkeit zur Familie, haben dabei aber Angst vor Abweisung oder Strafe. Auch viele Gesunde erleben Ähnliches. Sie wollen sich z. B. einem attraktiven Partner annähern und verhalten sich abwendend; oder auch andersherum: Sie möchten zum Vorgesetzten »Nein« sagen und sagen »Ja«. Oft drückt ihr Körper beides gleichzeitig aus: Er empfindet Traurigkeit bei einer Annäherungsbewegung (z. B. dabei, durch Beugen der Arme etwas zu sich heranzuziehen) oder Schmerzen bei einer Abwehrbewegung (durch Strecken der Arme jemanden wegstoßen oder sich von jemandem abwenden). Oder die Mimik drückt Angst und Schmerz bei einer Annäherungsbewegung aus, z. B. auf jemanden Geliebten zugehen, usw. Diese inneren psychophysischen Spannungszustände zwischen emotional gegensätzlich verknüpften Verhaltensrichtungen führen bei längerem Bestehen zu ver-

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schiedensten organischen Veränderungen (Grossarth-Maticek, 2003; Grawe, 2004; Elliot, 2008). Die Verhaltensrichtungen drücken motivierende Bedürfnisse aus. Emotionen sind als verstärkter präverbaler Ausdruck von Bedürfnissen und Bewertung von Antworten auf vorhergehende Bedürfnismitteilungen zu verstehen (s. S. 109 f. und Petzold, 2021). Bei Martin A. (s. S. 103 f.) war es die Annäherungsbewegung an beruflichen Erfolg, die mit einem inneren Spannungszustand verknüpft war. Innerlich bestand unbewusst die Angst, das Gefühl emotionaler Geborgenheit bei der Mutter (soziale Kohärenz) zu verlieren, wenn er sich dem beruflichen Erfolg (kulturelle Kohärenz) zuwendet. Den Verlust dieses Geborgenheitsgefühls wollte er vermeiden. So entstand ein stressiger Ambivalenzkonflikt zwischen Annäherung an kulturelle Kohärenz durch beruflichen Erfolg und Vermeidung von mütterlichem Liebesverlust, Verlust gefühlter sozialer Kohärenz. Durch ein bewusstes Zulassen und Erkennen der sich emotional scheinbar widersprechenden Bedürfnisse konnte er sich von deren Prägung in der Kindheit distanzieren und in seinem gegenwärtigen Leben einen Rhythmus finden, der ihm beides im gesunden Wechsel ermöglichte: durch angespannte Arbeit beruflichen Erfolg finden sowie Entspannung im Gefühl von Nähe und Geborgenheit in partnerschaftlicher Beziehung. Sein nächster Schritt in diese Richtung war die regelmäßige Entspannung in der Mittagspause. 4. Phase: Imaginiertes Bilanzieren Wenn der Klient bzw. Übende zu einer Entscheidung für den nächsten Schritt gekommen ist, kann er diesen in der Imagination durchspielen. So kann Martin A. sich vorstellen, wie es ist, wenn er mittags nach dem Essen für 20 bis 30 Minuten entspannt – klappt das jeden Tag? Muss er eventuell noch Vorkehrungen treffen, damit er nicht gestört wird? Kann er es auch, wenn viele Termine anstehen? Wie wird er sich währenddessen und hinterher fühlen? Ist es schon das »Bestmögliche«, die »größtmögliche Eigenaktivität«? Gibt es noch tiefere, womöglich kindliche Bedürfnisse, die kommuniziert werden möchten? Durch eine derartige Imagination können schon Hindernisse z. B. für regelmäßige Übungen frühzeitig ausgemacht werden und ggf. aus dem Weg geräumt werden. Bei Klaus R. ergab die Imagination z. B., dass voraussichtlich die kranke Schwiegermutter öfter Hilfe braucht und damit den Plan der Eheleute, gemeinsam einen ganzen Tag lang wegzufahren, zunichtemachen könnte. So musste noch bedacht und organisiert werden, dass diese versorgt wird und sie dann am Sonntag ihren Tagesausflug machen.

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Die heilsame Information eines Symptoms Menschen kommen häufig in Übungsgruppen, weil sie körperliche Symptome haben. Nicht selten treten auch bei Übungen plötzliche Beschwerden auf. Symp­ tome haben eine komplexe Bedeutung und damit Information. Unter der üblichen pathologischen Sichtweise wird die Abweichung von der Norm als die Information des Symptoms beschrieben. Mit salutogenetischem Verstehen sehen wir ein Symptom im Kontext der gesunden kommunikativen Selbstregulation, dem Streben nach Annäherung an Gesundheit wie Stimmigkeit. Im jeweils individuellen, sozialen und kulturellen Kontext kann ein und dasselbe Symptom sehr unterschiedliche Bedeutungen erhalten. So kann eine Grippe für den einen eine Qual sein und für den anderen den gerade notwendigen Raum zur Erholung aus dem Alltagsstress bedeuten. Starker Schmerz bei einer akuten Blinddarmentzündung hat eine andere Information als der Schmerz bei der Geburt. Wenn z. B. jemand frühzeitig Rente haben möchte, sind leidvolle Symptome keine Komplikationen, sondern zweckmäßige Schritte auf seinem Weg. Wenn er schon Rente hat und gern in Wohlbefinden leben möchte, stören die gleichen Symptome. Wenn jemand sterben will, kann eine Lungenentzündung mit Fieber eine hilfreiche Krankheit sein – wenn er aber leben will, behindert sie. Unter salutogenetischer Perspektive wollen wir Symptome unter dem Aspekt der Entwicklung des Betroffenen verstehen, in seiner Dynamik der Stimmigkeitsregulation von Wahrnehmen, Handeln und Reflektieren. Welche Information als Rückmeldung gibt ein Symptom dem Betroffenen auf seinem Weg der Selbstregulation, in seiner Kohärenzentwicklung zu mehr und komplexerer Stimmigkeit? Wenn gesund bedeutet: auf dem Weg der Annäherung zu sein, bedeutet krank: vom Wege abgekommen zu sein oder gehindert zu werden. Symptome können so zwei Grundbotschaften enthalten und aus zwei Richtungen verstanden werden: Bedingungen sollen geändert, Hindernisse aus dem Weg geräumt werden oder der eingeschlagene Weg, das verfolgte konkrete Etappenziel soll geändert werden. Wenn wir ein Symptom verstehen, haben wir es in unseren Annäherungsweg an mehr Stimmigkeit integriert. Dann können wir aus einer Metaperspektive sagen: Das Symptom gehört zum Annäherungsweg dazu; es hat eine wichtige wegweisende Funktion gehabt.

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Der Mensch als kommunikative Ganzheit Wir verstehen jeden Menschen als Ganzheit (Seele) von Körper, Emotionen, Gedanken und Glauben/Spirit. Er kommuniziert und ist in Resonanz zur physischen, mitmenschlichen, kulturellen und globalen sowie geistigen Umgebung, in den Lebensdimensionen. Symptome können in jeder dieser Lebensdimensionen auftreten. Symptome verstehen wir als Kommunikation – als Übermittlung von Informationen in der jeweiligen Lebensdimension. Wenn sie richtig verstanden und entsprechend kommuniziert werden, kann das Symptom verschwinden – es hat seinen Dienst getan. Dabei können körperliche Symptome auch Unstimmigkeiten im mitmenschlich-emotionalen oder kulturell-mentalen Bereich ausdrücken. Die Unstimmigkeit kann innerhalb der individuellen Ganzheit von einer Dimension in eine andere übersetzt werden (anscheinend häufiger von einer größeren zu einer kleineren, mehr physischen). Dann gilt es, die Information des Symptoms im Kontext seiner Entstehung, also im zwischenmenschlichen Leben (Familie u. Ä.) bzw. im kulturellen Leben (Beruf, Politik usw.) auszudrücken. Annäherungs-, Abwendungs- und Kohärenzmodus und Stressprobleme Viele Symptome und Erkrankungen werden heute zu Recht im Zusammenhang mit Stress gesehen. Stress ist mit einer Aktivität des Abwendungssystems verbunden. Bei Stress unterscheiden wir die äußeren Bedingungen (Stressoren) und die individuelle Stressverarbeitung (wie will und kann ich mit den Stressoren umgehen?). So stellt sich auch bei allen Stressproblemen und -erkrankungen die Frage: Geht es darum, die äußeren Bedrohungen (Stressoren) zu beseitigen, zu reduzieren oder ihnen zu widerstehen (resilient zu sein), oder mehr darum, einen anderen Umgang mit ihnen zu finden, eine andere innere Einstellung, einen anderen inneren Weg? Der lösende Ausweg aus Stressmustern beginnt mit Innehalten und Sich-Besinnen auf attraktive stimmige Ziele. Emotion und Bedürfnis Das Zusammenspiel von Körper, Emotion, Denken und Glauben war immer das Rätsel der Psychosomatik (von Uexküll u. Wesiack, 1991). Mit einem Verstehen als integrierende individuelle Resonanz in unterschiedlichen Lebens- und Systemdimensionen wird es plausibel (Petzold, 2007, 2013, 2021). Die Emotionen und ggf. Gedanken, die bei einer körperlichen Erkrankung auftreten, geben oft Hinweise auf das Thema und die Botschaft der Erkrankung

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(z. B. Schmerz und Traurigkeit bei einer Krankheit; Unsicherheit und Angst bei einer Übung). Dazu können wir das Bedürfnis finden, das hinter der Emotion steckt, das der Emotion die Kraft gibt und gleichzeitig den Lösungsweg weist. Wenn also jemand Angst bei einer Übung oder einem Schmerz hat, geht es darum, Sicherheit oder Vertrauen im Leben und in Bewegung, wie auch eine neue Beweglichkeit zu finden. Wenn jemand Schmerz und Traurigkeit empfindet, geht es darum, wieder Verbundenheit zu spüren – womöglich in einem bestimmten Zusammenhang oder auch in einer anderen Lebensdimension. In Tabelle 2 sind die wichtigsten Grundbedürfnisse und Emotionen zusammengestellt. Bis auf die Freude entstehen die Emotionen jeweils als Reaktion auf eine zuvor erhaltene frustrierende Antwort auf eine Bedürfnismitteilung. Diese Zuordnungen von Emotion und Bedürfnis sind als Erfahrungszusammenhänge zu sehen und nicht als lineare Beziehungen. Das hängt auch damit zusammen, dass unterschiedliche Menschen ihre Emotionen und Bedürfnisse unterschiedlich bezeichnen. Als richtungsweisender Hinweis ist Tabelle 2 sehr hilfreich. Tabelle 2: Bedürfnisse und Emotionen Emotionen als Ausdruck frustrierter bzw. befriedigter Bedürfnisse Bedürfnis

Emotion

Sich verbunden fühlen

Trauer

Gehört/gesehen werden

Wut

Menschlich kooperieren

Ärger

Bedingungslos dazugehören

Eifersucht

Zugehörigkeit zur Kultur/Norm

Scham

Sicherheit, Vertrauen, Mut

Angst

Selbstwirksamkeit, Macht/Selbstmächtigkeit

Ohnmacht

Reinlichkeit

Ekel

Mehr Stimmigkeit

Freude

Fragen, die zum Verstehen der Information des Symptoms führen Wenn ein nicht akut gefährliches Symptom auftaucht, können wir den Fragen nachgehen: Ȥ Welche heilsame Information steckt im Symptom? Ȥ Gibt es ein Bedürfnis hinter dem Symptom? Ȥ Möchte der Körper eine bestimmte Haltung einnehmen oder Bewegung ausführen? Ȥ Möchtest du dich anders fühlen als im Moment? Wie?

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Es gilt, jeweils eine positive Formulierung für das jeweilige Bedürfnis oder den Wunsch zu finden. In Bezug auf Schmerz soll es also nicht heißen: »schmerzfrei« – frei von Schmerz ist eine Abwendungsformulierung, »frei zu« wäre eine positive Annäherungsformulierung. Positiv könnte es heißen: »Mich frei und leicht bewegen, wohlfühlen …« Ȥ Welche Gefühle sind mit dem Gefühl und den Gedanken an Freiheit verknüpft? Ȥ Wann und in welchem physischen, sozialen, kulturellen und globalen Zusammenhang ist das Symptom aufgetreten? Was war in der Zeit (und vorher) los? Stress? Pläne? Bedürfnisse, Wünsche? Veränderungen? Übergänge? Ȥ Wann wird es schlimmer? Wann besser? Bei welcher Bewegungsrichtung, Aktivität, welchen Emotionen und Gedanken usw.? Ȥ Was willst und kannst du tun, damit es besser wird? Ȥ Kannst du dein Bedürfnis oder Anliegen hinter dem Symptom erkennen, fühlen, verstehen und anders kommunizieren? Ȥ Was möchtest und kannst du aus dem Symptom lernen?

Reflexion und Ausblick Für eine gesunde Entwicklung ist wohl besonders die übergeordnete Dominanz des Kohärenzsystems wichtig. Um diese Dominanz zu erreichen bzw. wiederherzustellen, bedarf es der Anregung wichtigster Attraktiva. Diese finden sich anscheinend am komplexesten und nachhaltigsten in einem Gefühl von mehrdimensionaler Stimmigkeit wie Sinnhaftigkeit (Antonovsky, 1997; Frankl, 1987; Hüther, 2004; Spitzer, 2007; Petzold, 2009, 2013, 2021). Mit einem stimmigen Gefühl von Sinnhaftigkeit können persönliche Bedürfnisse, der Glaube (spirituelle Dimension), das Erkennen von globalem Sinn (z. B. Ökologie), kulturell bedeutsame Tätigkeit, lustvoll aufbauende zwischenmenschliche und familiäre Beziehungen sowie das eigene Wohlergehen verbunden werden. Im Laufe eines Tages, eines Jahres bzw. des ganzen Lebens ist mal die eine Lebensdimension und mal die andere im Vordergrund. Salutogen ist in jedem Fall, wenn das Gefühl von Stimmigkeit basal und verbindend vorhanden ist – unabhängig davon, in welcher Dimension ein Mensch gerade aktiv ist. Bei langwierigen Erkrankungen scheint salutogene Kooperation unter Berücksichtigung der kommunikativen Kohärenzregulation geeignet, erstarrte Kommunikationsmuster wieder derart zu dynamisieren, dass eine gesunde Entwicklung möglich wird. Dabei werden zur erfolgreichen Kommunikation von auch frühkindlichen Bedürfnissen neue Möglichkeiten erschlossen. Dadurch

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wird mehr Kohärenzerleben in unterschiedlichen Lebensdimensionen wahrscheinlich. Ein sehr wichtiger – bisher zumindest in der Theorie – sehr vernachlässigter Aspekt sind die attraktiven, subjektiv motivierenden Kohärenz- und Annäherungsziele für gesunde Entwicklung. Sie leiten die gesunde autonome und kommunikative Kohärenzregulation in Kooperation zu bestmöglichem Erfolg. Literatur/Internet Antonovsky, A. (1997). Salutogenese. Zur Entmystifizierung von Gesundheit. Tübingen: dgvt. Bauer, J. (2004). Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern. München: Piper. Elliot, A. J. (2008). Handbook of approach and avoidance motivation. New York: Psychology Press. Esch, T. (2017). Der Selbstheilungscode. Die Neurobiologie von Gesundheit und Zufriedenheit. Weinheim: Beltz. Faulstich, J. (2008). Das heilende Bewusstsein. Wunder und Hoffnung an den Grenzen der Medizin. München: Knaur. Fischer, W. (2013). Chronizität – was ist wirklich möglich? In: T. D. Petzold, O. Bahrs (Hrsg.), Chronisch krank und doch gesund (S. 43–55). Bad Gandersheim: Verlag Gesunde Entwicklung. Frankl, V. E. (1987). Der Wille zum Sinn. Ausgewählte Vorträge über Logotherapie. München: Piper. Gadamer, H. G. (1993). Über die Verborgenheit der Gesundheit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Gendlin, E. T. (2004). Focusing – Selbsthilfe bei der Lösung persönlicher Probleme. Reinbek: Rowohlt. Gigerenzer, G. (2007). Bauchentscheidungen. Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition. München: Bertelsmann. Grawe, K. (2004). Neuropsychotherapie. Göttingen: Hogrefe. Grossarth-Maticek, R. (2000). Autonomietraining. Gesundheit und Problemlösung durch Anregung der Selbstregulation. Berlin/New York: de Gruyter. Grossarth-Maticek, R. (2003). Selbstregulation, Autonomie und Gesundheit. Berlin/New York: de Gruyter. Grossarth-Maticek, R., Petzold, T. D. (2007). Ein starkes Zugehörigkeitsgefühl vervierfacht die Wahrscheinlichkeit auf ein langes gesundes Leben. In: T. D. Petzold, C. Krause, N. Lehmann, R. F. Lorenz (Hrsg.), verbunden gesunden – Zugehörigkeitsgefühl und Salutogenese (S. 97– 107). Bad Gandersheim: Verlag Gesunde Entwicklung. Hüther, G. (2004). Die Macht der inneren Bilder. Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Knoch, D. (2007). Funktionelle Hemisphärenasymmetrie der Selbstkontrolle? Zeitschrift für Neuropsychologie, 18 (3), 2007, 183–192. Kriz, J. (1999). Systemtheorie für Psychotherapeuten, Psychologen und Mediziner. Wien: Facultas. Kriz, J. (2017). Subjekt und Lebenswelt. Personzentrierte Systemtheorie für Psychotherapie, Beratung und Coaching. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Latham, G., Locke, E. (1991). Self-regulation through goal setting. Organizational Behavior and Human Decision Processes, 50, 212–247. LeShan, L. (1989). Diagnose Krebs: Wendepunkt und Neubeginn. Stuttgart: Klett-Cotta. LeShan, L., Büntig, W. (2010). Die Melodie des eigenen Lebens finden. Interview auf DVD. Müllheim: Auditorium. Locke, E., Latham, G. (2002). Building a practically useful theory of goal setting and task motivation. American Psychologist, 57 (9), 705–717. Lown, B. (2004). Die verlorene Kunst des Heilens. Anleitung zum Umdenken. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

T. D. Petzold · Salutogene Kommunikation zum Anregen der Selbstheilungsfähigkeit

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Salutogenese – Grundlagen

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Theodor Dierk Petzold ist Facharzt für Allgemeinmedizin, Naturheilverfahren, Coach und Supervisor, European Cer­tifi­ cate of Psychotherapy; Lehrbeauftragter an der MHH und der Carl-Remigius-Medical-School; Autor/Herausgeber zahlreicher Bücher und anderer Fachveröffentlichungen. Er hat die Salutogene Kommunikation SalKom samt Theorie und dem »Training der Stressregulationsfähigkeit TSF« entwickelt (von Krankenkassen als multimodales Stressmanagement zertifiziert). Seine derzeitigen Arbeitsschwerpunkte liegen in der Aus- und Weiterbildung und Supervision sowie in der Arbeit an einer systemischen und evolutionären Meta-Theorie für Gesundheitsberufe. 2004 gründete er das Zentrum für Salutogenese in Bad Gandersheim und leitet dieses. Er hat den Dachverband für Salutogenese mitgegründet und war bis 2019 Sprecher des DachS und Mitherausgeber der Zeitschrift für Salutogenese DER MENSCH. Seit 1984 hat er das Gemeinschaftsleben in Heckenbeck initiiert und wesentlich mitgeprägt (s. NDR-Film: »Dorf macht glücklich«). Kontakt: Barfüßerkloster 10, D-37581 Bad Gandersheim, Tel.: 05382-95547-0, E-Mail: [email protected]; www.salutogenese-zentrum.de www.gesunde-entwicklung.de www.globale-ethik-blog.net.

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Selbstwirksamkeit stärken – Wohlbefinden fördern

Yoga und das Gefühl für soziale Sicherheit – innen Grenze, außen Mauer? Christine Koch

Hinführung Mitte der 1980er Jahren lernte ich Yoga nach Rocque Lobo kennen. Ich war damals Anfang zwanzig und arbeitete als Hebamme in einer Klinik. Ich war häufig gestresst und hatte aber die Einschätzung, immer noch mehr tun zu müssen. Ich dachte beispielsweise, ich müsse mich – trotz Nachtdiensten und unregelmäßiger Arbeitszeiten – an freien Tagen zwingen, früher aufzustehen. Ich habe mich gefragt, warum ich immer so müde bin und Schwierigkeiten hatte, mich gut zu versorgen und mich in Gruppen wohlzufühlen. Ich war eine Einzelkämpferin. Meine ersten Erkenntnisse beim Yoga-Üben waren, dass ich Stresszeichen hatte, die sich durch Ruhe – und nicht durch mehr Anstrengung – in Merkmale der Entspannung wandelten. Ich begann langsam, mir Ruhepausen zu gönnen. Meine zweite Erkenntnis war, dass ich, wenn ich mich subjektiv gut fühlte, Schwierigkeiten hatte, die Yoga-Stellungen auszuführen, und wenn ich mit negativen Gefühlen belastet fühlte, mich weniger schwer tat in den Yoga-Stellungen. Diese Diskrepanz zwischen meiner Selbsteinschätzung und der körperlich erlebten Wirklichkeit hat mich neugierig gemacht – auch auf unangenehme Gefühle. Meine Kritik an der gängigen Geburtshilfe in den 1980er Jahren, die ich häufig als gewaltsam und frauenfeindlich erlebt habe, hat mich bewogen, mich selbstständig zu machen. Das hat meine Tendenz zur Selbstüberforderung verstärkt, denn meine Entscheidung, in die Hausgeburtshilfe zu gehen, galt damals als ziemlich exotisch. Mein Ziel war es, Frauen in ihrer Fähigkeit, aus eigener Kraft zu gebären, zu unterstützen, und ich blicke auf viele schöne, kraftvolle Geburten zurück. Gleichzeitig war ich zu wenig vernetzt und von der Arbeitsbelastung her ständig an meiner Leistungsgrenze. Mein Privatleben erlebte ich als schwierig. Als meine Tochter klein war – ich war bis zu ihrem 15. Lebensjahr alleinerziehend –, habe ich die Yoga-Ausbildung bei Harald Sommer, Inge und Dieter Völker und ein anschließendes Aufbaustudium Gesundheitspädagogik bzw. »körperorientierte Soziale Intervention«, konzipiert von Prof. Dr. Rocque Lobo, absolviert. Mein geburtshilfliches Interesse hat sich im Lauf der Jahre erweitert auf die frühe Eltern-Kind-Interaktion in der Schwangerschaft und im

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ersten Lebensjahr. Inzwischen arbeite ich als Lehrhebamme und gebe einen Yoga-Kurs für Frauen. In folgendem Beitrag gehe ich der Fragen nach, wie Schmerzerfahrung Beziehungen beeinflusst. Ich ergründe den Mythos, dass durch Entspannung Wunder geschehen. Ich möchte die schwierigen Gefühle erkunden, die sowohl in Beziehungssituationen auftauchen als auch in Szenen des Yoga-Unterrichts oder Yoga-Übens. Dabei sind mir auch »Nicht-Gefühle« wichtig, also Gefühle, die man schlecht greifen kann, weil sie sich nicht lautstark bemerkbar machen, Gefühle, die mit Verschwinden, Verstecken, Nicht-fühlen-Können und Rückzug zu tun haben. Gefühle von Nebel und Verwirrung, Ohnmacht und Hilflosigkeit. Dabei setze ich neuere psychologische Ansätze in den Kontext zu den alten Konzepten des Yoga und Āyurveda und nehme die Leser1 mit auf einen Streifzug durch Āyurveda und das Yoga, das ich bei Professor Lobo und den nach ihm ausgebildeten Yoga-Lehrenden lernen konnte.

Schmerz als Behinderung des Lebensflusses Im Yoga wird Schmerz als Behinderung des Lebensflusses angesehen und zeigt eine Störung an. Schmerz gilt auch als Fehlerquelle in der Selbstdiagnose. Deshalb bemühen sich Yoga und Āyurveda, analytische Instrumente einzusetzen, um Abstand zu den blinden Flecken zu gewinnen. Als Schmerzursachen werden Unregelmäßigkeiten in der Lebensführung und in inneren (z. B. hormonellen) Abläufen, Schmerz durch Alter, Mangelzustände, Tod von Mitmenschen sowie Schmerz durch Gewalteinwirkung und Verletzung angesehen. Gerade nach Gewalterfahrung ist die Einschätzung der Sicherheit von Umgebung und Beziehungen schwierig, die Sicht darauf ist verstellt und muss neu erlernt werden. Im Umgang mit schmerzhaften Erfahrungen gibt es ein »Zuviel« und ein »Zuwenig«. Unterdrückung von schmerzhaften Empfindungen, zu viel Training, den Schmerz zu ignorieren, sich unempfindlich zu machen an biografischen Stellen schmerzhafter Erfahrung sowie das Ignorieren des Schmerzes als Warnsignal für Gewebsschädigung und als Leistungsgrenze führen in eine Sackgasse. Zu große Konzentration auf schmerzhafte Empfindungen, einhergehend mit Vermeidung derselben, führt zu Einengung der Lebenswelt und zu Unzufriedenheit und damit ebenfalls in die Sackgasse. Wir reflektieren im Alltag und in der 1 Aufgrund der Lesbarkeit verwende ich im Text in zufälliger Folge die männliche und die weibliche Form, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Im Sinne einer gendersensiblen Sprache mögen sich bitte alle Personen, gleich, an welcher Stelle des gesamten Spektrums sie sich definieren, gemeint fühlen.

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Übungssituation unsere Reflexe, die unsere individuelle »Natur« (Prakrti) und Verfasstheit zu unserem Schutz einsetzen. Wir betrachten Schutz-, Kampf-, Abwehr-, Anklammerungs-, Flucht-, Hingabe-, Erholungs-, Fortpflanzungs- und Verdauungsreflexe, welche alle mit spezifischen Körperempfindungen sowie mit Schmerz- oder Schmerzfreiheit einhergehen. Körperempfindungen sowie Träume und innere Bilder werden dabei in ihrem Erscheinen und in ihren Veränderungen so weit als möglich »absichtslos« betrachtet. Absichtslosigkeit meint vorurteilsfrei und mit dem bewusst eingegangenen Risiko, Neuland zu betreten, sich dem Körpererleben zu stellen und Empfindungen vorurteilsfrei zu akzeptieren sowie dieses Erleben in eigener Sprache zu fassen und in der größtmöglichen Offenheit anderen mitzuteilen. Kranksein heißt, nach spezieller Bewegung oder Ruhe und nach speziellem Essen oder keinem Essen zu verlangen. Unser innerer Bedarf äußert sich in unserem Appetit. Wir finden Geschmack an der Welt – oder eben auch nicht. Krank sein heißt, dass ein Mitmensch fragen muss, wo und wie es denn weh tut. Krank bleiben heißt, dass man diese Frage vorschnell beantwortet oder sich beantworten lässt. Krank sein heißt, dass man vergessen hat, wer man ist. Kranksein beenden heißt, sich auf den Weg des Heil- und damit wieder Ganz-­Werdens zu begeben (Brennan, 1994) und sich die Frage nach dem eigenen Selbst zu stellen. Eventuell ist eine Operation oder ein Verband notwendig. Ein Pfeil muss entfernt werden. Eine Wunde muss gereinigt werden und braucht Zeit zum Heilen. Eine Mauer muss abgebaut werden. Die Kommunikation mit der Umwelt und damit eine soziale Situation ist zur Falle geraten und es muss ein Ausweg gefunden werden.

Der Körper als soziale Wirklichkeit Der Körper ist soziale Wirklichkeit kann als Axiom des hier vertretenen Yoga gelten. Kein Yoga-Üben ist möglich im neutralen Raum – Üben findet immer statt im Kontext der Sozietät. Da Yoga nicht in einem von sozialen Gegebenheiten unabhängigen Raum geübt werden kann, spiegelt sich die soziale Situation in der Übungssituation und muss in die Reflexion einbezogen werden. Laut Āyurveda, der traditionellen indischen Medizin, sind wir mit einem sechsten Sinn, dem sozialen Sinn ausgestattet. Wir prägen Atmosphären und nehmen Atmosphäre wahr, sind Atmosphären ausgesetzt. In Empfindungen spiegeln sich unsere Beziehungen und unsere Beziehung zur Welt. Die Empfindungen finden ihren fließenden Übergang zu Gefühlen, Emotionen, Intuitionen, Träumen, Bewertungen, Einschätzungen. Sie sind eingebettet in ein komplexes inneres Körperempfinden (Lobo, 1986, S. 8).

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Manche Menschen finden sich wieder in Lebenssituationen, die ihnen misslich oder gar unerträglich erscheinen und wissen eventuell gar nicht, wie sie da gelandet sind. Was sie aber sicher wissen: Es ist das Gegenteil eines sonnigen geschützten Platzes, an dem es sich gut leben lässt. Es ist ein Platz, an dem viel Reibung herrscht oder emotionale Kälte oder eine Mischung aus beidem. Manche denken jahrelang, dieses Lebensgrundgefühl sei normal, bis sie durch Leidensdruck und Vergleiche feststellen, dass es anderen nicht so schlecht geht, und sie machen sich auf den Weg. Andere Menschen haben es sich gut im Leben eingerichtet und machen dann Krisen und Erfahrungen durch, die schwer zu verarbeiten und in ihr Selbstbild zu integrieren sind. Und viele finden sich in einer Kombination aus beiden Szenarien wieder. Menschen haben die Tendenz, negative Erfahrungen in wiederkehrenden individuellen Reaktionsmustern zu wiederholen und damit ihr Leiden zu verlängern. Auch wenn dies schmerzhaft ist, bietet das Agieren in Mustern doch die Sicherheit einer Kontinuität im Selbstgefühl und ist deshalb nur schwer veränderbar (Young u. Klosko, 2006, S. 17–27). Diese Sicherheit aufzugeben und damit ein Risiko des Herzens einzugehen und sich für neue Erfahrungen zu öffnen ist ein zentrales Anliegen des Yoga. Das soziale Miteinander ist uns in die Wiege gelegt. Gleichzeitig ist es sehr störanfällig. Ohne wie auch immer geartete Bindungen kann ein Mensch nicht leben. Menschen reagieren einzeln und in Kombination mit Verhaltensweisen wie Anklammern, Aggression, Gegenangriff, Sich-Schützen, Sich-Ergeben und auch mit Rückzug auf sozial verunsichernde Situationen und auf unerfüllte Bedürfnisse (Young u. Klosko, 2006, S. 22, S. 56). Bedürfnisse können unterteilt werden in Beziehungs- und Selbstintegrationsbedürfnisse, Machtbedürfnisse und Leistungsbedürfnisse (Kuhl, 2018, S. 389–422). Bedürfnisse äußern sich in Körperempfindungen und Emotionen. Emotionen können eingeteilt werden in Emotionen, die auf erfüllte, und Emotionen die auf unerfüllte Bedürfnisse hinweisen (Rust, 2007, S. 166). Das Üben von Yoga besteht in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper als Spiegel sozialer Wirklichkeit. In Yoga-Übungen werden für den Körper Szenen dargestellt, die unterschiedliche Anforderungen an Gewebe und Einstellungen stellen. Damit stellen Yoga-Übungen Fragen an den Menschen und können als Testsituation für die Selbstregulationsfähigkeit und die momentan erlebte Lebendigkeit und Stabilität angesehen werden. Das Yoga-Training besteht in der Auseinandersetzung mit diesen Anforderungen und im Erlernen der körpereigenen Sprache, die sich in Empfindungen, Emotionen, Symbolen und inneren Bildern äußert, welche das Verhältnis der persönlichen Kraft zur persönlichen Zeit spiegeln (Lobo, 1986, S. 7–10).

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Im Yoga fragen wir zunächst danach, wo in unserem Leben es ein »Zuviel«, wo ein »Zuwenig« gibt. Das kann alle Lebensbereiche betreffen wie z. B. Schlafen, Essen, Arbeiten, Putzen, Waschen, Aufräumen, Ordnen, Wegwerfen, Bevorraten, Beziehungen, Faulenzen, Bewegen, Sprechen, Berühren, Lernen, Expandieren, Rückzug, Festhalten. Ungleichgewichte, technisch gesprochen, Abweichungen von einem individuellen Soll-Wert, äußern sich in schmerzhaften Empfindungen und dem Erleben unerfüllter Bedürfnisse. Eine Person nimmt individuell wahr und handelt individuell. Ihre endogenen Rhythmen kommunizieren mit der Umwelt. In »Feldern der Sinneserfahrung« (Indriyas) erlebt sie sich in Kompetenz und Inkompetenz (Lobo, 2001, S. 27). Aus unserer Yoga-Perspektive fragt man danach, wo Erstarrung, Blockade oder wo zu viel Reibung wahrnehmbar ist und wie der Lebensfluss wieder in Fluss kommen kann, wenn er ins Stocken geraten ist. In den Yoga-Stellungen und Atemübungen des Yoga (Āsana und Prāṇāyāma) werden durch Beanspruchung spezifischer Körpergewebe bestimmte Lebenssituationen inszeniert. Man betrachtet zunächst die Körperempfindungsqualitäten, die während des Übens auftreten, und auch die Emotionen, die sie begleiten. Es tauchen im Fall von Ungleichgewicht Stressmerkmale auf, also Merkmale, die Defensivreaktionen begleiten und auf ein Bedrohungsszenario für den Übenden hinweisen, beispielsweise ein trockener Mund und feuchte Hände. Im Fall von Gleichgewicht und gelungener Selbstregulation zeigen sich Entspannungsmerkmale, also dann, wenn sich die Übende in Sicherheit weiß, wie z. B. ein eher süßer Geschmack im Mund, warme Füße und eine entspannte Arbeitsmuskulatur. Spezifische Merkmale aus den Bereichen Gelenke, Atmung, Muskeln, Blutkreislauf, Knochen, Sehnen und deren Erlebenshorizonte kommen hinzu. Rocque Lobo hat sie ausführlich beschrieben im »Yoga-Elementarkurs« (1986, 1987a, 1987b, 1987c, 1987d, 1987e) und in »Grundlagen des Āyurveda« (2001). Die āyurvedische Medizin ordnet die Merkmale in zehn Gegensatzpaare nach »Sonneneigenschaften«, die sympathotone Reaktionen anzeigen, und »Mondeigenschaften«, die ein Überwiegen des Parasympathikus anzeigen. Die Merkmale der Gegensatzpaare sollen ausgewogen sein und können einander im Sinne dieser Ausgewogenheit ergänzen. Beispiele für Sonnenmerkmale: heiß, stechend, schnell. Beispiele für Mondmerkmale: träge, hart, schleimig, schwer. Diese Eigenschaften kommen sowohl im menschlichen Körper vor als auch in Substanzen, die ausgleichend und heilend in der āyurvedischen Medizin und Ernährungslehre eingesetzt werden, und eignen sich auch zur Beschreibung sozialer Situationen auf Körperebene. Die zehn Gegensatzpaare des Āyurveda sind: schwer – leicht, kühlend – heiß, viskös – trocken, langsam – scharf, stabil – fließend (sara), hart – weich

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(mrdu), schleimig – klar, weich (ślakṣṇa) – rau, grob – subtil und halbfest – flüssig (drava) (Lobo, 2001, S. 98). In Yoga und Āyurveda gibt es verschiedene analytische Instrumente, mit denen eine Standortbestimmung und Selbstreflexion möglich wird. Mit ihnen wird die Frage gestellt, wie das Individuum seine Umwelt bewältigt. Die Sonnenmerkmale und Mondmerkmale geben eine erste Auskunft darüber.

Die analytischen Instrumente in Yoga und Āyurveda: Indriyas, Guṇas und Doṣas, Marmas, Kleshas Ein weiteres Beispiel eines analytischen Instruments ist die Reflexion der Erlebenshorizonte Feuer, Wasser, Erde, Luft und Raum. Indriyas In den Indriyas, den »Feldern der Sinneserfahrung«, ist jedem dieser Erlebenshorizonte ein Wahrnehmungsfeld und ein Handlungsfeld zugeordnet, welche die Sinneserfahrungen der Erlebenden in den Bereichen Ohr/Stimme, Geschmack/Ausscheidung, Haut/Hände, Formen und Farben/geschlechtliche Begegnung, Geruch/Bewegung gestaltet. Ist ein Mensch gesund, halten sich die Indriyas in Balance, indem sie aufeinander hemmend bzw. einander antreibend wirken (Lobo, 1978, S. 82). Guṇas und Doṣas Es gibt drei »Kategorien der Einschätzung der Lebenswirklichkeit« im Āyurveda und Yoga, mithilfe derer Prognosen getroffen werden und reflektiert werden sollen, in welcher sozialen Atmosphäre man sich bewegt. Sie nennen sich Guṇas und sind aufgegliedert in Sattva, Rajas, Tamas. Sie sind als Selbst- und Fremdanalyse-Instrument zu betrachten, bei dem sich der/die Übende fragen kann, ob er/sie sich wirklich in Sicherheit fühlt, ob er/sie sich aufreibt oder ob seine/ ihre Beziehungen das Gefühl von Enge und Bewegungslosigkeit vermitteln. Die Guṇas kommen auch in Mischformen vor. Sattva: Die Realitätsnähe und Wahrhaftigkeit. Gekennzeichnet durch den Eindruck: »Mehr ernten, als man sät«. Ein sicherer, sonniger, sozialer Ort, der das Empfinden von »im Fluss sein«, Sicherheit und Zugehörigkeit beinhaltet. Rajas: Das zweifelhafte Benehmen, Unentschlossenheit, der »Dunstkreis der Leidenschaft« also das Sich-treiben-Lassen von seinen Emotionen, verbunden

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mit dem subjektiven Eindruck: »Mehr säen als ernten«, ist auch gekennzeichnet durch Reibungen im Zwischenmenschlichen, sich Aufreiben, viel Geben und das Empfinden, dabei heißzulaufen und innerlich leer auszugehen. Rajas wird assoziiert mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Tamas: Der Irrtum, das falsche Handeln. Subjektiver Eindruck: »Genauso viel säen wie ernten oder gar nichts ernten« – gemeint ist Erstarrung in Beziehungen, eingemauerter Schmerz. Tamas wird assoziiert mit Krebserkrankungen. Ist eine Umwelt zu schwierig, wird die individuelle Natur für das Individuum zur Krankheitsfalle. Es reagiert nach einem individuellen Muster, das bei Verunsicherung anspringt. Es werden drei Typen (Doṣas) von Reaktionsweisen und deren Mischformen unterschieden und beschrieben, für die es im Yoga bestimmte Ernährungs- und Übungsempfehlungen und im Āyurveda bestimmte Therapieanweisungen gibt. Die Doṣas nennen sich Kapha, Pitta und Vata und sind eng verflochten mit den Guṇas. Menschliche Gruppen erleben sich in Atmosphären, die Rajas, Sattva oder Tamas zugeordnet werden können und nicht direkt beeinflussbar, wohl aber erlebbar sind (Lobo, 2001, S. 179–184). Die Umwelteinflüsse und die Gruppenatmosphäre treffen auf eine individuelle Reaktionsbereitschaft und bringen entsprechende Probleme mit sich, die ein Mensch mithilfe der ihm eigenen Selbstregulationsfähigkeit meistert. Sattva wird traditionell eher positiv konnotiert, Rajas und Tamas eher negativ. Es gibt jedoch auch eine andere Sichtweise, die Lobo (1990) beschreibt und die auf die Selbstregulationsfähigkeit des Menschen abzielt und damit auf seine Bewältigungsmöglichkeiten in Schlaf- und Traumzuständen sowie in meditativen Zuständen, wie sie in Yoga und Prāṇāyāma, den Atemübungen des Yoga, angestrebt werden. Hier ist Sattva dem Wachzustand zugeordnet und Tamas dem Traumzustand. Rajas vermittelt zwischen den Erfahrungen und dem Selbst des Menschen. Das Herz wird als Sitz des Bewusstseins und des Traums angesehen – ausgestattet mit der Fähigkeit, auch schwierigste Situationen integrieren und über die Vermittlung des Träumens für einen Perspektivwechsel des Menschen sorgen zu können (Lobo, 1990). Die Fähigkeit, Träume und innere Bilder zu erleben, gilt es im Yoga zu kultivieren. Diese Fähigkeit ist Kindern spontan zugänglich, verkümmert aber im Laufe des Lebens, wenn sie nicht trainiert wird. Sie steht im direkten Zusammenhang mit der Selbstregulationsfähigkeit. Marmas Im Marma-Yoga® fragen wir danach, wo uns etwas angegriffen und getroffen hat. Sinnbildlich wird hier von einem »Pfeil« gesprochen, der körperlich und sozial treffen kann. Śalya-Tantra, die »Lehre vom Pfeil«, wurde von Lobo (1990) aus

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der Suśruta Samhita, welche als einer der ersten Texte der āyurvedischen Medizin gilt, ins Deutsche übersetzt und ist ein wichtiger Teil der Marma-Lehre des Yoga. Ursprünglich war mit Marma tatsächlich die Stelle gemeint, an der ein gegnerischer Pfeil traf oder treffen sollte. Diese Stellen wurden von Suśruta, der als erster indischer Chirurg gilt und um das Jahr Null gelebt haben soll, nach ihrer Gefährlichkeit katalogisiert. Marmas sind Stellen im Körper, an denen wir einen Pfeil, also eine Bedrohung durch die Umwelt, schmerzhaft spüren. Marmas sind Stellen, die schmerzfrei sind, wenn wir in Sicherheit sind. Sie werden durch die Reflexe unseres Körpers geschützt. Geschieht dies zu stark, können sie durch Überbetonung der Schutzreflexe »schlafen« oder empfindungslos werden. Das heißt, der Mensch verliert den Zugang dazu, was eigentlich mit ihm und seiner Welt los ist, und er verliert die realistische Einschätzung und Orientierung. Hier wäre ein Ziel des Yoga-Übens das Aufwecken und Ansprechen der Marmas. Marmas sind in der Sprache des Āyurveda, welche sich oft auf die Kriegsführung bezieht, Wach- und Warnposten des Körpers, die im Feindesland Stellung bezogen haben oder die, je nach Situation, ein an sich friedliches Königreich bewachen. Und ein Wächter muss präsent und wachsam sein, um seine Funktion ausüben zu können. Um im Bild zu bleiben, werden Marmas als Wach- und Warnposten erst dann schmerzfrei, wenn Friedensverhandlungen geführt wurden und das Land in Frieden ist. Marmas geben Auskunft darüber, ob ein Feind von außen oder von innen kommt und wie viel Zeit bleibt, um auf die Bedrohung zu reagieren. Marmas fungieren sowohl als Feedback- als auch als Feedforward-System, welches die erwartete Zukunft des Individuums einschätzt. Marma-Yoga®-Übungen sind als System konzipiert, die Marmas auf Schmerzhaftigkeit oder Schmerzfreiheit zu testen. Kleshas Die Kleshas bilden ein weiteres Instrument der Selbsterkenntnis des Yoga. Mithilfe der Kleshas werden von Patañjali fünf »Blockaden des Sehvermögens« beschrieben in fünf Phasen der Einengung der Lebensperspektive als Reaktion auf schmerzhafte Erfahrungen. Die Auseinandersetzung mit den Kleshas und damit das Verhalten des Menschen im Umgang mit Schmerz bilden im Yoga die höchste philosophische Kategorie. Dabei wird berücksichtigt, dass die individuelle Schmerzerfahrung die Sicht auf die Realität dann verstellt, wenn in der Schmerzerfahrung Schutzreflexe überbetont werden. Mit Schutzreflexen sind hier alle Reflexe gemeint, die übermäßig zum Schutz vor der schmerzhaften Erfahrung eingesetzt werden, also z. B. Kampf- oder Fluchtreflexe oder Reflexe des Sich-Ergebens und Aufgebens. Alle Reflexe – beispielsweise auch Reflexe der

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Nahrungsaufnahme, wie zu viel oder zu wenig Essen – können als Schmerzvermeidungsstrategie eingesetzt werden, dies nennt man auch Defensivstrategien. Sie bringen eine verzerrte Sicht auf die Wirklichkeit im Sinne dysfunktionaler Kognitionen und Handlungen mit sich, und zwar, weil der Mensch sich die Reflexe zunutze macht, indem er sie umdeutet, um sie langfristig einsetzen zu können – mit negativen Folgen für Beziehungen und Gesundheit. Kleshas beschreiben eine Abfolge von fünf Stadien: Avidyā, Asmitā, Rāga, Dvesá und Abhiniveshā, welche die Welt des Menschen im Schmerz und in der Defensivreaktion kennzeichnen. Sie sind individuell verschieden ausgeprägt, können offensichtlich oder verborgen sein. Hier die Abfolge: Beginnend mit dem Vermeiden einer Situation aus Angst vor Schmerz, über das vorurteilsbehaftete Interpretieren von Situationen, die man nicht genügend erforscht hat (Avidyā), sowie durch eine Überbetonung der Schutzreflexe errichtet man eine Mauer (Asmitā). Die Mauer verhindert den Kontakt mit der Welt, die Welt wird klein, die Person wird unzufrieden und von Wünschen geplagt (Dvesá), weil sie ihre Welt so nicht haben will. Dies versetzt sie seelisch und körperlich in Wallung (Rāga) und schadet ihr sozial und gesundheitlich, wenn sie den Zustand nicht lösen kann. Bleibt ein Mensch hinter dieser Mauer, wird er unnahbar und lebt nur noch nach seinen eigenen Regeln, was weitere Probleme verursacht. Es entsteht Streit und Zwietracht (Abhiniveshā) (Lobo, 1978, S. 43). Das Suchen und Finden eines Auswegs aus der Dynamik der Einengung der Lebenswelt, die durch die Kleshas beschrieben wird, ist ein aktiver, zwischenmenschlicher Vorgang, für den Selbst- und Fremdwahrnehmung durch Übungspartner oder Therapeuten wichtig sind und der durch Yoga-Übungen unterstützt wird. Dies ist die eigentliche Auseinandersetzung, um die es beim Yoga geht, und verdeutlicht, warum Yoga mithilfe einer Lehrkraft und am besten in einer Gruppe erlernt werden soll. Aspekte von Mauer und Grenze Lobo betont den positiven Aspekt der Mauer und damit der Schutzreflexe. Die aus Schmerz errichtete Mauer (siehe oben, Asmitā) bezeichnet er in ihrem positiven Aspekt als Grenze der Person. Ein Ausweg aus der Isolation sei möglich, wenn sich ein Mensch ins Gebiet seiner persönlichen Grenze begibt. »Wenn man sich eine Grenze zwischen zwei Staaten als eine Linie vorstellt, so gehört sie rein rechnerisch niemandem. Sie ist ein Niemandsland, und doch ist man, wenn man sich auf ihr befindet, sowohl hier als auch dort« (Lobo, 1978, S. 44).

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Lobo überträgt dieses Bild und stellt fest, »dass jeder Mensch die Grenze seiner eigenen Welt ist, die Grenze für alles, was er wahrnimmt und tut. Er steht außerhalb der raum-zeitlichen Ausdehnung dieser Welt, er erhebt sich vom Strom seines eigenen Lebens, seiner Existenz. Wenn er darüber nachdenkt, begibt er sich in diese Position der Grenze« (Lobo, 1978, S. 44).

Nur in dieser Grenzregion »außerhalb der raum-zeitlichen Ausdehnung dieser Welt« und sich selbst akzeptierend als Einheit von Körper und Geist könne ein Mensch über seine Handlungen reflektieren und »den Bogen von der Vergangenheit bis in die Zukunft spannen«. Aus der Warte der Grenze könne man sagen, dass man war, ist und sein wird, und auch das Gegenteil behaupten. »Man ist und ist nicht, man bewegt sich und bewegt sich doch nicht, man ist nah und doch fern zugleich, mit sich selbst eins und doch von sich selbst verschieden« (Lobo, 1978, S. 44).

In der gelungenen zwischenmenschlichen Begegnung würden zwei Grenzen zweier Welten verschmelzen, und zwar »nicht in Raum und Zeit und doch in Raum und Zeit« (Lobo, 1978, S. 44). In Beziehungen sei es wichtig, nicht in materiellen Beweggründen und eigenen Vorstellungen verhaftet zu bleiben, sondern sich dem Beziehungspartner voll zu öffnen. Solange man nur an seine eigene Entwicklung denke, könne diese Öffnung nicht gegeben sein (Lobo, 1978, S. 45). Beim Yoga-Üben wird die Grenze zweier Welten bewusst angesteuert – einerseits erscheint sie als Leistungsgrenze, mit der es sich bewusst zu konfrontieren gilt, andererseits als Grenze der eigenen Hingabefähigkeit. Nur wenn sich eine Person an ihre eigene innere Grenze begibt und davon berichtet, sind die Selbstmitteilungen wirklich fruchtbar im Austausch mit den Mitübenden. Es geht im Yoga nicht primär darum, Grenzen auszuweiten, sondern sie zu akzeptieren als Voraussetzung für Kommunikation in Beziehungen und dafür, tragfähige Entscheidungen treffen zu können. Rori Raye (2020) ist Beziehungscoach und unterscheidet in ihrem Videovortrag zwischen Grenzen und Mauern. Starke, fühlbare Grenzen im Inneren sind nötig, um in Beziehungen keine Mauern im Außenverhältnis zum Beziehungspartner aufbauen zu müssen. Wenn die inneren Grenzen im Fall von Irritation nicht spürbar sind oder verschwimmen, wechseln wir laut Raye zu einer nebelartigen Empfindung, welche sich bis hin zu Angst und Panik verstärken kann (Raye, 2020). Das Gefühl der Angst kreiert eine Art Dringlichkeit, man fühlt sich angegriffen und gleichzeitig nicht ganz präsent. Um sich zu schützen, er-

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richtet man eine Mauer dem Partner gegenüber. Rori Raye empfiehlt, zunächst die eigene Anspannung zu spüren, dann nacheinander Kiefer, Schultern, Brustraum, Bauch, Gesäß zu entspannen (Raye, 2020). Dann den Widerstand gegen die gegenwärtigen Gefühle und Empfindungen zu spüren, widersprüchliche und unangenehme Gefühle zu akzeptieren, den Widerstand dagegen aufzugeben und in das, was momentan in einem vorgeht, hineinzusinken. Dabei sanft, liebevoll und freundlich mit sich selbst umzugehen und aufmerksam dafür zu sein, wie sich die unangenehmen Gefühle durch die Akzeptanz und das liebevolle Da-sein-Dürfen langsam ändern. Dadurch werden allmählich die inneren Grenzen wieder aufgebaut und gestärkt und dies wiederum eröffnet die Möglichkeit, sich erneut auf den Beziehungspartner einzulassen. Raye geht also davon aus, dass in irritierenden Beziehungssituationen eine positive innere Grenze verschwindet, unfühlbar wird, zusammenbricht und dass in der kompensatorischen Verteidigungsreaktion eine äußere Mauer errichtet wird, solange die innere Grenze nicht mehr spürbar ist und keinen inneren Halt geben kann (Raye, 2020). Die Analogie zu den Kleshas ist offensichtlich. Wie im Yoga werden auch bei Raye Entspannungsübungen durchgeführt, Entspannung wird auch hier nicht als ursächliche Problemlösung angesehen. Der Spannungszustand der Muskulatur wird initial reduziert, dient aber im Verlauf eher als diagnostisches Instrument und Hilfsmittel zur Selbstwahrnehmung. Die Problemlösung erfolgt nach einer eingehenden persönlichen Reflexion im sozialen Kontext und stellt die Frage nach der Selbstregulationsfähigkeit des Individuums. Im Beispiel von Raye ist es das Sich-wieder-Öffnen für die Möglichkeit, Liebe vom Beziehungspartner zu empfangen. Die Selbstregulationsfähigkeit zeigt sich im Wiederaufrichten der positiven inneren Grenze und dem Abbau der äußeren Mauer. Demnach geht es im obigen Beispiel von Raye um einen Weg aus der Defensivreaktion und um eine Stärkung des sozialen Systems im Zusammenspiel mit einer sicheren Bezugsperson. Mittels wieder aufgebauter innerer Grenzen kann auch auf Abstand gegangen werden, wenn sich der Kontakt nicht als wohltuend erweist.

Selbstregulation und Entspannung Im Yoga wird nach der Selbstregulationsfähigkeit gefragt und danach, wie diese unterstützt werden kann. Es wird nach schmerzhaftem Erleben gefragt und dem Umgang damit. Dazu gehört die Frage nach Ressourcen und Stressoren. Als eine Hauptressource gelten gelingende Beziehungen.

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Der Medizinsoziologe Antonovsky entwickelte in den 1970er Jahren das Konzept der Salutogenese, indem er der Frage nachging, was »major psychosocial generalized resistance ressources«, was also generalisierte Widerstandsressourcen (Antonovsky, 1997, S. 45, S. 200) sind. Er nennt hier u. a. psychosoziale und materielle Gegebenheiten, Intelligenz und Ich-Identität, Bewältigungsstrategien, soziale Unterstützung und soziale Verpflichtungen, Kultur, Magie, Philosophie, die präventive Gesundheitsorientierung sowie genetische und konstitutionelle Widerstandsressourcen. Er fragte nach der Entstehung und Aufrechterhaltung von Gesundheit und sah Krankheit und Gesundheit als Gegenpole, zwischen denen Menschen kontinuierlich hin- und herpendeln. Ein absolut gesund oder ein absolut krank existiert demnach nicht, sondern das Ausmaß an Gesundheit oder Krankheit wird beschrieben durch die Fähigkeit des Individuums, seinem Leben Sinnhaftigkeit und dessen Ereignissen Bedeutung beizumessen. Dazu gehört, Widerstandsressourcen zur Verfügung zu haben, welche einen Sinn für Zusammenhang, ein Kohärenzgefühl – Antonovsky nannte es »sense of coherence« – schaffen. Aus der einwirkenden Mischung von Sinneseindrücken, welche ohne »sense of coherence« ein unbestimmtes Rauschen in der Wahrnehmung erzeugen würde, hat eine gesunde Person nach Antonovsky die Fähigkeit, sinnhafte Ereignisse herauszufiltern, lebenserhaltend zu interpretieren und danach zu handeln. Ohne Kohärenzgefühl, dem Gefühl, in Verbindung zu sein mit sich und der Welt, verliert sie Wohlbefinden und Selbstwertschätzung. Das Kohärenzgefühl bei Antonovsky erinnert an den Āyus des Āyurveda. Āyus wird auch der Zusammenhalt, das Lebende, der unverzichtbare Kern oder der Zusammenschluss genannt (Lobo, 2001, S. 26). Lobo übersetzt aus der Caraka Samhita I.42 und nennt drei Anteile, die den Āyus ausmachen: den menschlichen Körper, die Felder der Sinneserfahrung und Sattva; Sattva wird an dieser Stelle als »lebensbejahende Kommunikation mit der Umwelt« und als »wohltuend empfundene soziale und geistige Atmosphäre« beschrieben (Lobo, 2001, S. 26). Ein bestimmtes Aufmerksamkeitslevel ist nötig, um Lernerfahrungen zu machen und um in konstruktive Beziehungen zu treten. Wird eine Aufmerksamkeitsschwelle aufgrund eines erhöhten Stresslevels oder aufgrund zu geringer Anregung unter- bzw. überschritten, kann man Informationen nicht unterscheiden und einordnen. Das Unterschreiten der Aufmerksamkeitsschwelle führt zu Apathie, Langeweile und Verwirrung, das Überschreiten zu Panik und desorganisiertem Verhalten (Grawe, 2018). Der Traumatherapeut Levine (2012) spricht von Trauma, wenn die Fähigkeit, mit einer als bedrohlich wahrgenommenen Situation umzugehen, überlastet ist und man nicht mehr angemessen reagieren kann. In der Folge verliere

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man die Verbindung zu sich selbst, zu seinem Körper, seiner Familie und zu anderen Menschen. Häufig wird in Alltagssituationen wie auch in Yoga-Übungen zu viel Kraft eingesetzt im Verhältnis zur von der Übenden erlebten Zeit – dadurch wird der vorhandene Stress aufrechterhalten und es entsteht neuer Stress. Auch das Gegenteil kann der Fall sein: Wird zu wenig Kraft eingesetzt im Alltag oder beim Yoga-Üben, entsteht das Gefühl unendlicher Zeit bei gleichzeitigem Kraftmangel und eine Art Ziellosigkeit. Nicht selten sind auch Situationen, in denen in einem Bereich zu viel und in einem anderen Lebensbereich zu wenig Kraft eingesetzt wird. Die Yoga-Übende lernt, mithilfe spezieller Übungszyklen, in denen Kampfsituationen oder Hingabesituationen nachgestellt oder Übergänge zwischen aktiven Phasen und Ruhephasen simuliert werden, ihr Kraft-ZeitVerhältnis auszubalancieren und so Ich-Stärke und lebendige Perspektiven zu entwickeln (Lobo, 1987b, S. 74). »Das, was bewegt wird, ist der Horizont des Erlebens. Dieser ist durch das Verhältnis der subjektiven Einschätzung der Kraft zur subjektiven Einschätzung der zur Verfügung gestellten Zeit gekennzeichnet. Er lässt sich verschieben, entsprechend größer oder kleiner stellen. Daraus kommt die Bedeutung, die individuell jeder Situation vom Erlebenden unterlegt wird, zum Ausdruck. Und diese Bedeutung jeder Situation entsteht präzise aus der Bedrohung des für den Körper Unmöglichen, nämlich dem Tod« (Lobo, 1987a, S. 29).

Eine Entlastung des Kreislaufs beispielsweise kommt nicht dadurch zustande, dass man das Herz-Kreislauf-System kräftig fordert beim Üben, sondern dass man beim Yoga-Üben anhand der Körpermerkmale Parallelen zu Alltagssituationen herstellt, über- und unterfordernde Situationen im Alltag erkennt und diese Erkenntnisse auf sein Verhalten im Alltag anwendet und neue Prioritäten gesetzt werden. Selbstregulationsfähigkeit im Sinne der Polyvagal-Theorie nach dem Neurowissenschaftler Stephen Porges meint das Schwingen des Erregungsniveaus von Sympathikus und Parasympathikus in einem mittleren Bereich (Jochims, 2019). Es ist die Fähigkeit, mit emotionaler Erregung umzugehen und sich auf angemessene Weise mithilfe des sozialen Systems zu beruhigen. Selbstregulation ist auch ein Interpretationsprozess, in dem Strategien entwickelt werden, sozial zu handeln (Jochims, 2019). Das Nervensystem leitet Signale weiter, die in ihrer Summe darüber entscheiden, ob und in welchem Ausmaß sich der Mensch in einer sicheren, einer gefährlichen oder in einer lebensbedrohlichen Situation befindet. In der Folge

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wird Aktivierung und/oder Passivierung über das vegetative Nervensystem eingeleitet. Erst wenn die Stresssituation vorbei und das soziale System wieder aktiviert ist, kann sich ein mittleres Erregungsniveau einpendeln (Jochims, 2019). Situationen werden zunächst im Hirnstamm ihrer Bedrohlichkeit nach eingeschätzt. Hier wird die für das Individuum zentrale Frage nach seiner Sicherheit entschieden. Im limbischen System wird als Nächstes die Frage nach dem Geliebtwerden beantwortet und im Frontallappen werden Situationen unter dem Aspekt des Lernens für die Zukunft und der Hemmung von Triebimpulsen zugunsten sozialer Interaktionen kognitiv verarbeitet. In der Polyvagal-Theorie nach Porges kommt dem sozialen System die Funktion der Beruhigung und Entspannung zu. Nur in gelungenen sozialen Kontexten kann sich ein Mensch entspannen. Das soziale System muss laut Jochims (2019) wie ein Muskel trainiert werden. Je häufiger man geübt habe, sich sozial zu regulieren, umso häufiger seien prosoziale Verhaltensweisen möglich. Porges postuliert, dass das soziale System, welches er anatomisch verortet im ventralen Vaguskomplex, in der Signalverarbeitung des Nervensystems das einzige sei, mithilfe dessen Defensivreaktionen heruntergefahren werden können, was in der Folge Entspannung möglich macht. Nur im Kontext von Beziehung gelinge die Regulation des autonomen Nervensystems bis zu einem Zustand der Homöostase, des erlebten inneren Gleichgewichts. Langfristiger Stress ist für Gehirn und Körper gefährlich, denn der Energiehaushalt gerät ins Defizit. Das Gehirn, genauer die Amygdala, verarbeitet soziale Signale, welche die Information für In-­Gefahroder In-Sicherheit-Sein vermitteln (Jochims, 2019, S. 78). Das Gefühl für soziale Sicherheit ist Grundlage für Entspannung und Erholung. Damit unterstützt die Polyvagal-Theorie das Verständnis von Yoga: Entspannung und Erholung ist keine Folge von bloßen Yoga- oder Entspannungsübungen, sondern die Folge gelungener sozialer Beziehungen.

Das Gefühl für soziale Sicherheit Unser Gefühl für soziale Sicherheit wird geprägt von Bindungsmustern, die in der frühen Kindheit erworben wurden. Sie beeinflussen unsere Art des »Indie-Welt-Gehens und In-der-Welt-Seins sowie die Art, wie wir Menschen einschätzen und auf sie reagieren. Signale eines Babys äußern sich in Feinzeichen der Befindlichkeit, welche dem autonomen Teil des Nervensystems sowie dem motorischen System, dem System der Verdauung und dem interaktiven System entspringen. Für eine sichere Bindung nimmt eine hinreichend feinfühlige Bindungsperson die Signale

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des Säuglings wahr, interpretiert sie richtig, reagiert angemessen und handelt prompt – und zwar spontan und liebevoll. Das Baby lernt Selbstwirksamkeit, indem es die Erfahrung macht, mit seiner Umgebung in gelingende Wechselwirkungen treten zu können. Die Welt wird dann gern erkundet und als ein sicherer Ort erlebt. Unsichere Bindungsmuster entstehen u. a. durch häufig gleichzeitiges Sprechen und Handeln sowie durch ungezogenes Sprechen und Handeln. Außerdem durch widersprüchliche, unvorhersehbare, unzuverlässige, ausbleibende und nicht beschützende Reaktionen der Bindungsperson. Die Welt wird dann nicht als sicherer Ort erlebt (Ziegenhain, Fries, Bütow u. Derksen, 2004). Sachsse (2004) beschreibt zwei Traumatisierungsarten in Eltern-Kind-Beziehungen, welche auch in Kombination vorkommen, nämlich Misshandlung und Vernachlässigung. Misshandlung entspricht einem Zuviel, Vernachlässigung einem Zuwenig. Misshandlung führt zu einem Zustand der Übererregung im Nervensystem, Vernachlässigung zu Untererregung. Es ist überlebensnotwendig für einen Organismus, aus einem Zustand der Untererregung herauszukommen, um wieder am sozialen Leben teilnehmen zu können. Ebenso wichtig ist es, aus einer Übererregung herauszukommen und um Energie zu sparen, sich wieder zu beruhigen. Entweder Beruhigung kann stattfinden, oder es kommt aufgrund des Energieverlustes zu Freezing und Dissoziation, einem Zustand des Rückzugs von der Außenwelt, verbunden mit Affekteinschränkung und Reizvermeidung. Adäquate Anregung sowie Reizabschirmung und Beruhigung können einem Kind nur von außen, vom feinfühligen, co-regulierenden Erwachsenen, von dem es abhängig ist, vermittelt werden. Beruhigung bei Übererregung und Aktivierung bei Untererregung stellen große Anforderungen an Pädagogik und Gesellschaft und damit an die Regulationsfähigkeit des Nervensystems des Individuums in sozialen Situationen. Persistierende Ungleichgewichte können zu weiteren Über- oder Unterreaktionen und zu blinden Flecken in der Wahrnehmung von sozialer Wirklichkeit führen und damit zu Schwierigkeiten im Sozialverhalten und Verfestigung ungünstiger Persönlichkeitsmuster. Nach Levine (2012) schwingt bei traumatisierten Menschen das Erregungsniveau von Sympathikus und Parasympathikus zwischen zwei Extremzuständen hin und her (Hyperarousal und Hypoarousal). Das »paralysierte Entsetzen« wird auch Fainting genannt und ist parasympathisch dominiert. Der Freeze-Zustand ist von hoher Sympathikusaktivität gekennzeichnet, während gleichzeitig ein hoher Parasympathotonus vorliegt. Innerlich besteht höchste Alarmbereitschaft, während der Körper wie gelähmt ist. Solange der hohe Sympathotonus besteht, kann sich das Individuum noch vor einem Feind in Sicherheit bringen. Da in einem solchen Extremzustand der Energieverbrauch extrem hoch ist und

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die Energiespeicher aufbraucht, kann der Freeze-Zustand in einen Fainting-­ Zustand mit niedriger Herzratenvariabilität und totenähnlicher Ruhe übergehen (Jochims, 2019). Ein Kind ist nicht in der Lage, seine Bedürfnisse selbst zu befriedigen und seine Spannungen zu regulieren – das lernt ein Mensch erst langsam im Verlauf seiner Entwicklung zum Erwachsenen und auch noch im Erwachsenenalter. In der Entwicklungsstufe Baby bedeutet Co-Regulation im positiven Fall, zuverlässig und im Sinne der Erfüllung seiner Bedürfnisse und der Unterstützung der Regulation seiner Gefühle beantwortet zu werden. Die Beantwortung muss innerhalb eines am physiologisch bedingten Soll-Wertes des Kindes orientierten Zeitfensters erfolgen, sie darf nicht zu spät und nicht zu früh erfolgen und muss – für eine sichere Bindungsentwicklung – adäquat zu seinen Bewältigungsmöglichkeiten sein. Die erwachsene Person darf nicht invasiv und unvorhersehbar, sondern soll einschätzbar, verlässlich und wiederkehrend in ihren Handlungen wirken, sowie bereit und in der Lage sein, die Bedürfnisse des Kindes gegenüber ihren eigenen vorrangig zu beantworten. Bei einer sicheren Bindungsentwicklung überwiegen die gelungenen Interaktionen gegenüber den misslungenen Interaktionen im Beziehungsgeschehen zwischen Kind und Bindungsperson (Ziegenhain et al., 2004). Selbstregulation ist nur möglich, wenn ein Kind ausreichend lange diese Erfahrung der Co-Regulation schwieriger Gefühle in Regelmäßigkeit und Verlässlichkeit machen konnte. Dabei übernimmt eine erwachsene Bindungsperson die Aufgabe, Gefühle, die ein Kind zu überwältigen drohen, wie Wut, Angst, Trauer, Begeisterung, zu spiegeln, und bietet Hilfe an, diese Gefühle zu benennen, einzuordnen und zu beruhigen. So gelingt es dem Kind im Verlauf seiner Entwicklung immer mehr, seine Spannungen differenziert und unter Verinnerlichung sozialer Komponenten zu regulieren. War das im Verlauf seiner Entwicklung nicht möglich, kann Bindungssicherheit in therapeutischen Settings und durch persönliche Übung erworben werden. Man nennt dies die erworbene Bindungssicherheit (Brisch, 2010). Ein Mensch mit erworbener Bindungssicherheit ist selbstfürsorglich mit sich, wenn ein durch äußere Gegebenheiten aktualisierter kindlich anmutender Zustand in ihm nach Hilfe verlangt. Bildlich gesprochen übt er, selbst »die guten Eltern« zu sein für die kleine Person, die er einmal war und die in der Vergangenheit nicht ausreichend gute Bindungserfahrungen machen konnte (Stahl, 2015).

