Die Sachen der Aufklärung: Beiträge zur DGEJ-Jahrestagung 2010 in Halle a. d. Saale. 9783787322442, 9783787322435

Die Sache der Aufklärung meinen wir zu kennen – die Aufklärer forderten Gedankenfreiheit, Selbstbestimmung, eine Lebensf

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Die Sachen der Aufklärung: Beiträge zur DGEJ-Jahrestagung 2010 in Halle a. d. Saale.
 9783787322442, 9783787322435

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F. BER NDT / D. FU LDA (HG.) Die Sachen der Aufklärung

ST UDIEN ZUM ACHTZEHNTEN JA HR HU NDERT Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts Band 34

FELIX MEINER VERL AG · HAMBURG

FR AU K E BER NDT / DA NIEL FU LDA (HG.)

Die Sachen der Aufklärung Beiträge zur DGEJ-Jahrestagung 2010 in Halle a. d. Saale

FELIX MEINER VERL AG · HAMBURG

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Landesforschungsschwerpunkts »Aufklärung – Religion – Wissen« in Halle und der Vereinigung der Freunde der Universität Tübingen (Universitätsbund e.V.)

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-7873-2243-5 ISBN E-Book: 978-3-7873-2244-2

© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2012. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Film, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: xPrint, Pribram. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSINorm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de

INHALT

Frauke Berndt & Daniel Fulda Praxis und Programm – Die doppelte Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII

t e i l i: pro s pe k t e Bertram Schefold Bedürfnisse und Gebrauchswerte in der deutschen Aufklärung: Zum wechselnden Status der Waren bei Kameralisten, ökonomischen Klassikern und frühen Angehörigen der historischen Schule . . . . . . . . . . . . . .

3

Peter Schnyder Aufklärung als Glückssache? Zu einer Wissensgeschichte des Hasardspiels im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36

Hartmut Böhme Die imaginierte und pluralisierte Antike der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . .

51

t e i l i i: a s pe k t e 1. sektion: redesachen – gegenstände der rhetorik Carsten Zelle Redesachen – Gegenstände der Rhetorik: Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

Anna Echterhölter Die Dinge im Vordergrund. Strategien der Sachlichkeit in akademischen Totenreden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

Dietmar Till Kommunikation der Aufklärung. Über Popularphilosophie und Rhetorik . . .

97

Davide Giuriato Deutlichkeit im 18. Jahrhundert. Ein systematischer Aufriss (nach Klopstock)

112

VI

Inhalt

Florian Schneider Verziert – überspannt. Zur Sache der Poesie in Lessings Fabel Der Besitzer des Bogens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

121

Carolin Blumenberg Das Auge des Anatomen. Zur Figur des Beispiels bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . 129 Wolfram Malte Fues Das wilde Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Lily Tonger-Erk Exempla. Zur Figur der Rednerin in der Frühaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . .

147

2. sektion: streitsachen – akteure, medien, öffentlichkeiten Marian Füssel Streitsachen – Akteure, Medien, Öffentlichkeiten: Einleitung . . . . . . . . . . . . .

157

Wiebke Hemmerling Totschlag mit der Feder? Zur Kontroverse um das anonyme Rezensionswesen in der deutschen Frühaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Carmen Götz Der Streit um den »Kryptojesuitismus« als Vehikel der Verständigung über den öffentlichen Umgang mit Texten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Bernward Schmidt Streitsache zwischen Konfessionalismus und Aufklärung. Papsttum und päpstliches Zeremoniell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Heiko Pollmeier »Pour le bien de l’humanité«? Ein Streit für die ganze Gesellschaft: Die französische Debatte über die Blatterninokulation (1754–1774) . . . . . . . . 185 Caspar Hirschi Men of science versus Macaronies. Die Polemik gegen die Amateur Gentlemen der Royal Society im späten 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Annette Meyer Die Sache der Allgemeinverständlichkeit. Vom Desiderat zum Makel der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

Inhalt

VII

3. sektion: sinnliches erfassen der sachen – ästhetik als neue wissenschaft Ulrike Zeuch Sinnliches Erfassen der Sachen – Ästhetik als neue Wissenschaft: Einleitung

219

Lothar van Laak Schönheit und Bedeutung bei Johann Christian Günther und Barthold Heinrich Brockes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Barbara Th ums »Kann die Phantasie etwas geben, was sie nie empfangen hat?« Geister sehen und Geister beschwören als ›Sache‹ von Aufklärern und anderen Liebhabern des Sinnlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Christian Metz Gemalt, gefoltert und gelacht. Zum Phänomen des Kitzels in der Ästhetik der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 Uwe C. Steiner Die Sachen als Streitsache der Idylle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

4. sektion: materialität der kommunikation – medialität der dinge Stephan Kammer Materialität der Kommunikation – Medialität der Dinge: Einleitung . . . . . . . 265 Endre Hárs Adrasteas Sammelwut. Herders Spätwerk zwischen Lesen und Auflesen . . . . . 273 Karsten Mackensen Musik zwischen Wahrheit und Wissenschaft. Zu einer Epistemologie des Existentiellen als Vorstufe zu einer Ästhetik der Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . .

281

Kerrin Klinger »… unter dem Namen Schulbücher aber blos diejenigen, welche in dem hiesigen Gymnasio, auch andern Stadt- und Landschulen beim dociren und informiren gebraucht zu werden pflegen, zu verstehen sind.« Schulbücher der Mathematik in Weimar um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 Martin Mulsow Der Silen von Helmstedt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300

VIII

Inhalt

5. sektion: schöne sachen – deutung und bedeutung der künste und ihrer geschichte Joachim Jacob Schöne Sachen – Deutung und Bedeutung der Künste und ihrer Geschichte: Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

317

Gabriella Catalano Vor Augen führen. Text-Bild-Konstellation in Winckelmanns Monumenti antichi inediti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 Martin Kirves Der Künstler als zentrale Randfigur. Benjamin Wests The Family of the Artist und Daniel Nikolaus Chodowieckis Cabinet d’un peintre: zwei programmatische ›Familienstücke‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Jürgen Brokoff »Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen.« Materialität und Sinnlichkeit deutscher Verssprache in der Epoche der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Kathrin Holzapfel Die Baukunst als ›schöne Sache‹ der Aufklärung? Ein Blick auf Georg Forsters Architekturbeschreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350

6. sektion: gedächtnis der dinge – materialität von erinnerungsobjekten und gedächtnismodellen Christiane Holm Gedächtnis der Dinge – Materialität von Erinnerungsobjekten und Gedächtnismodellen: Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Anett Lütteken Gelehrte Köpfe. Porträtprogramme europäischer Porzellanmanufakturen im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 Claudia Bamberg Ambivalente Erinnerung. Anmerkungen zum Verhältnis von Ding, Text und Gedächtnis in Sophie von La Roches später Erzählung Geschichte von Miß Lony . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 Anna Ananieva Getrocknete Blumen. Literarische Figurationen sentimentaler Erinnerungspraktiken zwischen modischer Chiff re und intimem Souvenir in Révéroni Saint-Cyrs Sabina d’Herfeld . . . . . . . . . . . . . . . 389

Inhalt

IX

Johannes Grave Erstarrung im Bild oder verlebendigende »Erinnerungs-Erbauung«? Goethe und das Bild im Interieur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 Marie Wokalek Objekte der Erinnerung, Unterhaltung und Bildung. Goethe zu Hemsterhuis’ Gemmensammlung in Campagne in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Sabine Schneider Opake Reste, Zeitfluchten, Raumzeiten. Dynamisierte Erinnerungstechniken in Spätaufklärung und Klassizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421

7. sektion: empirie der tatsachen – sachverstand in beobachtung und versuchsanordnung Olaf Breidbach Empirie der Tatsachen – Sachverstand in Beobachtung und Versuchsanordnung: Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

431

Benjamin Specht Die Elektrisierung der Aufklärung. Kontexte, Metaphorisierungen und Funktionen der Elektrizität im Wissenssystem des späten 18. Jahrhunderts . . . 437 Nikola Roßbach »die selbst-eigene Erfahrung zuhülffe nehmen.« Der Maschinenbauer Jacob Leupold und die epistemische Zäsur um 1700 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 Frank Jung Experiment und Reform. Naturwissenschaftliche Praxis und politisches Handeln im Großherzogtum Toskana . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

457

8. sektion: schaustücke und lehrmodelle – dingbasierte bildungskonzepte in realienunterricht, museen und wissenstransfer Holger Zaunstöck Schaustücke und Lehrmodelle – Dingbasierte Bildungskonzepte in Realienunterricht, Museen und Wissenstransfer: Einleitung . . . . . . . . . . . . 467 Dominik Collet Das Academische Museum der Universität Göttingen (1773–1840). Inszenierung, Naturalisierung und ›Disziplinierung‹ aufgeklärten Wissens . . . 470

X

Inhalt

Andrea Linnebach Das Museum der Aufklärung und sein Publikum – »Raritätenkram für jeden Narren«? Zum Besucherbuch von Kunsthaus und Museum Fridericianum in Kassel 1769–1796 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 Sebastian Schmideler »Hier sind Abbildungen und Modelle von allem, was dazugehört.« Schaustücke zum Mittelalter in der Kinder- und Jugendliteratur des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490 Dragana Grbić A Comet and the Balloon. The Matter of Enlightenment Matters . . . . . . . . . . 498 Erdmut Jost Wie die Aufklärung Übersicht gewann. Basrelief und Vue d’oiseau . . . . . . . . . 505

9. sektion: fall und fallgeschichte – der mensch als sache anthropologischer diskurse Yvonne Wübben Fall und Fallgeschichte – Der Mensch als Sache anthropologischer Diskurse: Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

521

Fabian Krämer Faktoid und Fallgeschichte. Medizinische Fallgeschichten im Lichte frühneuzeitlicher Lese- und Aufzeichnungstechniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 Yvonne Wübben Observatio, Kasus und Essai. Der Mensch als Sache epistemischer Gattungen

537

Nicolas Pethes Der Mensch als epistemisches Ding? Forschungsprogramm und Forschungspraxis im Fallgeschichten-Anhang zu Johann Gottlob Krügers Versuch einer Experimental-Seelenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544 Stefan Borchers Totus homo oder ganzer Mensch? Zum Auftakt der Anthropologie an der Universität Halle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 552 Christiane Frey Von Menschen, Fällen und Paratexten. Friedrich Hoff mann bis Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 560

Inhalt

XI

10. sektion: wertsachen, luxusgüter, spielsachen (konsum und der nutzen der unnützen sachen) Dominik Schrage Wertsachen, Luxusgüter, Spielsachen (Konsum und der Nutzen der unnützen Sachen): Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 Julia A. Schmidt-Funke Vom »Alamode-Teufel« zur »Modesucht«. Wertungen des Konsums im langen 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584 Konstanze Baron Der Morgenrock des Philosophen, oder: Was die Dinge mit dem Denken zu tun haben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592 Dorit Kluge Kunst als den Menschen verderbendes Luxusgut oder nutzbringendes Wirtschaftsgut? Französische und deutsche Sichtweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . 606 Torsten Sander Sein Glück aufs Spiel setzen? Pragmatik und Performanz sächsischer Lotteriedevisen des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

614

Jasmin Schäfer Das Spiel als Medium der Verhaltenskodierung in der Edukationsgrafi k Daniel Nikolaus Chodowieckis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627

Frauke Berndt & Daniel Fulda Praxis und Programm – Die doppelte Aufklärung Laß uns zur Sache kommen! (Lessing, Nathan der Weise, V. 1820)

I. Sachen und Sache der Aufklärung Wo von der ›Sache der Aufklärung‹ die Rede ist, sind üblicherweise ihr vernünftig begründetes Anliegen, ihr Programm, ihre Ziele, ihre Werte und Normen gemeint. In wissenschaftlichen Aufsätzen kann in diesem Sinne ebenso auf die »Sache der Aufklärung« verwiesen werden wie in öffentlichen Ansprachen – dann geht es z. B. um die Reklamation »universell gültige[r] Menschenrechte«.1 Ähnlich der Sprachgebrauch schon im 18. Jahrhundert: Der »freye[ ] Gebrauch[ ] des Menschenverstandes zum vernünftigen Leben, nach eines jedweden gemeinen und besondern Verhältnissen«, wird in der Philosophischen Bibliothek von 1791 als die »gute Sache der Aufklärung« zusammengefasst.2 Weniger geläufig sind die ›Sachen der Aufklärung‹. Der Plural lenkt den Blick auf das vielfältige Konkrete, für das sich das 18. Jahrhundert interessierte: auf die Dinge des Alltags und der Warenwelt, auf die Objekte vernünftiger oder sinnlicher Erkenntnis, auf die causae, welche die Aufklärung vor ihren Gerichtshof bringt, und die dabei auftretenden Streitformen, auf die res, die das rhetorische System als Gegenstand der Rede und der Künste definiert, sowie auf die Medien jeglicher Kommunikation. Mit den ›Sachen der Aufklärung‹ ist die Praxisdimension der Aufklärung angesprochen, die mit deren Programmen eng verbunden, aber nicht identisch ist. Es geht um das jeweils Verhandelte bzw. Umstrittene sowie um die materiale Dimension der Kommunikations-, Wissenschafts-, Konsum-, Kunst- und Kulturformen der Epoche – von der dinglichen Überlieferung und den Gedächtnisobjekten, aus der sich historische Erkenntnis und kulturelles Kontinuitätsbewusstsein gewinnen lassen, über die Laboreinrichtungen, die wissenschaftlichen Fortschritt ermöglichen, bis zu den Kunst- oder Kultobjekten, die der ästhetischen Bildung, moralischen Belehrung oder religiösen Erhebung dienen. Oder noch einmal mit der Philosophischen Bibliothek von

1

So Jutta Limbach bei der Verleihung des Deutschen Menschenrechtsfilmpreises 2006, zit. nach http://spenglerfilm.de/page6/page13/page49/page54/page54.html (zuletzt besucht am 11.04. 2012). 2 Philosophische Bibliothek 4 (1791), S. 231. Rezensiert wird hier J[ohann] L[udwig] Ewald: Über Volksaufklärung; ihre Gränzen und Vortheile. Berlin 1790.

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Frauke Berndt · Daniel Fulda

1791 gesagt: Es geht um die »Waffen einer gründlichen Philosophie, der Geschichte und der Beredsamkeit«, mit denen die Aufklärung ihre Sache »vertheidigt«.3 Freilich kann die Unterscheidung von Sache und Sachen, von Programmatik und Pragmatik der Aufklärung lediglich eine analytische sein, denn im historischen Prozess treten beide in wechselseitiger Bedingtheit auf. Zum einen werden die Sachen stets im Licht der von der Aufklärung verfochtenen Sache wahrgenommen: Die Sachen erhalten ihre Bedeutung wesentlich davon, welcher Sache sie dienen (oder widerstehen). Zum anderen geht die Selbstverständigung der Aufklärung weit häufiger, als Zerrbilder eines einseitigen Rationalismus unterstellen, vom Konkreten aus. Wie weitreichend ihre Ziele auch sein mögen – die Durchsetzung aufklärerischer Anliegen bezieht sich notwendig auf konkrete Objekte und Sachverhalte und muss sich in jeweils aktuellen Praktiken realisieren. Eine typisch aufklärerische Ausprägung dieser Immersion ins Konkrete stellt die Anklage von intellektuellen, religiösen, politischen, sozialen oder ästhetischen Missständen vor dem Gerichtshof der Vernunft dar. Indem die Aufklärung ihre Sache als Streitsache verhandelt, wird aber auch sie zum Verhandlungsgegenstand. Darin liegen eine Schwächung – der Eintritt ins je Bedingte – und zugleich eine Stärkung: die Nötigung zu dauernder Selbstreflexion, d. h. immer wieder neuer Prüfung, worin die Sache der Aufklärung besteht. Das Ziel dieses Ansatzes bei der Sache und den Sachen der Aufklärung ist es, die Komplexität der Epoche einzuholen. Durch bloße Addition von Forschungsergebnissen lässt sich dies nicht erreichen, weil jede Ausweitung des Forschungsfeldes wieder das Problem erzeugt, wie sich die Untersuchungsergebnisse integrieren lassen. Die Frage nach dem Verhältnis von Sache und Sachen ermöglicht es dagegen, an jedem einzelnen Ansatzpunkt die Spannweite zwischen den Anliegen der Aufklärung und ihren Praktiken, Hilfsmitteln, Effekten usw. auszumessen. Erneut verkürzend wäre es, die Aufklärung bloß vom ›vernünftigen Kopf‹ auf die ›sinnlichen Füße‹ zu stellen. Beabsichtigt ist nicht ein turn von der Sache zu den Sachen der Aufklärung, von den diskursiven zu den materialen Aspekten der Episteme, vom Rationalen zum Ästhetischen, von den Programmen zu den Praktiken usw. Vielmehr sollen sowohl die Sache als auch die Sachen der Aufklärung in den Blick genommen werden, mit besonderer Aufmerksamkeit für ihr Zusammenspiel, ihre Abhängigkeit voneinander und mögliche Spannungen zwischen ihnen. Die Aufgabe dieser Einleitung ist es, das Verhältnis von Sachen und Sache der Aufklärung zu beschreiben und ihren Abstand voneinander zu bestimmen (I.), unser Konzept von gegenwärtigen Forschungsproblemen her zu begründen, die wir als zentral ansehen (II.),4 sowie die Spannung zwischen Programm und Praxis als spezifisch 3

Ebenda. Ergänzend vgl. auch Daniel Fulda: Sache und Sachen der Aufklärung. Versuch einer Antwort auf die Frage, wie sich Programm und Praxis der Aufklärung erforschen lassen. In: Stefanie Stockhorst (Hrsg.): Perspektiven der Aufklärungsforschung. Göttingen [voraussichtl. 2013]. 4

Einleitung · Praxis und Programm – Die doppelte Aufklärung

XV

aufklärerisch auszuweisen, um dem Forschungsgegenstand eine Systematik zu unterlegen (III.). Abschließend werden die Eckpfeiler der Forschungsfelder abgesteckt (IV.), die in diesem Band vermessen werden; am Anfang jeder Sektion wird darüber hinaus noch einmal gesondert in jedes Forschungsfeld eingeführt. Hervorgegangen ist der Band aus der Jahrestagung 2010 der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts. Die Tagung fand vom 30. September bis 3. Oktober 2010 am Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der europäischen Aufklärung (IZEA) der Universität Halle-Wittenberg statt; Kooperationspartner des IZEA waren der Hallesche Landesforschungsschwerpunkt ›Aufklärung – Religion – Wissen‹, die Franckeschen Stiftungen zu Halle sowie der Lehrstuhl für Deutsche Philologie/Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts der Eberhard-KarlsUniversität Tübingen. Die Redaktion des Bandes oblag Dr. Axel Rüdiger, dem wir zudem für substantielle Unterstützung bei der Tagungsorganisation danken möchten, ebenso wie Dr. Shirley Brückner. Dr. Christiane Holm hat im Vorfeld maßgeblich am Konzept mitgearbeitet. Bianca Pick, Claudia Brandt und Marcel Sitz haben geholfen, die Druckvorlage zu erstellen. Für namhafte finanzielle Unterstützung der Tagung danken wir der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dem Land SachsenAnhalt, der Universität Halle-Wittenberg sowie dem Universitätsbund Tübingen. Die Franckeschen Stiftungen stellten dankenswerterweise die für sieben Parallelsektionen nötigen Räumlichkeiten zur Verfügung und öffneten den Tagungsteilnehmern ihre ›Wunderkammer’, in der sich das breite Bedeutungsspektrum der Sachen in der Aufklärung so konzentriert wie an wenigen anderen Orten darstellt.5 Dem Landesforschungsschwerpunkt »Aufklärung – Religion – Wissen« in Halle und der Vereinigung der Freunde der Universität Tübingen (Universitätsbund e.V.) danken wir für großzügige Förderung der Drucklegung.

II. Probleme der kulturwissenschaftlichen Forschung im Allgemeinen sowie der Aufklärungsforschung im Besonderen Das Konzept einer integrativen Untersuchung von Sache und Sachen der Aufklärung reagiert auf ein Grundproblem der Kulturwissenschaften, nämlich auf die vieldiskutierte Frage, »ob Kultur in erster Linie auf der Ebene von Diskursen (oder Texten oder Symbolsequenzen) oder auf der Ebene (körperlich verankerter) routinisierter sozialer Praktiken situiert werden soll«.6 Programmatik und Pragmatik der Aufklärung in 5

Vgl. Thomas Müller-Bahlke: Die Wunderkammer. Die Kunst- und Naturalienkammer der Franckeschen Stiftungen zu Halle (Saale). Halle 1998; Eva Dolezel: Inszenierte Objekte. Der Indienschrank in der Kunst- und Naturalienkammer der Franckeschen Stiftungen zu Halle. In: Michael C. Frank [u. a.] (Hrsg.): Fremde Dinge. Bielefeld 2007 = Zs. für Kulturwissenschaften 1, S. 29–39. 6 Andreas Reckwitz: Die Kontingenzperspektive der ›Kultur‹. Kulturbegriffe, Kulturtheorien

XVI

Frauke Berndt · Daniel Fulda

ihren Interferenzen zu untersuchen, bedeutet vor diesem Hintergrund, sich nicht für das eine oder das andere zu entscheiden, sondern gerade die Vermittlung zwischen beiden Seiten als Leistung von Kultur zu begreifen. Auf die Aufklärungsforschung zugeschnitten, greifen wir damit ein verbreitetes Bedürfnis in den Geistes- und Sozialwissenschaften auf. Von ganz unterschiedlicher Seite aus hat man in den letzten Jahren versucht, die traditionelle polarisierende Gegenüberstellung von Geistigem und Materialem, Theorie und Praxis, Kunst und Gesellschaft zu überwinden – sei es mit dem Aufweis, dass das Soziale immer auch symbolisch konstituiert ist, oder sei es, umgekehrt, mit der Einsicht, dass Texte und Ideen eine pragmatische Dimension haben. Das »Verknüpfungsproblem«, wie Jörg Schönert es genannt hat,7 scheint sich indes nicht leicht lösen zu lassen. Die Frage nach den Interferenzen von Sache und Sachen der Aufklärung ist ein Lösungsangebot. Nicht ohne Gefahr wäre eine Blickwendung allein zum Konkreten, das in unendlicher Vielfalt vorliegt. Gewiss ist unser Bild des 18. Jahrhunderts durch die vielfache Hinwendung der Forschung zum Materiellen, Sinnlichen und Besonderen bunter, differenzierter, überraschender geworden – und faszinierender: die »Magie der Dinge«, von der Aleida Assmann spricht,8 wirkt häufig trotz historischem Abstand. Die Vervielfältigung der Perspektiven macht es aber auch immer schwieriger, die Kontur der Aufklärung als Bewegung oder Epoche anzugeben. Das Problem ist zum einen ein quantitatives: Die Vielzahl der Akteure, Praktiken und Dinge, wie sie die Forschung – insbesondere unter dem Einfluss der Material Cultural Studies – in den vergangenen Jahren ausgegraben und in ihrer Bedeutung gewürdigt hat, lässt sich weniger denn je überblicken. »The Enlightenment has exploded […], it has been fragmented into a plethora of Enlightenments«, vermerkte Fania Oz-Salzberger bereits zur Jahrtausendwende.9 Man kann sich an diesem Punkt damit trösten, dass die Aufklärung für uns zwar »an Geschlossenheit verloren, dafür aber an Faszination und Lebendigkeit gewonnen hat«, wie Barbara Schmidt-Haberkamp treffend festgestellt hat.10 Wenn nur die ›Geschlossenheit‹ der Epoche verloren ist, so wäre das sogar nicht mehr als die Befreiung von etwas ohnehin Illusionärem. und das kulturwissenschaftliche Forschungsprogramm. In: Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 1: Themen und Tendenzen. Hrsg. v. Friedrich Jaeger u. Jörn Rüsen. Stuttgart, Weimar 2004, S. 1–20, hier S. 15. 7 Jörg Schönert: Perspektiven zur Sozialgeschichte der Literatur. Beiträge zu Theorie und Praxis. Tübingen 2007, S. 52. 8 Aleida Assmann: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung. München 2007, S. 154. 9 Fania Oz-Salzberger: New Approaches towards a History of the Enlightenment – Can Disparate Perspectives Make a General Picture? In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 29 (2000), S. 171–182, hier S. 171. 10 Barbara Schmidt-Haberkamp: Das Neue Achtzehnte Jahrhundert – ein Forschungsbericht. In: DAJ 22,2 (1998), S. 195–206, hier S. 206.

