Grundlagen der Verkehrs- und Siedlungsplanung: Siedlungsplanung 9783205792055, 9783205786931

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Grundlagen der Verkehrs- und Siedlungsplanung: Siedlungsplanung
 9783205792055, 9783205786931

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Hermann Knoflacher

Grundlagen der Verkehrs- und Siedlungsplanung: Siedlungsplanung

Böhlau Verlag Wien · Köln · Weimar

Gedruckt mit der Unterstützung durch : Technische Universität Wien

Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung in Wien

MA 7, Kulturabteilung der Stadt Wien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78693-1 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, ­insbesondere die der Über­setzung, des Nachdruckes, der Entnahme von ­Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf ­fotomechanischem oder ­ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Daten­ver­arbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2012 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co.KG, Wien · Köln · Weimar http  ://www.boehlau-verlag.com Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefreiem Papier. Druck  : GENERAL DRUCKEREI, 6728 Szeged Printed in Hungary

Inhalt 1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2 Vorwort.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3 Danksagung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4 Evolutionäre Grundlagen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Vorbemerkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Grundlagen, die vergessen worden waren, bevor sie bekannt wurden. . . 4.3 Längsschnittbetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Herleitung des Gesetzes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Ordnung als gespeicherte Information. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Wohlbefinden und Information – und wie man darüber hinwegtäuscht. . 4.7 Städte als Zonen der Behaglichkeit oder Unbehaglichkeit. . . . . . . . . 4.8 Den Schichtenbau und die Wirkungen verstehen. . . . . . . . . . . . . 4.9 Vom Schichtenbau zum Systemverständnis. . . . . . . . . . . . . . . . 4.10 Rechte und Pflichten der Planer und Entscheidungsträger.. . . . . . . . 4.11 Konsequenzen für die Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.12 Gleiche Funktionen – unterschiedlicher Aufwand. . . . . . . . . . . . . 4.13 Trennung der Disziplinen und die Folgen. . . . . . . . . . . . . . . . . 4.14 Ist Bindekraft Freiheitseinschränkung?.. . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5 Das Auto – ein Virus, mehr als eine Analogie. . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Der Eingriff des Autos in das menschliche Hirn. . . . . . . . . . . . . . 5.2 Der raffinierte Weg zur Durchsetzung dieser Strategie. . . . . . . . . . 5.3 Eine weitere Analogie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Wie erkennt man einen vom Auto befallenen Menschen – und Planer?. . 5.5 Therapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6 Mobilität und Siedlung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Bedürfnisse – „Befriediger“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Grundbedürfnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Beispiele für Einzelmaßnahmen und ihre Einordnung als Satisfier.

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Inhalt

7 Die Bedeutung der vier Kausalitäten für die Siedlungs- und Verkehrsplanung. 7.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Die autoorientierte Siedlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Unterschiede in der sozialen Dimension der Verkehrsmittel. . . . . . . . 7.4 Wenn die Summe der Teile weniger wird als das Ganze. . . . . . . . . .

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8 Städte im Wandel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Der Metabolismus des Organismus Stadt. . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Die Fähigkeit, Veränderungen mitzumachen oder ihnen zu widerstehen. Resilienz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adaptabilität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Veränderungsfähigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Transformationsfähigkeit.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Inklusiver Wohlstand.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Zeitpunkte und Möglichkeiten planerischer Eingriffe . . . . . . . . . . 8.5 Umsetzung des Begriffes „Resilienz“ für die praktische Verkehrs- und Siedlungsplanung – als Methode. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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9 Zur Evolution der Städte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Evolution braucht Zeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Bauten machen noch keine Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Der „Schöpfungsmythos“ der Stadt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4 Emanzipation der Städte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.5 Der neuzeitliche Städtebau und seine prägenden Faktoren. . . . . . . . . 9.6 Städte als Opfer großer, nicht leicht fassbarer Beutegreifer.. . . . . . . . . 9.7 Die Stadt – ein vielfältiger Ort!?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.8 Die Stadt – ein offenes System. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.9 Selbsttäuschung und Täuschung durch Planer und Planerinnen. . . . . . . 9.10 Empirische Befunde. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.11 Die Ideologie der „Stadt der kurzen Wege“. . . . . . . . . . . . . . . . . 9.12 Neues finden, um die lebenswichtige Verweilzeit in der Stadt zu erhöhen.. 9.13 Die lokale Wirtschaft fördern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.14 Wirkungen der Parkraumorganisation auf die Wirtschaft­. . . . . . . . . . 9.15 Netze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.15.1 Verkehrswege erster Ordnung sind Fußwege. . . . . . . . . . . . . Technische Hilfsmittel für die Dimensionierung der Anlagen. . . . . . . . 9.16 Eine neue Finanzordnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.17 Neue Organisationsformen, die dem Problem entsprechen. . . . . . . . . 6

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Inhalt

9.18 Effizienz in der Stadtplanung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.19 Gegenargumente. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.20 Orientierungshilfe bei der Arbeit: Die Richtung muss stimmen – weg von der Entropie!. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.21 Stadt, Kultur und öffentlicher Raum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.22 Klimaregelung für Menschen durch Städtebau . . . . . . . . . . . . . . 9.23 Flächenversiegelungsabgabe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berechnung einer Versiegelungsabgabe. . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.24 Der ökologische Fußabdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.25 Das Herz positiv berühren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.26 „Die Stadt und das Umland“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.27 Wie die Raumgestaltung auf die Menschen wirkt: das Beispiel Bogotá. .

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Literaturverzeichnis.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329

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1 Einleitung Rund 7.000 Jahre lang wurden Städte für Menschen nach dem Maßstab des Menschen gebaut und erreichten in manchen Gebieten der Erde im Mittelalter einen Höhepunkt an Harmonie mit den Menschen und der Umwelt, wie später nie wieder. Im vergangenen Jahrhundert wurden Siedlungen um und für das Auto gebaut, die zunehmende Konflikte nicht nur mit der Natur, den Lebensgrundlagen, sondern auch mit dem über lange Zeiträume entwickelten Sozialsystemen der Gesellschaft erkennen lassen. Seit Jahrzehnten bemühen sich Personen in der Stadt- und Siedlungsplanung ernsthaft um zukunftsfähige menschengerechte, ökonomisch und ökologisch nachhaltige Lösungen. Die Ergebnisse dieser Bemühungen lassen aber darauf schließen, dass man zwar in Einzelobjekten Erfolge sieht, aber die Systeme „Stadt“ oder Siedlung von den angestrebten Zielen immer mehr abweichen. Was ist aber die Ursache für diesen Widerspruch zwischen Zielen, Proklamationen, Konzepten, Strategien, Entwicklungsplänen und den praktischen Ergebnissen? Liegt die Ursache für das von den Planungswünschen abweichende Verhalten des Systems viel tiefer, als die Behandlung ansetzt? Denn, was wahrgenommen wird, sind meist nur die Symptome von Prozessen, Erscheinungsformen tiefer liegender Ursachen. Die Stadt – ein künstliches Gebilde, von Menschen gemacht und genutzt, im Idealfall auch belebt – muss, wenn sie Menschen dienen soll, von stadtbildenden Elementen gemacht und getragen werden: dem und den Menschen, die in verschiedenen Funktionen in und mit ihr tätig sind. Man müsste sich daher mit ihm und ihnen beschäftigen, was die Soziologie auch macht und deshalb auch die Erste war, die sich kritisch zur Entwicklung neuzeitlicher Stadtplanung und neuzeitlichen Stadtbaus zu Wort gemeldet hat. Man stellte fest, dass die gebauten Strukturen das Sozialverhalten wesentlich beeinflussen – nicht nur das der Betroffenen, sondern auch das der Akteure. Fehler pflanzen sich fort, wenn man ihnen auch wie heute durch technische Beschleunigung zu entkommen trachtet. Was aber kümmert einen Verkehrsplaner die Siedlungs- und Stadtplanung? Der soll sich um die Verkehrsprobleme kümmern, die Bedürfnisse nach Mobilität befriedigen, wie man es gelernt hat und es immer noch gelehrt wird, – was immer man darunter auch verstehen mag! Aus über 40 Jahren an praktischer Erfahrung mit Planungs- und Bautätigkeit und ebenso langer Lehre und Forschung gewinnt man bald die Einsicht, dass nahezu die meisten sogenannten „Verkehrsprobleme“ ihre Ursache in der Raum-, Siedlungs- oder Stadtplanung haben, denn diese legen fest, wo etwas stehen soll und schließlich auch steht. Die Volksweisheit „Steht etwas verkehrt, entsteht Verkehr“ trifft nicht nur auf die eigene Wohnung zu, sondern 9

Einleitung

noch viel mehr auf jene Strukturen, die über die unmittelbare Wahrnehmung des Menschen hinausgehen. Wenn daher vom „Verkehrswachstum“, womit ohnehin Autoverkehr gemeint ist, die Rede ist, dann ist dessen „Zunahme“, diese Wucherung, ein Indikator für die Fehler in der räumlichen Zuordnung. Dieses ungeheure Ausmaß an „Fehlstellungen“ in der gebauten Umwelt war vor dem Einsatz technischer, mit billiger fossiler Energie angetriebener Verkehrsmittel nicht möglich, weil die Grenzen der Körperenergie der Menschen intelligentere Lösungen�������������������������������������������������������������������������� erzwangen. In den Übungen zur Siedlungsplanung wird diese immer eindrücklich bestätigt, wenn die Studenten nachweisen müssen, dass ihre Projekte auch ohne den ständigen Zufluss an Erdöl lebensfähig sein müssen. Mit den Instrumenten herkömmlicher Planungspraxis stehen sie dann vor einer unlösbaren Aufgabe, weil der Maßstab nicht passt, und sich durch die blinde Erfüllung von Bauordnungen und Planungsrichtlinien, zu der sie immer noch – auch an Universitäten – dressiert werden, keine weitgehend aus eigener Kraft vitale Stadt gestalten lässt. Andere Wege sind gefragt. Die Forschungsarbeiten zum Verhalten der Menschen in diesen künstlichen Systemen haben ergeben, dass hinter der Vielfalt der Erscheinungsformen Gesetze wirksam sind, die nicht nur das Verhalten des Einzelnen, sondern auch jenes der Gesellschaft beeinflussen, steuern. Elementare Zusammenhänge werden dann sichtbar, wenn man die Wirkungen gebauter Strukturen auf Indikatoren menschlichen Verhaltens untersucht, sei es die Wirkung der Fahrbahnbreite auf die Geschwindigkeit, das Sterben der Vielfalt an Nahversorgern und der Arbeitsplätze in der Nähe durch die heute durch Vorschriften erzwungene Anordnung der Parkplätze oder auch der Niedergang des öffentlichen Verkehrs und seine sogenannten Defizite. Diese Defizite des ÖV sind eigentlich die Defizite der gebauten Strukturen, deren Standortvorteile als Gewinne in private oder öffentliche Taschen fließen, für die dann die Bürger die Rechnung laufend zu bezahlen haben. Dass die Attraktivität des Umfeldes einer Stadt eine Kraft ist, die über den Menschen auch physisch wirkt, konnte ich schon vor über 30 Jahren sowohl aus der Theorie als auch empirisch am Verhalten und dank der Zusammenarbeit mit dem Stadtplaner Prof. Roland Rainer in den alten Stadtstrukturen ebenfalls entdecken. Die Forderung nach Schönheit der Stadt lässt sich daher an ihren Wirkungen damit quantitativ untermauern und stellt Anforderungen an die Architektur, die weit über die heute übliche Gestaltung von Einzelobjekten hinausreicht. Dies führt wiederum zu einem Element des Städtebaus, das die autoorientierte Gesellschaft vergessen hat: den Platz als Knoten der menschlichen Kommunikation einer lebendigen Siedlung mit seinem unmittelbaren und mittelbaren Umfeld. Zerstört man dessen Funktion durch Umwandlung in Fahrbahnen oder Parkplätze, darf man sich nicht wundern, wenn das Leben auch aus dem weiteren Umfeld weicht. Nach mehreren Manuskripten ist dieser sicher noch lange nicht umfassende, als Lehrbuch und Anleitung zur praktischen Planung konzipierte zweite Teil mit dem Schwerpunkt auf der Siedlung und die Menschen, die dort leben sollen, entstanden. Das Verständnis des 10

Einleitung

Menschen, der in seinem Verhalten viel mehr, als es die jüngsten Oberschichten seiner Evolution, seine Zivilisation und Kultur ahnen lassen, auch von den mächtigen uralten Schichten seiner Evolution gesteuert wird, wenn diese durch die Macht billiger fossiler Energie seine physischen Kräfte vervielfachen, beeinflusst wird, stellt neue grundlegende Herausforderungen nicht nur an die Planer und Entscheidungsträger, sondern auch an die Lehrenden, wollen sie wieder menschengerechte, nachhaltige Siedlungen ermöglichen. Die Schwierigkeiten für die praktische Umsetzung dieser Erkenntnisse liegen nicht nur im Überwinden der Disziplingrenzen, sondern vor allem in der Forderung nach viel mehr geistiger Energie und geistiger Mobilität, will man der zerstörerischen Kraft der physischen Energie in der Mobilität Grenzen setzen. Welche fatalen Folgen der Abbau der Barrieren im technischen Verkehrssystem hat, beweist die Beschleunigung des zentralen Teiles des Verkehrswesens, den Informationen – im Finanzsystem. Einst ein Teilsystem von Stadt und Verkehr, hat es beide und alles sonstige überwuchert und beginnt, beide von innen und außen zu zerstören.

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2 Vorwort Der Standort definiert den Blickwinkel. Der Standort des Autors dieses Buches scheint in einer Zeit angesiedelt zu sein, als es noch kaum Autos gab; selbstverständlich hatten die Menschen und ihre Lebensräume auch damals Verkehr und Verkehrsprobleme zu bewältigen. Sie mussten auch noch zu Fuß gehen und konnten daher körperlich müde werden, wenn die Strecke zu lang und/oder das Gewicht, das sie zu tragen hatten, zu schwer war. In diesem Buch – von einem Naturwissenschafter geschrieben – wird der Mensch ohne Auto zum Maßstab der Dinge gemacht und uns Lesern während des gesamten Werkes die Frage gestellt, ob wir glücklich und zufrieden sein oder nur Autofahrer bleiben wollen. Es wird uns vor Augen geführt, dass wir nach einer nur 150-jährigen Geschichte des Autos unser gesamtes Leben beinahe ausschließlich – jedenfalls, was unsere Entscheidungsprozesse betrifft – aus dem Blickwinkel des Autofahrers und nicht mehr aus dem Blickwinkel des Menschen (ohne Auto) sehen. Jeder fühlt sich wohl in verwinkeltsten mittelalterlichen oberitalienischen Städten, in denen es einfach nicht möglich ist, ein Auto zu bewegen; wer flaniert nicht gerne durch die engen Gassen des ersten Wiener Bezirkes, der immer noch – trotz der Auswirkungen zweier Weltkriege – seine mittelalterliche Kleinteiligkeit behalten hat? Mit wissenschaftlichen Methoden werden wir darauf aufmerksam gemacht, dass (wenigstens in der „Ersten Welt“) die Folgen der industriellen Revolution, des Ottomotors und des damit einhergehenden Verbrennens fossiler Treibstoffe darin bestehen, uns alle so sehr mit mobiler Bequemlichkeit versorgt zu haben, dass wir uns ein Leben ohne Auto weder vorstellen können noch wollen. Wir bedenken noch nicht – oder zumindest nicht in ausreichendem Ausmaß – die Summe der Folgen, die unsere autosüchtigen Entscheidungsprozesse notwendigerweise mit sich bringen, wie z.B.: Hektik statt Beschaulichkeit, Kommunikationslosigkeit statt intensiver Befassung mit anderen Menschen, enormer Landschaftsverbrauch für ruhenden und fahrenden Individualverkehr, Versiegelung von Landflächen mit immer mehr, auch versicherungsrelevanten Hochwasserfolgen, schon bei geringen Regenmengen, und vieles mehr. Daher haben wir vergessen, unsere wahren Bedürfnisse zu verfolgen, sind aber vielmehr der Meinung, dass unsere Bedürfnisse untrennbar sind von denen unseres Autos. Seit Jahren und Jahrzehnten beschäftigt sich der Autor dieses Buches als forschender und lehrender Naturwissenschafter, aber auch als lachender Menschenfreund und Imker damit, 13

Vorwort

uns darauf aufmerksam zu machen, dass unsere Lebensräume, unsere Landschaften und unsere Städte von dieser einfältigen Sichtweise so sehr bedroht sein könnten, dass wir in unserem Streben nach Glück dessen Gegenteil verursachen könnten. Zivilisationskrankheiten, Selbstmordraten, körperliche und geistige Erschöpfung, ein Leben ohne herzliches Lachen oder Weinen könnten die Folgen des Standorts Autofahrergesellschaft sein. Gleichzeitig ist dieses Buch in keiner Weise ein Versuch, das Auto als Feind des Guten zu brandmarken, zu verdammen und in eine autolose Gesellschaft zurückzukehren. Es ist so umfassend erstellt, dass es vor allem ein Angebot darstellt, wie das Leben der Menschen und der Gesellschaften schöner und besser funktionieren könnte, wären wir uns nur ein bisschen bewusster, dass das Auto keiner unserer Körperteile ist, wir es daher nicht jede Sekunde unseres Lebens mit uns herumschleppen müssen. Alle Bereiche des Lebens, die in irgendeiner Weise vom Auto betroffen sind, werden in diesem Buch unter Verwendung wissenschaftlicher Methoden – trotzdem für jeden lesbar und daher auch spannend beschrieben – die Kapitel mit Perspektiven versehen, wie unser Leben lebenswerter ausschauen könnte, würden wir uns wieder bewusst werden, dass das Auto nur eine zweckdienliche Erweiterung unserer Bewegungsradien darstellt und nicht alleine oder hauptsächlich Ziel unseres Strebens sein sollte.

Jörg Wippel

Geschäftsführender Gesellschafter

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3 Danksagung Die vielfachen Überarbeitungen der Manuskripte resultieren aus den engagierten Diskussionen mit meinen Mitarbeitern: den Professoren J. M. Schopf, Th. Macoun, G. Emberger, den anregenden Auseinandersetzungen mit Prof. Roland Rainer an gemeinsamen Arbeiten, den Jungwissenschaftern Dr. Frey, Brezina und Leth, den Erfahrungen in den Fakultäten für Architektur und Raumplanung und des Bauingenieurwesens der TU Wien und anderen Universitäten, dem Erfahrungsaustausch in der praktischen Planungstätigkeit mit Kollegen in vielen Städten und Gemeinden im In- und Ausland und der Möglichkeit, im Rahmen des Club of Vienna Arbeiten mit Wissenschaftern verschiedener Disziplinen durchführen zu können, die abseits ausgetretener Forschungspfade liegen. Dem Kulturamt der Stadt Wien ist zu danken, dass sie dieses Forschungsfenster in dem immer dunkler werdenden Raum gesteuerter Forschung offenhalten kann. Dankbar bin ich auch jenen Kollegen, die im Mainstream ihrer Disziplin, sei es die Medizin, Biologie, Raumplanung, Architektur, Ökonomie oder dem Verkehrswesen als „kritische Geister“ bezeichnet werden, weil sie die Grenzen ihres Fachgebietes überschritten haben. Woraus oft ein Berufsrisiko entsteht. Die heutige Forschungslandschaft ist diesen unkontrollier­baren Entwicklungen grundsätzlich feindlich gesonnen. Frau Angelika Haller ist dafür zu danken, dass sie viele hundert Seiten an M ­ anuskripten sorgfältig geschrieben und auch tolerant deren manchmal rasches Verwelken erdulden konnte. Peter Knöbl hat das letzte Manuskript gelesen und Heinz Zukal die Literaturergänzungen in bewährter Weise vorgenommen. Dem Böhlau Verlag danke ich für die gute Zusammenarbeit und das engagierte Lektorat. Natürlich danke ich auch meiner Frau, die mir die Zeit für dieses Treiben zugelassen hat.

Hermann Knoflacher Wien, im Februar 2012

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Planung: „Der Erkenntnisweg von den Symptomen zu den Ursachen, zum Lösungsweg, von den Ursachen zu den Maßnahmen und das immer wieder, bis es nach allen Seiten passt, damit etwas entsteht, das die Welt lebenswerter, schöner und die Menschen hoffnungsfroher und glücklicher machen kann.“

4 Evolutionäre Grundlagen 4.1 Vorbemerkung Planung wird von den Lobbys, insbesondere der Bau- und Bankenlobby, ungern gesehen, weil das Ziel der Planung die Lösung von Problemen mit geringstem Aufwand bezogen auf das Gesamtsystem darstellt, wozu auch eine Minimierung des Aufwandes gehört. Banken und Bauwesen hingegen sind an lukrativen Projekten interessiert, nicht aber an einer umfassenden Haftung für die über die Garantieleistungen hinausgehenden Folgen. Projekte sollen klar definiert, rasch realisierbar, „baureif“ gemacht werden, denn diese Strategie hat sich, so zeigt die Erfahrung, mittel- und langfristig als finanziell „nachhaltig“ bewährt. Nicht sorgfältig geplante Projekte führen nämlich in der Regel nach kurzer Zeit zu Problemen. Ein Manager eines österreichischen Baukonzerns formulierte die Ansprüche an angehende Ingenieure treffend: „Viel wichtiger als technische Kenntnisse ist für uns, dass wir das Bewusstsein für Probleme wecken, für die wir die Lösungen haben.“ Aus diesen Problemen kann man dann wieder neue Bauvorhaben lukrieren – und diesem unethischen Ziel werden heute die Lebensräume der zukünftigen Generationen rücksichtslos geopfert, um rasche Gewinne auf Kosten der Zukunft und der Gesellschaft zu erzielen. Planung muss, wenn sie einen Sinn ergeben soll, diese Art von Projekten von vornherein ausschließen. Ihre Aufgabe ist analog zu der von Popper wissenschaftstheoretisch formulierten: Man soll Theorien sterben lassen statt Menschen: „Planung soll falsche Lösungen sterben lassen statt Menschen oder die Natur.“

4.2 Grundlagen, die vergessen worden waren, bevor sie bekannt wurden Im 19. Jahrhundert wurden von vier Wissenschaftern unabhängig voneinander drei fundamentale Gesetze entdeckt, die man wenig beachtete, weil man ihren Zusammenhang nicht erkannte. 1836 entdeckte E. H. Weber, der Begründer der Psychophysiologie, das nach ihm benannte Webersche Empfindungsgesetz, wonach der Mensch Änderungen äußerer Reize relativ zum Ausgangsreiz als konstant empfindet. 17

Evolutionäre Grundlagen

Dieses Gesetz wurde 1871 von G. Th. Fechner in seine endgültige Form (Weber-Fechnersches Gesetz) gebracht. E = h(I)

I ist die Intensität der Reize, E steht für das, was man als Empfindung bezeichnet. 1867 entdeckte Gossen das Gesetz des abnehmenden Grenznutzens und meinte, damit ein fundamentales Gesetz entdeckt zu haben, das vergleichbar mit den von Newton entdeckten Gesetzmäßigkeiten wäre. In einer Zeit der Dominanz und uneingeschränkten Bewunderung für die Physik schien das vermessen und wird bis heute auch von seinen Fachkollegen, den Ökonomen, belächelt. 1889 veröffentlichte Lill seine Entdeckung, dass Reisehäufigkeit x Reiseweite konstant wäre. hxl=c

Dieses Gesetz lässt sich durch Integration in die gleiche mathematische Funktion bringen wie bei Weber-Fechner, wenn man versucht, der Länge einer Fahrt und der Häufigkeit einen Sinn, die erreichbaren Ziele, zu geben (Knoflacher 1995).1 Ein halbes Jahrhundert später entdeckte Frisch bei der Beobachtung der Bienen, dass sie die Entfernungen im Stock durch Schwänzeltänze auf der Bienenwabe angaben, deren Frequenz einer e-Potenz mit negativem Vorzeichen, mit dem Exponenten „Flugdistanz zur Futterquelle“ folgte. 30 Jahre später veröffentlichte Walter eine gleiche Funktion als „Akzeptanzfunktion“ von Fußwegen zu Haltestellen des öffentlichen Verkehrs, die er aus dem Vergleich von geschätzten zu gemessenen Zeiten abgeleitet hatte. Daraus lassen sich die Bewertung verschiedener Reisezeitkomponenten sowie Zugangs-, Warte-, Beförderungs-, Umsteige- und Abgangszeit der Fahrgäste bestimmen. Die Fußwegzeit wird exponentiell im Vergleich zur Fahrzeit im öffentlichen Verkehrsmittel überschätzt. Der Reziprokwert des Zeitbewertungsfaktors entspricht hier wieder der gleichen mathematischen Funktion, wie sie Frisch bei den Bienen beobachtete (Knoflacher 1981). Grundlegendes Gesetz des Verhaltens entdeckt Diese beiden letzten Beobachtungen waren die Grundlagen für die Entdeckung der Ursache dieses Verhaltens von Verkehrsteilnehmern: Es ist die Körperenergie bzw. der Verrechnungsmechanismus der Körperenergie in Lebewesen, der zu diesen beobachteten mathematischen Beziehungen führt (Knoflacher, 1981)2. 1 2

Knoflacher, H. (1995): Das Lillsche Reisegesetz – das Weber-Fechnersche Empfindungsgesetz – und, was daraus folgt. In: Mobilita 95, Bratislava. Knoflacher, H. (1981): Human Energy Expenditure in different Modes: Implications for Town Planning. International Symposium on Surface Transportation System Performance. US Department of Transportation.

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Grundlagen, die vergessen worden waren, bevor sie bekannt wurden Abb. 1 Der Zusammenhang zwischen Strukturen, Verhalten und Daten zeigt in der Verbindung die Position der logarithmischen oder exponentiellen Wechselbeziehung zwischen Empfindung (Innenwelt) und Außenwelt.

Voraussetzung für die Entdeckung dieser Zusammenhänge war die Kenntnis der Evolutionstheorie, wie sie bei Konrad Lorenz beschrieben und bei Rupert Riedl dargestellt wird. Mit dieser und dem Denkmodell der Evolutionären Erkenntnistheorie folgt man den Gemeinsamkeiten der beobachteten und beschriebenen Erscheinungsformen, entdeckt man an den Wirkungen eine Homologie, eine gemeinsame Ursache, die in viel tieferen Schichten der Evolution liegen muss (Knoflacher 1981). Mathematisch sind die Funktionen aller erwähnter Entdeckungen der Beziehungen zwischen Reizungen und Empfindungen der Logarithmus oder seine inverse Funktion, die Exponentialfunktion. Empfindungen steuern aber das Verhalten, sei es rational begründbar oder nicht. Die Bedeutung dieser mathematischen Funktionen besteht aber darin, dass sie gegenüber allen Potenzfunktionen die Eigenschaften aufweisen, als e-Potenz schneller und als Logarithmus langsamer gegen Unendlich zu gehen. Potenzen bedeuten Wiederholungen desselben Vorganges. Sie entsprechen daher dem evolutionären Prozess von Erwartung und Erfahrung, der inneren und äußeren Ein- oder Anpassung an Bedingungen (Riedl 2002). Vor allem ist aber die Stabilität dieser Funktionen entscheidend. Die e-Potenz verändert sich weder durch Differenzieren noch Integrieren. Ist sie daher in einem Einzelelement (Zelle) wirksam, dann wird sie auch im Gesamtsystem, das aus diesen Elementen nach dieser Methode gebildet wird, wirksam sein. Damit haben wir ein fundamentales Gesetz entdeckt, das die Systeme „durchzieht“ und daher auch überall dort, wo Menschen in Interaktion mit der natürlichen oder künstlichen Umwelt in Kontakt treten, sichtbar werden muss. Die Intensität der Reizung geht von der Umwelt (aber auch von innen) aus und wird über die Sensoren (Rezeptoren) der Lebewesen in Empfindungen umgesetzt. Diese aber entscheiden über das Verhalten – und das in ständiger Rückkopplung, in der es entscheidend auf das Vorzeichen ankommt. Verkehrs- und Siedlungswesen sind daher in dieses Gesetz eingebunden, soweit deren Elemente für Menschen wahrnehmbar werden. Verändert daher 19

Evolutionäre Grundlagen

die Planung Strukturen, die direkt oder indirekt wahrgenommen werden, beeinflusst sie das Verhalten. Dieses kann man beobachten und daraus mit bestimmten Methoden Daten gewinnen.

Abb. 2 a u. b Anschauliches Beispiel für Strukturen und Verhalten (Rothenburg ob der Tauber). Bänke als Strukturen regen zum Sitzen an, Parkplätze zum Abstellen der Autos.

4.3 Längsschnittbetrachtung In der Tat sind die vorher angeführten Entdeckungen in unterschiedlichen Evolutionsschichten gemacht worden: • Weber und Fechner auf den Ebenen der Psychologie und Physiologie. • Gossen auf der Ebene des ökonomischen Verhaltens. • Lill kommt aus dem technischen Bereich und konnte im Eisenbahnwesen seine Entdeckung machen. • Frisch beobachtete Insekten in der Zoologie; • Walter Fahrgäste im öffentlichen Verkehr; • Knoflacher bei der Messung von Geschwindigkeit und Fahrstreifenbreite. Überall tauchen, je nach Indikatoren, entweder die e-Potenz oder ihre inverse Funktion, der Logarithmus, auf. Wird der Logarithmus beobachtet, waren es die Empfindungen, ist es die e-Potenz, ist es die Intensität der Reizungen, die weitergegeben wird. Wie bei Knoflacher 1981 ausgeführt, beziehen sich die Empfindungen auf den (körpereigenen) Energieaufwand. Energie ist, folgt man R. Riedl, der Causa efficiens zuzuordnen, einer Kausalität, welche „die Schichten durchzieht“, wie es R. Riedl darstellt, von unten nach oben, und in verschiedenen Formen in Erscheinung tritt. Im Gegenzug zieht sich die Causa finalis in der Gegenrichtung durch alle Schichten. Geld entspricht der Causa efficiens in den 20

Längsschnittbetrachtung

Abb. 3 Die Ordnung der Ursachen als Voraussetzung für reale Systeme.

Schichten später menschlicher Gesellschaften, ist also Energie in einer bestimmten Form (oft nur durch die Kraft des Glaubens). Geld ist eine (blinde) Wirkgröße, die erst durch den Zweck einen Sinn bekommt. Die Frage nach dem Zweck wird daher zur entscheidenden – auch in der Siedlungsplanung, etwa: „Welchen Zweck hat die Stadt, das Dorf, die Siedlung?“ Nur muss beachtet werden, dass die zur Causa efficiens adäquate Schicht des Zweckes gefunden werden muss, denn eine Schicht daneben ist „voll ­daneben“. ­ Die Evolutionstheorie hilft uns bei Untersuchungen quer durch die Disziplinen. Aus evolutionärer Sicht ist es daher nicht verwunderlich, Gossens Gesetz in diesem Zusammenhang anzutreffen. Geld als Form der Energie in den Ebenen des modernen Menschen ist auch in Lills Gesetz für das Reiseverhalten enthalten und Frisch stellte fest, dass Bienen ihre Information nicht als Entfernung, sondern als den für diese Entfernung erforderlichen Energieaufwand weitergeben. Autoren, die später behaupteten, es wäre nicht der körpereigene Energieaufwand, sondern es wären die Informationen des Umfeldes, haben übersehen, dass zum Entziffern der Informationen ebenfalls Energie benötigt wird – sogar eine sehr teure, nämlich mentale. Die sollte auch nicht in wissenschaftlichen Beiträgen fehlen – selbst wenn diese in „Nature“ abgedruckt werden.3 3

Neese, V. (1988): Die Entfernungsmessung der Sammelbiene: ein energetisches und zugleich sensorisches Problem. In: The flying honeybee/Die fliegende Honigbiene. BIONA report Nr. 6, Gesellschaft für Technische Biologie und Bionik, Saarbrücken.

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Evolutionäre Grundlagen

4.4 Herleitung des Gesetzes Wenn das Gesetz die Evolutionsschichten durchzieht, muss es sehr einfach sein, denn man kann von den frühen Formen der Evolution kaum komplizierte mathematische Überlegungen verlangen. R. Riedl geht von der Wechselbeziehung zwischen Erwartung und Erfahrung aus, die wir in diesem Zusammenhang zu beachten haben. Erwartung bedeutet ja nichts anderes als Reiz (von innen) und Erfahrung (Reiz von außen), die man erst machen kann, wenn man zunächst ausreichend Energie einsetzt, um die Erfahrung überhaupt machen zu können. Diese Erfahrung ist nun wiederum ein Reiz, der mit dem Ausgangsreiz der Erwartung verglichen wird. I (Erfahrung) – E (Erwartung) = δ (I)

stellt also den Reizunterschied dar, den man aus dieser Erfahrung gewinnt. Dieser Reizunterschied (denn Reiz muss ja Information sein) aus physikalischen Größen bezogen auf die Ausgangssituation, also I, wird in Relation zu jener Größe gesetzt, die man aufwenden musste, um diese Erfahrung zu machen: die Körperenergie e. Und diese ist für das Leben und Überleben entscheidend. δ (I) = – δ(e) I

Aufgewendete Energie ist immer ein Exergieverlust.4 Damit ergibt sich aber auch das Vorzeichen. Übertrifft die Erfahrung die Erwartung, kann die Erwartung steigen, weil der tatsächliche Energieaufwand kleiner war als erwartet. Es entsteht eine positive Rückkopplung. Im umgekehrten Fall wird man die Erwartungen zurücknehmen und sich so der Realität der Außenwelt mit jeder Erfahrung immer mehr anpassen, bis der Wert gegen null geht, um negative Erfahrungen zu vermeiden. Eine negative Rückkopplung zur Außenwelt sorgt daher für die Begrenzung der inneren Wünsche und Erwartungen. Treten zu große Unterschiede in zu kurzer Zeit zwischen Erwartung und Erfahrung mit der Außenwelt auf, können diese fatal sein und liefern daher keinen Beitrag für den Lernprozess des Individuums. Für außenstehende Beobachter kann dies aber sehr wohl von Nutzen sein. Aus dieser ersten Analyse des Prozesses, der bei uns (meist tief im Unterbewusstsein, permanent) abläuft, erkennen wir, dass bei Weber-Fechner das Vorzeichen vernachlässigt 4

Exergie bezeichnet den Anteil der Gesamtenergie eines Systems oder Stoffstroms, der Arbeit verrichten kann, wenn er in das thermodynamische (thermische, mechanische und chemische) Gleichgewicht mit seiner Umgebung gebracht wird.

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Ordnung als gespeicherte Information Abb. 4 Allgemeines Grundprinzip zur Lösung von Problemen (vereinfacht dargestellt).

wurde. Gerade das Vorzeichen ist aber in dem (evolutionären) dynamischen Rückkopplungsprozess entscheidend, ob ein System stabil werden kann oder eine (positiv rückgekoppelte) exponentiell steigende und damit unkontrollierbare Entwicklung entsteht. Nur negativ rückgekoppelte Systeme lösen Probleme.

4.5 Ordnung als gespeicherte Information Um Erfahrungen zu speichern, benötigt man Strukturen zur Aufbewahrung und Erhaltung von Informationen. Und dazu braucht man wiederum Energie, zum Aufbau und zur Erhaltung der Ordnung. Um den Energieaufwand für die Gewinnung von Informationen zu minimieren, müssen Organe entwickelt werden, die sich so gut wie möglich auf die Außenwelt beziehen können, um Fehler, die möglicherweise letale Folgen haben, zu vermeiden. Auf diese Weise kann sich die innere Struktur der äußeren am schnellsten optimal anpassen. Folgt das Lernen für diese Anpassung der e-Potenz, wird sie immer schneller sein als alle anderen Formen der Wiederholungen. Für das Überleben ist auch der Umstand entscheidend, dass jede neue Erfahrung möglichst genau proportional zur Empfindung verrechnet wird. Der sich im Logarithmus manifestierende Erfahrungsprozess entspricht daher beim Auftauchen einer neuen Si­ tuation (I = 1) genau der Reizung (Anstieg 1 des Logarithmus im Punkt 1). Die Veränderung der Empfindungen entspricht genau der realen Wahrnehmung. Bei Wiederholungen kommt es dann zu einer ständigen – und nie endenden –, aber immer besseren Anpassung mit immer geringerem Aufwand. Die Sicherheit der Entscheidungen (Anpassungen) an die Außenwelt – und umgekehrt – nimmt damit immer mehr zu, ohne sich adäquat an23

Evolutionäre Grundlagen Abb. 5 Aus dem Wechselspiel von Erwartung und Erfahrung wird die Wirklichkeit geformt, in der Evolution wie auch im Siedlungs- und Verkehrswesen. Mensch und Umwelt passen sich einander an.

strengen zu müssen. Jede weitere Wiederholung leistet einen immer geringeren Beitrag zu Empfindungsveränderung, solange sich an den Randbedingungen, der Außenwelt, nichts ändert. Die Sammlung der Erfahrungen, also Informationen, braucht aber in der natürlichen Evolution Zeit, viel Zeit, gemessen im menschlichen Maßstab. Ändert sich die Außenstruktur, versucht sich die innere Struktur den äußeren Bedingungen anzupassen – vorausgesetzt, dass die Sensoren zur Wahrnehmung der Außenwelt funktionieren, also nur innerhalb der evolutionären Wahrnehmungsgrenzen! Wir geraten damit auf das Gebiet der Epigenetik, die weit schnellere Anpassungen erlaubt. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten wird aber jede Entwicklungsstufe der Lebewesen auch versuchen, die Außenwelt möglichst nach ihren Bedürfnissen umzugestalten, um sich innere Umstellungsarbeit zu ersparen. Damit sind wir schon mitten in der Siedlungsplanung, wenn es nicht die Entropie gebe, auf die wir zu achten haben. Entropie, gegen das Leben gerichtet und immer wirksam Da Leben zur Aufrechterhaltung der Ordnung in den Strukturen gegen den Vektor der immer wirksamen Entropie gerichtet ist, bedeutet Zeit daher immer Energieaufwand. Erfahrungen und Erwartungen werden mit der Einheit der Information in Bits verrechnet, der Energieaufwand mit Joule. Die obigen Gleichungen können daher auch für die Beziehung zwischen Information und Energie gelten. Dieses Prinzip zieht sich, so zeigen es die empirischen Befunde, von den einfachsten Bausteinen des Lebens bis zu unserer komplexen Gesellschaft durch. Logarithmus und Exponentialfunktionen haben bestimmte spezifische Eigenschaften. Wiederholungen von Erfahrungen können als Potenzreihen dargestellt werden, wenn man jedes Glied als den durch den neuen Versuch gewonnenen Zuwachs an Einsicht interpretiert. Die mathematische Beschreibung finden Interessierte in „Grundlagen der Verkehrsplanung“5. 5

Knoflacher, H. (2007): Grundlagen der Verkehrs- und Siedlungsplanung: Verkehrsplanung. Böhlau Verlag Wien – Köln – Weimar.

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Ordnung als gespeicherte Information

Die zentrale Rolle der Information Die physische Bedrohung der Lebewesen erfolgt über irgendwelche Formen von Energie, entweder durch inneren Energiemangel oder unerwünschte Energieeinwirkung von außen. Genau genommen ist sie aber fast immer auch eine Folge von Informationsmängeln. Wer daher Informationen aus der Umwelt rasch und fehlerfrei aufnehmen, interpretieren (einordnen) und verwerten kann, spart Energie, sowohl bei der Nahrungssuche als auch auf der Flucht. Leistungsfähige Informationssysteme helfen, physische Energie zu sparen, und minimieren dadurch auch das Risiko für Fehlverhalten. Das geht so lange gut, solange die Informationen lebenserhaltende Inhalte transportieren. Über lange Zeiträume der menschlichen Evolution war das auch der Fall. Mit den durch technische Eingriffe rasch veränderten Außenbedingungen, wie etwa durch unnatürlich hohe Geschwindigkeiten technischer Verkehrsmittel, steigt das Risiko nicht nur für zu späte, sondern auch falsche Informationen. Ist dies der Fall, kann auch ein vermehrter Informationsstrom (der ohnehin von den Rezeptoren des Menschen nicht verarbeitet werden kann) nicht nur zu keinem Gewinn, sondern sogar zu Informations- und in der Folge zu Strukturverlusten führen. Bei sich schnell ändernden Randbedingungen, die in ihrer vollen Tragweite nicht rechtzeitig erfasst werden, kann es zur tödlichen Bedrohung nicht nur von Einzelwesen, sondern ganzer Populationen und auch Städten kommen. Angesichts der sich dramatisch ändernden Randbedingungen in den Ressourcen, aber auch dem Klima steht die Menschheit heute genau vor dieser Herausforderung. Die Stadtbevölkerung lebt heute in einer nahezu total technisch determinierten Welt und ist von den Prozessen der Natur immer mehr abgeschnitten. Bei Naturereignissen, wie Bränden oder Überschwemmungen, kommt es dann zu den bekannten „Überraschungseffekten“ des Unerwarteten.

Abb. 6 Bei verzögerter Rückkopplung können die Informationen aus der Erfahrung nicht mehr rechtzeitig berücksichtigt werden. Es entstehen irreführende Erwartungen, die letal sein können, wenn sich die Randbedingungen schneller ändern, als man sie begreift. (Die zwei Querbalken weisen auf die verzögerte Rückkopplung hin.)

Sich rasch entwickelnde Systeme sind daher risikobehaftet und fehleranfällig. Unser Großhirn – mit einer evolutionär sehr kurzen Entwicklungszeit als Organ – gehört zwar zu den erfolgreichsten und leistungsfähigen, aber auch zu den risikoanfälligen jungen Errungenschaften unserer Ausstattung. Deshalb wurden die von Menschen geplanten und gebauten Siedlungen oder das technische Verkehrswesen der jüngsten Vergangenheit auf ein Wachs25

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tum ausgelegt, das vom Zufluss billiger, leicht verfügbarer fossiler Energie abhängig ist und nicht auf langfristig verfügbare Energieformen oder gar auf eine Schrumpfung, die nicht unwahrscheinlich ist, ausgerichtet ist. Die Chancen, sich evolutionär bei guter Ausstattung durchzusetzen, steigen, solange die äußeren Randbedingungen verlässlich und stabil sind und genug Zeit vorhanden ist, sich diesen anzupassen – und umgekehrt, wenn man in der Lage ist, die äußeren Bedingungen an die inneren besser anzupassen. Allerdings kann dies nur gutgehen, wenn man nicht in Konflikt mit den Gesetzen der natürlichen Lebensgrundlagen gerät, die Information darüber aber fehlt, weil sie zu spät oder gar nicht kommt. Gespeichertes Wissen in der Evolution, nicht aber im Siedlungswesen Was Konrad Lorenz als sogenannte „evolutionäre Lehrmeister“ bezeichnet, ist gespeichertes Wissen über die in der Vorgeschichte gemachten Erfahrungen in allen Schichten der Evolution. Dieses „Wissen“ hat in unseren Organen (in den Genen, den verschiedenen Teilen unseres Hirns etc.), in ihrem Zusammenwirken, Strukturen geschaffen, die für das Individuum und das Überleben der Art vorteilhaft waren. (Diese beiden kann man nicht trennen, wie es in manchen Auffassungen „moderner“ Biologie versucht wird.) Der Prozess der Informationsgewinnung ist am effizientesten, wenn er in Form von solchen Wiederholungen erfolgt, die der Reihenentwicklung der e-Potenz in der Fehlervermeidung und dem Logarithmus in der Anpassung entsprechen. Ihre Reihenentwicklung zeigt ein Bildungsgesetz, bei dem jedes weitere Glied nur jenen Teil an Zusatzinformationen liefert, die in den bisherigen Durchläufen nicht erworben wurden. Die Frage, die Rupert Riedl stellt, ob Gott würfelt, lässt sich daher so beantworten: Wenn er würfelt, dann hat er sich jedes bisherige Ergebnis gemerkt. Die e-Potenz oder der Logarithmus – je nachdem, von welcher Seite man die Erscheinungsformen betrachtet, – haben uns auf dem Pfad der Evolution seit jeher begleitet und dafür gesorgt, dass keine allzu großen Abweichungen von der Realität der Außenwelt, der Natur, durch falsche Erwartungen entstehen konnten. Trotzdem kamen diese vor, wie es alle untergegangenen Zivilisationen ja beweisen, so erfolgreich sie vorübergehend auch gewesen sein mögen. In künstlichen, von Menschen gemachten Systemen fehlen oft die direkten Rückkopp­ lungen, sodass es passieren kann, dass sie an der Realität scheitern, wie etwa ökonomische Ideologien. Wenn die Ökonomie zum Überleben des Menschen beitragen soll, dann wäre es von Vorteil, dass sie den Wert des Geldes der Realität unseres Universums anpasst und nicht umgekehrt, wie es heute der Fall ist. Auch die Orientierung der Politik an überholten Indikatoren, wie Bruttonationalprodukt (BNP oder im Englischen GDP) führt in die Irre, wenn diese in eine Richtung weisen, die nicht mehr der Realität des menschlichen Lebens entspricht und ganze Staaten diesem irreführenden Indikator folgen. Er sollte durch den 26

Ordnung als gespeicherte Information

Abb. 7 Zusammenhang zwischen Einkommen in Geld und Happiness, einem Indikator, mit dem das „Glück“ oder die Zufriedenheit einer Bevölkerung ermittelt wurde.6 Eine Politik, die sich am BNP orientiert (unterbrochene Linie), geht aber davon aus, dass das Wohlbefinden der Menschen linear mit der verfügbaren Geldmenge wächst. Sie macht daher für die Armen zu wenig und für die Reichen zu viel.

zeitgemäßen und sinnvolleren Indikator „Happiness“ (Wohlbefinden, Glück, Zufriedenheit) ersetzt werden, was in den Grundsätzen der Ökonomie ohnehin behauptet wird. Der quantitative Indikator – sei es Energie in Form von Dollar, Euro oder Yen – trägt nur im untersten Bereich des Einkommens wesentlich zum Wohlbefinden der Menschen bei. Im oberen Einkommensbereich, wo derzeit der Wettbewerb im Finanzsystem stattfindet, ist dieser Indikator derart unsensibel, dass ihn nur Verrückte als Maßstab für die Zufriedenheit von Menschen verwenden können. Wichtiger als Geld sind dann Werte wie Gleichheit, Freiheit, Respekt, Wohlwollen, Zuneigung, Liebe und Schönheit – und Lebensqualität, um den Städtebau anzusprechen, also qualitative Indikatoren, die unseren Sinnen zugänglich sind. Diese Erkenntnis ist auch für das Siedlungswesen von zentraler Bedeutung und in der Planung durch die Begriffe Harmonie (in weitesten Sinn) und Schönheit einzufordern.

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Layard, R. (2003): Happiness: Has Social Science a Clue? Lionel Robbins Memorial Lectures 2002/03 of the London School of Economics.

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4.6 Wohlbefinden und Information – und wie man darüber hinwegtäuscht Die Evolution, auf dem Wechselspiel von Erwartung und Erfahrung beruhend, versucht, den „passenden Ort“ für alles Neue zu finden. Solange dieser nicht gefunden wird, „passt“ das Neue nicht in das Bestehende und wird entweder so verändert, dass es passt, oder es verschwindet und wird von anderen Dingen verdrängt. Eingriffe der Menschen in die Natur – und um solche handelt es sich bei allen Planungen, die realisiert werden – sind davon nicht ausgenommen, wenn sie vorübergehend auch noch so erfolgreich erscheinen. Aufgabe qualifizierter PlanerInnen ist es, diesen Optimierungsprozess, der zu massiven Schäden führen kann, wenn er auf falschen Prämissen aufbaut, zu verkürzen. Dazu ist aber die Kenntnis der Wirkungszusammenhänge sowohl der Natur als auch der Gesellschaft in ihren Ausprägungen im Sozialen, der Wirtschaft, der Kultur erforderlich. Wegen dieser hohen Ansprüche besteht aber in der Siedlungsplanung der Hang, sich dieser Verpflichtung zu entziehen, indem man das mühsame Erarbeiten des Systems Stadt vermeidet und stattdessen lieber einen „neuen Urbanismus“ propagiert, den man nach Belieben gestalten kann, ohne die Verantwortung für die Folgen zu übernehmen. Die Arroganz sogenannter „Stadtplaner“ ist in der Regel auch ein direktes Maß für ihre städtebauliche Ignoranz. In mächtigen Wortbildern geschickt verpackt, werden deren Kunstgebilde manchen Laien, zu denen die meisten Entscheidungsträger zählen, beeindruckend vorgetragen. Dazu ein Zitat von Rem Koolhaas: „Sollte es einen neuen Urbanismus geben, dann wird sich dieser nicht auf die Zwillingsfantasien von Ordnung und Omnipotenz stützen; er wird Unsicherheit stiften; er wird sich nicht länger mit der Planung mehr oder weniger dauerhafter Objekte befassen, sondern bestimmte Areale mit dem düngen, was möglich sein könnte; er wird nicht mehr auf feste Strukturen zielen, sondern auf die Bereitstellung von Möglichkeitsfeldern für Prozesse, die sich dagegen sträuben, eine endgültige Form anzunehmen.“ „No, na“, lässt sich dazu nur nüchtern feststellen; also ob Letzteres nicht schon immer so gewesen wäre. Düngen tut man mit Mist – auch mit architektonischem – und so schauen die Gebilde mancher bekannter Architekten leider aus, misst man sie am Maßstab lebenswerter Umwelt oder auch an den Qualitäten historischer Siedlungen, an denen Architekten oder Städteplaner nicht beteiligt waren. Anziehen, nicht hineinzwingen Stadt muss, wenn sie funktioniert, Menschen anziehen, nicht hineinzwingen. Sie muss Sicherheit als Grundlage bieten, sonst verbreitet sie Unsicherheit. Unsicherheit und Ungewissheit sind aber genau solche Faktoren, die den Menschen unangenehm sind, die sie meiden – und deshalb auch diese Art von „Städtebau“. Wer die Stadt nicht versteht und trotzdem Eindruck machen will, muss daher seine Unfähigkeit zum Verständnis von Stadt entsprechend kaschieren. Wenn Bazon Brock ausführt: „Der Metropolenbewohner lebt nicht 28

Städte als Zonen der Behaglichkeit oder Unbehaglichkeit

in erster Linie in Ziegelsteinen, Marmor, Glas und Stahl, sondern in der Architektur des menschlichen Geistes, dessen Fundamente jenes menschenwürdige Verhalten bilden, das Urbanität definiert“, widerlegt er nicht nur Koolhaas, sondern zeigt auch eine zweite Seite von (mehreren) Wechselwirkungen zwischen gebauter Struktur und menschlichem Verhalten. „In erster Linie“ führt uns das auf die Frage nach „Geist“ und Materie – und damit nach dem Wechselbezug zwischen diesen beiden. Ausgewogenheit – oder zumindest die Vorherrschaft des Geistes über die Materie – wäre im Siedlungswesen notwendig. Leider wurde der Geist in den vergangenen beiden Jahrhunderten im Städtebau – und nicht nur da – gegenüber der Materie marginalisiert. Damit ist auch das erste Zitat besser verständlich, wenn man es wie folgt interpretiert: „Der Geist soll wehen, wo er will, nur nicht bei meinen Projekten.“ Je weniger er aus den Projekten spricht, umso mehr wird er wortreich beschworen, wird sich wohl jeder denken, der in den vergangenen Jahrzehnten bei der Vorstellung städtebaulicher Entwürfe dabei war. Seltene Ausnahmen bestätigen diese Regel. Dass die Information niemals einseitig vom Bauwerk auf die Menschen, sondern auch umgekehrt verläuft, kann man an „sprachlosen“ städtebaulichen Beispielen, die auch zu keiner Beziehung zu ihren Nachbarbauten fähig sind, beobachten. In diesen Feldern der städtebaulichen Sprachlosigkeit halten sich Menschen niemals freiwillig auf. So hat etwa das Regierungsviertel in St. Pölten den Menschen nicht nur nichts zu sagen, sondern stößt diese geradezu von sich. Grau, ausdruckslos und tot wie diese Objekte sind im Allgemeinen Leichen, nicht lebendige Städte. Wer hält sich dort schon gerne auf ?

4.7 Städte als Zonen der Behaglichkeit oder Unbehaglichkeit Zwischen E = + ln I und E = – ln I , aber auch zwischen I = e+E und I = e-E Die Empfindungen E = + h I und E = – h I werden aus den Außenreizen I, die von den Menschen über ihre Sinnesapparate wahrgenommen werden können, errechnet und interpretiert. Die Rückkopplung über die e-Potenz, die inverse Funktion, wird aber kritisch, ist das Vorzeichen des Exponenten ein [+]. Umgekehrt steigt aber der Aufwand für die gleiche Empfindungszunahme – der „Preis pro Empfindungseinheit“ – exponentiell. Der Widerstand für Fußwege nimmt nach dieser Funktion zu, besonders rasch bei einem hässlichen Umfeld. Ist dieses attraktiv, wird die Kurve flacher. Analysen des Verfassers zeigen, dass positive Empfindungen aus einem Wohlbehagen und einem Minimum an körperlichem Aufwand resultieren.7 Es handelt sich um eine Nutzen-Kosten-Bilanz, wobei auf Seite der 7

Knoflacher, H. (1996): Zur Harmonie von Stadt und Verkehr. Freiheit vom Zwang zum Autofahren. 2., verbesserte und erweiterte Auflage. Böhlau Verlag Wien – Köln – Weimar.

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Evolutionäre Grundlagen

Abb. 8 Der Kurvenverlauf des Logarithmus: Mit zunehmender Wiederholung nimmt die Änderung der Empfindung stetig ab. Der Effekt der achten Wiederholung – von 8 auf 9 – ist nur mehr rund ein Sechstel – wie bei der ersten von 1 auf 2.

Abb. 9 Die Exponentialfunktion mit positivem Vorzeichen: Der „Preis“ pro Empfindungseinheit nimmt exponentiell mit der Zahl der Wiederholungen zu. Die achte Wiederholung von 8 auf 9 „kostet“ bereits 1.096-mal mehr als die erste von 1 auf 2.

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Städte als Zonen der Behaglichkeit oder Unbehaglichkeit

Kosten der körpereigene Aufwand an Energie (physisch und mental) steht. Positive Empfindungen laden zum Verweilen ein, negativen will man entkommen – man geht oder fährt weg, um positive zu finden. Dieses Prinzip erwies sich in der Evolution als lebenserhaltend. Schon bei Einzellern ist zu beobachten, dass sie in einer Nährlösung mit geeigneter Ionenkonzentration ein Verhalten aufweisen, das man als Mikromobilität bezeichnen kann. Sie bewegen sich sozusagen in einer Zone der Behaglichkeit, aus ihrer Sicht im Paradies, weil sie alles haben, was sie brauchen. Setzt man die Einzeller aber in eine Nährlösung, die fernab dieses optimalen Zustandes ist, beobachtet man hingegen ein hektisches Verhalten, Makromobilität als Folge des Mangels am Ort. Wenn Einzeller den Zustand beschreiben könnten, würden sie ihn als unangenehm bezeichnen – oder sich ein Auto wünschen. Der Wert einer Siedlung ist daran zu messen, inwieweit sich Bewohner und Beschäftigte gerne und freiwillig dort aufhalten. Interessanterweise sind das immer autofreie Bereiche. Das Geheimnis der Schönheit, Nachhaltigkeit und Qualität eines Städtebaues ohne äußeren Zwang, etwa eines Herrschers, war das Ergebnis dieses Prozesses der Wechselwirkungen, einerseits zwischen Mensch und gebauter Umwelt und umgebender Natur und andererseits zwischen Mensch und Menschen in gegenseitiger optimierter Anpassung. Die Gestaltung des öffentlichen Raumes, der Städtebau, spielt dabei die zentrale Rolle. Dazu gehören nicht nur die inneren Bewegungsflächen, sondern auch die Harmonie und Funktionsvielfalt der umgebenden Gebäude wie auch die Außenansichten.

Abb. 10 a u. b Die Qualität der Außen- und Innenansicht der Siedlungsstrukturen ist das Ergebnis des ­Abstimmungsprozesses – einerseits zwischen der Natur und der urbanen Gesellschaft, andererseits zwischen den ­Menschen der Stadt oder jenen des Dorfes (Jindřichův Hradec und Tábor).

Konsequenzen für die Stadtplanung und den Städtebau Nehmen wir als Wiederholungen die Schritte eines Menschen und als Intensität der Reizungen die Informationen aus dem städtischen Raum, dann ist anhand dieser grundlegen-

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den Verhaltensgesetze8 Folgendes abzulesen: Wiederholungen gleicher Information führen schnell zur Abnahme des Interesses an der Umwelt. Diese wird als öde empfunden und daher gemieden. Andererseits bewirken Wiederholungen – mit Variationen – auch eine zunehmende Anpassung und Vertrautheit. Die Kunst der Stadtplanung und des Städtebaues besteht daher darin, beide Wirkungen zu einem Optimum zusammenzuführen: Die „Komposition der Stadt“ nach menschlichem Maß ergibt sich daraus zwingend, wenn man das meisterhaft beherrscht. Wenn nicht, soll man die Finger von diesem Gebiet lassen, denn die Eingriffe in die gebauten Strukturen sind lang anhaltend und immer wirksam. Den Menschen zuzumuten, dass sie in einem Umfeld der optischen Misstöne unterwegs sein müssen, sollte ebenso strafbar sein wie unzulässige Lärmbelästigung. Es ist ein Diebstahl am Wertvollsten, das Menschen haben: ihre Lebenszeit. Diese Harmonie in den hochwertigen historischen Städten entstand durch die Aufeinanderfolge von vielfältig gestalteten Gebäuden um Plätze mit Durchgängen und Gassen einerseits und die Aufeinanderfolge und den sie einschließenden Gebäuden, die miteinander und mit dem öffentlichen Raum im Dialog entstanden – und stehen. Das Ergebnis sozialer Prozesse. Die abgestellten Autos haben diese Harmonie von Mensch und Stadt im 20. Jahrhundert zerstört. Nur nach dem menschlichen Maß des Fußgehers gestaltete Siedlungen können Städte oder Dörfer sein, in denen sich Menschen wohlfühlen. Die um und für das Auto gebauten Strukturen sind immer nur Agglomerationen, Siedlungshaufen jenseits der Harmonie lebendiger Strukturen. Baukultur ist das Ergebnis dieser Kunst der Städteplanung Mit den hier wiedergegebenen Gesetzen steht ein Instrument zur Verfügung, das die Voraussetzungen für die Beurteilung städtischer Qualität öffentlicher Räume schafft. Es sind dies nur die elementaren Bedingungen für eine Harmonie der städtischen Strukturen und können bei Weitem eine umfassende Beurteilung städtebaulicher Qualität nicht ersetzen. Baukunst – nicht nur der Objekte und Ensembles sowie ihrer funktionalen Inhalte, sondern auch deren Abstimmung mit dem öffentlichen Raum, damit dieser zum Lebensraum werden kann – ist erforderlich. Schon aus diesem Grund scheidet die Straße als Fahrbahn, wie sie heute üblich ist, grundsätzlich als Planungselement einer lebenswerten Stadt aus. Diese elementaren Gesetzmäßigkeiten des Verhaltens zeigen aber auch, wie weit sich der sogenannte moderne Städte­ bau und die dazu passende Architektur von jenen Ansprüchen einer menschengerechten Umweltgestaltung – Strukturen, die zu Wohlbefinden im Verhalten führen – entfernt haben! Diese Art von Städtebau trägt, gemeinsam mit dem Missbrauch des öffentlichen Raumes für und durch den Autoverkehr, auch zum Verfall urbaner Kultur bei, die heute – ohne dass man 8

Knoflacher, H. (1996): Zur Harmonie von Stadt und Verkehr. Freiheit vom Zwang zum Autofahren. 2., verbesserte und erweiterte Auflage. Böhlau Verlag Wien – Köln – Weimar.

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Städte als Zonen der Behaglichkeit oder Unbehaglichkeit

die Zusammenhänge erkennt – zunehmend beklagt wird. Der gestaltete Raum gestaltet den Dialog mit den Menschen. Und wie man mit den Menschen umgeht, so reagieren sie auch, werden mit Hoffnung, Liebe und gegenseitiger Achtung erfüllt – oder man erntet Angst, Hass und Missachtung, sowohl von den Mitmenschen als auch der Mitwelt. Es sind daher die Planer, die Verantwortung für die Folgen der gebauten Umwelt zu tragen haben. Bis vor rund 50 Jahren war die Umwelt für die Mehrzahl der Menschen immer noch die Natur – oder zumindest der unmittelbare Zugang und Bezug dazu. Heute ist es die technisch veränderte Umwelt, womit der Mensch vor allem kommuniziert, ob auf seinen Wegen, am Arbeitsplatz, aber auch in seiner Wohnung. Wenn es dem Städtebau nicht gelingt, sich dieser Herausforderung zu stellen, trägt er zu den sozialen Spannungen bei. Diese Zusammenhänge zeigen auch das Ausmaß der aus Blindheit resultierenden mit Verantwortungslosigkeit des Mainstreams quantitativer Planung und des Städtebaues. Im vergangenen Jahrhundert wurden Städte für Autos und nicht mehr für Menschen geplant und ­gebaut. Es ist kein Wunder, wenn diese bei jeder Gelegenheit versuchen, dieser unwirtlichen, weil unmenschlichen Umgebung zu entfliehen, und dabei nicht merken, dass sie schon in der Falle des Autos sitzen, in die sie die bestehenden Verwaltungen durch ihre Bauordnungen hineinzwingen. Wenn es der Siedlungsplanung nicht gelingt, den Menschen wieder ihre Freiheit vom Auto, nicht nur der Mobilität zu verschaffen, wird sie weiter alle jene Probleme erzeugen, die sie vorgibt zu lösen. In der Sonne und im Schatten Eine teilweise Beschreibung der Wirkungen des Umfeldes auf die verschiedenen Teilnehmer im öffentlichen Raum kann auch durch objektivierbare physiologische Indikatoren erfolgen. Diese wurden zwar nicht für die Verkehrs- oder Siedlungsplanung entwickelt, sondern für die Gestaltung der Arbeitsplätze und der Arbeitswelt, sie sind aber analog für unsere Zwecke übertragbar. Ein gutes Instrument zur Darstellung der Position verschiedener Verkehrsteilnehmer auf dieser Ebene der Wahrnehmung ist die von Lippi 1960 entwickelte „Behaglichkeitssonne“. Er unterteilt 10 Indikatoren in 4 Zonen: • • • •

die Zone der Behaglichkeit, wo jeder sein will die Zone der Erträglichkeit die Zone der Lästigkeit das Gebiet der Unerträglichkeit, das man zu meiden sucht

Tragen wir in diese Behaglichkeitszone die Positionen der Autofahrer und der Menschen ein, dann wurde im vergangenen Jahrhundert so geplant, dass für die Autofahrer in praktisch allen entscheidenden Indikatoren eine Zone der Behaglichkeit geschaffen wurde. Im 33

Evolutionäre Grundlagen Abb. 11 Behaglichkeitssonne nach Prof. Lippi 1960. Man kann sie sinngemäß auch zur Überprüfung von Projekten und Maßnahmen der Siedlungs- und Verkehrsplanung verwenden.

Gegensatz dazu befinden sich die Menschen, also Fußgeher, in dieser von Siedlungs- und Verkehrsplanern gestalteten Umwelt bei wichtigen Indikatoren meist an der Grenze der Unerträglichkeit oder zumindest in der Zone der Lästigkeit. Abb. 12 Autofahrer wurden durch die Maßnahmen der Siedlungs- und Verkehrsplanung in die beste Position in der Sonne gebracht, Menschen in den Schatten, in die Zone der Unerträglichkeit – kein Wunder, wenn alle in das Auto wollen.

Konsequenzen für die Praxis Dieses Instrument kann bei allen Planungen und Projekten, von der Makro- bis zur Mikroebene, als Bewertung der Wirkungen verwendet werden. Da es sich um wahrnehmbare Indikatoren handelt, bewirken sie direkt Veränderungen des Verhaltens. Für nachhaltige und sozial verträgliche, nicht motorisierte Siedlungsbewohner muss, will man nicht gegen die Wertehierarchie der menschlichen Gesellschaft verstoßen, ein Umfeld in den Zonen der Behaglichkeit gestaltet werden.

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Den Schichtenbau und die Wirkungen verstehen

Abb. 13a u. b Gestaltungsqualität und Abmessungen für eine menschengerechte Planung findet man noch in mittelalterlichen Städten (Rothenburg o. d. T.).

4.8 Den Schichtenbau und die Wirkungen verstehen Unter einer Evolutionsschicht definiert R. Riedl eine aus dem Prozess von Erwartung und Erfahrung (Trial and Error) hervorgegangene, stabile evolutionäre Ebene von Strukturen, wie etwa Atome, Moleküle, Organe usw., bis zu den verschiedenen Kulturen der Menschen (R. Riedl 1985)9. Im Allgemeinen kann man diese Schichten immer erst im Nachhinein erkennen. Die Bindung innerhalb der Schichten ist immer deutlich größer als die zu den nächsten, darüberliegenden. Atomkerne werden durch die „starken Kräfte“ zusammengehalten, Moleküle durch die schwächeren Elektronenbindungen. Diese Formen der Bindungen ziehen auch durch die oberen, unserem Verständnis viel näher liegenden sozialen Bindungen, die in der Regel innerhalb einer (funktionierenden) Familie stärker sind als etwa zu der Gemeinde, dem Staat, der Völkergemeinschaft. Die Siedlungen waren das Ergebnis einer gesellschaftlichen Entwicklung und ihrer Bindungen nach innen und außen. Durch die Siedlungs- und Verkehrsplanung greifen wir daher auch tief in diese gesellschaftlichen Strukturen ein und beeinflussen Bindungen auch in viel tieferen Ebenen, die nicht direkt sichtbar sind und bisher nicht beachtet wurden. Daher ist die Kenntnis vom Schichtenbau des Lebens und insbesondere der siedlungsbildenden Elemente, der Menschen und ihrer Gesellschaft, von zentraler Bedeutung. Ebenso wichtig ist auch das Wissen um die Tiefe der Schicht, in die Eingriffe erfolgen. Die Tiefe bestimmt die Mächtigkeit der Bindung und die daraus resultierenden Folgen. Je älter und tiefer die Schicht ist, in die wir eingreifen, umso mehr wird ein solcher Eingriff alle darüberliegenden Schichten beeinflussen, aber auch auf noch tiefere Schichten Wirkungen entfalten. Eine Schicht daneben (in einer höheren Ebene) ist im wahrsten Sinn des Wortes „voll 9

Riedl, R. (1985): Die Spaltung des Weltbildes. Biologische Grundlagen des Erklärens und Verstehens. Verlag Paul Parey, Berlin und Hamburg.

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Evolutionäre Grundlagen Abb. 14 Die schematische Darstellung der ­Mächtigkeit der Schichten kann den wirklichen Unterschied nur mangelhaft wiedergeben. Das Auto greift auf die älteste Evolutionsschicht, die der Körperenergie des Menschen, zu und verändert damit die Position aller darüberliegenden grundlegend. Preise greifen erst in den jüngsten Schichten ein und werden durch die etwas tiefer liegenden der sozialen Bindungen an starken Wirkungen gehindert.

daneben“. Es gibt vermutlich kein technisches Produkt, das so tief wie das Auto die Menschen und die Gesellschaft – auch die urbane – verändert hat. Anhand der Wirkungen des Autos auf den Menschen soll das in der Abbildung 14 dargestellt werden. Das Auto greift auf die Ebene der Körperenergie zu, also die älteste aller Lebewesen. Dagegen hilft auf Dauer keine Maßnahme, so sinnvoll sie bei plausibler Betrachtung auch erscheinen mag, wenn sie auf einer jüngeren Ebene ansetzt. Zum Beispiel eine Lösung städtischer Probleme vom Road Pricing zu erwarten, ist illusorisch, solange die baulichen Strukturen dagegenwirken. Zwar wird damit eine Form der Energie, das Geld, angesprochen, aber die Wirkung ist ungleich geringer als das durch die heutige Parkraumorganisation erzeugte Verhalten. Geld greift auf einer viel jüngeren Schicht an als die Wirkebene der Ursache. Außerdem wird durch die Konflikte, zu denen diese Maßnahme auf der sozialen Ebene führt, die Wirkung politisch nicht umsetzbar. Wer daher, wie nahezu alle herkömmlich denkenden, sogenannten Verkehrsexperten glaubt, die Fehler gebauter Strukturen mit Preissignalen kompensieren zu können, beweist nur, dass er diese Wirkungsmechanismen nicht kennt. (Die schematisch dargestellten Unterschiede der Mächtigkeit der Schichten entsprechen bei Weitem nicht den viel größeren tatsächlichen.) Neu: der Zugriff der Technik „von innen“ Der Zugriff des Autos über unser Hirn führt dazu, dass dieses die Steuerung nicht nur des Denkens, die Wahrnehmung der Außenwelt unbewusst übernimmt, sondern eine nahezu bisher unvorstellbare Veränderung der Verhaltensweisen bewirkt. Planer und Entscheidungsträger sind davon besonders betroffen. Ebenso wie ein Virus das Verhalten einer Zelle verändert, beeinflusst das Auto das Handeln der Fachleute und der Gesellschaft. Ist das Planerhirn von diesem Virus einmal befallen, wird nicht mehr für die Menschen, sondern für die Autos und die Autofahrer geplant. Die Infektion wird noch durch die bisherige fachliche Ausbildung gefördert, die lehrt, dass Siedlungen und der öffentliche Raum nach 36

Den Schichtenbau und die Wirkungen verstehen

den Bedürfnissen des Autos zu gestalten sind. So ist es erklärbar, warum der Städtebau und das Verkehrswesen der beiden vergangenen Jahrhunderte nahezu wie von selbst – über die Macht des veränderten Unterbewusstseins und die bisherige Ausbildung gesteuert – eine Welt für Maschinen gestaltet haben. Begonnen hatte diese Entwicklung schon mit den Eisenbahnen und dem seit damals ungebrochenen Fortschrittsglauben an die Lösung aller Fragen der Menschheit durch Technologie. Der Unterschied zu früheren Zeiten, als manche Infrastruktur nicht für die Bevölkerung, sondern für mächtige Herrscher und ihre persönlichen Interessen gestaltet werden musste, liegt darin, dass die Beeinflussung damals „von außen“ erfolgte. Dagegen konnte man sich wehren, was fallweise auch passiert ist. Heute findet die Beeinflussung über das Auto wie automatisch „von innen“ her statt, bei den Experten, den Entscheidungsträgern und der Bevölkerung, und das hat fatale Folgen für die Städte. Durch die so umgestaltete Umwelt verstärkt sich der Zugriff des Autos, sodass auf der späten, weit oben angesiedelten Ebene des Bewusstseins der Eindruck entsteht, es müsse ohnehin alles so sein. Das Auto wirkt auf den Vielzeller Mensch, den man wieder als Zelle einer Gemeinschaft betrachten kann, und auf die Gesellschaft wie ein Virus. Eine vom Virus befallene Zelle beginnt, die DNA des Virus zu replizieren und nicht mehr die des Organismus, in dem sie lebt. Ebenso machen dies auch Planer, Entscheidungsträger und die Bevölkerung, sie planen und bauen nicht mehr die Welt für die Menschen, die ja Fußgeher sind, sondern für die Autos. Das Autovirus befällt in erster Linie die Entscheidungsträger und vor allem die Lehrer in den einschlägigen Disziplinen, um sich so am wirksamsten auszubreiten. Nahezu alle Institute des Verkehrswesens, der Raum- und Siedlungsplanung, der Betriebs- und Verkehrswirtschaft wurden in den vergangenen Jahrzehnten von Personen besetzt, die sich in den Dienst dieses Virus gestellt haben. Ganze Ministerien arbeiten an seiner Verbreitung und Lebenssicherung – auch um den Preis von über einer Million Toten weltweit jährlich und vieler Millionen Menschen, denen schwerste körperliche und seelische Schäden zugefügt wurden. Diese Disziplinen haben in bestem Glauben – wie eine von Viren befallene Zelle auch – weltweit wertvolle Siedlungsstrukturen zerstört, ähnlich wie ein eitriges Geschwür gesundes Gewebe. Und das firmiert unter dem Begriff „moderner Städtebau“. Infektionsgefahr durch Planer und Entscheidungsträger Planer mit diesem Autovirus im Kopf sind für die Gesellschaft ebenso gefährlich wie ein Arzt, der auf seinen Händen Infektionsherde hat, die er bei jeder Berührung von Patienten verbreitet und diese ansteckt. Befreit sich daher ein Planer von diesem Befall nicht, wird er, wie es seit nahezu 100 Jahren der Fall ist, Siedlungen für Maschinen und damit gegen Menschen planen und bauen. Er handelt wie ein Mediziner, der Sepsis bei den ihm anvertrauten Patienten auslöst, weil er verantwortungslos handelt. So wird eine Stadt nach der anderen von Stadt- und 37

Evolutionäre Grundlagen

Verkehrsplanern verseucht. Verantwortungsbewusste Planung kann daher erst dann beginnen, wenn die Verantwortlichen vom Autovirus befreit wurden, erkennbar daran, dass PKWEinheiten und Abmessungen der Autos keine Rolle mehr spielen. Konflikte in der Fachwelt und gravierende Fehler Auf dem Weg zum Erkennen der Ursachen entstehen zahlreiche und schwere Konflikte mit den Vertretern der vorherrschenden Auffassung und Lehre, dem allgemein verbreiteten Glauben, der sich auf scheinbare plausible Annahmen stützt. Eine andere Form der Wirklichkeit wurde in den Planungsdisziplinen „zusammengeschustert“, die daher laufend Konflikte mit der Realität erzeugt (G. Fasching)10. In den verschiedenen einschlägigen Disziplinen werden bei traditioneller Ausbildung die wirksamen Ebenen des Menschen nicht bewusst gemacht, obwohl man lernt, mit den Maßnahmen in diese tief, aber unbedacht einzugreifen. Ingenieuren ist dieser Zugang in der traditionellen Ausbildung deshalb verwehrt, weil die evolutionäre Verfasstheit des Menschen nicht Gegenstand der Lehre ist. Außerdem werden sie im Glauben erzogen, die Anwendung einiger naturwissenschaftlicher Kenntnisse wäre schon ausreichend, um die Realität zu erfassen, um in diese physisch wirksam eingreifen zu können. Meist werden sie auch noch an linearen Ursache-Wirkung-Zusammenhängen geschult, die für das konstruktive Ingenieurwesen ausreichen, das sich vor allem mit alten und meist stabilen Elementen der Evolution, der sogenannten „toten Materie“, beschäftigt. Selbst da macht man sich mit Sicherheitsfaktoren, also Überdimensionierung, sein Leben auf der Hookeschen Geraden so bequem wie möglich. Gleiches gilt auch für Ökonomen, Juristen und Stadtplaner. Die ungeheuren Geldsummen, die mit der Symptombehandlung falscher Strukturen seit Jahrzehnten vergeudet werden, kennzeichnen unsere Zeit, die überholten Denkmuster in den Ministerien, Universitäten und internationalen Organisationen wie auch der EU-Kommission. Der Großteil des sogenannten ITS(Intelligent Transport System)-Sektors im Verkehrswesen ist von solider Unkenntnis über das reale Verhalten der Menschen in der von ihnen gestalteten Umwelt gekennzeichnet. Harte Maßnahmen, weiche Maßnahmen In den Fachdiskussionen wird besonders im englischen Raum zwischen „Hard and Soft Measures“ unterschieden, wenn es um das Zurückdrängen des Autoverkehrs geht. „Hard Measures“ sind in der Regel bauliche Veränderungen, die den Autoverkehr einschränken, „Soft Measures“ meinen Informationskampagnen, psychologische Überzeugungsarbeit etc. Die Vertreter dieser Ideologie, denn anders kann man sie nicht nennen, übersehen dabei, dass man mit dem harten Autoverkehr nur durch ebenso oder noch härtere Maßnahmen 10 Fasching, G. (2003): Illusion der Wirklichkeit. Über die Relativität naturwissenschaftlicher Erkenntnis. Springer Verlag, Wien – New York.

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Erfolg haben kann, wenngleich man durch Aufklärung und Information die Zustimmung für diese Maßnahmen erzielen muss. Der Gesellschaft und der Fachwelt scheint es entgangen zu sein, dass sie in den vergangenen zwei Jahrhunderten mit den härtest möglichen Maßnahmen, bis hin zum straflosen direkten und indirekten Morden durch den Autoverkehr gegen die verletzlichsten und ungeschützten (vulnerablen) Verkehrsteilnehmer vorgegangen sind und dies immer noch in allen Disziplinen der Raum-, Städte- und Verkehrsplanung machen. Straßen wurden in Todeszonen verwandelt, mit Bordsteinen der Bewegungsraum der Fußgeher begrenzt, der Freiraum den Kindern weggenommen, den Alten der Aufenthalt im sozialen öffentlichen Raum vergällt. Wer das Auto im Kopf hat, merkt nicht mehr seine Brutalität gegenüber den ungeschützten Verkehrsteilnehmern.

Abb. 15 Road Pricing greift zwar, wie die meisten symptomorientierten Maßnahmen, in den Energiefluss ein, aber auf einer viel zu hohen und daher unwirksamen Ebene. Dadurch gerät es auch in Konflikt mit der sozialen Ebene, die durch die gebaute Struktur und das Auto in die falsche Richtung läuft.

Von der Energie des Autos in den tiefsten Schichten ihres Seins manipulierte Menschen halten es etwa für völlig selbstverständlich, Strukturen zu planen und zu bauen, wie sie auf dem folgenden Bild zu sehen sind. Das Bild stellt das „Stadtzentrum“ von Shanghai dar, das mit einem für menschliche Begriffe lebendigen Stadtzentrum einer Siedlung, geschweige denn einer Millionenstadt, nichts mehr zu tun hat. Mit zu den Verirrungen gehört auch die Behauptung, Shanghai wäre eine faszinierende Stadt. Für Europäer kann das Faszinierende vermutlich in der Kopie europäischer Architektur am „Bund“ und seiner noch nicht zerstörten unmittelbaren Umgebung liegen, vielleicht noch in dem maßstabgerechten Viertel der „French Concession“. Sonst fasziniert dieser 39

Evolutionäre Grundlagen

Abb. 16 Zerstörung des öffentlichen Raumes in großem Maßstab durch Verkehrs- und Stadtplanung („Stadtzentrum“ von Shanghai 2004).

Albtraum höchstens durch Verlust jeglicher menschlicher Dimensionen in den Neubaugebieten und der Methode, wie auf Kosten der Menschen und der Zukunft Spekulanten in kurzer Zeit astronomische Gewinne machen können. Es ist erschütternd zu erleben, wie die jahrtausendealten Kenntnisse Chinas für einen menschengerechten Städtebau übergangen und eine geradezu lächerliche Kopie westlicher, überholter falscher Städtebauvorstellungen, deren Wurzeln in den technokratischen Träumen am Ende des 19. Jahrhunderts liegen, angefertigt wird. Städtebaulich ist das sogenannte moderne Shanghai, ebenso wie das m ­ oderne Peking, eine unfassbare Kulturschande für ein Volk mit der Tradition Chinas. Konsequenzen für die praktische Anwendung Diese fundamentale Beziehung zwischen Außen- und Innenwelt ist in der Praxis für alle Tätigkeiten der Siedlungs- und Verkehrsplanung entscheidend. Wie Knoflacher11 ausführt, stellt sie die Beziehung nicht nur zwischen Empfindung und Intensität der Reize dar, sondern erschließt, wenn man den evolutionären Zusammenhang kennt, zumindest drei für die Praxis wesentliche Dimensionen: 11 Knoflacher, H. (1981): Human Energy Expenditure in different Modes: Implications for Town Planning. International Symposium on Surface Transportation System Performance. US Department of Transportation.

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1. Den Zusammenhang zwischen außen (Intensität der Reizungen) und innen (Empfindungen). Damit hat man in der Planung erstmals ein quantifizierbares Instrument, um Wirkungen der gestalteten Welt auf den Menschen – und umgekehrt – systematisch zu erforschen und die Ergebnisse auf wissenschaftlicher Grundlage anzuwenden. 2. Es wurde erkannt,12 dass es sich dabei um eine grundlegende Beziehung zwischen Information (I) und Energie (Empfindung) handelt, die auf der ältesten Evolutionsschicht wirksam wird. Damit hat man die Interaktion zwischen Strukturen und Verhalten ebenso einer wissenschaftlichen – und praktischen – Behandlung zugänglich gemacht. 3. Man muss sich darüber klar werden, welches Vorzeichen die Rückkopplungsmechanismen, die man mit der Planung auslöst, haben. Damit ist man vor der heute verbreiteten Verwechslung von [+] und [–] in der vorherrschenden Verkehrs- und Siedlungsplanung gefeit. Manche Praktiker, die mit Erfolg Maßnahmen richtig umgesetzt haben, werden der Meinung sein, sich diese Kenntnisse sparen zu können, weil ihre Erfahrung ausreichend wäre. Dies trifft leider nicht zu: Es besteht ein ähnlicher Unterschied zwischen der Beschreibung des Fallens von Körpern nach der Methode der „subjektiven Anziehung“ mit ihrer unendlichen Vielfalt an Erscheinungsformen und der Erkenntnis, dass dahinter ein gemeinsames Gesetz der Gravitation wirkt, mit dessen Hilfe man auch die verschiedenen Erscheinungsformen erklären und voraussagen kann. Schon vor Newton konnte man, ohne Kenntnis des Fallgesetzes, recht brauchbare Kanonen und Schleudern bauen. Es war die Zeit der Kopierens der „Best Practice“, wie sie im Siedlungs- und Verkehrswesen heute von der EU„Forschung“ betrieben wird, was die obige Behauptung stützt. Die heutige Stadtplanung und auch das Verkehrswesen irren von einer „Plausibilität“ zur nächsten, wenn sie Lösungen, die in A funktioniert haben, auf B übertragen. So mag es einst den Kanonenbauern auch ergangen sein. Verkehrs- und Siedlungsplanung, fixiert auf technische Verkehrsmittel, haben noch nicht wahrgenommen, wie stark sie in ihr Unbekanntes eingreifen, und sind mit den plausiblen Annahmen zufrieden, durch die sie sich in ihren Annahmen selbst bestätigt sehen – und das umso mehr, je stärker die Absurdität ihres Handeln merkbar wird. Sie halten sich in dem Maß für wichtig, in dem sie selbst die Probleme erzeugen, die sie zu lösen vorgeben. Mit den vorhin angeführten Gesetzen ist die Verantwortung der PlanerInnen und PolitikerInnen nachweis- und einklagbar. Die Stadt ist ein Informationssystem und gleichzeitig in der Rückkopplung eine Struktur der Energie, die sowohl positiv als auch negativ wirken kann. Das Vorzeichen der Empfindung macht die Entscheidung transparent:

12 W.o.

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Evolutionäre Grundlagen

• Stadt entsteht dort, wo die Empfindung für Menschen positiv ist. Dort wollen sie sich aufhalten, wohnen, arbeiten und ihre Freizeit verbringen. Positive Empfindungen für Menschen entstehen dort, wo die Umgebung sicher, gesund, ruhig, abwechslungsreich und einladend, schön ist. Diese Bedingungen können nur dort erfüllt werden, wo es keine oder nur ganz selten Autos gibt. • Breite, freie Fahrbahnen und ausreichend Parkplätze an jedem Ort, den man erreichen will, und verfügbare Parkplätze erzeugen positive Empfindungen für Autofahrer. In einem derartigen Umfeld gibt es keine Stadt, kann auch keine Stadt entstehen – selbst wenn dieses Gebiet so bezeichnet wird. • Das Mobilitätsverhalten gibt uns Aufschluss über gelungenen oder misslungenen Städtebau. Je höher der Mobilitätsaufwand, desto misslungener die Planung. Widerstand disziplinärer Erklärungsversuche und Lösungsansätze gegen die Längsschnittbetrachtung Seit mehr als 20 Jahren ist zu beobachten, dass Vertreter verschiedener, in diesen Fachbereichen tätiger Disziplinen auf diese neuen Erkenntnisse unterschiedlich reagieren. Maschinenbauer und Fahrzeugtechniker fühlen sich davon nicht angesprochen, weil sie annehmen, dass ihre Tätigkeit ohnehin keinen Einfluss auf die Gesellschaft oder das Sozialverhalten hätte und daher von anderen Disziplinen zu behandeln wäre. Motoren und/oder Fahrzeuge noch besser zu bauen wäre ihre alleinige Pflicht. Nicht viel besser reagieren in der Regel Bauingenieure und Verkehrsplaner herkömmlichen Bewusstseinsstandes und gängiger Ausbildung. Sie empfinden diese neuen Erkenntnisse höchstens als Störung ihres Geschäftes und als wenig ernst zu nehmende, vermutlich vorübergehende Belästigung ihrer vermehrenden Tätigkeit der Verkehrsflächen für Autos. In der Raumplanung werden zwar weitreichende Ziele diskutiert und beschlossen, in der praktischen Tätigkeit werden sie aber einfach vergessen. Der sogenannte Städtebau hat sich längst auf die Einzelobjekte zurückgezogen, für die Stadt lediglich eine Art Bühne darstellt. Am ehesten aufgeschlossen zeigen sich im Allgemeinen naturwissenschaftlich orientierte Mediziner – und praktisch keinerlei Probleme, ja gerade Begeisterung rufen diese Erkenntnisse bei weltbekannten Philosophen (Ausruf des Philosophen Karl Popper bei einem Vortrag des Verfassers: „Das ist ja göttlich!“) oder Naturwissenschaftern sowie Systemanalytikern hervor. Psychologen oder Soziologen scheinen diese Erkenntnisse aber weniger ernst zu nehmen, weil sie in der Vielfalt der Erscheinungsformen, die in der Gesellschaft auftreten, auch die Ursachen der Probleme zu finden glauben. Sie nehmen an, dass die Lösungen auch auf der psychologischen Ebene, also dort, wo die Symptome sichtbar werden, zu finden sein müssten. (Das ist erstaunlich für diese Disziplin, deren Vertreter im 19. Jahrhundert Bausteine schufen, die mit den heutigen Möglichkeiten des Systemverständnisses aus den evolutionären Zusammenhängen den Weg zu den Lösungen ermöglichten.) 42

Den Schichtenbau und die Wirkungen verstehen

Abb. 17 Beispiel für die heutige Art von „Verkehrserziehungsprogrammen“. Der Mensch wird der Maschine untergeordnet – selbstverständlich!

Weil die Ursache der beobachteten Probleme in Eingriffen technischer Verkehrssysteme in tiefe Evolutionsschichten der Menschen liegt, entstehen auf den jüngeren Schichten der Evolution vielfältige Erscheinungen individueller und kollektiver Verhaltensweisen, die scheinbar nichts mit der Technik zu tun haben. Erst die mathematisch abbildbaren Reaktionsmechanismen von Gesellschaft und Individuen zeigen uns den Weg in diese Tiefen unseres Seins. Dass es die Strukturbedingungen vor allem der gebauten Umwelt sind, die diese Vielfalt an Wirkungen erzeugen, will man nicht zur Kenntnis nehmen, denn: Was hat Bauwesen schon mit Psychologie zu tun? Dass beim Wegfall externer billiger Energie, die dieses ganze bunte Treiben auf der sozialen und psychologischen Ebene überhaupt erst auslöst, die meisten der beobachteten Phänomene verschwinden, scheint die Vertreter dieser Disziplinen irgendwie zu stören. Entweder halten sie die technische Entwicklung als eine Art unveränderliches „Naturgesetz“ fernab ihrer Disziplin oder fürchten, ein ergiebiges Untersuchungsfeld zu verlieren. Sie wären gezwungen, sich mit den wahren Ursachen sozialer und psychologischer Phänomene auseinanderzusetzen. Vermutlich liegt die Erklärung aber in dem Umstand, dass die im 19. Jahrhundert gefundenen ersten Bausteine menschlichen Verhaltens von der technischen Entwicklung, nicht nur in den mechanischen Transportsystemen, überrollt und zugeschüttet wurden. Der 43

Evolutionäre Grundlagen

Mensch in seiner Verfasstheit schien durch die naturwissenschaftlich-technischen Erfolge so bedeutungslos zu werden, zu marginal zu sein, um ihn noch als das zentrale Steuerglied im gesamten Geschehen wahrzunehmen. Also versucht die Verkehrspsychologie, vor allem den Menschen an die neue technisch veränderte Umwelt, die als gegeben und unveränderlich – weil von anderen Disziplinen, von denen man annimmt, sie wüssten, was sie tun, gestaltet – akzeptiert wird, anzupassen. Am deutlichsten kommt dies etwa in der sogenannten „Verkehrserziehung“ von Kindern und Jugendlichen zum autogerechten Verhalten zum Ausdruck. Auch verwechselt man oft komplexe mit komplizierten Systemen und allen da­ raus resultierenden Konsequenzen.13 Probleme mit der Hierarchie und Mächtigkeit der Schichten Auch jene sympathischen Experten, die sich aus Überzeugung leidenschaftlich für den öffentlichen Verkehr einsetzen, haben leider oft keinen Zugang zu den realen Wirkungsmechanismen. Sie hoffen, die Probleme durch viel Begeisterung, feurig geschriebene Aufrufe und überzeugende Darstellung der Vorteile des öffentlichen Verkehrs, des Radverkehrs oder der Fußgänger, wie sie die Fußgeher nennen, gegenüber dem Auto bewältigen zu können, ohne auf die Ursache, die menschliche evolutionäre Verfasstheit, einzugehen. (Sie vermeiden es, auf die Strukturen, die das Verhalten prägen, einzugehen.) Wie auch alle anderen Disziplinen, suchen sie daher nach Lösungen außerhalb des Menschen. Dies resultiert aus einem Menschenbild, das vor allem von den Leistungen der jüngeren Evolutionsschichten, wie der Vernunft, dominiert wird und sonst gegen alle Veränderung der Außenwelt immun zu sein scheint. Die neuen evolutionären Schichten sind natürlich auch deshalb besonders interessant, weil sie auch das größte Maß an Freiheiten – aber auch Ungewissheit – bieten.

Abb. 18 a u. b Unterschied zwischen der Sicht auf den Menschen (links) und der realen Wirkung seiner evolutionären Schichten (rechts).

13 Riedl, R. (2000): Strukturen der Komplexität. Springer Verlag, Berlin.

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Den Schichtenbau und die Wirkungen verstehen

Die entscheidende Evolutionsschicht, die bei technischen Verkehrssystemen das Verhalten steuert, liegt aber so tief und außerhalb des klassischen Menschenbildes, dass sie von den meisten Disziplinen nicht wahrgenommen werden kann oder will. Oft liegt eine Verwechslung von Erkenntnis- und Lösungsweg, die einander entgegengesetzt verlaufen, vor. Man scheut sowohl den langen Erkenntnisweg hinunter zu den Ursachen, der durch alle Disziplinen führt, als auch – noch mehr – die Konsequenzen des Lösungsweges. Stattdessen nimmt man sich lieber Freiheiten in der Planung, deren Folgen dann von den Bewohnern getragen werden müssen.

Abb. 19 Die Verschiebung auf der tiefen Evolutionsschicht der Körperenergie macht es geradezu selbst­ verständlich, dass die Autofahrer vor die menschliche Gesellschaft zu stellen sind.

Erfolgt auf den tieferen Schichten eine Bestätigung der Erwartung durch die Erfahrung, können Werte aus den Oberschichten leicht ausgehebelt werden. Ursache und Wirkung sind auf den Kopf gestellt. Mit der individuellen Überlegenheit durch das Auto entsteht ein völlig anderer Entwicklungspfad und ein anderes Wertesystem als für den Zweibeiner Mensch, der gelernt hat (lernen musste), sich sozial zu verhalten. Da Autofahren attraktiver ist als der aufrechte Gang des Menschen und man sich in unserer reichen Gesellschaft jederzeit Zugang zu der wunderbaren Spezies Autofahrer mit allen ihren Privilegien verschaffen kann, wird nahezu jeder versuchen, diese Mutation so schnell und rasch wie möglich zu vollziehen. Dies erklärt auch den Drang der Jugendlichen zur aktiven Teilnahme am motorisierten Verkehr, von dem sie vorher drangsaliert und bedroht wurden. Die Planung der vergangenen 45

Evolutionäre Grundlagen

Abb. 20 a u. b Verdrängung des Menschen aus dem öffentlichen Raum durch die Planer (Bangkok).

zwei Jahrhunderte hat alles dazu getan, jede andere Alternative zu unterbinden. Herkömmliches Verkehrswesen ist blind für den Menschen, wie auch die Raum- und Stadtplanung der vergangenen Jahrzehnte.

Form und Materie passen sich gegenseitig an

Abb. 21 In den benachbarten Schichten sorgen Material und Form für die Übereinstimmung, Energie als Causa efficiens zieht von unten nach oben, die Zweckursache als Causa finalis von oben nach unten durch die Schichten.

Dieses Unverständnis für die Zusammenhänge hat zur Folge, dass sich nicht nur PlanerInnen mit den Symptomen und nicht mit der Ursache der Probleme beschäftigen. Erfolge in diesem Umfeld sind daher seltene Zufallstreffer. Die EU unterstützt die „Zufallstrefferforschung“ mit den „Best Practice“-Programmen (sozusagen nach dem Motto „Blinde suchen im Nebel nach dem Weg“), für die eine Menge Geld ausgegeben wird. Sie ist aber nicht bereit, Geld für Forschungen auszugeben, die zu einem tieferen Verständnis für die wahren 46

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Hintergründe des Verkehrsverhaltens führen können, denn die Technik, so wird angenommen, hat die Probleme erzeugt, also sind sie nur durch Technologie und Technik zu lösen. Die EU-Kommission verfügt auch weder über Evaluatoren noch Beamte, die das Verständnis und die Verantwortung für eine andere Sicht der Dinge aufbringen. Sie ist daher (noch) blind für dieses Forschungsfeld. Maßnahmen in den oberen Schichten können sich gegen die tiefer liegenden Wirkungsschichten daher nicht durchsetzen, was sinnlose Forschung ins Unendliche perpetuiert und das bestehende System der Irrtümer weiter in Schwung hält.14 In den oberen Schichten können nur Sekundäreffekte, Symptome, behandelt werden. Erst durch die Lösung des Problems auf der Ebene der Ursachen, also auf jener der physischen Energie, können die Maßnahmen in den oberen Schichten, die durchaus richtig, aber wirkungslos sind, erst voll wirksam werden. Erst, wenn man die Fehler auf der Ebene der physischen Energie beseitigt hat, können Maßnahmen, wie etwa des Road Pricing, der Verkehrserziehung und der Information, ihre volle Wirkung entfalten – falls man sie dann überhaupt noch braucht. Wenn es auch trivial ist: Fehlerursachen auf der physischen Ebene können nur durch physische Maßnahmen beseitigt werden und nicht durch finanzielle oder psychologische. Wie können eine technische Veränderung oder gar eine Baumaßnahme psychologische oder soziale Wirkungen auslösen? Der Soziologe Mitscherlich15 hat im Städtebau vor Jahrzehnten bereits darauf hingewiesen. Man hat seine Arbeit aber erfolgreich verdrängt und die Stadtzerstörung noch intensiver fortgesetzt. Auch Lewis Mumford16 ist in dem Zusammenhang zu erwähnen, der aus seiner historischen Analyse zu denselben Ergebnissen in der Einschätzung des Städtebaues kommt, wie sie sich aus naturwissenschaftlichen Analysen menschlicher evolutionärer Struktur und Verhaltensweisen ergeben (Knoflacher)17. Schon vor ihnen hatte Camillo Sitte18 in der Stadtstruktur Phänomene dieser Art, wie wir sie heute kennen, in seinen Arbeiten – etwa über die Platzgestaltung – beschrieben.19 Die Ursache der Vielfalt der Phänomene des stadtzerstörerischen Verhaltens des Einzelnen, aber auch im Verhalten der Gesellschaft ist in erster Linie durch den Ersatz der be­ grenzten Körperenergie für Mobilität durch billige und nahezu unbegrenzte und physische externe Energie für Mobilität mit direkter Rückkopplung im Hirn, die aus den Menschen 14 Binswanger, M.: Sinnlose Wettbewerbe. Herder 2010. 15 Mitscherlich, A. (1965): Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden. Edition Suhrkamp Nr. 123. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. 16 Mumford, L. (1984): Die Stadt. DTV Wissenschaft Nr. 4326, München. 17 Knoflacher, H. (1996): Zur Harmonie von Stadt und Verkehr. Freiheit vom Zwang zum Autofahren. 2., verbesserte und erweiterte Auflage. Böhlau Verlag Wien – Köln – Weimar. 18 Sitte, C., 1983: Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen. Vermehrt um „Großstadtgrün“ ­(Reprint der 4. Auflage von 1909). Vieweg Verlag, Braunschweig – Wiesbaden. 19 W.o.