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Yoga-Praxis Für die Praxis des Yoga heißt das: Schwierige und unangenehme Gefühle und Empfindungen dürfen erst einmal da sein, sie werden zunächst wahrgenommen und als gegeben akzeptiert, ohne sie gleich verändern und verbessern zu wollen. Beim Yoga-Üben kann das bedeuten, eine Pause einzulegen und sich den auftauchenden Gefühlen zu widmen und diese beim Üben nicht zu ignorieren. Dabei liegt der Fokus auf Körperempfindungen, inneren Bildern und dem sozialen Sinn für die Übungsatmosphäre. Ziel des Übens ist ein inneres Bei-sichselbst-Ankommen, ein inneres Aufatmen, welches die lebensbejahende Änderung der Perspektive anzeigt. Auch das Nicht-Auftauchen innerer Bilder kann vorkommen und thematisiert werden. Eine Person hat dann, wenn sie sich innerlich aufmerksam, absichtslos und sicher – und damit lebendig und stabil – fühlt, gelernt und umgesetzt, sich sozial einzubinden und sich gleichzeitig selbstbewusst und frei zu erleben. Beim Yoga-Üben kann das heißen, sich auf Korrektur und Hilfestellung einzulassen, also einzusehen, dass man den Anforderungen der Übung allein nicht gewachsen ist und eines Mitmenschen bedarf, um allmählich zu lernen, die Hilfestellung zu verinnerlichen. Erst wenn sich die für die jeweilige Übung notwendige Kombination aus Aktivierungsund Passivierungsreflexen zeigt, kann die Übung ohne Hilfestellung ausgeführt werden und die Übende kann sich dabei lebendig und stabil bzw. lebendig und hingebungsvoll in der Übung erleben. Babys können nur dann aufmerksam und interaktiv sein, wenn sie geborgen, wohl genährt, ausgeschlafen, gehalten und gut versorgt sind (Derksen u. Lohmann, 2013). Für Erwachsene gilt im Grunde das Gleiche. Erwachsene sind jedoch in der Lage, für ihre Bedürfnisse selbst zu sorgen. Nicht-leistungsorientiertes Yoga-Üben, einzeln und in einer vertrauten Gruppe, unterstützt die Selbstreflexion und die Integration schwieriger Emotionen. Dabei lernt die übende Person, aufmerksam zu sein für ihre körperlichen Empfindungen und Reaktionen, sie übt, ihre Aufmerksamkeit nach innen und nach außen zu richten. Sie schult ihre Selbstwahrnehmung und bezieht auch Fremdwahrnehmung in ihr Üben ein – damit ist die Reaktion einer Übungspartnerin auf die Art der Ausführung der Übung gemeint. Sie übt auch, sich selbst gegenüber gewaltfrei, das heißt absichtslos, liebevoll, regelmäßig, geduldig und verlässlich zu sein. Eine starke Übungsgruppe kann den Raum halten, für zarte und für starke Emotionen. Das Getragen-Sein durch eine Übungsgruppe spiegelt sich in der Wandlung unangenehmer Körperempfindungen und Emotionen zu angenehmem Erleben in der Unmittelbarkeit des Empfindens, Reflektierens und Übens. Vergangenes oder unrealistische Zukunftserwartungen

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können losgelassen werden in der konkreten Erfahrung des Verhältnisses der eigenen Kraft im Verhältnis zur eigenen Zeit, welches in den Übungen thematisiert wird. Leistungsanforderungen von außen können ins Verhältnis gesetzt werden zu den eigenen Möglichkeiten. Erfolge durch individuell abgestimmtes Training werden sichtbar. Daraus entwickeln sich realistische Selbsteinschätzung und sinnvolle Perspektiven der Lebensgestaltung. es geht um yoga es geht um gewalt es geht um gewalt im verhältnis der geschlechter um gewalt in unserem verhältnis zur umwelt und darum, wie beides zusammenhängt es geht um positive aggression, die nicht unterdrückt werden darf und um gewalterfahrung die integriert werden muss, damit sie nicht umherwandert und schaden anrichtet es geht um grenzen und begrenzung um selbstbegrenzung und selbstdisziplin es geht um bedürfnisse deren erfüllung und zurückstellung es geht um entwicklung und um die überwindung traumatischer situationen um feinzeichen und feinfühligkeit lasst uns yoga üben Literatur Antonovsky, A. (1997). Salutogenese: Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: dgvt. Brennan, B. A (1994). Licht-Heilung. Der Prozess der Genesung auf allen Ebenen von Körper, Gefühl und Geist. München: Goldmann. Brisch, K. H. (2010). SAFE . Sichere Ausbildung für Eltern. Sichere Bindung zwischen Eltern und Kind. Stuttgart: Klett-Cotta. Derksen, B., Lohmann, S. (2013). Baby-Lesen. Die Signale des Säuglings sehen und verstehen (2. Aufl.). Stuttgart: Hippokrates. Jochims, I. (2019). Meistere den Stress: Teil 1: Grundlagen der Polyvagal-Theorie. Norderstedt: BoD-Books on Demand. Kuhl, J. (2018). Individuelle Unterschiede in der Selbststeuerung. In: J. Heckhausen, H. Heckhausen (Hrsg.), Motivation und Handeln (5. Aufl., S. 389–422). Berlin: Springer. Levine, P. A. (2012). Vom Trauma befreien (6. Aufl.). München: Kösel. Lobo, R. (1978). Yoga – Sensibilitätstraining für Erwachsenen. München: Hueber-Holzmann. Lobo, R. (1986). Yoga-Elementarkurs. Bd. 1: Bewegen. München: Hueber-Holzmann. Lobo, R. (1987a). Yoga-Elementarkurs. Bd. 2: Atmen. München: Hueber-Holzmann.

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Lobo, R. (1987b). Yoga-Elementarkurs. Bd. 3: Kreislauf. München: Hueber-Holzmann. Lobo, R. (1987c). Yoga-Elementarkurs. Bd. 4: Übergänge. München: Hueber-Holzmann. Lobo, R. (1987d). Yoga-Elementarkurs. Bd. 5: Umkehrhaltungen. München: Hueber-Holzmann. Lobo, R. (1987e). Yoga-Elementarkurs. Bd. 6: Hingabehaltungen. München: Hueber-Holzmann. Lobo, R. (1990). Traum und Karma im Āyurveda. Philosophie und Praxis. München: Diederichs. Lobo, R. (2001). Grundlagen des Āyurveda, Lerndisposition und Prakrti-Analyse (2. Aufl.). München: Editora Pantainos. Rust, S. (2007). Wenn die Giraffe mit dem Wolf tanzt. Vier Schritte zu einer einfühlsamen Kommunikation (3. Aufl.). Burgrain: KOHA. Sachsse, U. (2004). Traumazentrierte Psychotherapie. Stuttgart: Schattauer. Stahl, S. (2015). Das Kind in dir muss Heimat finden. Der Schlüssel zur Lösung (fast) aller Probleme. München: Kailash. Young, J., Klosko, J. (2006). Sein Leben neu erfinden. Wie Sie Lebensfallen meistern. Paderborn: Junfermann. Ziegenhain, U., Fries, M., Bütow, B., Derksen B. (2004). Entwicklungspsychologische Beratung für junge Eltern. Grundlagen und Handlungskonzepte für die Jugendhilfe. Weinheim: Juventa.

Internet Grawe, K. (2018). https://www.klaus-grawe-institut.ch/blog/stress-ist-nicht-gleich-stress-eustressvs-distress (Zugriff am 05.06.2021). Raye, R. (2020). Love advice from Rori Raye – Boundaries and walls with men. https://www.youtube.com/watch?v=sYYqX_-Fb68&list=PL59udtHzYgGaBYGwTDDR-7VV-UqV7y8tC&index=34 (Zugriff am 05.06.2021).

Christine Koch (*1963)

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war lange Jahre als freiberufliche Hebamme tätig. Seit 1993 unterrichtet sie Marma-Yoga nach Professor Dr. Rocque Lobo, von dessen Lehre sie sich nach wie vor inspiriert fühlt und bei dem sie 2002 das Aufbaustudium Gesundheitspädagogik (Körperorientierte Soziale Intervention) absolvierte. Auch ist sie tätig als Lehrerin für Qigong und als Heilpraktikerin für Psychotherapie mit Spezialisierung auf die Beratung nach traumatisch erlebter Geburt. Fortbildung in körperorientierter humanistischer Psychotherapie, kognitiver Verhaltenstherapie, entwicklungspsychologischer Beratung, Focusing, Meditation und Akupunktur. Sie berät zur frühen Eltern-KindBindung und unterrichtet in Teilzeit an der Hebammenschule Erlangen. Eine traumasensible Haltung rund um Schwangerschaft und Geburt ist ihr eine Herzensangelegenheit. Sie war lange allein erziehend, kann den Ausdruck »Alleinerziehend-Sein ist soziale Behinderung« bestätigen. Inzwischen ist Christine Koch verheiratet und Mutter einer erwachsenen Tochter. Seit 2015 ist sie Mitglied beim Yoga-Berufsverband BUGY . Kontakt: Rheinstraße 14, D-91052 Erlangen, E-Mail: [email protected].

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Sicherheit und Verbundenheit – die Polyvagal-Theorie im Spiegel von Āyurveda und Yoga Birgit Atzl

Seit März des Jahres 2020 dominiert vor allem ein Thema unsere Welt, das Coronavirus: Eine Art unsichtbarer Feind, von dem keiner weiß, wo er lauert und wie gefährlich er tatsächlich für jeden Einzelnen ist. Kontakt gilt plötzlich als gefährlich und soll vermieden werden. Die Strategien, auf diese Verunsicherung zu reagieren, sind sehr vielfältig und reichen vom totalen Rückzug über die vermehrte Nutzung digitaler Medien bis hin zum völligen Ignorieren aller Vorsichtsmaßnahmen. Gerade in Krisenzeiten, ob global durch Seuchen, Klimaveränderungen, Kriege, Naturkatastrophen oder durch persönliche Probleme ausgelöst, wird deutlich, wie sehr unser Leben von der Suche nach Sicherheit geprägt ist. Im Alltag geschieht dies jedoch auch ohne die großen Bedrohungen, eigentlich bei nahezu jeder Begegnung mit anderen und bei jeder Veränderung der Außenwelt, und zwar weit unter der Schwelle der bewussten Wahrnehmung und Entscheidung. Unser ganzer Organismus reagiert in jeder Sekunde auf Veränderungen in der Umgebung und tut sein Mögliches, um sich permanent anzupassen und zu stabilisieren. Die Art und Weise, wie das jeder Einzelne ständig tut, ist von vielerlei Faktoren geprägt und macht uns als Individuen aus. Und gerade in Krisenzeiten zeigt sich aus der Verunsicherung heraus die höchstpersönliche Art und Weise, damit umzugehen – im Āyurveda wurde dafür der Begriff »Prakrti« geprägt. Prof. Dr. Stephen Porges, dessen bahnbrechende »Polyvagal-Theorie« ich in diesem Beitrag als Ausgangspunkt für einen Vergleich mit āyurvedischen Modellen und auch mit Blick auf die Yoga-Praxis beschreiben möchte, nennt eines seiner Werke »Die Polyvagal-Theorie und die Suche nach Sicherheit« (Porges, 2017). Damit ist sein Kernthema schon benannt. Dahin führte ihn jedoch eine jahrzehntelange Suche nach einem tieferen Verständnis des autonomen Nervensystems (ANS), das für die Steuerung all dieser Anpassungsprozesse maßgeblich zuständig ist. Porges’ Verdienst liegt dabei in der Entdeckung eines dreigeteilten ANS, welches neben den körperlichen Prozessen auch grundlegende psychosoziale Funktionen steuert. Damit konnte er erstmals Phänomene erklären, die bis dahin schwierig zu verstehen waren.

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Grundlagen des autonomen Nervensystems Bis Mitte der 1990er Jahre vertrat man die Auffassung, dass das autonome Nervensystem aus zwei ausführenden Anteilen besteht: dem sympathischen und dem parasympathischen System. Die altbekannten Grundfunktionen beider Teile stellt Porges in seiner Theorie nicht in Frage, sie dienen hier auch als Ausgangspunkt für seine viel umfassendere Sichtweise. Das autonome Nervensystem ist, wie der Name schon sagt, der Teil des Nervensystems, auf den wir willentlich nur wenig Einfluss haben. Es reguliert und koordiniert die Funktionen aller inneren Organe, um deren Aktivität ständig und bestmöglich an die Bedürfnisse des Organismus anzupassen. Es steuert Herz-Kreislauf-Funktionen, die Atmung, die Verdauung, den Stoffwechsel, die Sexualfunktionen, den Wärmeund Energiehaushalt und löst unterschiedliches emotionales Erleben aus. Letztendlich unterliegt zumindest indirekt jede einzelne Körperzelle dem Einfluss dieser vegetativen Impulse. All seine Anteile stehen jedoch im engen Kontakt mit übergeordneten In­ stan­zen im Gehirn: dem limbischen System, dem Hypothalamus, der Medulla oblongata und dem Rückenmark. Der Sympathikus sorgt dabei insgesamt für eine Aktivierung des Körpers (ergotrope Prozesse), für erhöhte Leistungsfähigkeit, er mobilisiert Reserven, um bei allen aktivierenden oder bedrohlichen Reizen aus der Außen-, aber auch aus der Innenwelt möglichst gut kampf-, flucht- oder verteidigungsbereit zu sein. Unter seiner Einwirkung verstärkt sich z. B. die Herztätigkeit, der Blutdruck steigt, die Bronchien erweitern sich, die Durchblutung und der Tonus der Muskulatur steigen, die Durchblutung der Haut dagegen verringert sich und der Atem wird schneller und flacher. Gleichzeitig wird die Tätigkeit der Verdauungsorgane stark gedrosselt und auch das Immunsystem zurückgefahren. Der Parasympathikus dagegen unterstützt trophotrope, das heißt nährende Prozesse. Er sorgt für den Aufbau von Ressourcen und die Regeneration. So regt er z. B. die Darmperistaltik und die Bildung von Verdauungsenzymen an, bremst die Herztätigkeit, verengt die Bronchien, steigert die Durchblutung der Haut und auch der Geschlechtsorgane, fördert die Tränen- und Speichelsekretion und unterstützt so alles, was der Ruhe und der Erholung dient. In diesem parasympathischen Teil des autonomen Nervensystems ist der Nervus vagus (X. Hirnnerv) der wichtigste Nerv und für ca. 75 % der Aktionen verantwortlich. Sein Name – »der Umherziehende, Vagabundierende« – bezieht sich auf seine vielfältige Verzweigung zu fast allen Organen bis hinunter in den Bauchraum. Über elektrochemische Signale (mit dem Neurotransmitter Acetylcholin) überträgt er Impulse an alle lebenswichtigen Organe.

B. Atzl · Sicherheit und Verbundenheit 

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Hochinteressant dabei ist, dass nur 20 % seiner Fasern vom Gehirn zu den Organen ziehen (motorisch-efferente Fasern) und 80 % die Informationen aus den Organen (sensorisch-afferent) zum Gehirn leiten, genauer gesagt, zum Nucleus tractus solitarii (NTS) (Porges, 2010, S. 53). Das heißt, das Gehirn bekommt unentwegt Informationen aus dem Körper über den aktuellen Zustand in den Organen und Zellen und kann daraufhin regulierende Maßnahmen ergreifen. Im sympathischen Teil des ANS gibt es diese bidirektionalen Informationen nicht, die Fasern sind rein efferent. Soweit die bisherige Sichtweise des ANS als antagonistisches System, die man so auch heute noch in vielen Lehrbüchern findet.

Die Polyvagal-Theorie Porges entwickelte schon 1994 nach jahrzehntelanger Forschung über das ANS eine viel differenziertere Sicht davon, wie – abgesehen von der Regulierung der verschiedenen Organsysteme – das ANS auch Reaktionen auf psychosozialer Ebene steuert. Wichtig dabei war seine Entdeckung, dass der Vagus nicht, wie bisher vermutet, aus einem einzigen (wenn auch verzweigten) Nerv besteht, sondern aus zwei völlig unterschiedlichen Anteilen, mit verschiedenen Ursprungsorten im Hirnstamm und verschiedenen Angriffspunkten im Körper. Damit war der Grundstein für seine später formulierte Polyvagal-Theorie geschaffen. Porges schloss sich 1968 der »Society of Psychophysiological Research« an, die die Verbindung zwischen psychologischen Prozessen und der Physiologie erforschte und nach entsprechenden potentiellen Biomarkern für physische und psychische Gesundheit suchte. Bis zu dieser Zeit interessierte man sich vor allem für das sogenannte Arousal (»Erregung«), was mit Stress und verstärkter Aktion des sympathischen Nervensystems in Verbindung gebracht wurde. Porges forschte schon damals über die Herzfrequenz und die Herzratenvariabilität (HRV).1 Untersuchungen über den Einfluss der Atmung auf

1 Die HRV spiegelt die variierenden Zeitabstände zwischen den einzelnen Herzschlägen. Ein gesundes Herz schlägt nie exakt im gleichen Rhythmus, sondern passt sich flexibel den Geschehnissen an. Je gleichförmiger sich der Herzschlag gestaltet, desto mehr drückt sich darin eine Starre im autonomen Nervensystem aus, die durch eine Dominanz des Sympathikus entsteht. Der Vagus hingegen fördert eine gute Herzratenvariabilität (Porges, 2017, S. 216).

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die Herzfrequenz in der »respiratorischen Sinusarrhythmie« (RSA)2 führten ihn schließlich zur Beschreibung des »vagalen Tonus«3 als Ausdruck der Aktivität des parasympathischen Nervensystems. Mit den entsprechenden Messgeräten konnte dieser kardiale vagale Tonus (VT) schließlich gemessen werden und dient seither als Indikator für körperliche und psychische Gesundheit. Auch die Veränderungen der Herzratenvariabilität durch soziale, emotionale und kognitive Prozesse und durch motorische Aktivität konnten damit untersucht werden. Die Messbarkeit dieses VT ergänzte somit die bis dato gängigen Verfahren zur Messung der sympathischen Aktivität und bildete die Grundlage für eine Erforschung des Gleichgewichts des autonomen Nervensystems – allerdings immer noch im Sinne eines antagonistischen Doppelsystems. Porges dachte zunächst, damit wäre seine Forschung hinreichend abgeschlossen, bis er 1992 mit seinem sogenannten »Vagus-Paradox« konfrontiert wurde. Bislang war er davon ausgegangen, dass ein hoher VT eindeutig als positives Zeichen für Gesundheit und Resilienz zu werten sei. Im Kontakt mit der Forschung zu Früh- und Neugeborenen erfuhr er jedoch, dass ein zu hoher VT bei Neugeborenen zu einer zu starken Bradykardie (verlangsamter Herzschlag) bis zum Herzstillstand führen konnte. Das Forschen über dieses »Zuviel des Guten« und über die phylogenetische Entwicklung des ANS (von den Wirbeltieren bis zu den höher entwickelten Säugern) brachte ihn zu neuen Einsichten: Dass der Vagus aus zwei verschiedenen Teilen besteht, wusste er schon länger – die unterschiedlichen Auswirkungen körperlicher, aber auch psychosozialer Art konnte er jedoch erst damit beschreiben. Bei seiner Antrittsrede als Präsident der »Society for Psychophysiological Research« 1994 stellte Porges dann erstmals seine Polyvagal-Theorie vor, nach der das ANS nicht mehr aus zwei, sondern aus drei Teilen besteht, die hierarchisch angeordnet sind. Als Ausgangspunkt für das Verständnis seiner Theorie beschreibt Porges drei Stufen der Entwicklung des ANS von Säugetieren mit den jeweils damit verknüpften Überlebensstrategien. Jede dieser drei Reaktionsweisen wird durch einen konkreten neuronalen Schaltkreis des ANS unterstützt. Dabei sind alle Schaltkreise, die sich im Laufe der Evolution entwickelt haben – von den Knorpelfischen bis zu uns Menschen –, noch aktiv und abrufbar und ermöglichen so, je nach Einschätzung der Situation, völlig verschiedene Maßnahmen.

2 Die RSA zeigt die atemabhängigen Veränderungen der Herzfrequenz, die beim Einatmen schneller, beim Ausatmen langsamer wird. An der Amplitude dieser Veränderungen wird der Einfluss des Vagus auf das Herz sichtbar (Porges, 2017, S. 218). 3 Der vagale Tonus zeigt den Einfluss der myelinisierten Vagusfasern (also des neueren, ventralen Vagus) auf das Herz, gemessen durch die RSA (Porges, 2017, S. 221).

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Der dorsale Vagus Zuerst entwickelte sich auf der Stufe der niederen Wirbeltiere (z. B. Fische, Frösche, Schlangen) der ursprüngliche Teil des Vagus, auch alter oder dorsaler Vagus genannt. Seine motorischen Fasern gehen aus dem dorsalen Nucleus (Hirnnervenkern) des Vagus hervor und verlaufen vor allem zu den Organen unterhalb des Zwerchfells. Einige ziehen jedoch auch zum Herzen. Dieses alte System unterstützt die Homöostase in jenen Regionen, reguliert die Verdauung, fördert die Rückgewinnung von Energie, die Erholung der Organe und guten Tiefschlaf – all das, solange keine Gefahr droht. Wird es jedoch bei einer Bedrohung aktiviert, veranlasst es ein Herunterfahren aller Körperfunktionen, Erstarrung, Ohnmacht, bis hin zu Schmerzunempfindlichkeit. Auch eine unkontrollierte Blasen- oder Darmentleerung oder ein Asthmaanfall kann Teil der Reaktion sein. Diese Immobilisation im sogenannten »Totstell-Reflex« (auch Shutdown genannt) kann sehr nützlich sein, um zu überleben, z. B. angesichts eines Feindes, der einen nicht bemerken sollte, oder um mit den letzten Ressourcen (und ohne Schmerzempfindung) noch eine Zeit lang auszukommen. Diese simpelste Taktik der Verteidigung ist nach wie vor auch bei allen nachfolgenden, komplexeren Lebewesen als letzte Möglichkeit des Überlebens vorhanden. Je nach Ausmaß und Dauer der Bedrohung kann dieses System, wenn es heutzutage beim Menschen aktiviert ist, auch andere Gesichter zeigen: das Versinken in eine Depression, Antriebslosigkeit, Rückzug aus dem Kontakt, Abtauchen in virtuelle Welten, Versachlichung, oder sogar Dissoziation, das Loslösen von Körperempfindungen, etwa um extreme Schmerzen oder Traumata auszuhalten. Allen gemeinsam ist ein Abgeschnitten-sein vom Fühlen und Spüren. Läuft dieser Shutdown zu stark ab, kann er, wie oben bei Neugeborenen beschrieben, tatsächlich zum Tod führen, z. B. durch Herzversagen.

Der Sympathikus Als Nächstes bildeten sich phylogenetisch – auf der Stufe der Reptilien – die neben dem Rückenmark liegenden sympathischen Nervenknoten (Gan­glien). Diese sympathischen Pfade verstärken, wie schon oben beschrieben, die Aktivität in den meisten Organen, um sich permanent den Anforderungen der Außenwelt anzupassen. Dazu gehören einfache Veränderungen (z. B. der Außentemperatur oder des Lärmpegels), aber auch jede verunsichernde Situation, auch Schmerz, Zorn oder Angst. Bei stärkerer Erregung veranlassen sie die

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sogenannten Kampf- und Fluchtreflexe, eine starke innere Mobilisierung, um das Überleben zu sichern. Im ursprünglichen, äußerlich wahrnehmbaren Sinn von »Flüchten oder Kämpfen« laufen diese Reflexe beim modernen Menschen kaum noch ab. Wir haben durch Sozialisation gelernt, sie zurückzuhalten. Sie können sich heute jedoch z. B. auch in innerkörperlicher Unruhe, aggressivem Fahrstil, in verbalen Attacken, durch exzessiven Bewegungsdrang oder in der ständigen Jagd nach Informationen in den Medien zeigen. Leistungs- und Konkurrenzdruck, die zunehmende Beschleunigung des Lebens, der steigende Anspruch an Mobilität am Arbeitsplatz, zunehmendes Einzelkämpfertum in der Arbeitswelt, permanente Verfügbarkeit und der dauernde Druck zu Selbstoptimierung sind nur einige Beispiele dafür, was heutzutage diese Aktivierung dauerhaft veranlassen kann. Eine Chronifizierung dieses Zustands im »Dauerstress«, der sich u. a. in einem erhöhten Cortisolspiegel zeigt, kann vielerlei Beschwerden auslösen: innere und äußere Unruhe, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Probleme, chronische Verdauungsbeschwerden, Verspannungen, Schlafstörungen, Panikattacken, Burnout und vieles andere mehr. Ursprünglich diente dieser Reflex nur zu einer Mobilisierung für kurze Zeit, heute ist diese bei vielen (leider) der Normalzustand. Ist der sympathische Teil des ANS aktiviert, verringert sich entsprechend der parasympathische Einfluss.

Der ventrale Vagus Bei Säugetieren entwickelte sich schließlich (vor 250 Millionen Jahren) ein zweiter Ast des Vagus, der sogenannte ventrale Vagus. Im Gegensatz zum älteren Vagus sind seine Nervenfasern von einer Myelinschicht umhüllt, die für eine viel schnellere Übertragung von Impulsen sorgt. Er entspringt dem Nucleus accumbens (NA), der anatomisch gesehen bauchseitig vom dorsalen Vagus liegt, daher der Name ventraler Vagus. Dieser verzweigt sich primär zu den Organen oberhalb des Zwerchfells, also zu Herz und Atemsystem, dem oberen Teil der Speiseröhre und den Muskeln des Kehlkopfes, der Stimmbänder und des Rachens. Dabei wirkt er, als sogenannte Vagusbremse (Porges, 2017, S. 103, S. 221), über den Neurotransmitter Acetylcholin dämpfend auf die Herzfrequenz (die ohne diesen Einfluss 20–40 Schläge pro Minute schneller wäre!), unterstützt den Sauerstofftransport in den Bronchiolen, dämpft Stressreaktionen und verringert Entzündungen durch Einwirken auf die Immunreaktionen. Die Stärke dieser »Bremse« drückt sich im schon beschriebenen vagalen Tonus aus, auch als Fähigkeit, sich in belastenden Situ-

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ationen schnell wieder zu beruhigen und den Stress gut zu verarbeiten. Neben der Unterstützung von Entspannung und Ruhe ist er aber auch maßgeblich an der nervlichen Steuerung unseres Sozialverhaltens beteiligt. Ein gut regulierter, gesunder Organismus zeichnet sich dadurch aus, dass er relativ schnell wieder in diesen schützenden Zustand zurückkehren kann, der vom neueren Vagus kontrolliert wird. Heute gilt ein guter vagaler Tonus (VT) als eine wichtige Größe zur Beurteilung von Gesundheit und Resilienz. Dieser VT ist messbar über die (schon oben beschriebene) Herzratenvariabilität (HRV) und die »respiratorische Sinusarrhythmie« (RSA). Die Homöostase des Körpers4 ist ein weiteres Ergebnis eines starken vagalen Einflusses. Verschiedene Studien zeigen, dass ein Anstieg des VT die Selbstregulation fördert und die Stressanfälligkeit vermindert. Ein unwillkürliches Verharren in den Defensivsystemen des Sympathikus und dorsalen Vagus, die eigentlich nur auf kurzfristige Reaktionen angelegt sind, macht dagegen auf Dauer schlichtweg krank. Dass sich dieser neue myelinisierte Vagusast bei den Säugetieren entwickelt hat, kommt nicht von ungefähr: Die ersten Säugetiere waren nur ca. 10 cm groß und ein gefundenes Fressen für Reptilien! Nur durch ein differenzierteres System der sozialen Interaktion konnten sie dies überleben, wodurch sie gezielt Freund und Feind unterscheiden und kommunizieren konnten. Im Gegensatz zu Reptilien mussten Säugetiere auch den Nachwuchs schützen und nähren, Gefühle von Zuwendung entwickeln und Bindungen eingehen.

Das System sozialen Engagements (SSE) So unterstützt der ventrale Vagus – zusammen mit vier weiteren Hirnnerven – unser Sozialverhalten, die Möglichkeit zu Kommunikation und gegenseitiger Stabilisierung. Dies geschieht zum Großteil über den Gesichtsausdruck, die Stimme und Kopfbewegungen. Deshalb nennt Porges diesen Zusammenschluss der fünf Hirnnerven unser »System sozialen Engagements« (SSE) – es verbindet die Muskeln des Gesichts und des Kopfes mit der Steuerung des Herzens. Die innere Erfahrung von Sicherheit, das Gefühl, gut im Kontakt zu sein und sich vor nichts und niemandem fürchten und verteidigen zu müssen, ist der Ausdruck eines gut funktionierenden SSE, das  heißt, die Defensivsysteme werden gehemmt und Entspannung wird möglich.

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Als Homöostase wird die dynamische und oszillierende Regulation des inneren Körper­milieus verstanden, die Gesundheit, Entwicklung und Genesung optimal fördert (Porges, 2017, S. 217).

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Die Hirnnerven, die eng mit dem ventralen Vagusnerv verbunden sind – und die gut funktionieren müssen, um sozial interagieren zu können –, sind folgende: Ȥ Der N. Trigeminus (V) gliedert sich in den Augennerv, den Oberkiefernerv und den Unterkiefernerv; sendet sensible Informationen aus dem Gesichtsbereich zum Gehirn, versorgt die Kaumuskulatur und reguliert das Gehör über den »Trommelfellspanner«. Ȥ Der N. Facialis (VII) steuert die Mimik, einige Augenbewegungen und das Kauen, reguliert das Gehör und schützt vor hohen Geräuschpegeln. Ȥ Der N. Glossopharyngeus (IX) steuert den Schluckakt, versorgt die Rachenmuskeln, übermittelt Signale des hinteren Zungendrittels und reguliert die Ohrspeicheldrüse; auch ist er über Fasern zum Carotissinus an der Regulation des Blutdrucks beteiligt. Ȥ Der N. Accessorius (XI) versorgt den Trapezmuskel sowie den Kopfwender/ Kopfnicker. Im Gegensatz zur Motorik der Gliedmaßen ist dieses System schon nach der Geburt voll ausgebildet und ermöglicht es Säuglingen bereits, Signale in Form von Lauten oder Grimassen zu geben und dadurch in nährenden und beruhigenden Kontakt zu treten (Porges, 2010, S. 196). Dabei sind alle beteiligten Nerven im SSE »bidirektional«, sie steuern sowohl die Wahrnehmung als auch die Antwort im sozialen Verhalten. Wie real die Wahrnehmung der empfangenen Reize ist, hängt wiederum vom eigenen momentanen Zustand des ANS ab. Um gegenseitig einen Zustand von Sicherheit zu vermitteln und eine soziale Beziehung zu entwickeln, braucht es im besten Fall direkte physische Nähe – ist dies nicht möglich, erfüllt auch das Sich-Sehen und -Hören per Bildschirm einigermaßen diese Funktion. Fällt im Kontakt auch noch der Gesichtsausdruck weg (wie beim Telefonieren oder beim Tragen von Mund-Nasen-Schutz), fehlen schon wichtige Orientierungspunkte und rein schriftlicher Kontakt kann zu vielen Missverständnissen führen. Je mehr der oben genannten Nerven beteiligt sind, desto besser unterstützen sie im SSE die soziale Verbundenheit: Dann ist der Gesichtsausdruck lebendig, die Stimme hat eine angenehme Modulation (Pro­ so­die), der Kopf kann sich drehen und zuwenden und das Gehör kann störende Hintergrundgeräusche filtern, um die Stimme gut zu hören. In einem sympathikotonen Zustand dagegen wird die Mimik starrer, das Gehör überempfindlich, der Kiefer verspannt sich, der Nacken-Schulter-Bereich wird steif, die Stimme wird unmelodiös u. v. m. Auch diese Signale werden unbewusst von einem Gegenüber aufgenommen und können ihn im Gegenzug verunsichern. Anders drückt sich eine Stimmung von Rückzug und »Shutdown« in diesen

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Bereichen aus: Hier erscheint der Gesichtsausdruck eher leblos, die Stimme ist monoton oder verstummt, der Gesamtausdruck ist schwach und der allgemeine Tonus niedrig. Auch solch ein »stumpfer« Ausdruck oder ein Nicht-Reagieren kann im Gegenüber reflektorisch ein Gefühl der Angst oder Verunsicherung, auch der Wut hervorrufen. Die Äußerungen dieser Nerven im SSE geben uns also gegenseitig unbewusst Orientierung darüber, ob die Möglichkeit zu entspanntem Kontakt und Kommunikation gegeben ist oder man lieber auf der Hut sein sollte. Auf der anderen Seite kann ein Aktivieren dieser Nerven auch zu einer Steigerung der sozialen Kontaktfähigkeit beitragen. Zusammenfassend kann man sagen, dass wir drei neuronal veranlasste Möglichkeiten haben, auf Reize zu reagieren: Ȥ Bei einem innerlich sicheren Gefühl unterstützt der neuere, ventrale Vagus mit den oben genannten weiteren Hirnnerven im SSE ein entspanntes Dasein, indem er die Defensivsysteme hemmt. Er stärkt die Fähigkeit, Beziehungen und Bindungen einzugehen und zu kommunizieren – wobei Kommunikation nicht nur den verbalen Austausch meint, sondern eine gegenseitige Regulation – auch über Mimik und Stimme. Auf der körperlichen Ebene sorgt er, wie oben ausführlich beschrieben, für Homöostase und entspannte, synchrone Zustände. Ȥ Wird das Gefühl von Sicherheit bedroht, veranlasst der Sympathikus eine Aktivierung, indem er viele Körperfunktionen hochfährt, die für Kraft und Mobilität sorgen, und im Gegenzug den Parasympathikus, das  heißt vor allem den Vagus, schwächt. Er steht sozusagen für das »Gaspedal« im Gegensatz zur »Vagusbremse«. Ȥ Erst wenn dies nicht weiterhilft, sorgt der alte, dorsale Vagus für Immobilisierung, drosselt (bis auf die Darmtätigkeit) alle Körperfunktionen wie Herzschlag und Atmung, lässt die Muskulatur erschlaffen und unterstützt das Totstellen bzw. die Depression. Neben diesen drei Reaktionsweisen gibt es jedoch noch zwei gemischte Zustände: Ȥ Im vierten Zustand agiert der neuere Vagus mit dem Sympathikus in einem Zustand gesteigerter Erregung oder starker körperlicher Bewegung, wobei aber das Gefühl der Sicherheit gewährleistet bleibt. Lebhaftes Spiel, Sport oder auch die Lust auf neue Erfahrungen mit entsprechender Aufregung gehören dazu. Ȥ In den fünften Zustand kommt man durch ein Zusammenspiel des neuen und des alten Vagus: ein sehr entspannter Zustand ohne große Bewegung, der aber nicht von einem Gefühl des Abschottens und des Rückzugs getragen wird, sondern von Offenheit und Präsenz – wie bei Intimität, dem

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Stillen eines Säuglings oder auch in meditativen Zuständen. Porges nennt diesen Modus auch »Immobilisation ohne Furcht« (Porges, 2010, S. 33 f.). In einer solchen Begegnung wird das Neuropeptid Oxytocin ausgeschüttet, das stabile Bindungen unterstützt. Der Sympathikus und der dorsale Vagus können nicht gleichzeitig aktiv sein. In einem Diagramm (Abb. 1) könnte man diese fünf Zustände folgendermaßen darstellen:

Abbildung 1: Reaktionsweisen des autonomen Nervensystems

Zwischen den drei zentralen Zuständen herrscht eine Hierarchie, in der wir uns wie auf einer Leiter nach oben, zum ventralen Vagus hin, oder nach unten bewegen können, wobei es aber nicht möglich ist, direkt vom »Shutdown« zum entspannten Dasein zu gelangen – der Weg dahin kann erst über eine Mobi-

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lisierung des Sympathikus eingeleitet werden. Entsprechend läuft, bevor wir aus Hoffnungslosigkeit in den Rückzug gehen, zunächst eine Phase der Mobilisierung ab. Um als »Säugetier« nun effektiv zwischen den defensiven Mustern und den entspannten, sozial zugewandten Zuständen wechseln zu können, muss das Gehirn zwei Aufgaben erfüllen: Es muss sich über die aktuelle Gefahrenlage klar werden und, wenn die Umgebung sicher erscheint, die primitiveren Verteidigungsstrategien hemmen (Porges, 2010, S. 89). Jeder Reiz, der das Sicherheitsempfinden dabei stärkt, kann somit die höher entwickelten neuronalen Schaltkreise aktivieren, die das »System sozialen Engagements« unterstützen. Damit wird nochmals deutlicher, wie sehr der eigene Ausdruck in Mimik, Haltung und Stimme dazu beitragen kann, andere zu beruhigen! Porges spricht in einem Interview in diesem Zusammenhang von »Co-Regulation« und »Verbundenheit als biologischer Notwendigkeit« (Porges, 18.03.2020, https://youtu.be/6FGTHm6R4pc, Zugriff am 05.06.2021). Im Idealfall schaltet der Körper nach einer erlebten Bedrohung wieder zurück auf den Modus der Erholung und Entspannung. Verhindert werden kann das durch subjektive Fehlinterpretation der Lage oder durch internalisierte Überlebensmuster, die sich durch persönliches Erleben, die eigene Konstitution und sogar vererbte Zellerfahrungen im Gehirn und im Körper manifestiert haben. Aus dieser Erkenntnis, dass der Körper alle Lebenserfahrungen und Verhaltensmuster gespeichert hat, wächst die Bedeutung aller körperorientierten therapeutischen Ansätze, nicht nur in der Behandlung von Traumafolgen und psychischen Störungen, sondern auch zur Stressbewältigung oder der Behandlung chronischer Schmerzen. Unser individuell geprägtes Nervensystem schätzt also unablässig und blitzschnell die Sicherheit oder die Gefährlichkeit der aktuellen Situation ein, indem es sensorische Informationen aus der Umgebung und aus dem Inneren verarbeitet. Diese Verarbeitung läuft jedoch nicht objektiv ab, sondern durch den persönlichen Filter verinnerlichter Erfahrungen und Möglichkeiten. Für diese Wahrnehmung, die sich unterhalb des Bewusstseins unter Beteiligung limbischer Strukturen abspielt, prägte Porges den Begriff Neurozeption: »Neurozeption ist der Prozess, mit dessen Hilfe das Nervensystem unabhängig vom Bewusstsein Gefahren einschätzt. An diesem automatisch verlaufenden Prozess sind Gehirnbereiche beteiligt, die Signale für Sicherheit, Gefahr und Lebensgefahr evaluieren. Hat die Neurozeption solche Signale entdeckt, verändert sich der physiologische Zustand automatisch so, dass die Überlebenschancen optimiert werden. Zwar nehmen wir Signale, welche die Neurozeption aktivieren, gewöhnlich nicht wahr,

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doch bemerken wir sehr wohl physiologische Veränderungen. Manchmal registrieren wir diese als Empfindungen im Bauch oder im Herzen oder in Form einer intuitiven Einsicht, dass ein bestimmter Kontext gefährlich ist. Das gleiche System kann aber auch physiologische Zustände aktivieren, die Vertrauen, Verhaltensweisen sozialen Engagements und den Aufbau starker Beziehungen fördern. Die Einschätzungen der Neurozeption sind allerdings nicht immer zutreffend und den tatsächlichen Gegebenheiten angemessen. Eine unzuverlässige Neurozeption kann an Orten Gefahren wittern, wo diese nicht existieren, oder Signale für Sicherheit orten, wo tatsächlich eine Gefahr besteht« (Porges, 2017, S. 217).

Der dänische Psychologe Carl G. Lange beschrieb dieses Phänomen schon 1887 mit dem einprägsamen Satz: »Wir zittern nicht, weil wir Angst erleben, sondern wir erleben Angst, weil wir zittern« (Lange, 1885/dt. 1887).

Und W. James, ein amerikanischer Psychologe und Philosoph, der mit C. G. Lange die »Theorie der Emotionsgenese« prägte, fügte an: Die durch emotionale Reize ausgelösten körperlichen Veränderungen sind »so unendlich zahlreich und fein abgestuft, dass man den gesamten Organismus einen Resonanzboden nennen könnte, den jede Änderung des Bewusstseins, und sei sie noch so klein, in Schwingungen versetzt« (James, 1890, S. 450).

In den 1990er Jahren erweiterte der portugiesische Neurowissenschaftler Antonio Damasio dieses Modell. Dem seit Descartes immer noch herrschenden Dualismus zwischen Körper und Bewusstsein (»Ich denke, also bin ich«) setzte er schon in seinem ersten Werk »Descartes’ Irrtum« (Damasio, 1998) eine völlig neue Sicht entgegen und beschreibt darin den unauflösbaren Zusammenhang zwischen Geist und Körper, welche sich ständig gegenseitig beeinflussen. In der Medizingeschichte fanden in der Zeit des Dualismus rasante Fortschritte im Verständnis somatischer Vorgänge statt, die man mithilfe von Physik und Chemie beschreiben konnte. Daneben entwickelte sich die Psychologie – aber wie Körper und Seele zusammenhängen, blieb im Dunkeln. Erst als die Psychosomatik eine immer größere Beachtung fand, begann man, den seelischen Anteil an körperlichen Krankheiten zu verstehen.

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Körper und Geist im Āyurveda In den östlichen Kulturen gab es nie diese Trennung zwischen Körper und Geist, wie z. B. im Āyurveda, »der Wissenschaft vom gesunden Leben«, »eine Lehre der Medizin, die auf der Erkenntnis beruht, dass der Mensch als eine Einheit aus Körper, Seele und Geist gesehen und behandelt werden muss und dass alles vom Gleichgewicht des Individuums abhängt; eine Ausgewogenheit sowohl im Innern als auch nach außen hin, d. h. zu seiner Umwelt und zum Kosmos« (Lobo, 1987, S. 15).

Ein Kernbegriff im Āyurveda, schon im Namen selbst enthalten, lautet Āyus – was Zusammenhalt bedeutet. So lautet eine andere Übersetzung von Āyurveda »das Wissen um den Zusammenhalt« und damit um die Synchronisierung des menschlichen Lebens. Es stellt das Ineinandergreifen von sozialen und individuellen Prozessen dar: »Der Zusammenhalt der innerkörperlichen Abläufe des Menschen wird durch den sozialen Zusammenhalt der Gemeinschaft und der Umwelt ermöglicht. Umgekehrt hat auch sein Wohlbefinden eine Wirkung auf die Umwelt« (Lobo, 1987, S. 37).

Anscheinend war es schon für die alten āyurvedischen Ärzte keine Frage, dass ein Zustand von Gesundheit nicht nur etwas ist, das jeder für sich selbst erreichen kann, sondern auch durch einen guten Platz im sozialen Feld bedingt ist. Hier treffen sich āyurvedische Grundlagen mit der Polyvagal-Theorie von Stephen Porges, der mit anderen Worten genau dasselbe beschreibt. Demnach wird die Physiologie durch die entspannte Verbundenheit mit anderen so reguliert, dass es sich optimal auf die mentale und physische Gesundheit auswirkt. Das Gefühl von Sicherheit ist dabei zentral und wird erst durch die Co-Regulation mit anderen möglich. In der Auseinandersetzung mit der Polyvagal-Theorie stößt man noch auf weitere erstaunliche Parallelen dazu, wie im Āyurveda die verschiedenen Zustände der »sozialen Wirklichkeit« beschrieben sind, entsprechend den fünf skizzierten neuronalen Schaltkreisen! Hier sind es die sogenannten Guṇas, die das Individuum in seinem sozialen Erleben beschreiben. Ergänzend dazu gibt es die sogenannte Prakrti, die individuelle Natur des Menschen, die von verschiedensten Einflüssen genetischer und psychosozialer Art geprägt ist – wobei damit weniger die körperliche Konstitution gemeint ist, sondern mit welchem »Programm« das Individuum seine Umwelt verarbeitet. In den drei Guṇas (Sattva, Rajas und Tamas) zeigen

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sich die individuellen und die sozialen Auswirkungen der Strategien, mit welchen das Individuum auf Verunsicherungen und Herausforderungen reagiert und zu überleben versucht. Rocque Lobo beschreibt die Guṇas als »soziale Orte« oder auch »Kategorien der sozialen Wirklichkeit«, in denen sich der Einzelne bewegt und zu orientieren versucht. Gelingt ihm dies gut, das heißt, der »soziale Ort« fühlt sich sicher an und »der Lebensfluss der menschlichen Gemeinschaft wird spürbar« (Lobo, 1987, S. 66), befindet er sich in Sattva. Der Begriff Sattva wird auch als Synonym für diesen »Lebensfluss« verwendet. Ist das eigene Empfinden der Gemeinschaft von Anspannung, Angst, Zorn, Konkurrenz, Hin- und Hergerissensein und Unsicherheit geprägt, herrscht das Prinzip Rajas vor. Der Betroffene ist im Konflikt, reibt sich auf und findet keine Ruhe. Tamas hingegen beschreibt einen sozialen Ort der Kälte, der Kontaktlosigkeit, des Rückzugs und der Versachlichung; die Lebenslust vergeht und es ist keine Perspektive vorhanden. Wie sich dies im sozialen »Geben und Nehmen« auswirkt, beschreibt Lobo folgendermaßen: »Sattva bedeutet: mehr ernten, als man sät. Rajas bedeutet: viel säen und wenig ernten. Tamas bedeutet: wenig säen und wenig oder gar nichts ernten« (Lobo, 1987, S. 67).

Bei all diesen Erläuterungen wird nochmals deutlich, dass sich diese Guṇas nicht nur beim Einzelnen, sondern auch im sozialen Feld ausdrücken. Durch den eigenen (vom ANS bedingten) inneren Zustand ist dieser »soziale Ort« jedoch zu gestalten und zu verändern.

Neurowissenschaft trifft Āyurveda Entspricht nun nicht der Begriff Sattva genau dem von Porges beschriebenen Zustand der Sicherheit und Verbundenheit, ermöglicht durch den ventralen Vagus? Spiegelt Rajas nicht all die vom sympathischen Nervensystem veranlassten Zustände der Erregung und Mobilisierung? Und passt letztlich Tamas, das im Āyurveda für Dumpfheit, Rückzug und Erstarrung steht, nicht auch zu diesem heruntergefahrenen Zustand, der vom dorsalen Vagus veranlasst wird? Auch im Āyurveda werden noch zwei weitere Verknüpfungen der Guṇas erwähnt: Mischen sich Sattva und Rajas, entsteht »der Horizont des Feuers« – dies fördert Bewegung und Aktivität, bei einem Überwiegen von Rajas auch

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ein verstärktes Autonomiestreben des Einzelnen und ein Entfernen von der Gemeinschaft (Lobo, 1987, S. 66 f.). Damit könnte sich eine Entwicklung weg vom entspannten »Spiel« und hin zu einer doch mehr von Wettkampf und Konkurrenz geprägten Stimmung zeigen. In der Verbindung von Sattva und Tamas dominiert »der Horizont des Wassers« – eine Verstärkung des Stabilen und des Gefühls, getragen zu sein – man denke hier an die emotionale Bindung in der »Immobilisation ohne Furcht«! Wird Tamas darin jedoch zu dominant, könnte es allerdings zu einer Angst vor dem Untergehen führen (Lobo, 1987, S. 66 f.). Man könnte in dieser Deutung an die Ambivalenz zwischen der Sehnsucht nach Bindung und der Angst, darin zu versinken und damit die eigene Autonomie zu verlieren, denken. Die eigene Prakrti (die »psychosomatische Konstitution«) und die soziale Kategorie der Guṇas treffen sich laut āyurvedischer Lehre im Erleben der eigenen Wirklichkeit. Ein Mensch, der durch körperliche Konstitution und verkörperte Lebensgeschichte eine Dominanz von Vata5 entwickelt hat, erlebt durch seine ganz eigene Interpretation der Außenwelt – eben durch die oben beschriebene Nozizeption – eine Situation wahrscheinlich ganz anders als ein Mensch, der eher die Konstitution von Kapha6 aufweist. Und ein von Pitta7 geprägter Mensch wird die Welt wiederum durch seine ganz eigene Brille wahrnehmen und darauf reagieren. Was der eine als bedrohlich und zum Weglaufen erlebt (nicht kognitiv, sondern nozizeptiv!), kann den anderen völlig lähmen und für den Nächsten eine lustvoll erlebte Herausforderung sein! Zu Prakrti erklärt Lobo: Prakrti ist gekennzeichnet durch zwei Gegebenheiten: Ȥ das Körperbewusstsein von der inneren Spannung, Ȥ den Willen, vom Körper her den Lebenszusammenhalt zu erhalten« (Lobo, 1987, S. 47). In der Begrifflichkeit von Porges entspricht dies der Neurozeption mit den dadurch reflexartig eingeleiteten Verhaltensweisen in den oben beschriebenen fünf Reaktionen. 5 Eine von Vata geprägte Natur wird im Āyurveda als von den Elementen Wind und Raum bestimmt beschrieben. So dominieren hier die Bewegung, die Unruhe, das Flüchtige und Unstete. 6 Eine Kapha-Prakrti wird von den Elementen Erde und Wasser dominiert. Hier herrscht das Stabile, Feste, auch Träge und Unbewegliche vor. 7 Eine von Pitta geprägte Konstitution ist vom Element Feuer dominiert. Hitze, Trockenheit, Reibung und verstärkter Antrieb sind die damit verbundenen Themen.

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Des Weiteren schreibt Lobo: »Der Sattva-Zustand oder der Zustand, in welchem der Lebensfluss der menschlichen Gemeinschaft spürbar wird, lässt ein Urvertrauen entstehen. […]. Trotz der Verunsicherung ruht der Verunsicherte in sich. […] Es scheinen die anderen Mitglieder der Gemeinschaft […] sich zu ihm hinzubewegen, um von ihm eine neue Lebensperspektive zu bekommen« (Lobo, 1987, S. 66).

Auch diese Beschreibung trifft genau die Beobachtung Porges’ und seiner Mitarbeiter, dass ein Mensch, der stark im neueren Vagus verankert ist, auch andere mit seinem Gefühl von Sicherheit und Vertrauen anstecken kann. Porges spricht in diesem Zusammenhang von »Co-Regulation«, die das autonome Nervensystem sucht, um den eigenen vagalen Tonus zu stärken. Laut Āyurveda tragen Rajas und Tamas zur Entstehung von Krankheiten bei und zum Verlust des Zusammenhalts. »Sattva jedoch garantiert den Dauerbestand des Körpers. (Deswegen heißt es auch in den alten Āyurveda-Texten: »Sattva ist ewig.«)« (Lobo, 1987, S. 67 f.).

Die hier zitierte gesundheitsfördernde Wirkung des Sattva-Zustandes entspricht den neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen aus der Salutogenese: Menschen, die eine gute Herzratenvariabilität (HRV) aufweisen, was für einen guten vagalen Tonus (VT) spricht, zeigen eine höhere Resilienz, eine bessere Immunabwehr und leben länger (wenn auch nicht ewig!). Zusammenfassend könnte man die verschiedenen Auswirkungen der von Porges und der (analog) im Āyurveda beschriebenen Zustände in groben Zügen wie in Tabelle 1 skizzieren, ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Tabelle 1: Physische und psychische Wirkungen des ANS/der Guṇas Ventraler Vagus/ Sattva

physiologisch

psychologisch

Muskeltonus angemessen Blutdruck normal Ruhepuls langsam HRV hoch Atem tief, ruhig Immunsystem stark Temperatur moderat Verdauung gut Schlaf erholsam, tief

entspannt sozial zugewandt mitfühlend kreativ hohe Resilienz schnelle Erholung von Stress sicheres Gefühl im Kontakt Kontakt wirkt nährend

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physiologisch

psychologisch

Sympathikus/ Rajas

Muskeltonus erhöht Blutdruck erhöht Ruhepuls erhöht HRV niedrig Schwitzen vermehrt Atem beschleunigt Einatmen betont Immunsystem schwach oder Autoimmunprozesse Entzündungsneigung Verdauung schwach Schlaf schlecht, oft gestört

aktiviert, gespannt konzentriert, (über-)wach beschleunigt, unruhig unsoziales Verhalten gereizt, überempfindlich konkurrierend aggressiv ängstlich angespannt im Kontakt unsicher, voller Zweifel, hin- und hergerissen

Dorsaler Vagus/ Tamas

Muskeltonus schwach Blutdruck niedrig Puls (zu) langsam HRV niedrig Atem flach Ausatmen betont Immunsystem schwach Verdauung aktiviert wandernde Schmerzen Asthma Schwindel, Ohnmacht Schlaf tief, schwer

abgespannt antriebslos sozial zurückgezogen depressiv, dumpf starr, wie gelähmt »Kopf in den Sand« Kälte im Kontakt emotionslos, sachlich unempfindlich autistisch dissoziiert

Betont werden muss jedoch, dass alle drei Zustände ihre Berechtigung haben und keineswegs nur zu vermeiden sind, auch nicht vermieden werden können. In der Auflistung erscheinen eher die Auswirkungen, wenn der adäquate Wechsel zwischen allen Ebenen nicht gegeben ist und die Defensivstrategien länger als nötig anhalten! Nun gibt es natürlich vielerlei Ansätze, um diesem Sattva-Zustand näherzukommen bzw. den vagalen Tonus zu stärken. Neben allgemein die Entspannung fördernden Maßnahmen wie mehr Schlaf, mehr Zeit für Kontakt und wohltuende Beziehungen, mehr Bewegung usw. ist der direkte Zugriff auf das ANS über den Körper naheliegend. Dazu schreibt Lobo: »Patañjali behauptet, dass dieser Sattva-Zustand durch das Studium von Yoga erreichbar ist. Dies bedeutet, dass […] die Wahrscheinlichkeit steigt, dass er sich öfter an einem Platz im bewegten sozialen Raum befinden könnte, in welchem man gesteigerten Schutz vor Verletzung genießt, wenn man Yoga korrekt praktiziert« (Lobo, 2005, S. 142 f.).

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Auch Porges und seine Mitarbeiter konnten in einer Studie belegen, dass Menschen mit Yoga-Erfahrung besser mit Traumatisierungen umgehen und sich leichter wieder regulieren können (Porges, 2010, S. 250–253). Seit langem ist in der Stressforschung bekannt, dass einerseits Gedanken unseren Körper z. B. in einen Stresszustand bringen und dass andererseits Körperhaltungen auf die Stimmung wirken können. Im ersten Fall spricht man von Top-down-, im zweiten von Bottom-up-Verarbeitungswegen, also von den verschiedenen Wirkrichtungen zwischen Körper und Gehirn. Yoga mit seinem »achtstufigen Pfad« nach Patañjali8 setzt in beiden Richtungen an, geht es doch darin auch z. B. um Verhaltensregeln, Ernährungsempfehlungen und Reflexion. Im Weiteren möchte ich mich jedoch auf den Bottom-up-Teil mittels Āsanas und Prāṇāyāma beschränken – also den Ansatz, über den Körper auf nervliche Steuerungsprozesse Einfluss zu nehmen – und damit die praktischen Konsequenzen aus der Polyvagal-Theorie ziehen. Das Üben von Āsanas, den Yoga-Haltungen, wirkt sich nicht nur auf den Körper aus – stattdessen kann man behaupten, dass wir über Bewegungen, Haltung und die Atmung einen direkten Zugriff auf unseren gesamten psychophysiologischen Zustand haben. Lobo, dessen Lebenswerk wohl darin bestand, Yoga im Hinblick auf unsere westliche, beschleunigte Welt zu untersuchen, wollte es in erster Linie als »Sensibilitätstraining« verstanden wissen: »Das Yoga-Training ist ein Studium der Lebenswelten, in welchen man sich bewegt und beschleunigt. Diese Lebenswelten, in welchen man sich selber erlebt, wahrnimmt und handelt, sind nach ihrem krankmachenden und gesundheitsfördernden Potential ständig […] zu sichten« (Lobo, 2005, S. 143).

Wenn ich nun den Versuch unternehme, unterschiedliche Yoga-Haltungen (Āsanas) unter dem Gesichtspunkt der Polyvagal-Theorie zu beschreiben, möchte auch ich darauf hinweisen, dass jede Übung zunächst einen Test der eigenen Regulationsfähigkeit darstellt, und dazu einladen, sich für die jeweiligen Auswirkungen zu sensibilisieren! Das regelmäßige Üben von Āsanas und Prāṇāyāma (Atemübungen) fördert die Fähigkeit zur Präsenz im Körper und schärft auch den Blick für die eigenen eingefahrenen Muster. Unreflektiertes Üben könnte einen genauso in die persönliche »Falle« dieser Muster locken: So kann man auch Yoga z. B. im Sinne einer immer stärkeren Optimierung und Leistungs- oder Konkurrenz-

8 Patañjali soll zwischen 500 und 200 v. Chr. gelebt haben.

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fähigkeit missbrauchen – um damit voll auf der sympathikotonen Schiene zu bleiben bzw. diese noch zu verstärken. Im Folgenden möchte ich eine mögliche Kurseinheit skizzieren – mit einigen Āsanas, Atemübungen und einem meditativen Abschluss. Der Versuch, den vagalen Tonus zu stärken und damit die Synchronisierung innerer Abläufe zu verbessern, wird jedoch bei jeder Person ein ganz eigenes Ergebnis zeitigen.

Die Praxis Schon beim Eintritt in den Kursraum werden die ersten Weichen dafür gestellt, ob es den Teilnehmenden leicht gemacht wird, sich in einen entspannteren, vagotonen Zustand zu begeben: Ist die Kursleitung zugewandt, die Stimmung unter den Übenden offen und freundlich, der Raum angenehm und gut temperiert? Wir beginnen mit einem kurzen »Blitzlicht« über die aktuelle Befindlichkeit und eventuelle Anliegen – über die Stimme, das Zuhören und den Blickkontakt werden die entsprechenden Hirnnerven, die das »System sozialen Engagements« (SSE) unterstützen, bereits aktiviert. Einige kurze theoretische Erläuterungen zu den verschiedenen Zuständen des ANS dienen als Basis für eine kurze Innenschau: Die Übenden richten die Wahrnehmung zum Körper hin und spüren so nach, in welchem Zustand sie sich befinden. Wo ist z. B. Anspannung spürbar, Druck, Unruhe oder Schwere, wie ist die Atmung, ist die Stimmung eher hell oder dumpf, können sie überhaupt den Körper in allen Anteilen wahrnehmen oder befinden sie sich nur im Kopf? Wo gibt es angenehme, wo unangenehme Empfindungen? Ist eher eine Lust auf Bewegung und Krafteinsatz vorhanden oder mehr das Bedürfnis nach ruhigen, sanften Haltungen? Mehr nach Partnerübungen oder allein üben? Gibt es dabei Anknüpfungspunkte zu den vagalen oder sympathikotonen Zuständen? Nach dieser »Bestandsaufnahme« können wir langsam in die Aktivität kommen. Wir beginnen mit ein paar lockeren Dehnungen in alle Richtungen, lassen spontane Geräusche dazu kommen, um Kehle und Zunge anzusprechen und zu entlasten, und suchen dabei immer wieder Blickkontakt (im Sinne des SSE). Auch spontanes oder leicht forciertes Gähnen ist willkommen, es regt das Umschalten in einen vagotonen Zustand an. Anschließend massieren wir leicht die Umgebung der Augen. Die Augenmuskulatur verspannt sich im sympathikotonen Zustand, der u. a. durch Bildschirmarbeit verstärkt wird. Zusätzlich lockern wir die Augen durch weiche Rollbewegungen, bis der Blick weicher und weiter wird und die Augen wieder feuchter. Zum Abschluss dieser Anfangssequenz schneiden wir Grimassen und

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streichen weich über die Gesichtshaut, um im gesamten Gesicht die Spannung zu reduzieren und sowohl den Gesichtsnerv als auch den Trigeminusnerv anzusprechen (Teile des SSE). Mit jeder entspannten Anregung dieser Nerven, die zusammen mit dem neueren Vagus das SSE bilden, schaffen wir die Voraussetzung für eine Stärkung des vagalen Tonus! Danach folgt eine Übung, die ich gern von Stanley Rosenberg, einem renommierten Körpertherapeuten, übernehme und die er als »Grundübung für den Vagusnerv« beschreibt (Rosenberg, 2019, S. 258 ff.): Wir legen die verschränkten Hände in den Nacken, sodass die Zeigefinger einen leichten Druck auf den Schädelansatz ausüben. Ohne den Kopf zu drehen, richten wir den Blick für ca. eine Minute zunächst auf die eine Seite, dann wechseln wir zur anderen. Der Blick sollte entspannt sein, auch Blinzeln ist erwünscht. Während der Übung stellen sich zuweilen spontane Entspannungsreaktionen wie Gähnen, Tränenfluss, vermehrter Speichel oder tieferes Atmen ein. Nach Rosenberg unterstützt diese Übung den neueren, ventralen Vagus: Durch den leichten Druck der Finger und die Augenbewegung wird der Hinterhauptnerv stimuliert, der die tiefen Nackenmuskeln entspannt. Dadurch kommen die obersten Halswirbel wieder in die richtige Position und die Durchblutung des Hirnstamms, dem die fünf oben beschriebenen Nerven des SSE entspringen, wird verbessert. Somit wird die Funktionsfähigkeit dieser Nerven gefördert. In Stresszuständen kann eine unwillkürlich eingeleitete Verschiebung der Halswirbel sinnvoll sein, denn die Durchblutung und die Funktionsfähigkeit der Nerven des SSE werden dadurch gehemmt, um schnell defensiv reagieren zu können. Leider verharren diese Wirbel oft länger in dieser Position, als die Sicherheitslage es erfordert! Nach dieser Übung (die auch im Liegen ausgeführt werden kann) kann man meistens eine verbesserte Drehfähigkeit des Kopfes feststellen, eine tiefere Atmung und auch eine entspanntere Stimmung. Wir machen mit einigen Haltungen im Stehen weiter: Abbildung 2: Nach einer Auflockerung der Dreieckstellung Beinmuskulatur mit spielerischen (Utthita Trikonāsana)

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Dehnungen der Rückseite begeben wir uns in die »Dreieckstellung« (Utthita Trikonāsana; Abb. 2): In dieser Haltung wird eigentlich ein Weglaufen imitiert, die gedehnte Spannung in den Wadenmuskeln und die Drehung zur Seite stimulieren eine erhöhte Aktivität im Körper wie zur Flucht. Doch diese getriggerten Reflexe werden durch das Innehalten, das Drehen des Kopfes, einen weichen Blick und die Weitung der Arme ausgebremst. Die Atmung kann sich wieder verlangsamen und die Haltung wird stabiler, wenn das Davonrennen in ein ruhiges Verweilen übergeht. Dann wäre wieder ein Gleichgewicht zwischen »Stabilität und Lebendigkeit«, wozu es in jedem Āsanam kommen sollte, geschaffen. Wenn man diesen optimalen Zustand wieder auf einen gut funktionierenden neueren Vagus (oder Sattva) zurückführt, könnte man auch das »zu Stabile« (Starre) mit einer zu starken Bremse durch den alten Vagus (oder Tamas) oder das »zu Lebendige« (Unruhige) mit einer zu starken Mobilisierung durch den Sympathikus (oder Rajas) vergleichen! In ähnlicher Weise fahren wir mit der »Heldenstellung« (Virabhadrāsana; Abb. 3) fort: Wie der Name schon assoziieren lässt, geht es hier mehr um Kampf als um Flucht. Auch hier wird durch die Spannung der Beine und vor  allem auch durch die Öffnung der Vorderseite des Körpers, mit den erhobenen, zur Aktion bereiten Armen zunächst eine starke Aktivität im ganzen Körper ausgelöst. Und auch hier führen wir diese Mobilisierung über eine Regulierung der Spannung, tiefes Durchatmen, weichen Blickkontakt und Nachlassen der Spannung im Kiefer und der Oberflächenmuskulatur in eine Haltung der Ruhe und Kraft über, sodass der Sympathikus sich mit dem SSE verbinden kann. An dieser Stelle noch eine Anmerkung zur anfangs beschriebenen Hierarchie zwischen den drei Ebenen: Für Übende, die sich eher in einer depressiven Stimmung befinden, kann es sehr belebend sein, sich in eine solch kämpferische Haltung zu begeben! Von dort aus ist es dann erst Abbildung 3: Heldenstellung möglich, in einen Zustand zu kom(Virabhadrāsana) men, der vom ventralen Vagus bestimmt wird.

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Abbildung 4: Kobra (Bhujangāsana)

Um einer solch gedämpften Stimmungslage noch mehr entgegenzusetzen, begeben wir uns in die Bauchlage. Von dort aus aktivieren wir langsam die tiefen Rückenmuskeln, indem wir uns Stück für Stück in die Haltung der »Kobra« begeben (Bhujangāsana; Abb. 4): Langsam ziehen wir vom Scheitel aus, mit fest verankertem Becken, die Wirbelsäule in die Höhe und wölben den Brustraum. In der Haltung bequem angekommen, verstärken wir die belebende Wirkung noch mit einem »Löwengesicht«: Mit nach oben gerichteten Augen strecken wir weit die Zunge heraus und geben entsprechend »gefährliche« Geräusche von uns! Schon nach zwei bis drei »Brüllern« löst sich die Spannung mit einem allgemeinen Gelächter und dies tut noch sein Übriges, um der Haltung die Aggression zu nehmen – unter Zunahme der Lebendigkeit! Nach diesen stark aktivierenden Übungen ist es an der Zeit, die Gegenrichtung einzuschlagen. So gehen wir nach einer kurzen Pause im »Zusammengerollten Blatt« zu einigen »Vorwärtsbeugen« im Sitzen über. Wir sitzen mit ausgestreckten bzw. leicht angewinkelten Beinen und beugen uns nach vorn in Paschimottāsana (Abb. 5): Die Arme greifen weich nach vorn zu den Füßen oder hängen locker zur Seite. Nach und nach dehnen wir die Wirbelsäule in einem weichen Bogen nach vorn, der Bauch ist sehr entspannt, der Nacken bleibt leicht aktiv gedehnt. Wir verweilen in der Haltung, versuchen uns immer bequemer darin einzurichten und die ganze Rückseite des Körpers sich immer mehr dehnen zu lassen. Wenn alle Spannungen und aktiven Reflexe langsam nachlassen, wird die AtAbbildung 5: mung tiefer und der Kopf Paschimottāsana fühlt sich zunehmend ruhiger an – dann ist das Umschalten auf eine vagotone Stimmung gelungen.