Einleitung · Praxis und Programm – Die doppelte Aufklärung

XVII

Aber worin besteht stattdessen jene Einheit in der Vielfalt, die uns erlaubt, von Aufklärung zu sprechen – und zwar in Abgrenzung von anderen Epochen? Zum anderen gibt es ein qualitatives Problem – das Problem der Dissonanz der Befunde: Können wir wirklich noch von einem ›Zeitalter der Vernunft‹ sprechen, wenn wir die Geselligkeit, die Literatur, die Kommunikationsideale spätestens im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts auf Gefühle als Konstituens des Menschen und zumal des Individuums ausgerichtet finden?11 Wie aussagekräftig ist es, von einem ›Zeitalter der Verschriftlichung‹ und damit der kommunikativen Distanznahme zu sprechen, wenn das Medium Schrift vorzüglich zur Suggestion von Distanzdurchbrechung, Zerfließen und Verschmelzen genutzt wurde?12 Können wir noch von einem Jahrhundert des aufsteigenden Bürgertums sprechen, wenn wir in den Fürsten und im Adel nicht nur den nach wie vor privilegierten Stand, sondern auch den wichtigsten Financier der Künste erkennen müssen, ja wenn bei Betrachtung des öffentlichen Kulturlebens (also nicht nur der poetischen und ästhetischen Programme) gar »kein […] abgegrenzter, emanzipatorischer bürgerlicher Geschmack« feststellbar ist?13 Und was bedeutet es für die Formierung der modernen Wissenschaften, wenn sich die Gelehrtenkultur auch im 18. Jahrhundert als Schauplatz von Selbstinszenierungen und Rangstreitigkeiten darstellt?14 Welche Irritation gerade die ganz konkreten ›Dinge‹ für ein geläufiges Aufklärungsbild bedeuten können, hat Hartmut Böhme in seinem vielbeachteten Fetischismus-Buch herausgestellt: Vom Verhältnis des Subjekts zu seiner materialen Umwelt her lasse sich Aufklärung schlicht als Anspruch definieren, »die mächtige Aufdringlichkeit der Dinge los[zuwerden]«.15 Doch habe auch der moderne Mensch seine Fetische, denen er rational nicht begründbare Bedeutungen und Kräfte zumisst. An solchen Dingen erweise sich das Souveränitätsprogramm des aufgeklärten Subjekts als Selbsttäuschung. Nicht nur mit Blick auf die Verlockungen von Konsum und Genuss erscheint die Macht der Vernunft höchst fragil. Generell ist zu fragen: Was wird aus der Vernunft, wenn sie ins empirische Feld geschickt wird? In den Studies on Voltaire sind Guillaume Pigeard de Gurbert und Kate E. Tunstall unlängst so weit gegangen, als einziges durchgängiges Prinzip der Aufklärung das Oszillieren zwischen Selbstwiderspruch und Selbstmisstrauen anzuerkennen: »Si l’on veut à 11

Vgl. in Kürze dazu Sonja Koroliov (Hrsg.): Emotion und Kognition. Berlin, Boston 2013. Vgl. Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 22003. 13 Michael North: Genuss und Glück des Lebens. Kulturkonsum im Zeitalter der Aufklärung. Köln, Weimar, Wien 2003, S. 218. 14 Vgl. Marian Füssel: Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit. Darmstadt 2006. 15 Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Reinbek bei Hamburg 2006, S. 15. 12

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tout prix réduire les Lumières à uni devise, celle-ci serait plutôt: osez penser contre vos propres lumières!«16 Man muss gewiss nicht diese Extremposition beziehen. Erst recht nicht überzeugend erscheint uns aber der gegenteilige Versuch, sich gegen die Forschungstendenz zur Pluralisierung von Aufklärung zu stemmen, indem man – wie Jonathan Israel in seiner großangelegten intellectual history der Aufklärung – eine bestimmte Variante von aufklärerischer Philosophie als die einzig wahre profiliert (d. h. bei Israel: die ›radikale Aufklärung‹ Spinozas und der ›Spinozisten‹).17 Falls aber nicht in einem einheitlichen Programm oder gar in einer Einheit von Programm und Praxis, worin besteht dann jene Einheit in der Vielfalt, die uns erlaubt, von der Aufklärung zu sprechen – und zwar in Abgrenzung von anderen epistemologischkulturellen Systemen?

III. Praxis und Programm Unter aufklärerischen Vorzeichen stellt(e) sich nicht allein das allgemeine TheoriePraxis-Problem.18 Im aktivistischen Programm der Aufklärer ist die Theorie vielmehr zugleich ein Teil der Praxis, denn die Theorie zielt hier letztlich immer auf die praktische Umgestaltung der Welt und dient als deren Instrument. Aufklärerische Theorie wird nicht um ihrer selbst willen betrieben, sondern als ein – dirigierender, reflektierender, kontrollierender – Teil der Praxis begriffen, so dass man von einem Re-Entry sprechen kann. Als Selbstbeschreiber haben die Aufklärer diesen Re-Entry selbst thematisiert und als Charakteristikum der Episteme ihrer Epoche erkannt. Davon zeugen neben den großen Traktaten und bekannten Preisschriften der Zeit vor allem die selbstgewählten Symbole der Epoche. Nur en passant möchten wir an das bekannte Freimaurersymbol des Auges (der Vernunft) über der Pyramide erinnern, das die amerikanische Eindollarnote ziert, um uns den Bildern zuzuwenden, die die Enzyklopädisten ihrem Projekt voranstellten. Neben dem Bild des arbor scientiae, den die Franzosen in frühneuzeitlicher Tradition auf dem Boden der Vernunft gepflanzt und dort gehegt und

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Guillaume Pigeard de Gurbert, Kate E. Tunstall: Préface: Retour sur la question kantienne: ›Qu’est-ce que les Lumières?‹. In: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 12 (2006), S. 23–29, hier S. 25. 17 Vgl. Jonathan Israel: Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity 1650–1750. Oxford 2001; ders.: Enlightenment Contested. Philosophy, Modernity, and the Emancipation of Man 1670–1752. Oxford 2006; ders.: Democratic Enlightenment. Philosophy, Revolution, and Human Rights 1750–1790. Oxford 2011. 18 Vgl. Valérie Kobi (Hrsg.): De la théorie à l’action. Les savoirs et leur mise en œuvre au siècle des Lumières. Actes du Colloque de Neuchâtel, 10–12 décembre 2009. Von der Theorie zur Praxis. Theorien und ihre Umsetzung im Zeitalter der Aufklärung. Genf 2011.

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gepflegt haben,19 findet sich in der Einleitung zum ersten Band der Encyclopédie von 1751 auch das luftige Bild, mit dem d’Alembert den Re-Entry in das System der Aufklärung verbildlicht: Auf hoher Warte, die ihm »eine[n] überlegenen Standpunkt garantiert«, platziert er einen Philosophen über einem »Labyrinth«.20 (Dessen textuelles Äquivalent ist im Übrigen der Re-Entry, den Diderot in seinem Artikel Encyclopédie in der Encyclopédie vornimmt.)21 Mit kühlem Kopf garantiert der Philosoph den Überblick über jene mannigfaltigen Sachen, an denen sich die Aufklärung als Sache immer wieder zu bewähren hat, indem sie sich den Sachen zuwendet – kein anderes Projekt des 18. Jahrhunderts spricht davon beredter als die 35 Bände der Encyclopédie. Eindringlich zeigt das Modell der hohen Warte, dass diese Sache nicht im luftleeren Raum formuliert werden kann. Der Philosoph richtet den Blick weder nach oben in transzendente Höhen, noch lässt er ihn unbestimmt in die Ferne schweifen, sondern er schaut auf das Labyrinth. Der vernünftigen Sache vergewissert er sich also im unmittelbaren Blickkontakt mit dem Konkreten,22 wie umgekehrt die schiere Menge an ›Einzeldingen‹ einer Versicherung darüber bedarf, was in der Vernunft Namen mit den Sachen anzufangen ist, ja warum überhaupt etwas mit ihnen geschehen soll. Zwar ist solche Überschau nicht zuletzt darauf angelegt, die »Spezialkarten« des Wissens zu einer universalen »Weltkarte« zu verbinden, wie d’Alembert in der entsprechenden Passage ausführt. Aber neben diesem epistemologischen »Vorteil« der Aufgabe23 hat der Philosoph noch »andere gute Gründe« für sein Projekt:24 Als Aufklärer arbeitet er an den »Fortschritte[n] der Vernunfteinwirkung im Laufe der Zeit«25 und trägt dadurch »[z]ur Befreiung des Menschengeschlechtes« bei, das zwar

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Vgl. Robert Darnton: The Business of Enlightenment. A Publishing History of the Encyclopédie, 1775–1800. Cambridge (Mass.), London 1979; ders.: Philosophers Trim the Tree of Knowledge. The Epistemological Strategy of the Encyclopédie. In: ders.: The Great Cat Massacre and other Episodes in French Cultural History. New York 1984, S. 185–207; Waltraud Wiethölter, Frauke Berndt, Stephan Kammer: Zum Doppelleben der Enzyklopädik – eine historisch-systematische Skizze. In: dies. (Hrsg.): Vom Weltbuch bis zum World Wide Web – Enzyklopädische Literaturen. Heidelberg 2005, S. 1–51. 20 Jean Le Rond d’Alembert: Einleitung zur Enzyklopädie. Durchges. und mit einer Einl. hrsg. von Günther Mensching. Hamburg 1997, S. 42. 21 Vgl. Art. encyclopédie. In: Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, mis en ordre et publié par Diderot, quant à la partie mathématique, par d’Alembert, nouvelle impr. en facs. de la 1. éd. de 1751–1780, Bd. 5, Paris 1755. Stuttgart-Bad Canstatt 1966, S. 635–649. 22 Vgl. Karel Kosík: Die Dialektik des Konkreten. Eine Studie zur Problematik des Menschen und der Welt. Übers. von Marianne Hoffmann. Frankfurt a. M. 1986. 23 d’Alembert: Einleitung zur Enzyklopädie, S. 42. 24 Ebenda, S. 43. 25 Ebenda, S. 45.

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bereits »aus der Barbarei« geführt worden sei,26 aber sein eigentliches Ziel noch nicht erreicht habe. Kurzum: d’Alemberts Philosoph ist seinem Wesen nach nicht nur Theoretiker, sondern vor allem auch Programmatiker. Sache und Sachen der Aufklärung sind dergestalt aufeinander bezogen, dass die Sachen stets im Licht der verfochtenen Sache wahrgenommen werden. Umgekehrt hängen die Selbstbeobachtung, Selbstverständigung und Selbstbeschreibung der Epoche vom Konkreten ab, weil sich die Durchsetzung aufklärerischer Anliegen notwendig auf konkrete Objekte und Sachverhalte bezieht und sich in jeweils aktuellen Praktiken realisieren muss: Keine Sache also ohne Sachen, keine Sachen ohne Sache. Eine Entscheidung, ob der Sache oder den Sachen in der Aufklärungsforschung der Vorrang zu geben sei, kann daher weder nötig noch hilfreich sein. Vielmehr ist zu fragen, welche Folgen ihre vielfältigen Beziehungen auf beiden Seiten haben. Was »tun« die »Dinge […] mit den Menschen«, fragt Böhme in diesem Sinne; welche »formative Kraft« geht von ihnen aus, und wie prägen sie Erwartungen, »Gebrauchs- und Handlungsformen«?27 Gleichzeitig lassen sich diese Fragen aber auch umdrehen: Welchen Einfluss hat der aufklärerische Anspruch souveräner menschlicher Weltgestaltung auf die Dinge und Sachverhalte? Werden sie nicht erst in dem Augenblick zu Sachen, in dem sie aus dem Blickwinkel einer Sache wahrgenommen bzw. ergriffen werden? Diese Fragen ermöglichen einen komplexeren Epochenbegriff und begründen ihn aus einer schon historisch mit der Aufklärung auftretenden Denkfigur. Dieser Epochenbegriff verbindet Programm und Praxis als Kehrseiten einer Medaille zur ›doppelten Aufklärung‹.

IV. Prospekte und Aspekte Den zehn Sektionen dieses Bandes stehen drei Prospekte voran. Der Eindruck, ein pluraler Epochenbegriff ließe sich in einem Prospekt darstellen, sollte auf diese Weise gar nicht erst aufkommen. Die drei heterogenen Prospekte repräsentieren jedoch zentrale Anliegen der Epoche: (1) die Begründung der Ökonomie als neues Fundament der Epoche, (2) die Revision der christlichen Ethik sowie (3) die nicht nur geographische Transzendierung der antiken Leitkultur: (1) Bertram Schefold beschäftigt sich mit Bedürfnissen und Gebrauchswerten in der deutschen Aufklärung, um das Verhältnis von Sachen und Sache auf eine ökonomische Grundlage zu stellen. (2) Peter Schnyder fragt provokant: Aufklärung als Glückssache? – und beschreibt das ursprünglich christlich geprägte Verhältnis von Providenz und Kontingenz im Horizont einer Wissensgeschichte des Hasardspiels im 18. Jahrhundert. (3) Hartmut 26 27

Ebenda, S. 46. Böhme: Fetischismus und Kultur, S. 18 f.

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Böhme schließlich richtet den Blick mit dem reisenden Aufklärer nach Amerika: Die imaginierte und pluralisierte Antike der Aufklärung und zeigt, dass die Epoche nicht nur ebenso offen auf die Zukunft wie auf die Vergangenheit ist, sondern dass sie in ihrem Universalitätsanspruch auch als geographisch offen gedacht werden muss. Aspekte des Verhältnisses von Sache und Sachen untersuchen die Beiträge dieses Bandes auf zehn unterschiedlichen, wenngleich vielfach interferierenden Feldern. Im interdisziplinären Dialog begegnen sich hier HistorikerInnen und WissenschaftshistorikerInnen, SoziologInnen, PhilosophInnen, TheologInnen, Literatur-, Kunst-, Kultur- und MusikwissenschaftlerInnen. Selbstverständlich ist damit nicht der Anspruch verbunden, dass alle relevanten Felder abgedeckt oder auch nur ausgewiesen wären. Die Ausformulierung der Sektionsprogramme erfolgte in Abstimmung mit den SektionsleiterInnen, die im vorliegenden Band zudem die Sektionseinleitungen verfasst haben. Gemeinsam haben wir sowohl die Tagung vorbereitet und geleitet als auch die zu publizierenden Beiträge ausgewählt (aus Umfangsgründen konnten leider nicht alle Vorträge in diesen Band aufgenommen werden).

1. Sektion: Redesachen – Gegenstände der Rhetorik Nichts wird in der Aufklärung zur Sache, davon geht Carsten Zelle aus, wenn es nicht zur Sprache gebracht wird. Wie die Sache als Rede zur Sprache gebracht und dargestellt werden kann, regelt das rhetorische System. Es sorgt dafür, dass Sachen gefunden (inventio), lokalisiert (dispositio) und formatiert (elocutio) werden können, und zwar unabhängig davon, ob es sich um programmatische Anliegen des Projekts Aufklärung, um einzelne Kampfideen, Probleme und Anliegen oder einfach nur um Gerüchte, Klatsch und Tratsch handelt. Dabei nehmen nicht nur die Sachen selbst spezifische Gestalt an, sondern auch das rhetorische System als solches, denn es verliert im Prozess der Aufklärung alte Aufgaben und übernimmt neue. So stehen einerseits die Relationierung von res und verba in der Aufklärungsrhetorik, ihr Wandel im Blick auf die Betonung von Interesse, Perspektive und Standortgebundenheit (praktisch z. B. in der Disputierkunst; theoretisch z. B. in der Ästhetik oder Geschichtswissenschaft) zur Diskussion. Andererseits schließen diese Probleme zu einer spezifischen Rhetorik des Wissens mit ihren unterschiedlichen Verfahren der Darstellung, Bildgebung und Evidenzerzeugung auf. Mit den Gegenständen der Rhetorik geht es also auch um die Umstände, unter denen eine Sache zur wissenschaftlichen oder gar zum epistemischen Ding werden kann.

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2. Sektion: Streitsachen – Akteure, Medien, Öffentlichkeiten Die Sache der Aufklärung realisiert sich genuin als Streitsache, so versteht es Marian Füssel. Denn an den tradierten Ordnungen des Lebens, Wissens und Glaubens hat sie kein Genügen. Indem die Aufklärung das Gegebene nicht als selbstverständlich hinnimmt, sondern als begründungsbedürftig auffasst, wird auch ihre eigene Sache verhandelbar: Denn Prozesse führen nicht nur (intendierterweise) zu einem Urteil über die jeweilige Streitsache, sondern setzen (meist nicht-intendierterweise) ebenso die Regel der Diskussion aus. Von ihren Streitsachen her gesehen handelt es sich bei der Aufklärung um eine Sache, die sich nicht allein aufgrund von Prinzipien und Systementwürfen rekonstruieren lässt, sondern die immer über ihre kulturellen Konkretionen und Praktiken ausgehandelt wird. Doch nicht allein der Stil des Streitens fordert genaue Beachtung, sondern auch die Wirkmächtigkeit der Streitsache selbst. Welchen Unterschied macht die Gestalt der Streitsache für die Frage, mit wem, wie und mit welchen Mitteln gestritten wurde? Wo wird um die Sache der Aufklärung selbst gestritten und wo geraten altbekannte Streitsachen in den Sog einer aufgeklärten Streitkultur? Wo stellen die um- und bestrittenen Sachen nur ein Vehikel dar, um andere Probleme zu verhandeln, die schwerer zu thematisieren waren? Ein Blick auf die Streitsachen der Aufklärung eröffnet mithin neue Perspektiven auf Akteure, Praktiken und Situationen, mit und in denen Aufklärung stets aufs Neue verhandelt wird.

3. Sektion: Sinnliches Erfassen der Sachen – Ästhetik als neue Wissenschaft Als die ›Wissenschaft von allem, was sinnlich ist‹, wird die Ästhetik im 18. Jahrhundert zur Leitdisziplin – darauf baut Ulrike Zeuch auf. Die Aufwertung der unteren gegenüber den oberen Erkenntnisvermögen durch A. G. Baumgarten und G. F. Meier verleiht den Sachen in ihrer Materialität eine neue Dignität. Da die Ästhetik weit mehr als die so genannten Schönen Künste umfasst, wird sie zur Grundlage für sehr verschiedene Disziplinen: Psychologie, Semiotik, Rhetorik und Poetik, Metaphysik, Theologie und Ethik, aber auch Physik (Optik) und Medizin. In diesem Zug rückt die Sinnlichkeit neben der Vernunft zur zweiten zentralen Instanz bei der Suche nach gewisser Erkenntnis auf. Inwiefern nun erschließt die Ästhetik als Grundlage verschiedener Disziplinen neue Gegenstände bzw. Sachen? Entsteht ein anderer Typus von Wissenschaftler? Erfordert die Ästhetik eine grundlegend andere Methode zur Gewährleistung sicherer Erkenntnis? Oder ist die Ästhetik mit Blick auf die Wahrnehmungstheorien seit der Renaissance gar nicht so neu? Welche Rolle schließlich spielt die Ästhetik für die Abgrenzung des Idealismus von der Aufklärung? Diese Fragen an die Ästhetik der Aufklärung überprüfen den Status der Sinnlichkeit

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sowohl im interdisziplinären Zusammenhang als auch im Kontext seiner Verhandlung.

4. Sektion: Materialität der Kommunikation – Medialität der Dinge Die Sachen der Aufklärung sind kommunizierte Sachen – so sieht es Stephan Kammer – und ihre Kommunikation beschränkt sich nicht auf die Verständigung und Belehrung über Semantiken, sondern hat immer auch materiale und performative Facetten. Im Laufe des 18. Jahrhunderts entwickeln sich deshalb auf der einen Seite Modelle und Theorien, die auf die (Möglichkeits-)Bedingungen der elementaren Kommunikationsvehikel reflektieren: Schriftlichkeit (Hand- und Druckschrift), Mündlichkeit und Bildlichkeit. Parallel dazu explodieren auf der anderen Seite geradezu die Gebrauchsmodalitäten dieser Vehikel. Zwar mag eine späte Selbstbeschreibung der Epoche als ›tintenklecksendes Säkulum‹ sich ihrerseits schon polemischer Abgrenzung verdanken, in der Tat aber werden die Materialien der Kommunikation – beispielsweise in den umfänglichen Korrespondenzen sowie in der rasanten Entwicklung moderner Buch- und Medienkultur – unübersehbar. Trotzdem wird Medialität immer wieder verdrängt, so dass widersprüchliche Gemengesituationen zwischen intendierter Unmittelbarkeit des Denkens oder Wahrnehmens und manifester, ja reflektierter Medialität entstehen, wie Stephan Kammer mit Blick auf die Beiträge der vierten Sektion feststellt. Auf die Domäne der Schriftlichkeit bleiben diese Entwicklungen nicht beschränkt. Von den Bühnen des Theaters und der Musik über die Räumlichkeiten des Sammelns zwischen Wunderkammer und Antikensaal bis hin zur pädagogischen Praxis des Realien- und sogar Mathematikunterrichts: alles kann zum Medium der aufklärerischen Sache werden.

5. Sektion: Schöne Sachen – Deutung und Bedeutung der Künste und ihrer Geschichte Während die Kunst in den vorangegangenen Jahrhunderten um ihrer Bedeutung willen geachtet wurde, ist das 18. Jahrhundert vordringlich an ihrer Sinnlichkeit interessiert. Bedeutung und Material sind nun aufeinander verwiesen, wie Joachim Jacob betont. Winckelmann entdeckt die griechischen Plastiken in ihrer Dinglichkeit neu. Dabei bedient er sich zwar des traditionellen Begriffs der Allegorie, bereitet aber – von der Sache her – den Boden für jenen Paradigmenwechsel, der am Ende des 18. Jahrhunderts auf den Begriff des Symbols gebracht wird. Ob über den Leisten der Allegorie geschlagen oder an der Elle des Symbols gemessen, von nun an bestimmt die Sinnlichkeit das Leistungsprofil der Literatur wie der Bildenden Kunst, in die

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im späten 18. Jahrhundert auch die Architektur einbezogen wird. Bedeutung wird nicht mehr als etwas verstanden, das den Sachen von außen angetragen wird, indem man die entsprechenden Regeln beachtet, sondern als etwas, das von den Sachen selbst verkörpert wird. Dass dabei plötzlich auch künstliche (Monstren, Maschinen), eingebildete, geträumte oder unheimliche Sachen (Geister, Gespenster) eine Rolle spielen oder dass sich die Dinge im Auge – oder die Verse im Ohr – des Betrachters verselbständigen und beginnen, auf eigene Rechnung zu wirtschaften, wird nicht erst von der Aufklärungskritik entdeckt.

6. Sektion: Gedächtnis der Dinge – Materialität von Erinnerungsobjekten und Gedächtnismodellen Unter den Vorzeichen der Temporalisierung von Kommunikationsprozessen und mit einem gesteigerten Interesse für psychische Vorgänge arbeitet die Aufklärung am Umbau des rhetorisch gestützten, räumlichen Gedächtnismodells zur dynamisch konzipierten Erinnerung; daran knüpft Christiane Holm an. Dabei rücken gerade deren Eigendynamiken wie partielle Amnesien oder eingebildete Erinnerungen ins Zentrum sensualistischer oder seelenkundlicher Untersuchungen. Das bedeutet keinesfalls, dass räumlich-dingliche Zusammenhänge obsolet würden, vielmehr werden diese selbst mit einem Zeitindex versehen. Neue dingbasierte Memorialtechniken werden weniger in Theorien als in Kulturpraktiken erprobt und ausgehandelt, für deren Notation und Reflexion die Literatur eine zentrale Rolle übernimmt. In den Blick genommen werden sollen erstens die Transformationen und Inventionen von Erinnerungsmedien der Aufklärung, etwa die politischen Medaillen oder intimen Zimmerdenkmäler, sowie ihre Beziehung zu Referenzphänomenen wie Fetisch, Reliquie, Trophäe. Zweitens ist nach den Formen und Formationen der mit ihnen verbundenen Erinnerungspraktiken zu fragen, nach den Gründungsszenen des Andenkens, z. B. im anakreontischen Freundschaftskult, sowie dem Verwahren und Zeigen von Erinnerungsstücken, z. B. bei Autographensammlungen.