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Autofahrer macht, geprägt. Autofahrerpsychologie aus der menschlichen Perspektive zu erklären geht daher am behandelten Objekt oder Subjekt vorbei. Bei Autofahrern handelt es sich um eine andere Spezies, die auch anders als Menschen zu behandeln sind (Knoflacher).20 Interdisziplinarität ohne gemeinsame Sicht ist wie die Mischung von Sachertorte und Sauerkraut – beides ist gut, vermischt man sie aber, werden sie ungenießbar. Weil der Zusammenhang mit den tiefen Evolutionsschichten fehlt, entstehen durch die Vielfalt der Erscheinungsformen und die Freiheiten in den jüngeren Evolutionsschichten der Eindruck großer Ungewissheit und die Vermutung, dass dies etwas mit anderen Disziplinen zu tun haben mag. Das führt in der Praxis dazu, dass man versucht, wahllos verschiedene Gruppierungen unterschiedlicher Disziplinen zusammenzuschließen – in der Hoffnung, dadurch Zugang zu Lösungen zu finden. Da jede der Disziplinen meist kaum den eigenen Tellerrand berührt, weil jede streng auf ihre Kompetenz achtet, sind die dafür aufgewendeten Mittel und Mühen meist vergebens. Auf diese Art zu hoffen, einen wissenschaftlich tragfähigeren Boden zu schaffen, kann so nicht gelingen. Der Mensch in seiner evolutionären Verfasstheit und Bindung wird nicht verstanden, weil man sich davor fürchtet, in den Evolutionismus zu verfallen, anstatt Evolutionstheorie und Evolutionäre Erkenntnistheorie (R. Riedl 2002) als brauchbare Werkzeuge zur Lösung anstehender Fragen einzusetzen. (So mangelhaft sie auch im Augenblich noch sein mögen – sie öffnen den Blick über die Disziplinen hinaus.) Auch die Physik kann, wie vorhin ausgeführt, dieses Phänomen nicht erklären, obwohl sie in allen realen Phänomenen unserer Welt wirksam ist, weil sie Emergenz und Historie wegen ihrer naturwissenschaftlichen Sicht nicht fassen kann. Naive Physiker wagen sich an das Verkehrssystem und die Stadt in dem Glauben, mit ihren Modellen deren Komplexität zu verstehen und damit zu beherrschen, ebenso wie jene Informatiker, die hoffen, durch noch feinere Modellierung dem Problem auf die Spur zu kommen, ohne sich die Finger mit empirischer Arbeit „schmutzig“ zu machen. Modelle sind ja nur Abbilder von Abbildern und können leider weder die fehlenden empirischen Daten ersetzen noch die wahren Beziehungen erkennen. Modelle noch mehr zu verfeinern, um die Realität abzubilden, ist ungefähr ebenso sinnvoll wie der Frage nachzugehen, wie hoch die Druckhöhe in einem Wasserkraftwerk sein soll, um es ohne Wasser zu betreiben. Die zentrale Frage nach der Causa finalis: Welche Stadt will man? Ein Kernproblem, das immer übersehen wird, besteht heute darin, dass in den Naturwissenschaften und damit auch im herkömmlichen Verkehrswesen die Causa finalis ausgeschlossen wird. Die Frage nach dem tieferen Zweck von Planungen und Verkehrslösungen wird nicht zugelassen. Es werden Fragen nach Verkehrslösungen gestellt, es soll der Wohnungsbedarf befriedigt oder die „Wettbewerbsfähigkeit“ gestärkt werden. So wird eine „Seestadt“ in Wien 20 Knoflacher, H. (2009): Virus Auto. Die Geschichte einer Zerstörung. Verlag Carl Ueberreuter, Wien.

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oder eine „Hafencity“ in Hamburg geplant mit dem Ergebnis, dass immer neue, nicht inte­ grierte Satelliten entstehen, denn das Investitionskapital ist ja nicht an befriedigenden städtebaulichen Lösungen interessiert, sondern an der raschen Rendite. Warum aber entsteht etwa dieser „wachsende Verkehrsbedarf“? Die Antwort: „Das Mobilitätsbedürfnis der Menschen steigt“, ist grundsätzlich falsch, denn das Mobilitätsbedürfnis der Menschen steigt keineswegs, was durch schlechte Siedlungsplanung steigt, ist der Aufwand für Mobilität. „Steht etwas verkehrt, entsteht Verkehr“, lautet die richtige volkstümliche Weisheit, die man in der modernen einschlägigen Planung noch nicht begriffen hat. Es kann ja wohl nicht die Aufgabe einer verantwortungsvollen Planung sein, den Aufwand zu erhöhen. Sie sollte die Mobilität mit minimalem Aufwand befriedigen – vor allem also zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Die Ursache für den Aufwand an mechanisch gestützter Mobilität liegt in der Zerstörung der kleinen Strukturen der Nähe und ihrer Vielfalt und in der zunehmenden Unordnung durch primitive geometrische Einfachheit sowie die damit verbundene Unwirtlichkeit der Siedlungen. (Die geometrische Einfachheit eines Ziegelhaufens wie auch einer rasterförmigen Blockbebauung schafft ja noch keine organische Ordnung einer lebendigen Stadt.) Man muss daher in der Frage nach der Zweckursache so tief gehen, wie die Eingriffe sind, die man durch die Planung tätigt. Abb. 22 Das einstige rege Sozial- und Geschäftsleben in den Straßen der Stadt ist durch das Auto ­vernichtet worden. Der einstige Lebensraum der Menschen wurde in Parkplatz und Fahrbahn umgewandelt.

Abb. 23 Das Sterben der Innenstadtgeschäfte ist eine Folge des durch das Auto hervorgerufenen Strukturwandels.

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Einfache Fragen – unbefriedigende Antworten „Weil man das, was man braucht, in der Nähe nicht mehr findet, muss man größere Distanzen zurücklegen.“ Also liegt das Problem in der Struktur. Warum aber größere Strukturen statt vieler kleinerer, intelligenterer, hierarchisch gegliederter? Weil größere Strukturen „effizienter“ sind, wie es die herkömmliche Ökonomie lehrt, die Economy of Scale. Wäre die Evolution diesem Muster gefolgt, gäbe es sowohl die Vielfalt der Lebewesen nicht – und mit Sicherheit auch nicht die kleinen Menschen. Diese sogenannte ökonomische „Theorie“ ist eine gefährliche Hirnkonstruktion, sozusagen eine Gedankenfalle wie viele andere auch, die an den Universitäten gelehrt werden und dann in der Praxis zu jenem Chaos beitragen, das den heutigen Städtebau und das Verkehrswesen kennzeichnet (Knoflacher).21 Warum sind aber größere Strukturen effizienter? Weil das Verkehrssystem hohe Geschwindigkeiten bis zu jedem Einzelelement zulässt, weil es zu billig ist, jenseits der Prinzipien des Universums operiert, ja selbst in einem Umfeld der sogenannten Marktwirtschaft dem Auto kostenlos Platz und fossile Energie fernab der dafür erforderlichen Preise zur Verfügung stellt. Die Kosten werden auch nicht den Verursachern angelastet, sondern sozialisiert, der Allgemeinheit und der Zukunft untergeschoben.22 Also wird daraus geschlossen, man müsse nur die Preise erhöhen, um das Problem zu beseitigen. Nur haben Preiserhöhungen bisher keine zufriedenstellende Wirkung gezeigt. Die logische Frage müsste daher lauten: Warum führen Preiserhöhungen nicht zu nachhaltigen Lösungen? Hier hilft uns die evolutionäre Erkenntnistheorie, die uns erkennen lässt, dass Preise und Geld nur Ausdrücke für Energie in sehr jungen Evolutionsschichten der menschlichen Gesellschaft sind. Deshalb sind sie auch chancenlos gegen tiefer liegende und physiologisch wirksame Strukturen, wie die heutige Organisation der Parkplätze.23 Damit kommt man aber wieder auf die Frage zurück, warum die Menge des Autoverkehrs steigt? Ein Systemkundiger kennt die Antwort, weil er weiß, dass dieser Zuwachs aus der reduzierten Mobilität der Fußgeher, Radfahrer oder dem öffentlichen Verkehr stammt. Diese finden nichts mehr in der Nähe, weil die Planung Ziel- und Quellpunkte dem Auto angepasst hat und die Siedlungsstrukturen nicht mehr menschliche sind. Der Autoverkehr in- und außerhalb der Siedlungen entstammt dem Verlust der Ziele in den Siedlungen. Damit gerät man bei der Beantwortung dieser Frage sofort in Widerspruch zur Raumplanung, die in ihren Zielen genau das Gegenteil dessen verlangt, was sie mit ihren Maßnahmen produziert. Schließlich landet man, ohne allzu viele Naturwissenschaften bemühen zu müssen, ohnehin bei der logischen Antwort, dass die Lösung im Endeffekt beim Menschen 21 Knoflacher, H. (1995): Economy of Scale – die Transportkosten und das Ökosystem. GAIA, 4. Jg., 2: 100–108. 22 Knoflacher, H. (1995): Economy of Scale – die Transportkosten und das Ökosystem. GAIA, 4. Jg., 2: 100–108. 23 Knoflacher, H. (2007): Grundlagen der Verkehrs- und Siedlungsplanung: Verkehrsplanung. Böhlau Verlag Wien – Köln – Weimar.

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ansetzen muss und man ihn mit Strukturen ausstatten muss, welche die Ursachen für den überhöhten Aufwand technischer Mobilität beseitigen. Jede Autofahrt mehr ist ein Fußweg, eine Fahrt mit dem Fahrrad oder öffentlichen Verkehr weniger. Jede Autofahrt mehr ist ein Maß für den Verlust an Urbanität. Oberflächliche Forschungsfragen statt Strukturlösungen Aktuelle Forschungsgebiete an der verkehrswissenschaftlichen Front sind derzeit „Lifestyle“, „Attitudes and Behaviour“ – also Lebensstile, Einstellungen und Verhalten. Dabei werden Daten nach allen Regeln der Kunst umgeschaufelt, „atomisiert“, analysiert, interpretiert und es wird überlegt, wie man das Verhalten ändern könne. Ganze Gruppen glauben, in diesen oberflächlichen Erscheinungsformen werde man, wenn man nur heftig an ihnen arbeitet, auch die Ursachen finden. Dem Thema „Stadtentwicklungspolitik“ ist das Heft 6/08 gewidmet. Unter deutscher Ratspräsidentschaft wurden 2007 die nationalen Stadtentwicklungsziele proklamiert. „Ziel ist eine Stärkung der Europäischen Stadt als nachhaltiges Stadtmodell, aber auch als soziales und kulturelles Konzept“, liest man. In 16 Beiträgen beschäftigen sich 23 Autoren mit verschiedenen Themen zur Stadtentwicklung und -politik. Nirgends findet man aber eine Klarstellung, für welches Lebewesen die Stadt eigentlich „entwickelt“ werden soll. Für den Menschen mit seiner Geschwindigkeit von 2 bis 4 km/h, < 0,1 PS, einer Masse zwischen 3 bis 150 kg (meist um 50 bis 80 kg) und einem Flächenbedarf von einem Bruchteil von 1 m2  beim Stehen und 1 bis maximal 3 m2  beim Gehen oder für das Wesen Autofahrer mit einer Geschwindigkeit von 50 km/h im Ortsgebiet, oft mehreren 100 PS, einer Masse von einer Tonne bis zu mehreren Tonnen und einem Flächenbedarf von 8 m2 allein beim Abstellen des Fahrzeuges und dem Vielfachen beim Fahren? Allein der Platzbedarf für dieses Wesen unterscheidet sich um mehrere Zehnerpotenzen vom Menschen und schließt die Gestaltung einer nachhaltigen Stadt aus. Aus keinem der Berichte dieses zeitgemäßen Dokuments ist zu entnehmen, dass man diesen fundamentalen Unterschied in seiner Bedeutung wahrgenommen, geschweige denn verstanden hat. Nun verhält sich jedes Lebewesen – und daher auch ein Mensch – in der Regel unter den gegebenen strukturellen Bedingungen eigennützig und intelligent im Rahmen seiner Wahrnehmung. Unter den gleichen gegebenen strukturellen Bedingungen verhalten sich (fast) alle in dieser Art und Weise. Das heißt aber, dass die Strukturen das Normalverhalten oder auch das „normale Fehlverhalten“ bestimmen, je nach Wertungsposition. Planung für mehr Freiheit Will man den oberen Schichten unserer Evolution, die ja das Menschsein bestimmen, wieder mehr Freiheiten einräumen, müssen die äußeren Strukturzwänge in den unteren Schichten aufgehoben werden. Dafür sind Planer und Planerinnen verantwortlich, weil die gebauten Strukturen so mächtig sind. Die Strukturzwänge im verbauten Gebiet entstanden vor allem 51

Evolutionäre Grundlagen

durch die Veränderung der öffentlichen Räume, die früher für langsame Geschwindigkeiten allgemein und in jeder Richtung uneingeschränkt nutzbar waren. Durch die Trennung von Gehsteigen (in römischer Zeit aus Entwässerungsgründen und wegen des Abfalls – und das auch nur in wenigen Straßen) und Fahrbahnen wurden die inneren Bindungen der Ortschaften zerschnitten und die Längsrichtung bevorzugt, sobald das Auto Einzug in die Siedlungsräume hielt. Es entstand eine physische Veränderung und diese kann man weder durch finanzielle noch psychologische oder soziale Maßnahmen kompensieren. Physische (bauliche) Veränderungen sind wieder nur durch physische (bauliche) Veränderungen zu beseitigen. Fundamentale Fehler, nicht nur in den baulichen Strukturen Bisher wurde der Schwerpunkt der Behandlung vor allem auf die bauliche Struktur gelegt, weil dieser auch maßgebend und entscheidend ist. Von ähnlicher Bedeutung allerdings ist auch die Finanzstruktur. Nicht minder bedeutungsvoll sind die Organisations- und Rechtsstruktur. Gut gemeinte Geldvergeudung Verkehrsfinanzierung wird weltweit auf der Ebene von Projekten und nicht auf der Ebene von Systemen betrieben. Nun beeinflusst aber jedes sektorale Verkehrsprojekt alle anderen Sektoren – unvermeidlich und zwingend –, auch die Siedlungsstrukturen und die Wirtschaft. Die Verkehrspolitik finanziert aber nach wie vor sektoral, ohne Rücksicht auf die Folgen in anderen Systemen. Es werden nach wie vor Straßen- oder Eisenbahnprojekte ­finanziert, ohne Rücksicht auf die Folgen für die Wirtschaft, die Siedlungen, den öffentlichen Verkehr oder auch den Flug- oder Schiffsverkehr, nicht aber Systemlösungen. Und schon gar nicht wird daran gedacht, mit Verkehrsfinanzierungsmitteln Strukturen zu verbessern, die außerhalb der Verkehrsanlagen liegen, aber die Ursache für Verkehrsprobleme bilden. Auch in der Weltbank wird so gedacht und gehandelt. Man stellt die falschen Fragen und bekommt daher die falschen Antworten auf den Umstand, dass nahezu jede Finanzierung mit einer Größe berechnet und begründet wird, die es im Verkehrssystem nicht gibt: die Zeiteinsparung durch Geschwindigkeit.24 Praktische Schlussfolgerung: Systemfinanzierung statt Projektfinanzierung Systemfinanzierung bedeutet etwas völlig anderes als die heute übliche Finanzierung von Projekten, nämlich die Bereitstellung von Kapital für die intelligenteste und beste Gesamtlösung. Dazu bräuchte man aber Indikatoren, die sich nicht nur an der Wirtschaft, sondern auch an der Ökologie, der Gesellschaft orientieren und nicht an symptomatischen Mengen eines mechanisch betriebenen Verkehrssektors. In der politischen Praxis werden bisher nahezu ausschließ24 Knoflacher, H. (2007): Grundlagen der Verkehrs- und Siedlungsplanung: Verkehrsplanung. Böhlau Verlag Wien – Köln – Weimar.

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Den Schichtenbau und die Wirkungen verstehen

lich Projekte abseits und weit unterhalb der Ebene verantwortungsvoller Planung finanziert. Die Fehler wurden, da unübersehbar, zumindest für größere Projekte längst nachgewiesen.25 In der Unzahl kleinerer Projekte wird aber genau das gleiche Prinzip angewandt. Täglich werden damit Unsummen vergeudet, die nicht weniger ausmachen als die der bekannten Großprojekte, keine Probleme lösen, sondern nur zusätzliche erzeugen und bestehende vergrößern. Seit diese Fehler unübersehbare Folgen zeigen, wird versucht, mit Worthülsen oder Scheinverfahren, wie etwa der sogenannten Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP), die ­Bevölkerung zu täuschen. Die systematische Irreführung der Bevölkerung erfolgt durch die Verwendung unwichtiger Indikatoren. Wichtige Effizienzindikatoren, wie • • • • •

minimaler Verbrauch natürlicher Flächen, minimierter Ressourcenverbrauch, maximale Chancen für die lokale Entwicklung, Vielfalt der möglichen wirtschaftlichen Entwicklungen, maximale Öffnung für das Spektrum zukünftiger Entwicklungen, bezogen auf den Geldeinsatz,

werden gezielt ausgeklammert. Dass man gar die wahren Ursachen der Verkehrsprobleme, die meist außerhalb des Verkehrsgeschehens liegen, bei der Finanzierung berücksichtigt, liegt derzeit noch außerhalb der politischen Vorstellungen auf nationaler, noch mehr auf internationaler Ebene. Um planerische Grundlagen für eine solide städtebauliche und verkehrspolitische Entscheidung zu sparen, werden stattdessen auf Annahmen oder Schlagworten beruhende politische Programme beschlossen. Sehr häufig dienen diese nur als Verpackungen für die Wünsche der einschlägigen Lobbys, die ihre Macht aus der vorhandenen Fehlentwicklung beziehen. Eine solide Abschätzung der Folgewirkungen fehlt meist grundsätzlich. Das entstandene verkehrspolitische und städtebauliche Vakuum wird von diesen gut organisierten Lobbys mit Erfolg besetzt. Sie sorgen dann für die sogenannten „Sachzwänge“ der Entscheidungsträger. Auf allen Ebenen versuchen dann „Investoren“, Banken und die Bauindustrie, Geld der Öffentlichen Hand zu ihrem Vorteil zu nutzen. Sie bilden so den bekannten Komplex aus Industrie, Finanzen und Politik, vor dem schon Präsident Eisenhower 1961 gewarnt hat, dass er das Leben auf unserem Planeten bedrohte.26 25 Flyvbjerg, B. / Bruzelius, N. / Rothengatter, W. (2003): Megaprojects and Risk. An Anatomy of Ambition. Cambridge University Press, Cambridge. 26 Eisenhower’s Farewell Address to the Nation (January 17, 1961): “This conjunction of an immense military establishment and a large arms industry is new in the American experience. The total influence – economic, political, even spiritual – is felt in every city, every Statehouse, every office of the Federal government. We r­ ecognize the imperative need for this development. Yet we must not fail to comprehend its grave

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Evolutionäre Grundlagen

Die soziale Unausgewogenheit dieser Projekte ist charakterisiert durch die Vernachlässigung der Bedürfnisse der Kinder und Alten, der zukünftigen Generationen – und damit verstoßen diese Projekte auch gegen elementare demokratische Prinzipien. Immer mehr Bürger beginnen sich daher heute gegen diese Willkür zu wehren, aber auch die vorherrschende Planungs- und Baupraxis sind Verstöße gegen die stille Mehrheit, wenn öffentliche Mittel in suboptimale Projekte fließen und das Geld für notwendige und sinnvolle Projekte fehlt.

4.9 Vom Schichtenbau zum Systemverständnis Bisher haben wir versucht, nach dem anschaulichen Modell von Riedl den Schichtenbau so darzustellen, dass die komplexen Prozesse, in die wir durch unsere Planungen eingreifen, besser verstanden werden. Dargestellt wurde in den bisherigen Abbildungen aber ­lediglich der Aufbau „von unten“. Tatsächlich findet aber Evolution immer als Einpassung einer neuen Zwischenschicht zwischen oben und unten statt. Der Kosmos, die Galaxien, das Sonnen­system, die Planeten, die Biosphäre, der Lebensraum sind ebenso vorhanden wie Atome, Moleküle, Gewebe und Organe. Zwischen diesen entstanden Individuen, Gruppen, Zivilisationen und Kulturen. In unserem Schema, der Entwicklung der Formursachen, hat Rupert Riedl dies in zweidimensionaler Form anschaulich dargestellt. Jede neue Siedlung, will sie Bestand haben, muss daher als jüngste Zwischenschicht optimal, also harmonisch, in die Unter- und Oberschichten eingepasst werden – ein aufwändiger Prozess. Dafür braucht es Zeit. Früher erfolgte dies zwangsläufig, denn die Unterschicht, die Bürger, das Material und die begrenzt verfügbare lokale Energie zwangen dazu, sich in die Bedingungen der Oberschichten, die Umgebung, die Landschaft, das Klima und die städtische Gemeinschaft mit den vorhandenen Ressourcen optimal einzupassen. Mit der Verfügbarkeit billiger, leicht verfügbarer fossiler Energie in den beiden vergangenen Jahrhunderten glaubte man (und manche glauben es noch immer), sich dieser Verpflichtung entziehen oder sich über sie hinwegsetzen zu können. Siedlungen wurden und werden ohne Rücksicht auf Unterschichten, wie bestehende Gemeinschaften, lokales Material etc., und Oberschichten, wie Klima, Landschaft, bereits vorhandene Siedlungen, geplant und gebaut. Die „Freiheit“ für Planer, Politiker und Investoren ist dank billiger und schneller Verkehrsmittel nahezu greni­mplications. Our toil, resources and livelihood are all involved; so is the very structure of our society. In the councils of government, we must guard against the acquisition of unwarranted influence, whether sought or unsought, by the military-industrial complex. The potential for the disastrous rise of misplaced power exists and will persist. We must never let the weight of this combination endanger our liberties or democratic processes. We should take nothing for granted. Only an alert and knowledgeable citizenry can compel the proper meshing of the huge industrial and military machinery of defense with our peaceful methods and goals, so that security and liberty may prosper together.”

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Vom Schichtenbau zum Systemverständnis

zenlos geworden. Fachliche Qualifikation, Verantwortungsbewusstsein und Verantwortlichkeit bleiben in diesem Feld der Willkür und der Diktatur kurzfristiger Gewinne auf der Strecke. Unterstützt wird dies noch von neuen Disziplinen, die dieser Entwicklung einen „fachlichen“ Anstrich verleihen, wie der Raumplanung, die im Wesentlichen in ihrer praktischen Tätigkeit eine Raumzerstörung betreibt, wie sie zuvor nie möglich war. Diese Arroganz im Städtebau und Verkehrswesen resultiert aber auch aus der Unbescheidenheit der Individuen, ihrer grenzenlosen Ansprüche, die fossile Energie kurzfristig zu erfüllen scheint. Fehlendes Systemverständnis, zeitliche und räumliche Verschiebung der Folgen dieses verantwortungslosen Handelns gehen damit Hand in Hand. Zusammenbrüche sind daher unvermeidbar. Zerstörung der Städte und Siedlungen Das Ganze hat seine innere Logik und ist in der Ausbildung durch die Trennung von Disziplinen zu einem wirksamen System entwickelt worden, das durch folgende Mechanismen zu kennzeichnen ist: • Die Regierungen beschließen Raumordnungsgesetze mit durchaus richtigen Zielen, die bei sachkundiger Umsetzung nachhaltige, lebensfähige Siedlungen schaffen würden. ­Dadurch entsteht der Eindruck, man würde auch danach handeln. • Die Bauordnungen enthalten aber Bestimmungen, die Maßnahmen diametral zu den Zielen nicht nur zulassen, sondern im Regelfall sogar erzwingen, wie etwa die Parkraumordnung oder die Breiten der Verkehrsflächen. • Die auf Funktionstrennung erzogenen Vertreter der Raumplanung setzen sich grundsätzlich über die Ziele hinweg und zerteilen die Siedlung durch monochromatisches ­Anfärben von Katasterplänen in Einzelfunktionen, wie Wohnen, Gewerbe-, Grünflächen etc. Dies fällt noch nicht unmittelbar auf, weil durch billige fossile Energie für Mobilität die Bewohner diese Fehler – noch – kompensieren können. In lebensfähigen Städten und Dörfern sind diese Funktionen immer in unmittelbarer Nähe, ineinander verwoben und bilden die Komplexität des Dorfes, der Stadt. Das Kennzeichen ist ein Minimum externer Energie für Mobilität, das Ergebnis in der Praxis die bunte lebendige Vielfalt urbanen Lebens. Würde man sie farblich darstellen, ergäbe dies wegen der vielen Farben übereinander eine graue Fläche. Die Raumplanung und der Städtebau aber erzeugen mit bunten Plänen eine graue, eintönige Realität. • Durch die Flächenwidmung werden die zusammenhängenden Funktionen getrennt und damit wird die Voraussetzung für zusammenhanglose Objekte geschaffen – die ideale Voraussetzung für die auf das von der Umwelt und der Stadt losgelöste Objekt dressierten Architekten, die der Komplexität Stadt in der Regel verständnislos gegenüberstehen. • Die durch die Funktionstrennung ausgelöste Fernmobilität ist aber auch der ideale Ansatzpunkt für Verkehrsingenieure, die nur gelernt haben, den „Verkehrsbedarf “ zu befriedigen, 55

Evolutionäre Grundlagen

Alter der Schichten und der Form-Ursachen in Jahren Kosmos Galaxie Sonnensystem Planet Biosphäre Lebensraum Kultur Zivilisation Gruppe Handlung, Vorstellung Individuum, Organismus Organ Gewebe Zelle Zellstruktur Biomoleküle Moleküle Atome Quanten (der Teil)

Abb. 24 Zweidimensionale Darstellung der Evolutionsschichten (aus RIEDL, R., 1985). Alles Neue, also auch jede Siedlung, entsteht als Zwischenschicht und hat auf Dauer nur Bestand, wenn sie sich optimal in die Ober- und Unterschichten integriert.

• • • •

den „Verkehrsfluss“ zu optimieren und so schnell und reibungslos zu organisieren wie nur möglich. Die steigende Zahl der Fahrten halten sie dann für eine Bestätigung der Richtig­keit und Wichtigkeit ihrer Tätigkeit. Dass sie gemeinsam die Ursache des Problems sind, will keiner der Beteiligten erkennen oder zugeben. Ziele in beiden Disziplinen werden, wenn überhaupt, aus den Symptomen, also von ­innen, abgeleitet, externe, wie vorhin angeführt, nicht beachtet. Die Causa finalis bleibt außen vor. Die Politik beschließt in der Folge Maßnahmen, ohne jemals nach der Erfüllung der Ziele zu fragen, die sie selbst in Gesetzen beschlossen hat. Und so wird eine Siedlung nach der anderen verplant und verbaut. Das Sterben der Städte und Siedlungen kann man an dem Fehlen der Fußgeher und Radfahrer erkennen (beide Verkehrsarten wurden aber kaum, wenn überhaupt, wahrgenommen und finanziell daher auch nicht berücksichtigt), das Sterben der Regionen an der Abwanderung und Konzentration in Ballungsräumen.

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Vom Schichtenbau zum Systemverständnis

Abb. 25 Eine tief liegende Ursache kann sich in einer Fülle von Wirkungen in den Oberschichten bemerkbar machen.

Dass eine so entstandene Siedlung als „Zwischenschicht“ weder nach unten noch nach oben eingepasst ist, ist nicht verwunderlich. Sie wird, ohne dass man es erkannt hat, zur Quelle einer Fülle von Problemen für die Natur und die Gesellschaft. Mit den neuen technischen und industriellen Möglichkeiten wird aber nicht nur eine neue Zwischenschicht durch die geplante Siedlung geschaffen, es wird dabei viel tiefer als je zuvor in benachbarte Schichten eingegriffen. Der Eingriff erfolgt nicht nur nach außen, etwa durch den Fahrbahnbau, sondern auch tief in den inneren Evolutionsschichten des Menschen. Wird eine Unterschicht „gestört“ oder so beeinflusst, dass ein höheres Maß an Bequemlichkeit entsteht (geringerer Energieaufwand bei gleichem individuellem Nutzen oder größerer individueller Nutzen bei gleichem Energieaufwand), beginnt sich das darüberliegende Gebäude der Oberschichten dem neuen Zustand anzupassen. Dabei können sich auch immer stärkere Differenzierungen ergeben, die dann auf den verschiedenen darüberliegenden Ebenen ein breites Spektrum unterschiedlicher Wirkungen sichtbar werden lassen. Diese geben dann ausreichend Anlass zu vermehrten Bemühungen, diese zu „erforschen“, ohne aber dabei auf die tiefer liegenden Ursachen zu stoßen. Wie dies eben in den Disziplinen, die auch schichtenweise aufeinander (nebeneinander) liegen, üblich war und ist. 57

Evolutionäre Grundlagen

Politik

Politologie

Gesellschaften

Ökonomie

Familien

Soziologie

Individuen

Psychologie Medizin Zoologie

Psycholog. Anlagen Physiologische Konditionen

Biologie

fließen von Energie + Info

Chemie Physik

Energie Abb. 26 Schichtenbau der Evolution mit Eintragung einer Auswahl von Disziplinen, nach Riedl.

In den verschiedenen „wissenschaftlichen“ Disziplinen nimmt man vor allem Veränderung in der eigenen Schicht wahr, nicht aber die Ursachen, wenn sie aus anderen, oft entfernten Schichten (Disziplinen) stammen. Noch schwieriger zu verstehen wird es, wenn – wie beim Auto – diese Symptome aus den tiefsten Schichten unseres Seins stammen, wo sie niemand vermutet. Diese Irritation aus der uralten Schicht der Körperenergie ruft zwangsläufig in den vielen Disziplinen, in deren Schicht Wirkungen auftreten, großes Interesse hervor. Und so wird versucht, diese Phänomene aus der jeweiligen Schicht (Disziplin) heraus zu erklären oder gar Lösungen vorzuschlagen. Man bedenke nur die jahrzehntelangen Versuche des herkömmlichen Verkehrswesens, Probleme im Fließverkehr zu lösen, da man nicht erkannte, dass der Fließverkehr nur ein Symptom mangelhafter Organisation im Parkraum und der Raumordnung war und ist.27 Oder die Vorschläge der Stadt- und Siedlungsplaner, eine „Stadt der kurzen Wege“ zu schaffen, ohne das Auto aus ihr zu entfernen.

27 Knoflacher, H. (2007): Grundlagen der Verkehrs- und Siedlungsplanung: Verkehrsplanung. Böhlau Verlag Wien – Köln – Weimar.

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Vom Schichtenbau zum Systemverständnis

Abb. 27 Unterschiedliche Entwicklungspfade sind die Folge der Verschiebungen auf tiefen Schichten der Evolution.

Plausible Erklärungen statt Kenntnis der Ursachen Die Oberschichten, in denen Moral, Ethik, Gesellschaftsformen und Kultur entstanden, werden durch eine Störung auf tiefen Evolutionsschichten, die dort positiv rückgekoppelt wird, „ausgehebelt“ oder im Sinne dieser Störung „umgepolt“. Es entstehen Wirkungen, die – kennt man die Ursachen nicht – zu keiner befriedigenden Erklärung führen, die eine verantwortliche Lösung zulässt. Dies ist dann der Humus, auf dem die plausiblen Erklärungen wachsen. Die Gesellschaft steht plötzlich einer Fülle verwirrender, scheinbar völlig unabhängiger Probleme gegenüber, denen sie in der Politik, aber auch in den Wissenschaften bisher verständnislos begegnet, weil die Längsschnittbetrachtung, wie sie die evolutionäre Erkenntnistheorie bietet, fehlt. Familienstrukturen brechen auf, Gesellschaftsstrukturen verändern sich, Probleme der allgemeinen Sicherheit entstehen, internationale Kriminalität und Drogenhandel weiten sich aus, die lokalen Arbeitsplätze verschwinden, menschliche Isolierung entsteht. In der Wirtschaft wird die Globalisierungsworthülse verwendet, ohne zu bemerken, dass diese „Globalisierung“ auch als Auto, als Falle, vor der Tür steht. Für diese Phänomene scheint man keinen direkten Zusammenhang zum technischen Verkehrssystem und den Siedlungsstrukturen herstellen zu können, da sich die Wirkungen zum Teil so stark überschneiden, dass ähnliche Phänomene auch ohne dieses auftreten könnten. Hinzu kommt, dass der individuelle Nutzen des Autos so evident erscheint, dass man gar nicht 59

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merkt, in welche Falle man geraten ist. Zwar waren Soziologen die ersten, die versuchten, diesem Phänomen auf die Spur zu kommen. Waren Mitscherlich oder Jacobs noch um die Lösung bemüht, scheint man sich aber heute mit eher oberflächlichen Beschreibungen zu begnügen. Was ist Doxa? „Die Eigenlogik der Städte“ nennt sich eine Publikation zur Stadtforschung, die Ergebnisse eines „Rundgesprächs“ in Darmstadt 2007 dokumentiert. In elf Beiträgen werden verschiedene Zugänge zur Stadt, ihrem „Habitus“, ihrem „Gang“, ihren „Wissenslandschaften“ gesucht. Beteiligt waren neben Sozialwissenschaftern Vertreter der europäischen Ethnologie, Geografen, Geschichtswissenschafter, Ökonomen, Sportwissenschafter und Philosophen. Aus der hier vorgestellten Sicht ist das nahezu verzweifelte Ringen um das Verständnis der Wirkungen aus anderen Schichten der Evolution interessant, ja teilweise skurril. Zum Begriff „Doxa“ liest man: „In der sozialphänologischen Theorientradition bezeichnet Doxa jene auf Fraglosigkeit und Vertrautheit basierende natürliche Einstellung zur Welt, die mich praktisch mit den Prinzipien des Handelns, Urteilens und Bewertens versorgt.“ Rupert Riedl hätte das der ratiomorphen Ebene zugeordnet und sicher gewusst, dass auch alle früheren und älteren Schichten dafür sorgen, dass der hier beschriebene Eindruck entsteht. Die Beiträge gehen von einer Stadt aus, ohne auf ihre und die evolutionäre Vergangenheit ihrer Bewohner Rücksicht zu nehmen. Mit großer Wahrscheinlichkeit bestanden aber schon lange Zeit vor den Städten Dörfer oder dorfähnliche Siedlungen. Viele der hier behandelten Fragen wären vermutlich besser verständlich darzustellen, hätte man diese Vorläufer der Stadt berücksichtigt. Die durch Emergenz entstehenden neuen Eigenschaften, über die gerätselt wird, die in den Vorläufern nicht manifestiert sind, können damit besser erkannt werden. In dörflichen Strukturen kannte man seit jeher den „Habitus des Dorfes“, ja selbst den ganzer Regionen, wie dies nicht nur in den Alpen immer noch der Fall ist, und kann daher auch von einer „Eigenlogik eines Dorfes“ sprechen. (Nicht wenige Raufhändel in Wirtshäusern liefern dazu schlagende Beweise.) In diesen kleineren Einheiten sind die Gemeinsamkeiten aller Dörfer wie auch die spezifischen Unterschiede leichter nachweisbar als der krampfhafte Versuch, diese in den Städten auffinden zu müssen. Diese methodischen Voraussetzungen als Unterbauten hätten den Zugang zum Verständnis der Komplexität der Stadt erleichtert, fehlen aber in diesen Arbeiten. Diese Broschüre zeigt eindrucksvoll das Problem der Reduktion der Längs­ schnittwirkungen auf eine Querschnittsbetrachtung. Neues Verständnis für die Planer Eine wichtige Aufgabe der Planer besteht heute darin, das Verständnis sowohl für den Menschen als auch die Menschen in ihrer Vernetzung mit den Grundlagen des Lebens zu ent60

Vom Schichtenbau zum Systemverständnis

wickeln und zu schärfen. Ein zusätzliches Instrument bietet uns der Philosoph Ken Wilber28. Aus einem anderen Gebiet als Riedl kommend, liefert er eine für die Verkehrs- und Siedlungsplanung nicht nur gedankliche, sondern auch anschauliche formale Struktur. Er verwendet dazu vier Quadranten, vertikal getrennt nach „innen“ und „außen“, horizontal geteilt in „individuell“ und „sozial/kommunal“. Da wir mit der Planung in diese Bereiche eingreifen, ist sein Ansatz deshalb wichtig, weil er uns hilft, das durch unsere Maßnahmen gestörte Gleichgewicht zwischen Technik und den Menschen sowie ihrer Gesellschaft besser zu erkennen und zu berücksichtigen.

Abb. 28 Ken Wilber liefert mit diesen vier Quadranten eine anschauliche Darstellung für das Verständnis der Wechselbeziehungen zwischen innen und außen, objektiv und subjektiv, individuell und sozial (aus WILBER, K., 1997).

Oben links werden die innerlich-individuellen Vorgänge und Entwicklungen beschrieben, oben rechts die äußerlich-individuell stattfindenden Vorgänge. Innen und außen beziehen sich bei Wilber auf den Begriff „Holon“. Damit wird eine Entität bezeichnet, die selbst ein Ganzes und gleichzeitig Teil eines Ganzen ist (bei Riedl als Evolutionsschicht benannt). 28 Wilber, K. (1997): Eine kurze Geschichte des Kosmos. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main.

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Evolutionäre Grundlagen

Wenn wir die Dinge, die uns umgeben, einschließlich uns selbst und aller Prozesse betrachten, wird sofort klar, dass sie nicht nur Ganzes sind, sondern auch Teile von etwas anderem. Sie sind Ganze/Teile, Holone. So ist ein Atom Teil eines ganzen Moleküls, das ganze Molekül ist Teil der ganzen Zelle, die ganze Zelle ist Teil eines ganzen Organismus usw. Jede dieser Entitäten ist weder ein Ganzes noch ein Teil allein, sondern ein Ganzes/Teil, ein Holon. Dieses geistige Modell liefert gerade für die Verkehrs- und Siedlungsplanung, seitdem wir wissen, wie stark technische Verkehrssysteme die Grundstruktur des Menschen und damit seine gesamten Oberschichten verändern, ein wichtiges Werkzeug zum Verständnis dessen, was wir tun. Diese vier Quadranten spannen auf der jeweiligen Ebene ein Holon auf. Ken Wilber hat hier jeweils 13 Ebenen vereinfacht schematisch dargestellt, die sich in zweidimensionaler Form, allerdings nur Teile dieser vier Quadranten umfassend, auch bei Rupert Riedl finden.29 Die innerlich-individuellen sowie die innerlich-sozial-kulturellen Ebenen werden bei Rupert Riedl etwas komplizierter beschrieben, in der von Ken Wilber geschaffenen Darstellung sind sie für unsere Zwecke vielleicht besser zugänglich. Die rechte Seite ist das Gebiet der Naturwissenschaften. Es ist die objektivierbare Seite der Welt, eine, die man mit „Es“ beschreiben kann. Die linke Seite erfordert die Kommunikation und Interpretation, die Auseinandersetzung mit dem Individuum der Gesellschaft und auch der Stadt als Organismus. Das individuelle Empfinden, Denken kann nur mit „Ich“ beschrieben werden und die Beziehungen mit „Wir“. Wir leben heute in einer Zeit des „Es“, der Spätphase der Aufklärung mit ihrer Einschränkung auf Rationalität. Jeder Eingriff in einen der vier Quadranten wirkt auf alle anderen drei und von dort auch wieder zurück. Weiterentwicklung kann daher nur und erst dann stattfinden, wenn in allen vier Quadranten die gleiche Ebene erreicht ist. Erfolgt die Entwicklung nur in einem Quadranten, wie die Technik seit der Neuzeit, bleiben die anderen drei zurück. Es kommt zur Schieflage und zu folgenschweren Verfälschungen. Auch herkömmlicher Städtebau und Verkehrswesen, die sich nur mit einem Teilbereich aus dem rechten unteren Quadranten beschäftigten, haben darauf bisher überhaupt nicht geachtet. Das Weltbild der traditionellen physischen Verkehrs- und Siedlungsplaner ist daher nur ein Fragment der Realität. Dessen unbewusst, greifen sie in diese Realität durch technische Maßnahmen bedenkenlos ein, weil sie ja die Auswirkungen ihrer Maßnahmen auf die Realität nicht kennen und daher glauben, diese nicht verantworten zu müssen. Diese Eingriffe lösen aber Wirkungen in allen anderen Quadranten aus. Ebenso wirkt ein Eingriff in die baulichen Strukturen oder Finanzstrukturen auch auf den unteren linken Teil, auf die Gesellschaft und von dort wieder zurück auf die Individuen. 29 Riedl hat in seinem wohl wichtigsten Buch „Struktur der Komplexität“ die Darstellungsform weiterentwickelt und geht nicht nur gedanklich mit Wilber konform, sondern darüber hinaus.

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Vom Schichtenbau zum Systemverständnis

Abb. 29 Wirkungen des Autos, eines Produkts der Industriegesellschaft, auf die tiefen Schichten von Individuen und Gesellschaft (Basisdiagramm aus WILBER, K., 1997).

Im Verkehr wirkt das Auto als Produkt der Industriegesellschaft auf die neuronale Organisation unseres Körpers (wenn nicht schon auf ältere Schichten). Von dort ausgehend werden alle Schichten oberhalb der Schicht 5 im oberen linken Teil, also Empfindungen, Wahrnehmungen, Impulse, Emotionen, Symbole, Begriffe usw., beeinflusst und verändert. Die Industriegesellschaft erzeugt mit ihren Eingriffen durch die Veränderung der physischen Umwelt, etwa den Verkehrsbereich oder die Kommunikationstechnologie, sei es Telefon, Internet oder Fernsehen, Wirkungen auf die soziale und kulturelle Struktur der Gesellschaft. Der Umgang mit diesen technischen Innovationen ist keineswegs nur rational, sondern durchaus mythisch, magisch, archaisch oder gar noch in tiefere Schichten gehend, und daraus entsteht wieder die Rückwirkung auf die Empfindung und Wahrnehmung. Eingriffe können die Menschheitsentwicklung fördern, behindern, aber auch gefährden. Damit Letzteres vermieden wird, müssen alle vier Quadranten auf der gleichen Ebene beachtet und gesichert werden. Wir sind daher gezwungen, die Wirkungen unserer Planungsmaßnahmen, bevor sie realisiert werden, in diese vier Richtungen hin abzuschätzen und zu verantworten. 63

Evolutionäre Grundlagen

Am Beispiel des Nullenergiehauses, das heute als Einzelobjekt verstanden wird, kann man die städtebaulichen und verkehrlichen Defizite anhand des Diagrammes darstellen. Selbst wenn es so konstruiert ist, dass es mehr Energie abgibt, als es im Betrieb benötigt, erfüllt es noch lange nicht die sozialen Bedingungen eines städtischen Gebäudes. Ebenso wenig die Eingliederung in die Natur, wenn seine örtliche Lage und innere Funktionen Mängel aufweisen, die nicht in der fußläufigen Nähe kompensiert werden. Egoistische Befriedigung bedeutet noch keine soziale, kulturelle oder auch ästhetisch befriedigende Integration in den Organismus einer Siedlung oder Stadt. Es fehlt die Erfüllung der adäquaten Bedingungen in drei Quadranten. Das Innere des Individuums auf der linken Seite kann nur durch Befragung, nicht aber durch naturwissenschaftliche Untersuchung festgestellt werden, es ist individuell und daher nicht objektivierbar. Damit kommen wir in den Bereich von Rechten und Pflichten der ­Planer und Entscheidungsträger.

4.10 Rechte und Pflichten der Planer und Entscheidungsträger Planung ist ein Vorrecht qualifizierter Fachleute. Dieses beruht auf der Annahme, dass diese das System, in das sie eingreifen, kennen und ihrer Aufgabe sowohl fachlich als auch ethisch gewachsen sind. In keiner der bisherigen Ausbildungen werden aber die Grundlagen zum Verständnis von Recht und Pflicht in einer Form vermittelt, dass sie den Eingriffen verantwortungsvoll Rechnung tragen können. Natürlich werden Verkehrs-, Bau-, Raumplanungsrecht gelehrt. Das Recht bezieht sich aber, wenn überhaupt, nur auf den rechten unteren Teil des Quadranten in Abb. 28 und wird von Normen, Vorschriften und Verordnungen geregelt, die aber die übergeordneten Ziele selbst dieser Rechte oft nicht mehr beachten. Technische und Planungsnormen gehen außerdem meist davon aus, dass sich individuelles ebenso wie gesellschaftliches Verhalten der Technik anpassen oder anzupassen haben. Man denke nur an die Straßenverkehrsordnung, die das Wertesystem einer gewissen Zeitperiode unserer Gesellschaft widerspiegelt und im Wesentlichen immer noch eine Privilegienordnung für Autofahrer ist, der sich die Menschen, die ja Fußgeher sind, unterzuordnen haben, ebenso wie die Stadt, der lebensnotwendige Flächen durch die Vorschrift entzogen werden. Dem Techniker im Verkehrswesen und noch mehr in der Raum- oder Siedlungsplanung wird gelehrt, Normen und Richtlinien seiner Zunft so anzuwenden, als würde es sich um die Behandlung eines Stoffes handeln. Dabei wird vergessen, dass er ja in den Lebensraum von Lebewesen und vor allem Menschen eingreift und daher auch für die daraus entstehenden Verhaltensänderungen sowohl des Einzelnen als auch der Gesellschaft die Verantwortung, auch die soziale, zu übernehmen hat. Ändert er Strukturen, ändert er das Verhalten – aber 64

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davon hat er nichts erfahren(, dass das „Material“, mit dem er sich zu beschäftigen hätte – der Mensch und die Menschen –, mindestens genauso lernfähig und intelligent ist wie er selbst oder seine Lehrer). Dass die Tätigkeit immer vor dem Hintergrund eines Wertesystems stattfindet, wird in der Lehre und Praxis nicht bewusst gemacht. Die von manchen vertretene Auffassung, Wissenschaft wäre „wertfrei“, ist ein Beweis für diesen Bewusstseinsmangel. Werte sind auch nicht willkürlich, wie manche Planer behaupten. Werte haben eine Wertehierarchie, die zu beachten ist, will man nicht verheerende Fehler begehen und etwa Sekundär- oder Tertiärwerte mit Primärwerten des Lebens verwechseln, wie in der herkömmlichen Verkehrs- und Siedlungsplanung üblich. „Leichtigkeit, Flüssigkeit und Sicherheit des Verkehrs“ (nahezu immer ist der Autoverkehr gemeint) werden höher gewertet als die Gesundheit der Menschen in der Umgebung oder die Erhaltung der Lebensgrundlagen, lebenserhaltendes Grünland gegenüber versiegeltem Boden abgewertet usw. Grundwerte, intrinsische und extrinsische Werte – Ethik und Moral Beziehen wir uns auf den Begriff des Holons – gleichgültig, wer oder was das ist, ein Mensch, ein Lebewesen, ein Gegenstand – dann hat jedes seinen sogenannten Grundwert. Dieser Grundwert ist unabhängig von der jeweiligen Entwicklungsstufe und muss grundsätzlich respektiert werden, will man diesen Gegenstand – dieses Lebewesen, diese Gesellschaftsstruktur, die Stadt etc. – erhalten. Dieser Grundwert ist bei einem Atom genauso groß wie bei einer Karotte, einer Katze, einem Menschen, einem Dorf oder einer Stadt. In einem Molekül bleibt der Grundwert der Atome trotz ihrer Bindungen erhalten. Zerfällt das Molekül, bleibt dieser Grundwert bestehen. Der intrinsische oder innere Wert der jeweiligen Entität ist hingegen abhängig von seiner Entwicklungsstufe. Nach den Darstellungen von R. Riedl ist er daher schichtspezifisch. Je größer die Tiefe, also je höher die evolutionäre Entwicklung ist, umso höher sein intrinsischer Wert. Man erkennt dies am besten, wenn man den intrinsischen Wert eines Gegenstandes zerstören will, anhand des bekannten Beispiels: Auf einem Tisch liegen ein Krautkopf, ein Regenwurm, eine Maus, ein Affe und ein Kleinkind. Der intrinsische Wert ist proportional zur Hemmschwelle eines normal entwickelten Menschen und seinem Wertverständnis. Im Allgemeinen wird ein Mensch keine Hemmungen haben, den Krautkopf zu zerschneiden, aber bereits beim Regenwurm werden sich die Geister scheiden und jemand, der auch nur im Entferntesten daran denkt, ein Kind zu zerteilen, kann von der menschlichen Gesellschaft nicht akzeptiert werden. Auf der Ebene eines Krokodilhirns ist diese Art von intrinsischem Wert noch nicht manifest. Plant man Siedlungen und Verkehrsanlagen für das Auto in einer Art und Weise, dass Kinder gefährdet oder getötet werden können, dann weiß man, welches Hirn solche Planer haben. In der Planung müssen wir daher bei allen Eingriffen, weil wir ja die Lebensräume und damit die Lebewesen beeinflussen, dem fundamentalen Prinzip der Evolution folgend, im65

Evolutionäre Grundlagen

mer jene Lösungen wählen, die den geringsten zerstörenden Effekt auf die vorhandenen intrinsischen Werte – aller Lebewesen, aller Strukturen – haben. Der extrinsische Wert ist der Wert, den ein Gegenstand oder ein Wesen für die Umgebung hat. Etwa der Wert des Menschen für eine Gesellschaft, der Wert des Regenwurmes für die Pflanzen, für die Nahrungskette, der Wert des Baumes für den Wald, die Menschen usw. Der extrinsische Wert ist die Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft, das Einpassen der Teile in das Ganze. (Nach den Kausalitäten von Aristoteles ist es das Zusammenpassen der Causa finalis mit der Causa efficiens.) In der menschlichen Gesellschaft ist der Begriff der Ethik entstanden, der Ort der gefundenen Harmonie, der optimalen Einpassung in die Umwelt, die Mitwelt, eine Größe, die eine Kultur kennzeichnet. Jede Art von physischer Veränderung unserer Umwelt als Folge der Planung bewirkt Verschiebungen intrinsischer und extrinsischer Werte und ist damit zwangsläufig zentral eine Frage von Moral und Ethik. Für die Erhöhung extrinsischer Werte muss immer eine gewisse Einschränkung intrinsischer Werte (Freiheiten) in Kauf genommen werden. Atome in einem Molekül haben die Freiheit ungebundener Atome nicht, aber aus ihrem Beitrag zur Schaffung der Möglichkeiten, die Moleküle haben, entsteht deren ungleich höhere Vielfalt und schafft damit die Möglichkeiten zur Weiterentwicklung. Es entsteht das, was wir als höhere Ordnung bezeichnen – Vielfalt und Fülle, die Evolution in und mit ihrer Komplexität, in deren Prinzipien sich auch die Siedlungen einzufügen haben. Durch diese Bindungen entstehen auch völlig neue Eigenschaften, die in den Einzelteilen nicht vorhanden sind, Emergenz passiert. Wir haben daher in jedem Einzelfall den Verlust intrinsischer Werte mit dem Gewinn ex­ trinsischer Werte abzuwägen. Maßnahmen, bei denen beide verletzt und verringert werden, sind zu vermeiden. Das ist nicht immer so einfach, denn der Wert eines Wesens auf niedriger evolutionärer Ebene muss nicht immer dem einer höheren untergeordnet sein. Am Beispiel von 10 Affen und Al Capone versucht Ken Wilber, dieses Dilemma aufzulösen, wenn der Autor die Wahl hat, entweder 10 Affen oder Al Capone zu töten, dann entscheidet er sich für Al Capone, obwohl dieser zwar einen höheren intrinsischen Wert hat, aber offensichtlich durch seine Handlungen seinen extrinsischen Wert verloren hat. (Was macht man aber mit einem Affen und einem Planer, der Anlagen oder Geräte baut, die den Tod von mehr Menschen zur Folge haben, als Al Capone auf dem Gewissen hatte?) Kein Planer hat das Recht, die Grundwerte der Menschen zu verletzen. Grundwerte der Menschen sind das Recht auf reine Luft, das Recht auf Sicherheit des Lebens, das Recht auf Ruhe bei Nacht, das Recht auf Hoffnung, das Recht auf Gesundheit, Nahrung und Freiheit der Bewegung und ungezwungener, ungefährdeter Sozialkontakte. PlanerInnen sind verpflichtet, die intrinsischen Werte bei ihren Eingriffen im maximalen Ausmaß zu schonen. Sie haben die Verpflichtung, bei allen Planungen nicht nur in einem, sondern in allen vier Quadranten den Nachweis extrinsischer Werte zu erbringen. Die Wirkungsansprüche 66

Rechte und Pflichten der Planer und Entscheidungsträger

­ eziehen sich auf das Ich, das Wir und das Es (Abb. 28.) Ken Wilber liefert mit diesen b vier Quadranten eine anschauliche Darstellung für das Verständnis der Wechselbeziehungen zwischen innen und außen, objektiv und subjektiv, individuell und sozial (aus WILBER, K., 1997). Diese Geltungsansprüche sind in allen Ebenen zu erfüllen und nachzuweisen. Herkömmliche Verkehrs- und Siedlungsplanung haben sich bisher weder um die beiden linken Quadranten noch um das Zusammenpassen mit dem rechten oberen gekümmert. Funktionelles Passen war der Anspruch, der zu erfüllen war. Die gegebene Situation oder gar die Auswirkungen auf die sozialen Systeme hat man nicht beachtet. Und damit wurden jene unerwünschten Effekte ausgelöst, die das Kennzeichen modernen Städtebaues des 20. Jahrhunderts sind: riesiger Verkehrsaufwand, Massenflucht an den Wochenenden, soziale Isolierung, das Fehlen von Attraktoren, welche die Menschen an diese Siedlungen so binden, dass sie sich freiwillig dort aufhalten, Lärm, Abgase, Kriminalität und Gesichtslosigkeit. Raumplanung ohne Rauminhalt Intrinsische oder extrinsische Werte sind keine Begriffe der herkömmlichen Raumplanung. Sie beschäftigt sich bestenfalls mit Raumstrukturen, demografischen Entwicklungen, der Flächenwidmung und Bebauungsplanung, dem Finanzsystem der Gebietskörperschaften, dem Grünraum und der Planung der Landschaft. Der Begriff Rauminhalt kommt nicht vor, sodass es gar nicht auffällt, dass diese Disziplin, seit es sie gibt, vor allem zur Zerstörung und Ausdünnung einst reicher Rauminhalte beigetragen hat. Definiert man als Rauminhalt die Summe aller Gelegenheiten für Aktivitäten innerhalb einer bestimmten Fläche um einen Raumpunkt, wird schnell klar, worauf es ankommt. Der Wert eines Dorfes oder einer Stadt hängt von deren Rauminhalten ab, die aber in der Raumplanung als Begriffe nicht aufscheinen, sondern, wenn überhaupt, in dem Begriff „Zentralörtlichkeit“ eher auf das Verhältnis zu den fernen Orten anstatt zum Inhalt des Raumes hinweisen. Noch verhängnisvoller für die Tätigkeit herkömmlich ausgebildeter RaumplanerInnen ist aber der Begriff der Erreichbarkeit und seine Anwendung in der Praxis – bis hin zu Hägerstrands Theorie. Die Ziele und Quellen im Raum werden als statisch und unverrückbar angenommen, sodass die Erreichbarkeit mit zunehmender Geschwindigkeit linear in der Länge und quadratisch in der Fläche zunehmen muss. Die theoretischen Grundlagen, auch von Bökemann und anderen Autoren, gehen von diesem Raumbild aus, das aber nicht dem realen Verhalten der Raumstrukturen entspricht. Die Realität des Siedlungssystems wird von der Zeitkonstanz für Mobilität bestimmt. Die Entfernungen zwischen Quellen und Zielen nehmen mit Erhöhung der systembestimmenden Geschwindigkeit proportional zu. Das heißt aber, dass der Rauminhalt, also die Zahl der Ziele, mit der Geschwindigkeit abnimmt, linear in der Länge und qua­ dratisch in der Fläche. Als Folge dieses fundamentalen Irrtums hat daher die Raumplanung des vergangenen Jahrhunderts zunehmend inhaltsärmere Räume geschaffen und damit den intrinsischen Wert früherer Orte, der Dörfer und Städte, systematisch zerstört. 67

Evolutionäre Grundlagen

Nehmen wir als Beispiel die Medianwerte der Geschwindigkeiten der Verkehrsteilnehmer aus Haushaltsbefragungen, erhalten wir folgende Tabelle: Gemeinde, Region

Fußgeher

Radfahrer

Auto

ÖV

Eppan

2,10

6,00

17,40

12,80

Kaltern

2,30

7,50

19,00

19,50

Kastelbell

1,90

6,00

24,00

18,00

Lana

1,95

5,50

18,00

13,50

Lustenau

3,00

8,50

24,00

15,00

Burggrafenamt

1,95

8,50

17,50

15,10

Meran

2,20

6,50

13,10

9,50

Natums

2,10

4,80

21,00

18,00

Vinschgau

1,95

4,80

24,00

19,50

Toblach

2,00

4,30

19,00

22,00

Tab. 1 Medianwert der „Haus-zu-Haus-Geschwindigkeiten“ in km/h aus den Haushaltsbefragungen der Gemeinden und Regionen.

Der Medianwert der Fußgeher liegt im Durchschnitt bei rund 2 km/h, der Radfahrer bei etwa 6 km/h und der Autofahrer bei rund 20 km/h. Das Flächenverhältnis der Erreichbarkeit, von Fußgehern : Radfahrern : Autofahrern liegt daher bei 1 : 10 : 100. Der Rauminhalt einer Siedlung für Fußgeher muss daher rund 100-mal höher sein als der einer autoorientierten Struktur. Die Ansprüche an PlanerInnen im Siedlungswesen sind daher bei menschengerechten Siedlungen um mindestens zwei Zehnerpotenzen höher als in Siedlungen, in denen Menschen direkt mit dem Auto – und damit der hohen Geschwindigkeit – verbunden werden. Die Raumplanung des 20. Jahrhunderts hat daher ein Niveau, das bei einem Prozent oder noch weniger jener Ansprüche liegt, die Raumplanungsgesetze fordern, denn die Raumplanungsgesetze umschreiben einen Begriff, der in der Raumplanung – auch im Gesetz – nicht existiert: Rauminhalt! Als Beispiel das Niederösterreichische Raumordnungsgesetz: Ausrichtung der Maßnahmen der Raumordnung auf besondere Leitziele für die örtliche Raumordnung: a) Planung der Siedlungsentwicklung innerhalb von oder im unmittelbaren Anschluss an Ortsbereiche. b) Anstreben einer möglichst flächensparenden verdichteten Siedlungsstruktur unter Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten, sowie Bedachtnahme auf die Erreichbarkeit öffentlicher Verkehrsmittel und den verstärkten Einsatz von Alternativenergien. 68

Rechte und Pflichten der Planer und Entscheidungsträger

c) Sicherung und Entwicklung der Stadt- und Ortskerne als funktionaler Mittelpunkte der Siedlungseinheiten, insbesondere als Hauptstandort zentraler Einrichtungen, durch Erhaltung und Ausbau. i) Festlegung von Wohnbauland in der Art, dass Einrichtungen des täglichen Bedarfes, öffentliche Dienste sowie Einrichtungen zur medizinischen und sozialen Versorgung günstig zu erreichen sind. Sicherstellung geeigneter Standorte für diese Einrichtungen. j) Planung eines Netzes von verschiedenartigen Spiel- und Freiräumen für Kinder und Erwachsene. Zuordnung dieser Freiräume sowie weiterer Freizeit- und Erholungseinrichtungen (Parkanlagen, Sportanlagen, Naherholungsgebiete u.dgl.) zu dem festgelegten oder geplanten Wohnbauland in der Art, dass sie ebenfalls eine den Bedürfnissen angepasste und möglichst gefahrlose Erreichbarkeit aufweisen. k) Erhaltung und Entwicklung der besonderen Eigenart und kulturellen Ausprägung der Dörfer und Städte. Bestmögliche Nutzung der bestehenden Siedlung (insbesondere die Stadt- und Ortskerne) durch geeignete Maßnahmen (Stadt- und Dorferneuerung). Mit den Begriffen Erreichbarkeit oder Zentralörtlichkeit wird der Inhalt dieser gesetzlichen Bestimmungen nicht erfasst und daher auch nicht wahrgenommen. Die Folgen kann man an den Taten der RaumplanerInnen ablesen. Einzelne Funktionen werden isoliert irgendwo geplant und mit ausreichend Parkplätzen ausgestattet, der Rest kann vergessen werden. Der Rauminhalt dieser Gebilde ist nahe null und ebenso auch ihr intrinsischer Wert. Ihr extrinsischer Wert ist negativ, denn sie verursachen dem Rest der Siedlungen nur zusätzliche Kosten für die Erschließung, durch Lärm- und Abgasbelastungen und die Infrastruktur. Raumplanung im herkömmlichen Verständnis ist daher bei Kenntnis der Wirkungsmechanismen des Verkehrssystems systematische Raumzerstörung. Die wirksamen Mechanismen kennen Bildungsgesetze können nur aus ihren Elementen und ihren Beziehungen stammen und sind mit dem hier vermittelten Wissen aus den Stadtstrukturen ablesbar. Aus der Evolutionstheorie wissen wir, dass die Causa efficiens als Energie die Schichten in verschiedenen „Verkleidungen“ „durchzieht“. Stabile Strukturen entstehen nur, wenn sie nach oben und unten optimal passen. Der Indikator dafür ist minimaler Energieaufwand. Der evolutionäre Entstehungsweg muss daher dem Pfad des Energieminimums folgen. Nachhaltige Strukturen können daher nur innerhalb dieses Pfades maximaler Effizienz entstehen. Weicht eine Struktur nicht nur vorübergehend von diesem Pfad ab und verbraucht mehr Energie, als sie auf ihrer evolutionären Entwicklungsstufe optimal bräuchte, wird sie entweder von einer Struktur höherer Effizienz abgelöst oder sie fällt auf ein niedriges Komplexitäts- und Entwicklungsniveau ab – wie die in Funktionen zerteilten Siedlungen der vergangenen beiden Jahrhunderte. 69

Evolutionäre Grundlagen

Geistige und physische Mobilität Jede Art von Mobilität, wie sie hier angesprochen wird – es handelt sich um physische – hat einen Zweck zu erfüllen. Es gibt keine Mobilität ohne Zweck. Herkömmliches Verkehrswesen verwendet den Mobilitätsbegriff ohne Zweck und fördert daher seit Jahrzehnten zwecklose Mobilität mit ebensolchen Bauten. Entsprechend dem Schichtenbau der Evolution, muss daher ein übergeordneter Zweck der Mobilität vorhanden sein. Welchen Zweck hat Mobilität an sich? Was ist der „Urzweck der Mobilität“? Wie im Verkehrsplanungsteil (Band 1) dargestellt, dient Mobilität zur Behebung von Mängeln am Ort durch räumliche Veränderung. Allgemeiner gesehen ist Mobilität nur eine von mehreren Maßnahmen, die zur Problemlösung dienen. Prinzipiell stehen zwei mögliche Wege zur Verfügung: a) die Problemlösung am Ort, wozu vor allem geistige Mobilität erforderlich ist, und b) die Problemlösung durch physische Mobilität. Geistige Mobilität bedeutet Informationsaufnahme, Wahrnehmung des Problems, Verarbeitung, Analyse der Erscheinungsform und der Ursachen, Speicherung, den Aufbau von Ordnung, wo und wie das Problem einzuordnen ist, um daraus problemlösendes, also auch weitsichtiges Verhalten abzuleiten. Das bedeutet immer die Suche nach Alternativen, die aus dem gespeicherten Wissen entwickelt werden und innen wie außen zu Veränderungen führen, also qualifizierten Städtebau und Städteplanung. Und dazu braucht man Zeit, um zu verstehen, wie Strukturen der Komplexität beschaffen sein müssen. Wenn man diese Zeit nicht hat oder glaubt, sich diese nicht mehr leisten zu können, wird man in der Regel nur versuchen, Symptome zu behandeln, die man mit den Ursachen verwechselt. Und je weniger Erfolg man hat, umso intensiver wird man sich bemühen, bleibt man bei dieser Methode. Wir sind durch die rasche technische Beschleunigung in eine Phase der Entwicklung geraten, die der Aufklärung widerspricht. Naturwissenschaft und Technik schaffen laufend Neues, ohne noch das Alte verstanden zu haben oder es gar zu beherrschen. Selbst in der Genesis wird nach jedem Schöpfungstag das Geschaffene bewertet, findet Monitoring statt: Und erst, nachdem es als „gut“ befunden wurde, kann der nächste Schöpfungstag beginnen. Hier ist ein fundamentales Evolutionsprinzip erkennbar: die Stabilisierung der erreichten Schicht, ohne die es keine weiteren Schichten in einem nachhaltigen System geben kann. Die technische Entwicklung wird hingegen so schnell vorangetrieben, dass keine Möglichkeit besteht, zu überprüfen, ob das, was geschaffen wurde, oder das, worauf man aufbaut, überhaupt „gut“ war. Daher holen uns fast täglich die lang-, mittel- und kurzfristigen Folgen unüberlegten Handelns aus der Vergangenheit ein. Das Problem der FCKW, des DDT, das ungelöste Problem der nuklearen Abfälle, die Erderwärmung, das Artensterben, die Zersiedlung, die Unfinanzierbarkeit der Städte, die zunehmenden sozialen Spannungen,­ 70

Rechte und Pflichten der Planer und Entscheidungsträger

der Verfall des öffentlichen Verkehrs, die Globalisierung, ein diffuser Begriff, die Vernichtung der Böden usw. führen diese endlose Liste der Folgen unbedachten Handelns an. Allein der Energiehunger der geplanten Städte der beiden vergangenen Jahrhunderte zeigt eindrucksvoll ihre aussichtslose Lage.

Abb. 30 Mit zunehmender Einwohnerdichte nimmt der Aufwand externer Energie zur Aufrechterhaltung der ­Funktionen immer mehr ab, das Maß der inneren Ordnung nimmt daher in diesem Ausmaß zu. Das Maß der ­Ordnung nimmt auf der x-Achse zu, die vertikale Achse stellt den in Energieeinheiten messbaren Mangel der ­städtischen Strukturen dar.

Dieses Diagramm stellt die Beziehung zwischen einem Indikator der Struktur, der Einwohnerdichte, und einem Indikator des Energiestromes dar, um die Strukturen lebensfähig zu erhalten, Megajoule an externer Energie für Mobilität. Versiegt diese Energiequelle, können die Lebensfunktionen der davon abhängigen Siedlungsstrukturen nicht mehr aufrechterhalten werden. Diese Siedlungen sind dann zum Absterben verurteilt oder zur dramatischen Umstrukturierung – als Ergebnis sachunkundiger Planung und Politik. Die Funktion dieses Zusammenhanges entspricht der Ableitung des Logarithmus, worauf noch einzugehen sein wird. 71

Evolutionäre Grundlagen

4.11 Konsequenzen für die Praxis

Die Frage nach leistungsfähigen, billigen, schnellen und sicheren Verkehrsmitteln steht im Zentrum herkömmlicher Verkehrs- und Siedlungsplanung. Dies charakterisiert schon die falsche Fragestellung. Nicht nach Verkehrsmitteln ist zu fragen, sondern nach der Vitalität der Siedlungen und der Lebensqualität ihrer Bewohner. Der Bedarf nach hohem Verkehrsaufwand ist immer ein sicheres Indiz und der Beweis für eine mangelhafte Stadtplanung und Siedlungslogistik. Das Ziel jeder Planung, ob im Siedlungs- oder Verkehrsbereich, kann nur sein, den Aufwand an physischer Mobilität zu vermeiden. • Die Nachfrage nach höherem Aufwand für Mobilität ist zu vermeiden und auf ein Minimum zu reduzieren – und nicht, wie bisher, zu befriedigen. • Aus den elementaren Gesetzen der Physik folgt daraus die Reduktion der Geschwindigkeiten in den Siedlungen auf das dem Leben angemessene Maß – das des Fußgehers.

Für die Stadt- und Verkehrsplanung gilt die gleiche Regel wie für die Einzelperson: „Wer es nicht im Kopf hat, muss es in den Beinen haben.“ Diese Volksweisheit bringt das evolutionäre Prinzip der Höherentwicklung durch Wissensakkumulation auf den Punkt. Mangel an Information oder Wissen muss immer mit physischem Aufwand kompensiert werden. Das Defizit an Negentropie, Mangel an komplexer Ordnung in den Siedlungen, muss mit Entropie „bezahlt“ werden. Damit haben wir aber ein Unterscheidungskriterium zwischen der lebensbejahenden Planung von Siedlung und Verkehr und der energievergeudenden und damit nekrophilen Art der Planung, wie sie heute überwiegend betrieben wird. Aus dieser Erkenntnis ist nachweisbar, dass Siedlungs- und Verkehrsplanung in den vergangenen 200 Jahren mehr zerstört als verbessert haben. Die Ursachen liegen in der leichten und billigen Verfügbarkeit fossiler Energiequellen und daraus resultierender gedankenloser Nutzung mithilfe technischer Methoden, ohne die langfristigen Folgen in den Ober- und Unterschichten zu bedenken. Was die PlanerInnen nicht im Kopf haben, müssen die Bewohner mit hohem Mobilitätsaufwand – und manche auch mit ihrer Gesundheit oder dem Leben – bezahlen. Die Stadt als Informationssystem Jede Stadt, jede Siedlung ist vor allem ein Informationssystem und damit gleichzeitig ein energetischer Ort. Wie bei allen Informationen, können diese unterschiedliche Wirkungen haben. Sie können die Menschen mit Energie aufladen, dann wirken sie anziehend, ihnen aber auch Lebensenergie entziehen. Seit man die Städte von dem Auto besetzen ließ, ziehen die Bewohner in das Umland. Es gibt erfreuliche Informationen, die Positives erwarten lassen, die Menschen lebensfroh stimmen, und inhaltsleere Informationen, die langweilen, wie Reihenhaussiedlungen, und 72

Konsequenzen für die Praxis

abstoßende, die Angst und Ablehnung erzeugen, wie viele Megabauten und Verkehrsanlagen, wie die maschinenorientierten Regelquerschnitte des Straßenbaues des 20. Jahrhunderts für Autofahrer. Zu den wichtigsten Informationselementen der Städte gehört der öffentliche Raum mit den ihn umgebenden Gebäuden. In ihnen kommt zum Ausdruck, wer erwünscht ist und auf wen man vergessen hat, aber auch, wen man missachtet. Der Städtebau und das Verkehrswesen des 19. und noch mehr des 20. Jahrhunderts waren so fasziniert von den Maschinen, dass sie den Menschen zugunsten der Fahrmaschinen aus dem öffentlichen Raum verdrängten und seine Bedürfnisse nicht mehr wahrgenommen haben. Ein öffentlicher Raum, in dem die Fahrbahnen dominieren, teilt dem Menschen mit, dass er unerwünscht ist. Die Informationen sind angekommen. Die Menschen treten nicht mehr in Erscheinung, das Leben in der Stadt wurde damit getötet. Ihre Funktionen können nur durch die ständige Zufuhr von Erdöl für technische Verkehrsmittel aufrechterhalten werden. Die Architektur, die man fälschlicherweise als Städtebau bezeichnet, hat mit den abweisenden Objekten, die nicht mehr nach außen zur Stadt, zum öffentlichen Raum orientiert sind, und den geklonten, sprachlosen Fassaden zusätzlich noch ein abstoßendes Umfeld geschaffen.

Abb. 31 a u. b Öffentliche Räume dieser Art sagen dem Menschen, dass er als Fußgeher hier nicht erwünscht ist.

Urbanistik und Urbanismus In der Praxis versteht man darunter vor allem die Umwandlung von Natur in Bauland, ohne Rücksicht auf die Folgen. Die herkömmliche Definition: „Ausgehend von der heuristischen Fiktion, einer Eigenschaft des „Urbanen“ als grundlegend erforschbarer Entität, das vom „Ruralen“, „Ländlichen“ abgegrenzt werden kann, erforscht die Urbanistik ganz allgemein Orte höchster Bevölkerungsdichte. Mit der zunehmenden Verstädterung der Weltbevölkerung im globalen Maßstab und der gleichzeitigen Deurbanisation in den Industrienationen nehmen urbanistische Fragestellungen einen immer größeren Raum ein“ – losgelöst und 73

Evolutionäre Grundlagen

sauber getrennt vom Ländlichen. Im deutschen Sprachraum wird unter Urbanistik mehrheitlich diese theoretische Fragestellung verstanden. Sie ist damit eine der Ursachen des Zukunftsrisikos der Städte, denn alle historischen Stadtkulturen sind verschwunden, wenn sie die grundlegenden Wechselbeziehungen zur Natur, zu ihren Lebensgrundlagen, missachtet und in der Folge verloren haben. Die Auslöschung der Stadtkulturen, früher auf einzelne Gebiete beschränkt, droht dank der technischen Vernetzung der Städte mit dem gesamten Globus heute der gesamten Menschheit. Eine Auffassung von Urbanismus, die sich nur auf die Stadt beschränkt, ohne Rücksicht auf die Gesamtheit der Wechselbeziehungen, die Voraussetzung und Folge dieses künstlichen Gebildes sind, ist verantwortungslos. Daher ist die vorhin genannte Beschreibung höchstens für theoretische Studien, nicht aber für eine verantwortungsbewusste Planung brauchbar. Stadtplanung hat das Gebilde, das sie gestalten will, in die Ordnung des Lebendigen einzubinden und kann sich daher nicht aus der Verantwortung für alle ihre Eingriffe in die Natur, das Wesen des Menschen und seiner Gesellschaft davonstehlen. Um diesen abgehobenen Ausdruck praktisch fassbar zu machen, ist nach einer anderen Definition zu suchen. Wie man von einer Wohnkultur und Gartenkultur im privaten Bereich als Form des kultivierten Umganges mit gebauten und natürlichen Strukturen ausgehen kann, ergibt sich, überträgt man diese Prinzipien auf die kommunale oder städtische Gemeinschaft, der Begriff. Als „Urbanismus“ ist der kultivierte Umgang mit gebauten und natürlichen Strukturen einer Gemeinde, einer Stadt, eines Landes, aus denen „Urbanität“ entstehen kann, zu verstehen. Wenn man wie in den beiden vergangenen beiden Jahrhunderten handelt, kann Urbanität nur als seltenes Zufallsprodukt, nicht aber als Ergebnis von Planung entstehen. Unwissenheit um die Verfasstheit der Menschen führt, ohne dass es bewusst wird, zur Unkultur in der Planung. Diese ist an den Beschwörungsformeln der Städteplaner und Architekten, die ihre Projekte begleiten, festzumachen. Städtebauliche Wettbewerbe und die dazugehörigen Jurysitzungen gleichen aus dieser Sicht viel eher den mythischen Versammlungen von Zauberern und Hexen mit ihren Geheimsprüchen, mit denen sie die Gesellschaft beschwören – nur sind deren Folgen vergleichsweise harmlos. Praktische Umsetzung durch brauchbare Indikatoren Durch die Anwendung geeigneter realitätsnaher Modelle in der Stadt- und Verkehrsplanung kann man die Auswirkungen verschiedener Entwürfe und Maßnahmen am Indikator „Energieaufwand für Mobilität“ messen und vergleichen. Jene Siedlungen (Dörfer oder Städte), die ihre Mobilitätsbedürfnisse mit dem geringsten Aufwand an externer Energie bewältigen, kommen der Nachhaltigkeit am nächsten. Jede Stadtentwicklung oder Verkehrsplanung ist daher an ihren Wirkungen auf das Gesamtsystem anhand dieses Indikators zu beurteilen. Er ist auch ein Indikator, um die städtebauliche Unfähigkeit der Planer zu beurteilen. 74

Konsequenzen für die Praxis

Die Denkfaulheit oder Unkenntnis der Planer, Beamten und Politiker kann zu jahrzehntelangen Lasten und Kosten für die Bürger führen. Auf längere Sicht steigt dann die Wahrscheinlichkeit, dass die Siedlung aufgegeben werden muss. Ebenso wichtig ist auch die Eigenschaft der Stadt, durch ihre Kultur, Schönheit, Vielfalt und Unverwechselbarkeit die eigenen Bewohner und Besucher mit „Energie aufzuladen“. Ist sie dazu nicht in der Lage, weist sie Mängel auf und damit kann man auf Kosten der Bürger bekanntlich die besten Geschäfte machen. Der massive Widerstand herkömmlich ausgebildeter Planer gegen intelligente Lösungen ist ein Indiz für den hohen Wert mentaler Energie, den man versucht zu vermeiden. Es handelt sich um den meist unbeachteten, aber unglaublich starken geistigen Trägheitswiderstand, anerzogen in akademischen und nicht akademischen Studien, der viel stärker ist als der physikalische. (Der Autor kennt die Probleme der Studenten, wenn ihnen in der Siedlungsplanung jede Art von fossiler Energie entzogen wird und sie den Nachweis der Lebensfähigkeit ihrer geplanten Strukturen führen müssen.) Um eigene geistige Energie zu sparen – oder, weil man sie nicht hat – werden geradezu unglaubliche Strategien entwickelt. Dazu gehört etwa der geradezu religiöse Glaube an die Lösung der Probleme (die man selbst erzeugt hat) durch die „Wunder der Technik“. Die Evolution soll in der Technik erfolgen, um sich die eigene zu ersparen. Man kann sich sogar ein erhebliches Maß an bequemer Degeneration leisten, was etwa (zum Unterschied von wissenschaftlich fundierten) in überflüssigen und schädlichen Normen und ebensolchen Richtlinien und Verordnungen in vielen mit dem Siedlungswesen zusammenhängenden Disziplinen zum Ausdruck kommt. Hinter solchen kann man das Fehlen der eigenen Qualifikation und Verantwortung oft lebenslang verbergen, gut verdienen und vor allem Auszeichnungen aus der eigenen Zunft sammeln. Beliebte Strategie mangelhaft ausgebildeter Planer: Ablenkung auf technische Fragen und Details Durch die Konzentration auf technische Fragen, wie viele Personen eine U-Bahn oder Hochbahn transportieren kann oder wie viele Wohneinheiten man planen und bauen soll, weicht man der Aufgabe, das komplexe System der Stadt zu verstehen, aus. Damit versucht man, die Ansprüche der Planung zu umschiffen, um so schnell wie möglich in das gewohnte niedrige Niveau der Projektierung zu gelangen. Die Forderungen nach Nachhaltigkeit haben eine ganze Architekturindustrie entstehen lassen, die glaubt, dieses Ziel durch Nullenergiehäuser zu erreichen und ebenso wenig von Orts- oder Städteplanung versteht wie die Hochhausarchitekten. Wäre dies nicht der Fall, müssten die Standortentscheidungen und deren Folgen mitbedacht werden, sonst handelt es sich leider nur um „Häuslbauer“ – und nicht mehr. Was nützen Passivhäuser, für die man ein Vielfaches an Mobilitätsenergie aufwenden muss – wie für Häuser in einer lebensfähigen Siedlung. Harmaajärvi weist an finnischen „Eco-villages“ nach, dass sie als System weniger nachhaltig sind als traditionelle verdichtete, historische 75

Evolutionäre Grundlagen

Siedlungen.30 Die traditionelle, kurzsichtige, gewohnte und von der kurzlebigen Politik geschätzte Methode passt genau dazu. Man kann immer wieder „eröffnen“ und sich von einer Hoffnung zur nächsten weiterlügen. So lenkt man von der notwendigen ursachenbezogenen Behandlung der Probleme ab, von der Frage nach dem „Wozu?“, dem Wesen der Stadt. Man widmet sich der Beschäftigung mit den falschen physischen Strukturen und weckt damit unerfüllbare Hoffnungen, die erst nach den Wahlperioden als Irrtümer sichtbar werden. Voraussetzungen für strukturelle Bindungen planen So wenig, wie die Anhäufung von Wasserstoffatomen ein schweres Element ergibt, führt auch die Anhäufung von zusammenhanglosen Einzelobjekten zu einer Stadt. Die Eigenschaften der Moleküle entstehen durch strukturierte Bindungen zwischen den Atomen, ihrer Anordnung und Bewährung in ihrer jeweiligen Umgebung (Umwelt). Bindungen bestehen aus Information und Energie. Was die Elektronenbindungen in den Molekülen und allen Lebewesen sind, sind die Bindungen nicht nur zwischen den Bewohnern einer dörflichen oder städtischen Gemeinschaft, sondern auch die Bindungen zwischen den gebauten Objekten und deren Bindungen mit den Menschen. Und diese Bindung kann nur über die Gestaltung des öffentlichen Raumes erfolgen. Die sogenannten Regelquerschnitte, mit denen die Verwaltung und die Ingenieurbüros heute immer noch arbeiten, lassen keine öffentlichen Räume zu, in denen sich lebenserhaltende Bindungen einer Siedlung entwickeln können. Durch die Uniformierung wird die Stadt dem Menschen fremd, der öffentliche Raum beziehungslos. Also wendet er sich von ihm ab – in die virtuelle Welt des Fernsehens, der Computerspiele, des Shoppings – oder nimmt an der Stadtflucht teil. Die Stadt stirbt in dem Maß, in dem die Menschen aus dem öffentlichen Raum verschwinden. Da Menschen auf die gestalteten Strukturen reagieren, wird die Stadt in Wirklichkeit von den Stadtplanern und Verkehrsingenieuren getötet, wofür diese noch Gehälter und Honorare von der Gesellschaft kassieren. Besonders erschreckend wird dies in Ländern mit niedrigem Motorisierungsgrad, wie Indien oder China, sichtbar, wo man die Fehlentwicklungen des Westens nicht nur beim Bau der Infrastruktur für das Auto, sondern auch für den öffentlichen Verkehr und den Städtebau kopiert und sogar zu übertreffen versucht. Techniker und unbedarfte Entscheidungsträger freuen sich über Eröffnungen von Magnetschwebebahnen (Maglev), Monorails, „Sky Bus Metros“ oder U-Bahnen (Conference 21.–23.3.2007 Delhi) oder sind stolz auf hohe Türme, wie sie in Singapur, Kuala Lumpur, Abu Dhabi, Pudong (einem Teil von Shanghai) oder in Peking die „Skyline“ verschandeln. Dem Auto werden selbst in Ländern mit knappem Raum, wie den Niederlanden oder Japan, bedenkenlos die besten Flächen geopfert. Mit dem grundlegenden Indikator „externer und interner Energieverbrauch“ von Siedlungen kann aber diese gefährliche Fehlentwicklung rechtzeitig erkannt werden. 30 Harmaajärvi Irmeli (2000): EcoBalance model for assessing sustainability in residential areas and relevant case studies in Finland; Environmental Impact Assessment Review (Volume 20: 373–380).

76

Gleiche Funktionen – unterschiedlicher Aufwand

Abb. 32 a u. b Der neue Stadtteil von Shanghai, Pudong – ein Albtraum menschengerechten Siedlungswesens, die Spielwiese für „Stararchitekten“, die mit ihren beziehungslosen Objekten Stadtzerstörung betreiben. Ein Pan­ optikum im ursprünglichen Sinn des Begriffes – eine Gefängnisbauweise. Abb. 33 Hochhäuser und Stadtautobahnen, wie in Shanghai, charakterisieren in konzentrierter Form städteplanerisches Unverständnis. Sie sind die Ursachen der daraus resultierenden ökologischen, sozialen, kulturellen und ökonomischen Probleme. Die Luftverschmutzung wird mit freiem Auge sichtbar.

4.12 Gleiche Funktionen – unterschiedlicher Aufwand

Aus der Beziehung zwischen Energieaufwand für Mobilität, den jeder Bewohner pro Jahr aufwenden muss, und der Einwohnerdichte ausgewählter Städte ergibt sich das bekannte Diagramm in Abb. 30. Legen wir durch diesen Punkthaufen eine Ausgleichskurve, ergibt sich ein beinahe funktionaler Zusammenhang zwischen Einwohnerdichte pro Hektar und Aufwand an externer Energie pro Einwohner: Energiebedarf = K . Dichte m

Energiebedarf für Mobilität mal Einwohnerdichte ergeben eine Konstante. Der Exponent m betrug für die Daten aus 1980 1,06 und für die Daten aus dem Jahr 2000 0,84 und liegt daher nahe dem Wert 1. Eine ähnliche Beziehung kennen wir aus dem Lill’schen Reisegesetz.31 31 Knoflacher, Grundlagen der VP. Böhlau Verlag.

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Evolutionäre Grundlagen

Thermodynamik im Siedlungswesen Da in dem Diagramm (Abb. 30) ein Punkt eine Stadt repräsentiert, ist das nur der statistische Mittelwert einer komplexen Struktur mit einer eigenen Verteilung. Hier resultiert die Energie aus der Summe des Aufwandes für die täglichen Wege in einer Stadt. (Es gibt daher auch in Indien und Afrika Bürger, die Mobilitätsenergie brauchen, wie in den USA. Sie sind aber nicht typisch für den Mittelwert dortiger Städte.) Die Länge der Wege, also der Aufwand, wird von den Geschwindigkeiten der Verkehrsmittel determiniert. Die Geschwindigkeiten sind daher Ausdrücke für den Energieeinsatz. Beziehungen zwischen zwei ähnlichen Variablen sind uns aus der Thermodynamik bekannt. Man bezeichnet sie als Maxwell’sche Geschwindigkeitsverteilung. Abb. 34 Bei höheren Temperaturen (mehr Energieaufwand) verschiebt sich die Verteilung zu Geschwindig­ keiten nach rechts. Die vertikale Achse gibt die „Struktur“ des Stick­ stoffes, die horizontale den Energieaufwand, um ihn in dieser Struktur zu ­erhalten, an. Es handelt sich um eine StrukturEnergie-Beziehung wie bei den Städten, nur sind hier die Achsen vertauscht.

In der Gastheorie werden Atome und Moleküle, zu diesem Zweck idealisiert, als Punkte dargestellt, die keine spezifischen inneren Freiheitsgrade besitzen. Für verschiedene Temperaturen ergeben sich damit die in der Abbildung 34 dargestellten Geschwindigkeitsverteilungen. VM erhält man aus der Extremwertbestimmung von FV = VM = (2kT /M) ½

(M ist dabei die Masse.) Bei leichteren Molekülen sind die mittleren Geschwindigkeiten größer als bei schwereren. Die Thermodynamik zeigt, dass mit steigender Molekülmasse die mittlere Geschwindigkeit absinkt, die Bindung offensichtlich stärker wird. Vergleicht man 78

Gleiche Funktionen – unterschiedlicher Aufwand

Abb. 35 Moleküle kleinerer Massen weisen bei gleicher Temperatur nach rechts verschobene, höhere ­Geschwindigkeiten auf (relative Verhältnisse der „Atomgewichte“: H = 1, N = 14, Cl = 35). Hier ist es die innere Bindekraft, die bei gleicher Temperatur die Stabilität der Elemente charakterisiert.

die Atome mit den Städten, würde Helium etwa Houston als einer nahezu völlig zersiedelten Stadt, die sich baulich in Einzelteile aufgelöst hat, entsprechen, während Chlor eine Position einnimmt, die einer mitteleuropäischen Stadt gleicht. Moleküle mit höherer Molekülmasse und niedrigerer Temperatur haben noch geringere Geschwindigkeiten. Hongkong als sehr kompakte Struktur wäre das Analogon für ein schweres Molekül. Noch mehr sind das aber die mittelalterlichen Städte, die noch höhere Einwohnerdichten als Hongkong aufweisen, wie die „Walled City of Delhi“, die Altstadt mit über 1.000 Bewohnern je Hektar bei kaum mehr als drei- bis viergeschossigen Gebäuden. Atome mit höherer Masse müssen eine starke Bindungsenergie aufweisen. Es gelingt ihnen, Atome und damit Energie „einzufangen“ und für ihre eigenen Zwecke zu nutzen, höhere Ordnung aufrechtzuerhalten. Damit steigt ihr intrinsischer Wert. Das stabile Optimum liegt allerdings in einem mittleren Bereich der Elemente, auf den sowohl leichte durch Fusion als auch schwere durch Zerfall zusteuern. 79

Evolutionäre Grundlagen

Abb. 36 Die historische Altstadt von London mit ihrer hohen Dichte entspricht einem schweren, stabilen Molekül.

Abb. 37 Zersiedelte Agglomerationen in Australien oder den USA entsprechen eher einer Haufenwolke leichter Moleküle mit mangelndem Zusammenhalt.

Der Aufbau zu immer höheren Strukturen muss durch die Fähigkeit bedingt sein, ein immer höheres Maß an verfügbarer Energie zu binden. Dabei wird ein Energieminimum im Verband der Atome auf dem jeweils erreichten Niveau der Bindungen angestrebt. Dieses Prinzip des Energieminimums der Bindungen auf allen Niveaus, von der atomaren über die molekulare zur evolutionären Ebene der Zellen, sichert deren Stabilität und Robustheit. Ähnliches kann auch für die Städte angenommen werden. Die Minimierung von Bindungsenergie zur Erhaltung größerer Masse ist nur durch ein höheres Maß an Ordnung – bis zu einem gewissen Optimum – möglich. Zum Unterschied von den Atomen, die „auf sich selbst gestellt sind“, werden die Megacities derzeit noch durch die ständige Zufuhr von Bewohnern und fossiler Energie in ihren Funktionen erhalten. Ihr Zerfall ist daher sehr wahrscheinlich, wenn sich die Randbedingungen ändern. 80

Gleiche Funktionen – unterschiedlicher Aufwand

Abb. 38 Eine größere Beziehungsdichte und -vielfalt als auf dieser Kreuzung in Sadar Bazaar (Delhi) gibt es wohl kaum. Kein Teil der Stadt ist vitaler als dieser!

Wie entsteht eine Stadt? Eine Stadt als Organismus ist auf die Aufrechterhaltung der inneren Beziehungen angewiesen, die durch Kultur und Sozialbeziehungen geprägt werden. Davon ist auch ihre Lebensfähigkeit abhängig. Je weniger ein Organismus als offenes System von äußerer Energiezufuhr abhängig ist, umso besser kann er wechselnden Umweltbedingungen begegnen, umso nachhaltiger ist er. Wenn die internen Beziehungen zur Aufrechterhaltung der Körperfunktionen von der unmittelbaren und laufenden externen Zufuhr von Energie abhängig sind, befindet sich etwa ein Mensch entweder im embryonalen Zustand oder in der Intensivstation. Dies trifft auch auf die heutigen Städte zu. Die US-amerikanischen und australischen Städte kann man daher als embryonale Vorstufen einer Stadt verstehen. Die europäischen Städte haben zum Glück noch lebensfähige, resistente Teile aus ihrer Geschichte. Allerdings befinden sich viele schon auf dem Weg in die Zersetzung. In Asien findet man noch lebensfähige Städte in einem größeren Ausmaß, die aber unter massivem Zerstörungsdruck durch Planung und Verwaltung leiden, und Megacities, die unter sozialen Spannungen stehen (wie die schweren Elemente auch). 81

Evolutionäre Grundlagen

Von einer nachhaltigen Stadt kann man daher nur dann sprechen, wenn sie die Beziehungen zwischen ihren Strukturen ohne permanente externe Zufuhr fossiler Energie aufrechterhalten kann und nicht, wie die amerikanischen und australischen Städte, an der „Nabelschnur der Zapfsäulen“ hängt. Zunehmend kommen durch den inferioren Städtebau der vergangenen Jahrzehnte immer mehr Städte in diese kritische Situation. Der Weg in den embryonalen Zustand ist zwar für Planer und PolitikerInnen anstrebenswert (man spart sich geistige Energie), führt aber die Bevölkerung in eine fatale Abhängigkeit vom Auto und begrenzter fossiler Energie.

Abb. 39 Aufgetragen ist der Aufwand an fossiler Energie, der von jedem Bürger jährlich erbracht werden muss, um die Funktionen der Stadt als negative Größe und die Dichte zu erhalten. Erst wenn der externe Energiebedarf für Mobilität von außen auf deutlich unter 10.000 MJ je Einwohner und Jahr sinkt, beginnt die Stadt zu leben.

Stadtbildung erfolgt erst ab mindestens 50 Einwohnern je Hektar (im Durchschnitt) im Gesamtorganismus. Das bedeutet nicht, dass auch Städte mit geringerer Einwohnerdichte Teile aufweisen, die als Stadt lebensfähig und dicht genug sind. Wien hat in einzelnen Teilen Viertel mit Dichten von 400 Einwohnern je Hektar und mehr und wurde 2009 hinsichtlich Lebensqualität an die erste Stelle aller Weltstädte gereiht. Die Bindungen des Organismus Stadt sind an der Dichte der Verkehrsbeziehungen erkennbar. Mit Abstand die größte Bindekraft haben die Fußgeher mit ihrer menschlichen Geschwindigkeit. Sie entspricht einer niedrigen Temperatur und erzwingt effiziente Strukturen mit hoher Einwohnerdichte, Funktionsvielfalt und Schönheit. Radfahrer können zwar die Geschwindigkeit ohne wesentlichen externen Energieaufwand (nur für die Herstellung und Erhaltung der Räder) erhöhen. Sie fördern aus diesem Grund ebenfalls eine sehr hohe 82

Gleiche Funktionen – unterschiedlicher Aufwand

Einwohner- und Funktionsdichte, wie wir sie aus den historischen Städten Chinas und Europas kennen, in denen diese Verkehrsart stark vertreten ist. Der öffentliche Verkehr hat zwar hohe Geschwindigkeiten und auch einen höheren spezifischen Energieaufwand als Fußgeher und Radfahrer, doch ist seine Wirkung in Verbindung mit dem Fußgeher und Radfahrer lokal begrenzt, weil seine Geschwindigkeit um die Haltestelle herum sehr schnell abklingt.

Abb. 40 Beispiel für die relative Häufigkeitsverteilung von Geschwindigkeiten verschiedener Verkehrsteilnehmer (Naturns, Südtirol, Italien).

Beim Autoverkehr von heute verbindet sich hingegen das Individuum im Raum sofort zu einem System hoher Geschwindigkeit und hoher Temperatur. Es entsteht hohe Entropie, die Siedlungen werden zersetzt. Individualoptimierung auf Kosten des Gesamtsystems ist für die Städte fatal. Aufgabe der Verkehrs- und Siedlungsplanung ist die Vermeidung nicht nachhaltiger Strukturen. Sogenannte intelligente Transportsysteme, mit denen die Leistungsfähigkeit bestehender Verkehrsanlagen im Fließverkehr besser ausgenützt und die Geschwindigkeit erhöht werden soll, Parkraummanagement oder Parkraumbesteuerung, um bestehende Parkplätze besser nutzen zu können, sind daher ebenso kontraproduktiv wie Tempolimits im Fließverkehr. Verbindet sich der Mensch mit dem Auto, steigt der externe Energieaufwand für den gleichen Zweck um mindestens zwei Zehnerpotenzen, intern hingegen wird weniger Körperenergie benötigt. Jede Maßnahme, die den Autoverkehr stärkt, zerstört die menschliche Siedlung. Das Problem besteht aber darin, dass die Bindung zwischen Mensch und Auto viel 83

Evolutionäre Grundlagen

Abb. 41 Relative Häufigkeitsverteilung der Geschwindigkeiten der Bewohner von Trnava (Slowakische Republik).

größer ist als nahezu jede andere Art der Bindungen, zu denen Menschen imstande sind. Sie ist um vieles größer als die Bindung zur Gemeinschaft einer Stadt. Nur wenn der Reiz für das Zu-Fuß-Gehen und Radfahren größer ist als der Reiz, das Auto zu benutzen, entstehen wieder menschliche Siedlungen und Städte. Dieser Herausforderung muss man sich in der Siedlungsund Stadtplanung stellen. Dies erfordert einen umfassenden Ansatz, der aber verloren ging. Das Gegenteil ist passiert. Dichte und Stadtbildung Der Energieaufwand für Mobilität der Fußgeher liegt bei ungefähr 400 Megajoule pro Einwohner und Jahr, jener des öffentlichen Verkehrs oder des Fahrrades bei rund 2.000 Megajoule. Damit kann man mithilfe der UITP32-Daten die optimalen Dichten für Siedlungsstrukturen bei unterschiedlicher Verfügbarkeit von Energie berechnen. Wird eine Siedlung vom Fußgeher zusammengehalten, ohne dass zusätzliche externe Energie für Mobilität zur Verfügung steht, erfordert dies eine Einwohnerdichte von rund 460 Einwohnern pro Hektar oder 46.000 Einwohner pro km2. Diese und noch weit höhere Werte findet man in historischen Stadtzentren auch heute noch. Berechnet man mit den Werten der UITP aus 1980 das Auftreten der ersten Stadt (beim Durchgang des Logarithmus durch die x-Achse), ist das bei einem zusätzlichen externen Energieaufwand für Mobilität bei 2,6 MJ/EW und Jahr der Fall. 32 Kenworthy, J. / Laube, F. (2001): The Millennium Cities. Database for sustainable Transport. ISTP, Institute for Sustainability and Technology Policy and UITP, International Association of Public Transport, Brussels.