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Mit einem nun weicheren, aber gleichzeitig stabileren Rücken schließen wir noch einige gedrehte Varianten der »Vorbeugen« an, wie z. B. Janusirsāsana oder Parivrtta janusirsāsana. Die Dehnung der gesamten Rückseite des Körpers und die Entspannung im Bauch- und Brustraum, die wiederum den Atem mehr in den Bauch und ins Becken bringt, leitet eine Entspannung im Körper ein, zumindest wenn die Haltung wirklich bequem wird. Hitzegefühle, Unruhe, Schmerzen oder durch falschen Ehrgeiz verursachte Beschwerden sind Hindernisse auf dem Weg dorthin und ein Zeichen dafür, dass der Sympathikus noch aktiv ist. Auch das »Versumpfen« in den Sitzhaltungen kann eine Versuchung darstellen: Der Kopf hängt dann und die Dehnspannung in der Tiefe kann nicht gehalten werden. Für diese verkörperten Rajas- und Tamas-Anteile sensibel zu werden, ist Teil der Übung. Hier möchte ich mein Plädoyer für Hilfestellungen und Partnerübungen einbringen: Die Berührung, von der Stephen Porges ja auch als wichtigem Element zur Beruhigung spricht, ist bei vielen Āsanas oft der Schlüssel für eine Änderung in der Haltung hin zu mehr Wohlgefühl. Ob zur Reduzierung der Spannung, zur Stabilisierung einer Haltung oder zum Ermuntern, sich stärker in eine Haltung hineinzubegeben, wirken schon kleine Berührungen oft Wunder. Wenn dazu noch ein freundlicher Blickkontakt und unterstützende Worte kommen, ist der Weg zu mehr Lebendigkeit und Stabilität schon geebnet. Als Abschluss der Übungsreihe praktizieren wir den »Schulterstand« (Sarvangāsana; Abb. 6) vorbereitende Übungen. Auf dem Rücken liegend, bringen wir zunächst die Beine mit leichter Dehnung Richtung Decke und dann immer mehr Richtung Kopf. Die Rückseite des gesamten Körpers wird so noch einmal sanft gedehnt, das Becken hebt sich nur leicht vom Boden. Die Arme greifen zunächst weich nach oben, um die Schultern Abbildung 6: und den Nacken zu entlasten und Schulterstand die Entspannung im ganzen Brust(Sarvangāsana) und Schulterbereich zu unterstützen. Der Brustkorb sinkt zum Boden hin, Kehle und Kiefer sind gelockert und der Kopf kann langsam in die Schwere kommen. Wenn diese Haltung angenehm wird und keinerlei Druckgefühle vorhanden sind, unterstützen die Arme nun leicht den Rücken zur Variante Viparita Karani. Die Beine können sich, je nach Leichtigkeit, mehr oder weniger strecken, jedoch sollte dadurch nicht wieder mehr Spannung entstehen.

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Die letzteren Haltungen eignen sich gut als Partnerübung: Hierbei stützt und hält die Hilfestellung die Beine der/des Übenden und hebt damit den Rücken leicht vom Boden weg. Durch die Entlastung vom eigenen Gewicht kann sich die/der Übende noch leichter »fallenlassen« und so dem Ziel der Haltung, dem NachAbbildung 7: lassen aller Spannung und der »HinHalber Schulterstand gabe«, leichter näherkommen. Die Hal(Viparita Karani) tung triggert bei vielen zunächst die Defensivstrategien: Auf die angebotene Entspannung, aber auch durch die Verengung der Kehle meldet sich bei einigen der sympathikotone Widerstand in Form von erhöhtem Druck im Kopf- und Halsbereich und der Unfähigkeit, die Spannung im Körper nachzulassen – dies erfordert doch ein gewisses Vertrauen in die Umwelt! Oder die Einladung zum Fallenlassen führt zum gänzlichen Verlust an eigenem Halt, der Kontakt geht verloren und der/ die Übende »taucht ab« über den alten Vagus – deshalb ist es auch hier wichtig, im SSE aktiv zu bleiben und den Kontakt über die Augen oder die Stimme zu halten. Der Schulterstand, bzw. seine Varianten, könnten als verkörpertes Sinnbild für den Zustand, den Porges mit »Immobilisierung ohne Furcht« beschreibt, verstanden werden. Nachdem wir uns langsam wieder in die Rückenlage begeben haben, folgt eine Phase der Ruhe in der »Totenstellung« (Savāsana). Die Ruhe dient dem »Sich-setzen-Lassen« aller Impulse, dem sensiblen Beobachten innerer Vorgänge und auch dem Verweilen bei Empfindungen. Hier, in der Ruhe, können wir die Meldungen der Nozizeption noch feiner spüren, im Feedback darüber, inwieweit eine gute Selbstregulation zustande gekommen ist. Nach dem Liegen schließe ich noch eine »Atem­ übung im Sitzen« an: Wir sitzen in einer bequemen, aufrechten Haltung (Abb. 8). Die Wirbelsäule ist vom Nacken aus leicht gedehnt, der Brustkorb geöffnet, das Gesicht sehr entspannt und leicht nach unten gerichtet. Die Atmung erfolgt (wenn möglich) durch die Abbildung 8: Aufrechter Sitz/ Schneidersitz (Sukhāsana) Nase. Bei der Nasenatmung wird in den Neben­

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höhlen vermehrt Stickoxid gebildet, das die Sauerstoffbindung des Blutes in den Lungen erleichtert und entzündungshemmend wirkt (Ehrmann, 2016, S. 82 f.). Ohne Anstrengung atmen wir ein, nach einer kleinen Pause aus, worauf wieder eine kleine Pause vor der nächsten Einatmung folgt. Die Einatmung und Ausatmung sollten dabei gleich lang sein, von mittlerer Tiefe und in einer Frequenz von ca. 5–7 Atemzügen pro Minute erfolgen, die jeweiligen Pausen sind nur ein kurzes Innehalten. Das Zwerchfell sollte sich dabei frei bewegen können, damit die Atembewegungen im gesamten Rumpf spürbar sind – dies wurde durch die vorhergehenden Āsanas vorbereitet. So entlastet das Zwerchfell Herz und Kreislauf, indem es die Bewegung des Blutes unterstützt. Wenn die Übung ohne Schwierigkeit ausgeführt werden kann, ergänzen wir sie noch um den sogenannten Ujjayi-Atem, das Atmen mit einem leichten Widerstand in der Kehle, wodurch ein ganz leicht rauschendes Geräusch entsteht – dadurch wird der Einfluss des Vagus zusätzlich verstärkt. Wir atmen in dieser Weise einige Minuten, eventuell mit der Vorstellung eines weiten, lebendigen Herzraumes. Das gleichmäßige Ein- und Ausatmen in diesem langsamen Rhythmus unterstützt und trainiert eine gute Herzratenvariabilität und ein ausgeglichenes Nervensystem. Beim Einatmen überwiegt der Einfluss des Sympathikus, beim Ausatmen der des Vagus. Dieser Wechsel kann im Ruhezustand als »Respiratorische Sinusarrhythmie« (RSA) gemessen werden. Je stärker die RSA, desto größer ist der Einfluss des neueren, ventralen Vagus. Ein verlängerter Ausatem aktiviert akut zwar die Vagus-Bremse und kann in Stresssituationen schnelle Entspannung bringen, auf Dauer kommt hierbei jedoch keine Verbesserung der HRV zustande und ergibt so keinen nachhaltigen Trainingseffekt (Ehrmann, 2016, S. 70 f.). Über die Atmung ließe sich hier noch sehr viel einfügen, was den Rahmen dieses Beitrags jedoch sprengen würde – deshalb nur den wichtigen Verweis darauf, dass die Atmung sehr eng mit dem autonomen Nervensystem verknüpft ist: Einerseits wird die Atmung vom ANS reguliert, wir können andererseits über eine gesteuerte Atmung wiederum Einfluss auf das ANS nehmen. Jeder kennt die Erfahrung des schnellen, oberflächlichen Atmens im Stress bzw. das flache, fast nicht mehr wahrnehmbare Atmen bei starker Angst oder auch die Beruhigung, die tiefes Ausatmen mit sich bringt. Die Steuerung des autonomen Nervensystems war von jeher das Anliegen von Prāṇāyāma – heute lässt sich die Synchronisation von Atmung und Herzschlag in der HRV auch sichtbar machen. Einige Minuten stillen, meditativen Sitzens bilden den Abschluss des Kurses. Die vagale Bremse, die durch die Atemübung gestärkt wird, kann als physiologische Vorbereitung zur Meditation gesehen werden. Hier gilt es, bei dem zu bleiben, was sich innerlich zeigt, und alles absichtslos wahrzunehmen. Eine

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Variante im Sitzen wäre das Fokussieren auf positive Gefühle wie Dankbarkeit oder Liebe: Dadurch verstärken sich erwiesenermaßen der vagale Tonus und die Atemtiefe. Diese Erfahrung der Stille und tiefen Ruhe kann sowohl die Präsenz nach innen als auch das Verbundensein mit der Außenwelt verstärken. Ein »gelungener« Kurs zeigt sich auch noch beim Verabschieden und Hinausgehen als eine warme Atmosphäre untereinander in zugewandter Kommunikation. Dann kann ich als Kursleiterin sicher sein, dass ich die Teilnehmenden auf allen Ebenen erreichen und eine Regulation in Richtung einer Stärkung des ventralen Vagus und des SSE einleiten konnte.

Schlussbemerkung Wenn wir, wie Porges beschreibt, unsere gesamte Umwelt nicht nur über unsere Sinne, sondern über den ganzen Körper erleben, ist es wichtig, dass dieses »Instrument« gut gestimmt ist. Eine Arbeit mit dem Körper wie im Yoga schärft nicht nur die eigene Körperwahrnehmung und trainiert die Reflexe, sie unterstützt auch ein waches, flexibles Nervensystem. Ein Training des ANS und insbesondere eine Stärkung des ventralen Vagus mit dem SSE ist von daher weit mehr als nur Entspannungstraining. Lobo nennt es das Üben »der Hingabe des Herzens an das Leben«, sodass ein lebendiges Mitschwingen in allen Situationen und Lebenslagen möglich wird. Darin können wohltuende, unterstützende Beziehungen wirken – wie wichtig soziale Kontakte sind und was durch deren Mangel entsteht, wurde während der strengen Lockdowns während der Corona­ pandemie erst deutlich spürbar! Dass die moderne Neurowissenschaft diese Bedeutung nun auch belegen kann, ist möglicherweise ein weiterer Brückenschlag zu alten Lehren, als dies noch nicht messbar war – das Wissen um den Zusammenhang zwischen Körper und Geist und darüber hinaus auch um den individuellen und sozialen Zusammenhalt war aber lange schon vorhanden. Illustrationen Stefan Atzl – www.atzl-stefan.de

Literatur Damasio, A. (1998). Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. München: dtv. Ehrmann, W. (2016). Kohärentes Atmen. Atmung und Herz im Gleichklang. Bielefeld: tao-Verlag. Lange, C. G. (1885). Om Sindsbevoegelser: Et psykofysiologiske Studie. Kopenhagen: Kronar (deutsch 1887: Über Gemuethsbewegungen. Leipzig: Theodor Thomas). Lobo, R. (1987). Āyurveda – besser leben im Rhythmus der Zeit. Zürich/Chur: M&T Verlag. Edition Astroterra.

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Lobo, R. (2005). Yoga – Sensibilitätstraining für Erwachsene. Bd. 1. Palmela: Editora Pantainos. Lobo, R. (2007). Yoga – Sensibilitätstraining für Erwachsene. Bd. 2. Palmela: Editora Pantainos. Lobo, R. (2012). Yoga – Sensibilitätstraining für Erwachsene. Bd. 3. Palmela: Editora Pantainos. Porges, S. (2010). Die Polyvagal-Theorie. Neurophysiologische Grundlagen der Therapie: Emotionen, Bindung, Kommunikation und ihre Entstehung. Paderborn: Junfermann. Porges, S. (2017). Die Polyvagal-Theorie und die Suche nach Sicherheit. Lichtenau/Westfalen: Probst. Porges, S. (2020). Relational implicit & Somatic Psychotherapy. https://youtu.be/6FGTHm6R4pc (Zugriff am 06.06.2021). Porges, S., Dana, D. (2019). Klinische Anwendungen der Polyvagal-Theorie. Lichtenau/Westfalen: Probst. Rosenberg, S. (2019). Der Selbstheilungsnerv. So bringt der Vagus-Nerv Psyche und Körper ins Gleichgewicht. Kirchzarten: VAK.

Birgit Atzl (*1964) unterrichtet seit 1988 Yoga als Integriertes Psychosomatisches Gesundheitstraining (IPSG); Ausbildung hierin beim Förderverein für Yoga & Āyurveda unter der Leitung von Prof. Dr. Rocque Lobo. Seit 1990 arbeitet sie als Heilpraktikerin in eigener Praxis. Schwerpunkte in ihrer Arbeit sind die ganzheitliche Behandlung chronischer Beschwerden und Gesundheitsförderung mittels Klassischer Homöopathie, körperorientierter Psychotherapie (PEP , Focusing) und Systemischer Beratung. Außerdem berät sie zu Stressbewältigung durch Herzkohärenz-Training u. a. mit Messung der Herzratenvariabilität (HRV), Bio-Feedback (Qiu) und Yoga. Sie ist Mitglied im Berufsverband Unabhängiger Gesundheitswissenschaftlicher Yoga-Lehrender BUGY . Kontakt: Praxis für Klassische Homöopathie, Psychotherapie und Herzkohärenz-Training, Schoppershofstr. 14 a, 90489 D-Nürnberg, Tel.: 0911-5441895, E-Mail: [email protected]; www.homoeopathie-atzl.de.

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Hatha-Yoga als körperbasierte Selbstreflexion für hochsensible Menschen Nicole Hüttner

Rocque Lobo versteht das Üben von Hatha-Yoga als Sensibilitätstraining. Kann diese innere Haltung als Yoga-Übende1 hilfreich sein im Zusammenhang mit der sogenannten Hochsensibilität? Ein Sensibilitätstraining für Hochsensible mag paradox anmuten. Es zielt darauf ab, eine Fähigkeit bewusst und systematisch für sich selbst einzusetzen. Wie dies gelingen kann, ist Inhalt dieses Beitrags. Im ersten Schritt werden Informationen zum Thema Hochsensibilität zusammengefasst. Im zweiten Schritt werden der Ansatz von Rocque Lobo und sein Verständnis von Hatha-Yoga erklärt. Dann werden beide Konzepte zusammengebracht und schließlich Anregungen für die praktische Umsetzung gegeben.

1. Die Dynamik von Hochsensibilität verstehen Phänomene und Erklärungsansätze Hochsensibilität wird meist phänomenologisch und in Relation zu anderen Personen als erhöhte Wahrnehmungsfähigkeit beschrieben. Als Kennzeichen für eine Hochsensibilität (z. B. Aron, 2019; Harke, 2019; Parlow, 2015) gelten: Ȥ eine intensivere Wahrnehmung von äußeren Reizen, z. B. Sinneseindrücke wie Hören, Riechen, Spüren oder ein besonders ausgeprägter Sinn für Ästhetik und Formzusammenhänge, Ȥ eine intensivere Wahrnehmung von inneren Reizen, z. B. Gefühlszustände wie Freude, Schmerz oder innere Spannungszustände und Konflikte, Ȥ eine erhöhte Fähigkeit, sich in die Perspektive anderer zu versetzen, z. B. kognitive, emotionale oder körperliche Empathie, Ȥ eine erhöhte Fähigkeit, Stimmungen und Atmosphären im sozialen Umfeld wahrzunehmen oder auch Naturphänomene und -zusammenhänge wahrzunehmen (Feldwahrnehmung), 1 Ich verwende im Text in zufälliger Folge die männliche und weibliche Form. Im Sinne der gendersensiblen Sprache mögen sich bitte alle angesprochen fühlen.

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Ȥ eine tiefere, differenziertere oder komplexere Verarbeitung der aufgenommenen Informationen, z. B. intensive Reflexion, Introspektion, Analyse von Zusammenhängen und unterschiedlichen Perspektiven. Zur Hochsensibilität haben vor allem Autoren veröffentlicht, die aus eigener Erfahrung schreiben. Sie haben aus ihren Erkenntnissen heraus Beratungsansätze zum Umgang mit Hochsensibilität im Alltag entwickelt. Es gibt weder eine einheitliche, anerkannte Definition noch einen validen Test zur Bestimmung einer Hochsensibilität. Autoren von Ratgebern bieten meist phänomenologische Fragebögen zum Selbsttest an (Aron, 2019; Harke, 2019; Heintze, 2015; Sellin, 2014). In der Forschung wird die auf Aron basierende psychometrische Skala, die »Highly Sensitive Person Scale«, verwendet (Bertrams, 2011). Die bisherige Forschung zur Sensory Processing Sensitivity, dem wissenschaftlichen Begriff für Hochsensibilität, umfasst Studien mit Erwachsenen, Kindern und Tieren, deren Ergebnisse zunehmend integriert werden (Wyrsch u. Tillmann, 2018). Für die Häufigkeit von Hochsensibilität gibt es Schätzungen. Die Angaben variieren zwischen 10 %, 15 % bis zu 20 % oder 25 % der Bevölkerung (Aron, 2019; Parlow, 2015; Harke, 2019; Heintze, 2015). Die Ausprägung der Hochsensibilität scheint ebenfalls zu variieren, das heißt, bei verschiedenen hochsensiblen Menschen sind einige der genannten Kennzeichen stärker ausgeprägt, andere weniger stark. Hochsensible Menschen werden häufig als »highly sensitive person« oder auch als »highly reactive«/»highly responsive« bezeichnet (Aron, 2019; Parlow, 2015). Zur Feststellung einer Hochsensibilität hat die amerikanische Psychologin Elaine Aron, eine der Vorreiterinnen in der Forschung zu Hochsensibilität, das DOES-Modell entwickelt mit den Kriterien (Aron, 2018): D – depth of processing (Verarbeitungstiefe von Sinneseindrücken und Informationen) O – overstimulation (Tendenz zur Überstimulation) E – emotional reactivity and empathy (emotionale Berührbarkeit und Empathie) S – sensing the subtleties (Wahrnehmung von Feinheiten) Die Erklärungsansätze für das Phänomen der Hochsensibilität unterscheiden sich stark, je nach Paradigma und Menschenbild. Die meisten Autorinnen nehmen neuronale Unterschiede in der Reizaufnahme, Reizfilterung oder Reizverarbeitung an, die sich grundlegend von anderen Menschen unterscheiden (Aron, 2019). Es könnte aber auch sein, dass es, analog zu anderen wissenschaftlich untersuchten Merkmalen, eine natürliche Diversität gibt. Hochsensibilität wäre dann

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eine überdurchschnittliche Ausprägung von Sensibilität (Konrad, zit. nach Langosch, 2016). Aus dieser Perspektive wäre ein fließender Übergang anzunehmen. Einige Forschungsergebnisse sprechen dafür, dass es drei unterscheidbare Ausprägungen von Sensibilität gibt: high, medium, low (Aron, 2018). Aus der neurobiologischen Perspektive könnte es sich um eine erhöhte Aktivität der Spiegelneurone handeln, die bei zwischenmenschlichen Resonanzphänomenen wirksam sind (Bauer, 2009). Nach dem Konzept der Neuroplastizität wäre anzunehmen, dass besonders häufig genutzte neuronale Vernetzungen stärker ausgebaut werden und dann differenzierter und stärker in der Reizübertragung sind (Hüther, 2011). In der psychologischen Persönlichkeitsforschung wird Hochsensibilität lediglich als Unterkategorie von Neurotizismus bei den Big-Five-Persönlichkeitsmerkmalen und im Sinne eines Defizits abgehandelt (Asendorpf, zit. nach Langosch, 2016). Während einige Forscherinnen von einer genetischen Veranlagung ausgehen, also einer angeborenen Hochsensibilität (Aron, 2019), gehen andere davon aus, dass es keine Unterschiede in der Reizaufnahme oder Reizverarbeitung gibt. Die Phänomene seien lerntheoretisch erklärbar, daher handle es sich um eine erlernte oder erworbene Hochsensibilität. Dies könnte beispielsweise auf bestimmte Verhaltens- oder Kommunikationsmuster in der Familie zurückzuführen sein. Die biologische Forschung zur Hochsensibilität geht davon aus, dass Analogien im Tierreich zu finden sind (Aron, 2018). Einige Tiere einer Herde, etwa 15–20 %, seien sensibler als andere und daher in der Lage, bei Gefahrensituationen die Herde zu warnen. Diese Tiere könnten schneller Veränderungen in der Umwelt wahrnehmen und flexibler darauf reagieren. Von einigen Autorinnen wird dieser Ansatz auf den Menschen übertragen: Es gebe eine natürliche Diversität, der auch der Mensch als Teil der Natur unterliege. Die Menschen, die über eine besondere Sensibilität verfügen, könnten die Aufgabe haben, Veränderungen in der Welt früher wahrzunehmen und notwendige Schritte der Veränderung zu initiieren oder kreative Lösungsstrategien zu entwickeln. In diesem Sinne könnten sie als Pionieers of Change gesehen werden (Pourian, 2021). Chancen und Risiken Ein hochsensibler Mensch kann unter förderlichen Bedingungen diese Begabung entfalten und einsetzen. Ein klassisches Beispiel ist der Sommelier, der seine Fähigkeiten zur Geruchs- und Geschmackswahrnehmung weiter ausbaut und professionell einsetzt. Das lässt sich auf andere Berufsfelder übertragen, z. B. jemand, der Parfums kreiert, Romane schreibt, als Fotografin oder Künstler arbei-

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tet. Mithilfe professioneller Ausbildung und Supervision können Hochsensible ihre Empathiefähigkeit für therapeutische oder beratende Berufe einsetzen. Die komplexe Denkweise von Hochsensiblen und die Fähigkeit, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen, kann in der Projektarbeit nützlich sein. Gerade bei schnittstellen- und abteilungsübergreifenden Aufgaben im Unternehmen oder beim Entdecken neuer Geschäftsfelder ist dies eine wertvolle Fähigkeit. Der andere Blick auf die Dinge ermöglicht kreative Lösungen. Hochsensible können auf diese Weise Pionierarbeit auf verschiedenen Gebieten leisten. Wenn Hochsensible Unstimmigkeiten im Gesamtsystem wahrnehmen, kann dies Ausgangspunkt für eine politische Aktivität sein. Im Privatleben kann im besten Fall eine hohe Lebenszufriedenheit erreicht werden, z. B. durch intensives Naturerleben, tiefe zwischenmenschliche Beziehungen oder hohen sinnlichen Genuss. Es gibt also förderliche Bedingungen, die dabei helfen, dass Hochsensibilität als Stärke und Begabung integriert werden kann. Hilfreich ist eine Umgebung, in der ein hochsensibler Mensch seiner Wahrnehmung trauen lernt und daraus ein entsprechendes Selbstvertrauen bzw. Selbstbewusstsein entwickelt. Förderlich ist ein Umfeld, in dem Hochsensible so angenommen werden, wie sie sind, ihre Potentiale entfalten dürfen und Unterstützung erhalten. Dazu gehört auch, von anderen abweichende Bedürfnisse wahrzunehmen, ernst zu nehmen und danach zu handeln. Das kann beispielsweise sein, einen entsprechenden Rückzugsraum einzuplanen, um die aufgenommenen Reize zu verarbeiten oder Rituale zu entwickeln, um Ausgleich zu schaffen und sich zu regulieren. Die Risiken entstehen für Hochsensible im Grunde erst aus der negativen Bewertung der Hochsensibilität oder aus Unverständnis und Druck durch das Umfeld. Meist wird Hochsensibilität als Überempfindlichkeit abgetan, verbunden mit einer deutlichen Abwertung, z. B. sich etwas einzubilden, zu übertreiben oder nicht so belastbar und stressresistent zu sein. Die Phänomene der Hochsensibilität gelten dann häufig als Störfaktoren, die es zu überwinden gilt. Werden diese äußeren Bewertungen verinnerlicht, führt dies zu einem negativen Selbstbild und dem Gefühl, nicht richtig zu sein. Dazu kommt die Erfahrung, sich unverstanden zu fühlen, irgendwie anders zu sein und dadurch Probleme und Unannehmlichkeiten zu verursachen. Als soziale Wesen und auf ihr Umfeld angewiesen, entwickeln Menschen in der Regel die Strategie, sich anzupassen an die äußeren Normen, Erwartungen und Bewertungen. Die äußeren Kriterien dienen dann zunehmend als Orientierung für das eigene Handeln. Diese Anpassungsleistung hat zur Folge, dass Hochsensible die eigene Wahrnehmung, z. B. von Frühwarnsignalen, übergehen und eigene Bedürfnisse, z. B. nach Rückzug und Regeneration, nicht wahr- oder nicht ernst nehmen. Eigene gesunde Rhythmen geraten dann aus dem Takt.

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Welche Wirkung eine Situation auf den einzelnen Menschen hat, hängt allerdings von verschiedenen Faktoren ab; zum Beispiel, in welchem Zustand er sich gerade befindet, wie die Situation subjektiv eingeordnet wird und welche Strategien zur Verfügung stehen. Darüber hinaus ist Hochsensibilität kein homogenes Konstrukt, sondern umfasst verschiedene Teilaspekte, die sich unterschiedlich auswirken können. Sobocko und Zelenski (zit. nach Langosch, 2016) unterscheiden bei den Merkmalen von Hochsensibilität zwischen ästhetischer Sensitivität, die sich positiv auf das Wohlbefinden auswirkt, und Übererregbarkeit, die eine negative Auswirkung auf die Lebenszufriedenheit hat. Auswirkungen auf den Körper Eine dauerhafte Reizüberflutung, unzureichende Verarbeitungszeiten für diese Reize sowie mangelnde Selbstfürsorge und Regeneration können zu Dauerstresszuständen führen. Die Anforderungen in der modernen Arbeitswelt können diese Dynamik verstärken, z. B. durch hohe oder unrealistische Erwartungen und Erfolgsdruck, Arbeiten im Großraumbüro mit hoher Geräuschkulisse, vielen optischen Reizen und Wechsel zwischen verschiedenen Medien, schnelle Arbeitstaktung, enge Zeitvorgaben sowie Überstunden, Schichtarbeit, Reisetätigkeit, Aufenthalt in wechselnden Zeitzonen und Ähnliches. Vor diesem Hintergrund geht Aron davon aus, dass für Hochsensible ein erhöhtes Risiko für psychosomatische und stressbedingte Erkrankungen besteht, wie beispielsweise Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Erschöpfungsdepression, unspezifischer chronischer Rückenschmerz oder Spannungskopfschmerz (Aron, 2018). Einen nachvollziehbaren Erklärungsansatz dafür beschreibt Seemann, die im Zusammenhang mit psychosomatischen Erkrankungen von Rhythmusstörungen spricht (Seemann, 2016). In der systemischen Sichtweise stellt das vegetative Nervensystem einerseits ein geschlossenes, eigenständiges, sich selbst regulierendes System dar. Es sorgt unwillkürlich für Balance und durch jeweils gegenläufige Impulse (z. B. Müdigkeit) für einen natürlichen Rhythmus von Aktivität und Regeneration, Stress und Entspannung. Jedoch nur, wenn man es nicht daran hindert. Andererseits kann nämlich in dieses System willkürlich, also bewusst, durch höherrangige Steuermechanismen eingegriffen werden. Dies kann etwa durch hohe Leistungsmotivation, innere Normen der Leistungsfähigkeit oder den Anspruch durchzuhalten geschehen. Bei Hochsensiblen wäre dies der Fall, wenn das eigene Bedürfnis nach Ruhe übergangen wird zugunsten der Anpassung an die vermeintliche Norm. Dadurch kann diese autonome Selbststeuerung ausgehebelt werden. Geschieht dies über einen zu langen Zeitraum,

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kann dies beispielsweise zu anhaltenden (Muskel-)Anspannungszuständen führen, chronischer Erschöpfung oder zu vegetativen Entgleisungen. Im Gegenzug wendet sich der Körper also in Form von Befindlichkeitsstörungen und Symp­ tomen an das höherrangige Steuerungssystem, wenn das vegetative Nervensystem sich nun nicht mehr eigenständig regulieren kann. Allerdings muss die Sprache des Körpers zunächst verstanden werden, um diesen Hilferuf zutreffend zu interpretieren und ihm nachkommen zu können. Gesundheitswissenschaftlich orientiertes Hatha-Yoga kann helfen, die Sprache des Körpers verstehen zu lernen, die Selbstregulation zu stärken und damit einen Beitrag zur Prävention von Erkrankungen leisten. Abgrenzung von traumabedingten Phänomenen Bei Menschen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben, können Phänomene auftreten, die einigen Kennzeichen von Hochsensibilität sehr ähnlich sind. Es gibt Psychotherapeuten, die Hochsensibilität als Folgeerscheinung frühkindlicher Bindungs- und Entwicklungstraumata verstehen. Nach einem Trauma befindet sich der Körper häufig in einer Art Überlebensmodus, einem Zustand der Übererregung, bei dem der Sympathikus überaktiv ist. Äußere Reize werden verstärkt wahrgenommen und Triggersituationen können eine Überflutung mit Gefühlen auslösen. Wenn eine Posttraumatische Belastungsstörung vorliegt, ist diese behandlungsbedürftig und sollte mithilfe professioneller Interventionen bearbeitet werden. Hatha-Yoga kann in Absprache mit dem Psychotherapeuten als flankierende Maßnahme eingesetzt werden. Veröffentlichungen zum Thema »Traumasensibles Yoga« zeigen hierzu Wege und Möglichkeiten auf (Dunemann, Weiser u. Pfahl, 2017).

2. Hatha-Yoga als körperbasierte Selbstreflexion Yoga-Sensibilitätstraining In seinen Werken Yoga-Sensibilitätstraining Band 1–3 schildert Rocque Lobo seine Perspektive auf Hatha-Yoga (Lobo, 2005; 2007; 2012). Im Wesentlichen verbindet er die Lehre von den sogenannten Marmas mit der achtsamen Praxis von Hatha-Yoga. Unter Marmas versteht er sensible Stellen im Körper, die sich im Fall einer Bedrohung oder Überforderung des Körpers als Schmerz oder Funktionsbehinderung äußern. Unser Körper ist mit solchen Wach- und Warnposten ausgestattet, die uns vor dem Verlust an Lebenskraft rechtzeitig warnen.

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Ziel des Sensibilitätstrainings ist es, achtsam und frühzeitig wahrzunehmen, wenn etwas aus dem Lot gerät. Die Aufmerksamkeit auf die Marmas zu lenken, kann dabei helfen, Warnsignale zu erkennen, bevor sich Krankheiten manifestieren. »Sensibel heißt, empfindlich nach innen und nach außen zu werden, bewusst und damit widerstandsfähig gegenüber den zerstörerischen Anforderungen des Lebens in unserer Zeit zu werden« (Lobo, 2005, S. 152).

Es geht also nicht darum, sich anzupassen, sondern seine Grenzen wahrzunehmen und des Widerstands fähig zu werden! (s. a. Abb. 1). »Wie eine Zellmembran transparent oder durchlässig für lebenswichtige Stoffe sein muss und doch Schädlinge vom Inneren des Zellleibes fernhält, so ist es auch mit der Welt des Menschen« (Lobo, 2005, S. 104).

Abbildung 1: »Im Ziehen einer Grenze zwischen zwei Gebieten ist das ›Darüberhinaus‹ schon enthalten.« (Sibylle Reichel, 2017a)

Hatha-Yoga dient einerseits als Erkenntnis- und Reflexionsprozess, um sich der aktuellen Situation bewusst zu werden. Andererseits ist es auch ein Übungsweg, der Veränderung möglich macht. Vorausgesetzt, wir nutzen die Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen für diesen Prozess. Mit Lobos Worten:

»Gegenstand des Yoga ist der Mensch, der unter dem Aspekt betrachtet wird, dass er in der Lage ist, sich selbst zu erleben. […] Das Gehirn spielt hierbei sozusagen die Rolle des natürlichen Beobachters innerkörperlicher Vorgänge.« Und: »Die Methode des Yoga besteht darin, die Beobachtungsgabe nach innen und außen zu schulen« (Lobo, 2005, S. 30) »[Sie] geht von der Registrierfähigkeit und den Kombinationsmöglichkeiten des Gehirns aus und trainiert diese normalerweise unbewussten Fähigkeiten« (Lobo, 2005, S. 28 f.).

Hatha-Yoga trainiert also die Wahrnehmungsfähigkeit für Phänomene, die am eigenen Körper erlebt werden können, sowie deren Schwankungen je nach Situ-

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ation und Tagesform. Es geht dabei nicht um schnelle Veränderung, um besser in der Gesellschaft zu funktionieren und kurzfristig unerwünschte Störfaktoren zu eliminieren. Stattdessen gilt es zunächst, sich der vorhandenen Phänomene und deren Schwankungen überhaupt bewusst zu werden und sie in Bezug zu setzen. Wir können dann über einen längeren Zeitraum üben, die Schwankungen kleiner werden und zur Ruhe kommen zu lassen. Schwankungen sind innere Bewegungen unseres Systems als Resonanz auf (innere oder äußere) Ereignisse oder Situationen, die sich im Körper widerspiegeln. Bewusste Veränderung, beispielsweise der Ausprägungsstärke unserer inneren Reaktion auf eine äußere Drucksituation, erfordert einen langsamen, behutsamen, längerfristigen Prozess. Lobo übersetzt das zweite Yoga-Sūtra Yogas citta vrtti nirodha mit »Yoga ist das langsame Anhalten (nirodha) der Bewegung (vrtti) des Phänomens (citta)« (Lobo, 2005, S. 68), also dieser Schwankungen. Die Betonung der Langsamkeit ist wichtig in zweierlei Hinsicht. Einerseits bezogen auf den Gesamtprozess: Jeder Veränderungsprozess hat seine eigene Logik und sein eigenes Tempo. Erstens: Wir gehen grundsätzlich davon aus, dass die Signale des Körpers sinnvoll und bedeutungsvoll sind. Daher ist es zunächst wichtig anzuerkennen, was sich als Phänomen zeigt. Es ist nicht sinnvoll, das, was der Körper ausdrückt und mitteilen will, unmittelbar wegzumachen oder zu verdrängen, noch bevor die Botschaft verstanden wurde. Zweitens: Zu schnelle Eingriffe können schädliche Wirkungen zeigen. Dies wäre z. B. der Fall, wenn wir Schutzreflexe aufheben, bevor alternative Strategien zur Verfügung stehen. Der direkte Versuch einer Veränderung kann Veränderungswiderstände oder Verletzungen im System erzeugen. Erst durch das wertfreie Annehmen dessen, was ist, entsteht die Grundlage, von dort aus Wandel in Gang zu setzen. Drittens: Das langsame, absichtslose, regelmäßige Üben über einen längeren Zeitraum entspricht einer der Grundhaltungen des Yoga: Ahimsā, das heißt, sich in Gewaltlosigkeit sich selbst und anderen gegenüber zu üben. Das heißt auch, dass der Übende sich nicht zu schnell zu viel abverlangt, Zeit für Entwicklungsschritte und Lernvorgänge akzeptiert, die Ziele und Ansprüche an sich selbst realistisch setzt. Indem die Übende ihre Grenzen achtsam wahrnimmt und sich der Gewaltlosigkeit verpflichtet, resultiert dies schrittweise in den Abbau sich selbst angetaner Gewalt. Damit ist beispielsweise eine destruktive Anpassung an überzogene Ansprüche gemeint, die zunehmend einem höheren Maß an Selbstfürsorge und Selbststeuerung weicht. Die Langsamkeit ist andererseits wichtig bezogen auf den Übungsprozess innerhalb der Yoga-Stunde. Die langsame Durchführung einer Übung hat be-

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sondere Relevanz: Erstens: Sich Zeit zu nehmen für ein achtsames Hin- und Nachspüren schärft die Wahrnehmungsfähigkeit für die Antworten des Körpers auf eine Übung. Zweitens: Nur eine langsame, bewusste Durchführung der Übungen ermöglicht die Veränderung der reflexhaften Reaktion des Körpers durch ein Eingreifen höherer Hirnzentren. Drittens: Nach der Durchführung einer Übung benötigt der Körper Zeit zur Integration des Gelernten und zur Gegenregulation. Hatha-Yoga unterscheidet sich von sportlichen Aktivitäten daher durch die Kombination der Körperübung mit Präsenz, achtsamer Wahrnehmung und bewusster Atmung. Die Bedeutung von Āsana Was Lobo unter Āsana versteht, möchte ich hier erläutern, da es sich grundlegend vom Verständnis anderer Yoga-Richtungen unterscheidet. Bei der Übersetzung der acht Pfade nach Patañjali bezeichnet er Āsana als »Überprüfung der Übereinstimmung innerer und äußerer Haltung in bestimmten KörperStellun­gen« (Lobo, 2005, S. 25). Bei Übereinstimmung stellt sich stilles Glück ein und erst damit tritt Āsana ein. Genau genommen müssen wir also vom Üben einer Yoga-Haltung sprechen, denn ob daraus Āsana wird, können wir vorher nicht wissen. Je nach Körperhaltung kann geprüft werden, ob meine innere Haltung mit der äußeren Haltung vereinbar ist. Wenn ich beispielsweise eine äußere Haltung der Hingabe einnehme: Kann ich damit übereinstimmen oder zeigen sich Widerstände und Ängste? Wenn ich eine kraftvolle Haltung einnehme, kann ich damit die Frage stellen, ob ich innerlich bereit bin, ins Handeln zu gehen. Das tiefere Verständnis stellt sich durch regelmäßiges Üben ein. Unterschiede werden spürbar, wenn man die Haltung immer wieder und in verschiedenen Lebenssituationen einnimmt. Diese können dann in Verbindung gebracht werden mit der Antwort des Körpers. Aus Sicht des Marma-Yoga® konstruieren die unterschiedlichen Körperhaltungen also jeweils eine Art Testsituation. Sie simulieren bedrohliche Situationen und provozieren damit den Körper zu sprechen. An den bereits erwähnten Marmas, an diesen Warnposten nämlich, scheint der Körper Bedrohungen ernster zu nehmen. Die eigenen Grenzen werden durch verschiedene Merkmale der Empfindung aufgezeigt, z. B. Veränderung der Atmung und Durchblutung, Muskelzuckungen, Gelenkschmerz. Es gibt 107 Marmas in Gelenken, Muskeln, Blutgefäßen, Sehnen und Knochen. Anhand der Reaktion der Marmas können wir unseren derzeitigen Zustand erkennen und einordnen. Nach Lobo kann z. B.

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»die Funktionsfähigkeit unserer Gelenke Ausdruck tiefsitzender innerer Stabilität und Lebendigkeit sein, während eine Störung allein der Beweglichkeit dieser Gelenke einen Hinweis auf tiefersitzende existentielle Ängste und schlummernde Nieder­ geschlagenheit und Lebensunlust geben kann« (Lobo, 2004a, S. 5).

Eine besonders anschauliche Beschreibung möchte ich zitieren (Parkash, 2011): »Durch Jahrhunderte lange Erfahrungen wurden Körperübungen geschaffen, die bedrohliche Situationen nachahmen (Kopfstand, Schulterstand usw.). Sie repräsentieren außerdem Situationen, die unsere Grundhaltung zum Leben, z. B. kämpfen, fliehen, sich schützen, nachgeben, aufgeben, sich öffnen usw. thematisieren. Ein Beispiel soll dies erläutern: Das gleichschenklige Dreieck (TRIKONA-ĀSANA) simuliert eine zum Stillstand gekommene Fluchtbewegung (siehe Stellung des Standbeins, des Geh-Beins und des Rumpfes). Es geht hier um die Frage, ob ich die Flucht beenden – und mich öffnen kann oder nicht. (Stellung der Arme). Die Antwort kommt von unserem Körper. Zu beobachten sind folgende Merkmale: Stehe ich fest und ruhig (WegLauf-Reflex), verspüre ich eine freie Atmung bei gehobenem Brustbein, sind meine Schultern entspannt (Schutz-Reflex), sind meine Zehen, Hände und Arme entspannt, (Greif-Reflex), ist mein Gesicht, Unterkiefer entspannt (Beißreflex, Kampfreflex), sind Kopf und Hals ohne Druckgefühl (Kreislaufreflexe). Die körperlichen Merkmale geben Auskunft über unsere Stimmungslage, die wir sonst nur in bedrohlichen Situationen wahrnehmen. Dieses ermöglicht ein Nachdenken über unsere Lebensverhältnisse sowie über das eigene Verhalten im Leben und befähigt uns, ein Gleichgewicht auf körperlicher, seelischer und sozialer Ebene zu erlangen.«

Schmerz ist ein sehr deutliches Signal, das ein Ungleichgewicht anspricht. Daneben gibt es auch subtilere Signale, die wir mit zunehmender Übung wahrnehmen können. Anfangs ist es oft schwierig, passende Worte oder Beschreibungen zu finden für die wahrgenommenen Phänomene. Eine Hilfestellung bieten die sogenannten Lakshanas. Sie können als Elementarsprache der Erlebenssymptome genutzt werden. Die Übende kann ihre Empfindungen in Qualitäten beschreiben wie schwer/leicht, kühlend/heiß, schleimig/klar, hart/weich, ölig/ trocken, stabil/fließend, was hilft, die Bedeutung der Körperantworten einzuordnen (Röslen, 2017). Im Rahmen des Yoga-Unterrichts kann der Übende die Erfahrung machen, sich in solch eine simulierte bedrohliche Situation hinein zu entspannen. Diese Form der Selbstregulation kann die Übende dann zunehmend auf bedrohliche Alltagssituationen übertragen.

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Die Bedeutung von Prāṇāyāma Auch in Bezug auf Prāṇāyāma unterscheidet sich Lobos Verständnis deutlich von dem anderer Yoga-Schulen. Lobo übersetzt bei den acht Pfaden nach Patañjali Prāṇāyāma als »Verstärkung der Empfindung für den inneren Stoffwechsel durch Einfluss auf die äußere Atmung« (Lobo, 2005, S. 25). Beim Üben von Prāṇāyāma setzt Lobo zunächst konsequent bei der Körperhaltung und der Symmetrie des Körpers an und befähigt den Übenden, Ungleichmäßigkeiten wahrzunehmen und zu beseitigen. Erst dann beginnt er, analog den Körperhaltungen, mit Atemübungen, die Provokationen für das System darstellen können. Zunehmend kann die Übende beim Durchführen und Nachspüren der Übungen Kennzeichen von Anspannung und Entspannung wahrnehmen. Einerseits gilt es zu erkennen, was der Körper als Provokation empfindet und was nicht. Andererseits geht es darum, durch regelmäßige, tägliche Übung Unterschiede zu bemerken und zunehmend Merkmale der Entspannung angesichts der Provokation entstehen zu lassen. Die regelmäßige Übungspraxis ermöglicht, Schwankungen wahrzunehmen und diese in Bezug zu setzen zur aktuellen Situation außerhalb der Yoga-Stunde. Lobo ermutigt den Übenden, die Erkenntnisse der Yoga-Stunde mitzunehmen in den Alltag und sich dort um Lösungen zu bemühen. Auf Pratyahara, von Lobo übersetzt als die »Willentliche Kanalisierung und Verstärkung bestimmter Empfindungen bei gleichzeitigem Blockieren anderer« (Lobo, 2005, S. 25) wird, hier nicht eingegangen. Mit dem vorliegenden Beitrag soll zunächst ein Grundverständnis für Zusammenhänge hergestellt werden. Pratyahara ist ein interessantes, weiterführendes Thema für fortgeschrittene Übende, auch im Zusammenhang mit dem Phänomen der Hochsensibilität.

3. Grundannahmen, Ziele, Ansatzpunkte Welchen Beitrag kann Hatha-Yoga im Sinne der Prävention stressbedingter Erkrankungen leisten? Und hier im Speziellen die Frage: Wie kann Hatha-Yoga ein sinnvoller Ansatz für den konstruktiven Umgang mit Hochsensibilität sein? Das biopsychosoziale Erklärungsmodell für die Entstehung von Gesundheit geht von komplexen Zusammenhängen und dynamischen Wechselwirkungen zwischen körperlichen, psychischen und sozialen Variablen aus. Ganz im Sinne der Salutogenese – »lat.: salus = Gesundheit, Wohlbefinden; griech.: genesis = Geburt, Ursprung, Entstehung (Baender-Michalska u. Baender, 2014, S. 37) – widmen wir uns hier der Frage, welche Faktoren und Prozesse die Gesundheit er-

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halten und fördern. Dazu dienen salutogenetische Prozesse der körperlichen, seelischen und sozialen Selbstregulationsfähigkeit sowie Anpassungs- und Bewältigungsleistungen, die jeweils mehr oder weniger bewusst stattfinden (Antonovsky, zit. nach Baender-Michalska u. Baender, 2014). »Der Körper erhält sein inneres Gleichgewicht mit Hilfe hochsensibler Rückkopplungsoder Feedbackschleifen, über die alle Vorgänge im Organismus miteinander in Verbindung stehen und als ein Ganzes zusammenwirken« (Kabat-Zinn, 2013, S. 194).

Gesundheitsförderung heißt vor diesem Hintergrund, den Menschen in seiner Selbstregulationsfähigkeit zu unterstützen, also sich selbst besser regulieren zu können. Und zwar nicht mit Patentrezepten und Ratschlägen, sondern durch die Schulung der eigenen Wahrnehmungs- und Entscheidungsfähigkeit. Indem Zusammenhänge erfahrbar werden, können Dysbalancen und Stresszustände anerkannt, ernst genommen und eigenverantwortlich verändert werden. Auf der Grundlage meiner eigenen bisherigen Erfahrungen basieren die weiteren Ausführungen auf folgenden Grundannahmen zur Hochsensibilität: Ȥ (Hoch-)Sensibilität tritt als Phänomen im Rahmen der natürlichen Diversität auf. Ȥ Es gibt fließende Übergänge zwischen Sensibilität und Hochsensibilität. Ȥ Die Reizwahrnehmung und -verarbeitung ist generell und auch innerhalb der Gruppe der Hochsensiblen unterschiedlich ausgeprägt. Unter ungünstigen Bedingungen (siehe Chancen und Risiken) wird darüber hinaus Folgendes angenommen: Ȥ Die Aufmerksamkeit ist bei Hochsensiblen häufig stark auf das Außen gerichtet (Umweltreize, Einnehmen verschiedener Perspektiven, Empathie für andere, Orientierung auf/Bewertung durch/Anerkennung durch andere). Ȥ Innere Zustände und Körpersignale werden zwar wahrgenommen, jedoch häufig nicht ernst genommen im Sinne von Frühwarnsignalen, nicht in Bezug gesetzt zur aktuellen Situation oder sind nicht handlungsleitend im Sinne eigener Bedürfnisse. In vielen Beiträgen über Hochsensibilität steht der Leidensdruck im Vordergrund, verbunden mit der Frage, wie man in der heutigen Gesellschaft bzw. in der Welt zurechtkommen könne. Eine anzustrebende Haltung könnte sein, das Wahrgenommene nicht als Störfaktor wegmachen zu wollen, sondern sich den Phänomenen zuzuwenden, sie mit Offenheit und Wertschätzung zu betrachten und einen angemessenen Umgang zu finden.

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Das daraus abgeleitete Ziel für Hochsensible könnte sein, Vielfalt anzuerkennen und wertzuschätzen, eigene Bedürfnisse und Wahrnehmungen zu respektieren und Wege der Selbstregulation im Sinne von Salutogenese und Prävention stressbedingter Erkrankungen zu finden. Hatha-Yoga als Sensibilitätstraining bedeutet, das Vertrauen in die Weisheit des Körpers als Rückkopplungssystem aufzubauen und dafür die eigene Wahrnehmungs- und Reflexionsfähigkeit zu nutzen. Harke spricht bei Hochsensiblen von einer »Historie des Misstrauens in die eigene Wahrnehmung« (Harke, 2019, S. 63). Im engeren Sinne wäre daher das Ziel, (wieder) seiner eigenen Wahrnehmung trauen zu lernen und diese konstruktiv zu nutzen. Ein besonderer Punkt ist dabei, die eigenen Grenzen bewusst wahrzunehmen. Harke (2019, S. 110) weist auf das Phänomen hin, dass Hochsensible häufig ein »entgrenztes Ich« hätten (Abb. 2). Hochsensible hätten dadurch zwar eine erweiterte Wahrnehmung, z. B. für die Gefühle anderer, Stimmungen im Raum oder Außenreize. Die Eigenwahrnehmung trete jedoch schnell in den Hintergrund. Ein körperbasiertes Sensibilitätstraining kann die Eigenwahrnehmung stärken. Dadurch können zunächst Abgrenzungsfähigkeit, Zentrierung und ein klares Ich-Bewusstsein aufgebaut werden. Dazu gehört auch die Unterscheidungsfähigkeit zwischen Innen und Außen wie klar zu differenzieren zwischen eigenen Gefühlen und den Stimmungen anderer. Die Fähigkeit zur Zentrierung bildet die Grundlage dafür, seine Wahrnehmung zu steuern und die Grenze der eigenen Ausdehnung zu wählen. Dies kann dann eine bewusst erhöhte Durchlässigkeit sein, ein Öffnen zum empathischen Mitschwingen oder eben die klare Abgrenzung in feindlicher oder überfordernder Umgebung. Henderson (2006) hat ausführlich beschrieben, welche Möglichkeiten es gibt, seine unbewussten Gewohnheiten zu erkennen und die Grenzen bzw. deren Durchlässigkeit zu steuern. So könne ein Mensch lernen sich zu schützen, »indem er den Einfluss anderer Systeme ›außerhalb‹ verringert. Zum Beispiel […] [den] Einfluss der Gefühle anderer […] verringert (Henderson, 2006, S. 53). Oder eben die Sensibilität bewusst zu erhöhen, sodass sich die »Wahrnehmung ›äußerer‹ Ereignisse intensiviert. […] [z. B.] zu verstärkter Empathie« (Henderson, 2006, S. 53). Möglicherweise schätzen Hochsensible die eigenen Grenzen auch einfach nicht zutreffend ein. Werden sie überschätzt, führt dies zu Überforderung. Werden sie unterschätzt, entsteht eine Schonhaltung. Durch das Training kann eine zunehmend realistischere Einschätzung der eigenen Kraft gewonnen werden. Die Unterscheidungsfähigkeit kann gestärkt werden, z. B. Frühwarnsignale zu erkennen, Zustände von Trägheit und Erschöpfung unterscheiden zu lernen

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Abbildung 2: »Im Ziehen einer Grenze zwischen zwei Gebieten ist das ­›Darüberhinaus‹ schon enthalten.« (Sibylle Reichel, 2017b)

oder zu merken, welche Art von Situationen schwächend/kräftezehrend/austrocknend und welche stärkend/nährend/durchsaftend wirken. Oder auch: In welchem Zustand befinde ich mich und aus welchem inneren Raum begegne ich den äußeren und inneren Reizen? Bewege ich mich im eigenen Rhythmus und Tempo oder überwiegt der Sog des sozialen Feldes? Fremde Rhythmen können oft dann nicht gut angenommen werden, wenn es zu wenig Gelegenheit gab, den eigenen Rhythmus zu erkunden und zu leben. Der hier aufgezeigte Weg versteht Hatha-Yoga als Prozess der körperbasierten Selbstreflexion, basierend auf dem Marma-Yoga® nach Rocque Lobo. Ansatzpunkt ist die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung zu trainieren. »Wesentlicher Zweck ist die durch Übung trainierte Bewusstmachung (Sensibilisierung) körperlicher Reaktionen, die häufig als Schmerz auftreten und Mißverhältnisse in der Lebensführung des einzelnen zeigen« (Lobo, 2005, S. 23).

Dies umfasst die systematische Schulung einer inneren Instanz auf Metaebene, eines inneren Beobachters, der aus einer neutralen, wertfreien Perspektive wahrnimmt. Diese innere Instanz ermöglicht ein: Ȥ achtsames, wertfreies Wahrnehmen und Anerkennen von inneren Zuständen und Körpersignalen (z. B. unwillkürliche Fluchtreflexe), Ȥ bewusstes, reaktives Regulieren durch höhere Hirnzentren (Überwindung der automatischen Reflexe), Ȥ In-Bezug-Setzen von Körperreaktionen zur aktuellen sozialen Situation (Reflexion von Reflexen), Ȥ proaktives Steuern durch konstruktive Bewältigungsstrategien.

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Geht man davon aus, dass bei Hochsensiblen die Wahrnehmungsfähigkeit hoch ausgeprägt und das differenzierte, vernetzte Denken auf Metaebene hoch trainiert ist, nutzt der vorgeschlagene Prozess die Stärken der Hochsensiblen systematisch zu eigenen Gunsten.

4. Den Lern- und Übungsprozess gestalten Im ersten Schritt wird die achtsame Wahrnehmung und nichtwertende Anerkennung dessen, was ist, erlernt. Welche Phänomene zeigen sich während der Durchführung einer Yoga-Haltung, z. B. aufkommende Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen, Schmerz, Lust, Unlust, Veränderungen von Atmung oder Kreislauf? Im zweiten Schritt wird gelernt, Unterschiede wahrzunehmen sowohl während der Durchführung einer Yoga-Übung als auch durch achtsames Nachspüren nach der Durchführung von Übungen und Haltungen. Es geht nicht darum, welche Wirkung eine Haltung haben soll, sondern wesentlich ist das wertfreie Wahrnehmen der Wirkung der Übung auf das eigene Körpersystem. Im dritten Schritt wird durch regelmäßiges Üben der gleichen Yoga-Haltungen gelernt zu unterscheiden, was Schwankungen der Tagesform sind und was wiederkehrende, durchgängige Phänomene des eigenen Körpers sind. Im vierten Schritt können die Phänomene des Körpers und deren Schwankungen in Bezug gesetzt werden zur sozialen Situation und Zusammenhänge hergestellt werden. Dies kann jeder Einzelne nur für sich selbst erschließen und anerkennen. Im fünften Schritt können durch regelmäßiges Üben langsam Veränderungen im Rahmen der Yoga-Stunde vorgenommen werden, z. B. sich während der Provokation durch eine Yoga-Haltung zu entspannen (siehe den Abschnitt »Die Bedeutung von Āsana«, S. 170 ff.). Im sechsten Schritt können langsam Erkenntnisse und Fähigkeiten aus der Yoga-Stunde in den Alltag übertragen werden (z. B. selbst abgeleitete Änderungen in der eigenen inneren Haltung oder der Positionierung im sozialen Feld). Neben dem Üben von klassischen Yoga-Haltungen wie beschrieben, können folgende allgemeine Vorübungen Teil einer sinnvollen Hinführung sein: Ȥ Das Lenken der Aufmerksamkeit erlernen, z. B. Body Scan (Kabat-Zinn, 2013). Ȥ Den Atem und die verschiedenen Atemräume beobachten. Ȥ Die Körpergrenzen spüren (Hammer, 2019). Ȥ Übungen zur Zentrierung erlernen.

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Ȥ Über-/Unterforderung beim Üben wahrnehmen (Schneider, 2012). Ȥ Verschiedene Qualitäten der Empfindung wahrnehmen und beschreiben lernen. Ȥ Kennzeichen von Zuständen der Entspannung und Anspannung im Körper kennenlernen (Lobo, 2004a, 2004b, 2004c). Ȥ Übungen zur Entspannung erlernen. Ȥ Übungen zum Aufbau von Kraft und zur Steigerung der Vitalität erlernen. Ȥ Übungen zum kraftvollen Spannen der Spannungsbögen des Körpers erlernen (Lobo 2004a). In der Gestaltung der Yoga-Stunde ist es sinnvoll, sich auf die wiederkehrende Übung einiger ausgewählter Yoga-Haltungen und Atemübungen zu fokussieren. Eine Mischung aus Standhaltungen (z. B. Virabhadrāsana I, Utthita Trikonāsana, Pārśvakonāsana) mit Haltungen am Boden (z. B. Setu Bandhāsana, Navāsana, Jānu Sirsāsana) und Drehbewegungen (z. B. Ardha Matsyendrāsana) testet unterschiedliche innere Haltungen und Marmas (Lobo, 2004a, 2004b, 2004c, 1987a, 1987b, 1987c). Dies soll ermöglichen: Ȥ Unterschiede zwischen äußerer Haltung (Wollen) und innerer Haltung (Körperantwort) wahrzunehmen. Ȥ Unterschiede in der eigenen Verfassung und der sozialen Situation wahrzunehmen. Bei allen hier dargestellten Möglichkeiten soll es sich grundsätzlich um ein regelmäßiges, geduldiges, erwartungs- und absichtsfreies Üben handeln, ohne schnelle vermeintliche Erfolge forcieren zu wollen. Über allem steht die achtsame, wertfreie Wahrnehmung vorhandener Schwankungen. Die stetige Entkoppelung des Übens von Leistung und zu erreichendem Ziel ist wesentlicher Bestandteil des Prozesses. Übungen zum Aufbau der Sensibilität sollten sich die Waage halten mit Übungen zur Steigerung der Selbstregulationsfähigkeit und dem Aufbau von Kraft und Vitalität. In dem Maße, in dem Ungleichgewichte erkannt werden können, sollen auch die Handlungsfähigkeit und Hingabefähigkeit trainiert werden. Das kraftvolle Spannen der Körperbögen regelmäßig zu üben, kann beispielsweise das Gefühl von innerer Lebendigkeit unterstützen und an seinen Grenzen des Widerstands fähig zu werden.

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5. Yoga unterrichten für Hochsensible Zunächst sollte auf eine reizarme Umgebung geachtet werden: keine unnötige, übermäßige Dekoration, keine Musik oder Räucherstäbchen, keine offenen Fenster bei Straßenlärm. Dadurch soll die Konzentration auf den Körper und die leibliche Erfahrung ermöglicht werden. Damit diese Fokussierung gelingen kann, sollte eine Überflutung mit äußeren Reizen vermieden werden. Wichtig sind das Gestalten einer entspannten Atmosphäre und das Fördern einer bewussten Entkoppelung von interner und/oder externer Leistungsorientierung. Vielmehr sollen die Förderung der Selbstakzeptanz und die Orientierung an den eigenen Möglichkeiten im Vordergrund stehen. Hilfreich dafür ist die Einladung zu einer forschenden Haltung, zum Experiment und zur Körperwahrnehmung. Damit das Aufspüren der Referenz im Eigenen, die Antwort des Körpers möglich ist, braucht es eine langsame Durchführung und genügend Zeit zum Spüren und Nachspüren. Auch die innere Haltung des Yoga-Unterrichtenden ist entscheidend: Es gilt, ein wertfreies Beobachten und Wahrnehmen zu schulen. Einer Leistungsatmosphäre sollte durch die Formulierung der Anleitung gezielt entgegengewirkt werden – es gibt kein Ziel zu erreichen, sondern es handelt sich um eine Schulung der Wahrnehmung durch absichtsloses Üben. Die eigenen Grenzen sollen wertschätzend angenommen und respektiert werden. Die Yoga-Haltungen sind eine Einladung an den Körper, auf die aber jedes Individuum in seiner jeweiligen Verfassung anders reagieren kann. Von daher gilt es sich loszulösen von einer bestimmten zu erwartenden Wirkung der Yoga-Haltung. Eine wichtige Voraussetzung ist, dass durch den Yoga-Lehrenden ein sicherer Raum geschaffen und gehalten wird. Gemeint ist sowohl ein Schutzraum, in dem die Übende vor Grenzverletzungen geschützt ist, als auch eine wertschätzende, annehmende Atmosphäre, die ein Gefühl von Sicherheit vermittelt. Nur dann – im sicheren Raum – sollte die Provokation durch Yoga-Haltungen erfolgen. Wichtig ist auch ein wiederholtes Üben gleicher Yoga-Haltungen. Gibt es jedes Mal ein völlig anderes Programm, dann ist der Teilnehmende nur mit der richtigen Ausführung beschäftigt (Außenorientierung), statt mit Spüren (Körperwahrnehmung). Außerdem können dann keine Unterschiede und Schwankungen wahrgenommen werden. Ziel ist die Anleitung zum eigenständigen, regelmäßigen Üben. Eine begrenzte Auswahl an Übungen erleichtert den Transfer in den Alltag. Hilfreich ist eine Anleitung des Yoga-Lehrenden, die den Übenden erlaubt, die Aufmerksamkeit bewusst zu steuern. Die Konzentration wird auf wenige Merkmale gelenkt, um an diesen jeweils die Intensität spüren zu können. Die-

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ser Fokus kann immer wieder unterschiedlich gesetzt werden. Wenn zu viele Punkte gleichzeitig ins Bewusstsein genommen werden, kann dies zu einer Überforderung führen oder zum Versuch, ohne Zwischenschritte vermutete Idealziele zu erreichen. Zu empfehlen ist daher zunächst das Entkoppeln in einzelne Bestandteile der Betrachtung, um diese dann später als ganzheitliche Körpererfahrung zusammenfließen zu lassen. Wichtig sind ein langsames Einnehmen der Haltung, bewusste Aufmerksamkeit und ein Verweilen in der Haltung, damit Wahrnehmung und Selbstregulation möglich sind. Bei schnellen unbewussten Aktionen erfolgt die automatische Auslösung von Reflexen. Hier braucht es den Mut und das Vertrauen in die Wirksamkeit und Spürbarkeit von kleinen, sanften, langsamen Bewegungen. Zeit sollte auch eingeplant werden für das Nachspüren nach der Haltung, um Körperempfindungen wahrzunehmen und binnenkörperliche Prozesse zu integrieren. Ansatzpunkte für den Yoga-Lehrenden in der Vorbereitung der Yoga-Stunde: Ȥ Die eigene Haltung selbstkritisch hinterfragen: Habe ich Ziele, die ich erreichen möchte, z. B. eine bestimmte Wirkung? Wie festgelegt bin ich darauf, wie offen für eine andere Erfahrung? Bin ich erwartungsfrei und losgelöst von Erfolg und Anerkennung? Ist der Prozess tatsächlich ergebnisoffen? Ȥ Die eigene Sprache achtsam durchleuchten: Welche Wortwahl lädt ein zu forschen? Welche Worte suggerieren möglicherweise Leistungsanforderungen oder bestimmte erwartete Ergebnisse? Welche Worte entspannen hin zu den eigenen Möglichkeiten und weg von möglicherweise verinnerlichten Idealzielen? Ȥ Vertrauen in den Prozess haben und Raum geben für die körperliche Erfahrung: im Vertrauen, dass die Übende selbst spürt, weniger reden und genügend Zeit lassen für die leibliche Erfahrung. Ȥ Achtsam forschen, aus welchem inneren Raum ich handle: Wo begegne ich auf Augenhöhe, von Subjekt zu Subjekt? Wo mache ich den anderen zum Objekt meiner Erwartungen oder narzisstischer Bedürfnisse des Egos? Wo lasse ich mich instrumentalisieren, z. B. in die Rolle des Gurus drängen, der die Probleme lösen soll? Die meisten Hinweise sind allgemein nützlich, nicht nur im Umgang mit Hochsensibilität. Meiner Meinung nach ist es sinnvoll, sich zunehmend vom Kon­ strukt der Hochsensibilität zu lösen. Am Anfang des Prozesses der Selbsterkenntnis ist der Begriff oft hilfreich, um zu verstehen, dass Wahrnehmung bei den Menschen unterschiedlich ausgeprägt ist. Auf dem weiteren Weg ist es wichtig, sich wieder von Kategorien frei zu machen. Stattdessen könnte man

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von einem Konzept der Diversität ausgehen, in der jeder und jede aufgefordert ist, den individuellen Weg zu finden.