7. Sektion: Empirie der Tatsachen – Sachverstand in Beobachtung und Versuchsanordnung Die wissenschaftliche Frage nach der Natur der Sache wird im 18. Jahrhundert in neuer Weise am konkreten Objekt geklärt und diskutiert, hebt Olaf Breidbach hervor. Die Naturwissenschaften erklären die Forschung an den Sachen selbst zur conditio sine qua non. Damit gewinnen die Sammlungen neues Interesse; es werden die Möglichkeiten erörtert, mit und an ihnen zu experimentieren, sowie die dafür

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nötigen Apparaturen, Verfahren und Konstruktionen. Präzisere Mechaniken weiten den Bereich des Mess- und Beobachtbaren enorm aus. Mitunter präzisieren und vervielfältigen sich die Möglichkeiten der Gegenstandserfassung so sehr, dass ein und dieselbe Sache je nach Messverfahren irreduzibel anders erscheint. Über diese Empirisierung und das Streben nach Neuem hinaus bemüht man sich zudem um eine Öffentlichkeit für dieses Neue. Dadurch geraten die neu gefundenen Sachen auf die Bühne und werden in öffentlichen Demonstrationen für ein Laienpublikum nun ihrerseits für die Sache der Aufklärung instrumentalisiert. Es geht um nicht weniger als eine gesellschaftliche ›Elektrisierung‹ durch etwas, das bisher noch gar nicht bestimmt oder nur nach äußeren Kriterien geordnet wurde. Interessant werden freilich gerade die Ausnahmen, in denen sich die Empirie nicht den Theoremen fügen möchte.

8. Sektion: Schaustücke und Lehrmodelle – Dingbasierte Bildungskonzepte in Realienunterricht, Museen und Wissenstransfer Holger Zaunstöck regt zur Beschäftigung mit Formen des Wissenstransfers anhand von konkreten Objekten an, die in einem pädagogischen Jahrhundert eine wichtige Rolle spielen. Denn es geht um die Vermittlung des Wissens durch Dinge, und damit um neue Methoden des optischen, aber auch haptischen Be-Greifens, mit der auch die Selbstreflexion pädagogischer Verfahren einhergeht. Solche Objekte können singulär oder in einem Sammlungszusammenhang stehen. Dabei haben folgende Fragen eine Leitfunktion inne: Welche Bedeutung haben Sammlungsstücke und Lehrmodelle in pädagogischen Konzepten und im Schulunterricht? Wer sind die Adressaten der objektbezogenen Vermittlung und welche Methoden finden dabei Anwendung (Anschauen, Begreifen, Vorführen, Versuchen u. a.)? Welche Bedingungen konstituieren ein Objekt als Wissensträger? In welchen Zusammenhängen werden Objekte pädagogisch aufbereitet (Kunst- und Naturalienkammern, Gelehrtensammlungen, Bibliotheken, Gärten u. a.)? Wie vollzieht sich Wissenstransfer als Objekttransfer (Sozietäten, Missionen, Reisen, Korrespondenzen)? Die programmatische Popularisierung von Wissen in der Aufklärung macht sich also die Anschaulichkeit der Dinge, deren Evidenz zu nutze.

9. Sektion: Fall und Fallgeschichte – Der Mensch als Sache anthropologischer Diskurse In der anthropologischen Wende des 18. Jahrhunderts spielt die Sache des Menschen eine besondere Rolle, betont Yvonne Wübben: In Erfahrungsseelenkunde und Literatur (Briefroman, Drama, Autofiktion, Kurzprosatext) steht der Mensch als indivi-

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dueller Fall zur Diskussion, an dem sich zugleich eine Regel oder etwas Allgemeines zeigen soll. Dafür greift die Aufklärung auf juristische, populäre (moralische) oder medizinische Fall-Sammlungen der Frühen Neuzeit zurück (auf die narratio facti oder historia morbi), um sie den veränderten Bedürfnissen und neuen wissenschaftlichen, vor allem anthropologischen Erkenntnissen anzupassen. Zugleich bilden sich in der Literatur entsprechende neue Erzählweisen aus, die zwischen psychologischer Auktorialisierung und pathologischer Personalisierung alle Register ziehen. Bleiben indes die topischen Muster von frühneuzeitlichen Sammlungen und anthropologischen literarischen Fallgeschichten dieselben oder verändern sie sich? Neben Geschichte, Theorie und Epistemologie des Falls legt die Sektion deshalb den Schwerpunkt auf das Verhältnis von Narration, Medien und Episteme. Dabei sollen Aufzeichnungsformen, Schreibszenen, Kompilations- und Sammelpraktiken untersucht werden, die es erlauben, den Fall und die Fallgeschichte in der materialen bzw. literalen Kultur der Aufklärung zu situieren.

10. Sektion: Wertsachen, Luxusgüter, Spielsachen (Konsum und der Nutzen der unnützen Sachen) Bereits die frühe Aufklärung nimmt eine epochale Aufwertung der gehandelten Sache vor; diesen Gedanken verfolgt Dominik Schrage. Der Austausch von Waren verbinde und bereichere die Völker, genauer gesagt: die bürgerlichen Gesellschaften, die sich gerade durch die Regelung ihres Konsums vom Adel abzugrenzen versuchen. Positiv bzw. moralisch neutral kann nun sowohl der ökonomische als auch der symbolische Umgang mit materiellen Werten eingestuft werden, so dass die Produktionsweisen und Prozesse der Wirtschaft ebenso an Aufmerksamkeit gewinnen wie Interieur, Mode, Schmuck, Bücher, Kunst. Von weitreichender Bedeutung für die Entstehung einer Markt- und Konsumgesellschaft ist die semantische wie mentale Verschiebung, die das bisher sündhafte Streben nach dem Besitz der Dinge zum ›Interesse‹ adelt. Den unnützen Sachen gegenüber sehen sich viele Aufklärer in einem Zwiespalt: Während die zweckfreie Beschäftigung mit den Spielsachen auf der einen Seite einen Unwert bedeutet, weil die Gelegenheit zu einer Besserung der Moral, der Lebensverhältnisse oder der Gesellschaft versäumt wird, werden auf der anderen Seite traditionelle religiöse oder moralische Verurteilungen des Nutzlosen aufgehoben. Vielfach entdeckt die Aufklärung den Nutzen des (vermeintlich) Nutzlosen. Fragen lässt sich, welche Spielsachen und Luxusgüter den Aufklärern vor Augen stehen, wenn sie deren Beitrag zu ihrer Sache kalkulieren. Frauke Berndt & Daniel Fulda im Januar 2012

teil 1 Prospekte

Bertram Schefold (Frankfurt a. M.) Bedürfnisse und Gebrauchswerte in der deutschen Aufklärung: Zum wechselnden Status der Waren bei Kameralisten, ökonomischen Klassikern und frühen Angehörigen der historischen Schule 1. Eintritt in eine Debatte und vorläufige Positionsbestimmungen »Die Sachen der Aufklärung« – wie soll der Ökonom den Titel verstehen? Zwar gab die Aufklärung der ökonomischen Wissenschaft ihre moderne Form, aber was sollen »die Sachen«? Der Ökonom kennt Güter, die sich in materielle Waren und immaterielle Dienstleistungen einteilen lassen, er kennt gegebene Bedürfnisse, deren Befriedigung durch die Versorgung mit diesen Gütern Nutzen stiftet, und er geht von rational handelnden Menschen aus – ein Postulat, das sich mit der spielerischen dreisprachigen Formulierung des Themas nicht verträgt. Dann allerdings steigen ein halbes Menschenalter zurückliegende Erinnerungen an Diskussionen über den Marxschen Begriff des Warenfetischismus auf, an die Lektüre von Jean Baudrillard »Pour une critique de l’économie politique du signe.«1 Auch an Bourdieu2 wird man denken. Der Ökonom ahnt, dass er in die Soziologie und, auf dem Wege über eine Warenästhetik,3 zu noch entfernteren Nachbardisziplinen gelockt werden soll. Eine kompetente Vermittlung scheint nur möglich auf dem Weg über die Denkgeschichte und den Rückgriff auf Autoren, die zu den Vorvätern aller oder wenigstens der meisten hier angesprochenen Fächer gerechnet werden dürfen. So beginne ich mit einem Blick auf Baudrillard und ersten Verweisen auf die älteren Quellen, bevor ich mich einigen der Aufklärung zuzurechnenden Ökonomen und ihren Gegnern in Betrachtung des Tagungsgegenstandes widme. Baudrillard erklärt dem in der Aufklärung gewonnenen Standpunkt der Ökonomen den Krieg: »Une véritable théorie des objets et de la consommation se fondera non sur une théorie des besoins et de leur satisfaction, mais sur une théorie de la prestation sociale et de la signification.«4 Zur Rechtfertigung erfolgt eine Anleihe bei der Ethnologie; da weiß man, dass der Konsum mit dem gesellschaftlichen Prestige und den Vorrechten bei der Verteilung zusammenhängt, kulturell bedingt erscheint 1

Jean Baudrillard: Pour une critique de l’économie politique du signe. Paris 1972. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M. 1987. 3 Bertram Schefold: Gebrauchswert und Warenkunde. Reflexionen über Aristoteles, Savary und die Klassiker. In: Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst, hrsg. v. Heinz Drügh u. a. Berlin 2011. 4 Baudrillard: Pour une critique (wie Anm. 1), S. 8. 2

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Prospekte · Bertram Schefold

und, wie Baudrillard sich ausdrückt, als »Institution« angesehen werden muss. Malinowski5 unterscheidet bei den Trobriandern den symbolischen Tausch (Kula) vom Grundgütertausch (Gimvali). Zwar gibt es nur Überreste, keine fixierten Systeme des Gabentauschs in den modernen Gesellschaften, aber Veblen6 zeigte, wie ostentativer Konsum eine Hierarchie des Prestiges zum Ausdruck bringt und stabilisiert. Er stellt ihn dar anhand der Stellung der Frauen in der patriarchalischen Gesellschaft und ihrer Selbstdarstellung in der Muße, aber diese stößt auf den puritanischen Charakter der modernen Arbeitsethik. So bewegt sich der Konsument zwischen sich widersprechenden Ansprüchen, um sich seiner gesellschaftlichen Lage entsprechend auszustatten, meist im Bestreben, ein wenig besser zu erscheinen, als seine Lage es zulässt, aber möglichst ohne gefährliche Übertreibung, heute triumphierend, morgen in der Resignation. An vielen Beispielen lässt sich der Gegensatz zwischen dem kulturellen Status der Sache und ihrer praktischen Brauchbarkeit illustrieren. Statusgüter können insbesondere, wie Fred Hirsch7 seither gelehrt hat, Positionsgüter sein, die durch ihre Seltenheit, im Idealfall als einmalige Kunstwerke, eine besondere Distinktion und außergewöhnlichen Geschmack verraten. Aber unversehens wird der Konsument dann wieder zu natürlichen und einfachen Dingen zurückkehren. Selbstverständlich sind solche Interpretationen menschlichen Kulturhandelns keineswegs neu. Als Untugenden tauchen sie auf in antiken satirischen Romanen, also als Anwendungen antiker Moralphilosophie.8 Weshalb dann schien uns Baudrillard so neu und originell? Zwei Gründe deutete er selbst an. Er versprach, sein Verständnis der gesellschaftlichen Konsumfunktionen systematisch zu entwickeln, in ihrer historischen Wandelbarkeit. Dafür gibt es nun allerdings auch reiche historische Vorbilder (die er aber so wenig benannte wie die antiken): beispielsweise die Diskussionen über die Wechsel der Mode in der Epoche des Kameralismus, als etwa Hörnigk9 gegen Ende des 17. Jahrhunderts beinahe in einem Atemzug die raschen Wechsel der Moden am französischen Hof als Teufelszeug denunzierte und sie doch dem habsburgischen Hof zur Nachahmung empfahl, weil wechselnde Moden Nachfrage erzeugen; Moden schienen also Hörnigk dienlich zur Entwicklung eigener Manufakturen in den habsburgischen Erblanden, die er auf ökonomischem Weg zu einer Nation zusammenzuführen vorschlug, nachdem die politischen Umstände der Belagerung Wiens 1683 ihm klar gemacht hatten, dass angesichts der Unzuverlässigkeit 5 Bronislaw Malinowski: Argonauts of the Western Pacific. An account of native enterprise and adventure in the archipelagoes of Melanesian New Guinea, London 1922. 6 Thorsten Veblen: The theory of the leisure class. Düsseldorf 2000 [1899]. 7 Fred Hirsch: Social limits to growth. Cambridge 1976. 8 Theophrastus: Characters etc. Hrsg. u. übers. v. Jeffrey Rusten u. a. Cambridge Mass. 1993 [1929], S. 48–166; Petronius: Souper bei Trimalchio. In: Petronius: Satyrica. München 1983, S. 48–166; Lukian: Der Tod des Peregrinus. Hrsg. u. übers. v. Peter Pilhofer u. a. Darmstadt 2005. 9 Philipp Wilhelm von Hörnigk: Oesterreich über alles, wann es nur will. Düsseldorf 1997 [1684].

Bedürfnisse und Gebrauchswerte in der deutschen Aufklärung

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Brandenburgs und anderer deutscher Fürstentümer aus dem Heiligen Römischen Reich keine Nation mehr zu machen war. Noch aus einem anderen Grund schien Baudrillard seine Analyse neuartig: Er sah das Konsumverhalten und seine Beeinflussung in einem politischen Kontext. Er betrieb also die Kritik der Medien und ihrer Einbindung in das kapitalistische System. Aber am ehesten neu ist diese Konsumtheorie als Ideologiekritik und Auseinandersetzung mit einer Theorie, die es in Altertum und Früher Neuzeit nicht gab, weil sie erst mit der ökonomischen Klassik in Verbindung mit der Aufklärung entstand: ich meine die aus dem Utilitarismus abgeleitete Konsumtheorie. Diese erscheint bei Baudrillard nicht als falsch, sondern als unvollständig. Zur Ergänzung handelt es sich im ersten Schritt darum, die ökonomische Tauschtheorie mit der Theorie des symbolischen Tausches zu verbinden. Dazu unterscheidet Baudrillard zwischen vier Logiken: Als funktional bezeichnet Baudrillard10 eine Logik der Gebrauchswerte, als ökonomisch die der Tauschwerte, er postuliert eine eigene Logik des symbolischen Tauschs und einen Wert des Zeichens (»valeur/ signe«). Die Systematik wirft verschiedene Fragen auf: zunächst nach der Verschränkung dieser Logiken. Welche Tauschwerte sind mit der Produktion und dem Konsum der Gebrauchswerte verträglich? – Das ist der Gegenstand der von Baudrillard nicht näher untersuchten klassischen Werttheorie, die ursprünglich von der Arbeitswertlehre ausging, deren Diskussion aber in die Nutzentheorie mündete, und ob in deren Rahmen noch von Gebrauchswerten im Sinn der Klassiker gesprochen werden kann, werden wir zu überlegen haben. Keine Theorien ähnlicher Stringenz existieren für den symbolischen Tausch. Baudrillard11 gelangt darin kaum über Analogien hinaus, indem er etwa postuliert, es verhielte sich der Zeichenwert zum symbolischen Tausch wie der ökonomische Tauschwert zum Gebrauchswert. Wie die Gebrauchswerte hergestellt werden, scheint Baudrillard nicht zu interessieren, obwohl die Unterscheidung von Tauschwert und Gebrauchswert bei Aristoteles zuerst im Zusammenhang mit der Frage der Herstellung aufgeworfen wurde, wie wir noch sehen werden. Baudrillard geht davon aus, dass Gebrauchswerte eines gegebenen Typus untereinander substituierbar sind wie standardisierte, industriell hergestellte Objekte. Und solche Objekte seien in ihrer symbolischen Funktion sogar durch beliebige andere Objekte ersetzbar. Die weiteren Überlegungen führen dann allerdings in die Nähe von Klassifikationen der symbolischen Funktion, wie wir sie bei dem Ethnologen Gregory12 später finden. Nach Gregory gehören die Gaben in den vormodernen Gesellschaften in der Regel bestimmten Klassen an, und es werden Gegengaben derselben Klasse erwartet, die sich in bestimmter Weise auf den Status der Tauschenden beziehen, während es gerade der Warentausch ist, bei dem beliebige Waren gegen beliebige 10 11 12

Baudrillard: Pour une critique, (wie Anm. 1), S. 64. Ebd., S. 149. Christopher Alan Gregory: Gifts and commodities. London, New York 1982.

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andere getauscht werden können, vorausgesetzt nur, dass die Tauschwertesummen übereinstimmen. Und so ist es abgeschwächt noch heute: Erhalte ich einen Stich von Piranesi geschenkt, werde ich die Gabe kaum mit einem Rasierapparat erwidern, sondern, wenn auch wirklich auf eine Gegengabe gleicher Würdigkeit Wert gelegt wird, mit einem Kunstwerk entsprechender Art, vielleicht aber auch mit einer persönlichen Leistung, während ein Stich Piranesis oder ein Rasierapparat jederzeit als Waren mit Geld gekauft werden können. Baudrillard13 lässt diese Logiken sich überschneiden, mokiert sich über die disziplinären Trennungen, mit denen man versucht hat, sie getrennt zu lassen; er hält aber auch seinen Spott bereit für die Versuche, die Veränderungen der Bedürfnisse und der Bedürfnisbefriedigungen historisch zu erklären. Wenn es heißt, die Bedürfnisse seien eine Funktion der Geschichte und der Kultur jeder Gesellschaft, antwortet Baudrillard: »C’est le comble de l’analyse libérale, elle ne saurait aller plus loin.«14 Denn die erklärenden Charakterisierungen widersprächen sich oft; derselbe Konsument erwirbt aus einem Bedürfnis nach Sicherheit heraus die eine Sache, aus Risikolust eine andere, er kleidet sich heute konform und morgen auffällig, um sich auszuzeichnen. Was bestimmt dann den Kauf? In dieser kritischen Hinterfragung auch einer um den symbolischen Tausch ergänzten und historisch kontextualisierten Nutzentheorie der Nachfrage besteht der zweite Schritt der »critique de l‘économie politique du signe«. Aber dass wir es mit komplexen Wirklichkeiten zu tun haben, zu deren Erklärung verschiedene Theorien, die nur je für sich, aber nicht alle zugleich widerspruchsfrei formuliert werden können, ist nichts besonderes. Nehmen wir als Beispiel solch einer Theorie die des Fetischcharakters der Ware, aus der wichtige Anregungen für eine moderne Warenästhetik hervorgegangen sind.15 Unterstellt sei, dass, wie bei Marx, die Waren sich zu ihren durch die Mengen der in ihnen steckenden verkörperten Arbeiten bestimmten Werte tauschen, der Wert also sich nach der verkörperten abstrakten Arbeit bemisst. Ein Kleid kann für einen Stuhl gegeben werden, weil sie beide gleich viel Arbeit enthalten. Die Problematik dieser Wertdefinition wollen wir hier nicht diskutieren, sondern nur das Augenmerk auf den »Fetischismus« lenken, der darin liegt, dass der Tauschwert des Stuhles durch ein Objekt von anderem Gebrauchswert, nämlich das Kleid, zum Ausdruck gebracht wird. Gibt es ein allgemeines Äquivalent, etwa die Ware Gold, das, ausgeprägt, zum Gelde wird, drückt sich der Wert des Stuhles in Goldmünzen aus, und hinter diesem »Geldfetisch« verschwindet der ur-

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Baudrillard: Pour une critique (wie Anm. 1), S. 73. Ebd., S. 74. 15 Das folgende Argument ist näher ausgeführt bei: Bertram Schefold: Die Bedeutung des Problems der Wertformenlehre und der Transformation von Werten in Preise für das ›Kapital‹. In: Marx-Engels-Jahrbuch 2007, Berlin 2008, S. 34–91. 14

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sprüngliche Produktionszusammenhang. Das Geld verblendet die Menschen, so dass sie das »gesellschaftliche Verhältnis«, in dem sie stehen, die arbeitsteilige Produktion, nicht mehr erkennen, sondern die Wertbeziehung – der Stuhl gilt eine Goldmünze oder eine Anzahl von Goldmünzen – wie eine Naturgegebenheit hinnehmen. Der Elefant ist groß, die Maus klein – das hat die Evolution ergeben. Dass wir für die Herstellung schneller Autos viel Beschäftigung schaffen, weil wir viel dafür zahlen, liegt an uns selbst. Man kann einwenden, dass die Arbeitswertlehre nur unter nicht realistischen Verhältnissen Geltung beanspruchen kann. Dazu gibt es eine große Literatur, doch ist der Einwand nicht entscheidend. Auch wenn die Tauschwerte auf anderen Festsetzungen beruhen, indem sie sich in der langen Frist allgemeiner auf die Produktionskosten zurückführen lassen,16 kann man sagen, dass sich die Austauschmöglichkeiten des Stuhles in den Gebrauchswerten anderer Waren ausdrückt, und so auch in einer Geldmenge. Die Bestimmtheit des Wertbegriffs und die spezifische Form der arbeitsteiligen Produktion, die hinter dem »Verblendungszusammenhang« verdeckt wird, gehen allerdings verloren. Wichtiger ist der einfachere Einwand, dass der vernünftige Mensch sich so leicht nicht blenden lässt, sondern im Grunde weiß, dass die Waren in mühseligen Arbeitsprozessen hervorgebracht und in risikoreichen Geschäften zum Verkauf gebracht werden, auch wenn die genauere Analyse von Produktion und Zirkulation der Waren spezialisierten Wirtschaftswissenschaftlern überlassen bleibt. So sind zum Verständnis des Verhältnisses der Menschen zu den Sachen denn auch andere Maßstäbe anzulegen. Einerseits, in ethischer Hinsicht, die Tugenden und Laster: Gier werden sichtbar oder Bescheidenheit, Geiz oder Großmut, Sparsamkeit und Verschwendung. Im Versuch, sich den Wertungen etwas zu entziehen, kann man auch von verschiedenen Formen der Selbstdarstellung sprechen und diese durch den gesellschaftlichen Status zu erklären versuchen, womit man freilich zum Ausdruck bringt, dass man die Menschen von ihrer Verantwortlichkeit teilweise entlasten möchte. Das scheint berechtigt vom Standpunkt der Ethnologie, wenn sie früher die materielle Kultur weitgehend isolierter Völker beschrieb oder heute die besonderen Expressionsformen der Jugendlichen darstellt, die ihren Willen, sich von gegebenen Lebensformen abzusetzen, durch eigene Lebensformen und dazu gehörige dingliche Ausdrucksmittel ausstellt.17 Von der Verpflichtung zur Reflexion auf das eigene Handeln wird man dadurch nicht entbunden. 16

Gedacht ist hier an die Theorie der normalen Preise, vgl. Bertram Schefold: Mr. Sraffa on Joint Production and other Essays. London 1989. 17 Hans Peter Hahn: Konsum, Materialität und Selbststilisierung als Bausteine jugendlicher Subkulturen. In: Inter-cool 3.0. Jugend Bild Medien. Ein Kompendium zur aktuellen Jugendkulturforschung, hrsg. v. Birgit Richard, Heinz-Hermann Krüger. Paderborn 2010; Hans Peter Hahn: Von der Ethnographie des Wohnzimmers – zur »Topographie des Zufalls«. In: Die Sprache der

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2. Erinnerung an Aristoteles Die ethische Orientierung der antiken Philosophie schloss empirische und erklärende Untersuchungen von durch Geschichte und Geographie unterschiedenen Gesellschaftsformen nicht aus; es genügt, an den Historiker Herodot mit seinen ethnographischen Überlegungen oder an Aristoteles’ vergleichende Studien unterschiedlicher Verfassungen und politischer Formen zu denken. Angesichts der Vielfalt der Völker und ihrer Sitten im mediterranen Raum mussten die Grundbegriffe so allgemein formuliert werden, dass sie zur Erklärung verschiedener Inhalte taugten. Wenn also Aristoteles vom guten Leben sprach, das bei natürlichem Erwerb durch einen gewissen materiellen Reichtum gestützt werden musste, konnte es verschieden orientiert sein – er meinte, es müsse sich jedenfalls auf die Erkenntnis richten; es werde getragen von einem mittleren Reichtum. Er dürfe kein Zuviel der Sachen geben, weil zu großer Reichtum vom guten Leben selbst ablenkt, noch ein Zuwenig, weil der Mangel die Entfaltung behindert. Das ist bekannt, und man weiß auch, dass Aristoteles zuerst Gebrauchs- und Tauschwert unterschied, wenn er auf den unnatürlichen Erwerb zu sprechen kam: Aus dem Tausch der Überschüsse der einzelnen, die Gebrauchswerte produzierenden Haushalte entsteht ein Markt. Der Tausch gemäß Tauschwerten wird erleichtert durch die Einführung des Geldes. Die Erfindung der Münze lag nur dreihundert Jahre zurück, so dass man sich erinnerte, was die Einführung des Geldes im Vergleich zu den Erinnerungen an das prämonetäre homerische Zeitalter bedeutete. Der unnatürliche ›chrematistische‹ Erwerb bestand nun in monetärer Akkumulation. Er war unnatürlich, weil es zu ihm kein Analogon in den ursprünglichen menschlichen und animalischen Verkehrsformen gab, er war aber auch unnatürlich, weil es für den sachlichen Reichtum des Einzelnen Sättigungsgrenzen gibt, nicht aber für den monetären Reichtum. Schon Sokrates riet seinen Schülern, der athenischen Jugend, sich von monetären Geschäften eher fern zu halten. Als besonders unwürdig galten Wucher und Kleinhandel, doch Zins- und Handelsverbote hatte Aristoteles im Gegensatz zu manchen frommen mittelalterlichen Nachfolgern nicht im Sinn; er verwies vielmehr die ungeachtet seiner Warnung an Geldgeschäften interessierten Schüler auf praktische Handbücher zu diesen Erwerbskünsten, die zum Bedauern des Wirtschaftshistorikers leider verloren sind. Nicht so bekannt ist aber, wo Aristoteles den Trennstrich zwischen natürlichem und künstlichem Erwerb zieht. Ein Schuster verfertigt einen Gebrauchswert, einen Schuh, und er verkauft diesen zu einem Preis, der den Tauschwert ausdrückt. Der Erwerb wird nach Aristoteles unnatürlich, wenn der Schuster in der Herstellung ans Verkaufen denkt, statt an den Gebrauch des Schuhs. Das Natürliche, Ursprüngliche Dinge – kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die materielle Kultur, hrsg.v. Elisabeth Tietmeyer u. a., Münster 2010.