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Gleiche Funktionen – unterschiedlicher Aufwand

Abb. 42 Mit etwas mehr als 200 Einwohnern je Hektar kann nach dieser Ausgleichslinie eine Stadt ohne zusätzliche externe Energie ihre Struktur erhalten.

Stehen 2.000 Megajoule pro Einwohner und Jahr zur Verfügung, kann die Siedlungsdichte auf rund 150 Einwohner pro Hektar reduziert werden. Die Stadt kann sich bilden, wenn für jeden zusätzlichen Einwohner ca. 25 MJ (das rund Zehnfache einer Fußgehersiedlung) an Mobilitätsenergie pro Jahr verfügbar sind. Und damit hat man bereits die Möglichkeit, eine brauchbare Struktur für die Stadtplanung zu schaffen, wenn man die Fähigkeit besitzt, wirkliche Städte zu planen – und nicht Fragmente davon, wie heute üblich. Die Abbildung 42 zeigt die aus den heute bestehenden Siedlungsstrukturen abgeleiteten Zusammenhänge zwischen Einwohnerdichte und Mobilitätsenergie. Wollen wir nachhaltige Siedlungsstrukturen gestalten, die nicht auf den ständigen Zufluss externer fossiler Energie für Mobilität zur Aufrechterhaltung ihrer Funktionen angewiesen sind, sollte die Mobilitätsenergie je Einwohner unter 1.000 Megajoule pro Jahr liegen, um eine Übernutzung nicht erneuerbarer Energiequellen zu vermeiden. Damit erhalten wir Dichten der Städte von rund 220 Einwohnern pro Hektar, die dann ausreichend innere Bindung aufweisen, um die nötige Stabilität, die sie vor der Auflösung schützt, zu erhalten.

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Evolutionäre Grundlagen

4.13 Trennung der Disziplinen und die Folgen

Während in natürlichen evolutionären Systemen die Wechselbeziehungen zwischen den Schichten zwingend sind, ist bei den Wissenschaften eher das Gegenteil der Fall. Aber auch die Disziplinen der Wissenschaft sind, wie R. Riedl 198533 zeigt, schichtenweise geordnet. Sie agieren aber in der Praxis so, als wären sie nicht oder nahezu nicht zusammenhängend. Jede Disziplin versucht daher, den Eindruck zu erwecken, für sich allein bestehen zu können. Solange eine Wissenschaft nicht nach außen wirkt, kann daraus wenig Schaden entstehen. Greift sie aber etwa über die Technik oder die Politik in die Realität ein, entstehen Wirkungen, die in andere Schichten und damit andere Disziplinen weit hineinreichen. Der Zusammenhang zwischen Eingriff und Wirkung ist besonders dann nicht mehr so leicht zu erkennen, wenn sich in anderen Schichten scheinbar unabhängig davon vielgestaltige Symptome zeigen. Es sind aber nicht nur die Eingriffe der „harten Disziplinen“, die der Menschheit zunehmend Probleme bereiten. Selbst sogenannte „wissenschaftliche“ politische Strömungen, wie der Kommunismus oder der fundamentalistische Neoliberalismus von heute, hatten und haben Verheerungen angerichtet. Hypothesen, die man durch politische Macht zu Theorien der Ökonomie, aber auch der Technik erhoben hat, neigen dazu, dass sie zur fundamentalistischen Ideologie, zur Religion werden, die sich in wissenschaftlicher Verkleidung zeigt. Alle diese Disziplinen hätten sich an das Prinzip der Verantwortungsethik zu halten, was sie nicht tun. Ethik oder Gewissen sind auch keine (natur-)wissenschaftlichen Kategorien. Vertreter aller Disziplinen lehnen daher in der Regel auch die Verantwortung für Folgewirkungen ab, die nicht in ihrer Schicht auftreten, wenn sie auch die Verursacher sind, solange dies nicht „eindeutig“ nachgewiesen wird. Nur gibt es in komplexen Systemen diese Eindeutigkeit nicht, wie sie in der Kunstwelt heute immer noch praktizierter „Wissenschaftlichkeit“ gefordert wird. (Das Rechtssystem hinkt dieser Entwicklung leider noch erheblich hinterher.) Beliebte Sündenböcke, auf die Wissenschafter dieser Denkschule die Folgen ihres Handelns abwälzen, sind Politiker, Sachzwänge (die Konzerne) oder der diffuse Begriff „die Gesellschaft“ und, wenn nichts mehr übrig bleibt, schiebt man die Verantwortung auf den „mündigen Bürger“ ab. Technische Eingriffe überschreiten schon längst die Grenzen unserer evolutionären Wahrnehmung, also jenen Bereich, den wir mit unseren Sinnen noch unmittelbar wahrnehmen können. Was außerhalb liegt, kann daher vom Bürger auch nicht verantwortet werden. Er kann deshalb aus eigener Wahrnehmung gar nicht mehr als mündig bezeichnet werden. Hier fällt daher dem Entscheidungsträger und Planer die volle Verantwortung zu. Stadtplaner aus der Architektur, Raumplaner und Bauingenieure werken gemeinsam mit Ökonomen, Juristen und Politikern an dem Organismus Stadt, ohne dass sie ein gemein33 Riedl, R. (1985): Die Spaltung des Weltbildes. Biologische Grundlagen des Erklärens und Verstehens. Verlag Paul Parey, Berlin und Hamburg.

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Trennung der Disziplinen und die Folgen

Abb. 43 Schichtenbau der Evolution und Bereiche der Disziplinen mit ihren zugehörigen Schichten (nach RIEDL, R., 1985).

sames Verständnis oder eine gemeinsame Methode für das Verständnis dieses komplexen Gebildes haben. Jeder trägt so seinen Teil zur weiteren Zerstörung der Stadt bei. Die Soziologie auf dem Weg zur Erkenntnis Eine der wenigen Disziplinen, die sich wissenschaftlich systematisch mit dem Städtebau in erweiterter Art und Weise auseinandersetzt, ist die Soziologie im Allgemeinen und die Stadtsoziologie im Besonderen. Vertreter dieser Disziplinen liefern hervorragende Beschreibungen und Analysen sozialer Strukturen, wie etwa A. Mitscherlich oder J. Jacobs zu den amerikanischen Städten ( JACOBS, J., 1970). Beide scheitern allerdings am Verständnis des Menschen und seiner Verwandlung zum Autofahrer. Diese grundlegende Wesensveränderung, die auf den tiefen Evolutionsschichten des Energiehaushaltes des menschlichen Körpers stattfindet, wird von der Soziologie nicht erfasst. Die von den Autoren vorgeschlagenen Lösungen, so richtig die Analysen in den Oberschichten und für viele Erscheinungsformen der städtischen Gesellschaft auch sein mögen, kommen dem Problem, das sie vorgeben zu lösen, nicht wirklich nahe. Ihre Therapie scheitert daher, weil sie nicht in die Schichten vor87

Evolutionäre Grundlagen

dringt, in der die Ursachen liegen. Der Mensch, so mit dem Auto stark verbunden, verlässt mit diesem die Stadt, um sich günstigere Standorte zu suchen und löst sich nahezu wie selbstverständlich von der Gemeinschaft der Stadt. Dazu wird ihm dieses Verhalten durch die Verwaltung heute auch noch über die Bauordnungen nicht nur erleichtert, sondern rechtlich aufgezwungen.34 Jane Jacobs kann sich etwa nicht von der fixen Vorstellung von Fahrbahn und Gehsteig lösen, obwohl ihre Analyse bezüglich des Straßenraumes und der Nutzungsvielfalt sowie der Qualität der öffentlichen Räume, mit denen sie aber vor allem Gehsteige (Sidewalks) meint, richtig ist. Ihr fällt aber nicht auf, dass bereits im Begriff „Sidewalk“ der Untergang ihrer beschworenen Welt enthalten ist, weil der „Mainwalk“, nämlich der Carriageway oder dem, was sie als „Street“ bezeichnet, die sozialen Bindungen, von denen sie spricht, zerschneidet. Die klare Analyse von Jansson bezüglich der Verkehrssicherheit führt uns bereits einen Schritt weiter ( JANSSON, J. O., 2003)35. Jansson weist nach, dass der Autoverkehr aus allen Siedlungsgebieten allein aus ökonomischen Gründen der Verkehrssicherheit zu verbannen ist. Wie schon kleine Mengen an Autoverkehr die sozialen Netze zerstören, zeigt die folgende Darstellung einer Untersuchung von D. Appleyard 198136. Mit dem Auftreten des Autos war der menschengerechte Städtebau der sozialen Bindungen, der schon wegen der Eisenbahnen gelitten hat, zu Ende. Städte, die für Menschen gebaut und betrieben werden, unterscheiden sich grundlegend von den Städten der Autofahrer. Der Mensch baut und braucht Städte für seine Weiterentwicklung. Der Autofahrer gestaltet Agglomerationen und zerstört die Vielfalt und den Maßstab der menschlichen Städte. Er muss sie zerstören, um seine Mobilitätsbedürfnisse zu befriedigen, und löst deren Bindekraft, die Beziehung zwischen den strukturbildenden Elementen, auf. Je häufiger und je enger diese Verkehrsbeziehungen zwischen gebauten Strukturen sind, umso stärker ist die Kraft, die eine Siedlung zusammenhält. Die von J. Jacobs beschworene Vielfalt und Lebendigkeit städtischer Strukturen sind nur möglich, wenn deren Zusammenhalt über 24 Stunden des Tages in einem hohen Maß gesichert wird. Wovon diese Autorin träumt, ist in Wirklichkeit die mittelalterliche Stadt, allerdings mit neuen Technologien ausgestattet. Dies ist aber nur dann realistisch, wenn man dafür sorgt, dass die intrinsische Bindekraft erhalten bleibt. J. Jacobs versucht, die Phänomene innerhalb der Schichten der Soziologie zu erklären, die Bedrohung kommt aber aus viel tieferen, physischen Ebenen, die auch schon das Denken der Autorin verändert haben. 34 Durch Parkplatzvorschriften in den Bauordnungen. 35 Jansson, J. O. (2003): Counterfactual Analysis of Urban Transport Development. 16th International ECMT Symposium on Theory and Practice in Transport Economics. 29–31 October 2003; Budapest. 36 Appleyard, D. (1981): Livable Streets. University of California Press, Berkeley – Los Angeles – London.

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Trennung der Disziplinen und die Folgen

Abb. 44 Beispiel für die Trennwirkung durch den Autoverkehr (APPLEYARD, D., 1981) und die damit verbundene Zerstörung der inneren Bindungskräfte einer menschlichen Siedlung.

Ein Auto, das allein zum Parken mehr Platz beansprucht als 20 Fußgeher zum Gehen, zerstört und behindert allein durch seine Anwesenheit die Beziehungen der Menschen im Siedlungsraum, weil es sie voneinander trennt, den sozialen Zusammenhalt im öffentlichen Raum unterbindet. Wenn der Zusammenhalt quer zur Längsrichtung unterbrochen oder geschwächt wird, zerfällt die Siedlung in Einzelteile. Damit geht auch der Maßstab der Bebauung verloren. Es entstehen die großen, nicht mehr durchgängigen Baublöcke, die in keiner menschengerechten Siedlung anzutreffen sind. In einer solchen bestimmt die Maschenweite des Wegenetzes der Fußgeher die Dimensionen der Bebauung. Werden die Querbindungen über die Straße durch Fahrbahnen behindert oder unzulässig verlängert und zusätzlich noch durch eine attraktive Längsrichtung für die Autobenutzer ersetzt, kann 89

Evolutionäre Grundlagen

Abb. 45 Gäbe es die trennende Fahrbahn mit dem Autoverkehr nicht, könnte man etwa 10 Freunde auf der anderen Fahrbahnseite haben. Die dynamische Barriere reduziert die Beziehungen auf ein Minimum und ist schon bei geringen Mengen an Autoverkehr stark trennend.

jeder Teil der Siedlung auch an jedem anderen Ort angeordnet werden. Die Funktionen fallen auseinander. Die Stadt oder die Siedlung können und werden sich im Umland auflösen, wie es tausende Beispiele zeigen. Die entscheidenden Querbeziehungen, Voraussetzung für Durchmischung, Vielfalt und Kleinteiligkeit, die Sozialkontakte ermöglichen, werden unterdrückt. Wie schnell der Autoverkehr die siedlungserhaltenden Funktionen zerstört, ist aus den folgenden Diagrammen, die aus der vorherigen Studie abgeleitet wurden, zu erkennen. Ohne Autoverkehr hätte man auf der anderen Straßenseite etwa 11 Freunde und 18 Bekannte. Laut Diagramm reduzieren aber schon 200 Fahrzeuge in der Stunde diese Beziehungen bereits auf ein Drittel. Steigt der Autoverkehr weiter, isoliert er die Menschen der ­einen Fahrbahnseite von denen auf der anderen. Dadurch wird die Stadt zerstört, zer­ schnitten. Die inverse Funktion ist die logarithmische Beziehung, in der die Menge des Auto­verkehrs als Intensität der negativen Reizung wirkt. Die Zahl der Freunde und Bekannten ist das Ergebnis aus Beziehungen zwischen den Menschen, die auf Empfindungen beruhen und durch den Fahrzeugstrom negativ beeinflusst werden. Damit kann man die Zerstörung des sozialen Netzes einer Siedlung quantitativ nachweisen.

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Ist Bindekraft Freiheitseinschränkung?

Abb. 46 Von den rund 18 Bekannten, die man hätte, gäbe es die Barriere des Autoverkehrs nicht, bleibt nur ein Bruchteil übrig.

4.14 Ist Bindekraft Freiheitseinschränkung? So unangenehm dies auch klingen mag, Bindung an die Nähe bedeutet auch ein gewisses Hindernis, den lokalen Zwängen und Verpflichtungen räumlich leicht zu entkommen. Für die heute Aufwachsenden ist die Nähe bereits verloren, uninteressant und hässlich. Nur die Ferne scheint verlockend zu sein – zumindest bis man mit dem Auto dort ist und dieses auch dort die erwünschte Nähe, die man gesucht hat, zerstört. Diese Bindung an die Stadt ist nur möglich, wenn die Elemente – also in diesem Fall die Bürger – nicht voneinander und von den lokalen Geschäften technisch isoliert sind und gleichzeitig über große Mengen leicht zugänglicher und billiger Energie für individuelle Fernmobilität verfügen. Ohne diese lokalen, räumlichen Bindungen ist keine Steigerung des intrinsischen Wertes einer Siedlung oder Stadt möglich. Lebendige größere Gemeinschaften bedürfen strukturbildender Elemente und diese beruhen auf Bindungen zwischen Menschen und damit dem Verzicht auf rücksichtslose individuelle Freiheit. Der Begriff des Holons hilft uns dabei. Ob aus Atomen Moleküle oder aus Familien und Haushalten Dörfer oder Siedlungen entstehen, immer ist ein gewisses Maß an individueller Freiheit für den Gewinn der Gemeinsamkeit abzugeben. Daraus entsteht aber auch wieder der Nutzen für den Einzelnen, der intrinsische Wert erreicht eine neue, höhere Ebene. Nur so kann die Integration zu immer komplexeren Strukturen erfolgen. Aus diesem Zwang zur Nähe entstanden im Städtebau über Jahrtausende Orte der Schönheit, Vielfalt, aber auch soziales Verhalten, Kultur und die lokale Wirtschaft. 91

Evolutionäre Grundlagen Abb. 47 Urban Sprawl, die Zersiedlung, wie sie in den USA zur Auflösung der Städte führte. Die Siedlung entspricht etwa dem, was Konrad Lorenz als „anonyme Reiherkolonie“ bezeichnet.

Abb. 48 Wie in den USA, so in Südafrika – Neubaugebiete der aktuellen Regierung: „jeder Familie ein Haus“. Neue Slums nach dem Muster von Soweto werden so geschaffen.

Die Wirkung neu gewonnener, individueller, räumlicher Freiheit Hebt man diesen Zwang zur Nähe durch den Autoverkehr auf, entstehen�������������������� räumlich vorübergehend ein gewisses Maß an individueller Freiheit und eine Zunahme an Wahlmöglichkeiten für die Autonutzer. Die „Erreichbarkeit“, von deren Erweiterung herkömmlich ausgebildete Planer immer reden, nimmt für die schnelleren Verkehrsteilnehmer zunächst sprunghaft zu. Allerdings nur so lange, wie die kleinräumigen Strukturen der Fußgeher die übrigen Funktionen noch in der Nähe erhalten. Haben sich die Strukturen an die neuen Randbedingungen angepasst, ist die Erreichbarkeit für die Langsamen verloren und die Schnellen erreichen auch nicht mehr als die Langsamen vorher. Gesiedelt wird dort, wo billiger Grund zu haben ist. Der Grund ist deshalb so billig, weil dort auch nichts zu finden ist außer Baugrund zum Wohnen. In der Folge entstehen Supermärkte an der Peripherie der Städte, nur mehr von Autobenutzern erreichbar. Dies führt zum Niedergang der kleinräumigen städtischen Funktionen und Strukturen, weil sie ihre Kunden verlieren. Die Städte veröden flächenhaft – und

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Ist Bindekraft Freiheitseinschränkung?

Abb. 49 Der Niedergang innerstädtischer Geschäfte wird leider nicht im Zusammenhang mit dem Auto und der Zersiedlung gesehen.

mit ihnen verödet auch der öffentliche Raum. 37 Dieser Prozess der strukturellen Umwandlung verläuft aber in der Regel so langsam, dass er der direkten menschlichen Wahrnehmung verborgen bleibt. Nicht nur dass man die Zusammenhänge nicht wahrnimmt, auch die einschlägigen Disziplinen haben sie nicht in ihren Betrachtungen erfasst. In den Lehrbüchern, wie etwa bei Bökemann38 („Theorie der Raumplanung“), werden nur Standortvorteile, nicht aber die damit immer verbundenen Standortnachteile behandelt. Hand in Hand mit dieser strukturellen Verarmung nimmt die soziale Isolierung zu. In dem Buch „Bowling Alone“ von Robert Putnam beschreibt diese Entwicklung den Niedergang des Sozialkapitals in den amerikanischen Städten.

37 Knoflacher, H. (1990): Einzelhandel, Geschwindigkeit des Verkehrssystems und Shoppingcenter. Salzburger Institut für Raumforschung, SIR Mitteilungen und Berichte, 1–4: 59–63. 38 Bökemann, D., (1982): Theorie der Raumplanung; regionalwissenschaftliche Grundlagen für die Stadt-, ­Regional- und Landesplanung, Oldenburg Verlag München und Wien.

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5 Das Auto – ein Virus, mehr als eine Analogie Als Virus bezeichnet man in der Biologie genetische Elemente in Form von Nukleinsäuren, die als Fremdbestandteile in Zellen von Lebewesen (Wirtszellen), unabhängig von deren eigenen Nukleinsäuren, mithilfe der Replikationseinrichtungen dieser Zellen repliziert werden. Bestimmte Viren „befallen“ Zellen von Pflanzen, Tieren und Menschen, Pilzen oder anderen Eukaryoten (Lebewesen mit Zellkern und Zellmembran). Viren kommen sowohl in den Wirtszellen als auch als freie Partikel außerhalb von Zellen vor. Letztere Erscheinungsform ist für ihre Verbreitung geeignet. Ein Viruspartikel außerhalb von Zellen bezeichnet man als Virion. Virionen bestehen aus einem Nukleinsäuremolekül, das im Gegensatz zur Virenform von einer Proteinhülle (Kapsid) umgeben ist. Bei einigen Virenarten besitzen die Virionen außer einer Proteinhülle noch weitere äußere Bestandteile, zum Beispiel eine Lipoproteinhülle (behüllt). Viren ohne Lipoproteinhülle bezeichnet man als unbehüllt. Virionen hingegen sind also immer behüllt, manchmal doppelt, mit einer Lipoproteinhülle zusätzlich zum Kapsid. Viren haben keinen eigenen Stoffwechsel, es fehlen ihnen sowohl Ribosomen wie auch Mitochondrien. Damit können sie selbst keine Proteine herstellen, keine Energie erzeugen und sich auch nicht selbst replizieren. Im Wesentlichen ist daher das Virus auf eine Nukleinsäure angewiesen, auf der die Informationen zur Steuerung des Stoffwechsels einer Wirtszelle enthalten sind, insbesondere zur Replikation der Virennukleinsäure und zur weiteren Ausstattung der Viruspartikel (Virionen). Wenn Viren einmal ihre Wirtszelle verlassen haben, stellen sie in der Regel rasch jegliche Aktivität ein. Hinsichtlich der Einordnung von Viren zu den Parasiten bestehen ebenfalls verschiedene Ansichten. Ein Teil der Wissenschafter betrachtet sie als solche, da sie einen Wirtsorganismus infizieren, um dessen Stoffwechsel für ihre eigene Vermehrung zu benutzen. Viren besitzen zwar spezifische genetische Informationen, aber nicht den für ihre Replikation notwendigen Syntheseapparat. Die Vermehrung erfolgt im Allgemeinen dadurch, dass sich ein Virion an eine Wirtszelle heftet (Adsorption oder Ankoppelung genannt) und sein Erbmaterial, die Nukleinsäure, ins Zellinnere bringt (Injektion). Wenn das Virion vollständig von der Zelle aufgenommen wird, muss es vor der Replikation erst von seinen Hüllen befreit werden (Uncoating). Das Erbmaterial des Virus, seine Nukleinsäure, wird anschließend in der Wirtszelle vervielfältigt und die Hüllproteine sowie gegebenenfalls weitere Bestandteile der Virionen werden anhand der Gene des Virusgenoms ebenfalls von der Wirtszelle synthetisiert (Replikation). 95

Das Auto – ein Virus, mehr als eine Analogie Abb. 50 Schema für das Ankoppeln des Virus an eine Zelle, die sich in der Folge in den Dienst des Virus stellt.

Abb. 51 Neue Viren werden freigesetzt.

Im Laufe der Evolution passen sich Viren einem speziellen Lebewesen oder mehreren Arten von Wirten zunehmend an, um sie nicht durch die Krankheitsfolgen zum eigenen Nachteil zu zerstören. Durch diese Anpassung wird die entsprechende Art zu einem „Reservoirwirt“ bzw. Hauptwirt. Die Schädigung seines Reservoirwirts ist für ein Virus kein erwünschter Effekt, da er zur eigenen Vermehrung auf diesen angewiesen ist. Dennoch sind beim Reservoirwirt ausgelöste Symptome Nebeneffekte der Infektion, im Grunde nicht beabsichtigt und eher als Unfall anzusehen (Verkehrsunfälle, Schäden durch Lärm und Abgase, Stadtzerstörung). Ist ein Virus besser an seinen Wirt angepasst, ist seine Chance größer, sich weiter zu verbreiten (durch differenzierte, kundenspezifische Autotypen). Auch wird der Wirt nicht mehr so häufig im Verlauf einer akuten Krankheitsphase getötet (abnehmende Unfallzahlen bei zunehmender Motorisierung). Für den Fall, dass 96

Das Auto – ein Virus, mehr als eine Analogie

der Wirt nunmehr nicht sofort wirksame Antikörper entwickelt, welche das Virus abtöten, kann das Virus den Wirt viel länger für seine eigene Vermehrung benutzen, wobei es hiermit sogenannte „Infect and Persist-Strategien“ anwendet (an der Motorisierungsentwicklung deutlich abzulesen). Ein an einen bestimmten Organismus noch nicht oder nur wenig angepasstes Virus verfolgt dagegen eine sogenannte „Hit and Run“-Strategie, bei der der infizierte Organismus im Verlauf einer akuten Krankheitsphase auch meist getötet wird. Allerdings wird diese Strategie auch von den an den Wirt besser angepassten Viren angewandt, gegen die der Wirt sehr schnell Antikörper entwickelt, welche das Virus eliminieren. Entscheidend zur Definition einer „Hit and Run“-Infektion ist allein, dass ein Wirt den betreffenden Viren nur während einer sehr kurzen Zeit für die Vermehrung zur Verfügung steht und auch nur einmal von derselben Virusart bzw. demselben Virusstamm oder Subtypen infiziert werden kann. (Autotypen mit schweren technischen Defekten, die in „Rückholaktionen“ aus dem Markt genommen werden.) An der Höhe der Letalität der von einem bestimmten Virus bei einem infizierten Organismus ausgelösten Erkrankung kann man erkennen, ob sich das Virus schon an diesen Organismus – und dieser eventuell auch an das entsprechende Virus – angepasst hat oder nicht. (Bei 1,2 Millionen Unfalltoten und der doppelten Zahl indirekt Getöteter weltweit ist es erstaunlich, dass man das Autovirus noch nicht entdeckt hat. Warum, wird noch zu erklären sein.) Schlussfolgerung Das Virus ist eine in der Evolution vorkommende Entität, der es gelungen ist, in den Energiehaushalt und die Informationsstruktur einer Zelle zu gelangen, um diese in seinem Sinn zu Handlungen zu bewegen, die möglicherweise zu ihrem Untergang oder zum Untergang des gesamten Wirtes führen können, zu dem diese Zelle gehört. Dies ist aber nur so lange möglich, wie es dem Virus gelingt, die Zelle in seinem Sinn in ihren Handlungen zu „manipulieren“. Die Zelle handelt dann nicht mehr im eigenen Interesse oder in dem ihrer „Art“. Sie handelt im Interesse des Virus und verändert ihr Verhalten so, wie es das Virus will – zu seinem Wohl. Sie löst sich aus dem Zellverband und beginnt eigennützig Viren zu replizieren – eine Tätigkeit, die ihr offensichtlich attraktiver erscheint als die bisherige Integration in die Gemeinschaft mit den anderen Zellen. Sie löst sich sozusagen aus dem „sozialen Gefüge“ des Gesamtorganismus und ihrer Nachbarzellen und macht nicht mehr das, was zur Aufrechterhaltung der gesamten Ordnung im Organismus notwendig ist. Sie verfällt in eine Art „Egozentrismus“, indem sie mit offensichtlich größerem Vergnügen die Freiheit nutzt, die ihr dieses neue Informations- und Energiesystem, das Virus, anbietet. Man braucht nun nicht mehr viel Fantasie, um die Parallelität zwischen diesen Strategien in der Natur und der Wirkung des Autos im Organismus der Stadt zu erkennen. Welche Zellen befällt aber das Virus Auto in dem Organismus einer Gesellschaft? 97

Das Auto – ein Virus, mehr als eine Analogie

5.1 Der Eingriff des Autos in das menschliche Hirn

Das Auto als ein technisches Produkt hoher Perfektion und offensichtlich idealer Anpassung an die menschlichen Bedürfnisse wird im Allgemeinen als technisches Gerät betrachtet, das die Mobilität der Menschen erhöht hat. Nüchtern betrachtet, ist das Gegenteil der Fall. Immobil sitzt der Mensch im Auto, das ihn dorthin bringt, wo die besten Möglichkeiten zum Abstellen zu finden sind, um seine Arbeitsplätze, Einkaufsmöglichkeiten und Freizeitaktivitäten um diese Abstellplätze anzusiedeln. Die autoorientierte Gesellschaft erzeugt daher die Strukturen, die zur Vermehrung und „Fortpflanzung“ der Autos erforderlich sind – und nicht mehr für die Menschen. Aus der Sicht der menschlichen Gesellschaft, die seit jeher eine Gesellschaft der Fußgeher und wegen der eingeschränkten räumlichen Reichweite gezwungen war, die Zivilisation und das Sozialverhalten zu entwickeln, bedeutet dies eine Erleichterung und Befreiung aus den lokalen Zwängen und wird auch als solche individuell empfunden. Diese sogenannte „Freiheit“ ist aber eine Absonderung aus der lokalen Gemeinschaft, die sonst nicht möglich wäre. Bei diesem Prozess wird aber ein Großteil der Mobilitätsmöglichkeiten für Menschen, also nicht motorisierte Verkehrsteilnehmer, eingeschränkt und zerstört. Erstaunlicherweise toleriert die Gesellschaft dieses Verhalten in einem nahezu unvorstellbaren Ausmaß. Allein das Beispiel der Verkehrstoten zeigt dramatisch die entstehende Werteverschiebung. Ein Bär, der noch keinen Menschen bedroht hat, wird, falls er sich menschlichen Siedlungen nähert, prophylaktisch getötet, während Autofahrer, die allein in Europa täglich mehr als 100 Menschen bei Verkehrsunfällen töten (reißen), nicht nur toleriert, sondern willig in die letzte Zelle einer Siedlung eingelassen werden. Der Mensch ist evolutionär ein Vielzeller mit einer enormen Anzahl und Vielfalt unterschiedlicher perfekt kooperierender Zellfunktionen. Bei deren Erforschung musste die Medizin entdecken, dass es Dinge gibt, die man zwar mit freiem Auge nicht sieht, die aber sehr wohl zu Krankheiten und zum Tod der Organe oder des Organismus führen, wie etwa Viren. Man geht daher davon aus, dass Viren und virale Infektionen nur von sehr kleinen Elementen ausgelöst werden, nicht aber von einem von Menschen selbst konstruierten technischen Gegenstand. Das Auto ist, wie jede technische Entwicklung, ein Produkt des Vielzellers Mensch, das seinen Ursprung im Hirn hat, dann mithilfe der Hände und Beine unter Heranziehung des Geschicks vieler Menschen zu einer veritablen und sehr beliebten technischen Einrichtung wurde. Dass sich damit Rückkopplungen auf die Menschen ergeben, die denen eines Virus gleichen, wurde weder vermutet noch erkannt. Das Auto, wie jedes technische Produkt aus dem Großhirn entstanden, kann sich nur dann durchsetzen, wenn es in der Rückkopplung über seine Benutzung direkte individuelle Vorteile erzeugt. Die Effizienz (Vorteil) wird über die Differenz zwischen erwartetem Energieeinsatz und der Erfahrung für den tatsächlichen körpereigenen Energieeinsatz re98

Der Eingriff des Autos in das menschliche Hirn

Abb. 52 Das Auto setzt sich tief in unserem Stammhirn fest und beeinflusst von dort nicht nur das Denken, sondern auch die Wahrnehmung und die Werte des Menschen, der damit zum Autofahrer mutiert. (Die ­schematische Darstellung zeigt den Sitz des Autos im Hypothalamus, von wo die Lebensprozesse grundlegend gesteuert werden.)

gistriert. Ist das Ergebnis dieser Rückkopplung positiv, wird es als Erfahrung gespeichert. Im Hypothalamus, der Schaltstelle für die Körperenergie, „setzt sich das Auto fest“ und greift in alle Entscheidungen, nicht nur die Mobilität betreffend, ein. Damit steuert es von dort die Funktionen im Hirn und über dieses die Organe so, dass dieser angenehme Zustand der positiven Rückkopplung von Erwartung und Erfahrung geringen Energieaufwandes für Mobilität mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln durchgesetzt und sichergestellt wird. Wegen der Wirkung auf die älteste Schicht der Lebewesen haben alle Bemühungen der späteren evolutionären Schichten keine Möglichkeit wirksamer Kompensation mehr. Es versagen daher die Kontrollen des Sozialsystems und der Kultur in dem Ausmaß, in dem Strukturen für das Auto geschaffen werden. Die „DNA für das Auto, seine Verkehrsanlagen, Fabriken, das Rechtssystem werden repliziert“ auf Kosten und zulasten der menschlichen Gesellschaft. Auf individueller Ebene verbündet sich das Auto mit dem Genom gegen das Gehirn, auf der Systemebene wirkt es als Virus auf die menschliche Gesellschaft.39 39 Knoflacher; H. (2009): Virus Auto. Die Geschichte einer Zerstörung. Verlag Carl Ueberreuter, Wien.

99

Das Auto – ein Virus, mehr als eine Analogie

5.2 Der raffinierte Weg zur Durchsetzung dieser Strategie Das Auto befällt zunächst die oberen Schichten der Gesellschaft, insbesondere die Hirne der Entscheidungsträger und einschlägigen Experten. Es sind dies auch die Ersten, die sich motorisieren. Einmal vom Autovirus befallen, sorgen sie dafür, dass günstigere Replikationsbedingungen für das Auto entstehen. Gesetze und Regeln werden erlassen, die dem Auto seine Vorteile sichern. Die Reichsgaragenordnung 1939 ist ein Beispiel dafür. Damit wurde die „gesetzlich vorgeschriebene Infektion“ des Menschen durch das Auto eingeführt, die bis heute in den meisten Bauordnungen der Länder kopiert (repliziert) wurde und in den vergangenen 50 Jahren dafür gesorgt hat, dass die einstigen Lebensräume der Menschen und ihrer Nachkommen nahezu überall in Räume für Autos umgewandelt wurden.

5.3 Eine weitere Analogie Ein Virus außerhalb der Wirtszelle stellt in der Regel seine Aktivitäten sehr schnell ein, es ist inaktiv, es wird zum Virion. Gleiches gilt auch für das Auto in analoger Form. Zum Unterschied vom Virus ist die Schutzhülle des „Virus Auto“ auch die Hülle, welche die „Wirtszelle“ des Vielzellers Mensch umgibt. Ohne den Lenker steht das Auto nur herum und verstellt wertvollen Raum. Es ist also noch viel schlimmer als die natürlichen Viren! Hätten Viren die technischen Möglichkeiten der Autoindustrie, würden sie „Werbefernsehen“ einrichten, Wettbewerbe veranstalten, bei denen der erste Preis der Gewinn eines Virus wäre. Der strategische Angriff gilt – wie sollte es anders sein – immer dem Steuerorgan in der Zelle, bei der menschlichen Gesellschaft dem „Hirn“. Und dieses ist in besonderer Form an Universitäten vertreten, insbesondere an technischen. Hier werden Bauingenieure, Raumplaner, Maschinenbauer und Architekten dazu ausgebildet, urbane Räume in Lebensräume für das Auto zu verwandeln – und nicht mehr für Menschen. So war das Hirn von Le Corbusier so vom Auto fasziniert (befallen), dass er die Menschen in die zweite Ebene verbannen wollte, um die Erde für die Autos freizubekommen. Er stellte die Prinzipien der Charta von Athen auf, die bis heute dazu führen, dass autogerechte Strukturen von allen Städteplanern, Raumplanern und Verkehrsplanern der Welt repliziert werden. Priorität der Autos vor den Kindern Die Analogie geht noch viel weiter: So wie eine von Viren befallene Zelle die Replikation ihrer DNA oder RNA gegenüber der Replikation des Virus zurückstellt, beginnt auch eine vom Auto befallene Gesellschaft die Replikation ihrer eigenen Nachkommen zu reduzieren, in städtischem Gebiet ebenso wie in Landgemeinden. Es sinkt die Zahl der Kinder mit zunehmendem Motorisierungsgrad. In den Bauordnungen und deren Anwendung wird 100

Eine weitere Analogie

Abb. 53 Mehr Autos – weniger Kinder (Deutschland 1950–2000).

Abb. 54 Abnehmende Kinderzahl mit zunehmendem PKW-Besitz in Kleinstädten und Landgemeinden (Daten aus der Periode 1987–1999).

die Menschenfeindlichkeit heutiger Siedlungs- und Verkehrsplanung praktiziert, wenn bei Androhung von Strafe verlangt wird, ausreichend Bewegungsflächen und ausreichend Parkplätze vorzusehen, nicht aber eine sichere Umwelt für Kinder. 101

Das Auto – ein Virus, mehr als eine Analogie

Abb. 55 Je höher der Anteil der PKW-Besitzer, desto geringer ist die Anzahl der Kinder.

In Österreich wie auch in der Schweiz ist die gleiche Tendenz nachweisbar. Auch im Mikrobereich, den Familien, ersetzt offensichtlich Autoliebe die Liebe zu den Kindern. Es besteht diesbezüglich auch kein Unterschied zwischen Landgemeinden und der Stadt. Menschen sind, wie alle Lebewesen, intelligent und passen sich daher dem lebensfeindlichen Umfeld an, indem sie die Reproduktion der eigenen Nachkommen reduzieren, wenn die Autos den Lebensraum immer mehr besetzen. Megacities, eine Folge der Disparitäten Die Bevölkerungszunahme erfolgt heute vor allem in den Ländern mit niedriger Motorisierung in einer Form, die in der Geschichte der Menschheit neu ist. Die Zahl der Megacities und auch ihre Größe nehmen exponentiell zu. Diese Entwicklung zeigt das Wirken von positiven, unkontrollierten und damit gefährlichen Rückkopplungsprozessen. Warum aber ballen sich die Menschen oft unter unbeschreiblichen Verhältnissen in der Stadt, anstatt ein Leben auf dem Lande zu führen wie bisher? Es gibt dafür eine Vielfalt an Gründen, die alle mit dem Verkehrssystem zusammenhängen. Zunächst das Nachrichtensystem, das Fernsehen, das vor allem die attraktiven oder luxuriösen Lebensformen der Stadt propagiert. Die scheinbare Mühelosigkeit und Sicherheit sowie die Entbindung von persönlichen sozialen Verpflichtungen in kleinen überschaubaren Gemeinschaften und schließlich die Reduktion des Lebens auf den Gelderwerb spielen dabei entscheidend mit. Die Investitionen für ein attraktives Leben werden außerdem auf die Städte konzentriert. Die Voraussetzung dafür sind schnelle Transportsysteme 102

Eine weitere Analogie

und die aus dem Erdöl gewonnene Produktionssteigerung der Landwirtschaft (in manchen Gebieten), die leider ein Ablaufdatum hat. Die zunehmende Disparität zwischen dem Leben auf dem Lande und der Stadt, besonders in Ländern mit niedriger Motorisierung, ist auch eine Folge der räumlichen Entkopplung zwischen diesen Lebensbereichen durch die Verfügbarkeit von Kraftfahrzeugen und billiger fossiler Energie, auf die schon Ivan Illich hingewiesen hat. 40 Abb. 56 a u. b Sowohl die Zahl der Millionenmetropolen mit über 1 Million Einwohnern als auch die Zahl der Megacities mit über 8 Millionen Einwohnern, vor allem in Ländern mit noch niedrigem Motorisierungsgrad, steigen ­exponentiell.

Entwicklung der Zahl der Millionenstädte > 1 Mo EW

Entwicklung der Zahl der Megastädte über 8 Mio EW

Ausschaltung der Selbstregulierung durch Experten und Regierungen Dem Virus Auto ist es bisher auch gelungen, sämtliche Selbstregulierungseffekte, die periodisch an der Verflachung der Motorisierung erkennbar sind, mit immer neuen Impulsen zu überwinden und sein Wachstum entgegen allen Regeln der Vernunft, der Ökologie und des Sozialsystems weiterzutreiben. Traditionell ausgebildete Verkehrs- und Städteplaner haben in den beiden vergangenen Jahrhunderten dieser Eigendynamik jedes Hindernis aus dem Weg geräumt, indem sie, wenn die Zuwachsraten auch sinken, ständig neue Anreize durch 40 Illich, I. (1974): Die sogenannte Energiekrise oder die Lähmung der Gesellschaft. Rororo Nr. 1763. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg.

103

Das Auto – ein Virus, mehr als eine Analogie

weitere Fahrbahnen und Parkplätze erzeugen. Und die vom Autovirus befallenen Regierungen und die Bevölkerung lassen dies nicht nur zu, sondern unterstützen dieses Treiben noch nach Kräften – und wundern sich, wenn Sozialsysteme zusammenbrechen oder die Daseinsvorsorge nicht mehr finanzierbar wird.

Abb. 57 Die immer wieder erkennbaren Ansätze zur Stabilisierung der Motorisierung, erkennbar an der periodischen Verflachung der Linien, wurden ständig durch Erweiterungen im Interesse des Autoverkehrs verhindert.

Der Einfluss des Autos auf den Menschen ist derart groß, dass es nicht nur sein Wertesystem verändert, sondern auch seine Wahrnehmung der Realität. Der Mensch sieht nicht mehr das, was für ihn notwendig und zweckmäßig ist, sondern das, was zweckmäßig für das Auto ist. Die Grenzwerte autoorientierter Disziplinen, wie des Verkehrswesens, bezüglich des Lärms liegen weit über den Grenzwerten einer menschengerechten Medizin. Wo nachts 35 Dezibel notwendig wären, sind über 55 Dezibel zugelassen – und noch mehr werden toleriert, um nur den Autoverkehr nicht einzuschränken! 104

Wie erkennt man einen vom Auto befallenen Menschen – und Planer?

5.4 Wie erkennt man einen vom Auto befallenen Menschen – und Planer? Ein solcher argumentiert und agiert ähnlich wie ein Suchtgiftabhängiger, nicht im Sinne der Logik eines Menschen, sondern im Sinne der Logik des Autofahrers. Er identifiziert sich mit dem Auto, was in der deutschen Sprache ohnehin sehr deutlich zum Ausdruck kommt, wenn auf die Frage: „Wo stehst du?“, beim Treffen zweier Personen die Antwort kommt: „Zwei Gassen weiter im Halteverbot.“ Versucht man, den Lebensraum für Menschen dadurch zu verbessern, dass man das Auto aus diesem entfernt, um Sicherheit, reine Luft und Ruhe wiederherzustellen, fallen dem Autosüchtigen eine Fülle von Argumenten ein, warum dies nicht gemacht werden kann, weil er das Auto „für den Einkauf“, „für den Transport der Kinder“, „aus Sicherheitsgründen“ besonders in der Nacht braucht. Auch „braucht man das Auto in unmittelbarer Nähe des Arbeitsplatzes, der Freizeiteinrichtungen, der Schulen“ usw. Vom Virus befallene Planer sind daran zu erkennen, dass sie zuerst an die Erfüllung aller Bedürfnisse des Autos denken – und meist nicht weiter. Ihre Maßeinheit ist die PKW-Einheit, nicht mehr der Mensch. Eine Verkehrspolitik, die sich am Menschen orientiert, erfordert sowohl vom Politiker als auch von seinen Beratern besondere Fähigkeiten: Sie müssen um das Autovirus im Kopf Bescheid wissen, selbst aber gegen den Befall immun sein oder sich immunisieren. Abb. 58 a u. b Die Abnormität des Verhaltens wird erst sichtbar, wenn der Mensch als Zweibeiner die gleiche Fläche in Anspruch nimmt, die dem Autofahrer zugestanden wird.

105

Das Auto – ein Virus, mehr als eine Analogie

Abb. 59 a u. b Die Verwüstung des menschlichen Lebensraumes durch parkende und fahrende Fahrzeuge wird ebenso wenig von einer von diesem Virus befallenen Gesellschaft wahrgenommen wie die Lebensbedrohung durch Abgase oder Lärm.

Praktische Hinweise zur Immunisierung Praktische Erfahrungen sammeln: • Mindestens zwei Stunden – in einem Rollstuhl – im täglichen Umfeld die bekannten Ziele erreichen. • Empathie zu den Kindern und Alten entwickeln. Abb. 60 Protokoll über die gesammelten Erfahrungen, Barrieren, Erreichbarkeit von Arbeitsplätzen und ­Geschäften, Benutzung des öffentlichen Verkehrs etc.

Das Ergebnis der heutigen Stadtplanung: unhygienische Zustände Werden durch äußere Bedingungen Menschen systematisch krank oder nimmt die Todesrate zu, handelt es sich in der Regel um unhygienische Zustände, unter denen sie zu leben haben. Genau diese Umwelt schafft die herkömmliche Stadt- und Verkehrsplanung. Sie erzeugt die ungesunden und krank machenden Verhältnisse durch ihre Strukturen. Einem Arzt, der seine Patienten dadurch krank macht, gefährdet oder tötet, dass er bei Operationen die elementaren Hygienevorschriften missachtet und Viren sowie Bakterien in die Wunden 106

Wie erkennt man einen vom Auto befallenen Menschen – und Planer?

80 70 60 50 40 30 20 10 0

Truck

Bus

Car

TSR

Mumbai

MTW

Delhi

HAPV Bicycle Pedest

Highways

Abb. 61 Statistische Daten (Prozentverteilung der getöteten Verkehrsteilnehmer in zwei indischen Großstädten und auf Autobahnen) zeigen die Wirkungen dieses künstlichen, von Menschen geschaffenen Gebildes (Quelle: IIT 2002).

Fatalities per 100m trips 25 20 15 10 5 0

Car

Bus Access

In vehicle

Bicycle Others

Abb. 62 Kopenhagen, eine der verkehrssichersten Städte der Welt. Die Daten zeigen die Gefährlichkeit der kurzen Fußwege beim Zu- und Abgang zum öffentlichen Verkehr (Quelle: Geetam Tiwari, IIT Delhi).

107

Das Auto – ein Virus, mehr als eine Analogie

Abb. 63 a u. b Die wirksame Therapie zur Genesung der Städte und Siedlungen: eine Parkraumordnung, die Rücksicht auf die Fähigkeiten der Menschen nimmt. Die untere Skizze lässt hinsichtlich unterschiedlicher Gestaltung der Zugangswege ein größeres Spektrum an Möglichkeiten zu.

einbringt, würde man die Berufsausübung verbieten. Genau das Gleiche muss die Gesellschaft auch mit jenen Beamten, Planern oder Politikern machen, die nicht in der Lage sind, bei ihrer Tätigkeit das Auto aus ihrem Hirn zu entfernen. Die Daten geben das Systemverhalten, in den beiden vorigen Beispielen die Produktionsrate an Getöteten an. In beiden Fällen sind die Hauptopfer nicht motorisierte Verkehrsteilnehmer und in beiden Fällen ist es das von Planern geschaffene System, das diese Daten produziert.

108

Therapie

Konsequenzen für die Praxis: Wer mit dem Auto im Kopf plant oder entscheidet, ist zum Schutz der Menschen aus dem Amt zu entfernen. Viele Planer und Planerinnen werden – außer durch den eigenen Befall – auch noch von ebenso mit dem Virus Auto befallenen Lehrern an Universitäten und den bestehenden Richtlinien nachhaltig infiziert. Unhygienische Zustände als Folgen ihrer Tätigkeit sind daher das logische Resultat herkömmlicher Lehren in der Stadt- und Verkehrsplanung der vergangenen 100 Jahre. Jährlich sterben an diesem Virus mehr als 40.000 Menschen allein in Europa, weltweit über 1,2 Millionen!

5.5 Therapie Die wirksamsten Anti-Viren-Therapien in der Medizin sind solche, die das Ankoppeln an der Wirtszelle verhindern. Hier bemüht sich die Forschung, Stoffe zu entwickeln, die Viren als solche erkennbar machen und das Ankoppeln an die Wirtszelle verhindern. Diese Therapie wirkt auch beim Menschen und seinen Siedlungen, wie es die empirischen und theoretischen Befunde zeigen. Das Ankoppeln kann nur durch die physischen Strukturen verhindert werden. Diese müssen so beschaffen sein, dass das Auto nicht mehr zu den individuellen Aktivitäten des Menschen im Raum vordringen darf, sondern vorher kontrolliert untergebracht wird. Ein nicht wie ein Virus wirksames technisches Verkehrsmittel ist der öffentliche Verkehr. Dieser verändert zwar die Siedlungs- und Wirtschaftsstrukturen im Makrobereich zum Teil grundlegend, nicht aber im Mikrobereich, der Nähe. Der öffentliche Verkehr ist daher ein sozial verträgliches, ja sogar die Sozialisierung förderndes Verkehrsmittel. Da er raumzeitlich ähnliche (nicht gleiche) Effekte hat wie das Auto, ist es daher naheliegend, dass, um die „Infektion mit dem Auto“ zu vermeiden, dieses in zumindest gleicher oder größerer Entfernung von den menschlichen Aktivitäten abgefangen werden muss, als die Haltestelle des öffentlichen Verkehrs von ihnen entfernt ist. Dies hat nicht nur physisch und physiologisch eine ähnliche Wirkung wie die Medikamente, mit denen das Ankoppeln der Viren an der Zelle verhindert wird, sondern noch den Effekt, dass es auch psychologisch, also auf den darüberliegenden Ebenen, massive antivirale Wirkungen auslöst. Ist man nicht mehr in der „Virenhülle Auto“, kann das beliebte Imponiergehabe gegenüber Nicht-Motorisierten nicht mehr so ausgelebt werden. Auch der „Jagdtrieb“ sinkt deutlich, weil man zum „Jagdgerät“ weitere Wege zurücklegen muss als zur „Beute“, dem Arbeitsplatz oder Einkauf, die sich wieder in der Nähe befinden müssen. Das Statussymbol, an der Marke oder anderen Merkmalen der „Kapside“ (als die man ja die Karosserien der Autos bezeichnen kann) erkennbar, fällt weitgehend weg etc. 109

Das Auto – ein Virus, mehr als eine Analogie

Erst unter diesen physischen Bedingungen ist der Mensch vor dem unmittelbaren Befall weitgehend geschützt. Er muss sich wieder mit den Mitmenschen (Zellen) in einer Gemeinschaft darum bemühen, die „DNA in der Gemeinschaft“ zu tragen. Anstatt Autolärm hört man das Kindergeschrei oder die Gespräche der Menschen, statt der individuellen Bequemlichkeit zulasten der Gemeinschaft gibt es wieder soziale Verantwortung und Sicherheit. Anstatt der rücksichtslosen Eigeninteressen sind Strukturen gefragt, welche die volle Funktionsfähigkeit der größeren Zelle in der Gemeinschaft der Menschen fördern und erleichtern, wozu die Geschäfte für das tägliche Leben, Arbeitsplätze in der Nähe, Freizeit­ aktivitäten in unmittelbarer Umgebung, also die DNA einer Stadt für Menschen, gehören. Die derzeit geübte Praxis, von Viren befallene Zellen durch einen in der Regel harmlosen Entzug an Energie – nämlich Road Pricing – zu kontrollieren, ist aussichtslos und sozial auf die Dauer unverträglich. Sie wird aber von der befallenen Gemeinschaft nicht nur leichter akzeptiert als eine wirklich wirksame Therapie, sondern hat vordergründig auch die geringeren Einführungsprobleme und Umsetzungskosten, ist aber auch unwirksamer. M ­ ediziner hätten selbst auf diese Therapie kommen müssen. Selbst der engagierte Ian R ­ obertson41 ­erkennt nicht die zentrale Ursache für die Krankheit, die er zu bekämpfen sucht. Die ­Geschichte der Medizin beweist, dass auch diese Disziplin bei der beschleunigten technischen Entwicklung erst im Nachhinein lernt.

41 Robertson, Ian / Edwards, Phil: The Energy Glut; Zed Books 2010.

110

6 Mobilität und Siedlung Um Mobilität im Zusammenhang mit Siedlungen zu verstehen, ist es notwendig, das Verständnis über diesen Begriff noch etwas zu vertiefen. Wie Mobilität derzeit behandelt wird, zeigt das folgende Zitat aus der Universität St. Gallen: „Mobilität von Gütern und Personen macht materiellen Wohlstand erst möglich. Handeln zwischen Regionen ist ohne Mobilität undenkbar, Spezialisierung und Arbeitsteilung ohne Verkehr sind utopisch. Zusammen mit dem Streben nach Wohlstand wird so das Bedürfnis nach Mobilität in den nächsten 50 Jahren weltweit massiv ansteigen. Von dieser Entwicklung ganz besonders betroffene Regionen sind Entwicklungs- und Schwellenländer. Die weltweite Zunahme der Nachfrage an Verkehrsdienstleistungen wird von Spezialisten insbesondere für den Güterverkehr erwartet“ („Mobility 2030“, Hochschule für Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften, St. Gallen 2004). Mobilität wird hier, losgelöst von allen Zwecken, als Automobilität grundsätzlich positiv dargestellt, zwar mit bestimmten negativen Auswirkungen, scheint aber ein unabänderliches Ding, so etwas wie ein Naturgesetz zu sein. Und dieses Verständnis ist bezeichnend für den heutigen geistigen Zustand, auch in einer anerkannten akademischen Ausbildungsstätte. „Materieller Wohlstand freilich ist aber nicht der einzige Effekt von Mobilität. Mehr Verkehr bedeutet auch eine höhere Belastung der Ökosysteme, führt in Städten zur Überlastung von Infrastrukturen, zu mehr Unfällen mit tödlichen Konsequenzen und bedeutet noch lange nicht, dass alle Menschen denselben Zugang zu Mobilitätsprodukten und -services, also dieselben Chancen auf Wohlstandswachstum, haben, denn Disparitäten nehmen mit der Geschwindigkeit des Verkehrs nicht ab, sondern zu.“ (KNOFLACHER, H., 2005) ­Bedürfnisse sind zu verstehen, bevor sie zu befriedigen sind.

6.1 Bedürfnisse – „Befriediger“ Siedlungs- und Verkehrsplanung versuchen, die Bedürfnisse der Bevölkerung, der Wirtschaft usw. bestmöglich zu erfüllen. Wie aber soll man die Bedürfnisse, die ja unbegrenzt zu sein scheinen, erfassen? Fehlt dafür ein systematischer tragfähiger Zugang, kann genau der gleiche Fehler passieren wie im Verkehrs- und Siedlungswesen des vergangenen Jahrhunderts. Ein spezielles Bedürfnis wird losgelöst vom System erfüllt, ohne auf die Folgen zu achten. Das „Mobilitätsbedürfnis“, womit Autofahren gemeint war, ist typisch für diese 111

Mobilität und Siedlung

Zeit oder das „Wohnbedürfnis“, das man durch „Wohnbauten“ zu befriedigen suchte. So kam es zu der heute noch vorherrschenden „nachfrageorientierten Planung“ für den Autoverkehr und den passenden „Wohnbauprogrammen“ im Siedlungs(un)wesen. Damit wurde eine Eigendynamik ausgelöst, die seither die Entwicklung der Städte und Dörfer mit zum Teil verheerenden Folgen steuert, lokale Wirtschaftsstrukturen verfallen, Verkehrsunfälle, Gesundheits- und Umweltschäden – und die Kosten – steigen dafür. Werden Bedürfnisse nicht methodisch strukturiert, entsteht der Eindruck der Unbegrenztheit. Die Fülle der Bedürfnisse scheint aufgrund ihrer Zahl und Vielfalt zunächst nicht fassbar, weil sie auf verschiedenen evolutionären Ebenen auftauchen. In der Praxis der Planung kann dies leicht zu ideologischen Vorstellungen führen, die dann im Städtebau je nach Neigung und Zeitströmung nahezu beliebig umgesetzt werden, im realen Sozialismus ebenso wie in den Ausprägungen des Kapitalismus. Dies hat auch Vorteile: Stadtplanung kann damit in eine von unfähigen Planern und populistischen Entscheidungsträgern erwünschte Beliebigkeit abgleiten und wird so zur Spielwiese für unqualifizierte Architekten und Stadtpolitiker, auf der sich ebensolche Verkehrsexperten nahezu jeder beliebigen Ideologie mit Begeisterung und passenden Modellen tummeln. So kann man, je nach aktueller Situation oder Lobbywunsch, einmal die Wohn-, dann die Mobilitätsbedürfnisse und dann wieder die Einkaufs- oder Freizeitbedürfnisse befriedigen. Gibt es aber überhaupt eine Möglichkeit, diese Aufgabe einigermaßen seriös zu bewältigen? Finden wir ein Werkzeug, dann ist es auf seine Brauchbarkeit dahin gehend zu überprüfen, ob es damit gelingt, die Komplexität des Systems auf einfache, fassbare, für die Praxis umsetzbare Grundprinzipien zurückzuführen.

6.2 Grundbedürfnisse Bedürfnisse stammen aus unterschiedlichen Schichten der Evolution. Denken wir etwa nur an Hunger und Durst oder das Bedürfnis nach Kreativität und Spiritualität. Die Evolution, wie sie Rupert Riedl darstellt oder Ken Wilber beschreibt, soll uns zur Erfassung und zum Verständnis der Bedürfnisse und ihrer Befriedigung Anleitungen liefern. Glücklicherweise steht uns eine Arbeit von Prof. Max-Neef zur Verfügung (MAX-NEEF, M. A., 1991)42. Die Arbeit stammt aus den Sozialwissenschaften; die Prinzipien können aber auf andere Disziplinen sinngemäß übertragen werden. Da ohnehin alle Rückkopplungen zu beachten sind und wir für Menschen planen, spielt die Ausgangsebene keine Rolle. Bekanntlich ist es bei einem System gleichgültig, wo man anfängt, es ist immer gleich falsch. Nur durch den 42 Max-Neef, M.A. (1991): Human Scale Development. Conception, Application and further Reflections. The Apex Press, New York.

112

Grundbedürfnisse

zyklischen Prozess des ständigen Durchlaufens des Regelkreises in Abb. 4 kann man sich der Realität nähern und so die Planung verbessern. Wir müssen dieses System auf Konsistenz überprüfen, ob es die Bedingungen der vier Quadranten (nach Ken Wilber) erfüllt. Ist dies der Fall, können wir anschließend die Elemente der Stadt- und Siedlungsplanung in dieses System eingliedern und bewerten. Wir planen Holone und diese müssen die Bedingungen der vier Quadranten auf der gleichen Ebene erfüllen. Max-Neef ist es gelungen, die Fülle der Bedürfnisse auf vier „Grundbedürfnisse“ zurückzuführen: • Sein • Haben • Tun • Interagieren Überprüfen wir die Konsistenz dieses Ansatzes anhand der vier Quadranten, dann ist „Sein“ auf der Ebene des Individuums nach innen bezogen, also der linke obere Quadrant, „Haben“ nach außen bezogen, also der rechte obere Quadrant. Das „Tun“ entspricht dem rechten unteren Quadranten, weil man dazu die Voraussetzungen benötigt. Das Interagieren entspricht dem linken unteren Quadranten, weil man dazu das Wir, die Gesellschaft (auf der sozialen Ebene) benötigt. Vor Ken Wilber ist es Max-Neef gelungen, ein System auf der Ebene der (sozialen) Bedürfnisse aufzustellen, das als ein brauchbares Prüfkriterium gesellschaftlicher, politischer, wirtschaftlicher, ökologischer und sozialer Bedingungen und damit auch in der Siedlungsplanung und im Verkehrswesen verwendet werden kann. Die verschiedenen Schichten der Evolution – sie sind bei Max-Neef nicht erwähnt – werden in seiner Zusammenstellung aber im Prinzip berücksichtigt. Die folgende Tabelle zeigt einen Auszug seiner Arbeit. Man beachte, dass die Bezugssysteme der Mensch und die Gesellschaft sind, womit wir auch die Beziehung zur Planung haben. Bedürfnisbefriedigung ohne Rücksicht auf die Wirkungen? Das Ergebnis der planerischen Tätigkeit ist die Bedürfnisbefriedigung, die „Satisfier“, wie sie Max-Neef bezeichnet. Diese kann aber unterschiedliche Wirkungen auslösen, die bisher in der Planung nicht beachtet wurden. Max-Neef unterscheidet grundsätzlich fünf unterschiedliche Typen: • Zerstörende Befriediger (Violators or Destroyers) • Pseudobefriediger (Pseudo-Satisfiers) • Hemmende Befriediger (Inhibiting Satisfiers) • Singuläre Befriediger (Singular Satisfiers) • Synergetische Befriediger (Synergic Satisfiers) 113

Mobilität und Siedlung

EXISTENZ

SCHUTZ

SEIN

HABEN

TUN

INTERAGIEREN

Phys. & mental.

Essen,

Nahrung

Kommunikati-

Gesundheit,

Trinken,

beschaffen &

onsraum, soziale

Gleichwertig-

Wohnung,

aufbereiten,

Regeln

keitsprinzip,

Beschäfti-

erholen,

Humor

gung

arbeiten

Autonomie,

Rechte, Ver-

Beteiligen,

Soziale Umwelt,

Anpassungs-

sicherung,

vermeiden,

Mitgefühl

fähigkeit,

Gesund-

planen,

Solidarität,

heitssystem,

helfen

Gleichwert

Familie, Justiz

GEFÜHL

VERSTÄNDNIS

PARTIZIPATION

Toleranz, Soli-

Freunde, Fa-

Emotionen

Privat- & Sozial-

darität

milie, Natur-

ausdrücken,

raum

verständnis

wertschätzen

Kritisches

Kommunika-

Forschen,

Unis, Schulen,

Bewusstsein,

tionstechnik,

studieren,

Familie

Neugierde,

Bildungs­

ausprobieren,

Disziplin,

politik,

analysieren

Verstand

Lehrer

Solidarität,

Bereitschaft,

Kooperieren,

Parteien,

Respekt,

Verantwor-

zustimmen,

Kirchen,

Adaption

tung, Ver-

ablehnen,

Gemeinschaften,

pflichtung,

fragen

Familie

Privilegien MÜSSIGGANG

Empfindlich-

Spektakel,

Tagträumen,

Landschaft,

Freizeit

keit, Rück-

Clubs,

entspannen,

Privatsphäre

sichtslosigkeit

Spielmög-

der Fantasie

lichkeiten

freien Lauf lassen

KREATIVITÄT

Verstand,

Methoden,

Arbeiten

Freiheit, Räume,

Neigung,

Training

entwerfen,

Feedback

Vorstellungs-

­interpretieren,

vermögen

forschen

114

Grundbedürfnisse

IDENTITÄT

Zugehörig-

Sprache,

Integrieren,

Was passt zu

keitsgefühl,

Symbole,

konfrontieren,

mir?, mitgestal-

Differenziert-

Werte,

sich selbst

ten

heit

Gruppe,

verstehen

Norm, ­Religion, ­Geschichte FREIHEIT

Toleranz,

Gleiche

Riskieren,

Gestaltungs-

Autonomie,

Rechte

wählen, diffe-

möglichkeiten

renzieren

schaffen

Bestimmtheit, offene Meinung

Tab. 2 Tabelle der vier Grundbedürfnisse und ihre Ausprägung in den verschiedenen sozialen Bereichen (Ebenen) (aus Max-Neef, M.A., 1991).

Die Eigenschaften leiten sich aus den Wirkungen dieser Satisfier ab. Bei Max-Neef sind es die Wirkungen auf die Gesellschaft, in der Planung auf alle Bereiche, von der Natur bis zur Kultur, von der Einzelperson bis zur Gesellschaft, von der Landschaft bis zur Wirtschaft in allen ihren Ausprägungen. Auf alles, in das man bei der Umsetzung der Planung eingreift. • Da die Ergebnisse unserer Planungen auch gebaute Strukturen sein können und diese, wie vorhin ausgeführt, das Verhalten der Menschen wesentlich und langfristig beeinflussen, müssen wir versuchen, mit dieser Klassifizierung die Auswirkungen unserer Maßnahmen zu bewerten, bevor sie realisiert werden. Gelingt dies, steht uns neben den üblichen quantitativen Methoden auch eine wichtige qualitative Methode zur Verfügung, die entscheidend ist, da Quantifizierung ohnehin nur eine Hilfsfunktion für die in der Planung immer anzustrebende Qualität sein kann. Verletzende Befriediger oder zerstörende Befriediger Verletzende Befriediger oder zerstörende Befriediger sind Maßnahmen oder Elemente mit einem paradoxen Effekt. Unter dem Vorwand, ein bestimmtes Bedürfnis zu befriedigen, zerstören sie nicht nur die Möglichkeit, dieses zu befriedigen, sondern machen die ausreichende Befriedigung anderer Bedürfnisse unmöglich. Max-Neef führt dazu folgende Beispiele an:

115

Mobilität und Siedlung

Vermeintliche Befriedigung

Vermutetes Bedürfnis

Bedürfnisse, deren Befriedigung bedroht ist

Wettrüsten

Schutz

Grundbedürfnis, Zuneigung, Anteilnahme, Freiheit

Verbannung

Schutz

Zuneigung, Anteilnahme, Identität, Freiheit

Nationale Sicherheit

Schutz

Grundbedürfnis, Identität, Zuneigung, Verständnis, Anteilnahme, Freiheit

Zensur

Schutz

Verständnis, Anteilnahme, Muße, Kreativität, Identität, Freiheit

Bürokratie

Schutz

Verständnis, Zuneigung, Anteilnahme, Kreativität, Identität, Freiheit

Autorität

Schutz

Zuneigung, Verständnis, Anteilnahme, Kreativität, Identität, Freiheit

Tab. 3 Beispiele für zerstörende Befriediger.

Im Siedlungs- und Verkehrswesen sind diese Zerstörer die Regel. Eine Fahrbahn für schnellen Autoverkehr zum Zweck der Erreichbarkeit und der Erschließung zerstört nicht nur die Erreichbarkeit, die vorher gegeben war, sondern auch jene für alle anderen Verkehrs­ teilnehmer, weil sie für diese eine Todeszone und gefährliche Barriere darstellt. Sie zerstört die Umweltqualität, die Naherreichbarkeit aufgrund �������������������������������������������� der durch sie induzierten Geschwindigkeiten und die daraus resultierende Strukturveränderung. Fahrbahnen für Autos im Siedlungsraum gehören zu den zerstörenden Satisfiern. Auch Gehsteige gehören in diese Kategorie. Parkplätze beim Objekt sind die schlimmsten zerstörenden Satisfier, die das herkömmliche Siedlungs- und Verkehrswesen verwendet. Sie befriedigen die Bequemlichkeit und das Bedürfnis nach Erreichbarkeit der Autofahrer, blockieren aber den Raum für alle anderen Aktivitäten. Sie unterdrücken alle anderen lebensnotwendigen Beziehungen der Siedlungen, ruinieren Kleinstrukturen, zerstören die Erreichbarkeit in der Nähe, den Erholungsraum, den Sozialraum, den öffentlichen Raum insgesamt, die lokale Wirtschaft, den menschlichen Maßstab, die reine Luft, das Stadtbild usw. Sie zerstören damit auch den Zweck, zu dem sie eingerichtet wurden, nämlich die Erreichbarkeit, selbst für alle übrigen Autobenutzer. Raumplanung, die räumliche Funktionstrennung betreibt, zerstört den organischen Zusammenhang von Siedlungen. Unter dem Vorwand vorsorgender Stadtplanung und Regionalentwicklung erzeugte diese Disziplin in den vergangenen Jahrzehnten jene Strukturen, die nur durch den ständigen Zufluss von fossiler Energie am Leben erhalten werden können. Ihre Hauptaufgabe ist die Umwandlung lebenserhaltender Naturräume in profitables Bauland. Sie vollbringt das Wunder der Wertschöpfung aus dem Nichts und ist deshalb in der Politik, die sich gerne gottähnlich fühlt, besonders beliebt.

116

Grundbedürfnisse

Weitere Beispiele für zerstörende Satisfier im Verkehrswesen sind Busbuchten für Autobusse. Sie sollen dem öffentlichen Verkehr dienen. Tatsächlich erzeugen sie aber Frustration bei dessen Benutzern, weil diese bei jeder Busbucht vom Autoverkehr überholt werden. Sie sind im Gegenteil ein Wettbewerbsvorteil für den Autoverkehr und gefährden den Zu- und Abgang für Fußgeher wegen der überholenden Fahrzeuge. Shoppingcenter sollen das Einkaufsbedürfnis befriedigen. Tatsächlich ruinieren sie aber die vielfältigen Geschäftsstrukturen der Siedlungen, reduzieren die Vielfalt der Angebote auf das für sie Profitable. Die Kommunikationsfunktion der kleinen Geschäfte und ihre wichtige soziale Aufgabe gehen verloren. Sie ruinieren damit fundamentale Netze des Sozialsystems von Siedlungen. Monofunktionale Hochhäuser erfüllen selbst die für sie vorgesehenen Funktionen nicht, denn die „Lagerung“ der Wohnbevölkerung entspricht selbst den elementaren Wohnbedürfnissen nicht, zu denen nicht nur die eigenen Räume gehören, sondern auch die sozialen Netze der Umgebung – und auch die heute so üblichen Ausstattungselemente des „öffentlichen Raumes“, wie Überwachungskameras, gehören zu den zerstörenden Befriedigern, weil sie keinen unmittelbaren Schutz wie in einer funktionierenden menschlichen Gemeinschaft bieten, sondern diese auch noch unterminieren und zur Bespitzelung – dem „großen Bruder“: dem Überwachungsstaat – führen. In den Diktaturen der Großkonzerne sind sie gemeinsam mit anderen „Überwachungseinrichtungen“ wichtige Elemente zur Kontrolle und Unterdrückung der Beschäftigten. Die Planung zerstörender Satisfier oder Zerstörer im herkömmlichen Verkehrs- und Siedlungswesen ist heute leider der Normalfall. Pseudobefriediger Pseudobefriediger täuschen das Gefühl der Befriedigung eines Bedürfnisses vor. Sie besitzen nicht die Aggressivität der „������������������������������������������������������������������ Verletzer“ und „Zerstörer“, sie können aber mittelfristig und längerfristig die Möglichkeit zunichtemachen, dieses Bedürfnis zu befriedigen. Von Max-Neef wird dazu folgende Tabelle angegeben: Befriedigung

Scheinbar befriedigtes Bedürfnis

Medizin für jedes Leid („a pill for every ill“)

Schutz

Erforschung nat. Ressourcen

Grundbedürfnis

Überhitztes Nationalgefühl

Identität

Formelle Demokratie

Anteilnahme

Schablonenhaftigkeit

Verständnis

Gesamtwirtschaftliche Indikatoren

Verständnis

Kulturelle Leitung / Kontrolle

Kreativität, Schöpfung

117

Mobilität und Siedlung

Prostitution

Zuneigung

Statussymbole

Identität

Besessene Produktivität unter dem Vorwand der Effizienz

Grundbedürfnis

Manipulation

Verständnis

Wohltätigkeit

Grundbedürfnis

Mode, Trend

Identität

Tab. 4 Beispiele für Pseudobefriediger im Sozialbereich.

Im Verkehrs- und Siedlungswesen sind wir ebenfalls nicht vor diesen Pseudobefriedigern gefeit. Die sogenannte Stadt der kurzen Wege oder die Funktionsmischung bei Beibehaltung des Autoverkehrs sind typische Beispiele dafür. Im Verkehrswesen sind dies etwa ­Tempolimits ohne Überwachung, Großprojekte der Bahn ohne Berücksichtigung des Gesamtsystems. Umfahrungsstraßen sind ein Zwischending zwischen zerstörenden Befriedigern und Pseudobefriedigern. Aber auch der Methoden der Planung bedienen sich diese Pseudobefriediger. Typisch dafür sind etwa Umweltverträglichkeitsprüfungen, die von den Projektbetreibern betrieben werden. Sie erwecken bei den Bürgern den Eindruck, man könne damit ein Projekt infrage stellen. Dies ist nicht der Fall, sie dienen nur dazu, Bürgerwiderstände zu unterlaufen und bestenfalls einige Verbesserungen an bestehenden Projekten anzubringen. Ein weiteres Beispiel ist die sogenannte „Bürgerbeteiligung“ ohne gleiche Mittelzuteilung an Gutachten und Verfahren – für die Gegner wie die Befürworter. Den Projektbetreibern stehen große, oft nahezu unbegrenzte Finanzmittel zur Verfügung. Bei öffentlichen Projekten wird häufig das Steuergeld der Bürger für Projekte gegen die Bürger eingesetzt, den steuerzahlenden Projektgegnern werden aber alle Mittel vorenthalten. Hemmende Befriediger Hemmende Befriediger gefährden in der Art, wie sie ein wichtiges Bedürfnis befriedigen (überbefriedigen), die Möglichkeit, andere Bedürfnisse zu erfüllen. Von Max-Neef stammt die folgende Tabelle: Befriedigung

Bedürfnis

Bedürfnisse, deren Befriedigung gehemmt wird

Patriotismus

Schutz

Verständnis, Anteilnahme, Freiheit, Identität

Überbeschützte Familie

Schutz

Zuneigung, Verständnis, Anteilnahme, Muße, Freiheit, Identität

118

Grundbedürfnisse

Taylorist-type of production

Identität, Verständnis, Muße, Zuneigung

Kreativität, Zuneigung, Freiheit

Autoritäre Schulklasse

Verständnis

Anteilnahme, Kreativität, Freiheit, Identität

(messianism, millenianism)

Identität

Schutz, Verständnis, Anteilnahme, Freiheit

Unbegrenzte Toleranz

Freiheit

Schutz, Zuneigung, Identität, Anteilnahme

Besessener wirtsch. Wettbewerb

Freiheit

Grundbedürfnis, Schutz, Zuneigung, Anteilnahme, Muße

Kommerzielles Fernsehen

Muße

Verständnis, Kreativität, Identität

Tab. 5 Auszug aus der Liste hemmender Befriediger.

Im Verkehrs- und Siedlungswesen werden diese hemmenden Satisfier auch gerne und oft unbeabsichtigt eingesetzt. Beginnen wir beim Verkehrswesen: getrennte Radwege, die der Verkehrssicherheit der Radfahrer dienen sollen. Tatsächlich werden sie aber meist nur dazu eingerichtet, um weitere Privilegien für den ungestörten Autoverkehr sicherzustellen. Lichtsignalanlagen für Fußgeher, die dem Schutz dienen sollen, fördern aber nicht das Verständnis, die Rücksichtnahme der Autofahrer gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern. Absperrungen und Barrieren, die das freie Queren der Fußgeher im Siedlungsraum behindern und angeblich dem Schutz dienen, hemmen die Befriedigung anderer Bedürfnisse, auch die Schulwegsicherung gehört dazu. Überall, wo Schutz in dieser Form angeboten wird, werden die anderen Bedürfnisse verletzt oder behindert. Statt der Schulwegsicherung ist die richtige Gestaltung und Organisation des öffentlichen Raumes, besonders um die Schulen, in einer Form, die sichere und unbehinderte Mobilität der nicht motorisierten Verkehrsteilnehmer ermöglicht, die richtige Maßnahme. Eine ausschließlich auf das Objekt reduzierte Architektur ist ein Ausdruck dieser hemmenden Satisfier, wenn sie im Siedlungsraum Objekte isoliert, ohne Rücksicht auf die Gesamtbedürfnisse im Umfeld. Sie vergisst und vernachlässigt damit alle übrigen Bedürfnisse, wie den Wetterschutz, die Vielfalt der Nähe, die Voraussetzungen für sichere und freie Interaktion im öffentlichen Raum usw. Die Raumplanung ist auf diese Art von Satisfiern geradezu spezialisiert, wenn sie zusammengehörige Siedlungsfunktionen trennt und an verschiedenen Orten anordnet. Monofunktionen behindern dann das Zusammenwachsen der Siedlungen, sie hemmen die Entwicklung sozialer Netze.

119

Mobilität und Siedlung

Singuläre Befriediger Singuläre Befriediger befriedigen nur ein einzelnes Bedürfnis, verhalten sich aber neutral gegenüber anderen Bedürfnissen. Befriedigung

Befriedigtes Bedürfnis

Maßnahmen, die Lebensmittel und Obdach bieten

Grundbedürfnis

Heilende Medizin

Grundbedürfnis

Versicherungssysteme

Schutz

Berufsheer

Schutz

Wahlen

Anteilnahme

Sportliche Wettkämpfe

Muße

Nationalität

Identität

Geführte Touren

Muße

Geschenke

Zuneigung Tab. 6 Ein Auszug aus der von Max-Neef angegebenen Tabelle.

Traditionell ausgebildete Planer nehmen aber die verheerenden Folgen ihrer Tätigkeit nicht wahr. Bei größter Nachsicht kann man reine Wohngebiete noch dazurechnen, tatsächlich sind sie jedoch aus der Sicht des Organismus einer Stadt meist hemmende, ja sogar zerstörende Satisfier, wenn Wohnungen nur zum Zweck der Unterbringung von Arbeitskräften in der arbeitsfreien Zeit errichtet werden. Die Raumplanung, die lebende Siedlungen durch räumliche Zerlegung der Funktionen gestaltet, versucht, jeweils einzelne Bedürfnisse zu befriedigen, erzeugt singuläre Satisfier, die auf der Systemebene aber als zerstörende Satisfier wirksam werden. Das Abstandsgrün im Siedlungsbereich dient nur der Optik. Kindertagesstätten oder Altenheime sind Beispiele für singuläre Befriediger. Haltestellen des öffentlichen Verkehrs, die nicht in den Siedlungsraum integriert sind. Die Müllabfuhr im engeren Sinn. Tatsächlich ist die Müllsammlung, wie sie heute organisiert ist, aus ökologischer Sicht sogar ein zerstörender Satisfier. Synergetische Befriediger Synergetische Befriediger stimulieren in der Art, wie sie ein wichtiges Bedürfnis befriedigen und darüber hinaus noch Möglichkeiten schaffen, auch andere Bedürfnisse zu befriedigen. Ein Auszug aus der Tabelle von Max-Neef zeigt die Kraft und Mächtigkeit dieser entscheidenden und wichtigsten Satisfier.

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Grundbedürfnisse

Befriedigung

Bedürfnis

Bedürfnisse, die auch befriedigt werden

Stillen

Grund­ bedürfnis

Schutz, Zuneigung, Identität

Selbstständiges Arbeiten

Grund­ bedürfnis

Verständnis, Anteilnahme, Kreativität, Identität, Freiheit

Allgemeinbildung

Verständnis

Schutz, Anteilnahme, Kreativität, ­Identität, Freiheit

Demokratie

Anteilnahme

Schutz, Zuneigung, Muße, Kreativität, Identität, Freiheit

(barefoot medicine)

Schutz

Grundbedürfnis, Verständnis, ­Anteilnahme

(barefoot banking)

Schutz

Grundbedürfnis, Anteilnahme, ­Kreativität, Freiheit

Demokratische Handelsbündnisse

Schutz

Verständnis, Anteilnahme, Identität

Direkte Demokratie

Anteilnahme

Schutz, Verständnis, Identität, Freiheit

Lernspiele

Muße

Verständnis, Kreativität

Selbstständiger Hausbau

Grund­ bedürfnis

Verständnis, Anteilnahme

Vorsorgemedizin

Schutz

Verständnis, Anteilnahme, ­Grundbedürfnis

Besinnung

Verständnis

Muße, Kreativität, Identität

Kultur-TV

Muße

Verständnis

Tab. 7 Ein Auszug aus der Tabelle von Max-Neef zeigt die Kraft und Mächtigkeit dieser entscheidenden Satisfier.

Diese Satisfier sind jene, auf die es in der Siedlungsplanung und im Verkehrswesen ankommt. Alle Maßnahmen, die nicht den Kriterien synergetischer Satisfier entsprechen, entsprechen auch nicht den Prinzipien der Nachhaltigkeit. Qualifizierte Planer dürfen gar keine anderen Maßnahmen ergreifen als solche, die zu synergetischen Satisfiern führen. Synergetische Satisfier bedeuten ja nichts anderes als Harmonie und Verstärkung der lebenserhaltenden Prinzipien. Nur wenn die Harmonie – also die Übereinstimmung der neuen Maßnahmen mit den oberen und unteren Schichten der Evolution – gelingt, kann die Entwicklung der Menschheit, der Gesellschaft, aber auch der Technik und der Städte Zukunft haben. Die Evolution lässt auf die Dauer keine anderen Strukturen zu als jene, die sich in Form von synergetischen Satisfiern bewährt haben. Wegen der langen Lebensdauer gebauter 121

Mobilität und Siedlung

Strukturen muss die Verantwortung der Planer nicht nur für deren Lebensdauer, sondern auch für die Dauer der von diesen Maßnahmen ausgelösten Wirkungen übernommen werden. Siedlungsexterne Garagen oder Parkplätze, mit denen das Eindringen von Autos in Siedlungsräume verhindert wird, sind die wirksamsten synergetischen Satisfier in unserer autohörigen Gesellschaft. Sie wirken sowohl auf den Verkehr als auch die Siedlungen positiv. Der Großteil aller öffentlichen Räume wird damit frei von Lärm, Abgasen, Todesgefahr und eröffnet eine Fülle von Möglichkeiten des Interagierens, des Habens, des Seins und des Tuns. Bei der Planung und dem Bau von Siedlungen sind etwa Halbfertigbauten zum selbstständigen Vollenden und Ausbau ein synergetischer Satisfier, der auf mehreren Ebenen wirksam wird. Sie fördern das Gemeinschaftsverständnis, entwickeln und nutzen bestehende Fähigkeiten verschiedener Personen, helfen, Gesellschaftsstrukturen zu optimieren, durchbrechen die Isolation der Familien und Individuen und machen bewusst, dass man für den Lebensraum und seine Gestaltung selbst verantwortlich ist. Abgesehen davon erzeugen sie ein Gefühl der Befriedigung und Zufriedenheit. Werden Siedlungen unter diesen Bedingungen gestaltet, werden Mängel, die von den Planern erzeugt wurden, rasch entdeckt und können daher rechtzeitig beseitigt werden. Gärten und begrünte Dachgärten sind ein exzellenter synergetischer Satisfier. Nicht nur aus ökologischer, sondern auch aus sozialer und gesellschaftlicher Sicht. Sie schaffen Erholungsräume in der Nähe, ermöglichen Aktivitäten verschiedenster Art, vermeiden Aufwand an Mobilität, speichern den Niederschlag, verbessern die Luft, kompensieren den Verlust lebenserhaltender Oberflächen usw. Dazu gehören auch privat oder gemeinschaftlich genutzte Gartenanlagen. Arkaden können bei guter Gestaltung multifunktionale Räume werden und sind ein wichtiger, heute oft vergessener Teil qualitativen Städtebaues. Fußgeherzonen – also Straßen, wie sie seit Jahrtausenden existierten – sind typische Satisfier, die bei richtiger Parkraumorganisation automatisch wirksam werden. Ein typischer synergetischer Satisfier ist auch der kleine „Nahversorger“ mit seinem differenzierten, auf die Bedürfnisse seiner Kunden abgestimmten Angebot. Geschäfte dieser Art dienen, wie die Jahrhunderte an Erfahrung zeigen, nicht nur der Lebensmittelversorgung, sondern auch als wichtiger Informationsplatz und sind Anlaufpunkt, besonders für ältere und einsame Personen. Als Nachrichtenzentrum und Vermittler zu den lokalen Wirtschaftskreisläufen erfüllen sie eine Fülle von sozialen und ausgleichenden Funktionen. Gerade das Gegenteil ist der Supermarkt, der ein typischer Zerstörer ist, obwohl er den Eindruck erweckt, er wäre ein zumindest singulärer Satisfier. Seine Angebote haben keinen lokalen Bezug, die Beschäftigten haben die Aufgabe, den Durchsatz der Waren und des Geldes zu maximieren, die Menschen haben sich anzustellen und werden misstrauisch kontrolliert. Die soziale Elastizität ist null! 122

Beispiele für Einzelmaßnahmen und ihre Einordnung als Satisfier

Die Wirkungen des synergetischen Satisfiers „Äquidistanz zu Parkplätzen und Haltestellen“ Richtige Parkraumorganisation, also Entfernung aller Fahrzeuge aus der Fläche und deren Unterbringung am Ortsrand oder zumindest in gleicher Entfernung wie die Haltestelle des öffentlichen Verkehrs, hat folgende Wirkungen: • Sicherheit • reine Luft • Zeitbindung in der Nähe, ruhige und attraktive öffentliche Räume • Nahversorgung mit kleinen Geschäften, weniger Produkte der Industriechemie • weniger Müll • weniger soziale Diskriminierung, mehr Fahrgemeinschaften • Heimatbezug • freie Orientierung der Gebäude, weil die Lärm- und Abgaszonen der Fahrbahnen nicht mehr eine oder mehrere Seiten des Gebäudes entwerten • Platz für Grünanlagen • geringe Erhaltungskosten • mehr Wasserversickerung • Zwang zur multifunktionalen Siedlungsgestaltung • Zwang zu hoher Gestaltungsqualität • Steigerung der Erlebnisinhalte usw. Der wichtigste Effekt dieses synergetischen Satisfiers ist aber die Eliminierung unfähiger Planer und Planerinnen.

6.3 Beispiele für Einzelmassnahmen und ihre Einordnung als Satisfier Kann der vorhin angeführte, entscheidende synergetische Satisfier nicht unmittelbar eingeführt werden, ist man in der Praxis gezwungen, Kompromisse einzugehen, die aber nur unter bestimmten Bedingungen verantwortet werden können. Aber auch dabei ist die Anwendung dieses Prinzips der Grundbedürfnisse und ihrer „Befriediger“ erforderlich und hilfreich. Auf der unteren Ebene der Projektierung ist ein qualifizierter Planer ebenfalls gezwungen, diese Prinzipien durchzusetzen. Beispiel: Querungshilfe für Fußgeher • Ein markierter Schutzweg ist sicherlich kein synergetischer Satisfier, weil er den Fußgeher zu Umwegen zwingt und damit sein Mobilitätsbedürfnis einengt. Die Geschwindigkeit des Autoverkehrs wird nur geringfügig beeinflusst, Lärm und Abgase bleiben. 123

Mobilität und Siedlung

• Fahrbahneinengungen reduzieren zwar die Geschwindigkeit, sodass ein Zusatzeffekt auch durch geringfügige Erhöhung der Verkehrssicherheit entstehen kann. Nach wie vor bestehen aber die Schwierigkeiten, etwa für Körperbehinderte oder ältere Menschen, den Höhenunterschied zu den Gehsteigen zu überwinden. Man kann dieses Problem durch Absenken der Gehsteige lösen – es ändert aber nichts an der Mangelhaftigkeit dieser Lösung. • Die Trennung der beiden Fahrtrichtungen durch eine begehbare Mittelinsel ist eine Verbesserung, weil sie die Sicherheit erhöht und den Widerstand beim Queren erleichtert. • Lichtsignalanlagen können zwar die Konfliktpartner zeitlich trennen, wodurch sie einen gewissen Schutz gewährleisten. Sie zwingen aber die Fußgeher, unter allen Witterungsbedingungen am Fahrbahnrand zu warten. Außerdem kann es trotzdem zu gefährlichen Kollisionen kommen, da keine bauliche Einrichtung die Geschwindigkeit beeinflusst. Es ist daher bestenfalls ein singulärer Satisfier. • Erhöht man hingegen die Querung der Fußgeher auf Gehsteigniveau und führt den Autoverkehr über Rampen entsprechender Neigung, sodass die Geschwindigkeit aufgrund der fahrdynamischen Randbedingungen (vertikaler Ruck) unter 30 km/h reduziert wird, ist diese Lösung auf Projektebene bereits ein synergetischer Satisfier. Es werden die Mobilitätsbedürfnisse aller Nicht-Motorisierten, der Körperbehinderten, der Radfahrer, der Kinder, der Alten erleichtert. Diese Maßnahme hilft den Autofahrern, die Geschwindigkeit auf jenes Maß zu reduzieren, das sie zur menschlichen Interaktion zwingt (deutlich unter 30 km/h). Der Anteil des Autoverkehrs wird reduziert, wenn diese Lösung konsequent an jeder Stelle umgesetzt wird. Damit steigt die Umweltqualität, weil mehr Menschen umweltfreundliche Mobilitätsformen wählen. („Shared Space“ ist eine in den Siebzigerjahren entstandene Mischform dieser Art, die aber immer noch die Priorität des Autos bei den Platzansprüchen beibehält.) Auf der Ebene des Verkehrs- und Siedlungssystems wäre die Aufpflasterung noch lange kein synergetischer Satifier, weil der Autoverkehr nach wie vor in alle Zellen und Bereiche der Siedlung eindringen darf. Es fehlt ihm die vorhin angeführte richtige Parkraumorganisation, der stärkste synergetische Satisfier auf dieser Ebene. Da auch nach entsprechender Parkraumorganisation etwa 20 bis 30 % der heutigen Fahrbahnen bestehen bleiben, sind diese Maßnahmen an Stellen, wo Fußgeher die übrig gebliebenen Fahrbahnen queren, nach wie vor brauchbare Lösungen. Da bauliche Maßnahmen auf lange Zeit wirksam sind, müssen bei jeder Planung ihre Wirkungen auf die Unter- und Oberschichten besonders sorgfältig geprüft werden. Herkömmliches Verkehrswesen kümmerte sich nur um einen kleinen Teil der Unterschichten, wie Tragfähigkeit der Materials, Zufriedenheit der Autofahrer, und betrachtete aber die Reaktionen aus den Oberschichten, wie Naturschutz und Bürgerbewegungen, als unangenehme Störungen. Ziel ihrer Ausbil124

Beispiele für Einzelmaßnahmen und ihre Einordnung als Satisfier

dung war der Bau von Verkehrsanlagen für Autos und nicht, die Menschen glücklich zu machen. Die Folgen waren dann von Interesse, wenn man die Probleme dazu verwenden konnte, weitere Fahrbahnen zu bauen. Jedes Problem wird bei der vorherrschenden Ausbildung im Verkehrs- und Siedlungswesen immer noch durch Baumaßnahmen zu lösen versucht. Tatsächlich bestehen aber die zukünftigen Aufgaben darin, bereits versiegelte Oberflächen zu reduzieren und Bauten, die auf der Grundlage falscher Annahmen errichtet wurden, zu entfernen, um an ihrer Stelle synergetische Satisfier einzurichten. Die soziale Dimension der Stadt- und Verkehrsplanung Kommt es in Neubauvierteln, wie den sogenannten Vorstädten von Paris oder London, zu sozialen Unruhen, ist es meist schon zu spät. Erst dann beginnt man zu ahnen, dass die Ursache dieser Probleme nicht nur in den Sozialstrukturen liegen mag, sondern vielleicht auch in der Form und Art, wie diese Siedlungen geplant und gebaut wurden. Noch nie hat man aber Architekten oder Städteplaner dafür zur Verantwortung gezogen, dass sie mit ihrer Tätigkeit den Keim zu den späteren sozialen Konflikten gelegt haben. Die Kosten, die eine Gesellschaft später oft über Generationen zu bezahlen hat, liegen nicht selten in Einsparungen zum Zeitpunkt der Planung dieser Siedlungen – und diese Einsparungen waren meist sogar nur die Gedankenlosigkeit und Engstirnigkeit der Planer und Entscheidungsträger sowie ihre geistige Bequemlichkeit, oft anerzogen in ihrer Ausbildung. Die soziale Reife einer Gesellschaft erkennt man an ihrem Umgang mit Minderheiten, Hilfsbedürftigen, Schwachen, ihrem langfristigen Verantwortungsbewusstsein, ihrer Fähigkeit zum sozialen Ausgleich, der Zahl und Qualität ihrer freiwilligen Sozialkontakte, den informellen sozialen Netzwerken, in die auch ihre Lebensgrundlagen eingebunden sind. Die soziale Struktur steht daher auch in Ken Wilbers Schema als vierter (linker unterer) Qua­ drant gleichberechtigt neben den beiden objektiven und dem individuellen subjektiven Quadranten. Alle vier sind notwendig, um eine lebensfähige Einheit zu gestalten – und darum geht es auch im Städtebau und Verkehrswesen. Man kann und muss daher zwischen einer „sozialen und asozialen Planung“ unterscheiden. Gibt es diesen Unterschied überhaupt? Ist Verkehrs- oder Siedlungsplanung nicht eine objektive, quantifizierbare Disziplin ohne soziale Dimension? Sind Städtebau und Siedlungsplanung nicht gesellschaftliche Aufgaben und die sozialen Dimensionen andere? Ist soziale Planung nicht den Soziologen zu überlassen, die das ja viel besser können? Was kann jemand, der sich mit der Gestaltung von Verkehrsanlagen oder Gebäuden beschäftigt, schon zu sozialen Fragen beitragen? Dass der Zusammenhang zwischen diesen Disziplinen und dem Sozialsystem offensichtlich nicht so einfach ist, beweist die bisherige Ausbildung in der Verkehrs- und Siedlungsplanung. In beiden Disziplinen wird die soziale Dimension in der Regel nur in Wahlfächern behandelt.

125

Mobilität und Siedlung

Was ist soziale, was asoziale Verkehrs- oder Siedlungsplanung? Hier geht es nicht um die sozialen Beziehungen an sich – also ausschließlich zwischen den Menschen, ohne Rücksicht auf deren Umfeld –, sondern um Strukturen, die soziale Beziehungen vermitteln, fördern, behindern oder unterbinden können. Abb. 64 Nur durch Strukturänderung kommt es zu Verhaltensänderung und zu anderen Daten, aber Daten verändern durch Maßnahmen die Strukturen.

Abb. 65 Aber auch diese Beziehung gilt mit i­hren Rückkopplungen, denn Daten ändern bei ent­sprechender Schulung das Verhalten – der ­Planer – und diese ändern durch ihr Verhalten dann die ­Strukturen. Der Wirkungsmechanismus ist hier ­deutlicher dargestellt.

Wir wissen aus den Zusammenhängen zwischen Daten, Verhalten und Strukturen, dass die Strukturen das Verhalten beeinflussen. Das Verhalten kann man bekanntlich in sozial und asozial einteilen. Wir verfügen damit über eine Definition, was soziale von asozialer Verkehrs- und Siedlungsplanung trennt: Soziale Verkehrs- und Siedlungsplanung ist eine solche, die Strukturen schafft, die soziales Verhalten ermöglichen, fördern, erleichtern oder erzwingen. Asoziale Planung ist eine solche, die Strukturen schafft, die asoziales Verhalten ermöglichen, erleichtern, fördern oder erzwingen. Damit haben wir ein brauchbares Konzept für die praktische Planung und damit auch einen Satz von Indikatoren, um diese zu beurteilen: • Sozial ist jemand, der knappen Raum mit anderen teilt. Asozial ist jemand, der knappen Raum von anderen wegnimmt und zu seinem eigenen Vorteil nutzt. 126

Beispiele für Einzelmaßnahmen und ihre Einordnung als Satisfier

• Sozial ist jemand, der die Lautstärke seines Verhaltens auf die Umgebung abstimmt. Asozial ist jemand, der darauf keine Rücksicht nimmt. • Sozial ist jemand, der darauf verzichtet, aus eigener Bequemlichkeit und Gedankenlosigkeit andere Menschen durch Abgase gesundheitlich zu schädigen. Asozial ist jemand, der aus Eigennutz andere Menschen vergiftet. • Sozial ist jemand, der sich um die Sicherheit anderer Menschen und der Natur kümmert und vermeidet, dass er zum Sicherheitsrisiko für andere wird. Asozial ist jemand, der durch seine Handlungen ein Sicherheitsrisiko für andere und möglicherweise für sich selbst wird. • Sozial ist jemand, der zukünftigen Generationen die Chance auf Nutzung aller Ressourcen nicht einschränkt, sondern diese erweitert. Asoziales Verhalten ist daran zu erkennen, dass die Ressourcen ohne Rücksicht auf die Zukunft und die Umwelt genutzt oder verbraucht werden. • Sozial ist jemand, der auf Alte, Kinder, ihre Ansprüche, ihre Lebensbedürfnisse Rücksicht nimmt. Asozial ist jemand, der ohne Rücksicht auf deren Bedürfnisse seine eigenen befriedigen will. • Sozial ist jemand, der Gemeinschaftseinrichtungen fördert, erhält und entwickelt. Asozial ist jemand, der den Eigennutz ohne Rücksicht auf die Gemeinschaft, zu der auch die zukünftigen Generationen gehören, höher stellt als den Gemeinnutzen. • Sozial ist jemand, der die Umwelt und seine Handlungen so gestaltet, dass sie den anderen zur Freude gereichen und von ihnen positiv bewertet werden. Asoziale gestalten die Umwelt nach ihrem eigenen Gutdünken, ohne Rücksicht auf den Rest der Gesellschaft. Verhalten wird durch die Strukturen geprägt. Es ist daher jede Planung vor ihrer Realisierung daraufhin zu überprüfen, ob die vorgeschlagenen Maßnahmen den betroffenen Menschen ihr soziales Verhalten erleichtern oder erschweren – oder sogar unmöglich machen. Wer nach diesem Kapitel noch einen Parkplatz am Objekt anordnet, hat es nicht verstanden. Das Sozialverhalten, wie es hier auszugsweise definiert ist, wurde durch jahrmillionenlange Erfahrung in der menschlichen Gesellschaft entwickelt und erprobt. Es entstand nicht durch theoretische Überlegungen, sondern praktisches Ausüben von Trial and Error und erwies sich für das längerfristige Überleben vorteilhaft für die Gesellschaft, jeweils in Abhängigkeit von ihrer Umwelt. Aus diesem Grund ist auch das Sozialverhalten in unterschiedlichen Regionen dieser Welt in den Grundzügen gleich, trotz graduell lokaler Unterschiede. Sanktionen auch für Planer und Entscheidungsträger Für Abweichungen aus diesem Sozialverhalten gibt es in jeder Kultur und Zivilisation unterschiedliche Sanktionen. Schlimmer noch als die Ahndung des asozialen Verhaltens Einzelner war und ist die Bestrafung jener, die zum asozialen Verhalten anleiten oder die 127

Mobilität und Siedlung

Gesellschaft dazu verführen. In jüngeren Schichten sozialer Evolution stellte man Verhaltensgesetze, Gebote und Regeln auf. Soziales Verhalten und dessen Kontrolle waren und sind daher Voraussetzungen für den Erhalt und die Weiterentwicklung einer Gesellschaft. Entwickeltes Sozialverhalten war erforderlich, wenn eine größere Zahl von Menschen auf engem Raum gezwungen war, miteinander auszukommen. Dorf und Stadt waren daher jene baulichen Strukturen, aus denen das Sozialsystem entstand – und umgekehrt. Dabei bildete der Platz, also der öffentliche Raum, wo man sich traf, der überschaubar war, ebenso wie Gassen und Straßen die Hauptbestandteile des baulich realisierten Sozialsystems. Die heute noch belebten, bewunderten und viel besuchten historischen Stadtzentren spiegeln in ihrer baulichen Substanz im Wesentlichen auch das Sozialsystem – meist der reichen Bevölkerung dieser Zeit – wider, aber auch der Armen, die in Sichtweite zu den Wohlhabenden lebten und damit soziale Betroffenheit erzeugen konnten. Nähe ist Voraussetzung für sozial förderliche Strukturen Soziale Verkehrsplanung muss sich primär nach den Flächenansprüchen der Fußgeher, ihrer Geschwindigkeit und ihren Bedürfnissen richten. Die Grundbedürfnisse, die zum Wohnen komplementären Funktionen der täglichen Aktivitäten, sind innerhalb eines Radius von etwa 200–300 m unterzubringen. Ein wichtiger Teil dieser Grundbedürfnisse ist die Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfes. Vielfältige Wirtschaftsstrukturen sind auf eine ausreichende Zahl von Einwohnern, die sie bedienen, angewiesen und umgekehrt. Daraus ergibt sich die Einwohnerdichte funktionierender Siedlungen und erzwingt eine kompakte und vielfältige Siedlungsstruktur. Dichten von über 300 Einwohnern je Hektar sind bei dreigeschossiger Bebauung und mit allen Funktionen durchmischter Umgebung ohne Weiteres möglich.43 Mehrfachnutzung der verfügbaren öffentlichen Flächen ist damit zwingend gegeben, um die erforderlichen sozialen und wirtschaftlichen Netze sicherzustellen. Eine monofunktionale Nutzung, wie sie durch das Auto im 20. Jahrhundert entstand, widerspricht daher grundsätzlich den Anforderungen einer lebensfähigen, attraktiven Siedlung. Die Ansprüche nach Qualität zwingen daher bei der Bebauung zu hochwertiger und vielfältiger Gestaltung der Objekte und öffentlichen Räume. Soziale Planung ist daher Planung im Maßstab des Fußgehers, des Menschen, der Entfernungen in Dezimetern oder Metern – und nicht in Kilometern – wahrnimmt. Technische Verkehrsmittel sind daher nur Substitute, also für seltene Zwecke. Überschreitet ihr Anteil den Wert von rd. 5 %, ist das ein Maß für das Versagen von Planern und Politikern.