6. Chancen und Risiken eines Yoga-Sensibilitätstrainings Hatha-Yoga im Sinne einer körperorientierten Selbstreflexion eröffnet die Möglichkeit, seinen jeweils aktuellen Standort im Verhältnis von Kraft, Zeit und sozialem Raum zu bestimmen. Der Körper dient als Resonanzraum und Kompass. Mit den Yoga-Haltungen werden Fragen an den Körper in der Sprache des Körpers gestellt. Die persönliche Standortbestimmung kann wiederum Ausgangspunkt eines bewussten, selbstverantwortlichen Steuerungsprozesses werden. Die Übende stärkt das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung, indem Körpersignale als Antwort auf die aktuelle Situation für wahr und ernst genommen werden. Ziel ist es, eigene Bedürfnisse zu spüren und anzuerkennen. Auf dieser Basis kann der Übende selbst-bewusst und proaktiv Maßnahmen zur Selbstregulation ergreifen. Insgesamt kann dieser Lernvorgang als Prozess der Selbstermächtigung verstanden werden. Erster Kernpunkt ist das Hinschauen, was gerade aus dem Lot geraten ist, statt ein Wegmachenwollen der Körpersignale. Dazu werden Merkmale der Empfindung achtsam wahrgenommen und in Bezug gesetzt zur aktuellen persönlichen Situation. Zweiter Kernpunkt ist die Entkoppelung von Automatismen bzw. unwillkürlichen Reflexen durch höhere Gehirnzentren. Entscheidend dafür ist eine langsame, bewusste Durchführung der Übungen, das wertfreie Wahrnehmen dessen, was der Körper anzeigt, und die zunehmend willkürliche Steuerung der Körperreaktion. Die Erkenntnisse aus der Yoga-Stunde können dann in Alltagssituationen geübt und vertieft werden. Wenn Körpersignale über lange Zeit ignoriert wurden, können die Hinwendung zum Körper und das achtsame Spüren dazu führen, dass in schockierender Weise klar wird, wie viel gerade aus dem Lot ist. Wenn das zu schnell geschieht und das bis dahin stabilisierende Schutzsystem zu schnell aufgehoben wird, kann dies eine Reizüberflutung oder einen Zusammenbruch provozieren. Daher ist ein langsamer Prozess mit regelmäßiger Übung über mehrere Jahre einem kurzen intensiven Retreat, der spektakuläre Veränderungen verspricht, vorzuziehen. Zu Problemen kann auch führen, dass zwar vom Yoga-Übenden erkannt wird, welche Maßnahmen in der aktuellen Situation sinnvoll wären, aber die sozialen Kompetenzen noch nicht ausgebildet sind, beispielsweise um Konflikte im sozia-

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len Umfeld zu lösen. Hier ist ein langsames Vorgehen in kleinen Entwicklungsschritten empfehlenswert. Flankierend können auch Seminare, Coaching oder eine Therapie zum Aufbau der notwendigen Kompetenzen hilfreich sein. Generell ist es wichtig, dass eine zunehmende Sensibilisierung mit Möglichkeiten der Aktivierung, z. B. (Selbst-)Wirksamkeit/Verantwortung/Selbstermächtigung, gekoppelt sein sollte, also dem Spüren der eigenen Kraft und der Handlungsmöglichkeiten. Ist dies nicht möglich, kann eine innere Grundhaltung von Hingabe und Akzeptanz hilfreich sein bzw. wertfrei wahrzunehmen, was ist. Die zunehmende Wahrnehmung von Unstimmigkeiten bei gefühlter Ohnmacht würde den Leidensdruck von Hochsensiblen eher verstärken. Wichtiger Teil des Weges ist daher, eine innere Stabilität aufzubauen, das Vertrauen und das Zutrauen in die eigenen Möglichkeiten zu bilden und sich zunehmend kraftvoll und gelassen im Umgang mit Verunsicherungen zu erleben. Literatur Aron, E. (2018). Sensory processing sensibility. Review of the research. https://hsperson.com/­ research/summaries-of-research-easy-reads/ (Zugriff am 06.06.2021). Aron, E. (2019). Sind Sie hochsensibel? Wie Sie Ihre Empfindsamkeit erkennen, verstehen und nutzen (13. Aufl.). München: mvg. Baender-Michalska, E., Baender, R. (2014). Yoga & Embodiment. Stress und Schmerz bewältigen. Stuttgart: Schattauer. Bauer, J. (2009). Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone (13. Aufl.). München: Wilhelm Heine. Bertrams, A. (2011). Stand der Forschung. Hochsensibilität in der empirischen Psychologie. http://hochsensibel.org/wissenschaftliches-netzwerk/stand-der-forschung.php (Zugriff am 06.06.2021). Dunemann, A., Weiser, R., Pfahl, J. (2017). Traumasensibles Yoga. Stuttgart: Klett-Cotta. Göckel, R. (2013). Was Hochsensible glücklich macht. Leben mit einer seelischen Begabung. Freiburg im Breisgau: Herder. Hammer, C. (2019). Im Körper zu Hause sein. Mit Zapchen Somatics zu Leichtigkeit und Wohlbefinden. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme. Harke, S. (2019). Hochsensibel. Was tun? Der innere Kompass zu Wohlbefinden und Glück. München: Goldmann. Heintze, A. (2015). Ich spüre was, was du nicht spürst. Wie Hochsensible ihre Kraftquellen entdecken (2. Aufl.). München: Gräfe und Unzer. Henderson, J. (2006). Die Erweckung des inneren Geliebten. Ein praktisches Arbeitsbuch der Energielenkung allein und zu zweit. (Erweiterte Neuauflage.) Bielefeld: AJZ Druck & Verlag. Hüther, G. (2011). Gesundheit, Salutogenese, Selbstheilung. Vortrag. https://www.gerald-huether. de/mediathek-page/populaerwissenschaftliche-beitraege/inhaltliche-uebersicht/gesundheitsalutogenese-selbstheilung/ (Zugriff am 18.06.2021). Kabat-Zinn, J. (2013). Gesund durch Meditation. Das große Buch der Selbstheilung mit MBSR. München: Knaur. Langosch, N. (2016). Hochsensibilität. Der Streit um die Feinfühligkeit. Gibt es hochsensible Menschen? https://www.spektrum.de/news/hochsensibilitaet-der-streit-um-die-feinfuehligkeit/1412989 (Zugriff am 06.06.2021). Lobo, R. (1987a). Yoga-Elementarkurs. Bd. 4: Übergänge. Palmela: Editora Pantainos.

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Nicole Hüttner (*1976) arbeitet als Diplom-Psychologin im Bereich der Rehabilitation mit den Schwerpunkten Entspannungstraining, Stressbewältigung und Umgang mit chronischen Schmerzen. Ausgebildet als Yoga-Lehrerin (BDP), Yoga-Gesundheitstrainerin (BUGY) sowie als Leiterin für therapeutischen Tanz (DGT) verfolgt sie einen integrativen, ganzheitlichen Ansatz. Seit 2002 begleitet sie Menschen in Entwicklungs- und Veränderungsprozessen, erst als Personalentwicklerin und Coach in internationalen Unternehmen, dann als Leiterin eines Weiterbildungsinstituts, seit 2016 in psychologischen Beratungsgesprächen und Trainings zur Gesundheitsförderung. Sie ist zertifizierter Senior-Coach (BDP) und hielt Lehraufträge und Vorträge an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Hochschule Hof, Hochschule für Öffentliche Verwaltung Kehl, Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Bucerius Law School Hamburg. Mitglied im Berufsverband Unabhängiger Gesundheitswissenschaftlicher Yoga-Lehrender (BUGY) sowie in der Deutschen Gesellschaft für Integrative Tanztherapie (DGT). Kontakt: Brauhausstr. 12, D-95192 Lichtenberg, E-Mail: [email protected]; www.alletageleben.de.

Hatha-Yoga als Gesundheitsressource im Umgang mit Scham Claude-Hélène Mayer

»Wer den Weg der Wahrheit geht, stolpert nicht.« Mahatma Gandhi

Vorbemerkungen Emotionen spielen im Umgang der Menschen mit sich selbst, mit anderen und mit der Welt eine herausragende Rolle. Scham ist ein Gefühl, das kulturübergreifend zumeist als unangenehm und schmerzhaft empfunden und als negativ interpretiert wird (Furukawa, Tangney u. Higashibara, 2012). Im Umgang mit Scham gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, die kulturell eingebettet sind. Oftmals wird jedoch eine bewusste und konstruktive Auseinandersetzung vermieden (Scheff, 2016), da sie mit einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Selbst im Kontext des soziokulturellen Umfelds einhergeht. Was den Umgang mit Scham so problematisch erscheinen lässt, ist sicherlich die Tabuisierung von Scham in vielen kulturellen Kontexten (Starrin, 2016) und das unangenehme Gefühl des »Out-of-place«-Seins, wenn man Scham empfindet (Ryan, 2017). Dieses Gefühl des »Am-falschen-Platz-Seins« beinhaltet sowohl ein Gefühl des Zugehörigkeitsverlustes als auch eines der kontextualen Unstimmigkeit, die Empfindung des »Nicht-Passens« an den Ort oder in die Zusammenhänge, in denen man sich befindet. In den letzten Jahren ist im Umgang mit Scham ein Ansatz in den Vordergrund gestellt worden, der Scham im Kontext der Positiven Psychologie als eine Gesundheitsressource zu verstehen sucht, die es gilt, konstruktiv und positiv zu nutzen (Vanderheiden u. Mayer, 2017; Mayer u. Vanderheiden, 2019). Scham soll in diesem Ansatz so gehandhabt werden, dass sie zur Transformation des Selbst im Sinne eines inneren und äußeren Wachstums beiträgt. Dabei folgt das Verständnis dem Ansatz der Positiven Psychologie 2.0 (nach Paul Wong), die davon ausgeht, dass eine konstruktive und positive Transformation negativer Erlebnisse und Erfahrungen nur möglich ist, wenn das Individuum oder das Kollektiv sich mit der »dunklen Seite des Selbst«, mit der Erfahrung und dem Leiden, dem Schmerz grundsätzlich und kritisch auseinandersetzt. Diese Einschätzung wird in diesem Beitrag mit Blick auf das Gefühl der Scham angewendet. Dabei wird davon ausgegangen, dass Scham im Sinne der Bedeutsamkeitstheorie (Frankl, 1985; Wong, 2014) einen Beitrag dazu leis-

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tet, sich mit der eigenen Bedeutsamkeit und Sinnhaftigkeit im Kontext sozialer Beziehungen über die gesamte Lebensspanne hinweg auseinanderzusetzen und den mit ihr verbundenen Schmerz zum inneren und äußeren Wachstum zu transformieren: von einer schmerzhaften zu einer weniger oder sogar nicht schmerzhaften Erfahrung. Allgemein ist vielfach betont worden, dass Hatha-Yoga einerseits zur Ge­ sundheit auf unterschiedlichen Ebenen beiträgt, andererseits Stress und Depressionen reduziert (Lobo, 1987; Papp, Nygren-Bonnier, Gillerius, Wändell u. Lindfors, 2019; Verma, 1998). Hatha-Yoga als eine Form der positiven Selbstverwirklichung, als ein Weg, Freude und Glückseligkeit auszudrücken und einen konstruktiven Weg zwischen Spannung und Anspannung zu finden und zu erleben (Lobo, 1987), erscheint als ein ressourcenorientierter Ansatz und eine konstruktive Methode, sich auf körperlicher, seelischer und geistlicher, eben ganzheitlicher Weise dem Schmerz zu nähern, sich der fünf Quellen des Schmerzes mit Blick auf Scham bewusst zu werden und diese Quellen als Anstöße zur Transformation hin zu einer erweiterten Persönlichkeitsentwicklung und zu einem inneren Wachstum zu nutzen. Dabei wird der Schmerz im HathaYoga nicht als Schmerz in Teilbereichen von Körper, Seele oder Geist verstanden, sondern eher als eine ganzheitliche Erfahrung gelehrt, die nicht nur ein Segment der drei Teilbereiche betrifft, sondern immer systemisch, das heißt als Zusammenspiel aller Elemente verstanden wird (Woodyard, 2011). Die folgenden Ausführungen bieten einen Einblick in die grundlegenden theoretischen Ansätze der Scham und ihrer Transformation zur Ressource des ganzheitlichen Wachstums und der Persönlichkeitsentwicklung. Des Weiteren wird zuerst das neue Verständnis von Scham definiert. Scham wird beschrieben im Kontext von Gesundheitsressourcen und Salutogenese sowie Kohärenzgefühl. Anschließend wird gezeigt, wie Hatha-Yoga, eingebettet in seine philosophischen Grundlagen, dazu beitragen kann, Scham von einer schmerzhaften Erfahrung zu einer Gesundheitsressource werden zu lassen. Dabei wird Hatha-Yoga als eine Methode gesehen, die langfristig durchaus als ein Tool zur Herstellung von Salutogenese und einem gestärkten Kohärenzgefühl gesehen werden kann. Es wird die Verbindung von einem ganzheitlichen Verständnis der Transformation negativ interpretierter, als schmerzhaft erlebter Gefühle am Beispiel Scham und Hatha-Yoga dargestellt. Schließlich wird auf Fallbeispiele hingewiesen. Am Ende meiner Ausführungen stehen Schlussfolgerungen zum Umgang mit Scham im Kontext von Hatha-Yoga und Empfehlungen für Theorie und Praxis.

C.-H. Mayer · Hatha-Yoga als Gesundheitsressource im Umgang mit Scham

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Scham und Schamempfinden Scham gehört zu den Emotionen, die in unterschiedlichen soziokulturellen Kontexten als negativ empfunden und bewertet werden (Mayer, 2019a). Entsprechend wird häufig mit Scham nicht transparent und offen umgegangen. Vielmehr ist es so, dass Scham eine »Schattenemotion« darstellt, die mit der Schattenseite eines Menschen assoziiert und entsprechend zügig auch tabuisiert wird. Scham ist unterschiedlich definiert worden, doch wird sie zumeist als eine Emotion bezeichnet, die selbst-bezogen und selbst-bewusst ist (Wong u. Tsai, 2007). Nach dem Psychologen Paul Wong ist Scham eine Emotion mit einem wichtigen kulturellen und spirituellen Kern, die auf die Grundzüge der Existenz verweist (Wong, 2019). Unterschiedliche Forschungen haben zudem gezeigt, dass Menschen verschiedenartig mit Scham umgehen und auf sie reagieren. In den vergangenen Jahren ist wiederholt darauf eingegangen worden, dass Scham nicht ausschließlich ein negatives Gefühl sein muss, sondern auch durchaus als Ressource im Blick auf die eigene Weiterentwicklung und das innere Wachstum im Kontext soziokultureller Interaktionen und interpersonaler Beziehungen gesehen werden kann (Sueda, 2019). Oftmals wird Scham jedoch »von außen« kaum erkannt – Scham könnte fast als »unsichtbar« (Scheff, 2016) bezeichnet werden. Sie wird zudem beschrieben als eine Emotion, die eher im Inneren verborgen liegt, als ins Äußere getragen zu werden. Entsprechend scheint es, als seien sich Personen – auch wenn sie Scham erleben – oftmals nicht bewusst über das eigene Erleben von Scham. Die Entwicklung von Scham und Schamgefühl geht normalerweise auf Erfahrungen in der Kindheit zurück (Hilgers, 2013). Der Umgang mit Scham kann über die gesamte Lebensspanne hinweg auf das Wohlbefinden und die Gesundheit negativ wirken, wenn kein adäquater Umgang mit Scham gefunden wird. Sinha (2017) weist darauf hin, dass nicht angemessen verarbeitete Schamerlebnisse zu Angststörungen, Depressionen, Anfälligkeiten für Süchte, Traumata und andauerndem Unwohlsein führen können. Dennoch können die individuellen und kulturspezifischen Formen im Umgang mit Scham sehr unterschiedlich sein und entweder Rückzug und Isolation, aber auch Aggression und Wut auslösen (Lewis, 1992). Es hat sich zudem gezeigt, dass Scham auch im Zusammenhang mit unterschiedlichen Persönlichkeitsstörungen – wie beispielsweise Borderline – in Zusammenhang gebracht worden ist und im Kontext von Suiziden eine Rolle spielt. Scham ist in den unterschiedlichsten Kontexten bereits betrachtet worden, beispielsweise in der Arzt-Patienten-Kommunikation (Veit u. Spiekermann, 2019; Bahrs u. Henze, 2019), in Beratung und Therapie (Hakansson, Friberg, Lidén u. Svanberg, 2015), im Zusammenhang kollektiver, gesellschaftlicher

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Erfahrungen (Mayer, 2019b) oder auch im Zusammenhang mit Körperarbeit (­Wuttig, 2016). Da Scham also oftmals mit Erfahrungen von sozialer Isolation und Ausgrenzung zu tun hat, bedeutet Scham immer auch die Auseinandersetzung mit dem inneren Selbst, mit der Wirkung einer Person auf andere und ihrer Anerkennung in der sozialen Gruppe. Sznycer et al. (2016) haben das Erleben von Scham mit der Empfindung von Schmerz verglichen, während Goudsblom (2016) Scham besonders in einen Zusammenhang mit sozialem Schmerz bringt. Andere Forschende weisen auf den Zusammenhang von Scham mit chronischen Schmerzen hin (Werner, Isaksen u. Malterud, 2004). Schließlich zeigen manche Wissenschaftler auf, dass durch das chronische Schmerzerleben Scham verstärkt werden kann (Turner-Cobb, Michalaki u. Osborn, 2015).

Scham im Kontext von Salutogenese verstehen Das Erleben von Scham ist stark geprägt durch das eigene Verstehen, durch die Handhabbarkeit und die Aktivierung eigener Ressourcen und die Definition von Bedeutsamkeit sowohl des Seins und Handelns als auch des Lebens an sich. Wie bereits an anderer Stelle in diesem Buch besprochen (s. den Beitrag von Ottmar Bahrs) ist die Salutogenese ein Ansatz aus der Positiven Psychologie, die auf den Medizinsoziologen Aaron Antonovsky (1979) zurückgeht. Die Salutogenese als Lehre von der Entstehung von Gesundheit beruft sich dabei vor allem auf die Lebensorientierung des Kohärenzgefühls, das so verstanden wird, als sei es im Blick auf die Gesundheit und Gesundung von Individuen und Gruppen, auch Teams und Organisationen, kulturübergreifend von besonderer Wichtigkeit (Antonovsky, 1987). Dabei sind im Kohärenzgefühl das Verstehen, die Handhabbarkeit und die Sinnhaftigkeit von besonderer Bedeutung, denn diese drei Komponenten bilden die Lebensorientierung, das sogenannte Kohärenzgefühl. Wer ein starkes Kohärenzgefühl besitzt, der vertraut darauf, dass Ȥ die Anforderungen des Lebens strukturiert, vorhersagbar und erklärbar sind (Verstehbarkeit), Ȥ die Anforderungen aus eigener Kraft oder mithilfe von Ressourcen bewältigt werden können (Handhabbarkeit) und Ȥ es sich lohnt und sinnvoll ist, die Anforderungen als Herausforderungen, die es im Leben zu meistern gilt, anzunehmen (Bedeutsamkeit). Je stärker das Kohärenzgefühl ausgeprägt ist, desto wohler fühlen sich in der Regel die Menschen und desto höher schätzen sie ihre Lebensqualität und

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Lebenszufriedenheit ein (Eriksson u. Lindström, 2006). Zudem können sie Stresssituationen und Herausforderungen jeglicher Art besser bewältigen mit einem hohen Kohärenzgefühl (Mayer, 2011). Mit Blick auf die Scham kann ein starkes Kohärenzgefühl eine positive Wirkung haben (Starrin, Jönsson u. Rantakeisu, 2003), denn je verstehbarer die Welt für eine Person erscheint, desto eher kann auch die erlebte Scham kontextualisiert und verstanden werden. Je schneller eine Person eigene Ressourcen aktivieren kann, um mit negativ erlebten Gefühlen umzugehen, desto einfacher ist es, die Scham zu bewältigen oder gar zu transformieren und selbst zu einer Ressource werden zu lassen. Schließlich kann eine Person, die eine hohe Bedeutsamkeit in ihrem Leben erlebt, Scham als einen Indikator sehen, der Aspekte aufzeigt, die eventuell negativ sind und die Veränderung, Auflösung und Bearbeitung benötigen. Das Ziel im Umgang mit Scham wäre, das Erlebnis von Scham letztlich so zu verstehen und zu nutzen, dass es zu einer eigenen Ressource für die Person und – wenn möglich – auch für das Umfeld wird.

Transformation von Scham: vom Schmerz zur Ressource Es wurde bereits an anderer Stelle darauf hingewiesen, dass Scham immer wieder transformiert werden kann: in einen Bereich des schmerzfreien Umgangs einerseits, aber auch der konstruktiven, positiven Veränderung, der inneren Transformation und des inneren Wachstums andererseits (Vanderheiden u. Mayer, 2017; Mayer u. Vanderheiden 2019). Scham kann zu einer Ressource werden, wenn Menschen sie erkennen und innerlich bereit sind, mit ihr zu arbeiten. Dabei ist es sicherlich wichtig, dass Scham nicht nur als positiv betrachtet und erlebt werden kann oder soll. Nach Wong (2019) ist es unmöglich, ein negativ erlebtes Gefühl oder Ereignis zu transformieren und als positiv oder ressourcenhaft zu betrachten, wenn man sich nicht mit dem Leiden, dem Schmerz und den Auslösern des negativen Empfindens und des Schmerzes intensiv auseinandergesetzt hat. Während Vertreter der Ansätze der frühen Positiven Psychologie (PP1.0) darauf verweisen, dass der Fokus der Auseinandersetzung auf den positiven Aspekten liegen sollte, um das Positive zu stärken (z. B. Seligman u. Csikszentmihalyi, 2014), geht Wong (2019) als Vertreter einer neuen Positiven Psychologie (PP2.0) davon aus, dass das Positive nicht erlebt werden kann, wenn das Negative unbearbeitet bleibt. Entsprechend muss der Schmerz, die negative Erfahrung, der »Schatten« (nach C. G. Jung) erst einmal akzeptiert, angenommen und bearbeitet werden, um dann in ein positives Erleben transformiert zu werden. Wie kann diese Be-

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arbeitung nun erfolgen? Nach Mayer und Vanderheiden (2019) gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, die je nach persönlichen und soziokulturellen Präferenzen adaptiert werden können. Zudem kann die Bearbeitung auf kognitive (z. B. reflektieren, denken, überdenken, erklären, verstehen), affektive (Arbeit mit den Gefühlen, Erlebenserforschung etc.) oder verhaltensorientierte Weise (Betrachtung und Veränderung von Verhaltensweisen etc.) geschehen. Eine weitere Ebene des Umgangs ist die Transformation des Erlebens von Gefühlen durch den Körper, auf der körperlichen Ebene. Diese Ebene wird im Folgenden in den Fokus gerückt.

Bearbeitung von Scham durch Körperarbeit Ziel der Auseinandersetzung mit dem Thema Scham und seiner Bearbeitung in diesem Beitrag ist, das Wohlbefinden zu steigern und zur Gesundheit durch Bewusstwerdung und persönliches Wachstum beizutragen. Grundsätzlich zeigt sich, dass für die Bearbeitung negativer Gefühle wie Scham eine annehmende, liebevolle Haltung dem Selbst und den anderen gegenüber zuträglich ist (Hakansson et al., 2015). Oftmals greifen Individuen auf persönliche Coping-Mechanismen zurück (Lewis, 2004), die eine Veränderung in der Haltung (Selbstreflexion), in der Kommunikation, im körperlichen Ausdruck oder in der Entwicklung von neuen Veränderungs- und/oder Verhaltensstrategien beinhalten. Die körperorientierte Verarbeitung von Scham ist zwar bereits betrachtet worden, jedoch bisher eher weniger als die kognitive. Erstere soll hier nun mehr Beachtung erlangen. Vorab kann angemerkt werden, dass Scham in einem engen Zusammenhang zum Körper steht: Scham kann sich im körperlichen Gefühl zeigen, in krankhaften körperlich-psychischen Phänomenen (z. B. Dysmorphophobie), aber auch auf den Körper bezogen sein (»body shame«), sich im Körperausdruck reflektieren (z. B. in Schamesröte) oder aber in bestimmten körperlichen Handlungen (z. B. bestimmten körperlichen Bewegungen) Ausdruck finden (Weingarden u. Renshaw, 2015). Probyn (2000) verweist darauf, dass Scham ein sehr körperliches Gefühl ist und daher oft im Zusammenhang mit dem Körper steht und eine gute Basis bildet, um sich mit dem Thema Körper auseinanderzusetzen. Der Zusammenhang von Körper, Psyche und dem Gefühl von Scham erscheint jedoch gleichzeitig als extrem komplex. Je nachdem, wie die Zusammenhänge von Scham, Körper und Geist verstanden werden, können sie auch bearbeitet werden. Im Folgenden werden bestimmte Möglichkeiten der Bearbeitung von Scham im Zusammenhang mit Körperarbeit aufgezeigt.

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Wuttig (2016) betont, dass Scham in der Arbeit des Somatic Experiencing, einer somatisch-orientierten Körperarbeit, bearbeitet werden kann. In dieser Art von Körperarbeit geht man davon aus, dass sich traumatische Erfahrungen im Körper ansammeln und speichern und mit Körperarbeit positiv verändert, bearbeitet und abgebaut werden können. Dabei geht es, wie im Hatha-Yoga auch, um die Herstellung von Spannung und Entspannung und darum, eine Balance zu finden, die Wuttig (2016, S. 333) als »Wohlspannung« bezeichnet. Diese Wohlspannung kann im Blick auf Scham erlebt werden, wenn Scham sowohl kognitiv als auch physisch wahrgenommen wird und vor allem wahrgenommen werden darf und die Assoziation von Scham mit bestimmten Körpergefühlen bewusst reflektiert und erlebt wird. Häufig wird Somatic Experiencing in der Verarbeitung von Traumata angewendet. Dabei wird ein Trauma, das im Zusammenhang mit Scham stehen mag, oftmals mit Anspannung, chronischer Muskelverspannung (Behnke, 2002) oder Schmerz assoziiert. Dadurch, dass Scham eine starke körperlich-affektive Dimension aufweist, kann die Arbeit mit dem Körper sehr wohltuend sein, um sich über die körperliche Dimension dem Gefühl und den kognitiv-verhaltensorientierten Aspekten der Scham – die auf die Grenzen von Normen und Machtverhältnissen hinweisen – zu nähern. Wuttig (2016) betont, dass sich das Zurückziehen beim Erleben von Scham durchaus in den Körper »eingravieren« kann und entsprechend zu Spannungen führt, die besonders im Kontext des Verstehens sozialer und kultureller Ordnung zu begreifen sind. Weiterhin wird argumentiert, dass persönliche Affekte oftmals stark mit soziokulturellen Werten und Normen verknüpft sind, wobei die Körperkonfigurationen vielmehr physikalischer Natur sind und eher als neutral erlebt werden. Um Sozio-Somatisierungen gesellschaftlicher Machtund Kraftverhältnisse, die sich in somatischen Effekten zeigen, langfristig und multidimensional aufzulösen, ist eine Arbeit mit dem Körper im Prinzip unumgänglich (Behnke, 2003). In diesem Kontext argumentieren Impett, Daubenmier und Hirschman (2006), dass die Objektivierung des Selbst Menschen besonders empfänglich macht für Verletzungen durch negative Gefühle wie Scham oder Angst. Dies ist vor allem der Fall, wenn das persönliche, individuelle Bild nicht dem der soziokulturellen Norm oder dem angestrebten äußeren Aussehen entspricht. Selbst-Objektivierung steht weiterhin in einem engen Zusammenhang mit geringem Selbstwert, geringeren positiven und vermehrten negativen Gefühlen (Impett et al., 2006). Wenn Hatha-Yoga nun zum Wohlfühlgefühl, zur mentalen, körperlichen und geistigen Gesundheit beiträgt und eine salutogene Orientierung aufweist, könnte angenommen werden, dass Yoga eine gute Grundlage bieten kann, um Scham aufzudecken, zu bearbeiten und zu transformieren. Aber

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wenden wir uns nun erst einmal Hatha-Yoga im Kontext von Salutogenese zu, um anschließend Hatha-Yoga und die Transformationsmöglichkeiten für den konstruktiven Umgang mit Scham zu erläutern

Hatha-Yoga im Kontext der Salutogenese und des Kohärenzgefühls Yoga ist eine Reise mit unterschiedlichen Abzweigungen, Traditionen und Wegen. Gleichzeitig ist es eine Reise in ein tieferes Verstehen, in das Ganz-Sein und das Eins-Sein (Kislenko, 2020). Im Yoga geht es darum, eine innere und äußere Balance herzustellen und Wohlbefinden auf mentaler als auch körperlicher Ebene zu erlangen (Adhia, Nagendra u. Mahadevan, 2010). Nach Kislenko (2020) trägt Yoga dazu bei, Demut zu erlangen und sich innerlich durch den Anstoß einer körperlichen Bewegung weiterzuentwickeln. Hatha-Yoga wie auch Scham bieten beide Impulse, sich mit dem Menschen und seinem Umfeld als Systemen und Systemelementen auseinanderzusetzen und diese im Sinne der Gesundheit, sogar im Zusammenhang der Salutogenese und den drei Komponenten des Kohärenzgefühls zu organisieren. Im Folgenden werden die drei Komponenten des Kohärenzgefühls im Hinblick auf Hatha-Yoga und Scham betrachtet. Verstehen durch Hatha-Yoga Hatha-Yoga kann zum Verstehen von komplexen Situationen auf der Ebene der Handhabbarkeit und der Sinnhaftigkeit zum Kohärenzgefühl beitragen und deckt somit alle drei Komponenten des Kohärenzgefühls als Lebensorientierung ab. Dadurch, dass Yoga Achtsamkeit fördert, trägt es zu einem erweiterten Verstehen von Situationen und komplexen Zuständen bei. Nach Cox, UlrichFrench, Cole und D’Hondt-Taylor (2015) verhilft Yoga dazu, eine neue Erfahrensebene zu schaffen und den Fokus eher auf die Körperfunktionen und deren Wahrnehmung zu richten als auf äußere und äußerliche Begebenheiten. Dies führt zu einem neuen, achtsamen Zugang zum Selbst, zum Selbstkonzept und gesundheitsorientierten Gründen für die Durchführung von Yoga-Übungen (Cox et al., 2015). Entsprechend den neuen Erfahrungen und (Selbst-)Erkenntnissen werden zudem neue Möglichkeiten des Verstehens angestoßen, die das Leben und die Welt auf eine neue Weise verstehbar und verständlich machen. Dies ist nicht nur im Allgemeinen der Fall, sondern auch besonders im Hinblick auf negative Emotionen. Schließlich zeigt sich, dass ein tieferes Verstehen durch Yoga angestoßen wird, indem Yoga Menschen dazu anregt, innerlich ru-

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higer zu werden, sich in Konversationen zu engagieren und zudem zunehmend zu reflektieren. Dabei wirkt Hatha-Yoga positiv auf das Verstehen und führt zu einem erweiterten bzw. tieferen Verstehen (Saksena, Sharma u. Basavaraddi, 2020) und leistet somit einen Beitrag zur Stabilisierung wie auch zum Ausbau des Kohärenzgefühls. Handhabbarkeit durch Hatha-Yoga Generell existieren vielfache Forschungen zum Thema der Handhabbarkeit von Stress durch Yoga (Sharma, 2013), aber auch zum verbesserten Umgang mit und der Bewältigung von Traumata (Wuttig, 2016). Weiterhin zeigen klinische Studien, dass Yoga ausgleichend auf das paralimbische System im Gehirn wirkt und somit Ressourcen im Bereich der Aufmerksamkeit, des Fokus und der Emotionen freisetzt (Lou, Joensson u. Kringelback, 2011). Hatha-Yoga ist weiterhin eine gesundheitsorientierte Form der Handlung, die dazu beitragen kann, den Schmerz und die Quellen der Scham zu ergründen und diese nach gelungener Auseinandersetzung nicht nur auf der kognitiven, sondern auch systembezogen auf der emotionalen, der psychischen, der spirituellen und handlungsorientierten Ebene zu managen und zu transformieren. Hatha-Yoga ist somit eine Aktivität, die zur Handhabbarkeit von Problemen, Herausforderungen und zum Coping von schwierigen bis hin zu traumatischen Situationen eingesetzt werden kann (Sharma, 2013; Wuttig, 2016). Bedeutsamkeit durch Hatha-Yoga Seit Yoga vor ca. 4000 Jahren in Indien entstanden ist, besteht es aus einem komplexen System von spirituellen, moralischen und physischen Praktiken, die dazu dienen, die Selbstwahrnehmung und das Selbstbewusstsein zu stärken (Impett et al., 2006). Ivtzan und Papantoniou (2013) stellen in ihrer Studie dar, dass sowohl Dankbarkeit als auch Bedeutsamkeit im Leben mit andauernder Yoga-Praxis steigen. Dies weist darauf hin, dass es womöglich einen starken Zusammenhang gibt zwischen Yoga und der dritten und wichtigsten Komponente im Kohärenzgefühl, der Bedeutsamkeit. Rucker (2006) unterstützt ebenfalls die These, dass Yoga zu einem gestärkten Wohlbefinden beiträgt und sowohl die eigene Wahrheitsfindung unterstützt als auch die Bedeutsamkeit, die im eigenen Lebenssinn verankert ist, ans Licht bringt. Dabei steht die Bedeutsamkeit als Komponente der Salutogenese in einem starken Zusammenhang mit der Exploration des spirituellen Kerns einer Person. Bedeutsamkeit und Spiritualität hängen nach Rucker (2005) zusammen und werden im Yoga auf eine be-

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sondere Art und Weise angesprochen und aktiviert. Dabei stellt er weiterhin fest, dass die Bedeutsamkeit eng in Beziehung steht zu den Beziehungen, die Menschen führen, und dass Yoga dazu beiträgt, über Bedeutsamkeit und Beziehungen Bewusstsein zu erlangen, und gleichzeitig fördert, dass Menschen durch Yoga die Gelegenheit bekommen, ohne Scham zu empfinden, ganz und heil sein zu dürfen. Auch Herms (2020) betont, dass durch Yoga Sinnhaftigkeit und Bedeutsamkeit im Leben steigen und dass sich Personen durch die YogaPraxis angenommen, eingebunden und wenig beschämt fühlen. Dies ist vor allem der Fall, wenn die Sprache der Instruktion im Yoga an die Gruppe angepasst wird (Herms, 2020).

Hatha-Yoga und der konstruktive salutogene Umgang mit schmerzvoller Scham Blickend auf die unterschiedlichen Studien zu den drei Komponenten des Kohärenzgefühls, kann davon ausgegangen werden, dass Hatha-Yoga generell eine salutogene Wirkung hat und im Hinblick auf alle drei Komponenten des Kohärenzgefühls positiv wirkt. Zudem kann weiterhin angenommen werden, dass diese salutogene Wirkung nicht nur im Allgemeinen Einfluss nimmt, sondern auch im Hinblick auf die Transformation negativer Emotionen, wie nachfolgend gezeigt wird. Scham als Indikator des inneren Schmerzes und Hatha-Yoga als Ansatz des ganzheitlichen Erkennens von Schmerzzuständen und ihren Quellen bieten somit sich ergänzende Ressourcen, um die Gesundheit zu fördern und zum Ziel einer schmerzfreien Homöostase im Sinne des Hatha-Yoga beizutragen. Die Bedeutung des Schmerzes (klista vrtti) – und entsprechend der schmerzvollen Scham – wird im Blick auf die Innenwelt-Außenwelt-Interaktion verstanden: Die Übungen des Hatha-Yoga tragen zum Verstehen und zur Handhabbarkeit des Schmerzes durch die Scham und seiner Transformation im Inneren und Äußeren bei. Die Sinnhaftigkeit der Scham wird erkannt und – wenn möglich – rekonstruiert im Sinne von Entspannung und Ausgeglichenheit. HathaYoga als Ressource der Gesundheitsförderung im Sinne der Exploration des Kohärenzgefühls (Verstehen, Handhabbarkeit, Sinnhaftigkeit) und der Salutogenese bildet somit einen ganzheitlichen Beitrag zur Erkenntnis und Transformation von Scham als schmerzvoller Erfahrung hin zum positiven, ganzheitlichen Wachstum. In den vergangenen Jahren hat die Forschung zu Hatha-Yoga zudem vor allem gezeigt, dass Hatha-Yoga positiv auf den Umgang mit Emotionen wirkt.

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Dabei wird festgestellt, dass diese Form der körperlichen und geistigen Bewegung Ressourcen aktiviert, die dazu beitragen, Emotionen zu verändern (Park, Finkelstein-Fox, Groessl, Elwy u. Lee, 2020). Dabei wird eindeutig sichtbar, dass Yoga nicht nur Emotionen verändert, sondern auch dazu beiträgt, positive Emotionen zu schaffen (Park et al., 2020). Hierbei wirken unterschiedliche Formen des Yoga unterschiedlich auf die Emotionen. Bei allen wird jedoch eine Verbesserung des emotionalen Wohlbefindens festgestellt, was Ressourcenzugang und Emotionen positiv beeinflusst. Weiterhin leistet Hatha-Yoga einen Beitrag dazu, die Regulierung von Emotionen zu verbessern und unterschiedliche Sinneseindrücke gezielt und bedeutungsvoll zu integrieren (Soccalingam, Ramanathan u. Bhavanani, 2020). Wenn Scham als oftmals negativ erlebte Emotion im Kontext von Yoga in den Blick genommen wird, zeigt sich, dass beispielsweise Körperscham durch Yoga minimiert werden kann (Cox u. Tylka, 2020). Eine weitere aktuelle Studie von Diers, Rydell, Watts und Neumark-Sztainer (2020) zeigt, dass HathaYoga die Selbstakzeptanz, das Selbstbewusstsein, das Vertrauen und die emotionale und körperliche Stärke fördert und gleichzeitig das Empfinden von Scham und Peinlichkeit reduziert. Harvey, Andriopoulou und Grogan (2020) untersuchen Scham als einen Aspekt psychologischer Verzweiflung und betonen, dass Yoga helfen kann, Phänomene von Scham und allgemeiner psychologischer Angespanntheit und psychologischem Kummer zu reduzieren. Viele der gegenwärtig publizierten Studien zu Hatha-Yoga und Scham (Harvey et al., 2020) beziehen sich auf die Überwindung von Scham, die, vor allem im Blick auf Frauen, durch Objektivierungen oder Selbst-Objektivierungen (sprich: dem Sachverhalt, in dem Personen – und nach feministischen Theorien vorwiegend Frauen – als »sexuelle Objekte« klassifiziert werden) aufgekommen und eng mit dem eigenen (negativen) Körperbild verbunden ist. Im Folgenden werden ausgewählte Fallbeschreibungen zur Erfahrung und Überwindung bzw. Transformation von Scham bezüglich Hatha-Yoga in unterschiedlichen soziokulturellen Kontexten beispielhaft dargestellt.

Einblicke in ausgewählte Fallbeschreibungen Rose (2020) hebt hervor, dass besonders Schamgefühle bei Yoga-Praktizierenden in Kanada eine Rolle spielen, die sich beispielsweise dafür schämen, welche Art Nahrung sie vor der Yoga-Stunde zu sich genommen haben, wie ihr Erscheinungsbild ist oder ihre derzeitige Fähigkeit, Yoga zu praktizieren. Jedoch wird in dieser Untersuchung nicht beschrieben, wie die Scham überwunden wird.

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Whitman (Whitman Wellness Center, 2018) hingegen beschreibt ihre Erfahrungen, wie Yoga ihr die Erinnerung an eine schamvolle sexuelle Situation zurückbrachte, die über einige Zeit in bestimmten Posen im Yoga in ihrem Körper unbewusst reaktiviert wurde, ihren Körper in eine schwere Anspannung gehen ließ, die sie nicht entspannen konnte. Die Erfahrung selbst verblieb vollständig im Unterbewusstsein, brachte jedoch durch die Yoga-Übung die negativen Gefühle von Scham und Angst in unauflösbarer Anspannung wiederholt in Form unangenehmer Gefühle ins Bewusstsein zurück. Nach einem Gespräch während der Yoga-Stunde trat das lang verjährte Ereignis wieder in ihr Bewusstsein und sie konnte die Gefühle, die sie bei der Yoga-Übung erlebt hatte, mit einem Realereignis verbinden. In den folgenden Yoga-Sitzungen konnte sie immer weiter die Anspannung der einen Übung loslassen, um so zur Heilung der traumatisierenden Erfahrung in Körper und Seele beizutragen. Sie beschreibt, wie sie die traumatische Erfahrung und die damit verbundene Scham durch die bewusste Nutzung der Yoga-Übung überwinden konnte, indem sie in eine Ressourcenorientierung ging, das Trauma nach und nach zuließ und schließlich entließ. Sie folgte demnach dem Weg der PP2.0 nach Wong (2019), den Schmerz, die Trauer und die Scham zu überwinden, indem sie das Leiden bewusst annehmen konnte und schließlich die Wahrheit über die eigenen Erfahrungen annehmen konnte und dadurch eine Erfahrung von Positivität und »Licht« erlebte (Whitman Wellness Center, 2018). Schließlich zeigt eine Studie von Doxsee (2020), dass Yoga eine wichtige Coping-Strategie für Musiktherapeut*innen ist, um die Scham und den Stress von Burnout-Phänomenen zu überwinden und arbeits- und karrierefähig zu bleiben. Dabei ist Yoga nach dem Spazierengehen für 64 % der Befragten eine wichtige Strategie, um gesund zu bleiben und Stress und Scham zu überwinden. Entsprechend zeigt diese Studie, dass Yoga nicht nur genutzt werden kann und sollte, wenn es die Überwindung von Scham im Hinblick auf Depressionen, Traumata oder andere klinische Phänomene betrifft, sondern auch wenn es um die Fähigkeit geht, die eigene Karriere zu verfolgen oder langfristig aufrechtzuerhalten.

Zusammenfassung und Empfehlungen für Theorie und Praxis Zusammenfassend kann davon ausgegangen werden, dass all die als schamhaft erlebten Erfahrungen zu einem gewissen Grad auch als schmerzhaft empfunden werden. Werden diese schmerzhaften Erfahrungen bewusst wahrgenommen, durchlebt und bearbeitet, können sie transformiert werden in positive Ressourcen im Sinne von aktiv veränderten Gedanken, neuen Zielen, positiven Gefühlen und sogar veränderten Handlungen. Scham und Schmerz können auf

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unterschiedlichen Ebenen angegangen und bearbeitet werden. Hatha-Yoga bietet eine Möglichkeit, sich dem Thema der Scham auf unterschiedlichen Ebenen zu stellen und es auf einer ganzheitlichen Ebene über die Arbeit mit Körper, Seele und Geist zu erkunden und zum Positiven hin zu transformieren. So können nicht nur auf der kognitiven Ebene Veränderungen erreicht, sondern auch über emotionale und körperliche Arbeit und im Kontext von Anspannung und Spannung neue Erfahrungen gemacht werden. Diese können dazu beitragen, dass Menschen innerlich und äußerlich wachsen. Scham, die über soziokulturelle Kontexte an geknüpfte Macht- und Herrschaftsstrukturen gebunden ist, kann mit Unterstützung von Yoga überwunden werden. Somit leistet Yoga im besten Fall nicht nur einen Beitrag zur inneren Transformation von Scham, sondern auch einen gesamtgesellschaftlichen Beitrag zur Reflexion und Transformation von Macht- und Herrschaftsstrukturen, die an bestimmte kulturelle Werte und Normen anknüpfen und über die Empfindung von Scham sichtbar werden. Das Verständnis der PP2.0 kann zudem sicherlich eine konstruktive Auseinandersetzung mit Scham über Yoga unterstützen, indem sie aufzeigt, dass durch den Schmerz zum Wohlbefinden über Hatha-Yoga gefunden werden kann. Schließlich sollte zukünftige Forschung darauf abzielen, Scham und ihre konstruktive Bearbeitung durch Hatha-Yoga in Mixed-Methods-Studien zu untersuchen, um anschließend Wege aufzuzeigen, wie Scham in unterschiedlichen kulturellen Kontexten und im Zusammenhang mit Hatha-Yoga langfristig und nachhaltig transformiert werden kann, um sie zur individuellen, aber auch zur kollektiven Ressource werden zu lassen. Für die Hatha-Yoga-Praxis könnte ein erweiterter Umgang mit dem Thema Scham einen neuen Fokus bedeuten. Hier könnte der Fokus der Achtsamkeit und Bewusstwerdung auch gezielt auf die Transformation negativ erlebter Gefühle gelegt werden, um einen expliziten Beitrag zum konstruktiven Umgang mit schmerzvoller Scham zu leisten. Literatur/Internet Adhia, H., Nagendra, H. R., Mahadevan, B.(2010). Impact of adoption of yoga way of life on the emotional intelligence of managers. IIMB Management Review, 22 (1), 32–41. Antonovsky, A. (1979). Health, stress and coping. San Francisco: Jossey-Bass. Antonovsky, A. (1987). Unraveling the mystery of health. How people manage stress and stay well. San Francisco: Jossey-Bass. Bahrs, O., Henze, K.-H. (2019). From shame to pride – Initiation of De-Stigmatisation Processes in review Dialogues. In C.-H. Mayer, E. Vanderheiden (Hrsg.), The bright side of shame (S. 363– 380). Cham: Springer International. Behnke, E. A. (2002). Embodiment work for the victims of violation: In solidarity with the community of the shaken. Inaugural meeting of the organization of phenomenological organizations. Prague. www.o-p-o.net (Zugriff 06.06.2021).

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Claude-Hélène Mayer (Dr. habil., PhD, PhD; MSc, MA hist.-phil.)  ist Professorin für Arbeits- und Organisationspsychologie am Department of Industrial Psychology and People Management an der Universität Johannesburg, Adjunct Professor an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), Deutschland und Senior Research Associate an der Rhodes University, Grahamstown, Südafrika. Sie hält Doktortitel in Psychologie (University of Pretoria, Südafrika), Management (Rhodes University, Südafrika) und Politikwissenschaften (Georg-August-Universität, Deutschland) und ist habilitiert (Europa-Universität Viadrina, Deutschland) in Psychologie mit Schwerpunkt Arbeits-, Organisations- und Kulturpsychologie (Europa-Universität Viadrina, Deutschland). Sie hat mehrere Monografien, Textsammlungen, akkreditierte Zeitschriftenartikel und Sonderhefte zu den Themen transkulturelle psychische Gesundheit, Kohärenzgefühl, Scham, Kultur und Gesundheit, transkulturelles Konfliktmanagement und Mediation, Frauen in Führung in kulturell vielfältigen Arbeitskontexten, Aufstellungsarbeit, Coaching und Psychobiografie veröffentlicht. Freiberuflich ist sie als Beraterin in Organisationen und als Therapeutin mit Einzelpersonen, Paaren und Familien tätig. Mitglied in der Systemischen Gesellschaft (SG) und im South African Board for People Practices (SABPP). Kontakt: Department of Industrial Psychology and People Management, University of Johannesburg, Auckland Park, Johannesburg, South Africa; E-Mail: [email protected]; www.interkulturelle-mediation.de; www.pctm.de.

Unerfüllter Kinderwunsch – ein Dialog zwischen Wollen und Nicht-Können Birgit Erdle

Ein Dialog zwischen Wollen und Nicht-Können Die Geburtenrate in den Industrieländern nimmt seit vielen Jahren deutlich ab. Insbesondere steigt die Zahl der kinderlosen Frauen und Männer. Nach den Zahlen des statistischen Bundesamts 2018 (Geburtenstatistik, 2018/2019, S. 49 ff.) wurden Frauen der Jahrgänge 1954–1958 noch zu 83 % Mütter, während bei den Jahrgängen 1974–1978 bereits nur noch 78 % der Frauen Mütter wurden. Jedes zehnte Paar in Deutschland hat mit ungewollter Kinderlosigkeit zu kämpfen. Die ungewollte Kinderlosigkeit ist zur Volkskrankheit geworden. Für die meisten jungen Menschen gehört die Gründung einer Familie zur Lebensplanung. Allerdings hängt die Verwirklichung von vielen Umständen ab. In diesem Beitrag werden Überlegungen angestellt, welche gesellschaftlichen und sozialen Ursachen dazu führen, dass der Wunsch nach der Gründung einer Familie im Laufe der Jahre anders entschieden oder nicht verwirklicht wird. Was geschieht in den fruchtbaren Lebensjahren zwischen 25 und 40? Welche Faktoren und Haltungen verhindern die Verwirklichung dieses Wunsches? Während bei Säugetieren die Reproduktion nach biologischen Prozessen abläuft, hat der Mensch als soziales Wesen mittlerweile die Möglichkeit des komplexen, planerischen Handelns. Insbesondere Akademikerinnen verwirklichen ihren Kinderwunsch erst nach Abschluss ihres Studiums und dem Eintritt in ihr Berufsleben. Berufseinsteiger bekommen oft nur befristete Stellen. Werden die jungen Frauen schwanger, endet der Vertrag und die Sicherheit der Stelle durch den dreijährigen Erziehungsurlaub entfällt. Kinder zu bekommen, bedeutet nach wie vor einen Bruch in der beruflichen Karriere von Frauen. Gesellschaftliche Stimmungen und die aktuelle wirtschaftliche Situation des Landes und des Paares beeinflussen die Umsetzung des Kinderwunsches ebenfalls. Ein Beispiel dafür, dass gesellschaftliche Umbrüche die Geburtenrate beeinflussen, zeigt sich am Geburtenrückgang nach dem Fall der Mauer in Ostdeutschland. Der anfänglichen Euphorie der Wiedervereinigung folgte eine tiefe Verunsicherung der Zukunfts- und Lebensperspektiven. Durch die Ab-

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wanderung junger Menschen in den Westen lösten sich soziale Netzwerke wie Nachbarschaften und Arbeitsgemeinschaften auf (Erdle, 2008, S. 28). Welche Auswirkungen die Coronapandemie auf die Geburtenrate der Menschen im gebärfähigen Alter haben wird, bleibt abzuwarten. Die wirtschaftliche Situation dieser Generation ist aktuell geprägt durch Kurzarbeit, Entlassungen sowie große Unsicherheiten beim Aufbau oder der Fortführung einer Selbstständigkeit. Beispiele finden wir in vielen Branchen: Im Gaststättengewerbe, im Kulturbereich, in der Touristikbranche, bei vielen Inhabern von Läden oder Firmen herrschen große Unsicherheit und Angst um die Existenz. Der Lockdown verhindert Begegnungen und das persönliche Kennenlernen eines Partners. Könnte es sein, dass die Intensität des Reproduktionswillens einer Gesellschaft mit der erlebten Bedrohung einer Gesellschaft korreliert? Es ist offenbar von großer Bedeutung, ein »gutes Nest« mit materieller Absicherung, emotionaler Sicherheit und Stabilität sowie sozialer Geborgenheit anbieten zu können. Unter diesem Aspekt ist davon auszugehen, dass es bei der Geburtenrate einen Einbruch geben wird. Es ist aber auch denkbar, dass ein vermehrter Rückzug ins Private zu mehr Kindern führt. Auf die Frage, warum Männer und Frauen kinderlos sind, obwohl sie in ihrer ursprünglichen Lebensplanung eine Familie gründen wollten, geben viele an, nicht den richtigen Partner zum richtigen Zeitpunkt gefunden zu haben. In Paarbeziehungen werden verschiedene Fragen zum Thema »Kinderwunsch« gestellt: Welche Vorstellungen hat der Partner? Gehören Kinder zur Lebensplanung beider Partner? Welcher Zeitpunkt ist dafür günstig? Wollen und können beide berufstätig sein? An welchem Ort finden beide einen geeigneten Arbeitsplatz? In welchem Land möchten beide sesshaft werden? Wie organisiert das Paar Arbeit und Familienleben zur Zufriedenheit beider Partner? Was erschwert es, stabile Bindungen einzugehen? (Erdle, 2008, S. 28). In einer Gesellschaft mit hoher Mobilität wird der Begriff des »modernen Nomadentums« genannt. Die ursprünglichen Nomaden aber sind nicht allein, sondern gemeinsam mit ihrem sozialen Umfeld, ihren Familien und Tieren unterwegs gewesen. Der moderne Nomade stellt seine Lebenszeit der Firma zur Verfügung und ist in dieser Zeit fremdbestimmt und meistens allein oder mit ständig wechselnden Menschen unterwegs (Lkw-Fahrer, Piloten, Mitglieder der Regierung, Manager u. v. a. m.). In den Städten beträgt die Singlerate – wie z. B. in München – rund 50 %. »›Flexibilität‹ ist das Zauberwort des globalen Kapitalismus. Heute hier, morgen dort, allzeit bereit für Neues, jederzeit und allzeit verfügbar ist das Lebensmotto einer Wettbewerbsgesellschaft. Menschen erleben eine massive Beschleunigung

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in allen Lebensbereichen. Wo nur das immer Neue gefragt ist und kaum Routine entstehen darf, werden langfristige und tiefe Bindungen erschwert oder unmöglich. Beruf, Wohnort, soziale Stellung, Familie, alles ist den zufälligen Anforderungen des Wirtschaftslebens unterworfen, das eigene Leben wird zum ziellosen und undurchschaubaren Stückwerk. Nicht Freiheit ist also das Ergebnis, sondern ein tiefes Gefühl der Ohnmacht, der Isolation und der Sinnlosigkeit. Sennetts Fazit ist eindeutig: Eine Gesellschaftsordnung, die den Menschen keinen tiefen Grund gibt, sich umeinander zu kümmern, kann nicht von Bestand sein« (Sennett, 2000, Buchrückseite; s. a. Tab. 1). Tabelle 1: Merkmale moderner Gesellschaften und deren soziale Konsequenzen Kennzeichen moderner Gesellschaften

Konsequenzen dieser Struktur

Globalisierung in allen Lebensbereichen

Isolation am Arbeitsplatz

Veränderungen in zwischenmenschlichen Beziehungen: Individualisierung, Kleinfamilie

Einzelkämpfertum

Wettbewerbsgesellschaft: schneller, höher, weiter

Konkurrenzkampf

Hohe Mobilität und Flexibilität

Existenzerhaltung oft nur durch Grenzüberschreitung möglich (z. B. mehrere Tätigkeiten, um leben zu können)

Kommunikationsgesellschaft mit Informationsflut

Hohe Unverbindlichkeit, kostet Zeit, die für die Familie fehlt

Anpassungs- und Leistungsdruck

Angst, nicht mehr mithalten zu können

Konsumgesellschaft: schneller Konsum von Gütern, z. B. elektronische Geräte, Kleidung

Umweltverschmutzung, Müllproduktion, Ausbeutung der Ressourcen

Luxusgesellschaft

Steigende soziale Ungleichheit, hoher CO2-Fußabdruck

So schreibt Rocque Lobo: »Aus der Sicht des Körpers bedeutet jede Errungenschaft auf dem Gebiet der Beschleunigung eine starke Anpassung von Organfunktionen an das neue Vehikel. Gemeint ist hier nicht die Anpassung an Autos, Züge und Flugzeuge, sondern jener Druck, der durch die ständig unter dem Diktat der Beschleunigung geratenen sozialen Verhältnisse auf die einzelnen Individuen ausübt. Dieser Druck macht sich bemerkbar als Zwang zur Konvergenz der eigenen autonomen Bewegungen mit der gesellschaftlichen Norm« (Lobo, 1992, S. 101).

Stress wird erzeugt durch den hohen Anpassungs- und Leistungsdruck. Tiefe Eingriffe in den inneren biologischen Rhythmus erleben vor allem Menschen in

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Schichtarbeit (z. B. Krankenhausärzte, Pflegekräfte, Lkw-Fahrer, Schichtarbeiter in Industriebetrieben u. a.). Der Preis dafür ist eine höhere Scheidungsrate sowie mehr Depressionen und Stresserkrankungen. Bei Gesprächen mit jungen Frauen und Männern ist ein häufig geäußerter Grund, den Kinderwunsch aufzuschieben, das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung und die Notwendigkeit, sich erst einmal beruflich zu etablieren. Eine Selbstverwirklichung mit Kindern scheint vor allem in jüngeren Jahren schwer vorstellbar. Ist es nicht auch die Angst, Qualifikationen nicht zu erreichen, die man benötigt, um einen existenzsichernden Platz in der Gesellschaft zu erhalten, sowie Angst vor Verarmung? Die Antwort einer im Gesundheitsbereich tätigen Professorin (45 Jahre) auf meine Frage, warum sie kinderlos ist, lautete: »Wenn ich Kinder gehabt hätte, wäre ich nicht Professorin geworden!« Seltsam, dass es ausgerechnet in einem Bereich, der der Gesundheit dienen soll, nicht möglich ist, beide Welten gut miteinander zu verbinden. Die Geburtenrate zeigt Korrelationen mit der Bildung der Frauen (Statistisches Bundesamt, 2018). Je höher die Bildung der Frauen, desto geringer die Geburtenraten. Mit Recht fordern Frauen gleiche Teilhabe an der Macht und an Entscheidungen, die ihre Lebenswelt betreffen, sowie Selbstbestimmung. In modernen Lebens- und Arbeitswelten besteht die Notwendigkeit, zwischen den sehr unterschiedlichen Ansprüchen beider Welten hin- und herzupendeln. In der auf Konkurrenz beruhenden beruflichen Lebenswelt werden Selbstbehauptung und Durchsetzungskraft verlangt, in der familiären Welt sollen Mütter und Väter Liebe, Nähe, Geborgenheit und Sicherheit vermitteln. Sicherheit, die in der beruflichen Welt häufig nicht mehr erlebt wird. Dies kann das Gefühl der Überforderung entstehen lassen und ist ein deutlicher Stressfaktor. Hier einige Antworten von Akademikern, die ich zu dem Thema befragt habe: – Akademikerin, 44 Jahre, verheiratet, 1 Kind: »Das heutige Vorbild für Muttersein mit anspruchsvollem Beruf ist die Dreifachbelastung als perfekte Arbeitskraft, Hausfrau, Mutter und Ehefrau. Das Vorbild des Vaters mit Beruf: keine Zeit für Familie und Kinder. Mein Wunsch wären Kinderbetreuungsmöglichkeiten, flexibel mit hohem pädagogischen Niveau, mehr Betriebskindergärten, andere Organisation von Schulen und Väter die Kindererziehung als genauso wichtig ansehen, wie ihre berufliche Karriere.« – Akademikerin, 43 Jahre, 2 Kinder: »Selbstverwirklichung wird nur als berufliche Selbstverwirklichung gesehen, Muttersein trägt für mich ganz wesentlich zu einem erfüllten, selbstverwirklichten Leben bei.« – Akademiker, 56 Jahre, in zweiter Ehe verheiratet, 2 Kinder: »Ich sehe in modernen Gesellschaften ein größeres Maß an Bequemlichkeit, Kinder sind aber zutiefst un-

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bequem.« »Eine ständige Herausforderung bleibt der ungeliebte und ungesehene Generationenvertrag.« – Akademikerin, 44 Jahre, verheiratet, 3 Kinder, arbeitet ganztags in einer großen Firma in leitender Stellung: »Wenn ich eine Kinderpause von 3 Jahren eingelegt hätte, dann wäre ich aus dem Beruf raus. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist nur mit großem Organisationsaufwand und Personal (Kindermädchen) sowie Unterstützung durch Großeltern bewältigbar. Ein Teil unseres Einkommens muss dafür ausgegeben werden. Der Partner muss mitmachen, mein Ehemann machte Kinderpause und ist jetzt freiberuflich zu Hause zeitlich flexibel tätig.« – Akademikerin, 44 Jahre, alleinerziehend, 2 Kinder, 25-Stundenwoche berufstätig: »Manchmal frage ich mich, was mehr Sinn macht, den ganzen Tag in einen PC zu schauen oder zu Hause bei meinen Kindern zu sein.«

Hierzu Lobo: »Familien und Kinder müssen in zunehmendem Maße zurückstehen. Man erlebt am eigenen Leib das Abbröckeln des sozialen Raumes. Wer innerlich damit nicht bereit ist zu sterben, gerät in eine Zerreißprobe. Dies ist womöglich die eigentliche Quelle von Krankheiten: Der Funktionsträger ist mit sich selber uneins; er versucht gegen den Strom zu schwimmen, sich örtlich und statisch in Beziehungen fest verankern zu lassen, während die Beschleunigung des sozialen Raumes ihn und sie wie Häuser im Sand wegspült« (Lobo, 1992, S. 108).

Abschließend kann man sagen, dass die zentrifugalen Kräfte wie ständige Verfügbarkeit und Präsenz in der Arbeitswelt mit den Anforderungen hoher Mobilität mit dadurch bedingter Vereinzelung und geringerem Zusammenhalt sowie schwächerer Bindung in den Industriegesellschaften stärker sind als die zentripedalen Kräfte wie Gemeinschaft, Zusammenhalt, Einbettung in ein soziales Netzwerk und Fürsorge sowie Zeit zum Wachsen und Gedeihen (s. Tab. 2). Die Coronapandemie bietet eine Chance, diesen Aspekt unseres Lebens zu reflektieren und eine tiefere Wandlung hin zu einem lebens- und kinderfreundlichen Alltag zu finden.

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Tabelle 2: Kräfte moderner Gesellschaften Beispiele für zentrifugale Kräfte

Beispiele für zentripedale Kräfte

Schichtarbeit: 20 % der Bevölkerung arbeiten im harten 3-Schicht-Betrieb

Zusammenhalt, Gemeinschaft

Anpassung an hohe Mobilität: z. B. Piloten, LkwFahrer, Führungskräfte sind moderne Nomaden

Stabilität von Beziehungen

Konkurrenzkampf und hoher Anpassungsdruck: unsichere Arbeitsplätze, ständiger Wechsel und Anpassung an Takt der Maschinen sowie Geräte (PC u. a.)

Einbindung in soziale Netzwerke: Familie, Freundeskreis, Kommunen

Ständige Erreichbarkeit als Erfordernis der digitalen Welt

Zeit zum Wachsen und Gedeihen, Rhythmisierung des Lebens: Nähe und Distanz, Aktivität und Ruhe

Zur Dynamik von Gesellschaftssystemen und physiologischen Abläufe des Individuums Der Kontakt zu unserer inneren sowie äußeren Natur ist fragwürdig geworden. Wir sind dabei, unsere Lebensgrundlagen zu zerstören, da wir unser Gefühl dafür verloren haben, ein Teil dieser Natur zu sein. Wir können nur schützen, was wir auch kennen. Maschinen und das Internet sowie eine zunehmend digitalisierte Welt bestimmen unser Leben. Eine junge Frau, die ihr Kind stillt, schaut auf einer App nach, welche Brust zum Stillen »dran« ist. Die Erfinder dieser App zum Stillen verdienen an dieser jungen Frau. Gesundheitsförderung wäre aber, diese junge Mutter in ihrer Körperwahrnehmung und in ihrem Selbstvertrauen zu stärken. Dies ist nur eines von vielen Beispielen, wie weit Menschen von ihrem Körpergefühl entfernt sein können und sich nicht mehr auf ihr Gefühl verlassen. Ein weiteres Beispiel ist das ständige Online-Sein, um nur ja keine Nachricht zu verpassen. So beobachte ich viele junge Mütter, die ständig auf ihr Handy schauen, während sie die Signale ihres Kindes im Kinderwagen nicht mehr wahrnehmen. Welche Auswirkungen diese Erfahrung auf die Kommunikationsfähigkeit und Selbstwahrnehmung der Kleinkinder haben kann, hat Spitzer (2018) dargestellt. Diese Beispiele zeigen, dass unser Körpergefühl zunehmend entfremdet wird und von externen Einflüssen bestimmt ist. Wie die über 3000 Jahre alte Marma-Lehre und Āyurveda als Lehre vom gesunden Leben in unsere heutige, hoch komplexe, verkopfte und schnelllebige Zeit übertragen werden können, soll hier beschrieben werden.

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Schmerz und Zeit in der Marma-Lehre des Suśruta (Lobo, 2001, S. 235) Beim Thema Kinderwunsch zeigt sich besonders deutlich, dass gesellschaftliche Ursachen mitgesehen werden müssen und es keine Trennung zwischen Körper und Psyche gibt. Hier kann die āyurvedische Sichtweise der Chirurgenschule des Suśruta eine Lösung bieten: »Der Körper des Menschen ist ein bewegtes System innerhalb eines größeren, gesellschaftlich sich bewegenden Systems und innerhalb von kosmischen Abläufen, die man in ihrer Gesamtheit Natur nennt. Es ist nicht möglich, den Körper, der letztlich das Bewusstsein des einzelnen von sich und seiner Bewegung in diesen Systemen bedingt, losgelöst von den Systemen zu betrachten. Es ist auch nicht möglich, die Einflüsse der Natur oder der Gesellschaft auf den Körper des einzelnen für sich allein (das heißt ohne die Äußerungen des Körpers darauf) zu ermitteln« (Lobo, 2001, S. 235).

Die Trennung von Subjekt und Objekt muss daher bei der Betrachtung des Massenphänomens »ungewollte Kinderlosigkeit« aufgegeben und eine mehrdeutige Perspektive eingenommen werden. Dazu gehören neben der biologischen, medizinischen und psychologischen Sichtweise auch der soziale und gesellschaftliche Kontext, in denen das Paar mit Kinderwunsch steht.

Einfluss des Rhythmus auf die Fruchtbarkeit Da der Tag-Nacht-Rhythmus und der Körpertemperaturrhythmus voneinander abhängig sind und die Fruchtbarkeit beeinflussen, soll an diesem Beispiel die Sichtweise des Āyurveda dargestellt werden. Die Temperaturregulation wird im Āyurveda als Mond-Feuer des Körpers bezeichnet. Dies hat eine stärkere weibliche Komponente, da die Zyklen der Temperatur stärker mit dem Umlauf des Mondes gekoppelt sind. Der Schlaf-Wach-Rhythmus wird als Sonnen-Feuer des Körpers bezeichnet. Im Sommer ist das Sonnen-Feuer durch die Länge der Sonne am Tag stärker als das Mond-Feuer, im Winter ist dies durch die längeren Nächte umgekehrt (Lobo, 2001, S. 123). Gesellschaftsbedingte Faktoren wie Kunstlicht und Bildschirmpräsenz verstärken die Sommerrepräsentanz auch im Winter. Die Erholungszeiten werden verkürzt, ebenso wird die Dominanz des Mond-Feuers zurückgedrängt. Die Körperwaage wird gestört. Eine Stewardess, die Langstreckenflüge begleitet, berichtete mir in einem Gespräch, dass ihr monatlicher Zyklus durch die Zeitverschiebungen nicht mehr

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regelmäßig ist. Die Regelung erfolgt dann durch die Pille. Aus der Sicht des Āyurveda würde man dies als Störung des Mond-Feuers bezeichnen. Die Einführung der Pille in den 1960er Jahren führte zu einem deutlichen Rückgang der Geburten in den 1970er Jahren. Frauen konnten zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit selbst bestimmen, wann und wie viele Kinder sie bekommen wollten. Eine Befreiung vom Joch ungewollter Schwangerschaften! Messungen von R. Lobo haben ergeben, dass die Einnahme der Pille die Fähigkeiten zur Selbstregulation beeinflusst. Es wäre sinnvoll, dies als »Nebenwirkung« zu berücksichtigen. Könnte es sein, dass eine der »Nebenwirkungen« der Pille die Reduzierung des Gefühls für unsere fruchtbaren Tage ist? MarmaYoga® schult die Sensibilität für Körperempfindungen. Wir können dann immer noch selbst entscheiden, ob wir diese Nebenwirkungen in Kauf nehmen oder nicht. Eine echte, freie Entscheidung!