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ist die Herstellung eines Schuhs, den man trägt. Das Künstliche, Abgeleitete ist die Herstellung eines Schuhs, der sich leicht verkaufen lässt. Ich erlebe immer wieder, dass modernes Denken sich gegen die aristotelische Auffassung sträubt. Ich habe jedoch an anderer Stelle gezeigt, dass die aristotelische Vorstellung von guter, kundenorientierter Arbeit in der sokratischen, ja in der griechischen Tradition überhaupt, tief angelegt ist, sich in Beschreibungen von Herstellungsprozessen (die Memorabilien des Xenophon), in der Philosophie (Platon), bei Homer spiegelt und sich uns in der außerordentlichen Qualität des griechischen Handwerks, das wir aus den archäologischen Funden kennen, greifbar darstellt. Ausführlich schildert Xenophon in den Memorabilien, wie Sokrates bei Handwerkern und Künstlern umhergeht und sich mit ihnen darüber unterhält, wie sie ihre Arbeit gut und richtig machen können. Einem Bildhauer empfiehlt er beispielsweise, auf den Betrachter einzuwirken, indem er die seelischen Regungen der handelnden Menschen darstellt (τὰ πάθη τῶν ποιούντων τὶ σωμάτων ἀπομιμεῖσθαι). Er spricht auch davon, τὰ τῆς ψυχῆς ἒργα τῷ εἶδει προσεικάζειν, die Regungen der Seele in den Blick zu bringen. Aristoteles sagt, der Arzt solle an den Kranken denken, nicht an sein Honorar, der Feldherr an den Sieg, nicht an seinen Ruhm. Der Wissenschaftler soll, so könnten wir heute hinzufügen, die Herausarbeitung einer Wahrheit und nicht seine Publikationsliste im Sinn haben.

3. Von Aristoteles zur modernen Warenkunde Der Weg vom aristotelischen Verständnis des Gebrauchswerts zu dem der klassischen Ökonomen der Aufklärungsperiode verläuft über mehrere Stufen. Wenn im Mittelalter das aristotelische ökonomische Denken von Thomas von Aquin aufgegriffen und zu einer der Grundlagen der Scholastik gemacht wurde, musste auch die aristotelische Frage nach der Gerechtigkeit im Tausch bei Gabe und Gegengabe und beim Warenverkauf behandelt werden. Diese komplexe, nicht leicht verständliche und leider wohl auch nicht vollständig überlieferte Theorie lässt Thomas überlegen, was das Prinzip des Tausches unter Christen sei, die sich als Freunde begegnen. Sie werden bei Gabe und Gegengabe nicht so sehr an ihren eigenen Nutzen beim Nehmen, sondern, wie Freunde, an den Nutzen des anderen, dem sie geben, denken. Handelt es sich jedoch um den Warentausch im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft, hat er gerecht zu sein. Was das gerechte Tauschverhältnis (den Tauschwert) bestimmt, bleibt einigermaßen dunkel, es hängt vom Markt ab, und es muss jedenfalls eine gerechte Entlohnung der Herstellung einschließen, was auf die Arbeitswertlehre vorausweist. Aber zu allererst muss der Gebrauchswert echt sein; wer handelt, darf nicht vorgeben, einen anderen Gebrauchswert zu verkaufen, als er anbietet. Die »aequalitas rei«, wie Thomas dies nennt, besteht also in sachlichen Eigenschaften, für die es Kon-

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ventionen gibt. So weit es um Arbeit auf Bestellung geht, wie so häufig in der ganzen Vormoderne, wird damit die Hinwendung des Produzenten zu den Bedürfnissen des kaufenden Konsumenten wie bei Aristoteles gemeint sein, sonst aber eine Produktion nach handwerklichen Mustern. Die »aequalitas rei« führt zu der nächsten Stufe, die von der frühen Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert reicht. Es entwickelt sich eine sogenannte Warenkunde, die von den Handwerks- und später auch Manufakturprodukten lehrt, welche Standards des spezifischen Berufs, modifiziert durch die handwerklichen Sitten jeder Stadt und jeder Zunft, einzuhalten sind. Die Handwerker lernen diese Warenkunde nur für die Waren, die sie selbst verwenden oder verkaufen; systematischer aber wird sie gelehrt von den Händlern, welche etwa die Seidenherstellung Bolognas von der von Lyon zu unterscheiden wissen müssen; sie haben die Gebrauchswerte (Standards) für alle Waren zu kennen, mit denen sie handeln. Diese Warenkunde wurde in Deutschland stellenweise bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts gelehrt, und in Italien gibt es sie heute noch unter dem Stichwort der »mercelogia«. Sie wurde mit der Industrialisierung zu einer Lehre von industriellen Fertigungsprozessen und ihren Produkten. Sie ist heute in Italien ein Fach, in dem es unter anderem um neue Echtheitsbegriffe geht: ob nämlich die Herstellung mit umweltfreundlichen Verfahren erfolgt oder nicht. Marx nennt die enzyklopädische Kenntnis der Warenkunde als eine gedankliche Voraussetzung der Orientierung des bürgerlichen Konsumenten im Raum der Waren. Der Käufer hat einen Katalog der Waren im Kopf und wählt nach seinem Bedarf. Die Gebrauchswerte sind nun fixiert. Der vermögende Konsument kann sich mit ihrer Hilfe ausstaffieren, aber eine Verbindung zwischen dem Produzenten und dem Konsumenten, bei der sich die Arbeit auf die Herstellung eines individuellen, dem Abnehmer passenden Gebrauchswert richtet, ist in der theoretischen Konstruktion nicht mehr vorgesehen, obwohl die Kleider durchaus noch beim Schneider bestellt und nicht von der Stange gekauft wurden. Daher spaltet sich nun die Konsumtheorie. Marx hat eigentlich keine, denn sein Thema ist die Akkumulation des Kapitals, also die Darstellung eines, aristotelisch gesprochen, vollständig verselbständigten chrematistischen Prozesses, der sich nicht auf die Bedürfnisbefriedigung richtet, sondern von der Jagd nach dem Mehrwert geprägt ist. Dass diese nur Erfolg hat, wenn der Kapitalist nicht am Markt vorbei produziert, sondern sich nach dem Konsumenten richtet, wird von Marx in seiner denunziatorischen Absicht beiseite gelassen. Immerhin gibt es bei ihm Elemente und Andeutungen eines von der kapitalistischen Produktionsweise geprägten gesellschaftlichen Konsumverhaltens. Ganz im Sinne der klassischen Tradition verzehren die Arbeitskräfte bzw. ihre Familien notwendige Güter, die ihrer Reproduktion dienen, während die Kapitalisten und Landbesitzer, am ehesten gesehen als stillose Parvenüs, Luxusgüter verprassen; der erwähnte Verblendungszusammenhang, der in der Fetischanalyse von Marx aufgedeckt wird, passt in diesen Zusammenhang.

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In gemäßigterer Form lässt sich diese Denkweise auch bei den klassischen Ökonomen nachweisen. Über das, was zur Verteidigung des bürgerlichen Konsums als kulturelle Leistung vorgebracht werden könnte, werden kaum Worte verloren; das Bürgertum erwirbt sich gesellschaftliche Verdienste durch Sparen und Investieren. Die schließlich vorherrschende Interpretation der Ökonomen besteht bekanntlich darin zu sagen, die Konsumenten kauften, was ihnen nützlich scheint, und sie seien durchaus im Stande, das ihnen Nützliche vom Unnützen zu unterscheiden. Das beginnt schon im Spätmittelalter bei scholastischen Autoren, setzt sich fort bei Italienern und Franzosen und wird dominant in Deutschland in der Reaktion auf die englische Klassik. Dem Konsumenten zuzutrauen, dass er das ihm Nützliche vom Unnützen unterscheiden kann, bedeutet, ihm zuzutrauen, dass er über einen Lebensplan verfügt und weiß, welche Güter, also welche materiellen Waren und welche immateriellen Dienstleistungen diesem dienen können, und dass er sich dabei nicht in Widersprüche verwickelt, indem er etwa die Bücher dem Fernsehen, das Fernsehen dem Wandern und dann doch das Wandern den Büchern vorzieht, sondern indem er – aber so formuliert man es erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts – im Stande ist, eine konsistente Präferenzordnung über die Güter für sich zu entwickeln. Es ist keine triviale Aufgabe, denn die Rollen, die wir in der Gesellschaft zu erfüllen haben, können uns zu widersprüchlichem Konsumverhalten verleiten oder sogar zwingen, und noch schwieriger, als für einen gegebenen Zeitpunkt konsistente Präferenzen zu formulieren, ist es, über die Zeit hinweg konsistent zu sein, also planvoll heute zu bestimmen, wie viel man morgen – im Alter – noch konsumieren will. Diese Theorie setzt einen mündigen, wie man es heute politisch ausdrückt, oder einen rationalen – wie v. a. Max Weber es soziologisch auszudrücken pflegte – Konsumenten voraus, dessen Wahlakte natürlich nicht von gesellschaftlichen Faktoren und Moden unbeeinflusst bleiben, der aber trotz Baudrillard doch selbständig und selbstbewusst genug ist, um Anderen gegenüber seine eigene Lebensführung zu verteidigen und das dazu nötige Sortiment von Sachen um sich zu versammeln.

4. John Locke: Von der Arbeit zum Besitz Heute sind nicht die Sachen überhaupt, sondern die »Sachen der Aufklärung« das mir gestellte Thema. Ich habe, um mich diesem zu nähern, zuerst versucht zu erklären, weshalb es zumindest in historischer Perspektive nicht genügt, wie Baudrillard nur von den gegebenen Sachen auszugehen, sondern dass wir uns der aristotelischen Grundlegung erinnern müssen: Die Sachen sind nicht schon da, sondern entstehen in historisch wechselndem Bezug zwischen Produzenten und Konsumenten. Bevor wir einige Autoren der Aufklärung besuchen, um uns gewissermaßen gesprächsweise zu erkundigen, wie sie dies sahen, ist auch noch, etwas kürzer, zu bedenken, dass

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Produktion und Konsum eine Regelung der Besitzverhältnisse voraussetzen – eine für die Aufklärung kritische Variable ihrer Erklärungsmodelle. Wer sich auch nur einen Augenblick den Lebensstil des 18. Jahrhunderts vergegenwärtigt, wird sich klar machen, welche Rolle der Besitz der Sachen in der Selbstdarstellung der Personen spielte, und die Ökonomen verfehlten nicht, dies zu beobachten. Adam Smith sagte beispielsweise schon in seinen frühen Vorlesungen, der schwere Diamantring, den einer am Finger trage, sei diesem nicht nützlich, nämlich nicht unmittelbar nützlich, da er ihn in keiner Weise verbrauchen kann, doch stifte er einen dauernden Nutzen, indem sein Anblick andere beeindrucke.18 Die Bedeutung demonstrativen Konsums wurde also niemals übersehen. Die Voraussetzung rationalen Konsumverhaltens entstand erst später. Der Analyse des Konsums musste eine Theorie der Produktion und Aneignung des Privatbesitzes in der bürgerlichen Gesellschaft vorausgehen, mit der anfänglichen Fragestellung nach Entstehung und Rechtfertigung des Besitzes an vorhandenen Gütern, vertieft durch die Regelungen der Besitzübertragung, insbesondere zwischen den Generationen, der Besitzergreifung im Kontakt mit anderen Gesellschaften und der Regelung bei der Schaffung neuen Besitzes. Diese nimmt, beispielsweise in der Finanzwelt, bis zum heutigen Tag ständig neue Formen an und wirft damit neue rechtliche Probleme auf. Da gibt es keine einfachen Lösungen. Weder mit der Macht des Stärkeren noch mit dem Gemeinbesitz aller Dinge, weder mit der uneingeschränkten Anerkennung bestehender Besitzrechte, religiös oder durch die Tradition begründet noch mit der Willkür beliebiger neuer positiver Setzung von Besitzrechten können wir uns abfinden. Wir bewegen uns in einem wertenden Diskurs, unsicher über seine Regeln, weil wir bei jeder Festlegung auch nur des Procederes den Verdacht hegen, jemand könne aus ihr besondere, noch nicht erkannte Vorteile ziehen. Wie lange sollen Patente gelten? Kurz, damit sich das Produkt rasch verbillige, oder lang, damit der Anreiz zur Erfindung möglichst groß sei? Wie kann die Veränderung von Bauzoneneinteilungen gerecht sein, die den Wert dieses Grundstücks verzehnfachen, den eines anderen aber fallen lassen? Und warum ist es den Banken eigentlich erlaubt, Kredit zu schöpfen, wodurch sie dem Einen eine Kaufkraft zuteilen, die dem Anderen fehlt? Und nicht nur auf der Mikroebene stellt sich das Problem. Wenn die Kreditschöpfung überschießt, was heute nicht ohne mindestens die Duldung der Zentralbanken möglich ist, entsteht eine Blase der Vermögenswerte, die schließlich platzt, und es machen sich Wenige mit großen Gewinnen davon, während die Mehrheit mit einem Rückgang des Sozialprodukts und Viele mit Arbeitslosigkeit zu kämpfen haben. Die Frage nach den Sachen der Aufklärung führt über das Dingliche weit hinaus zum Umgang mit den immateriellen Gütern, die erst durch Eigentums18

Bertram Schefold: Nachfrage und Zufuhr in der klassischen Ökonomie. In: Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie I, hrsg. v. Fritz Neumark. Berlin 1981, S. 53–91, S. 63 (Schriften des Vereins für Socialpolitik, Neue Folge, Bd. 115/I).

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rechte zu Sachen sui generis werden. Wir wollen im Folgenden einige Hauptautoren behandeln; ich beginne mit dem verhältnismäßig bekannten: John Locke. Lockes19 Beitrag bestand in einer auf die aristotelische Tradition aufbauenden Theorie des Erwerbs von Besitz durch Arbeit.20 Das Eigentum ist die Grundlage einer politischen Gesellschaft: »Paternal power is only where minority makes the child incapable to manage his property; political where men have property in their own disposal; and despotical over such as have no property at all«.21 Die politische Macht schließt das Recht ein, Gesetze zu erlassen, um den Besitz zu regulieren und den Staat gegen außen zu verteidigen. Die Besitzentstehung wird erklärt im Verhältnis zu einem Naturzustand und gemäß einem Naturrecht, nach dem man verpflichtet ist, Leben, Freiheit und Eigentum der anderen zu respektieren, nach dem es ein Recht gibt, durch abschreckende Strafen Rechtsverletzungen zu verhindern und nach dem im Übrigen eine Gleichheit herrscht, die erst in einem entwickelten Zustand nach positiven Gesetzen sich ändert. Im Naturzustand gehört dem Jäger, was er erlegt, aber auch, was er durch körperliche Arbeit hervorbringt. Mit der Bebauung des Bodens wird der Naturzustand überschritten und das Land in Besitz genommen. Es ist also die Arbeit, welche das Besitzrecht stiftet, und es entsteht ein Eigentum am Boden wie zuvor schon an den Arbeitsprodukten. Die Arbeitswertlehre wird hier also von ihrer qualitativen Seite her betrachtet: Sie bringt Gebrauchswerte hervor, die angeeignet werden können. Das Maß des Besitzes ist gegeben durch »the extent of man’s labour and the conveniency of life«.22 In England ist das Land schon in Besitz genommen, in Amerika geht der Prozess der Inbesitznahme leeren Landes noch weiter. Da die Indianer das Land nicht bebauen, müssen sie sich als Jäger vor den Ackerbauern zurückziehen. Die Problematik solcher Aneignung des Bodens liegt für uns auf der Hand, aber Locke setzt sich mit der zwangsläufigen Überschreitung des Prinzips des Erwerbs durch Arbeit auseinander, die sich aus den Tätigkeiten ergibt, welche Aristoteles dem unnatürlichen Erwerb zugeordnet hatte. Begrenzter Besitz von Produkten würde noch immer durch Arbeit geschaffen und begrenzter Besitz von Land durch seine Bebauung begründet, »had not the invention of money, and the tacit agreement of man to put value on it, introduced (by consent) larger possessions and a right to them«.23 Vor der Erfindung des Geldes durfte niemand mehr nehmen, als was er verzehren 19

John Locke: Of Civil Government. Two Treatises. London 1936. Hans Christoph Binswanger: Geld und Wirtschaft im Verständnis des Merkantilismus. In: Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie V, hrsg. v. Fritz Neumark. Berlin 1982, S. 93–129 (Schriften des Vereins für Socialpolitik, Neue Folge, Bd. 115/V). Peter Garnsey: Thinking about property. From Antiquity to the Age of Revolution, Cambridge 2007. 21 Locke: Of Civil Government (wie Anm. 19), S. 206. 22 Ebd., S. 133. 23 Ebd., S. 134. 20

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konnte, aber durch die Arbeit vermehren sich die Güter, es werden immer mehr Arbeitsmittel, die wir Kapital nennen, aufgehäuft, und dieses kann der Besitzer über die Möglichkeiten der eigenen Arbeit hinaus vermehren. »And as different degrees of industry were apt to give men possessions of different proportions, so this invention of money gave them the opportunity to continue and enlarge them«.24 Es folgt der berühmte Satz: »Thus, in the beginning, all the world was America […] for no such thing as money was anywhere known«.25 Des Geldes wegen wurde der Zustand, in dem keiner mehr besitzt, als er brauchen kann, überschritten. Aber die Stiftung des Eigentums beruhte doch noch auf Arbeit. Folgerichtig schloss sich Lockes Theorie eine quantitative Arbeitswertlehre an, vorbereitet v. a. durch William Petty,26 welche die Tauschwerte produzierter Waren durch die in ihnen enthaltenen (»verkörperten«) Arbeitszeiten erklärte.

5. Ferdinando Galiani: Vom Nutzen der Sachen für die Selbstdarstellung Im Naturzustand wurde erarbeitet, was die Deckung der natürlichen Bedürfnisse erforderte. Was wird aus dem größeren Reichtum in der monetarisierten Gesellschaft? Eine Antwort kam aus Italien. Als Ferdinando Galianis »Della moneta« 1751 erschien, konnte man in Neapel, Florenz oder Mailand kaum glauben, dass dieser geniale Text von einem erst Zweiundzwanzigjährigen stammte. Der unverwechselbare Stil seines eleganten Italienisch war aber schon seinen Frühschriften, wie er sie mit 16 Jahren abgefasst hatte, und den viel späteren eigen. In seiner Geldtheorie wandte er sich gegen die Vorstellung, der Geldwert lasse sich aus einer Konvention ableiten. Kühn behauptet er dagegen: »Perciò io, prima d‘ogni altro, con ogni mio studio m’ingegnerò dimostrare quello onde vivo da gran tempo persuaso, che non solo i metalli componenti la moneta, ma ogni altra cosa […] ha il suo naturale valore, da principî certi, generali e constanti derivato […].«27 Weder Willkür, noch Gesetz, noch der Fürst können diese Prinzipien verändern. Der Wert ist nämlich »una idea di proporzione tra l’possesso d’una cosa e quello d’un altra nel concetto d’un uomo«.28 Die Begründung des Wertes zerlegt er in zwei: 24

Ebd., S. 140. Ebd. 26 Bertram Schefold: Einleitung zur ›Political Arithmetick‹ von William Petty. In: Vademecum zu einem Klassiker der angewandten Nationalökonomie. Komm. zur Faks.-Ausg. der 1690 erschienenen Erstausg. v. William Petty: Political Arithmetick. Düsseldorf 1992, S. 5–36 (Klassiker der Nationalökonomie). 27 Ferdinando Galiani: Della moneta e scritti inediti, a cura di Alberto Merola. Mailand 1963, S. 38. 28 Ebd., S. 39. 25

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utilità und rarità. Der Nutzen ist die Fähigkeit einer Sache, uns die Glückseligkeit (felicità) zu verschaffen. Nützlich ist, was ein echtes Vergnügen hervorruft, und echt ist ein Vergnügen nur, wenn es nicht zu Leiden im Jenseits führt. Galiani möchte sich auf diese Weise gegen den möglichen Vorwurf, er sei Epikuräer, verwahren und behauptet, so den Streit zwischen epikuräischer Lust und stoischer Tugend aufgelöst zu haben. Wie immer dem sei: Unter den Leidenschaften, welche durch ein echtes Vergnügen beruhigt werden, gibt es keine, die heftiger wäre und stärker als der Wunsch, anderen überlegen zu sein. Der Mangel an Anerkennung macht das Leben elend und unglücklich. Was ist also richtiger als sich, notfalls mit langer Anstrengung, etwas Nützliches zu verschaffen, das viele und große Vergnügungen bereitet, wie beispielsweise, wenn man einen Adelstitel erwirbt? Den höchsten Wert hat deshalb, was uns Respekt verschafft, wie Ehre und Befehlsgewalt, nach diesen aber solche Gegenstände, die wegen ihrer Schönheit gesucht sind, also edle und seltene Steine und die Edelmetalle, die deshalb einen natürlichen Wert haben, noch bevor sie zu Geld werden. Sie dienen als Schmuck den Frauen, die schön sein wollen, und mit ihnen schmücken die Eltern ihre Kinder aus zärtlicher Fürsorge. Kaum ein anderer Autor behauptet mit solcher Überzeugung, dass der Nutzen der wichtigeren Dinge in ihrem Repräsentationswert liege, aber gerade der Nutzen dieser Dinge hängt wesentlich von ihrer Exklusivität ab, daher die Betonung des anderen Wertprinzips, der Seltenheit (rarità). Wenn nach den sehr nützlichen und seltenen Dingen ihres hohen Wertes wegen gestrebt wird, wird man mehr von ihnen heranzuschaffen suchen. Die zugehörige Anstrengung, also die Arbeit, nennt unser Neapolitaner »fatica«, also Ermüdung. Wer hungert, wird Brot dem Gold vorziehen, aber wenn genug Brot beschafft wurde, nimmt der Nutzen einer weiteren Brotzufuhr ab, und man wendet sich dem Repräsentationsbedürfnis zu. Den Philosophen, die sich über die Eitelkeiten der Reichen erhaben dünken, vergeht das Lachen, wenn sie in die Gesellschaft zurückkehren. Manche werden hochmütig wie die Stoiker, andere gehen in Lumpen wie die Kyniker, aber ändern können sie es nicht: Gold und Silber haben ihren Wert.29 So sind kostbar auch Gelehrte und Künstler, weil man ihre Begabungen selten antrifft und ihre Ausbildung große Anstrengungen verlangt. Damit finden wir bei Galiani die subjektive Wertlehre in großen Zügen vorbereitet. Es ist allerdings die Frage, wie weit sich seine Vorstellung der Ableitung des Nutzens aus der Selbstdarstellung der Menschen aufrechterhalten lässt, wenn diese Theorie formal strenger ausgearbeitet wird. Durch die Selbstdarstellung werden die Nutzenfunktionen interdependent. Die moderne Theorie beruht aber in ihrem Kern auf voneinander unabhängigen Nutzenfunktionen.