43 Knoflacher, H. (1996): Zur Harmonie von Stadt und Verkehr. Freiheit vom Zwang zum Autofahren. 2., verbesserte und erweiterte Auflage. Böhlau Verlag Wien – Köln – Weimar.

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Beispiele für Einzelmaßnahmen und ihre Einordnung als Satisfier

Abb. 66 In Stadtkernen Indiens, Afrikas, Lateinamerikas und mancher Städte Chinas, aber auch Europas findet man noch die unglaubliche Dichte an Sozialstrukturen und -beziehungen, die eine lebendige Stadt ausmachen (Chandni Chowk, Delhi).

Radius innerhalb dessen tägliche Grundbedürfnisse in jeder Siedlung zu befriedigen sind

Abb. 67 Mit zunehmender Länge der täglich notwendigen Verkehrsbeziehungen steigt das Risiko asozialer Planung exponentiell an. Der Spielraum für die Unterbringung urbaner Funktionen des täglichen Bedarfes ist mit ca. 30 ha aber immer noch enorm für qualifizierte PlanerInnen und beweist, wie unfähig die SiedlungsplanerInnen in den vergangenen Jahrzehnten waren.

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Mobilität und Siedlung

Die Unfähigkeit von Planern und Politikern ist an der Menge der Autofahrten (oder vergleichbarer technischer Verkehrsmittel) abzulesen, die Bewohner in den von ihnen geplanten und organisierten Städten auf sich nehmen müssen. Abb. 68 Die durch das Auto vor der Haustür ­erzwungene soziale Isolierung wurde bis heute nicht als Gefahr für den Weiterbestand der Städte erkannt. Die tolerierte Besetzung des öffentlichen Raumes durch Private ist eine Verletzung der Gleichheit.

Ein Planer, der Strukturen schafft, bei denen das Auto unmittelbar bei der Wohnung, beim Arbeitsplatz, beim Einkauf, bei der Freizeit, den Dienstleistungen etc. abgestellt werden kann, betreibt, ohne es zu wissen, asoziale Planung. Er ist daher für Siedlungsund/oder Verkehrsplanung nicht qualifiziert, weil er gegen das elementare Prinzip der Gleichbehandlung der Verkehrsteilnehmer im öffentlichen Raum verstößt. Die hohe Affinität der Menschen zum Auto verleitet diese nicht nur, sondern zwingt sie aufgrund der Wirkungsmacht der alten Evolutionsschichten zur Autobenutzung. Der Mensch wird damit ein Opfer der von asozialen Planern gestalteten Strukturen. Seine innere Struktur, welche die wunderbare Mühelosigkeit des Autofahrens gegenüber dem Fußgeher wahrnimmt, lässt ihn die asozialen Folgewirkungen seiner Handlung in der Regel nicht erkennen. Wird diese Struktur überall realisiert, entsteht das asoziale Verhalten im Verkehr als Masseneffekt, wie es heute allgemein als „normal“ empfunden wird. Ein Benutzer des öffentlichen Verkehrs wird fünf Minuten Wartezeit auch in gut organisierten Städten ohne Beschwerden zur Kenntnis nehmen. Einen Autofahrer fünf Minuten vor einer Kreuzung warten zu lassen, empfindet ein Vertreter dieser verwöhnten Verkehrsteilnehmergruppe als unerträglich. Ein Planer mit sozialer Verantwortung erschließt Gebiete so, dass im Regelfall kein privates Auto in diese einzudringen braucht und auch eindringen darf. Ein Planer mit sozialer Verantwortung gestaltet Ortschaften und Städte so, dass kein privates Auto zu den Aktivitäten fahren muss, sondern die Autos außerhalb dieser Gebiete abgestellt werden. Falls man Transporte in Einzelfällen zu erledigen hat, wird zugefahren, geladen und das Fahrzeug wieder außerhalb abgestellt. Transportfahrzeuge und öffentliche Verkehrsmittel dienen dem öffentlichen Interesse oder als Bewegungsprothesen für Behinderte.

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Beispiele für Einzelmaßnahmen und ihre Einordnung als Satisfier

Konsequenzen für die Praxis Asoziale Planung ist auch die Planung unhygienischer Zustände. Strukturen, welche die Gesundheit der Menschen und ihr Leben gefährden, gehören dazu. Die Anordnung von Parkplätzen bei den Objekten, wie sie in der falsch interpretierten Bauordnungspraxis durch sachunkundig ausgebildete Administrationen verlangt wird, wäre demnach in einer kultivierten sozialen Gesellschaft ein strafbarer Tatbestand, weil diese Strukturen Menschen zum asozialen Verhalten verleiten, ja sogar zwingen, weil sie die Gesundheit und das Leben gefährden. In einer zivilisierten Gesellschaft muss der Planer für seine Taten zur Verantwortung gezogen werden, wofür nun Indikatoren zur Verfügung stehen. Der Energieaufwand wurde bereits in den Makrostrukturen behandelt. Die sozialen Folgen der Planung mit den Indikatoren Unfallrisiko, Isolierung, Lärm- und Abgasbelastungen und der spezifische Flächenverbrauch entscheiden in der Mikrostruktur über die Qualität und Zulässigkeit der Projekte. Wie weit die bisherige Praxis von einer Gleichbehandlung der Verkehrsteilnehmer entfernt ist, zeigt allein der spezifische Flächenverbrauch. Fläche pro Verkehrsteilnehmer 2001

Abb. 69 Der Flächenanspruch des Autos ist für die Siedlungen neu und war in ihrer ganzen Geschichte nicht vorhanden. Dieser Indikator beweist die soziale Ungerechtigkeit der Planer und Politiker allein bezüglich der Zuteilung öffentlicher Flächen. Alle Verkehrsteilnehmer beanspruchen den öffentlichen Raum für die gleichen Zwecke! (Energieverbrauch, Bedrohung anderer Verkehrsteilnehmer und Abgasbelastungen sind hier noch gar nicht berücksichtigt.)

Von der herkömmlichen Planung mit ihrer zu engen Sicht wurde der Unterschied nicht wahrgenommen, weil sie sich ihrer Verantwortung für soziale Verpflichtungen nicht bewusst war. Menschen, die Planer so ausbilden, dass sie durch ihre Taten asoziales Verhalten ermöglichen, fördern oder wie beim Autoverkehr erzwingen, sind daher ein Problem jeder kultivierten und zivilisierten Gesellschaft – gleichgültig, ob sie ihre Tätigkeit an Universitäten, Fachschulen, bei Kursen oder in der Verwaltung ausüben.

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7 Die Bedeutung der vier Kausalitäten für die Siedlungs- und Verkehrsplanung 7.1 Einleitung Wenden wir die vier Kausalitäten auf Siedlungs- und Verkehrsplanung an, wird der Unterschied zwischen menschen- und autoorientierter Denkweise sichtbar. Wie aus Abb. 3 ersichtlich, entstehen aus dem Wechselspiel der vier Kausalitäten reale Strukturen. Es kommt daher darauf an, wie diese Schichten interpretiert werden: • Bestimmt der Mensch die Form der Siedlungen, bildet er die Oberschicht, die Causa formalis, und bestimmt daher Abmessungen der Bewegungsräume nach dem Maßstab des Menschen und dem Material für deren Gestaltung. Die Siedlung hat seinen Zwecken ebenso zu dienen wie auch den übergeordneten der Gesellschaft, der Stadt und der Natur. Die Causa efficiens, die Energie, ist die seines Körpers, beschränkt damit die Entfernungen der Ziele und zwingt zur hochwertigen Gestaltung von Wegen und Plätzen. Schönheit der Raumgestaltung ist als Attraktor notwendig, um die physische Belastung durch die Fußwege zu kompensieren.

Abb. 70 Die Qualität des gestalteten Umfeldes beeinflusst die Akzeptanz der Fußwege in entscheidendem Ausmaß (Beispiel Wien).

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Die Bedeutung der vier Kausalitäten für die Siedlungs- und Verkehrsplanung

Abb. 71 a u. b Die Vielfalt der Funktionen ist eine Folge der städtischen Dichte, die nur mit dem Verkehrsmittel Fußgeher möglich ist (Hongkong und Shanghai).

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Einleitung

Jede Siedlung ist wieder in die Oberschicht der Landschaft, der Region, des Klimas eingebunden. Eine für den Menschen geschaffene Siedlung verwendet daher Materialien, die diesen Zwecken entsprechen. Von oben wirken die Zwecke – beim Menschen etwa das Bedürfnis nach Wetterschutz, angenehmen klimatischen Bedingungen, Sicherheit – aus der Schicht der Gesellschaft die sozialen, wirtschaftlichen, ästhetischen und kulturellen Zwecke usw. Daraus resultieren Bauformen der Objekte, ihre Beziehungen zueinander, die Gestaltung der Außenräume. Energie und Geld werden eingesetzt, um diese Zwecke zu erfüllen. Innerhalb seines Budgets für Mobilitätsenergie müssen daher sämtliche Zwecke des Menschen für alle Zeiten des Jahres so erfüllt werden, dass die Reizbilanz positiv ist. Die begrenzt zur Verfügung stehende Körperenergie zwingt zur Kooperation, zur Arbeitsteilung (innerhalb dieser räumlichen Grenzen) und zum Sozialverhalten – evolutionäre Errungenschaften unserer Gesellschaft. Innovationen als Zwischenschichten entstehen auf diese Art. Sozialentwicklung und Sozialsystem erfordern daher nicht nur Menschen, sondern auch Sozialräume, in denen diese Entwicklung stattfinden kann. Der Siedlungsplaner ist daher auch mitverantwortlich für die Sozialentwicklung der Gesellschaft. Ob sich Jugendliche informell – geradezu automatisch – sozial in die Gesellschaft integrieren können oder erst einen mühsamen Lernprozess künstlich über sich ergehen lassen müssen, hängt von der Gestaltung der Siedlungsräume ab. Soziales Lernen setzt Beobachtung des Miteinanders Erwachsener voraus.

Abb. 72 Sozialverhalten beginnt mit Blickkontakt – schon im Kindesalter. Voraussetzungen sind geschützte Räume (French Concession, Shanghai).

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Die Bedeutung der vier Kausalitäten für die Siedlungs- und Verkehrsplanung

Konsequenzen für die Praxis Eine Siedlung für Menschen muss daher zwangsläufig eine Vielfalt an Funktionen auf kleinstem Raum anbieten. Verluste an Verkehrsflächen für mechanische Transportsysteme können daher nur im unbedingt notwendigen Ausmaß toleriert werden. Mechanische Transportmittel in funktionsfähigen Siedlungen können auf wenige Routen beschränkt bleiben. Besetzung öffentlicher Räume durch Privatfahrzeuge ist daher grundsätzlich nicht zulässig. Gassen, Straßen und Plätze entsprechen dem Maßstab des Menschen, sind für ihn „maßgeschneidert“.

Abb. 73 Kennzeichen städtischer Planungskultur sind enge Gassen und interessante Plätze (Venedig).

Plätze als Knotenpunkte im Netz der Gassen, in Entfernungen von 220 m oder weniger, auf denen man sich trifft, wo ein noch vielfältigeres Beziehungsgeflecht als in den Gassen dazwischen entsteht, sind die Attraktoren, die Knoten der Netze. Aber auch die Detailgestaltung spielt eine wesentliche Rolle für ein attraktives Umfeld. Scharfe Hausecken sind zu vermeiden und abzuschrägen, rund zu gestalten oder durch Gestaltungselemente so aufzulösen, dass eine anziehende und nicht abstoßende Form der Einmündungen, Abzweigungen und Kreuzungen geschaffen wird.

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Die autoorientierte Siedlung

Abb. 74 Plätze, die Knoten und Energiepunkte einer Stadt, an denen das Netz der Fußwege hängt (San Marco, Venedig).

7.2 Die autoorientierte Siedlung Causa finalis, der Endzweck dieser Planung, ist das Wohlbefinden der Autofahrer und der Autos – nicht mehr der Menschen. Die Causa efficiens, wirksam über die tiefste Schicht menschlichen Verhaltens, verändert die Zweckursache bei allen Beteiligten. Das Auto wird zum Hauptzweck, mit dessen Hilfe man die anderen Zwecke zu erfüllen hat. Es wird zum Selbstverständnis, zum Teil des Körpers des Autofahrers. Also braucht man keine nahe liegenden Geschäfte, sondern Parkplätze daheim und überall dort, wo man hin will. Da dies in gewachsenen, urbanen Strukturen nicht möglich ist, braucht man zusätzlichen Raum, wofür die ignorante Planung des 20. Jahrhunderts nicht davor zurückschreckte, wertvollste historische, urbane Teile der Stadt durch Erweiterung der Verkehrsflächen für Autos zu zerstören. Die Zersiedlung bei gleichzeitiger Konzentration wirtschaftlicher Funktionen ohne Bindung zur Stadt ist die zwangsläufige Folge. Das Ergebnis dieser Planung ist maximale Raumverwüstung mit minimalem Rauminhalt, gegen den Vektor der Evolution des Lebens gerichtet. 137

Die Bedeutung der vier Kausalitäten für die Siedlungs- und Verkehrsplanung

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Abb. 75 a u. b Die autogerechte Siedlungsform von heute: oben Montreal 2006 und unten Shanghai 2007, wo westliche Architekten den Chinesen Potemkinsche Dörfer42 einer Autogesellschaft planen und bauen.

42 Als Potemkinsches Dorf (teilweise auch in der Schreibweise Potjomkinsches Dorf) wird etwas bezeichnet, das fein herausgeputzt wird, um den tatsächlichen, verheerenden Zustand zu verbergen. Oberflächlich wirkt es ausgearbeitet und beeindruckend, es fehlt ihm aber an Substanz.

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Die autoorientierte Siedlung

Abb. 76 a u. b In einer lebendigen Stadt tut sich was im öffentlichen Raum – und man kann dort auch etwas tun (Altstadt Delhi).

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Die Bedeutung der vier Kausalitäten für die Siedlungs- und Verkehrsplanung

Stadt als Raum des Tuns und Interagierens Der offene Übergang vom Arbeitsbereich zum öffentlichen Raum war über Jahrtausende auch der Bildungs- und Entwicklungsraum der nächsten Generationen. Am Verhalten der Älteren, Erwachsenen, der Eltern in ihrem Arbeitsbereich, in ihrem Kommunikationsraum, können sich Kinder geradezu spielerisch mühelos in das komplexe Sozialsystem und Sozialgeflecht einer größeren Gemeinschaft einordnen. Für das Leben von Generationen in Gemeinschaft muss der öffentliche Raum auch die Voraussetzungen bieten. Diese kann er nur erfüllen, wenn er sicher, interessant und vielfältig gestaltet ist, sodass er von den Alten ebenso gerne genutzt wird wie von den Kindern, die traditionell seit jeher in symbiotischer Beziehung zueinander standen. Weisheit und Neugier, Vorsicht und Übermut, Weitsicht und Leichtfertigkeit werden mit mehr oder weniger starken Friktionen aufeinander abgestimmt und bilden damit ein wichtiges soziales Geflecht für die Zukunft, in welches Neues und Altes, Fremdes und Bekanntes eingewoben werden können. Soziale Spannungen und Konflikte werden damit in kleinem Maßstab abgebaut – der Planer muss sich seiner Verantwortung diesbezüglich bewusst werden. Dass dies in der herkömmlichen Planung nicht der Fall ist, beweisen die in den zwei vergangenen Jahrhunderten geplanten und gestalteten Siedlungen und Verkehrsanlagen und die aus diesen resultierenden sozialen und wirtschaftlichen Probleme. Konsequenzen für die Praxis Der öffentliche Raum einer Stadt ist daher Entwicklungsraum der Generationen und nicht Fahrbahn für Asoziale, wie Autofahrer. Parken im öffentlichen Raum ist daher eine Beleidigung menschlicher Würde. Fahrbahnen für den schnellen privaten Autoverkehr sind eine Verletzung des fundamentalen ungeschriebenen Gesellschaftsvertrages, dass man niemandem etwas geben darf, das seine Gesundheit und sein Leben gefährdet. Der Verlust dieser Lebensgrundlagen im Umfeld der Wohnungen hat in den Städten der westlichen Welt dazu geführt, dass Familien mit Kindern diese Räume instinktiv meiden und sich in das Umland der Stadt zurückgezogen haben. Über 60 % Einpersonenhaushalte gibt es daher in den Zentren vieler europäischer Städte. Die strukturelle Notsituation der sogenannten Alleinerzieher wird nicht dadurch behoben, dass man an diese Gruppe nur beim Wohnbau denkt. Kinder erweitern ihren Lebensraum mit zunehmendem Alter – vorausgesetzt, dass er sich dazu eignet. Die Zahl der Bekannten, der Freunde und der Begegnungen nimmt in diesem Lebensabschnitt rapide zu. Sozialisierung und Integration können damit gefördert oder auch behindert – oder unterbunden werden, wie in den vergangenen Jahrzehnten. Wie stark die äußeren Randbedingungen diese Lebensräume der Kinder fördern oder behindern, hat Petra Daschütz in ihrer Dissertation beispielhaft nachgewiesen. Wo gesicherte, attraktive Lebensräume für die freie Entfaltung von Spiel und Kommunikation für Kinder 140

Die autoorientierte Siedlung

Abb. 77 a u. b Spielerisch können sich die Kinder den öffentlichen Raum im Umfeld ihrer Wohnungen aneignen und sich auf diese Weise in das soziale Umfeld integrieren (Venedig und Shanghai).

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Die Bedeutung der vier Kausalitäten für die Siedlungs- und Verkehrsplanung

Abb. 78 Wo finden sich in Ländern mit hohem Motorisierungsgrad in wenigen Minuten so viele fröhlich lachende Kinder im öffentlichen Raum?

fehlen, wird nicht nur ihre räumliche Mobilität eingeschränkt, sondern auch die Vielfalt und Art ihrer Kommunikation im Spiel reduziert, sie werden in ihrer Entwicklung behindert.43 Bürger hinter Stacheldraht und Freiheit des Autoverkehrs – oder freie Bürger in einer autofreien Umgebung … Politiker und Bürger haben die Wahl, entweder Menschen hinter Zäune – in manchen Gebieten elektrische oder aus Stacheldraht – zu stecken oder den Autoverkehr aus einer menschengerechten Stadt auszuschließen. Für die Zukunft der Stadt ist daher die Ausgrenzung der Autos aus dem öffentlichen Raum von grundlegender Bedeutung. Eine Stadt ist daher ein Ort für „Gated Machines and Free People“ und nicht, wie heute, „Gated People and Free Cars“. Seit nahezu zwei Generationen wachsen Kinder in einer Umwelt auf, die viel mehr den Bedingungen eines Konzentrationslagers entspricht, wo man jeden Schritt überwachen muss, als jenen einer menschlichen Siedlung. 43 Daschütz, P. (2006): Flächenbedarf, Freizeitmobilität und Aktionsraum von Kindern und Jugendlichen in der Stadt. Dissertation eingereicht an der Fakultät für Bauingenieurwesen, Technische Universität Wien.

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Die autoorientierte Siedlung

Abb. 79 Dieser „Spielkäfig“ zwischen zwei Fahrbahnen zeigt die Missachtung der Menschenkinder durch die heutige Stadtplanung, die Kinder in der Freizeit hinter Gitter sperrt, um dem Auto ungehemmte Freiheit zu sichern (Gürtel, Wien).

Abb. 80 Ein Leben hinter Stacheldraht – Gated Communities – das Ende einer offenen Gesellschaft. Ausgehend von den USA, inzwischen zum Standard der „gehobenen Klasse“ auch in China oder Indien geworden (Johannesburg, Südafrika).

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Die Bedeutung der vier Kausalitäten für die Siedlungs- und Verkehrsplanung

In Südafrika, wo die „Gated Communities“ bis auf Hausgröße reduziert wurden und jedes Einzelobjekt von Mauern und Zäunen mit Stacheldraht oder elektrischen Schutzzäunen umgeben wird, können frühere Freundschaften nicht mehr aufrechterhalten werden, weil die Furcht ein ständiger Begleiter der Bewohner geworden ist. Andererseits entsteht eine unüberbrückbar scheinende Kluft zwischen Arm und Reich, die nach dem Spruch „Aus den Augen, aus dem Sinn“ verdrängt wird. Unter diesen Umständen wächst die Verständnislosigkeit für die Bedürfnisse der anderen Gruppen und verhindert das Gemeinsame, das jede Stadt ausmacht – der geplante Nährboden für Gewalt und soziale Spannungen. Eine Stadt für Menschen muss ihren Bewohnern in allen Lebensphasen nicht nur Daseinsvorsorge garantieren, sondern Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen, die größer sein sollen als anderswo. Der städtische Raum kann aber nur dann Sozialraum sein, wenn er frei von unberechenbaren physischen Gefahren, Lärm und Abgasen ist. Die Öffnung der Arbeitswelt zum öffentlichen Raum setzt voraus, dass zwischen beiden keine grundlegenden Unterschiede sein dürfen. Betriebe, die den öffentlichen Raum einbeziehen, sind ideale Voraussetzung, um an den Arbeitsprozessen spielerisch mitzulernen und leisten einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis der Prozesse der lebenserhaltenden Funktionen unserer Wirtschaft, wie dies in der Geschichte der städtischen Gesellschaften immer der Fall war. Zum öffentlichen Raum geöffnete Fenster sind ein wichtiges Element sozialer Stadtplanung. Lärm und Lärmtoleranz Lärm ist bis zu einer gewissen Grenze und zu bestimmten Zeiten im städtischen Raum immer gegeben. Wichtig ist, dass man seine Bedeutung, seine Funktion erkennen kann. Die allgemeine Verlärmung städtischer Räume durch den Autoverkehr ist auch die Ursache für die Intoleranz der Menschen gegenüber notwendigen wirtschaftlichen und handwerklichen Tätigkeiten. Damit die asozialen Autofahrer weiterhin ungehindert lärmen können, werden heute wichtige Wirtschaftsaktivitäten und Arbeitsplätze aus den Ortschaften und Städten verbannt. Durch die Trennung von Wohnen und Arbeiten entsteht damit nicht nur zusätzlicher Mobilitätsaufwand, sondern es werden damit auch soziale Funktionen der Arbeitsprozesse aus dem Stadtraum eliminiert. Die Stadt wird uninteressant, verödet, wodurch wieder künstliche Mobilität – weil ein Mangel entstanden ist – erzeugt wird. Der Lieferverkehr zu den Betrieben und Geschäften, die man täglich braucht, wird in der Regel nicht stören, wenn er sich in den übrigen Fluss des Lebens im Stadtraum einfügt. Maschinenlärm im öffentlichen Raum hat ein seltenes Ereignis zu sein und darf nicht die Orientierung der Räume in den umliegenden Objekten beeinflussen, wie dies heute der Fall ist. Paradox ist, dass wir heute mehr Lärm und Abgase in der Stadt haben als je zuvor, obwohl man nahezu alle Betriebe und Werkstätten aus der Stadt verbannt hat. Das Lärmproblem entsteht in den Nachtstunden, wenn sich die Menschen erholen und der Körper regeneriert. 144

Die autoorientierte Siedlung

Die Perversität unserer Gesellschaft ist daran zu erkennen, dass man den Menschen zumutet, hinter geschlossenen Fenstern oder hinter sogenannten Lärmschutzwänden leben zu müssen, damit die Autofahrer rund um die Uhr beliebig lärmen können. Das Lärmproblem ist an der Ursache zu beseitigen und diese liegt in der Geschwindigkeit der Autos und der Möglichkeit, in alle Lebensräume einzudringen. Das Auto ist daher aus den Siedlungsräumen auch aus diesem Grunde auszuschließen und außerhalb in den Nachtstunden auf jene Geschwindigkeit zu begrenzen, die keine Störung des Umfeldes zur Folge hat. Erreichbarkeit und Geschäfte Aus der Erfahrung und Beobachtung innerstädtischer Geschäftsleute, dass Kaufkraft an die peripheren Supermärkte verloren geht, resultiert ihr zum Teil militanter Wunsch, noch mehr Parkplätze, selbstverständlich auf Kosten der Öffentlichkeit, in ihrem Umfeld zu schaffen. Die Kaufkraft innerstädtischer Straßen hingegen kommt vor allem von den Fußgehern und Benutzern des öffentlichen Verkehrs, wie es die umfangreichen Erhebungen in Wien zeigen.44 Ausgaben je Monat Straßenbefragung

180000 160000

Euro/Monat

140000 120000 100000 80000 60000 40000 20000 0

ÖV

Fuß

Rad

MIV

Abb. 81 Die aus einer repräsentativen Befragung von 4.000 Passanten in 12 Wiener Geschäftsstraßen ermittelten Summen an Ausgaben nach Verkehrsmitteln (MIV = motorisierter Individualverkehr).

Die Geschäftsinhaber hingegen vermuten, dass die Kaufkraft vor allem aus dem Autoverkehr stammt. 44 Knoflacher, H. (2008): Die Bedeutung der Wiener Linien für den Wirtschaftsverkehr. Studie, durchgeführt im Auftrag der Wiener Linien und der Wirtschaftskammer Wien.

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Die Bedeutung der vier Kausalitäten für die Siedlungs- und Verkehrsplanung

Überschätzung des Autoverkehrsanteils der Kunden durch die Geschäfte

Abb. 82 Der Anteil der Autokunden wird von den Geschäften in allen Einkaufsstraßen gewaltig überschätzt; um das Zwei- bis Achtfache der wirklichen Anteile (778 befragte Kaufleute).45

Würde man dem Wunsch der Kaufleute nachkommen, wäre das Ergebnis nicht nur die Vernichtung ihrer Geschäfte, sondern auch eine Zerstörung der Stadt. Diese wäre nur mehr ein Supermarkt mit Parkplatz, ohne lokale Geschäfte und wieder nur mit internationalen Konzernen. Dieser Wunsch der Geschäftsleute ist als Folge der in den vergangenen 50 Jahren durch die Verkehrs- und Stadtplanung zuungunsten der Stadtgeschäfte veränderten Wettbewerbsbedingungen verständlich. Nicht erkannt wird, dass die stärkste Wettbewerbsverzerrung zwischen Stadtgeschäften und Supermärkten auf der grünen Wiese durch den Parkplatz beim Haus oder der Wohnung geschaffen wurde. 45 Wenn der Kunde sein Auto früher erreicht als das Geschäft in der Nähe, ist er für dieses verloren. Sein Interesse gilt dem Parkplatz am Ziel und weniger der Qualität der Waren, Qualität der Bedienung und der Vielfalt der Auswahl. In den Supermärkten wird Vielfalt durch die große Menge vorgegaukelt. Vorgeschobene Billigprodukte verleiten die „Konsumenten“ – wie nachgewiesen – zu überzogenen Einkäufen, mit dem Ergebnis einer Wegwerfgesellschaft, die in den Vereinigten Staaten 50 % der Lebensmittel im Müll landen lässt.

45 Knoflacher, H. (2008): Die Bedeutung der Wiener Linien für den Wirtschaftsverkehr. Studie, durchgeführt im Auftrag der Wiener Linien und der Wirtschaftskammer Wien.

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Die autoorientierte Siedlung

Abb. 83 a u. b Auch in Montreal haben die Planer auf Menschen vergessen, die ihre Einkäufe zu Fuß erledigen müssen. Dass das kein Einzelfall ist, beweist der ausgetretene Pfad vom Supermarkt zum Wohngebiet quer zu den Fahrbahnen. Ähnliche Bilder findet man auch in Afrika, nur ist das Ziel nicht der Supermarkt, sondern es sind das Feld oder der Busch.

Abb. 84 a u. b Die nicht erkannte Ursache: der Parkplatz bei den Wohnungen und allen anderen menschlichen Aktivitäten. Das Gegenstück: der von der Stadt losgelöste Supermarkt.

Die hochwertige, vielfältige, auf lokalen Wirtschaftskreisläufen beruhende Nahversorgung, ergänzt mit den „Kolonialwaren“, Produkten aus der Welt, kennt er nicht mehr. Ein Beispiel ist das reduzierte Angebot beim Obst, etwa der Äpfel. Drei bis vier Apfelsorten werden in den Supermärkten in großen Mengen angeboten, obwohl Hunderte geschmacklich unterschiedliche und auch unterschiedlich nutzbare Apfelsorten in Mitteleuropa gedeihen. Internationale Ketten kaufen und verkaufen nicht jene Waren, die für den Kunden am besten sind, sondern jene, die für sie die größten Gewinne bringen. Den Konsumenten werden Produkte einfach vorenthalten, wenn man damit weniger Gewinn macht. Ein kleines Einzelhandelsgeschäft, das kritische Kunden hat, wird sich den Kundenwünschen anpassen müssen, weil es von diesen abhängig ist.

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Konsequenzen für die Praxis Die Voraussetzungen für den Niedergang lokaler Geschäfte haben Stadt- und Verkehrsplanung geschaffen. Parken bei der Wohnung oder beim Haus erzeugt Kunden für die Supermärkte. Autofreie Siedlungsstrukturen sorgen für fairen Wettbewerb sowie die Vielfalt des Angebotes in der Nähe, beleben das Geschäftsleben, die lokalen Produzenten und fördern die Qualität der Produkte. Der Planer muss daher bei seinen Maßnahmen unterscheiden, ob er eine Dienstleistung für die Menschen oder eine für die Lobbys erbringt. Autoorientierte Planung dient den Interessen internationaler Lobbys und nicht den Menschen. Verkehrs- und Siedlungsplanung entscheiden daher grundsätzlich über die später möglichen Wettbewerbsverhältnisse in der Wirtschaft durch die von ihnen geschaffenen physischen und organisatorischen Strukturen. Wenn sich heute Politiker und auch Planer über den Zusammenbruch innerstädtischer Wirtschaft und die schwindende Vitalität ihrer Siedlungen wundern und diesen Prozess beklagen, übersehen sie dabei, dass sie es sind, die durch die Art, wie sie Bauordnungen exekutieren, die Voraussetzungen für diesen Niedergang geschaffen haben. Innerstädtische Geschäftsinhaber sind im bestehenden System gefangen und betreiben mit ihren Forderungen nach mehr Parkplätzen wirtschaftlichen Selbstmord, ohne es zu wissen. Untersuchungen über Kaufkraftflüsse in Wien ergaben, dass Fußgeher, Radfahrer, ÖV-Benutzer und Autobenutzer im Durchschnitt gleiche Ausgaben tätigen, was auch logisch ist. Bezieht man die Kaufkraft auf die dafür notwendige Siedlungsfläche, sind Fußgeher die effizienteste Form der Kunden, gefolgt von Radfahrern und Benutzern des öffentlichen Verkehrs. Autokunden sind im städtischen Raum die für die Gesellschaft ineffizienteste Form der Kunden. Vergleicht man den Flächenbedarf einer Haltestelle der Straßenbahn mit der Zahl der Parkplätze (ca. 20), fließt über die Haltestelle immer noch sechsmal mehr Kaufkraft in die urbanen Geschäfte als über die Autofahrer. Aus Rücksicht auf die Erhaltung lokaler Wirtschaft ist der private Autoverkehr aus den urbanen Strukturen auszuschließen.

7.3 Unterschiede in der sozialen Dimension der Verkehrsmittel Ist der Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel noch in die gesamten sozialen Verpflichtungen eingebunden, kann sich der Autofahrer diesen weitgehend mühelos entziehen. Dies hat nicht nur momentane, sondern im Laufe der Zeit auch tief greifende strukturelle Wirkungen, die in ganz anderen Gebieten als der Siedlungs- und Verkehrsplanung auftreten und daher nahezu immer ohne unmittelbaren Bezug zu diesen wahrgenommen, behandelt und diskutiert werden. 148

Unterschiede in der sozialen Dimension der Verkehrsmittel

Kundenspezifische Kosten für externe Energie im Einkaufsverkehr

Abb. 85 Aufwand an externer Energie beim Einkauf in peripheren Supermärkten und in Stadtgeschäften.

Das Phänomen des Auseinanderfallens der Generationen in den reichen, hoch motorisierten Ländern ist auch eine Folge des Autoverkehrs und der dadurch veränderten Bindungskräfte, die, wie jeder Jugendliche weiß, oft auch als Belastung empfunden werden. Früher konnte man den Älteren räumlich nicht so leicht entkommen und musste sich daher mit ihnen auseinandersetzen. Dies förderte das gegenseitige Verständnis und erweiterte – wenn auch oft unfreiwillig – den Blick. Wer die Konflikte mit der nächsten Generation nicht austragen will, nimmt sich heute ein Auto oder Motorrad, um sich Gleichgesinnten anzuschließen. Den oft nicht einfachen Umgang mit anderen Generationen, der aber zur Erhaltung einer Gesellschaft unumgänglich ist, braucht er nicht mehr zu erlernen. Das über Jahrmillionen aufgebaute Netz der Generationenfolge wird zerrissen. Dann ist der Schritt nicht mehr weit, um die nicht produktiven Teile der Gesellschaft zu „entsorgen“. Dies beginnt bereits bei den Kinderkrippen, setzt sich über die Ganztageskindergärten fort und endet schließlich in Alten- und Pflegeheimen. Die Menschen werden industriell abgefertigt. Wichtiger als die Menschenpflege wurde die Autopflege, von der Erstzulassung bis zum Oldtimer. Bekanntlich müssen die Autos auch jährlich zum „Gesundheitscheck“, nicht aber die Menschen. „Schöne neue Welt“ für Autos, die A. Huxley in seinem Roman nicht erwähnte.46

46 Huxley, A. (1971): Schöne neue Welt – ein Roman der Zukunft. Fischer Taschenbuch Nr. 26. Fischer Verlag, Frankfurt am Main.

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Die Bedeutung der vier Kausalitäten für die Siedlungs- und Verkehrsplanung

7.4 Wenn die Summe der Teile weniger wird als das Ganze

Der Autofahrer braucht glatte, versiegelte Flächen zum Parken und Fahren. In den Städten der Menschen steht dieser Platz nicht ausreichend zur Verfügung, also mussten die Städte den Bedürfnissen der Autofahrer angepasst werden. In einer funktionierenden menschlichen Gesellschaft wäre dies nicht möglich. Sie würde ihren Lebensraum verteidigen, um das Erreichte zu bewahren. Da aber die Entscheidungsträger zu den ersten Nutznießern dieses Verkehrsmittels gehörten, war es leicht, ihre Wünsche des Autoverkehrs zu Bedürfnissen der Gemeinschaft zu machen. Verkehr war nur mehr Autofahren. Verkehrsprobleme waren und sind seither Probleme der Autofahrer. Investiert wurde nur in und für den Autoverkehr. Ein Teil der Verkehrsteilnehmer beanspruchte nahezu alles. Statt Vielfalt wurde Einfalt erzeugt und damit ein Weg gegen die Evolution eingeschlagen. Diese weist in die Richtung, in der das Ganze immer mehr ist als die Summe der Teile. In einer Siedlung für das Auto tritt aber genau das Gegenteil auf: Die Summe der Teile ist weniger als das Ganze, bedenkt man nur den Rauminhalt oder die Effizienz. Mobilitätsenergie, beliebig und billig verfügbar, die Körperenergie ersetzen kann, wirkt wie ein Lösungsmittel auf bestehende Siedlungen. Der mit der Entfernung exponentiell steigende Widerstand wird abgebaut, was man individuell als Freiheit empfindet. Autofahrer überschreiten mühelos die Gemeinde- oder Stadtgrenzen, wodurch diese erpressbar werden. Die Wirtschaftsgrundlagen der Stadt, ihre Steuereinnahmen aus Handel, Handwerk und Dienstleistungen sind aber an die Verwaltungsgrenzen gebunden. Gemeinden und Städte entstanden aus der Raum-Zeit-Dimension der Fußgeher. Wenn strukturbildende Einzelelemente Verwaltungsgrenzen mühelos überschreiten, können sie auch die baulichen und finanziellen Strukturen auflösen oder nach ihren Bedürfnissen umwandeln. Die Stadt der Autofahrer verliert an Attraktivität für Menschen, an Aufenthaltsqualität, als Lebensraum, als Handelsplatz – dieser verlagert sich in das Umland –, sie verliert ihre wirtschaftliche Substanz. Konsequenzen für die Praxis In dem Zusammenhang wird gerne unterstellt, man wolle überhaupt keinen Autoverkehr im Siedlungsraum. Hier beginnt der fundamentale Irrtum. Schon Paracelsus sagte: „Alles ist Gift, es kommt nur auf die Dosis an.“ Dies gilt auch für den Verkehr. Autoverkehr als Teil des Verkehrs im städtischen Gebiet kann nur in dem Ausmaß zugelassen werden, in dem er mehr Nutzen für die Gesellschaft (und nicht für das BNP oder für die Einzelperson) stiftet als Schaden anrichtet. Gemessen an den heutigen Autoverkehrsmengen liegt dieser Wert bei etwa 5 % oder darunter. Es handelt sich dabei um den sogenannten „arbeitenden“ Verkehr, den Transport����������������������������������������������������������������������������� für die wirtschaftlichen Aktivitäten���������������������������������������� , Krankentransporte und Fahrten für physisch Körperbehinderte.

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8 Städte im Wandel 8.1 Der Metabolismus des Organismus Stadt Die Stadt als lebendiger Organismus kann, wie alles Leben, ihre Struktur nur durch den ständigen Durchsatz von Energie und Stoffen aufrechterhalten. Es ist daher naheliegend, dass Städte zunächst dort entstanden, wo die natürlichen Ressourcen gute Voraussetzungen für ausreichende Ver- und Entsorgung boten. Energie stammte und stammt heute aus der Sonnenenergie, direkt und indirekt, von Wasser und Wind, den Bewohnern der Stadt, dem näheren und weiteren Umland. Die Materialien kommen aus den eigenen oder importierten Ressourcen, wozu seit jeher Verkehrssysteme aller Art genutzt wurden. Dabei spielt eine besondere Form der Energie die entscheidende Rolle: die geistige Energie ihrer Bewohner und insbesondere jener, die an entscheidenden Stellen tätig sind. Die Effizienz der Nutzung von Energie und Stoffen, die eine Stadt benötigt, um existieren zu können, hängt daher vor allem von den Fähigkeiten der Menschen, die dort leben und arbeiten, ab. Je besser es gelingt, Menschen, die zur Strukturerhaltung der Stadt beitragen, zu gewinnen, umso vitaler wird diese. Städte muss man daher als Attraktoren für Menschen und Familien verstehen und gestalten. Menschen in einer Stadt sind die Zellen ihres Organismus, die nicht nur als Individuen, sondern vor allem als Familien für die dauerhafte Stabilität und Flexibilität der Stadt lebenswichtig sind. Wie sich die Zellen eines gesunden Organismus erneuern, ist auch die Reproduktion der Bewohner einer Stadt für ihre dauerhafte Existenz notwendig. Wo mehr Menschen ab- als zuwandern, stirbt daher das lebendige Gewebe einer Stadt ab. Daher ist die Sozialpolitik für die Stadt mindestens genauso wichtig wie die Wirtschaftspolitik, die heute bei Weitem überschätzt wird. Für den sozialen Zusammenhalt braucht die Stadt aber ihre öffentlichen Räume als Räume des Lebens. Durch die technischen Verkehrsmittel und die Art ihrer Nutzung wurde der natürliche Metabolismus so grundlegend verändert, dass nahezu alle Städte in den hoch motorisierten Ländern fast völlig vom ständigen Zustrom billiger fossiler Energie abhängig wurden. Ihr Metabolismus entspricht dem eines Patienten in der Intensivstation eines Krankenhauses, der über Schlauchleitungen künstlich am Leben erhalten werden muss. Diese Städte werden nach dem Ende dieser abnormen Periode nicht mehr existieren können, weil ihr Metabolismus zusammenbrechen wird. Wir befinden uns heute an der Grenze zu dieser Übergangsphase. Je schneller es den Städten gelingt, sich von dieser Abhängigkeit zu lösen, umso besser werden sie diese Veränderungen der Randbedingungen überstehen. Je zäher sie 151

Städte im Wandel

an den bestehenden Strukturen und Gewohnheiten hängen, umso schmerzhafter werden die Einschnitte und Brüche für die Bewohner und die lokale Wirtschaft werden. Die internationalen Konzerne sind davon zunächst noch weniger betroffen, weil eine Stadt in ihrem Netzwerk nur einen Bruchteil ihres Jagd- und Ausbeutungsgebietes darstellt. Als intelligente Parasiten werden sie versuchen, auch aus dem Zusammenbruch maximale Gewinne ohne Rücksicht auf die Stadt und die Menschen zu ziehen. Internationale Konzerne sind daher für jede Stadt eine potenzielle reale Gefahr, in die viele Städte durch gezieltes Marketing dieser Kapitaljäger gelockt wurden, denn diese riesigen Beutegreifer beeinflussen das Ranking der Städte nach ihren Bedürfnissen. Auf Kosten der Allgemeinheit und Vermeidung aller sozialen Verpflichtungen einer Gemeinschaft sind die maximalen Gewinne zu erzielen. Raum- und Stadtplanung leisten ihnen dabei tatkräftig Vorschub. Je mehr die Menschen ihren Aufenthalt in der Stadt schätzen, umso stärker ist deren Bindungsenergie an ihre systemerhaltenden Teile. Dabei spielt die Stadtverwaltung mit allen ihren Verzweigungen eine entscheidende Rolle. Je besser es ihr gelingt, sich mit allen Bürgern zu integrieren, umso geringer werden Verwaltungs- und Erhaltungsaufwand. Hier liegt leider das Versagen vieler Stadtverwaltungen, wenn sich diese nicht mehr als Integratoren der Stadtbewohner, sondern als Verwalter oder, noch schlimmer, als Herrscher verstehen. Selbstverständlich unterliegen ihnen Ordnungsaufgaben – im Interesse der Allgemeinheit –, aber niemals im Interesse welcher Minderheit auch immer. Jede politische Gruppierung in einer Demokratie, so groß ihre Mehrheit auch sein mag, ist immer eine Minderheit, die im Dienste der Bürger und nicht einzelner Lobbys zu entscheiden hat. Nachhaltiger Parasitismus bedroht die Zukunft der Städte Je stärker und länger die Bindung der Bürger zu ihrer Stadt ist, umso besser kann diese den Veränderungen, die unausweichlich sind, widerstehen oder sich anpassen. Allein aus diesem Grund muss daher den sesshaften Bürgern der Stadt absolute Priorität gegenüber den großen, ortsungebundenen Beutegreifern, den Konzernen, eingeräumt werden, so sehr diese auch die Medien bemühen, um Entscheidungen zu ihren Gunsten zu erzwingen. Die Zahl der durch Konzerne direkt und indirekt verwüsteten Städte nimmt immer mehr zu. Es geht den Konzernen nicht mehr allein um das Kapital, das Geld, das in der Stadt wirtschaften soll, heute haben sie sich immer mehr darauf spezialisiert, sich auch über die Daseinsvorsorge der Menschen herzumachen. Die fundamentalistische Ideologie des Neoliberalismus dient ihnen dazu, um über internationale Organisationen – wie WTO, aber auch die EU-Kommission – die Städte zu entmachten, nachdem dies den Regierungen weitgehend gelungen ist. Leider sind nicht nur die meisten politischen Verwaltungen blind für diese Gefahr, sie wird auch nicht von denen gesehen, die vorgeben, von Städten etwas zu verstehen. Wenn etwa in der London School of Economics ein „Urban Age“Programm von der Deutschen Bank mit Millionen finanziert wird, das im Wesentlichen 152

Die Fähigkeit, Veränderungen mitzumachen oder ihnen zu widerstehen

den Städtereisen eines „Zirkus“ gleicht, kann man sich vorstellen, welche Ergebnisse da­ raus zu erwarten sind. (Es mag ein Zufall sein, dass der Direktor der LSE der frühere Chef der Londoner Börse ist!?) Konzerne haben, wie früher die Organisatoren internationaler Raubheere, das gleiche Interesse: Beide wollen so bequem und einfach wie möglich die in den Städten vorhandenen Ressourcen zu ihren Gunsten nutzen. Früher verlangte man Tributzahlungen, heute leistet man diese über die privatisierten Einrichtungen der seinerzeit öffentlichen Daseinsvorsorge. Wasser, Mobilität, Schulen, Lebensmittel bis hin zur Altersvorsorge sind die Gebiete, die man versucht, den Menschen zu entreißen, weil diese dann hilflos werden – ebenso wie ihre politischen Vertreter. Leider gibt es unter diesen solche, die sich auf die Seite der Konzerne (oft sind es Banken) schlagen und gegen ihre Bürger regieren – meist mit großem Applaus von den konzernabhängigen Medien.

8.2 Die Fähigkeit, Veränderungen mitzumachen oder ihnen zu widerstehen Städte, aber auch Stadtteile durchlaufen, wie alle lebendigen komplexen Systeme, im Wesentlichen vier Phasen: • • • •

Wachstum Erhaltung chaotischer Wandel Erneuerung

Diese Phasen müssen nicht unbedingt und immer in dieser Reihung und auch nicht einem vorbestimmten Weg folgen. Es kann durchaus vorkommen, dass eine Phase übersprungen wird. Die Konzepte der Zähigkeit oder Resilienz und Nachhaltigkeit oder Sustainability von Strukturen bestimmen die Entwicklungen und sind eng miteinander verbunden. Resilienz (Zähigkeit, Elastizität) beschreibt das Ausmaß, in welchem ein System starken Störungen, wie der Änderung der Randbedingungen, standhalten und sich von diesen erholen kann, ohne seine Grundfunktion zu verlieren. Nachhaltigkeit beschreibt die längerfristigen Muster des Verhaltens und ist ein Maß für die „Gesundheit“ und das Wohlbefinden des Systems über längere Zeiträume. Wachstumsphase Für diese Phase wurden und werden immer noch nahezu alle Planer und Techniker ausgebildet. Die Naturwissenschaften dominieren in ihrer engen, aus der Realität ausgeschnit153

Städte im Wandel

tenen Welt, die durch Planung und Technik zu einer neuen, künstlichen Realität gemacht wird. Das heutige Finanzsystem und auch die Ökonomie kennen nur diese Phase und ex­ trapolieren sie in ihre virtuelle Welt, womit sie die periodischen Zusammenbrüche erzeugen. Die Wachstumsphase ist bei Politikern und Architekten sehr beliebt, aber auch bei den Lobbys. Während dieser Phase hat das System Zugang zu Ressourcen (vor allem Geld in Form von Krediten), die es für seine Entwicklung benötigt. Diese Phase ist gekennzeichnet durch eine rasche Veränderung. Politiker lieben diese Phase der Unbekümmertheit, des Wachstums, der Infantilität. Sie lieben Eröffnungen und die dazugehörigen Erwartungen und Feiern, nicht aber die Folgen ihrer Entscheidungen. Es ist die Phase der Meinungsethik, die man unmündigen Kindern zubilligt, die man für ihre Handlungen noch nicht zur Verantwortung ziehen kann. Dass Politiker daher alles unternehmen, um selbst nie in die Position eines verantwortungsbewussten Erwachsenen zu kommen, ist unter diesem Aspekt verständlich. Die Legislaturperioden, die über die politische Lebensdauer bestimmen, fördern diese Einstellung. Für die Folgen haben dann die Bürger aufzukommen. Im Laufe des Prozesses werden die Ressourcen immer stärker bestimmten Funktionen zugeordnet. Es bilden sich solidere, gefestigte Strukturen, die immer mehr Energie und Ressourcen zu ihrer Erhaltung benötigen (binden). Erhaltungsphase (Conservation) Diese ist die Phase der Verwaltungen. Währenddessen sind die Ressourcen spezifischen Funktionen fix zugeordnet. Die Komplexität nimmt zu. In vielen Systemen ist diese Phase langsam und lang andauernd, insbesondere in Städten. Gemeinsam mit der Wachstums­ phase macht diese Periode 80 bis 90 % des Entwicklungsprozesses eines Systems aus. Das System wird einerseits widerstandsfähig gegen Veränderungen, andererseits können aber schon kleine Änderungen das System destabilisieren, weil keine Ressourcen für Innovation und auch keine zusätzlichen gespeicherten Ressourcen mehr vorhanden sind. Auch diese Phase wird von der Politik, vor allem aber von einer trägen Verwaltung geschätzt. Richtlinien und Verordnungen schränken die Freiheit immer mehr ein, Lobbys verteidigen ihre Machtansprüche auf Kosten des Gesamtsystems und entziehen dem System Ressourcen, um ihr Position und Macht zu sichern. Man hält an falschen, überholten Bestimmungen, wie den Bauordnungen, um jeden Preis fest. Die Fähigkeit zur Veränderung geht verloren. Die Ausbildung an Technischen Schulen und Universitäten tendiert unter dem Druck der Industrie und anderer Lobbys, die um Machterhalt kämpfen, in diese Richtung. Je länger das System in dieser Phase bleibt und Veränderungen widersteht, umso mehr verhärtet sich dieses bezüglich der (erworbenen, angeeigneten) Eigentumsbedingungen über Ressourcen – umso größer wird dann auch die Wahrscheinlichkeit für eine katastrophale chaotische Übergangsperiode (Beispiel Industrieviertel).

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Die Fähigkeit, Veränderungen mitzumachen oder ihnen zu widerstehen

Rasche Verlustphase (Rapid Release) Während dieser Phase gehen Zusammenhänge und Ressourcen verloren. Die Phase ist gekennzeichnet von einer chaotischen Organisation und es ist unmöglich vorauszusagen, was das Ergebnis dieses Prozesses sein wird. In der Physik wird dieser Zustand auch als Phasenwechsel bezeichnet. Während dieses Phasenwechsels gibt es keine Attraktoren. Es ist aber möglich, Attraktoren von außen in dieser Phase einzubringen, auf welche die selbst organisierenden Komponenten des Systems ansprechen und das System in die vierte Phase bringen. Attraktoren können positive und negative sein. Es ist daher wichtig, zu verhindern, dass Attraktoren, die der Stadt schaden, eingebracht werden. Diese Phase wird, wie die erste, von Lobbys genutzt, um die eigenen Interessen gegen die der Stadt und ihrer Bürger durchzusetzen – eine heute übliche Strategie der Kapitalgesellschaften. Die Schockstrategie des Neoliberalismus der „Chicago Boys“ zur Destabilisierung von Demokratien gehört dazu, die in den vergangenen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts versuchte, Städte, Regionen und ganze Länder in diese Phase zu drängen. Die Verheerungen und Opfer, die diese gefährliche, ja verbrecherische Ideologie nach sich zog, werden bis heute nicht verantwortet. Zur Strategie gehört vor allem die Taktik der Privatisierung von Daseinsgrundfunktionen. Dies wird etwa auch von der EU-Kommission unterstützt, die sich zunehmend in die Gemeindeautonomie einmischt, um alle Bereiche der Daseinsvorsorge zu „privatisieren“, also unter die Kontrolle anonymer, internationaler Finanzierungsgesellschaften zu bringen. Damit kann man langfristig Abhängigkeiten schaffen oder erzwingen. Verantwortungsbewusste Politik müsste diese erzwungenen Zerstörungen verhindern. Es ist auch eine Strategie der Lobbys, um inferiore Siedlungs- und Verkehrsprojekte umzusetzen, und besteht im Erzeugen eines (virtuellen) Zustandes des Chaos über Medien und willige oder korrupte Politiker, das durch die von den Lobbys vorbereiteten Projekte behoben werden soll. Phase der Reorganisation, Erneuerung, manchmal auch eine Wiederherstellungsphase Dies ist eine Zeit, in der man wieder Innovationen in ein System einbringen kann. Das System ist offen für neue Ideen, Funktionen, Prozesse und Komponenten. In dieser Phase ist es auch möglich, das System selbst in einer ähnlichen Funktion, wie es vorher war (in der Erhaltungsphase), wiederherzustellen. Es kann sich aber auch in einer komplett neuen Form organisieren, die den Innovationen (oder auch den Machtverhältnissen) in der Zwischenzeit besser angepasst ist. Es können Faktoren, die der neuen Skalengröße besser entsprechen, ins Spiel kommen. Die Maßstabsfrage ist entscheidend, da Anpassungszyklen immer über Skalen hinweg stattfinden. Die Wurzeln (Samen) für Innovationen oder Wechsel liegen sehr häufig im Übergangsbereich des Systems auf unterschiedlichen Ebenen. Investoren versuchen in diesen Phasen, die Strukturen zu ihren Gunsten zu gestalten, um sich langfristige Vorteile auf Kosten der Allgemeinheit zu sichern. Wirtschaftsprogramme nach dem vorhin beschriebenen Muster werden entweder von Militär- oder Konzerndiktaturen durchgesetzt. Diese Phase kann auch genutzt werden, um Strukturen, deren Maßstab nicht passt, in Ordnung zu bringen – wenn man weiß, wie. 155

Städte im Wandel

Resilienz

Die Fähigkeit eines Systems, seine Funktionen über einen größeren Zeitraum zu erhalten, kann durch Zähigkeit und Elastizität beschrieben werden, die durch den aus dem Englischen stammenden Begriff „Resilienz“ charakterisiert werden. Dies ist die Fähigkeit, Störungen so abzufangen, dass Strukturen, Funktionen und Rückkopplungen erhalten bleiben. Zähigkeit selbst ist an sich kein Ziel. Es gibt heute eine ganze Reihe von Systemen, die zwar eine außerordentliche Zähigkeit und auch Widerstandsfähigkeit beweisen, die man keineswegs als wünschenswert bezeichnen kann. Dazu gehören etwa Machstrukturen der internationalen Konzerne, die sich sogar politischer Superstrukturen – wie der WTO oder der EU – bedienen, um Bereiche der Demokratien aufzubrechen, die sie an der Ausbeutung der Bürger behindern. Die Nuklearindustrie ist ein Beispiel, aber auch etwa das jahrtausendealte Kastenwesen in Indien. Autoorientierte Strukturen in den Siedlungen sind zählebig und werden von autoorientierten Verwaltungen und Politikern unterstützt. Und auch die Ausbildungsstätten, in denen die Zunft der mythologischen Verkehrsplanung betrieben wird, die sich den Systemwirkungen verschließt, oder Siedlungsplanung ohne Kenntnis des Organismus einer lebensfähigen Stadt gelehrt wird, gehören zu den zählebigen Strukturen. Resilienz definiert aber auch das Ausmaß, innerhalb welcher Toleranzbreite ein System stabil erhalten werden kann. Außerdem verhilft sie uns zu bestimmten Einsichten hinsichtlich nicht linearen Verhaltens von Systemen. Bestimmungsgrößen dafür sind: • Veränderungsfähigkeit (Modularity) • Stärke der Rückkopplungen • funktionale Diversität • Diversität der Systemreaktionen Funktionale Diversität gibt die Vielfalt der Komponenten innerhalb eines Systems an, wobei jede dieser Komponenten verschiedene Funktionen erfüllen kann. Damit kann es auf Veränderungen flexibel reagieren. Der öffentliche Raum, die Funktionsmischung in Siedlungen und die Einhaltung der Siedlungsgrenzen waren vor der Motorisierung eine der wesentlichen Erhaltungsbedingungen der Dörfer und Städte. Die Reaktionsvielfalt beschreibt die Breite der möglichen Antworten auf verschiedene Formen von Störungen und stellt sicher, dass das System nicht nur auf eine einzelne Komponente angewiesen ist, um die benötigten Funktionen zu erfüllen. Die meisten nach 1950 entstandenen autoabhängigen Siedlungen haben diese Fähigkeit nicht mehr. Stoppt man die Erdölzufuhr, müssen viele zersiedelte Räume aufgegeben werden.

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Die Fähigkeit, Veränderungen mitzumachen oder ihnen zu widerstehen

Vier Schlüsselbereiche der Zähigkeit eines Systems werden unterschieden: 1. Der Spielraum: Dieser beschreibt die maximale Veränderung eines Systems, bevor es seine Fähigkeiten verliert, sich selbst wiederherzustellen (Elastizität). In den alten europäischen Siedlungen ist dieser Spielraum noch sehr groß. Entzieht man ihnen die fossilen Energiezuflüsse, können sie sich noch auf hohem Niveau stabilisieren. Die Erfolge mit den Fußgeherzonen sind ein Beweis dafür. Neue, autoabhängige Siedlungen haben diesen Spielraum nicht. Hochhäusern fehlt die Eigenschaft zur Selbstregeneration, wie sie kleine Gebäude haben, die von den Bewohnern selbst erneuert und in Ordnung gehalten werden können. 2. Widerstand gegen Veränderung: Dieser ist bei autoabhängigen Bürgern besonders groß, wenn sie als Gefangene des eigenen Autos glauben, keinen Spielraum zu haben. Beruht diese Abhängigkeit nur auf Bequemlichkeit und Einbildung, ist das Problem leicht lösbar. Anders ist hingegen die Situation von Siedlungen, die ausschließlich auf das Auto als Verkehrsmittel ausgerichtet sind. Hier haben Planer und Politiker das daraus entstehende Risiko zu verantworten. 3. Die Instabilität der bestehenden Entwicklungsbahn gibt an, wie weit das System von der kritischen Grenze entfernt ist. Durch eine Planung, die der individuellen Eigendynamik des Autoverkehrs und nicht den Systemerfordernissen angepasst wurde, werden viele Siedlungen der jüngeren Vergangenheit bei Energieausfall instabil. Allein die geringe Erhöhung der Treibstoffpreise im Jahre 2008 (noch meilenweit von den echten Preisen entfernt) zeigte bereits reale Einbrüche bei den Preisen der Realitäten. 4. Den Abstand, mit dem der Einfluss der Entwicklungsphasen oberhalb oder unterhalb des Systems beschrieben wird, bezeichnet der sogenannte „Panarchie-Effekt“. Das Kippen ländlicher Gebiete in Verhaltensweisen städtischer Agglomerationen oder die oft rasche Änderung der sozialen Zusammensetzung städtischer Viertel durch Zuwanderung, aber auch durch starke Verkehrsinfrastrukturen, wie U-Bahn-Stationen, gehören dazu. Für die Zukunft interessant ist das Kippen der Städte in eine neue Ordnung, wenn der fossile Energiestrom versiegen wird. Die Geschichte menschlicher Siedlungen bietet reichliches Material für die vorhin beschriebenen Vorgänge. Städte im Nahen Osten oder Rom haben diese Phasen mehrfach durchlaufen. Relativ gut dokumentiert ist die Entwicklung von Rom, wo Zusammenbrüche auf Wachstumsphasen folgten, Störungen von außen und von innen die Einwohnerzahlen um Größenordnungen veränderten. Es gibt aber auch zahlreiche Beispiele von Städten, die einst führende Zentren waren und heute verschwunden sind. Ephesus, Milet, die Inkasiedlungen, Städte im antiken Afrika, Persien und Indien sind bekannt und heute Gegenstand der Archäologie. Manche Städte in Europa, wie etwa in den neuen Bundesländern Deutschlands, durchlaufen derzeit Phasen des quantitativen Niederganges, wenn deren Einwohnerzahlen in wenigen Jahren um ein Drittel oder mehr abnehmen. 157

Städte im Wandel

Abb. 86 Einwohnerzahl von Rom 400 v. Chr. bis 1900 n. Chr.

Hochkulturen wurden durch Überschreiten der Tragfähigkeitsgrenzen ihres Lebensraumes ausgelöscht. Zu glauben, dass dies heute nicht möglich wäre, ist angesichts der begrenzten Ressourcen unserer Erde ein fataler Irrtum. Das Beispiel der Bewohner der Osterinseln sollte uns eine Lehre in der Planung sein. Die Erneuerungsrate der Palmwälder war kleiner als die Rate, mit der die Menschen die Bäume fällten, um Boote und Monumente zu bauen, Feuerholz zu machen, sodass die Bäume schließlich verschwanden. Nach der Vernichtung der Wälder konnten die Menschen nach kurzer Zeit weder fischen noch von den Inseln entkommen. Die Zivilisation, die riesige Steinmonumente geschaffen hatte, verschwand. Die Entdecker der Osterinseln fanden zwar noch die einst blühende Kultur, 100 Jahre später aber nur mehr die Reste einer am Existenzminimum vegetierenden Bevölkerung. Das Verschwinden ganzer Kulturen in Latein- und Südamerika, von denen heute noch eindrucksvolle Bauten erhalten sind, weist auf ähnliche Prozesse hin. Städte, die ihre wirtschaftliche Existenz von einem einzigen Großbetrieb abhängig machten, stehen heute vor dem sprichwörtlichen Nichts, wenn sich der Konzern, um noch mehr Gewinne zu machen, in andere, „ergiebigere Jagdgründe“ (Länder) abgesetzt hat. Positive Beispiele sind Gesellschaften, die durch die Änderung der äußeren Randbedingungen gezwungen waren, ihre gesamte innere Struktur und Produktionsweise umzustellen. Birmingham, einst ein Schwerpunkt der Autoindustrie Großbritanniens, musste diese kritische Phase des Zusammenbruchs durchlaufen und ist auf dem besten Weg, wieder ein Attraktor zu werden. Die Stadtverwaltung hatte nach dem Zusammenbruch der Autoindustrie nahezu unlösbare Probleme zu bewältigen. 158

Die Fähigkeit, Veränderungen mitzumachen oder ihnen zu widerstehen

Abb. 87 a u. b Birmingham vor und nach dem Abbruch der Ringautobahn um das Stadtzentrum.

Der Autobahnring in der Stadt (Concrete Collar) wurde abgerissen und durch eine Fußgeherzone ersetzt. Die Investitionen in die Stadt nehmen zu und um die alten Kanäle der ehemaligen Industriezonen entstehen hochwertige Wohngebiete, Gewerbe- und Einkaufszonen. Man hat die zerstörerische Wirkung des Autos auf die Stadtwirtschaft, wenn schon nicht erkannt, so doch geahnt und richtig gehandelt. Die Ortschaft Seiffen im Erzgebirge hat nach den Zeiten des Bergbaues erfolgreich auf Holzschnitzerei umgestellt und sichert damit bis heute ausreichendes Einkommen für ihre Bevölkerung auf nachhaltige Weise. Auch Luxemburg konnte den Übergang von der Schwerindustrie zum Bankenzentrum vollziehen. Voraussetzungen dafür waren die Adaptabilität der Strukturen und die Lernfähigkeit der Bewohner. Der Bürgermeister von Seoul entschied sich, die in den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts errichtete Stadtautobahn, die mit über 200.000 Fahrzeugen täglich belastet war, nicht zu sanieren, sondern abzureißen – mit positiven Effekten für die Stadt, ihre ­Bürger, die lokale Wirtschaft und das Klima in der Stadt. Er wurde drei Jahre später zum Präsidenten des Landes gewählt, als Kandidat der Wirtschaftspartei.

Abb. 88 a u. b Seoul 2001 und nach dem Abriss der Autobahn 2005.

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Städte im Wandel

Abb. 89 a–c Entfernt man die Autos aus dem öffentlichen Raum einer Siedlung, beginnt diese von Menschen belebt zu werden. An den Gesichtern kann man die Wirkung dieser Veränderung ablesen.

Adaptabilität

Adaptabilität ist die Fähigkeit eines Systems, seine Zähigkeit trotz sich ändernder Randbedingungen zu erhalten und sich anzupassen. Dies kann entweder durch die Veränderung der Systemgrenzen erfolgen, indem neue Ressourcen erschlossen werden, oder durch eine gezielte Nutzung neuer Entwicklungspfade. In sozialen Systemen hängt die Anpassungsfähigkeit von den Führungsqualitäten, der Glaubwürdigkeit, der Gesundheit, den Fähigkeiten (Ausbildung und Bildung) der Bewohner und ihrer Politiker, den Ressourcen – energetisch, finanziell – und kooperierenden Institutionen ab. Im Südpazifik bewiesen die Bewohner einer Insel, zum Unterschied von jenen der Osterinseln, dass sie ein nachhaltiges System über lange Zeiträume betreiben können. Sie trafen die Entscheidung, alle Schweine, die von Zuwanderern importiert wurden, auszurotten, weil diese im Wettbewerb um die Nahrungsressourcen standen und die kritische Grenze der Tragfähigkeit des Ökosystems erreicht war. Außerdem erfanden sie ein Ritual einer periodischen Reduktion der Bevölkerung, indem sie junge Männer in Kanus von der Insel in die Ferne schickten. Die Methode mag uns zwar grausam erscheinen, doch ist die Geschichte Europas noch viel schlimmer, da dieser Kontinent seine überschüssige Bevölkerung über Jahrhunderte „exportierte“, die in Amerika und Australien sesshaft wurde, wobei sie in beiden Fällen systematischen Völkermord an der einheimischen Bevölkerung betrieb. 160

Die Fähigkeit, Veränderungen mitzumachen oder ihnen zu widerstehen

Abb. 90 Peak Oil: Werden Fachwelt und Politik in der Lage sein, die Städte rechtzeitig und rasch genug auf die kommende Schrumpfungsphase vorzubereiten?

Wir erkennen hier aber auch das Prinzip einer von den Griechen entwickelten Strategie, Städte nur bis zur ökologischen Kapazität des Umlandes wachsen zu lassen. Überschritt die Bevölkerungszahl dieses Maß, mussten neue Städte gegründet werden. Auch in China wurde diese Strategie über Jahrtausende praktiziert. Heute kompensiert ein aufwändiges technisches Verkehrssystem auf der Grundlage fossiler Energie die lokalen Mängel und lässt die Städte nahezu endlos wachsen – vorübergehend zumindest. Veränderungsfähigkeit

Dies ist die Fähigkeit, ein grundsätzlich anderes System zu gestalten, wenn ökologische, soziale oder ökonomische Bedingungen die Existenz des bestehenden Systems unhaltbar machen. Im Zweiten Weltkrieg war die Bevölkerung in vielen Städten gezwungen, Nahrungsmittel wieder selbst zu produzieren, und hat dazu städtische Parks in Nutzgärten umgewandelt. Heute wäre dies nicht mehr möglich, weil die Böden mit Schwermetallen aus dem Autoverkehr so angereichert sind, dass darauf keine gesunden Nahrungsmittel mehr wach161

Städte im Wandel

sen können. Dachgärten, wie in Fußnote47 dargestellt, integriert in die Stadt, sind daher auch ein Teil der Daseinsvorsorge. Dass die Städte und ihre Bevölkerung eine unglaubliche Veränderungsbereitschaft für eine autogerechte Umgestaltung gezeigt hatten, beweist die Metamorphose unserer Siedlungen in den vergangenen 50 Jahren. Die heute bevorstehende Veränderung zum Verzicht auf billige fossile Energie stellt eine der großen Herausforderungen verantwortungsbewusster Planung für die Zukunft dar. Transformationsfähigkeit

Transformationsfähigkeit setzt eine gewisse Experimentierfreude oder -möglichkeit voraus. Ein Vertrauen in ungewohnte Wege, das Wecken des Bewusstseins für Veränderungen, kann die Bedingungen für diesen Wechsel vorbereiten. Diese Fähigkeit kann aber nur erhalten werden, wenn der städtische Lebensraum ausreichend Möglichkeiten für Eigeninitiative bietet. Diese wurde aber vom Großteil der Gesellschaft zugunsten eines ungehemmten Hedonismus und passiver Konsumlust längst aufgegeben. Die Ergebnisse sind einerseits unzufriedene, andererseits ebenso manipulierbare Bürger, oft auch gefördert von einer populistischen, verantwortungslosen Stadtpolitik. Damit kann aber jene Transformation der Siedlungsräume im Interesse geschickter Lobbys vollzogen werden, mit der Spekulanten, Investoren und politische Parteien riesige Gewinne auf Kosten der Allgemeinheit machen können.48

8.3 Inklusiver Wohlstand „Inklusiver Wohlstand“49 versucht, die gesamten Wohlstandseffekte einer bestimmten Region abzuschätzen. Er setzt sich zusammen aus dem Naturkapital, dem erzeugten und dem menschlichen Kapital, einschließlich der gesamten sozialen Werte. Dieser „gesamte soziale Wert“, reduziert um den Wertverlust oder die Wertminderung, über die Zeit addiert, ist eine Maßzahl für den „inklusiven Wohlstand“ einer Region oder einer Stadt. Naturkapital kann aus der ökologischen Leistungsfähigkeit und Vielfalt bestimmt werden. Das von den Menschen erzeugte Kapital ist schon schwieriger zu erfassen, da es sich dabei nicht nur um Geldwerte handelt, sondern auch um die durch die menschlichen Aktivitäten erzeugte oder verloren gehende Qualität. Das menschliche Kapital wird nicht nur von der Bildung (zum

47 Knoflacher, H. (1996): Zur Harmonie von Stadt und Verkehr. Freiheit vom Zwang zum Autofahren. 2., verbesserte und erweiterte Auflage. Böhlau Verlag Wien – Köln – Weimar. 48 Seiß, R. (2007): Wer baut Wien? Hintergründe und Motive der Stadtentwicklung Wiens seit 1989. Verlag Anton Pustet, Salzburg. 49 The Nature of the Fiscal World; Conservation Magazine; Vol. 10 No.1.

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Zeitpunkte und Möglichkeiten planerischer Eingriffe

Unterschied von Ausbildung), sondern der Qualität der Sozialstrukturen – jener der Familien über die Ortsgemeinschaften bis zur Qualität der Beziehungen in größeren Einheiten – wie von der Kultur in allen ihren Ausprägungen bestimmt. Wenn dieser Wert über die Zeit nicht abnimmt, kann man annehmen, dass die Struktur der gesamten Ressourcen einer Region nachhaltig ist. Vergleicht man die Qualität des Gemeinschaftslebens in Europa um die Mitte des 20. Jahrhunderts mit der heutigen, kann man erkennen, wie dramatisch die Verluste waren. Diese Berechnung kann nur durchgeführt werden, wenn man die Zähigkeit oder Resilienz einbezieht. Um den realen Wert des Gesamtkapitals einer Region zu bestimmen, muss man in jedem Sektor des Kapitals versuchen, den Grenzbereich zu finden, der, wenn er erreicht wird, zu einem Übergang in ein anderes Regime führt. Die zweite Größe ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese Grenze erreicht wird. Nicht jeder Teil des Bestandes hat diese Grenze, aber Teilbereiche können rascher ihre kritischen Grenzen erreichen. Anhand dieser kann die Zähigkeit (Resilienz) mithilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung in einem Zahlenwert oder auch ökonomischem Wert ausgedrückt werden.

8.4 Zeitpunkte und Möglichkeiten planerischer Eingriffe Diese sind nicht immer im gleichen Ausmaß gegeben, sondern hängen von der jeweiligen Phase des Systems ab. In der Wachstumsphase sollen Interventionen dazu beitragen, das System widerstandsfähiger zu machen, um die Entwicklung in Richtung Nachhaltigkeit zu lenken. Die Möglichkeiten, aber auch die Risiken der Planung sind hier am größten. Während dieser Phase ist die Optimierung relativ leicht, noch leichter ist es allerdings in dieser Phase, die Entwicklungspfade zur nachhaltigen Siedlungsstruktur aufzugeben oder zu verbauen. Strukturen können so gestaltet werden, dass sie später das Systemverhalten in Richtung Nachhaltigkeit fördern – aber auch das Gegenteil ist möglich, wie es im 20. Jahrhundert Städtebau und Verkehrswesen bewiesen haben. Diese Phase ist deshalb entscheidend, weil in ihr alle materiellen Ausformungen und Flüsse, die Konstanten, Parameter, die Reaktionsmechanismen des Systems, seine Pufferkapazität, die Stärke negativer Rückkopplungen, die Kontrolle positiver Rückkopplungen und auch die Struktur der Informationsflüsse entscheidend geprägt werden können. Aus der Abhängigkeit von fossiler Energie ist nachweisbar, dass herkömmliche Siedlungs- und Verkehrsplanung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts leider die entscheidenden Weichen für die heute immer deutlicher auftretenden Probleme der Siedlungen und des Verkehrssystems gestellt haben. Diese werden sich in Zukunft noch verstärken, wenn die äußeren Randbedingungen schwieriger werden. 163

Städte im Wandel

Während der Erhaltungs- oder Konservationsphase wird es immer schwieriger, Veränderungen zu erzielen. Innovative Planung ist immer seltener möglich – auch wenn man erkannt hat, dass sich das System in die falsche Richtung entwickelt. Um in dieser Phase effizient zu sein, ist es praktisch immer notwendig, eine Störung einzubringen, mit welcher der Status quo fraglich wird. Waren früher die Gewerkschaften in manchen Teilen der Welt die Gruppe, die zu Erstarrungen neigte, sind es heute die mächtigen Konzerne. Sie wollen alles verändern, nur nicht sich selbst. Nicht mehr der Wettbewerb der Betriebe, sondern der Wettbewerb der Städte, Regionen und Länder wird daher im Sinne optimaler Gewinne für diese Wirtschaftsparasiten verlangt. Die Kommunalpolitik steht dieser Entwicklung noch weitgehend verständnislos gegenüber und lässt sich daher zu einem von den Konzernen organisierten Wettlauf um die besten Standortbedingungen verleiten. Vielen in dieser Hetzjagd eingespannten Politikern ist überhaupt nicht bewusst, dass sie mit den von Konzernen verlangten Infrastrukturen die Zukunft ihrer Städte und Regionen ruinieren, wenn etwa Ringautobahnen um Städte gebaut werden sollen. Im Städtebau und Verkehrswesen befindet sich Europa in dieser Phase. Das System ist in den Fehlern erstarrt. Weder die Fachwelt noch die Politik begreifen die Ursachen der „Sachzwänge“. Schon kleine, unbedeutende und wirkungslose Scheinmaßnahmen werden als große Erfolge gefeiert, obwohl sachlich überhaupt kein Anlass dazu besteht. Dazu gehören etwa die Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung, solare Einzelobjekte im Hochbau, Straßenmaut (übrigens ein alter Hut aus dem 18. Jahrhundert Englands, als die Turnpikes gebaut wurden). In der dritten Phase des Zusammenbruches ist es entscheidend, wie viele Teile des bestehenden alten Systems erhalten werden können, weil sonst der Schaden unabsehbar wird. Die Hauptaufgabe während dieser Phase ist es, die Heterogenität und Vielfalt des Systems so weit wie möglich zu erhalten. Die historischen europäischen Stadtstrukturen weisen, wie die Erfahrung zeigt, dafür hervorragende Eigenschaften auf. Bleiben genügend und entscheidende Teile des alten Systems erhalten, kann die Phase der Erneuerung erfolgreich eingeleitet werden – die auch ein Fehler sein kann, falls das System den Anforderungen der Zukunft nicht entspricht. Dazu brauchen Planer und Entscheidungsträger aber Weitblick und Systemkenntnisse. In der Planungspraxis gibt es genügend erfolgreiche Beispiele. Dazu gehören etwa die Fußgeherzonen, die in den historischen Städten die ohnehin dazu passende Baustruktur in kurzer Zeit wiederbeleben können. Die erfolgreiche Förderung des Radverkehrs in vielen Städten und Regionen hat diese siedlungsverträgliche Verkehrsart oft in kurzer Zeit für alle Reisezwecke aktivieren können. Aber auch die erfolgreiche Integration von Bahnhöfen und Haltestellen des öffentlichen Verkehrs in autofreie Umgebungen der Stadt führt zu bemerkenswert positiven wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Effekten. 164

Umsetzung des Begriffes „Resilienz“ für die praktische Verkehrs- und Siedlungsplanung – als Methode

8.5 Umsetzung des Begriffes „Resilienz“ für die praktische Verkehrs- und Siedlungsplanung – als Methode Die vier beschriebenen Phasen im Lebenszyklus eines dynamischen Systems sind für den praktischen Planungsprozess selbst von ebensolcher Bedeutung wie für die Praxis der Maßnahmen. In der Planung entspricht die Planungsidee der Wachstumsphase, die Umsetzung der Idee der Erhaltungsphase, die Prüfung der Ideen entspricht der Abbauphase und dann erst sieht man, was von der Idee noch übrig geblieben ist. Aufgabe der Planung ist es, die dritte Phase so schnell wie möglich herbeizuführen, um sich nicht mit überflüssigen und schlechten Varianten herumzuschlagen zu müssen. Dieser vierstufige Prozess ist bei jeder Planungsarbeit so oft wie möglich zu durchlaufen. Nur jene Planungen und Projekte haben Bestand, die diesen vierstufigen Prozess mehrfach überlebt haben, nachdem sie Prüfungen nach allen Richtungen hin ausgesetzt waren. Nur so kann das Ergebnis später auch verantwortet werden. Bei mehrfachem Durchlaufen des Prozesses können nach der Phase 3 manche Bausteine und Ideen einzelner Varianten durchaus überleben, die brauchbar sind. So gelangt man schrittweise zu dem, was man als gute Planung bezeichnet. Man muss schlechte Planungen rechtzeitig sterben lassen, um der Menschheit schlechte Lösungen zu ersparen. Die herkömmliche lineare Projektierungspraxis kennt diese Prozesse nicht. Sie nimmt a priori an, die richtige Lösung sei jene, die den Richtlinien oder Bauordnungen entspricht, deren Grundlagen den Projektanten aber meist gar nicht bekannt sind – und die auch manchmal keiner seriösen Prüfung standhalten. Oft sind diese Grundlagen nicht mehr als Annahmen oder Vereinbarungen zwischen bestimmten Interessengruppen. Von qualifizierter Planung, die das verantwortet, was sie auch anstellt, kann daher nicht die Rede sein. (Mit dem Hauptgegenstand, den Menschen, die dabei oft zu Opfern werden, sollen sich dann Soziologen oder Psychologen, bei Verkehrsunfällen die Mediziner beschäftigen.) Beim Durchlaufen dieses Prozesses gibt es eine Reihe praktischer Hinweise, die als Orientierungshilfen dienen können: • Je stärker das Verkehrssystem einer Stadt von Fußgehern bestimmt wird, umso vielfältiger, flexibler, zäher und damit nachhaltiger wird die Siedlung sein. Der Fußgeher hat praktische Erfahrungen von ca. 6 Millionen Jahren, und rund 10.000 Jahre auch mit Städten. Er ist enorm steigungsfähig, unglaublich wendig, maximal mobil und entspricht den Kriterien (die man von einem Verkehrssystem, das hohe Resilienz aufweist, erwarten kann) am besten. Er sollte daher bei allen Verkehrs- und Siedlungsplanungen den Hauptteil der Mobilität übernehmen. • Der Radfahrer hat weniger Flexibilität bezüglich der Höhenüberwindung, er ist aber besser als der Fußgeher geeignet, schwerere Lasten zu transportieren, und kann größere 165

Städte im Wandel

• •







Distanzen zurücklegen. Das Fahrrad ist daher ein hervorragendes Verkehrsmittel, um bei geeigneten topografischen Verhältnissen hohe Flexibilität bei gleichzeitiger Zähigkeit und Langlebigkeit zu entwickeln, und es kann nicht von Unsicherheiten in der Energieversorgung gestört werden. Je weniger energieabhängig (von externer, nicht erneuerbarer Energie) sie ist, umso leichter wird eine Siedlung Einschränkungen in der Energieversorgung und Preisveränderungen überleben. Der öffentliche Verkehr hängt von der Versorgung mit externer Energie ab, ist bezüglich der Flexibilität eingeschränkt und kann aufgrund der hohen Massen und Geschwindigkeiten ein wesentlich weniger dichtes Netz bedienen. Der schienengebundene Verkehr kann, durch die Spurführung bedingt, in Verbindung mit anderen Verkehrsmitteln flächenhafte Wirkungen erzeugen. Er ist aber weniger energieabhängig als der Autoverkehr, leistungsfähiger und effizienter, sowohl für den Güter- wie auch den Personentransport. Er weist auch hohe Flexibilität auf – insbesondere wenn er von intelligenter Logistik ergänzt wird. Wo es möglich ist, sollte daher im Siedlungsraum dem schienengebundenen Oberflächenverkehr (in Europa) der Vorzug vor dem Autobus gegeben werden. Schienenwege geben der Stadt eine organische Struktur vor, wenn das Auto ausgeschlossen wird. Autobusse sind flexibler, was aber ihr wesentlicher Nachteil ist, da man sie leicht dazu missbrauchen kann, räumlichen Fehlentwicklungen „nachzufahren“. Die geringen Investitionskosten sollen aber nicht über die möglicherweise höheren Systemkosten hinwegtäuschen. In schnell wachsenden Städten hingegen können Autobusse erfolgreich im bestehenden Straßenraum eingesetzt werden, um die Motorisierung zu bremsen, städtische Fehlentwicklungen zu vermeiden, wenn man um die Haltestellen autofreie Gebiete schaffen kann. Die Kapazität solcher Bussysteme erreicht jene von Metros und ist auch höher als die von Straßenbahnen. Die Flexibilität des Autos ist groß – vorausgesetzt, es stehen genügend Fahrbahnen und geeignete Sicherungseinrichtungen zur Verfügung. Es ist aber extrem ineffizient in Bezug auf Energie- und Flächennutzung. Seine Flexibilität kann sich aber nur auf Kosten der höherwertigen Verkehrsmittel entwickeln, der nicht motorisierten Verkehrsteilnehmer und des öffentlichen Verkehrs. Der enorme Ressourcenverbrauch, die Abhängigkeit von Versorgungs- und Serviceeinrichtungen schränken allerdings seine Flexibilität und Zähigkeit sowie Langlebigkeit ein. Das Auto zerstört aber auch die Flexibilität und Resilienz der Siedlungen, wenn sich diese ihm anpassen. Seine Flexibilität entsteht durch Zerstörung der übergeordneten Systemebenen. Leitungssysteme weisen zwar erhebliche Flexibilität und Elastizität auf, sie sind allerdings störungsgefährdet. Dieses Risiko kann durch Vernetzung teilweise kompensiert werden. Sie übernehmen derzeit die größte Masse an Stoffströmen (Wasser, Abwasser). 166

Umsetzung des Begriffes „Resilienz“ für die praktische Verkehrs- und Siedlungsplanung – als Methode

Hier gilt auch das Gleiche wie bei allen anderen technischen Einrichtungen: Nur so viel wie nötig und so wenig wie möglich. Transporte mit lokalen Lösungen möglichst minimieren. • Wichtiger Praxistest für alle Planungen und Projekte im Siedlungs- und Verkehrswesen ist die Beantwortung der Frage der persönlichen Betroffenheit durch das Ergebnis. „Würde ich als PlanerIn diese Lösung als beste für meine Kinder, meine Eltern, die Enkelkinder betrachten?“ „Würde ich in einer durch die Planung veränderten Landschaft meine Freizeit, meinen Urlaub verbringen oder immer dort leben wollen?“ „Werden die Sicherheit und die Luftqualität durch die Planung verbessert?“ „Leistet die Planung einen Beitrag zu mehr Ruhe und Schönheit in dem Gebiet?“ „Bringt die Planung ,mehr Sonne‘ in das Leben der von ihr betroffenen Menschen?“ „Funktioniert die Siedlung auch, wenn keine fossile Energie mehr zur Verfügung steht?“ Auf diese Fragen kommt es letztlich an und sie lassen sich ohne allzu große Wissenschaft beantworten, ein menschliches Wertesystem vorausgesetzt.

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9 Zur Evolution der Städte Wie alt Städte sind, lässt sich schwer rekonstruieren. Man findet stadtähnliche Anlagen in Mesopotamien und in der Türkei schon vor rund 7.000 Jahren. Unklar ist, ob es sich bei den gefundenen Bauresten um Kultstätten oder bereits um städtische Siedlungen handelt. Siedlungen als stationäre, größere, von Menschen permanent bewohnte und dicht bebaute Gebiete müssen ja nicht unbedingt aus dauerhaften Materialien errichtet worden sein. Es ist zu vermuten, dass Städte aus ihren Vorläufern – einzelnen Höfen, Weilern, Dörfern – erst beim Überschreiten einer kritischen Personenzahl stadtspezifische Eigenschaften, wie Funktionsvielfalt auf engem Raum, weitergehende Arbeitsteilung und mehr Spezialisierung, als sie in Dörfern möglich war, entwickelt haben. Es müssen in jedem Fall Gebilde gewesen sein, die gegenüber anderen Formen des Lebens entscheidende Vorteile für die Bewohner gehabt haben. Sicherheit in einer größeren Gemeinschaft mag einer der Hauptgründe gewesen sein. Dafür musste man aber auch einige individuelle Freiheiten aufgeben. Aber auch die Last der Zwangsmobilität der Jäger und Sammler oder Nomaden mit all ihrer Ungewissheit dürften Gründe zur Stadtbildung gewesen sein. Kain, der Brudermörder in der Genesis, ist offensichtlich seinem Fluch, ruhelos über die Erde zu wandern, dadurch entgangen, dass er zum ersten Stadtgründer wurde. Stadt entstand offensichtlich aus dem Bedürfnis, physische (äußere) Zwangsmobilität zu vermeiden oder zumindest den Aufwand dafür zu minimieren. Gemeinsam war man stärker, wenn man auch dafür bestimmte Nachteile in Kauf nehmen musste. Stadtbildende Elemente waren in jedem Fall immer Menschen, was zwar trivial ist, aber heute trotzdem ausdrücklich bewusst gemacht werden muss, um zu vermeiden, dass man sie vergisst.

9.1 Evolution braucht Zeit Eine Stadt kann nur ent- und bestehen, wenn die sozialen Bindungen und Strukturen, die Voraussetzungen für die räumliche Konzentration und Kooperation vorhanden sind. Durch die Bindungen entstehen neue Eigenschaften der Gesellschaft, die Einzelpersonen nicht haben. Diese müssen sich erst bewähren, bevor es zu einer Weiterentwicklung kommen kann, bevor neue Strukturen aufgebaut werden. Unter Zeitdruck entstandene Strukturen und auch Siedlungen haben – im Maßstab der Evolution – kaum längeren Bestand. Nicht einmal in den vorangehenden Jahrhunderten und Jahrtausenden, in denen die städtische und verkehrliche Entwicklung viel langsamer verlief, kann man viele Beispiele finden, die sich über Jahr169

Zur Evolution der Städte

tausende erfolgreich bewährt haben. Es gibt viel mehr gescheiterte Versuche als gelungene. Sowohl in den USA, wo die lokale Bindung oft nicht mehr bedeutet als einen bezahlten Arbeitsort, wie auch in Europa, wo es zu einer zunehmenden Fluktuation der Bewohner in den Wohnblocks kommt, ist die Stabilität der Stadt infrage gestellt. Viele neue Bauten sind Ausdrücke der Gesichts- und Sprachlosigkeit zeitgemäßer Architektur, die einst Baukunst war.

9.2 Bauten machen noch keine Stadt Wie bei der Bindung von Atomen zu Molekülen neue Eigenschaften auftreten, entstehen diese auch in Siedlungen aus den Bindungen ihrer Bewohner. Dabei müssen ihre „inneren“, den Menschen als Individuen, Familien und Gruppierungen innewohnenden Strukturen, erhalten und respektiert werden. Nur unter diesen Bedingungen kann die Bindekraft, die zum Zusammenhalt der Gemeinschaft und der Stadt notwendig ist, entstehen und erhalten bleiben. Werden durch Eingriffe individuelle Rechte verletzt, beginnen sich auch die äußeren Bindungen aufzulösen. Aber auch wenn Städte zu unwirtlichen Orten werden, wie sie A. Mitscherlich beschreibt, geht diese Bindung verloren. Die Stadt verliert den Zusammenhalt auf verschiedenen Ebenen. Mitscherlich beschreibt dies am Sozialsystem. Die äußere, bauliche Form bleibt noch lange bestehen – selbst dann, wenn das Leben schon längst aus der Stadt gewichen ist. Für die informellen Begegnungen zwischen Menschen spielen Kinder eine entscheidende Rolle. Nur eine Stadt oder Siedlung, in der sich Kinder frei, sicher und unabhängig von den Eltern bewegen können, erfüllt die Voraussetzungen eines lebendigen Organismus. Das komplexe Netz sozialer Interaktionen, das eine lebenswerte Stadt ausmacht, besteht vor allem aus informellen Beziehungen. Diese Grundlage wird durch formelle Strukturen der Gemeinschaft ergänzt. Wird dieses informelle Netz zerstört, wie es die herkömmliche Planung durch die strikte Trennung von öffentlichen und privat genutzten Flächen zur einseitigen Optimierung der öffentlichen Räume für den Autoverkehr betreibt, wird auch die Erhaltung formeller Strukturen immer schwieriger. Es entstehen Probleme für die öffentliche Sicherheit und steigende Kosten zur Aufrechterhaltung der Ordnung. Die Stadtverwaltung muss dafür aufkommen, was früher die Bewohner selbstverständlich und kostenlos geleistet haben – etwa, die Sicherheit öffentlicher Räume zu gewährleisten. Die offenen Fenster der Gebäude waren Augen und Ohren für die öffentliche Sicherheit. Funktionieren die informellen Strukturen, dann funktioniert die Stadt, weil sie von ihren Elementen, den Bürgern, „getragen“ wird. Für die Vitalität jeder Siedlung ist daher der öffentliche Raum, wie er gestaltet, genutzt und belebt wird, wichtig. Städte, die dieses Netzwerk verlieren, brauchen einen ungleich höheren finanziellen und organisatorischen Aufwand, um ihre Lebensfunktionen aufrechtzuerhalten. Es kommt dann leichter zu Ge170

Der „Schöpfungsmythos“ der Stadt

walt von innen und außen. Die Stadt, wie jede Siedlung, lebt daher von der Energie ihrer Bewohner. Wenn die Bewohner bereit sind, für den Zusammenhalt und die Gemeinschaft einzutreten, beginnen sie, die Gesellschaft der Stadt zu tragen – und dabei zählt das Geld am wenigsten. Die Verwaltungsstrukturen verlieren ihre Wirkung, wenn der „Wille zur Stadt“ nicht mehr vorhanden ist.

9.3 Der „Schöpfungsmythos“ der Stadt Die äußeren Erscheinungsformen der Städte sind trotz gleicher innerer Bindungen durchaus vielfältig und unterschiedlich. Randbedingungen bestimmen Ort und Form, die Topografie, das Klima, die Umgebung, das Gelände, die Fähigkeiten der Menschen in und um die Stadt, ihre Kultur und ihre Religionen, ihren Glauben. Durch den Zusammenschluss zu einer größeren Gemeinschaft treten neue Formen sozialer, wirtschaftlicher und räumlicher Organisation auf, die in ihren Einzelelementen noch nicht enthalten sind. Städte sind daher, wie ihre Vorläufer, Produkte der sogenannten Emergenz. Neues kann unerwartet auftauchen, scheinbar wie ein Akt der Schöpfung. Es ist daher naheliegend, dass man diesen geheimnisvollen Prozess bis in die heutige Zeit mit dem Schöpfungsmythos verknüpft, der im „Hinterkopf“ von Planern schlummert, die glauben, Siedlungsplanung betreiben zu können. Die Genesis beschreibt diesen Vorgang als „Gründung“, nicht aber als „Schöpfung“. Stadtgründungen wurden daher auch dem Wirken von Göttern, Halbgöttern oder überirdisch erscheinenden Gestalten der Mythologie zugeschrieben – ein erheblicher Reiz für Herrscher aller Art, durch „Stadtgründungen“ gottähnliche Eigenschaften im Sinne des Schöpfungsmythos nachzuahmen. Dazu gehört auch der mit Stadtgründungen verbundene Eingriff, nicht nur in das Ökosystem, sondern auch in die Energie- und Geldflüsse der Gesellschaft. Um die von ihnen künstlich geschaffenen Städte auch am Leben zuerhalten, wurden diesen, gegenüber anderen Siedlungen, besondere Privilegien eingeräumt. Steuer- und Zollprivilegien gehören ebenso dazu wie Stapel- und Handelsrechte. Dass sich diese Privilegien gegebenenfalls auch gegen die Gründer richteten, gehörte zwar nicht zum ursprünglichen Plan, wohl aber zu den Spielregeln der Evolution.

9.4 Emanzipation der Städte Aufgrund ihrer durch strategische Lage, Privilegien und Bevorzugung entstandenen wirtschaftlichen und politischen Macht konnten sich die städtischen Gemeinschaften immer stärker gegenüber den Feudalherren durchsetzen. Sie erkämpften sich zusätzliche Rechte bzw. Privilegien oder konnten sich von äußerer Bevormundung befreien. Die Demokra171

Zur Evolution der Städte

tie (unter Ausschluss der Sklaven) der griechischen Städte wurde zum Begriff der Bürgermacht und -freiheit. Dieser Begriff und die Idee dahinter waren so faszinierend, dass in seinem Namen oder hinter seiner Fassade bis heute eine Täuschung der Menschen auf Staatsebene und darüber hinaus möglich wurde. „Massendemokratie“ von heute lebt von dieser Illusion. Städte schlossen sich früher häufig zu Interessengemeinschaften zusammen, nicht nur in Griechenland, später entstanden die Hansestädte und andere Städtebünde, um Vorteile aus dem Bündnis zu ziehen. Dass dies gleichzeitig zu einer Benachteiligung anderer, nicht im Bündnis eingeschlossener Städte führte, wird in der Regel nicht erwähnt. Es waren aber auch immer Verkehrsvorteile oder die Kontrolle über bestimmte Ressourcen, die vorteilhaft für die Stadt waren. Verkehrsvorteile entstanden niemals aus der Durchfahrt, sondern immer aus der Unterbrechung der Verkehrsflüsse und der Kontrolle über das Verkehrsgeschehen. Städte zählten auch lange zu den Nutznießern der Eisenbahnen und bestimmten deren Linienführung und die Lage der Bahnhöfe zu ihren Gunsten. Daraus resultiert bis heute die Erwartungshaltung, jeder technische Fortschritt im Verkehrswesen wäre für die Städte vorteilhaft. Daher wurde die Motorisierung der Stadtbevölkerung zunächst begrüßt. Die damit verbundenen Gefahren wurden nicht erkannt. Sachunkundige Planer verwechseln heute meist die Durchfahrt oder Umfahrung mit dem für die wirtschaftliche Nutzung zwingend erforderlichen Aufenthalt der Verkehrsteilnehmer, woraus verheerende Fehlplanungen resultieren.