Einfluss auf die Zeugungsfähigkeit Eine Studentin (24 Jahre) antwortete auf meine Frage, ob sie eine Familie gründen möchte: »Ich weiß nicht, ob ich bei den Umweltbedingungen Kinder guten Gewissens in die Welt setzen kann.«

Dies zeigt die Ängste einer Generation, die in weltweiten Demonstrationen deutlich macht, dass sie ihr Recht auf eine Lebensperspektive auf dem Planeten Erde einfordert. Die Ursache von ungewollter Kinderlosigkeit liegt zu ca. 35 % bei der Frau, zu 35 % beim Mann, zu 20 % bei beiden und bei 10 % ist die Ursache unklar. Die Spermienzahl nimmt seit den 1970er Jahren bei den Männern aus westlichen Industrienationen deutlich ab. Wissenschaftler der Hebräischen Universität Jerusalem haben 2017 in einer umfangreichen Analyse den Rückgang der Spermienzahl bestätigt (Ärzteblatt, 2017). Über die Ursachen wird allerdings spekuliert. Wichtig sind bei einer Befruchtung aber auch die Beweglichkeit und die morphologische Qualität der Spermien. Die Produktion der Spermien wird durch den Hypothalamus und die Hypophyse beeinflusst. Bei Stress oder Übergewicht produzieren die Hoden deutlich weniger Spermien. Auch Hodenkrebs und seine Behandlung können die Spermienqualität beeinflussen. Ebenso stehen bestimmte Chemikalien wie z. B. DEHP, die in Plastikprodukten als Weichmacher enthalten sind, im Verdacht, die Spermienqualität zu beein-

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flussen. Daher darf innerhalb der EU die Industrie DEHP seit 2015 nicht mehr ohne spezielle Zulassung verwenden. Mangelnde Bewegung, Hitze, Rauchen und Alkohol reduzieren die Fruchtbarkeit des Mannes ebenfalls. Nicht zuletzt spielt auch bei Männern das Alter eine Rolle. Die Ursachen des Rückgangs der Spermienqualität und die Veränderungen in der Morphologie sind multikausal. Es wäre daher wünschenswert, wenn auch psychosoziale Faktoren und die Reaktion des Individuums auf Stress, die Einbeziehung der Chronobiologie und die Sichtweise des Āyurveda bei Studien Berücksichtigung finden würden. Eine multikausal bedingte Störung sollte mit einer multiprofessionellen Sichtweise beobachtet und erforscht werden.

Verantwortung der Medien Mitverantwortlich für die Verschiebung der Elternschaft in eine spätere Lebensphase ist auch der von den Medien vermittelte Machbarkeitswahn. Berichte über scheinbar problemlose Schwangerschaften von Frauen, die beruflich alles erreicht haben und sich jetzt im Lebensalter von vierzig oder sogar fünfzig Jahren ihren Kinderwunsch erfüllen können, täuschen über die tatsächliche Situation hinweg. Dass viele dazu die Reproduktionsmedizin in Anspruch nehmen und auch hier die Schwangerschaftsrate vom Alter der Frau abhängig ist, wird verschwiegen. Ebenso wird verschwiegen, dass es für viele Frauen und Paare ein oft ein langer, leidvoller Weg mit einer nicht unerheblichen psychischen, körperlichen sowie Belastung der Paarbeziehung ist. Ebenso wird nicht oder nur am Rande erwähnt, dass eine nicht unerhebliche Zahl der Paare trotz mehrerer Behandlungen über viele Jahre hinweg kinderlos bleibt. Bei der künstlichen Befruchtung werden ein bis zwei Embryonen in die Gebärmutter eingesetzt.Die Geburtenrate lag im Durchschnitt pro Embryotransfer 2019 bei 23,5 %, die Schwangerschaftsrate lag 2018 bei 32,2 %. Die Schwangerschaftsrate pro Embryotransfer nimmt ab dem dreißigsten Lebensjahr langsam und kontinuierlich ab. Mit Mitte dreißig liegt sie bei knapp 35 %, über vierzig unter 19 % pro Embryotransfer. Während mit dreißig Jahren 31 % der Frauen nach einem Embryotransfer ein Kind gebären, liegt die Rate mit 35 Jahren bei 26,7 % und mit vierzig Jahren nur noch bei 13,2 %. Ab dem vierzigsten Lebensjahr nimmt die Geburtenrate deutlich ab, während die Fehlgeburtenrate zunimmt (Deutsches IVF-Register 2018/2019). Kinderwunschpaare befinden sich oft jahrelang in einer Kinderwunschbehandlung, wechselnd zwischen Hoffnung und Resignation. Der Kinderwunsch nimmt von ihrem Leben Besitz, die Abhängigkeit von der Reproduktionsmedizin steigt, während für Eigeninitiative, das Vertrauen in sich und für das

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Reflektieren der eigenen Bedürfnisse kaum noch Raum bleibt. Es stellt sich die Frage, ob ein Kind um jeden Preis sinnvoll ist.

Möglichkeiten zur Gesundheitsförderung Gesundheitsförderung ist in der Ottawa-Charta von 1986 definiert als Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie dadurch zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen. Bereits 1986 stellte die WHO folgende Kriterien zur Gesundheitsförderung fest: »Gesundheit wird von Menschen in ihrer alltäglichen Umwelt geschaffen und gelebt: dort, wo sie spielen, lernen, arbeiten und lieben. Gesundheit entsteht dadurch, dass man sich um sich selbst und für andere sorgt, dass man in die Lage versetzt ist, selber Entscheidungen zu fällen. Füreinander Sorge zu tragen, Ganzheitlichkeit und ökonomisches Denken sind Kernelemente bei der Entwicklung von Strategien zur Gesundheitsförderung« (Ottawa-Charta, 1986).

Nach diesen Vorgaben heißt Gesundheitsförderung, die Lebens- und Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass Kinder in der Lebensplanung zu jeder Lebenszeit einen natürlichen Platz finden, dass das Leben mit Kindern stressfrei möglich ist, Böden sowie Wasser auf für die Fruchtbarkeit schädliche Stoffe untersucht werden und Gesetze zum Schutz der Fruchtbarkeit erlassen werden müssen. Folgende Anregungen zur Förderung der reproduktiven Gesundheit seien hier beschrieben: Ȥ Analyse und Aufbau von Strukturen der Lebens- und Arbeitsbedingungen, die eine Geburtenrate fördern, Beispiel: Etliche Hochschulen werben mit dem Label »Gesundheitsfördernde Hochschulen«, aber die Förderung von Vereinbarkeit von Studium und Kindern ist bisher kein Thema. Ȥ Förderung stabiler, persönlicher Bindungen durch Förderung von Gemeinschaften. Ȥ Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen in Richtung Kinder- und damit Lebensfreundlichkeit, Stärkung und Wertschätzung der zentripedalen Kräfte zur Erhaltung der Stabilität der Gesellschaft. Ȥ Aufklärung von Jugendlichen und jungen Menschen über die Zeiten der Fruchtbarkeit und den komplexen Vorgang der Befruchtung sowie sexuell übertragbare Krankheiten, welche die Fruchtbarkeit beeinträchtigen können, z. B. Chlamydieninfektionen. Ȥ Förderung von Selbsthilfegruppen.

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Gesundheitsförderung aus der Sicht des Marma-Yoga® und Āyurveda Lobo als Vertreter eines »Ur-Yoga« weist darauf hin, dass wir ein Bollwerk gegen die Tendenzen des immer bedrohlicher werdenden eigenen Identitätsverlustes sowie die daraus resultierende Verkümmerung und Verarmung von Lebensgemeinschaften setzen müssen. Yoga ist nach diesem Verständnis eine körperliche Technik der Selbstbehauptung und Selbstverwirklichung, welche die Lebenslust stärkt. Sie pflegt die »Kultur der Liebe« und das Ideal der Bejahung der wahren Liebe mitten in den Sorgen des Alltags. In der Risikobereitschaft der Liebe steckt ihr gesundheitsförderndes und kreatives Potential. Dies körperlich erfahrbar zu machen, war und ist das Ziel des Yoga gewesen (Lobo, 2004, S. 1). Durch die Planbarkeit einer Schwangerschaft schieben Paare oft den Kinderwunsch hinaus, bis alle äußeren Bedingungen »optimal« sind, statt sich der Risikobereitschaft der Liebe hinzugeben. Marma-Yoga® dient dazu, die Signale des Körpers zu erkennen.

Wichtige Signale bei Paaren mit Kinderwunsch 1. Prüfung der Temperaturregulation Rektale und orale Messungen der Körpertemperatur morgens und abends sind ein Maß für die Aktivität des Kühlzentrums und ein Maß der Speicherkapazität der erzeugten Wärme durch die »Kühleinrichtungen« des Körpers. Dabei gibt es Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Das Verdauungsfeuer der Frauen ist mehr mit dem Rhythmus des Mondes gekoppelt, sie reagieren daher mit einer verstärkten Zurücknahme der Enddarmtemperatur. Die Temperaturregulation ist eher mit einem »Pufferspeicher« vergleichbar. Männer reagieren bei Zunahme des Lichts (morgens) eher mit einer stärkeren Zurücknahme der Enddarmtemperatur, was durch eine verstärkte Aktivität der Skelettmuskulatur ausgeglichen wird. Die Temperaturregulation ist eher mit einem »Durchlauferhitzer« vergleichbar. Diese Messungen können Hinweise auf die inneren Spannungen in der Regulation des Körpers geben. Sind sie starr oder lebendig? Abhängig ist dies von der Prakriti1 (Lobo, 2001, S. 54) des Individuums und seinem Ort im sozialen Raum. 1

Prakrti bedeutet die individuelle Natur eines Menschen. Diese zeigt sich für andere in dessen Verhalten.

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2. Übungen zum Test von Kraft/Zeit Diese zeigen an, ob das Individuum über seine Kräfte lebt. Haben wir zu wenig Kraft, um die Arbeit in der Zeit zu bewältigen, dann kommen wir unter Druck. Es entsteht Stress. Ausgleichen kann man dies, indem wir die Kraft stärken oder das Gefühl für Zeit dehnen. Dauerstress kann die Fruchtbarkeit reduzieren. 3. Sensibilisierung für die Tag- und Nachtqualität Fragen an das Paar zur Förderung der Sensibilisierung des Körperempfindens: Ȥ Welche Körperempfindung habe ich zu welchem Tageszeitpunkt? Ȥ Morgens und abends: müde/wach, schwer/leicht, warm/kühl? Ȥ Wie ist der eigene Stand in seiner/ihrer Umgebung? Ȥ Wie ist der Lebensrhythmus von ihr, von ihm? Ȥ Wie sind Aktivität und Ruhepausen im Alltag verteilt? 4. Übungen zur Hingabe Sie stellen die Frage nach der inneren Bereitschaft zum bedingungslosen Geben und Nehmen und sollen die Risikobereitschaft des Individuums testen. Ȥ Wie reagiert die eigene Prakriti (Natur) auf die Anforderungen der Umgebung? Ȥ Welche Ungleichheiten zeigt mir mein Körper in Form von Schmerz an den Marmas? Ȥ Wie gehe ich mit dem Phänomen der Unfruchtbarkeit um? Ȥ Wie gehe ich mit dem Schmerz der ungewollten Kinderlosigkeit um?

Gesundheitsförderung des Individuums aus salutogenetischer Sicht Ȥ Wie stellen sich beide ein Leben mit Kindern vor? Ȥ Welche Bedürfnisse soll ein Kind erfüllen, die Frau/Mann sich nicht selbst erfüllen kann? Ȥ Welche unrealistischen Glückserwartungen verbindet das Paar mit einem Kind? Ȥ Welche anderen Perspektiven gibt es für ein »fruchtbares«, sinnerfülltes Leben? Ȥ Viele Paare bleiben trotz mehrerer Versuche künstlicher Befruchtung kinderlos. Für sie stellt sich die Frage nach der Versöhnung mit dem, was ist, und nach anderen Möglichkeiten einer Sinnerfüllung.

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Ȥ Was kann für uns stimmig sein? Z. B. Adoption, Pflegeelternschaft, Engagement in Vereinen, die sich für Kinder engagieren, oder ein ganz eigener Weg.

Schlussbemerkung Eine Gesundheitsförderung im Sinne einer Schaffung gesundheitsförderlicher Lebenswelten heißt, alle Organisationsstrukturen für Kinder besser einzurichten, zentripedale Kräfte zu stärken und ihnen eine höhere Wertschätzung zukommen zu lassen. Die Beschleunigung aller Lebenswelten greift tief in unsere biologischen Rhythmen ein und ist ein Kampf gegen die Natur und letztendlich auch gegen uns selbst. Die Coronakrise kann, bei allen Belastungen wie Existenzängsten, Arbeitslosigkeit, hoher Verunsicherung usw., eine Chance sein, den rein materiell orientierten Erfolgsweg kritisch zu sehen, da er uns keinerlei wesentliche Inhalte oder auch Überlebensstrategien anzubieten vermag. Spüren wir nach, was wir wirklich brauchen, und machen wir uns unabhängiger von den Konsumverführungen, die vor allem den Großkonzernen Geld in die Kassen bringen, welche sich aber keinerlei sozialer Verantwortung verpflichtet fühlen. Ein Umdenken in allen Bereichen ist notwendig. Dies ist dann erreicht, wenn Veränderungen auf vielen Ebenen erfolgen: Stärkung von sozialen Netzwerken, z. B. Nachbarschaftshilfe, Bürgerinitiativen in Stadtteilen, die sich mit alternativen Wohnformen wie Mehrgenerationenhäusern beschäftigen, Bildungseinrichtungen, die sich mehr um die Entwicklung emotionaler Stabilität und Sozialkompetenz ihrer Schüler kümmern, Menschen mit Lebenserfahrung, die sich als »Leih-Omas und -Opas« zur Verfügung stellen, und Mieten, die für Familien bezahlbar bleiben (Erdle, 2008, S. 30). Lernen wir, dass wir Teil der Umwelt sind, und nehmen wir uns die Zeit, uns rückzubesinnen. Marma-Yoga® bzw. BUGY-Yoga können uns unterstützen, unsere Identität zu wahren und Lebensängste zu nehmen sowie Lebenskrisen wie eine ungewollte Kinderlosigkeit zu meistern. Hoffnung gibt mir die junge Generation, die sich weltweit gegen die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen wehrt und in vielen verschiedenartigen Lebensgemeinschaften eigene Wege gegen die Vereinzelung sucht und lieber auf Geld verzichtet, statt sich in einer 60-Stunden-Woche aufzuarbeiten. Bei der inzwischen überwiegend weiblichen Medizin ist bereits ein Wandel bemerkbar. Krankenhäuser, aber auch die ambulanten Versorgungssysteme werden dazu gezwungen, Arbeitsstrukturen zu schaffen, die eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf möglich machen, damit sie ärztliches Personal bekommen und halten können.

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Literatur Erdle, B. (2008). Kind ade – Einige Überlegungen zu sozialen und gesellschaftlichen Ursachen von Kinderlosigkeit. In: D. Kleinschmidt, P. Thorn, T. Wischmann (Hrsg.), Kinderwunsch und professionelle Beratung. Das Handbuch des Beratungsnetzwerkes Kinderwunsch Deutschland (BKiD). Stuttgart: Kohlhammer. Lobo, R. (1987). Yoga-Elementarkurs. Bd. 6. München: Huber-Holzmann. Lobo, R. (1992). Horizont der Amphidromie. Lissabon: Instituto Piaget/München: Institut für Gesundheitspädagogik. Lobo, R. (2001). Grundlagen des Āyurveda. Institut für Gesundheitspädagogik. München und Palmela: Editora Pantainos. Lobo, R. (2004). Yoga-Elementarkurs. Bd. 3 und Bd. 6. Palmela: Editora Pantainos. Sennett, R. (2000). Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. München: btb. Spitzer, M. (2018). Die Smartphone-Epidemie. Gefahren für Gesundheit, Bildung und Gesellschaft. Stuttgart: Klett-Cotta.

Internet https://www.destatis.de, Geburtenstatistik 2018, S. 49 ff. (Zugriff am 10.06.2021). Ärzteblatt. (2017). »Spermienzahl sinkt vor allem in westlichen Ländern«. https://www.aerzteblatt. de/nachrichten/77209/Spermienzahl-sinkt-vor-allem-in-westlichen-Laendern. 25.07.2017 (Zugriff am 05.07.2021). Deutsches IVF-Register. (2018/2019). https://www.deutsches-ivf-register.de (Zugriff am 10.06.2021). Geburtenstatistik (2018). http://www.destatis.de (Zugriff am 10.06.2021). Ottawa-Charta (1986). https://www.euro.who.int (Zugriff am 10.06.2021).

Birgit Erdle (*1960) ist Yoga-Trainerin mit über dreißig Jahren Berufserfahrung. Sie hat Abschlüsse als MTA (medizinisch-technische Assistentin), als Diplom-Medizinpädagogin (Humboldt-Universität Berlin); Gesundheitspädagogin (KSI – Körperorientierte Soziale Intervention an der FH für Sozialpädagogik, München), Yoga-Lehrerin BUGY. Berufliche Erfahrungen: Fachlehrerin für Hämatologie an der Akademie für medizinische Fachberufe der Universität Ulm; Mitarbeiterin der psychiatrischen Praxis Albert Pröller in Dillingen a. d. Donau; Lehraufträge im BFZ Augsburg und an der Dualen Hochschule in Heidenheim. Organisatorin der Dillinger Initiative Depression; Projektorin zur beruflichen Gesundheitsförderung in der Kreisklinik Dillingen a. d. Donau; Yoga-Kurse mit Kindern in Augsburg und in der Förderschule in Ursberg. Auch engagiert sie sich im Gemeindepsychiatrischen Verbund des Landkreises Dillingen a. d. Donau als Vertrauensperson und Leitung des AK Kinder- und Jugendpsychiatrie, 1. Vorsitzende des Kinderschutzbundes KV Dillingen a. d. Donau. Kontakt: Praxis für Gesundheitsförderung, Große Allee 28, D-89407 Dillingen a. d. Donau, Tel.: 09071-728560, www.birgit-erdle.de.

Im Blut getroffen sein Benedikta Hirsch

Ich bin Krankenschwester und Marma-Yoga®-Lehrerin von Beruf. Als ich als Gemeindekrankenschwester tätig war, fuhr ich mit dem Auto von einer Stadt zu einem Dorf, von Ortsteil zu Ortsteil, von Straße zu Straße, um kranke Menschen in ihrer gewohnten Umgebung zu versorgen. Manche der kranken Menschen lebten bei ihren Angehörigen, andere lebten allein. Haustürschlüssel für verschiedene Wohnungen und Häuser, zu denen ich fuhr, baumelten an meinem Schlüsselbund. Ich stieg ins Auto, startete den Motor, beschleunigte, bremste, hielt an, stieg aus. Ich stand stetig unter dem Sog von Beschleunigung und Bremse (Lobo, o. J.). Mein Körper empfand das Gasgeben, das Bremsen, das Anhalten, das Ein- und Aussteigen als ein ständiges Auf-dem-Sprung-Sein. Zusätzlich gefördert wurde dieses Empfinden durch die exakten Zeitvorgaben der Krankenkassen. Für jede ärztliche Verordnung und für die körperliche Pflege kranker Menschen gab es exakte Zeitvorgaben. Diese Minutentakte waren meines Erachtens nicht auf die verlangsamte Motorik eines alten Menschen abgestimmt. Zudem gab es immer wieder überraschende Vorkommnisse in der Pflege, die nicht eingeplant waren. Auch mir persönlich als Krankenschwester waren die äußeren Zeitgeber Krankenkasse und Arbeitgeber zu schnell, was meinen persönlichen Zeit­rhythmus und meine innere Uhr betraf. Zum Beispiel gaben die Krankenkassen uns Pflegenden eine Zeitvorgabe von sieben Minuten für eine Insulinspritze. Wenn ich keinen Haustürschlüssel von der Wohnung besaß, hieß das: klingeln, lange warten, bis mir der zu versorgende, in der Regel alte Mensch die Tür öffnete, dann Begrüßung, Erkundigung nach dem Befinden von Herrn A. oder Frau B., Desinfektion der Hände, Aufziehen der Spritze, Desinfektion der Hautstelle, Injektion, Versorgen der Nadeln und Spritze in dafür vorgesehenen Behältern, Eintragung in die Patientenmappe mit Angabe des Datums, der Zeit, der Tätigkeit, besonderer Vorkommnisse und meiner Unterschrift, Verabschiedung von Herrn A. oder Frau B., falls sie kein weiteres Anliegen zum Besprechen auf dem Herzen hatten, abschließend Desinfektion der Hände. Einmal versorgte ich eine alte, blinde Frau, die meine erhöhte Aufmerksamkeit brauchte. Sie war sehr eigenwillig und eine Herausforderung für mich. Über

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Berührung und durch ruhige, wertschätzende, humorvolle Kommunikation gelang es mir, ihr Vertrauen zu gewinnen. Wir entwickelten uns beide zu einem gut eingespielten Team. Ich erinnere mich an eine Pflegesituation mit dieser blinden Frau und meiner damaligen Pflegedienstleiterin, die uns Pflegende einmal jährlich während des Dienstes begleitete. An diesem Tag war es zwischen der zu versorgenden Frau und mir während der Pflege gut geflossen. Ein gutes Fließen bedeutet für mich in der Pflege, dass das Miteinander von Pflegendem und dem zu versorgenden Menschen für beide erfüllend verläuft. Das heißt: ohne Stockungen, sowohl kommunikativ als auch von der Pflegetätigkeit her. Ein blinder Mensch verlässt sich ausschließlich auf seinen Gehör- und Tastsinn, um sich im Raum zu orientieren. Das Orientierungsinstrument Auge fehlt gänzlich. Natürlich wusste dies meine Chefin genau so gut wie ich. Trotzdem sagte sie bezüglich dieser Pflegesituation später zu mir: »Sie haben einen Pflegeauftrag und keinen Kommunikationsauftrag.« Sie sprach damals zu mir aus der Sicht wirtschaftlicher Interessen, bei denen es vom Tempo her keine Unterschiede zwischen blinden und sehenden Menschen gibt, sondern nur eine genormte Zeit. Ich befand mich zu jener Zeit in dem Spannungsfeld von Krankenkassen, meinem Arbeitgeber, Angehörigen, Ärzten, den zu versorgenden, kranken Menschen und meinen eigenen rhythmischen Bedürfnissen. Jeder wollte gehört, gesehen und verstanden werden. Jeder wollte auf seine Kosten kommen, wirtschaftlich und emotional, auch ich. Zudem wurde in dieser Zeit das Qualitätsmanagement eingeführt, das mehr Qualität auf dem Papier als in der tatsächlichen Praxis bewirkte. Bei einem Anspruch des immer Schneller-, Besser- und Mehr-sein-Wollens in der Pflege und dem gleichzeitigen Wegrationalisieren von Pflegepersonal war dies mein Pflege­alltag. Das Ansprechen meiner zeitlichen Überforderungssymptome in der Dienst­besprechung änderte nichts an der Pflegesituation für mich als Krankenschwester. Ich empfand unser Gesundheitssystem zunehmend als ein krankes System, in dem ich zu funktionieren hatte und in dem ich nur noch funktionierte. Zwischen Antrieb und Bremse empfand sich mein Körper im Bereich der Elementarhorizonte Feuer und Erde gemäß der āyurvedischen Mahābhūta-Lehre stark hin und her gerissen (Lobo, 2001, S. 88 ff.). Einerseits erwartete unser Arbeitgeber von uns Pflegenden ein beschleunigtes Arbeiten in der Pflege, andererseits spürte ich von Seiten der alten, zu betreuenden Menschen einen starken Sog zum Langsamer-Werden. Zudem stand ich als Pflegende häufig in einem Spannungsfeld zwischen den kranken Menschen und deren überforderten Angehörigen. Marma-Yoga® half mir in jener Zeit, mein Sādhaka-Pitta, dessen Ort das Herz ist (Lobo, 2007, S. 134 f.), lange aufrechtzuerhalten. Ich unterrichtete zu diesem Zeitpunkt einmal in der Woche eine Yoga-Gruppe. Die Teilnehmer*innen litten wie ich an der zunehmenden Beschleunigung der Arbeitswelt. Wir übten

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vorwiegend zurücknehmende, passivierende Yoga-Haltungen im Sitzen und im Liegen. Ich selbst sprach offen in der Gruppe meine beschleunigten Körpermerkmale an. Meine Kursteilnehmer*innen lernten, sich ebenfalls über ihre momentanen Lebenssituationen offen zu äußern. Wir reflektierten diese Situationen gemeinsam in der Gruppe. Sādhaka-Pitta ist das Pitta der menschlichen Begegnung, das Feuer des Herzens. Für mich bedeutet dies Begeisterung und Hingabe bei der menschlichen Begegnung auch im Beruf. Jedoch hat die Kraft des Herzens eines jeden Menschen seine Grenzen, und nährende, ruhige, langsame Erholungsphasen sind lebenswichtig für das Herz. Ansonsten fühlt sich das Herz leer an. Ich fühlte zunehmend Leere in mir, was meinen Dienstalltag betraf. Wenn ich geteilten Dienst hatte, also frühmorgens bis zum Mittag oder frühen Nachmittag und vom späten Nachmittag bis spät abends arbeitete – neun bis zwölf Stunden insgesamt, je nachdem wie viele Menschen zu versorgen waren –, überlegte ich mir in der Mittagspause, je nach noch verfügbarer Zeit, nämlich ein bis drei Stunden: »Dusche ich jetzt, lege ich mich zum Ausruhen hin oder koche ich mir ein Essen?« Für alle drei Bedürfnisse war ich häufig zu müde. Durch das regelmäßige Ausführen von Yoga-Übungen gelangte ein Schlüsseltraum aus meinem Unbewussten in mein Tagesbewusstsein. Was ich mir und meinem Körper tatsächlich antat und was ich mit ihm machen ließ, wurde mir mithilfe dieses Traums und erst Wochen danach durch die Symptomatik meines Körpers bewusst. Vier Wochen bevor mein Körper deutlich mit Überforderungssymptomen reagierte, träumte ich einen Traum, in dem sich die Täter-Opfer-Dynamik in meinem Leben deutlich zeigte: Ich stand mit einigen anderen in einem großen Fluss oder Meer, wo wir unter Befehl Adolf Hitlers Menschen quälen mussten. Wir hielten deren Köpfe unter Wasser, bis sie ertranken. Die SS säbelte danach die Köpfe der Menschen ab. Ich hatte bereits einen Menschen gequält und nahm mir jetzt vor, mich zu entscheiden. Ich ging in das Zimmer, in dem Hitler in einem Krankenbett mit weißer Bettwäsche lag und einen Mittagsschlaf hielt. Er schlief und war gut zugedeckt, sodass ich seinen Kopf und seinen Körper zunächst nicht sah. Ich fasste Mut und rief laut: »Herr Hitler!« Er öffnete seine Augen. Ich sprach zu ihm: »Ich werde ihren Befehl, Menschen zu quälen und zu töten, nicht mehr ausführen. Sie können, wenn Sie wollen, mich selbst ertränken. Ich selbst bin nicht mehr gewillt, dies anderen anzutun.« Er reagierte zu meinem Erstaunen nicht wütend. Seine hellblauen, glasklaren Augen sahen mich ruhig an. Nachdem er aus dem Krankenbett gestiegen war, umarmten wir uns freundschaftlich.

Dieser Traum beeindruckte mich zutiefst. Ich werde ihn mein Leben lang in Erinnerung behalten. Erst als sich mein Körper von Pfeilen getroffen meldete, konnte

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ich diesen Traum klar zuordnen. In seiner Marma-Lehre spricht der indische Chirurg Suśruta im übertragenen Sinn von Pfeilen, welche vitale Stellen – Marmas (insgesamt 107) – im Körper in verunsichernden Lebenssituationen treffen, wenn sich der Körper nicht rechtzeitig zu schützen vermag. Diese Pfeile verändern das Bewusstsein für Zeit und Rhythmen: Wachen und Schlafen – Aktivität und Passivität. Jedes Marma hat eine Zeitstruktur und eine Gewebestruktur. Bei Verletzung entwickeln sich Veränderungen an den Gelenken, in der Muskulatur, im Blutkreislauf, an den Sehnen, an den Knochen (Lobo, 1990, S. 108 ff.). Durch Pfeile war mein Lebensfluss inzwischen blockiert. Je länger ich unter den oben beschriebenen Voraussetzungen arbeitete, umso weniger koordiniert nahm ich selbst meine Bewegungen während des Dienstes wahr. Nach den Diensten kam ich zunehmend erschöpft und ausgelaugt nach Hause. Unmittelbar nach dem Dienst wollte ich häufig von meinem Mann und meinen Angehörigen nicht angesprochen werden. Ich reagierte zunehmend gereizt. Ich benötigte Zeit für mich, um das Erlebte zu verdauen. Nach dem Dienst saß ich manchmal völlig ruhig und regungslos da, starrte eine lange Weile mit angespanntem Gesicht in eine Ecke, bis mir die Tränen kamen. Meine Gesichtszüge entspannten sich wieder. Meine Seele war angekommen. Ich war wieder ansprechbar. Nach der Marma-Lehre im Āyurveda liegt zwischen den äußeren Augenwinkeln (Apangas) und dem Inneren der beiden Nasenflügel (Phanas) der Tränengang. In Alarm- und Stresszuständen wird der Tränenfluss meist durch nervliche Steuerungen von der sympathischen Ganglienkette unterdrückt. Die beiden genannten Marmas sind sogenannte Vaikalyakara-Marmas,1 da sie den Gesichtsausdruck verformen (Lobo, 2001, S. 151, S. 157). Mein Tränenfluss war während des Dienstes unterdrückt. Ich führte den Krankendienst nur noch scheinbar stabil aus. Morgens stand ich gegen fünf Uhr auf. Im Sommer, bedingt durch die Sommerzeit, war dies tatsächlich vier Uhr am Morgen. Yoga praktizierte ich frühmorgens vor dem Dienst dreißig Minuten lang die Beine abwechselnd im halben Lotossitz. Ich führte, während ich auf meine Atmung lauschte, leichte, den Kreislauf anregende Übungen mit den Armen und Händen aus und kombinierte diese mit Kopfbewegungen. Dazu sprach ich in Gedanken eine Affirmation. Diese Übungen kräftigten mich spürbar. Abends führte ich Nāḍhiśoddhana Prāṇāyāma (Lobo, 1990, S. 119), eine Wechselatmungstechnik beider Nasenöffnungen, durch. Meine Mund- und Nasenschleimhäute wurden zunehmend trockener. Meine Nasenflügel schwollen immer mehr an. In der Nase bildeten 1

Nach der Marma-Lehre handelt es sich bei den sogenannten Vaikalyakara-Marmas um Funktionskreuzungen, bei deren Verletzung eher periphere Abläufe gestört oder auch außer Kraft gesetzt werden. Es können Gewebe, Knochen, Nerven oder auch Gefäße betroffen sein. Das Leben als solches ist aber nicht bedroht.

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sich blutige Borken. Zu diesem Zeitpunkt meldeten sich auch die Bṛahtis, die als Größe bezeichneten Marmas, welche zwischen den Schulterblättern lokalisiert sind. Ich konnte mich nicht mehr von innen heraus aufrichten, konnte nicht mehr groß sein. Mein Rücken wurde trotz Yoga-Übungen müde und schlapp. Die Bṛahtis befinden sich an der Schnittstelle des Musculus trapezius mit dem latissimus dorsi, dem breiten Rückenmuskel. Sie zählen zu den sogenannten Blutgefäß-Marmas (Lobo, 2001, S. 161). Meine Augen juckten zunehmend. Ich schlief unruhig. Da ich morgens zunehmend Übelkeit verspürte, frühstückte ich nicht. Ich aß, wenn ich Abenddienst hatte, sehr spät abends. Tatsächlich Appetit verspürte ich morgens um 11 Uhr und früh am Abend um 17 Uhr. Ich wusste täglich vor Dienstbeginn nicht, wann ich tatsächlich zum Essen kommen würde. Es gab immer wieder Überraschungen in der Pflege von alten Menschen. Zu Hause angekommen, schlief ich manchmal erschöpft am Essenstisch ein. Bei stechenden Bauchschmerzen und Verspannungen im Rücken legte ich mich intuitiv zur Selbstregulation in die warme Badewanne und schlief dort ein. Die Sehnen-Marmas stehen nach der āyurvedischen Lehre in direktem Bezug zur Leber. Sie stehen im Zusammenhang mit dem Sog auf den Kreislauf und der Austrocknung des Leibes (Lobo, 2001, S. 160). Eines Tages reagierte mein Körper beim Betten-Überziehen während der Pflege mit einem Riss der Strecksehne meines linken Mittelfingers. Mein Gefühl von Saft im Leib war zu diesem Zeitpunkt schon lange verloren gegangen. Mein verletzter Finger wurde damals geschient. Der Chirurg schrieb mich eine Zeit lang krank. In Übereinstimmung mit der Marma-Lehre zeigten die Sehnen meiner Arbeitsmuskulatur die Grenzen meiner Belastbarkeit an. In der Yoga-Theorie ist die Drehbewegung mit Passivierung assoziiert, die Geradeausbewegung mit Aktivierung. Mein Dienst war so konzipiert, dass ich die Drehbewegungen immer mehr zugunsten von Geradeausbewegungen vernachlässigte. Ich arbeitete ausschließlich zielgerichtet. Gefühle der Leere und des Ausgetrocknetseins in meinem Körper nahmen zu (Lobo, 1987, S. 6). Die āyurvedische Lehre bringt den Zustand der Austrocknung mit dem Sommer, dem Tag, dem Wachzustand und der Überaktivität zusammen. Ich legte während des Dienstes keine Pausen ein, um mich zu erholen. Mehrere Wochen nach dem Strecksehnenriss verspürte ich ein knarrendes Geräusch und starke, anschwellende Schmerzen in meiner linken Brust oberhalb der Brustwarze. Zwei Wochen später empfand ich bei der geringsten Anstrengung starke Atemnot. Bei mir war es nun offensichtlich zu einem Konflikt in den MuskelMarmas des Brustkorbes und der Arme gekommen und diese ermüdeten zunehmend. Die Schnittstelle zwischen dem großen und kleinen Brustmuskel (Musculus pectoralis major der Muskulatur-Oberflächenschicht und Musculus pectoralis minor der Muskulatur-Tiefenschicht) wird als Stanarohitā, als Wachs-

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tum der Brust, in der Marma-Lehre des Suśruta bezeichnet. Ist das Stanarohitā getroffen, ermüdet es und wird schmerzhaft. Dies war bei mir der Fall. Nach der alten Lehre des Suśruta findet diese Bedrohung durch eine Ansammlung von Blut in diesem Marma statt (Lobo, 1990, S. 117, S. 119). Das Stanarohitā koordiniert die rhythmischen Bewegungen der Atmung mit dem Zusammenziehen und Sich-Entspannen der Armmuskeln bei der Arbeit. Das Stanarohitā-Marma gehört von der Gewebestruktur her zu den Muskel-Marmas und vom zeitlichen Aspekt her zu den Kālantara-Marmas. Das heißt, es ist ein Marma, das Dysbalancen im Tag-und-Nacht-Rhythmus anzeigt. Eine Verletzung dieses Marmas fördert »ein langsames Herannahen des Todes« (Lobo, 2001, S. 151, S. 159), wenn es nicht zu Erholungsphasen bei Tag und bei Nacht kommt. Meine Hausärztin vernahm beim Auskultieren mit dem Stethoskop im Herzbereich abnorme Geräusche. Hinzu kamen ein erhöhter Blutdruck und eine Tachykardie (Beschleunigung der Herzfrequenz mit über 110 Schlägen pro Minute in der Ruhephase). Ich war im Blut getroffen. Die Hausärztin überwies mich an einen Internisten, um die abnormen Herzgeräusche abklären zu lassen. Der Internist diagnostizierte mithilfe des Echokardiografen einen Mitralklappenprolaps. Bei einem Mitralklappenprolaps wölben sich während der Systole (Anspannungs- und Auswurfphase des Herzens; das Blut wird aus der linken und der rechten Herzkammer in das Blutkreislaufsystem gepresst) die Anteile der Mitralsegel in den linken Vorhof vor. Blut von der linken Herzkammer läuft zurück zum linken Vorhof, da die Segelklappe ausgefranst ist und nicht richtig schließt. Die Ursache des Mitralklappenprolapses kann, wie mir der Arzt damals erklärte, eine verschleppte Grippe oder angeboren sein. Ich war dem Arzt dankbar für seine klare medizinische Diagnose. Gegen die Schmerzen und die Atemnot empfahl mir der Internist einen Betarezeptorenblocker einzunehmen. Dieses Medikament senkt Puls und Blutdruck. Es blockiert die Wirkung des Stresshormons Adrenalin und des verwandten biochemischen Botenstoffes Noradrenalin. Beide Hormone regen das Herz-Kreislauf-System in Kampfsituationen an, erhöhen Puls und Blutdruck und erweitern die Bronchiolen. Durch Yoga sensibilisiert, wollte ich jedoch keine symptomatische Behandlung an mir vornehmen. Ich beschloss, meine klaren körperlichen Empfindungen zu bewahren. Ich wollte die weise Reaktion meines Körpers nicht durch ein Medikament ausschalten. So klar konnte ich Gott sei Dank noch sehen. Im Yoga heißt es, dass schmerzhafte Pfeile auf Marmas treffen und der Lebensfluss dadurch blockiert wird. Wenn mich ein Pfeil trifft, kann ich nicht mehr klar sehen. Vaidya heißt übersetzt Sehen ohne Blockierungen und dieser Begriff wird für den erfahrenen āyurvedischen Arzt benutzt. Die Aufgabe eines

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traditionellen Arztes im Āyurveda ist es, dem Patienten Wissen um den Zusammenhalt des Körpers und des Lebens zu vermitteln und ihm so zu diesem Sehen ohne Blockierungen zu verhelfen. Auf meine Bemerkung hin, dass meine körperlichen Symptome Ausdruck einer Überforderung in der Pflege seien und mein Körper sich daher psychosomatisch äußere, reagierte der Internist mit einem Achselzucken. Er war rein schulmedizinisch ausgebildet. Zu meinen Atembeschwerden gesellten sich damals bereits traurige Verstimmungen. Aus der Sicht der Pitta2-Theorie des Āyurveda ist dabei das Prāna, das Prinzip des Selbststandes bzw. der Identität, gestört (Lobo, 2001, S. 252). Dies macht sich in der Atmung bemerkbar. In der Zeit der starken Atemnot, der Schmerzen im Herzbereich, gepaart mit meiner Trauer, fühlte ich mich dem eigenen Tod körperlich sehr nahe. Mir wurde bewusst, dass mein körperliches Leben begrenzt ist. »Das Wort Marma kommt von der Wurzel Mṛ, Sterben, und bedeutet so viel wie eine Stelle unseres lebendigen Körpers, in welchem der Horizont des Tötens im Augenblick der Gefahr aufleuchtet. Es sind daher die Wach- und Warnposten in unserem Körper, die uns eine Vorahnung unseres eigenen Sterbens in solchen Situationen vermitteln« (Lobo, 1990, S. 114).

Nach dem damaligen Besuch beim Internisten nahm ich mir vor, die Ursachen meiner körperlichen Symptome anzugehen. Dies hieß für mich, meine Lebenssituation zu ändern. Nach diesem inneren Entschluss konnte ich bereits wieder freier atmen. Ich sprach schließlich mit meiner Vorgesetzten darüber, wie ich mir in Zukunft meine Arbeitseinsätze vorstellte, ohne meine körperlichen Grenzen zu überschreiten. Ich lehnte es ab, weiterhin alle zwei Wochen zwölf Tage am Stück ohne freie Tage dazwischen zu arbeiten. Ich wollte nur noch morgens arbeiten, keine geteilten Schichten (Früh- und Spätschicht) mehr. Ich riskierte mit diesem Vorhaben eine Kündigung von Seiten meines Arbeitgebers. Erstaunlicherweise ließ sich meine damalige Pflegedienstleitung auf meine klaren Wünsche ein. Allmählich konnte ich genesen. Alle körperlichen Symptome verschwanden. Ich fühlte mich körperlich und seelisch wieder wohl. Erst nach der erfolgreichen Begegnung mit meiner Pflegedienstleiterin erfasste ich klar das Bild des Täter-Opfer-Traums. Dieser hatte mich auf das krank machende Verhalten in meinem Pflegealltag hingewiesen. Er warnte mich deutlich, dass 2 Pitta (Feuer) ist eines der drei energetischen Prinzipien im Āyurveda neben Kapha (Erde und Wasser) und Vata (Luft und Raum).

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das, was ich in der Pflege mit mir machen ließ und was ich damit auch den alten Menschen antat, für uns alle tödlich werden könnte. Die gesundheitspolitisch geforderte Beschleunigung birgt die Gefahr, uns gewissen- und seelenlos werden zu lassen. Nach Suśruta ist das Herz der Sitz des Bewusstseins und des Traums. Es ist der Sitz des Verstandes und des Gefühls für die eigene Identität. Es führt mich zur richtigen Erkenntnis von Situationen. Störungen im Gleichgewicht zwischen dem Wach- und dem Schlafzustand äußern sich im Ungleichgewicht der Bestandteile des Blutes. Das Blut ist Träger von Neurotransmittern, Hormonen, Enzymen und Ernährungssubstanzen. Das Blut ist im Āyurveda das Prinzip der Leidenschaft in den sozialen Beziehungen (Lobo, 1990, S. 32 ff., S. 64 ff.). Ich hatte meinen Selbststand verloren. Ich war zugleich Täterin und Opfer in einem kranken Gesundheitssystem geworden. Die Mahābhūtas (Elementenlehre) des Āyurveda werden als große Verknüpfung von Empfindungen des Körpers für seine Umgebung wahrgenommen. Es handelt sich dabei um die Elementarhorizonte Erde, Wasser, Feuer, Luft und Raum (Lobo, 2001, S. 251). Nach dieser Mahābhūta-Lehre will ich im Folgenden den oben beschriebenen Traum interpretieren: Hitler in meinem Traum steht stellvertretend für die autoritären Strukturen in der Gesundheitspolitik. Hier wird ausschließlich nach ökonomischen Gesichtspunkten entschieden. Pflegende und alte Menschen haben zu funktionieren wie Maschinen. Sie werden instrumentalisiert. Unser Gesundheitssystem selbst ist krank und krank machend. Es ist Opfer und Täter zugleich, wodurch die Pflegenden auch zu Opfern und Tätern (gemacht) werden. Dies wirkt tödlich auf alle Beteiligten, wenn sie dies nicht rechtzeitig erkennen und aus diesem krank machenden Prozess aussteigen wollen. Ich lasse mich im Traum und in der Realität fremdbestimmen. Als ich dies bewusst erkenne und erspüre, entschließe ich mich, im Traum probehandelnd auszusteigen. Ich steige aus, selbst auf die Gefahr hin, dass es mich im wirtschaftlichen Sinne mein Leben kosten sollte. Eine andere Möglichkeit gibt es für mich in dieser tötenden Lebenssituation nicht. Im Traum muss ich, zusammen mit mir unbekannten Leuten, fremde Menschen ertränken, um selbst zu überleben. Ich befinde mich in einer anonymen Situation. Das Element Wasser vermittelt nach der Śalya-Lehre des Suśruta für den leidenden Menschen ein Gefühl der Erstickung und des Schnappens nach Luft. Die Blutgefäß-Marmas markieren entwicklungsgeschichtlich die Brücken unseres Lebens vom Aufenthalt im Wasser zum jetzigen Lebensbereich auf festem Land. Ich selbst litt in der Realität zunehmend an Atemnot. Ich fühlte mich in der krank machenden Pflegesituation vom Wasser bedroht. Das Ersticken im Traum steht für diesen Zustand (Lobo, 2001, S. 90, S. 91 ff.). Ich ertränke nicht nur die kranken Menschen, sondern mich selbst mit. Ich

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nehme mir und den alten Menschen durch meine beschleunigte Handlungsweise den Raum zum Atmen. Das Köpfen durch die SS im Traum zeigt mir klar, dass die Menschen durch totalitäre Strukturen ihre Orientierung in Raum und Zeit verlieren und einen sofortigen Verlust des Bewusstseins erleben. Im Kopf entsteht Bewusstsein, welches Reflexion über körperliche Reflexe, also über unser Erleben ermöglicht. Ohne Kopf kann keine Synchronisierung stattfinden. Im Kopf werden der Tag-Nacht-Rhythmus und der Temperaturrhythmus im Zusammenspiel von Aktivität und Erholung reguliert (Lobo, 2001, S. 142). Wenn der Kopf fehlt, ist der Zusammenhalt und somit das Leben kaputt. An der Krone des Kopfes liegt, nach der Marma-Lehre des Suśruta, das AdhipatiMarma (ein Gelenk-Marma), genannt der Herrscher. Es überwacht die zentrale Waage zwischen gesellschaftlichen Prozessen und Naturabläufen. In der Mitte der Stirn liegt das Sthapani-Marma (ein Blutgefäß-Marma). Beide Marmas sind wichtige zentrale Marmas des Körpers. Sie überwachen die Funktionen der Zirbeldrüse und des Hypothalamus. Die Zirbeldrüse ist wichtig für unser Zeiterleben. Sie bildet das Zeithormon Melatonin. Hier werden das Ineinanderwirken von Körpertemperatur und die Schlaf-Wach-Rhythmen des Körpers im Hypothalamus bewacht. In das Sthapani-­Marma kann sich nach der Marma-Lehre ein Fremdkörper einnisten, z. B. kann ein sozialer Zeitgeber in die Abläufe des Hypothalamus eingreifen (Lobo, 2001, S. 153). Dann wird Fremdzwang zu Eigenzwang (Lobo, 2001, S. 151). Ich fühle mich im Traum beim Ausführen des Befehls körperlich schlecht. In der āyurvedischen Mahābhūtas- oder Elementenlehre wird dies mit dem Erlebenshorizont Wind in Verbindung gebracht, wozu auch das Zweifeln gehört. Ich entscheide mich in der Folge bewusst für meine Gesundheit und Autonomie. Hier bin ich motiviert. Hier greift die elementare Erfahrung des Erlebenshorizonts Feuer. Ich begebe mich im Traum allein auf den Weg zu Hitler. Das Sichauf-den-Weg-Begeben weist auf einen individuellen Prozess in mir hin. In der Elementenlehre steht Feuer für das Treiben zu einem Prozess hin (Nanal, 1985, S. 5). Hitler liegt in meinem Traum in einem Krankenbett, was nach meiner Interpretation auf seinen Machtkomplex hinweist. Die Ursache seines Krankseins ist seine eigene Ohnmacht. Im Traum schläft er bei Tage, ist unbewusst, nicht wach. Ich teile ihm sicher, ruhig und bestimmt mit, dass ich in Zukunft seine Befehle nicht mehr ausführen werde. Ich weiß, dass ich mit dieser Äußerung mein Leben aufs Spiel setze. Für meine Herzensüberzeugung bin ich bereit, meinen Körper zu opfern. Im Traum bin ich erstaunt, dass Hitler mich ruhig und wortlos versteht. Diese Reaktion habe ich nicht von ihm erwartet. Ich staune. In der āyurvedischen Elementenlehre steht Wasser als Prinzip des Staunens und gleichzeitige Betrachtung von Leben und Tod (Nanal, 1985, S. 5). Im Traum steigt

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Hitler aus dem Krankenbett. Das Aus-dem Bett-Steigen ist, āyurvedisch betrachtet, das Treiben zu einem Prozess hin – also Feuer. Dieser Prozess bewirkt sein Gesunden: das Ablegen, das Zu-Ende-Gehen der autoritären, krank machenden Strukturen. Im Āyurveda wird ein Prozess des Abgelegt-Werdens, des ZuEnde-Gehens mit dem Element Erde in Verbindung gebracht (Nanal, 1985, S. 5). Im Traum umarmen sich Hitler und ich erst, nachdem er aus dem Krankenbett gestiegen ist. Wir sind beide gesundet. Es gibt keine Machtspiele mehr. Keinen Mächtigen und keine Ohnmächtige mehr. Ein offenes, gesundes, gleichwertiges Miteinander ist möglich geworden. Wir können uns vertrauensvoll berühren. Geben und Nehmen sind nun im Gleichgewicht. Nach Āyurveda steht dieses Erleben in meinem Traum als Raum zur Verwirklichung der Gesamtnachrichten (Nanal, 1985, S. 5). Hitler steht im Traum nicht nur als Symbol für totalitäre Machtstrukturen und autoritäre Menschen in meinem sozialen Umfeld, er steht auch für mich selbst und meine eigenen durch frühe schmerzhafte Erlebnisse verinnerlichten Machtstrukturen und Ohnmachtsgefühle. Mein Traum sagt mir, dass meine Umgebung und ich erst dann gesunden und miteinander zurechtkommen, wenn jeder von uns seine eigenen autobiografischen Verletzungen mit Unterstützung vertrauter Mitmenschen anschaut, fühlt und Raum und Zeit für Heilung zulässt. Dazu braucht es Vertrauen, Geduld, Mitgefühl, und Mut zu sich selbst und zu den anderen. Dies ist ein individueller und zugleich ein steter gesellschaftlicher Prozess. Inzwischen bin ich aus der Pflege als Krankenschwester ausgestiegen. Ich habe mich als Marma-Yoga®-Lehrerin selbstständig gemacht. Literatur Lobo, R. (o. J.). Seminarmitschrift. Lobo, R. (1987). Yoga-Elementarkurs. Bd. 4: Übergänge. München: Hueber-Holzmann. Lobo, R. (1990). Traum und Karma im Āyurveda. Philosophie und Praxis. München: Diederichs. Lobo, R. (2001). Grundlagen des Āyurveda, Lerndisposition und Prakrti-Analyse (2. Aufl.). München: Editora Pantainos. Lobo, R. (2007). Yoga – Sensibilitätstraining für Erwachsene (2. Aufl.). Palmela: Editora Pantainos. Nanal, V. B. P. (1985). Grundlagen des Āyurveda. Bd. F1. München: Förderverein für Yoga und Ayurveda.

Benedikta Hirsch (*1957) Abschluss als examinierte Krankenschwester (1980); Zusatzbezeichnung »Pädagogin für Inte­ grier­te Psychosomatische Gesundheitsbildung« (1995). Mehrfache Weiterbildungen im Bereich Gesundheitsförderung und im Bereich der Identitätsorientierten Psychotraumatherapie (IoPT). Besonders geprägt auf meinem äußeren und inneren Weg haben mich die Theorien und Methoden von Prof. Dr. Rocque Lobo (1941–2019) und von Prof. Dr. Franz Ruppert (*1957). Kontakt: E-Mail: [email protected]

Yoga und Embodiment Kerstin Schneider

Embodiment, die wechselseitige Abhängigkeit von Körper und Geist, wirkt auch bei Yoga-Übungen. Zum einen drücken sich innere Schwankungen (Stimmungen) körperlich aus und treten in Form von Schwierigkeiten, eine Haltung im Sinne einer Āsana einzunehmen, zutage, zum anderen kann das Üben von YogaHaltungen die innere Haltung unterstützen. Ob trotz dieser Wechselwirkungen von Körper und Geist, äußerer und innerer Haltung, die »vollendete« Form einer Haltung explizit definiert werden kann, soll im Folgenden am Beispiel »Dreieckshaltung und Selbstbewusstsein« mit dem möglichen Aufbau einer entsprechenden Übungseinheit diskutiert werden. Die Autorin ist sich dessen bewusst, dass ein sachlicher Beitrag im Rahmen einer solchen Veröffentlichung üblicherweise nicht aus der Ich-Perspektive verfasst wird. Die Entscheidung dafür, diese trotzdem zu nutzen, fiel weniger aus Mangel an notwendiger kritischer Distanz als vielmehr aus dem Bewusstsein heraus, dass individuelle Wahrnehmung keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit besitzt. Sich dem kritischen Dialog zu stellen, der möglicherweise eher durch Formulierungen aus der Ich-Perspektive entsteht, verlangt – passend zum Thema – ein gewisses Selbst-Bewusstsein. Hier sitze und schreibe ich.

1  Biografischer Bezug, Hinführung zum Thema Schon in meiner Jugend durfte ich Yoga als stabilisierenden Faktor für mein Leben entdecken, wobei ich mich lange Zeit damit auseinandergesetzt habe, was an Yoga das Entspannende für mich ausmacht. Yoga wird für die Krankenkassen im Präventionsfeld »Entspannung« geführt und sowohl als Entspannungspädagogin als auch als Physiotherapeutin weiß ich, dass Entspannung bestimmte Effekte auf den Körper hat, egal ob sie durch Progressive Muskelentspannung, Autogenes Training oder andere Entspannungsverfahren hervorgerufen wird. Ja, Yoga kann das auch bewirken (Vernod, 1998, S. 39). Wenn achtsam geübt wird, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich Entspannung zeigt, recht hoch. Garantiert werden kann das aber nicht.

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Von außen betrachtet, ergeben die fordernden körperlichen Yoga-Übungen, die genauso aussehen wie Stretching, ja auch ein ordentliches Workout. Dies würde beinahe die Einordnung von Yoga als gesundheitssportliche Aktivität rechtfertigen. Yoga ist aber mehr und ich bin sehr dankbar, dass ich Yoga als Gesundheitsförderung kennenlernen durfte, die mich nicht auf eine Insel der Glückseligen wegbeamt, um den Sorgen des Alltags einmal für eine Zeit entfliehen zu können, und auch nicht bloße Gymnastik darstellt, mit der ich meinen Körper darauf trimmen kann, den Widrigkeiten des Lebens zu trotzen. Yoga auf diese Weise praktiziert, stellt für mich die beste Möglichkeit dar, mich im Hier und Jetzt und dabei die Wechselwirkung von Körper und Geist zu erleben (Lobo, 1999, S. 6 f., S. 24 f.). Wechselwirkungen von Muskeln innerhalb eines Körpers sind schon ungemein spannend und individueller, als man glauben mag (Kubalek-Schröder u. Dehler, 2004, S. 64 ff., S. 83, S. 91 f.). Die achtsame Ausführung von Yoga-Übungen bietet solch einen Reichtum an Möglichkeiten, sich selbst und seine Chancen, mit diesem Leben und seinen Herausforderungen umzugehen, kennenzulernen, dass ich hoffe, mit diesem Beitrag über Yoga und Embodiment eine Lanze zu brechen für eine vielleicht etwas andere als die typische Art, Yoga zu üben. Dadurch, dass ich im Zusammenhang mit dem Yoga-Üben immer wieder eingeladen werde, mich ganzheitlich wahrzunehmen, lerne ich mich in verschiedenen Lebenssituationen, Tagesformen und sozialen Kontexten kennen. Ich erlebe Unterschiede im Empfinden bekannter Übungen wie auch Spannungen und Möglichkeiten zum Umgang mit diesen, erlebe verschiedene Formen der Unterstützung, auch in neuen Übungen. Dabei ist im Laufe der Zeit klar geworden, dass ich nicht vorhersehen kann, wie gut ich mich in einer Übung regulieren und ob ich eine Haltung als stabil und angenehm erleben kann. Ich lerne Körpermerkmale kennen, die mir etwas darüber verraten, wie es mir in der jeweiligen Übungssituation auf verschiedenen Ebenen geht, und werde mir dabei immer wieder meiner Selbst bewusst. Wenn es mir gelingt, mich in meinem jeweiligen So-Sein zu erkennen, Grenzen zu akzeptieren und mich damit zu zeigen, bin ich selbstbewusst meiner Selbst bewusst und nähere mich dabei in kleinen Schritten dem Zustand von Yoga, nämlich dem »Verhindern der Modifikationen des denkenden Prinzips« (Vernod, 1998, S. 39). Das Üben in der Gruppe habe ich dabei teilweise als Unterstützung und teilweise als Herausforderung erlebt. Häufig schon habe ich Aufträge zu Gruppenarbeit oder eine Verabredung zu einem Treffen mit mir noch recht unbekannten Menschen mit Unlustgefühlen angenommen und bin gestärkt aus solchen Situationen zurückgekommen. Was ein Gruppenkontext mit mir oder anderen Übenden macht, ist nicht prognostizierbar, möglicherweise aber sehr effektvoll

K. Schneider · Yoga und Embodiment

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(Lobo, 1999, S. 7, S. 24 f., S. 80). Sich dieses Einflusses bewusster zu werden, halte ich für ein Üben von Yoga, das einen Beitrag dazu leisten soll, mit sich selbst mehr in den Fluss des Lebens zu kommen, für ungemein wichtig.

2  Wie Yoga-Haltungen sein sollen Und wie geht das nun, dieses Yoga-Üben? Einen großen Raum nehmen im Hatha-Yoga die Körperhaltungen ein. Die »vollendete« Form einer Körperhaltung im Yoga, genannt Āsana, beschrieb bereits der Weise Patañjali1 in seinen Yoga-Sūtren. In Sūtra 2.46 heißt es: »Sthîra-sukham-āsanam«, was übersetzt werden kann als: »Ein Āsana ist fest und angenehm« (Verma, 1998, S. 88). Āsana ist auch definiert als eine Haltung, die während eines Tests, »ob ihre Schutz- und Kampf[…]reaktionen auf wirkliche oder vermeintliche Bedrohungen gerichtet waren […] ein stabiles Glücksgefühl vermittelt« (Lobo, 1998, S. 96 f.). Aus diesem Grund wird im Folgenden von der »Dreieckshaltung« statt von »Utthita Trikonāsana« die Rede sein.

3  Verkörperung von Selbstbewusstsein Bevor es an die Betrachtung der Wechselwirkung von Körper und Geist in der Haltung des Dreiecks geht, überlegen wir zunächst, wie verkörpertes Selbstbewusstsein allgemein aussieht. Um eine grobe Einordnung treffen zu können, seien die zahlreichen Skelettmuskeln, die unsere Körperhaltung gestalten, in zwei Gruppen eingeteilt: Die einen bringen den Körper in eine krumme Haltung, die anderen in eine aufrechte. Ganz genau muss und kann diese Zuordnung nicht geschehen (Kubalek-Schröder u. Dehler, 2004, S. 67 ff., S. 83, S. 91 f.). Sie dient zum Verdeutlichen dessen, zwischen welchen Polen sich verkörpertes Selbstbewusstsein einordnen lässt. Eine selbstbewusste innere Haltung drückt sich eher in einer aufrechten, bildlich gesprochen »entfalteten« Körperhaltung aus als in einer zusammengerollten äußeren Körperform, die darauf ausgelegt ist, vitale Stellen des Körpers vor drohenden Gefahren zu schützen.

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Patañjali soll zwischen 500 und 200 v. Chr. gelebt haben.

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4 Wechselwirkung von Körper und Geist in der Haltung des Dreiecks – mit Übungssequenz Betrachten wir nun die Wechselwirkung von Aspekten des »Selbstbewusstseins« mit der »Dreieckshaltung« in einer Übungssequenz, die sich aus Vorbereitung, Körperhaltungen und Abschluss zusammensetzt. Die umfangreichen technischen Anleitungen sowie die inhaltliche Aufarbeitung sollen dabei zu einem inneren Dialog im Üben mit Yoga einladen, weil gesundheitsförderliches YogaÜben nur durch Achtsamkeit im Tun regenerativ sein kann. Yoga-Haltungen stellen immer die Frage, ob der oder die Übende sich in solch einer im Alltag selten vorkommenden äußeren Form regulieren kann. Gelingt es, diese Haltung so einzunehmen, dass sich sowohl körperliche als auch innere Schwankungsfreiheit einstellt, also Stabilität im Sinne einer Āsana wie eingangs erläutert? Beantworten können sich diese Frage nur achtsam Übende, die Haltungen »beseelt« einnehmen und nicht versuchen, in möglichst kurzer Zeit die vorgegebene äußere Form zu erreichen, und die damit auch nicht die allgemein vorherrschende Beschleunigung des Alltags auch noch im Yoga pflegen. Schnell sind sonst persönliche Grenzen überschritten und die Körperhaltungen verkommen von potentiellen Āsanas zu Gymnastikübungen (Lobo, 1998, S. 55, S. 61). 4.1  Vorbereitung (im Einzelnen: Einstimmung, Übergang, Lockern) 4.1.1 Einstimmung

Verfolgt wird dabei das Ziel, die Teilnehmenden dort abzuholen, wo sie sind, ihnen Gelegenheit zu geben »anzukommen«, ihre Wahrnehmung auf Merkmale aus dem Körperraum, der Gefühls- und Gedankenwelt zu lenken und sich dabei mitzubekommen. Dies ist die Voraussetzung dafür, für sich selbst verantwortlich Bedürfnisse äußern und ggf. Grenzen setzen zu können, und bereitet einen reflektierten Umgang mit sich selbst in den Übungen vor, der über die Wahrnehmung von Gelenkigkeit hinaus in Richtung ganzheitlicher Innenschau geht. Was und wie: Die Teilnehmenden liegen mit angestellten Beinen auf dem Rücken. Die Unterrichtende2 bietet zum Verdeutlichen der wahrzunehmenden Merkmale sprachlich Gegensatzpaare an und lässt jeweils ein wenig Zeit, damit 2 Es wird im Folgenden in der weiblichen Form von »der« Unterrrichtenden gesprochen, weil hierbei ein konkretes Beispiel einer Übungssequenz beschrieben wird, wie es von der Autorin selbst in ähnlicher Form angeleitet wurde. Selbstverständlich bedeutet das nicht, dass Unterrichtende des Yoga per se weiblich sind. Aus Gründen der einfacheren Lesbarkeit sind zum Ausgleich die Übenden im Singular männlich, wenngleich dies eben auch nicht per se immer der Fall ist. Es sind immer Unterrichtende und Übende jeden Geschlechts gemeint.