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Ebd., S. 45 f.

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6. François Quesnay und die Physiokratie Auf Lockes naturrechtliche Begründung des Eigentums folgte die physiokratische Verankerung der Produktion im Naturprozess. Nach Henri Denis war Quesnay, Sohn armer Bauern und Arzt am Hofe, ein Cartesianer. Er fasste die Wirtschaft als einen Organismus auf, der mechanisch funktionierte. Es war der Bereich des menschlichen Zusammenlebens, der, richtig organisiert, der Moral nicht bedurfte. Auch Quesnay ging vom Naturrecht aus.30 Das Naturrecht ist die natürliche und autonome Regel, anerkannt durch Aufklärung und Vernunft, die bestimmt, was dem einen und was dem anderen gehört, weil er es sich innerhalb der natürlichen Ordnung durch Arbeit verschaffen kann. Das erste positive Gesetz besteht in der Unterrichtung des Naturgesetzes, welches die Ordnung im Staat garantiert und eine Identität der Interessen des Monarchen und des Volkes herstellt. »Si le flambeau de la raison […] éclaire le gouvernement, toutes les lois positives nuisibles à la société disparaîtront«.31 Die positiven Gesetze, wenn richtig formuliert, stehen zum Naturrecht nicht im Gegensatz, sondern erweitern dessen Möglichkeiten. Die monetären Verhältnisse eines Landes geben dafür ein Beispiel. In armen, zurückgebliebenen Nationen wird viel gemünztes Edelmetall benötigt, um den Handel zu betreiben, weil man sich fast nie auf die Versprechen anderer verlassen kann. Aber in den reichen Nationen ist das Vertrauen entwickelter, so dass alle bedeutenden Verkäufe auf Kredit durchgeführt werden.32 Die Sicherung des Eigentums ist eine Grundlage solchen Vertrauens. In prosperierenden Nationen ist die Kapitalbildung in der Landwirtschaft die Voraussetzung der Reichtumserzeugung. Die Besteuerung darf diese nicht gefährden, und eingenommene Steuern müssen auch wieder verausgabt werden, um den Absatz von landwirtschaftlichen und Handwerksprodukten nicht stocken zu lassen.33 Der Luxus der Reichen soll die Ausgaben für die Subsistenz der Armen und die Kapitalbildung aber auch nicht verdrängen.34 Der Staat soll seine Steuern an der Quelle, der Landwirtschaft, erheben, und er soll sich nicht auf den Kredit verlassen. Die eigentliche Produktion erfolgt durch die Naturkraft in der Landwirtschaft. Die Saaten erzeugen eine Produktion, deren erster Teil im nächsten Jahr wieder ausgesät wird, deren zweiter die Bauern ernährt, deren dritter gegen Kapitalgüter, wie beispielsweise die Pflüge, von der Stadt eingetauscht werden, und deren vierter als Rente, Zehnter oder Steuern an die Obrigkeit zu liefern ist. 30

Vgl. Henri Denis: Histoire de la pensée économique. Paris 1974. François Quesnay: Le droit naturel. In: François Quesnay: Physiocratie. Droit naturel, Tableau économique et autres textes. Édition établie par Jean Cartelier. Paris 1991, S. 69 ff., S. 85. 32 Ebd., S. 230. 33 Ebd., S. 240. 34 Ebd., S. 243. 31

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Quesnay und die Physiokraten meinen nun, dass nur die Landwirtschaft produktiv sei, denn, so behaupteten sie, das Handwerk und die Manufaktur veränderten nur die Formen der landwirtschaftlichen Produkte, nähten also beispielsweise aus dem Leder einen Sattel, ohne neue materielle Substanz hinzuzufügen. Quesnay verteidigte diese Grundthese der Physiokratie auf verschiedene Weise. Er versuchte, sie vorzurechnen in seinem »Tableau économique«.35 Er stellte sie dar als Gegenthese zur Bevorzugung der Manufakturen durch den Minister Ludwigs XIV., Colbert. Er schrieb ein ganzes Buch über China und suchte darin darzulegen, dass der chinesische Kaiser dem aufgeklärten Monarchen entsprach, der die Landwirtschaft förderte, sich mit den Riten, aber auch mit praktischen Anstrengungen wie dem Kanalbau für die Landwirtschaft einsetzte und lieber den Austausch in einem großen, geschlossenen Staat förderte, als sich wie die Merkantilisten auf den Exporterfolg zu verlassen. Quesnay scheint das ländliche Leben aber auch wirklich geliebt zu haben: »L’agriculture […] pour moi, je ne sais s’il ya aucune sorte de vie plus heureuse que celle-là«.36 Nicht Arbeit und Arbeitsteilung stehen bei Quesnay im Vordergrund bei der Erklärung der Hervorbringung der Sachen, sondern die Naturgesetzlichkeit, die durch den Markt bei freier Konkurrenz am besten gefördert wird – von den Physiokraten stammt der Kampfruf des »Laissez-faire«; er soll den Monarchen mahnen, den Reichtum des Landes nicht durch künstliche Maßnahmen fördern zu wollen und an sich zu ziehen, sondern auf die »natürlichen« Kräfte der Mechanik freier Märkte zu vertrauen. Für die ökonomische Theorie bedeutete die Physiokratie mit ihrem strengen Denken, orientiert an dem einem Modell vergleichbaren »Tableau économique«, einen gewaltigen Fortschritt, der sich mit vielen einzelnen Präzisierungen verband, von denen hier nicht die Rede sein kann; die »Sachen der Aufklärung« erscheinen in ihr als Naturprodukte des Bauern und deren Formveränderung durch den Handwerker. Von der Ästhetik und der Soziologie der Luxusgüterproduktion wird aber nicht gesprochen, denn es breitet sich die der Industrialisierung vorausgehende Hinwendung zum Wirtschaftswachstum als Akkumulation von Gütermassen – die hier erst standardisierte, aber noch keine Massengüter sind – vor. Die Physiokratie wird von den Ökonomen bis heute als der Anfang ihrer Theoriebildung gefeiert. Die Abstraktionen Quesnays, die sich in dem ersten wirklichen Modell, seinem »Tableau économique«, niederschlugen, gingen mit Vereinfachungen einher: Von der alten Vielfalt der Produkte und ihrem Nutzen für die Selbstdarstellung ihrer Käufer ist nicht mehr die Rede. Vor der Industrialisierung werden die Gegenstände des Konsums beschrieben, als ob sie schon Objekte industrieller Fertigung wären. An die Stelle der fröhlichen Eitelkeit, welche die Nutzenschätzungen der Menschen bei Galiani bestimmt, tritt der systematische Austausch zwischen den Landwirten und kleinen städtischen Pro35 36

François Quesnay: Tableau économique des physiocrates. Paris 1969. Quesnay: Le droit naturel (wie Anm. 31), S. 254.

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duzenten. Dazwischen schiebt sich die landbesitzende Klasse – Krone, Adel, Klerus –, die durch Besteuerung und Verausgabung für Regierungszwecke und Luxusprodukte bei Quesnay eine Aufgabe erfüllt, in der sie aber ersetzbar scheint durch einen sparsameren Verwaltungsapparat. Insofern weist Quesnay auf die bürgerliche Revolution voraus. Das Eigentum der besitzenden Klasse geht nicht wie bei Locke auf Arbeit zurück; an anderer Stelle erinnert Quesnay vielmehr an die alten fränkischen Eroberungen (in einem Buch mit Mirabeau,37 das seines revolutionären Potentiales wegen erst im 20. Jahrhundert erschien). Um die Entwicklung durch einen Gegensatz voller zu erfassen, kehren wir nochmals ins 17. Jahrhundert zurück.

7. Kaspar Klock: Lobpreisungen des Handwerks inmitten der Zerstörungen des dreißigjährigen Kriegs Locke und Quesnay sind weltberühmte Gestalten; Kaspar Klock kennt kaum mehr jemand – fast darf ich behaupten, ich hätte ihn ausgegraben.38 Klock war einer der kameralistischen Fürstenberater, selbst sukzessive Verwalter dreier Fürstentümer, dessen Rat als Jurist im ganzen Heiligen Römischen Reich gesucht war. 1608 schrieb er eine knappe, durchdachte Dissertation über die Steuern im Reich an der Basler Universität. Er erweiterte sie zu einem umfänglichen, viel zitierten Werk »De contributionibus« und fasste endlich sein Wissen über ökonomische Zusammenhänge, die Finanzen in den Staaten der Welt und seine Thesen zur Besteuerung in seinem großen, während eines Jahrhunderts in ganz Europa gelesenen »De aerario« zusammen. Geschrieben während des dreißigjährigen Krieges, gedruckt 1651, enthält es in barocker Fülle Nachrichten über die ganze bekannte Welt. Es ist gespickt mit Zitaten von klassischen Autoren und Auseinandersetzungen des protestantischen Autors insbesondere mit der spanischen Scholastik. Eindrücklich beschwört er das Leiden seiner Zeit. Uns geht es hier um eines unter mehr als 150 Kapiteln: »De opificiis & artificiis eorumque reditu Aerarium collocupletante« (Kap. 35 des II. Buches). Die Anordnung des Stoffes im Ganzen folgt nach kameralistischer Manier dem Weg von der landwirtschaftlichen Produktion über den Bergbau und verwandte Formen der Rohstoffgewinnung zu Geld, Handwerk und Handel, von da zur Besteuerung, Regierung und ökonomischen Verwaltung.

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Victor Riquetti Marquis de Mirabeau und François Quesnay: Traité de la monarchie, éd. et prés. de Gino Loghitano. Paris 1999. 38 Bertram Schefold: Einleitung. In: Kaspar Klock: Tractatus juridico-politico-polemico-historicus De Aerario , […]. Mit einer Einl. hrsg. v. Bertram Schefold. Hildesheim 2009. Reprint der Originalausg. v. 1651 in 2 Teilbänden [pp. V*–CXIII* vorn im ersten Teilband]. Historia Scientiarum (Wirtschaftswissenschaften).

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Unser das Handwerk betreffende Kapitel beginnt mit der Vollkommenheit der gottgegebenen Naturgrundlagen. Man beginnt mit dem Nötigen, dann entfaltet sich die Pracht wie in einer Stadt, in der erst nötige Wohnhäuser, dann prächtige Tore und schließlich Theater errichtet werden. Also werden die einzelnen Handwerke benannt: Hanf und Seile, Baumwolle, Barchent, Biberhaar, Polstermöbel, Lederarbeiten, Metalle. Mit der Aufzählung wird nicht versucht, nach Art der Aufklärer in der »Encyclopédie« von Diderot und d’Alembert die Herstellungsprozesse zu beschreiben, sondern Klock bewundert die Vielfalt und will, dass man ihre Wichtigkeit erkenne: also Strumpfstricker, Gürtler, Beutler, Nestler, Federstäuber, Tischler, Drechsler und so fort. Lautensaiten werden aus Ochsendärmen gewonnen damit man sehe, dass auch aus den Eingeweiden die Mittel zu schönem Gebrauch im Hause gewonnen werden. Über das Nötige und Nützliche hinaus werden die Mittel ehrlicher Freude erzeugt: »balneatoria, instrumenta musicalia«, schließlich »pictoria«.39 Von der Malerei sagt er, sie sei nicht nur mit dem Entzücken der Welt, den Werken der Natur und den Taten der Menschen befasst, sondern stelle die Majestät und die Wunder des Schöpfers mit ihrer erstaunlichen Kunst dar, und sie erfreue durch das Bild in so wunderbarer Weise, dass zu vermuten sei, die Malerei diene zuallererst den göttlichen Ehren – der protestantische Klock würdigt also den religiösen Ursprung der Bildgebung und beschreibt, Raffael und Michelangelo erwähnend, die italienische und schließlich die niederländische Malerei.40 Hier findet sich so ziemlich die einzige Stelle bei Klock, in welcher die Antike kritisiert wird, weil sie – namentlich bei Aristoteles – das Handwerk zu Unrecht herabgesetzt habe, indem es die Beisassen sind, nicht die Bürger, die dem Handwerk nachgehen. Nähren denn nicht die Handwerker die Händler, meiden sie nicht den Müßiggang, schaffen den Reichtum und sind als Bürger und als Krieger tüchtig? Jede Stadt hat ihre Handwerker, die in einem besonderen Gewerbe hervorragen, wie die Florentiner durch ihre feinen Tücher oder in Deutschland die Freiburger durch ihr Glas. Deshalb legt Klock auf die Qualitätskontrolle durch die Zünfte großen Wert und beschreibt, wie in der Schweizer Stadt St. Gallen durch vereidigte Beamte die nötige Kontrolle der Näh- und Webarbeiten gewährleistet wird.41 Schlechte Ware wird verbrannt. Klock behandelt auch Erfindungen in einem eigenen Kapitel:42 »Nove inventa & Aerario augmentando profutura non facili rejiciat, sed censurae & serio examini subjiciat Princeps.« Von klugen Erfindungen versprechen sich viele schnellen Reichtum; der Fürst soll Gesuche um Privilegien für die Neuerungen oder Bitten, ihre 39 Kaspar Klock: Tractatus, II.XXXV.15 (zitiert werden hier die Nummern von Buch, Kapitel, Abschnitt). 40 Ebd., II.XXXV.15 und Schefold: Einleitung, LXXVI*–LXXVII*. 41 Klock: Tractatus (wie Anm. 35), II.XXXV.48. 42 Ebd., II.CXLIV.

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Entwicklung zu finanzieren, weder gleich skeptisch zurückweisen noch im Überschwang annehmen, sondern sorgfältig prüfen. Klocks Beispiele sind die Haupterfindungen der gerade vergangenen Jahrhunderte, also der Magnetkompass, Pulver, der Buchdruck, aber auch neuere Merkwürdigkeiten wie der »Wasserharnisch« und die »Luffthosen Frantz Kesters« – da handelte es sich, wie man aus den Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts erfährt, um verschiedene Versuche, verlässliche Schwimmgürtel herzustellen. Auch eine Erfindung anderer Art, »nutu loquendi ars«,43 also der Kunst, durch Winke zu sprechen, einer Sprache für die Stummen, schenkt Klock seine Aufmerksamkeit. Aber eigentlich ist jede Erfindung hier eine Merkwürdigkeit für sich, und so war es in Betrachtung des Handwerks denn Klock auch noch möglich, das Augenmerk auf die Erscheinungsformen der Gebrauchswerte zu richten, die sich in der Anwendung in einen gegebenen gesellschaftlichen Rahmen fügten. Der wirtschaftspolitisch richtige Umgang mit den Zünften wird längst diskutiert. Beispielsweise bestreitet Peutinger, der Humanist und Stadtschreiber Augsburgs, schon ein Jahrhundert früher ihre Monopolrechte und tritt dafür ein, sie aufzuheben.44 So weit geht Klock nicht, aber auch er wendet sich gegen Missbräuche zünftiger Vorrechte. Ein Jahrhundert später heißt es in dem viel benutzten kameralistischen Lehrbuch Dithmars: »Die Handwerkszünfte sind Gesellschaften der Handwerker, welche von der hohen Landesherrschaft errichtet, und mit Statuten oder Zunftarticulen, Lade, Siegel, Meistern samt gewissen Freyheiten zu gemeinen Besten versehen worden«.45 Dithmar erklärt insbesondere die Laufbahn der Handwerker, wie viele Lehrjahre der Lehrjunge zu durchlaufen hat, wie lange der Geselle wandert, wie ein Meisterstück eine Probe ist, um Meister zu werden. Der Zunftzwang richtet sich gegen Pfuscher. Es gibt aber auch die Freymeister: wenn die Obrigkeit nämlich gestattet, dass einer das Handwerk ohne die Meisterschaft unabhängig treibt. Dithmar wendet sich dann gegen Missbräuche wie »unvernünftige und gottlose Ceremonien« und »angemaßte Gerichtsbarkeit der Zünfte«. Er wünscht, die Konkurrenz des Handwerks zu fördern, nämlich die Manufakturen, welche der Fürst ins Land ziehen soll. Handwerksschulen seien vorgeschlagen worden, hätten sich aber nicht durchgesetzt.46 So wendet sich die frühe Kameralistik wohlwollend dem Manufakturwesen

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Ebd., II.CXLIV.2. Bertram Schefold: Wirtschaft und Geld im Zeitalter der Reformation. In: Vademecum zu drei klassischen Schriften frühneuzeitlicher Münzpolitik. Kommentarband zu den Faksimile-Nachdrucken der Flugschriften: Gemeyne Stimmen von der Muntz (1530); Die Müntz Belangende. Antwort und Bericht (1530); Gemeine Stymmen von der Müntze: Apologia … und Vorantwortung (1548). Düsseldorf 2000 (Klassiker der Nationalökonomie), S. 5–46, hier S. 9–16. 45 Justus Christoph Dithmar: Einleitung in die oeconomischen, Policey- und cameral-Wissenschaften. Mit neuen Anmerkungen vom Gebrauch ökonomischer Vorlesungen vermehret und verbessert von D. Daniel Gottfried Schreber. Frankfurt a. O. 51755, S. 128. 46 Ebd., S. 218. 44

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zu, ohne die Liebe zum alten Handwerk zu verlieren und die kommenden Konflikte zu ahnen.

8. Justus Möser: Im rechten Bewusstsein seiner selbst müsste Deutschland der kommenden Revolution entgehen Justus Möser erkannte die Konflikte früh und suchte den Zusammenstoß zu mildern. Ohne Goethe wäre Justus Möser unter den Ökonomen heute vielleicht noch weniger bekannt als Klock. In »Dichtung und Wahrheit« schildert Goethe auf mehreren Seiten, wie die Schriften dieses fernen Amtsmannes in Osnabrück ihn in seiner Jugend als jungen Anwalt entzückten und in seinen Anschauungen bestätigten. Vieles, was Mösers Tochter unter dem Titel »Patriotische Phantasien« sammelte,47 reicht in seiner anmutigen Anschaulichkeit und gedanklichen Tiefe für den heutigen Leser nahe an Johann Peter Hebels »Kalendergeschichten« heran, übersteigt diese sogar durch den ökonomischen Gehalt. Mösers Zeitungsaufsätze enthalten mehr Politik, Ökonomie, mehr konkrete Informationen und mehr sachliche Geschichtsschreibung, und wie bei Hebel evozieren sie durch eine unglaublich bildhafte und kräftige Sprache eine heimatliche alte Welt von großer Anziehungskraft. Nicht abstrakte, allgemeine Menschenliebe, sondern die Ehre jedes Standes, also das Selbstbewusstsein des Bauern, der Stolz des Bürgers, die Kunst der Herstellung sind das Ideal. Gegen Zentralisierung und Bürokratie wird die lokale Selbstverantwortung gesetzt; »jedes Städtchen sollte seine politische Verfassung haben«.48 In Wilhelm Roschers lange Zeit maßgebender »Geschichte der National-Oekonomik in Deutschland«49 erscheint Möser im Kapitel »Die geschichtlich-konservative Reaktion gegen die Ideen des 18. Jahrhunderts«.50 Möser wird hier als der »größte deutsche Nationalökonom des 18. Jahrhunderts« bezeichnet;51 er sei einer der größten Meister der historischen Methode, und oft geradezu »prophetisch«, wenn es darum gehe zu sagen, was vom Alten wiederbelebt werden könne und was nicht.52 Hervorgehoben werden Mösers Widerwillen gegen eine hochentwickelte Arbeits-

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Justus Möser: Sämmtliche Werke. 10 Bde. Neu geordnet und aus dem Nachlasse desselben gemehrt durch Bernhard Rudolf Abeken. Berlin 1842. Darin: Patriotische Phantasien, Bde. 1–4. 48 Ebd., Bd. 1. Einleitung, S. 25 ff. 49 Wilhelm Roscher: Geschichte der National-Oekonomik in Deutschland. Düsseldorf 1992 (Klassiker der Nationalökonomie). Vademecum zu einem Klassiker der deutschen Dogmengeschichte. Kommentarband zur Faks.-Ausg. v. Wilhelm Roscher, Geschichte der National-Oekonomik. Hrsg. v. Bertram Schefold. Düsseldorf 1992. 50 Ebd., S. 500. 51 Ebd., S. 501. 52 Ebd., S. 505.