9.5 Der neuzeitliche Städtebau und seine prägenden Faktoren Die Gedanken der Neuzeit wurden nicht nur von Wissenschaftern getragen, sie haben auch sehr schnell Wirkungen in Form von politischen Veränderungen gezeigt. Es ging ja nicht nur um wissenschaftliche Erkenntnisse allein, sondern um neue „Freiheitsgrade“ der jeweils Mächtigen und eine neue Dimension der Gestaltungsmöglichkeiten und Eingriffe in die Natur – und Gesellschaft. Der Feudalismus in seinen verschiedenen Ausprägungen, vom Altertum bis in unsere Zeit, hatte schon immer die Dimensionen der Städte gewaltsam verändert, man denke nur an Ägypten mit den Prunkbauten der Pharaonen, an das Kolosseum oder die Thermen des Caracalla, die nur möglich waren, weil eine politische Macht die Energie zahlreicher Menschen für ihren Zweck nutzen konnte. Das Mittelalter in Europa mit seinen zersplitterten kleinen Strukturen lokaler Macht und dem verfallenen Verkehrssystem der Römerzeit war dann auch eine Blütezeit des menschengerechten Städtebaues. Die Macht und die Mittel waren bei den Bürgern – und was diese als Gemeinschaft leisteten, hat noch heute Bestand und wurde in seiner städtebaulichen Qualität später nie mehr übertroffen. 172

Der neuzeitliche Städtebau und seine prägenden Faktoren

Im Feudalismus des 17. und 18. Jahrhunderts zeigten sich bereits simplifizierte Stadtstrukturen, wie die Radialstraßen hin zum Zentrum der Macht, besonders ausgeprägt in Karlsruhe. In der Folge übernahm der Kanalbau (der schon vor den Römern zum Verkehrssystem der Städte gehörte) dominierenden Einfluss auf die Gestaltung der Straßenverläufe (MUMFORD, L., 1984). Das Ingenieurwesen begann damit, in einer unorganischen, aber für seine eigene Zunft bequemen Form, Dominanz über die öffentlichen Räume zu gewinnen. Das untergeordnete „Verdauungs- und Versorgungssystem“ begann, das Aussehen der Stadt immer stärker zu bestimmen, technische Erfordernisse begannen damals schon, die menschlichen zu dominieren. Diese Dominanz ist erhalten geblieben und hat auch eine Weiterentwicklung der Versorgungs- und Entsorgungsleitungen verhindert (Phase der Erstarrung), die technisch mit den Infrastrukturkanälen längst möglich gewesen wäre. Die Formen der Siedlungen begannen zwar, sich zu verändern, wurden aber immer noch durch die Bindekraft der Fußgeher in engen Grenzen zusammengehalten. Die Stadt konnte zwar im Großen verformt werden, die Bindekraft des Lebendigen im Kleinen wurde jedoch zunächst noch nicht zerstört oder aufgelöst. Das Fehlen von zusätzlicher Energie für größere Entfernungen erzwang abseits der großen repräsentativen Elemente immer noch hohe städtebauliche und wirtschaftliche Vielfalt auf engem Raum, die sich nicht nur in der Fassadengestaltung, sondern auch im Netz der Gassen und Fußwege dieser Zeit deutlich zeigt. Wenn auch die äußeren Verteidigungsmauern durch die militärtechnische Entwicklung nicht mehr sinnvoll waren, die Städte konnten noch nicht beliebig wachsen. Sie waren auf den Austausch von Ressourcen mit der Umgebung angewiesen und dieser konnte nur über die damaligen Verkehrssysteme aufrechterhalten werden. Umliegende Dörfer waren mit ihren Produkten wichtig für die Versorgung der Bevölkerung. Die Situation änderte sich mit den Eisenbahnen. Die Grenzüberschreitung in diesem Bereich, mit unabsehbaren und unverstandenen Folgen, findet bis heute – beschleunigt – statt. Die zusätzliche Energienutzung für Mobilität durch die Einführung von Pferdebahn, Eisenbahn und Straßenbahnen erwies sich zunächst als vorteilhaft – nicht nur für die externen Beziehungen der Städte, sondern auch für die Ausweitung und ihr Wachstum. Noch dominierte die Stadtverwaltung die Entwicklung, ihre Freiheitsgrade waren größer als die der Einzelpersonen oder Firmen. Mit dem Auto als Massenverkehrsmittel änderte sich die Situation aber grundsätzlich. Die Freiheit der Autobesitzer reicht weit über die Verwaltungsgrenzen einer Stadt hinaus. Man begreift diesen Wandel aber immer noch nicht, obwohl die Folgen schon mit Händen – an den geschlossenen Türen der innerstädtischen Wirtschaftsstrukturen – zu greifen sind.

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Zur Evolution der Städte

9.6 Städte als Opfer grosser, nicht leicht fassbarer Beutegreifer Heute geraten Städte zunehmend unter äußere Zwänge, wenn internationale Großkonzerne Rechtsstrukturen und Rechtsinstrumentarien auf internationaler Ebene entwickeln und durchsetzen, um ungehindert an ihre Ressourcen zu gelangen. Ihr Ziel ist es, den Reichtum der Städte für Konzerngewinne zu nutzen, ohne lokale Verpflichtungen eingehen zu müssen. Man könnte nun der Auffassung sein, dass Konzerne genau das machen, was die Städte schon immer gemacht haben. Warum soll man ihnen das verwehren? Eine Position, die von Vertretern des Neoliberalismus vertreten wird. Trotz der scheinbaren Ähnlichkeit besteht aber ein grundsätzlicher Unterschied: Die Macht der Städte beruht auf der Macht und Freiheit ihrer Bürger. Soziale, ökonomische und ökologische Aspekte waren daher zu berücksichtigen, weil die Verursacher auch die Betroffenen waren und sind. Die Harmonie zwischen den Teilen musste lokal hergestellt und ausgehandelt werden, mit Rücksicht auf das Ganze und die Gemeinschaft. Ganz anders liegen die Interessen der internationalen Konzerne. Deren Macht beruht auf der Verantwortungslosigkeit des anonymen Kapitals gegenüber den Betroffenen und den lokalen gesellschaftlichen Institutionen. Verantwortung im eingeschränkten Sinn des Geldwachstums ist bei den Kapitalgesellschaften nur gegenüber den Kapitaleignern gegeben, die aber nicht zu den Auszubeutenden gehören. Konzerne versuchen, gesellschaftlichen und sozialen Verpflichtungen mit allen Mitteln zu entkommen, wozu sie sogar rechtlich verpflichtet sind (Gesetze, die sie selbst durchgesetzt haben). Internationale Konzerne haben auch keine räumlichen sozialen Bindungen, ihre Niederlassungen sind Jagdcamps nach dem Kapital. Verteidigten Städte früher die Freiheit und das Gut ihrer Bürger mit Waffen und Mauern, öffnen sie heute den Zugang für die Ausbeutung durch internationale Konzerne. Viele politische und administrative Vertreter haben nicht begriffen, dass Städte in den strategischen Karten dieser Konzerne schon längst als willkommene Beute aufscheinen. Die Ausbeutung erfolgt durch schnelle, billige (von der Gesellschaft bezahlte) Verkehrssysteme. Großer Wert wird dabei auf gute Erreichbarkeit mit dem offenen, unkontrollierten Straßenverkehr, insbesondere Autobahnen, gelegt. Städte sind für Konzerne die reichsten „Jagdgründe“ zur Vermehrung des Kapitals, wenn es ihnen gelingt, deren Strukturen physisch, rechtlich, sozial und ökologisch aufzubrechen. Dazu setzen sie vor allem das Verkehrssystem der Medien ein, die sie über ihr Kapital kontrollieren. Gelingt es, den Städten die Vorherrschaft über ihre physischen Verkehrssysteme zu entreißen, sind ihnen diese hilflos ausgeliefert. Dass derzeit von den Konzernen enorme Anstrengungen auf allen Ebenen unternommen werden, ist an den Bemühungen zur Privatisierung des öffentlichen Verkehrs, der kommunalen Dienste, der Wasserver- und Abwasserentsorgung, der Energieversorgung usw. zu erkennen. Die Zukunft der Städte war daher noch nie so bedroht wie heute. 174

Städte als Opfer großer, nicht leicht fassbarer Beutegreifer

Das Verkehrssystem Fernsehen: Gehirnwäsche und Raub an Lebenszeit Der Nachrichtenverkehr ist wohl der wichtigste Teil des Verkehrssystems, weil von ihm alle anderen Verkehrsbewegungen abhängen. So lenkt Fernsehen den Blick von der Nähe und der Realität auf ein virtuelles, immer mehr von Konzernen bestimmtes Bild. Damit wird auch gezielt Druck auf Entscheidungsträger gemacht, das Verkehrssystem nach den Interessen der Konzerne zu gestalten, Autobahnen immer leistungsfähiger, den öffentlichen Verkehr privat und profitabel zu machen, Parkplätze billig oder kostenlos und überall anzubieten. Es ist die Strategie eines Krebsgeschwürs in einem lebenden Organismus, das Interesse hat, sein Wachstum zu vermehren. Wie Konzerne nach immer besseren Verkehrsverbindungen verlangen, macht sich der Krebs das für ihn passende Versorgungssystem – und, wenn dieses an Grenzen stößt, entstehen Metastasen – die Tochterfirmen. Generationen von Stadtplanern haben diese Gefahr überhaupt nicht erkannt, geschweige denn begriffen. Sie widmen, den Glaubensregeln ihrer Zunft entsprechend, bedenkenlos Gewerbegebiete an Hauptverkehrsstraßen am Rande der Stadt und müssen später hilflos zusehen, wie von dort aus die organischen Strukturen der Stadt systematisch zerstört werden. In Deutschland und Österreich hat diese Art von Raumplanung bereits unabsehbare Schäden in der Gesellschaft und der lokalen Wirtschaft angerichtet. In Südtirol, das diesen Irrtümern nur zögernd folgte, konnte bisher noch das Schlimmste verhindert werden. Zum Glück für die Südtiroler finden heute immer noch fast 90 % der Bewohner ihre Arbeit in kleinen, lokalen Betrieben, im Ort oder im Nachbarort, weil die Betriebe noch in den Siedlungsraum integriert sind. Nur ein Fünftel der Betriebe ist in die, auch dort von ignoranten Raumplanern geschaffenen, sogenannten Gewerbezonen abgewandert. Gewerbezonen sind, ebenso wie Wohnzonen, monofunktionale Kunstgebilde, entstanden aus der Gedankenwelt der Raumplaner und Städteplaner, die mit der Komplexität in der lebendigen Stadt nichts anfangen können. Sie passen durchaus zu den herkömmlich ausgebildeten Verkehrsplanern. Ressourceneffizienz – ein Ausweg? Theoretisch wäre die Steigerung der Effizienz im Städtebau ein Ausweg, gäbe es nicht den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. Der Titel des Buches „Ressourceneffizienz – der neue Reichtum der Städte“50 weckt Hoffnungen, die leider nicht erfüllt werden. Beschreibungen von Erscheinungsformen des komplexen Systems Stadt dringen nicht bis zu den Ursachen der heutigen Probleme vor. Lösungen sucht man bei den Symptomen; weder der Zugriff im Raum noch die richtigen Ebenen der Energie, die als treibende Kraft fossil oder elektrisch verstärkt wirkt, werden behandelt. Selbst ein Passivhaus, das weniger Energie im Betrieb benötigt, als damit aus solarer Quelle erzeugt wird, kann noch sehr weit von einem 50 Oscar Reutter, Oekom Verlag (August 2007).

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Zur Evolution der Städte

Zustand der Einbettung in ein nachhaltiges System entfernt sein. Ob es jemals die Menge an Energie liefern kann, die in seine Herstellung, die materiellen Ressourcen und Informationen gesteckt wurde, ist nicht nachgewiesen. Solange die Gesellschaft, Wirtschaft und die Menschen auf jede Steigerung der Effizienz immer noch mit neuen und höheren Ansprüchen reagieren, führt der Weg weiter in die Gegenrichtung.

9.7 Die Stadt – ein vielfältiger Ort!? Sowohl von den Funktionen her ist die Stadt ein vielfältiger Ort wie auch vom Standpunkt des Betrachters. Allein die aufgrund der Dichte und Anzahl der Menschen entstehende hierarchische Gliederung einer Stadt erzeugt die funktionelle und kulturelle Vielfalt. Die Stadt in den Köpfen ihrer Bewohner ist eine andere als die der Verwaltungsgrenzen und diese hat heute immer weniger mit ihrem Wirkungskreis oder ihren Wirkungskreisen zu tun, die manchmal die ganze Welt umfassen können. Die Wiener gehen „in die Stadt“,wenn sie auch in den dicht bebauten Bezirken in wenigen Minuten Fußwegentfernung zum Zentrum wohnen, denn die Stadt ist für viele im Kopf immer noch die einst ummauerte Stadt, heute der 1. Bezirk – genauso wie die „City“ in London für die Londoner. Agglomerationen in den USA werden auch irrtümlich als „City“ bezeichnet, obwohl sie nur eine mehr oder weniger lose verbaute Gegend charakterisieren. Oder Tokio als Megacity, eigentlich eine Region zum Unterschied der Stadt im Kern mit ca. zwei Millionen Einwohnern. Die Stadt als begehrte Beute der internationalen Konzerne, die man so zubereitet haben will, dass man sie leicht und bequem ausbeuten kann, zeigt einen neuen Aspekt, der von den Stadtverwaltungen oft noch gar nicht begriffen wurde. Das von Vorfeldorganisationen der Konzerne erstellte „Ranking“ der Städte entspricht einer Liste der ergiebigsten Jagdgründe für die Gier der „Kapitalmärkte“. Deren Wirkung ist an der zunehmenden Einfalt der Stadtentwicklung auch schon optisch abzulesen, wenn man etwa an Shanghai oder Peking denkt. Vielfalt und Fülle sind Ergebnisse der Evolution, Einfalt und Mangel Ergebnisse blindwütiger Kapitalakkumulation. Nach Lewis Mumford erreichte der Städtebau im Mittelalter seinen Höhepunkt. Seine Behauptung deckt sich mit Forschungsergebnissen, die menschliches Verhalten in der gebauten Umwelt behandeln.51 In dieser Periode waren die bestimmenden Elemente, Gassen und Plätze in ihren Abmessungen und Abfolgen mit den ergonomischen Eigenschaften der Bewohner in nahezu perfekter Harmonie, die später verloren ging und nie wieder erreicht

51 Knoflacher, H. (1981): Human Energy Expenditure in different Modes: Implications for Town Planning. International Symposium on Surface Transportation System Performance. US Department of Transportation.

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Die Stadt – ein vielfältiger Ort!?

wurde.52 Menschen suchen immer Orte des Wohlbefindens mit hoher Qualität auf. Der moderne Städtetourismus ist auf diese historischen Zentren fokussiert und beweist an dem Verhalten der Besucher die Ergebnisse sowohl der historischen wie auch der ergonomischen und evolutionstheoretischen wissenschaftlichen Forschungen. Städte waren immer Orte, in denen die größte Menge an Verkehrsbewegungen auf kleinstem Raum maximale Effizienz möglich machte. Nutzungsvielfalt und Nähe waren und sind sowohl Folgen wie auch Ursachen des Fußgeherverkehrs. So wurde die Stadt zu einem Ort der Vielfalt, wie man sie in Chandni Chowk und Sadar Bazar, den historischen Kernen von Delhi, heute ebenso erleben kann wie in der Züricher Altstadt. Die Dichte und Vielfalt der Geschäfte und Handwerker, Wohnungen, Lokale und Arbeitsplätze sind nur durch Fußgeher und Radfahrer möglich. Motorisierter Verkehr wird zum Störfaktor. Mit der Veränderung des Verkehrssystems änderten sich auch die Städte. Stadtgebiete sind heute nicht mehr „vielfältige Orte“, sondern das Gegenteil, eine Summe gesichtsloser, einfältiger Orte geworden – einfältig wie die Planer, die sie gestalten. Die Stadt ist aber auch als sozialer und politischer Ort interessant, waren doch städtische Gesellschaften über Tausende von Jahren in der Entwicklung und Veränderung sozialer und politischer Systeme führend. Stadt und Kultur sind aus europäischer Sicht so stark miteinander verbunden, dass man bei uns Kultur im Allgemeinen mit Stadtleben assoziiert.53 Stadtkultur ist natürlich nur ein spezifischer Ausdruck von Kultur, die sich aber häufig wegen ihrer Nähe zur Macht und dem Ausmaß des öffentlichen Aufsehens, das sie über die Medien entfachen kann, für den Inbegriff von Kultur hält. Aber der Ort Stadt ist für die Entwicklung von Kultur besonders geeignet – oder war es über lange Zeiten menschlichen Zusammenlebens. Dies kann man von vielen Agglomerationen, die man als Stadt bezeichnet, heute nicht mehr behaupten. Abgesehen von einigen „Hotspots“, dominiert dort die kulturelle Wüste des Fernsehens, der Passivität, des Konsums und oft auch des provinziellen Gehabens. Menschen sind zwar evolutionär hervorragend dafür ausgestattet, in einer komplexen Umwelt, wie etwa der Natur, zu leben und zu überleben. Sie haben es über Jahrmillionen geschafft, sich immer wieder anzupassen – warum nicht auch heute und in Zukunft in der Stadt? Es handelt sich bei der technisch durchformten Stadt aber nicht um die Natur, sondern um ein künstliches Gebilde, geschaffen nach den Vorstellungen der Menschen, fast immer im Gegensatz zu den lebenserhaltenden, selbstregulierenden Prinzipien der Natur. Moderne Siedlungen und technische Verkehrsmittel sind die Produkte eines jungen Organs, dem Großhirn, errichtet in einer Zeit reicher fossiler Energieverfügbarkeit, die sich 52 Knoflacher, H. (1996): Zur Harmonie von Stadt und Verkehr. Freiheit vom Zwang zum Autofahren. 2., verbesserte und erweiterte Auflage. Böhlau Verlag Wien – Köln – Weimar. 53 Martin Hose / Christoph Levin (Hrsg.): Metropolen des Geistes. Suhrkamp/Insel 2009.

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Zur Evolution der Städte

daher erst in der Realität bewähren müssen. Wegen der großen Fehleranfälligkeit des Großhirns ist aber mit einem erheblichen Risiko zu rechnen. Alte Evolutionsschichten zeichnen sich durch Jahrmillionen, ja Milliarden von Jahren an Erfahrung aus, die den jungen Schichten fehlt. Hier kann die Aussage von Konrad Lorenz: „Der Glaube reinen Unsinns ist ein Privileg des Menschen“, nicht oft genug ins Bewusstsein der Planer gerufen werden. Besonders trifft dies auf Architekten zu, die glauben, die Aneinanderreihung von Objekten wäre schon eine Stadt. Diese Vertreter ihrer Zunft interessieren in der Regel Bauwerke, aber selten die Stadt. Sie reden zwar viel von ihr, sie dient ihnen aber bestenfalls als Bühne zur Inszenierung ihrer Bauten, die einander nichts mehr zu sagen haben. Zusammenhänge und Bedürfnisse des Stadtorganismus sind ihnen meist fremd und so greifen sie in Systeme ein, von denen sie nichts verstehen, wie etwa den Verkehr. Die Stadt ist aber mehr als die Summe ihrer Bauobjekte. Was dazwischen passiert, kümmert diese Zunft meist wenig. Und so machen sie aus dem einst vielfältigen Ort den einfältigen Ort der heutigen architektonischen Wüsten.

9.8 Die Stadt – ein offenes System Die Stadt ist, wie jeder lebende Organismus, zur Aufrechterhaltung ihrer Ordnung auf den Durchsatz von Ressourcen und Energie angewiesen. Menschen der Stadt sind sowohl der Energie, von der sie lebt, wie auch den Ressourcen zuzuordnen. Nun ist der Begriff „Durchsatz“ viel zu ungenau, um die komplexen Vorgänge einer Stadt auch nur annäherungsweise verständlich zu machen. Es geht nämlich um die maximale Verzögerung des Durchsatzes von Ressourcen und Energie. Energie muss in einer hochwertigen Form nutzbar zuströmen, um im Organismus der Stadt genutzt werden zu können, und verlässt diese in einer minderwertigen Form, meist als Wärme. Je länger die Energie in der Stadt gespeichert werden kann, umso leistungsfähiger und damit nachhaltiger ist diese, weil sie zur Aufrechterhaltung ihrer Funktionen und Strukturen weniger Exergie je Zeiteinheit benötigt. Es ist daher nicht nur der Durchsatz entscheidend, sondern die Verweilzeit zwischen Zufluss und Abfluss. Auch für die Ressourcen gilt das gleiche Prinzip. Je mehr es einer Stadt gelingt, die Ressourcen langfristig zu binden und ihren Verbrauch oder Verschleiß zu minimieren, umso stärker kann sie daher der Entropie, der ständigen Tendenz zur Auflösung der Ordnung und dem Verfall, widerstehen. Dies hängt entscheidend von den inneren Bindungen ab. Bei den Werkstoffen sind es die Elektronenbindungen, bei den Menschen die zwischenmenschlichen Beziehungen und die Beziehungen zur Stadt. Die Stadt hängt aber auch als offenes System vom Rest der Welt ab und gibt sowohl degradierte Energie wie auch abgewertete Ressourcen, wie Müll, Abgase und Temperatur, an diese zurück. Städte tragen daher maßgeblich zum Klimawandel bei – so, wie man sie in den vergangenen 200 Jahren gebaut und betrieben hat. 178

Die Stadt – ein offenes System

Aufgaben der Stadtplanung: • Verweilzeit erhöhen • Barrieren gegen den ungehinderten Durchzug von Energieund Ressourcenkaskaden einbauen Erst durch den Einsatz von Energie der Menschen kann ein kleiner Teil der Stoffe die Stadt in höherwertiger Form – veredelt – verlassen. Dies hängt von der Qualität und den Fähigkeiten der Bevölkerung sowie den Randbedingungen, unter denen die Veredelung der Stoffe stattfindet, ab. Veredelung bedeutet höhere Ordnung, auch gesellschaftliche Ordnung gehört dazu. Verfällt diese, ist die Stadt gefährdet. Zu dieser Ordnung können Menschen durch Steuern – also Energie – zum gemeinsamen Zweck ebenso beitragen wie durch ihre Bildung und Ausbildung, also die Nutzung und Verbesserung ihrer Fähigkeiten – nicht nur hinsichtlich der Arbeitsprozesse, wie es die Industrie verlangt, sondern auch in Bezug auf die Gemeinschaft und die Fähigkeit, ein Stadtbürger zu sein. Hat ein Bewohner diese nicht, wird ihm die Stadt gleichgültig, ja zur Belastung. Damit er diese Fähigkeit entwickeln kann, braucht er ein städtisches Umfeld, das genügend Anziehungskraft auf ihn ausübt. Das Wichtigste, das eine Stadt daher ihren lebenserhaltenden Elementen bieten muss, ist ein Umfeld, das besser ist als die Alternativen. Arbeitsplätze in der Industrie, auf die in den vergangenen Jahrzehnten die Politik nahezu ausschließlich konzentriert war, sind zwar eine notwendige, aber noch lange keine hinreichende Bedingung. Die meisten Menschen arbeiten heute längst nicht mehr in industriellen Großbetrieben, sondern in kleinen Dienstleistungsbetrieben, die von der Politik viel schlechter behandelt werden als die Großindustrie. Um die Funktionen einer Stadt aufrechtzuerhalten, braucht sie Verkehrssysteme in verschiedener Form, Leitungen für Wasser oder andere Flüssigkeiten, Korridore für die Luft, Transportsysteme für Energie und Informationen, Gleise oder Straßen für den Transport von Menschen und Gütern aller Art. Funktionierende Transportsysteme müssen sowohl die Bewegung zulassen als auch hemmen können, um ein Gemeinwesen verantwortlich funktionsfähig zu erhalten. Wenn Individualinteressen gegen Gemeinschaftsinteressen durchgesetzt werden können, zerfällt jedes System und auch die Stadt. Vor allem die Mühelosigkeit bei der Benutzung technischer Verkehrssysteme hat die Menschen so beeindruckt, dass sie glaubten, es komme nur mehr auf die hemmungslose Bewegung von Maschinen an, nicht aber auf die viel wichtigere Kontrolle dieser Art von Mobilität. Wie jeder lebensfähige Organismus nur dank seiner Energie- und Ressourcenkaskaden, die Barrieren gegen den ungehinderten Durchstrom von Energie und Ressourcen sind, lebensfähig erhalten wird, sind Barrieren gegen den schnellen Verkehr notwendig, um die menschlichen Siedlungen lebensfähig zu erhalten. 179

Zur Evolution der Städte

Abb. 91 Die Menge leicht verfügbarer fossiler Energie, über eine Zeit von 4.000 Jahren aufgetragen. Die isolierte Spitze bezeichnet man als Peak Oil. Wir befinden uns ziemlich genau auf dem Scheitel.

Der Energiestrom der Natur stammt zum überwiegenden Teil unmittelbar aus der Sonne. Um dessen tägliche, jahreszeitliche und witterungsbedingte Schwankungen auszugleichen, haben sich in der Natur logistische Systeme hoher Komplexität entwickelt, die kurz-, mittel- und langfristige Schwankungen ausgleichen. Keine der heutigen westlichen Städte wäre in der Lage, auch nur eine Saison ohne externe Energie, also ohne Erdöl, ihre Strukturen zu erhalten. Sie würde den Großteil ihrer Funktionen verlieren, viele Menschen wären dem Hungertod preisgegeben, würden erfrieren oder müssten auswandern. Die heute aufgebaute Ordnung, vom ständigen Erdöldurchfluss erhalten, würde zusammenbrechen, die Entropie vom Stadtorganismus Besitz ergreifen. In den meisten Teilen der westlichen Welt mit hoher Motorisierung wären weder Arbeitsplätze erreichbar, noch genügend Nahrungsmittel, Heizund Lichtenergie vorhanden. Daher ist jede Planung daraufhin zu prüfen, ob die neuen Strukturen zusätzliche externe Energie benötigen oder zur Verringerung der externen Abhängigkeit von fossiler Energie beitragen. Jede der Städte in diesem Diagramm hat die gleichen Funktionen zu erfüllen. Vor der Nutzung der fossilen Energie lagen alle Städte im nachhaltigen Bereich (unten links). Je weiter sie sich davon entfernt haben, umso problematischer wird ihre Zukunft. Eine atavistische Verhaltensweise ist aus diesem Diagramm erkennbar: Gibt man den Menschen zusätzliche Mobilitätsenergie, verwenden sie diese zur Besetzung zusätzlicher Fläche – eine Ausbeutungsstrategie, die in der Vergangenheit erfolgreich war und sich auch heute in den wirtschaftlichen Strukturen fortsetzt – allerdings außerhalb der Grenzen evolutionärer Erfahrung und damit auch ohne Rücksicht auf die Folgen und die Zukunft. Warnende Stimmen, die diese riskante Entwicklung intuitiv erkannt oder geahnt haben, versuchten schon früh, alternative Stadtmodelle zu entwerfen, um eine nachhaltige, sozial, ökonomisch und ökologisch stabile Stadt für die Zukunft zu realisieren. Man denke nur an die Idee der Gartenstädte (EBENEZER, Howard, „Garden Cities of To-morrow“, London 1902). Die Gartenstadt hätte eine Abkehr vom Mainstream dieser Zeit bedeutet, der getragen war vom technischen Machbarkeitswahn und dem Glauben an billige, unbegrenzte 180

Die Stadt – ein offenes System

Externe Mobilitätsenergie – Fläche je Einwohner

Abb. 92 Zusammenhang zwischen Aufwand an Treibstoff für das Verkehrssystem und beanspruchter Fläche je Einwohner. Besonders krass ist die spezifische Flächenerweiterung in australischen Städten und den USA erkennbar.

Energie aus Erdöl und Kohle. Dadurch verführt, war man der Meinung, man könne den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik ausschalten. Was leider passierte, war der Ersatz geistiger Energie in der Stadtplanung durch physische Mobilität. Damit konnte man stadtplanerische und raumplanerische Unfähigkeit und Gedankenlosigkeit auf einer nach oben offenen Skala beliebig – und zunächst noch auf Jahrzehnte ungestraft – ausleben. Festgeschrieben und bis heute gedankenlos sowie sachunkundig interpretiert wurden diese Prinzipien einer unorganischen Trennung städtischer Funktionen durch die von Le Corbusier beeinflusste Charta von Athen 1930. Die Sachunkundigkeit ist besonders deshalb hervorzuheben, weil die Maßnahmen, mit denen man die durchaus richtigen Ziele umsetzen wollte, gerade das Gegenteil bewirkten. Der Keim der Zerstörung wird immer noch in jedes geplante Objekt gelegt Ein Gesetz Hitlers, die Reichsgaragenordnung 1939, hat nicht nur die flächenhafte Zerstörung der Siedlungen wirksam in die Praxis umgesetzt, sondern bildet auch die Voraussetzung für die Perpetuierung und Steigerung der heutigen „Verkehrsprobleme“. Es ist der § 2 „RGO“, der den Keim der Zersetzung in jede gebaute Struktur zwingt. Es war aber auch nicht das Ziel der Reichsgaragenordnung, Siedlungs- oder Verkehrsprobleme zu lösen, wie man der Präambel deutlich entnehmen kann.

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Zur Evolution der Städte Abb. 93 Mit dieser Vorschrift, die nach wie vor in allen Bauordnungen enthalten ist, wird der Niedergang menschlicher Dimensionen im Städtebau erzwungen.

Abb. 94 Das politische Ziel der Reichsgaragenordnung war es, auch die Stellung der Reichsbahn zu brechen, und das gelang dann auch bei Vollzug dieser Vorschriften in den Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eindrucksvoll.

Dieses Ziel wurde im Dritten Reich zwar nicht erreicht, dafür aber in atemberaubender Geschwindigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Der § 2 der RGO wurde in alle Bauordnungen aufgenommen und sorgt seither für die wirksame Zerstörung der Städte und Siedlungen von innen her. Kräftig unterstützt wird dies auch durch die traditionelle Ausbildung der Planer aller Art, der Juristen und der Ökonomen. Sie betreiben – unwissentlich und in gutem Glauben, das Richtige zu tun – systematische Siedlungszerstörung, Vernichtung der lokalen Betriebe und des Sozialsystems. Die einschlägigen Berufsvereinigungen, in denen alle führenden Fachleute der einschlägigen Disziplinen vertreten sind, vervollständigen dieses Vernichtungswerk noch durch Richtlinien und einen Bedarfsnachweis für Abstellplätze, ohne Rücksicht auf die Folgen. Das Ergebnis ist Individualoptimierung auf Kosten des Gesamtsystems – das man offensichtlich nicht verstanden hat. Lässt man diese Art von Planern an die Siedlungen heran, dann trifft die Aussage „Man macht den Bock zum Gärtner“ zu. Wie der Bock jeden Garten im Eigeninteresse verwüstet, 182

Selbsttäuschung und Täuschung durch Planer und Planerinnen

machen das Planer, Politiker und Verwaltung mit Städten und Dörfern, wenn sie dieses Gesetz aus dem Dritten Reich auch heute noch vollziehen. Für herkömmliche Verkehrsplaner und -experten ist diese Regelung aber von unschätzbarem Wert, erzeugt sie doch laufend die Probleme, die dann im Fließverkehr mit ebenso kontraproduktiven Methoden behandelt werden. Der „Führer“, von wo auch immer er diesem absurden Treiben zuschauen mag, wird sich höllisch darüber freuen, wie sein Keim der Verwüstung immer noch auf fruchtbaren Boden fällt. Mit im Bunde sind dann auch die dazu passenden internationalen Konzerne, die dem Ganzen durch Elektronik und anderes Industriegerümpel noch zusätzlichen Glanz verleihen. Milliarden an sogenannten Forschungsmitteln werden vergeudet, weil man in der traditionellen Fachwelt die Zusammenhänge der Technik mit den Menschen nicht verstanden hat.54

9.9 Selbsttäuschung und Täuschung durch Planer und Planerinnen Die Täuschung war deshalb so perfekt, weil durch das Auto vor allem die Körperenergie – physische wie geistige – nicht nur der Menschen, sondern vor allem auch der Planer „gespart“ wurde – besonders die letztere. Individuelle Erfahrungen wurden unbedacht auf das Gesamtsystem, das uns aber sinnlich nicht unmittelbar zugänglich ist, extrapoliert und es wurden darauf ganze Theoriengebäude errichtet, die bis heute gelehrt und angewandt werden. Die erlebte individuelle Effizienzsteigerung der Automobilität wurde gedankenlos auf das Gesamtsystem übertragen, der zweite Hauptsatz der Thermodynamik scheint durch die Ökonomie außer Kraft gesetzt. Der Zugriff erfolgt in der tiefsten Schicht der Evolution, der Energieverrechnung – und alles darüber dreht sich wie selbstverständlich mit. In den Schichten des Bewusstseins erscheint dann dieses Verhalten als normal. Tatsächlich braucht das System unglaubliche Mengen an Energie für die industrielle Produktion von Fahrzeugen und Verkehrsanlagen sowie deren Erhaltung, Betrieb und Entsorgung – im Ausmaß von mehr als zwei Zehnerpotenzen. Die Effizienz im System steht dazu im umgekehrten Verhältnis zur individuellen und auch kollektiven Erfahrung. So wurden jahrzehntelang Siedlungen nach den Bedürfnissen der ineffizientesten Mobilitätsform geplant und gebaut. 54 Knoflacher, H. (1981): Human Energy Expenditure in different Modes: Implications for Town Planning. International Symposium on Surface Transportation System Performance. US Department of Transportation.

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Zur Evolution der Städte

Individuelle energetische Effizienz für Mobilität

Fußgeher

Radfahrer

MIV

Abb. 95 Individuell fühlt sich der Autofahrer allen anderen Verkehrsteilnehmern vielfach überlegen, weil seine Körperenergie teilweise von externer Energie kompensiert wird. Bezogen auf die Weglänge und die „innere Verrechnung“, vervielfacht sich diese „Überlegenheit“ exponentiell.

Aufwand für externe Energie pro Zeiteinheit

Fußgeher

Radfahrer

MIV

ÖV

Abb. 96 Der tatsächliche Energieaufwand ist im System – der Stadt – um mehr als zwei Zehnerpotenzen höher als die individuell empfundene, wunderbare „Einsparung“.

184

Selbsttäuschung und Täuschung durch Planer und Planerinnen

Energieeffizienz der Verkehrsträger

Effizienz in % des Fußgeher/Radfahrer

100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 FußgRf

ÖV Stadt

ÖV Region

MIV 1,5

Abb. 97 Energieeffizienz der Verkehrsträger, die entscheidende Größe für nachhaltige Städte.

Urbanisierung – Energieverbrauch

Anteil städtischer Bevölkerung Abb. 98 Mit der Verstädterung nimmt der Durchsatz externer (fossiler) Energie stetig zu. Auf die Solarenergie reduziert, könnte nur etwa ein Drittel der Weltbevölkerung in Städten leben.

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Zur Evolution der Städte

Energieverbrauch der Weltbevölkerung in Öl-Äquivalenten an Energie

Abb. 99 Spezifischer Energiedurchsatz und Urbanisierung.

Durch Umfärbung von Grün- in Bauland schufen Raumplaner Werte aus dem Nichts. Ein unwiderstehlicher Reiz geht von diesen Wundertaten auf die Politik aus. Wenn man nur genügend leistungsfähige und schnelle Verkehrssysteme baut, steige der „Standortvorteil“, glauben Verwaltungen und die Politik immer noch. Der Glaube an diesen Unsinn ist so groß, dass man sich zwar über eine unerklärliche Abwanderung von Menschen und Betrieben wundert, die nach dem Bau der Autobahnen zur Erhöhung des „Standortvorteiles“ einer Stadt diese flugs verlassen, um in die sogenannten Speckgürtel um die Städte zu ziehen, den Bezug zu den eigenen Handlungen aber nicht erkennt. Der zunehmende Verfall der innerörtlichen Wirtschaft wird anderen Ursachen zugeschrieben. Dass ein so zweckmäßiges, notwendiges, ja geliebtes Verkehrsmittel wie das Auto die Ursache sein könnte, übersteigt die Vorstellung der meisten – auch Experten. Der Energiehunger der Städte wird allerdings dafür sorgen, dass diese Entwicklung nicht so fortgeschrieben werden kann. Die unangenehme Realität zeigt die Rückseite dieser Entwicklung: Nimmt der Anteil der ländlichen Bevölkerung ab, steigt der Bedarf an fossiler Energie zur Aufrechterhaltung des Lebens der Erdbevölkerung. Die Zukunft der Städte liegt bei schwindenden, billigen, externen Energiequellen eher in der Annäherung an ländliche Verhältnisse und nicht in Megacities, wie sie im „Urban Age“-Programm der London School of Economics als scheinbar unausweichliches Schicksal gesehen wird. Trendfortschreibung ist eine gefährliche Methode, die Zukunft zu gestalten. Wenn man aus dem 50. Stockwerk gefallen ist, die 186

Selbsttäuschung und Täuschung durch Planer und Planerinnen

Abb. 100 Der Evolutionspfad der Städte verläuft in Richtung Effizienz und Vielfalt (unterbrochene Linie). Seit der Verwendung billiger fossiler Energie verläuft die Stadtentwicklung in die Gegenrichtung (durchgezogene Linie).

Erfahrung gemacht hat, dass es 40 Stockwerke gutgegangen ist, und glaubt, es werde alles so weitergehen, weiß man aus der Physik, dass dies ein großer Irrtum ist. Zwar scheint sich weltweit der spezifische Energieaufwand bei ca. 2 Litern Öläquivalent zu stabilisieren, doch nehmen sowohl Verstädterung wie auch Weltbevölkerung weiter zu und außerdem liegt dieser Wert weit außerhalb der längerfristig nachhaltigen Verfügbarkeit. In den hoch motorisierten Ländern der Nordhalbkugel liegt dieser Wert heute sogar um das Vier- bis Sechsfache höher – und der Rest der Welt wird beschleunigt nach diesem Modell gestaltet. Städte müssen sich, wenn sie nachhaltig sein sollen, entlang des Pfades zunehmender Effizienz entwickeln. Zunehmende Effizienz bedeutet Zunahme von Ordnung im Sinne von Vielfalt und zunehmender Komplexität – und nicht im Sinne primitiver Vereinfachung. Je größer das Maß der komplexen Ordnung, um sich gegen die immer wirksame Entropie zu wehren, umso effizienter und nachhaltiger wird ein System. Das Gegenteil der komplexen Ordnung ist eine Menge von Ziegelstapeln. Diese Primitivordnung findet man in den Rastermustern der Militärlager, wo Menschen als Mittel zum Zweck untergebracht werden, und in Neubaugebieten. Es ändert nichts an diesem Irrtum, wenn man statt der geraden Fahrbahnen diese in Kreis- oder Schneckenform ebenso sinnlos repliziert, wie das „moderne Siedlungsplanung“ macht. 187

Zur Evolution der Städte

Verkehr, Siedlung und Wirtschaft Ökonomen betrachten längere Fahrtzeiten grundsätzlich als Nachteil und bewerten aus diesem Grund „Zeitgewinne“ als positiv und „Zeitverluste“ als negativ. Die Tatsache der Zeitkonstanz für Mobilität ist ihnen bis heute ebenso entgangen wie die Tatsache, dass positive wirtschaftliche Effekte nur dort entstehen, wo die Geschwindigkeit des Verkehrs null ist. Die Vielfalt und der Reichtum der Städte beruhen auf den langsamen Geschwindigkeiten und den damit erzwungenen Aufenthalten. Wirtschaftsstrukturen der Menschen sind klein und können­daher nur aus niedrigen Geschwindigkeiten entstehen. Schnelle, billige Verkehrssysteme zerstören somit die Vielfalt der kleinen Wirtschaftsstrukturen. Stadt und Wirtschaft Alle Städte der Welt waren und sind Zentren der Wirtschaft. Hier wird auf kleiner Fläche das größte Volumen an Geld – früher real, heute virtuell – umgesetzt. Der Beitrag dieser Zentren zur heute üblichen Maßzahl, dem Bruttonationalprodukt, ist anteilsmäßig größer als der Anteil der Einwohner. Aber auch neben dem Geldgeschäft sind Städte Zentren des Warenumschlages, die Senken vieler Ressourcen, aber auch die Quellen hochwertiger Warenströme und Informationen – und damit auch Zentren der Arbeitsplätze, die anderswo in dieser Vielfalt, Spezialisierung und Dichte nicht anzutreffen sind. Diese Akkumulation ist nicht nur von wirtschaftlichem Vorteil für die Stadtverwaltungen, sondern auch für viele Betriebe, die versuchen, sich in diesem fruchtbaren Umfeld ­anzusiedeln. Jahrhundertelang waren die Betriebe daher immer bemüht, Standorte in der Stadt zu finden – wenn möglich, an besonders prominenten Adressen. Die einst vorhandene Vielfalt an Geschäften und Betrieben ist aber in den vergangenen Jahrzehnten aus den meisten Städten verschwunden. Dafür haben sich im Umfeld der Städte die Strukturen internationaler Handelsketten eingerichtet und dringen heute auch schon in das Weichbild der Stadt. Die Einkaufsstraßen vieler Städte unterscheiden sich kaum mehr von den eintönigen Passagen an Flughäfen. Ein Mantra herkömmlicher Wirtschaftspolitik Eine in der Verkehrs- und Wirtschaftspolitik übliche Vorstellung, dass schnelle und leistungsfähige Verkehrssysteme – gleichgültig, welcher Art auch immer – positive wirtschaftliche Effekte erzeugen, ist bis heute immer noch anzutreffen. Diese wundersame Wertvermehrung aus dem Nichts soll umso größer sein, je höher die Geschwindigkeiten sind. Hohe Geschwindigkeiten benötigen immer riesige Flächen, hohen Energieaufwand und führen durch hohe Lärmbelastungen zu einer Entwertung der Umgebung. Allein aus physikalischen Gründen müssen daher in der Realität die Kosten mit der Geschwindigkeit steigen und nicht sinken. Hinzu kommt noch die Entwertung des Umfeldes, also des Bodens, einer nicht vermehrbaren Größe, durch Lärm und Abgase. 188

Selbsttäuschung und Täuschung durch Planer und Planerinnen

Abb. 101 Trotz zahlreicher empirischer und theoretischer Beweise, dass bessere Verkehrsverbindungen keine ­positiven Wirtschaftseffekte erzeugen, wird an diesem Irrglauben nach wie vor zäh festgehalten.

In der Realität stehen sich aber kleine und große Wirtschaftsstrukturen als Konkurrenten gegenüber, wobei in der Periode schneller Verkehrsmittel die kleinen Wirtschaftsstrukturen scheinbar zwingend zu Verlierern werden. „Der Kapitalismus liebt die kleinen Wirtschaftsstrukturen nicht“, formulierte der Landeshauptmann von Vorarlberg bei den Kleinwalsertaler Gesprächen diese Tatsache. Der Begriff „Liebe“ ist aber keine Kategorie der Ökonomie, Wettbewerb hingegen schon. Wettbewerb kann aber immer nur unter bestimmten Randbedingungen stattfinden, die klar zu definieren sind – im Sport ebenso wie in der Wirtschaft. Große und kleine Betriebe sind über das Verkehrssystem miteinander verbunden und stehen damit auch über dieses in Konkurrenz zueinander. Gehen wir von der bekannten Theorie der Economy of Scale aus, so nehmen die Preise mit zunehmender Stückzahl ab. Zunehmende Stückzahl bedeutet, will man die Produkte auch loswerden, die Verteilung über einen größeren Raum. Tragen wir den Preis über der Entfernung zum Kunden (oder Verteiler) auf, ergibt sich folgende Funktion: Abb. 102 Preis, Transportkosten (vereinfacht linear dargestellt) und Skalengröße beschreiben, wenn man die Skala räumlich interpretiert und als Entfernung aufträgt, den dargestellten Zusammenhang.

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Zur Evolution der Städte Abb. 103 Der Endpreis zeigt einen u-förmigen Verlauf und ein endliches Optimum, weil die Transportkosten die Reichweite durch den Preisvorteil einschränken.

Abb. 104 Durch Innovation im ­Betrieb kann das Optimum verringert werden. Die Endpreise (Linie 4) liegen unter den früheren Werten (Linie 3).

Mit zunehmender Stückzahl, die auf eine größere Entfernung (Fläche) verteilt werden muss, kann der Einzelpreis reduziert werden. Allerdings sind die Transportkosten in den Endpreis einzurechnen, der mit der Entfernung steigt – hier schematisch durch eine Gerade dargestellt. Daraus ergibt sich der optimale Stückpreis. Transportkosten begrenzen die Reichweite eines Betriebes und sorgen damit für räumlichen Wettbewerb unter vergleichbaren Bedingungen. Unter diesem Wettbewerbsdruck sind die Betriebe laufend gezwungen, ihre Produkte zu verbessern. Entsteht ein Wettbewerbsvorteil – etwa bei gleichen Preisen bessere Qualität oder bei gleicher Qualität niedrigere Preise – erweitert sich die Reichweite. Es kommt zu fairen Wettbewerbsbedingungen, wenn jeder die eigenen Kosten zu tragen hat – auch die Transportkosten. Will ein Wirtschaftsteilnehmer die Produktion erhöhen, geht dies nur über den Wettbewerb, daher nur durch niedrigere Preise oder bessere Produkte bei gleichem Preis. Dies zwingt ihn, betrieblich innovativ zu werden. Damit kann er die Kostenfunktion senken und ein Optimum auf einer niedrigeren Skala erreichen. Damit kann der innovative Betrieb bei gleichbleibenden Randbedingungen (gleiche Transportkosten) auch einen größeren Markt erobern und damit Druck auf die Konkurrenz 190

Selbsttäuschung und Täuschung durch Planer und Planerinnen Abb. 105 Hohe Transportkosten erhöhen den Wettbewerbsdruck in der Wirtschaft, führen zu immer weiterer Spezialisierung, niedrigen Preisen, lokaler ­Optimierung und Vielfalt (KNOFLACHER, H., 1995a).

Abb. 106 Ohne Verbesserung der eigenen Produkte kann der Betrieb, der die billigen Transportkosten nutzt, seine Reichweite ausdehnen und gleichwertige Konkurrenten aus dem Markt verdrängen.

ausüben. Die Ergebnisse sind Vielfalt, Spezialisierung und Kundennähe – genau das, was die Qualität der städtischen Wirtschaft ausmacht. (Nach diesem Prinzip funktioniert auch die Natur, bei der die Transportkosten fast immer mit eigener�������������������������� Körperenergie ����������� der Lebewesen bezahlt werden müssen. Dass in einer Handvoll Humus mehrere Milliarden Lebewesen existieren können, ist das Ergebnis dieses Prozesses.) Mit den technischen Verkehrssystemen wurden die Transportkosten aber deutlich gesenkt (durch niedrige Energiepreise jenseits der physischen Realität) und mit den Geschwindigkeiten wurde die Reichweite deutlich ausgedehnt. Dass dies auf die Wettbewerbsverhältnisse zwischen den Betrieben Einfluss hat, ist anzunehmen, wurde und wird aber von den Ökonomen in ihren Theorien nicht beachtet. Auch heute noch erschallt von dieser Seite immer noch der Ruf nach Absenkung der Transportkosten. Dass die überlebende Wirtschaft massiven Druck auf die Transportkosten ausübt, ist verständlich, weil die von der Allgemeinheit übernommenen Kosten als Gewinne im immer größer werdenden Betrieb, der schließlich zum Konzern wird, verbucht werden. Es entsteht 191

Zur Evolution der Städte

Anpassung an die Bedürfnisse der jeweils dominaten relativ größeren Strukturen

Abb. 107 Niedrige Transport­ kosten erhöhen den Wettbewerbsdruck auf die Gemeinden und Städte, ohne dass die Preise sinken oder die ­Produkte besser werden (KNOFLACHER, H., 1995a).

Verringerung der Transportkosten

für die großen Betriebe ein Gewinn wie aus dem Nichts, ein wunderbares Geschenk. Sie brauchen sich nur rechtzeitig der schnelleren und billigeren Verkehrsmittel zu bedienen. Und das wird sogar von den Gewerkschaften gefördert, die Zuschüsse zu den Kosten der Arbeitspendler fordern. Auf Dauer führt das nicht nur zu Monopolen, sondern auch zur Zerstörung aller konkurrierenden kleineren lokalen Betriebe und der Arbeitsplätze. Damit gehen der Vorteil der städtischen Wirtschaft, die Vielfalt an Produkten und Geschäften aller Art und auch die Vielfalt der Arbeitsmöglichkeiten verloren. Billige und schnelle Transportsysteme erhöhen daher nicht den Wettbewerbsdruck zwischen den Betrieben, sondern zwischen den Städten – und heute bereits zwischen den Staaten. Nicht mehr die politisch Verantwortlichen – und damit die Vertreter der Demokratie – bestimmen das Geschehen, sondern undemokratische Einheiten, wie ERT (European Round Table of Industrialists) über ����������������������������������������������������� die Europäische Kommission, die ���������������� WTO oder Privatbanken.

9.10 Empirische Befunde Die Bedeutung der einzelnen Verkehrsträger für Geschäfte in der Stadt Die empirische Grundlage bildet eine Serie von Haushaltserhebungen in größeren und kleineren Städten und Gemeinden. Je nach Lage und Ausstattung der Gemeinden ergeben sich unterschiedlich lange, mittlere Einkaufswege. Je höher der Fußgeheranteil, umso kürzer ist die Weglänge. Aus der Einkaufshäufigkeit und den Angaben über die Einkaufssumme lassen sich Gemeinden die Werte der Ausgaben der einzelnen Verkehrsträger, bezogen auf die Weglänge, bestimmen. Das Ergebnis zeigt das folgende Diagramm:

192

Empirische Befunde Abb. 108 Einkaufssumme, bezogen auf die Weglänge der einzelnen Verkehrsmittel.

275 250

252,1

EURO (*Häufigkeit)/km

225 200 175 150 125 100 75

60,5

50 25

17,2

27,3

ÖV

MIV

0 Fußgänger

Abb. 109 „Warendichte“ in kg/km der einzelnen Verkehrsträger.

Radfahrer

25,0 22,5

22,3

20,0 kg (*Häufigkeit)/km

17,5 15,0 12,5 10,1

10,0

7,2

7,5 5,0 1,9

2,5 0,0 Fußgänger

Radfahrer

ÖV

MIV

Es ist der Fußgeher, der die größte „Gelddichte“ aufweist. Der Fußgeher bindet daher Kaufkraft im Ort – gegenüber dem Radfahrer um das Vierfache, gegenüber dem Autofahrer um das rund Zehnfache. Die lokalen Geschäfte sind daher Ergebnisse des Fußgehers, die Supermärkte Ergebnisse der Autofahrer. Auch die Warendichte in Kilogramm pro Kilometer ist beim Fußgeher dreimal so groß wie beim Autofahrer und mehr als doppelt so groß wie beim Radfahrer. (Die zeitliche Bezugseinheit ist jeweils ein Monat.) Diese hier erstmalig abgeleiteten Zusammenhänge beweisen, warum die historischen Siedlungen wirtschaftlich erfolgreich waren und es immer noch sind, wenn sie auf den Fußgeher als Hauptverkehrsmittel angewiesen sind oder wieder auf diesen zurückgeführt werden, wie in den zahlreichen Fußgeherzonen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nach dem Erwachen aus dem Autorausch, eingerichtet wurden. Die Untersuchungen des Verfassers in der Altstadt von Delhi zeigen, dass die Umsätze je Flächeneinheit ebenso hoch oder höher sind wie in den Supermärkten Europas – allerdings ohne einen Quadratmeter an zusätzlicher Parkfläche und einem Einkommensniveau, das um mehr als eine Zehnerpotenz unter dem Europas liegt. Die Geldausgaben je Flächeneinheit, der entscheidende Wert für eine wirtschaftsfreundliche Stadtplanung, errechnet sich aus den spezifischen Ausgaben x der Häufigkeit der Einkäufe, bezogen auf die Fläche. 193

Zur Evolution der Städte Abb. 110 Die Umsätze je Flächeneinheit sind in den kleinen Geschäften der Innenstadt von Delhi ebenso hoch wie in den Supermärkten Europas, der ­Beschäftigungs- und damit Verteilungseffekt auf die ­Menschen ein Vielfaches.

Abb. 111 Das Verkehrssystem, bestehend aus Fußgehern, Radfahrern, Rikschas und Lastkarren, ist in seiner Effizienz, Flexibilität und Leistungsfähigkeit nicht zu übertreffen. Ein Liefer-LKW in ­dieser Straße würde den Verkehr zu und von allen übrigen ­Geschäften massiv behindern oder blockieren.

30

Abb. 112 Geldausgaben je m2 Fläche der ausgewählten Verkehrsträger.

27,5 Geldausgaben je Flächeneinheit [Euro*Häufigkeit/m2]

25 22,5 20 17,5 15 12,5 10 7,5 5 2,5 0

Fußgänger

Radfahrer

öffentlicher Verkehr

194

Autofahrer

Empirische Befunde

Dieser Wert beträgt beim Fußgeher rund 30 Euro pro Quadratmeter, an zweiter Stelle der Gelddichte liegt der öffentliche Verkehr mit rund 19 Euro, an dritter Stelle der Radfahrer mit 17 Euro und deutlich abgeschlagen an letzter Stelle der Autofahrer mit weniger als 5 Euro pro Quadratmeter. Der Autoverkehr ist auch bei höheren spezifischen Einkaufssummen mit den Geschäftsstrukturen der Stadt unverträglich, weil er eine viel zu geringe Geldund Flächendichte aufweist. Will man daher Stadtgeschäfte erhalten, dann ist aus wirtschaftlichen Gründen dem Fußgeher, dem Radfahrer und dem öffentlichen Verkehr absolute Priorität vor dem Auto einzuräumen. Der Indikator „Erhaltung der lokalen Geschäfte bei minimalem spezifischem Aufwand an öffentlichen Flächen“ ergibt daher eine klare Reihung: 1.) Fußgeher 2.) Öffentlicher Verkehr und Radfahrer 3.) Der Autoverkehr ist auszuschließen, wenn er diese drei Verkehrsarten in ihren wirtschaftlichen Aktivitäten stört. Will man, wie es heute von der Geschäftswelt und nicht wenigen Beratungsinstituten der Wirtschaft vielfach verlangt wird, den Einkaufsverkehr mit dem Auto auch in der Stadt fördern, zerstört man diese. Bedauerlicherweise sind es aber gerade die Kaufleute oder Vertreter der Wirtschaft, die oft mit aller Vehemenz für mehr Parkplätze und mehr Autoverkehr in den Städten eintreten. Wenn die Stadtbewohner ihre Autos früher erreichen als alle zum Wohnen komplementären Funktionen, brauchen sie diese nicht mehr in der Nähe – eines von vielen Beispielen, die den Widerspruch zwischen individueller Wahrnehmung und Systemverhalten beweisen. Man muss daher als Verantwortlicher, sei es als Planer oder Politiker, die Geschäftswelt zu ihrem Glück zwingen, da sie in der Regel einen nahezu unaufhaltsamen Hang zur Selbstvernichtung durch falsche Verkehrslösungen zeigt. Aber auch die Supermärkte außerhalb der Siedlungen müssen in die Pflicht genommen werden, indem auf deren Parkplätzen Parkgebühren in gleicher Höhe wie bei ihren Konkurrenten in der Innenstadt von der öffentlichen Hand einzuheben sind. Pro Stunde Öffnungszeit wird die Parkgebühr pro Stellplatz berechnet und in einen Fonds eingezahlt, aus dem die Revitalisierung der innerörtlichen Wirtschaft gefördert wird. Einkommen und Kaufkraftbindung Für die Wiener Bezirke wurde das durchschnittliche Nettoeinkommen der dort Wohnhaften bestimmt sowie die Kaufkraft, umgelegt auf den Einwohner, berechnet. Dies bedeutet nicht, dass die gesamte Kaufkraft von den lokalen Einwohnern stammt, es wird lediglich untersucht, wieweit das Nettoeinkommen der Bezirksbewohner Einfluss auf die Kaufkraft in diesen Bezirken hat. Der Gesamtbetrag der Kaufkraft stammt daher sowohl aus den Nachbarbezirken wie auch dem Umland von Wien. Das Ergebnis wird von diesen Einflüssen somit entsprechend verfälscht. 195

Zur Evolution der Städte

Abb. 113 Einkommen der wohnhaften Bevölkerung und Kaufkraft in den Bezirken Wiens.

Die Berechnung zeigt einen relativ gut gesicherten statistischen Zusammenhang und unterstreicht die Bedeutung des Einkommens der lokalen Bevölkerung für die Existenz und Lebensfähigkeit der lokalen Geschäfte. Untersuchungen der Standorte von Fachmärkten in Österreich Große Möbelhäuser, die meist internationalen Konzernen gehören, haben kaum mehr Bezug zu den Ortschaften bzw. Städten. Ihre Standorte liegen an Autobahnen und Schnellstraßen, am Ortsrand und kaum mehr in Zentrumsnähe oder in der Nähe der Wohngebiete. Von 71 Möbelhäusern aller führenden Ketten liegen 39 % an Autobahnen und Schnellstraßen, 51 % außerhalb bebauter Gebiete am Ortsrand und nur 10 % in Zentrumsnähe oder in Wohngebieten. Es handelt sich um stadtfeindliche Strukturen, welche die lokale Wirtschaft und die lokalen Konkurrenten auf Kosten der Allgemeinheit zerstören. Ähnlich ist auch die Situation im Bereich der internationalen Medienmärkte. 43 % der untersuchten Standorte von 14 Medienmärkten liegen an Autobahnen und Schnellstraßen, 57 % am Ortsrand. Die gleiche Entwicklung ist auch bei den Baumärkten festzustellen. Die Standorte der in Österreich führenden Baumärkte liegen zu 50 % an Autobahnen, zu 39 % an Bundesstraßen am Ortsrand und nur zu 11 % in Zentrumsnähe und im Wohngebiet. Es sind die großen Konzerne, die stadtfremde Wirtschaftseinheiten bilden, die fast ausschließlich auf das Auto angewiesen sind. Damit ziehen sie Kaufkraft aus den Städten und Regionen ab und zerstören auf diese Art die wirtschaftlichen Grundlagen der lokalen Geschäfte – und in der Folge auch die finanziellen Einnahmen aller Gemeinden in einem größeren Umkreis. Es sind asoziale Elemente. 196

Empirische Befunde Abb. 114 Noch 1992 blieb ein erheblicher Teil der Kaufkraft in der eigenen Gemeinde, obwohl sich schon damals deutliche Konzentrationen in den Zentren zeigten. Die peripheren Gebiete abseits schneller Verkehrswege blieben aber davon noch verschont.

Abb. 115 Nur neun Jahre später ist der Sog-Effekt aus der ­Fläche noch deutlicher geworden. Die Verlierer sind die kleinen ­Gemeinden, die nicht nur Kaufkraft, sondern auch Beschäftigte und in der Folge Einwohner an die Zentren oder deren Randbereiche verlieren.

Schlussfolgerungen für die praktische Umsetzung Gemeinden, die Nutznießer von Einnahmen zentralistischer Einkaufszentren sind, welche aus Nachbargemeinden Kaufkraft abziehen, haben diese proportional zum Kaufkraftabfluss aus den anderen Gemeinden an diese wieder abzuliefern. Durch eine Erhebung der Kaufkraftflüsse ist dies heute leicht möglich. Die folgende Statistik aus Oberösterreich zeigt die Kaufkraftströme, die Gewinner und Verlierer nach Bezirken. Eine Verfeinerung wäre ohne Probleme möglich und periodisch machbar, um die entstandenen Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Kaufkraftverschiebungen in der Region Das Statistische Amt Oberösterreichs hat Untersuchungen von Kaufkraftflüssen über einen Zeitraum von neun Jahren durchgeführt und die Ergebnisse grafisch dargestellt. Auch hier zeigt sich der Sog-Effekt der Ballungsräume deutlich. Besonders stark betroffen sind Gemeinden entlang von Autobahnen, während entlegene und schlechter erreichbare Gemeinden ihre Kaufkraft noch besser erhalten können. 197

Zur Evolution der Städte

Abb. 116 Die durch schnelle Verkehrssysteme entstehenden Kaufkraftabflüsse treffen nicht nur die ländlichen Gebiete, sondern auch alle Städte – selbst Großstädte, die Kaufkraft an die Umgebung verlieren.

Die Großen gewinnen mit schnellen Verkehrssystemen, die Kleinen verlieren Dem Gravitationsgesetz folgend, verlieren die kleineren Strukturen immer Kaufkraft an die jeweils größeren, wenn der Widerstand zwischen diesen verringert wird. Auch hier gilt das Gravitationsgesetz. Nimmt man etwa den Widerstand zwischen einem Gegenstand auf einem Tisch und der Erde – also den Tisch – weg, fällt der Gegenstand unweigerlich auf den Boden. Wenn es ein Glas ist, wird es zerschellen. Und ebenso ergeht es allen Einrichtungen der Siedlungen, wenn der Raumwiderstand durch schnelle Verkehrssysteme zu den größeren Ballungen verringert wird. Zunächst verlieren die Gemeinden Kaufkraft, dann ihre Facharbeiter und schließlich die Bewohner. Die kleinen Orte verlieren daher durch gute Verkehrsanbindungen. Wenn sie das Glück haben, Tourismus zu entwickeln, kann sich der gleiche Effekt in der Gegenrichtung – zumindest teilweise – einstellen. Die Disparität im Raum nimmt daher durch schnelle Verkehrssysteme immer zu und nicht ab. Die Analyse der Entwicklung ländlicher Strukturen einer österreichischen Region im Zeitraum von 1964 bis 1991 zeigt die Wirkung des Autoverkehrs (Abb. 115 u. 116)55. Je 55 Grubits, Ch. (1994): Untersuchung der Strukturveränderungen des ländlichen Raumes als Folge des Verkehrssystems. Diplomarbeit am Institut für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik der Technischen Universität Wien. Schaller, E. (1994): Strukturentwicklungen der Dörfer und Städte im ländlichen Raum Ostösterreichs. Diplomarbeit am Institut für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik der Technischen Universität Wien.

198

Empirische Befunde

Abb. 117 Mit zunehmender Motorisierung verlieren die kleineren Ortschaften und Gemeinden Arbeitsplätze und ­damit Steuereinnahmen. Nur Orte mit über 15.000 Einwohnern konnten ihre Beschäftigtenanteile halten (Entwicklung in Niederösterreich 1964–2000). Einwohnerzahlen sind in der Form, z.B. bis 500 Einwohner, angegeben.

Abb. 118 Je kleiner der Ort, umso schneller wird er durch den Autoverkehr zerstört (Orte in Niederösterreich 1964–2000). Die Beziehung zwischen Beschäftigten je 100 Einwohner (y) und dem Motorisierungsgrad in KFZ/1.000 Einwohner (x) lautet etwa für die Ortsgrößenklasse bis 500 Einwohner: y = –11,052Ln(x) + 86,005. Dargestellt ist der Faktor des Logarithmus (fett hervorgehoben). Je kleiner der Ort, umso schneller verlor er seine Arbeitsplätze.

199

Zur Evolution der Städte

kleiner eine Siedlung, umso besser die Verkehrsverbindungen zu den größeren Orten, umso rascher wurde sie durch die zunehmende Motorisierung zerstört. Im untersuchten Zeitraum haben alle Siedlungen mit Einwohnerzahlen unter 5.000, mit wachsender Siedlungsgröße abnehmend, ihre inneren Strukturen – in diesem Fall wurde als Indikator die Zahl der Arbeitsplätze verwendet – verloren. Nur Kleinstädte mit mehr als 12.000 Einwohnern konnten in dieser Periode ihre Arbeitsplätze noch halten. Es sind aber nicht nur die besseren Verkehrsanbindungen, die diesen flächenhaften Niedergang bewirkten, auch die überdimensionierten breiteren Fahrbahnen in und durch die Orte haben deren inneren Zusammenhalt zerstört. Fußgeher, ehemalige Kunden der lokalen Geschäfte, nun Autofahrer, wurden dadurch mit den Zentren außerhalb der Orte attraktiv verbunden und im Ort an der Überquerung der Fahrbahn behindert. So gehen auch die Arbeitsplätze im Ort verloren. Der „Pendler“ wird von dieser Raum-, Stadt- und Verkehrsplanung erzeugt. Der Bürger sah und sieht nicht die gesamten Kosten des Pendelns und auch nicht die Verluste für die Familie und die lokale Gemeinschaft, sondern nur den Einkommensunterschied, aber nicht den Preis, den er dafür zu bezahlen hat. In ihrer Verständnislosigkeit für das Systemverhalten fördert die Politik diese flächenhafte Vernichtung noch, wenn das Pendeln finanziell unterstützt wird, anstatt Betriebe zu unterstützen, die Arbeitsplätze am Wohnort anbieten können. Die Entwicklung setzte sich bis heute mit der gleichen Dynamik fort. Betroffen davon sind bereits die größeren Orte und die Millionenstädte werden auch schon ausgehöhlt. Sie verlieren zunehmend Substanz an das Umland, wenn dort Autobahnen gebaut werden, an denen internationale Konzerne ihre Niederlassungen ansiedeln. Die lokale Wirtschaft selbst hatte die Warnungen jahrzehntelang ignoriert und vehement den Ausbau noch leistungsfähigerer Verkehrswege gefordert. Als sie erkannte, dass die Falle schneller Verkehrswege zuschnappte und nach den ländlichen nun auch ihre städtischen Standorte ruinierte, war es schon zu spät.56 Einflüsse planerischer Indikatoren auf den Einzelhandelsumsatz der Geschäfte „Planerische Indikatoren“ sind solche, an denen sich ein qualifizierter Planer orientieren kann. Es sind nicht Rezepte, sondern Orientierungshilfen für die Einsicht in komplexe Zusammenhänge von Siedlung und Gesellschaft. Empirische Studien stellen einen ersten Schritt dar, wie das Experiment in der Physik erst zur Erkenntnis führt.

56 Stop der Stadtvernichtung. Zubetonierte Grünflächen – verödete Städte. Eine Momentaufnahme im Sommer 2002. Hrsg. von der Wirtschaftskammer Österreich, Bundesgremium Textilhandel. Wien 2002.

200

Empirische Befunde

Das Problem bei empirischen Studien im Siedlungswesen besteht darin, die richtigen Beobachtungseinheiten und außerdem das dazugehörige Datenmaterial zu finden. Im Rahmen der Wiener Zukunftskonferenz hatte der Verfasser die Möglichkeit, mit einem interdisziplinären Team das Datenmaterial der Stadt Wien näher zu analysieren. Einige Ergebnisse aus den damaligen Untersuchungen seien hier zusammengestellt. Beobachtungseinheit waren die einzelnen Gemeindebezirke, da nur auf dieser Ebene geeignetes Datenmaterial zur Verfügung stand. Der Kaufkraft wurden verschiedene planerisch erfassbare Größen als Indikatoren gegenübergestellt, z.B. Quotient aus Fußgeherfläche zur gesamten Verkehrsfläche oder die gebundene Kaufkraft je Hektar Bezirksfläche.

Abb. 119 Angebot an Fußgeherzonen und Kaufkraft (Wiener Bezirke ohne Zentrum). Die dicht bebauten Innen­ bezirke (6 und 7) weisen eine höhere Kaufkraft auf, die durch die Fußgeherzonen noch gesteigert werden kann.

Fußgeherzonen tragen offensichtlich zu einer Bindung von Kaufkraft im Bezirk bei – selbst, wenn man das Zentrum, wie in dem Diagramm, weglässt. Die dicht bebauten innerstädtischen Bezirke, das Zentrum (1), die sogenannten Innenbezirke (4 bis 8) mit relativ hohem Anteil an Fußgeherflächen, weisen eine deutlich höhere Kaufkraftbindung auf. Mit dem Anteil der Fußgeherfläche steigt die Kaufkraftbindung (was trivial ist, kennt man die Mechanismen des Systemverhaltens). Beträgt der Anteil der Fußgeherflächen an den Flächen für den Autoverkehr weniger als 50 %, fällt die Kaufkraftbindung deutlich ab. Um Kaufkraft lokal zu binden, ist daher der Anteil der Flächen für Fußgeher auf mindestens 60 % zu erhöhen. Selbst in den Außenbezirken mit einem höheren Anteil an Fußgeherflächen, wie in den Bezirken (15 und 16), kommt es zu einer hohen Kaufkraftbindung. Die dicht bebauten inneren Bezirke (5, 6, 7, 8 und 9) sind außerdem 201

Zur Evolution der Städte

Abb. 120 Die gute Ausgestaltung mit und das Angebot an attraktiven Fußgeherflächen zulasten der Fahrbahnen machen sich für die Stadtwirtschaft bezahlt.

Abb. 121 Haltestellendichte zu Kaufkraftdichte.

202

Empirische Befunde

Abb. 122 Parkplatzdichte – Kaufkraftdichte.

mit dem öffentlichen Verkehr gut ausgestattet. Es war daher interessant zu untersuchen, ob die Haltestellendichte die Kaufkraft, also die Umsätze der Geschäfte in den Bezirken, erhöht. Je besser die Erschließung durch den öffentlichen Verkehr, umso größer ist auch die gebundene Kaufkraft im Bezirk. Der Zusammenhang ist statistisch nicht so deutlich wie bei den Fußgeherflächen, die Tendenz ist aber klar zu erkennen. Je größer der Anteil der Flächen für den Autoverkehr (Fahrbahnen, Stellplätze pro Einwohner) ist, umso geringer ist der Anteil gebundener Kaufkraft im Bezirk. Abgesehen von den spezifischen Unterschieden der einzelnen Bezirke ist auch hier die deutlich sinkende Tendenz festzustellen. Was ist für die Kaufkraftbindung wichtiger: Stellplätze oder Haltestellen des öffentlichen Verkehrs? Die Untersuchungen in Wien zeigen sowohl zwischen Stellplatzdichte (Stellplätze pro Hektar Bezirksfläche) als auch Haltestellendichte (Zahl der Haltestellen pro Hektar Bezirksfläche) und der gebundenen Kaufkraft des Bezirkes positive Zusammenhänge. Der Zusammenhang mit den Stellplätzen ist zwar wesentlich schwächer als jener mit den Haltestellen, aber doch deutlich erkennbar. Der Beitrag einer Haltestelle des öffentlichen Verkehrs (in Wien sind es U-Bahnen, Straßenbahnen und Busse) zur lokalen Kaukraftbindung ist rund 45-mal größer wie der eines PKW-Stellplatzes. 203

Zur Evolution der Städte

Aus Rücksicht auf die lokalen Betriebe und den Handel ist die Nutzung öffentlicher Flächen durch den Autoverkehr im städtischen Gebiet daher grundsätzlich auf ein Minimum zu beschränken. Wenn man annimmt, dass eine Haltestelle rund 10 Stellplätze in Anspruch nimmt und Kunden des öffentlichen Verkehrs genauso viel ausgeben wie Autobenutzer, was in Wien der Fall ist, liegt das Verhältnis Kaufkraft zu Flächennutzung zwischen der Haltestelle und Parkplätzen immer noch 5:1 zugunsten des öffentlichen Verkehrs. Will man daher die Stadtwirtschaft fördern, sind geparkte PKW grundsätzlich aus dem öffentlichen Raum zu eliminieren und konzentriert, wenn möglich außerhalb der verbauten Gebiete, unterzubringen. So sehr man den PKW auch lieben mag, sämtliche seiner objektiven Indikatoren weisen auf seine zerstörende Wirkung in übergeordneten Strukturen, wie es Städte und Siedlungen sind, hin. Auch die Beziehung der Stellplätze pro Einwohner und den Geschäften pro 1.000 Einwohnern zeigt eine sinkende Tendenz.

Abb. 123 Gebundene Kaufkraft – Stellplätze je Einwohner.

Je mehr Stellplätze pro Einwohner zur Verfügung gestellt werden, umso weniger lokale Geschäfte gibt es. Dies hat bereits die Systemanalyse der Geschwindigkeiten, Reiseweiten, Einzugsbereiche und Economy of Scale ergeben.57 Die gleiche Tendenz zeigt sich auch zwischen den spezifischen Stellplätzen und den Beschäftigten im Einzelhandel. Das Auto ist, so sehr es individuelle Vorteile hat, für jede Stadt und den städtischen Handel zerstörerisch. 57 Knoflacher, H. (1997): Landschaft ohne Autobahnen. Für eine zukunftsorientierte Verkehrsplanung. Böhlau Verlag Wien – Köln – Weimar.

204

Die Ideologie der „Stadt der kurzen Wege“

9.11 Die Ideologie der „Stadt der kurzen Wege“

In den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts wurde von einigen Städteplanern, denen sich auch ökologisch orientierte Verkehrsplaner anschlossen, das Schlagwort von der „Stadt der kurzen Wege“ erfunden. Gemeint war eine Stadt der Nutzungsvielfalt und Nutzungsmischung, von Planern entworfen, gebaut und umgesetzt, die lange Wege überflüssig machen sollte. An sich eine überzeugend scheinende Idee, die allerdings trotz der guten Absicht, die dahinter steht, im Wesentlichen zwei Dinge beweist: • Die Ignoranz der Planer, die glauben, durch ihre an sich richtigen Planungsvorstellungen den Patienten heilen zu können, ohne dessen innere Wirkungsmechanismen zu kennen, weil die Funktion und Wirkung des Autos nicht verstanden wurde. • Einen Mangel an geschichtlicher Kenntnis, der Evolution der Stadt, insbesondere ihrer jüngeren Vergangenheit. Jede Stadt war früher immer ein Ort der kurzen Wege, bis diese durch das Auto zerstört wurden. Kurze Wege waren überhaupt die Voraussetzung und der Zwang, dass sich Siedlungen, Dörfer und Städte sowie ihre Wirtschaft entwickeln konnten. Den Planern ist allerdings etwas anderes vorgeschwebt, nämlich eine Stadt der kurzen Wege bei vollkommener Freiheit der Verkehrsmittelwahl und weiterhin unbehinderter Verfügbarkeit des Autos. Das Auto wird nach wie vor tabuisiert. Nur eine solide Unkenntnis der tatsächlichen Wirkungsmechanismen lässt einen solchen Slogan zu. Selbst in New York, wo extrem hohe Bodenpreise und Mieten, wie etwa in Manhattan, verlangt werden, subventioniert die Stadt jeden Parkplatz auf der Straße mit 15 bis 20 Dollar pro Stunde. Parken in Hinterhöfen oder in Tiefgaragen kostet 16 bis 24 Dollar pro Stunde, Parken auf der Fahrbahn nur zwei!

Abb. 124 a u. b Preisdifferenzen zwischen Marktwirtschaft und öffentlichem Raum zeigen das Ausmaß der Subvention für das Abstellen der Fahrzeuge: 20 $ privat und 2 $ im öffentlichen Raum bedeuten eine Subvention des Parkens in diesem Fall mit 18 $ pro Stunde.

205

Zur Evolution der Städte

Konsequenzen für die Praxis Für Fußgeher ist wieder eine durchgehende Ebene ohne Unterbrechung zu schaffen, auf der sie sich ungehindert und ungefährdet bewegen können, damit eine lebenswerte Stadt entsteht. Über 7.000 Jahre lang war der öffentliche Raum in den Städten den Fußgehern vorbehalten. Abb. 125 Über Tausende von Jahren bestimmten die Menschen die Entwicklung der Städte.

Abb. 126 Der öffentliche Raum wurde immer zwischen Verkehrsteilnehmern gleicher Geschwindig­keit geteilt. Die eher seltenen Störungen entstanden durch Reiter und Kutschen.

Abb. 127 New York um 1900. Vor knapp 100 Jahren beherrschte der Fußgeher den öffentlichen Raum, ohne dass es Probleme gab. Pferdemist hingegen war damals ein ernstes städtisches Problem, das von einer Minderheit erzeugt wurde.

206

Die Ideologie der „Stadt der kurzen Wege“ Abb. 128 Eine Kreuzung mit dem Durchsatz und der Mischung von Personen- und Güterverkehr nach allen Richtungen ist mit dem Autoverkehr nicht möglich (Chandni Chowk, Delhi).

Allein an der Morphologie des öffentlichen Raumes ist eine lebensfähige Siedlung zu erkennen: Fahrbahnen fehlen, es gibt nur den durchgehenden öffentlichen Raum, der in allen Richtungen gleichwertig durchgängig ist. Dies ist die Voraussetzung für die notwendige Flexibilität der tages- und jahreszeitlich unterschiedlichen Mobilitätsbedürfnisse dieses komplexen Organismus. Die Raum-Zeit-Beziehungen der Fußgeher zwingen die Stadtplanung zu Verdichtung, Vielfalt und Mischung der Funktionen und Schönheit der Gestaltung. Den Maßstab für die Stadtplanung und Flächenwidmung wiederfinden Aus diesen Zusammenhängen ist erkennbar, dass ein Maßstab 1 : 5.000, wie er heute in Flächenwidmungsplänen verwendet wird, niemals zu einer funktionsfähigen, nachhaltigen Stadt führen kann. Folgen des Maßstabsverlustes sind: • Das zentrale Element der Siedlungsplanung, der Mensch, kann nicht mehr berücksichtigt werden. • Das lebenserhaltende Primärnetz der Fußwege kann nicht dargestellt werden. • Die Voraussetzungen für eine hochwertige Stadtbildgestaltung gehen verloren. • Die Möglichkeiten der feinräumigen Durchmischung gehen planerisch verloren. • Die Plätze als Knotenpunkte können in ihrer Vielfalt und Differenziertheit nicht berücksichtigt werden. • Die für eine lebendige Siedlung erforderlichen Bindungen sind nicht mehr darstellbar. Wir brauchen einen dem Menschen angemessenen Maßstab, in dem die lebenserhaltenden Funktionen noch dargestellt werden können. Je nach Funktion wird daher für die Flächenwidmung ein Maßstab 1 : 100 bis maximal 1 : 1.000 erforderlich, will man nicht den ­zentralen Teil, auf den es in der Siedlungsplanung ankommt, verlieren. 207

Zur Evolution der Städte Abb. 129 Ein eindrucksvolles Beispiel herkömmlichen Verkehrs­ wesens, das die mangelhafte geistige Bewältigung der eigenen Disziplin und die Unkenntnis der Stadt demonstriert und den Verlust des Maßstabes sichtbar macht. Die Verletzung des Stadtorganismus wird hier eindrucksvoll sichtbar.

9.12 Neues finden, um die lebenswichtige Verweilzeit in der Stadt zu erhöhen

Will man den Menschen die Freiheit der Verkehrsmittelwahl wiedergeben, müssen die gebauten und organisatorischen Strukturen so geändert werden, dass man dem Benutzer des öffentlichen Verkehrs die gleichen Chancen für Fernmobilität sicherstellt wie dem Autobenutzer. Es darf daher in der Stadt nicht mehr Möglichkeiten für das Abstellen der Fahrzeuge geben als Haltestellen des öffentlichen Verkehrs. Damit wird jene Reduktion der Geschwindigkeiten im System erzielt, die erforderlich ist, um Energie in Form von Lebenszeit der Menschen in der Stadt zu binden. Je mehr Mobilitätszeit in der Nähe gebunden wird, umso mehr wird sich wieder in der Nähe einfinden. Die Geschwindigkeit wird bei entfernten Parkmöglichkeiten im System gegenüber heute deutlich reduziert. Die folgenden Diagramme dienen zur Abschätzung der Reduktion der Geschwindigkeit und damit dem Gewinn an Nähe. Die Vitalität der Stadt wird damit weitgehend wiederhergestellt, weil Zeit und Aktivitäten in der Nähe gebunden werden. Der Großteil der Wege wird wieder kurz, der Energieaufwand für Mobilität um Größenordnungen verringert, Städte dieser Organisationsform rücken wieder in die Nähe der Nachhaltigkeit. 208

 

Neues finden, um die lebenswichtige Verweilzeit in der Stadt zu erhöhen Abb 126 6 Hamburg M Markt  um 1900 

Tem mporedukttion durch h Äquidistanz (Vmaxx 36 km/hh)

V  m/sek

ZZuganglänge e m

1 10,00 9,00 8,00 7,00 6,00 5,00 4,00 3,00 2,00 1,00 0,00

50 0 100 0 150 0 250 0 350 0 450 0

0

1000

20000 30 000 Weeglänge in n m

4000

55000  

Abb. 1300  Abb. 130 Im urbanen Raum, wo auch heute noch die Hälfte der Wege kürzer ist als 4 bis 5 km, bewirkt der äquidistante Zugang zum Auto die stärkste Reduktion der Geschwindigkeiten im System. Die einzelnen Kurven geben die Geschwindigkeiten an, die bei unterschiedlichen Zugangswegen (rechts im Diagramm in m angegeben), bei unterschiedlichen Weglängen erzielt werden. Ausgangsgeschwindigkeit sind 36 km/h. Bei einer Weglänge von 1.500 m sinkt die Durchschnittsgeschwindigkeit bei 50 m Zugangslänge von 10 m/s auf ca. 7,5 m/s (27 km/h); bei 200 m Zu- und Abgangswegen auf nur mehr 8 km/h. Mit dem Fahrrad ist man bei dieser Organisationsstruktur schon deutlich schneller.

V m/s

Tem mporeduktion durch  Äquidistaanz Vmax 72km/h 118,00 116,00 114,00 112,00 110,00 8,00 6,00 4,00 2,00 0,00

Zuganglänge m 50 100 150 250 350 450

0

1000 0

20000 3000 W Weglänge m m

40 000

5 000  

Abb. 1311 

Abb. 131 Der Effekt auf ein System, das mit 72 km/h Ausgangsgeschwindigkeit betrieben wird. Auch bei dieser sehr hohen Ausgangsgeschwindigkeit ist der öffentliche Verkehr, der mit ca. 6 m/s betrieben wird, bis zu 4 km konkurrenzfähig, wenn die Zu- und Abgangswege 400 bis 500 m betragen.

209

Zur Evolution der Städte

9.13 Die lokale Wirtschaft fördern

Jedes Verkehrssystem erzeugt zwingend die zu ihm passenden Wirtschaftsstrukturen. Schnelle und billige Verkehrssysteme führen zu zentralistischen Großstrukturen und vernichten die Vielfalt der kleinen Konkurrenten. Schnelle Verkehrssysteme mit individuellem Zugriff auf die Haushalte brauchen nicht mehr die Nähe zu den Kunden und inte­grieren sich daher nicht mehr in das Stadtgefüge. Ihr Freiheitsgrad ist größer als der jeder Gebietskörperschaft und damit beherrschen sie Gemeinde- und Stadtverwaltungen. In Verbindung mit privatisierten öffentlichen Verkehrssystemen können sie damit jede Stadtwirtschaft in ihrem Interesse manipulieren und zum eigenen Nutzen zerstören. Die Bürger werden hilflos.

Abb. 132 a–d Jahrzehntelang leugneten Wirtschaftsvertreter den Zusammenhang zwischen dem Autoverkehr und dem Sterben der innerstädtischen Geschäfte, bis sie realisierten, wie die lokale Wirtschaft Opfer der peripheren Konzernstrukturen, des Autoverkehrs und der fundamentalen Fehler der Marktwirtschaft wurde („Stop der Stadt­ vernichtung“ 2002).

Beweis der Hypothese auf globaler Ebene Das Dogma, man müsse den Autoverkehr fördern, um die Wirtschaft zu entwickeln, gilt es zu überprüfen. Die Beziehung zwischen dem Aufwand an Energie für den Autoverkehr und dem spezifischen Einkommen zeigt die Abbildung 133. Jeder Punkt in diesem Diagramm ist eine Stadt. Mit zunehmendem Aufwand für mechanische Mobilität nimmt im untersten Bereich das spezifische Einkommen an Geld zunächst proportional zu. Steigt aber der Mobilitätsaufwand über 20.000 Megajoule pro Person und Jahr, teilt sich die Entwicklung in: a) einen Zweig, in dem der Energieaufwand für den motorisierten Individualverkehr nicht mehr weiter zunimmt, wohl aber das Geldeinkommen pro Einwohner. 210

Die lokale Wirtschaft fördern Abb. 133 Hoher Aufwand an externer Energie für Mobilität über ein bestimmtes Maß hinaus ver­hindert die Zunahme an materiellem Wohlstand.

GDP USD

Private Energy use per capita – GDP

MJ private/P/a

b) einen Zweig, bei dem der Energieaufwand für Mobilität weiter zunimmt, nicht aber das Einkommen. Dieses endet trotz weiteren Energieaufwands bei 30.000 Dollar jährlich. Zur Gruppe mit wachsendem Wohlstand bei geringerem Mobilitätsenergieaufwand gehören europäische und asiatische Städte. Zur zweiten Gruppe mit stagnierendem Einkommen, aber immer stärker steigendem Aufwand für Mobilitätsenergie gehören die US-amerikanischen, kanadischen und australischen Stadtagglomerationen. Maximales Einkommen erreichen Bewohner in Städten mit ungefähr 10.000 bis 20.000 Megajoule spezifischen Energieaufwands für den Autoverkehr. Überschreitet der Wert 20.000 Megajoule, kippt die Entwicklung der Stadt in die Suburbanisierung, Zersiedlung, und muss einen immer höheren Anteil an Energie (Geld) für physische Mobilität und nicht mehr für den Wohlstand der Menschen aufwenden. Nicht motorisierte Verkehrsteilnehmer bilden die Grundlage des städtischen Verkehrs. Trägt man über der Zahl der täglichen Wege nicht motorisierter Verkehrsteilnehmer in den Städten den Indikator „Dollar pro Megajoule“, also Bruttonationalprodukt pro Einwohner/ Energieaufwand für Mobilität, auf, erhält man folgendes Diagramm: Abb. 134 Trotz erheblicher, durch die Strukturunterschiede, die verschiedene Ausstattung mit öffentlichem Verkehr, und durch Geografie und Topografie bedingter Unterschiede, steigt der individuelle materielle Wohlstand mit zunehmendem Anteil nicht motorisierter Verkehrsteilnehmer.

GDP/MJ

nonmot trips – GDP/MJ

nonmot tips

211

Zur Evolution der Städte

Hongkong, Osaka oder Tokio sowie viele europäische Städte haben eine hohe Wertschöpfung trotz geringen Aufwandes an Mobilitätsenergie. Nordamerikanische Städte liegen im linken unteren Eck, das heißt, sie sind extrem ineffizient. Keine nordamerikanische Stadt ist in der Lage, einen US-Dollar an Bruttonationalprodukt pro Megajoule Mobilitätsenergie zu erwirtschaften. Sie sind daher wirtschaftlich nicht leistungsfähig, sondern beziehen ihre Wirtschaftsleistung ausschließlich aus einem Übermaß fossiler Energie, die sie unintelligent für Mobilität nutzen. Erstaunlich ist auch die Position von Bogotá, wo bei einem relativ hohen Anteil an nicht motorisierten Wegen ein relativ hoher wirtschaftlicher Nutzen für die eingesetzte Mobilitätsenergie erzielt werden konnte. Bogotá konnte diesen großen Sprung deshalb machen, weil es die herkömmlichen Dogmen traditioneller Verkehrsplaner verwarf und elegantere neue Lösungen fand.

9.14 Wirkungen der Parkraumorganisation auf die Wirtschaft­ GDP – Parking spaces per 1000 CBD jobs

Abb. 135 Es ist kein Zusammenhang zwischen der Wirtschaftsleistung der Städte und dem Angebot an Parkplätzen im Zen­ trum nachzuweisen. Die reichsten Städte haben ein Parkraumangebot, das sich nicht von den ärmsten Städten unterscheidet.

2000 1800 1600 1400 1200 1000 800 600 400 200 0

10000

20000

30000

40000

50000

60000

Das Angebot an Parkplätzen für Beschäftigte hat offensichtlich keinerlei Einfluss auf das Einkommen (gemessen am BNP) der Bevölkerung, ist daher irrelevant. Praktische Umsetzung Verkehrsanlagen sind so zu gestalten, dass sie sich organisch in den Gesamtorganismus der Siedlung einfügen und sich später auch mit Leben, also Menschen, die Fußgeher sind, füllen. Bei der Planung sind für eine lebendige Siedlung folgende Punkte zu berücksichtigen: • absolute Priorität für die Fußgeher • Integration von privatem und öffentlichem Raum 212

Netze

• eine hohe Dichte und Mischung von Aktivitäten • eine Maschenweite, die den Bedürfnissen der Fußgeher entspricht und daher zwischen 20 bis 50 m liegt • Was für die räumlichen Barrieren gilt, muss auch für die zeitlichen Barrieren gelten. Umlaufzeiten von Signalanlagen sind so zu bemessen, dass Fußgeher nicht länger als 15 bis 25 Sekunden warten müssen. Dies erfordert einen völlig anderen Zugang zur Bemessung nicht nur der Signalisierung, sondern auch der Kreuzungen. Die Fahrbahnen müssen minimiert und die Beziehungen vereinfacht werden. • Orientierung und Einmaligkeit bei der Gestaltung, Unverwechselbarkeit – jeder Schritt muss Neues bieten. • klimagerechte Gestaltung und Ausstattung für Fußgeher Diese Elemente erzeugen gemeinsam mit der Bebauung jene für die Vitalität der Siedlung erforderliche hohe Nutzungsvielfalt und Dichte. Beginnen wir mit der praktischen Umsetzung der Planung bei den Netzen (bei Systemen ist es gleichgültig, wo man beginnt, weil man ohnehin den ganzen Kreislauf mehrfach durchlaufen muss).

9.15 Netze Alle Bewohner und Beschäftigten einer Stadt sind in eine Fülle sichtbarer und unsichtbarer Netze eingebunden. Allein, wenn man die Wege der Familienmitglieder in einen Stadtplan einträgt und übereinanderlegt, werden Netzmuster erkennbar. Viele dieser Netze zeigen aufeinandergelegt Knoten und Bündelungen. Wo sich diese Fußwege im öffentlichen Raum bündeln, ist die Stadt mit Leben erfüllt. Wo sie fehlen, ist sie tot. Um dieses lebenserhaltende Netzwerk der Wege darzustellen, ist ein entsprechend großer Maßstab erforderlich, weit größer als in der Flächenwidmung üblich. Die Planung der vergangenen Zeit wurde nach den Geschwindigkeiten der schnellsten Verkehrsteilnehmer ausgerichtet. Was schnell war, wurde in der Planung dargestellt und bei den Investitionen bevorzugt. Damit wird aber bereits ein grundlegender Widerspruch zu den lebenserhaltenden Prinzipien erzeugt. Alle lebenden Systeme beruhen auf dem Prinzip der Verlangsamung von Energie- und Ressourcenströmen, um diese so lange wie möglich zu nutzen. Nur so können sie ihre Ordnung gegen die immer wirksame Entropie aufbauen und erhalten. Wenn eine Stadt in eine Infrastruktur für höhere Geschwindigkeiten investiert, investiert sie in ihre Zerstörung. Wir müssen daher eine Ordnung der Netze aufstellen, die dem Leben der Stadt dient.

213

Zur Evolution der Städte

9.15.1 Verkehrswege erster Ordnung sind Fußwege

Gut gestaltete Fußwegenetze sind die Voraussetzungen für jede lebenswerte Stadt. Die Maschenweite dieser Netze kann je nach Gestaltungsqualität, Topografie und Funktion in der Größenordnung von 20 bis 80 m ������������������������������������������������������� liegen. Die Form der Fußgehernetze kann völlig unterschiedlich sein, wenngleich bestimmte Prinzipien zu beachten sind.

Abb. 136 a u. b Es ist immer der Maßstab des Menschen, des Fußgehers, der die Stadtqualität ausmacht, ob in Venedig oder Esslingen.

Die Zahl der Fußgeher im öffentlichen Raum ist ein Maßstab für die „Temperatur“ des Lebens einer Siedlung, einer Stadt, ein Maßstab für die Vitalität dieses Gebietes. Die Zahl der Autofahrten ist ein Maßstab für das Ausbluten des Siedlungskörpers. Abb. 137 Die Altstadt von Delhi ist ein Musterbeispiel für eine menschengerechte Stadt, die nach vielen Hunderten von Jahren immer noch in ungebrochener Vitalität existiert. Rasternetz – und die Altstadt von Delhi kommt hinein.

Man erkennt an den historischen Stadtplänen, dass eine organische Netzstruktur praktisch niemals ein rechtwinkeliges Gitternetz bildet, weil dessen niedriger Informationsinhalt die Qualität der Orientierung und die Lebendigkeit der Raumgestaltung zerstört: 214

Netze Abb. 138 a u. b Die engen Gassen sind von einer Unzahl von Geschäften belebt. Auf diesem Markt kann der Kunde noch wählen und entscheiden. Straßenhändler garantieren die hohe Sicherheit im öffentlichen Raum.

• Rechtwinkelige Kreuzungen gibt es nur in Ausnahmefällen. • Die normalen Formen sind eine Einmündung oder ein Versatz der Straßen. Organische Strukturen zeigen im Wesentlichen zwei Netzelemente: 1.) Plätze als Knoten. 2.) Verbindungen: Dazu gehören Durchgänge, Gassen und auch Straßen. Bei Durchgängen genügt sehr häufig eine gegliederte Breite von 2 m, für die Gassen eine solche von etwa 3 bis 8 m. Dies ermöglicht (etwa unter den Verhältnissen, wie sie in Delhi gemessen werden können) den Durchgang von rund 2.000 bis 5.000 Personen pro Stunde im Querschnitt (beide Richtungen zusammen) in einem Gemisch aus Fußgehern, Radfahrern und auch Rikschas. Die Breite der Rikschas beträgt 1,20 m, besetzt sind sie in der Regel mit zwei bis zehn Personen. 3.) Verzweigungen der Verbindungen sind meist dreiarmig und fast nie rechtwinkelig. Die Bebauung entlang der Fußwegenetze ist vielfältig gestaltet: mit drei bis vier, maximal fünf Geschossen und Arkaden im Erdgeschoss. 215

Zur Evolution der Städte

Planung und Verhalten Das folgende Bild zeigt den Unterschied zwischen der Realität der Menschen und den Vorstellungen der Planer. Abb. 139 So wenig, wie sich die Wege der Menschen mit den befestigten Gehsteigen decken, so wenig verstehen viele Planer vom Verhalten der realen Menschen.

Nutzungen im Erdgeschoss Geschäfte, Werkstätten, Handwerk, Imbissstuben, Restaurants und auch Büros. In vielen Ländern des Südens sind es Straßenhändler, die nicht nur zur Belebung des öffentlichen Raumes beitragen, sondern auch die Sicherheit in diesem gewährleisten, weil sie meist „alles im Auge“ haben. Straßenhändler garantieren die Sicherheit des öffentlichen Raumes, weil davon auch ihre Existenz abhängt. Plätze Kernpunkte der Siedlungen sind Plätze. Auf diesen konzentrieren sich die Aktivitäten, was keineswegs bedeutet, dass dort das Verkehrsaufkommen sehr hoch sein muss, es gibt auch Plätze, die der Ruhe und Erholung dienen. Plätze sollen in einer Entfernung von etwa 120 bis 240 m (maximal) angeordnet werden. Plätze sind keine freien Löcher in der Bebauung, sondern – ihrer Funktion entsprechend – differenziert und vielfältig. Im dicht verbauten Gebiet stellen Plätze auch Lichtinseln dar und bilden den Kontrast zu den Durchgängen und engen Gassen. Siedlungsbewusste Architektur nutzt diese Elemente, um die Platzwirkung hervorzuheben, und grenzt oft Gassen und Straßen gegenüber den Plätzen durch zusätzliche Verengungen oder Durchgänge ab.

216

Netze

Abb. 140 a u. b Enge der Gassen und Weite des Platzes in einer lebendigen Stadt – und die Öde des Abstell­ platzes für Autos (Rothenburg o.d.T.).

217

Zur Evolution der Städte

Technische Hilfsmittel für die Dimensionierung der Anlagen

Verkehrssystemplanung bedient sich lebendiger Gestaltungsmechanismen. Diese sind nicht von stereotypen Regelquerschnitten – wie in der herkömmlichen Planung – gekennzeichnet, sondern von einem gekonnten und virtuosen Umgang mit Raum- und Zeitinhalten wie beim Umgang mit Noten in der Musik. Es gibt deshalb keine starre „Fußgängerregelbreite“ oder „Fahrradregelbreite“. Es gibt Verteilungen für Breiten, welche die Planerin / der Planer gekonnt handhaben muss. Abb. 141 Breitenverteilung eines straßenbegleitenden Radweges.

Abb. 142 Platzbedarf bei der Begegnung zweier Fußgeher, bei seitlichen Hindernissen.

Abb. 143 Breitenverteilungen verschiedener Verkehrsteilnehmer. Diese Diagramme erlauben eine Feinabstimmung, Bewertung und damit lebendige Gestaltung öffentlicher Räume, zum Unterschied von den sogenannten „Regelbreiten“.