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die Teilnehmenden für sich Antworten auf die gestellten Fragen finden können: »Spür einmal in dich hinein … Bist du eher gut drauf … oder eher ein wenig niedergedrückt? … Hast du eher die Ruhe weg … oder fühlst du dich eher ein wenig gehetzt? … Woran merkst du das?« [Die Frage »Woran merkst du das?« kommt an dieser Stelle, weil der zeitliche Horizont, der zu dem Eindruck, in Ruhe zu sein/Zeit zu haben oder in Eile zu sein/sich gehetzt zu fühlen, führen kann, einen großen Einfluss auf unsere Wahrnehmung hat. Je nachdem, ob wir viel oder wenig Zeit für eine bestimmte Aufgabe zur Verfügung haben, wird sie uns leichter oder schwerer zu bewältigen scheinen (Lobo, 1998, S. 37, S. 55). Ferner führt diese Frage auf die Wahrnehmung der Körpermerkmale hin und bereitet diese damit vor.] »Bist du eher voller Gedanken oder eher gedankenarm, gedankenleer? Hast du sozusagen den Kopf eher voll oder eher frei? … Wie fühlst du dich … heute … jetzt … hier … gerade körperlich? …« [Mit dieser Frage und den entsprechenden Pausen soll versucht werden, die Wahrnehmung darauf zu lenken, dass sich das Hier und Jetzt, also damit auch die situative soziale Komponente, auf den Körper auswirkt und sich vielleicht anhand von körperlichen Auffälligkeiten bemerkbar macht (Lobo, 1999, S. 7, S. 24 f., S. 80).] »Gibt es irgendwelche Auffälligkeiten aus dem Körperraum? … Fühlst du dich eher leicht … oder eher schwer? … Eher groß … oder eher klein? … Eher kühl … oder eher erhitzt? … Eher gut durchsaftet … oder eher ausgetrocknet? … Eher voller Energie und Tatendrang … oder eher müde und erholungsbedürftig? …« [Diese Gegensatzpaare werden hier angeboten, um Worte für Merkmale aus dem Körperraum zu finden, ohne die Wahrnehmung auf spezielle Bereiche des Körpers zu lenken.] »Und du kannst einmal deine Atmung beobachten … Atmest du eher durch die Nase oder durch den Mund? … Atmest du eher in den Bauchraum … oder eher in den Brustraum? … Wie ruhig fließt dein Atem? Atmest du eher schnell oder eher langsam? … Atmest du eher flach oder eher tief? … Musst du den Atem holen … oder strömt die Luft automatisch ein und aus? …« [Diese Fragen können genutzt werden als Hinführung zur Körperwahrnehmung bezüglich Atemwiderständen und Druckverhältnissen, die nachher kontextbezogen variieren können (Lobo, 1998, S. 41 f., S. 46; Lobo, 1999, S. 7, S. 44 f., S. 80).] »Während du eh gerade einatmest, verstärke ein wenig den Druck deiner rechten Fußsohle zum Boden, ausatmend lass wieder nach, mit dem nächsten Einatmen verstärke ein wenig den Druck deiner linken Fußsohle zum Boden, ausatmend lass wieder nach … Versuche dabei mitzubekommen, ob es Unterschiede gibt zwischen dem rechten und dem linken Bein … Fühlen sich die Knöchel eher stabil und kompakt an … oder eher wackelig und unkoordiniert? …

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Eher gelenkig oder eher steif? …« [Dies sind mögliche Fragen, die nachher bei der Wahrnehmung der Stabilität des Bein-Becken-Bein-Spannungsbogens wichtig sind (Lobo, 1999, S. 6 f., S. 24 f., S. 80 ff.). In der Form kann auch eine Anleitung zur Atemlenkung und der Wahrnehmung des Hand-Schulter-HandSpannungsbogens angeboten werden, dessen Leichtigkeit in den Haltungen mit der Stabilität des Bein-Becken-Bein-Bogens korrespondieren und kontextabhängig variieren kann. Ferner können Greifreflexe im Rahmen des Embodiments relevant sein (Lobo, 1998, S. 55, S. 79).] 4.1.2 Übergang

Verfolgt wird nun das Ziel, dem Herz-Kreislauf-System Zeit für die orthostatische Anpassung zu geben und sich nach vorheriger Selbstwahrnehmung wieder im Raum und in der Gruppe zu orientieren: »Dann lass auch diese Bewegung langsam ausklingen und atme normal weiter … Spüre einmal in dich hinein, wenn es gleich daran geht, dich hinzusetzen und in den Kontakt mit den anderen hier im Raum zu kommen – bereitet dir der Gedanke eher Vorfreude oder würdest du lieber noch weiter liegen bleiben, deine Atmung beobachten und in deinen Körper hineinspüren? … Komme dann langsam über die Seite zum Sitzen.« [Hier bietet sich die Gelegenheit, Lust- oder Unlustgefühl bezüglich des sozialen Kontextes im vorher sensibilisierten Körper zu erleben.] Was und wie: Die Unterrichtende schaut, wie es den Teilnehmenden geht, fragt nach Auffälligkeiten, eventuellen Schmerzen und ob etwas besondere Beachtung braucht, schaut jeden Teilnehmenden der Reihe nach einen Moment direkt an, um Raum für Antworten zu geben, welche zur Kenntnis genommen und bei Unklarheiten genauer erfragt werden, bis sich die Unterrichtende einen Reim auf die genannten Auffälligkeiten und ihre Bedeutung für den Unterricht machen kann. Die Teilnehmenden kennen diesen Ablauf als verlässlichen Rahmen, was gerade im Hinblick auf das Thema »Wechselwirkung von Selbstbewusstsein und Dreieckshaltung« nicht unerheblich ist. Dann folgt der Übergang zum »Lockern«: »Wir stehen achtsam auf und gehen gleich auf der Stelle.« 4.1.3 Lockern

Dieser Übungsabschnitt verfolgt das Ziel, möglichst ganzheitlich auf die Hauptübungen zum Thema vorzubereiten: Was und wie: Die Unterrichtende begleitet die auszuführenden Bewegungen sprachlich hinsichtlich der technischen Ausführung und der Lenkung der Wahrnehmung, während sie die Bewegungen selbst ausführt, die Teilnehmenden bei ihrer Ausführung beobachtet und ggf. Teilaspekte verdeutlicht, die von Teilen

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der Gruppe unzureichend aufgenommen werden. Eine wertschätzende Kommunikation sollte selbstverständlich sein und trägt maßgeblich zu einer vertrauensvollen Atmosphäre bei. Lockere, vom Tempo eher gemäßigte Bewegungen beinhalten die Möglichkeit, achtsam zu bleiben. Rotationsbewegungen der Wirbelsäule (Schultergürtel dreht gegen Becken) sollten angeboten und ggf. übergangsweise mit Hand-zum-Knie-Überkreuzbewegungen erarbeitet werden. [Rotationsbewegungen können wegen des Aufbaus der Blutgefäßmuskulatur, nämlich der spiralförmigen Faserrichtung der mittleren Blutgefäßschicht, namentlich der Media, die zwischen den Informationen im Inneren und Äußeren der Blutgefäße zu vermitteln scheint, für den Kreislauf unterstützend und damit eine wichtige Vorbereitung für Übungen im Stand sein (Lobo, 2004, S. 14 ff.). Überkreuzbewegungen können dazu beitragen, die Koordination der rechten und der linken Gehirnhälfte zu verbessern und damit das Lernen und die Wahrnehmung zu erleichtern.] »Bist du dir jetzt hier deiner selbst bewusst? … Fühlst du dich jetzt heute und hier selbstbewusst? … Wie fühlen sich deine Knöchel und deine Knie jetzt beim Gehen an? … Stabil und kompakt oder eher wackelig? … Hier befinden sich übrigens ein paar der besonders vitalen Punkte des Körpers, sogenannte Marmas, die uns als Wachposten rechtzeitig vor dem Verlust an Kraft und Zeit warnen können. Sie reagieren im Allgemeinen besonders empfindlich auf Belastungen und können uns, wenn sie auffällig oder unauffällig in Belastungssituationen sind, helfen, unseren Körper in seiner Gesamtheit besser zu verstehen« (Lobo, 1999, S. 6, S. 79 ff.; Lobo, 2001, S. 162). »Spüre auch einmal in dich hinein: Entspricht dein Gehtempo deinem Eigentempo oder würdest du lieber schneller oder langsamer gehen? … Was hält dich davon ab? … Wir bleiben stehen, strecken unsere gefalteten Hände weit nach oben, wenn es geht hoch über den Kopf, recken uns dabei, atmen tief durch … und lockern wieder (Arme fallen lassen, Beine ausschütteln, auf der Stelle gehen) … Und noch einmal recken und strecken … und lockern … und seufzen dabei … (Unterrichtende seufzt beim Auflösen der gestreckten Haltung) … Und versuche dich dabei mitzubekommen: Was ist das für ein Seufzen? … (Beim Wiederholen dieser Streckund Lockerungsübung das Seufzen variieren) … Ein genussvolles Seufzen? … Ein müdes oder gelangweiltes Seufzen? … Ein genervtes Seufzen? … Und das eigene Seufzen? …« [Die Arbeit mit der Stimme erfordert ein gewisses Maß an Selbstbewusstsein und kann helfen, die eigene Stimmungslage bewusster zu erleben.] »Wir gehen in eine weite Schrittstellung und wippen von den Fersen her … Wie flexibel, lebendig und tragfähig erscheinen dir deine Beine? … Wie stabil und kompakt erlebst du deine Knöchel und Knie? … (zwischendurch Seitenwechsel) … Lassen sich deine Beine und das Becken wie ein zusammen-

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hängender Bogen erleben, der den Rumpf trägt? … Kann sich der Brustkorb über diesem Bogen entfalten und können die Arme leicht aufsteigen? …« (Arme eine Zeit lang heben, dann wieder fallen lassen und bei erneutem Seitenwechsel des Standbeines wiederholen). Die Körperwahrnehmung über die Marmas konzentriert sich in diesem Beispiel auf folgende Abfragen: Über die Frage nach der Tragfähigkeit, Stabilität und Aktivität des Bein-Becken-Bein-Bogens werden die Gelenk-Marmas in Knöcheln, Knien und Becken sowie die Muskel-Marmas in Waden und Fußsohlen angesprochen (Gelenk-Marmas: Lobo, 1999, S. 6 f., S. 24 f., S. 44 f., S. 79 ff.; Lobo, 2001, S. 162; Muskel-Marmas: Lobo, 1998, S. 80; Lobo, 2001, S. 159). Die Blutgefäß-Marmas (namentlich Brhati, Hrdaya und Nabhi) stehen im Zusammenhang mit der Bereitschaft des Herzens und des Blutkreislaufs, diese Haltung zu unterstützen (Lobo, 2001, S. 161; Lobo, 2004, S. 14 ff.). Schon daran lässt sich erkennen, dass es mit einer Einordnung der Muskeln in krümmende und aufrichtende Muskeln nicht getan ist und Embodiment vielschichtiger funktioniert. 4.2  Körperhaltungen (im Einzelnen: Heldenhaltung, Dreieckshaltung) 4.2.1  Heldenhaltung – Virabhdrāsana

Die Heldenhaltung wird in dieser Übungseinheit mit dem Ziel angeleitet, deutlichere Reize zur Körperwahrnehmung zu setzen, intensiver mit dem emotionalen Aspekt der Körperübungen zu arbeiten und die Dreieckshaltung vorzubereiten. Was und wie: Die Unterrichtende macht die Übungsschritte sprachlich und gestisch begleitet vor und mit den Teilnehmern mit, wobei in der technischen Anleitung Wert gelegt wird auf: � Spannung vom Fuß (Druck der Außenferse zum Boden) bis zum Gesäß, � Steißbein Richtung hinterer Ferse verlängern, sodass kein Hohlkreuz entsteht, � Schulterblätter und Kreuzbein in eine Ebene bringen, den Bereich der unteren Rippen und des Solarplexus entfalten, � bei stabilem Bein-Becken-Bein-Bogen und dem Kopf über der Wirbelsäule die Arme aufsteigen lassen und die Handflächen wenn möglich über dem Kopf zusammenlegen, ruhig und gleichmäßig weiteratmen dabei, � wenn sich das soweit angenehm und stabil anfühlt, achtsam mit den Armen weiter nach hinten gehen, im Bereich des Solarplexus weiter werden und den Blick Richtung Zimmerdecke heben.

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Es wird jede Seite einmal geübt. Anschließend wird jede Seite einmal seufzend aufgelöst, dann jeweils einmal mit explosiver Ausatmung mit »Ha!« und jeweils einmal lachend. Wie schon weiter oben erwähnt, dienen diese Anleitungsbeispiele dazu, zu veranschaulichen, wie die Wahrnehmung der Teilnehmenden begleitet werden kann, damit die potentiellen Āsanas nicht zu bloßer Gymnastik werden. Das bedeutet nicht, dass die Autorin die Heldenhaltung immer wie oben beschrieben anleitet. Nichtsdestotrotz kann eine umfangreiche Anleitung, je nachdem welche Wahrnehmung gefördert werden soll, durchaus sinnvoll sein. Bei der Heldenstellung sind die Anforderungen an die Stabilität des BeinBecken-Bein-Bogens durch die technische Anleitung (vorgegebene Fußstellung) und die Anforderung an die Öffnung des Brustbein-Schambein-Bogens größer als in den vorbereitenden Übungen. Die Marmas, deren Verletzung zum sofortigen Verlust des Bewusstseins führen würde, werden auch als Sadyapranahara-Marmas (Marmas, die bei Verletzung das Leben gefährden) bezeichnet. Die in diesem Fall besonders relevanten sind die Blutgefäß-Marmas Hrdaya, Herz und Nabhi, Nabel (Lobo, 2001, S. 151 ff., S. 161). Sind sie weniger geschützt, werden mögliche latente Angst-, Kampf- und Fluchtreflexe verstärkt und Merkmale dadurch deutlicher wahrnehmbar. Es kann sein, dass die Teilnehmenden diese Haltung als eine größere Bedrohung empfinden. Möglich ist aber auch, dass sie durch die Spannung des vorderen und hinteren Bogens auch eine Unterstützung im Sinne der Bündelung ihrer Kräfte erleben. Unterschiede beim Ausführen mit der rechten oder linken Seite als Standbein können dabei in Asymmetrien ihrer gewohnten (Körper-) Haltung begründet sein (auch hierfür sind diverse Gründe möglich). Es kann sein, dass die Stabilität des Bein-Becken-Bein-Bogens mit der Fähigkeit korreliert, den Brustbein-Schambein-Bogen zu öffnen und den Hand-Schulter-Hand-Bogen als leicht zu erleben. Dagegen spricht jedoch, dass zum Schutz von verletzungsgefährdeten Sadyapranahara-Marmas andere Marmas und ganze Körperabläufe umorganisiert werden können. So könnte dann erst einmal ein stabiler Bein-Becken-Bein-Bogen die Entfaltung des Brustbein-SchambeinBogens erleichtern, anschließend durch gefährdete Sadyapranahara-Marmas eine Rückkopplung zum Schutze dieser stattfinden, die sich dann wieder in reduzierter Belastbarkeit des Bein-Becken-Bein-Bogens äußert. Da nicht vorhersagbar ist, welche Reaktion des Körpers mit einer anderen zusammenhängt, ist es erforderlich, in den verschiedenen Kontexten wiederholt in eine Reihe verschiedener Marmas hineinzuspüren (vorwiegend GelenkMarmas Knöchel und Knie, Muskel-Marmas Waden und Blutgefäß-Marmas Brhati). Abgefragt wird jeweils folgende Auswahl: »Wie stabil und kompakt

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erscheinen dir die Knöchel und die Knie? … Wie lebendig erlebst du deine Waden? … Wie gut kann sich dein Brustkorb weiten, wie stark und lebendig erlebst du ihn?«. Die Namen der Marmas spielen dabei in der Anleitung keine Rolle, lenken sie doch die Aufmerksamkeit von der Wahrnehmung in Richtung Worterinnerung ab und führen ggf. sogar zu Irritation. Wichtig ist jedoch zu erkennen, dass sich der Körper zum Schutze verletzlicher Bereiche umorganisieren kann und dass u. a. deshalb nicht vorhersagbar ist, wie eine Übung im System wirkt. Äußere Aufrichtung ist ein Angebot an die innere Haltung. Ob das Angebot angenommen wird, verrät uns der Körper, wenn wir achtsam mit ihm umgehen und auf Meldungen aus dem Körperraum hören. 4.2.2  Dreieckshaltung – Utthita trikonāsana

Die Dreieckshaltung wird in dieser Übungseinheit mit dem Ziel angeleitet, deutliche Reize zur Körperwahrnehmung anzubieten und den Bezug zum jeweiligen sozialen Kontext erlebbar werden zu lassen. Was und wie: Die Haltung wird zunächst als Selbsterfahrung in Einzelarbeit innerhalb der Gruppe angeboten und anschließend zum Sensibilisieren für den Gruppenkontext in Dreiergruppen angeleitet. Die Unterrichtende macht die Übungsschritte sprachlich und gestisch begleitet vor und mit den Teilnehmenden mit, wobei in der technischen Anleitung Wert gelegt wird auf: � weiten Schritt; � der vordere Fuß und das vordere Knie zeigen die Richtung der Ebene an, in der Becken und Schultergürtel parallel zueinander wie mit dem Rücken zu einer Wand stehen; � der hintere Fuß ist möglichst 30 Grad einwärts gedreht und verankert das Standbein am Boden; � beide Knie sind gestreckt, die Oberschenkel aus den Hüften heraus leicht nach außen gedreht und das Steißbein Richtung Boden verlängert, sodass der Bein-Becken-Bein-Bogen zu mehr Aktivität eingeladen ist und dabei, ohne dass ein Hohlkreuz entsteht, den Rumpf trägt; � die Schulterblätter in Richtung Kreuzbein rutschen lassen, die Fingerspitzen an die Schultern legen, die Ellbogen seitlich aufsteigen lassen, so lange die Schulterblätter an ihrem Platz bleiben können; � den Kopf ins Lot mit der Wirbelsäule bringen und den Oberkörper mit dem Rücken an der gedachten Wand vom verankerten Standbein wegkippen, sodass der seitliche Bogen der Standbeinseite gespannt wird; � wenn die seitliche Bewegung des Rumpfes am Ende ist, die Ellbogen ausklappen und, wenn nichts dagegen spricht, in die obere Hand schauen.

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Jede Seite wird einmal – zur Raummitte gewandt – geübt. Für die Gruppenarbeit im zweiten Durchgang sind eine gewisse Sensibilität seitens der Unterrichtenden für die Gruppenhomogenität und eine Vorerfahrung der Übenden gefragt, weil diese sich auf die folgende Übungserfahrung der Teilnehmenden auswirken kann. Dementsprechend fällt die sprachliche Begleitung ggf. mehr oder weniger umfangreich aus. Es wird in Dreiergruppen geübt, wobei ein Teilnehmender in die Ausführung geht, ein zweiter versucht, das Standbein des Übenden zu stabilisieren, die Orientierung zur Bewegungsebene zu erleichtern und den Hand-Schulter-Hand-Bogen zu entlasten, indem er an der Rückenseite des Übenden steht, um dessen obere Schulter herumgreift und sie mit leichtem Zug Richtung Fuß der Standbeinseite stabilisiert (Lobo, 1999, S. 44 f.), während ein dritter Teilnehmender den Kopf des Übenden so unterstützt, dass es eine Einladung an den Übenden ist, seinen Kopf tragen zu lassen. Jeder übt in dieser Konstellation beide Seiten und in einem dritten Durchgang wieder allein, aber dieses Mal mit Blick von der Raummitte weg. Im Dreieck ist die Belastung der Marmas in den Beinen größer als in der Heldenstellung, die seitlichen Bögen mit den Muskel-Marmas in Armen und Beinen werden stärker belastet, die Fähigkeit zu einer vertieften Atmung (Brhati) und die Drehfähigkeit des Kopfes werden getestet (Entlastung der Trapezmuskulatur, Gelenk-Marma Kṛkatika). Dabei wird das SadyapranaharaMarma am Scheitel weniger geschützt und die Teilnehmenden werden in der Partner- oder Grüppchenübung in einen anderen sozialen Kontext gebracht. Latente Angst-, Kampf- und Fluchtreflexe können zum Verdrehen von Rumpf und Beinen führen (Lobo, 1998, S. 80), die verschiedenen sozialen Kontexte Veränderungen in den Merkmalen bewirken. Die Teilnehmer sind eingeladen, wahrzunehmen, ob sie das Üben mit Partner(n) als Unterstützung erleben und ob sie diese Unterstützung im Üben von der Raummitte abgewandt vermissen. Abgefragt wird: »Wie tragfähig und lebendig erscheint dir dein Bein-BeckenBein-Bogen? … Wie stark und elastisch erlebst du deinen Brustkorb? … Wie frei kannst du atmen … und den Kopf drehen? …«. Wieder aufgegriffen wird die Frage: »Bist du dir deiner Selbst bewusst?«. 4.3  Abschluss (im Einzelnen: Übergang, Schlussentspannung) 4.3.1 Übergang

Dieser verfolgt das Ziel, den Körpern eine angenehme flache Rückenlage zu erleichtern und den Teilnehmenden Zeit für die Anpassung der Herz-KreislaufSituation bei Reduzierung der Muskelaktivität und dem Wechsel von Innenschau in sozial bezogener Aktivität zu Innenschau in körperlicher Passivität zu geben.

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Was und wie: Die Teilnehmenden werden eingeladen, in sich hineinzuspüren, ob sie eher froh sind, sich von der Aktivität in der Sozietät zurückziehen zu können, oder lieber noch weiter in diesem Kontext aktiv wären. Technische Anleitung zweier mit der Atmung gekoppelter Bewegungen: 1. Einatmend die angestellten Beine ein wenig zu einer Seite kippen lassen, ausatmend die Knie zurück zur Mitte führen, einatmend die Beine zur anderen Seite kippen lassen, ausatmend zur Mitte zurückführen (damit die Rotationsbewegung des Rumpfes, die in den Übungen vorher weitgehend unterbunden wurde, wieder zulassen und den Abbau von Kontraktionsrückständen der stabilisierenden Muskulatur unterstützen). 2. Einatmend ein wenig den Druck der rechten Fußsohle zum Boden verstärken, ausatmend wieder nachlassen, mit dem nächsten Einatmen ein wenig den Druck der linken Fußsohle zum Boden verstärken, ausatmend wieder nachlassen (Kreisschluss, um die Teilnehmenden auf eine ähnlich ruhige Phase wie zu Beginn der Unterrichtseinheit einzustimmen und noch einmal Gelegenheit dazu zu geben, die gleiche Übung in unterschiedlichen Kontexten zu erleben). 4.3.2 Abschluss

Zum Abschluss wird das Ziel der Entspannung und der Regeneration sowie die Anregung zum Ausbau gesundheitlicher Ressourcen eingeladen. Was und wie: Die Teilnehmenden liegen mit angestellten Beinen auf dem Rücken, Entspannungseinleitung, ggf. Savāsana (oder, wenn die Voraussetzungen für eine Āsana nicht erfüllt werden, »Entspannungslage«). »Dann lass die Bewegung der Beine wieder ausklingen und atme normal weiter. Rufe dir noch einmal den Ablauf der letzten Stunde in Erinnerung: Gab es Situationen, in denen du dich irgendwie typisch so verhalten hast, wie du es von dir kennst? … Kannst du das so für dich akzeptieren und dir vielleicht sagen ›So bin ich halt … okay‹? … Gab es Situationen, in denen du dich für dich untypisch verhalten hast, überrascht von dir warst? … Kannst du dazu sagen ›So bin ich wohl okay‹? … Gab es Situationen, in denen du dich von den anderen hier unterstützt und angenommen gefühlt hast, als hätten sie gesagt ›So bist du wohl okay‹? … Gab es Situationen, in denen du von jemand anderem gedacht hast ›So ist sie wohl okay‹? … Warst du dir selbst bewusst? Warst du selbstbewusst? … Okay … Lass dann die Gedanken zur Ruhe kommen, versuche, sie ziehen zu lassen wie Wolken am Himmel … Du kannst die Beine ausgleiten lassen und bist eingeladen, dich vom Fluss des Lebens tragen zu lassen … Deine Arbeitsmuskulatur darf loslassen, darf entspannen, und dein Körper hat Zeit, sich zu regenerieren … Einatmend nimmst du Er-

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neuerndes auf, ausatmend lässt du dich immer weiter tragen …Vielleicht kannst du dabei spüren, wie dein Körper immer weiter angenehm schwer wird, bis er sich schließlich leicht anfühlt … Deine Atmung und deine Augenbewegungen kommen vielleicht zur Ruhe, der Kaudruck lässt nach, deine Zunge ruht am Zungengrund … Vielleicht fühlen sich die Arme und der Bauch warm an, … während die Stirn angenehm kühl bleibt … Es gibt jetzt nichts weiter zu tun … Du darfst dich einfach vertrauensvoll tragen lassen …« Nach einer Weile von wenigstens fünf Minuten in dieser Position folgt die Rücknahme der Entspannung durch erneute Ansprache, die Frage, ob der Körper vielleicht spürt, was anschließend noch auf dem Programm stehen sollte (eher Aktivität oder eher Ruhe), und ob sich das nicht vielleicht einrichten ließe, ferner Anleitung zum individuellen Räkeln und Strecken, Zurückfinden im eigenen Tempo und auf die eigene Art, Kontaktaufnahme mit dem »Hier und Jetzt«, die Unterrichtende beobachtet, ob alle Teilnehmenden wieder kreislaufstabil wirken, schließlich die Verabschiedung.

5 Beobachtungen im Kontext von Yoga-Vermittlung, Irritation und Lösungssuche Teile obiger Übungssequenz habe ich im Laufe meiner Lehrtätigkeit wiederholt wie beschrieben angeleitet. Für viele Übende scheint die Dreieckshaltung anspruchsvoll zu sein. Viele bemerkten zwar Unterschiede im Üben mit oder ohne Partner, jedoch kaum Unterschiede zwischen dem Üben mit dem Blick zur Gruppe und dem Üben mit dem Blick zur Wand, die Gruppe im Rücken. Das Dreieck wird von manchen geduldig geübt, von anderen akzeptiert, aber sehr selten gewünscht. Obwohl ich persönlich das Dreieck mag, ist der Funke meiner Begeisterung bisher nur auf wenige Lernende übergesprungen. Auf der Suche nach hilfreichen Inspirationen, um meinen Teilnehmern beim Üben Variationen anbieten zu können, von denen sie sich angesprochener fühlen, und auch, um meine Vorgehensweise zu überprüfen, sah ich mich hin und wieder auf dem Markt der Möglichkeiten um, nahm mal ein neues Buch zur Hand, schaute, was andere Yoga-Lehrende an Videomaterial anboten, oder nahm gelegentlich auch an Unterrichtsstunden vor Ort teil. Bezüglich des Dreiecks begegneten mir dabei wiederholt – in meiner Wahrnehmung sogar überwiegend – Anleitungen, bei denen die bodenwärtige Hand nicht nur am vorderen Bein entlang fußwärts zeigte/sank, sondern sich am Boden abstützte. Teilweise wurde dies auch explizit als Ziel angeleitet: »Bring die Hand zum Boden und stütze sie neben dem vorderen Fuß ab.«

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Diese Variante des Dreiecks löste bei mir Irritationen aus. Auf der einen Seite war ich der Meinung, dass es keine perfekten So-muss-es-aussehen-Haltungen gab, weil Haltungen ja nur Āsanas waren, wenn sie stabil und angenehm waren, und extrem vom Alltag abweichende Haltungen, absichtslos geübt, sich wohl nicht einnehmen ließen. Auf der anderen Seite war ich der Meinung, dass eine sinnvolle Anleitung zur Ausführung des Dreiecks bei den Füßen begann, darauf die Beine und das Becken setzte und erst, wenn dieses Fundament stabil und angenehm eingerichtet war, darüber den Rumpf und dazu die Arme postierte. War es denn so überhaupt möglich, das scheinbar »perfekte« Dreieck »nachzuturnen«? Entgegen meinem sonstigen Vorgehen beim Yoga-Üben packte mich nun der Ehrgeiz. Ich nutzte alle mir bekannten Möglichkeiten, um Beweglichkeiten zu verbessern. Aus Erfahrung weiß ich, dass der Körper übergangsweise in der Lage ist, Körperhaltungen einzunehmen, die innerlich nicht gänzlich kongruent sein müssen. Muskelketten lassen sich relativ schnell beeinflussen, wenn man weiß was man tut (Kubalek-Schröder u. Dehler, 2004, S. 122 f.). Dann nehme ich die Dreieckshaltung eben nicht »beseelt« ein, beschloss ich, aber dafür technisch korrekter, oder? Ich muss es ja nicht Yoga nennen … Nun wollte ich es wissen. Ich fertigte eine physiotherapeutische Funktionsanalyse an, wärmte meine Muskeln, dehnte sie, mobilisierte die Faszien. Der Abstand zum Boden wurde immer kleiner, aber es blieb ein Abstand. Als Nächstes erhöhte ich die Sicherheit, übte so, dass meine Füße durch Mobiliar und Türrahmen sicher vor Verrutschen waren und ich meinen Kopf ablegen konnte, jedoch ohne nennenswerte weitere Verbesserung. Ich schaltete die Schwerkraft aus, legte mich auf den Fußboden, die Füße an der Wand – ohne Effekt. Als ich in dieser Position etwas mehr Außenrotation im hinteren Bein zuließ, kam ich meinem Ziel noch ein paar Millimeter, vielleicht Zentimeter näher, aber es blieb ein Abstand. Angenehm war diese Lage sowieso schon nicht mehr, aber es ging ja nicht um innere Erfüllung, sondern um technische Erkenntnisse. Wenn es kurzfristig möglich wäre, würde eine dauerhaft bessere Ausführung nur eine Frage der Zeit sein. Meine Hypothese, dass ich vielleicht in Relation zu meinem restlichen Körper verhältnismäßig kurze Arme haben könnte, widerlegte ich nach Überprüfung. Zwar kaufe ich Hosen mit langem Schnitt, aber meine Arme reichen locker aus, um in der Kopf-zum-Knie-­Haltung an die Fußsohle zu greifen. Auch die Beweglichkeitsprüfung diverser Gelenke vermochte mir nicht aufzuzeigen, wo mein »Defizit« lag, welches mich an der vermeintlich perfekten Ausführung hinderte.

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6 Schlussfolgerung Für mich ist eine gute Ausführung des Dreiecks von verschiedenen Faktoren abhängig: � dem achtsamen Umgang mit inneren und äußeren Schwankungen; � dem sukzessiven Aufbau einer stabilen Statik; � der Bewegungs- bzw. Haltungskontrolle bezüglich der Nullstellung der Hüftgelenke, Beugung und Streckung betreffend. Gerade der letzte Aspekt scheint der zu sein, über den es sich möglicherweise zu diskutieren lohnt. Für mich gibt es auf der einen Seite die krumme Körperhaltung, die ich als Schutzhaltung interpretiere, und auf der anderen Seite die aufrechte, »entfaltete« Körperhaltung, die ich als selbstsichere Haltung interpretiere. Damit werte ich im Dreieck eine gebeugte Hüfte als Teil einer Schutzhaltung und eine leicht gebeugte Hüfte als rudimentäre Schutzhaltung. Eine Āsana kann für mich nur eine Haltung sein, in der kein Schutzreflex mehr greift, weswegen die gestreckten Hüften, sofern sie denn grundsätzlich in anderen Haltungen (noch) möglich sind, für mich zu einer korrekten Ausführung des Dreiecks dazugehören. Das ist mein reflektiertes Statement, während ich hier sitze und schreibe, aber die Deutungshoheit bezüglich der perfekten Ausführung der Dreieckshaltung kann ich nicht für mich reklamieren. Literatur Kubalek-Schröder, S., Dehler, F. (2004). Funktionsabhängige Beschwerdebilder des Bewegungssystems. Berlin/Heidelberg: Springer. Lobo, R. (1998). Yoga-Elementarkurs. Bd. 2: Atmen (2., verbesserte Aufl.). Palmela: Editora Pantainos. Lobo, R. (1999). Yoga-Elementarkurs. Bd. 1: Bewegen (2., verbesserte Aufl.). Palmela: Editora Panteinos. Lobo, R. (2001). Grundlagen des Āyurveda (2. Aufl.). Palmela: Editora Pantainos. Lobo, R. (2004). Yoga-Elementarkurs. Bd. 3: Kreislauf (2., verbesserte Aufl.). Palmela: Editora Pantainos. Vernod, S. (1998). Gesundheit durch Yoga und Āyurveda. Neuhausen am Rheinfall: Urania Verlags AG.

Kerstin Schneider (*1976) ist Yoga-Trainerin mit mittlerweile über 11 Jahren Berufserfahrung. Sie hat Abschlüsse u. a. als Physiotherapeutin (Schwerpunkt: Prävention und funktionsabhängige Beschwerdebilder nach Brügger), Entspannungspädagogin BTB, Yoga-Gesundheitstrainerin BUGY . Berufliche Erfahrungen: angestellte Physiotherapeutin in orthopädisch-traumatologisch orientierten Praxen, Kursleiterin diverser Präventionskurse, Yoga-Gesundheitstrainerin BUGY . Engagement als ganzheitliche Gesundheitsberaterin für Mütter, Gesundheitsnetzwerkerin. Kontakt: Sültebecksbreite 5, D-37075 Göttingen, Tel.: 0551-3889957, E-Mail: [email protected].

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Yoga in einer Förderschule Birgit Erdle

In der heutigen Zeit wachsen Kinder in einer Umgebung auf, die von Bewegungsarmut, aber hohen Anforderungen bezüglich der Anpassung an eine dynamische Umwelt geprägt ist. In der Coronakrise kommt noch die Anpassung an technische Geräte (Laptop, Tablet) dazu, verbunden mit der Tatsache, die schulischen Lernaufgaben mit Unterstützung ihrer oft selbst überforderten und technisch nicht gut ausgerüsteten Eltern zu bewältigen. Im Folgenden wird zunächst die soziale Situation der Kinder in Förderschulen beschrieben. Daraufhin werden einige praktische Beispiele vorgestellt, wie mithilfe von Yoga-Übungen sowohl im Unterrichtsalltag als auch in einer Yoga-AG ein Ausgleich zu einseitigen Belastungen bewerkstelligt werden kann. Angeregt wurde ich zu meinen Überlegungen von Elke Kragh (2003), die in ihrer aktiven Zeit als Lehrerin an einer Hauptschule zur individuellen Sprachförderung ein Übungsprogramm für ihre Schüler erstellt hat, das in den Rhythmus der Schulstunden integrierbar ist. Sie analysiert zuerst die Lebenswirklichkeit ihrer Schüler in der Schule, die geprägt ist von viel Unruhe und Lärm, aber auch erzwungener Ruhe mit wenig echter Bewegung sowie Begegnungen und von innen kommender Stille. Sie setzt damit an der Erlebniswelt der Kinder an. Um einen gesundheitsförderlichen Alltag zu gestalten, stellt sich die Frage, wie die Lebenswelt von Kindern in einer Grundschule mit Förderbedarf heute aussieht.

Die soziale Situation In der Förderschule, in der ich die Gelegenheit hatte, Marma-Yoga® in der dritten Klasse zu unterrichten, sind Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den Bereichen Lernen, Sprache und Verhalten. Nach Cloerkes (1997) kommen 90 % der Schülerinnen und Schüler an einer Förderschule aus soziokulturell benachteiligten Familien und bildungsfernen Milieus. Sie spüren den Druck unserer Leistungsgesellschaft ganz besonders, was mit dem Gefühl verbunden sein dürfte, nicht mithalten zu können. Häufig erleben diese Kinder

B. Erdle · Yoga in einer Förderschule

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ständige Veränderungen im familiären Bereich durch Trennungen, Verluste von Bezugspersonen, die Anpassung an neue Familienstrukturen, Umzüge, Existenzprobleme oder Erkrankungen der Eltern. Einige Kinder verbringen in der Förderschule den ganzen Tag, von 8.00 bis 16.00 Uhr, da die Eltern nicht in der Lage sind, die Erziehung der Kinder zu übernehmen. Nach Cloerkes (1997) herrscht in diesen Familien oft ein ungünstiger Erziehungsstil. Die Kinder erfahren wenig Anregung, was auf die erschwerten sozioökonomischen Rahmenbedingungen aufgrund von Armut und Arbeitslosigkeit der Eltern zurückzuführen ist. Zunehmender Medienkonsum, der Trend zur Konsumgesellschaft, die Abnahme von Freiräumen zum selbstbestimmten Spiel und der selbstständigen Erkundung ihres Lebensumfelds bestimmen heute weitgehend die Freizeitgestaltung vieler Kinder. Der Lebensraum Schule stellt daher einen wesentlichen Teil ihrer Sozialisation dar. Die Lehrkräfte leiden unter der Unruhe und dem Lärm, aber auch an den ständigen institutionellen Veränderungen und Anpassungsforderungen durch Vorgaben des Ministeriums und der Schulbehörde sowie den Forderungen der Eltern. Das Coronavirus hat Familien und die Lebenswelt Schule in kurzer Zeit in eine der größten Krisensituationen der letzten siebzig Jahre katapultiert. Sie stellt uns alle vor große Herausforderungen. Die Kinder, die sonst einen geregelten Rhythmus von Schule und Zu-hause-Sein haben sowie einen Jahreszyklus, der zwischen Schule und Ferien abwechselt, sind in den Phasen des Lockdowns wochenlang bei den oft überforderten Eltern zu Hause, die neben dem »Homeschooling« auch die Erziehung übernehmen müssen. Zusätzliche Probleme gibt es mit der technischen Ausstattung, die vom Einkommen der Eltern abhängig ist. Ein Internetzugang und die dazugehörige Internetgeschwindigkeit sind vor allem im ländlichen Bereich durch die schwachen und überlasteten Leitungen, aber auch die nicht ausgereiften Lernplattformen nicht durchgängig möglich. Diese außergewöhnliche Situation kann aber auch dazu führen, dass sich Eltern und Kinder besinnen und sich wieder mehr annähern, da sie mehr Zeit miteinander verbringen. Manchen Eltern gelingt es, in dieser Situation nicht nur das Beklagenswerte zu sehen, sondern außerdem neue Möglichkeiten und Chancen zu erkennen und umzusetzen. Kinder spüren deutlich, wie ihre Eltern die herausfordernde Zeit der Pandemie erleben und darauf reagieren. Rocque Lobo (1998, S. 7) stellte fest, dass die zunehmenden Verhaltensauffälligkeiten bei Schülern auf innere Spannungen in der Interaktion zwischen Blutkreislauf und Nervensystem zurückzuführen sind, was vielen Lehrkräften als Konzentrationsmangel, Hyperaktivität, Unlustgefühl und Motivationshemmung bei den Kindern auffällt.

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Was aber können Lehrkräfte tun, um diese Auffälligkeiten zu minimieren und Kinder dabei zu unterstützen, ihr Gleichgewicht zu finden bzw. zu bewahren? Oft versuchen sie, dies rein äußerlich mit vielfältigen pädagogischen Interventionen zu bekämpfen. Aber so lange es nicht gelingt, zum einen auf der körperlichen Ebene eine längerfristige Stabilisierung bei diesen Kindern zu bewirken und zum anderen einen Ausgleich im Alltag der Schüler zu finden und zu etablieren, ist die Frustration für beide Seiten, Lehrer und Schüler, vorprogrammiert. Der alten indischen praxisnahen Yoga-Lehre ist es gelungen, Antworten auf die grundlegenden Probleme des menschlichen Lebens für jedes Alter zu geben. Yoga schaut gerade auf diese Situationen und geht diese alltäglichen Verunsicherungen an. Kann Marma-Yoga® im Schulalltag oder zu Hause helfen, mit den beschriebenen großen Verunsicherungen, Ängsten und dynamischen Anpassungsvorgängen fertig zu werden? Wie kann es gelingen, ein Bollwerk gegen diese Bedrohungen zu finden? Wie kann man mit diesem Stress fertig werden? Yoga-Übungen können im Schulalltag bewirken, psychische Spannungszustände und Stresssymptome, die sich in Aggressivität entladen, aber auch depressive Stimmungen und Angstzustände zu reduzieren und unausgewogene Zustände auszugleichen. Wichtig ist dabei, auch den Kontext, in dem die Schüler sich bewegen, zu berücksichtigen. Deshalb sollten Yoga-Übungseinheiten in den Unterrichtsalltag eingebaut werden, welche die Schüler in die Lage versetzen sollen, sich selbst spüren zu lernen, um einseitige Belastungen des modernen Lebens auszugleichen und Selbstwirksamkeit zu erleben.

Praktische Beispiele An einigen Unterrichtseinheiten soll im Folgenden beispielhaft gezeigt werden, wie Marma-Yoga® in den Unterrichtsalltag im Klassenraum integriert werden kann. Damit es auch von den Lehrern mitgetragen wird, fand eine Informationsstunde einige Wochen vorher statt. Wichtig war in diesem Zusammenhang auch die Information der Eltern, die über Arbeitsblätter, die ihren Kindern mitgegeben wurden, bei jeder Stunde detaillierte Kenntnisse über die Übungen und den Sinn der Übungen – verbunden mit der Anregung, dies auch zu Hause zu probieren – erhielten. Die einzelnen Unterrichtseinheiten sind vor der Coronapandemie in der Klasse und in der Yoga-AG durchgeführt worden. In der Coronapandemie zeigt sich das Dilemma, dass gerade Nähe und körperliche Berührungen nicht erlaubt sind, diese aber nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene beruhigen, ihnen das Gefühl der Sicherheit geben und damit zur Stressreduktion beitragen können. Es wurden daher von mir, auf-

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bauend auf den Erfahrungen, welche die Kinder im Unterricht gemacht haben, einige Übungen an die Schüler und deren Eltern geschickt. Hier nun einige Beispiele, die im Klassenzimmer durchgeführt werden können.1 Erste Unterrichtseinheit

Thema: Anspannung und Entspannung Ziele: Ȥ ein Gefühl für Anspannung und Entspannung bekommen Ȥ Anspannung und Entspannung wahrnehmen und erzeugen können Ȥ Anspannung und Entspannung im Kontakt mit anderen erleben Einführung: Bedeutung des Wortes »Marma« Ansage: »Kluge Männer in Indien haben beobachtet, dass es bestimmte Stellen im Körper gibt, die besonders empfindlich reagieren. Sie sind wie eine Ampel, die dir zeigt, was dir guttut und wo deine Grenzen sind. Diese Stellen nannten sie Marmas. Oft wird Yoga mit Entspannung gleichgesetzt. Wir brauchen aber auch Anspannung, z. B. wenn du eine Hausaufgabe machst oder wenn du dich im Unterricht konzentrieren musst. Wichtig ist die Abwechslung zwischen Anspannung und Entspannung. Dies üben wir heute.« Übungen: Begrüßungszyklus Ȥ Wir begrüßen den Himmel – Arme nach oben. Ȥ Wir begrüßen die Erde – Arme nach unten. Ȥ … den Wind – die Arme nach oben strecken und nach rechts und links bewegen. Ȥ … das Wasser – mit gegrätschten Beinen und die Arme am Boden. Ȥ … die Blumen – in die Knie gehen und die Hände nach oben strecken. Ȥ … die Bäume – die Hände nach oben strecken, ein Bein abwinkeln. Ȥ … die Tiere der Luft – die Arme nach hinten und unten strecken, den Kopf nach oben. Ȥ … die Tiere auf der Erde und im Wasser – die Knie gestreckt, den Kopf nach unten, die Hände nach hinten. Ȥ … die Menschen – die Hände zusammen und leicht verbeugen. Je nach Möglichkeiten des Kindes sind die Übungen zu verändern.

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Nach Kragh, 1998, S. 59, modifiziert für 9-jährige Kinder mit Förderbedarf von Birgit Erdle.

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Baumstellung allein und in der Gruppe Fragen zur Übung mit dem Baum: Ȥ Was ist für dich einfacher, den Baum allein oder in der Gruppe zu machen? Ȥ Wo fühlst du dich stabiler – als Teil der Gruppe oder allein? Aufgaben: Ȥ Überlege Situationen, in denen du Anspannung brauchst! Ȥ Überlege Situationen, in denen du entspannen kannst! Ȥ Wie war dein Gefühl dabei? Eher ruhig und gelassen oder eher ungeduldig und unkonzentriert? Ȥ Wann bist du im Schulalltag unruhig und ungeduldig und wann ruhig und gelassen? Unterrichtseinheit zu einem fortgeschrittenen Zeitpunkt

In der heutigen Zeit werden vor allem die entwicklungsgeschichtlich jüngeren Sinne wie das Sehen und das Hören besonders beansprucht. Ziel dieser Unterrichtseinheit ist es, die entwicklungsgeschichtlich älteren Sinne wie Riechen, Schmecken und Tasten bzw. Fühlen zu schulen. Insbesondere beim Fühlen und Tasten muss besonders sensibel auf die Kinder eingegangen werden, da es Kinder gibt, die Berührungen nicht mögen oder damit schlechte Erfahrungen gemacht haben. Daher sollte diese Unterrichtseinheit erst zu einem späteren Zeitpunkt durchgeführt werden, wenn ein gutes Vertrauensverhältnis zwischen den Schülern, aber auch zwischen den Schülern und der Yoga-Lehrerin aufgebaut worden ist. Es wird auch der Hörsinn geschult, da in unserer reizüberfluteten Welt ruhige Töne oft überhört werden, diese aber zur Beruhigung des Nervensystems beitragen. Thema: Schulung der Sinne Ziele: Ȥ Geschmacks- und Tastsinn sensibilisieren und erkennen, was mir schmeckt und was nicht Ȥ den Hörsinn sensibilisieren und erkennen, was ich gern höre und was nicht Materialien: Ȥ etwas Süßes, Saures, Salziges und Bitteres Ȥ Klangschale, Stimmgabel

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Übungen (am Platz sitzend oder stehend): Atmen: Ȥ Einatmen: Arme nach oben strecken; Ausatmen: Arme nach unten bewegen Ȥ jeder für sich fünfmal Einladung zur Stille: Ansage: »Setze dich bequem, aber aufrecht auf deinen Stuhl, bringe den Rücken gegen die Lehne, lass die Hände auf den Oberschenkeln ruhen und den Kopf leicht nach vorn fallen. Diesen Sitz nennt man den Droschkenkutschersitz, weil Kutscher früher auf den Kutschböcken sich so ausgeruht haben, wenn sie einige Minuten Zeit hatten.« Fragen und Ansagen: Ȥ Was sind Droschken? Was ist ein Kutscher? Ȥ Schließe die Augen. Ȥ Lausche in die Stille hinein. Ȥ Ist es wirklich ganz still oder hörst du irgendwelche Geräusche? Ȥ Du hast ein paar Minuten Zeit, um zu lauschen. Ȥ Was hast du gehört? Ansage: »Wenn in deiner Klasse alle durcheinanderreden, dann ist es sicher manchmal sehr laut.« Fragen: Ȥ Ist dies für dich angenehm? Ȥ Wo spürst du das? Ȥ Wie kannst du sagen, was du brauchst, sodass dich die anderen hören? Übung zur Sensibilisierung für den Hörsinn: Fragen und Ansagen: Ȥ Welche Tiere kennst du, die besonders gut hören? Ȥ Warum ist es wichtig, gut zu hören? Ȥ Kannst du gut zuhören? Ȥ Du sagst deiner Partnerin etwas ins Ohr! Sie/er sagt, was er verstanden hat. Jetzt umgekehrt. Ȥ Übe es noch ein paarmal! Wichtig ist: Zuhören lernen! Ȥ Wer hört dir gut zu? Was hörst du gern? (z. B.: »Das hast du gut gemacht!«) Ȥ Verschiedene Töne und Klänge anstimmen!

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Ȥ Ȥ Ȥ Ȥ

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Was hörst du? Beschreibe den Klang! Ist es dir zu laut, zu leise? Ist es angenehm oder nicht angenehm? Welche Töne regen dich eher an, welche beruhigen dich?

Übung zur Sensibilisierung für den Geschmackssinn: Beispiele für Geschmacksrichtungen geben: Ȥ sauer: Zitrone, Mandarine Ȥ salzig: Salzletten, Nüsse Ȥ süß: Schokolade Ȥ bitter: Chicoree-Salat Die verschiedenen Sachen bei geschlossenen Augen schmecken: Ȥ Was ist für dich angenehm? Was ist nicht angenehm? Ȥ Was würdest du jetzt gern essen? Ȥ Was brauchst du in diesem Moment? Ȥ Was tut dir auch heute Abend noch gut? Übung zur Sensibilisierung für das Fühlen2: Ansagen und Fragen: Ȥ Setze dich Rücken an Rücken mit deinem Nachbarn. Ȥ Setzt euch nun Rücken an Rücken auf den Boden oder auf eure Stühle. Ȥ Versucht, einen Moment lang auszuprobieren, wie ihr zu zweit am besten gemeinsam sitzt. Ȥ Wichtig ist, dass euch dabei nichts weh tut und ihr euch wohlfühlt. Ȥ Ihr sollt euch ganz bequem aneinander anlehnen. Ȥ Wenn ihr nun ganz gemütlich sitzt, schließt eure Augen. Ȥ Wenn dies für euch unangenehm ist, dann dürft ihr die Augen auch offenlassen. Ȥ Spürt euren Rücken. Ȥ Wie fühlt sich das an? Ist der Rücken warm? Ist er kalt? Hart oder weich? Ȥ Dann spürt auch den Rücken eurer Partnerin/eures Partners. Ȥ Wie fühlt es sich an, einen Rücken als Lehne zu haben? Ist es bequem, so zu sitzen? Ȥ Nun könnt ihr versuchen, euren Rücken aneinander zu reiben. 2 Nach Seyffert, 1997, S. 66.

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Ȥ Vielleicht gelingt es euch, dabei eine noch bessere und gemütlichere Haltung zu finden. Ȥ Wenn ihr mögt, könnt ihr auch mit euren Rücken sanft hin- und herschaukeln. Ȥ Findet dabei einen Rhythmus, der euch beiden gefällt. Ȥ Ganz gleichmäßig und ruhig schaukelt ihr hin und her. Ȥ Werdet nun langsamer und lasst das Schaukeln ausklingen. Ȥ Bevor ihr die Augen öffnet, spürt noch einmal in den Rücken hinein. Ȥ Fühlt sich der Rücken nun anders an? Weicher, wärmer? Ȥ Versucht auch wieder, den Rücken eures Partners zu spüren. Ȥ Jetzt könnt ihr langsam die Augen wieder öffnen und in diesen Raum zurückkehren. Ȥ Steht auf, um euch kräftig zu recken und zu strecken. Ȥ Atmet einige Male tief ein und aus. Wer mag, kann auch herzhaft gähnen. Ȥ Du kannst also hören, sehen, fühlen, schmecken, riechen und sehen. Ansage: »Als du noch im Bauch deiner Mutter warst, konntest du hören, schmecken, riechen, fühlen, aber noch nicht sehen. In der heutigen Zeit brauchst du besonders häufig den Sehsinn, z. B. beim Fernsehen, am Computer, beim Rad und Auto fahren. Daher wird der Sehsinn oft überlastet, aber die anderen Sinne wie Riechen und Fühlen kommen oft zu kurz. Dadurch entsteht ein Ungleichgewicht. Versuche immer wieder, bewusst zu riechen, zu schmecken und zu fühlen. Du kannst gern zu Hause auch mit deinen Eltern die Übungen probieren und beim täglichen Zubereiten des Essens darauf achten, welche Gerüche und Geschmäcke du wahrnimmst.« Fazit: Die Schulung insbesondere der »alten Sinne« eröffnet ein breiteres Spektrum der bewussten Wahrnehmung. Im Sommer kann diese Unterrichtseinheit auch im Biologieunterricht mit Kräutern und Düften aus der Natur durchgeführt werden. Im Kochunterricht kann die Sensibilisierung des Geruchs- und Geschmackssinns dazu dienen, gesundheitsförderliche Lebensmittel nach den eigenen Bedürfnissen auszuwählen und nicht den Verführungen unserer Lebensmittelindustrie zu folgen. Hinweise auf die Vielfalt von Kräutern erweitern den Genuss und machen Lust auf schmackhafte Gerichte. Das fördert die Selbstwirksamkeit sowie Experimentierfreude und Kreativität. Da der Zugang zur Gefühlswelt eng mit dem Geruchssinn verbunden ist, kann im Teenageralter eine Erweiterung um Fragen wie »Was schmeckt mir im Sommer, was im Winter?«, »Wie ver-

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ändert sich mein Appetit im Laufe des Tages?« oder »Welche Lebensmittel tun mir gut, welche nicht?« erfolgen. Im Āyurveda, der Lehre und Wissenschaft vom gesunden, ausgewogenen Leben, ist der Appetit eines Menschen, seine Vorliebe für einen bestimmten Geschmack, ein Kriterium für seine Prakrti (das Wesen des Menschen) (Lobo, 1987, S. 40). Unterrichtsbeispiel der YOGA-AG3

Thema: Grenzen erkennen, achten und erweitern – sich Raum schaffen und anderen Raum lassen4 Ziele: Ȥ die eigenen Grenzen spüren und achten Ȥ die Grenzen anderer wahrnehmen und achten Übung: Mauern bauen und erweitern: Ansage: »Wir machen dazu ein Spiel. Es heißt: ›Mauern bauen und erweitern‹. Wie geht das Spiel?« Die Anleitung im Raum vormachen. Ansagen: Ȥ Verteilt euch in diesem Raum und sucht euch einen festen Platz. Ȥ Stellt euch nun vor, ihr habt eine Mauer um euch herum. Ȥ Diese Mauer kann ganz nah bei euch sein oder weiter entfernt. Ȥ Sie ist ja nicht wirklich mit Steinen da, sondern ihr zeigt diese mit euren Händen an. Ȥ Jetzt geht einer von euch an allen anderen Mitschülern möglichst nahe vorbei. Ȥ Die an ihrem festen Platz stehen, zeigen mit den Händen oder Geräuschen (Laute, Wörter oder Sätze) an, wie nahe der Mitschüler euch kommen darf. Ȥ Es muss aber für euren Mitschüler möglich sein, dass er so viel Raum bekommt, dass er durch die Gruppe gehen kann und nicht »vor die Wand/ Mauer« läuft. Ȥ Wir wechseln jetzt die Positionen.

3 Diese Stunden fanden in einer Turnhalle statt. 4 Nach Kragh, 2003, modifiziert für 9- bis 10-jährige Kinder mit Förderbedarf von Birgit Erdle.

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Fragen zum Nachspüren: Ȥ Wie viel Platz möchte ich und brauche ich um mich herum, um mich wohlzufühlen? Ȥ Gibt es Menschen, die dies nicht achten? Ȥ Wie kannst du dies zeigen? Achtest du auch die Grenzen anderer? Ȥ Wie kannst du dies verbessern? Ȥ Gibt es Situationen in eurem Alltag, wo jemand euren Raum nicht akzeptiert? Ȥ Wie kannst du dem anderen zeigen, wo deine Grenzen sind? Ȥ Wie fühlt sich das an? Anregung, um Grenzen zu zeigen: Ȥ Du kannst Grenzen zeigen, indem du dies mit deinen Händen signalisierst oder indem du laut »Stopp!« sagst, wenn jemand dir zu nahekommt. Yoga-Übungen im Sitzen am Boden mit Partner: Ansage: »Sucht euch einen Partner und setzt euch in den Schneidersitz, Rücken an Rücken, aufrecht und bequem.« Ansagen und Fragen: Ȥ Spürt die Wärme eurer Partnerin im Rücken. Ȥ Wie fühlt sich das an? Ȥ Legt eure Hände neben euren Hüften auf den Boden. Ȥ Greift nun die Hände eurer Partnerin/eures Partners. Ȥ Atmet gemeinsam ein und aus. Ȥ Streckt beim Einatmen die Arme so weit über den Kopf, wie es euch beiden angenehm ist. Ȥ Senkt beim Ausatmen die Arme wieder zum Boden. Ȥ Übt dies einige Minuten lang mit geschlossenen Augen. Ȥ Stellt jetzt die Füße auf. Hakt euch mit den Armen ein und versucht, gemeinsam Rücken an Rücken aufzustehen! Anschließend: Entspannen auf der Zauberwiese (Geschichte erfinden). Weitere Themen, die mit Körperübungen erfahren werden können (Kragh, 2003, S. 37): Ȥ Öffnung und Schutz Ȥ Geben und Nehmen Ȥ Abschiednehmen und Loslassen

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Ȥ Gegeneinander und Miteinander Ȥ Kraft, Vertrauen und Hingabe

Marma-Yoga® für Kinder in verunsichernden Zeiten Da es durch den Lockdown und die Unterbrechung des Schulalltags nicht mehr möglich war, direkt mit den Kindern im Unterricht Marma-Yoga® zu üben, sie aber bereits Erfahrungen damit gemacht hatten, entschied ich mich, den Kindern eine Anleitung für zu Hause zukommen zu lassen. Es folgt eine Kurzfassung des Inhalts: »Diese Zeiten sind ja für uns alle ganz besonders. Manchmal verunsichernd, weil wir nicht wissen, was morgen ist. Euer Rhythmus ist jetzt ganz anders. Ich bin neugierig und es würde mich interessieren, wie ihr euch ohne Schule, Sport und Spiel, aber auch ohne Freunde fühlt. Erinnert ihr euch an unsere Yoga-Stunden? Yoga haben Menschen erfunden, damit sie Zeiten, die sie als unsicher erlebten, gut überstehen konnten. Ihr hört jetzt oft die Wörter ›Coronavirus‹ und ›Krise‹ und seid vielleicht beunruhigt, dass ein Virus euch oder eure Eltern krank machen könnte. Jeder Mensch hat die Möglichkeit, sich zu stärken, damit er nicht krank wird. Sicher seid ihr alle schon einmal mit einer Erkältung im Bett gelegen, hattet Husten, Schnupfen, vielleicht auch Fieber. Nach einiger Zeit ging es euch aber wieder besser und ihr habt es gut überstanden. Jeder Mensch hat im Körper viele Zellen, die Fremdkörper bekämpfen. Das nennt man Immunsystem. Die Menschen in Indien haben dies beobachtet und eine Überlebensstrategie erfunden. Dies nannte man Yoga. Hier einige Anregungen, wie ihr zu Hause allein oder mit euren Eltern und Geschwistern Yoga nutzen könnt, um Ȥ eure Gedanken zu sortieren, damit ihr eure Aufgaben gut bewältigen könnt, Ȥ Unruhe in Ruhe zu verwandeln, Ȥ mit Angst besser umgehen zu können und Ȥ tief und fest schlafen zu können, um am Tag ausgeruht zu sein. Hier einige Übungen (Āsanas), die wir zusammen gemacht haben. Probiere sie zuerst allein und dann mit deinen Eltern und Geschwistern. Der Berg: Du stehst stark und aufrecht wie ein Berg. Deine Füße sind fest am Boden, stehen parallel zueinander. Dehne dich in die Länge, als wenn du immer weiter wachsen möchtest. Trotzdem bleiben deine Füße auf dem Boden. Lasse deine

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Schultern sinken und schließe einen Moment die Augen. So kannst du spüren, ob es dir gelingt, Ruhe zu finden und neue Kräfte zu sammeln. Manchmal kann es sein, dass dir das noch nicht gelingt, weil du vielleicht einen aufregenden Tag hattest. So sagt dir dein Körper, wie es dir gerade geht und was du jetzt brauchst. Spüre nach: Kann ich allein ruhiger stehen oder stehe ich mit meinen Eltern besser? Spüre nach, wie ihr euch gegenseitig unterstützt. Rhythmus-Übung: Du suchst dir eine Musik heraus, die dir gefällt. Spüre dem Rhythmus nach und bewege dich im Takt der Musik. Versuche, deine Eltern und Geschwister zu animieren, dass sie sich mit dir im Rhythmus bewegen. Ist es schön, sich gemeinsam im Rhythmus zu bewegen? Was tut dir gut? Was gefällt dir besser, sich lieber allein oder zu mehreren zu bewegen? Massage mit Ball: Sicher habt ihr zu Hause einen kleinen Ball oder ihr kauft euch einen günstig im Supermarkt. Dann könnt ihr euch gern gegenseitig massieren. Ein ›Igelball‹ eignet sich besonders gut. Wenn ihr den nicht zu Hause habt, dann nehmt einen kleinen Ball oder eure Hände. Spüre nach, wie es für dich am angenehmsten ist und ob du das jetzt möchtest. Außerdem: Mache öfter mit deiner Familie einen Spaziergang im Freien und atme tief ein und aus. Folgende Sätze sagt ihr euch dabei leise vor: Ȥ beim Einatmen: ›Ich bin stark.‹ Ȥ beim Ausatmen: ›Mir kann nichts passieren, mit Ruhe reagieren!‹ Ich bin mir sicher, dass ihr ganz stark seid und das Virus euch nichts anhaben kann.«

Fazit Die vorgestellten Übungseinheiten mit Marma-Yoga® für Kinder sollen Lehrkräfte und Erzieher anregen, sich mit Körperübungen im Alltag ihrer Schüler zu beschäftigen. Die Yoga-Stellungen sollten den jeweiligen Bedürfnissen einer Klassensituation angepasst werden und können mit verschiedenen Themen im Unterricht kombiniert werden.

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Selbstwirksamkeit stärken – Wohlbefinden fördern

Literatur Cloerkes, G. (1997). Soziologie der Behinderten. Eine Einführung. Heidelberg: Universitätsverlag Winter. Kragh, E. (2003). YOGA in der Schule – Zeit finden für Bewegung und Stille (6. Aufl.). Lichtenau: AOL. Lobo, R. (1987). Āyurveda – Besser leben im Rhythmus der Zeit. Zürich/Chur: Edition Astroterra. Lobo, R. (1998). Vorwort in E. Kragh. (2003). YOGA in der Schule. Zeit finden für Bewegung und Stille (6. Aufl.). Lichtenau: AOL. Seyffert, S. (1997). Viele kleine Streichelhände. Kinder massieren Kinder. Münster: Menschenkinder.

Birgit Erdle (*1960) ist Yoga-Trainerin mit über dreißig Jahren Berufserfahrung. Sie hat Abschlüsse als MTA (medizinisch-technische Assistentin), als Diplom-Medizinpädagogin (Humboldt-Universität Berlin); Gesundheitspädagogin (KSI – Körperorientierte Soziale Intervention an der FH für Sozialpädagogik, München), Yoga-Lehrerin BUGY. Berufliche Erfahrungen: Fachlehrerin für Hämatologie an der Akademie für medizinische Fachberufe der Universität Ulm; Mitarbeiterin der psychiatrischen Praxis Albert Pröller in Dillingen a. d. Donau; Lehraufträge im BFZ Augsburg und an der Dualen Hochschule in Heidenheim. Organisatorin der Dillinger Initiative Depression; Projektorin zur beruflichen Gesundheitsförderung in der Kreisklinik Dillingen a. d. Donau; Yoga-Kurse mit Kindern in Augsburg und in der Förderschule in Ursberg. Auch engagiert sie sich im Gemeindepsychiatrischen Verbund des Landkreises Dillingen a. d. Donau als Vertrauensperson und Leitung des AK Kinder- und Jugendpsychiatrie, 1.Vorsitzende des Kinderschutzbundes KV Dillingen a. d. Donau. Kontakt: Praxis für Gesundheitsförderung, Große Allee 28, D-89407 Dillingen a. d. Donau, Tel.: 09071-728560, www.birgit-erdle.de.

Medizintechnik im Dienste von Hatha-Yoga, Selbstwirksamkeit und Wohlbefinden

Technologie und Wissenstransfer: Medizintechnisch untersuchte Phänomene der interaktionellen Kohärenzdynamik Rocque Lobo

Vorbemerkung: Der nachfolgende Text ist das Manuskript zum Vortrag von Rocque Lobo, den er im Rahmen des Salutogenese-Symposiums »Gesundheit zwischen den Menschen« im Mai 2016 in Göttingen gehalten hat. Das Manuskript vermittelt einen Eindruck von der die unterschiedlichsten Disziplinen vernetzenden Denkwelt Rocque Lobos. Es sei an dieser Stelle ein besonderer Dank an Frau Dorothee Lobo ausgesprochen; sie hat die Veröffentlichung des Manuskripts erlaubt.

Der Titel meines Vortrags hat sich im Dialog mit den Organisatoren dieses Symposions entwickelt, denen ich hiermit meinen Dank für die Einladung gern aussprechen möchte, besonders Frau Dr. Brigitte Wagner, Herrn Dr. Ottomar Bahrs und Herrn Michael Röslen für die Prägung des Begriffs »Phänomene der interaktionellen Kohärenzdynamik« anhand des Abstracts, das ich im September 2015 eingereicht hatte. Das Ergebnis des Dialogs mit den Organisatoren dieses Symposions wurde weiterhin vom »Inkrafttreten« des neuen Präventionsgesetzes am 1.1.2016 präzisiert, in welchem die Neufassung von § 20 SGB V Abs. 1 wohl präziser als in der Fassung von 2008 formuliert ist. Der Gesetzgeber wird sich wohl etwas dabei gedacht haben, wenn er »Leistungen für Primärprävention«1 (2008) in »Leistungen zur Verhinderung und Verminderung von Krankheitsrisiken (primäre Prävention) sowie zur Förderung des selbstbestimmten gesundheitsorientierten Handelns der Versicherten (Gesundheitsförderung)«2 (2016) erweitert und den Satz »Leistungen nach Satz 1, insbesondere hinsichtlich Bedarf, Zielgruppen, Zugangswegen, Inhalten und Methodik« (2008) ergänzt hat durch »Qualität, intersektoraler Zusammenarbeit, wissenschaftlicher Evaluation und der Messung der Erreichung der mit den Leistungen verfolgten Ziele.« Diesen vorgegebenen Rahmen für die Gesundheitsförderung vor Augen richtete ich meine Forschung und die Präsentation meiner Untersuchungsergebnisse 1 https://www.buzer.de/gesetz/2497/al10415-0.htm (Zugriff am 07.06.2021). 2 https://www.buzer.de/gesetz/2497/al52774-0.htm (Zugriff am 07.06.2021).

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hauptsächlich auf »Qualität, intersektoraler Zusammenarbeit, wissenschaftlicher Evaluation und der Messung der Erreichung der mit den Leistungen verfolgten Ziele« im Angebot von Yoga als Methode der individuellen und betrieblichen Gesundheitsförderung in Deutschland heute.

Zum Begriff »interaktionelle Kohärenzdynamik« 1. Kohärenz verstehe ich einerseits im Sinne von Aaron Antonovsky als eine Art Zuversicht und Vertrauen in das Leben an sich und in die eigene Kraft, das eigene Leben auch und besonders in Krisensituationen zu meistern. Ich erweitere diesen Begriff mit den Erkenntnissen, die ich durch die Einbeziehung der Arbeit eines südamerikanischen Medizinsoziologen unserer Jahre, Orlando Patterson, an der Geschichte der Sklaverei in Brasilien im 19. Jahrhundert gewonnen habe, um einige sehr pointierte Hinweise für den modernen »Yoga im Westen« zu liefern und vor allem mitten in der Flüchtlingsdebatte in Europa und der Auseinandersetzung mit dem Islam. Angelehnt an die Problematik der kastrierten Sklaven vergangener Epochen im Westen wie im Osten (Asien), fragte ich nach der Auffassung von Kohärenz der ersten Dāsus, versklavte Ureinwohner Indiens, die das System Yoga in vorchristlicher Zeit als philosophischen Rahmen für die Selbstfindung und Behauptung des eigenen Selbst jenseits der Fremdbestimmung durch die Neuen Herren (Ᾱryas) geprägt hatten. 2. Die interaktionelle Dynamik um dieses Vertrauen herum und um diese Zuversicht kann im Sinne der reellen Bewältigung von Krisensituationen als Therapie oder in virtuellem Sinne der Prävention als Simulation einer solchen Krisensituation heute für die Implementierung des § 20 SGB V 2016 verstanden und vorweggenommen werden. 3. Die medizintechnischen Untersuchungen beziehen sich demnach in beiden Fällen, Therapie und Prävention, auf diagnostische Messungen krankmachender oder gesundheitsförderlicher Veränderungen innerhalb aussagekräftiger physiologischer Parameter während dieser Interaktionen. 4. Das Kreieren von virtuellen Situationen kann in postoperativen Körpern von Yoga-Übenden nichts bewirken, wo die anzusprechenden Organe nicht mehr vorhanden sind. Bei der Revision der Ergebnisse meiner Pretests in der ersten Phase meiner Untersuchungen im Rahmen der Vorgaben der Organisatoren dieses Symposions in ihrem Call for Papers vom Juli 2015 jedoch fiel mir auf, dass schon in der Technik der Gesundheitsförderung Marma-Yoga®, das ich in den 1970er bis weit in die 1990er Jahre hinein entwickelt hatte und in den Jahren 2000 bis

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Medizintechnik im Dienste von Hatha-Yoga, Selbstwirksamkeit und Wohlbefinden

heute immer weiter verfeinere, die Idee der interaktionellen Kohärenzdynamik für die Operationalisierung in einer medizintechnischen Untersuchung umgesetzt worden ist. Konkret heißt dies: Ȥ Im Yoga der vorchristlichen, auch buddhistischen Periode der indischen Geistesgeschichte und in der Hinduperiode von etwa 300 bis 1200 n. Chr. sind die Waffen der Gegner der Yogis stark von der Mechanik (Pfeil und Bogen) und zum Teil von der Chemie (Pfeilgifte aus Schlangen, Skorpionen u. a.) geprägt. Adäquate medizintechnische Untersuchungen für die interaktionelle Kohärenzdynamik dieser Yoga-Techniken für die Gesundheitsförderung bedienen sich daher der herkömmlichen Mittel der Mechanik bei der Ermittlung der Wirkung von Āsanas und Prāṇāyāma auf die physiologischen Abläufe im Körper der Übenden: Welche kompensatorischen Maßnahmen ergreift die innerkörperliche Kohärenz, um den zerstörerischen Wirkungen der Waffen zu begegnen? Das ermitteln wir heute anhand von druck-, dehn- und volumenverändernden Applikationen in unseren Vitalpro-Systems-I-Modulen von didaktischen Hilfskonstrukten für die MarmaYoga®-Praxis und anhand von Erhebungen der Differenz des mittleren arteriellen Blutdrucks in den Armen und Beinen während der Applikationen. Ȥ Bei der Durchführung von Yoga-Techniken in der heutigen Gesundheitsförderung, die aus dem mittelalterlichen Yoga/Haṭha-Yoga stammen, verwenden wir Kopplungen dieser Techniken mit elektrodynamischen Magnetresonanz-Wechselfeldern und beobachten auch hier die Differenzen im MAD (mittlerer arterieller Blutdruck) in den Armen und Beinen während der Übungen mit den Applikationen. Wir tun dies heute deswegen, weil es eine Reihe von Apparaturen auf dem 22. Gesundheitsmarkt gibt, die behaupten, dass es möglich ist, mithilfe dieser elektrodynamischen MagnetresonanzWechselfeldern innerkörperliche Desynchronisierungen und sogar Krankheiten und Inkohärenz im Allgemeinen in Richtung Synchronie und Harmonie zu reorganisieren und Krankheiten sogar zu heilen. Doch auch hier möchten wir wiederum auf die neuartigen, aus China durch die muslimischen Afghanen nach Indien importierten »Feuerwaffen« der Jahre 1000 bis 1200 n. Chr. hinweisen, welche für die neuartigen medizintechnischen Untersuchungen des Spätmittelalters und zur Veränderung der alten YogaTechniken und die Entwicklung des Haṭha-(Gewalt)Yoga (13. Jh.) Anlass gegeben hatten, welche sogar den Blick auf die Marmas in Yoga völlig neu ausgerichtet hatte und dadurch schon neue Techniken im Yoga des Mittelalters entwickelt hatte. Ȥ Bei der Durchführung von Yoga-Techniken in der heutigen Gesundheitsförderung, die aus dem späteren Haṭha-Yoga (17./18. Jh.) stammen, verwende

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ich Anteile der älteren Techniken in der Kopplung mit reellen Visualisierungen des realen, ideologisch transkulturellen, interreligiösen Kampfes zwischen körperlicher Kohärenz und dem körperlichen Tod. Ich platziere die Techniken zur Erweckung der Kuṇḍalini, der Unsterblichkeitskraft Amṛta aus der Gegend der Prostata, virtuell auf die Bühne des kaiserlichen Königshauses von Delhi und Agra, auf welcher sich ein blutiger Krieg zwischen zwei Brüdern, potentiellen Erben des Throns des Großmoguls Shahajahan, Dårah, dem durch Jesuiten aus Goa getauften Christen und Aurangzeb, dem bigottischen sunnitischen Muslim und ihrem Vater, dem König Shahajahan vor den Augen der hinduistisch-buddhistisch-sikh orientierten Yogis einerseits und der Kulisse des Mahnmals der unsterblichen Liebe des Königs Shahajahan jüngerer Jahre zu seiner verstorbenen Taz (Mumtaz), dem Tajmahal im 17. Jahrhundert andererseits abspielt. Wir beobachten auch hier die Differenzen im MAD in den Armen und Beinen während der Marma-Yoga®-Übungen, welche von deutschen Männern über siebzig mit den modernen didaktischen Hilfsmitteln von Vitalpro-Systems I und II als Applikationen zusammen mit Bildmeditationen des Tajmahal als Einlagen ausgeführt werden. Die heutigen von mir durchgeführten medizintechnischen Untersuchungen des Phänomens der interaktionellen Kohärenzdynamik bedienen sich demnach der Verfahren aus zwei Bereichen der Biophysik: 1. im äußeren somato- und emotionalmotorischen Bereich aus der biophysikalischen Mechanik: Vitalpro-Systems I und 2. in der inneren Viszeromotorik aus der biophysikalischen Elektrodynamik, Vitalpro-Systems II, von welchen Sie in den Workshops mit Brigitte Wagner und Michael Röslen ein wenig werden erfahren können, um der Interaktion mit der Kohärenz im Inneren des Körpers der Übenden von Marma-Yoga® wissenschaftlich habhaft zu werden.