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teilung, seine Skepsis gegenüber der im 18. Jahrhundert so entschieden geförderten Bevölkerungsvermehrung, sein Eintreten für hohe Löhne und für die Beschäftigung der Armen.53 Roschers emphatische Lobpreisung vor Augen, schreibt Joseph Schumpeter dagegen von Möser: »He was an excellent man, no doubt, but he was no economist at all«.54 »Reicher Leute Kinder sollen ein Handwerk lernen«, fordert Möser,55 denn in einem »schrecklichen Zirkel« sinke das Ansehen des Handwerks, weil nur geringe Leute es trieben, und so würden auch immer mehr von ihm abgestoßen. Mit den Vorrechten der Zünfte habe der Kaiser dem Handwerk seine Ehre genommen, weil es jedem Beliebigen offen stünde. Eine glückliche Verfassung sei aber nur eine, die vom Throne in sanften Stufen heruntergehe. Wenn also das Handwerk nicht mehr durch Vorrechte gegen den Zugang von unten geschützt und geehrt werde, sei seine Ehrung und Hebung durch den Zugang von oben besonders zu wünschen. Dass Zunftvorrechte zu überhöhten Preisen geführt hätten, sei durchaus richtig. Dagegen tritt Möser für ehrliche freie Märkte und eine genügende Anzahl freier Meister ein, um die Konkurrenz am Leben zu halten. In großen Städten wie London könne es große Handwerksmeister mit 40 Gesellen und mehr geben, welche die Qualität der Arbeit sorgfältig kontrollierten. Dagegen verfalle das Handwerk in den kleinen Städten, heißt es in einem Aufsatz von 1768. Da beschreibt Möser ein Jahrzehnt vor Adam Smith die »kurze Geschichte von dem Ursprung der sogenannten Simplification«,56 womit er die Arbeitsteilung meint. Er schildert sie anhand mehrerer Beispiele, die dem Smithschen Stecknadelbeispiel durchaus ähnlich sind, und seine Überlegungen enthalten auch die zentrale Einsicht von Adam Smith: verfeinerte Arbeitsteilung ist nur möglich in größeren Märkten, sie ermöglicht es, die Produktionskosten zu senken und damit noch größere Märkte zu erobern. Er sieht auch, dass »große Fabriken« imstande sind, »kostbare Erfindungen und Maschinen und Wind und Wasser zu nutzen. Sie können auf deren Entdeckung und Anlegung Vieles verwenden; sie können eigene Leute zum Absatze und zur Entdeckung fremder Nationen Geheimnisse reisen lassen«.57 In den kleinen Städten findet die »Simplification« nicht statt, sondern es muss der Handwerker ein »Tausendkünstler sein«.58 Der Typus und die Größe der Handwerksbetriebe müssen also den Städten angepasst sein, in denen sie eingerichtet werden. Sie müssen sich selbst verwalten. Kann ein Amtmann sie regieren? »Hievon findet sich kein Exempel in der Geschichte; und es ist auch gar nicht glaublich oder 53

Ebd., S. 509–514 u. S. 522. Joseph Schumpeter: History of Economic Analysis, ed. from manuscript by Elizabeth Boody Schumpeter. New York 1954, S. 172. 55 Möser: Sämmtliche Werke (wie Anm. 43). Bd. 1, S. 113 ff. [Aufsatz v. 1769]. 56 Ebd., S. 264 [Aufsatz v. 1768]. 57 Ebd., S. 266. 58 Ebd., S. 267. 54

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wahrscheinlich, dass irgendeine beträchtliche Anzahl von geschickten, fleißigen und unternehmenden Handwerkern oder Kaufleuten sich jemals auf andere Art vereinigen könne und werde, als eine bürgerliche Obrigkeit ihres Mittels zu haben«.59 Die Handwerker haben in ihrer Selbstverwaltung v. a. auf Qualität zu achten und sich, indem sie auf diese pochen, der Billigkonkurrenz aus den größeren Städten zu erwehren. Im Aufsatz »Darf ein Handwerksmeister so viel Gesellen halten als er will?«60 stellt er fest, dass größere Gesellenzahlen in großen Städten unvermeidlich seien, aber nicht so in den kleinen. In spezialisierten Betrieben kann sich das kleine Handwerk halten, während solche Herstellungen wie die der Uhren größere Betriebe erforderten. So wird hier von Möser eine Antwort auf die Herausforderung durch den modernen Fabrikbetrieb und auf die theoretische Beschreibung des Fabrikwesens und der darauf gegründeten Wirtschaftstheorie bei Smith versucht, noch bevor dieser sein »Wealth of Nations« veröffentlicht hatte.

9. Baron von Bielfeld: Der zur Moderne offene Kameralismus Trotz der gewaltigen Zahl der Publikationen in den deutschsprachigen Ländern wirkte der Kameralismus nur durch wenige Texte nach außen, und zwar schon aus sprachlichen Gründen. Klocks lateinischer Text war in der internationalen Sprache vergangener Jahrhunderte abgefasst. Ernst Ludwig Carl61 schrieb französisch, was ihm eine etwas größere Verbreitung sicherte. Hörnigks62 in mindestens 18 Auflagen erschienenes Werk wurde nicht übersetzt, war in den deutschen Ländern populär und blieb sonst weitgehend unbekannt. Französisch schrieb der preußische Minister, Baron von Bielfeld, dessen Werk mehrfach ins Deutsche, ins Italienische, ins Spanische und ins Russische übersetzt wurde und damit eine gesamteuropäische Verbreitung erreichte.63 Bielfelds »Institutions politiques« stellen im Rahmen eines allgemeinen staatswirtschaftlichen Textes, der auch Politik, Gesellschaft und eine Charakterisierung der europäischen Länder umfasst, wirtschaftliche Prinzipien des

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Ebd., S. 281. Ebd, S. 365 [Aufsatz v. 1770]. 61 Ernst Ludwig Carl: Traité de la richesse des princes et de leurs états et des moyens simples pour y parvenir,. Hrsg. u. eingel. v. Karl Kunze u. Bertram Schefold, 3 Bde. Hildesheim 2000 [1722, 1723]. 62 Hörnigk: Oesterreich (wie Anm. 9). 63 Kenneth E. Carpenter: The Economic Bestsellers Before 1850. A Catalogue of an Exhibition prepared for the History of Economics’ Society Meeting May 21–24, 1975, at Baker Library, being Bulletin 11 (May 1975) of the Kress Library of Business and Economics, Harvard Business School. 60

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kameralistischen Denkens in einem strukturierten, urteilssicheren, zur Moderne offenen Text dar. Bielfeld bewundert die naturrechtliche Tradition von Grotius, Pufendorf, Wolff und lässt dann eine Theorie der Regierungsformen folgen, in welcher auch die wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die zur gesellschaftlichen Wohlfahrt führen sollen, diskutiert werden. Einschlägig für uns ist sein Kapitel über die Manufakturen. Manufakturen oder Fabriken sieht er als wesentlich unterschieden von den »métiers ordinaires«,64 die er mit der Produktion von Fayencen, Spiegeln, Waffen, aber auch jenen Stecknadeln veranschaulicht, die dann bei Smith die große Rolle spielen. Er hebt die enorme Produktivität hervor und diskutiert die Rentabilität solcher Unternehmungen interessanter Weise in Verbindung mit dem Standortproblem. Ganz selbstverständlich geht er davon aus, dass sich das wirtschaftliche Schicksal der Manufaktur mit dem des Souveräns verknüpft; eine Manufaktur, »qui ne réussit point, malgré les prérogatives que le Souverain lui accorde, devient très pernicieuse«.65 Die Manufaktur muss günstig gelegen sein, sowohl um Rohmaterialien günstig kaufen, wie um ihre Produkte erfolgreich verkaufen zu können. Diese Bedingungen lassen sich durch die Zollpolitik beeinflussen, aber eine chinesische Mauer soll man nicht ums Land herum ziehen. Colbert »le plus grand Financier dont l’Histoire fasse mention«, ein aufgeklärter Minister, habe dies am besten gekonnt.66 Nur ausnahmsweise lohne sich die Verarbeitung ausländischer Rohstoffe. Ungeachtet der Privilegienvergabe, von der die Rede war, spricht sich Bielfeld gegen Monopole und für Konkurrenz aus; er hat offenbar im Auge, dass der Staat mehrere, miteinander wetteifernde Unternehmungen fördern solle, außer wenn ein Patent für eine ganz besondere Erfindung während einer gewissen Zeit zu gewähren ist. Die erste große Schwierigkeit sei, gute Arbeiter zu finden; die vielen Stellen, welche der Adel für die livrierte Dienerschaft bereithalte, verdürben den Arbeitsmarkt. In für den modernen Leser wunderlicher Vermengung der ökonomischen Prinzipien tritt er gleichzeitig für Konkurrenz und für eine staatliche Qualitätskontrolle ein; Colbert wird gerade für seine ausgezeichnete »Ordonnances« mit guten Vorschriften für die handwerklichen Verfahren in den Manufakturen besonders gelobt. Folgerichtig lobt er auch Zünfte, die ähnliche Aufgaben unternehmen, aber er will ihren traditionellen Status, der sich in unnötigen Zeremonien ausdrückt, mindern und z. B. vorschreiben, dass das Meisterstück ein nützlicher Gegenstand – also kein Kunstwerk – zu sein habe. Er ist gegen jede Beschränkung der Zahl der Meister oder ihrer Lehrlinge. So müsste die Konkurrenz auch unter den Arbeitern wirken. Töricht war die Verfolgung der Hugenotten, die gute Arbeiter und Unternehmer ins Ausland trieb. 64

Jacob Friedrich von Bielfeld: Institutions politiques par Monsieur Le Baron de Bielfeld. Tome premier. Nouv. édition, rev., corr. et augm. Leiden 1767, S. 463. 65 Ebd., S. 474. 66 Ebd., S. 478.

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Im Fortgang wird die Konkurrenzvorstellung Bielfelds in einer für den modernen Ökonomen interessanten Weise konkretisiert. Er meint nämlich, mehrere Manufakturen seien besser als eine, einerseits, weil sie wetteifern, andererseits, weil sie, wenn am selben Ort eingerichtet, von Einsparungen bei der Zulieferung der Rohstoffe und von Vorteilen beim Verkauf der Produkte profitieren könnten. Er weist damit voraus auf die externen Effekte von Agglomerationen, die in der modernen Wachstumstheorie und Wirtschaftsgeographie eine wichtige Rolle spielen (Serra hatte sie in Italien 1613 schon gesehen).67 Intensive Konkurrenz scheint er sich nicht als vollkommenen, sondern als oligopolistischen Wettbewerb vorzustellen (das moderne Analogon wäre das weite Oligopol). Der Staat fördert das Manufakturwesen, indem er Betrug bei der Qualität unterbindet, Echtheit verbürgt und Vielfalt fördert. »Un moraliste ignorant veut nous faire envisager cette succession continuelle et rapide des Modes comme un défaut, comme un effet de la légéreté dans la Nation Françoise; un Homme d’État qui réfléchit en juge bien autrement«.68 Kühl, staatsmännisch pragmatisch behandelt Bielfeld auch die anderen wirtschaftspolitischen Thematiken der Kameralisten. Der Handel sei komplizierter, die Steuerung der Handelsbilanz schwieriger, als die Scharlatane meinten.69 Die Handelskonkurrenz der Staaten ist eine harte Realität; die Kriege von 1740 und 1755–1756 sieht er als Handelskriege an, geführt unter Vorwänden. »Les Héros ne combattaient dans le fonds que pour les Négocians«.70 Aufklärung heißt, sich über diese Wirklichkeit klar zu werden, Politik, sich in ihr zu behaupten.

10. Adam Smith und das Wertparadox In seiner »Theory of Moral Sentiments«71 zeigt Smith, wie die ethische Haltung des Menschen durch die Spiegelung seiner Persönlichkeit in anderen gestützt wird. Da ich fühle, wie mich andere beurteilen, da mein Inneres mir sagt, wann sie Schlechtes in mir sehen, werde ich, um mich in der Gesellschaft zu behaupten, eher meinen guten Antrieben folgen. Im Rahmen dieser Widerspiegelungstheorie beobachtet Smith, wie sich die Menschen auch durch ihre Ausstattung mit Dingen auszuzeichnen versuchen und wie dieser Selbstdarstellungstrieb die Reichen dazu zwingt, Pracht zu entfalten und damit Beschäftigung zu schaffen, und wie die Armen wiederum sich mit dieser Prachtentfaltung der Reichen auf dem Wege der Sympathie identifizieren 67

Ebd., S. 513. Ebd., S. 517. 69 Ebd., S. 540. 70 Ebd., S. 544. 71 Adam Smith: The Glasgow edition of the works and correspondence of Adam Smith. [Works. 1976]. Bd. 1: The Theory of Moral Sentiments. Oxford, New York 1976–1983. 68

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und sie bewundern, so dass die Ungleichheit ertragen werden kann und der durch die Identifikationen mit Anderen modifizierte Selbsterhaltungstrieb die Wirtschaft voranbringt. Da wäre manche Beobachtung zu den »Sachen der Aufklärung« zu finden, aber wir wollen uns hier mit Smith als dem Ökonomen, also mit seinem »Wealth of Nations«72 befassen. Die Untersuchung stützt sich auf die erwähnte Theorie der Arbeitsteilung, die desto weiter vorangetrieben wird, je größer der Markt ist, den man versorgt, und der Markt wiederum wird sich vergrößern, wenn dank Arbeitsteilung die Kosten gesenkt und Rivalen unterboten werden können. Der Vorzug der Arbeitsteilung besteht v. a. darin, dass die Handgriffe in der Herstellung der Produkte vereinfacht werden können, so dass sie auch ein nicht vorgebildeter Arbeiter flink und geschickt durchzuführen vermag, auf Kosten allerdings zunehmender Einseitigkeit seiner Tätigkeit und vollständiger Standardisierung der Produkte. Eingehend beschreibt Smith, wie ein Produkt über zahllose Stufen arbeitsteiliger Produktion entsteht, und sei es ein einfacher Wollmantel.73 Die Geschicklichkeit des Arbeiters bei seiner besonderen Verrichtung kann auf einer besonderen Begabung beruhen, aber Smith meint, die Geschicklichkeit sei in der Regel nicht so sehr Ursache als Folge der Arbeitsteilung. Der Arbeiter wird einseitig, ja er verdummt – dem soll im Sinne des Jahrhunderts durch Volksbildung entgegengewirkt werden. Smith glaubt andererseits, die Entwicklung der Maschinen werde v. a. durch die Praktiker in der Anwendung, oft also durch die Arbeiter selbst, die dann doch nicht dumm sind, vorangetrieben. Daneben gibt es Erfinder und Hersteller »who are called philosophers or men of speculation«.74 Auch deren Arbeit ist einer Arbeitsteilung unterworfen. So modern dies klingt: Die Grundgedanken dieses Diskurses finden sich schon in der Antike. Die Erkenntnis, dass der Grad der Arbeitsteilung und die Marktgröße zusammenhängen, treffen wir bei Xenophon75 an; weniger bekannt scheint zu sein, dass der Streit, ob die Erfindungen wesentlich von Praktikern stammten oder ob sie der Philosophie mit ihren spekulativen Kräften zuzuordnen seien, von den Stoikern diskutiert wurde.76 Die Beobachtung zur Arbeitsteilung erscheint bei Xenophon nur 72 Adam Smith: The Glasgow edition of the works and correspondence of Adam Smith [Works, 1976]. 2 Bde. Bd. 2: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations. Oxford, New York 1976–1983. 73 Ebd., Bd. 2.1, S. 22. 74 Ebd., S. 21. 75 Bertram Schefold: Xenophons Oikonomikos: Der Anfang welcher Wirtschaftslehre? In: Vademecum zu einem Klassiker der Haushaltsökonomie. Kommentarband zum Faks.-ND der 1734 erschienenen Ausg. v. Xenophon: Oikonomikos. Düsseldorf 1998, S. 5–43 (Klassiker der Nationalökonomie). 76 Lucius Annaeus Seneca: Epistola XC. In: L. Annaei Senecae philosophi opera. Bd. III. Zweibrücken 1782, S. 358–371. Zu Smith’ Abhängigkeit von der Stoa vgl. Gloria Vivenza: Adam Smith and the Classics. Classical heritage in Adam Smith’s thought. Oxford 2001.

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in anekdotischer Form, während sie bei Smith zu einer beeindruckenden Theorie ausgebaut wird. Aus dem stoischen Streit über die Rolle von Praxis und Philosophie wird bei Smith eigentlich nur die empirische Beobachtung, dass sowohl Praktiker als auch Wissenschaftler Erfindungen vorangebracht haben. Nur bei der Gegenüberstellung von Tauschwert und Gebrauchswert, die, wie wir sahen, von Aristoteles herkommt, stoßen wir auf eine verwandelte Fragestellung und einen entschieden anderen Standpunkt. Er schreibt: The world Value, it is to be observed, has two different meanings, and sometimes expresses the utility of some particular object, and sometimes the power of purchasing other goods which the possession of that object conveys. The one may be called ›value in use‹, the other, ›value in exchange‹. The things which have the greatest value in use have frequently little or no value in exchange; and on the contrary, those which have the greatest value in exchange have frequently little or no value in use. Nothing is more useful than water: but it will purchase scarce any thing; scarce any thing can be had in exchange for it. A diamond, on the contrary, has scarce any value in use; but a very great quantity of other goods may frequently be had in exchange for it.77

Der Begriff des Gebrauchswerts, wie Smith in hier benutzt, lässt zwei Deutungen zu. Die eine weist rückwärts. Der Nutzen der Sache (»object«) wird gesellschaftlich aufgefasst wie in der Warenkunde, wenn sie die Qualität einer Waffe in Verbindung mit ihren Gebrauchsmöglichkeiten im Kampf beschreibt. Der Nutzen kann »groß« sein, ohne dass es ein genaueres Maß für diese Nutzenvorstellung gäbe, weil die Sache in einer Anwendung besonders dringlich gebraucht wird oder weil man vielfältige Anwendungen derselben kennt. Die andere Deutung, welche vorausweist, fasst den Gebrauchswert subjektiv auf; Smith war aber weit davon entfernt, die Grundzüge einer subjektiven Wertlehre zu erahnen, die wir bei Galiani schon vorgezeichnet fanden. Das berühmte Wertparadox, das bei mehreren antiken Autoren angedeutet ist, kann nach beiden Seiten hin ausgelegt werden, indem sowohl ein großer gesellschaftlicher als auch ein erheblicher subjektiver Nutzen des billigen Wassers feststeht, und entsprechend der geringere unmittelbare Nutzen des teuren Diamanten. Erinnert sei immerhin daran, dass Smith in seinen »Vorlesungen« den wesentlichen indirekten Nutzen des Diamanten bezeichnet hatte: sein Besitz imponiert. Die Auflösung des Wertparadoxons in der modernen, sogenannten neoklassischen Theorie gelang Galiani nur ganz andeutungsweise, aber sie ist einfach: Der subjektive Wert für das die Sache erwerbende Individuum bemisst sich nach dem sogenannten Grenznutzen, formal der Ableitung der Nutzenfunktion nach der Menge. Erwerbe ich Wasser, ist die Gesamtmenge des Wassers mir sehr nützlich. Kaufe ich 77

Smith: The Glasgow edition of the works and correspondence of Adam Smith (wie Anm. 71). Bd. 2.1, Kap. 4, S. 44.

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zusätzliche Mengen Wassers, nimmt der Nutzen langsamer zu als die Menge, weil der dringlichste Bedarf schon gestillt ist. Ich werde also Wasser hinzukaufen, bis die letzte Einheit Wasser mir so viel Nutzen stiftet wie der Nutzen der letzten Einheit des Kaufguts beträgt, das ich für das Wasser hingebe. Der Preis spiegelt den niedrigen Grenznutzen, nicht den hohen Gesamtnutzen des Wassers. Die Grundlage für eine solche Grenznutzenkalkulation hatte Daniel Bernoulli in seiner Arbeit über das sogenannte St. Petersburger Paradox bereits 1738 gelegt.78 Daniel Bernoulli, einer der großen Mathematiker, mit Verdiensten auf dem Gebiet der Wahrscheinlichkeitsrechnung, hatte sich überlegt, dass die Gefahr, eine gegebene Summe bei einer Wette zu verlieren, für einen Armen schwerer wiegt als für einen Reichen. Er ging deshalb davon aus, dass der Grenznutzen eines zusätzlichen Einkommens dem Besitz umgekehrt proportional war, und durch Integration gewann er aus der so definierten Grenznutzenfunktion eine logarithmische Nutzenfunktion. Es sollte mehr als hundert Jahre dauern, bis die ersten Ökonomen diesen Gedanken aufgriffen, der zu einer Grundlage der modernen Entscheidungstheorie geworden ist und einen klaren Begriff von ökonomischer Rationalität liefert, entkleidet von den Leidenschaften, die im 18. Jahrhundert noch zur Erklärung des Wirtschaftslebens herangezogen wurden. Nur am Rande des Hauptstroms der ökonomischen Wissenschaft ist man in letzter Zeit an diesem reinen Rationalitätsbegriff irre geworden und beobachtet in von der Spieltheorie angeregten Experimenten, dass Leidenschaften auch wirtschaftliches Handeln beeinflussen können. Menschen sind z. B. bereit, auf Geld zu verzichten, wenn sie damit andere für deren unfaires Handeln bestrafen können. Adam Smith stand dazwischen. In der »Theory of Moral Sentiments« gibt es die Leidenschaften und die sie kontrollierenden Tugenden noch; im »Wealth of Nations« erscheint nur noch der Eigennutzen, aber noch nicht in kalkulierbarer Form wie bei Bernoulli und später. Diesem Übergang entspricht, dass der Gebrauchswert objektiviert und dass das Ding als Ware seiner Individualität beraubt wird. Damit verschwindet bei Adam Smith mit dem »Wealth of Nations« die konkrete Sache aus der Theorie – das ist für uns das Neue, das sich, nicht ebenso deutlich, auch bei Quesnay fand. Die Güter sind nun in homogene Klassen eingeteilt, und nur ein anonymer Markt vermittelt zwischen der Herstellung und dem Kunden. Auf der Nachfrageseite bleibt die Unterscheidung zwischen notwendigen Gütern und Luxusgütern erhalten und mit ihr das ambivalente Verhältnis des Ökonomen zum Luxus, der, insofern er Nachfrage darstellt, die Wirtschaft belebt, aber, insofern er Konsum ist, einen Verzicht auf Ersparnis, Investition und Wachstum bedeutet. In der Unterscheidung zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit ergibt sich 78

Daniel Bernoulli: Specimen Theoriae Novae de Mensura Sortis. In: Commentarii Academiae Scientiarum Imperialis Petropolitanae. Bd. V. In: Die Werke von Daniel Bernoulli, hrsg. v. David Speiser. Bd. 2, [St. Petersburg 1738] Basel 1982, S. 223–234.

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eine von den Merkantilisten bereits verwendete, von Adam Smith zur Berühmtheit gebrachte neue Unterscheidung: Produktiv ist die gewinnbringende Herstellung dinglicher Waren in privater Produktion, unproduktiv sind demgegenüber die meisten Dienstleistungen, insbesondere die Dienste, die in den aristokratischen Haushalten erbracht werden, denn sie tragen nicht zum wirtschaftlichen Wachstum bei.

11. Heinrich Friedrich von Storch: Die inneren Güter Der hohe Abstraktionsgrad der Smithschen Theorie, den David Ricardo weiter steigerte, stieß in Deutschland auf größeren Widerstand als anderswo; zwar wurde Smith auch hier als Genie gefeiert, und sein Werk bestimmte die ökonomische Diskussion, aber die deutschen Smithianer suchten nach Begriffen, um die Bedeutung von geistiger Arbeit und Bildung für die Wirtschaft zu erklären, um den Wachstumsprozess in einem nachholenden Land – denn der Rückstand gegenüber England wurde stark empfunden – zu fördern und eine eigenständige Entwicklung gegenüber dem Kosmopolitismus des von Smith vertretenen Freihandels durch Zölle zu schützen. Was den Umgang mit Dienstleistungen und geistigen Gütern betrifft, hatte bereits Schlosser,79 Goethes Schwager, vorgearbeitet, mit einer Theorie der imaginären Bedürfnisse, die er, vor Smith, in Reaktion auf die physiokratische Lehre und ihre Fixierung auf die materielle Produktion der Natur entwarf. Hier behandeln wir Heinrich Friedrich von Storchs80 Theorie der Kultur, die er im fünften Band seines Lehrbuchs entwickelte; dieses beruht auf den Vorlesungen, die für die kaiserlichen Prinzen in St. Petersburg gehalten wurden. Es sei Smith nicht gelungen, die Theorie von Produktion und Akkumulation mit der Kulturentfaltung zu verbinden. Zwar sieht Storch dazu Ansätze bei antiken Autoren und bei einigen modernen wie Herder und Iselin,81 doch fehle überall die Synthese. Smith behandele die nichtindustriellen Arbeiten als steril, so wie die Physiokraten die industrielle Arbeit, die nicht auf Landwirtschaft beruhte, als steril angesehen hatten. Das sei insoweit richtig, als außerhalb von Landwirtschaft und Industrie kein materieller Reichtum produziert werde, falsch aber, insofern aus solcher Arbeit immaterielle Reichtümer hervorgingen. Als innere Güter (»biens internes«) bezeichnet Storch immaterielle Güter der Natur und der menschlichen Arbeit, die 79

Johann Georg Schlosser: Xenocrates oder Ueber die Abgaben (1784). Hrsg. v. Rainer Klump, mit Komm. v. Hans Christoph Binswanger, Rainer Klump u. Birger Priddat. Marburg 2000 (Beiträge zur Geschichte der deutschsprachigen Ökonomie 14). 80 Heinrich Friedrich von Storch: Cours d’économie politique. Bd. V. Hrsg. v. Bertram Schefold. Hildesheim 1997. 81 Isaak Iselin: Träume eines Menschenfreundes. Basel 1776.