218

Netze

Fußgeher und Radfahrer weisen hohe Flexibilität bei Begegnungen auf, weil sie sich noch innerhalb ihres evolutionären, raumzeitlichen Erfahrungsrahmens bewegen, damit aufeinander Rücksicht nehmen und sich eben „menschlich“ verhalten. Ihre Ansprüche an die Gestaltung der Umgebung sind allerdings groß und können nicht allein mit architektonischen und gestalterischen Elementen bewältigt werden. Es muss sich etwas tun im Straßenraum, das heißt, der Raum braucht Aktivitäten und Schönheit. Abb. 144 Keine andere Kombination von Verkehrsteilnehmern kann den vorhandenen Raum so effizient und flexibel nutzen wie Fußgeher und Radfahrer.

Dazu sind Geschäfte und Beschäftigungen entlang des Straßenraumes in entsprechender Vielfalt erforderlich. Barrieren jeder Art für Fußgeher sind zu vermeiden. Wichtiger praktischer Hinweis: Jeder Planer / jede Planerin soll daher Erfahrungen in einem Rollstuhl sammeln, wie es alle Studenten des Verfassers seit über zwei Jahrzehnten tun. Hat der öffentliche Raum genügend Qualität und bietet Anreize zum Aufenthalt, ist er auch sicher. Die soziale Kontrolle erfolgt durch die Menschen im Raum selbst sowie die Beschäftigten und Bewohner im Umfeld. Den Verfall der Siedlungskultur erkennt man heute an den Super- und Fachmärkten, wo der Kunde zu einem von Kameras und Detektiven degradierten potenziellen Dieb abgewertet sowie zum Sammler und Träger von Waren verurteilt ist. Eine Stadt, in der Einkaufszentren den öffentlichen Raum ersetzen, ist krank! Die Größe der Plätze richtet sich nach ihrer Funktion. Hier hat der Planer Möglichkeiten, für die zu erwartete Art von Aktivitäten und Aktivitätsmischungen vorzusehen, denn planen kann man die spätere Nutzung ohnehin nicht im Detail.

219

Zur Evolution der Städte

Plätze Diese sind gesondert zu behandeln. Es handelt sich um Räume, die entweder kulturellen Zwecken (und größere Menschenansammlungen anziehen) oder wirtschaftlichen Aktivitäten dienen, welche die Stadt periodisch (Tages-, Wochenmärkte und dergleichen) mit ihrer näheren und fernen Umgebung in Kontakt bringen sollen. Das können auch unbefestigte Plätze in Form von Parks, künstlichen oder natürlichen Wasserflächen sein. Platzfolgen Besonders hochwertige Stadträume weisen Platzfolgen auf. Dies erfordert allerdings städtebauliche Kunst, die man in den Siedlungen des 20. Jahrhunderts vergeblich sucht. Wir finden diese Platzfolgen häufig in den hochwertigen mittelalterlichen Städten, wie etwa jenen in der Toskana. Wasser Nicht nur auf Plätzen, wo es immer Brunnen geben sollte, spielt das Wasser im Siedlungsraum eine wichtige Rolle. Offene Wasserläufe entlang und in den Straßen tragen zur Aufenthaltsqualität bei. Die Versiegelungswut der Straßenbauer des 20. Jahrhunderts hat viele lebendige Wasserläufe in Kanälen verschwinden lassen, um Platz für den Autoverkehr zu schaffen. Damit wurde ein wichtiger Teil zur lebendigen Gestaltung der Siedlungen unter Asphalt und Beton begraben. Diese Bäche und Wasserläufe sind wieder zu öffnen und zu renaturieren. Wasser soll fließen, die Autos stellen wir vor der Siedlung ab. Viele Städte liegen an Flüssen oder Seen. Im vergangenen Jahrhundert hat man vielfach die Ufer technisch verbaut und häufig entlang der Ufer Fahrbahnen angelegt und damit der Bevölkerung den Zugang zum Wasser abgeschnitten. Damit wurde diese hochwertige Erholungszone meist vernichtet. Eine wichtige städtebauliche und verkehrsplanerische Aufgabe besteht heute darin, diese Verkehrsbauten zu entfernen, die Ufer zu renaturieren und den Wert der offenen Wasserflächen für die Menschen nutzbar zu machen. Fuß- und Radwege passen zu dieser Umgebung, nicht aber Fahrbahnen oder Parkplätze. Verkehrswege zweiter Ordnung Das Primärnetz der Fußgeher und Radfahrer wird in einer nachhaltigen Großstadt von dem grobmaschigeren Sekundärnetz für den öffentlichen Verkehr ergänzt. Dieser verbindet durch die Haltestellen entfernte, zentrale Funktionen der Siedlungen. Die Umgebung der Haltestellen soll entsprechend hohe Erreichbarkeitspotenziale mit Funktionen aufweisen, die über den lokalen Bereich hinausgehen. Die Maschenweite dieses Netzes beträgt 500 bis 1.000 m – je nach Organisation, Topografie und Möglichkeiten.

220

Netze

Abb. 145 a u. b Belebte Plätze und Straßen in einer lebendigen Stadt (Leipzig).

Abb. 146 a u. b Wasser in der Stadt sollte mehr sein als ein Gestaltungselement, wie in Den Haag (links) oder als dekorativer Brunnen in Leipzig.

Abb. 147 a u. b Seoul im Würgegriff der Stadtautobahn (links) und nach der Wiederbelebung der Flusslandschaft und der Stadt (rechtes Bild). Der Bürgermeister von Seoul hat erkannt, wie er seine Stadt auf die Zukunft vorzubereiten hat.

221

Zur Evolution der Städte

Abb. 148 a u. b In die Umgebung voll integrierte Haltestellen sichern Erreichbarkeit und soziale Ausgewogenheit und tragen zur lokalen Kaufkraft bei (Hongkong und Wien).

Entlang dieser Verbindungswege zweiter Ordnung sind auch Haltemöglichkeiten anzuordnen, die das Be- und Entladen größerer Gütermengen zur Versorgung und Verteilung in das Primärnetz der Fußgeher und örtlichen Geschäfte ermöglichen. Der Gütertransport muss aber keineswegs mit Autos vorgenommen werden, wenn schienengebundene Verkehrsmittel zur Verfügung stehen. Dieses Netz verbindet die Siedlung mit dem regionalen, nationalen oder internationalen Netz des öffentlichen Verkehrs. Die Netze erster und zweiter Ordnung sind weitgehend frei von Autoverkehr. Verkehrswege dritter Ordnung Das sind Fahrbahnen, die Parkplätze oder Parkhäuser miteinander und mit dem Umland verbinden. Die Maschenweite wird bei 1 km oder mehr liegen. In diesem Netz hat der Planer die Aufgabe, den Straßenraum entsprechend den Vorgaben und Zielen der Planung aufzuteilen. Entsprechend den Wahrscheinlichkeitsverteilungen für die Breitenbedürfnisse sind die Querschnitte zu gestalten. Da in Siedlungen mit einem nachhaltigen Verkehrssystem der Bedarf nach Automobilität minimal ist, gibt es auch keine Notwendigkeit, Fahrbahnen mit mehr als einem Fahrstreifen pro Richtung vorzusehen oder gar Autobahnen. Integration schienengebundener öffentlicher Verkehrsmittel in die Siedlungsräume Straßenbahnen, Stadtbahnen und Eisenbahnen haben die Städte in Europa im 19. Jahrhundert entscheidend beeinflusst, ihre Ausdehnung und Entwicklung ermöglicht. Um historische Zentren mit leistungsfähigem Schienenverkehr auszustatten, wurden – wie in London – U-Bahnen geplant und gebaut. Der Vorteil ist die geringe Beeinflussung der Oberfläche. Die Nachteile sind die großen Abstände zwischen den Haltestellen, die Zugänge mit der Höhenüberwindung, die hohen Kosten und der Verlust der direkten Beziehung zwischen den Benutzern und den Geschäften in den Straßen. In der Zeit fehlender 222

Netze

Abb. 149 a u. b Hohe Einstiege sind eine Barriere für die Fahrgäste.

Systemunkenntnisse wurden viele Straßenbahnen entfernt, weil man der Meinung war, sie störten den Autoverkehr – ein, wie sich später schmerzhaft zeigte, schwerwiegender Fehler für die Städte und ihre Wirtschaft. Mangelhafte Fahrzeugkonstruktionen und Behinderungen durch den Autoverkehr entmutigten die Benutzer des öffentlichen Verkehrs und verstärkten den Drang zur Autobenutzung. Bis heute ist eine gewisse Unbeholfenheit bei der Integration schienengebundener öffentlicher Verkehrsmittel festzustellen. Auch die Kons­ trukteure haben oft noch nicht erkannt, welche Bedürfnisse der öffentliche Verkehr in einer Stadt zu erfüllen hat. Die Fahrzeuge sind teilweise immer noch schwer zugänglich, wenn die Plattformen 900 mm und mehr über der Fahrbahn liegen. Informationssysteme entsprechen oft nicht den Bedürfnissen der Nutzer. Die erforderliche Wegweisung von und zu den Haltestellen fehlt oder ist mangelhaft. Lichtsignale werden noch immer für den Autoverkehr optimiert. Schienengebundener Verkehr ist in den öffentlichen Raum einzubinden, weil: • Die allgemeine Sicherheit verbessert wird. • Der öffentliche Verkehr – immer – wahrnehmbar ist, damit das Bewusstsein beeinflusst wird. • Die Flächen für den Autoverkehr reduziert werden. • Zwang für die Konstrukteure entsteht, stadtkonforme Fahrzeuge zu entwickeln. • Einzugsgebiete damit um ein Vielfaches größer werden. • Haltestellenabstände kürzer werden und die Bedienungsqualität steigt. • Signalanlagen auf die Straßenbahnen abgestimmt werden müssen. • Haltestellen für alle besser sichtbar und damit sicher sind. • Alternativen zum Auto immer sichtbar angeboten werden. • Die Zugänglichkeit und Sicherheit verbessert werden. • Der öffentliche Raum urbaner wird. 223

Zur Evolution der Städte

Abb. 150 a u. b Sicherer und niveaugleicher Zugang zu Straßenbahnen kann durch Verbreiterung der Gehsteige oder Anrampung der Fahrbahnen erfolgen.

Zwei Entwicklungen sind derzeit zu beobachten: a) Anpassung der urbanen Strukturen an die Verkehrsmittel – eine Strategie in Städten, in denen Straßenbahnen wieder neu konzipiert werden. Kennzeichen sind die erhöhten Bahnsteige an den Haltestellen. b) Anpassung der Straßenbahnen an die bestehende urbane Struktur. Diese Lösung passt das Verkehrsmittel dem Organismus der Stadt so an, dass es von jedem leicht benutzt werden kann. Das logische Ergebnis sind Niederflur-Straßenbahnen mit einer Bodenhöhe, die der Bordsteinhöhe entspricht. Wie die Arkaden dem Fußgeher Schutz bieten, ist es von Vorteil, wenn die mit dem öffentlichen Verkehr ankommenden Verkehrsteilnehmer auch wettergeschützt zu ihren weiteren Zielen kommen können. Eine Überbauung oder Überdachung der Haltestellenbereiche des öffentlichen Verkehrs ist daher grundsätzlich anzustreben. Straßenbahnen sollen nicht als Barriere ausgebildet werden, sondern sind so in den Querschnitt zu integrieren, dass das Überqueren der Fahrbahnen leicht möglich ist. Optimale Haltestellenabstände Bei Kenntnis menschlichen Verhaltens in verschiedenen Umgebungen lässt sich bei Annahme einer Gleichverteilung der Fahrgäste die optimale Entfernung zwischen den Haltestellen bestimmen. In Wien liegen die Haltestellen in Entfernungen zwischen 270 und 380 m, im optimalen Bereich unter den gegebenen Umweltverhältnissen. Kann man die Stadt autofrei machen, entfällt bei gleichbleibender Bedienungsqualität die Hälfte der Haltestellenhalte.

224

Netze

Akzeptanzfunktionen für autofreie und autobelastete Umgebungen 10,00

Maßstab für Akzeptanz

9,00 8,00 7,00 6,00 5,00 4,00 3,00 2,00 1,00 0,00

0

500

1500 1000 Haltestellenbestand in m

2000

2500

Abb. 151 Haltestellenabstände und Akzeptanzfunktionen unter Berücksichtigung menschlichen Realverhaltens in ­verschiedener Umgebung. Bei einer durch den Autoverkehr belasteten Umgebung der Haltstellen liegt das Optimum der Abstände bei ca. 350 bis 400 m. In einer autofreien Umgebung wird die höchste Akzeptanz bei einer Haltestellen­ entfernung von ca. 750 m erreicht. Damit kann der ÖV bei gleicher Attraktivität für die Nutzer effizienter betrieben werden.

Abb. 152 a u. b Straßenbahn in Mittellage wirkt als zusätzliche Barriere. Durch die Anordnung eines begehbaren Fahrbahnteilers wird die Barriere ­abgebaut, die Straßenbahngleise liegen in den ­Fahrstreifen des Autoverkehrs.

225

Zur Evolution der Städte Abb. 153 Selbst in steilem ­Gelände sind Schienenverkehrsmittel seit Jahrzehnten erfolgreich im Einsatz (Beispiel: Zahnradbahn in Lissabon).

Zonen für das Wohlbefinden der Menschen? Entsprechend dem Diagramm in Abb. 11, ist der Fußgeher gegen zu hohe oder zu niedrige Temperaturen, Niederschlag, Lärm etc. zu schützen. Wir haben daher mit dieser Art der Netzgestaltung einen Großteil der Bedürfnisse für das Wohlbefinden der Fußgeher erfüllen können. Das Bedürfnis nach dem Kontakt mit der Natur kann allerdings nur durch entsprechende Bepflanzung erfolgen. Diese Bedürfnisse können daher durch Bäume, gärtnerische Gestaltung, Bepflanzungen in, auf (Dachgärten) und an den Objekten zum Wohlbefinden beitragen. Sitzgelegenheiten zur Kommunikation oder Kontemplation stellen neue Herausforderungen an die Planung der Umgebung. Die Gestaltung der Stadt wird zur Kunst und nicht zur gedankenlosen Anwendung technischer Richtlinien, deren Grundlagen man nicht kennt. Sichtbereiche, Orientierungspunkte und Vielfalt haben einander zu ergänzen und kennzeichnen die Einmaligkeit und Wiedererkennbarkeit jedes Teiles einer Stadt. Die oft schematische und für die Verwaltung bequeme Interpretation der Bauordnungen muss aufgegeben werden, wozu man qualifizierte Fachleute braucht. Öde stiehlt den Menschen den Inhalt ihrer Lebenszeit und wäre daher als krimineller Akt entsprechend zu bestrafen. Prüfkriterien Im Flächenwidmungsplan: • Wahl des richtigen Maßstabes (1 : 100–1 : 500 statt, wie bisher üblich, 1 : 5.000)! • Prüfung auf Netzdichte, vor allem des Primärnetzes für Fußgeher, hinsichtlich maximaler Abmessungen • Prüfung der Erreichbarkeit der Haltestellen des öffentlichen Verkehrs • Prüfung auf Platzanordnungen – maximale Platzentfernungen –, Vielfalt und Funktionalität der Gestaltung 226

Netze

• Prüfung auf Abmessungen der Gassen und Straßen auf lebendige gegliederte Gestaltung • Prüfung der Bewegungsqualität anhand der Breitenverteilungen und Begegnungsfälle, insbesondere an den Schnittpunkten der Wege • Prüfung auf Autofreiheit der Strukturen durch Nachweis von Parkplatzfreiheit, Lärmkarten, Luftqualität, Sicherheit der Mobilität, Stadtbild • Prüfung der Funktionalität für Kinder, Alte, Behinderte • Prüfung des Bedarfes an externer Energie (Minimierung des Aufwandes) • Prüfung, ob ausreichend Grün und Baumbestand vorgesehen sind • Umwidmung von Bauland in Grünland als Voraussetzung für die Einführung einer Versiegelungsabgabe (1. Phase der Umsetzung)58 Es mag auffallen, dass keine Prüfkriterien für die Nutzungsmischung aufscheinen. Diese sind nun nicht mehr nötig, da sich bei Erfüllung dieser Kriterien die Nutzungsmischung wegen der lokalen Bindung an Mobilitätszeit von selbst einstellen wird. Die „Stadt der kurzen Wege“ ist das logische Ergebnis dieses Verkehrssystems, das die „Strukturen der langen Wege“ gar nicht mehr bedient. Der Maßstab des Flächenwidmungsplanes ist der Aufgabenstellung anzupassen. Der heute übliche Maßstab für Flächenwidmungspläne (1 : 5.000) ist dafür nicht geeignet! Mit diesem Instrument kann man keine Stadt menschengerecht gestalten, ebenso wenig, wie man mit einer Kettensäge eine Mandeloperation durchführen kann. Gestaltung der Verkehrsflächen Eine durchgehende Ebene für Fußgeher und Radfahrer ist für alle Netze der ersten und zweiten Kategorie Standard. Verkehrsteilnehmer werden hier nicht durch Höhenunterschiede voneinander getrennt. Der Fußgeher bestimmt die Geschwindigkeit. Die Materialwahl der Oberflächen hat den Gegebenheiten zu entsprechen. Fußgeher bevorzugen strukturierte Oberflächen, Radfahrer glatte, griffige.59

58 Die bisherige Praxis der Raumplanung und Flächenwidmung ist gekennzeichnet von einer rücksichtslosen Umwidmung von billigem Grünland in teures Bauland, womit das Wunder einer Wertschöpfung durch Umfärbung in den Flächenwidmungsplänen sozusagen aus dem Nichts erfolgt. Die Zunft der Raumplanung und des Städtebaues muss, wenn sie einen Beitrag zur Beseitigung der Fehlentwicklungen der vergangenen Jahrzehnte beitragen soll, mit dem gleichen Selbstverständnis Bauland in Grünland umwidmen, denn Grünland ist ökologisch, sozial und auch ökonomisch – im Sinne einer Systemökonomie – wertvoller als ein wegen der Erhaltung auf ständige Zuschüsse angewiesenes verbautes Land. In einer ersten Phase zu einer hochwertigen nachhaltigen Raumentwicklung kann die Einführung der Versiegelungsabgabe (Kapitel „Flächenversiegelungsabgabe“) auf jene Flächen eingeführt werden, die Grünland sein sollen. 59 Knoflacher, H. (1995): Fußgeher- und Fahrradverkehr. Planungsprinzipien. Böhlau Verlag Wien – Köln – Weimar.

227

Zur Evolution der Städte

Gestaltungselemente In Arkaden, Grünzonen, Plätzen und Gassen sind Sitzgelegenheiten so vorzusehen, dass sie sich harmonisch in das Gesamtsystem einfügen. Brunnen gehören in allen Kulturen zu Elementen des öffentlichen Raumes. „Klimaanlagen“ in Form von Bäumen sind in allen Klimazonen wichtige funktionale Elemente, die für Sonnenschutz, Filterung der Luft, als Sauerstoffspender und Luftbefeuchter einzusetzen sind.

Abb. 154 a u. b Der schönere, aber international weniger beachtete Teil von Shanghai links, Straßenbahngleise in Scheveningen rechts.

Da sie darüber hinaus noch den Lebensraum für viele Tiere bieten, liefern sie, in der richtigen Zusammensetzung, auch einen Beitrag zur Unterhaltung jener, die mit offenen Augen durch die Welt gehen. Wo sieht man heute noch in der Stadt Kinder, die sich beim Klettern auf Bäume zusätzliche Geschicklichkeit und Beweglichkeit aneignen? Ergebnisse Der Großteil eines so gestalteten Gebietes ist frei von Autoabgasen und Verkehrslärm. Durch die Bindung der Mobilitätszeit in der Nähe müssen auch Arbeitsplätze, Geschäfte und andere Aktivitäten wieder in die Nähe rücken. Es entsteht damit die Voraussetzung für ein dichtes Netz von informellen Sozialkontakten, das die Integration verschiedener Altersschichten und Bevölkerungsgruppen erleichtert: • Die Straßen der ersten Kategorie sind frei von allen Motorfahrzeugen, auch von Mopeds und Motorrädern. • Wenn sich Motorfahrzeuge in diesem Netz aufhalten, dann nur für physisch Körperbehinderte und als Einsatzdienste. • Müllabfuhr gibt es in diesem Straßennetz mit Motorfahrzeugen nicht. Müll kann nur im Straßennetz der Kategorie zwei oder drei abgeholt werden. Es wird daher weniger Müll geben, dafür aber in den Geschäften mehr von den Produkten der Umgebung in einer viel größeren Vielfalt, die man sich heute überhaupt nicht mehr vorstellen kann. 228

Netze

• Aus den informellen Kontakten entstehen nicht nur Entdeckungen in der Nähe, sondern auch in der näheren und weiteren Umgebung. In der gleichen Zeit erlebt man mehr als bei langen Fahrten mit dem Auto in einer vergifteten Umgebung. • Die Sensibilität für Qualität – nicht nur bei Waren, auch für das Leben – nimmt wieder zu. Stadt und ihr Innenraum Die formelle Trennung der Stadt in private und öffentliche Räume, wie sie heute in vielen Ländern üblich ist, hat weder so klare Grenzen wie auf den Plänen, noch entspricht sie der lebendigen Dynamik einer Stadt. Sie ist vielmehr ein Produkt der Diktatur des Autoverkehrs über das Leben in der Stadt – mit dem Ergebnis, dass bei zunehmender Motorisierung immer größere Teile des Allgemeingutes Straße von den Autofahrern Zug um Zug für das Abstellen der Fahrzeuge der öffentlichen Nutzung entzogen und besetzt, privatisiert wurden. In Ländern, in denen die Motorisierung niedrig ist, wird der öffentliche Raum für private Nutzungen häufig von Straßenhändlern okkupiert. Die Motive sind aber völlig unterschiedlich. Im ersten Fall geht es um Luxus, Bequemlichkeit und Rücksichtslosigkeit, im zweiten Fall meist um das Überleben. Für den Luxus der Maschine werden 20 m² öffentlicher Raum „privatisiert“, für das nackte Überleben eines Menschen oder einer Familie muss oft 1 m² genügen. (Straßenhändler in Indien brauchen nicht mehr als 1,2 m² Fläche.) Die Abwertung des wertvollen öffentlichen Raumes zum Zweck des Autofahrens mit allen negativen Folgewirkungen ist ein Luxus der Autobesitzer, der im Widerspruch zur Evolution der Städte steht. Der riesige Flächenanspruch des heutigen Autoverkehrs (in Städten ca. 200–300 m2 je Fahrzeug) widerspricht: • Der ökonomischen Effizienz der Nutzung knappen Raumes – wegen der Kosten, welche die Gesellschaft zu tragen hat. • Der ökologischen Effizenz, weil die Natur auf diesem Raum für sich und den Menschen viel mehr tun könnte. • Der sozialen Effizenz, weil den Menschen der Raum für die Sozialkontakte genommen wird. • Neben dem Parken sind es die hohen Geschwindigkeiten individueller technischer Verkehrsmittel und die mangelnden Fähigkeiten des Menschen, damit verantwortlich umzugehen, die diesen Flächenbedarf erfordern.60 In einer nachhaltigen Stadt dient der öffentliche Raum den Bewohnern und Besuchern und kann daher niemals ein Raum für Maschinen sein. Die Belebung des Raumes kann nur durch Fußgeher erfolgen. Deren kultivierter Umgang lässt auch vielfältige Funktionen im 60 Knoflacher, H. (2007): Grundlagen der Verkehrs- und Siedlungsplanung: Verkehrsplanung. Böhlau Verlag Wien – Köln – Weimar.

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Zur Evolution der Städte

und um den öffentlichen Raum zu, ohne die lebensnotwendigen sozialen Funktionen einzuschränken. Auf den Hauptachsen ergänzt der öffentliche Verkehr auf der Oberfläche die Mobilitätsbedürfnisse für größere Distanzen. Der Anteil der Verkehrsflächen (abgesehen von den Plätzen) liegt in der Regel kaum über 10 bis 15 % der bebauten Fläche. Teile davon können auch überbaut werden, um durch vielfältige, organische Gestaltung von Gassen und Straßen die Fläche für die benötigten Plätze zu schaffen. Diese von vielfältigen Funktionen genutzten Räume, in Verbindung mit der lokalen Wirtschaft, beleben die Stadt. Es braucht aber auch Räume der Kontemplation, der Spiritualität – von der Natur bis zu den Stätten von Glaubens- und Religionsgemeinschaften. Öffentlicher und privater Raum haben in Städten immer fließende Grenzen, die in der Stadtplanung zu beachten sind, um die Dynamik und Lebensfähigkeit zu erhalten. In diesem Übergangsbereich entsteht die sogenannte Informalität städtischer Aktivitäten, die man aufgrund ihrer Lebensnähe nicht in starre Rahmen fassen kann – wie alles, was Leben ist. Informeller Sektor Der Anteil der informellen Wirtschaft steigt weltweit und beschäftigt in manchen Gebieten, wie etwa in Mexico City, oder in den Städten Indiens und Afrikas mehr als zwei Drittel der Bewohner. Dieser Bereich entsteht aus der Selbsthilfe von Menschen als Gegenreaktion auf die Ausbeutungsstrukturen internationalen Kapitals, das über die Politik auch zunehmend Städte dazu zwingt, Steuerbelastungen für die Menschen zu erhöhen und Sozialleistungen zu kürzen. Diesem Zugriff entziehen sich immer mehr Menschen. Sie weichen in Sektoren informeller Wirtschaft aus – eine Überlebensstrategie. Die Mechanismen, die heute weltweit in diesem Sektor bestehen, sind aber bereits den Konzernstrukturen ähnlich. In den Konzernen sind es die hemmungslose Gier der Anleger und die alle Grenzen menschlicher Fairness sprengende Gewinnsucht der Konzernmanager, in der informellen Wirtschaft geht es meist ums Überleben, obwohl es manche Persönlichkeiten aus diesem Sektor nicht nur zu erheblichem Einkommen, sondern auch zu großem öffentlichem Ansehen und Ämtern bringen können. Dieser Sektor wird in den großen Metropolen weiter wachsen und muss in der Planung berücksichtigt werden. Der informelle Sektor versorgt die Bevölkerung preisgünstig mit allem Notwendigen, bis hin zu den sogenannten „Markenwaren“, die nicht selten ihre Herkunft herkömmlich definierter Kriminalitäten, wie dem Diebstahl, zu verdanken haben. Das ohne Arbeitsaufwand wachsende Kapital, das im virtuellen Raum und in der Politik einen dominierenden Platz einnimmt, hat – systemisch betrachtet – die gleiche Wurzel: nämlich Diebstahl. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass diese Art des Diebstahls an Menschen und Natur legalisiert, gefördert, von der üblichen Politik unterstützt und im großen Stil praktiziert wird. Würde man den informellen Sektor aus den Städten der Welt abziehen, wären viele heute nicht mehr lebensfähig. Die Voraussetzung für diese Polarisierung bilden – wie auch bei anderen Verhaltensweisen – immer Strukturen. 230

Netze

Wenn es aber in der Planung der Städte gelingt, eine Zusammenarbeit zwischen öffentlichem und privatem Raum auf breiter Basis und kleinsten Einheiten, die noch überschaubar und verantwortbar sind, zu erzielen, kann man diesen Konflikten vorbeugen. Je geringer die systembestimmende Geschwindigkeit einer Stadt ist, umso geringer werden die Spannungen als Folgen dieser Polarisierung sein. Öffentliche Räume sind daher so weit als möglich der privaten Vorsorge der umliegenden Bewohner anzuvertrauen, wenn sie auch von der öffentlichen Hand unterstützt und geordnet werden. Die Gebäude sind wieder auf den öffentlichen Raum hin zu orientieren und dürfen sich ihm nicht verschließen, wie es aufgrund des Autoverkehrs mit seinen Lärm- und Abgasbelastungen zwangsläufig der Fall war. Dies schafft dann die Voraussetzung für die Wahrnehmung öffentlicher Verpflichtung durch den Einzelnen. Aus der heute trennenden und zerschneidenden Funktion öffentlicher Räume werden diese wieder zu verbindenden Elementen – was sie früher immer waren und in einer nachhaltigen Stadt auch sein müssen. Stadt und Kriminalität Abb. 155 Autobesitz und Kriminalität gehen Hand in Hand und wären klare Indikatoren, um nach den tiefer liegenden Ursachen zu suchen. Da die Kenntnis der evolutionären ­Beziehungen in den einschlägigen Disziplinen fehlt, kommt man meist über Symptomanalysen nicht hinaus. Und damit kann es auch keine Lösung der Probleme geben.

In ihrer Evolution hat die menschliche Gesellschaft Moral und Ethik entwickelt und diese zum Teil in Glaubensregeln und Gesetzen niedergeschrieben. Dieser Prozess, aus Erfahrung und Erprobung entstanden, bildet die Voraussetzung für die Fortsetzung menschlicher Evolution und Zivilisation – und damit auch für die Zukunft der Städte. Er stellt einen in231

Zur Evolution der Städte

trinsischen Wert der Gesellschaft dar, der im Zuge der heutigen allgemeinen Umwandlung aller Werte in Geld von den künstlichen Gebilden der Kapitalgesellschaften zunehmend systematisch abgebaut, vernichtet wird. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn auch andere Schichten der Bevölkerung versuchen, ebenso mühelos an unverdientes Geld zu gelangen. In einem so gearteten gesellschaftlichen Klima entwickelt sich in den Städten, wo die soziale Kontrolle genauso fehlt wie hinter verschlossenen Türen, Kriminalität in großem Stil. Wie sich die Konzerne Steuergeschenke von den Staaten, den Geldern der EU oder sonstigen Einrichtungen holen, nimmt sich der kleine Ganove instinktiv diese Strukturen zum Vorbild und erpresst sowie bestiehlt den Nächsten. In beiden Fällen entwendet man den Menschen ihr Kapital, das diese zur Selbstgestaltung ihrer Zukunft brauchen. Kriminalität ist aber nicht nur das Ergebnis fehlenden sozialen Ausgleiches, sondern auch der Gesellschaftskultur und der Religionen. Sie entsteht nicht nur durch äußere Umstände, sondern vor allem durch Abtrennung des Menschen von der Gemeinschaft. Diese Abtrennung ist beim Fußgeher, Radfahrer und dem öffentlichen Verkehr nicht möglich, der Mensch bleibt in der Gemeinschaft, die Sozialkontakte bleiben (oft unfreiwillig) bestehen und werden sogar noch gefördert oder erzwungen. Diese drei Verkehrsarten sind daher stadtverträglich, weil sie das soziale Netz der Beziehungen nicht zerstören oder nur geringfügig einschränken. Der Autofahrer wird durch die Abkapselung von der Umgebung vom sozialen Netz physisch abgeschnitten, die Innen- und Außenwelt werden voneinander getrennt. Wo die Außenwelt nicht nach seinen Vorstellungen gestaltet wird, erscheint sie ihm feindlich und fördert jene Trennung in der Gesellschaft, aus der sich auch die Kriminalisierung einer Stadt entwickeln kann. Der rasche Ortswechsel über die evolutionär wahrnehmbaren Grenzen hinweg erleichtert diesen Prozess. Eine der beliebtesten Ausreden, um das Auto benützen „zu müssen“, besteht darin, den öffentlichen Verkehr als unsicher und gefährlich darzustellen. Man kommt dort mit Bevölkerungsschichten in Kontakt, die man sonst meiden würde – ein grundlegender Irrtum. Wer beide Verkehrsformen kennt, weiß, dass es weder im öffentlichen Verkehr noch zwischen Fußgehern und Radfahrern zu jener Rücksichtslosigkeit und Unmenschlichkeit kommt, wie sie zwischen Autofahrern, aber auch gegen andere Verkehrsteilnehmer üblich ist. Kriminalität im großen Stil, die im öffentlichen Raum aber nicht wahrgenommen wird, ist der heutige Autoverkehr, dessen Opfer als „Verkehrstote“ und „Verletzte“, wie in der Opferstatistik von Kriegen, nicht aber in den Kriminalstatistiken aufscheinen. Dies zeigt, wie wenig die Gesellschaft bisher in der Lage war, dieses neue Verkehrsmittel geistig und moralisch zu bewältigen. Kriminalität ist besonders dort anzutreffen, wo der öffentliche Raum sozialer Kontrolle entzogen wird, wie beim Autoverkehr. Das Beispiel Bogotá beweist, wie die Kriminalität selbst unter schwierigsten Verhältnissen durch Umgestaltung des öffentlichen Raumes in einen Lebensraum für Menschen reduziert werden kann. 232

Netze

Straßenhändler und Kriminalität Von Vertretern der Städte werden der „illegale“ Straßenhandel und die Kriminalität meist gemeinsam gesehen und miteinander verknüpft. Räume, in denen sich Straßenhändler aufhalten, sind in ihren Augen grundsätzlich gefährlich. Abb. 156 a u. b Straßenhändler sichern durch ihren Überblick ein sicheres Umfeld für ihre Kunden. Sie leisten unentgeltlich Sicherungsaufgaben für die ­Öffentlichkeit.

Dies zeigt nur die Gedankenlosigkeit und Sachunkenntnis dieser „Oberschicht“ gegenüber der Realität. Straßenhändler sind in ihrer Existenz abhängig von der Sicherheit des Raumes für ihre Kunden. Wird dieser Raum durch kriminelle Handlungen entwertet, gefährlich gemacht, bleiben die Kunden aus, zunächst die zahlungskräftigen Touristen und in der Folge auch die lokalen. Sie ziehen sich in ihre Autos und damit in Shopping-Malls zurück. Genau das streben aber die internationalen Konzerne an, die ja mit den Straßenhändlern im Wettbewerb stehen. Sie wünschen sich gefangene, abhängige Konsumenten in ihren Einkaufsghettos. Straßenhändler sind vielmehr Garanten für die Sicherheit im öffentlichen Raum, weil sie ihre Augen „überall haben“. Sie sind die besten „Überwachungskameras“ mit dem besten Informationsinhalt. Wird den Straßenhändlern ihre wichtige Öffentlichkeitsfunktion zu­ gestanden und auch bewusst geschätzt, kann sich die Stadt Unsummen an Sicherungs- und Sicherheitskosten sparen. Der informelle Raum übernimmt damit Teile formeller systemer233

Zur Evolution der Städte

haltender Aufgaben. Wie überall in lebendigen Systemen, gibt es auch hier ein Optimum. Es ist nicht auszuschließen, dass bei entsprechender Zahl und Dichte der Menschen im öffentlichen Raum auch die Zahl der Taschendiebe ansteigen wird – wiederum eine Folge von Rissen und Brüchen im Sozial- und Bildungssystem. Wenn als einziger Sinn des Lebens grenzenlose Kapitalakkumulation, Geiz und Gier übrig bleiben, darf man sich nicht wundern, wenn diese Formen des Verfalls und Raubbaues „von oben nach unten durchsickern“. Wie das Verkehrssystem nur wirksam über die Ursachen des Problems, die Menschen und die Parkplätze kontrolliert werden kann, kann auch die Kriminalität nur an ihren Wurzeln wirksam behandelt werden. Gesellschaftliche Ethik, Familienstrukturen, soziale Integration und der Respekt vor der menschlichen Würde, unabhängig von Besitz oder Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppierungen oder Rassen, sind dafür wichtige Werte. Die Förderung des Wohlwollens – und nicht der Missgunst – sind Ansatzpunkte, um mit diesem wachsenden Problem städtischer Gesellschaften fertigzuwerden. Auch dies ist ein Teil des Verkehrssystems und der Siedlungen, des Nachrichtenverkehrs, dessen Qualität von dem Inhalt, der Kohärenz und der Häufigkeit der Botschaften bestimmt wird. Die gleiche trügerische Sicherheit gilt auch für die Autofahrer, die den Parkplatz beim Haus mit der allgemeinen Unsicherheit im Straßenraum verteidigen und dabei übersehen, dass nicht nur sie auf der Fahrbahn bis zu ihrem Objekt kommen, sondern auch jeder Kriminelle viel leichter hin- (und mit allem, was er raubt, wieder weg-) kommt. Autofreie Bereiche sind daher grundsätzlich sicherer als die von der Raum- und Städteplanung betriebene Erschließung mit dem Auto und für das Auto. Mit der Autoerschließung wird die Kriminalität über dieses Verkehrsmittel bis zum letzten Objekt erleichtert. Die Prinzipien für eine sichere Stadt der Zukunft • • • •

Schutz der einzelnen Haushalte und Familien vor geparkten Fahrzeugen Schutz aller Firmenstandorte im städtischen Gebiet vor geparkten Fahrzeugen Schutz aller Geschäfte vor nahe gelegenen Parkplätzen Schutz aller Freizeiteinrichtungen vor Parkplätzen

Unter diesen Bedingungen kann sich eine Stadt lokal integrieren und global wettbewerbsfähig werden. Diese physische Trennung aller städtischen Funktionen von der zersetzenden Kraft und der alles andere übersteigenden Abhängigkeit des Menschen vom Auto ist die Voraussetzung für die zukünftige soziale Stabilität. Es ist zu betonen, dass dies die Voraussetzung, aber keineswegs noch die Garantie für die soziale Stabilität bildet. Autos sind daher aus den grundlegenden Lebenskreisläufen der Stadt, die von Menschen bewohnt, bewirtschaftet und belebt wird, auszuschließen. Ihr Einsatz ist auf jene Bereiche einzugrenzen, wo sie Vorteile für die Stadt bringen – nicht aber dort, wo sie Vorteile für den Einzelnen und Nachteile für die Stadt und ihre Bewohner bedeuten. 234

Eine neue Finanzordnung

9.16 Eine neue Finanzordnung

Finanzen sind nichts anderes als Energieströme auf einer hohen (abstrakten und damit unsicheren) Ebene der gesellschaftlichen Evolution. Diese Ebene wird oft nur von einem gemeinsamen Glauben erhalten und hat immer weniger Bezug zur realen Welt. Trotzdem ist sie wichtig, weil ein Großteil der Bevölkerung an dieses System glaubt, wodurch dieses seine Wirksamkeit erhält. Die Energieströme in Form der Finanzen sind im Siedlungs- und Verkehrswesen ebenso neu zu organisieren wie die Gebäude. Die vorherrschende einseitige, massive finanzielle Förderung des Autos durch Bewohner, Betriebe, Kommunen und Staaten ist ebenso verfehlt wie die einseitige Förderung von Wohnbauten. Derzeit wird durch die Finanzvorschrift jeder, der eine Aktivität in der Stadt ausüben will, gezwungen, Parkplätze in unmittelbarer Nähe in ausreichender Zahl zu errichten. Stadt- und Finanzverwaltung zwingen die Bewohner und Wirtschaftstreibenden zu einer Einrichtung, die in der Folge all jene Gesundheits-, Verkehrs- und Wirtschaftsprobleme erzeugt, die Menschen und Betriebe heute aus der Stadt und die Städte in den Ruin treiben – Zusammenhänge, die man nicht begriffen zu haben scheint. Wer nicht bereit ist, Parkplätze auf dem eigenen Grundstück zu errichten oder entsprechende Ersatzlösungen zu finanzieren, und damit zum Verkehrsproblemerzeuger und Sozialparasiten an der Stadt und der Gesundheit der Menschen wird, muss eine sogenannte „Ausgleichsabgabe“ leisten. Man nimmt offensichtlich an, dass jede menschliche Aktivität für alle Zeiten grundsätzlich mit einem Parkplatz ausgestattet werden muss und eine Stadt ohne Parkplätze nicht mehr denkbar ist. Diese Bestimmung zeigt in erschreckender Weise die Verschiebung der Werte durch den tiefen Zugriff des Autos auf die Strukturen der Menschen, auch wenn diese nicht Autofahrer sind.

Abb. 157 a u. b Der Parkplatz in der Nähe ist der Ruin der Stadt – und des Landes.

Die bestehenden Finanzordnungen erzeugen – ebenso wie die bestehenden Bauordnungen – jene Verkehrsprobleme, die später in den Symptomen des Fließverkehrs, des Staus oder auch der Abgasbelastungen und der Verkehrsunfälle, der Kriminalität und der Stadtfinanzen in Erscheinung treten. 235

Zur Evolution der Städte

Konsequenzen für die Praxis Diese Finanzordnung ist grundlegend zu korrigieren: • Einführung einer Versiegelungsabgabe zum Ausgleich für die lebenserhaltenden Leistungen der Natur. • Kosten nach dem Verursacherprinzip für Planer, Entscheidungsträger und Nutzer (Bewohner und Firmen). • Systemfinanzierung und Einbeziehung aller Folgekosten statt Projekt- oder Objektfinanzierung. • Verkehrserregerabgabe für falsch situierte Parkplätze statt der Ausgleichsabgabe für nicht errichtete Parkplätze. • Lebenszykluskosten bei allen Maßnahmen, um Energie- und Ressourcendurchfluss zu minimieren. • Prämie für Müllvermeidung und Wasserrecycling, Kosten für Müllerzeugung und „Wasserverbrauch“. • Verkehrserregerabgabe für Parken am Objekt. Auf dem Markt hat der Preis dem Wert zu entsprechen. Eine mögliche Option wäre die Einführung einer Parkgebühr in Relation zum öffentlicher Verkehr: Am Objekt parken kostet das Vielfache einer Jahreskarte des ÖV. Wer sein Fahrzeug in Garagen abstellt, die weiter entfernt liegen als die Haltestelle des öffentlichen Verkehrs, bezahlt die Parkgebühr plus die Hälfte der Kosten einer Zeitkarte des öffentlichen Verkehrs (Monatskarte oder Jahreskarte, je nach Abrechnungszeitraum). Er erhält dafür auch eine Jahreskarte des öffentlichen Verkehrs. Er erhält die Hälfte der Jahreskarte umsonst. (Die zweite Hälfte der Jahreskarte stammt aus dem Zielbereich seiner PKW-Fahrt, wo die gleichen Prinzipien eingeführt werden.) Diese Lösung ist daher kostenneutral, da am Quell- und Zielort die gleichen Prinzipien gelten. • Die verbleibenden Einnahmen aus der Verkehrserregerabgabe werden zur Revitalisierung der Städte, zum Umbau öffentlicher Räume in Lebensräume für Menschen, zur Förderung der lokalen Wirtschaft und des öffentlichen Verkehrs eingesetzt. Gehen die Einnahmen zurück, weil sich die Parkraumorganisation durchsetzt, verschwinden auch die Zuschüsse. Die Stadt hat sich auf einem höheren ökologischen, ökonomischen und sozialen Niveau organisiert und kann damit ihre Funktionen mit geringeren Kosten effizienter erfüllen. Wird hingegen der Parkplatz in unmittelbarer Nähe in Anspruch genommen, dann erhöht sich die Abgabe entsprechend der exponentiellen Widerstandsfunktion um das Vielfache. Da dieses Prinzip jeweils am Quell- und Zielort gilt, wird die Kostenbelastung für die falsche Situierung des Parkplatzes exponentiell ansteigen und dafür sorgen, dass der stadtbildende Zusammenhalt auch über das Finanzsystem wirksam wird. Der Benutzer erhält jeweils am Ausgangspunkt eine Jahreskarte, hingegen muss der Nutzer am Zielort, geht man 236

Neue Organisationsformen, die dem Problem entsprechen

von der Wohnung als Quellort aus, die Abgabe ohne entsprechende Kompensation entrichten. Betriebe, Shoppingcenter und dgl. haben lediglich die Abgabe zu leisten, ohne dass sie dafür durch Fahrberechtigungen für den öffentlichen Verkehr entschädigt werden. Sie haben allerdings die Möglichkeit, ihre Standorte stadtkonform zu wählen. Dies gilt natürlich auch für alle Wohnbaugenossenschaften. Die Energie, die derzeit die Städte zerstört, wird in Form der Verkehrserregerabgabe dazu benutzt, Städte wieder in Form der Ausgleichsabgabe wirtschaftlich, sozial und ökonomisch gesunden zu lassen. Neben der physischen Ebene, welche die Ursache der Probleme darstellt, weil es sich um eine energetische Ebene handelt, kann damit auch die finanzielle Ebene wieder stadtkonform gestaltet werden. Die Städte verfügen auf diese Art und Weise in dieser kritischen Phase über genügend Kapital, um die notwendigen Gesundungs- und Restrukturierungsmaßnahmen einzuleiten und umzusetzen. Die Zuschüsse zum öffentlichen Verkehr können schrittweise mit der steigenden Zahl der Nutzer verringert bzw. ganz eingestellt werden, weil dieser in einer funktionierenden Marktwirtschaft unter faireren Marktbedingungen auch eigenwirtschaftlich operieren kann.

9.17 Neue Organisationsformen, die dem Problem entsprechen Technische Verkehrssysteme, wie der öffentliche Verkehr und der Automobilverkehr, wurden in Unkenntnis der Wirkungsmechanismen bisher sowohl im städtischen Gebiet als auch auf Landes- und Bundesebene getrennt und isoliert voneinander behandelt. Dies hat nicht nur zu wirtschaftlich suboptimalen Lösungen geführt, sondern auch zu unglaublichen Fehlinvestitionen und zur Produktion von hohen Defiziten beim öffentlichen Verkehr wie auch im Autoverkehr. Beide Verkehrsträger sind funktionell miteinander verbunden und müssen dies auch organisatorisch sein, wenn es zu einer sinnvollen Systemlösung kommen soll. Dies setzt aber voraus, dass eine Organisation in allen Gebietskörperschaften eingerichtet werden muss, die für beide Verkehrsträger verantwortlich ist. Die heutigen Gepflogenheiten, sich ein Auto zuzulegen, irgendwo ein billiges Grundstück zu suchen, um sich dort niederzulassen, oder eine Firma mit Parkplatz irgendwo anzusiedeln, widersprechen nicht nur den Grundsätzen einer geordneten, funktionierenden gesellschaftlichen Struktur, sondern sind auch Charakteristika rücksichtslosen Individualismus auf Kosten der Allgemeinheit. Was man braucht, ist nur eine Zufahrtstraße zur Autobahn, aber keine Stadt mehr in der Nähe. Die Bau-, aber auch die Verkehrsbehörden gehen heute offensichtlich davon aus, dass – wie es Hitler eingeführt hat – überall und immer ausreichend Parkplätze zur Verfügung stehen müssen; eine wirtschaftlich und demokratiepolitisch unverantwortbare Haltung. 237

Zur Evolution der Städte

Jene Stelle, die den öffentlichen Verkehr organisiert, die Haltestellen festlegt und die Fahrpläne bestimmt, hat daher, um die Chancengleichheit zu wahren, auch die Verpflichtung – und Verantwortung –, den Parkraum zu organisieren, wobei sie die strukturellen und finanziellen Randbedingungen konsequent einzuhalten hat und für alle Abweichungen verantwortlich ist.

Abb. 158 Aus der heutigen individuellen Optimierung von Aktivitäten und Autos kann keine vitale Stadt mehr entstehen, sie zerfällt in ihre Einzelfunktionen. Der Zusammenhalt geht verloren.

Zwar kann sich am freien Markt jedermann ein Auto nach seinem Geschmack kaufen, will er es allerdings zulassen, dann hat er den Parkplatz entsprechend den angeführten Bedingungen zu wählen. Wer in Zukunft sein Fahrzeug in einer richtig situierten Garage unterbringt, erhält damit auch die entsprechenden niedrigeren Kostenvorschreibungen. Wer Wert darauf legt, sein Fahrzeug daheim unterzubringen, hat dafür die dem Marktwert dieser Position entsprechenden Gegenleistungen zu erbringen. Hier taucht der Einwand auf, dass damit eine unsinnige Administration verbunden wäre, welche die Freiheit des Einzelnen einschränkt. Gerade die vom Kommunismus befreiten Staaten sind diesbezüglich außerordentlich sensibel. Der Denkfehler dabei: Man verwechselt die für das Funktionieren eines technischen Systems immer notwendige Organisation und Kontrolle einer Maschine mit der Freiheit des Menschen. Hier wird ein technisches Verkehrsmittel so organisiert, dass es möglichst wenig Schaden an den Menschen und den Siedlungen anrichten kann. Der Mensch hingegen wird befreit. Erst durch diese Organisationsform erhält der Mensch wieder seine Freiheit zurück! Nur wenn man denkt wie ein 238

Effizienz in der Stadtplanung

Autofahrer, also durch und für das Auto, weil man vom Autovirus befallen ist, und nicht wie ein Mensch, kann es zu dieser fundamentalen Verwechslung kommen. (Nach Kenntnis der herrschenden Wirkungsmechanismen ist dieser Umstand für uns nicht überraschend, wissen wir doch um die evolutionär bedingte tiefe Verbindung von Mensch und Auto, aus der eine neue Spezies entstanden ist, die auch ganz anderes Denken hervor gerufen hat – einschließlich der Professoren.)

9.18 Effizienz in der Stadtplanung Effiziente Nutzung der Fläche ist eine Grundbedingung qualifizierter Planung. Dies resultiert nicht nur aus den grundlegenden Prinzipien ingenieurmäßigen Arbeitens, den lebenserhaltenden Prinzipien der Natur und Evolution, sondern wird in der Planung durch Gesetze zwingend verlangt (um deren Einhaltung sich aber niemand kümmert). Raumordnungsgesetze schreiben maximale Effizienz in Bezug auf Inanspruchnahme der Flächen, Verbrauch von Ressourcen und Energie vor. 61 In der Praxis finden diese Ziele aus verschiedenen Gründen keine Beachtung. Dies liegt einerseits in der mangelhaften Ausbildung der PlanerInnen, die auf diese grundlegenden Forderungen kaum oder keinen Bezug nimmt und deshalb bei den theoretischen und prakti61 Raumordnungsgesetze der österreichischen Bundesländer. Gesetz vom 20. März 1969 über die Raumplanung im Burgenland (Burgenländisches Raumplanungskonzept) StF: LGBl.Nr. 18/1969 einschließlich aller Ergänzungen, Novellierungen und Änderungen. Gesetz vom 24. November 1969 über die „Raumordnung“ (Kärntner Raumordnungsgesetz – K-ROG) StF: LGBl Nr 76/1969 einschließlich aller Ergänzungen, Novellierungen und Änderungen. Gesetz vom 18. Februar 1977 über die Raumordnung im Land Niederösterreich: (NÖ Raumordnungsgesetz 1976 – NÖ ROG 1976) StF: LGBl.Nr. 13/1977 einschließlich aller Ergänzungen, Novellierungen und Änderungen. Landesgesetz vom 6. Oktober 1993 über die „Raumordnung“ im Land Oberösterreich (OÖ Raumordnungsgesetz 1994 – OÖ ROG 1994) StF: LGBl.Nr. 114/1993 einschließlich aller Ergänzungen, Novellierungen und Änderungen. Salzburger Raumordnungsgesetz 2009 – ROG 2009 StF: LGBl Nr 30/2009 einschließlich aller Ergänzungen, Novellierungen und Änderungen. Steiermärkisches Raumordnungsgesetz 2010 – StROG 2010 StF: LGBl. Nr. 49/2010 einschließlich aller Ergänzungen, Novellierungen und Änderungen. Tiroler Raumordnungsgesetz 2006 StF: LGBl. Nr. 27/2006 einschließlich aller Ergänzungen, Novellierungen und Änderungen. Gesetz über die „Raumplanung“ im Land Vorarlberg (Raumplanungsgesetz) StF: LGBl.Nr. 39/1996 einschließlich aller Ergänzungen, Novellierungen und Änderungen. Wiener Stadtentwicklungs-, Stadtplanungs- und Baugesetzbuch vom 25. November 1929 (Bauordnung für Wien – BO für Wien) StF: LGBl. Nr. 11/1930 einschließlich aller Ergänzungen, Novellierungen und Änderungen.

239

Zur Evolution der Städte

schen Arbeiten dafür keine Instrumente zur Verfügung stellt, andererseits fehlen dafür auch die grundlegenden Indikatoren, an denen man die Ziele messen kann. In jedem Flächenwidmungs- und Bebauungsplan müssen sämtliche Effizienzindikatoren, die in den Raumplanungszielen definiert sind, in nachvollziehbarer Form angeführt werden, was derzeit nicht der Fall ist. Damit kann jeder Praktiker die Ziele quantitativ festlegen und das Ergebnis seiner Planungen auch mithilfe dieser Indikatoren relativ bewerten und prüfen. Im folgenden Kapitel werden aus einfachen Beziehungen einige für die Erfüllung der Raumplanungsziele erforderliche Indikatoren beispielhaft für den Verkehr dargestellt. Indikatoren für die Bewertung der Inanspruchnahme öffentlichen Raumes durch Verkehrsmittel l0

Länge des Verkehrsmittels im Ruhezustand

lV

Länge des Verkehrsmittels in Bewegung mit der Geschwindigkeit v (Fahrzeuglänge und Länge des Zeitabstandes)

bV

Breite des Verkehrsmittels in Bewegung, bV > b0 … (Breite bei Stillstand)

∆t

Zeitabstand zum vorausfahrenden Verkehrsmittel

tA

Benötigte Zeit zum Durchfahren der „belegten“ Länge lv bei Geschwindigkeit v

Ф

Belegung des Verkehrsmittels (Personen pro Verkehrsmittel)

Daraus ergeben sich: 1.) Dynamischer Flächenverbrauch AV AV (v > 0) = bV · (l0 + ∆ t · v) = bV · lV [m2 ]

2.) Spezifischer, dynamischer Flächenverbrauch A'V AV

A'V = Φ  [m2 / P]

3.) Spezifische, dynamische Flächeneffizienz η'A Φ

η' = A   A

V

[ P / m2 ]

4.) Spezifische, zeitbezogene, dynamische Flächeneffizienz ηA *

η

*= A



lV Φ Φ   [ P / ( m2 · s ) ]  mit tA = v   [ s ] = AV · tA   bV · (l0+ ∆ t · v) · lV   v 240

Effizienz in der Stadtplanung

Spezifischer, dynamischer Flächenverbrauch Zur Berechnung des spezifischen, dynamischen Flächenverbrauches A'V in Quadratmetern pro Person wurden folgende Annahmen für die Berechnung getroffen: FG

RF

PKW

PKW

PKW

Bus

Bus

Bus

Ф=

1,0

1,0

1,0

1,3

5,0

1,0

5,0

50,0

l0 =

1,0

2,0

4,5

4,5

4,5

12,0

12,0

12,0

bV =

1,0

1,2

2,5

2,5

2,5

3,0

3,0

3,0

∆t =

0,0

1,0

2,0

2,0

2,0

2,0

2,0

2,0

Tab. 8 Ausgangwerte für die Berechnung (man kann diese je nach den Gegebenheiten jeweils anpassen).

Damit kann man den spezifischen, dynamischen Flächenverbrauch bestimmen. Dieser nimmt linear mit der Geschwindigkeit zu. Die langsamen Verkehrsteilnehmer, wie Fußgeher und Radfahrer, sind daher bei den höheren Geschwindigkeiten nicht vertreten.

Abb. 159 Spezifischer, dyna­mischer Flächenverbrauch (ohne Unterbrechung und Bremsen) in Abhängigkeit von der ­Geschwindigkeit.

Fußgeher und der voll besetzte Bus sind die effizientesten Verkehrsteilnehmer bzw. Verkehrsmittel im städtischen Verkehr. Der voll besetzte PKW mit 5 Personen und der Radfahrer folgen mit deutlichem Abstand. Wiederum mit deutlichem Abstand kommt der PKW mit 1,3 Personen bzw. dem Fahrer allein, also das derzeit übliche Verhalten der Autofahrer. Im öffentlichen Raum sind daher aus Gründen der Effizienz dem Fußgeher und dem gut besetzten öffentlichen Verkehrsmittel absolute Priorität einzuräumen, gefolgt vom Radfahrer. Mit sehr großem Abstand kommt beim heutigen Besetzungsgrad erst der PKW.

241

Zur Evolution der Städte

Spezifische, dynamische Flächeneffizienz in Personen pro Quadratmeter Die Ergebnisse der Berechnungen zeigt das folgende Diagramm: Abb. 160 Flächeneffizienz der Verkehrsteilnehmer als Funktion der Geschwindigkeit.

Höchste Flächeneffizienz haben Fußgeher und voll besetzte öffentliche Verkehrsmittel. Mit großem Abstand folgen Radfahrer und der voll besetzte PKW. Der normal besetzte PKW ist beinahe noch um eine Größenordnung schlechter. Aus der Wegzahl, gegliedert nach Zwecken, kann damit über den Modal Split die Effizienz der jeweiligen Planungsvariante der Flächenwidmung oder Bebauung berechnet werden. Konsequenzen für die Planung der Verkehrsorganisation in öffentlichen Räumen • Absolute Priorität für Fußgeher und den öffentlichen Verkehr. • Das Auto ist nach diesen Effizienzindikatoren grundsätzlich aus dem öffentlichen Raum auszuschließen. • Da der Radfahrer bezüglich des Parkens um eine Zehnerpotenz günstiger ist als der PKW – selbst wenn dieser mit 5 Personen besetzt ist, ist der Radfahrer an dritter Stelle mit deutlichem Vorsprung vor dem PKW zu bevorzugen. • Die Ergebnisse dieser Berechnungen zeigen den eklatanten Widerspruch zur bisherigen Flächenaufteilung des öffentlichen Raumes. Die spezifische, zeitbezogene, dynamische Flächeneffizienz Quadratmetersekunde

η * in Personen pro A

gibt an, welche Mobilitätsform die effizienteste im öffentlichen Raum, bezogen auf die Zeitnutzung, ist. Pro Quadratmeter öffentlicher Raum entfallen pro Stunde 3.600 m2/s (Quadratmetersekunden). Je mehr Personen dieses Potenzial nutzen können, umso effizienter ist die Nutzung des öffentlichen Raumes. Die Nutzung hängt natürlich auch von der Geschwindigkeit ab. 242

 

Effizienz in der Stadtplanung

Abb. 1600 

Spezif. zeitbezogene dynamische Flächeneffizienz bei 5 km/h

0,600

Personen/(m2s)

0,500 0,400 0,300 0,200 0,100 0,000

FG

RF

PKW W PKW 1,3 3PPKW 5PBus leer B us 5P Bus s 50 P

 

Abb. 161 Bei Abb. 161 1  5 km/h hat der Fußgeher mit Abstand die größte spezifische, zeitbezogene, dynamische Flächen­ effizienz, diese liegt bei 0,5 Personen pro m²/s. Radfahrer und der voll besetzte Bus mit 50 Personen liegen bei rund 1/5 dieses Wertes. Der PKW mit Lenker liegt um eine Zehnerpotenz darunter und weist daher nur rund 2 % der spezifischen, zeitbezogenen, dynamischen Flächeneffizienz des Fußgehers auf.

Spezif. zeitbezogene dynamische Flächeneffizienz bei 30 km/h Spezif. zeitbezogene dynam. Flächeneffizienz

bei 30 km/h

0,180 0,160 Personen/(m2s)

0,140 0,120 0,100 0,080 0,060 0,040 0,020 0,000

RF

PKW PKW 1,3P PKW 5P Bus leer Bus 5P Bus 50 P

 

Abb. 162 Bei Geschwindigkeiten von 30 km/h ist der voll besetzte Bus mit 50 Personen die effizienteste Nutzung Abb. 162  öffentlichen Raumes. Der Wert liegt bei 0,17 Personen pro m2/s. Der Radfahrer liegt an zweiter Stelle mit rund 1/3 dieses Wertes und der PKW liegt wiederum um eine Zehnerpotenz ungünstiger. Auch der voll besetzte PKW liegt nur bei der Hälfte des Radfahrers. Spezif. zeitbezogene dynam. Flächeneffizienz bei 50 km/h

rsonen/(m2s)

0,160 0,140 0,120 0,100 0,080

243

0,020 0,000

RF

PKW PKW 1,3P PKW 5P Bus leer Bus 5P Bus 50 P

 

Zur Evolution der Städte

Abb. 162 

Abb. 163 Bei 50 km/h und auch 100 km/h ist der voll besetzte Bus mit 50 Personen die effizienteste Nutzung öffentlichen Raumes für schnelle Mobilität. Der PKW, mit 1,3 Personen besetzt, liegt bei 1/20 bzw. 1/25 dieses Wertes, also bei 4 bis 5 % des Busses.

Spezif. zeitbezogene dynam. Flächeneffizienz bei 50 km/h

Personen/(m2s)

0,160 0,140 0,120 0,100 0,080 0,060 0,040 0,020 0,000

PKW

PKW 1,3P PKW 5P Bus leer Bus 5P Bus 50 P

 

Flächeneffizienz [P / ( m² * s)]

Abb. 163  0,6

Abb. 164 Spezifische, zeit­ bezogene, dynamische Flächen­ effizienz und Geschwindigkeit.

0,5 0,4 0,3 0,2 0,1 0,0

0

20

40

60

80

100

Geschwindigkeit [km/h]

FG 1 Bus leer 1

RF 1 PKW 1,3P 1,3

PKW 1 PKW 5P 5

 

Abb. 164 

Alle Indikatoren mit Raumbezug zeigen, dass die Nutzung öffentlichen Raumes durch AuKörpereigner Energieaufwand in kJ tos5.000 aus Effizienzgründen massiv zurückgedrängt beziehungsweise ausgeschlossen werden muss. Der Autoverkehr kann daher nur jene von anderen Verkehrsteilnehmern nicht voll ge4.000 nutzten Teile im Raum des öffentlichen Verkehrs mitbenutzen, solange er diese nicht stört. 3.000 Über den Geschwindigkeiten aufgetragen������������������������������������������� ,15 min steht der Fußgeher an der Spitze der Flä1 h 2.000 cheneffizienz, gefolgt vom voll besetzten Bus mit 50 km/h, gefolgt vom Radfahrer und dem 6 h PKW 1.000 mit 5 Personen. Der Bus mit 5 Personen und der PKW, mit Lenker oder 1,3 Personen besetzt, haben derart niedrige Werte der zeitbezogenen, dynamischen Flächeneffizienz, dass 0 sie hier nicht spezifisch wurden. Damit ergibt sich für den Städtebau und die Fußgeher Radfahrer dargestellt MIV ÖV   Stadtplanung eine klare Priorität bei der Organisation öffentlicher Räume, also der VerAbb. 165  kehrsflächen:   • Fußgeher, gefolgt von Radfahrern, haben im niedrigen Geschwindigkeitsbereich absolute Priorität. • Für höhere Geschwindigkeiten eignen sich öffentliche Verkehrsmittel mit hohem Besetzungsgrad. 244

0

20

40

60

80

100

Geschwindigkeit [km/h]

FG 1 Bus leer 1

Effizienz in der Stadtplanung

RF 1 PKW 1,3P 1,3

PKW 1 PKW 5P 5

 

Abb. 164 

Abb. 165 Der körpereigene Energieaufwand der wichtigsten Verkehrsträger.

Körpereigner Energieaufwand in kJ 5.000 4.000 3.000

15 min 1 h

2.000

6 h

1.000 0 Fußgeher Radfahrer

MIV

ÖV

 

Abb. 165   

Energieeffizienz der Verkehrsträger

100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0

Effizienz in % des Fußgeher/Radfahrer

Abb. 166 Auf den Zweck ­bezogene Energieeffizienz der Verkehrsträger (interne + externe Energie), relativ zu den nicht motorisierten Teilnehmern.

Abb. 166 

Fußg/Rf

ÖV Stadt

ÖV Region

MIV 1,5

Exergie der Verkehrsträger in kJ

• Der PKW hat in beiden Fällen eine nachgeordnete Funktion, will man wissenschaftlich 800.000 solide – den Systemwirkungen entsprechend – Stadt- und Verkehrsplanung betreiben, die 700.000 knappe Güter, wie den öffentlichen 600.000 Raum, gerecht aufteilt. Indikator Energieaufwand

500.000

15 min

400.000

1 h

Dieser wird in den Raumplanungszielen direkt und indirekt angesprochen. 300.000 6 h Im Verkehrssystem tritt Energie200.000 in zwei Formen auf: 100.000 a) Körperenergie der Verkehrsteilnehmer b) externe Energie für die Herstellung0der Verkehrsanlagen, den Bau der Verkehrsmittel, die ErFußgeher Radfahrer MIV ÖV   haltung der Verkehrsanlagen und Verkehrsmittel sowie als Antriebsenergie der Verkehrsmittel Abb. 167 

Im Gesamtsystem müsste man noch weitere Formen der Energie hinzurechnen, wie sie aus den Überwachungsaufgaben, Reparaturleistungen – nicht nur der Verkehrsmittel, sondern auch der Unfallopfer –, dem Energieaufwand für Exekutive sowie zur Abwehr der freigesetz245

Zur Evolution der Städte

Effizienz in % des Fußgeher/Radfahrer

ten Schallenergie entstehen und zu erhöhtem Bauaufwand für Lärmschutzfenster etc. führen. Die hier vorgenommene Abschätzung vernachlässigt diesen Anteil, sodass der Vergleich noch Energieeffizienz der Die Verkehrsträger immer günstig für den Autoverkehr ausfällt. Bezugsgröße der Körperenergie ist aufgrund 100 der Tatsache, dass die Mobilitätszeit eine Systemkonstante ist, die Zeiteinheit. 90 80 Der Aufwand der Körperenergie ist beim Fußgeher – relativ gesehen – am größten, beim 70 Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel, sitzt er darin, am kleinsten. Beim öffentlichen Verkehr 60 eingesparte 50 Körperenergie macht sich erst bezahlt, wenn der Anteil der Fußweg-, Warteund Umsteigezeit deutlich unter 25 % der Gesamtreisezeit liegt. Die Einsparung an����� Kör40 perenergie 30 im öffentlichen Verkehr wird leider mit Zu- und Abgangswegen, Wartezeiten sowie Umsteigewegen sehr schnell kompensiert. 20 Technische Verkehrsmittel benötigen aber externe Energie. Diese wurde aus den Lebens10 0 einzelnen Verkehrsmittel62 berechnet. Umgelegt auf die Zeiteinheit, ergibt sich zyklen der Fußg/Rf ÖV Stadt ÖV Region MIV 1,5 folgendes Ergebnis: Abb. 166  Abb. 167 Der Anteil externer Energie beim Autoverkehr beträgt das weit mehr als 100-Fache der Körperenergie. Beim Radfahrer kann der Anteil externer Energie vernachlässigt werden.

Exergie der Verkehrsträger in kJ 800.000 700.000 600.000 500.000

15 min

400.000

1 h

300.000

6 h

200.000 100.000 0 Fußgeher Radfahrer

MIV

ÖV

 

Abb. 167 

Externe und interne Körperenergie ergeben addiert den Energieaufwand pro Zeiteinheit. Um die in dem Diagramm nicht mehr sichtbaren Unterschiede der Einsparungen an Körperenergie zwischen Fußgehern und Autofahrern zu kompensieren, wird daher das 300bis 400-Fache an externer Energie aufgewendet. 62 Pfaffenbichler, P. (1993): Energie- und Schadstoffbilanz bei der Herstellung und Verteilung verschiedener Verkehrsmittel bis zur Auslieferung an den Kunden. Diplomarbeit am Institut für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik der Technischen Universität Wien. Macoun, Th. (1998): Wien auf solaren Pfaden. Potenziale erneuerbarer Energien im Verkehrssektor des Raumes Wien; Stoffflüsse und deren Steuerungspotenziale. Diplomarbeit an der Technischen Universität Wien und der Universität für Bodenkultur Wien.

246

Effizienz in der Stadtplanung

Technische Verkehrsmittel benötigen aber neben der Antriebsenergie auch noch Energie zur Herstellung, Erhaltung, Reparatur und auch noch für die viel aufwändigere Infrastruktur. Umgelegt auf den Lebenszyklus, ergibt sich bis zur Verschrottung und zum Recycling für die einzelnen Verkehrsmittel folgendes Bild: 63 Energieaufwand im System pro Zeiteinheit

Abb. 168 Um die geringe Menge Körperenergie (schwarz) ­einzusparen, wird bei technischen Verkehrsmitteln eine ungleich ­höhere Menge an externer ­(fossiler) Energie aufgewendet!

Energieaufwand im System pro Zeiteinheit

kJp/min kJp/min

2000 1800 2000 1600 1800 1400 1600 1200 1400 1200 1000 1000 800 800 600 600 400 400 200 200 0 0

Fußgeher

Fußgeher

Abb. 168 

Radfahrer

MIV

Radfahrer

ÖV

MIV

ÖV

 

Abb. 168  1,6

P rim ären erg ie in M J p ro P latzkilom eter P rim ären erg ie in M J p ro P latzkilom eter

Abb. 169 Energie ausgewählter Verkehrsmittel unter Einbeziehung von Herstellung und Verteilung, Infrastruktur und Verschleiß sowie Bewegungsenergie63 (Pfaffenbichler 1993).

1,4 1,2 1

0,8

1,6 1,4

Herstellung und Verteilung

Herstellung und Verteilung Infrastruktur und Verschleiß Infrastruktur und Verschleiß reine Bewegungsenergie reine Bewegungsenergie

1,2 1 0,8

0,6 0,6 0,4 0,4

U -B ah n U -B ah n S ch n ell.ESisen ahn ch n bell.E isen b a h n

Fuß Fuß

S trab a S trab a

R ad (A l) R ad (A l)

(C r-M o ) RRaadd (C r-M o )

taddtb tbuuss SSta

lektrobbuuss EElektro

M Moofa fa

itybuus CCityb

SSoolar lar

MMooto torrad rrad

H yb rid H yb rid

EElektro lektro

D iesel D iesel

B en z in B en zin

2000 cm 32000 cm 3-

15 00-200 0 cm 3 15 00-200 0 cm 3

0 0

100 0 cm 3 100 0 cm 3 10 00-150 0 cm 3 10 00-150 0 cm 3

0,2 0,2

Abb. 169  Abb. 169   

  Für den Planer, der die gesetzlichen Auflagen der Raumordnungsziele zu erfüllen hat, ergibt sich daraus der maßgebende Indikator „Energieeffizienz“. Ebenso wenig, wie man in der Siedlung durch maximal energieeffiziente Einzelobjekte, die isoliert stehen, ein Optimum erzielen kann, sondern durch geschlossene Bauweise und optimale Integration der Objekte in die Topografie und die Stadt den Aufwand für zusätzliche technische Verbesserung minimieren

63 Pfaffenbichler, P. (1993): Energie- und Schadstoffbilanz bei der Herstellung und Verteilung verschiedener Verkehrsmittel bis zur Auslieferung an den Kunden. Diplomarbeit am Institut für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik der Technischen Universität Wien.

247

 

Zur Evolution der Städte

muss, liegt die Lösung für die Minimierung des Energieaufwandes für den Verkehrsaufwand in der optimalen Integration jedes Objektes und jeder seiner Funktionen in die gegebenen Strukturen. Diese selbst sind, wenn möglich, wieder auf die neuen Strukturen abzustimmen. Gegenseitige Anpassung, wie in der Evolution in die Ober- und Unterschichten, führt daher erst zu dem gewünschten Effekt. Daraus ist zu erkennen, dass das effizienteste Verkehrsmittel im städtischen Gebiet der Fußgeher ist, gefolgt vom Radfahrer. Mit einigem Abstand folgt an dritter Stelle der öffentliche Verkehr. Der motorisierte Individualverkehr ist extrem ineffizient und liegt im Prozentbereich des Fußgehers, wie schon mehrfach bewiesen. Aus diesen beiden fundamentalen Indikatoren – Flächen- und Energieeffizienz – ergibt sich daher eine klare Prioritätenreihung: 1) Fußgeher 2) Radfahrer (deutliche Vorteile in der Energie- und Flächeneffizienz, annähernd wie der öffentliche Verkehr) 3) öffentlicher Verkehr 4) Autoverkehr – folgt erst mit enorm großem Abstand Nachhaltigkeit aus energetischer Sicht Langfristig können Städte nur erhalten werden, wenn sie ihre gesamte Energie aus erneuerbaren Quellen beziehen. Den heute riesigen Anteil an fossiler Energie, der allein für das schwerfällige technische Transportsystem erforderlich ist, wird man in Zukunft nicht aufrechterhalten können. Die Beziehung zwischen Dichte (Einwohner je Hektar) und Energieaufwand je Einwohner und Jahr ist reziprok. Je geringer die Dichte einer Stadt, umso größer ist der Aufwand an Mobilitätsenergie, um ihre Funktionen erfüllen zu können. Die Abb. 98 stellt eine Momentaufnahme eines globalen Prozesses dar, der sich in den vergangenen zwei Jahrhunderten entgegengesetzt zu einer nachhaltigen Entwicklung der Städte vollzieht. Städte mit einer geringen Dichte befinden sich evolutionär in einer vorurbanen Phase. Sie existieren nur durch die künstlichen Verwaltungsgrenzen und werden künstlich zusammengehalten. Erst durch das Sammeln von Erfahrungen ist herauszufinden, wann es überhaupt real zu einer Stadt kommen kann, die man als nachhaltig bezeichnen darf. Der kritische Wert wird durch die Menge an Energie für den Zusammenhalt – also die Menge an Mobilitätsenergie – bestimmt, die aus eigener Kraft der stadtbildenden Elemente den Menschen zur Verfügung steht. Die Integration der vorher angeführten reziproken Beziehung liefert den bekannten logarithmischen Zusammenhang zwischen Einwohnerdichte und Mobilitätsenergie. Ebenso lässt sich der Energieaufwand in Abhängigkeit von der beanspruchten Fläche der Einwohner darstellen.

248

Effizienz in der Stadtplanung

Fläche - Mobilitätsenergie Europa Australien, Asien 35.000 30.000 25.000

MJ/EW

20.000

y = 10259ln(x) + 7429,7 R² = 0,8805

15.000 10.000 5.000 0

-5.000 0 -10.000

2

4

6

8

10

12

48 m2 je EWFläche - Mobilitätsenergie Europa Australien, Asien 35.000

0,01ha/EW

30.000

 

25.000 Abb. 170 Der Energieaufwand der Bewohner steigt logarithmisch mit der für mechanische Mobilität verfügbaren Abb. 170  Energie. Nachhaltig können Städte nur sein, wenn sie von dieser nicht mehr abhängig sind. Damit erhält man die 20.000 Dichte einer nachhaltigen Stadt, die den Zusammenhalt durch die eigenen Bewohner + sicherstellt. y = 10259ln(x) 7429,7 (Sie braucht ­allerdings für die Versorgung der15.000 Bewohner zusätzliche externe Energie!) R² = 0,8805

MJ/EW

Dichte - Energiedefizit zur Entstehung einer Stadt 10.000

Fossile Energie die auf 1 MJ/a fehlt

40000 5.000 Damit hat man einen ersten Näherungswert für die Einwohnerdichte einer Stadt, deren 0 Bürger auf keine externe Energiezufuhr zur Erfüllung ihrer 6Aufgaben8 angewiesen sind. Es 2 4 10 12 -5.000 0 20000 sind dies rund 200 Einwohner je Hektar. Bezieht man die vorhandenen Einwohnerdichten -10.000 48 m2 je EW auf diesen Wert, normiert diese Beziehung und trägt dazu die derzeitigen Aufwände an fos0,01ha/EW   0 siler Energie für Mobilität auf, erhält man die folgende Beziehung:

0

0,2

Abb. 170 

0,4

-20000

0,6

0,8

1

1,2

1,4

1,6

Dichte - Energiedefizit zur Entstehung einer Stadt y = 20615ln(x) + 8826 Fossile Energie die auf 1 MJ/a fehlt

Abb. 171 Wie eine lebensfähige Stadt die Grenze zur Nachhal-40000 tigkeit „durchbricht“, zeigen dieses und das folgende Diagramm. -60000 Bei 140 bis 240 Einwohnern je Hektar liegen die Mindestwerte -80000 einer Stadt, die auf ihren „eigenen Beinen steht“.

Abb. 171   

R² = 0,7057

40000 20000 0

0

0,2

0,4

-20000 -40000

0,8

1

1,2

y = 20615ln(x) + 8826

R² = 0,7057 Einwohnerdichte je ha/200

-60000 -80000

Einwohnerdichte je ha/200

Abb. 171   

0,6

249

1,4

1,6

Zur Evolution der Städte

Verwendet man nur die Datenbasis der UITP, die im oberen Bereich der Einwohnerdichte sehr wenige Daten hat, erhält man einen Wert von mindestens 140 Einwohnern je Hektar, die notwendig sind, um ein Stadtgebilde organisch entstehen zu lassen, das ohne ständige Zufuhr von fossiler Energie lebensfähig ist. Auch dieser Zusammenhang ist logarithmisch und liefert uns im Schnittpunkt mit der x-Achse einen Wert, der den Beginn einer Stadtstruktur kennzeichnet. Der Nachteil dieser Trendlinie besteht aber darin, dass von den dicht bebauten Stadtgebieten nur Hongkong im Datensatz enthalten ist. Tatsächlich gibt es aber in nahezu allen Städten mit historischen Teilen zahlreiche Viertel, die mindestens die Einwohnerdichte von Hongkong aufweisen. Berücksichtigt man die Vielzahl lokaler Verdichtungen in historischen Städten, die Werte von Hongkong erreichen und auch darüber liegen, zeigt sich, dass eine Stadt erst bei einer Einwohnerdichte von über 240 Einwohnern je Hektar ohne ständigen Zufluss   fossiler Energie für Mobilität nachhaltig bestehen kann. Abb. 1711  Abb. 172 Der Schnittpunkt der Ausgleichskurve mit der x-Achse ist von der Datenbasis determiniert und daher davon abhängig.

Energied defizite besstehedner  Städte geggenüber 240  EW/haa 20.000 0

MJ/a

‐‐20.000

0

50

100

150

200

250 0

300

‐‐40.000 ‐‐60.000 ‐‐80.000 ‐1100.000

EEW/ha  

Abb. 1722 

Schlussfolgerungen • Um eine lebensfähige und von der ständigen Zufuhr fossiler Energie unabhängige Stadt zu planen, ist eine Mindestdichte von über 200 Einwohnern je Hektar erforderlich. • Auf der Grundlage quantitativer Indikatoren über Flächen- und Energieverbrauch ergibt sich die – gesetzlich zwingende – Forderung, dem Fußgeher bei der Siedlungs- und Verkehrsplanung im städtischen Gebiet absolute Priorität einzuräumen. • Für größere Distanzen sind der Radverkehr und – als Ergänzung – der öffentliche Verkehr in größeren Siedlungsstrukturen (Städten) oder einer für den Radverkehr ungeeigneten Topografie einzusetzen. • Der Autoverkehr ist aufgrund seiner Ineffizienz bezüglich Flächenanspruch und Energieaufwand grundsätzlich aus dem öffentlichen Raum auszuschließen.

250

Gegenargumente

Wir verfügen damit über drei grundlegende Indikatoren, die den Autoverkehr zwingend aus der Fläche ausschließen: a) Flächeneffizienz b) Energieeffizienz c) Verkehrssicherheit64

9.19 Gegenargumente „Man kann soziale Strukturen einer Stadt nicht über ein Verkehrssystem beeinflussen.“ Soziale Strukturen ergeben sich aus Beziehungen. Die Beziehung zwischen Mensch und Autofahrer liegt abseits der üblichen Spielregeln sozialer Kommunikation. Das ABGB65 wird dabei ausgeschaltet. Würde man es anwenden, wäre ohnehin kein Autoverkehr in den Städten, außer zum Liefern und für öffentliche Interessen, mehr möglich. Dafür regelt die StVO elementares Verhalten, um einander nicht beliebig zu töten und zu verletzen. Die Gesellschaft bewegt sich im Automobilbereich abseits aller elementaren Sozialbeziehungen. Erst durch die Domestizierung des Autos, durch entsprechende strukturelle Modifikation, kann im Verkehr überhaupt erst wieder von einem Sozialsystem in der Stadt gesprochen werden. Das Verkehrssystem beeinflusst die sozialen Beziehungen einer Stadt bis in den Mikrobereich, wenn den Kindern die sichere und gesunde Wohnumgebung genommen wird, wenn die informelle Vielfalt der städtischen Strukturen, welche Sozialkontakte fördert, verschwindet. Es gibt selten ein asozialeres Verhalten, als im Autoverkehr toleriert wird. Wo kann man Menschen sonst straflos mit Giftgasen gefährden, die Nachtruhe ungestraft bis und über die Gesundheitsgrenzen stören, fremde und oft auch hilflose Menschen gewalttätig bedrohen, wie Fußgeher auf der Fahrbahn? Das asoziale Verhalten fällt den Autofahrern ebenso wenig auf wie den Planern und Politikern, die Siedlungsstrukturen zulassen, die elementare Mängel städtischen Zusammenlebens aufweisen. Erst der Autoverkehr hat dieses ungeheure Ausmaß asozialen Städtebaues von heute ermöglicht. Erst der Autoverkehr schaffte die Voraussetzungen zum Sozialabbau durch die wirtschaftlichen Großstrukturen, die sich seiner bedienen – sowohl lokal, indem sie Kleinstrukturen mit hohem sozialem Wert, wie die Nahversorger, zerstören, als auch regional und international, indem sie mit dem Auto- und LKW-Verkehr grenzüberschreitend Sozialdumping betreiben. 64 Jansson, J. O. (2003): Counterfactual Analysis of Urban Transport Development. 16th International ECMT Symposium on Theory and Practice in Transport Economics. 29–31 October 2003; Budapest. 65 Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch.

251

Zur Evolution der Städte

Sozialverhalten entstand in einer evolutionär späten Schicht und kann daher durch das Auto so mühelos zu dessen Gunsten verändert werden. Wer soziale Argumente für das Beibehalten des Zustandes vorbringt, denkt daher gar nicht an das Sozialsystem der Menschen, sondern ist um das Sozialsystem der Autobenutzer besorgt. Dieses wurde ja von der Gesellschaft üppig ausgestattet, indem es den Prinzipien der Marktwirtschaft entzogen und mit einer Fülle von Privilegien in den „Straßenverkehrsordnungen“ gesetzlich abgesichert wurde. Real wird damit in den neuen Siedlungen ein teures Sozialsystem für den Autoverkehr auf Kosten des menschlichen Sozialsystems betrieben. „Stadtstruktur und Architektur haben nichts mit dem Verkehrssystem zu tun.“ Dies ist wohl einer der fundamentalen existierenden Irrtümer. Dieser Einwand kommt häufig vonseiten zeitgenössischer individualistischer und konstruktivistischer Architekten, die sich instinktiv in ihrer Existenz gefährdet fühlen, wenn man ihnen das Auto als Kompensationsmittel ihrer städtebaulichen Unfähigkeit zu entziehen droht. Menschen, also Fußgeher, verlangen von der Architektur eine kleinräumige, lebendige, vielfältige Gestaltung. Sie stellen die höchsten Ansprüche an die Architektur – nicht nur optisch, sondern auch funktional und im Kontext mit der Stadt. Dem Autofahrer ist die Architektur im Prinzip gleichgültig, weil er ja die Mängel an Ästhetik, Qualität, Funktionalität, die über das Objekt hinausgehen, kaum bemerkt und sie auch mit dem Auto jederzeit kompensieren kann. Die städtische Architektur der vergangenen fünf Jahrzehnte ist oft von einer unerträglichen Hässlichkeit und Einfalt charakterisiert und wäre in einer Gesellschaft von Fußgehern undenkbar. Das Auto ist die Voraussetzung für die heutige Primitivarchitektur, ihre Sprachlosigkeit und Stumpfsinnigkeit der Wiederholungen. Das Auto ist die Voraussetzung für die Narrenfreiheit in Raumplanung, Städtebau und Architektur, weil es die Beliebigkeit zulässt. Es ist die Voraussetzung für die Regression der Architektur auf ein Niveau, das es vorher noch nie gab, seit man den Begriff kennt. Die Aneinanderreihung nichtssagender Elemente und Objekte, wie sie heute stattfindet, ist nur mit dem Auto erträglich. Das Auto täuscht die Gesellschaft über die Unfähigkeit der heutigen Architekten, Stadtplanung und Städtebau zu betreiben, raffiniert hinweg. Solche Architekten lieben das Auto! Die Unfähigkeit der Architekten im Städtebau und die zusammenhanglose Ausdruckslosigkeit ihrer Bauten sind nur in einem System hoher Geschwindigkeiten des Autoverkehrs erträglich und möglich. Dies kann leicht an folgendem Beispiel demonstriert werden. Dieser Text, in Fußgehergeschwindigkeit gelesen, hat folgenden Inhalt: „Die Vielfalt der Gestaltung und der Reichtum der Angebote bilden den attraktiven städtischen Raum und schaffen damit die Voraussetzungen für die vitale Stadt und damit die Grundlage für die städtische Wirtschaft, auf denen sich urbane Zivilisation und Kultur entwickeln können.“ Verdoppelt man die Geschwindigkeit, kann man nicht die doppelte Zahl an Informationen aufnehmen, also geht die Hälfte davon verloren. Der Text liest sich dann wie folgt: 252

Gegenargumente

„De Veft dr Gsatn ud dr Rictm dr Agbt ble dn atatvn sätshn Ru ud shfe dmt de Vrustugn fr de vtl Sat ud dmt de Gudae fr de sätsh Wrshf, af dnn sc ubn Zvlsto ud Kltr etwcen knn.“ Dementsprechend sind auch die Anforderungen an die Gestaltung städtischer Räume anspruchslos. Man kann nur mehr versuchen, den Sinn aus den Fragmenten zusammenzusetzen. Nun erhöhen wir die Geschwindigkeit um den Faktor 10, was etwa der Geschwindigkeit des Autoverkehrs entspricht. Damit ist nur mehr jedes zehnte Symbol lesbar: „D t t R r A l r ä a f i z i d t a t i f u l d w n.“ Das ist aber beliebig interpretierbar. Und dementsprechend sind auch die Ansprüche für das Verständnis des komplexen Organismus Stadt verloren gegangen. Architektur und Raumplanung haben sich dem begeistert angepasst und die Verkehrsplanung war eifrig, die fehlenden Verbindungen in ihrer eintönigen Sprachlosigkeit mit den Fahrbahnen herzustellen. Der Unterschied der Inhalte zwischen der menschlichen Stadt und jenen Gebilden, die mit den technischen Verkehrssystemen – leider – entstanden sind, ist zwischen der ersten und letzten Version vermutlich nur quantitativ erkennbar. Bezüglich der städtebaulichen Qualität ergibt sich mindestens ein ebensolcher Quantensprung in der nach unten offenen Skala für die Unfähigkeit im modernen „Städtebau“. „Der Ausschluss des Autoverkehrs aus der Stadt ruiniert die städtische Wirtschaft.“ Gerade das Gegenteil ist der Fall. Die Stadt hat immer beengte öffentliche Räume. Diese kann man für die Wirtschaft nur dann effizient nutzen, wenn man pro Flächeneinheit die größte Zahl an Brieftaschen unterbringen kann – und das geht nur mit dem Fußgeher, dem Radfahrer und dem öffentlichen Verkehr. Schließt man den Autoverkehr aus der Stadt aus, entstehen attraktive Lebensräume für die Menschen und, wo sich Menschen bewegen, tragen sie Geld oder Einrichtungen zur Aktivierung von Geld mit sich. Fußgeher haben kurze Bremswege, ein weites Gesichtsfeld und brauchen keinen Parkplatz. Sie sind die idealen Partner der städtischen Geschäftswelt, weil sie ihr und der Gesellschaft unsinnige Investitionen, Infrastruktur, Parkgaragen und Parkmöglichkeiten ersparen. Dadurch wird bei minimalem Flächenangebot optimale Effizienz erzielt. Kein Wirtschaftstreibender könnte sich diesen Aufwand an unproduktiven Flächen und Aufwendungen leisten, die der Gesellschaft durch den Autoverkehr entstehen. Bei weniger Autos wäre mehr Geld für die lokale Wirtschaft verfügbar. Bei mehr Autos fließt es auf die Konten fremder Riesenkonzerne. Das Problem, mit dem die Stadtgeschäfte zu kämpfen haben, ist das in der Nähe der Wohnungen abgestellte Auto. Damit geht ihnen der traditionelle Kunde – der Fußgeher – verloren, der sich in einen Autofahrer verwandelt und nur mehr nach bequemen Parkplätzen sucht. Sie setzen sich daher für mehr Parkplätze ein – ein sinnloses Unterfangen, weil sie damit nicht nur die Stadt zerstören, sondern auch ihre Geschäfte umso schneller verlieren. Löst man hingegen die Menschen von der Autoabhängigkeit und führt gleichwertige Bedingungen, wie vorhin angeführt, zwischen Stadtgeschäften und Supermärkten auf der grünen Wiese ein, bleibt der Kunde in der Stadt und belebt die Wirtschaft. 253

Betriebe des Kleingewerbes (Anzahl)

Zur Evolution der Städte

Wien 1974,1976-78,1985-89

10000

Abb. 173 Mit zunehmender Motorisierung geht die Zahl der Betriebe (und Beschäftigten) zurück. Hier das Beispiel des Einzelhandels.

9000 8000 7000 6000

y = -15,058x + 11928 R² = 0,9514

5000 4000 3000 2000 1000 0

150

175

200

225

250

275

300

325

350

375

400

Motorisierungsgrad [PKW/ 1000EW]

 

Abb. 173 

Abb. 174 Je höher die Durchschnittsgeschwindigkeit des Straßenverkehrs, umso geringer die spezifische Wirtschaftsleistung der Region.

Müllmenge m3/Einwohner

Motorisierungsgrad Müllvolumen in m3 je Einwohner 0,9 0,8 0,7 0,6 0,5 0,4 0,3 0,2 0,1 0

0

100

200

300

400

Kfz je 1000 Einwohner

500

600  

Abb. 176 a 

Der Fußgeher war, ist und wird auch in Zukunft die Grundlage der Stadtwirtschaft bilden – oder es gibt keine. Der langsame Fußgeher zwingt allerdings die Betriebe zum Wettbewerb und wird wieder eine Vielfalt an Betrieben aktivieren. Diese werden derzeit von den Konzernen erdrosselt, weil die Konzerne die Nutznießer der schnellen Verkehrssysteme sind. Statt der Vielfalt der Waren, die zu entdecken sind, werden den Konsumenten Massenprodukte über das Fernsehen als Medium, in das den lokalen Geschäften der Eintritt verwehrt wird, eingeredet. Da diese auf dieser Art des total verfälschten Marktes keine Vergleichsmöglichkeiten mehr haben, können sie sich auch gegen das unerwünschte Angebot kaum wehren. Die geforderte Umstrukturierung des Parkraumes bewirkt gerade das Gegenteil: eine Belebung der lokalen Wirtschaft, eine Vergrößerung des Angebotes, eine Qualitätsverbesserung der Waren, größere Auswahl auf kleinem Raum und Beschäftigung in der Nähe. Was auf städtischer Dimension nachgewiesen wurde, trifft auch auf die Länder zu: Je schneller die Verkehrssysteme, umso geringer die Wirtschaftsleistung: eigentlich eine triviale Tatsache, kennt man die Wirkungsmechanismen. 254

Gegenargumente

„Die geforderte Umstrukturierung wird zu einer zunehmenden Arbeitslosigkeit führen.“ Dieses Argument ist wichtig, aber nicht zutreffend. Gerade die heutige Konzentration und industrielle Massenproduktion sind die Ursachen der strukturellen Arbeitslosigkeit in vielen Staaten der Welt. Langsame Verkehrssysteme schließen kurze Wirtschaftskreisläufe und erzeugen damit Beschäftigungseffekte, die heute nicht möglich sind, weil das Kapital in den Konzernstrukturen verschwindet und lokal keine Wirkungen mehr auslöst. Zirkuliert das Kapital aber in den lokalen und regionalen Wirtschaftskreisläufen, schafft dies Arbeitsplätze in der Stadt, aber auch in den Zulieferbetrieben. Die Strukturen beleben nicht nur die Städte, sie beleben auch das Land und das Umland. Wenn es einen Ausweg aus der Beschäftigungskrise gibt, dann zu Fuß! Bei gleichen Umsätzen werden in Stadtgeschäften fünfmal mehr Menschen beschäftigt wie in Supermärkten am Stadtrand mit gleichem Warenprofil.66 „Die Bauwirtschaft wird unter diesen Vorschlägen leiden.“ Dies stimmt nur, wenn man Bauwirtschaft mit Baukonzernen verwechselt. Diese werden unter diesen Vorschlägen leiden, wenn sie sich nicht von stumpfsinnigen Großprojekten auf normales Bauen umstellen können. Die Bauwirtschaft jedoch wird aufblühen. Die Bauwirtschaft steht nach diesen Umstrukturierungsmaßnahmen vor der enormen Aufgabe, Städte wieder in Lebensräume umzuwandeln. Eine Vielfalt an lokalen, differenzierten Bautätigkeiten wird die Folge sein – statt der mechanisierten, personalminimierenden Großprojekte von heute. Schon vor vielen Jahren hat die deutsche Bauindustrie Beschäftigungszahlen bei gleichen Investitionssummen veröffentlicht, die beweisen, dass der Straßenrückbau und die Umwandlung von Straßenräumen in Lebensräume bei gleicher Investitionssumme etwa zehnmal mehr Arbeitsplätze schaffen als die derzeitigen Großprojekte. „Die Waren werden aber bei dieser Art der Lösung teurer.“ Wenn man Preise von Waren vergleicht, muss auch die Qualität verglichen werden. Qualitativ gute Waren sind immer teurer als qualitativ schlechte. Das heutige unübersichtliche System der Warenströme über die Supermärkte und Shoppingcenter dürfte so ziemlich das Teuerste sein, das sich die Menschheit leistet. Für qualitativ minderwertige Waren werden mittlere oder hohe Preise verlangt und bezahlt, weil die Alternative fehlt. „Wer billig kauft, kauft teuer“, gilt auch heute noch immer. Um Wert und Preis vergleichen zu können, braucht man aber ein vielfältiges Angebot und Kunden, die wissen, was Qualität ist. Dieses ist wieder herzustellen, um aus dem weltweiten Wareneintopf der Industrie, selbst der Agroindustrie, mit dem die Menschen heute täglich konfrontiert werden, herauszukommen. Die Preise in diesem globalen System haben nur selten noch etwas mit dem Wert der Produkte 66 Egger, J. (2003): Verkehrsaufkommen und Beschäftigungseffekte von kleinräumigen innerstädtischen Strukturen im Vergleich zu großräumigen außerstädtischen peripheren Strukturen am Beispiel ausgewählter Einzelhandelsstandorte. Diplomarbeit am Institut für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik der Technischen Universität Wien.

255

Betriebe des Kleingewerbes (Anzahl)

Zur Evolution der Städte Abb. 175 Die Preise der Produkte fallen mit der Skalengröße und nehmen mit den Transportkosten zu, wenn die Betriebe nicht die Macht über die Kunden oder die Gesellschaft bekommen.

Wien 1974,1976-78,1985-89

10000 9000 8000 7000 6000

y = -15,058x + 11928 R² = 0,9514

5000 4000 3000 2000 1000 0

200 225 Die 250 275des300 325 wächst 350 375 Macht Betriebes mit seiner[PKW/ Größe1000EW] überproportional Motorisierungsgrad

150

175

400  

Abb. 173 

Müllmenge m3/Einwohner

Motorisierungsgrad Müllvolumen in m3 je Einwohner 0,9 0,8 0,7 0,6 0,5 0,4 0,3 0,2 0,1 0

0

100

200

300

400

500

600

Kfz je 1000 Einwohner

 

Abb. 176 a 

700.000

Müllsammlung in Tonnen

600.000

y = 1481,4x x + 36854 4 R² = 0,9 9549

1991 1

1981

500.000 400.000 197 71

300.000

1961

200.000

0,32 kg g/EW/Tag 1951 1 1,00 kg g/EW/Tag 1991 1

100.000 0

1951 0

100

200

300 0

400

Motorisieru ungsgra ad (Wien n)   Abb. 1766 b 

256

Abb. 176 a und b Der Zusammenhang zwischen Autobesitz und Müllmenge ist evident (Wien 1950 bis 1990).

Gegenargumente

zu tun und, wenn die Monopolisierung weiter so fortschreitet, dann in Zukunft noch weniger. Nur in kleinen, übersichtlichen Strukturen kann der Kunde König sein. Heute ist er hilfloser Sammler von mehr oder weniger manipulierten Industrieprodukten meist minderer Qualität, die sogar gesundheitsgefährdend sein können. Preise haben immer auch mit der Macht der Betriebe, der Gesellschaft und der Kunden zu tun. Kleine Betriebe können nur vom Fußgeher erhalten werden – ihre Macht ist beschränkt. Mit billigen und schnellen Transportmitteln steigen aber nicht nur die Größe und Zen­ tralisierung der Betriebe, sondern es erhöht sich auch deren Macht über die Kunden, Städte und Nationen – aber auch die Menge an Müll. Die Industrie begann sich in den Fünfziger- und Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts auf die neue Spezies der Autofahrer nach einiger Verzögerung einzustellen, wie es der Knick in Abb. 176a zeigt. Eine Gesellschaft, die nicht über Autos verfügt, hat eine verschwindend kleine Müllmenge zu bewältigen – und das außerdem in intelligenter Form. Wenn jeder zweite Bürger über ein Auto verfügt, steigt die Menge an Müll bereits auf das Achtfache an. Der Metabolismus der Stadt wird damit in einer noch nie da gewesenen Form belastet und kommt sofort in ernste Schwierigkeiten, wenn es zu „Verdauungsstörungen“, wie etwa Störungen in der Müllabfuhr, kommt. Diese führen – wie im menschlichen Körper – zu Krankheiten, auch bei den betroffenen Bürgern, die von den frei werdenden Gasen und Flüssigkeiten betroffen sind.