Kurz zum Thema »Yoga im Westen« Es ist keineswegs so, dass wir es hier mit einem rein pazifistischen gesundheitsfördernden Körper- und Geisttraining seit 5000 Jahren zu tun haben, welches wie eine göttliche Offenbarung unverändert geblieben ist. Yoga hat offensichtlich wie jede Philosophie und jede wissenschaftliche Disziplin eine Ideen- und Technikenentwicklungsgeschichte; und in diese möchte ich Sie kurz einweihen. Aus Zeitgründen muss ich hier schon eine Zusammenfassung der Hauptidee unserer

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Medizintechnik im Dienste von Hatha-Yoga, Selbstwirksamkeit und Wohlbefinden

Untersuchungen auf dem Gebiet »Prostata- (bei älteren Männern) oder Mamma(bei Frauen) Karzinome und postoperative Gesundheitsförderung« bringen, um meine Vorgehensweise in der Forschung beispielhaft/paradigmatisch zu erläutern. Es ist anzunehmen, dass die operative Entfernung großer Teile der befallenen Prostata wie bei einer Wunde auf dem Schlachtfeld oder Kriegsschauplatz die körperliche Kohärenz der Patienten so stört, dass eine Kompensation in Stresssituationen über die Produktion, z. B. von Dihydrotestosteron über die NNR (Nebennierenrinde) geschehen müsste, um das Gleichgewicht im Blutdruck, das  heißt, die MAD-Differenz zwischen den Armen und Beinen in verschiedenen Körperhaltungen (Āsanas) gemäß der orthostatischen Blutkreislauf-Selbstregulation aufrechtzuerhalten. Gerade hier jedoch versagt die alltägliche Sozialisation zum Krieg der Männer (und auch der Frauen) der älteren Generation eine brauchbare Anleitung zum Rückzug aus dem Gefecht in der Familie und im Alltag wie beim Großmogul Shahajahan und gewährt ihnen damit keinen sinnvollen gesundheitsfördernden Umgang mit ihrem eigenen lädierten Körper im Alter und in ihrem Austrag heute. Anhand zweier Lebensgeschichten von zwei männlichen freiwilligen Probanden in meinen Marma-Yoga®-Forschungsgruppen möchte ich mein Vorgehen bei der Aufstellung und Überprüfung meiner Arbeitshypothesen beleuchten.

Zum Thema Kohärenz bei alten Männern in der Industriegesellschaft Arbeitshypothese 1: Familiärer Stress, Konflikte zwischen älteren und jüngeren arbeitsfähigen Mitgliedern einer Großfamilie führen zu zweierlei Problemen mit der Prostata bei den älteren Verwandten. Die Inzidenz für BPH (Benigne Prostata Hyperplasie) bei Männern über siebzig liegt bei 90 % und darüber; bei Prostatakarzinom ist sie auch sehr hoch. Die präventive medizintechnische Untersuchung interaktioneller Kohärenzdynamik in dieser Population von älteren Männern aus dem Westen bedient sich in meinen Kreisen der Nāḍī Śuddhi aus der Vasiṣṭha Samhita III, einem Text aus dem 13. Jahrhundert, welcher erstmals in der Yoga-Literatur von der Verbindung zwischen den Nasenflügeln (Phanas) über die Tonkänäle (Nāḍīs) Īḍā und Piñgalā mit der Prostata (Kanda) spricht und eine Yoga-Technik zur Stärkung der Kohärenz beschreibt. Doch es wird in vielen Yoga-Schulen im Westen, die mit diesen Techniken arbeiten, nicht reflektiert, dass die Inzidenz für BPH in Asien, sogar in Japan, sehr niedrig ist im Vergleich mit der Inzidenz im Westen

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und dass dieses Faktum nicht unbedingt mit der Ernährung in Asien zu tun hat, sondern mit einem womöglich anderen Verständnis von Kohärenz für das Alter. Hat dies demnach auch etwas mit der interaktionellen Kohärenzdynamik zu tun, welche im »Yoga im Westen« falsch verstanden wird? Arbeitshypothese 2: Beim Auftreten von Harninkontinenz kann der Patient prophylaktisch bei dem einfachen Test Nāḍi Śuddhi (Vasiṣṭha Samhita III) entscheiden, ob die Symptome in Richtung Diagnose BPH oder Karzinom gehen werden und sein Verhalten in Sport und Yoga entsprechend danach orientieren. Zu Arbeitshypothese I fand ich zwei Fälle aus meinem Freundeskreis, mit welchen ich in intensiven Gesprächen zu folgenden Ergebnissen kam: 1. Proband A (74 Jahre) litt 2001 an einem Prostatakarzinom, welches operativ entfernt wurde. Demnach dürfte Nāḍī Śuddhi3 bei ihm keine Resultate erbringen, wenn seine momentane Kohärenzdynamik keinen kompensatorischen Weg aus dem Kampffeld zeigt. Seine Frau litt ein paar Jahre früher (1997) an Eierstockkrebs. Sie verstarb im Jahr 2006. Das Verhältnis des Probanden mit seinem jüngeren der beiden Söhnen ist, was Erbschaftsangelegenheiten anlangt, momentan sehr gespannt: Der Sohn von A (S_A), 42 Jahre, will sich in keinem Fall verpflichten, für die Pflege seines Vaters im Alter in irgendeiner Weise (gekoppelt mit dem, was er von ihm geerbt hat) zu sorgen, sollte Proband A eine solche Betreuung nötig haben. A berichtet, dass er durchaus den Ausbruch seiner Krankheit im Zusammenhang mit dem extremen Verhalten seines jüngeren Sohnes seiner leiblichen Mutter und ihm gegenüber in den Jahren 1997 bis 2001 sieht. Der einfache PSA-Wert (Prostata-spezifisches Antigen) vor der OP lag bei 30 ng/ml, obwohl die Norm bei etwa 4 ng/ml liegt. Heute liegt er bei A bei etwa 0,1 ng/ml, steigt aber, wenn sein Sohn im Konflikt mit ihm den entsprechenden männlichen Stress verursacht, nämlich Infragestellen seiner Fähigkeit, ein potenter und guter Vater zu sein. Über das Verhältnis von fPSA (freies PSA) zu tPSA (Total- oder Gesamt-PSA) im Blut sind keine Messungen durch den Urologen vorgenommen worden, sodass es mir nicht möglich war, zum Zeitpunkt der Vorbereitung dieses Vortrags meine Annahmen über die Funktion der NNR in diesem Fall zu überprüfen. Ich habe aber Hinweise erhalten von anderen Analysen der Zusammensetzungen des Blutes vom Bericht des Krankenhauses vom 28.4.2016, welche meine Arbeitshypothesen bestätigen. In den Fragen der SOCSkala (Sense of Coherence), besonders, was Enttäuschungen im Leben anlangt, rangiert A derzeit mit seinen Kohärenzwerten sehr schlecht. Er versucht seine

3 Atemtechnik des Prāṇāyāma, vereinfacht: Wechselatmung.

258

Medizintechnik im Dienste von Hatha-Yoga, Selbstwirksamkeit und Wohlbefinden

Unlustgefühle und seine innere Deprimiertheit durch viel Sport, Wandern, Radfahren und sogar den »Yoga im Westen« zu verdrängen. Bei einer solchen Wanderung erlitt er am 24.4.2016 starke Schwindelanfälle und in der Nacht vom 24. auf den 25.4.2016 hatte er sogar Atembeschwerden und wurde von seiner Lebensgefährtin ins Krankenhaus gebracht, wo er von der medizinischen Abteilung Kardiologie und Pneumonologie bis 28.4.2016 gründlich untersucht wurde. Diese Untersuchungen brachten jedoch keine Hinweise auf mögliche Ursachen für die Schwindelgefühle und die Atembeschwerden im somato- oder emotional-motorischen Nervensystem. Meine Annahmen jedoch, dass die Ursachen für diese Zusammenbrüche in den kardio-­ pulmologisch-physiologischen Abläufen nicht in den kompensatorischen Versuchen der Interfaces zwischen den somato-motorischen und den emotionalen Nervensystemen und den kardiovaskulären Regelungszentren im Gehirn zu finden wären, sondern in den Interfaces zwischen diesen Zentren, z. B. ­Nucleus Retroambiguus (NRA) und dem viszeromotorischen Zentrum im Beckenboden, dem POSC (Pelvic Organe Stimulating Center) und dem PFSC (­Pelvic Floor Stimulating Center) liegen würden, sah ich durch diese und weitere Untersuchungen (auch mit anderen Klienten) bestätigt. Der Weg zu diesen Interfaces des Klienten durch die Waffen seines Gegners, in diesem Fall seines Sohnes, war versperrt gewesen. Ich hatte schon vor einiger Zeit im Zusammenhang mit der Lektüre der Arbeit von G. Holstege (2014) ein Untersuchungsdesign für meine eigene tägliche Praxis entwickelt, dass existentiell bedrohliche Situationen bei Männern im Alter über sechzig sich über den Nucleus Retroambiguus in den prostatakarzinogenen Zellanteilen deswegen bemerkbar machen könnten und zu Prostatakrebs führten, weil der rechte Teil des NRA in solchen Situationen über Pheromonrezeptoren im linken Nasenloch angesprochen wird. Diese übermäßige Aktivität in den karzinogenen Teilen der Prostata würde sich im Harnverhalten, das heißt im Intervall und der Quantität des gestörten Urinflusses bemerkbar machen. Der Test, ob diese Störungen im Urinverhalten wirklich etwas mit einer existentiellen Bedrohung für die Patienten zu tun haben könnte, wollte ich durch einen halbseitigen Test in Nāḍi Śuddhi unter Beweis stellen. Ich atmete selbst in meiner täglichen Prāṇāyāma-Praxis regelmäßig durch das linke Nasenloch ein und durch das rechte Nasenloch aus. Ich wechselte den Test zum rechten Nasenloch beim Einatmen und linken Nasenloch beim Ausatmen und stellte fest, dass dieses Atemverhalten einen deutlichen Einfluss auf das Urinverhalten hatte. Ich brachte diese Einsichten im Gespräch mit einem befreundeten Urologen ein und zusammen entwickelten wir folgendes Untersuchungsdesign:

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259

Zum Ansprechen des NRA über das PAG im Mittelhirn und Hirnstamm Bekannt ist, dass das PAG (periaquaeductales Grau) mit der Erfahrung von Schmerz/Bedrohung, Schmerzstillen und -bewältigung durch Flucht und Kampf, aber auch laut den zitierten Arbeiten von G. Holstege mit der Reproduktionsaktivität im Beckenboden – der Ejakulation von Samen beim Mann und dem Orgasmus bei der Frau – betraut ist. Eine Stimulation des rechten PAG durch DBS (Deep Brain Stimulation) des subthalamischen Nucleus (STN, ein Basalganglion, wichtig bei der Parkinsonschen Erkrankung) veränderte das Verhalten der Miktion: Läsionen des rechten Teils des PAG und des rechten POSC resultierten nicht nur bei Katzen, sondern auch bei Menschen in einer totalen Unfähigkeit zu urinieren über Tage (Holstege, 2014, S. 382). Bei den Katzen war diese Unfähigkeit irreversibel, bei Menschen nach einigen Tagen reversibel. Wichtig ist, zu merken, dass sich der Einfluss des PAG auf die POSC im Fall der Blase und der Prostata auf den Druck in der Blase erstreckt, der Einfluss auf die PFSC dagegen nur auf die Muskeln im Beckenboden, sich aber nicht auf den Druck in der Blase und auf den Detrusormuskel auswirkt. Schaut man diese beiden Aspekte der getrennten Verarbeitung erlebten Stresses männlicher Individuen in der Interaktion zwischen dem PAG, dem POSC und dem PFSC genauer an, so fällt auf, dass zu Arbeitshypothese 1 bei der Interaktion des PAG mit dem POSC die Prostata nur indirekt ins Spiel gebracht wird, eventuell durch die Synthetisierung und Abgabe von PSA ins Blut, um die Flüssigkeit des den Samen umgebenden Sekrets zu erhöhen und damit seine Koagulationsbereitschaft zu senken. Die vom PAG hervorgerufene »Defenceantwort in existenzbedrohlichen Situationen« beschränkt sich demnach auf die Störung der Blase und des Urinierens und macht sich bemerkbar auch in der Glomerulum-Filtrationsrate und der Na+/K+- und Ca2+-Ausscheidung im Urin, nicht jedoch direkt in Testosteronausschüttungen aus den Hoden und in der Erhöhung des Testosteronpegels im Blut. Gemeint ist hier das Testosteron (50 bis 60 %) des Gesamttestosterons, welches an sexualhormonbindendem Globulin (SHbG oder SHBG) mit im Körper im Blut zu den Zielzellen transportiert wird.

260

Medizintechnik im Dienste von Hatha-Yoga, Selbstwirksamkeit und Wohlbefinden

Zu den Wirkungen von Testosteron an den Zielorganen hier ein Auszug aus Wikipedia4: »Männer, denen Testosteron verabreicht wurde, behielten im Vergleich zur PlaceboGruppe 27 % mehr Geld für sich in Verhandlungssituationen. Eine Untersuchung zeigte, dass Testosteron bei Frauen dazu führt, dass die Versuchsteilnehmenden fairere Angebote in einem Verhandlungsexperiment machten. Die Forscher erklären diese Wirkung damit, dass das Hormon die Sensitivität für den Status erhöht, und vermuteten, dass in der sozial komplexen Umwelt des Menschen nicht Aggression, sondern prosoziales Verhalten den Status sichert. Bei Frauen im mittleren Lebensalter gehen erhöhte Testosteronwerte mit einem höheren Risiko für eine Depression einher.«

In unserem Fall von Proband A war meine Annahme, dass zu wenig Testosteron im Spiel bei ihm in den Erbschaftsverhandlungen mit seinem Sohn sei und dass sein Sohn ihn in die Depression durch das Ansprechen seines Kampfgeistes nach der Entfernung seiner Prostata (die Entfernung des Organs aus dem POSC-Regel­kreis habe ihn für den Sohn zumindest gänzlich femininisiert) treiben wollte. Es sei an dieser Stelle bemerkt, dass die Abstimmung des Yoga-Tests der Güte durch die innerkörperlich erfahrene »psychophysiologische Überlebensstrategie«, welche wir als Ausdruck von Kohärenz verstehen, Anlass zur Entwicklung und zum Einsatz von didaktischen Hilfsmitteln für den YogaUnterricht in der Jugend- und Erwachsenenbildung heute gegeben hat. Die Vital­ pro-Systems-I-Module sind solche, die eher für den Bereich der Bewältigung von Bedrohungen gedacht sind, denen man in der Mechanik begegnen und diese so bewältigen kann. Die in Vitalpro-Systems II konzipierten Module konzentrieren sich auf die Bewältigung von Bedrohungen, die sich unsichtbar, nicht greifbar, nicht hörbar orten und bewältigen lassen. Hier scheinen Applikationen im Bereich der elektromagnetischen Wechselfelder-Resonanz-­Biologie eher hilfreich zu sein. Mein Pretest mit Proband A bestätigte meine oben gemachten Arbeitshypothesen zum Thema Testosteron und gab Anlass zur weiteren Arbeit am Aufbau der interaktionellen Kohärenzdynamik mit ihm und meinen anderen freiwilligen Klienten. Sehen wir die Ergebnisse meiner Untersuchung mit A (Tab. 1 PK und Tab. 2 PK) vom 13.4.2016 genauer an:

4

https://de.wikipedia.org/wiki/Testosteron (Zugriff am 07.06.2021).

261

R. Lobo · Technologie und Wissenstransfer

Tabelle 1: PK Proband A Baseline 13.4.2016 9.10 Uhr Ȥ Baseline 1 im Liegen auf einfacher Matte Arm

Bein

Syst.

Diast.

HF

MAD

Syst.

Diast.

HF

MAD

Diff. Bein-Arm mmHg

1

119

67

54

84,3

111

64

57

79,66

−4,64

2

120

67

51

84,66

126

69

53

88

+3,34

MW

119,5

67

52,5

84,48

118,5

66,5

55

83,83

−1,30

Tabelle 2: PK Proband A Baseline 13.4.2016 9.45 Uhr Ȥ Baseline 2 im Liegen auf Matte Medithera Ȥ Applikation 1 (M-100), Einstellung Relax, Intensität 4, 8 Min. Arm

Bein

Syst.

Diast.

HF

MAD

Syst.

Diast.

HF

MAD

Diff. Bein-Arm mmHg

1

114

67

54

82,66

121

65

59

83,66

+1

2

119

68

53

85

125

63

52

83,66

−1,34

MW

116,5

67,5

53,5

83,83

123

64

55,5

83,66

−0,17

Ich deutete die Ergebnisse in der letzten Spalte (Differenz des MAD zwischen den Armen und Beinen) als eine depressive Tendenz in Richtung Totstellreflex angesichts des empfundenen unüberwindbaren Angriffs seiner Feinde durch die Möglichkeiten, welche sein eigener Körper für die Kohärenz zu bieten hätte. Das applizierte Modul der Magnetfeld-Resonanz-Biologie traf offensichtlich den Kern der Bedrohung nicht. Es kann auch nicht uninteressant sein, dass die Untersuchungen in der Klinik vom 25. bis 28.4.2016 meine Annahmen vom 13.4.2016 bestätigten: Der Feind, der bei Proband A die Blutkreislaufund Atembeschwerden sowie Schwindelattacken verursacht, ist nicht mit den herkömmlichen Mitteln der Biomechanik zu orten und durch die anhand von dieser wenig aussagekräftigen Diagnostik verordneten physiotherapeutischen Anwendungen zu bewältigen. Empfehlung der Klinik vom 28.4.2016: »Dia­ gnos­tischer Vorschlag: vor allem orthopädische Mitbetreuung und Behandlung, ggf. nochmalige HNO-ärztliche Vorstellung«. Interessanterweise begab sich Proband A am 30.4.2016 zu einem familiären Treffen mit seinen beiden Söhnen, gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin, im Zusammenhang mit der Regelung von wirtschaftlichen Angelegenheiten bezüglich seines Nachlasses. Er erlitt wieder einen Schwindelanfall und sein ratloser Hausarzt empfahl ihm wiederum Akupunktur.

262

Medizintechnik im Dienste von Hatha-Yoga, Selbstwirksamkeit und Wohlbefinden

Nur noch ein Letztes zu meiner oben erwähnten Arbeitshypothese 2: Bei der Interaktion des PAG mit dem PFSC muss man davon ausgehen, dass diese Interaktion weniger über den Weg des emotionalen oder gar viszeromotorischen Nervensystems als vielmehr über den Weg des Blutes und der intrazellulären Steuerungen der Aktivität in Sertoli- und Leydigschen Zellen der Hoden abläuft. Um diese Arbeitshypothese zu verifizieren oder falsifizieren, entwickelten wir Untersuchungen für reale Situationen: 2. Proband B (73 Jahre) leidet seit 2013 an diagnostizierter BPH (benigne Prostatahyperplasie). Seine Frau starb vor einem Jahr im Juli 2014 an einer Leberkrankheit. Bei der Beerdigung seiner Frau waren sein Sohn (S_B, 48 Jahre) mit seiner Familie (5 Kinder) und seiner Tochter (T_B) anwesend. Während die Tochter die Panegyrik mit Lobeshymnen für das Leben der Mutter ausstattete, hielt der Sohn eine Drohrede gegen seinen eigenen Vater und machte sogar diesen für die Krankheit und den Tod seiner Mutter verantwortlich. In der Folgezeit nach diesem Ereignis steigerten sich die Feindseligkeiten zwischen der Familie des Sohnes, die mit ihm im europäischen Ausland wohnt und dem Vater bis hin zu Diffamierungen und offener Ablehnung des Großvaters durch die Enkelkinder vor Verwandten bei Geburtstagsfeiern u. a. Wichtig bei der Betrachtung der »psychosozialen Kohärenz« von B ist die Tatsache, dass sein Sohn (S_B) die Zerstörungsmomente für diese Kohärenz beim Tod und bei der Beerdigung der Frau von B (F_B) im Jahre 2014 verstärkte und weiterhin diese Zerstörung vorantreibt. Damit fordert er B, einen alten Mann, auf zum Kampf und zur Selbstverteidigung mit der Kraft eines jungen Mannes als Gegner. Körperlich müsste, unserer Arbeitshypothese zur Folge, B als alter Mann weniger freies Testosteron zur Verfügung haben als seine jüngeren Gegner. Dies müsste sich auch im erhöhten Pegel von SHBG zeigen. Demnach, wenn B versucht, den Kampf mit seinem Sohn von der körperlichen Seite seiner Kohärenz aufzunehmen, läuft er Gefahr, durch sein Verhalten emotional-motorisch die prospektive Potenz der männlichen Anteile der aus dem Müllerschen Gang hervorgehenden oder hervorgegangenen Zellen in seiner Prostata zu aktivieren, und diese könnten karzinogen werden. Wir machten diese Hintergrundtheorie zum Horizont für unsere Übungspraxis mit B in Marma-Yoga® und haben die Magnetfeld-Resonanz-Biologie in der Form der Matten des Home Systems der Firma Medithera AG M-100 und M-200 während der Übungspraxis eingesetzt. Wir werden Schritt für Schritt auf diesen Fall im Zusammenhang mit unseren Blutdruckerhebungen und Messergebnissen eingehen. Zunächst ist (Tab. 1) auffallend, dass der Proband B einen hohen Blutdruck hat und dass die Differenz zwischen dem MAD in den Armen und Beinen bei etwa +25,65 mmHg schon im Liegen gegeben ist.

263

R. Lobo · Technologie und Wissenstransfer

Tabelle 1: Proband B Baseline 1–11.12.2015 17.20 Uhr Ȥ Baseline 1 ohne alles im Liegen auf einer einfachen Matte Arm

Bein

Syst.

Diast.

HF

MAD

Syst.

Diast.

HF

MAD

Diff. Bein-Arm mmHg

1

182

86

61

118

229

102

61

144,3

+26,3

2

186

85

71

118,6

229

101

61

143,6

+25

MW

184

85,5

61

118,3

229

101,5

61

143,95

+25,65

Das heißt, dass der Proband unter innerer Spannung steht, eventuell unter existentiellem Druck von seiner Familie/seinem Sohn/Stress. Zu meinen, dass sich dieser Stress durch einfache Atemübungen wie Nāḍī Śuddhi (Wechselatmung) beheben ließe, ist verfehlt. Die Übung erhöht den Stress, wie es sich zeigt, in der Steigerung und Schwankung der MAD-Differenz in den Tabellen 2, 3 und 4: von 1 auf 2 = +3,56 mmHg, welches wir interpretieren dürfen als einen weiteren Impuls zum Weglaufen (Flucht- und Kampfreflex), ausgehend vom linken Retroambiguus, welcher normalerweise für die Störung der Sexualreflexe im Beckenbereich, das  heißt PFSC (Testosteron u. a.) verantwortlich gemacht wird, von 1 auf 3 in einer leichten Senkung von 2,5 mmHg nach einer ursprünglichen weiteren Steigerung um 4,65 mmHg und dann einer drastischen Senkung um 14,3 mmHg, um bei 4 wieder von 25,65 (Tab. 3) auf 25,3 = 0,35 mmHg, zurückzukommen. Tabelle 2: Proband B unter Übung »Halbe Nāḍī Śuddhi« Ȥ halbe Wechselatmung im Liegen Ȥ rechts einatmend – links ausatmend Arm

Bein

Syst.

Diast.

HF

MAD

Syst.

Diast.

HF

MAD

Diff. Bein-Arm mmHg

1

190

73

55

112

220

102

54

141,3

+29,73

2

178

78

55

111,3

216

102

55

140

+28,7

MW

184

75,5

55

111,65

218

102

54,5

140,65

+29,21

264

Medizintechnik im Dienste von Hatha-Yoga, Selbstwirksamkeit und Wohlbefinden

Tabelle 3: Proband B unter Übung »Halbe Nāḍī Śuddhi« 11.12.2015 17.40 Uhr Ȥ halbe Wechselatmung im Liegen Ȥ links einatmend – rechts ausatmend Arm

Bein

Syst.

Diast.

HF

MAD

Syst.

Diast.

HF

MAD

Diff. Bein-Arm mmHg

1

183

77

56

112,3

224

102

55

142,6

+30,3

2

208

85

56

126

218

104

54

142

+16

MW

195,5

81

56

119,15

221

103

54,5

142,3

+23,15

Tabelle 4: Proband B unter Übung »Halbe Nāḍī Śuddhi« 11.12.2015 17.50 Uhr Ȥ halbe Wechselatmung im Liegen Ȥ rechts einatmend – links ausatmend Arm

Bein

Syst.

Diast.

HF

MAD

Syst.

Diast.

HF

MAD

Diff. Bein-Arm mmHg

1

195

75

56

115

217

101

54

139,6

+24,6

2

187

78

56

114,3

219

101

52

140,3

+26

MW

191

76,5

56

114,65

218

101

53

139,95

+25,3

Auffallend ist, dass schon in der Baseline 2 (Tab. 5) im Liegen auf der Magnetfeld-Resonanz-Matte die Spannung in der MAD-Differenz zwischen Arm und Bein um etwa 1,50 mmHg (zwischen Baseline 1 und Baseline 2) bzw. 1,85 mmHg zwischen Tabelle 4 und Tabelle 5 steigt. Tabelle 5: Proband B Baseline 2.11.12.2015 18.00 Uhr Ȥ Baseline 2 auf Matte Medithera, Applikation 1 (M-100), Einstellung Natur, Intensität 4 Ȥ Wechselatmung im Liegen Arm

Bein

Syst.

Diast.

HF

MAD

Syst.

Diast.

HF

MAD

Diff. Bein-Arm mmHg

1

191

82

56

118,3

221

107

55

145

+26,7

2

190

79

55

116

219

106,5

54

143,6

+27,6

MW

190,5

80,5

55,5

117,15

220

106,5

54,5

144,3

+27,15

265

R. Lobo · Technologie und Wissenstransfer

Doch das Heben und Senken des Beckens im Magnetfeld der Matte (Tab. 6) bewirkt eine kleine Linderung der Spannung um 1,15 mmHg gegenüber Base­line 2, aber dennoch eine Erhöhung um 0,35 mmHg gegenüber Baseline 1. Tabelle 6: Proband B 11.12.2015 18.10 Uhr Ȥ auf Matte Medithera, Applikation 1 (M-100), Einstellung Natur, Intensität 4 Ȥ Wechselatmung im Liegen mit Heben und Senken des Beckens im Magnetfeld der Matte Arm

Bein

Syst.

Diast.

HF

MAD

Syst.

Diast.

HF

MAD

Diff. Bein-Arm mmHg

1

205

80

58

121,6

233

105

56

147,6

+26

2

202

81

59

121,3

234

104,5

56,5

147,3

+26

MW

203,5

80,5

58,5

121,45

233,5

104,5

56,5

147,45

+26

Tabelle 7: Proband B Baseline 3 11.12.2015 18.20 Uhr Ȥ Baseline 3 ohne alles im Liegen auf einer einfachen Matte Ȥ nach den Übungen auf der Magnetfeld-Resonanz-Matte Arm

Bein

Syst.

Diast.

HF

MAD

Syst.

Diast.

HF

MAD

Diff. Bein-Arm mmHg

1

196

85

58

122

226

101

57

142,6

+20,6

2

184

74

56

110,6

220

97

55

138

+27,4

MW

190

79,5

57

116,3

223

99

56

140,3

+24

Doch nach den Übungen zeigt sich eine kleine Entspannung von insgesamt 1,65 mmHg, wenn man Baseline 1 (Tab. 1) mit Baseline 3 (Tab. 7) vergleicht. Diese Entspannung ist allerdings nach unseren Erhebungen nicht auf die Wirkung der Magnetfeld-Resonanz-Matte zurückzuführen, sondern auf die Kopplung der Atem- und körperlichen Übungstechnik im Magnetfeld der Matte M-100. In den Tabellen 8 bis 12 sind die Blutdruckwerte des Probanden B in der Übungsfolge, in welche er sich nach einer erholsamen Nachtruhe am nächsten Tag begeben hat. Die Übungsfolge wurde so konzipiert, dass sie ihm die Möglichkeiten bot, seine tief sitzenden existentiellen Ängste, die Einsamkeit nach dem Tod seiner Frau und die Bedrohung seiner psychosozialen Kohärenz in einer körperlichen Bedrohung und Inkohärenz auszudrücken. B dürfte während der körperlichen Übungen die Geschichte des vorletzten indischen Moghulkaisers Shahajahan, der von seinem eigenen Sohn Aurangzeb gefangen genommen und

266

Medizintechnik im Dienste von Hatha-Yoga, Selbstwirksamkeit und Wohlbefinden

in den Kerker geworfen wurde, von wo aus er lediglich das Mausoleum, welches er für seine geliebte verstorbene Mumtaz ein paar Jahre zuvor gebaut hatte, acht Jahre bis zu seinem Tod auf eigenen Wunsch betrachten durfte, vor Augen gehabt haben. B durfte die Frau seines Sohnes nach seinem wahren Empfinden für diese als Hexe zur rechten Seite seines Kopfes während der Übung auf M-100 liegend visualisieren; und zur linken Seite bekam er die Unterstützung einer guten Fee/Teilnehmerin seiner Wahl, die ihm den Kopf sanft massierte. Weitere zwei Teilnehmerinnen halfen ihm bei den weiteren Übungen. Auffallend ist die leichte Senkung der MAD-Differenz von Tabelle 8 auf Tabelle 9 bis 11 um etwa 2,5 mmHg und dann die drastische Senkung um 19,03 mmHg in Tabelle 12. Dieses Phänomen bedarf einer Klärung, anhand welcher wir hoffen, dass wir eine ähnliche Vorgehensweise in der Prävention von Prostatakarzinom und in die therapiebegleitenden Maßnahmen von BPH implementieren können. Tabelle 8: Proband B Baseline 4 12.12.2015 10.30 Uhr Ȥ Baseline 4 ohne alles im Liegen auf einer einfachen Matte Ȥ nach einer erholsamen Nachtruhe und einem guten Frühstück Arm

Bein

Syst.

Diast.

HF

MAD

Syst.

Diast.

HF

MAD

Diff. Bein-Arm mmHg

1

160

66

66

97,3

202

103

69

136

+38,7

2

166

70

66

102

218

092

65

134

+32

MW

163

68

66

99,65

210

97,5

67

135

+35,35

Tabelle 9: Proband B 12.12.2015 10.40 Uhr Ȥ ohne alles im Liegen auf einer einfachen Matte Ȥ nach einer erholsamen Nachtruhe und einem guten Frühstück Ȥ Kollegin C. H. hält und streichelt den Kopf von B, während er die Wechselatmung übt Arm

Bein

Syst.

Diast.

HF

MAD

Syst.

Diast.

HF

MAD

Diff. Bein-Arm mmHg

1

169

73

65

105

218

97

64

137,3

+32,3

2

157

74

65

101.6

216

94

65

134,6

+33

MW

163

73,5

65

103,3

217

95,5

64,5

135,95

+32,65

267

R. Lobo · Technologie und Wissenstransfer

Tabelle 10: Proband B 12.12.2015, 10.50 Uhr Ȥ ohne alles im Liegen auf einer einfachen Matte Ȥ nach einer erholsamen Nachtruhe und einem guten Frühstück Ȥ Kollegin C. H. hält und streichelt den Kopf von B, während er die Wechselatmung übt Ȥ Kollegin R. K. dreht die Beine gebeugt nach rechts Ȥ Kollegin C. H. dreht den Kopf nach links Arm

Bein

Syst.

Diast.

HF

MAD

Syst.

Diast.

HF

MAD

Diff. Bein-Arm mmHg

1

167

76

67

106,3

230

94

67

139,3

+33

2

174

74

67

107,3

230

95

67

140

+32,7

MW

170,5

75

67

106,8

230

94,5

67

139,65

+32,85

Tabelle 11: Proband B 12.12.2015 10.00 Uhr Ȥ die gleiche Übung wie bei Tabelle 10, jedoch … Ȥ auf Matte Medithera, Applikation 1 (M-100), Einstellung Natur, Intensität 4, 8 Minuten Ȥ nach einer erholsamen Nachtruhe und einem guten Frühstück Ȥ Kollegin C. H. hält und streichelt den Kopf von B, während er die Wechselatmung übt Ȥ Kollegin R. K. dreht die Beine gebeugt nach rechts Ȥ Kollegin C. H. dreht den Kopf nach links Arm

Bein

Syst.

Diast.

HF

MAD

Syst.

Diast.

HF

MAD

Diff. Bein-Arm mmHg

1

168

77

68

107,3

228

95

67

139,3

+32

2

167

73

67

104,3

218

95

67

140

+32,7

3

168

76

68

106,6

224

98

67

140

+33,4

4

165

74

66

104,3

213

99

66

137

+32,7

MW

167

75

67,25

105,25

220,75

96,75

66,75

139,07

+32,7

268

Medizintechnik im Dienste von Hatha-Yoga, Selbstwirksamkeit und Wohlbefinden

Tabelle 12: Proband B 12.12.2015 11.15 Uhr Ȥ die gleiche Übung wie bei Tabelle 11, jedoch … Ȥ mit Matte Medithera, Applikation 2 (M-200), Einstellung Natur, Intensität 4, 8 Minuten Ȥ Wechselatmung liegend auf der rechten Seite Ȥ Gurt über den Schultergürtel – linke Seite Ȥ mit linker Hand einatmen, Atem anhalten, ausatmen Ȥ Kollegin R. K. dreht die Beine gebeugt nach rechts Ȥ Kollegin C. H. dreht den Kopf nach links Arm

Bein

Syst.

Diast.

HF

MAD

Syst.

Diast.

HF

MAD

Diff. Bein-Arm mmHg

1

192

83

74

119,3

234

98

70

143,3

+24

2

163

84

71

110,3

227

103

72

114,3

+04

3

181

85

73

117

202

98

72

132,6

+15,6

4

187

87

72

120,3

230

98

73

142

+21,7

MW

180,75

84,75

72,5

116,72

223,25

99,25

72

133,05

+16,32

Schlusswort Es war mir wichtig, hier vom Bereich der Technologie und des Wissenstransfers auf dem Gebiet der interaktionellen Kohärenzdynamik Yoga aus den Gefilden der stark von der Theosophie geprägten Diskussionen herauszuholen und auf die moderne Auseinandersetzung nicht zuletzt mit dem Islam in Deutschland hinzuweisen. Literatur Anmerkung: Die folgenden Quellenangaben wurden für diese Veröffentlichung nachträglich geprüft und zusammengestellt. Holstege, G. (2014). Chap. 20: PAG Controls Brainstem Emotional Motorsystems. In G. Holstege, C. M Beers, H. H. Subramanian (Hrsg.), Progress in Brain Research Volume 209. The Central Nervous System Control of Respiration (S. 382, 385). Oxford: Elsevier LTD. https://www.buzer.de/gesetz/2497/al10415-0.htm (Zugriff am 07.06.2021). https://www.buzer.de/gesetz/2497/al52774-0.htm (Zugriff am 07.06.2021). https://de.wikipedia.org/wiki/Testosteron (Zugriff am 07.06.2021).

R. Lobo · Technologie und Wissenstransfer

269

Prof. Dr. Rocque Lobo (*04.03.1941 – † 11.09.2019) Geboren in Pune (Südindien), verstorben in München (Süddeutschland): Ȥ 1957 bis 1961 Vordiplom Ingenieurstudium & Studium der Philosophie (Bacchalaureatus) Ȥ 1963/68 Studium der Katholischen Theologie mit Diplom an der LMU München Ȥ 1967 bis 1971 Studium der Indologie und Philosophie (Dr. phil.)  Ȥ 1971 bis 1983 Abteilungsleiter der VHS München; Gesundheit, Religion, Philosophie, Yoga und Ausländerfragen Ȥ 1976 Vorsitzender des pädagogischen Ausschusses des Berufsverbandes Deutscher Yoga-Lehrer e. V. (BDY). Die geplante Sichtung von Einflüssen theosophischer und nationalsozialistischer Indologen auf das Hatha-Yoga des in den 1960er Jahren gegründeten BDY e. V. und die Öffnung des Hatha-Yoga hin zu wissenschaftlich experimentellen Untersuchungen (wie z. B. den indischen Forschungsstellen von Swami Kuvalayananda, Lonavla) scheiterte damals am Veto einflussreicher Verbandsmitglieder im BDY mit der Folge der Beendigung der Zusammenarbeit. Ȥ 1977 Gründung des Fördervereins für Yoga und Āyurveda e. V. mit Forschungsstelle Ȥ 1983–1987 Fortbildungslehrgang »Integriertes Psychosomatisches Gesundheitstraining« an der Katholischen Stiftungsfachhochschule München Ȥ 1985–1991: (Mit-)Organisator verschiedener Kongresse: 1. »Raum und Zeit«; München 2. »Geist und Natur« (unter Schirmherrschaft von C. F. von Weizsäcker) (1988); Hannover 3. »Gesundheit in eigener Verantwortung« (1990); Hannover 4. »Mensch und Maschine in der Postmoderne« (1991) Ȥ 1986 Professur für Sozialarbeit/-pädagogik, Schwerpunkt Körperorientierte Soziale Intervention; FH München Ȥ 1991 Studiengang »Gesundheitspädagogik«/»Körperorientierte Soziale Intervention« FH München Ȥ 1994/1995/2000 Forschungsprojekt bei BMW zu mobilen Arbeitsplätzen und Forschungsprojekte mit mittelständischen Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie Ȥ Seit 2000 wissenschaftlicher Beirat im Berufsverband Unabhängiger Gesundheitswissenschaftlicher Yoga-Lehrender BUGY Ȥ 2006 Emeritierung. Seitdem Leiter der Lehr- & Forschungsstelle »Institut für Gesundheitspädagogik« des Fördervereins für Yoga und Āyurveda e. V.  Ȥ 2011 Beantragung des FIM-­Projekts beim Bundesministerium für Wirtschaft Vitalpro-Systems I Ȥ 2015 Vorbereitung und Beantragung des FIM-Projekts Vitalpro-Systems II mit der Firma Medithera AG

Veröffentlichungen (Auswahl): Jahrbuch für Yoga »Prana«; Dialog zwischen Yoga und den Naturwissenschaften. Fachbeirat: Prof. Dr. C.-F. von Weizsäcker (Physiker), Prof. Dr. Paul Matussek (Psychiater) und Prof. Dr. J. Kugler (Neurologe und Psychiater). 1980–1983. Bern/München. Prāṇāyāma (1992); Lehrbrief Körperorientierte Soziale Intervention; Institut für Gesundheitspädagogik München. Sāmkhya -Yoga und spätantiker Geist. Eine Untersuchung der Allegorese des Origenes im Lichte der indischen Philosophie; 1970; Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophischen Fakultät der Ludwig-Maximilian-Universität München. München: Dissertations- und Fotodruck FRANK oHG. Yoga-Elementarkurs. Bd. 1–6; 1986–2004; München/Palmela. Yoga –Sensibilitätstraining für Erwachsene. Bd. 1–3; 2005–2012; Palmela: Editoria Pantainos. Zeitstrukturen, Herzrhythmus und Gesellschaft. Vortrag anlässlich des Internationalen Kongresses »Gesundheit in eigener Verantwortung – Mensch – Medizin – Gesellschaft« vom 10.-14. September 1990 in Hannover. Was macht den Menschen krank? 18 kritische Analysen. (1991); Birkhäuser Verlag, Basel.

Mit Marma-Yoga® durch den Fibromyalgieschmerz – eine Fallanalyse Gisela Staffort-Hartlieb

1.  Wie es begann: Knall auf Fall oder gab es doch Vorzeichen? Rückblickend betrachtet waren meine Ansprüche an ein gutes Leben relativ hoch: Im Frühjahr des Jahrs 2006, knapp 52 Jahre alt, galt es, Familie mit 12-jährigem Kind, Doppelhaushälfte mit Garten, den Primärberuf als verbeamtete Grundschullehrerin in Teilzeit mit Schwerpunkt Migrantenförderung und den Sekundärberuf als Yoga-Lehrerin in eigener Präventionspraxis – verbunden mit regelmäßigen Fortbildungen – unter einen Hut zu bringen. Darüber hinaus waren mir verwandtschaftliche sowie freundschaftliche Kontaktpflege ein Anliegen. Kulturelle Interessen wurden dem Bewegungsbedürfnis in freier Natur geschuldet, meine »Nischen«, in denen ich auftanken konnte. Hinzu kamen aktuell schwindende Perspektiven in der Ehe, massive Kon­ tro­versen mit meiner Teamkollegin in der Schule und obendrein Auseinandersetzungen mit einem langjährigen mir wichtigen Menschen aus meiner YogaLebenswelt. Damit war meine persönliche Belastungsgrenze überschritten. In der Sāmkhya-Yoga-Philosophie der Schöpfung wird solch eine Situation als Rajas bezeichnet: Röte, Wallung des Blutes, Zweifel, ein Zuviel an Luft und Feuer, aufreibende andauernde Konflikte; Investieren und Bekommen stehen im Missverhältnis, welches schließlich zur Austrocknung des Gewebes und Entstehung von Krankheiten führen kann (Lobo, 2001, S. 31, S. 94 f., S. 163 ff.). Im Anschluss an eine unter normalen Umständen für mich stärkende Skiwoche und während einer familiär bedingten Hollandfahrt mit dem Wunsch nach ausgiebigen Strandspaziergängen fingen beide Hüftgelenke an zu schmerzen. Ich nahm sie als überreizt wahr, leicht geschwollen, nahezu entzündet; der Bewegungsradius war sofort massiv eingeschränkt und Belastungen verschlimmerten den Schmerz. Nach der Marma-Lehre gehören die Hüftgelenke zu den Gelenk-Marmas und werden im Sanskrit als Kukundaras bezeichnet, was als Loch oder auch Lebensfluss übersetzt wird. Da Rocque Lobo betonte: »Yoga ist keine Therapie, sondern ein Angebot zum Hinterfragen der sozialen Situation« (2008, Mitschrift Fortbildung), assoziierte ich umgehend, ob mein Lebensfluss eingeschränkt sei.

G. Staffort-Hartlieb · Mit Marma-Yoga® durch den Fibromyalgieschmerz

271

Was versteht man unter Marma-Lehre? Sie ist ein Teilbereich des Āyurveda, der traditionellen altindischen Medizin und wurde in der Lehre vom Pfeil (ŚalyaTantra) von dem Āyurveda-Klassiker Suśruta (ca. 200–100 v. Chr.) vor dem Hintergrund des Kriegsschauplatzes entwickelt. Wo trifft, verletzt oder tötet der Feind? Demnach gibt es 107 Marmas (von Mṛ = töten), Wach- und Warnposten mit funktioneller Anatomie im Körper, die bei einseitigen physischen, psychischen oder sozialen Belastungen schmerzempfindlich reagieren können und vor Verlust an Kraft und Zeit warnen. Heute weiß man, ein Marma befindet sich im Schnittpunkt zwischen willkürlicher und emotionaler Motorik. Nach ihrer Gewebestruktur werden sie in Gelenk-, Muskel-, Blutgefäß-, Sehnen- und Knochen-Marmas eingeteilt. Sie verfügen jedoch auch über eine Zeitstruktur (Lobo, 2001, S. 142 ff., S. 151 ff.).

2.  Das Fibromyalgiesyndrom (FMS) und Schmerz aus Yoga-Sicht Die Etymologie des Wortes gibt einen ersten Überblick: »Fibra = Faser, Mys = Muskel, algos = Schmerz« (Weiss, 2020, S. 11), Syndrom = gleichzeitiges Auftreten mehrerer Beschwerden. Die Schmerzen treten u. a. häufig an den knochennahen Sehnen-Muskel-Übergängen auf. Der Fibromyalgieverein Bayern e. V. schreibt in seinem Flyer: »Fibromyalgie ist eine schwere chronische Erkrankung, […] eine funktionelle Störung ohne Entzündungsparameter, […] also keine rheumatische Erkrankung.«

Aus den aktuellen deutschen S3-Leitlinien1 kann man bzgl. Fibromyalgiesyndrom für Erwachsene entnehmen: »Kernsymptome des FMS sind neben chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen Schlafstörungen bzw. nicht-erholsamer Schlaf und Müdigkeit bzw. Erschöpfungsneigung (körperlich und/oder geistig). […] Das FMS kann mit depressiven Störungen assoziiert sein, […] ist aber nicht als depressive Störung zu klassifizieren. […] Die klinische Diagnose des FMS kann nach den ACR-1990-Klassifikationskriterien oder den vorläufigen modifizierten ACR-2010-Kriterien gestellt werden. […] [Sie] beruht auf der Anamnese eines typischen Symptomkomplexes, klinischer Untersuchung 1 Die Leitlinie (Stand 23.7.2019, gültig bis 16.3.2022) ist unter der Registernr. 145/004 bei der AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V.) angemeldet.

272

Medizintechnik im Dienste von Hatha-Yoga, Selbstwirksamkeit und Wohlbefinden

und dem Ausschluss körperlicher Erkrankungen, welche diesen Symptomkomplex ausreichend erklären können« (Deutsche Schmerzgesellschaft, 2017 Kurzfassung, S. 3)

Kriterien ACR (American College of Rheumatology) 1990 (Deutsche Schmerzgesellschaft, 2017; Weiss, 2020; Westermann, 2018): Ȥ Schmerzen seit mehr als drei Monaten im Bereich des Achsenskeletts (Wirbelsäule oder vorderer Brustkorb) und linke sowie rechte Körperhälfte und oberhalb sowie unterhalb der Taille. Ȥ Mindestens 11 von 18 Tender Points (Abb. 1) müssen auf Druck schmerzhaft reagieren. Modifizierte Kriterien ACR 2010 (Deutsche Schmerzgesellschaft, 2017; Weiss, 2017; Westermann, 2018): Ȥ Schmerzen in mindestens 7 von 19 Körperregionen: Kiefer, Schultergürtel, Oberarm, Unterarm, Hüfte, Oberschenkel, Unterschenkel, jeweils links und rechts, oberer Rücken, unterer Rücken, Nacken, Brust, Bauch ergeben einen »regionalen Schmerzindex«. Ȥ Ein »Symptomschwerescore« aus Müdigkeit, nicht erholsamem Schlaf, Konzentrationsproblemen und funktionellen Beschwerden (mehr als 5 von max. 12 Punkten) spiegelt die Intensität der Symptome. Ȥ Eine andere Erkrankung, welche die Beschwerden ausreichend erklärt, muss ausgeschlossen werden. Ergänzend sei die erniedrigte Reizschwelle erwähnt, die sämtliche Sinne betreffen kann. Lacour (2018, S. 43) spricht von einer »zentralen Schmerzverarbeitungsstörung; […] und vor allem bei Patienten mit Kindheitstraumatisierungen [könnte bei mir zutreffen] besteht infolge einer dauerhaft erhöhten Alarmbereitschaft eine stress- und erschöpfungsassoziierte, vegetative Dystonie, erhöhte Stressvulnerabilität und abgesenkte Schmerzschwelle.«

Abbildung 1: Tender Points nach ACR (https:// de.wikipedia.org/wiki/Datei:Tender_points_fibromyalgia.svg – Zugriff am 08.06.2021)

G. Staffort-Hartlieb · Mit Marma-Yoga® durch den Fibromyalgieschmerz

273

Schmerz (Klésa)2 ist für Yoga die höchste philosophische Kategorie. Patañjali (1985, S. 89 f.) unterscheidet fünf »leidvolle Spannungen«: Nichtwissen – Avidyā, Ichverhaftung – Asmitā, Begierde – Rāga, Hass – Dvesá, Selbsterhaltungstrieb – Abhinivesā und fünf »leidlose seelisch-geistige Vorgänge«, die Lobo (2005, S. 97 f.) folgendermaßen übersetzt: »Richtiges Wissen – pramāṇa, falsches Wissen – viparyaya, Vorstellung – vikalpa, Schlaf – nidrā, Erinnerung – smṛtayah«.

3. Selbsthilfe versus Therapeutenodyssee – Licht am Horizont Nachdem regenerierende Zeitfülle stärkende Übungen aus meinem reichhaltigen Yoga-Repertoire sowie vorsichtige Dehnungen dem lädierten Gewebe auf Dauer keine Linderung brachten, wuchs die Skepsis, zumal der Schmerz von beiden Leisten und Hüftgelenken ausgegangen war und innerhalb kurzer Zeit die zunehmende Steifigkeit kein normales Gehen oder Schwimmen erlaubte; Schonung verschlimmerte; die Beine verlangten nach Wärme; Oberschenkel und die Innenseiten beider Knie fühlten sich gereizt an. Könnte das in Richtung Fibromyalgie gehen? Bei mir schrillten die Alarmglocken, da ich durch eine betroffene Frau im Bekanntenkreis das Krankheitsbild bereits kannte. Fachliteratur und fundierte Informationen über die Deutsche Fibromyalgievereinigung (DFV) e. V. sowie eine Selbsthilfegruppe brachten erste Erkenntnisse. Jetzt mussten auch Therapeuten konsultiert werden: mein naturheilkundlich versierter Hausarzt, Physiotherapie, Osteopathie, Unterstützung durch die TCM (traditionelle chinesische Medizin), die bzgl. FMS über effiziente Maßnahmen verfügt, sowie die renommierte Āyurvedaexpertin, indische Pharmakologin und Neurobiologin Vinod Verma. Mühsame Fahrten zu Orthopäden (leichte Arthrose rechtfertigte nicht das Beschwerdeausmaß), Rheumatologen (keine entzündliche rheumatische Erkrankung) und Neurologen schlossen sich an, da andere Krankheiten ausgeschlossen werden mussten. Mittlerweile waren auch der Nacken und beide Schulterpartien betroffen, beide Oberarme, Ellbogen sowie Hände folgten. In der Schule konnte ich kaum noch an die Tafel schreiben, schleppte mich erschöpft die Treppe hoch, beim Sitzen ohne Kissen schmerzte das Gesäß, und zum Pizzaschneiden benötigte ich Hilfe. Wöchentliche Therapietermine waren im Nachhinein der bekannte Tropfen auf den heißen Stein, sodass die Per­ spek­tive mehr und mehr schwand. Meine differenzierte Körperwahrnehmung, dank zwanzigjähriger Yoga-Praxis, Aus- und kontinuierlicher Weiterbildungen, brachte mich nicht weiter. 2 Siehe hierzu die Einleitung von Michael Röslen in diesem Buch.

274

Medizintechnik im Dienste von Hatha-Yoga, Selbstwirksamkeit und Wohlbefinden

Angst vor der Zukunft kroch in mir hoch – die Ärzteschaft sprach von lebensverändernder Krankheit – und damit Resignation, wodurch die gefühlte physische Stagnation noch verstärkt wurde. Diese Gefühlslage wird in der Yoga-Philosophie als Tamas bezeichnet. Man erstarrt in der Versachlichung; Verlust an Lebensperspektive und innerer Lebendigkeit, wenig investieren und wenig bekommen; der Fall liegt im Dunkeln; ein Zuviel an Erde und Wasser bewirken Zugeschüttetsein, Steifheit und Schwere (Lobo, 2001, S. 31, S. 94 f., S. 163 ff.).

Abbildung 2: »Mein Schmerzkörper« (Vorderseite)

Abbildung 3: »Die Kranke«, Fingerfarben, 70 × 95 cm

Unterdessen breiteten sich die Schmerzen immer mehr aus, auch beidseits in den vorderen Brustkorb und Kieferbereich. Längeres Liegen und Schlafen wurden zur Qual; wie gerädert wachte ich nach wenigen Stunden auf. Die Decke auf den Beinen konnte nicht leicht genug sein. Kälte und Wind verschlimmerten obendrein. Selbsthilfe- und Therapieoptionen schienen ausgeschöpft zu sein. Die Unterstützung einer vertrauten Psychotherapeutin war für mich ein Anker im Gegensatz zur verunsichernden sozialen Kälte im Alltag. Die Abbildungen 2 und 3 zeigen das Ergebnis eines Malauftrags im Rahmen der psychotherapeutischen Bearbeitung sechs Monate nach Auftreten der ersten Symptome und spiegeln: Der Schmerz drückt und zieht alles zusammen; mir sind die Hände gebunden, Warten auf Rettung, Unterstützung. Abgesehen davon, dass herkömmliche Schmerzmittel bei dem Krankheitsbild wenig bewirken können, lehnte ich diese ab, um klar wahrnehmen zu können, wodurch Veränderungen eintreten würden. Ich fuhr häufiger zu den monatlichen Fortbildungen in MarmaYoga® und shake-spear-Aktivierungstraining® (siehe Abschnitt 5 in diesem Beitrag) nach München und bat Lobo um Unterstützung. Zeitgleich verhieß ein Vorstellungstermin bei dem Fibromyalgieexperten Dr. med. Thomas

G. Staffort-Hartlieb · Mit Marma-Yoga® durch den Fibromyalgieschmerz

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Weiss Licht am Horizont, sodass ich mit einer erhellenden Perspektive und einem konkreten Zeit- und Therapieplan nach Hause kam. Lobo (2005, S. 97) drückt mit seiner Übersetzung des Yoga-Sūtra I.7 treffend aus: »Zum richtigen Wissen gehört die eigene Wahrnehmung (das heißt per Augenschein), die Schlussfolgerung und die Bezugnahme zuverlässiger Quellen.« Pratyakṣa anumāna āgamāḥ pramāṇāni.

4. Therapie und Selbsthilfe gepaart mit Selbstliebe – ein Brückenschlag – geniale Guṇas Von unschätzbarem Wert waren und sind die zwanzig Guṇas3, gegensätzliche Eigenschaftspaare, ein Basisbaustein des Āyurveda. Sie »werden [siehe Tab. 1] jeweils nach ihrer Wirkung auf das im Menschen Tag und Nacht brennende »Lebensfeuer« als »saumya« oder kühlend und »agneya« oder feuerentfachend bezeichnet« (Lobo, 2001, S. 47) und helfen, z. B. die Wirkung von Substanzen, Signale des Körpers, Emotionen oder soziale Umstände klar zu beschreiben und dementsprechend zu klassifizieren: Tabelle 1: 20 Gunas (nach Nanal, 1985 und Lobo, 2001) Soma – Wirkung auf den Schlaf- und Nachtzustand (eher trophotrop)

Agni – Wirkung auf den Wach- und Tagzustand (eher ergotrop)

1.

guru

schwer

1.

laghu

leicht

2.

śita

kalt, kühlend

2.

uṣna

heiß, erhitzend

3.

snigdha

ölig, viskös, feucht

3.

rūkṣa

trocken, rauh

4.

manda

langsam, träge

4.

tîkṣṇa

scharf, stechend schnell

5.

sthîra

stabil, standfest

5.

sara

fließend, schwankend

6.

kaṭhina

hart

6.

mṛdu

weich, Bewegung angenehm machend

7.

pichchila schleimig, trüb

7.

viśada

klar

8.

ślakṣṇa

weich, Reibung angenehm machend

8.

khara

rauh, Reibung unangenehm machend

9.

sthūla

grob

9.

sūkṣma

subtil, fein

10.

sandra

halbfest

10.

drava

flüssig

3 Die drei Zustände Sattva (Klarheit), Rajas (Zweifel) und Tamas (Irrtum) werden in der Literatur ebenso als Guṇas bezeichnet.

276

Medizintechnik im Dienste von Hatha-Yoga, Selbstwirksamkeit und Wohlbefinden

Ich verglich die schmerzenden Bereiche mit den betroffenen Marmas, um herauszufinden, was mein Körper brauchen würde (Tab. 2). Tabelle 2: Vergleich der schmerzenden Bereiche mit entsprechenden Marmas schmerzende Bereiche (exemplarisch)

Entsprechung in der Marma-Lehre

Meine Wahrnehmung Guṇas

Sanskritname

Gefäßstruktur

Zeitstruktur

Hüftgelenke

Kukundara

Gelenk-Marma

Vaikalyakara

gereizt, überhitzt, fest

Leistengegend

Pārśvasandhi

Blutgefäß-Marma

Kālāntara

steif, überhitzt

Knie innen

Jānu

Gelenk-Marma

Vaikalyakara

gereizt, unbeweglich

Atlantoaxial­ gelenk

Kṛkatika

Gelenk-Marma

Vaikalyakara

gereizt, fest

Schultern

Amsa

Sehnen-Marma

Vaikalyakara

unbeweglich, fest

Oberschenkel

Urvi

Blutgefäß-Marma

Vaikalyakara

gereizt, überhitzt

Hände

Kṣipram

Sehnen-Marma

Kālāntara

schwach, leer, überhitzt

Brustmuskel

Stanārohita

Muskel-Marma

Kālāntara

fest, gereizt

Neben der Gewebestruktur verfügen die Marmas über eine Zeitstruktur. Während Vaikalyakara-Marmas – dem Element Wasser zugeordnet – zur Erholung unbedingt regenerierende kühlende Eigenschaften brauchen, benötigen die Kālāntara-Marmas als Feuer- und Wasser-Marmas sowohl aktivierende Impulse am Tag als auch erholende in der Nacht (Lobo, 2001, S. 142 ff., S. 151 ff.). Fazit: Einerseits sprach die Überreizung dafür, die kühlenden Eigenschaften zu kultivieren, andererseits die Stagnation, die massive Festigkeit in lebendigen Fluss zu bringen. Die 14-tägige intensive ambulante Therapiekomposition bei Weiss war hierfür der erste Schlüssel, die Guṇas das wegweisende Instrument. Gerade die Fülle und die Abfolge des von ihm entwickelten Gesamtpakets waren es, die für mich den entscheidenden Unterschied machten. Denn viele der angebotenen Therapien hatte ich bereits zuvor erhalten, jedoch in großen zeitlichen Abständen. Wie Zahnräder schien nun alles ineinanderzugreifen: qualitativ, quantitativ und individuell abgestimmt. Auch die S3-Leitlinien (2017), die Deutsche Fibromyalgievereinigung e. V., Krumbeck (2016) u. a. betonen neben der multimodalen Therapie gleichermaßen

G. Staffort-Hartlieb · Mit Marma-Yoga® durch den Fibromyalgieschmerz

277

die Notwendigkeit, das Schicksal per Selbstmanagement auch selbst in die Hand zu nehmen. Zusätzlich möchte ich betonen, dass die Effizienz insgesamt nach subjektiver Einschätzung ganz wesentlich von Herzensqualität abhängt, nicht von mechanischem Vorgehen. Im folgenden Brückenschlag fasse ich zusammen, welche Maßnahmen ich insgesamt als sehr gewinnbringend erlebt habe:

Brückenpfeiler multimodale Therapie4 – Gezielte Diagnostik – positive Perspektive vermittelnde Ärzteschaft – Akupunktur – Homöopathie, z. B. Komplexmittel als Infusion – (Muskelaufbau mit Vibrationstraining) – Phytotherapie, z. B. Heiltees – Einweisung in eine Ernährungs­umstellung – Infrarotkammer und Ganzkörper­ kältetherapie – Tapeanwendungen – Wohldosierte Medikamente: ggf. Amitriptylin – Psychotherapie, u. a. Biofeedback, geleitete Imagination – Dynamische Kompressionstherapie, u. a. für Lymphfluss (Abb. 4) – »Vakuummassage« und viele Details für Interessierte: https://www.weiss.de/ praxis­klinik.html (Zugriff am 08.06.2021).

Brückenpfeiler Selbsthilfe – umfassend informieren – regelmäßig mit Freude (aerob) bewegen: gehen, walken, Rad fahren, schwimmen – Körper als Wegweiser wahrnehmen – Aktivität und Erholung rhythmisieren – gesunden Schlaf fördern – positive Perspektive entwickeln, z. B. Positivtagebuch führen – Thermalbad, Wechselduschen – NEIN sagen lernen – Ernährung umstellen – Atemübungen pflegen – Gymnastik → Dehnung → Muskelaufbau – erwärmende Gespräche führen – Marma-Yoga® – shake-spear-Aktivierungstraining® – Marma-Massage®

Abbildung 4: Bei der dynamischen Kompressionstherapie5 4 Weitere aus persönlicher Sicht geeignete Therapieformen/Adressen bei FMS: Traditionelle chinesische Medizin (TCM), (Craniosakrale) Osteopathie, Psychotonik, Qigong, Ganzkörperhyperthermie, Schmerztherapiezentrum Bad Mergentheim (www.schmerzklinik.com) mit Chefarzt Dr. Univ. Padua Martin Krumbeck. 5 Siehe hierzu: www.villa-sana.com.

278

Medizintechnik im Dienste von Hatha-Yoga, Selbstwirksamkeit und Wohlbefinden

Hauptintention der Intensivtherapie war für mich eine Umprogrammierung im schmerzverarbeitenden System (Bauer, 2008), um die Schmerzschwelle wieder anzuheben, Angst sowie Anspannung zu reduzieren und damit auch funktionelle Beschwerden wie Schlafstörungen oder Reizdarmsymptome zu verringern. Man spricht in diesem Zusammenhang von zügig ausgebreiteter Sensitivierung, die es zu verlernen gilt, um im Gegenzug langsam Habituation zu erlernen, das heißt: unwichtige Signale allmählich auszublenden, um nicht von Reizen ständig überflutet zu werden. Den positiven Prozess unterstreichen einige Zeichnungen aus dieser Zeit:

Abbildung 5: »Die Lebendigkeit kehrt zurück«

Abbildung 6: Botschaft beim »Gespräch mit dem Schmerz«

Vor allem durch chronischen Stress werden vermehrt Cortisol, Adrenalin und Noradrenalin ausgeschüttet. Im vegetativen Nervensystem ist – vereinfacht ausgedrückt – der für Kampf oder Flucht zuständige Sympathikus aktiver als der für Regeneration zuständige Parasympathikus (Westermann, 2018). Im Zusammenhang mit dem FMS wird jedoch einer Regulationsstörung der HPA- oder Stressachse (Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrindenachse) unterschiedliche Evidenz beigemessen (Deutsche Schmerzgesellschaft, 2017). Substanz P, ein Neuropeptid, ist in freien Nervenendigungen des Muskels beim FMS erhöht. Sie »bewirkt eine starke Erweiterung der Blutgefäße und steigert die Durchlässigkeit der Gefäßwand. Zudem bewirkt sie eine Steigerung der Sensitivität der Schmerzneurone im Rückenmark« (https://de.wikipedia.org/wiki/Substanz_P; Zugriff am 24.06.2020).

Zunächst weigerte ich mich, unterstützend zu den angebotenen Therapien, für eine begrenzte Zeit Amytriptylin6 einzunehmen. Doch man erklärte mir ein6 Ein Antidepressivum, dessen geringe (!) Dosierung tropfenweise auf- und abgebaut werden kann.

G. Staffort-Hartlieb · Mit Marma-Yoga® durch den Fibromyalgieschmerz

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leuchtend, dass dadurch die Schlafqualität verbessert und Schmerzen reduziert werden können. Es hebe den bei FMS erniedrigten Serotoninspiegel an. Für besseren Schlaf nahm ich anfangs zusätzlich L-Tryptophan als Vorstufe von Serotonin und Melatonin ein. Auch die auf Darmsanierung ausgerichtete spezielle vierwöchige Ernährungsumstellung sollte u. a. zur Erhöhung von Serotonin beitragen.7

5. Marma-Yoga® und shake-spear-Aktivierungstraining® – ein gutes Team Zeitgleich ergaben sich durch die Fortbildungen in München auch hier neue Perspektiven. Marma-Yoga®, ein seit 1993 patentiertes Wort-Bild-Markenzeichen von Lobo, bedient sich zum einen der Erkenntnisse der Marma-Lehre und ist heute brandaktuell, da wir ständig perturbiert werden und Anfeindungen ausgesetzt sind: digitale Beschleunigung, Leistungsdruck, Covid-19 – Ausprägung struktureller Gewalt; zum anderen werden neueste Erkenntnisse der Chronobiologie, der Schmerzforschung und der Psychoneuroimmunologie einbezogen, wodurch Zusammenhänge sehr differenziert erklärbar sind. »Mit den Marmas sprechen wir Nahtstellen zwischen Nervensystem und Immunsystem an« (Lobo, 2012, Mitschrift). Körper- und Atemübungen aus dem Hatha-Yoga simulieren demnach Alltagsbelastungen, wollen verunsichern und die Selbstregulationsfähigkeit testen und unter Beweis stellen. Der Körper reagiert zunächst reflexhaft; dies gilt es dann im Reflexionsprozess jeweils mit den sozialen Belastungen des Alltags zu koppeln. Dann nur kann der »krankmachende Pfeil« behutsam entfernt werden (differenzierte Literatur zu Marma-Yoga®: Lobo, 1987a–c, 1998, 1999, 2004). In Einzelberatung mit Lobo gingen wir exakt meine Symptomatik durch, worauf sich die Hypothese begründete, dass es sich um eine Desynchronisierung zwischen Blutkreislauf und zentralem Nervensystem (ZNS) handle. Ich empfand es so, dass meine Muskeltätigkeit u. a. durch Angst, Schmerz und Fehlregulation der Stressachse nicht gut durch Atmung und Kreislauf unterstützt und das Gewebe dementsprechend nicht ausreichend durchblutet, mit Sauerstoff versorgt und ernährt wurde. Lobo vermutete eine Störung zwischen der SSNA, der skinneuronalen Aktivität (1:10 Hz, LF = Low Frequences, sympathikoton) und der MSNA, der muskel7 Mehr zur Ernährung beim FMS: Weiss, 2020 oder www.weiss.de.