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nützlich sind und Gegenstände moralischen Besitzes. Er teilt sie ein in ursprüngliche und sekundäre. Die ursprünglichen sind menschliche Eigenschaften und was diese vervollkommnet, die sekundären sind Vorbedingungen der ersteren wie Sicherheit, Muße usw. Die inneren Güter haben drei Eigenschaften, nämlich Wert, worunter Storch eine Nützlichkeit versteht, sie werden angeeignet, und sie entstammen Natur und Arbeit. Sie können aber als immaterielle nicht gekauft oder verkauft werden; gehandelt wird vielmehr nur die Arbeit, die sie hervorbringt. Wer Musik lernen möchte, kann nur den Unterricht kaufen, und beim Erwerb muss der Käufer mitarbeiten, indem er zu spielen lernt. Selbst bei der Betrachtung eines Theaterstücks muss sich der Zuschauer beteiligen. Bei Storchs inneren Gütern tritt also die von Aristoteles geforderte Verbindung zwischen Herstellung und Konsum wieder auf. Storch hebt vier Bereiche heraus: »Les lumières«, welche zur Wissenschaft führen, »le goût«, der der Kunst zugeordnet wird, »les mœurs«, welche ein allgemeines Verhalten betreffen und »le culte«, den er der Religion zuordnet.82 Es ist in ihnen angelegt, daß die Dienstleistungen nur zum Teil gegen Lohn erbracht werden; »les motifs non-pécuniaires […] peuvent se réduire à trois chefs: le désir d’être estimé, celui d’être aimé, et la vertu ou le sentiment du devoir«.83 Nun folgen Seiten mit zahlreichen hübschen soziologischen Überlegungen: Der Staat bildet viele Lehrer aus, stellt entsprechend viele ein und bezahlt sie schlecht, weil es zu viele gibt. Warum sind Soldaten billig? Weil sie in schönen Uniformen paradieren dürfen und weil junge Menschen überzeugt sind, es könne ihnen nichts passieren. Auch die gens-de-lettres würden zu billig erzogen, so dass sich zu viele zum Studium drängten; Storch vermutet, es sei in der Antike anders gewesen, als jeder für sein Studium bezahlen musste und einige Weisheitslehrer dadurch reich wurden. Die Ungleichheit der Erfolge der Advokaten gleiche einer Lotterie, wo nur wenige sehr viel, die meisten sehr wenig gewinnen – es sei auch dies nicht erklärbar ohne den Glauben der Jugend an ihre Auserwähltheit. Klug habe Peter der Große an Gehältern gespart und dafür Orden verliehen. Klug sei die Beibehaltung des Adels, denn wer nicht häufige Revolutionen wolle, müsse es nützlich finden, im Staat eine Klasse von Menschen zu haben, deren Wunsch, ihre Vorrechte zu behalten, sie zu Konservativen und zu Verteidigern der staatlichen Ordnung mache. Die Ehren, welche der Staat vergebe, kosteten aber nicht etwa nichts, und zwar schon deshalb, weil sie knapp gehalten werden müssten. Storch geht dann dazu über, wie Bourdieu von der Bildung eines Kapitals an internen Gütern zu sprechen, vergleicht die Akkumulation dieses Kapitals in verschiedenen Ländern und gelangt damit zu einer Entwicklungstheorie. Die Kultur be82 83

Storch: Cours d’économie politique (wie Anm. 80). Bd. V, S. 33. Ebd., S. 39.

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einflusst auch die Industrie durch die Gewährleistung der Sicherheit, die Ausbildung des Geschmacks und die lumières,84 welchen man die Steigerung der Produktivität der Arbeit verdanke. Am Ende wendet er sich an die Prinzen: »Vous voyez, Messeigneurs, qu’une politique éclairée, qu’une religion pure et basée sur la morale, sont des conditions tout aussi nécessaires pour faire fleurir l’industrie, que ne peuvent jamais l’être les connaissances qui lui sont le plus directement utiles.«85 Ich kenne keinen anderen Text der Epoche, der sich der heutigen Debatte über die Wissensgesellschaft so sehr annähert.

12. Karl Heinrich Rau: Der deutsch-smithianische Kompromiss Karl Heinrich Rau, der erfolgreichste deutsche Lehrbuchautor in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hat in seinem ab 1826 erschienenen Werk die weit über seine eigene Lebenszeit hinausreichende Synthese geschaffen, indem er an einen Band mit der klassisch-smithianischen ökonomischen Theorie einen zweiten über die wirtschaftspolitischen Lehren, die noch immer stark kameralistisch beeinflusst waren, anschloss und schließlich einen dritten über die Finanzwissenschaft folgen ließ, in dem die alte Lehre von den Ausgaben und Einnahmen des Staates in eine modernere Form gegossen wurde. Diese deutsche Finanzwissenschaft hatte auf die europäische bis ins 20. Jahrhundert erheblichen Einfluss. Rau beginnt mit dem Volksvermögen und seinen Bestandteilen, das er auf die »sachlichen Güter« eingrenzt – persönliche kommen nicht als Bestandteile des Volksvermögens in Betracht, obwohl es sich bei diesen um »Umstände, die auf die Größe desselben mächtigen Einfluß ausüben« handelt, und obwohl die persönlichen Güter als Zwecke angesehen werden können; die sachlichen sind nur »Hilfsmittel für das menschliche Leben« – auf die andersartige Synthese Storchs wird verwiesen.86 Rau übernimmt die doppelte Wertbestimmung von Adam Smith nach Tauschwert und Gebrauchswert; er tadelt, dass Smith den Gebrauchswert nicht weiter verfolgte.87 Rau deutet den Gebrauchswert vom Subjekt her. So wird jene Denkrichtung eingeleitet, die schließlich in die Neoklassik mündet. Wenn der Wert subjektiv ist, braucht auch der Gebrauchswert nicht mehr gesellschaftlich definiert zu werden. Zwei nicht ganz homogene Güter sind substituierbar, wenn der Konsument diese Substituierbarkeit annimmt. Der Begriff des Gebrauchswerts verliert damit seine alte gesellschaftliche

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Ebd., S. 355. Ebd., S. 362. 86 Karl Heinrich Rau: Lehrbuch der politischen Ökonomie. ND der Ausg. Heidelberg 1826, 1828, 1832 u. 1837. Hildesheim 1997, hier Bd. 1, S. 35. 87 Ebd., Bd. 1, S. 45. 85

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Bestimmtheit und wird subjektiv. Das Urteil jedes Einzelnen über den Wert ist für andere unerforschlich, außer soweit es sich in den Preisen kundtut. Soweit die Menschen in ihren Urteilen übereinstimmen, kann dann von einem allgemeinen Wert gesprochen werden, aber dieser Begriff wird nicht näher präzisiert.88 Rau folgt der smithschen Beschreibung der Arbeitsteilung, welche die Fertigkeit der Arbeiter durch Gewöhnung steigert bis hin zu Veränderungen des menschlichen Körpers, unter fortdauernder Richtung des Verstandes auf die besondere Arbeit. Er bringt ein schauerliches Beispiel für das Ergebnis: »Die in den Nähnadelfabriken mit dem Einschlagen der Öhre beschäftigten Kinder sind so flink, dass sie durch das feinste Haar ein Loch zu schlagen und ein anderes Haar durchzuziehen vermögen.«89 Ausführlicher als Smith geht er auf die Vorteile der Maschinen ein. Sie bringen ein größeres Erzeugnis hervor, als man sonst erhalten könnte, manchmal auch ein besseres, sie können bedient werden durch einfache Arbeit, so dass Menschen höherer Fähigkeiten sich anderem zuwenden dürfen, und sie nehmen den Menschen ungesunde und beschwerliche Arbeit ab. Der Absatz muss freilich dem Kapitalaufwand entsprechen, und Rau nähert sich neoklassischen Überlegungen, wenn er fragt, was die Höhe dieses Absatzes bestimme. Das schließt eine wohlwollende Behandlung des Handwerks keineswegs aus. Historische Überlegungen zu seiner Entstehung und Entwicklung weisen auf die detaillierteren Untersuchungen der historischen Schule im nachfolgenden Jahrhundert voraus. Ein Land, dessen Gewerbe blüht, wird eine schnelle Zunahme der Volksmenge erleben; es folgt also die Bevölkerung der Beschäftigungssteigerung, diese der Produktion und die Produktion der auch aus dem Ausland kommenden Nachfrage. Er erinnert an die Förderung der Beschäftigung im Gewerbe durch das Verlagssystem, namentlich in Gebirgsgegenden, mit einer Beschreibung, die an Goethes »Wilhelm Meister« erinnert. Er meint, es sei besser, wenn die Landwirtschaft als Nebenerwerb der »Werke« auftrete als umgekehrt.90 In dieser Berufskombination sei die geringere Ausbildung der Arbeitsteilung nachteilig, vorteilhaft aber die höhere Einkommenssicherheit bei Missernten oder Absatzkrisen. Auch sei die Verbindung landwirtschaftlicher und handwerklicher Arbeit für das körperliche Wohlbefinden zuträglich. Diese Aufmerksamkeit für das Wohlergehen der Arbeiter findet sich in der deutschen Diskussion immer wieder, bis hin zum Ordoliberalismus und seiner »Vitalpolitik«.91 So stoßen wir bei Rau denn auch auf eine differenzierte Einschätzung der relativen Vor- und Nachteile von Handwerk und Manufaktur. Die wirtschaftlichen Vorteile der Manufakturen sind im Ganzen die bekannten. Die Vorteile des Handwerks be88

Ebd., S. 47. Ebd., S. 78. 90 Ebd., S. 320. 91 Wilhelm Röpke: Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart. (Klassiker der Nationalökonomie), mit Kommentarband: Vademecum. Hrsg. v. Bertram Schefold. Düsseldorf 2002 89

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ruhen auf der besseren Lage der Meister, die sich mehr Bildungsmittel verschaffen können als Lohnarbeiter, die eher etwas zurücklegen und ihre Kinder besser erziehen. Die Existenz vieler kleiner handwerklicher Unternehmen sei nützlicher als die nur weniger bei vielen Lohnarbeitern. Er führt eine Statistik aus Württemberg an, wonach dort 75 % der Handwerker Meister waren, Gesellen 19 % und Lehrlinge 6 %; wir können daraus schließen, dass jeder einmal Meister wurde. Dagegen kämen etwa in der Kurmark auf eine Tabakfabrik 57 Arbeiter – Rau ahnt die Probleme der Proletarisierung. Zu den Gründen, weshalb das Handwerk ins Hintertreffen gerät, zählt er nicht nur die Maschinen, die Arbeitsteilung und neue Erfindungen, sondern auch die wissenschaftliche Leitung der Fabriken. Überall dort, wo diese Vorteile wegfielen, könnten sich die kleinen Handwerksmeister halten. Das sei durchaus möglich, denn die Fabriken lieferten massenhaft gleichartige Waren, die nicht der Nachfrage der Einzelnen angepasst sei, und trotz der langsamen, unaufhaltsamen Wirkung der »Kapitalanhäufung« könnten sich Handwerker wie die Schneider wegen ihrer Anpassung an die Kunden und Handwerker wie die Maurer wegen des lokalen Bedarfes halten, und selbst so typische Fabrikprodukte wie Uhren bedürften ergänzend des Uhrmacherhandwerks zur Reparatur. So sieht Rau eine mögliche komplementäre Entwicklung der verschiedenen Produktionsformen. Dass die Maschinen Handarbeit ersetzten und dadurch Arbeitslosigkeit schüfen, verkennt er nicht, aber er bringt die Argumente vor, die man unter dem Begriff der »Kompensationstheorie« zusammenfasst: die Käufer der billigeren Maschinenprodukte sparen Ausgaben, die sie auf anderes verwenden, wodurch neue Beschäftigungen entstehen; die Maschinen seien deshalb »im Ganzen der arbeitenden Classe nicht schädlich«.92 Wenn ein Volk sie nicht einführen will, werden die Nachbarländer sich das zu Nutze machen. Die Gleichartigkeit der Fabrikwaren wird festgestellt, aber nicht bedauert, denn wo der Konsument sie nicht wünscht, erhalten sich die Handwerker. Auch diese Hoffnung, durch die bürgerliche Zahlungsbereitschaft für handwerkliche Qualität die Proletarisierung in Grenzen halten zu können, spielt im Ordoliberalismus im 20. Jahrhundert in Deutschland noch eine wesentliche Rolle.

13. Schlussfolgerungen Die Ergebnisse unserer Untersuchungen lassen sich im Rahmen der Weberschen Rationalisierungsthese bequem zusammenfassen. Aristoteles bringt die Normen einer traditionsorientierten Gesellschaft in der Herstellung der Gebrauchsgüter zum Ausdruck: So wie der Schäfer für seine Schafe sorgen soll, hat der Handwerker seine 92

Rau: Lehrbuch der politischen Ökonomie (wie Anm. 86). Bd. 1, S. 326.

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Kunden zu bedienen. Die Scholastik fragt nach dem gerechten Preis, hat zwar zu seiner quantitativen Bestimmung eigentlich nicht viel zu sagen, aber besteht darauf, dass der Verkäufer ehrlich bleibe; sie verweist damit auf die Handwerkspflicht, gut und gemäß den Normen der Zünfte zu produzieren. Der frühe Kameralist Klock freut sich an der Vielfalt der Handwerke und lässt das Handwerk in die Kunst übergehen. Dem Fürsten legt er die Pflicht auf, die Handwerksordnung zu erhalten und Missbräuche derselben zu verhindern. Justus Möser will diese Ordnung bewahren, erkennt aber die Notwendigkeit, den Manufakturen einen Spielraum zu geben und die Beschränkung der Zahl der Gesellen des einzelnen Meisters zu lockern. Die Wendung der Aufklärung sahen wir deshalb bei Quesnay, der die ökonomische Produktion als ein rationales, quasi mechanisches System versteht, das von der materiellen Produktion der Natur (in der Landwirtschaft) getragen wird; der Manufaktur und dem Handwerk wird nur die Fähigkeit, die Form der Materie zu ändern, zugebilligt; sie fügt deshalb auch keinen Wert hinzu. Das bestreitet Smith und lässt alle unter dem Gewinnziel organisierte Herstellung dinglicher Waren unter gesteigerter Arbeitsteilung produktiv sein. Die Homogenisierung nicht nur der Waren, sondern auch der Arbeitsprozesse durch die Arbeitsteilung wird – aber das hat erst Babbage93 wirklich erkannt – zur Grundlage der Mechanisierung, weil erst der vereinfachte Arbeitsprozess durch die Operation einer Maschine ersetzt werden kann. Storch, nicht zufrieden mit der smithschen Behandlung der Dienstleistungen als unproduktiv, geht über zu einer Produktion der inneren Güter und gewinnt so die Basis für eine soziologisch orientierte Kulturtheorie, aber wie in den modernen Theorien der Wissensökonomie94 genügt nun die einfache und klare klassische Werttheorie zur Erklärung nicht mehr; Kauf und Verkauf von Wissen lässt sich nicht behandeln wie Kauf und Verkauf von Waren. Die neoklassische Theorie beschränkt sich dann wieder auf den Gütertausch aufgrund einer subjektiven Bewertung derselben; der Begriff eines gesellschaftlich bestimmten Gebrauchswerts tritt zurück. Max Weber hat Mengers subjektive Wertlehre als Inbegriff moderner Rationalität interpretiert. Die Verengung des Lebens auf die Erfüllung der durch das ökonomische System zugeteilten Rollen reduziert die Widersprüche, in denen der Mensch in den entwickelten Kulturen sonst lebte, und erleichtert eine konsistente subjektive Bewertung der Waren, also der Einschätzung ihres Nutzens für das durch die Rollenerfüllung vereinfachte eigene Leben. Weber sah die Rationalisierung, die sich 93

Charles Babbage: On the Economy of Machinery and Manufactures. Düsseldorf 1992 (Klassiker der Nationalökonomie); Bertram Schefold: Charles Babbage zum Geleit. In: Vademecum zu einem Klassiker der Theorie der Arbeitsteilung. Komm. zur Faks.-Ausg.: Charles Babbage: On the Economy of Machinery and Manufactures. Düsseldorf 1992 (Klassiker der Nationalökonomie), S. 5–28. 94 Bertram Schefold: Wissen als ökonomisches Gut. In: Wissenskulturen. Über die Erzeugung und Weitergabe von Wissen. Frankfurt a. M. 2009, S. 79–102.

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nicht nur im Bereich des Konsums, sondern auch der Produktion, der Gesetzgebung und in anderen Bereichen bei der Entstehung des modernen Kapitalismus vollzog, nicht nur als Fortschritt, sondern auch als Verarmung. Die konservativen Autoren wie Möser suchten diesen Rationalisierungsprozess zu verlangsamen und den älteren gesellschaftlichen Kräften ihre Geltung zu lassen; der deutsche Liberalismus, wie ihn Rau verkörpert, hielt und hält ein Nebeneinander unter geeigneten Bedingungen für möglich. Die moderne Soziologie fasst nun die irrationalen Kräfte wieder ins Auge, aber ein Baudrillard ist weit davon entfernt, einer traditionellen, normintegrierten Gesellschaft das Wort zu reden. Einerseits unterliegt seinem Diskurs die Marxsche Vorstellung, der Kapitalismus vermittle durch den Markt nicht die gerechte Entlohnung der Produzenten und ermögliche die ihnen mit diesen Mitteln angenehmste Versorgung durch Konsumgüter, sondern es handele sich um einen Ausbeutungsprozess, der von Gewinninteressen gelenkt wird, welche die Konsumenten durch ihre Wahlakte nicht wirksam kontrollieren. Aus der chrematistischen Orientierung zum Geld Einzelner bei Aristoteles wird bei Marx die Unterwerfung des ganzen Systems unter die Jagd auf den Mehrwert. Andererseits dient der Konsum auch nicht der Entfaltung des Einzelnen, dem der Produzent hilft, indem er das für ihn Passende gestaltet, sondern der Konsument wählt, hin und her gerissen zwischen verschiedenen Standpunkten, aus einer nicht für ihn individuell hergestellten, sondern ihm vorgegebenen Warensammlung mit wechselhafter Willkür, was ihm gut scheint, um andere zu beeindrucken. Sein Repräsentationsbedürfnis ist nicht fröhlich wie bei Galiani, sondern es ist zwanghaft geworden, häufiger stereotyp, manchmal erratisch. Wer hat recht? Man kann die Frage zu beantworten suchen, indem man empirisch danach fragt, wie die Anderen leben. Wie das Nebeneinander der universitären Disziplinen und ihrer Ergebnisse beweist, kommt man auf diesem Wege zu recht unterschiedlichen Ergebnissen. Nach zu Glaubensinhalten gewordenen Hypothesen arbeiten die Ökonomen mit rational kalkulierenden, die Soziologen mit zwischen gegebenen Werten und eigenen Setzungen schwankenden Konsumenten. Eine andere Möglichkeit ist die Rückbesinnung auf die eigene Erfahrung. Auch da wird man finden, dass es viele Möglichkeiten gibt, sich einzurichten. Aber wenn das so ist, kann man, im Verbund mit anderen, verantwortlich wählen, und dass wir die Freiheit haben, dies zu tun, ist die positive Konsequenz aus der sonst auch bei der Frage nach den »Sachen« ambivalenten Aufklärung.

Peter Schnyder (Neuchâtel) Aufklärung als Glückssache? Zu einer Wissensgeschichte des Hasardspiels im 18. Jahrhundert

Am 13. Dezember 1820 kam es in Leipzig zu einer literaturgeschichtlich bedeutsamen Begegnung. An jenem Wintertag erhielt Friedrich Arnold Brockhaus, der Gründer des gleichnamigen Verlags, Besuch von einem Herrn Gentzel, der ihm im Auftrag eines gewissen Carlo Angiolini ein Manuskript von mehreren tausend Seiten anbot. Dieser Angiolini war der Großneffe von Casanova, und das umfangreiche Manuskript war nichts anderes als die damals noch unveröffentlichte Autobiographie des berühmtesten Libertins des 18. Jahrhunderts.1 Casanova hatte dieses unvollendete Werk 1798 bei seinem Tod im nordböhmischen Dux hinterlassen, doch seine Erben hatten lange nicht gewusst, was sie damit machen sollten. Nun also wurde es Brockhaus – man ist versucht zu sagen: ausgerechnet Brockhaus – zum Kauf angeboten, und der Leipziger Verleger ging auf das Angebot ein. Was er allerdings mit den in französischer Sprache verfassten Memoiren Casanovas genau machen sollte, war ihm noch unklar. So zog er einen Literaturfachmann zur Beurteilung des Manuskripts bei, und zwar nicht irgendeinen, sondern den damaligen Experten schlechthin: Ludwig Tieck. Und der war nach der Lektüre erster Auszüge begeistert, wie aus einem Brief vom 26. März 1821 an Brockhaus hervorgeht: »Für die Mittheilung des Casanova herzlichen Dank. Hätt’ ich nur noch mehr, und Alles im Zusammenhang lesen können. Der Mensch ist gantz verrucht, aber sein Leben und die Art es darzustellen, höchst anziehend. Ich thäte gern etwas für dieses Buch, […].«2 Er riet also zu einer Veröffentlichung. Zugleich hatte er allerdings auch Bedenken, wie die Fortsetzung seines Briefes zeigt: »Vieles ist für uns Deutsche, ja vielleicht für jeden Menschen gar zu arg.« Das Manuskript, für das Tieck, wie er selbst mit schlechtem Gewissen bemerkt, »eine fast zu große Vorliebe«3 hatte, konnte deshalb seines Erachtens nur zensiert publiziert werden, und so erhielt Brockhaus’ erster Casanova-Übersetzer Wilhelm Schütz entsprechende Weisungen.4 Trotz dieser Vorsichtsmaßnahme sorgte 1

Erich Loos: Einleitung des Herausgebers. In: Giacomo Casanova: Geschichte meines Lebens. Hrsg. v. Erich Loos. Erstmals nach der Urfassung ins Deutsche übers. v. Heinz von Sauter. Berlin 1985 [1964]. Bd. 1, S. 37–62, hier S. 39. 2 Aus Tiecks Novellenzeit. Briefwechsel zwischen Ludwig Tieck und F.A. Brockhaus. Hrsg. v. Heinrich Lüdeke von Möllendorff. Leipzig 1928, S. 14. 3 Ebd., S. 15. 4 Erste Auszüge erschienen unter dem Titel Ausstellungen aus den Reisen und Abentheuern von Jean-Jacques Casanova de Seingalt. Nach dem in französischer Sprache geschriebenen Original-Ma-

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die erste Ausgabe der Casanova-Memoiren aber für viel Wirbel, vor allem natürlich wegen der darin geschilderten Liebesabenteuer. In der Tat liest sich das Werk wie eine Enzyklopädie der Verführung. Doch Casanovas Autobiographie erschöpft sich nicht in pikanten Erotica. Vielmehr wird in ihr, wie schon Tieck begeistert bemerkte, ein einzigartiges Panorama aller Aspekte des menschlichen Lebens im 18. Jahrhundert entfaltet. Hier wird die rational-sinnliche Janusköpfigkeit dieses Jahrhunderts in vielen Facetten anschaulich, und die »Sachen der Aufklärung« treten einem in allen möglichen Varianten entgegen – nicht zuletzt auch diejenige Sache, die im Zentrum der folgenden Ausführungen steht: das Glücksspiel. Liest man Casanovas Memoiren, wird paradigmatisch klar, wie wichtig das Hasardspiel für die kulturelle Physiognomie der Aufklärung ist, und in den unzähligen Schilderungen von Karten- und Würfelspielen sowie von Lotterien wird auch deutlich, dass diese aufklärerische Glücksspielkultur keineswegs nur die Angelegenheit einer marginalen Gruppe von notorischen Libertins und dekadenten Aristokraten, sondern ein zentrales Element der Kultur des 18. Jahrhunderts war. Sie war jedenfalls so zentral, dass das Hasardspiel zweifellos einen Eintrag in allen Nachschlagewerken zur Aufklärung verdient hätte. Schaut man freilich in einigen der einschlägigen Werke nach, wird man enttäuscht. So findet sich weder in Werner Schneiders Lexikon der Aufklärung von 1995, noch in der von Alan Charles Kors herausgegebenen Oxford Encyclopedia of the Enlightenment von 2003, noch in der aktuellsten Ausgabe von Michel Delons Dictionnaire des lumières von 2007 ein Eintrag zum Glücksspiel (und übrigens auch keiner zum allgemeineren Begriff des Spiels). Zur Verteidigung dieser auffälligen Lücke könnte nun vielleicht vorgebracht werden, in ein Lexikon der Aufklärung sollten nur Sachen (im Sinne von Phänomenen der Sachkultur) aufgenommen werden, die tatsächlich etwas mit der Sache der Aufklärung (im Sinne von deren Anliegen) zu tun haben. D. h., es würde zwar unter Umständen konzediert, dass das Glücksspiel als kulturelle Praxis im 18. Jahrhundert sehr verbreitet war, doch ein tiefergehender Zusammenhang dieser kulturellen Erscheinung mit den programmatischen Anliegen der Aufklärung würde verneint. Wie soll denn auch die irrationale Praxis des Spiels etwas mit den höheren Zielen der Aufklärung zu tun haben? Die konkrete Sache des Spiels scheint wirklich nicht mit der Sache der Aufklärung in Zusammenhang gebracht werden zu können. – Oder vielleicht doch? – Im Folgenden wird es genau darum gehen zu zeigen, wie eng und vielfältig die Sache des Glücksspiels mit der Sache der Aufklärung verwoben ist; oder zugespitzter formuliert: zu zeigen, inwiefern die Sache der Aufklärung auch eine Glücks-Sache ist. Dabei wird es nun (I.) darum gehen, das Glücksspiel definitorisch nuscript bearbeitet von Wilhelm Schütz. In: Urania. Taschenbuch auf das Jahr 1822, Neue Folge, 4 (1822), S. 261–371. – In den Jahren 1822 bis 1828 erschien dann die erste »bearbeitete« Gesamtausgabe der Memoiren in zwölf Bänden bei Brockhaus.