Abb. 177 Niedrige Transportkosten lassen die Macht der Großbetriebe ins Unermessliche wachsen. Überschreitet sie den Einfluss der lokalen Gemeinschaft, wird diese erpressbar (KNOFLACHER, H., 1995a).

257

Zur Evolution der Städte

Lebensmittel, aber auch Waren aus der regionalen Produktion können durchaus teurer sein, wenn das Kapital in der Region bleibt, Leute beschäftigt und damit die Sozialbelastungen der Gesellschaft reduziert. Allein durch den Verzicht auf die Autobenutzung, die heute ja zum Zwang geworden ist, kann wesentlich mehr Kapital gespart werden, als die Kostenerhöhung der Waren ausmacht. Der Kunde von heute weiß überhaupt nicht mehr, was der Markt tatsächlich an Produkten bietet, weil er nur mehr das zu Gesicht bekommt, was die Supermärkte zulassen. Er kann sich nur mehr an den Preisen orientieren und damit haben ihn die Anbieter in der Hand. Die riesigen Gewinne dieser Konzerne kann man etwa an den Unterschieden zwischen den normalen Preisen und dem Ausverkauf erkennen, bei dem immer noch Gewinne gemacht werden. Die heutigen Preisvorteile, die noch aus dem Wettbewerb der Konzerne stammen, gehen in eine steigende Preisspirale über, sobald sich die Monopole eingerichtet haben, welche die gesamte Produktionskette beherrschen. Der Weg dorthin wird durch das Auto geebnet. Die Menschheit fährt mit Überzeugung und Begeisterung in diese Falle. Da die Konkurrenz in der vielfältigen, kleinräumigen Wirtschaft wesentlich größer ist, ist sichergestellt, dass es unter diesen Bedingungen sehr schnell zu einer Optimierung von Preis und Wert kommt, die heute nicht vorhanden ist. Damit ist dieses System auf jeden Fall billiger. Auch gibt es keine Shareholder, die ohne Arbeit reich werden wollen, und keine Manager, die jährlich viele Millionen aus der Kasse nehmen, obwohl kein Mensch – und schon gar nicht ein solcher – jemals die Arbeit leisten kann, die diesem Einkommen entspricht. Auch erspart man sich die kostspielige Werbung und die damit verbundenen Lügen in den Medien. Die Waren werden daher bei dieser neuen Organisation nicht nur billiger, sondern auch besser. „Alle Menschen wollen aber ein Auto haben.“ Erstens steht dem nichts im Wege, wenn sie sich an die vorher genannten Spielregeln halten: es entweder an den dafür vorgesehenen Einrichtungen abstellen oder den echten Marktpreis für davon abweichendes Verhalten bezahlen. Zweitens stimmt diese Behauptung nur unter den vorherrschenden Bedingungen der Marktverfälschung, die aus massiver Subvention und den enormen Privilegien, die mit dem Auto erworben werden, entstanden ist. Kluge Menschen wollen sich schon heute mit keinem Auto mehr belasten. Jene, die ein Auto haben wollen, wollen aber auch in einer gesunden und sicheren Umgebung leben, bei offenem Fenster schlafen, ihre Nachbarn kennen, ein sicheres Umfeld genießen und menschenwürdig aufwachsen, leben und sterben. Gesundheit und Lebensqualität67 sind 67 Der Begriff „Lebensqualität“, wie er heute üblich ist, bezieht sich in der Regel auf die Lebensqualität des oder der Menschen und nicht auf die Qualität des Lebens an sich, nicht nur der Menschen. Sie bilden nur einen – abhängigen – Faktor im „Netz des Lebens“, das sie erhält. Dank des derzeitigen riesigen konzentrierten, billigen Energieflusses und der vorherrschenden Technik und des Glaubens an die religiösen Dogmen der Finanzwelt wird das Gegenteil vermittelt. Eine schmeichelhaft, aber irreführende Illusion. Hier geht es um die Lebensqualität an sich.

258

Gegenargumente

Primärwerte! Hemmungslose, bequeme Automobilität sind Tertiärwerte, nicht einmal Sekundärwerte. Stellt man die Menschen vor die Alternative, entweder eine gesunde Umgebung, ein sicheres Umfeld, eine gute Nahversorgung, die Kontrolle über die Lebensmittel und Möglichkeiten der Geselligkeit oder hemmungsloses Autofahren, dann hat das Auto bei rationaler Betrachtung wohl kaum eine Chance. Den Menschen wird diese Alternative heute überhaupt nicht geboten, weil sie in Strukturen gezwungen werden, die von einer ­autohörigen Verwaltung, einer autohörigen Politik und ebenso autohörigen Medien in den vergangenen 60 Jahren geschaffen wurden. Dadurch entsteht bei den Menschen der Eindruck, es müsse so sein. Gibt man ihnen die Möglichkeit, menschengerechte Siedlungen zu erleben, wollen sie nicht mehr in die gängigen Strukturen zurück. Als Planer zahlreicher Fußgeherzonen, die gemeinsam mit der lokalen Politik und Verwaltung umgesetzt wurden, habe ich noch nirgends das Bedürfnis erlebt, dass die Menschen diese Fußgeherzonen, die zu ihren Lebensräumen geworden sind, wieder in Fahrbahnen zurückverwandeln wollen. Die heutige Politik gibt den Menschen diese Alternative überhaupt nicht, sondern zwingt sie zum Autofahren, wie bereits vorhin ausgeführt. Die Menschen sind nicht mehr frei. Das enorme Maß an Freiheit, das sie haben könnten, ist ihnen nicht mehr bewusst. Ein Auto zu haben und das Auto besinnungslos und hemmungslos zu verwenden sind zwei verschiedene Dinge. Die vorgeschlagene Lösung schränkt den Autobesitz überhaupt nicht ein, sie sorgt nur für eine faire Ordnung, die diesen Teil des Verkehrssystems wieder in die Marktwirtschaft integriert. Den Beweis liefert der Stadtteil Vauban in Freiburg im Breisgau, wo die Bürger diese Prinzipien (gegen die Verwaltung) durchgesetzt haben. 57 % der Zugezogenen haben ihr Auto aufgegeben, weil sie von der autofreien Lebensqualität selbst überzeugt wurden. „Eine Stadt, die diese Maßnahmen umsetzt, ist nicht mehr wettbewerbsfähig.“ Freiburg im Breisgau war wegen „Vauban“ in der Weltausstellung 2010 in Peking als „Zukunftsstadt“ vertreten. Eine Stadt, welche die vorhin beschriebenen Maßnahmen umsetzt, braucht keinen Wettbewerb zu scheuen, da sie genügend Kapital bindet, ihre Effizienz steigert und damit über geordnete Finanzen verfügt. Diese befähigen sie, Attraktoren im sozialen, kulturellen und ökologischen Bereich zu schaffen. Der Wettbewerb wird von der Zufriedenheit (Happiness) ihrer Bürger, glücklichen Kinder, die in einer gesunden, sicheren Umgebung aufwachsen, lokalen Beschäftigungsmöglichkeiten, der Selbstentfaltung der Menschen, Kulturangeboten und Freizeitmöglichkeiten entschieden – und nicht im Öffnen der städtischen Adern für die großen Parasiten unserer Zeit: die Konzerne. Die Autonomie der Stadt steigt und sie wird nicht mehr das Opfer der Indikatoren kurzfristig agierender Konzernmanager. Sie bestimmt den Wettbewerb, weil sie in der Lage sein wird, jenes Kapital zu akkumulieren, das ihr die Konzerne heute entziehen. Sie wird wieder zu einem Ort der Demokratie und der Bürgerbestimmung, anstatt zu einem Ort der Bürgerversklavung durch Konzerndiktatur zu verkommen. 259

Zur Evolution der Städte

Die Wettbewerbsfähigkeit der Städte wird heute gerne über Kriterien beurteilt und bewertet, die von internationalen Konzernmanagern oder ihnen hörigen Instituten festgelegt werden. Die besten Wertungen erhalten daher jene Städte, die sich als leichte und bequeme Beute für das Kapitalwachstum der Konzerne anbieten. Es sind Städte, die ihre Bürger und ihre Wirtschaft als Beute am leichtesten dem ungehemmten Zugriff der internationalen Konzerne ausliefern. Man bezeichnet das als „den Markt öffnen“ – einen Vorgang, vergleichbar mit dem von Raubtieren mit geschlagener Beute. Die Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte sollten für die Städte eigentlich ausreichen, um sich dieser irreführenden Wertung zu entziehen. Zahlreiche Städte sind in der Zwischenzeit nicht nur in wirtschaftliche Schwierigkeiten, sondern in den Bankrott geraten, weil Konzerne aus wirtschaftlichen Vorteilen ihre Betriebe in Länder verlegt haben, wo sie Ressourcen billiger und leichter ausbeuten können. Die Lebensqualität der Menschen dort und die Vitalität der Städte sind ihnen dabei völlig gleichgültig. Vielen Städten sind damit die wirtschaftlichen Grundlagen weggebrochen (KRONAWITTER, G., 1994). Nur ganz dumme Stadtvertreter fallen noch auf diesen Trick der Konzerne und ihnen hörigen Institute und Institutionen herein. (Die Skala der Dummheit ist allerdings nach oben hin offen.) Es geht in Zukunft nicht um die Wettbewerbsfähigkeit, wie sie die Konzerne für ihr hemmungsloses Wachstum brauchen. Die Wettbewerbsfähigkeit wird im Überleben und in der Nachhaltigkeit entschieden. Städte, die um eine Zehnerpotenz energetisch effizienter sind als andere, werden dabei immer die Nase vorne haben – unabhängig davon, ob das die Konzerne haben wollen oder nicht. Die Selbstbestimmung der Städte wird bei diesem Wettbewerb wichtiger sein als ihre Abhängigkeit von der Zuneigung kurzsichtiger Manager, deren Horizont auf drei Monate beschränkt ist. In der von den Konzernen erstellten Reihenfolge der Attraktivität liegen jene Städte vorne, die sich von den Konzernen am stärksten erpressen lassen und diesem wuchernden Krebs die größten Vorleistungen bieten. Die Wettbewerbsfähigkeit sollte aber von der Zufriedenheit der Bürger entschieden werden und nicht der Raffgier und Unfähigkeit der Konzernmanager. „Die Maßnahmen sind nicht umsetzbar, weil sie politisch nicht realisiert werden können.“ Dies ist das Argument der Nullen. Die Umsetzung der Maßnahmen hängt immer von den Beteiligten ab. Dazu gehören in erster Linie Experten, Verwaltung und die Politik. Auch die Medien spielen dabei eine Rolle, die umso bedeutender ist, je schwächer die anderen Partner sind. Die Umsetzung ist das Produkt der Zusammenarbeit dieser Elemente. Zur Erinnerung sei die elementare Beziehung hier wiederholt: Umsetzungserfolg = Experten · Verwaltung · Politik · Geld(· Medien)

Die ideale Erfolgsgleichung lautet daher: l=l·l·l·l·l

260

Gegenargumente

Ist hier nur eine „Null“ dabei, ist das Ergebnis null. Die Wahrscheinlichkeit, dass es zur erfolgreichen Umsetzung kommt, ist heute relativ gering, weil allein schon qualifizierte Experten und auch qualifizierte Verwaltungen eher sehr selten sind. Hinzukommen muss noch eine entsprechend qualifizierte und couragierte Politik, die in der Lage ist, innerhalb einer Legislaturperiode beispielhafte Lösungen umzusetzen, die eine Dynamik in die erwünschte Richtung auslösen. Dann steht auch den weiteren politischen Erfolgen nichts mehr im Wege. Dazu sind aber folgende Eigenschaften notwendig: fachliche Qualifikation in jeder Rolle, wozu nicht nur das fachliche Wissen, sondern Systemkenntnis und langfristiges Denken gehören; charakterliche Eigenschaften, wie Mut, Selbstlosigkeit, Verantwortungsbewusstsein, persönliche Bescheidenheit und eine moralische Haltung, dass man auf kurzfristige Vorteile zugunsten langfristiger Nachteile verzichtet. Der Weg zum Erfolg ist allerdings mehrfach gefährdet und sehr kritisch, weil auf diesem Weg die Beutegreifer, welche die Städte als Beute und Opfer benutzen, auf der Lauer liegen und sich diese billige und leichte Beute nicht gerne entreißen lassen. Einer der raffinierten Tricks, deren sie sich bedienen, ist das Märchen von der „Standortaufwertung“ durch Umfahrungen oder Autobahnen, insbesondere Autobahnringen um die Stadt. Um diesen Fallen zu entkommen, sind politischer Weitblick, Sachkundigkeit, Mut, Ehrlichkeit und Fleiß erforderlich – Eigenschaften, die in der heutigen Struktur der politischen Akteure noch seltener anzutreffen sind. Mit den „Aufbauern“ der Nachkriegsperiode, die den����������������������������������� Bürger���������������������������� n dienten und für sie arbeiteten, wäre die Umsetzung überhaupt kein Problem. (Unter dem Deckmantel der Aufbauer sind leider heute „Macher“ am Werk, welche die Menschen glauben machen, man müsse den Wohlstandsgewinn noch mit weiteren Auf- und Ausbauten erzielen. Diese sind in Wirklichkeit verkleidete Abbauer und Zerstörer, wenn sie diese Tätigkeit weiterführen, nachdem der Scheitel dieser Entwicklung überschritten wurde.) Für die vielen Abbauer und Vergeuder, die sich in die Politik der vergangenen Jahrzehnte eingenistet haben und nur ihre eigenen Interessen oder die ihrer Hintermänner vertreten, ist der Weg in eine nachhaltige Stadtzukunft nicht gangbar. Diese Aussage ist beweisbar durch den Umstand, dass viele Politiker nach ihrer Karriere hohe Posten in den Konzernen erhalten. „Eine Stadt, die diese Maßnahmen umsetzt, ist wirtschaftlich unattraktiv.“ Gerade das Gegenteil ist der Fall. Eine Stadt, die diese Maßnahmen umsetzt, schafft ­Attraktoren für die lokale Wirtschaft, weil diese wieder einen Markt bekommt. Eine Stadt, die diese Maßnahmen umsetzt, ist natürlich für internationale Konzerne, welche die Stadt lediglich als Quelle und bequeme Ressource betrachten, ohne entsprechende Verpflichtungen mit der Gesellschaft einzugehen, weniger attraktiv. Sie müssen ihre Jagdcamps in anderen Städten aufschlagen. Die städtische Wirtschaft lebt aber mit und von den lokalen Betrieben. Es werden die lokalen Betriebe und Angebote sein, die den Wettbewerb zwischen den Städten entscheiden, und nicht die gesichtslosen Angebote der internationalen Konzerne. Was unterscheidet heute noch die Angebote einer von diesen Konzernen beherrschten Innenstadt von den Angeboten, die man an irgendeinem Flughafen irgendwo auf der Welt hat? 261

Zur Evolution der Städte

Überall wird das gleiche Industriegerümpel oder Einheits-„Designer“-Massenware feilgeboten. Wozu noch in eine solche Stadt reisen, wenn der nächste Flughafen näher ist? Was die Städte brauchen, sind lokale Produkte, ortstypische Waren, die es sonst nirgendwo gibt. „Die Mobilität ist ein fundamentales Recht der Menschen.“ Absolut richtig! Dem ist nichts entgegenzusetzen, vor allem die Mobilität der Fußgeher ist das fundamentale und verbriefte Recht jedes Menschen. Alles andere ist Substitution. Wenn man Mobilität fördern will, ist in erster Linie der Fußgeher zu fördern, dann mit gewissem Abstand der Radverkehr und aus sozialen Gründen bzw. in Gebieten mit großer Bevölkerungsballung der öffentliche Verkehr. Die Reste sind seltene Ereignisse, für die entsprechende strukturelle Regelungen zu treffen sind, um das Grundrecht auf menschliche Mobilität nicht zu verletzten. Wenn seltene Ereignisse, wie der Autoverkehr, mit massiven negativen Folgewirkungen zur Regel werden, wird stadtkonforme Mobilität eingeschränkt, wie dies heute der Fall ist. Stadtkonforme Mobilität ist die Mobilität der kurzen Wege, kurze Wege sind Fußwege. Jede Art von Mobilität hat Gewinner und Verlierer. Auf der Systemebene sind die Gewinner der Automobilität die Autokonzerne, Banken, Bauindustrie und Energieindustrie – immobile Konzerne, die von ihnen abhängige Menschen ausbeuten, wenn sie sich von ihren Produkten abhängig machen und sogar dem Irrtum unterliegen, sie wären die Gewinner, obwohl sie zu den Verlierern gehören. Neben ihrer Unabhängigkeit haben sie die Arbeitsplätze in der Nähe, oft die Familie, die lokalen Produkte, die reine Luft und die Nachtruhe und auch die Nahmobilität und die Lebensräume ihrer Kinder verloren. „Die kulturelle Entwicklung einer Stadt wird durch die Maßnahme gefährdet, die Menschen erreichen nicht mehr die Kulturstätten.“ Die Kulturstätten der Stadt haben sich vor dem Auto entwickelt und ihre Höhepunkte damals schon in vielfältiger Form erreicht. Kultur ist heute oft zu einer Konsumentenkultur verkommen, weil ihr aufgrund der fehlenden Sozialkontakte und Verflechtungen der lebendige kulturelle Boden entzogen wurde. Die Revitalisierung der Städte, wie sie hier vorgeschlagen wurde, schafft eine Vielfalt an kulturellen Aktivitäten aus der Interaktion der Menschen in der Stadt, die heute nicht möglich ist. Diese führt wieder zu einer eigenständigen, lokal differenzierten Kultur. Wo man die Stadt aus dem Zugriff des Autos nicht befreit hat, verfällt die Kultur – man vergleiche das kulturelle Angebot amerikanischer oder australischer Städte mit dem etwa von Wien – quantitativ und qualitativ. „Aber der Fortschritt wird behindert, ja geradezu ausgeschlossen.“ Hier liegt wohl schon semantisch ein Irrtum zugrunde. Wer von Fortschritt spricht, kann dabei nicht „fortrollen“ oder „fortfahren“ meinen. Der Fortschritt ist ein Produkt des Fußgehers und kann nur mit dem Fußgeher erfolgen. Sonst würde man ja „fortfahren“. Im vergangenen Jahrhundert ist der Fortschritt durch das Fortfahren abgelöst worden und hat im städtischen Gebiet zu einem Rückschritt geführt. Damit in der Stadt wieder Fortschritt erfolgen kann, muss das Fortfahren vermieden werden. 262

Orientierungshilfe bei der Arbeit: Die Richtung muss stimmen – weg von der Entropie!

9.20 Orientierungshilfe bei der Arbeit: Die Richtung muss stimmen – weg von der Entropie! Entropie ist der Grad an Unordnung, auch Grad der Gleichverteilung, Negentropie der Grad der Ordnung. Ordnung bedeutet Informationszunahme, Informationsspeicherung, wozu Informationsaufnahme und Informationsverarbeitung notwendig sind. Sie entsteht in der Planung aus geistiger Mobilität (als Folge der Erfahrung durch die Sinneswahrnehmung). Ihr Zweck ist es, Siedlungen zu planen, die der Energiedegradation so weit wie möglich entgegenwirken, das Prinzip des Lebens, das Ordnung aufbaut und erhält, zu beachten. Der Richtungsvektor der Evolution verläuft daher entgegengesetzt zum Richtungsvektor der Entropie. • Damit steht uns im Siedlungswesen eine sichere Orientierungshilfe zur Verfügung. Siedlungsstrukturen sind immer geordnete Strukturen, die aber nur dann in Richtung der Evolution nachhaltig gestaltet werden, wenn ihre Komplexität – also Vielfalt und Durchmischung – so organisiert wird, dass das Maß der Entropie – also der Aufwand an physischer Energie und damit Energiedegradation – minimiert wird. • Nachhaltige und lebendig gestaltete Siedlungen weisen daher ein hohes Maß an Negentropie auf und sind damit resistent gegen Zerstörung. • Je höher das Maß der Ordnung (nicht die Primitivordnung der funktionellen Trennung ist gemeint) in der Vielfalt der Funktionen einer Siedlung ist, umso geringer muss der Aufwand für physische Mobilität sein. • Einpassung nicht nur nach innen, auch nach außen durch die Verwendung lokaler Materialien und Handwerker sowie durch klimagerechte Bauformen, die sich auch aus der jahrhundertelangen lokalen Erfahrung herausgebildet haben. Kennzeichen solcher Strukturen ist der minimale Energieaufwand, den man heute auf dem unsicheren Umweg technischer Aufrüstung zu erzielen versucht. „Nullenergie“ und „Passivgebäude“ waren in allen Klimazonen Teile des gespeicherten Wissens, das man in den vergangenen 200 Jahren über Bord geworfen hat. • Haustechnik ist zum Sammelbegriff des technischen Einsatzes in Gebäuden geworden, deren Planer nicht die Fähigkeit besitzen, sich den lokalen Gegebenheiten durch Form, Material und Funktionen so anzupassen, dass – wieder spielt die Energie die entscheidende Rolle – keine oder nahezu keine externe Energie für die Aufrechterhaltung der Funktionen des Gebäudes erforderlich ist. Je mehr Haustechnik, umso unfähiger die Planer und umso weniger passt das Objekt in die Klimazone. Am Aufwand der Haustechnik kann man die Unfähigkeit des Architekten ebenso ablesen wie an den Parkplätzen die falsche Standortwahl. Objekte, die in den lebendigen Organismus einer Siedlung oder Stadt passen, benötigen keinen Autoverkehr, um die Mängel des Standortes zu kompensieren. 263

Zur Evolution der Städte

Und hier beginnen schon die Missverständnisse herkömmlicher Siedlungs- und Verkehrsplanung: Ordnung ist nicht Simplifizierung oder Vereinfachung auf das denkbar niedrigste, geistig bequemste Niveau der Planer oder Entscheidungsträger. Das Ordnungsmuster eines Ziegelstapels hatte auch ein Militärlager in der Antike, dem auch die Städte damals vielfach unterworfen wurden. Die Struktur wurde auf die „Komplexität“ dieser militärischen Ordnung reduziert, was vorübergehend von Vorteil ist, wenn es auf die schnelle Erfassung von Quantität und raschen Einsatz ankommt. US-amerikanische Städte sind oft nach diesem Muster gebaut und stoßen durch ihre städtebauliche Primitivität auch ab. Auf lebendige, nachhaltige Strukturen passt dieses Muster nicht, es kommt auch in der Natur nirgends vor. Ordnung lebendiger Systeme bedeutet ein höheres Maß an Komplexität (nicht Kompliziertheit). Geistige und physische Mobilität sind aneinandergekoppelt, weil sie innerhalb bestimmter Grenzen substituierbar sind. Je höher die geistige Mobilität und das Maß der Ordnung, das Planer in der Lage sind, in ihre Siedlungen zu integrieren, umso geringer wird der spätere physische Aufwand für die Mobilität der Bewohner und ihrer Wirtschaft sein, umso geringer ist das Maß der Entropie der Siedlung. Dies gilt aber nicht nur für die Mobilität, dies gilt auch für die Siedlungsstruktur selbst. Nicht nur Menschen und Güter „ziehen durch die Siedlung“, sondern auch Sonnenstrahlen, Wind und Wasser. Die Aufenthaltsdauer, die durch die Bindung an die Siedlung gegeben ist, bestimmt deren Vitalität. Je länger es gelingt, Menschen und Energie zu binden, umso nachhaltiger und dauerhafter kann sich die Siedlung der Entropie widersetzen, wie jeder lebendige Organismus auch. In der Natur sind alle lebenden Systeme bemüht, den Durchfluss an Energie zu verzögern, Energie so lange wie möglich zu binden. Energiekaskaden werden eingerichtet, um die Effizienz zu maximieren. Solaranlagen zur Nutzung der eintreffenden Solarenergie, entweder in natürlicher Form der Pflanzen oder in künstlicher, zur Energiegewinnung und Warmwasseraufbereitung, sind heute Stand der Technik. Wasser kann durch Speicherung und Recycling effizient genutzt werden. Windenergie dient nicht nur zur Stromerzeugung, sondern vor allem zur Reinigung der Luft, zum Luftaustausch, zum Kühlen, zum Trocknen der Wäsche und zur Versorgung der Bevölkerung mit Sauerstoff. Kann man eine Stadt mit einer Dichte von 150 Einwohnern je Hektar sinnvoll gestalten? Mikroüberlegungen zu Hochhäusern, Grünflächen, Wasserhaushalt, Verkehr, Arbeitsplätzen. Professor Roland Rainer hat in seinem Buch „Städtebauliche Prosa“ nachgewiesen, dass Hochhäuser keine sinnvolle Bauform in Städten und Siedlungen sein können: 1. Hochhäuser brauchen technische Einrichtungen zur Höhenüberwindung, man braucht daher neben Stiegenhäusern noch Platz für Aufzüge. 2. Die Flächeneinsparung ist ab dem 4. Geschoss vernachlässigbar. 264

Orientierungshilfe bei der Arbeit: Die Richtung muss stimmen – weg von der Entropie!

3. Hochhäuser haben keine für die Kommunikation und damit die soziale Bindung einer Stadt notwendigen Kommunikationsflächen. Vertikale Schichtung gleicher Funktionen führt nicht zur Kommunikation, sondern eher zu Spannungen. 4. Hochhäuser sind unflexible und damit unorganische Bauformen in einer nachhaltigen Stadt. Die Strukturen sind vorgegeben und können, wenn sich die Randbedingungen verschieben, nachträglich kaum geändert werden. 5. Zwar kann man in Hochhäusern die Funktionen Einkauf, Arbeit und Wohnen unterbringen, zum Teil auch Kommunikation in den Restaurants. Der wichtige, informelle Lebensraum einer Stadt wird aber damit nicht geschaffen. 6. Das Tun der Hochhausbewohner ist eingeschränkt. Die bei flacher Bebauung bestehende Möglichkeit der Adaptierung der Gebäude durch die Bewohner ist nicht möglich. Hochhäuser werden daher abgewohnt, während kleinräumige, niedrige Bebauung durch Eigenleistungen der Bewohner und Besitzer erhalten und repariert werden kann. 7. Die natürliche Beziehung der Menschen zum Grünraum muss kompensiert werden, was entweder zu hoher Freizeitmobilität führt oder zur Schaffung öffentlicher Parks und Grünanlagen, die wiederum Kosten verursachen. 8. Es gibt keine erfolgreichen Beispiele nachhaltiger Hochhauslösungen im Städtebau. 9. Die Kosten hoher Bebauung sind für das Gesamtsystem, also die Gemeinschaft, höher als eine Bebauung nach menschlichen Dimensionen. 10. Man kann mit drei- bis viergeschossigen Bauten die gleiche Einwohnerdichte und Beschäftigungsdichte erzielen, wie sie z.B. Hongkong hat. Hochausbauten entspringen einer überholten Verbauungsideologie, die sich aus der industriellen Massenproduktion von Wohnungen oder Büros ergibt, sie stellen ein Optimum architektonischer Einfallslosigkeit dar. Quantitativer Beweis Städte nach menschlichem Maß haben in der Regel nicht mehr als 10 bis 20 % an Verkehrsfläche. Als Bezugseinheit der Überlegungen wählen wir einen Hektar. Von den 10.000 m² ziehen wir 1.000 m² an Verkehrsflächen ab, es verbleiben 9.000 m². Von diesen 9.000 m² sollen 50 %, also 4.500 m², Grünfläche bleiben. Zweigeschossige Verbauung Auf den verbleibenden 50 % kann man – brutto gerechnet – eine Siedlung mit zwei Geschossen errichten. Bei 150 Einwohnern pro Hektar entfallen pro Bewohner 30 m² auf das Wohnen und 30 m² auf das Arbeiten. Jeder Bewohner hat außerdem unmittelbaren Zugang zu 30 m² Grünland.

265

Zur Evolution der Städte

Dreigeschossige Verbauung Wenn wir drei Geschosse errichten, können wir 300 Einwohner pro Hektar unterbringen. Jeder Einwohner hat nach wie vor 30 m² Wohnfläche. Auf zwei Einwohner kommt allerdings nur mehr ein Arbeitsplatz. Bei 30 m² pro Arbeitsplatz entfallen für die Bewohner immer noch jeweils 15 m² an Grünland. Viergeschossige Verbauung Bei einer viergeschossigen Bebauung können auf dieser Fläche 450 Einwohner untergebracht werden, mit immer noch 30 m² pro Bewohner und 30 m² für Arbeitsplätze. Das Verhältnis von Bewohnern zu Arbeitsplätzen lautet 3:1. Immer noch entfallen pro Bewohner 10 m² Grünland. Der Maßstab einer solchen Siedlung stimmt noch immer, denn die Bäume in unserer Klimazone wachsen immer noch höher als die Gebäude. Damit können eine klimatisch hervorragende Siedlungsstruktur und eine Stadt geschaffen werden. Durchmischt mit anderen öffentlichen und zentralen Einrichtungen, haben wir damit eine städtebauliche Gestaltungsbreite zwischen 150 und 450 Einwohnern pro Hektar. Eine Stadt mit 30.000 Einwohnern und 15.000 Arbeitsplätzen benötigt damit nicht mehr als 1 km² Oberfläche. Sie hat genügend Grünräume, Plätze und menschengerechte Verkehrsflächen und kann interessant gestaltet werden. Unter diesen Bedingungen sind Architektur und Städtebau allerdings entsprechend gefordert. Sie müssen multifunktionale, qualitativ hochwertige Gebäude mit einem vielfältigen, gegliederten öffentlichen Raum gestalten können und nicht einfallslose Rastersiedlungen oder bandwurmartige Agglomerationen planen und bauen. Eine Stadt mit einer Million Einwohner braucht bei einer Dichte von 20.000 Einwohnern je Quadratkilometer nicht mehr als 50 km² Fläche – vorausgesetzt, die Planer beherrschen ihr Geschäft. Bei einem quadratischen Grundriss ergibt sich damit eine Seitenlänge einer Stadt von rund 7 bis 8 km. Selbst bei monozentrischer Organisation (die bei dieser Größe praktisch nicht vorkommt) wäre der durchschnittliche Weg einer Stadt mit zwei Millionen Einwohnern, die gut organisiert ist, nicht länger als rund 2,5 km. Diese Distanz kann man bequem mit dem Fahrrad bewältigen – vorausgesetzt, die Topografie ist geeignet. Der Aufwand der technischen Verkehrssysteme kann damit minimiert werden. Eine Stadt dieser Art ist nachhaltig. Zum Unterschied zu heutigen Siedlungen, wo allein die Ansprüche der Autofahrer 20 bis 30 % und mehr ihrer Fläche beanspruchen. Die Voraussetzung für das Funktionieren einer solchen Siedlung ist ein hohes Maß an Ordnung, für das die Planung die Voraussetzungen, die eigentlich Zwänge gegen die Egozentrik der Bewohner sein müssen, schaffen muss. Damit entsteht das für hochwertige Siedlungen charakteristische hohe Maß an Freiheiten für ihre Bewohner. 266

Orientierungshilfe bei der Arbeit: Die Richtung muss stimmen – weg von der Entropie!

Wie das folgende praktische Beispiel bestehender Siedlungen zeigt, ergeben sich bereits unter den heutigen Bedingungen quantitativ große Unterschiede. Abb. 1777 

Abb. 178 Investitionsaufwand für Erschließung

€ 35.000

Investiton nsaufwand d

€ 30.000

investitionsaufwand der öffentlich hen Hand

€ 25.000 € 20.000 € 15.000 € 10.000 € 5.000 €0 zersiedelt

Reihhenhäuser

kompa akte

 

Abb. 1788 

Bezogen auf 1 ha =

10.000 m²

Max. 10 % Verkehrsfläche

–1.000 m² 9.000 m² –4.500 m²

Verbaute Fläche

4.500 m²

Durchmischte Bebauung

100000

MJ/Einwohner/a

50 % unverbaut

Motoris sierungsg grad - Mo obilitätse energie 120000

80000 y = 366 63,6e0,004x

60000

R2 = 0,7546

Grünland

150 EW/ha (2-geschossig)

30 m²/EW +40000 30 m²/AP

1:1

30 m²

300 EW/ha (3-geschossig)

30 m²/EW +20000 30 m²/AP

2:1

15 m²

450 EW/ha (2-geschossig)

30 m²/EW + 300m²/AP

3:1

… und der Maßstab stimmt noch immer, die Bäume sind immer noch höher als die Gebäude

0

200

10 m² 400

6000

Pkw/ 10 000 Einw wohner

Abb. 1811 

Tab. 9 Verbauungsideologie und Realität

Gleichheit als Planungsprinzip Ein grundlegender Indikator für Recht und Gerechtigkeit ist der Begriff „Gleichheit“ (Equality). In der soziologischen Behandlung dieses Problems wird dieser Begriff oft mit dem Demokratiebegriff verbunden, der Stimmengleichheit. Bezogen auf die Stadt und ihr Verkehrssystem, sind aber Chancengleichheit und Gleichberechtigung die maßgebenden Größen, anhand derer Recht und Gerechtigkeit in der Planung zu messen sind. Wir wollen daher den Begriff der Gleichheit anhand von vier für die Planung grundlegenden Größen behandeln. Daran wird ersichtlich, welches ungeheure Ausmaß an Unrecht, Ungleichheit und Ungerechtigkeit nicht nur auf der Ebene des Verkehrssystems, sondern in allen Folgebereichen der Wirtschaft, des Sozialsystems, ja selbst der Kultur entstanden sind: 267

800  

Zur Evolution der Städte

1. Raum Öffentlicher Raum sollte, selbst die Straßenverkehrsordnung postuliert dies im § 1, „ … von jedermann unter gleichen Bedingungen berücksichtigt werden“. Gleichheit bedeutet, dass für die gleichen Funktionen jedermann den gleichen Raum beanspruchen kann. Allein aufgrund der geometrischen und physikalischen Parameter unterschiedlicher Verkehrssysteme ist dies derzeit nicht möglich. Die Analyse zeigt, dass Fußgeher, Radfahrer und Benützer des öffentlichen Verkehrs die Ansprüche an den Raum in gleicher Größenordnung befriedigen können (Abb. 179). Der spezifische Flächenverbrauch des Autos ist selbst für das Abstellen größer als der dynamische der Fußgeher, Radfahrer und ÖV-Benutzer. In allen drei Fällen handelt es sich um den Bewegungsraum, der die Funktionen der Stadt verbindet und damit ihre Lebensfähigkeit erhöht. Fahrzeuge öffentlicher Verkehrsmittel werden nicht im öffentlichen Raum geparkt, sondern außerhalb. Sofern Fahrräder im öffentlichen Raum abgestellt werden, ist ihr Raumbedarf relativ gering. Abb. 179 Der spezifische Flächenverbrauch des Autos ist selbst für das Abstellen größer als der dynamische der Fußgeher, Radfahrer und ÖV-Benutzer.

Wie die Abbildung zeigt, ist der Raumanspruch des Autos allein beim Parken, selbst bei einer relativ hohen Auslastung, größer als etwa der Raumanspruch des Nutzers des öffentlichen Verkehrs bei hohen Geschwindigkeiten. Der Flächenanspruch steigt mit zunehmender Geschwindigkeit und schließt damit alle anderen Nutzungen aus. Da die Frequenz öffentlicher Verkehrsmittel viel geringer ist als die der Autos, können daher die Flächen, die der öffentliche Verkehr beansprucht, wenn er auf Straßenniveau verläuft, zwischendurch von anderen Verkehrsteilnehmern mitbenützt werden. Fahrbahnen für den Autoverkehr schließen dies aus. Aufgrund des Zufallscharakters und der im Straßenverkehrsrecht enthaltenen Ungerechtigkeit, die andere Verkehrsteilnehmer von der Mitbenutzung der Fahrbahnen ausschließt, ist dies nicht möglich. Das Ausmaß der Ungerechtigkeit wird erkennbar, wenn man den physischen Raumanspruch des Autos auf den Fußgeher überträgt, was mit der Konstruktion des vom Verfasser erfundenen Gehzeuges ohne Weiteres möglich ist.

268

Orientierungshilfe bei der Arbeit: Die Richtung muss stimmen – weg von der Entropie!

Abb. 180 Der öffentliche Verkehr ermöglicht die Mehrfachnutzung der von ihm beanspruchten Stadtoberfläche.

Energie Der Aufwand an externer Energie (wertvolle fossile Energie) für den Betrieb des Autos übersteigt den Energiebedarf der nicht motorisierten Verkehrsteilnehmer um über zwei Zehnerpotenzen. Schlechte Energieeffizienz charakterisiert in der Evolution immer einen Anfangs- oder Ausnahmezustand. Was überlebt, sind Strukturen, die sich grundsätzlich durch extrem hohe Energieeffizienz auszeichnen – sonst wären sie nicht nachhaltig. Sechs Millionen Jahre an Erfahrung als Fußgeher und 10.000 Jahre als Stadtbewohner stehen nur 50 Jahren an Erfahrungen als Autolenker gegenüber. Dies erklärt die Toleranz gegenüber dieser unglaublichen Ineffizienz dieses Verkehrsmittels, entschuldigt sie aber nicht. Die Vergeudung wertvoller globaler Ressourcen in sachlich nicht begründbarer Weise, wie sie im heutigen Autoverkehr erfolgt, ist eine Ungerechtigkeit gegenüber zukünftigen Generationen bezüglich ihres Anspruches auf die gleichen, allen Menschen zu allen Zeiten zur Verfügung stehenden Ressourcen. 2. Sicherheit Das Risiko sowie die Gefährdung menschlichen Lebens und der Gesundheit werden von zwei Parametern bestimmt: der Masse und der Geschwindigkeit. Das individuell durch das Auto erzeugte Risikopotenzial der kinetischen Energie mv2 /2 ist deshalb nur bedingt kontrollierbar, weil bei Geschwindigkeiten über 30 km/h die evolutionär bedingten Wahr269

€ 5.000 €0 zersiedelt

Reihhenhäuser

kompa akte

 

Zur Evolution der Städte

Abb. 1788 

Abb. 181 Mit dem Motorisierungsgrad der Stadtbevölkerung steigt der Verbrauch an Mobilitätsenergie überproportional.

Motorissierungsg grad - Mo obilitätseenergie 120000 100000

MJ/Einwohner/a

80000 y = 36663,6e0,004x

60000

R2 = 0,7546

40000 20000 0

0

200

400

6000

800

Pkw/ 10 000 Einw wohner

 

Abb. 1811 

nehmungsgrenzen des Menschen überschritten werden. Er braucht daher äußere Systeme, wofür die Verkehrs- und der Stadtplaner verantwortlich sind und in Bezug auf die sie sich bei Systemkenntnis nicht auf bestehendes Recht ausreden bzw. darin zurückziehen dürfen. Sie verändern die Struktur und beeinflussen damit alle dadurch ausgelösten Folgewirkungen. Es sind dies im Wesentlichen zwei Sicherheitsbereiche: a) das Risiko der Verkehrsunfälle b) die allgemeine Sicherheit Abb. 182 Die Rate der Verkehrstoten in Städten steigt mit dem Anteil der Autofahrten und ist abhängig von lokalen Rand­ bedingungen.

450 400 350 Unfallopfer/1 Mio EW

300

Johannesburg

250

Kuala Lumpur

200 150 100 50 0

0

20

40

60

80

100

% Autofahrten

120  

Abb. 182 

Verkerhstote/Mio EW (1980)

Mit dem zunehmenden Anteil des Autos steigt das Unfallrisiko in Städten, wie es internatiEinwohnerdichte ‐ Unfallrate 140Statistiken beweisen (Abb. 183). Die Rate der Verkehrstoten nimmt exponentiell mit onale Houston der 120 EinwohnerdichteUS‐Städte ab, lokal wie international. Je höher der Anteil der Fußgeher, Radfahrer 100 und 80 Benutzer des öffentlichen Verkehrs, umso geringer ist das Unfallrisiko. (Diese AussaNew York Paris 60 gen gelten natürlich nur für vergleichbare Verhältnisse. Städte mit großen EinkommensunEiurop Städte und Stadtbezirke 40 terschieden und einem hohen Anteil nicht motorisierter Bevölkerung können weit höhere 20 0

0

10000

20000 30000 Einwohner /km2

40000 270  

Abb 183 

U

0

20

40

60

80

100

% Autofahrten

 

Orientierungshilfe bei der Arbeit: Die Richtung muss stimmen – weg von der Entropie! Abb. 182 

Einwohnerdichte ‐ Unfallrate Verkerhstote/Mio EW (1980)

Abb. 183 Die Rate der Verkehrstoten nimmt exponentiell mit der Einwohnerdichte ab, lokal wie international.

140 120 100 80 60 40 20 0

Houston US‐Städte New York Paris Eiurop Städte und Stadtbezirke

0

10000

20000 30000 Einwohner /km2

40000  

Abb 183  Unfallraten aufweisen.) Tendenziell sind vergleichbare Städte mit höherer Einwohnerdichte auch verkehrssicherer. Die Einwohnerdichte ist (im Allgemeinen) auch ein Indikator für größere städtische Vielfalt, kurze Wege, höhere Anteile des öffentlichen Verkehrs, mehr Fußgeher und mehr Radfahrer. Der Hauptanteil der Unfallopfer, insbesondere der Getöteten, stammt aus der Gruppe der ungeschützten Verkehrsteilnehmer, der Fußgeher und Radfahrer. Die physikalischen Wirkungen dieses schnellen individuellen Verkehrssystems sind von der Gesellschaft bis heute in ihren rechtlichen Dimensionen nicht begriffen worden. Mord oder Totschlag mit sozial und kulturell bewältigten technischen Mitteln gilt selbstverständlich als Mord. Die Tötung von Menschen mithilfe von Maschinen, wie etwa dem Auto, hat die gleiche Wirkung für die Opfer, wird aber von der Gesellschaft als „Unfall“ bezeichnet, obwohl der Mensch eigentlich ermordet wurde. Beteiligt an diesen Morden sind Verkehrs- und Städteplaner. Wer eine Siedlung für das Auto erschließt, ist ein potenzieller Mörder, weil er ein System planerisch zugelassen hat, von dem er weiß, dass es in einer bestimmten Anzahl von Jahren zum Tod eines Prozentsatzes der lebenden Bevölkerung führen wird, insbesondere der Kinder. Der zweite Bereich ist jener der allgemeinen Sicherheit, ob man sich in einer Stadt oder einem städtischen Gebiet sicher oder gefährdet fühlt. Entscheidend dafür ist nicht nur der öffentliche Raum an sich, sondern vor allem die Einbeziehung der privaten Umgebung. Der öffentliche Raum in Städten ist immer auch ein Teil des privaten Raumes und steht mit diesem akustisch und visuell in enger Beziehung. Räume und Fenster in Wohnungen, Arbeitsplätzen und Geschäften in einer menschlichen Stadt sind zum öffentlichen Raum hin offen. Der öffentliche Raum ist damit auch immer ein Teilraum des privaten und ist in diesen eingeschlossen. Das Problem, dass dieses fundamentale Prinzip der Integration öffentlicher Räume in den privaten und umgekehrt – mit der Zerteilung der Straße in Fahrbahn und Gehsteig – zerstört wurde, hat man bisher weder in der Städteplanung noch in der Verkehrsplanung begriffen und behandelt. Die weitgehende oder völlige Trennung privater Räume vom öffentlichen städtischen Raum führt in der Folge zu wachsender Unsicherheit und Angst der Bevölkerung davor,

271

120

Zur Evolution der Städte

was sich in diesem öffentlichen Raum abspielt, da man ihn nicht mehr optisch und akustisch „im Griff“ hat. Die Menschen ziehen sich daher aus dem öffentlichen Raum zurück oder werden aus diesem vertrieben. Damit geht der Zusammenhalt zwischen den Menschen und der Zusammenhang der Stadt verloren. Stattdessen ziehen Angst und Furcht, aber auch die Kriminalität in diese frei gewordenen Räume der Stadt ein. In Südafrika hat man nach dem Ende der Apartheid zwar die schrecklichen Gefängnisse, wo Menschen hinter Stacheldraht und Elektrozäunen gehalten wurden, geschlossen und zerstört, dafür hat die „Angst vor den anderen“ vom ganzen Land Besitz ergriffen. In den Städten Südafrikas herrscht heute ein Geist des Gefangenseins. Die öffentlichen Räume sind in den Städten in der Nacht zu Räumen der Angst, zum Teil auch der Gewalt geworden. Die Menschen haben sich in ihre freiwilligen Gefängnisse hinter Stacheldraht und Elektrozäunen verschanzt. Die Stadt, die 24 Stunden lang leben sollte, ist damit tot. Die Situation in europäischen und amerikanischen Städten, wo die „Gated Communities“ noch nicht so üblich sind, ist aber durch den Autoverkehr, den man bis in die letzten Zellen der Stadt lässt, in ähnlicher Weise ruiniert worden. Um sich gegen Lärm und Abgase zu schützen, sind Wohnungen von den Straßen abgewendet, die Fenster geschlossen. Nutznießer dieser Entwicklung sind Firmen für technische Überwachungsgeräte verschiedenster Art, um die fehlende soziale Kontrolle technisch zu kompensieren. Allein die Kosten für diese Maßnahmen nehmen beständig zu und werden in absehbarer Zeit eine Grenze erreichen, die nicht mehr erträglich ist. Die Stadt ist durch den Autoverkehr von innen her aufgelöst worden. Das Recht auf ruhigen Schlaf und reine Luft wurde den Menschen genommen. Das Recht auf rücksichtsloses und bequemes Autofahren hat damit fundamentale Rechte auf Sicherheit im Wohnumfeld, Gesundheit und ungestörte Mobilität sowie soziale Kontakte unterminiert. Mit dem Auto kam das Unrecht in die Stadt. Apartheid in der Stadtplanung beseitigen Die strikte Trennung der Weißen von den Schwarzen hat zum furchtbaren Apartheidregime mit den unübersehbaren Folgen, auch noch weit über ein Jahrzehnt nach dem Ende dieses perversen Systems, geführt. Während in Südafrika systematisch und intensiv an der Bewältigung der Folgen dieses Apartheidregimes gearbeitet wird, stellen Experten wie Bruno Katz fest, dass in den USA die dort bestehende Apartheidpolitik noch gar nicht offiziell zur Kenntnis genommen, geschweige denn aufgearbeitet wird. Es sind die „Gated Communities“, mit denen sich die Reichen vom Rest der Bevölkerung physisch abgrenzen. Dieses menschenverachtende System der Apartheid wurde in der Politik und auf der sozialen Ebene erkannt, auf Ersterer endlich beseitigt. Dass eine dieser Apartheidpolitik vergleichbare Behandlung weltweit von den im vergangenen Jahrhundert erzogenen Planern betrieben wird, ist nicht bewusst. Wenn Stadt- und Verkehrsplaner Anlagen und Einrichtungen für den Fahrzeugverkehr ohne Rücksicht auf Menschen, also Fußgeher, gestalten, wird diese Gruppe, die das Lebensblut der Stadt darstellt, von der allgemeinen 272

Orientierungshilfe bei der Arbeit: Die Richtung muss stimmen – weg von der Entropie!

Städte mit den größten mittlere Reiseweiten mit dem ÖV 40 Städte mit den größten mittlere Reiseweiten mit dem ÖV

35 25 30 20 25 15 20 10

km

km

35 40 30

15 5 10 0 5 0   Abb. 184 Die Folgen der räumlichen Trennung der Bevölkerungsgruppen durch die Apartheidpolitik zeigen sich in Abb. 184  Johannesburg am deutlichsten. Japanische Großstädte weisen ebenfalls lange Distanzen im öffentlichen Verkehr auf, allerdings ist die Qualität der Bedienung wesentlich besser. Die Disparitäten resultieren dort vor allem aus den   hohen Kosten der Wohnungen.

Abb. 184 

25

Städte mit den längsten Auto-Reiseweiten

Städte mit den längsten Auto-Reiseweiten

20 25

10 15

km

km

15 20

5 10 05 0  

Abb. 185 

 

Abb. 185  Abb. 185 Die autoorientierte Verkehrsstruktur in Südafrika ermöglichte den Autobesitzern die Wahl günstig ­gelegener Wohnviertel, wenn auch teilweise in größerer Entfernung vom Stadtzentrum.

273

Zur Evolution der Städte

Teilnahme am städtischen Leben systematisch ausgeschlossen. Ob dieses Ausschließen durch die Polizei, wie in Südafrika, oder Strukturen erfolgt, mit denen die Entfernungen so weit vergrößert werden, dass sie ohne Fahrzeug nicht mehr bewältigt werden können, ist nur ein gradueller Unterschied und hängt vom Niveau des Verständnisses der Planer ab. Daneben gibt es noch eine Art von Apartheid in der Stadtgestaltung, wenn Verkehrsund Städteplanung praktisch isoliert voneinander betrieben werden. Das trifft auch für die Ebene der Regional- und Landesplanung zu. Die gebauten Strukturen beweisen diese Behauptung, wenn auch in den Programmen noch so eindringlich das Gegenteil beschworen und behauptet wird. Sie wissen zwar voneinander, nehmen aber aufeinander keine Rücksicht. Dies entspricht leider der herkömmlichen klassischen Verkehrsausbildung, aber auch der Architektur und Städteplanung, wenn bei der ersten davon ausgegangen wird, dass Verkehrsbedürfnisse befriedigt werden müssen, und bei der zweiten, dass die Erreichbarkeit ohnehin mit dem Auto zu gewährleisten ist. Diese Art der Apartheid kostet heute noch jährlich mehr als einer Million Menschen das Leben und vielen Millionen die Gesundheit. Wie erfolgreich die klassische Apartheidpolitik in Südafrika das Verkehrssystem dazu eingesetzt hat, um ihre politischen Ziele zu erfüllen, zeigt sich 10 Jahre nach dem Ende dieser Politik noch immer an den Indikatoren des Verkehrssystems. Die räumliche Trennung von Weißen und Schwarzen, wie etwa in Johannesburg, ist auch eine Trennung der Verkehrsmittelbenutzer. Weiße konnten sich – sie können sich auch heute noch – leichter ein Auto leisten als die verarmte schwarze Bevölkerung. Die Stadtstruktur spiegelt dieses schreckliche Regime bis heute an den 70 Minuten mittlerer Reisezeit für die Schwarzen wider. In Megacities, wie London oder Tokio, liegen die vergleichbaren Werte bei 34 bzw. 35 Minuten. Die Planungsfehler chinesischer Megacities werden an dem Reisezeitaufwand im öffentlichen Verkehr sichtbar. Das viel gepriesene Shanghai, in Wirklichkeit ein Albtraum einer Stadt, bestätigt diese Einschätzung auch durch seine mittlere Reisezeit von 60 Minuten, welche die Menschen in dieser menschenfeindlichen Agglomeration aufzuwenden haben. Während die durchschnittliche Entfernung für die Benutzer des öffentlichen Verkehrs in Johannesburg 35 km beträgt und eine absolute Ausnahme im Vergleich zu allen anderen Weltstädten darstellt, ist die mittlere Reiseentfernung in Johannesburg für Autofahrer zwar relativ groß, aber keineswegs eine derartige Ausnahmeerscheinung wie beim öffentlichen Verkehr. Schwarze waren seinerzeit vor allem die Benutzer des öffentlichen Verkehrs. Am Profil der Reiseentfernungen zeigt sich der Weiterbestand der realen Struktur von Apartheid. Unzumutbare Entfernungen bedeuten eine Ausgrenzung der Bevölkerung und damit eine Verletzung des Rechtes auf gleichen Zugang. Lässt man das Auto in der Stadt zu den Wohnungen, Arbeitsplätzen, Freizeiteinrichtungen und Geschäften, ist dies eine Verletzung in Bezug auf die Gleichheit der Menschen. 274

Orientierungshilfe bei der Arbeit: Die Richtung muss stimmen – weg von der Entropie!

80 70 60 50 40 30 20 10 0

Marseille Düsseldorf Lyon Prague Frankfurt Geneva Oslo Ruhr Vienna Bologna Glasgow Nantes Stuttgart amsterdam Manchester Rhijadh Madrid abijan Milan Athens Atlanta Berlin Chicago Helsinki Tehran Brisbane Cairo Cracow Hamburg Hongkong Paris Salvador Sapporo Washington Copenhagen Houston New York Newcastle Perth Wellington Brussels Harare Lille Montreal Johannesburg

Durschnittliche Reisezeit im öffentlichen Verkehr

Minuten

Abb. 186 72 Minuten durchschnittliche Reisezeit in Johannesburg – im Vergleich zu den meisten europäischen Städten, die so organisiert sind, dass sie die Menschen in 15 bis 25 Minuten an ihre Ziele bringen können.

 

Gegenargument: „Mit dem Ausschluss der Autos aus der Stadt oder den Siedlungen entsteht ja erst die richtige Apartheid.“ Motorisierung ‐ Länge Straßennetz Abb. 186 

m Straßennetz / 1000 Einwohner

10000 Diese Argumentation zeigt, wie auch andere Beispiele, den Verlust der Realität durch die 9000 Verschmelzung von Mensch und 8000 Auto. Kein Mensch wird bei der vorgeschlagenen Verlagerung der Parkplätze nach außen Im0,004x Gegenteil, es werden die vorher 7000 ausgeschlossen. y = 458,33e R² = 0,569 6000 getrennten Menschen wieder zusammengeführt und Voraussetzungen für funktionsfähige 5000 soziale Netzwerke, die eine lebendige Stadt kennzeichnen, geschaffen – es wird die heute 4000 bestehende „Apartheid“ beseitigt. 3000 2000

1000 Gated Communities – Free Machines 0 Menschen oder Maschinen hinter Mauern und Zäunen? 0 100 200 300

400

500

600

700

800

Kfz/1000 Einwohner Die USA besitzen – abgesehen von den Kulturen der ursprünglichen Bewohner, die von  den Zuwanderern im größtenAbb. 196  Genozid der Menschheit praktisch vernichtet wurden – keine längere Tradition für urbane Siedlungskultur oder ein urbanes Sozialsystem. Als Folge des Fehlens des sozialen Ausgleichs ergeben sich zwangsläufig Spannungen zwischen den Benachteiligten und den Bevorzugten, zwischen den Ausgebeuteten und den Ausbeutern. Die Folge ist eine wachsende Angst der Reichen um ihren Besitz, was schließlich dazu führte, sogenannte „Gated Communities“, eingezäunte Gemeinschaften – bisher nur in Gefängnissen bekannt –, auch in städtischen Gebieten einzurichten; Wohnghettos hinter Zäunen oder Mauern, rund um die Uhr bewacht, privat finanziert von jenen, die es sich leisten können. Menschen wurden damit von der Umgebung isoliert, sozial vom übrigen Teil der Stadt getrennt, womit eine Ghettosituation für die Reichen geschaffen wurde, als Gegenpol zur Ghettosituation der Armen. Dies widerspricht grundsätzlich dem städtischen Leben in seiner Vielfalt, Mischung und Fähigkeit, soziale und kulturelle Barrieren zu überwinden und innovativ zu bewältigen. Die bestehende integrative Kraft der Stadt in ihrer gesamten Geschichte – ausgenommen vielleicht die Regierungsbezirke, wie etwa die Verbotene Stadt in Peking – wurde damit von diesen Strukturen unterlaufen. Da diese „Gated Communities“

275

Zur Evolution der Städte

von allen Funktionen, wie Arbeit, Freizeit und dergleichen, getrennt sind, konnten sie erst mit dem Auto wirksam eingerichtet werden. Die „Apartheid des Geldes“ zwischen Armen und Reichen breitete sich in der Folge weltweit wie eine Seuche überall dort aus, wo sich die Beschäftigten amerikanischer Konzerne ansiedeln. Die europäischen Städte widerstanden und widerstehen bis heute zum Teil dieser Ghettoisierung, wenngleich sie auch zunehmend von der, auch von den USA ausgehenden und weltweit gezielt verbreiteten „Angst vor dem Terror“, die auch vor europäischen Städten oder zumindest Gebäuden nicht haltmacht, betroffen sind. Besonders Hochhäuser und die Ideologie der Privatisierung unterminieren das soziale Geflecht der Städte und untergraben damit ihre Zukunft. Die Stadt und ihre öffentlichen Räume waren einst sichere Orte. Die Stadt kann nur dann Zukunft haben, wenn der öffentliche Raum wieder zum sicheren Ort wird. Solange die Autos diesen besetzen, ist dies nicht möglich, wie bereits mehrfach ausgeführt wurde. Nicht nur die tägliche Polizeipraxis, auch die zahllosen Kriminalfilme mit ihren Autoszenen bestätigen dies. Damit der öffentliche Raum sicher wird, müssen Autos ausgeschlossen werden.

9.21 Stadt, Kultur und öffentlicher Raum Kultur, sehr häufig als Gegenpol zur Natur verstanden, ist ein Ergebnis der jüngeren Evolution. Ein zunehmender Teil der kulturellen Entwicklung erfolgt in den Städten. Wenn auch der Zeitraum von etwa 5.000 bis 10.000 Jahren noch sehr kurz ist, hat die städtische Kulturentwicklung begonnen, die übrigen Bereiche der Kulturentwicklung zu dominieren. Mit zur Stadtkultur gehört die Baukultur – die Gestaltung jener Räume, die auf lange Zeit das Verhalten der Menschen prägen und bestimmen. Der öffentliche Raum war in der kurzen Geschichte städtischer Evolution ein zentraler Faktor des Kulturgeschehens. Er spiegelt den kultivierten oder unkultivierten Umgang der Stadtbevölkerung mit ihren Bauten, von den kleinsten Details bis zu den großen baulichen und organisatorischen Einheiten. Die Gestaltung der Fenster, der Fassaden, der Türen, die Farbgebung der Oberfläche, die Wechselbeziehung zwischen Objekt und Straße, die zahlreichen Wechselbeziehungen mit dem bestehenden Gebauten sowie die individuelle Charakteristik jedes Elementes sind Ausdruck städtischer Baukultur. Sie bilden jenes komplexe Gebilde an Informationen, das nicht nur der Orientierung, sondern auch der unbewussten Neugier dient und Sicherheit vermittelt, die aus der Unverwechselbarkeit jedes Teiles resultiert und früher trotzdem ein harmonisches Gesamtbild ergab. Wie wir aufgrund der Forschungen wissen, sind diese Details in fundamentale Gesetze menschlichen Energiehaushaltes eingebettet, die für den Rhythmus von Enge und Weite, von Gassen und Plätzen sorgen und menschlichen Organismus und Stadtorganismus zur Harmonie brachten. Die Kunst der Stadtplanung besteht daher darin, auf der Grundlage dieser Gesetze die Stadtgestaltung und Stadtentwicklung weiterzutreiben. 276

Stadt, Kultur und öffentlicher Raum

Die Baukultur war daher in menschlichen Stadtgesellschaften auch ein Spiegelbild der menschlichen Kultur und deshalb auch ständigen Veränderungen unterworfen, aus denen fruchtbare Spannung entstand. Eine Planungskultur, die diese Baukultur weiterführen will, muss die Kunst beherrschen, Informationen des gebauten Raumes so zu gestalten, dass er mit der Geschwindigkeit des Fußgehers ein spannungsgeladenes, vielfältiges Ganzes bildet, will man kulturlose Stadtentwicklung vermeiden. Dazu hat sich die Planung nicht nur der Gestaltung der öffentlichen Räume, der privaten und öffentlichen Bauten und der Natur zu bedienen, sondern muss auch in der Lage sein, öffentliche Einrichtungen, zu denen Beleuchtungen, Verkehrszeichen, Wasserversorgung oder moderne elektronische Informationssysteme gehören, kulturell zu bewältigen. Das kulturelle Vakuum kann nicht von der „Kunst im öffentlichen Raum“ ersetzt werden, bei welcher Künstler einfallslose Fassaden mit ihren Beiträgen zu bereichern versuchen, ohne die Bedeutung der Gestaltung des öffentlichen Raumes zu erkennen. Die Fassade selbst ist ein Objekt der Kunst gekonnter Gestaltung und nicht, wie in den vergangenen Jahrzehnten, ein Ergebnis industrieller Massenproduktion. Die Öde einfältiger Straßenräume und ebensolcher Bauten kann man durch Kunst im öffentlichen Raum etwas mildern. Die bestehenden Defizite kann man damit allerdings nicht beseitigen. In einer lebendigen Stadt ergänzt sich die Kunst des öffentlichen Raumes harmonisch um die Kunst im privaten Raum. Es ist ein Ausdruck der Kultur – auch der Geschäfte, wie sie ihre Waren präsentieren, seien es Käse oder Kleider, Obst oder Schmuck. Daran erkennt man den Umgang miteinander und mit der Stadt. Mit zur Kultur der Stadt gehört die Kunst des Müßiggangs, die Gestaltung von Zonen, die dies erlauben, wofür sich die Übergänge von privatem und sogenanntem öffentlichem Raum besonders gut eignen, aber auch Teile des öffentlichen Raumes müssen dafür geschaffen sein. Mit zur Stadt und Kultur gehört der kultivierte Umgang mit den natürlichen Grundlagen, den Wasserläufen, den Pflanzen, dem Boden und der Topografie. Pflanzen können eine permanente oder temporäre Bereicherung gebauter Umwelt sein und sind immer ein unverzichtbarer Bestandteil der Stadtkultur. Die Kanalisierung einst offener Wasserläufe kennzeichnet den Verfall der Stadtkultur im 20. Jahrhundert, um sie durch gesichtslose, graue Beton- und Asphaltoberflächen zu ersetzen, um Raum für den Autoverkehr zu schaffen. Zur Verwaltungskultur gehört die Kenntnis der Hierarchie der Werte, die verloren gegangen ist, als man begonnen hat, wertvolle historische Bausubstanz zu beseitigen, um Maschinenbedürfnisse zu befriedigen. Kultur ist an den Informationen festzumachen, die von jedem gestalteten Element ausgehen und bis zu Wandzeitungen und elektronischen Informationssystemen reichen. Dabei spiegeln nicht nur deren Gestaltung, sondern auch deren Inhalte die Kultur einer Gesellschaft wider. Es ist bezeichnend für die Jetztzeit, dass diese Elemente fast ausschließlich zur Kapitalmaximierung eingesetzt werden. Werbung statt Gestaltung beherrscht zunehmend die Informationssysteme im öffentlichen Raum. Gebäude treten immer mehr zurück – vielfach ist das gar kein Schaden. 277

Zur Evolution der Städte

Abb. 187 a u. b Die sogenannte „Rauchfangkehrerkirche“ in Wien, ein einzigartiges Denkmal einer Kirche in der Mitte des öffentlichen Raumes, musste dem Auto weichen. Die Stadt verlor einen unverwechselbaren Teil ihres Gesichtes.

Abb. 188 Auch die Straßenbahn hatte von der Oberfläche zu verschwinden, um dem Auto Platz zu machen. Das schwarze Loch – ein Symbol für diese finstere Zeit kulturlosen Städtebaues und Verkehrswesens.

278

Stadt, Kultur und öffentlicher Raum

Mit zur Kultur gehört der Umgang mit der Geschichte einer Stadt und ihrer Umgebung, aber auch die Weltsicht von innen wie von außen. Aufgabe der Stadtplanung ist es, diesen Reichtum der historischen Entwicklung bewusst zu machen, aufzugreifen, darzustellen und weiterzuführen. Stadtplanung hat einen Beitrag zu den Beziehungen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu leisten und zu beachten, dass sie es hier mit Zyklen zu tun hat. Allein, wie man mit den Haltestellen des öffentlichen Verkehrs in den vergangenen 150 Jahren umgeht, charakterisiert die Unterschiede. Im 19. Jahrhundert waren Haltestellen des öffentlichen Verkehrs anspruchsvolle architektonische Leistungen unter Berücksichtigung ihrer vielfältigen Funktionen für die späteren Nutzer. Haltestellen des öffentlichen Verkehrs sind heute ein Ausdruck der Missachtung des Stadtbewohners durch die Stadtplanung und die Verkehrsbetriebe, deren Ziel – bedingt durch Neoliberalismus und EU – nicht mehr der Kunde ist, sondern die Kapitalmaximierung und Effizienzsteigerung um jeden Preis. Genauso verantwortungslos wie die Staatsführungen regieren auch Stadtverwaltungen, wenn sie Einsparungen in erster Linie im Kulturbereich tätigen, weil sie die Folgewirkungen erst längerfristig verantworten müssen, falls ihnen dies überhaupt bewusst ist. Diese Folgewirkungen sind allerdings unabsehbar, geht einmal die Kultur einer Stadt verloren. Mit zur Planungskultur gehört der Umgang mit den Plätzen, die Gestaltung der Straßenoberfläche, die Wahl des Materials, die Abstimmung der Hauszugänge, die Differenzierung und Unverwechselbarkeit der Ensembles innerhalb der Stadt und die Fortsetzung der einst erzielten hohen Gestaltungskultur, die mit dem industriellen Städtebau verloren ging und ein Vakuum hinterlassen hat, das sich in vielen Aspekten städtischen Lebens, wie der Stadtflucht, aber auch der Kriminalität niederschlägt. Die Kulturlosigkeit der Stadtplanung muss von der Gesellschaft oft mit hohen Kosten bezahlt werden. Nimmt man das Auto – wie es für alle nachhaltigen Städte notwendig ist – aus den ­städtischen Räumen, ist die Planung gezwungen, wieder kultivierte Stadtentwicklung zu betreiben und kann nicht weiter öffentliche Räume nach willkürlichen Maschinenmaß­ stäben industriell über Flächenwidmungs- und Bebauungspläne produzieren. Das Ergebnis der Stadtplanung ist in der Regel zwar nicht eigenständige Kultur, aber die Schaffung von ­Voraussetzungen zur Kulturentwicklung der Gesellschaft, zum kultivierten Miteinander und nicht aggressiven Gegeneinander. Das Ergebnis der Stadtplanung muss Animation zur ­Kultur, Ermunterung zur Originalität, zur Unverwechselbarkeit und Lebendigkeit sein – das Gegenteil der heute erzeugten einfallslosen Uniformiertheit. Wohnraum ist nur ein Teil des Lebensraumes Die „Schaffung“ von Wohnraum war und ist – abgesehen von den sogenannten „Schrumpfungsgebieten“ – die zentrale Tätigkeit der Stadtverwaltungen in diesem Sektor. Gleichzeitig wird aber unisono betont, dass die Ansprüche an den Wohnraum in den vergangenen fünf 279

Zur Evolution der Städte

Jahrzehnten quantitativ – in Europa – angestiegen sind. Von 16 m2 oder 19 m2 – je nach Statistik – auf 26 m2 bzw. 32 m2 pro Person. Was man dabei allerdings immer vernachlässigt, weil Architekten und auch Stadtplaner meist objektfixiert sind, ist die Beziehung zum Umfeld, dem öffentlichen Raum. Dieser ist in der gleichen Zeit in Fahrbahnen und Abstellflächen für Autos umgewandelt worden und die Planung hat jedem Auto schon mehr Fläche zur Verfügung gestellt als jedem Menschen, denn der Wohnraum steht mit dem Lebensraum in Beziehung und ist nur ein Teil dieses Lebensraumes. Ein wesentlicher Teil des Lebensraumes war in der gesamten Geschichte der Menschen und ihrer Siedlungen das informelle soziale Umfeld – jener Raum, den man heute als den „öffentlichen“ Raum bezeichnet –, der aber durch das Auto zu einer lebensgefährdenden Umgebung wurde. In der Stadtplanung geht es nicht (nur), wie in der heutigen Stadtentwicklung überwiegend diskutiert wird, um die „Bereitstellung und Schaffung von Wohnraum“, sondern um die Gestaltung von Lebensraum für alle. Damit werden über die sich dort bildenden Sozialbeziehungen (wenn die Gestaltung gelungen ist) nicht nur Leistungen erbracht, die heute die Sozialbudgets überlasten und sprengen, sondern auch die immer deutlicher werdenden Defizite der Sozialbildung und Sozialisierung – nicht nur mehr der Jugendlichen – zumindest teilweise beseitigt, denn zwischen den Defiziten der Familien, die ja zur Funktion im Gesamtsystem mindestens über drei Generationen verknüpft sein müssen, und den Defiziten der Schulen, die diesbezüglich überfordert werden, besteht heute das Bildungsdefizit im öffentlichen Raum. Ein urbaner Raum hat nämlich eine wichtige Bildungsaufgabe zu erfüllen, allein wegen der Zeit, die Menschen dort verbringen. Wege haben eine – leider in der Stadtentwicklung der vergangenen 200 Jahre – nicht wahrgenommene Bildungs- und Sozialisierungsfunktion. Die heutigen Strukturen des öffentlichen Raumes sind das Gegenteil. Und wo Mängel entstehen, steigen die Kosten – wenn auch manchmal mit Verzögerung. Die Gestaltung öffentlicher Räume, aber auch der Objekte der vergangenen Jahrzehnte sind nicht nur der Ausdruck für die Kulturlosigkeit bei der Ausbildung der Experten und der Einstellung der Politiker, sondern auch Ausdru������������������������������������� ck der architektonischen Sprachlosigkeit gegenüber der Gesellschaft und der Farblosigkeit ihrer Vertreter, die sich in der grauen Eintönigkeit oder glasschwarzen Oberflächlichkeit sowie im Informations- und Ausdrucksmangel ihrer Objekte widerspiegelt. Es ist kein Zufall, dass sich die Jugend auf ihrer Suche nach selbstständiger Kulturgestaltung eher in den älteren Objekten als in Neubauten trifft und die von den Planern dafür vorgesehenen Einrichtungen kaum genutzt werden, seien es Jugendzentren oder Kinderspielplätze. Stadtkultur ist sowohl eine Kultur des Miteinanders als auch der Auseinandersetzungen untereinander. Graffitis sind wohl die deutlichsten Ausdrücke der Sehnsucht nach einem interessanten Umfeld. Die Voraussetzungen für eine Offenheit oder Geschlossenheit einer Gesellschaft werden aber nicht nur von den subjektiven Einstellungen ihrer Mitglieder beeinflusst, sondern auch von den Randbedingungen, unter denen diese leben. Dazu braucht man Kommunikations280

Stadt, Kultur und öffentlicher Raum

räume – und das sind die öffentlichen. Hochhäuser sind ein Indikator für fehlende städtebauliche Kultur, weil ihnen die Vielfalt fehlt – der Humus, auf dem Kultur nur wachsen kann. Die Enge der Aufzüge vermittelt nicht Freiheit, sie sind keine Elemente, in denen sich menschliche Kultur frei entfalten kann. Mit zur Kultur gehören auch die Einrichtungen der Religionsgemeinschaften als Erweiterung der öffentlichen Räume mit leichtem Zugang sowie die offiziellen Kultureinrichtungen für die lokalen und zentralen Bedürfnisse: Kaffeehäuser, Gaststätten, Einrichtungen in Parks, auf öffentlichen Plätzen zur Förderung der Kommunikation, aber auch zur Kontemplation, die Integration der Schulen in die kulturellen Gewebe der Stadt und die Öffnung der Arbeitsstätten zum öffentlichen Raum, um den Kindern den Zugang zum kultivierten Miteinander der Erwachsenen spielerisch zu ermöglichen. Die Rücksichtnahme der Menschen aufeinander und das gegenseitige Wohlwollen werden durch die gebaute Umwelt entweder gefördert oder erschwert. Verkehrssysteme, die den Menschen als Transportgut und nicht als kultiviertes Lebewesen betrachten, sind Ausdrücke einer fehlenden städtischen Kultur. Und wieder zeigt sich: Menschliche Kultur ist am besten mit den Verkehrsmitteln Fußgeher und Radfahrer zu erreichen sowie mit einem gut gestalteten öffentlichen Oberflächenverkehr. Der isolierte Autofahrer entzieht sich der Kultur durch Identifikation mit der Maschine, die ihm eine unfassbare Kraft, der sein Geist nicht folgen kann, vermittelt und ihn zum unkultivierten Übermenschen werden lässt, der instinktiv vielleicht merkt, dass er doch nur ein Opfer dieser Entwicklung geworden ist. Die Bedeutung der Erdgeschosse für eine vitale Stadt Die Erdgeschosse sind die Kontaktzonen für die Menschen im öffentlichen Raum einer Siedlung, einer Stadt, ebenso wie die Gebäude die Ansprechzone bilden. Abweisende Erdgeschosse und sprachlose oder stereotype Fassaden verhindern den Dialog mit den Bewohnern und Besuchern, grenzen diese aus. Wer ist schon interessiert, mit Elementen in Kontakt zu treten, die einem nichts zu sagen haben oder abweisen. Ein Beispiel für das grundlegend fehlende Verständnis für eine lebendige Stadt sind die Entwürfe der „Hafencity Hamburg“, wo man auf halbem Erkenntnisweg ganze städtebauliche Fehler begeht. Zwar wird in vorbildlicher Weise das Erdgeschoss mit 5 m Höhe (warum immer 5 m?) als Zone für die erwarteten Nutzungen ausgewiesen, nur wurde vergessen, durch die Gestaltung öffentlicher Räume dafür zu sorgen, dass dort auch die erforderliche Anzahl der Kunden mit einiger Wahrscheinlichkeit auftauchen wird. Die Planungserwartung ist vergleichbar mit einem Fischer, der in einem Klärbecken Fische fangen will. Zum Fischen braucht man neben der Angelausrüstung auch ein Gewässer, in dem Fische leben können. Dass die Kunden vor den Fassaden der Erdgeschosse gar nicht auftauchen, dafür sorgen die Tiefgaragen unter den Gebäuden, die Menschen aufsaugen und in die Supermärkte entführen. Allein die Planung für 18.000 Bewohner und 40.000 Arbeitsplätze widerspricht grundlegenden raum281

Zur Evolution der Städte

ordnerischen Regeln für eine lebendige Stadt. Diese Struktur ist nicht nur in sich städte­ baulich falsch, sondern trägt zur Vergrößerung der Disparitäten in der gesamten Stadt und der Region bei, weil auf die stabilisierende Struktur des Fußgehers als zentrales Element der Stadt vergessen wurde. Wenn man erfährt, dass das „Zentrum“ dieser vertanen Chance für eine lebendige Stadt von einem großen Teil der Bewohner und Beschäftigten durch ein Hafenbecken getrennt ist, muss man sich fragen, ob die Planer angenommen haben, dieses Gebiet werde von Pinguinen oder Seehunden bevölkert? Auch das verständnislose Kopieren mittelalterlicher Stadtgrundrisse, um die „Körnung“ zu finden, beweist, wie wenig jene, die sich mit dieser Planung beschäftigten, von den Strukturen einer menschengerechten Stadt verstanden haben. Die Planer, welche die „Körnung“ für die Hafencity gesucht haben, waren blind für die lebendige Struktur einer menschengerechten Stadt, weil sie den Menschen nicht kennen, denn nicht nur die „Körnung“, also die Zellengröße, bestimmt die Qualität ­einer städtischen Struktur, dazu gehören auch das Arrangement, die Zuordnung und die Form der Zellen, deren unterschiedliche Funktionen sowie die Stimmigkeit von Raum und Fläche. Stadt lebt, wenn sich Menschen im öffentlichen Raum freiwillig in jeder Mischung und jeden Alters gerne aufhalten. Die Gegenüberstellung der Grundrisse von Hafencity und einer mittelalterlichen Stadt zeigt, überträgt man sie auf die belebte Natur, etwa den strukturellen Unterschied zwischen der Komplexität zwischen einem Fadenwurm und einem Säugetier. Dass diese Primitivstrukturen bei den gierigen Investoren beliebter sind als anspruchsvolle, lebendige Stadtteile mit Identität und daraus resultierenden selbstbewussten Einwohnern und Wirtschaftstreibenden, zeigt das durch Unkenntnis der Wirkungsmechanismen bedingte Versagen der Planer, der Verwaltung und der Politik. Es gibt solche und noch viel schlimmere Beispiele in nahezu allen größeren Städten, aber nicht überall wird die städtebauliche Chance in einer so wertvollen und ausgezeichneten Lage verjuxt wie in der Hafencity Hamburg. Dass die Atemluft in diesem Neubaugebiet durch die nahe „Schiffsautobahn“ vielleicht noch viel schlimmer verpestet wird wie entlang vieler Autobahnen, sei nur nebenbei erwähnt. Von den Städten mit Gesicht zu gesichtslosen Agglomerationen und zur Stadt der Hinterteile Städte spiegeln in ihren Erscheinungsformen – den großen wie den kleinen – die Kultur und Zivilisation, aber auch die Gedankenstrukturen, vor allem auch die unbewussten, der Planer und Architekten wider. Städte der Menschen haben immer ein Gesicht, das sich im Großen in der Außenansicht und im Kleinen aus der Sicht der öffentlichen Räume widerspiegelt. Kennzeichen sind die Wiedererkennbarkeit und Unverwechselbarkeit, wie auch bei den menschlichen Gesichtern, die zwar alle die gleichen Funktionselemente haben, aber trotzdem eine unendliche erkennbare Vielfalt aufweisen. Agglomerationen, die man immer noch irrtümlich als Städte bezeichnet, sind jene gesichtslosen Gebilde, in denen man sich nur mithilfe eines Navigationssystems orientieren kann, weil alles an ihnen auswechselbar ist, 282

Klimaregelung für Menschen durch Städtebau

wie bei den Industrieprodukten der Massenfertigung. Dass die Umwelt auf die Bewohner zurückwirkt, ist offensichtlich und am stumpfsinnig willigen Verhalten zu beobachten, wie sich diese, dem Diktat der Konzerne unterwerfend, täglich in ihre stereotypen Arbeitskobel treiben lassen, um ihrer mehr oder weniger eintönigen Beschäftigung nachzugehen und sich finanziell scheren zu lassen. Ob es die endlosen Wüsten der amerikanischen Einfamilien­ haussiedlungen, die Wohnblocks des Ostens, Chinas, Afrikas, Lateinamerikas, Europas und die düsteren Hochhausballungen des „Central Business District“ (CBD) sind, sie sind be­ liebig austauschbar wie die Einrichtung der Massentierhaltung. Die städtebauliche Unfähigkeit zeitgenössischer Architekten findet ihren Ausdruck nicht nur in den unsinnigen Hochhäusern, deren Geschosszahl oder Höhe ein Ausdruck dieser ­Eigenschaft ist, sondern auch in der völligen Unterwerfung unter das Diktat des Autos in ­ihren Hirnen. Diesem Diktat folgend, akzeptieren sie die Verwüstung des öffentlichen Raumes durch Lärm und Abgase, indem sie die Häuser, die in einer menschlichen Stadt ihr Gesicht immer dem öffentlichen Raum zuwenden und diesem gegenüber offen sind, gegen den Straßenraum hermetisch abschließen oder ihm die Rückseite zuwenden. Wo früher abwechslungsreiche Fassaden, offene Balkone und repräsentative Fenster das Gesicht der Gebäude bildeten, erkennt man heute die Rückseiten der Wohnungen an den Lüftungsschlitzen der WCs oder den meist toten Verbindungsgängen, die in Gefängnissen meist innen angeordnet werden. Es ist dann kein Wunder, dass sich in einer solchen Umgebung kaum jemand freiwillig aufhalten will, wo ihm überall die meist auch noch nackten Hinterteile der Auswürfe heutiger ArchitektInnen und verständnisloser StädtebauerInnen entgegenstarren, bestenfalls noch verschleiert von einer vorgehängten monotonen Fassade. Ist diese verspiegelt, drückt sie damit die gestalterische Sprachlosigkeit des Entwerfers aus, der nur auf die Reflexion von der Umgebung angewiesen ist. Das alles nur, um die Freude des ungehinderten Tobens der Spezies Autofahrer nicht zu stören. Dort, wo einst die Gedanken für einen menschengerechten Städtebau entstanden, sitzt in den Hirnen der Planer, Beamten und Architekten das Auto und steuert ihre Handlungen, ihre Weltsicht, ihr Wertesystem und beweist an den Produkten, die diesen Hirnen entspringen, dass deren Träger dem Auto nicht gewachsen sind.

9.22 Klimaregelung für Menschen durch Städtebau Je nach klimatischen Verhältnissen weisen menschliche Siedlungen verschiedenste Elemente und Bauformen auf, die den Aufenthalt im öffentlichen Raum angenehm gestalten. Die Gestaltungselemente bieten Schatten gegen Sonne und Schutz gegen Niederschlag, Wind und Kälte im Winter. Elemente sind Baumalleen, enge Gassen, Arkaden, Überbauungen und geeignete Straßenführung. Häuser, sagte Prof. Rainer, sollen grundsätzlich nicht höher sein als die Bäume, um deren Klimaregelung nutzen zu können. 283

Zur Evolution der Städte

Abb. 189 a u. b Arkaden bieten Wetterschutz und Schatten und sind ein unverzichtbarer Bestandteil menschengerechter Stadtplanung (New Delhi und Venedig).

Der Mensch wird damit in die Stadt integriert, die von ihm erhalten wird. Es gibt im Städtebau keinen anderen Maßstab als den des Menschen, wenn er sich wohlfühlen soll. Wie Kleidung und Schuhe dem Menschen angemessen sind, waren es auch Siedlungen, die nach seinem Maß errichtet und betrieben wurden. Städtisches Klima ist aber nicht nur eine Frage der Temperatur und Luftfeuchtigkeit, sondern viel mehr: die Einstellung der Menschen zueinander, zu Besuchern und Fremden, zum Umland und zum „Rest der Welt“. Es kann daher „warme Städte“ im Norden und kalte im Süden geben, wenn die Herzenswärme oder -kälte zu spüren sind. Planung spielt dabei eine zentrale Rolle, wie jemand in der Stadt oder Siedlung aufgenommen wird, wie er sich zurechtfindet, wie ihn der öffentliche Raum aufnimmt oder abstößt, von den Menschen und der Stadt trennt – wie etwa in Pudong, dem neuen Stadtteil von Shanghai, oder La Defense in Paris usw. Dieser Indikator ist einfach zu messen: Man zählt die Menschen, die sich im öffentlichen Raum freiwillig aufhalten. Wie sehr sich Menschen nach „ihrem Maßstab“ sehnen, beweist der Boom des Städtetourismus und die Summen, die dafür ausgegeben werden. Ziele sind neben den Sehenswürdigkeiten immer nur die alten Stadtviertel. Dort findet der Mensch noch die Dimensionen, welche die Planer in den vergangenen zwei Jahrhunderten verloren haben. Eines haben diese attraktiven Städte gemeinsam: die geschlossene Bebauung. Städtebau als Kunst qualifizierten Umgangs mit geschlossener Bebauung Was einst in hoher Vollendung zu maximaler Effizienz und Vielfalt in der Siedlungsgestaltung geführt hat, war die Kunst der lebendigen, geschlossenen Bebauung. Diese Fähigkeit ist in der sogenannten modernen Stadt- und Siedlungsplanung verloren gegangen. Ausläufer dieser Bemühungen findet man noch im sozialen Wohnbau, etwa in Wien im ersten Viertel 284

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des 20. Jahrhunderts. Mit der in den Richtlinien und Lehrmeinungen bis zur Stupidität verkommenen, berechtigten Forderung eines Le Corbusier nach Licht und Luft begann die räumliche und funktionale Auflösung städtischer Organismen. Weder in den großartigen Städten des Mittelalters noch in den leider von Bulldozern beseitigten, hervorragend klimatisierten, aus Lehm erbauten Städten in den Wüstengebieten fehlt es an Licht und Luft. Sie bieten nicht nur beides, sondern schützen auch gegen beides, gegen zu viel Sonne und zu viel Luft in Form von Wind. Wer die Hitze oder die eiskalten Winde in den öden Straßenschluchten Manhattans erlebt hat und die geborgene Atmosphäre in den Arkaden mehrgeschossiger europäischer Städte aus dem Mittelalter kennt, weiß den Unterschied zu schätzen. Geschlossene Bebauung erfordert vom Architekten nicht nur ungleich mehr Rücksicht auf die Nachbarn – also soziale Integration der Architektur –, sondern auch erheblich mehr an Kunstfertigkeit in der Innenraumgestaltung der Gebäude, als es die „Würfelhuster“ heutiger Stadt- und Raumplanung auch nur ahnen. Optimale Durchgängigkeit bei maximaler Geschlossenheit war früher ebenso gefordert wie die Integration der Bedürfnisse nach Grün, natürlicher Beleuchtung, sozialer Geborgenheit und öffentlicher Sicherheit. Diese scheinbar widersprüchlichen Forderungen sind nur dann unter einen Hut zu bringen, wenn man die Stadt als lebendigen Organismus, als offenes System im Sinne der Holone versteht, gebildet von Menschen in ihren vielfältigen Holonen ihrer gesellschaftlichen, privaten und beruflichen Bindungen. Nur daraus ist das angestrebte und erforderliche harmonische Verhältnis aus Freiheiten und Pflichten zu erzielen. Allein diese Forderungen lassen es nicht zu, dass Verkehrsmittel, wie private Autos, diese lebensnotwendigen Bindungen dadurch zerstören, dass man sie bis in die kleinste Zelle und den öffentlichen Raum hineinlässt. Wer die Stadt für das Auto erschließt, braucht sich um die daraus resultierenden Probleme nicht mehr zu bemühen, sie sind bereits optimal integriert. Wer eine Stadt nach menschlichem Maß – und nur das ist eine Stadt – gestalten will, muss sich um die Kunst einer geschlossenen Bebauung bei maximaler Freiheit auf allen Ebenen bemühen. Das schafft dann Vielfalt, „Resilienz“ und jene Nachhaltigkeit, die sich an der Zufriedenheit und dem Glück ihrer Bewohner ablesen lässt. Verkehrsplanung, Städtebau und Grünstrukturen Jede bautechnische Maßnahme der Verkehrs- und Siedlungsplanung hat in den vergangenen zwei Jahrhunderten in der Regel zu mehr oder minder großen Eingriffen in Grünstrukturen geführt. Das europäische Siedlungs- und Verkehrswesen hat sich seit Jahrhunderten der Grünstrukturen bedient und damit auch Raum und Landschaftselemente großer Vielfalt und Einmaligkeit geschaffen, denkt man an die landschaftsbildenden Alleen im Freiland und in den Siedlungen oder die markanten Einzelbäume an Wegkreuzungen und auf Plätzen. Es gehörte früher auch zur Ausbildung des europäischen Ingenieurs, den Pflanzenbestand des Planungsgebietes zu kennen, um damit sachkundig umgehen zu können. 285

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Diese Periode des naturnahen Ingenieurwesens, bei dem man in kluger Weise die Eigenschaften der Pflanzen zum Vorteil der Verkehrsanlage zu nutzen verstand, ging mit zunehmender Geschwindigkeit der Verkehrsmittel und Macht der Baumaschinen verloren. Pflanzen traten gegenüber technischen Lösungen in den Hintergrund. Dabei ist der Fortbestand aller Siedlungen und ihrer Bewohner von der Tragfähigkeit und Leistung des Ökosystems, der Natur und ihrer Kreisläufe abhängig. Nur wenn es gelingt, den ökologischen Fußabdruck der Städte auf ihre Verwaltungsgrenzen zu reduzieren, werden sie in Frieden mit dem Umland weiter bestehen können. Die Krisenzeit, etwa des Zweiten Weltkrieges, hat die fehlenden Basis­ressourcen der Stadtbevölkerung deutlich aufgezeigt, die, um überleben zu können, auf das Land zum „Hamstern“ ausziehen musste, um ihre Wertgegenstände gegen Lebensmittel einzutauschen. Die Forderung, dass sich die Städte selbst mit Lebensmitteln versorgen müssen, ist daher nicht überzogen. Auch die Energie, die man braucht, wird dort zum Großteil zu ge­ winnen sein. Und, wenn man den Wert reinen, gesunden Wassers erkannt hat, wird es nicht – wie schon heute (Israel und Palästina) – auf nationaler Ebene, sondern auch lokal zum Kampf um das Wasser kommen. Jeder Quadratmeter Boden, den man landwirtschaftlich als Nutzgarten oder forstlich nutzt, ist ein Gewinn für die Gesellschaft und die Zukunft. Dass die Städte „Ursprungsorte der Gärten sind“, wie es Christian Schwägerl68 formuliert, mag vielleicht etwas überzogen sein, dass aber Gärten ein existenzieller Faktor und Teil jeder Stadt sein müssen, steht außer Zweifel. Daher waren Gärten immer ein integraler Teil der Stadt. Darauf glaubte man erst mit dem sozialen Wohnbau zu Beginn des 20. Jahrhunderts verzichten zu können und musste diesen Mangel schnell mit den Schrebergartensiedlungen am Stadtrand kompensieren. Die technikhörige Stadtentwicklung eines Le Corbusier schlug in der Folge Architekten und Städteplaner mit Blindheit für diese Grundbedürfnisse der Menschen und ließ es zu, dass dort, wo sich Gärten befinden sollten, versiegelte Flächen für Autos vorgehalten wurden. Jeder Quadratmeter, der versiegelt wird, ist ein Faden weniger im lebenserhaltenden Netz der Natur, von der wir alle abhängig sind. Der Baum, früher ein unverzichtbarer Klimaregler, Schattenspender, Bodenstabilisierer und Landschaftselement, wurde zum störenden Gegenstand beim Parken und zum gefährlichen „seitlichen Hindernis“ (man beachte die Logik) an den Fahrbahnen. Die Bauindustrie begann im Verkehrswesen eine industrielle Umwandlung natürlicher Lebensräume in Fahrbahnen und andere Verkehrsanlagen. Den Grünstrukturen wurde und wird immer noch wenig Beachtung geschenkt. Stattdessen versuchte man, mit Gewalt der Maschinen und der billig verfügbaren externen Energie gegen die Natur zu arbeiten. Pflanzen wurden nur insofern berücksichtigt, als sie bautechnischen und ökonomischen Wert aufwiesen. Die von Frederic Vester durchgeführten Analysen der wirtschaftlichen Bedeutung eines Baumes als 68 Schwägerl, Christian: Menschenzeit; zersören oder gestalten? Die entscheidende Epoche unserers Planeten. Riemann Verlag München 2010.

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Abb. 190 a u. b Der Baum als Klimaregler verrichtet seine Leistung kostenlos und ist ein unverzichtbares Element guter Stadtgestaltung (Hanoi und London).

Holzlieferant oder als Teil des Ökosystems zeigen anhand ökonomischer Zahlen den unglaublichen Irrtum, den diese Betrachtungsweise im Gesamtsystem verursacht hat. Hinter dieser Betrachtungsweise steht eine anthropozentrische Auffassung, die durch solide Sachunkenntnis begründet ist. Pflanzen und Grünstrukturen haben aus dieser Sicht keine eigene Bedeutung, sie sind nur insofern nützlich, als sie für wirtschaftliche oder technische Maßnahmen zweckmäßig erscheinen. Der Selbstwert von Grünstrukturen wurde und wird bis heute nicht beachtet, was auch sprachlich, etwa in der Siedlungsplanung, zum Ausdruck kommt. Städteplaner reden immer noch von sogenannten „grünen Fingern“, wenn Grünzonen fingerartig in den gebauten Strukturen „zugelassen“ werden. Tatsächlich sind es aber die Grünstrukturen – die Basis des Lebens für Tier und Mensch –, die durch die Planungs- und Bautätigkeit nachhaltig zerstört werden. Man kann daher nicht von „Green Fingers“ im städtischen Gebiet reden, sondern von „Dirty“, „Grey“ oder „Black Fingers“ der Siedlungen, die in die Grünstrukturen eingreifen. Grünstrukturen, also Grünland, werden immer noch als billige Ressourcen für die sogenannten Investoren betrachtet. Immer mehr Gemeinden behaupten, sie wären wirtschaftlich nicht mehr in der Lage, sich Grünstrukturen leisten und erhalten zu können. Eine geradezu absurde Betrachtungsweise, da die Natur Hunderte von Jahrmillionen ohne Menschen ausgekommen ist und sich jederzeit auch selbst erhalten kann – zum Unterschied vom Menschen. Diese Betrachtung zeigt die perverse Sichtweise mancher Zeitgenossen zur Natur, die man nur dann als solche toleriert, wenn man sie auf das Niveau von sterilen Rasenflächen reduziert, um sie gegen die natürliche Gestaltung zu „verteidigen“. Sie ist aber auch das Resultat der heutigen Finanzstrukturen, das Ergebnis eines positivistischen römischen Rechtes, das fernab jeder natürlich realen Situation nach wie vor das Denken der Menschen blockiert und behindert. Die heutige mindere Bewertung der Grünstrukturen ist eine Folge dieses aus dem allgemeinen Recht und später in die Ökonomie eingeflossenen Zustandes. So kostet ein Bauland, je nach 287

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Zweck, das Vielfache des Grünlandes – allein dadurch, dass in der Flächenwidmung Grundstücken eine bestimmte Funktion zu- bzw. abgesprochen wird. Diese Funktionsveränderung bedeutet in der Realität eine Schwächung des Ökosystems, also eine Abwertung. Die Ökonomie als heutige Ersatzreligion vertauscht einfach die Vorzeichen, weil sie nach wie vor Wohlfahrt aus individualistischer Sicht definiert, im Gegensatz zur ökologischen Realität. Der Eigenwert von Grünstrukturen Je nach Art des Bewuchses leisten Grünstrukturen einen erheblichen Beitrag zur Erhaltung des Lebens auf der Erde. Sie sind die Voraussetzungen für die Sauerstoffproduktion, Luftreinigung, Wasserspeicherung, Bodenstabilisierung, automatische Regenerierung, Landschaftsgestaltung und Lebensqualität.

Abb. 191 a u. b Eigen- und Restwert von Grünräumen. Im rechten Bild erkennt man an den Trittspuren, dass der Planer nicht an die Fußgeher dachte (Montreal).

Wird eine Grünstruktur zugunsten von Baumaßnahmen von toter Materie in Form eines Bauwerkes, als Fahrbahn oder von sonstigen technischen Anlagen ersetzt, entfällt deren lebenserhaltende Leistung für die Gemeinschaft. Es entsteht ein technisch bedingter Sozialfall. Abb. 192 Der kostenlose Jahreszeitenbeitrag der Grünpflanzen für Menschen, die sich diese Wunder erschlossen haben.

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Der Nutznießer eines Bauwerkes, das die lebenserhaltenden Grünstrukturen vernichtet hat, indem es die Oberfläche versiegelt oder verbaut, ohne für einen adäquaten Ersatz zu sorgen, hätte – dem Verursacherprinzip entsprechend – die Gesellschaft für die verloren gegangene Leistung zu entschädigen. Er entzieht durch seine Bautätigkeit der Erde dieses lebenserhaltende Potenzial, zumindest für eine bestimmte Zeit. Mikro- und Makrostrukturen Die heute dominierende fachliche Betrachtung der Grünstrukturen in Siedlungen bezieht sich vor allem auf künstlich gestaltete oder natürlich übrig gebliebene Formen „grüner“ Makrostrukturen, wie Parks, Grünzüge, grüne Landschaftsgebiete und dergleichen. So wird etwa der Grünraum unter dem Aspekt der Ästhetik behandelt.69 Dass die Bewertung eines Grünraumes personenspezifisch unterschiedlich ist und auch von der Ausbildung stark beeinflusst wird, ist nicht verwunderlich, denn Sehen muss, abgesehen von „Naturtalenten“, ebenso erlernt werden wie das Hören von Musik – gleichgültig, welcher Art auch immer. Neben den Makrostrukturen sind aber die kleinen Grünräume von Bedeutung. Dazu zählen auch die zum Haus gehörenden Nutz- und Ziergärten, die Dach- und Fassadenbegrünungen, die Terrassengärten, die „Baummieter“, Balkon- und Fensterpflanzen, die von den Besitzern mit Liebe und Aufwand gepflegt werden. Die Erhaltung von Parks und Makrostrukturen ist teuer und schafft keinen persönlichen Bezug. Sie werden auch seltener genutzt als private Grünflächen. Der private Hausgarten wird 100-mal häufiger betreten als ein nahe liegender öffentlicher Park.70 Wenn man organisatorisch eine Makrostruktur in Mikrostrukturen, etwa dieser Art der privaten Nutzung, zerlegt und persönliche Verantwortlichkeit schafft, ändert sich sofort die Vielfalt der Grünflächen. Der Einfallsreichtum der Klein- und Hobbygärtner ist kaum zu übertreffen und kann auch positive ökologische, aber auch soziale Effekte erzeugen – und kostet weniger. Gemeinden sind nicht mehr in der Lage, riesige Parkflächen nach der Villenmentalität à la Hollywood zu pflegen, was offensichtlich herkömmlich erzogenen Städteplanern als Idealzustand erscheint. Tatsächlich gibt es ja kaum eine ödere Form von Grünstrukturen als Parks, deren Grünflächen man nicht betreten darf (ausgenommen davon sind natürlich Parks als Kunstwerke, wie sie von der Gartenarchitektur geschaffen, erhalten und betrieben werden). Dies ist aber nicht die Regel. Einerseits sind Gemeinden nicht mehr in der Lage, Grünstrukturen wirtschaftlich zu erhalten, andererseits gibt es viele in Wohnblocks „gespeicherte“ Bewohner, die nicht wissen, was sie mit ihrer Freizeit anfangen sollen. Ein Blick über 69 Tessin, Wulf: Ästhetik des Angenehmen: Städtische Freiräume zwischen professioneller Ästhetik und Laiengeschmack (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008). 70 Schöbi, D. (1996): Freizeitmobilität in Abhängigkeit vom Wohnumfeld. Diplomarbeit am Institut für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik der Technischen Universität Wien.