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sympathischen neuronalen Aktivität (1:3 Hz, HF = High Frequences, vagoton). Idealerweise sollte der Quotient LF:HF kleiner als 1 sein, damit Selbstregulation greifen kann. Dies ist zwar durch eine HRV-Messung (Herzratenvariabilität) belegbar, doch wie könnte die Synchronisierung gelingen, welches Testdesign schien angebracht? Das shake-spear-Aktivierungstraining® (seit 2002) ist als Anti-Stress-Training u. a. für solche präzisen Steuerungen entwickelt worden: Mit der zunehmenden Beschleunigung und Digitalisierung in den 1990er Jahren konnte durch jahrzehntelange wissenschaftliche Forschung im Institut für Gesundheitspädagogik in München der Nachweis erbracht werden, dass es auch erfahrenen Yoga-Praktizierenden nicht mehr möglich war, zu ihrer Selbstregulation, z. B. im HerzKreislauf-System, zu finden. Lobo, der bereits in den 1970er Jahren den Auftrag erhalten hatte, Yoga aus der esoterischen Ecke herauszuholen und wissenschaftlich zu untermauern, stieß bei seinen internationalen Recherchen auf spezielle Therapiegeräte der Firma Haider Bioswing® und entwickelte sie in Kooperation mit ihr auf neuestem wissenschaftlichen Niveau für die aktive Prävention weiter, unterstützt durch das Forschungsministerium, den Health Care Bayern e. V., Debeka, AOK u. a. Als Hatha-Yoga der Moderne, die »feine Art«, Yoga zu üben, kann das shakespear-Aktivierungstraining® bei exakter Handhabung durch die Kombination der Aktivierung in der Skelettmuskulatur und gleichzeitiger Beruhigung in den Gehirnwellen im Bereich unter 4 Hz ausgleichend wirken. Dies erfordert das Koppeln mechanischer Schwingungen mit körpereigenen Rhythmen (selbstinduzierte Schwingungen), wie z. B. Herz-Kreislauf-System, Atmungssystem, »corticomotoneuronales« System, und fördert bzw. testet so individuell die Selbstregulation. »Das shake-spear-Aktivierungstraining® ist eine aus dem Transfer der Marma-Yoga®Techniken in die industrielle Welt hervorgegangene Maßnahme der Primärprävention« (Lobo, 2004, S. 165; differenzierte Informationen Lobo, 2004, S. 158 ff. und Lobo, 2005, S. 37 ff.; sowie https://www.shake-spear.de, Zugriff am 14.08.2021).

Dazu gehören vor  allem Propriomed-Stäbe (100, 170, 190 cm) als R.E.M.BO®Version (Metallstab) mit Rezeptor® (Metallgriff), das Posturomed,8 das Pedalo®, 8 Ergänzende Information: Dr. Eugen Rašev (Schweinfurt) kooperierte bereits ab 1991 mit der Firma Haider; für die posturale Schmerztherapie wurden 1993 das Posturomed und 1998 der Propriomedstab entwickelt. Für das präventiv verankerte shake-spear-Aktivierungstraining wird das Posturomed mit anderer Intention eingesetzt; für das feine Schwingen (Präzisionsgriff) mit dem speziellen R.E.M.B.O -Rezeptor benötigt der Körper nach Lobo »Frequenzen

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das Sarabande®-Schwingmodul und das Mudra-Manual® der Firma Haider Bioswing® sowie die Detensor®-Liegeorthese nach Kienlein. Zunächst lieferte die Baseline eine erste Momentaufnahme. Wie Abbildung 7 rechts unten zeigt, war mit 22.934 der Quotient LF:HF (erwartet) hoch und entsprach meiner gefühlten hohen fibromyalgietypischen Anspannung.

Abbildung 7: HRVMessung Baseline9 unter 4 Hz, um den Reflexbogen zwischen Meldungen der Barorezeptoren im Aortenbogen und in der Halsschlagader die nötige Zeit zu geben, welche der Vagusnerv braucht, um die bekömmlichen Blutkreislaufregulationen in Gang zu setzen« (Lobo, 2006, Bedienungsanleitung). Höhere Frequenzen sind demnach für chronisch kranke Menschen kontraindiziert. 9 Die Ergebnisse wurden von F. Rott, der die Messungen durchgeführt hatte, zur Verfügung gestellt. Auf weitere Auswertungsparameter wird an dieser Stelle bewusst verzichtet (Lobo, 2012, S. 98 ff.).

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Anschließend erfolgten die nachstehend beschriebenen drei Tests mit anschließender HRV-Messung. Test 1: Viloma Prāṇāyāma auf Sarabande® mit Mudra-Manual®10 (Abb. 8) Fersensitz auf dem Sarabande®-Schwingmodul, die rechte Hand entspannt auf dem Manual (Abb. 9) Die Atmung Einatmen (E) – Pause (P) – E – P – E – P –E – Ausatmen (ohne Pause) gleichzeitig rhythmisch mit den Fingern begleiten: E, Daumen – P, Zeigefinger E, Daumen – P, Mittelfinger E, Daumen – P, Ringfinger E, Daumen – kleiner Finger In den Pausen wird jeweils die Hand spielerisch ähnlich (wie beim Dirigieren) angehoben. Beim Ausatmen alle Finger entspannt auf dem Manual schwingen lassen!

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Abbildung 8: Test 1, auf Sarabande mit Mudra-Manual

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Abbildung 9: entspannte Handhaltung Mudra-Manual

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Diese Koppelung erforderte meine volle Konzentration und das Ergebnis war verblüffend: Der Anteil an HF stieg von 3 auf 50.0, das  heißt, die Atmung unterstützte die Muskelaktivität und die Durchblutung; mit 1.001 unterstrich der Quotient LF:HF die spontane Wiederherstellung der Balance im ZNS (Abb. 10 rechts unten).

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10 Das Mudra-Manual wurde für Menschen zur Entspannung des Nervensystems entwickelt, insbesondere, wenn durch PC-Arbeit die Beugemuskulatur der Hand mit schnellen Muskelbewegungen der Augen zusammenarbeiten muss (Lobo, 207, S. 222 ff.).

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Abbildung 10: HRV-Messung nach Test 1, Mudra-Manual

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Test 2: Fersensitz auf Sarabande®11 und Schwingen mit dem R.E.M.BO® 170 cm hinter dem Rücken im Nierenbereich, um die Nierendurchblutung anzuregen und die Zwischenrippenmuskeln zu bearbeiten, ergab ähnlich positive Werte (Quotient LF:HF 1.427).

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Abbildung 11: Test 2, R.E.M.BO 170 cm auf Sarabande mit Detensor Liegorthese

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Test 3: Fersensitz auf Sarabande®, Schwingen mit dem Stab 100 cm mit erhobenem Arm in der linken Hand und gleichzeitigem Rechaka-Kumbaka, genannt Residualluftatmung12 mit der rechten Hand ergab dagegen einen ungünstigen hohen Wert (Quotient LF:HF 17.616), was auch nicht verwunderlich war, da mir bereits Griff und Armhaltung schwergefallen waren. Nach dieser Übungsserie fühlte ich mich weniger angespannt, vom Kreislauf aktivierter und konnte vorübergehend leichter mit einem Hauch von Geschmei-

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11 Warum Sarabande statt Sitzkissen? 1. Geht es wie bei allen anderen shake-spear-Schwinggeräten um die Schwingung unter 4 Hz, was dem statischen Sitzen vorzuziehen ist, 2. wird beim Fersensitz auf Sarabande das Kṣipram (= die Schnelle, Sehnen-Marma zwischen großem und zweitem Zeh) bewusst angesprochen und getestet und 3. drückt die Sitzauflage auf die Urvis (= die Weite, Blutgefäß-Marma in den Oberschenkeln), um den Rückfluss des Blutes zu fördern. 12 Residualluftatmung: Man nimmt mit der rechten Hand (Daumen berührt den rechten Nasenflügel, Zeige- und Mittelfinger sind weich eingebogen, Ring- und kleiner Finger berühren den linken Nasenflügel) Kontakt zur Nase auf, atmet normal ein und vollständig aus. Dann wird die Nase komplett verschlossen: einatmen, ohne Luft reinzulassen, ausatmen, ohne Luft rauszulassen, ggf. ein- bis dreimal, nach dem »Ausatmen« vorsichtig die Nase öffnen und die Restluft ausströmen lassen. Durch die Veränderung der Druckverhältnisse können innere Turbulenzen entstehen → ggf. einen normalen Atemzug zwischenschalten und neu beginnen. Durch diese spezielle Atemtechnik entsteht eine Sauerstoffschuld (Hypoxie), wodurch bei entsprechendem Zusammenspiel im Glomus Caroticum (ca. 5 mm großes parasympathisches Paraganglion in der Karotisgabel) die Produktion von Dopamin angeregt werden kann. Es ist quasi ein Test, wie der Übende in dünner Luft zurechtkommt (Näheres zur Residual­luft­ atmung und zu differenzierten Ausführungen bzgl. der HRV-Messungen: Lobo, 2012, S. 77 ff.).

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digkeit gehen. Die Anfangshypothese war eindrücklich bestätigt und ich war hochmotiviert, das shake-spear-Aktivierungstraining® konsequent fortzusetzen.

6. Konsequenz: Ein Jahr das Herz und den Körper sprechen lassen Die schmerzlichste Einsicht war, mir einzugestehen, dass ich schwer krank war, und mich auch tatsächlich krank sein zu lassen. Hierfür bedurfte es mehrfach wohlwollender konfrontierender Interventionen mit der Lösung, vorübergehend das System Schule zu verlassen, um mich voll und ganz mir selbst und meiner Genesung zu widmen. Kein leichtes Unterfangen, mich finanziell und genderspezifisch vorübergehend von meinem Mann versorgen zu lassen! Just zu diesem Zeitpunkt, als ich mit einem krankheitsbedingten Urlaubsan­trag rang und meine äußeren Kräfte erschöpft waren, mutete es nahezu makaber an, dass ich vom Arbeitgeber die Nachricht von einer Leistungsprämie erhielt. Nachdem diese schwierige Hür­de genommen war, konnte ich regelrecht aufatmen und der Zukunft ins Auge sehen. Ich wollte das Pausenjahr effektiv nutzen, um all das umzusetzen, wonach sich mein Herz seit Langem sehnte, wofür ich jedoch keine Realisierungsoptionen gesehen hatte: Ȥ Zeit für tägliches Yoga-Üben und zunächst Auszeit vom Yoga-Unterrichten Ȥ Die shake-spear-Geräte waren meine ständigen Begleiter. Ein Beispiel sei hier noch erwähnt: Durch die Schmerzen in der Hand konnte ich nicht mehr schnell zupacken oder greifen. Die Kraft ging mehr und mehr verloren und das Kṣipram (= die Schnelle, Sehnen-Marma zwischen Daumen und Zeigefinger) fühlte sich leer und schwach an wie Papier. Als KālāntaraMarma braucht es die Aktivität am Tag und die Erholung in der Nacht (siehe Abschnitt 4 dieses Beitrags): Also begann ich, diesen Bereich mittels MudraManual® langsam zu kräftigen, indem ich nur mit dem Daumen schwang, während ich die anderen Finger mit den Frequenzreglern ruhig stellte (Näheres zum Kṣipram und Handhaltung beim Schwingen, Lobo, 2005, S. 185 ff.). Ȥ Zeit für Natur-Erleben mit allen Sinnen Ȥ Zeit für Schwimmen im mög- Abbildung 12: »Aus dem Angenommensein erlichst warmem Wasser wächst das Leben«

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Zeit fürs Positivtagebuch Zeit für stärkende Ernährung Zeit für nährende, nicht zehrende Kontakte Zeit für notwendige ärztliche Nachsorge Zeit für tiefe Berührung als »Türöffner« (Sattva) Körpertherapie mit subtiler Präsenz und Methoden aus der biodynamischen Craniosakralarbeit, Psychotonik sowie weiteren Elementen (www.haefnerkoerper­therapie.de) brachten mich behutsam, stets Grenzen achtend mit Sehnsüchten und bisher nicht gekannten im tiefen Gewebe schlummernden Lebensqualitäten in Verbindung, wie ein entstandenes Bild in Abbildung 12 zeigt. Zeit für Genussmomente wie z. B. ein Konzert Zeit für Tango Argentino und freien spielerischen Tanz Zeit zum Segeln, meiner größten Leidenschaft (ggf. auch ohne Partner), die ich mir familienbedingt lange Zeit verwehrt hatte Zeit, um mich mit gestaltpsychotherapeutischer und tiefenpsychologischer Unterstützung13 aus alten verhafteten Strukturen, u. a. aus eingefleischten Leistungsmustern zu befreien und unabhängiger zu werden Zeit für weitere Fortbildungen, einerseits auf hohem wissenschaftlichen Niveau, andererseits mit Herzensqualität Gelegentliche Kontrollen mittels HRV-Messung bestätigten dabei den Aufwärtstrend. Die Baselinewerte (LF:HF) wurden allmählich niedriger.14 Zeit für Marma-Massage®

Marma-Massage® (seit 1995) ist die wissenschaftliche Weiterentwicklung der traditionellen āyurvedischen Ölmassage durch Herbert Wagner15 und Lobo. Sie bedient sich ebenfalls der Marma-Lehre, baut auf Marma-Yoga® auf und lässt sich effektiv mit Geräten des shake-spear-Aktivierungstrainings® kombinieren. Eine Kunst mit Herz, Hand und Verstand! In einem kurzen Gespräch (Situationsanalyse) wird gemeinsam geklärt, welche Impulse zur Entlastung der 13 R. Withopf-Buch ist Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin, Würzburg-Höchberg. 14 Für Interessierte: Die HRV-Messung mit Pedalo , ein Stand- oder Wandgerät, in das ein R.E.M.BO -Rezeptor eingehängt werden kann und der Schwingimpuls aktiv (alternativ über Partner passiv) mit den Füßen/Beinen gegeben wird, war erfolgversprechend (Quotient LF:HF 1.390). Sehr aufschlussreich waren HRV-Messungen mit verschiedenen Stablängen und -griffen, wodurch sich die Exaktheit des R.E.M.BO -Rezeptor -Metallgriffs, der fraktale Schwingung ermöglicht – für mich als Linkshänderin sinnvoll –, eindrücklich bestätigte (Quotient LF:HF – 0.527). 15 H. Wagner hatte über viele Jahre u. a. die Marma-Massage -Weiterbildungen in Jettingen geleitet.

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Gesamtsituation sinnvoll erscheinen. Die zentrale Frage ist: Was betrifft mich? Was brauche ich? Blutdruckmessungen mit arteriellem Mittelwert (MAD an Arm und Bein) vor und nach der Massage können zusätzliche Anhaltspunkte sein. 14 verschiedene Teilmassagen stehen zur Auswahl. Über die Marmas, die als Schmerzfrühwarnsystem gelten, können differenzierte Impulse gegeben werden, z. B. stärkend, belebend, beruhigend, entlastend, kühlend, erhitzend. Dabei kommt es ganz besonders darauf an, dass sich die Massagepartner*innen bezüglich Griff, Druck, Geschwindigkeit, Öl etc. offen und präzise abstimmen und dass die Massagehandlung innerlich angenommen werden kann. MarmaMassage® erfordert Know How, Übung und Präsenz: Sie lebt von der herzlichen, nicht mechanischen Handlung; das Muskel-­Marma in der Mitte der Hand heißt Talahṛdaya, Herz der Hand. Die Massierende greift nicht behandelnd ein, sondern will die Selbstregulation fördern. Als Marma-Masseurin mit langjähriger Erfahrung ahnte ich von Anfang an, welche Massagen hilfreich sein könnten. Aber wer sollte sie in unserer Region ausführen? So verstrich wertvolle Zeit, bis mir die Idee kam, einen mir bekannten Yoga-Lehrer, der bereits an einigen Massageseminaren teilgenommen hatte, wöchentlich um eine Massage zu bitten. Mit präziser Beschreibung, Herzensqualität und Kommunikation gelang dieses Experiment; nach einigen Monaten gingen wir dazu über, wechselseitig zu massieren, meinen reduzierten Kräften Rechnung tragend, das heißt, die Guṇas im Blick. Zugegebenermaßen klingt das nach Luxus, aber allmählich kam ich aus dem anfangs beschriebenen Tamas-Zustand schrittweise wieder in die Lebendigkeit, aus der Dunkelheit ins Licht. Dieser Zustand wird nach der Yoga-Philosophie mit Sattva bezeichnet. Es ist ein lebensbejahender Wachzustand mit starkem Realitätsbezug; vom Lebensfluss geleitet kann eine neue Perspektive entstehen. Die vorherrschenden Elemente sind Raum und Feuer; man hat das Gefühl, weniger zu investieren und dennoch mehr von der Gemeinschaft zu bekommen. Nur Sattva fördert und erhält demnach unsere Gesundheit. Auch Lebensmittel können sattvischer Natur sein (Lobo, 2001, S. 31, S. 94 f., S. 163 ff.).

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Nach einem Jahr hatten sich die Empfindungen in den Marmas (exemplarisch) dementsprechend verändert16: Hüftgelenke Leistengegend Knie innen Atlantoaxialgelenk Schultern Oberschenkel Hände Brustmuskel

beweglicher, kühler weicher, kühler, ich konnte wieder schwimmen beweglicher, ich konnte wieder Rad fahren freier, gut »geschmiert« nahezu frei beweglich geschmeidiger, durchblutet kräftiger, beweglicher freier, durchblutet

7. Fazit und Ausblick: Auf der Hut und »nur Mut!« Die intensiven Erfahrungen wollte ich gern an Betroffene weitergeben und startete später einen Volkshochschulkurs mit dem Titel »Sanft und spielerisch üben trotz Fibromyalgie, Chance der Rückkehr ins Leben, nur Mut!« mit genügend Raum für Hintergrundinformationen, Rückfragen und Feedback. Es erwies sich als hilfreich, begleitend zu den Bewegungen mitunter federleichte Tücher und weiche fließende Musik einzusetzen. Im Laufe der Zeit kam ergänzend eine Wickeltechnik aus dem shake-spear-Aktivierungstraining® dazu. Die Wickelung mit einem geeigneten Baumwollband (Abb. 13) ist den Muskelschlingen nachempfunden und für Beine und Arme in Kombination mit speziellen kleinen Bewegungen gedacht, Abbildung 13: Beispiel einer z. B. erleichtert sie beim FMS das Beugen und Deh­Wickelung mit Band nen der Beine. Damit werden Impulse an die Gelenke und die eingebettete Muskulatur gegeben; die Durchblutung kann gefördert werden. Der Körper kann aus seiner Schonhaltung behutsam herausgeführt und an seine eigentliche Aufgabe erinnert werden. 16 Aus Gründen der Redundanz wird in diesem Beitrag bewusst auf die Verflechtung der fünf Elemente (Mahåbhýtas) und die zugeordneten drei Lebensprinzipien bzw. Krankheitsfallen (Doṣas) mit ihren 15 Subdoṣas verzichtet.

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Nach eineinhalb Jahren gelang der zunächst sehr reduzierte Wiedereinstieg in der Schule. Glücklicherweise wurde ich zunehmend beschwerdefrei. Restsymptome sind eine gewisse Muskelschwäche und Kälteempfindlichkeit (auch soziale Kälte); vor allem nachts fangen die Beine an zu schmerzen, wenn sie kalt werden. Vor Überforderung muss ich mich hüten und stets das richtige Maß finden. Genau dies wird mir durch meine aktuelle Schreibblockade noch einmal drastisch vor Augen geführt. Die innere Messlatte hatte ich mit Beginn dieses Beitrags offensichtlich zu hoch gesetzt; wie das Kaninchen vor der Schlange zog ich den Kopf ein, was einem Totstellreflex gleichkam, fand zunächst keinen Anfang, der Zeitdruck bzgl. Abgabetermin wuchs. Gleichzeitig fühlte ich mich überfordert und saß zudem ergonomisch unvorteilhaft am Schreibtisch. Innerlich beschleunigt und angespannt verkürzten sich Nacken (Trapezius) und Schultern (Levator scapulae, Schulterblattheber), als Linkshänderin mehr links als rechts. Aus Sicht der Lehre von den Marmas waren u. a. Kṛkatika, das Atlanto­axial­gelenk, sowie die Amsas, das Dach im Schulterbereich, und Vidhura, die Widerwärtige in Ohrnähe, beide Sehnen-Marmas von der Vaikalyakarazeitstruktur (siehe Abschnitt 4 dieses Beitrags) betroffen, das heißt, die Haltung des Kopfes zum Körper ändert sich, wenn die Erholung zu kurz kommt. Es wäre ein Leichtes, die Ursache im Außen zu suchen, doch in diesem Fall ist meine eigene innere Einstellung zu Leistung mein Feind, der seine Pfeile abschießt, um beim Bild der Lehre vom Pfeil zu bleiben. Heftige Schmerzen ließen nicht lang auf sich warten und erschwerten das Weiterschreiben über das Thema. »Der Schmerz fühlt sich an wie damals vor 14 Jahren«, schoss es mir durch den Kopf und damit die Angst vor einer Reaktivierung der Fibromyalgie: Die alte Leistungsfalle war regelrecht noch einmal zugeschnappt. Ich riss mich wie früher zusammen, statt gut für mich zu sorgen; und damit war ich im Zustand von Avidyā, der »Unfähigkeit (Zusammenhänge der Handlungen) zu sehen« (Lobo, 2007, S. 20). Mein Körper mahnt mich zum achtsamen Umgang mit mir im Sinne der Yoga-Basics: Yamas und Niyamas (äußere und innere Disziplin) und vor allem, dem Schreiben die vom Leistungsdruck geprägte Schwere zu nehmen und stattdessen Leichtigkeit und Freude an den Tag zu legen (Ahiṃsā, Gewaltlosigkeit), eine Lehre für meine künftige Lebensgestaltung nunmehr als Rentnerin. Nun kommt allmählich Demut auf. Rhythmisierung mit häufigen Positionswechseln und vielfältigen Übungsimpulsen, spielerisch mit Herzensqualität und Hingabe (Îśvarapraṇidhāna17), das ist jetzt das oberste Gebot. 17 Siehe hierzu die Einleitung von Michael Röslen in diesem Buch.

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Auf der Hut sein heißt für mich, Grenzen zu achten, mir selbst treu zu bleiben und den eigenen Bedürfnissen unabhängig vom sozialen Sog zu trauen. Genau das erfordert wiederum Mut, Mut, gegen den Strom der Beschleunigung zu schwimmen und Stopp zu sagen, aber auch Mut, Konventionen über Bord zu werfen, gewohnte Fahrwasser zu verlassen und Neues zu wagen. Hierfür bedarf es, ganz im Sinne der Philosophin Knapp, der »fünf Urkräfte, die uns tragen: […] Vertrauen, […] Hoffnung, […] Akzeptanz, […] Liebe […] [und] Lebendigkeit« (Knapp, 2017, S. 149 ff).

Damit spricht sie mir aus der Seele, und es gilt, diese Urkräfte wieder in den Vordergrund zu rücken. Literatur, Internet, Bildquellen Bauer, J. (2008). Das Gedächtnis des Körpers: Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern (13. Aufl.). München/Zürich: Piper. Deutsche Fibromyalgievereinigung (DFV) e. V. https://www.fibromyalgie-fms.de/fibromyalgie/ therapie (Zugriff am 10.06.2021). Deutsche Schmerzgesellschaft (2017). Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie des Fibromyalgiesyndroms. Kurz- und Langfassung. http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/145004.html (Zugriff am 25.06.2021). Knapp, N. (2017). Der unendliche Augenblick – Warum Zeiten der Unsicherheit so wertvoll sind (4. Aufl.). Reinbek: Rowohlt. Krumbeck, M. (2016). Behandlungskonzept Fibromyalgiesyndrom. https://www.schmerzklinik. com/fileadmin/downloads/schmerzthemen/09_Fibromyalgie.pdf (Zugriff am 10.06.2021). Lacour, M. (2018). Interview mit Herrn Dr. med Michael Lacour. In Patientengespräch Fibromyalgie. (S. 43–46). Hrsg. von H. Westermann. Deutsche Fibromyalgie Vereinigung (DFV) e. V.: Seckach. Lobo, R. (1987a). Yoga-Elementarkurs. Bd. 4: Übergänge. München: Hueber-Holzmann. Lobo, R. (1987b). Yoga-Elementarkurs. Bd. 5: Umkehrhaltungen. München: Hueber-Holzmann. Lobo, R. (1987c). Yoga-Elementarkurs. Bd. 6: Hingabehaltungen. München: Hueber-Holzmann. Lobo, R. (1998). Yoga-Elementarkurs. Bd. 2: Atmen (2. Aufl.). Palmela: Editora Pantainos. Lobo, R. (1999). Yoga-Elementarkurs. Bd. 1: Bewegen (2. Aufl.) Palmela: Editora Pantainos. Lobo, R. (2001). Grundlagen des Āyurveda (2. Aufl.). Palmela: Editora Pantainos. Lobo, R. (2004). Yoga-Elementarkurs. Bd. 3: Kreislauf (2. Aufl.). Palmela: Editora Pantainos. Lobo, R. (2005). Yoga – Sensibilitätstraining für Erwachsene. Bd. 1: Grundwissen und Übungen (2. Aufl.). Palmela/Portugal: Editora Pantainos. Lobo, R. (2007). Yoga – Sensibilitätstraining für Erwachsene. Bd. 2: Lernziele, Methoden, Übungen. (2. Aufl.) Palmela/Portugal: Editora Pantainos. Lobo, R. (2012). Yoga – Sensibilitätstraining für Erwachsene. Bd. 3: Lernziele, Methoden, Übungen (2. Aufl.). Palmela/Portugal: Editora Pantainos. Nanal, B. P. (1985). Grundlagen des Āyurveda. Bd. 1.Vorträge von Prof. Vaidya B. P. Nanal. Hrsg. vom Förderverein für Yoga und Āyurveda München (2. Aufl.) Tegernsee: Desing. Patañjali (1985). Die Wurzeln des Yoga. Die Yoga-Sūtren des Patañjali. Hrsg. von B. Bäumer (5. Aufl.). München: O. W. Barth. Weiss, Th. (2017). Kursbuch Fibromyalgie. Das Standardwerk zu Fibromyalgie, chronischen Schmerzerkrankungen und funktionellen Störungen (3. Aufl.). München: Südwest.

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Weiss, Th. (2020). Fibromyalgie, Schmerzen überall. Die rätselhafte Krankheit erkennen, verstehen und Beschwerden effektiv lindern. München: Heyne. Westermann, H. (2018). Patientengespräch Fibromyalgie. Seckach: Deutsche Fibromyalgie Vereinigung (DFV) e. V. https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Tender_points_fibromyalgia.svg (Zugriff am 10.06.2021). https://de.wikipedia.org/wiki/Substanz_P (Zugriff am 10.06.2021). sowie eigene Mitschriften aus Fortbildungsmodulen zum shake-spear-Aktivierungstraining , 2003–2019.

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Fotos privat – Beteiligte Firmen haben ihre Erlaubnis zur Veröffentlichung erteilt.

Gisela Staffort-Hartlieb (*1954, verheiratet, 1 Kind) In den Lebenswelten Schule/Kita verschrieb sich die Grund- und Hauptschullehrerin mit Zusatzstudium Deutsch als Zweitsprache der Förderung von Migrantenkindern, engagierte sich für pädagogische Elterncafés und verankerte als Pädagogin für psychosomatisches Gesundheitstraining (IPSG, KSI) mit über dreißig Jahren Berufserfahrung EMYK (Entspannungstraining mit YogaElementen für Kinder und Jugendliche) im Stundenplan. Durch langjährige Modulfortbildungen floss das shake-spear-Aktivierungstraining auch in die Lehrerfortbildung ein. Seit 1987 (seit 1991 in eigener Praxis) leitet die Marma-Yoga -Lehrerin außerdem Präventionskurse und Seminare an Volkshochschulen, in Kooperation mit Betrieben und Krankenkassen, bietet als Marma-Masseurin Marma-Massage an und war für den BVV in der Kursleiterfortbildung tätig. Fibromyalgiebetroffenen möchte sie seit ihrer Erkrankung Mut machen, für sich einzutreten. Ihr Motto: Gesundheit stärken mit zeitgemäßem Hatha-Yoga. Sie ist aktives Mitglied im BUGY und Förderverein für Yoga und Āyurveda e. V. Kontakt: Walther-von-der-Vogelweide-Str. 65, D-97422 Schweinfurt, Tel.: 015221024129, E-Mail: [email protected].

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Betrachtungen zum Spannungsfeld zwischen Yoga, Physiotherapie und Prävention Raimond Hintze

Yoga erlebt seit Jahren einen unglaublichen Boom. War es anfänglich eine Domäne der Erwachsenenbildung an den Volkshochschulen, so wird es mittlerweile vermittelt und trainiert in Studios, Cafés und Lofts, in Fitnesseinrichtungen, Sportvereinen und Reha-Krankenhäusern. Vergleichbar ergeht es dem Āyurveda. In den 1980er Jahren konnte ich die ersten deutschsprachigen Bücher zu dem Thema entdecken. Nun findet sich der Begriff in den Programmen von modernen Kosmetikstudios, Wellnesshotels und Physiotherapiepraxen. Was bedeutet diese Entwicklung für mich, und wie positioniere ich mich als Physiotherapeut und Lehrer für Yoga? Der auslösende Impuls für meine Beschäftigung mit Yoga ist mir nicht mehr bekannt. Es muss in den 1970er Jahren gewesen sein, als ich mich als Jugendlicher in mein Zimmer zurückzog, um auf autodidaktische Weise Yoga-Āsanas und Prāṇāyāma zu praktizieren. Das Literaturangebot war damals vergleichsweise spärlich und interessanterweise aus der Hand von Männern. Die Fotos in den Büchern zeigten meistens Männer beim Praktizieren von Yoga. Sie vermittelten die Art von Strenge und männlicher Askese, die gut in mein damaliges Weltbild passte. Ich kann mich nur undeutlich an meine Yoga-Praxis erinnern. Aber ich weiß, dass ich einerseits die körperliche Herausforderung, andererseits auch das Gefühl von Geborgenheit in den einzelnen Āsanas suchte. So fand ich Sicherheit vor der verunsichernden Welt, die draußen auf mich wartete. Jahre später schloss ich mich einer regelmäßigen Yoga-Runde im Freundeskreis an. Wieder zog mich der männlich-asketische Aspekt des dort praktizierten Yoga in seinen Bann. Doch auch das Gruppenerleben, das gemeinsame Singen der Mantras und das esoterische Weltbild übten eine starke Anziehung auf mich aus. So war es naheliegend, mich für eine Fortbildung zum Yoga-Lehrer zu bewerben. Es handelte sich um das Integrierte Psychosomatische Gesundheitstraining von Prof. a. D. Dr. Rocque Lobo († 2019).1 Während dieser Fortbildung studierte ich 1

Ein Lehrgang, der unter Mitwirkung des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft entwickelt und vom Institut für Fortbildung an der Katholischen Stiftungsfachhochschule München in Zusammenarbeit mit der Forschungsstelle für Yoga und Ayurveda München und dem Tilak Maharashtra Vidyapita Pune/Indien durchgeführt wurde.

R. Hintze · Zum Spannungsfeld zwischen Yoga, Physiotherapie und Prävention

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in den kommenden drei Jahren Hatha-Yoga. Es entpuppte sich als weder männlich asketisch noch esoterisch. Es gefiel mir, die Aufmerksamkeit in den einzelnen Yoga-Haltungen auf eine besondere Art zu schulen. Der Blick richtet sich dabei u. a. auf die Marmas, die sogenannten Wach- und Warnposten des Körpers. Sie melden sich bei Bedrohungen aus der Innen- oder der Außenwelt mit Schmerzen. In diesen Momenten ist das schmerzfreie Einnehmen einer körperlich und emotional herausfordernden Yoga-Haltung nicht möglich. Das Hineingleiten in eine meditative Gestimmtheit wird zu einem unerreichbaren Wunsch. Durch ein feines Bearbeiten dieser schmerzenden und in ihrer Lebendigkeit gebremsten Marmas kann sich die Gestimmtheit wandeln. Beim Üben von Yoga sind es im Besonderen die Hilfestellungen durch Übungspartner, die ich als sehr wohltuend empfinde. Da ist das Halten, Stützen und Entlasten, aber auch der aktivierende Schub und Druck durch die Hände meiner Partner und Partnerinnen. Im besten Fall entwickelt sich eine in der Hauptsache körperlich orientierte zwischenmenschliche Kommunikation. Dann kommt auf beiden Seiten etwas ins Fließen und die Übung gestaltet sich plötzlich leichter, stabiler oder flüssiger. Es mag sein, dass vor meinen Sinnen zusätzlich Bilder, Klänge und andere Fragmente aus der Erinnerung aufziehen. In diesen Momenten wird die Verflechtung meines Übens mit meiner Lebensgeschichte und meiner Außenwelt deutlich. Ich beginne, über die Art der Einbettung meiner Lebenswelt zu reflektieren. Wenn ich hin und wieder andere Ausrichtungen (Kundalini-Yoga nach Yogi Bhajan und Iyengar®-Yoga) praktizierte, so fühle ich mich in dem klassischen Hatha-Yoga, das ich ursprünglich gelernt hatte, wirklich zu Hause. Im Laufe der Zeit entwickelte ich eine skeptische Haltung gegenüber lebensfernen und wenig pragmatischen Interpretationen der Yoga-Sūtren des Patañjali. Unreflektierte Zeremonien und Rituale können mich nicht mehr so leicht begeistern. Der Versuch eines Wissenstransfers zwischen Ost und West, wie er Lobo am Herzen lag, fördert stattdessen meine Neugierde. Aus diesem Transfer zwischen den Systemen Yoga und Āyurveda sowie der modernen Wissenschaft entwickelte er das Marma-Yoga®. Gestützt auf seine umfangreiche wissenschaftliche Forschung an der Stiftungsfachhochschule in München und im Förderverein für Yoga und Āyurveda konnte er eine wirkungsvolle Präventionsmaßnahme auf dem Gesundheitsmarkt etablieren.

Physiotherapie Mitte der 1990er Jahre begann ich mit einer Ausbildung zum Physiotherapeuten. Ich wollte meine Kenntnisse über Yoga mit medizinischem Fachwissen weiter

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untermauern. Bisher war ich in technischen Arbeitsfeldern tätig gewesen, in einer reinen Männerwelt. Durch die Physiotherapieausbildung erhielt ich Einblick in eine ursprünglich durchweg weiblich geprägte Berufswelt. Die Schülerinnen – es gab zu der Zeit nur wenige männliche Schüler – wurden darin geschult, Heilleistungen im Auftrag der häufig männlichen Ärzteschaft zu erbringen. Den Ärzten oblag zudem die Unterweisung in den sogenannten Arztfächern wie z. B. Physiologie, Krankheitslehre, Orthopädie. Sie unterrichteten also die harten Fakten. Die weichen Fähigkeiten, nämlich die manuellen und emotionalen Berührungen der Patienten, wurden zumeist von Physiotherapeutinnen vermittelt. Die Sicht auf Krankheit und Genesung, die mir während der damaligen Physiotherapieausbildung vermittelt wurde, entsprach einer mechanistischen Weltsicht. Therapeutische Handhabungen sollten in den gestörten Geweben wieder einen physiologischen Normalzustand herstellen. Der kranke Körper wurde nicht zusammen mit seinem psychosozialen Umfeld betrachtet. Der Begriff der Normalität, an dem sich das Behandlungsziel orientierte, wurde nicht hinterfragt. Auch das Phänomen Schmerz fand in seiner Komplexität erst später in der physiotherapeutischen Fachpublikation eine Beachtung. Als Yoga-Lehrer wünschte ich mir eine umfassendere Betrachtungsweise des erkrankten Menschen. Es zog mich in den Fachbereich der Neurologie, zu den Behandlungen nach einem Schlaganfall oder einem Schädel-Hirn-Trauma. Wir Schüler versuchten, zusammen mit den Patienten die durch die Erkrankung geschädigte Innenwelt mit der Außenwelt wieder in eine möglichst ungestörte Beziehung zu setzen. Die Verarbeitung der Informationen aus den Sinnesorganen ist im Gehirn gestört und damit gestalten sich die Bilder von der Umwelt und vom eigenen Körper mehr oder weniger verzerrt. Wenn zusätzlich die Handlungsorgane durch Lähmungen in ihrer Aktivität behindert sind, dann müssen die Wahrnehmungs- und die Handlungsfelder wieder sinnbringend und lebensbejahend verknüpft werden. Die Therapiestunden durchlebte ich als intensive emotionale Interaktionen mit den Patienten. Die orthopädisch orientierten Mitschülerinnen unterstellten uns Neurologen eine schwammige und unkonkrete Arbeitsweise, da wir uns zu wenig auf das in seiner Funktion gestörte Gewebe fokussierten. Aber mein Interesse war geweckt und so kam es, dass ich nach der Ausbildung noch Jahre in einer neurologischen Rehaklinik Berufserfahrungen sammelte. Mittlerweile praktiziere ich in einer eigenen Praxis für Physiotherapie, Training und Prävention. Ich kann meine Tätigkeit frei gestalten und meine Vorstellungen von Therapie und Yoga mit Leben füllen. Aber wie unterscheiden sich die einzelnen Bereiche, wo kommt es zu Überschneidungen und wo bereichern sie sich gegenseitig?

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Eine typische Therapie gestaltet sich folgendermaßen: Falls durch einen Unfall oder eine Erkrankung Gewebestrukturen akut verletzt worden sind, dann sollte ihnen für eine gewisse Zeit eine Atmosphäre der Heilung und Regeneration eingeräumt werden. Dies erfolgt durch Freistellung von der Erwerbsarbeit, durch Ruhigstellung und Schonung, eventuell unterstützt durch äußerliches oder innerliches Schienenmaterial. Je nach Gewebeart werden verschiedene zeitliche Abfolgen der Wundheilung durchschritten. Die Immunabwehr wird aktiviert, es kommt zur Neubildung, Neustrukturierung und Verfestigung im verletzten Gewebe. Die einzelnen Schritte werden durch die Handlungen der Therapeuten und Patienten unterstützt. Schwieriger wird es, wenn der Patient mit einer sogenannten endogenen Problematik die Praxis aufsucht, das heißt mit einer unklaren Ursache. So empfindet ein Patient möglicherweise Schmerz aufgrund von verstellten innerkörperlichen Regelkreisen oder inadäquaten Bewältigungsstrategien in Belastungssituationen aller Art. Nur mit viel Fingerspitzengefühl und Geduld lässt sich in diesen Fällen eine Heilung herbeiführen. Eine simple Reparaturroutine nach einem überwiegend monokausalen Denkschema führt nicht immer zum Erfolg. Üblicherweise wird eine multimodale Therapie in den Leitlinien empfohlen. Wenn möglich, sollen Therapiekonzepte aus verschiedenen Fachgebieten gemeinschaftlich das Problem mit dem Patienten bearbeiten. Die Emotionen und das soziale Umfeld des Patienten gelangen zusätzlich in den Fokus. Im ambulanten Bereich ist diese Zusammenarbeit nur bedingt möglich. Dann wird das Gespräch zu der entscheidenden Therapiemaßnahme. In der Kommunikation bekommt der Patient die Möglichkeit, sein Problem sich selbst (und nebenbei mir) zu erklären, erreichbare persönliche Behandlungsziele und den Zeitplan auf dem Weg dorthin festzulegen. Analoge Skalen werden genutzt, damit der Patient seine aktuellen Fähigkeiten, gefärbt von seiner momentanen Gestimmtheit, leichter beschreiben kann. So gewinnen die Kranken- und Lebensgeschichte und die Emotionen an Einfluss auf das therapeutische Geschehen. Die jeweilige physische oder emotionale Reaktion auf seine eigene Bewegung und Haltung im Raum oder auf eine Handhabung durch meine therapeutische Hand leitet den Fortgang der Therapiestunde. Die Reaktion kann zum Verwerfen eines Ansatzes führen, zur Richtungsänderung, zur Veränderung der Reizstärke oder des Timings. In diesen Momenten ist die zwischenmenschliche Kommunikation der entscheidende Aspekt, das Interagieren, das Geben und Nehmen, so wie ich es vom Yoga und Āyurveda her kenne. Ich muss diesen Prozess zulassen können. Dann trete ich immer mehr zur Seite, sodass sich die Kompetenz und Fähigkeit zur inneren Heilung bei dem Patienten entwickeln können. Ein Machtgefälle wird aufgeweicht. Wenn es gewünscht ist, nimmt der leidende Mensch eine ge-

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staltende, aktive Rolle ein. Die Therapie kann sich hier dem Leben öffnen und neue Gestaltungsräume möglich machen. Dann bin ich auch Zuhörer, Berater, Begleiter und Supervisor. Die therapeutische »Gurufunktion« tritt etwas in den Hintergrund. Ich schätze es, wenn ich diese Position im Arbeitsalltag hin und wieder einnehmen kann, denn sie entlastet mich. Wenn ich Verantwortung für den Heilungsverlauf abgeben kann, dann dient das meinem Wohlbefinden und wirkt wie ein Bollwerk gegen ein mögliches Burnout.

Prävention Neben meiner Tätigkeit als Physiotherapeut biete ich für die Krankenkassen zertifizierte Präventionskurse für Hatha-Yoga an. Der Leitfaden für Prävention, dessen Regelwerk genau den Sinn und Zweck dieser Kurse definiert, nennt Hatha-Yoga neben anderen fernöstlichen Techniken als Methode zur Entspannung. Anhand dieser Methode sollen sich die Kursteilnehmer z. B. nach einem anstrengenden Arbeitstag entspannen und regenerieren können. Meiner Meinung nach verkennt diese Betrachtungsweise das im Yoga schlummernde Potential. Durch eine Entspannungstechnik, ähnlich wie durch einen sogenannten Ausgleichssport, versuchen wir eben nur einen Ausgleich zu den belastenden Situationen des Lebens zu erzielen. Während des Eingangsgesprächs für eine Physiotherapie frage ich immer nach dem Beruf und dem Bewegungsverhalten im Tagesverlauf. Natürlich weise ich darauf hin, dass bei dem üblichen Stundenumfang der beruflichen Belastung (häufig gilt das zusätzlich auch für die Freizeitbelastung) der wirkliche gesundheitliche Effekt von Ausgleichsaktivitäten zu hinterfragen ist. Die Krankenkassen nutzen dieses Wissen. So werden die angenehmen Massagen mit Wärmeanwendung nur noch selten von Ärzten verordnet. Stattdessen soll eine tiefergehende Beschäftigung mit dem Schmerz und eine echte Heilung das Ziel der physiotherapeutischen Maßnahmen sein. Es ist bekannt, dass Ausgleichshandlungen, wenn sie denn mechanisch und ohne Herzblut absolviert werden, schnell wieder in Vergessenheit geraten oder einer Antriebslosigkeit zum Opfer fallen. Doch Yoga kann mehr als nur entspannen und ausgleichen. Wer bereit ist, sich auf eine spannende Reise der Selbsterkenntnis zu begeben, dem bietet sich die Möglichkeit, die individuellen Strategien der Stressbewältigung zu reflektieren und zu modulieren. Aber wie ist das Bild vom Hatha-Yoga in der Gesellschaft geprägt? Was wünschen sich die potentiellen Interessenten vom Yoga? Was meinen sie tun zu müssen, um als richtige Yoga-Praktizierende zu gelten? Dazu werfe ich wieder einen Blick auf die Literatur. Diejenige, die mir in den 1970er Jahren zur Verfügung

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stand, war männlich und asketisch geprägt. Aktuell scheinen die Bücher von Frauen für Frauen geschrieben zu sein. Sie sind ästhetisch und ansprechend gestaltet. Schöne, zumeist junge Frauen posieren geschmeidig, dem Anschein nach perfekt in den Āsanas ruhend und versprechen der Leserin ein stressfreies und entspanntes Leben voller Beweglichkeit. Yoga wird angepriesen als eine Form von Gymnastik, Work-out, Selbstoptimierungstraining und tänzerischer Akrobatik mit einer Prise Exotismus. Die Aufmachung der Bilder lässt mich an eine Art modernen Fakirismus denken. Männer hingegen scheinen in der Literatur und in der Yoga-Szene nur noch von geringer Bedeutung zu sein. Die männliche Askese ist durch weibliche Geschmeidigkeit abgelöst worden. So beschreibt der Autor Moritz Hermann in seinem Artikel in der »Zeit« vom 27. Juni 2019 den Besuch eines neu eröffneten veganen Yoga-Cafés in Hamburg-Eimsbüttel mit kritischen Worten. Er könne in der »gedämpften Welt des Yogas« nur das »Statussymbol eines urbanen, weiblichen und samtigen Latte-Macchiato-Milieus« finden. Er würde sich als Mann eher für »aktiv-aggressive Wettkampfsportarten« interessieren. Er amüsiert sich über den »Innerlichkeitsjahrmarkt des Yoga« und sieht sich dort als einziger Mann von »schönen, gelenkigen, netten Yogis« umgeben. Ähnliches muss der einzige Mann auf dem großformatigen Werbeplakat für Yoga-Kurse der AOK aus dem Jahr 2019 empfunden haben. Er steht wie verlassen zwischen lauter freudigen jungen Frauen und wirkt mit seinem unglücklichen Gesicht recht deplatziert. Die Verantwortlichen für diese Werbekampagne wussten möglicherweise nur zu gut, dass mit dieser Art von Entspannungsyoga kein Mann aus dem Sessel zu locken ist. Yoga-Bücher sind oft so schlicht wie Kochbücher gehalten: Tue dies und du bekommst das. Die Zutatenliste ist klar. Kleide dich mit dem richtigen Outfit, sorge für das passende Ambiente und begib dich in die abgebildeten Āsanas, dann wirst du belohnt mit Gelassenheit, Achtsamkeit und Entspannung. Aus meinen Yoga-Kursen weiß ich, dass diese Art der Literatur an den körperlichen Möglichkeiten der Kursteilnehmerinnen vorbeizielt und die Männer wiederum gar nicht erst anspricht. Für mich gibt es seit einigen Jahren mit dem Yoga-Buch von Ulrich Ott (2013) einen Stern auf dem Büchertisch. Der Autor versucht, unvoreingenommen die für ihn wesentlichen Aspekte des Yoga zu beschreiben. Er berichtet vom Ursprung und der Entwicklung des Hatha-Yoga. Er beschreibt das Weltbild und die Techniken sowie die Übungspraxis und deren Wirkung auf den Übenden. Bei der Lektüre des Buches wird die eigentliche Dimension des Yoga als komplexes Denk- und Handlungssystem deutlich. Ott verzichtet dabei auf jegliche reißerische Aufmachung, er bleibt nüchtern und sachlich. Sicherlich kitzelt er nicht so sehr unsere Sehnsüchte, denn hier fehlen die bunten Bilder als Appetithappen. Er macht deutlich, dass die Beschäftigung mit Yoga mehr sein kann als

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das bloße Einnehmen von Āsanas. Aber er verzichtet darauf, Heilserwartungen bei der Leserschaft zu wecken. Bereits vor 3000 Jahren wurden in den Veden, den indischen Texten zur Auseinandersetzung mit den existentiellen Fragen des Lebens, Techniken zur Selbstreflexion beschrieben. Diese Techniken wurden in der Zeit von 500 bis 1300 n. Chr. um spezielle Körperhaltungen ergänzt, die sich wiederum durch das Aufkommen einer weltumspannenden Körperkultur in der Neuzeit zu den heute bekannten Āsanas des Hatha-Yoga entwickelten. Mit Freude an der Bewegung und Neugierde auf die jeweiligen Reaktionen des Körpers üben meine Kursteilnehmerinnen die häufig doch sehr verunsichernden Āsanas. Dort kippelt es, da fühlt man sich furchtbar steif, dann kommt ein Lachen herausgeplatzt, ein Stöhnen macht sich breit, Mutlosigkeit und Ärger, aber auch Geduld und Frohsinn können sie begleiten. So wird für mich ein Yoga-Raum zu einer Werkstatt, in der die Sinne geschärft und sensibilisiert werden. Und vielleicht verknüpft sich das Erlebte für die Übenden zu einer Erzählung ihrer eigenen Körper. Im Yoga ist es ein Gespräch mit dem Körper. In der Physiotherapie findet es üblicherweise über den Körper statt. Zieht man nach Lobo Āyurveda als Denkhilfe hinzu, dann lassen sich, so wie in der Therapie analoge Skalen zur Beurteilung der Qualität dieser Reaktionen heranziehen. Hier stecken Gegensatzpaare von Adjektiven die Endpunkte der Skalen ab. Reaktionen wie z. B. von heiß bis kalt, von zäh bis elastisch werden beschrieben. Mit ihnen bezieht der Körper eindeutig Stellung zu den eingenommenen Körperhaltungen. In der Physiotherapie werden die Skalen genutzt, um die aktuelle Qualität von Alltagsbewegungen im Verlauf der Therapie beurteilen zu können. So werden dem Körper als Werkzeug Noten von gut bis schlecht gegeben. Im Gegensatz dazu ist das Ziel für die Kursteilnehmer meiner Yoga-Kurse von einer subtileren Art. Durch das wertneutrale Benennen von Empfindungen treten sie mit ihrem Körper in einen Dialog und ihre Position im soziobiologischen Raum wird deutlich. So lässt sich über die eigene Gesundheit vortrefflich meditieren. Aus den Empfindungen heraus entstehen an der Schnittstelle zu einem sprachlichen Ausdruck Stimmungen. Innere Bilder ziehen vor die Augen, Gerüche wehen aus der Erinnerung heran, längst verklungene Worte sind wieder zu hören. Die ganze Bandbreite der Lebensgeschichte rollt sich aus der Erinnerung auf und dockt an den gegenwärtigen Empfindungen an, die von den Āsanas hervorgerufen werden. Während der Körper in eine Stimmung von Traum und Selbstregulation eintaucht, können in dieser Halbwelt zwischen Tag und Nacht neue Handlungsmöglichkeiten am Horizont aufleuchten. Ein innerer Zusammenhalt, eine individuelle Form von Gesundheit, kann sich aus einem Strudel von Analogien und Metaphern heraus entwickeln. Sie sind

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fluider, unbestimmter und nicht allgemeingültiger Natur. Das Empfinden von Kühle z. B. hat verschiedene Bedeutungen, je nach der Tages- oder Jahreszeit, je nach sozialer Atmosphäre und Verortung im Körper. Der medizinische Begriff der Homöostase – er steht für eine innerkörperliche Gesundheit – hat mit der Zeit eine Wandlung durchschritten. Früher stand er für das Einhalten fest definierter, starrer Normwerte der lebenswichtigen inneren Prozesse. Heute wird Homöostase als ein dynamisches Schwingen und Pulsieren um individuelle Richtwerte angesehen. Nach einer These des Kognitionswissenschaftlers Douglas Hofstadter, gibt es keine Begriffe ohne Analogien (Hofstadter u. Sander, 2018). Alle Begriffe sind veränderlich in ihrer Bedeutung im Verlauf der persönlichen Zeit und werden durch einen ständigen Fluss der gesammelten Analogien für einen Menschen griffig. So besitzt ein Stuhl eine jeweils andere Bedeutung in der Zeit. Ein Kleinkind, das nicht laufen kann, zieht sich daran hoch und entwickelt erste Spannungsbögen für das Stehen. Ein Schulkind muss viel Zeit darauf verbringen und verliert dabei möglicherweise seine Körperspannung. Und ein alter Mensch findet darauf kaum noch Halt beim Sitzen während einer Prāṇāyāma-Übung. So gewinnen Begriffe wie Āsana oder Gesundheit erst durch die Fülle des wechselhaften Feedbacks aus Innen- und Außenwelt des menschlichen Körpers an individueller Bedeutung.

Eigenes Erleben Im Folgenden schildere ich, wie ich selbst zum Leidenden wurde und wie ich zwischen Physiotherapie und Yoga meinen Weg zur Genesung fand. Vor einigen Jahren fuhr ich mit dem Snowboard in einem sogenannten Fun-Park völlig ungeübt auf eine Sprungschanze zu. Die mich begleitenden Jugendlichen hatten mir zur Langsamkeit geraten. Dennoch näherte ich mich der Schanze mit einer unvernünftig hohen Geschwindigkeit. Als mir das bewusst wurde, war es bereits zu spät für eine Korrektur. Ich gab mich tatenlos dem Lauf des Lebens hin, schloss die Augen und flog durch die Luft, um aus großer Höhe auf dem Rücken zu landen. Unter dem Einfluss von Adrenalin rettete ich mich noch in die Unterkunft, wurde aber im Verlauf der Nacht steif wie ein Brett. Selbst die banalsten Bewegungen waren nur unter Schmerzen und eingeschränkt möglich. Um mich und meine Mitreisenden zu beruhigen, ließ ich mich am folgenden Tag im Krankenhaus auf Knochenbrüche und innere Verletzungen hin untersuchen. Da nichts diagnostiziert wurde, begann ich mit meiner eigenen Behandlung. Starke Schmerzen hielten lange Zeit an und die mir nahestehenden Menschen drängten mich, Ärzte zu konsultieren. Ich war allerdings davon überzeugt, dass

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weitere bildgebende Untersuchungen (das wäre die Option gewesen) Defekte zutage gebracht hätten. Aber ein kausaler Zusammenhang zu dem Unfallgeschehen hätte nicht zwingend bestehen müssen, denn an zeitweiligen Rückenschmerzen litt ich bereits lange vorher. Die ärztliche Diagnostik hätte mich nur in Unruhe versetzt und Ängste geschürt. So entschied ich mich alternativ für ein anderes Vorgehen. Zur Behandlung der Schmerzen im unteren Rücken, im Gesäß und im linken Bein nutzte ich sanfte Techniken aus der Physiotherapie zur Dehnung und Förderung der Elastizität der Weichteile. So minderten sich in den folgenden Monaten die Schmerzen und das Bewegungsausmaß im Rücken vergrößerte sich zusehends. Ich versuchte gleichzeitig meinen Alltag ähnlich wie vor meinem Unfall zu leben, um nicht das sogenannte Schmerzgedächtnis zu triggern. Außerdem hatte ich das Bedürfnis, die Verrücktheit dieses Sturzes, das Trauma der Fehlregulation zu thematisieren. Dazu erschienen mir die gelernten Techniken des Hatha-Yoga als besonders wertvoll. Schließlich hatte Yoga seinen Ursprung auf den Schlachtfeldern des alten Indien gehabt und ich fühlte mich gerade so zerschlagen wie nach einer Schlacht. Dort stand die Fähigkeit zur Selbstreflexion und -regulation für den einzelnen Krieger inmitten feindlicher und eigener kriegerischer Ambitionen auf dem Prüfstand. Die Marmas beschreiben in diesem Zusammenhang die besonders schützenswerten funktionellen Konglomerate des menschlichen Körpers. Schmerzen und Unwohlsein an den Marmas machen die Unfähigkeit zur Selbstregulation in Richtung eines lebendigen Seins (lebendig sein) deutlich. Ich versuchte, mich in Āsanas und im Prāṇāyāma dem Unfallgeschehen emotional zu nähern, und prüfte dabei die Empfindungen in meinen Marmas. Ich veränderte die Übungstechnik, um mit der Zeit eine Schmerzfreiheit zu erreichen. Als besonders wertvoll erwiesen sich die Techniken und ­Hilfsmittel des von Lobo in Zusammenarbeit mit der Firma Haider® Bioswing entwickelten shake-spear-Aktivierungstrai­ Abbildung 1: Garudāsana auf Posturomed nings®. Das Ziel dabei ist, in den Yoga-­ mit Propriomed-Stab 170

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Übungen die harte, traumatisierte Muskulatur in angenehme, niederfrequente Schwingung zu versetzen. Dazu begebe ich mich z. B. in die Haltung Garudāsana, benannt nach dem Reittier des Gottes Vishnu, dem Adler. Mit gebundenen Armen und Beinen fühle ich mich handlungsunfähig, wie damals vor dem Abflug vom höchsten Punkt der Schanze. Mit diesem Bild vor Augen und dem Gefühl von stockendem Atem in der Brust empfinde ich wieder die Ausweglosigkeit der damaligen Situation. Ich nehme die Āsana auf einem Posturomed® stehend ein und halte mit den Fingern einen Propriomed®-Stab (oder shake-spear). Nun versuche ich, beide Hilfsmittel gleichmäßig und harmonisch zu schwingen. Das Ziel ist, die muskuläre Schreckstarre zu lösen und befreit aufzuatmen. Von Tag zu Tag gelingt mir das zufriedenstellender. Der Dialog mit dem Körper scheint fruchtbar zu sein. Eine ähnliche Herangehensweise nutze ich bei meinen regelmäßigen morgendlichen Prāṇāyāma-Übungen. Dazu sitze ich im Fersensitz auf einem Hocker, der aus zwei Sarabande®-Elementen besteht. Ich versuche, den unteren Rumpf in harmonische, niederfrequente Schwingungen zu versetzen. Während die Finger meiner einen Hand rechts und links an den Nasenflügeln ruhen, kann ich das innere Bild des stockenden Atems mit Übungen wie dem Ein- oder Ausatmen in Pausen bearbeiten. In einem feinen Zusammenspiel von Sensorik, Motorik und Emotionen lässt sich die Belastung der Marmas des Brustraumes mindern und ein erleichtertes Aufatmen kann sich einstellen. Ich versuche, im Moment der Beschleunigung, meine eigenen versteckten Motive der Handlung zu hinterfragen, während ich einen traumähnlichen und meditativen Zustand zwischen Schlafen und Wachen im Schwingen anvisiere. Ein derartiges Üben von Yoga am Point of no Return, so wie ich ihn auf der Schanze erlebt hatte, wirkte sich wohltuend auf den Rücken und das linke Bein aus. Mit der Zeit gewann ich den Eindruck, die verletzten Anteile meines Selbst würden sich wieder integrieren. Dieser Prozess lief nicht ohne Zaudern und Zagen ab. Manchmal erwachte ich des Nachts und plante aus Verzweiflung und Hilflosigkeit einen Arztbesuch für den nächsten Tag. Am Morgen fand ich wieder zurück zu meinem inneren Abbildung 2: Sitzend auf Sarabande-SchwingHalt und vergaß den Arztbesuch. Aber hockern und Wechselatmung praktizierend

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der Besuch bei einem Osteopathen ist mir noch in Erinnerung geblieben. Mit fundierten Manipulationen brachte er meine Wirbelsäule zum Knacken und ich verspürte eine anfängliche Erleichterung. Aber der Kontakt war auf einer sachlichen und nüchternen Ebene verblieben, ohne mich nachhaltig emotional berührt zu haben. Es war mir klar, dass dieser Besuch nur ein kleiner Mosaikstein in der Geschichte meiner Genesung sein konnte. Die Schmerzen, die wie Pfeile in meinem Körper saßen, mussten erst langsam herausgearbeitet werden. Über viele Monate entwickelte sich im Yoga-Üben wieder eine Schmerzfreiheit in den Marmas, und die Stimmungen, Bilder und Klänge, in die ich eintauchte, taten mir wieder wohl. Dabei waren es keine klar definierten Praktiken oder Maßnahmen, die ich mir wie ein Physiotherapeut auferlegte. Ich versuchte, mich durch die Übungsstunde treiben zu lassen, indem ich aus einer offenen, neugierigen und staunenden Haltung heraus in eine Art Schräglage hineingelangte. Aus dieser glitt und rutschte ich, ohne zu planen und ohne die Richtung zu kennen, wohin es meinen Körper gerade zog.2 In diesem Fall sollte das lockende Ziel etwas Lebensbejahendes sein, nicht die Beschleunigung, die massive Verunsicherung und Gefährdung des Lebens durch die Sprungschanze. Während ich nach den tiefen Motiven für mein Handeln suchte, tauchten ähnliche Situationen aus der Erinnerung auf. Es sind solche, in denen ich mir zwar nicht vorsätzlich Gewalt antue, in denen ich aber nicht innehalten kann, um im Geiste wie auf Probe zu handeln. Entweder hetze ich oder ich neige unbewusst zur männlichen Selbstüberschätzung und zum Glauben an Unverletzlichkeit. Aber dann agiere ich auch aus einer spielerischen Stimmung der Lebensfreude heraus. In diesem Fall fühlte ich mich den ganzen Vormittag von den Jugendlichen unserer Reisegruppe beim Abfahren vom Berg emotional getragen und geborgen. Den Zustand nennt Lobo Schutz im sozialen Raum. Yoga und Āyurveda bezeichnen ihn mit Sattva. Durch das Üben von Yoga kann er für uns unerwartet erlebbar werden. Dazu schreibt Lobo: »Das Überleben des Kriegers als Kṣetrajña oder Kenner des Feldes hängt von seinem Platz in Sattva und damit nicht von ihm selber ab, sondern von der Gnade des Seins sozusagen« (Lobo, 2005, S. 221).

Während ich Yoga übe, kann ich mir den Fallstricken meines Wesens bewusst werden und sie mildern, indem ich mir andere Optionen erlaube. Zwei Jahre später stand ich wieder mit dem Snowboard auf diesem Berg. Ich wollte testen, ob sich die Pfeile aus meinem Rücken hatten entfernen lassen und ob ich wie2 Dieses Bild der Schräglage wurde inspiriert durch die Lektüre von Jullien (2018, S. 66 ff.).

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der den Berg hinuntergleiten konnte, ohne meinen inneren Zusammenhalt zu verbiegen. Trotz anfänglich weicher Knie fuhr ich wie gewohnt hinunter, musste aber feststellen, dass das Snowboard-Fahren keinen Reiz mehr auf mich ausübte. Es zog mich nicht an den Hang, so wie es früher gewesen war. Interessant ist, dass sich in Situationen des Hetzens, des Eilens, der Beschleunigung, wenn mir scheinbar keine Muße zum Innehalten bleibt, wieder lästige Rückenschmerzen einstellen können. Ich versuche mich dann mit den oben beschriebenen Übungen meiner eigenen Zeit zu nähern und zu ergründen, was mich herausgerissen und beschleunigt hat.

Ausblick Dass Yoga und Āyurveda Möglichkeiten bieten, den westlichen Denkhorizont auf diese Weise zu ergänzen und zu erweitern, das konnte sich Kommissar Schenk nicht vorstellen, als er am Ende der »Tatort«-Folge vom 14.07.2019 sagte, er gehe für eine Woche ins »Gefängnis«, nämlich mit der Ehefrau ins Hotel zu einer Āyurveda-Kur. Wie weibisch das doch sei. Da schließt sich der Kreis zu der männlichen Ansicht über das vegane Yoga-Café vom Beginn dieses Textes. Man kann darüber streiten, ob ein Café der passende Ort für eine YogaStunde sein kann. Aber für mich steht fest, dass eine ernsthafte Beschäftigung mit Yoga und Āyurveda Männern wie Frauen die Möglichkeit bietet, neben den gewohnten monokausalen westlichen Denk- und Handlungsmustern auf zutiefst verunsicherndem, aber vielleicht auch fruchtbarem Boden überraschende Erkenntnisse im Zugang zum eigenen Körper und zur Gesundheit zu gewinnen. Literatur Hermann, M. (2019). Yoga-Café. Die Zeit, 27.06.2019. Hofstadter, D., Sander, E. (2018). Die Analogie. Das Herz des Denkens. Stuttgart: Klett-Cotta. Jullien, F. (2018). Vom Sein zum Leben. Euro-chinesisches Lexikon des Denkens. Berlin: ­Matthes & Seitz. Lobo, R. (2005). Yoga – Sensibilitätstraining für Erwachsene. Bd. 1. Palmela: Editora Pantainos. Ott, U. (2013). Yoga für Skeptiker. Ein Neurowissenschaftler erklärt die uralte Weisheitslehre. München: O. W. Barth.

Raimond Hintze (*1960) praktiziert Hatha-Yoga bereits seit seiner Jugend. Er arbeitete als Ingenieur im technischen Bereich, bevor er sich zur Physiotherapie umorientierte. Fortbildungen zum Pädagogen für Hatha-Yoga als Integriertes Psychosomatisches Gesundheitstraining (IPSG) und shake-spear-Aktivierungstraining schlossen sich an. Als Physiotherapeut und Yoga-Lehrer praktiziert er in eigener Praxis. Kontakt: [email protected], www.physioaktiv-bergedorf.de

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Danksagung »Verblendet durch sein Selbstgefühl, der Tor glaubt selbst zu handeln nur« (Bhagavadgita, Dritter Gesang, aus Strophe 27).3

In diesem Sinne gebührt Dank vielen Mitwirkenden beim Entstehen dieses Buches aus wechselseitiger Bedingtheit heraus: zunächst all den mitwirkenden Autor*innen; all den vorhandenen Ressourcen, die das Schreiben ermöglicht haben; den Lockdowns durch Corona, die eine Besinnung auf Wesentliches erleichterten; Erich Schünemann sowie Sigrun Bönold, einer Zauberin der Schreibprogramme, von der Werkstatt Produktion Göttingen; Dr. Dietmar ­Jacobsen, dem Lektor vieler Texte aus Erfurt; Monika Schumacher, auf deren Empfehlung wir den Weg zu ihm fanden, und den vielen anderen, die bei einigen Autor*innen im Hintergrund gewirkt haben sowie last, but not least, S­ andra Englisch und Ulrike Rastin vom Verlag, die mit engagiertem Herzblut dieses Projekt ausdauernd begleiteten. »Die Opferspende ist das Werk, aus dem die Welt entfaltet sich« (Bhagavadgita, Achter Gesang, aus Strophe 3).4

3 Glasenapp, H. von (1982). BHAGAVADGITA – Das Lied der Gottheit. Ditzingen: Reclam. 4 Glasenapp, H. von (1982). BHAGAVADGITA – Das Lied der Gottheit. Ditzingen: Reclam.