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Abb. 193 a u. b Vertikale Grünflächen sind nicht nur schön, sie können auch nahrhaft gestaltet werden. Auf ­kleinstem Raum leisten Pflanzen einen Beitrag zur Qualität öffentlicher Räume (Tokio).

den Gartenzaun genügt: Dort, wo sich private Gärten gehalten haben, herrscht eine unglaubliche Vielfalt – zum Teil auch eine Unordnung im Sinne menschlicher Ordnung. Hier wird die Natur wesentlich vielfältiger genutzt bzw. kann sich vielfältiger entwickeln als auf den sterilen öffentlichen Flächen – und die Menschen haben auch Freude an der Gestaltung, sie können etwas selbst tun. Das Grundbedürfnis „Tun“ wird erfüllt! Wenn es daher gelingt, die öffentlichen Grünflächen den Bewohnern der umliegenden Wohnblocks zur privaten Nutzung zu übertragen, hat dies nicht nur positive Wirkungen auf die Finanzen der Gemeinde, sondern auch gesundheitsfördernde für die Bewohner – und außerdem den angenehmen Nebeneffekt, dass durch die Aktivitäten in der Nähe Fern­ mobilität „abgeschöpft“ werden kann, weil das Umfeld interessanter wird. Damit wird auch ein fundamentales Grundbedürfnis des Menschen, nämlich das Tun im Sinne einer Winwin-Situation, befriedigt. Es gewinnt die Gemeinde durch Kosteneinsparung, es gewinnt der Bürger durch eine interessante und vielfältige Lebensaufgabe, es gewinnt das Sozialsystem durch die mit diesen Strukturen verbundenen sozialen Netzwerke und schließlich gewinnen das Ökosystem, die Gesundheit und die Verkehrssicherheit durch Vermeidung unsinniger Automobilität. Fachspezifische Blindheit Wenn man einige Dutzend Experten im Bereich der Grünstruktur bei ihrem praktischen Verhalten begleitet, erhält man den Eindruck, dass sie das Sehen verlernt haben. Sie nehmen die Mikrostrukturen auf ihren Wegen nicht mehr wahr, wo das Grün sich überall, wo man es nicht stört, seinen Platz sucht, um seine auch für uns lebenswichtigen Aufgaben zu erfüllen. Schon der Maßstab, in dem die Planungen gemacht werden, lässt die Natur nicht zu ihrem Recht kommen, er ist zu groß. Nur Makrostrukturen auf großmaßstäblichen Plänen werden von den Planern noch wahrgenommen, nicht aber das reale Leben – weder der Pflanzen noch der Menschen. 290

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Gestaltung der Grünräume, vertikal und horizontal Nicht alle mit Grünstrukturen befassten Architekten sind bereit, sich mit diesen Mikrostrukturen auseinanderzusetzen, die im Prinzip jede versiegelte Fläche betreffen. Grünstrukturen haben nicht nur den Vorteil, Biomasse zu produzieren, sondern auch den Abfluss des Niederschlages zu verzögern. Abgesehen von Flugplätzen, können viele heute versiegelte Flächen teilweise oder ganz entsiegelt werden, wenn man etwa Rasensteine verwendet. Schließlich kann auch über bestehenden versiegelten Flächen Biomasse durch Bäume aufgebaut werden. Grünflächen auf vertikalen, befestigten Oberflächen werden fallweise ein­ gesetzt – viel zu wenig. Überhaupt nicht eingesetzt wird die vertikale Begrünung im Bereich von Verkehrsbauten, wo sie wegen deren Hässlichkeit am dringlichsten wäre. Dafür eignen sich Brückenbauwerke in fast jeder Form ebenso wie auch Lärmschutzwände. Abb. 194 a u. b Im Kleinen erhöhen Grünstrukturen die ­Qualität öffentlicher Räume (Klosterneuburg). Selbst die städtebauliche Scheußlichkeit dieser verheerenden Verkehrs­ lösung einer Stelzenautobahn im Zentrum von Shanghai kann durch ­Begrünung der Säulen sogar etwas gewinnen.

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Da sich Grünstrukturen von selbst nicht verteidigen können, waren sie daher das willenlose und hilflose Opfer dieser „Investoren“, der Raumplaner und der Bauverwaltungen von Gemeinden, Ländern, Staaten und Organisationen. Den Nutzen von Grünstrukturen sah man im traditionellen Ingenieurwesen bestenfalls in ihrer bautechnischen Aufgabe. Nicht berücksichtigt wurden ihre ökologische Bedeutung, ihre soziale und kulturelle Dimension. Ihnen wurde nicht der wahre ökologische Wert zugemessen. Organisationskonzept Im Wesentlichen sind bei der Planung, abgesehen von der technischen Realisierung der Maßnahmen, auch eine organisatorische und eine formale Struktur einzurichten. Jede Maßnahme, die Grünstrukturen betrifft, bewirkt eine Veränderung des ökologischen Fußabdruckes. Dies ist quantitativ zu erfassen und laufend zu registrieren. In den Planungen sind daher zunächst die Grundlagen bezüglich des ökologischen Fußabdruckes für jedes Planungsgebiet zu erstellen, damit man die Defizite bzw. Reserven quantitativ erfasst. Monitoring der Ökobilanz Jährlich ist eine Überprüfung des Bestandes bzw. der Veränderung erforderlich. Dazu ist auch eine entsprechende Finanzausstattung erforderlich und eine Finanzplanung zu erstellen, um die angestrebten Ziele zu erreichen. Das Geld muss, dem Verursacherprinzip folgend, aus den versiegelten Flächen und ihren Nutznießern kommen. Das Schlüsselwort ist die Versiegelungsabgabe.

9.23 Flächenversiegelungsabgabe Die Vernachlässigung des Eigenwertes der Natur und ihrer lebenserhaltenden Funktionen durch die Ökonomie hatte schwerwiegende Folgen für die Siedlungs- und Bebauungsentwicklung der vergangenen beiden Jahrhunderte. Rücksichtslos wurde und wird Grünland, seines Eigenwertes beraubt, durch sachunkundige und verantwortungslose Raumplanung in Bauland verschiedener Nutzung umgewandelt, da dieser Landverlust aufgrund der aus fossilem Erdöl gewonnenen Energie und Düngemittel überkompensiert wird, wenn auch nur vorübergehend. Die Ergebnisse sind eine in der Geschichte der Menschheit nie da gewesene Zersiedlung durch Einfamilienhäuser, versiegelte Flächen für Fahrbahnen und Parkplätze und ein beispielloser Flachbau in Handel und Gewerbe. Nur durch eine realistische Einschätzung der grundlegenden Wirtschaftsleistungen der Natur, dem Verursacherprinzip folgend, allen versiegelten Flächen angelastet, kann die Eigendynamik dieser Unterminierung unserer Lebensgrundlagen durch Siedlungsentwicklung und das, was sich Stadtplanung 292

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nennt, gebremst werden. Der Vorschlag beruht auf Prinzipien ökologischer Nachhaltigkeit: dem Vorsorge- und Verursacherprinzip. Wer die Eingriffe verursacht, hat für die Folgen aufzukommen, und durch entsprechende Vorsorgemaßnahmen sind die Folgewirkungen der Eingriffe so zu gestalten, dass keine nachhaltige Schädigung oder Benachteiligung der zukünftigen Generationen entstehen können. Einleitung Über Jahrhunderte war die ökonomische Basis der meisten Gemeinden auch identisch mit der ökologischen. In den vergangenen 200 Jahren hat sich dies völlig verändert, Gemeinden ohne besondere ökologische Grundlage�������������������������������������������� n sind reich geworden, Gemeinden, deren Ökosysteme erhalten geblieben sind, verarmen oft und werden zu Abwanderungsgebieten. Das Geld fließt immer mehr in zentrale Strukturen. Raum- und Verkehrsplanung produzieren in den Zentren „Standortvorteile“, schaffen aber damit überall sonst flächenhaft Standortnachteile. Zwar tragen die derzeitige Technologie und Technik zum materiellen Wohlstand entscheidend bei, verbrauchen jedoch zu diesem Zweck einen unverhältnismäßig hohen Anteil an Ressourcen und hochwertiger, gespeicherter Energie. Weltweit ist in der Zwischenzeit der sogenannte ökologische Fußabdruck der Menschheit bereits größer geworden als die Tragfähigkeit der Erde. Sämtliche möglichen Zukunftsszenarien zeigen keine Möglichkeit einer nachhaltigen Entwicklung mehr (Limits to Growth, Club of Rome 2004). Kosten und Preise sind Indikatoren dieses Prozesses, der das Handeln der Menschen wesentlich beeinflusst. Die Ökonomie versucht, knappen Gütern einen Preis zuzuordnen, der sich aus dem Markt ableitet. Ändern sich die Randbedingungen, ändert sich die Knappheit. Menschliche Arbeitskraft war früher ein knappes Gut – heute nicht mehr –, sie kann und wird zunehmend von Maschinen ersetzt. Daraus können Arbeitslosigkeit und Verarmung großer Teile der Bevölkerung resultieren, wenn nicht gleichzeitig für einen wirksamen sozialen Ausgleich gesorgt wird. Das Steuersystem schöpft einen Teil des Kapitals in Form verschiedener Abgaben, die sich vor allem auf die Personen beziehen, ab. Derzeit werden Teile der Mehrwert-, Lohn- und Einkommensteuer sowie weiterer Abgaben dazu verwendet, die vorhandenen Ressourcen noch effizienter auszubeuten, wobei Investitionen, mit denen Natur verbaut wird, allgemein gefördert werden. Tatsächlich wird heute – und noch mehr in Zukunft – aber nicht die Arbeitskraft knapp werden, sondern vielmehr die Natur und ihre Ressourcen. Maschinen benötigen aber nicht nur Ressourcen und Energie in großem Ausmaß, sondern auch große Flächen, die der Natur entzogen werden müssen. So sind in Österreich pro Auto über 300 m2 Boden versiegelt – ein Vielfaches des Primärbedürfnisses Wohnen. Unser Wirtschaftssystem greift damit in das der Natur ein. Rückkopplungen, die auf ihre Grenzen hinweisen, sind nicht eingebaut, das Gegenteil ist der Fall. Treten diese ein, wie etwa bei Überflutungen, wundert man sich vorübergehend und setzt die Versiegelung weiter fort. 293

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Die Natur als Wirtschaftssystem In unseren Klimazonen entwickelt sich, wenn man der Natur ihren Lauf lässt, in der Regel ein Mischwald. Dieser ist die ökologisch offensichtlich effizienteste „Wirtschaftsform“. In ihrem Bestreben nach maximaler Effizienz ergibt sich in unseren Breiten aus optimaler Nutzung von Sonneneinstrahlung, lokalen Ressourcen und Klima diese Form des Oberflächenbewuchses. Sie liefert zahlreichen Tierarten und über Jahrtausende auch den Menschen eine nachhaltige Lebensbasis. Greift man in dieses System ein und reduziert dessen ökologische Leistungsfähigkeit, dann ist derjenige, der den Eingriff tätigt, dem Verursacherprinzip folgend, ökonomisch verpflichtet, alles, was er dem Ökosystem und der Gesellschaft durch seinen Eingriff weggenommen hat, zu ersetzen. Da die Erdoberfläche ein nicht vermehrbares Gut ist, hat dieser Ersatz durch andere Leistungen zu erfolgen, entweder durch den Einsatz seiner Arbeit auf dem der Natur entzogenen Boden, wie dies die Landwirtschaft über Jahrtausende gemacht hat, oder durch eine Abgabe an die Gesellschaft für den Entzug oder die Schwächung ihrer Lebensgrundlagen. Nur durch eine konsequente Anwendung des Verursacherprinzips kann die Gesellschaft davor bewahrt werden, ihre Lebensgrundlagen zu zerstören. Ökonomische Ansätze Ökonomische Anreizinstrumente zur Vorhaltung ökologischer Flächenleistungen sind in der Literatur mehrfach behandelt worden (Weise, P. 1999 / Bizer, K. & Lang, J. 2000 / Bizer, K. & Evringmann, D. 2002). Peter Weise betont, dass diese Idee richtig ist. Als Ökonom hat er aber offensichtlich Schwierigkeiten, diese Idee in die Praxis umzusetzen. Er formuliert dies wie folgt: „Ihr wäre zuzustimmen, wenn alle Leistungen, auch die ökologischen, auf Märkten handelbar und mit Preisen versehen werden. Dies ist aber nicht der Fall. So besteht kein besonderer ökonomischer Anreiz, beispielsweise die Filterfunktionen oder die Kleinklimaproduktion eines Baumes zu erhalten, in die Filter- und Pufferfunktion des Bodens zu investieren oder Hecken stehen und Kornblumen wachsen zu lassen. Tatsächlich werden diese Güter nicht marktmäßig gehandelt. Werden sie dennoch produziert, ist ihre Produktion defizitär. Eine Besteuerung naturnaher und naturverträglicher Flächennutzungen macht daher ökonomisch keinen Sinn.“ Weil er diesen Weg nicht weiter verfolgt, entwickelt er die Idee einer Entlohnung ökologischer Leistungen auf Kosten derjenigen Flächennutzungen, welche die ökologischen Leistungen verdrängen oder unmöglich machen. „Diese Idee läuft da­ rauf hinaus, naturferne Flächennutzungen mit einer Abgabe zu versehen und die Produktion ökologischer Leistungen zu subventionieren. Hierdurch wird die Produktion ökologischer Leistungen ökonomisch rentabel, sodass entsprechende ökologische Produzenten individuell-rational einen Anreiz haben, diese Leistungen auch zu erbringen.“ Er nimmt an, dass durch dieses Instrument eine Beschränkung der Besiedlung, Zersiedlung und Versiegelung insgesamt nicht möglich ist, weil man dazu eine harte Mengenrestriktion benötigt. Trotz294

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dem weist er nach, dass eine Umsetzung dieser Vorschläge aufkommensneutral möglich ist. Es wird ebenfalls darauf hingewiesen, dass die von anderen Autoren vorgeschlagenen neuen Steuern mit diesem Instrument auch zur Abschaffung bestehender Steuern führen (Aubauer, H. J. / Slesser, M.)71. Dieser Ansatz ist zwar zu begrüßen, aber insofern problematisch, als er stark anthropozentrisch ist und von der Annahme ausgeht, nur der Mensch müsse diese ökologischen Leistungen erbringen. Die Hauptarbeit hat dabei aber immer die Natur – vor­ ausgesetzt, man lässt sie. Kilian Bizer und Dieter Evringmann machen den Vorschlag, die bisherige Grundsteuersystematik durch eine rein ökologische Besteuerung der Flächennutzung zu ersetzen, und entwickeln dazu sieben Steuerklassen, ausgehend von naturbelassenen Flächen über naturschonend genutzte Flächen, forstwirtschaftliche Flächen, sonstige Flächen, versiegelte Flächen im Außenbereich, versiegelte Flächen im Innenbereich, besonders naturschädlich genutzte Flächen. Damit wird die Funktion der Steuervorbelastung des Grundvermögens aufgegeben. Diese Art von Flächennutzungssteuern, so wird von den Autoren ausgeführt, fördere landwirtschaftliche Betriebe mit einer naturnahen Bewirtschaftung und decke sich damit mit den ökologischen Zielen der EU und aller ihrer Mitgliedsländer – so viel zu den Prinzipien, worüber zumindest in der Zielrichtung unter ökologisch orientierten Ökonomen Einigkeit zu bestehen scheint. Neben den Prinzipien ist für den Praktiker aber zumindest die Größenordnung einer solchen Steuer von Interesse. Dazu braucht man jemanden, der den Versuch macht, die Leistungen der Natur zu bewerten. Ohne in die Grundsatzdebatte, ob dies überhaupt möglich ist oder nicht, einzutreten, soll hier ein Vorschlag – basierend auf den Überlegungen von F. Vester – für die praktische Umsetzung gemacht werden. Berechnung einer Versiegelungsabgabe

Im vergangenen Jahrhundert hat die Menschheit mehr Boden versiegelt als in der gesamten Geschichte zuvor. Dank leistungsfähiger Baumaschinen und der Verfügbarkeit von Beton und Bitumen wurde es immer leichter, das natürliche, lebendige ökologische System in klar überschaubare, gut geordnete Beton- und Bitumenflächen umzuwandeln. Dies mag vielleicht einem technokratischen Ordnungsprinzip entsprechen, auf manche optisch sogar angenehm wirken, ökologisch ist es nicht. Trotzdem wird die Bodenversiegelung derzeit mehrfach finanziell belohnt mit:

71 Aubauer, H. P. (1995): Eine natur- wie wirtschaftsverträgliche Energiesteuer. Wirtschaftspolitische Blätter, 42. Jg., 5: 381–389. Slesser; M. (1978): Energy in the Economy. Macmillan, London.

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• einer wunderbaren, aus dem Nichts entstehenden Werterhöhung bei der Umwandlung von Grünland in Bauland. • Steuererlass oder Steuererleichterung bei Verbauung und Investitionsfreibeträgen. • Sozialisierung der Kosten für die Erschließung. • Sozialisierung der Erhaltungs- und Betriebskosten für eine überdimensionierte Infrastruktur, wie etwa im Straßenbau mit den überdimensionierten Breiten für Fahrstreifen oder Autoabstellplätzen. • Umlegung der finanziellen, sozialen und ökologischen Kosten auf die Allgemeinheit beim Bau von Straßen, aber auch Verkehrsanlagen für die Eisenbahn. Grundlagen zur Berechnung einer Versiegelungsabgabe Als Grundlage für die Berechnung wäre die ökologische Leistungsfähigkeit der optimalen Form des „Wirtschaftssystems Natur“ ökonomisch zu bewerten. Die folgenden Annahmen sind in vielfacher Hinsicht vereinfachend, da geografische, klimatische und topografische Unterschiede bestehen, die zu berücksichtigen wären. Für Mitteleuropa werden etwa Mischwald und der Baum als Bezugseinheiten zur Berechnung gewählt, weil es dazu Unterlagen gibt. Frederic Vester hat den Versuch unternommen, hierzu eine ökonomische Abschätzung zu machen, an die wir uns halten wollen, bis eine bessere gefunden ist. Am Beispiel des Wertes eines Baumes demonstriert er die „Erweiterung des ökonomischen Bewusstseins“ in nachvollziehbarer Weise und liefert damit eine Maßzahl für den Wert versiegelter Flächen. Er geht dabei von einem 100-jährigen Baum mit eine Krone, die 100 m2 Bodenfläche überdeckt, aus. Ein solcher Baum wird etwa 2 m3 Holz liefern und damit auf dem Markt etwa einen Preis von 130 Euro erzielen. Pro Jahr ergibt sich daher ein Erlös von 1,30 Euro je m2. Rechnet man hingegen die gesamten ökologischen Leistungen dieses Baumes und auch des Waldes, die ja aus der Vernetzung der Bäume untereinander entstehen, ergibt sich ein weit höherer Wert. Dieser liegt nach F. Vester 1986 bei rund 2.650 Euro jährlich, also rund 27 Euro je m2. Damit haben wir eine Bezugsgröße für die Berechnung der Versiegelungsabgabe. Größenordnung der Abgaben bei Versiegelung natürlicher Flächen Ein Wohnhaus mit 100 m2 versiegelter Fläche würde daher mit einer Abgabe von 2.600 Euro pro Jahr belastet. Eine Autobahn mit rund 25 bis 30 m versiegelter Fahrbahnbreite hätte an die Gemeinde, durch die sie führt, pro Kilometer 625.000 bis 750.000 Euro jährlich an Versiegelungssteuer zu bezahlen. Da derzeit im städtischen Gebiet rund 300 bis ­400 m2 Fahrbahnfläche sowie Parkflächen pro Auto versiegelt sind bzw. versiegelt werden, wäre diese Fläche vor allem auf die Autobesitzer umzulegen. Jeder Autofahrer wäre daher im städtischen Gebiet mit einer Versiegelungsabgabe von rund 7.500 – 10.000 Euro jährlich belastet. Eine Gemeinde mit 10.000 Einwohnern, die etwa in diesem Ausmaß versiegelte Flächen für den Autoverkehr vorhält, erhielte damit Einnahmen aus der Gruppe der Au296

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tofahrer in der Größenordnung von 35 bis 50 Millionen Euro jährlich. Hinzu kämen noch die Versiegelungsabgaben für die Wohngebäude. Dagegen ist einzuwenden, dass ja auch der öffentliche Verkehr diese Flächen benutzt und diese damit ohnehin zur Daseinsvorsorge benötigt werden. Nun ist aber die Maschenweite des öffentlichen Verkehrs viel geringer als für den heutigen Autoverkehr. Wird er daher gleich behandelt wie das Auto, wären die anteiligen Steuern für ihn deutlich geringer. Wo Schienenverkehrsmittel verkehren, kann mit einem grünen Rasengleis die Versiegelung auf einen vernachlässigbaren Wert (Schienen + Haltestellen) reduziert werden. Seine Position würde durch eine solche Abgabe gegenüber dem Auto gestärkt. Abschätzung des Wertes von 1 m2 Bodenfläche für die solare Nutzung: Bei guter Sonneneinstrahlung kann man in Mitteleuropa rund 120 Kilowattstunden an solarer Energie je Quadratmeter erzeugen, bei einem Preis von ca. 20 ct/kWh daher einen Betrag von 24 Euro jährlich erwirtschaften – ziemlich genau der Wert, den F. Vester aus der ökologischen Betrachtung abgeleitet hat. Bei Einspeisetarifen von über 53 ct/kWh für Kleinanlagen ergibt dies derzeit über 60 Euro je Quadratmeter und Jahr. Damit erhält man eine praktisch nutzbare Größenordnung als Bezugsbasis für die Berechnung einer Versiegelungsabgabe. Wirkungen auf die Wirtschaft und Siedlungsstruktur Super- und Fachmärkte sowie Industriebetriebe und Autohandel auf der grünen Wiese, die derzeit zu Flachbauweise und einer unglaublichen Vergeudung an Bodenfläche durch Parkplätze neigen, müssten für diesen Eingriff in das Ökosystem entsprechend dem Verursacherprinzip aufkommen. Ein Super- oder Fachmarkt, der heute rund 3 ha versiegelt, wenn er etwa für 1.000 Fahrzeuge Parkplätze zur Verfügung stellt, wäre unter diesen Randbedingungen gezwungen, jährlich rund 750.000 Euro Versiegelungsabgabe zu bezahlen, um sein ökologisches Defizit gegenüber der Gesellschaft abzugelten. Ein Innenstadtgeschäft, über dem sich Büros und Wohnungen befinden, wäre spezifisch wesentlich billiger. Geschäfte in fußläufiger Entfernung zu den Wohn- und Arbeitsstätten hätten im Wettbewerb unter diesen Bedingungen wieder eine faire Chance. Die Siedlungsstrukturen und die lokale Wirtschaft würden gestärkt. Dies zeigt, dass eine ökologisch richtige Steuer auch ökonomisch jene Effekte erzielen wird, die ohnehin in den Raumordnungszielen – Stärkung der lokalen Betriebe, sparsame Nutzung von Grund und Boden, sparsamer Einsatz von Energie – festgeschrieben sind, aber unter den gegebenen finanziellen Randbedingungen niemals erreicht werden können. Weil finanzielle Konsequenzen fehlen, wird in der Praxis laufend dagegen verstoßen. Bei einer Versiegelungsabgabe als Ausgleich für die lebenserhaltenden Leistungen des Ökosystems würden sich sehr bald wieder kompakte Siedlungsstrukturen einstellen. Eine massive Senkung der Kosten für die Kommunen wäre die Folge. Der Aufwand für Straßen-, 297

Zur Evolution der Städte

Kanalbau und -erhaltung, für Ver- und Entsorgungsleitungen würde dramatisch abnehmen. Versteckte massive Subventionen siedlungsfeindlicher, weil die Kommunen schwächenden, an beliebigen Standorten errichteter, flächenaufwändiger Betriebs- und Handelsstrukturen, wie Fach- und Handelsmärkte auf der grünen Wiese, wie sie heute üblich sind, wären beseitigt. Da Steuern in diesem Ausmaß zu einer starken Entlastung bei der Lohn- und Einkommensteuer führen und damit Arbeitskraft relativ verbilligen, führt dies in der Folge nicht nur zu Beschäftigungsimpulsen (Abbau der Arbeitslosigkeit), sondern auch zur Ankurbelung der lokalen Wirtschaft in vielen Bereichen. Abbau von Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten Autobahnen belasten die Region, durch die sie führen, mit������������������������������� Lärm und Abgase��������������� n. Die Leidtragenden, die Bevölkerung und die Gemeinden, deren Ökosystem sie zerschneiden, erhalten dafür keinerlei Kompensation. Eine Flächenversiegelungsabgabe nach dem vorhin genannten Muster würde zumindest einen geringen Ausgleich der Belastungen und Schäden dieses Verkehrssystems gegenüber der Gesellschaft bedeuten. Die Kosten für die Benutzung von abgabenpflichtigen Flächen durch den Autoverkehr wären abhängig von den Gesamtverkehrsmengen. Bei 30.000 Fahrzeugen täglich ergibt sich pro Kilometer eine Belastung von 7 Cent pro Kraftfahrzeug, wenn man die Berechnung auf der Grundlage der Werte von F. Vester macht. Der Bau von Autobahnen wäre damit schon bei sehr niedrigen Verkehrsbelastungen, wie dies heute europaweit der Fall ist, unwirtschaftlich bzw. würde derart große Belastungen für die Investoren durch die Flächenversiegelungsabgabe nach sich ziehen, dass man gezwungen wäre, die Investitionen ökologisch verträglicher zu gestalten, als dies heute der Fall ist. Die Einnahmen dieser Abgabe würden zum Großteil den betroffenen Gemeinden zufließen, da der Eingriff ja in das Ökosystem der Gemeinde erfolgt. Die heute geübte Praxis in Gebieten, in denen sich Bürger gegen überflüssige Straßenbauten wehren, bei der Planung mit neuen Trassen in Wald und Grünbereiche auszuweichen, hätte damit ein Ende. Es würden sich zwingend intelligente Verkehrslösungen einstellen. Da PKW mit einer Fahrstreifenbreite von 2 bis 2,5 m auskommen, wäre die Mehrbreite dem LKW-Verkehr anzurechnen. Ein positiver Nebeneffekt wäre auch ein Sicherheitsgewinn als Folge geringerer Geschwindigkeiten, die sich auf schmalen Fahrstreifen einstellen. Damit könnte auch der durch diese Verkehrsart verursachte Mehraufwand an Flächen den Verursachern fair zugeordnet werden. In dem vorhin angeführten Beispiel der Autobahn hätte der LKW-Verkehr bei einem 10 %igen Anteil am Gesamtverkehr eine Abgabe von etwa 30 Cent pro Kilometer zu entrichten. Dies ist ein Wert, der schon zu einer Reduktion wenig sinnvoller Fahrten führt und damit dazu beiträgt, die derzeitige Marktverfälschung zwischen kleinen lokalen und großen internationalen Anbietern zu verringern. Die Wettbewerbsverzerrung zwischen kleinen lokalen und großen internationalen Transporten ist durch Lohndumping beim Einsatz von Fahrern aus Billiglohnländern gegeben, durch hohe Beladung der LKW auf großen 298

Flächenversiegelungsabgabe

Distanzen (Economy of Scale) und die Nutzung der Vorteile von Schwachlastzeiten. Die hohen Kosten werden beim PKW im lokalen Straßennetz für schlecht organisiertes Parken und mangelhaft ausgenützte Fahrbahnen deutlich sichtbar, während beim LKW die Kosten bei den langen Transportwegen anfallen werden. Bis heute sind die Ziele eines ökologisch und ökonomisch nachhaltigen Wirtschaftens mangels geeigneter finanzieller Signale, „Incentives“, nicht mehr als Makulatur. Diese Abschätzung zeigt die Größenordnung des ökologischen Missbrauchs, der im heutigen Finanz- und Steuersystem betrieben wird. Wirkungen auf das Verkehrssystem Eine Flächenversiegelungsabgabe dieser Art zeigt in der angegebenen Höhe die riesige Diskrepanz zwischen dem unintelligenten, ökologisch rücksichtslosen und nicht nachhaltigen Handeln des heutigen Verkehrs- und Wirtschaftssystems und den Anforderungen einer Wirtschaft der Nachhaltigkeit. Verkehrsingenieure und Raumplaner müssten endlich lernen, sparsam mit Grund und Boden umzugehen – gerade das Gegenteil dessen, wozu sie im vergangenen Jahrhundert ausgebildet und erzogen wurden. Der Flächenaufwand bei wirklich intelligenten Verkehrslösungen (RITS „Real Intelligent Transport Systems“ statt SITS „Stupid Intelligent Transport Systems“, wie derzeit) kann um eine Größenordnung kleiner sein. Eine Förderung des Fußgeher-, Fahrrad- und öffentlichen Verkehrs wäre die logische Konsequenz. Gleichzeitig würde dies einen Beschäftigungseffekt für die lokale Bauwirtschaft auslösen, weil Verkehrsanlagen kleinräumiger zu errichten wären, die einen viel höheren Anteil händischer Arbeit und individueller Gestaltung erfordern. Eine Abgabenreduzierung bei entsprechendem Aufbau von Biomasse über versiegelten Flächen erzwingt ökologisch und ökonomisch intelligente Lösungen. Fahrbahnen mit einer Breite von 5 bis 7 m, eingefasst von Alleen, erlauben noch einen Kronenschluss und damit – bei einem entsprechenden Wasserhaushalt und Pflege der Bäume – die Möglichkeit zur Reduktion der Versiegelungsabgabe. Differenzierte Vorgangsweise Nach dem Vorschlag von Bizer und Lang wäre eine entsprechend modifizierte Form durch Klasseneinteilung möglich. Dies würde belebend auf die Architektur und den Städtebau wirken, wenn man die Versiegelungsabgaben in Abhängigkeit von der ökologischen Leistungsfähigkeit der überbauten Flächen berechnet. Gründächer, Dachgärten, begrünte Fassaden und dergleichen wären die logische Konsequenz im Städtebau. Reine Luft, Verringerung von Lärm und Abgasen wären die logischen Konsequenzen. Schönheit und menschengerechter Maßstab bei der Siedlungsplanung würden wieder entscheidende Kriterien – sicherlich kein leichtes Unterfangen in einer Zeit des verlorenen Maßstabes, seit man das Maß des Menschen zugunsten des Autos im Städtebau und Verkehrswesen aufgegeben hat.

299

Zur Evolution der Städte

Verwendung der Einnahmen Dieser Teil ist mindestens ebenso schwierig, wenn nicht noch schwieriger als die Berechnung einer gerechten Versiegelungsabgabe, die ja nur dann falsch wäre, wenn man sie zu niedrig ansetzt. Die Einnahmen aus den Versiegelungsabgaben wären auf die Gemeinden so zu verteilen, dass jene, die durch die Schonung ihrer Ökosysteme die Lebensgrundlagen auch für die anderen sichern, ebenfalls ihren adäquaten Anteil bekommen. Damit wären die heute benachteiligten Randgebiete in die Lage versetzt, attraktive Standorte für nachhaltiges Wirtschaften zu werden. Bedingung bei der Verwendung der Mittel ist aber, dass sie weder direkt noch indirekt zur Förderung von Versiegelung eingesetzt werden dürfen. Dafür ist ein Monitoring mit klaren und konsequenten Sanktionen einzurichten. Wirkungen dieser Abgabe 1.) 2.) 3.) 4.)

Sanierung der Gemeindefinanzen Entlastung von anderen Steuern Vereinfachung des Abgabensystems Beseitigung der Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten zwischen Nutzern und Betroffenen 5.) Zwang zu intelligenten, zukunftsorientierten Lösungen bei der Erschließung bestehender und neuer Gebiete 6.) lokale Beschäftigungseffekte 7.) Stärkung der lokalen und regionalen Wirtschaft 8.) Abbau des Widerspruches zwischen den natürlichen Gegebenheiten und dem Wirtschaftssystem 9.) Preissignale in Richtung auf ökologisch nachhaltiges Handeln für Gemeinden, Investoren, Private 10.) Zwang zum intelligenten Siedlungs- und Städtebau 11.) Stärkung der sozialen Netze in Siedlungen 12.) Erhöhung der Verkehrssicherheit Die Befürchtung von Peter Weise, dass diese Art der Versiegelungsabgabe keine Auswirkungen auf Zersiedlung und Versiegelung hätte, ist unbegründet. Diese Flächenversiegelungsabgabe folgt dem Verursacher- und Vorsorgeprinzip und wäre ein sehr klares Signal – wenn man deren Höhe, wenn sie ökologisch und wissenschaftlich begründet ist, berücksichtigt. Ganz entscheidend werden Zersiedlung und Versiegelung eingedämmt. Mengenrestriktionen wären darüber hinaus, wenn die Klasseneinteilung der ökologischen Realität folgt, nicht mehr notwendig. Der Markt würde sich unter diesen Bedingungen regeln, auch das Ökosystem regelt seinen Markt nach den gleichen Prinzipien erfolgreich – und das seit Jahrmillionen. 300

Flächenversiegelungsabgabe

Schlussbemerkung • Die hier gemachten Überlegungen können als „unwissenschaftlich“ kritisiert werden, insbesondere hinsichtlich der absoluten Werte, die von F. Vester ermittelt wurden. Diese Kritik kann man aber mit verbesserten empirischen Grundlagen, einer noch umfassenderen Systemabgrenzung und größerer Tiefe der Analysen und Grundlagen entschärfen. Außerdem ist dieser Kritik entgegenzuhalten, dass sie erst dann greift, wenn gleichzeitig die Widersprüche zwischen dominierender Ökonomie und dem Ökosystem anerkannt und berücksichtigt werden. So groß kann die Fehleinschätzung von Vester gar nicht sein, wie die derzeitige Vertauschung der Vorzeichen bei der wirtschaftlichen Behandlung von Eingriffen in das Ökosystem durch Versiegelung ist. • Natürlich kann man die Idee einer solchen Abgabe auch grundsätzlich ablehnen. Gerechtfertigt ist eine solche Position aber erst dann, wenn man schlüssig nachweist, dass zwischen der bestehenden Wirtschaftsordnung und jener der Natur keine Widersprüche bestehen – ein schwieriges Unterfangen, wenn in der physikalischen Realität immer 1 Joule mit 1 Joule „verrechnet“, in der heutigen Ökonomie aber 1 Joule für 300 Joule und mehr „gehandelt“ wird, wie es etwa im Autoverkehr der Fall ist. Der Unterschied beträgt mehr als zwei Zehnerpotenzen – so weit������������������������������������������������ dürfte die Kalkulation von F. ����������������� Vester nicht „daneben“ sein. Solange diese Mängel nicht beseitigt sind, kann man die von F. Vester ermittelten Werte noch ruhig mit einem Sicherheitsfaktor, der gar nicht hoch genug sein kann, multiplizieren. Das ist ja im Ingenieurwesen ohnehin üblich. Dieser Faktor ist umso größer, je weniger man von dem Material weiß, mit dem man zu arbeiten hat. Angesichts der Komplexität des Ökosystems muss dieser Faktor sehr, sehr hoch sein. Anhang zum Wert des Baumes: Die folgende Zusammenstellung ist eine Kurzfassung der von F. Vester zusammengestellten Überlegungen, Abschätzungen und Berechnungen. 1.) Holzwert Je nach Qualität schwankt der Holzpreis pro Festmeter zwischen 15 Euro für Brenn- und Industrieholz und 1.000 bis 5.000 Euro für edle Furniere. Eine 100-jährige Buche, etwa 25 m hoch, ergibt 2 bis 3 fm Holz im Gesamtwert von ca. 130 bis 140 Euro. 2.) Der Wert des Baumes a) Engste Sicht Rechnet man die direkten Leistungen eines Baumes, wozu die CO2-Bindung, die Sauerstoffproduktion, die Schaffung organischen Materials, die Arbeitspumpleistung und der automatische Wasserspeicher zu zählen sind, dazu, ergibt sich unter Hinzurechnung dieser Leistungen ein Wert von rund 160 Euro. 301

Zur Evolution der Städte

b) Erweiterte Sicht Dann ist der Baum eine Fotosynthesemaschine, die mit den übrigen Bereichen der Natur vernetzt ist. Er trägt dazu bei, dass sich eine Kompostanlage entwickelt, eine Biotopgemeinschaft im Boden, in der Regenwürmer und Kleinstorganismen existieren, und außerdem gibt er Lebensraum für Vögel. Berechnet man diesen Wert, kommt Frederic Vester auf einen Jahresbetrag von 776 Euro. c) Rückkopplungen Unter Berücksichtigung der Rückkopplungen im engeren Bereich, wie in der oberirdischen und unterirdischen Regulation durch Symbiose, die Entgiftungstätigkeit und Entstaubung betreibt und als Bioindikator arbeitet, steigt der Wert auf 800 Euro. d) Weitere Leistungen Weitere Leistungen des Baumes sind der Sonnenschutz, indirekte Leistungen für verschiedene menschliche Aktivitäten bis hin zu eingesparten Forschungs- und Entwicklungskosten. Vester rechnet hier mit sehr geringen Beträgen und kommt im Endeffekt in diesem noch sehr eingegrenzten System auf einen Beitrag des Baumes zum Bruttosozialprodukt von rund 835 Euro. (Dazu ist anzuführen, dass diese Arbeit Mitte der Achtzigerjahre entstand. Gemessen am heutigen Stand des Wissens, müssten diese Beträge vermutlich erhöht werden.) 3.) Der Wert des Baumes im Wald Bäume stehen im Allgemeinen nicht allein, sondern bilden einen Wald und dadurch entsteht ein zusätzlicher Added Value. Der Wald wirkt als Jagdgebiet, Luftbefeuchter, Klimaregler, Atmungsorgan der Erde, dessen Wert technisch beziffert werden kann. Unter Hinzurechnung dieser Leistungen – bezogen wiederum auf den einzelnen Baum auf einer Fläche von 10 mal 10 m – ergibt dies einen Betrag von rund 2.030 Euro. Als Humus- und Nahrungsproduzent leistet der Wald mehr als der Baum zur Artenvielfalt, es entsteht ein Sammler- und Jagdrevier. Rechnet man diesen Beitrag in Geldwert um, kommt Vester auf einen Betrag von 2.312 Euro. Nun leisten aber der Wald ebenso wie auch der Baum Erosions- und Lawinenschutz, schirmen gegen Staub, Gifte, Strahlung, Wind und Lärm ab, verhindern Smog, schützen die Ufer der Bäche und Flüsse. Dies hinzugerechnet, ergibt einen jährlichen Wert des Baumes von 2.435 Euro. 4.) Rückkopplung mit der Wirtschaft Rückgekoppelt mit der Wirtschaft, liefert der Baum nicht nur für die Holzwirtschaft, sondern auch für Aromastoffe einen Beitrag. Er leistet einen Beitrag zur Erholung, zum waldnahen Tourismus und als Klimaregler auch zu anderen Bereichen der Wirtschaft. Dies in Geldwert umgerechnet, ergibt nach Frederic Vester einen Jahreswert von rund 2.600 Euro. 302

Flächenversiegelungsabgabe

5.) Stabilisierungsleistung Die Stabilisierung des Lebensraumes ergibt in vielfacher Hinsicht schließlich einen Gesamtbetrag für den Wert des Baumes im Wald in der Größenordnung von 2.650 bis 2.700 Euro pro Jahr. In seinem Anhang zu dem Fensterbuch „Ein Baum ist mehr als ein Baum“ gibt Frederic Vester eine sehr detaillierte, nachvollziehbare Darstellung der Überlegungen, die zu dieser Berechnung geführt haben. 6.) Schlussfolgerung – der Grundwert für eine Versiegelungsabgabe Da die Berechnungen von einer Bodenfläche von 10 mal 10 m ausgehen, ergibt sich aus den system- und lebenserhaltenden Funktionen der Bäume ein Betrag von 2.500 x 100 = 250.000 Euro jährlich pro Hektar. Dies wäre die Basisleistung des Ökosystems in unserer Klimazone und damit der Grundwert für die Berechnung der Versiegelungsabgabe. Berechnung über die Erzeugung von Solarstrom mit herkömmlichen Solarzellen: Sonneneinstrahlung, nach den Erfahrungen in Zürich, liefert 450 kWh pro Quadratmeter jährlich. Bei einem Preis von 14 ct je Kilowattstunde sind das 60 Euro an Solarstrom je Quadratmeter. Solarenergie, bei 60 Euro je Quadratmeter, die über die heute verfügbaren Solarzellen gewonnen werden kann, ergibt einen Wert von 600.000 Euro je Hektar jährlich und damit 6.000 Euro an Versiegelungsabgabe für 100 m2 versiegelter Fläche! Dieser Wert ist höher als der von F. Vester aus dem Ökosystem abgeleitete, liegt aber in der gleichen Größenordnung. Mit dieser Versiegelungsabgabe wären nicht nur die Städte in der Lage, den längst fälligen Umbau zu finanzieren, sondern es wird neben der Entsiegelung zu einer völlig neuen, dezentralen Energieversorgung führen. Verbunden damit wäre auch der Machtverlust der zentralistischen Konzerne. Städte und Ökologie Die geschichtliche Erfahrung zeigt, dass es bisher keine nachhaltigen städtischen Kulturen gab. Eine Hochkultur wie die ägyptische war zwar keine typisch städtische Kultur im heutigen Sinn, sondern eine Agrar- bzw. Gartenbaugesellschaft, maximal kleinstädtischen Ausmaßes. Stadtkulturen Mittel- und Lateinamerikas sind, soviel man weiß, an der Übernutzung ihres Ökosystems zugrunde gegangen. Griechenland hatte eine – aus heutiger Sicht – Kleinstadtkultur nach dem Prinzip der Netzwerke entwickelt. Bei Übernutzung lokaler Ressourcen erfolgten Stadtneugründungen in ausreichender Entfernung, hoher Autonomie und Anpassung an die jeweiligen lokalen Gegebenheiten. Die Stadtentwicklung in China verlief über lange Zeiträume zwar weitgehend geordnet, immer in Übereinstimmung mit ökologischer Tragfähigkeit des Umfeldes, optimalem Recycling (bis heute werden Fäkalien aus der Stadt in vielen Gebieten Chinas immer noch von der umliegenden Landwirtschaft genutzt). Auch die europäische Geschichte der Städte ist eine der Kleinstädte. Florenz hatte zur Blütezeit 35.000 Einwohner. In dieser Zeit entstanden alle kulturellen Leistungen, von denen die Stadt 303

Zur Evolution der Städte

heute im Tourismus lebt und ihren Ruf in der Kunstgeschichte begründet. Die Geschichte Roms, der sogenannten „Ewigen Stadt“, ist hinsichtlich der Einwohnerzahl eine bewegte, die schon im Altertum eine Million erreichte, nach dem Wegfall der Kolonien und Macht auf ein Fünftel zurückging und sich erst spät bis zur heutigen Größe entwickelte. Abb. 195 Einwohnerzahl Roms zwischen 500 vor und 2000 nach Christus.

Die einzige Kultur, die über einen langen Zeitraum gelernt hat, ökologisch nachhaltig zu leben, sind die Aborigines Australiens. Keine städtische Kultur, sondern der Jäger und Sammler, der nach den Fehlern der Übernutzung über 60.000 Jahre hindurch lernte, an die Grenzen angepasst zu leben. Vermutlich noch älter dürften die Kulturen afrikanischer Buschmänner, ebenfalls keine städtische Kultur, sein. Das geradezu explosionsartige Wachstum der Städte im 20. und im 21. Jahrhundert ist neu in der Geschichte der Menschheit, ihrer Zivilisation und Kultur. Dieses Wachstum der Bevölkerung beruht – neben dem technologischen und technischen Fortschritt – auf der Wasseraufbereitung, der Hygiene, aber auch auf dem Verkehrssystem. Ohne Erdöl und technischen Verkehrssystemen kann man solche Bevölkerungsballungen nicht versorgen. Von den Städten ausgehend, durchzieht es wie das Myzel eines Pilzes heute die ganze Welt, um sie auszubeuten. Herbert Girardet hat in seinem Buch eindrucksvoll die Wirkung unserer heutigen Großstädte auf das Ökosystem dargestellt. Der sichtbare Beweis für die globale Nutzung aller Arten von Ressourcen, die zum Vorteil der Stadt dienen, sind die an den Containern in den Häfen angegebenen Destinationen in afrikanische, australische und südamerikanische Häfen. Voraussetzung für die Lebensfähigkeit dieses weltweiten Netzes zur Ausbeutung der Ressourcen ist die billige Verfügbarkeit fossiler Energie für Fernmobilität. Diese ist heute in großem Maßstab für die Bewohner der nördlichen Hemisphäre zugänglich und wird durch die Täuschung der Ökonomie zu einem Preis gehandelt, der nichts mit der physikalischen Realität zu tun hat. Besonders krass sind die Verhältnisse im Güterflugverkehr, wenn die energetische Bilanz etwa einer Mangofrucht auf dem Frühstückstisch Mitteleuropas so aussieht, dass der Energieaufwand für den Transport das 600-Fache des Energieinhaltes der Frucht überschreitet. 304

Marseille Düsseldorf Lyon Prague Frankfurt Geneva Oslo Ruhr Vienna Bologna Glasgow Nantes Stuttgart amsterdam Manchester Rhijadh Madrid abijan Milan Athens Atlanta Berlin Chicago Helsinki Tehran Brisbane Cairo Cracow Hamburg Hongkong Paris Salvador Sapporo Washington Copenhagen Houston New York Newcastle Perth Wellington Brussels Harare Lille Montreal Johannesburg

Minuten

80 70 60 Flächenversiegelungsabgabe 50 Dieselbe,40 zur realen Welt verrückte Situation ist in den hoch motorisierten Ländern re30 gional, ja sogar lokal nachzuweisen. Vergleicht man den Energieaufwand für den Weg eines 20 Arbeit, zur Schule, zum Einkaufen mit dem eines Autofahrers, dann wendet Fußgehers zur 10 für den gleichen Zweck das 100- bis 300-Fache an Energie auf. Wenn wir der Autofahrer 0 allein den Energieaufwand für Mobilität betrachten, zeigt sich, dass immer mehr städtische

Strukturen jenseits der ökologisch möglichen und längerfristig nachhaltigen Grenzen liegen. Die Ursache dafür liegt in den Eigenschaften der stadtbildenden Elemente, der Menschen. Haben Bewohner Autos mit genügend billiger Mobilitätsenergie, steigt der Bedarf an   Fahrbahnen exponentiell. Abb. 186  Motorisierung ‐ Länge Straßennetz m Straßennetz / 1000 Einwohner

10000 9000 8000 7000

y = 458,33e0,004x R² = 0,569

6000 5000 4000 3000 2000 1000 0 0

100

200

300 400 500 Kfz/1000 Einwohner

600

700

800  

Abb. 196  Abb. 196 Motorisierung steigert den Bau von Fahrbahnen überproportional.

Dies hat eine Reihe von Ursachen: 1.) Billiger Baugrund im Grünland, weil den Bauern durch die Agroindustrie die Lebensbasis entzogen wird, führt zur Zersiedlung. Die Folgen der Autoabhängigkeit und der langen Reisewege werden zunächst nicht bedacht. 2.) Die aus den Emissionen technischer Verkehrssysteme resultierenden Belastungen für die Menschen verstärken den Wunsch nach Ruhe und natürlichem Umfeld. Der Drang zur Natur führt zur Zersiedlung der Stadt und gleichzeitig zur Vernichtung der Natur. 3.) Als Folge der Mechanismen unserer Wirtschaft, der Economy of Scale, lösen sich Wirtschaftsstrukturen von der Stadt. Es entstehen konzentrierte, zentralistische Wirtschaftsstrukturen entlang der Hauptadern des motorisierten Verkehrs und daraus ergibt sich ein Zwang zur Benutzung technischer Verkehrssysteme. 305

Zur Evolution der Städte

4.) Der Flächenbedarf für das Abstellen der Fahrzeuge überschreitet jenen für die Erfüllung sämtlicher Bedürfnisse einer nicht motorisierten Stadtbevölkerung. Im Durchschnitt der europäischen (luxuriösen) Wohnverhältnisse entfallen auf den Einwohner 30 bis 40 m2 Wohnfläche. Nimmt man eine dreigeschossige städtische Bebauung an, sind es 10 bis 12 m2 Bodenfläche für die Primärfunktion des Wohnens. Pro Fahrzeug werden hingegen über 300 m2 Bodenfläche zur Verfügung gestellt, das 25-Fache. Kein Ökosystem kann sich diese Vergeudung von Flächen (Versiegelung) auf Dauer leisten. 5.) Der fließende Autoverkehr verschlingt noch mehr Bodenfläche, um die physiologischen Mängel der Autofahrer, die ja nur über die sinnliche Ausstattung des langsamen Fußgehers verfügen, zu kompensieren. Da die Informationsdichte bei höherer Geschwindigkeit nicht in sinnvolle Handlungen verarbeitet werden kann, muss sie auf ein Minimum reduziert werden, das bei Autobahnen am niedrigsten ist, wie es Prof. R. Rainer eindrucksvoll im folgenden Bild dargestellt hat. Abb. 197 Ein Autobahnkleeblatt braucht so viel Platz wie die Altstadt von Salzburg, die aus über 4.000 Wohnungen in 920 Häusern, 430 Gewerbebetrieben, 16 Kirchen, 13 Schulen und einer Universität besteht (Prof. Roland Rainer).

Städte, wie sie in den vergangenen 100 Jahren für und um das Auto geplant und gebaut wurden, haben mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine Zukunft. Sie verbrauchen zu viele Ressourcen, zu viel Energie, zu viel Fläche, sie sind zu unintelligent organisiert. Die Evolution lässt alles verschwinden, was nicht effizient genug ist. Gefährdet sind die Städte nicht nur aufgrund der in absehbarer Zeit auftretenden Probleme in der Energieversorgung, sondern noch viel mehr durch den Verlust der sozialen Kontrolle über den öffentlichen Raum. In São Paulo stehen heute schon Staat, Stadt und Polizei den mächtigen Banden der Drogenmafia hilflos gegenüber. Ein einziger Drogenboss kann das gesamte Wirtschaftsleben einer Stadt stilllegen. Es ist eine Frage der Zeit, bis auch die übrigen Städte der Welt in die eine oder andere Form von Auflösung abgleiten. Die entscheidenden 306

Der ökologische Fußabdruck

Faktoren sind – was weder von den Soziologen noch von den Psychologen und schon gar nicht von den Stadtplanern, geschweige denn Verkehrsplanern begriffen wird – der öffentliche Raum und damit das Verkehrssystem. Demokratisch nicht legitimierte Kräfte können nur dank technischer Verkehrssysteme eine Stadt beherrschen. Ihre Autos oder Motorradbanden erreichen in kürzester Zeit jeden Winkel in einer Millionenstadt, zu Fuß wäre dieses Unterfangen ziemlich aussichtslos. Die zivile Gesellschaft der Städte ist den technischen Veränderungen im Verkehrssystem ebenso wenig gewachsen wie der quantitativen Veränderung, die sich für die Städte ergeben hat. Die Folge der Geschwindigkeitserhöhung ist nicht nur der Verlust der ökologischen Nachhaltigkeit, sondern auch der sozialen und ökonomischen.

9.24 Der ökologische Fussabdruck Der ökologische Fußabdruck ist ein Instrument, um den Verbrauch an Ressourcen und die Belastung der Natur durch die menschlichen Aktivitäten zu messen. Er wurde von W. Rees und M. Wackernagel an der Universität von British Columbia, Canada 1992, entwickelt und findet heute weltweit Anwendung. Die Berechnung basiert auf dem Verbrauch von Gütern und Energie durch die Aktivitäten der Bevölkerung einer Region. Berechnet werden die Land- und Wasserflächen, die nötig sind, um die benötigten Mengen an Rohmaterial, Gütern und Energie zu liefern und die Abfälle wiederzuverarbeiten. Das Modell beruht auf der Annahme einer von der übrigen Welt isolierten Stadt oder Region, die auf den Metabolismus der produktiven Land- und Wasserfläche angewiesen ist. Diese Fläche versorgt die Bevölkerung mit allen erforderlichen Gütern und absorbiert alle Abfälle in fester, flüssiger und gasförmiger Form. Ausgedrückt in Hektar, repräsentiert diese Fläche den sogenannten ökologischen Fußabdruck. uck- ökol. Defizit D öko l. Fußabdru 6,0 NZL

Differenz ha/EW

4,0

SF

2,0 0,0

-2,0

Aus Pak

C China

0BldInd Eth

2

Brz B

4

A Arg

6

8

10

12

US

-4,0 Singp

-6,0

LUX L

-8,0

ISL

uchte Fläch he in ha/EW W beanspru

Abb 1988 

otorisierrung - ökol. ö Fußabdru uck 307Mo 12 2 10 0 wohner

Abb. 198 Vergleich des ökologischen Fußabdruckes mit der biologischen Kapazität der Länder. Jeder Punkt in diesem Diagramm stellt ein Land dar, einzelne sind beschriftet. Nur wenige Länder verfügen noch über ökologische Reserven (oberhalb der Nulllinie), die meisten haben die Grenze der ökologischen Tragfähigkeit ihres Gebietes schon überschritten.

8 6

y = 0,0096xx + 1,2879 R² = 0, 6817

 

Zur Evolution der Städte

Für die Berechnung wird die Landoberfläche in acht verschiedene Hauptkategorien eingeteilt. energy land

land “appropriated” by ­fossil energy use

(energy- or CO2-land)

consumed land

built environment

(degraded land)

currently used land

gardens

(reversibly built environment)

crop land

(cultivated systems)

pasture

(modified systems)

managed forest

(modified systems)

untouched forests

(productive natural ecosystems)

non-productive areas

(deserts, icecaps)

land of limited avail­ ability

Tab. 10 Die acht Hauptkategorien zur Berechnung des ökologischen Fußabdruckes.

Wackernagel verwendet für die Umrechnung in Landfläche Umwandlungsfaktoren. Ein Beispiel für die Produktivität verschiedener Energiequellen zeigt folgende Tabelle: energy source

productivity (in giga joules per hectare per year)

fossil fuel • ethanol approach



80

• CO2-absorption approach



100

• biomass replacement approach



80

hydro-electricity (average)



1.000

• lower course



150–500

• high altitude



15.000

solar hot water



up to 40.000

photovoltaic



1.000

wind energy



12.500

Tab. 11 Umwandlungsfaktoren für Energie in Landfläche.

308

Das Herz positiv berühren Abb. 199 Der ökologische Fußabdruck für eine Pendlerdistanz von 5 km (10 km täglich) und unterschiedliche Verkehrsmittel: Fahrrad 122 m2, öffentlicher Verkehr 301 m2, Auto 1.442 m2.

Führt man diese Berechnungen durch, erhält man allein für den Personenverkehr in Wien eine Landoberfläche, die 6-mal, und in Istanbul eine, die 32-mal größer sein müsste als ihr Verwaltungsgebiet (Yildirim D. A.).72

9.25 Das Herz positiv berühren Jede Planung, mit der die natürliche Umwelt verändert wird, berührt die Menschen optisch, psychisch und physisch, um nur die gängigsten Ebenen seiner Evolutionsschichten anzuführen. Mit der Entdeckung der Körperenergie als den entscheidenden Faktor unseres Verhaltens im (hier künstlichen) Umfeld, finden wir den Zugang zu einer nicht technischnaturwissenschaftlichen und daher menschlicheren Formulierung der quantifizierten Zusammenhänge. Ist Körperenergie im Spiel, ist auch das Herz als empfindsame energetische Struktur von zentraler Bedeutung. Wir haben in der Planung auf seine „Sprache“ einzugehen. Von intrinsischen, also von innen kommenden Motiven oder Motivationen ist heute oft die Rede, wenn versucht wird, menschliche Verhaltensbeobachtungen zu deuten. Und es ist nur logisch, dass man aus äußerem Verhalten auf innere Vorgänge schließt. Dabei tritt allerdings das Problem auf, aus welcher evolutionären Ebene diese Regungen kommen. Die Entdeckung der großen Unterschiede in der Akzeptanz von Fußwegen zwischen hässlicher (heute üblicher) und schöner, autofreier, gut gestalteter oder natürlicher Umgebung (in 7.1, Abb. 70). Die Qualität des gestalteten Umfeldes beeinflusst die Akzeptanz der Fußwege in entscheidendem Ausmaß (Beispiel Wien), ist auch als „Berühren des Herzens“ in unangenehmer und angenehmer Weise verständlich zu machen. Je nachdem, wovon man ausgeht, „schrumpft“ die Akzeptanz bei „negativer Berührung“ in dem autoorientierten Umfeld oder sie weitet sich in einem menschengerechten Umfeld, also bei „positiver Berüh72 Yildirim, G. (2005): The use of the Ecological Footprint in Traffic Planning and the Comparison of the Passenger Traffic Structure between Istanbul and Vienna with this method. Diplomarbeit am Institut für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik der Technischen Universität Wien.

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Zur Evolution der Städte

rung“, aus. Das Herz wird aber nicht nur von außen, wie auch das Hirn, sondern noch viel direkter und stärker von innen berührt. Dies hat bei Kenntnis der Wirkungsmechanismen klare Konsequenzen für die praktische Planung und Politik: Nichts berührt das Herz so unmittelbar von innen wie das Auto in unmittelbarer Nähe. Wie ausgeführt, erfolgt die „Berührung“ auf der ältesten und damit mächtigsten Schicht der Evolution, der Ebene der physischen Energie, die beim Autofahrer weniger als die Hälfte des Fußgehers – pro erlebter Zeiteinheit – beträgt, bei gleichzeitiger nahezu beliebiger Beschleunigung. Hat diese Berührung im Kopf und im Herzen stattgefunden, spielen die oberen Schichten der „Herzensberührung“, die von der Außenwelt kommen, keine oder nahezu keine Rolle. Schönheit, menschliche Werte evolutionärer Oberschichten werden für die intrinsische tiefe Veränderung aufgegeben, die Nähe wird der eigenen Bequemlichkeit ebenso gerne geopfert wie Ruhe und reine Luft. Was noch zählt, ist die Verstärkung dieser positiven Berührung. Und dazu greift man bedenkenlos in die Außenwelt ein und opferte über Jahrzehnte Ortsbilder, Baudenkmäler, die Natur, die Lebensräume der Kinder. Die Siedlungs- und Verkehrsraumgestaltung der vergangenen 200 Jahre, schon beginnend mit den Eisenbahnen, ist gekennzeichnet von der Rücksichtslosigkeit gegenüber der „Berührtheit“ der Menschen, die seine ganze Geschichte der Siedlungen geprägt hatte. Die Schönheit, nicht nur vieler baulicher Leistungen der fußläufigen Gesellschaft, noch viel mehr die atemberaubende Qualität der Raumerlebnisse von Plätzen und Gassen, deren Spuren sich in dem genannten Diagramm wiederfinden, werden durch das Verhalten der Menschen nach wie vor eindrucksvoll bewiesen. Diese Strukturen ziehen Menschen durch ihre Berührung an und in ihren Bann. Entfernt man die Autos aus diesen Räumen und beseitigt die schwersten Verletzungen der Stadt- und Verkehrsplanung der vergangenen Jahrzehnte, füllen sich die Räume mit Menschen, dem Lebensblut jeder Siedlung, und mit Geschäften in und vor den Gebäuden. Wird hingegen das Herz der Menschen durch das Auto in der Hausgarage, vor dem Haus oder auf der Straße berührt, bevor er als Mensch mit der gebauten oder sozialen Umwelt in Kontakt treten kann, ist es für diese Art der Berührung nicht mehr offen, abgestumpft, ein Sklave des Vehikels, das ihm alle Überlegenheit der evolutionären Oberschichten zu ersetzen scheint. Nur in autofreien Siedlungen und Städten ist die für die Fortsetzung der menschlichen Entwicklung erforderliche „Berührung des Herzens“ im öffentlichen Raum möglich, aus dem die Vielfalt der sozialen und lokalen wirtschaftlichen Beziehungen entsteht, als Basis für verantwortungsbewusste regionale, internationale und globale Beziehungen. Diese Ansprüche an Planer und die Politik dürften aber die heute noch vorhandenen Fähigkeiten meistens übersteigen. Gegenüber den heutigen Anforderungen in der Raum-, Stadt- und Verkehrsplanung steigen die Anforderungen um etwa zwei Zehnerpotenzen bezüglich intelligenterer Nutzung verfügbarer Räume und mindestens im gleichen Ausmaß bezüglich 310

„Die Stadt und das Umland“

der Qualität der Gestaltung, nicht nur Informationsdichte, Informationsvielfalt, sondern auch hinsichtlich ihrer Harmonien – einer Eigenschaft, die der zeitgenössischen Architektur ­völlig verloren ging. Dass die Herzen der Menschen von den meisten Leistungen der Architekten, Stadt- und Verkehrsplaner im vergangenen Jahrhundert negativ berührt werden, beweist ihr Verhalten. Man findet in diesen Räumen kaum Menschen, die sich dort freiwillig aufhalten. Wer will schon seinem Herzen so etwas antun – oder das Herz lässt sich diese Umwelt nicht lange gefallen und treibt die Menschen, von innen her, weg davon. Stadtflucht ist auch eine Flucht der Menschen aus der herzlosen Umwelt – auf der Suche nach einer schöneren. Und so verdeckt das Auto die Unfähigkeit und Herzlosigkeit von Planern, Verwaltungen und Politikern. Kein Wunder, wenn diese Unfähigen mit jeder Faser an ihm kleben.

9.26 „Die Stadt und das Umland“ Die Diskussion um die Lösung der Probleme unserer Städte verläuft meist einseitig, weil sie sich fast ausschließlich auf die Stadt konzentriert. Keine Stadt konnte und kann jemals ohne Umland leben und überleben. Alle Städte beziehen aus dem engeren und weiteren Umland reine Luft, reines Wasser, arbeitswillige und ausgeruhte Menschen, Energie in verschiedener Form, Lebensmittel und Rohstoffe und geben an das Umland verschmutzte Luft, verunreinigtes Wasser, abgearbeitete und ermüdete Menschen und Abfälle in verschiedener Form ab. Je größer die Probleme in den Städten durch unkontrolliertes Wachstum werden – und Politiker sind wie besessen auf Wachstum –, umso mehr konzentrieren sich die Bemühungen auf das eigene Wohl, die Sicherung der finanziellen Zuwendungen vom Staat, um die Infrastruktur und die Serviceleistungen der Stadt weiter auszubauen – ohne Rücksicht auf die Grundlagen, von der die Stadt lebt. Im Rahmen der Urban-Age-Konferenzen beklagten die Vertreter der Megastädte, dass ihr Beitrag zum Bruttonationalprodukt und die von der Stadt an den Staat abgeführten Gelder viel größer waren als das, was sie vom Staat für ihre Aufgaben erhalten. Mexico City leistet z.B. 27 % zum Bruttonationalprodukt und zum Steueraufkommen, bekommt aber anteilsmäßig nur 11 % zurück, was die fachlichen und politischen Vertreter der Stadt beklagen (Literaturhinweis: Urban Age Conference, Mexico 2006). Sämtliche Städte verwandeln die Ressourcen, die sie aus dem Umland beziehen, in Geld und benehmen sich wie ein rücksichtsloser Gärtner oder Bauer, der aus dem Boden immer nur mehr Gewinn schlagen möchte, ohne ihn zu pflegen, zu düngen und zu bearbeiten. Die Auffassung und damit das Bewusstsein vieler fachlicher und politischer Stadtvertreter sind auch nicht besser als jene der gedankenlosen, rücksichtslosen, engstirnigen Rinderzüchter am Amazonas oder in Afrika, die kurzfristige Gewinne aus der Brandrodung wertvollster 311

Zur Evolution der Städte

Urwaldbestände ziehen und dabei übersehen, wie sie ihre eigenen Lebensgrundlagen zerstören. „Brandrodung“ des Umlandes durch die Städte ist heute eine weltweite Praxis, die von den internationalen Konzernen noch erfolgreicher übernommen wurde. Anstatt die natürlichen Räume um die Städte zu schützen und die Ausbreitung der Siedlungsgebiete zu verhindern, wird hemmungslos Land verbaut, „erschlossen“ und damit das, was tatsächlich Stadt ist, vom Umland immer weiter getrennt. Das Auto eröffnet dazu ideale Möglichkeiten, die von den Stadtverwaltungen auch rücksichtslos genutzt werden, noch mehr aber von den wachstumsgierigen Randgemeinden, deren Vertreter sich manchmal sogar einbilden, dass das Bevölkerungswachstum ihr politischer Verdienst wäre. Mexico City, das täglich 11.400 t Abfälle produziert, eine ungeheure Menge reinen Wassers mit Fäkalien und Chemikalien verunreinigt, ist nicht in der Lage, mehr als 3 % dieses Abwassers auch nur einigermaßen zu reinigen, sondern gibt es über Kanäle an die umliegenden Provinzen ab. Dort erreicht die Zahl der Kranken und Todesfälle durch verschmutztes Wasser Spitzenwerte. Wäre eine Stadt ein geschlossenes System, könnte keine in dieser Form überleben. Sie würde innerhalb weniger Wochen (wenn man Luft und Wasser hinzunimmt, innerhalb weniger Stunden) absterben. Die für diese Belastungen entstehenden Kosten an das Umland werden bisher der Stadt nicht verrechnet. Die Stadt ist ein Holon, das nicht nur von seinen Einzelteilen lebt, sondern sich auch in das größere Ganze integrieren muss. Diese Integration, also die Verbindung mit den übergeordneten, umfassenderen Einheiten, in diesem Fall dem Umland, dem Land, der Erde, erfolgt durch das Verkehrssystem. Wenn überhaupt, dann wird heute nur das am weitesten von der operativen Tätigkeit Entfernte wahrgenommen: der ökologische Fußabdruck, wie er aus der Sicht des Umweltschutzes seit längerer Zeit propagiert wird. Weil dieser Begriff aber sehr weit von der operativen praktischen Tätigkeit entfernt ist, obwohl er sich in den Ansätzen auch dafür eignet, findet er in der praktischen, politischen und fachlichen Diskussion kaum Beachtung. Für die Planer müsste der ökologische Fußabdruck bzw. müssten die elementaren, zum Teil trivialen dahinter stehenden Überlegungen selbstverständlich zum Bestandteil jeder Flächenwidmung werden, weil dieser auch dem Begriff des Holons entspricht, wenn er fachlich qualifiziert interpretiert wird. Motorisierung und ökologischer Fußabdruck Derzeit wird immer noch die Hoffnung verbreitet, man könne mit technischen Maßnahmen die ökologischen Probleme der begrenzten Welt so lösen, dass man bei der Motorisierung keine Einschränkungen braucht. Die Beziehung zwischen Motorisierung und ökologischem Fußbadruck ist so evident, dass man sich von dieser Hoffnung zu verabschieden hat. Mit dieser Motorisierung (weniger als 10 % der heutigen Werte in Europa) sind der Lieferverkehr, Gemeinschaftsautos und der Transport für Behinderte noch gut zu bewältigen. 312

Singp

-6,0

LUX L

-8,0

ISL

uchte Fläch he in ha/EW W beanspru

 

Wie die Raumgestaltung auf die Menschen wirkt: das Beispiel Bogotá Abb 198 8 

Mo otorisierrung - ökol. ö Fußabdru uck 12 2 10 0

ha/Einwohner

Abb. 200 Nur Länder mit einem Motorisierungsgrad unter ­ 60­KFZ/1.000 Einwohner haben einen ökologischen Fußabdruck, der kleiner ist als der zulässige Weltdurchschnitt.

y = 0,0096xx + 1,2879 R² = 0, 6817

8 6 4 2 0

5 50 - 60 Kffz/1000 E EW 0

200

400 0 600 K Kfz/1000 Einwohner

800  

9.27 Wie die Raumgestaltung auf die Menschen wirkt: das Beispiel Bogotá Abb. 2000 

Dass ein menschengerechtes Umfeld auch zu menschlicherem Verhalten entscheidend beiträgt, also tiefe Schichten der Evolution auch auf den jüngeren wirksam werden, kann man empirisch feststellen. Dass richtig gestalteter öffentlicher Raum nicht nur die Verkehrssicherheit erhöht, sondern auch die Zahl der Morde dramatisch reduziert, zeigt das Beispiel Bogotá. Abb. 201 Treffen der Bürger­meister in London 2005. ­Ungläubige, weil ­Systemunkundige.

Die Hauptstadt Kolumbiens, mit über sieben Millionen Einwohnern, hat eine Einwohnerdichte von 210 Personen pro Hektar. Die Hälfte der Stadt ist ungeplant, illegal gewachsen. Der Anteil der Menschen, die an unbefestigten Straßen leben, liegt bei über 20 %. Das Budget im Verkehr war ausschließlich für den Straßenbau reserviert. Man begann mit dem Bau von Überführungen an besonders kritischen Kreuzungen. Für die Straßenerhaltung gab es praktisch kein Geld. 313

Zur Evolution der Städte

Abb. 202 a–c Bogotá (Kolumbien) und typische „wilde Siedlungen“. 62

62 Die Fotos und Diagramme von Bogotá wurden freundlicherweise vom Bürgermeister Enrique Peñalosa für die Veröffentlichung zur Verfügung gestellt.

314

Wie die Raumgestaltung auf die Menschen wirkt: das Beispiel Bogotá

1998 wurde von der japanischen Consulting-Gruppe JICA ein Verkehrsmasterplan für Bogotá ausgearbeitet, der eine Metrolinie und städtische Autobahnen (zum Teil mehrstöckig, wie in Tokio, Bangkok oder Shanghai) vorsah. Die vorherrschenden Randbedingungen, wie • hohe Wachstumsrate der Bevölkerung, • hohe Einwohnerdichte, • mildes Wetter, • Ungleichheit, • extreme Armut und • niedrige Motorisierung wurden dabei aber nicht berücksichtigt. Die Gesellschaft braucht ein sozial gerechteres Stadtmodell, das die Menschen glücklicher macht, und nicht eine Kopie der ökonomisch entwickelten Länder. Die Kriterien für die neue Stadtidee sind: • Gleichheit • Happiness • Wettbewerbsfähigkeit Gleichheit Gleichheit bedeutet, dass die Art, wie wir unsere Städte bauen und das Stadtleben organisieren, ein mächtiges Werkzeug sein kann, um eine gerechtere und besser inte­ grierte Gesellschaft zu entwickeln. In ­L ateinamerika leben 44 % der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, das sind 225 ­Millionen Menschen. Eine Verteilung gleicher Lebensqualität ist daher wesentlich wichtiger als eine Einkommensverteilung. Equality bedeutet, dass jedermann vor dem Gesetz gleich ist. Wichtiger ist aber in einer Demokratie, dass die öffentlichen ­Interessen grundsätzlich über dem privaten Willen rangieren müssen.

Abb. 203 Öffentliches Interesse muss gegen privates durchgesetzt werden.

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Zur Evolution der Städte

Happiness Untersuchungen zwischen Einkommen und Happiness (Glück, Zufriedenheit), die empirisch erhoben wurden, zeigen, dass bei wachsendem Einkommen der Anteil der glücklichen Menschen eher abnimmt. Einkommen und Glück haben daher nichts miteinander zu tun. Die Untersuchungen der London School of Economics zeigen, dass Menschen, die glücklicher sind, reicher werden und nicht umgekehrt. y=4 4,3833ln(x) + 40,301 R² = 0,254 4

Southern Countrie es

100

Puerto Ric co Aus

90 80 70

NZ

Happiness index

hern Countries North

60

Peru

50 40

y = 11,873ln(x x) - 32,364 R² = 0,4 4543

30 20 10 0

0

5000

10000

15000 0

20000

income e in US$

255000

30000  

Abb. 2044  und Happiness klaffen immer weiter aus­einander (aus LAYARD, R., 2003). Abb. 204 Einkommen

Wettbewerbsfähigkeit Aufgrund der ökonomischen Randbedingungen kann man in einem Land die Steuern nicht über das internationale Niveau anheben. Aus diesem Grund müssen daher die Städte so gebaut werden, dass sie Attraktoren für die besten Fachleute werden und damit Investitionen anziehen. Wettbewerb erfolgt daher nicht über die niedrigen Preise, sondern der Wettbewerb muss über die Qualität des Lebens erfolgen.

  Abb. 2199       

Abb. 205 a u. b Eine Stadt für glückliche Kinder.

316

Wie die Raumgestaltung auf die Menschen wirkt: das Beispiel Bogotá

Man braucht daher ein Stadtmodell, das sich an der Happiness und nicht am Konsum­ niveau orientiert. Ist eine Stadt gut für die Kinder, die sich frei bewegen und überall ungehindert spielen können, ist die Stadt auch gut für alle anderen Menschen. Aus diesem Grund sind die Armen zu bevorzugen. Dass man sich den Lebensraum von den Autofahrern zurückerobern muss, scheint aber in „Sozial- und kulturwissenschaftlichen Perspektiven“ nicht vorstellbar zu sein.73

Abb. 206 Infrastrukturen für die Menschen und die Armen – Schulen.

Eine zentrale Rolle spielte in diesem Programm der öffentliche Raum. Über Jahrtausende waren Straßen in den Städten Fußgeherzonen. Dieser Raum wurde mit Pferdefuhrwerken und Kutschen risikolos geteilt, auch New York um 1900 wies diese Art von Straßenräumen auf. In den vergangenen 80 Jahren wurden die Städte nach den Bedürfnissen der Automobilität, nicht für das Glück der Kinder gebaut.

73 Funke-Wieneke, Jürgen / Klein, Gabriele (Hrsg.): Bewegungsraum und Stadtkultur: Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven.

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Zur Evolution der Städte

Abb. 207 a u. b Der Straßenbau der vergangenen 80 Jahre hat die Städte verwüstet.

Gerade in der Freizeit merkt man die Einkommensunterschiede am stärksten. Reiche Stadtbewohner haben zwei Wohnhäuser, Clubs, Restaurants. Für die Armen ist die einzige Alternative zum Fernsehen der öffentliche Raum. Im öffentlichen Raum treffen sich die Menschen als Gleichberechtigte, ohne Hierarchie oder Einkommensunterschiede. Qualitativ hochwertiger Fußgeherraum ist die Voraussetzung zur Kompensation der Ungleichheit. Die Menschen sind Fußgeher, sie sind dazu geboren, zu Fuß zu gehen, Menschen zu treffen und Zeit mit ihnen zu verbringen. Der öffentliche Raum kann unterschiedlich gestaltet werden, so wie in Rom die Kolonnaden oder in den Tropen die Palmen.

Abb. 208 a u. b Gleiche Funktion und gleiche Raumwirkung trotz unterschiedlicher Elemente.

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Wie die Raumgestaltung auf die Menschen wirkt: das Beispiel Bogotá

Abb. 209 a u. b Der Unterschied in der Organisation des öffentlichen Raumes zur Steigerung der Lebensqualität (Bogotá).

Abb. 210 Der gewonnene Raum in den Straßen von Bogotá konnte für Fußgeher gestaltet, mit Sitzbänken, Palmen gesäumt und als Attraktor organisiert werden.

Die Verparkung der Gehsteige oder die Anordnung von Parkbuchten, wo Fußgeherbereiche sein sollen, ist eine offensichtliche Verletzung menschlicher Würde. Die Beseitigung parkender Autos aus dem öffentlichen Raum ist eine starke Information für Gleichheit. Die Maßnahme ist aus Respekt vor der menschlichen Würde zwingend erforderlich. Zu behaupten, dass neben der Fahrbahn genügend Platz wäre, um Parkstreifen anzuordnen und zu Fuß zu gehen, ist gleichwertig mit der Behauptung, dass der Hauptplatz der Stadt in einen öffentlichen Parkplatz umgewandelt werden kann, weil es ja ohnehin genügend Platz zwischen den Autos gibt, auf dem sich die Menschen bewegen können. 319

Zur Evolution der Städte

Was von den Städten an Erinnerung bleibt, ist der öffentliche Raum. Dieser gibt den Städten ihre Charaktere. Grünzonen statt Autobahnen Statt der Empfehlung des japanischen Consultings zu folgen, eine achtspurige Autobahn zu bauen, wurde eine 45 km lange Grünzone für Radfahrer und Fußgeher als öffentlicher Raum eingerichtet. Anstatt Fahrbahnen in den Armenvierteln – für Menschen, die ohnehin keine Autos haben – auszugestalten, wurde eine 17 km lange Fußgeherzone, eine Promenade, errichtet. Ziel ist es, Städte für das Glück der Kinder zu bauen und nicht für die Mobilität von Autos. Abb. 211 45 km Grünzone und Erholungsraum statt 45 km Autobahn.

Zum Verkehrssystem „Wir können kein neues Verkehrssystem entwerfen, bevor wir nicht wissen, welche Art von Stadt wir wollen.“ Das ist nicht nur eine technische, sondern eine politische Angelegenheit. Zum Unterschied von anderen Herausforderungen, wie etwa Gesundheit oder Ausbildung, verbesserte sich der städtische Verkehr mit zunehmender wirtschaftlicher Entwicklung nicht. Der Bau von Fahrbahnen führt zu geringer Einwohnerdichte und kann niemals den Stau vermeiden oder verhindern. Nur durch ein radikal anderes Modell kann der Stau im städtischen Verkehr vermieden werden. Effiziente Mobilität für alle Verkehrsstau ohne einen öffentlichen Verkehr ist sinnlos. Ebenso sinnlos ist öffentlicher Verkehr ohne entsprechende Einschränkungen für den Autoverkehr. Mit dem Geld�������������������������������������������������������������������� für���������������������������������������������������������������� die Zinsen einer Metrolinie baute man in Bogotá 300 km Fahrradwege. Radwege sind ein Symbol für Gleichheit und Respekt vor der menschlichen Würde. Der Anteil des Radverkehrs stieg von 0,4 auf 5 %. Der öffentliche Verkehr, früher chaotisch und unattraktiv (im allgemeinen Verkehrsgewühl steckende Busse), wurde umorganisiert. Mit den Kosten einer 17 km langen Metroli320

Wie die Raumgestaltung auf die Menschen wirkt: das Beispiel Bogotá

Abb. 212 a u. b Radwege für eine menschenwürdige Mobilität.

nie, wie sie von der Consulting-Gruppe vorgeschlagen wurde, kann man 388 km Expressbuslinien bei gleichzeitiger Verbesserung des öffentlichen Raumes entlang dieser Korridore einrichten. „Transmillenio“ nannte man dieses Projekt. Es ist ein Synonym für leistungsfähigen, sauberen, modernen, zukunftsorientierten und billigen öffentlichen Verkehr. Die Prinzipien dieses Systems sind: 1.) absoluter Vorrang für den öffentlichen Verkehr bei der Benutzung der Straßeninfrastruktur; 2.) keine sozialen Unterschiede hinsichtlich der Benutzer, wie Arme und Reiche; 3.) es wird öffentlich kontrolliert und von Privaten betrieben; 4.) es ist für Körperbehinderte geeignet.

Abb. 213 a u. b Öffentlicher Verkehr vor und nach der Umorganisation.

Die Infrastruktur des Systems ist öffentlich, bestehend aus Korridoren, Stationen und Garagen. Die Verrechnung, Ausstattung, die Smart Card und die Finanzierung sind privat sowie ebenso auch die Busunternehmen, die Busse und Beschäftigte zur Verfügung stellen. In Ver321

Zur Evolution der Städte Abb. 214 Die Busse mit absolutem Vorrang können auch in den schmalen Straßen problemlos verkehren.

Abb. 215 a u. b Die Unfall- und Kriminalitätsraten wurden auf weniger als die Hälfte gesenkt.

bindung mit dem Radverkehr und guten Fahrradabstellmöglichkeiten an den Busstationen wird die Wirkungstiefe der Transmillenio erheblich vergrößert. Es ist vorgesehen, dass bis zum Jahr 2020 85 % des Stadtgebietes von Bogotá innerhalb von 500 m ����������������� über������������� ein Schnellbussystem erreichbar sein werden. Derzeit bewegt das System mehr als eine Million Passagiere pro Tag. 21 % der Passagiere sind ehemalige Autofahrer. Mit der Einführung dieser Maßnahmen in Bogotá konnten die Unfallzahlen auf weniger als die Hälfte innerhalb von acht Jahren reduziert werden! Die Kriminalitätsrate – früher eine der höchsten in Lateinamerika mit 80 Morden pro 100.000 Einwohner/Jahr – konnte auf 25 reduziert werden, auf weniger als ein Drittel. Entscheidend war aber bei diesem Projekt das Gefühl der Zusammengehörigkeit in der Stadt, der Verbundenheit mit diesem neuen Geist, der sich aus der Umgestaltung des öffentlichen Raumes auf die Bürger übertrug. Transmillenio ist nicht nur ein öffentliches Verkehrssystem, es ist eine Idee für eine glücklichere und bessere Stadt geworden. 322

Wie die Raumgestaltung auf die Menschen wirkt: das Beispiel Bogotá

Die Indikatoren dieser Analyse beweisen eindrücklich die Wirkung der gebauten Strukturen auf das Sozialsystem und bestätigen die in dieser Arbeit aufgestellten Hypothesen der Evolution der Städte und ihrer Bewohner. Wie kann man die Qualität der Stadtplaner beurteilen? Wie man die wahren Propheten an ihren Taten und nicht an ihren Worten von den falschen Propheten unterscheiden muss, sollte dies auch für die Planer gelten: Stimmen ihre Taten mit ihren Worten überein? Alle Planer, die auf ihre Reputation Wert legen, reden heute von der nachhaltigen Stadt, was sie auch immer darunter verstehen. In der Vergangenheit waren die Menschen in der Lage, Siedlungen zu gestalten, die über Jahrhunderte, ja Jahrtausende existieren konnten. Dörfer und Städte mit einigen 100 Einwohnern gehörten ebenso dazu wie Städte mit wenigen 1.000 Menschen, die in ihnen alles fanden, was sie für ihre Bedürfnisse benötigten. Die Klasse der Planung verrät die Klasse der PlanerInnen Mit diesen qualitativen Vorgaben lässt sich nun Stadtplanung bewerten. Gehen wir von einer Einwohnerdichte von nur 100 Einwohnern je Hektar aus, so lässt diese ausreichend Platz für alle anderen Aktivitäten. Als zweite Annahme sei eine kreisförmige Fläche mit dieser Einwohnerdichte für die Siedlung angenommen. Damit erhält man, wenn man die volle Einwohnerzahl als Vorbedingung für einen 100 %igen Erfüllungsgrad urbaner Qualität nimmt, folgendes Diagramm: Abb. 216 Bei einem Radius von rund 350 m kann bei einer ­Einwohnerdichte von 100 EW/ ha eine funktionierende Stadt mit 1.000 Bewohnern errichtet ­werden, die alle Bedürfnisse ­dieses offenen Systems erfüllt. Bei 2.000 Bewohnern beträgt der Radius rund 450 m, bei 5.000 Einwohnern für eine funktionsfähige Siedlung braucht man 700 m Radius und bei 10.000 Ein­ wohnern schon 1 km.

Damit kann die Klasse der PlanerInnen bewertet werden. Eine erstklassige Planung mit allen Funktionen auf einer Fläche mit dem Radius von 350 m ist schon mit 1.000 Einwohnern für PlanerInnen der Klasse A erreichbar. 323

Zur Evolution der Städte

Klasse B – PlanerInnen benötigen dazu 2.000 Menschen. Klasse C – PlanerInnen benötigen dazu 5.000 Menschen. Klasse D – PlanerInnen benötigen dazu sogar 10.000. Ganz zu schweigen von jenen PlanerInnen, die nicht in der Lage sind, eine Siedlung voll lebensfähig zu gestalten, wenn sie auch für mehr als 10.000 Menschen Gebiete ausweisen oder bebauen. Planungsansprüche dieser elementaren Art entsprechen genau den Prinzipien der Evolution, die zu immer größerer Vielfalt und Differenzierung führt. Wenn diese Prinzipien richtig sind, muss das auch an Indikatoren der Lebensfähigkeit und Unabhängigkeit gemessen werden. Es ist daher naheliegend, dafür das Verkehrssystem heranzuziehen. Fußgeher und Radfahrer sind nicht nur nachhaltige und sozial verträgliche Mobilitätsformen, sondern auch weitgehend klimaneutral und fördern die lokale Wirtschaft. Die Reichweiten für diese Verkehrsteilnehmer sind bekannt und können in dieses Diagramm eingetragen werden.

Abb. 217 Die Akzeptanzfunktionen für Fußgeher und Radfahrer, eingetragen in die Skalen unterschiedlicher Planerqualifikation.

Aus diesem Diagramm ist zu entnehmen, dass ein Klasse-A-Planer keine technischen Verkehrsmittel benötigt, um eine lebendige Siedlung zu gestalten. Er kann auf alle Autos und auch den Großteil des öffentlichen Verkehrs verzichten. Fußgeher und Radfahrer decken nahezu alle Verkehrsbedürfnisse ab, weil sich diese in der Nähe befinden. Ein Klasse-BPlaner ist schon stärker auf das Fahrrad angewiesen, wenn er zur Erfüllung der Grundbe324

Wie die Raumgestaltung auf die Menschen wirkt: das Beispiel Bogotá

dürfnisse eine Siedlung mit 2.000 Einwohnern braucht. Ein C-klassiger Planer ist schon auf technische Verkehrsmittel angewiesen, die seine Unfähigkeit, eine vitale Siedlung zu gestalten, kompensieren müssen usw. Bei höherer Einwohnerdichte steigt natürlich die Einwohnerzahl, nicht aber die Fläche. Auf diese Weise kann eine A-klassige Planung auch mit einigen 1.000 Einwohnern auf gleicher Fläche gestaltet werden, die natürlich noch besser funktioniert als eine Verbauung niedriger Dichte. Auf diese Weise kann dann jede beliebige Stadt aus vernetzten, eigenständigen, nachhaltigen Einheiten zusammengesetzt werden, worin der öffentliche Verkehr seinen sinnvollen Einsatz findet. Vergleich mit den empirisch ermittelten Weglängen

Abb. 218 Die durchgezogenen Linien sind die beobachteten Verteilungen der Häufigkeit von Fußwegen verschiedener Städte und Gemeinden, die unterbrochenen Linien jene der Wege mit dem Fahrrad in der heutigen, nahezu völlig auf das Auto zugeschnittenen Verkehrsumgebung.

Die Kurven der aufsteigenden Erfüllungsgrade bei unterschiedlichen Einwohnerzahlen zeigen, dass der Verlust der Eigenständigkeit schon bei kurzen Wegen beginnt, weil die Autos an den Quellen und Zielen untergebracht sind. Entfernt man diese, kommt die obige Funktion zum Tragen. Der hohe Anteil langer Fußwege ist ein Indikator für die heutigen, an Funktionen bereits stark verarmten Siedlungsstrukturen. Die in Raum- und Stadtplanung herkömmlich Ausgebildeten liegen außerhalb dieser Klassifizierung, passen aber daher auch gut zu den ebenso ausgebildeten Verkehrsplanern, die den PKW als Maßeinheit verwenden. 325

Zur Evolution der Städte

„Grau, teurer Freund, ist alle Theorie …“ Das wird sich wohl so mancher Absolvent einschlägiger Studienrichtungen gedacht haben, wenn er feststellt, dass die Praxis dunkelgrau bis grauenhaft sein kann, denn keines der Fachgebiete Verkehrsplanung, Flächenwidmung oder Siedlungsplanung ist frei von Interessen und Interessengruppen, die vor allem ein Ziel verfolgen: Geld zu machen, ohne selbst etwas leisten zu müssen, oder lukrative und sichere Aufträge zu ergattern. Wenn tüchtige und begabte AbsolventInnen im Laufe der Jahre auch noch feststellen, dass nicht die fachlich Besten am erfolgreichsten sind, sondern jene, die sich unter Aufgabe oft jeder fachlichen Verantwortung den jeweiligen finanziellen oder politischen Machtgruppen am besten anpassen und deren Ziele ohne Rücksicht auf die Folgen unterstützen, erkennen sie, dass man neben Fachkenntnissen auch noch Charaktereigenschaften braucht, um nicht zu verzweifeln. Es ist ja bezeichnenderweise auch Mephistopheles, der den Schüler in Faust I in dieser Weise belehrt, aber hinzufügt: „Und grün des Lebens goldner Baum.“ Wer darüber nachdenkt, wird wohl feststellen, dass das, was die erwähnten Interessengruppen leitet, wohl gerade das Gegenteil von dem ist, was das Leben fördert, wenn dieses leichtfertig und rücksichtslos unter Beton und Asphalt erstickt und die Natur zersiedelt und kommerzialisiert wird. Natürlich ist jeder in der Praxis Tätige gezwungen, Kompromisse zu machen. Diese dürfen aber nicht so weit gehen, dass man das Gegenteil dessen macht, was nicht nur die Ziele verlangen, sondern auch die ethischen Grundlagen unserer menschlichen Gesellschaft. Und was im vergangenen Jahrhundert in diesen Fachgebieten gemacht wurde, widerspricht jeder Berufsethik der Ingenieure und Planer. Anstatt Probleme zu lösen, haben Verkehrsplanung und -technik diese vergrößert und immer neue erzeugt. Siedlungsplanung und Städtebau haben durch Flächenwidmung und Bebauung Strukturen geschaffen, die so lebensfeindlich sind, dass sie von den Bewohnern, wenn es nur möglich ist, gemieden werden, und damit haben sie verhindert, dass eine lebendige Stadt entsteht. Die öffentlichen Räume sind verödet wie in einer Totenstadt, anstatt wie in einer lebendigen Stadt nahezu rund um die Uhr von Menschen belebt zu werden. Anstatt den Menschen Freiheiten zu geben, hat man sie durch die Anordnung, Finanzierung und Organisation der Parkplätze zum Autofahren gezwungen und in Abhängigkeit von zentralen Energieversorgern gebracht. Diese haben nun ein leichtes Spiel – nicht nur mit den Bürgern und den lokalen Produzenten, sondern auch mit ganzen Kommunen. In der langjährigen Praxis kann man beobachten, wie qualifizierte Absolventen, denen leider jene Charaktereigenschaften fehlen oder abhanden gekommen sind, die man braucht, um verantwortbare Lösungen durchzusetzen, das Gegenteil dessen machen, was fachlich und moralisch zu verantworten ist. Besonders abscheuliche Beispiele liefern jene Karrieristen, die unter Aufgabe aller ethischen und fachlichen Prinzipien auf hohe Posten in der Verwaltung gelangt sind und sich zu willigen Handlangern willkürlicher Machtpolitik oder 326

Wie die Raumgestaltung auf die Menschen wirkt: das Beispiel Bogotá

Abb. 219 „Der Blindensturz“ von Pieter Brueghel dem Älteren, entstanden 1568.

Wirtschaftsinteressen auf Kosten der Bürger machen. Da im Consulting Abhängigkeiten von Aufträgen bestehen, haben daher jene, die Aufträge zu vergeben haben, besondere Verantwortung, sodass von ihnen die Einhaltung der Raumordnungs- und sonstiger Ziele einklagbar gemacht werden muss. 74 „Folg’ nur dem alten Spruch und meiner Muhme, der Schlange. Dir wird gewiß einmal bei deiner Gottähnlichkeit bange!“, sagt Mephistopheles am Ende des Gesprächs zu dem Schüler. Und Gottähnlichkeit durch Schöpfungsakte wird bei der herkömmlichen Planerausbildung nach wie vor vermittelt – und nicht Poppers Erkenntnis, dass die Wissenschafter aufgrund ihres Unwissens bescheiden zu sein haben. Kein Wunder, dass es immer mehr Menschen bang wird. Nachwort Es wäre naiv zu glauben, dass allein die Wiederherstellung der Harmonie zwischen der Stadt und den Menschen durch die Ordnung im Verkehrssystem auch schon zur wunderbaren Harmonie zwischen den Menschen führen wird. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass dann die Brüche in der Gesellschaft, die durch den Autoverkehr entstanden und durch ihn auch verdeckt sind, erst richtig sichtbar werden. Wie nach einem Rausch ein „Kater“ den Übergang zur Nüchternheit darstellt, führt die Ordnung des menschlichen Maßes im Siedlungswesen wieder zur Normalität der Gesellschaft. Und diese zu leben und weiter zu ent74 Our Cities ourselves; The Future of Transportation in Urban Life. ITDP-Gehl Architects; 28. June 2010.

327

Zur Evolution der Städte

wickeln, wird schwer genug sein, weil man sich von der Illusion ewiger Verfügbarkeit einer infiniten Menge an Techniksklaven lösen wird, die uns glauben machten, aus dem Nichts Energie und Ressourcen zu schaffen. Nur ein Teil der trotzdem auf uns zukommenden Probleme konnte dargestellt werden, um die Entwicklung der Städte und Siedlungen wieder auf einen nachhaltigen Weg in die Zukunft zu führen. Er wird auch so steinig genug werden, um uns aus der tiefen Grube der Bequemlichkeit, in die große Teile der Menschheit – geführt von Blinden – gefallen sind, herauszuführen.

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HERMANN KNOFLACHER

VERKEHRSPLANUNG GRUNDLAGEN DER VERKEHRS- UND SIEDLUNGSPLANUNG, BAND 1

Beherrschen Menschen als Benutzer, Planer und Entscheidungsträger das Auto oder beherrscht das Auto Benutzer, Planer und Entscheidungsträger? Kann der Einzelne dem Diktat technischer Verkehrssysteme entkommen? Warum haben die Verkehrsplaner die Menschen aus dem öffentlichen Raum vertrieben? Warum wird der öffentliche Verkehr immer schwerer finanzierbar? Warum schlittern immer mehr Gemeinden und Städte in die Finanzkrise, obwohl sie so gute und schnelle Verkehrsverbindungen haben wie nie zuvor? Von der kleinsten Landgemeinde bis zur EU-Kommission steht man dem Phänomen Autoverkehr offensichtlich verständnis- und hilflos gegenüber. Das beweisen Maßnahmen, die sich nur mit den Symptomen, nicht aber mit den Ursachen beschäftigen. Falsche Annahmen und unzulässige Extrapolation individueller Erfahrungen in einer Welt außerhalb menschlicher evolutionärer Erfahrung bilden die Grundlagen herkömmlicher Verkehrszünfte. Das vorliegende Buch zeigt nicht nur die fundamentalen Denkfehler herkömmlichen Verkehrswesens auf, sondern bietet auch Möglichkeiten an, die aus dieser Falle hinausführen. Die Lösungen liegen oft näher als man denkt. 2007. 383 S. 204 GRAF. UND TAB. BR. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-205-77626-0

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HERMANN KNOFLACHER

STEHZEUGE DER STAU IST KEIN VERKEHRSPROBLEM MIT ZAHLREICHEN ILLUSTRATIONEN DES AUTORS 2., UNVERÄNDERTE AUFLAGE

Das Auto ist eigentlich kein Fahr-, sondern eine Stehzeug. Entweder steht es auf einem Parkplatz oder im Stau. Und der Stau ist wiederum eine Folge der falschen Parkraumorganisation. Man spricht von Freiheit durch das Auto und übersieht dabei, dass man bereits in die »Autofalle« getappt ist. Solange das Auto nicht zumindest genauso weit weg von allen Aktivitäten des Menschen ist wie die Haltestelle eines attraktiven, regelmäßig verkehrenden öffentlichen Verkehrsmittels, gibt es aus dieser Falle kein Entkommen. Nur durch eine andere Struktur, in der die Siedlungen nicht von Autos besetzt und kontrolliert werden, sondern erst wenn wieder Menschen das technische Verkehrssystem beherrschen, kann die Voraussetzung für die menschliche Weiterentwicklung geschaffen werden. 2009. 205 S. 109 ZEICHNUNGEN DES AUTORS. GB. MIT SU. 135 X 215 MM. ISBN 978-3-205-78398-5

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