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von anderen Spielen, die ebenfalls zu den Sachen der Aufklärung gehören, abzugrenzen, um dann (II. und III.) unter den Stichworten des »ökonomischen Wissens« und des »anthropologischen Wissens« nach der Relation des Glücksspiels zu den Anliegen der Aufklärung zu fragen. Abschließend wird der Versuch unternommen, die gemachten Beobachtungen und aufgestellten Thesen (IV.) noch einmal zusammenfassend zu bündeln.5

I Spricht man in einem konkreten Sinne von Spielsachen, d. h., spricht man z. B. von Puppen und Bauklötzen, denkt man an harmlose Kinderspiele ohne bestimmte Regeln. Diese Spiele, in denen nachahmend gleichsam der Ernst des Lebens eingeübt wird, haben einen offensichtlichen pädagogischen Wert und lassen sich gut für die aufklärerische Sache fruchtbar machen. Wie steht es aber mit den Spielen der Erwachsenen? Will man sich diesem weiten Feld annähern, empfiehlt es sich, die Spiele mit Roger Caillois nach vier verschiedenen Typen zu ordnen. Nach ihm gibt es erstens die Wettkampfspiele (Typus »agon«), zweitens die Glücksspiele (Typus »alea«), drittens die Darstellungsspiele (Typus »mimicry«) und viertens die Rausch- und Schwindelspiele, zu denen beispielsweise der Tanz gehört (Typus »ilinx«).6 Fragt man nun aber nach den Relationen, in denen diese verschiedenen Spieltypen zur Sache der Aufklärung stehen, ergeben sich sehr unterschiedliche Antworten: Die agonalen Spiele lassen sich ohne größere Probleme in ein rationales Fortschrittsprogramm integrieren, und auch die Darstellungsspiele können – wie man nicht nur aus Schillers Schaubühnen-Aufsatz weiß – für aufklärerische Anliegen fruchtbar gemacht werden. Ein bisschen schwieriger ist dies bei den Spielen des Typus »ilinx«, doch in der Anthropologie der Aufklärung hatten beispielsweise harmlose Tanzvergnügen durchaus ihren legitimen Stellenwert. Der Zusammenhang der Glücksspiele aber mit der Sache der Aufklärung ist eine vertracktere Angelegenheit, denn eine Praxis, die vom Wirken des Zufalls geprägt ist, scheint kaum mit einer Kultur vereinbar zu sein, die ganz im Zeichen der Idee einer selbstbestimmten Ordnung steht.7 Und da Glücks5 In den folgenden Ausführungen greife ich auch auf Überlegungen zurück, die ich ausführlich dargestellt habe in Peter Schnyder: Alea. Zählen und Erzählen im Zeichen des Glücksspiels 1650–1850. Göttingen 2009. 6 Roger Caillois: Les jeux et les hommes. Le masque et le vertige. Paris 1958, S. 47. 7 Die Bedeutung des Zufalls in den Glücksspielen führte auch dazu, dass diesen in Schillers Spieltheorie in der Abhandlung Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) keine Bedeutung zukam. Noch im 20. Jahrhundert sprach Huizinga, in dieser Tradition stehend, den Hasardspielen jeden kulturellen Wert ab. Vgl. Johan Huizinga: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Hamburg 1997 [1938], S. 58.

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spiele eigentlich immer um Geld gespielt wurden, konnten sie auch nicht mit dem anthropologischen Argument legitimiert werden, der Mensch müsse sich von Zeit zu Zeit vom Ernst des Lebens erholen, denn wer beim Spiel sein Geld verlor, konnte in ernsthafte Probleme geraten. Die vermeintliche Symmetrie von Ernst und Spiel konnte sich hier in drastischer Weise als Asymmetrie erweisen – und doch eröffnet gerade der Umstand, dass die Glücksspiele um Geld gespielt wurden, einen ersten Blick auf einen Zusammenhang der Hasardspiele mit der Sache der Aufklärung; einen Zusammenhang, der hier unter dem Stichwort »ökonomisches Wissen« näher in den Blick genommen werden soll.

II Die Gefahren des Glücksspiels um Geld wurden in einer Fülle von moraltheologischen und aufklärerischen Schriften heraufbeschworen, und auch in der Literatur im engeren Sinne wurden die Abgründe der Spielerexistenz in immer neuen Varianten durchgespielt. Zugleich rückten im 18. Jahrhundert aber (in Ansätzen bereits früher entwickelte) Möglichkeiten in den Blick, wie man über die kontrollierte Durchführung von Glücksspielen Geld für den Staat generieren kann, sei es nun zur Finanzierung von Kriegen oder von Waisenhäusern. Was also einerseits in einem moralisch zweifelhaften Licht erschien, konnte andrerseits für den (mehr oder weniger) aufgeklärten Staat fruchtbar gemacht werden, womit sich eine spannungsvollwidersprüchliche Grundkonstellation herausbildete, die bis heute den politisch-gesellschaftlichen Umgang mit dem Glücksspiel prägt. Zur Illustration dieser ambivalenten Haltung gegenüber Lotterien im 18. Jahrhundert ließen sich unzählige Beispiele anführen, von denen hier nur zwei herausgegriffen seien: Ein erstes findet sich zu Beginn des Jahrhunderts bei Daniel Defoe, der in seinem Essay upon Projects vorschlug, das aufklärerische Projekt einer Anstalt für geistig Behinderte durch eine Lotterie zu finanzieren oder, wie er die Ambivalenz der Sache rhetorisch geschickt auf den Punkt bringend formulierte, »to maintain Fools out of our own Folly.«8 Als zweites Beispiel dafür können, am anderen Ende des Jahrhunderts, die einschlägigen Diskussionen während der Französischen Revolution genannt werden. Denn viele Revolutionäre lehnten Lotterien und Glücksspiele ab, doch als sie erkannten, wie viel Geld sich damit machen ließ, änderten sie bald ihre Meinung; so besonders prominent Louis Sébastien Mercier, der noch wenige Jahre zuvor in seinem Tableau de Paris für die Abschaffung der Hasardspiele plädiert

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Daniel Defoe: An Essay upon Projects [1697]. In: Ders.: Political and Economic Writings. Hrsg. v. William R. Owens, Philip Nicholas Furbanks. Bd. 8. London 2000, S. 27–142, hier S. 94.

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hatte, nun aber, als Mitglied des Nationalkonvents, mit Verve dafür eintrat, »die Spielleidenschaft der Franzosen« für die Sanierung der Staatsfinanzen zu nutzen.9 An solchen Beispielen zeigt sich, wie die Sache des Glücksspiels ökonomisch für die Sache der Aufklärung fruchtbar gemacht wurde. Doch damit ist erst eine Verbindung zwischen Hasardspiel und Aufklärung in oeconomicis benannt. Eine anders gelagerte und viel grundlegendere wird sichtbar, wenn man sich vergegenwärtigt, in welchem Maße das politisch-ökonomische Denken der Aufklärung von der Wahrscheinlichkeitsrechnung geprägt war, die erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts im Zusammenhang mit Untersuchungen zur Chancenverteilung in Glücksspielen entwickelt worden war. Die Wahrscheinlichkeitstheorie, die zu den zentralen Errungenschaften der Aufklärung gehört und den Umgang mit dem Zufall grundlegend verändert hat, ging also aus Betrachtungen über das Hasardspiel hervor, womit sich eine überraschende und reizvolle Verbindung zwischen dem Bereich der ernsten Wissenschaft und dem Bereich des frivolen Spiels ergibt; eine Verbindung, die Pierre Simon de Laplace 1814, im Rückblick auf 150 Jahre Wahrscheinlichkeitstheorie, bemerken ließ: »Es ist staunenswert, daß eine Wissenschaft, die mit der Betrachtung der Spiele begann, sich zu den wichtigsten Gegenständen der menschlichen Erkenntnis erhoben hat.«10 Damit legte er den Finger auf den zunächst irritierenden Umstand, dass eine der wichtigsten wissenschaftlichen Revolutionen ausgerechnet von der Untersuchung eines Phänomens ausgegangen ist, das, zumal zur Zeit der Pioniere der Glücksspielrechnung im ausgehenden 17. Jahrhundert, zu einer Lebenssphäre gehörte, die der ernsten Welt der Wissenschaft denkbar fremd war: Das Glücksspiel erschien in moraltheologischer Perspektive in höchst zweifelhaftem Licht, und zudem ging es dabei um Ereignisprozesse, die sich jeder strengen aristotelischen scientia definitionsgemäß zu entziehen schienen. Hier herrschte die im eigentlichen Sinne unberechenbare Fortuna offenbar unumschränkt. Als sich deshalb mit Pascal und Fermat um 1650 die ersten Mathematiker erfolgreich bestimmten Spiel-Problemen zuwandten, trafen zwei ganz unterschiedliche Welten aufeinander.11 Es war, als setzte 9

Vgl. einerseits Louis Sébastien Mercier: Tableau de Paris. Nouvelle édition. Bd. 2. Amsterdam 1783–88, S. 311–315 u. Bd. 3, S. 231–234; andererseits Louis Sébastien Mercier: Motion d’ordre et discours sur le rétablissement d’une loterie nationale. Paris an V [1796], S. 4. An letzterer Stelle heißt es mit wünschenswerter Deutlichkeit: »Faire servir la passion des Français pour les jeux de hasard à la restauration de nos finances, & par ce moyen retenir beaucoup d’argent en France, voilà l’ouvrage de l’homme d’état.« 10 Pierre Simon de Laplace: Philosophischer Versuch über die Wahrscheinlichkeit [1814]. Übers. v. H. Löwy. Hrsg. v. R. von Mises. Thun, Frankfurt a. M. 1996 [nach der 5. Aufl. v. 1825], S. 170. 11 Vgl. dazu Ian Hacking: The Emergence of Probability. Cambridge 22006 [1975]. In breiterem kultur- und literaturwissenschaftlichem Sinne werden die Implikationen dieser Emergenz behandelt in den folgenden beiden wichtigen Studien: Thomas M. Kavanagh: Enlightenment and the Shadows of Chance. The Novel and the Culture of Gambling in Eighteenth-Century France.

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sich die Vernunft mit dem Inbegriff ihres »Anderen« an einen Tisch, – an einen Spieltisch. Wissenschaft und Zufall wurden nun in einer zuvor undenkbaren Weise zusammengebracht, weshalb Pascal meinte, der von ihm geprägte Name der neuen mathematischen Disziplin – »aleae geometria« oder »Geometrie des Zufalls«12 – werde die Leute wohl sehr überraschen. Dieser Name sei ein »stupendus titulus«,13 wobei »stupendus« daran war, dass sich hier eben die Sache der Aufklärung als eine Sache des Glücksspiels erwies. Konnte das sein? – Wie aus den auch unter dem Gesichtspunkt der Rhetorik höchst interessanten Vorworten der frühen Arbeiten zur Glücksspielrechnung im 17. Jahrhundert hervorgeht, glaubten deren Autoren immer, sich für ihre Studien rechtfertigen und sie vom Vorwurf der Frivolität freihalten zu müssen. Und auch noch hundert Jahre später lässt sich dieser Legitimationsdruck ausmachen, wenn beispielsweise der Artikel »Jouer« in der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert nach langen begeisterten Ausführungen zur Glücksspielrechnung schließlich in die apologetische Quintessenz mündet, man sehe an der Komplexität dieser Materie, dass der »esprit du jeu« nicht so verachtenswert sei, wie man gemeinhin glaube.14 Und die Spiel-Materie war nicht nur komplex, sondern auch überaus nützlich für alle möglichen Lebenszusammenhänge, wie spätestens seit Jakob Bernoullis Jahrhundertwerk Ars conjectandi von 1713 deutlich geworden war. In dieser Mutmaßungskunst behandelt Bernoulli zunächst in drei Hauptteilen mit neuer Gründlichkeit Glücksspielprobleme, bevor er sich in dem überaus folgenreichen vierten Hauptteil der Anwendung der Glücksspieltheorie auf »bürgerliche, sittliche und wirtschaftliche Zusammenhänge [in civilibus, moralibus & oeconomicis]« zuwendet. Hier zeigt Bernoulli, wie die unterschiedlichsten Phänomene des menschlichen Lebens nach dem Modell des Glücksspiels konzeptualisiert und dadurch tatsächlich der Berechnung zugänglich gemacht werden können. Waren zuvor, etwa in der Logik von Port-Royal, bloß Hinweise auf eine mögliche Übertragung des Spielmodells auf das Leben gegeben worden,15 so bot Bernoulli nun wirklich eine mathematisch tragfähige Lösung für die Berechnung von aposteriorischen Wahrscheinlichkeiten, d. h. von EreignisWahrscheinlichkeiten in offenen Systemen, deren Entwicklungsoptionen nicht a pri-

Baltimore, London 1993; Rüdiger Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist. Göttingen 2002. 12 Blaise Pascal: Celeberrimae Matheseos Academiae Parisiensi. In: Ders.: Œuvres complètes. Hrsg. v. Michel Le Guern. Bd. 1. Paris 1998, S. 169–173, hier S. 172. Alea heißt zunächst »Würfel«, dann ist es der Name eines bestimmten Spiels und schließlich heißt es, wie hier, in seiner abstraktesten Wendung, »Zufall«. 13 Ebd. 14 Denis Diderot, Jean le Rond d’Alembert: Encyclopédie. Bd. 8. Paris 1751 ff., S. 888. 15 Vgl. dazu die vier letzten Kapitel in Antoine Arnauld und Pierre Nicole: La Logique ou l’Art de Penser. Paris 51683 [1662].

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ori abschließend aufgezählt werden können wie in einem Glücksspiel. Stolz verkündete er, dass durch seine Arbeit nun alle zufallsabhängigen Prozesse im menschlichen Leben ebenso »wissenschaftlich [scientifice]« untersucht werden könnten »wie bei den Glücksspielen [in ludis aleae]«.16 Damit war für das 18. Jahrhundert das weite Feld einer quantifizierenden Statistik und eines mathematisch unterfütterten Versicherungswesens zumindest potentiell erschlossen. Bis zur tatsächlichen, praktischen Umsetzung der neuen theoretischen Erkenntnisse Bernoullis dauerte es zwar oft noch Jahrzehnte.17 Aber für viele Aufklärer zeichnete sich bereits ab, welcher Nutzen aus der Anwendung der Glücksspielrechnung auf die Gesellschaft gezogen werden konnte, und gegen Ende des Jahrhunderts schwärmte z. B. Condorcet: Welchen Gebrauch hat nicht die politische Ökonomie von derartigen Berechnungen bei der Aufstellung von Lebensrenten, Leibrenten, der Einrichtung von Sparkassen und Wohlfahrtskassen, von Versicherungsanstalten jeder Art gemacht! Und ist die Anwendung des Kalküls nicht auch für jenen Teil der politischen Ökonomie vonnöten, der die Theorie der Maße, des Geldes, der Banken, der Finanzoperationen umfaßt?18 Mit dem Glücksspielkalkül ließ sich, wie Condorcet glaubte, eine unerschöpfliche »Quelle der Aufklärung« erschließen.19 Alles konnte im Zeichen der neuen probabilistischen Vernunft nach seiner quantifizierbaren Ereigniswahrscheinlichkeit geordnet werden, und damit hielt der »esprit du jeu« in nachhaltigster Art und Weise Einzug in den Geist der Aufklärung; was, wie so oft, niemand deutlicher erkannte als die Gegner dieser Entwicklung. So meinte beispielsweise Edmund Burke in seinen Reflections on the Revolution in France, mit der aufklärerischen politischen Ökonomie hätten »der Geist und die Symbole des Glücksspiels« – »the spirit and symbols of gambling«20 – alle Lebensbereiche durchdrungen. Werden aber in der geschilderten Art und Weise alle möglichen Lebenszusammenhänge nach dem Modell des Glücksspiels konzeptualisiert, sieht sich das aufgeklärte Subjekt in die Position eines Spielers gerückt, der immer wieder neu Chancen und Risiken seiner nächsten Lebensspielzüge abschätzen muss; und diese paradigmatische Rolle des Spielers wird auch immer wieder hervorgehoben, sei es nun bei Leib16

Jakob Bernoulli: Ars conjectandi. In: Die Werke von Jakob Bernoulli. Hrsg. v. der Naturforschenden Gesellschaft in Basel. Bd. 3. Basel 1969 ff. [1713], S. 107–286, hier S. 249. 17 Lorraine Daston: Classical Probability in the Enlightenment. Princeton 1988, S. 36 f. 18 Marie-Jean-Antoine-Nicolas Caritat de Condorcet: Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes. Hrsg. u. übers. v. Wilhelm Alff. Frankfurt a. M. 1976 [1795], S. 182. 19 Ebd., S. 210. 20 Edmund Burke: Reflections on the Revolution in France. Harmondsworth 1986 [1790], S. 310.

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niz21 oder bei Defoe, der 1719 – im Jahr, da Robinson Crusoe erschien – sogar eine eigene Zeitschrift mit dem Titel The Gamester lancierte, um die Leser anhand der Glücksspielrechnung in ihre neue Rolle als Lebensspieler einzuführen, denn, so hielt er fest: Was in den »gewöhnlichen Glücksspielen« gelte, gelte auch »in den großen Ereignissen der Welt«, »in the great Events of the World.«22 So wie das Spiel zum Modell für lebensweltliche Prozesse wurde, wurde auch der Spieler – wenn auch selbstverständlich nur in seiner ›vernünftigen‹ Variante – zum Paradigma für das handelnde Subjekt, und es ist diese Parallelisierung von Spieler und Subjekt, die nun unter dem Stichwort »anthropologisches Wissen« in den Fokus gerückt werden soll, denn damit wird noch eine ganz andere wissensgeschichtliche Dimension des Glücksspielthemas erkennbar.

III Im Zuge der glücksspielförmigen Zurichtung der Welt wird der Mensch also in die Rolle eines Spielers gedrängt, der lernen muss, die Risiken seines Tuns vernünftig abzuschätzen; d. h., er muss lernen, seine subjektiven Entscheidungen an den objektiven Eintretenswahrscheinlichkeiten befürchteter oder erhoffter Ereignisse auszurichten. Dieses aufklärerische Programm lässt sich in zahlreichen Schriften quer durch das ganze 18. Jahrhundert verfolgen, wobei allerdings aufschlussreiche Verschiebungen auszumachen sind: Zu Beginn des Jahrhunderts spielte die je besondere Situation eines Subjekts, das sich entscheiden muss, im mathematischen Diskurs noch keine Rolle. Vielmehr gab die Theorie jeweils eine, für alle Menschen gleichermaßen verbindliche, vernünftige Handlungsanweisung vor. Dieser starre Maßstab der Vernünftigkeit stand aber, wie sich bald zeigte, nur zu oft in krassem Widerspruch zu durchaus vernünftigen Entscheidungen von konkreten Einzelpersonen. Das führte dazu, dass sich Daniel Bernoulli, ein Neffe von Jakob, in den 1730er Jahren in einem für die ganze Aufklärung zentralen Aufsatz daran machte, eine mathematische Formel zu entwickeln, die es ermöglichte, wenigstens die für jede Entscheidung zentralen individuellen Vermögensverhältnisse der an einem Spiel beteiligten Spieler mit in Rechnung zu stellen.23 Dadurch wies er mit mathematischen Mitteln nach, dass ein bestimmtes Spiel von unterschiedlichen Spielern auf unterschiedliche Art in einem emphatischen Sinne vernünftig gespielt werden konnte. 21

Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Hrsg. u. übers. v. Wolf von Engelhardt, Hans Heinz Holz. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1996 [geschrieben ca. 1703, publiziert 1765], S. 512 ff. 22 Daniel Defoe [anonym]: The Gamester No. II. London 1719, S. 3. Vgl. zur Verfasserschaft John Robert Moore: A Checklist of the Writings of Daniel Defoe. Hamden 21971, S. 165 f. 23 Daniel Bernoulli: Specimen Theoriae novae de Mensura Sortis [1738]. In: Die Werke von Daniel Bernoulli. Hrsg. v. der Naturforschenden Gesellschaft in Basel. Bd. 2. Basel 1982 ff., S. 223–234.

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Diese neue Methode schmiegte sich nun schon viel besser denn je besonderen Umständen einer Entscheidungssituation an. Doch auch sie bedeutete noch immer eine abstrahierende Simplifikation, denn es lassen sich, wie Bernoulli einräumt, auch hier Fälle denken, wo die bloße Feststellung der individuellen Vermögensverhältnisse nicht genügt für eine vernünftige Beurteilung: Der Standard der Vernünftigkeit kann nicht nur durch besondere äußere Umstände modifiziert werden, sondern auch durch die individuelle psychische Konstitution, also durch die inneren Umstände. Es zeichnet sich mithin als Denkmöglichkeit ab, dass auch auf den ersten Blick unvernünftige Entscheidungen bei einer Beurteilung, die alle Besonderheiten eines bestimmten Individuums berücksichtigte, durchaus vernünftig erscheinen könnten. Eine solche Beurteilung ist allerdings mit mathematischen Mitteln praktisch nicht zu realisieren, wie Georg Christoph Lichtenberg bemerkte, der sich 1770 in seiner Göttinger Antrittsvorlesung ausführlich mit dem von Bernoulli aufgeworfenen Glücksspielproblem beschäftigte – und damit übrigens nicht nur einen Beitrag zur aufgeklärten Erkundung der Grenzen der Aufklärung leistete, sondern auch einen Text vorlegte, der als frühes poetologisches Programm seines Schaffens gelesen werden kann.24 Es ist mithin nicht nur die immer wieder erwähnte Experimentalphysik, die Lichtenberg zu seinen Erkundungen von möglichen Welten angeregt hat, sondern auch seine frühe Beschäftigung mit dem Glücksspiel. Das Phänomen, das den aufgeklärten Denkern von Lichtenberg über d’Alembert und Diderot bis Buffon und Laplace beim Glücksspiel im wörtlichen Sinne zu denken gab, war die Subjektivität, wobei es entscheidend ist zu sehen, dass dieses Phänomen nicht einfach schon immer vorhanden war und nun zu einer pièce de résistance für den mathematischen Zugriff wurde. Vielmehr kann verfolgt werden, wie die Subjektivität nicht zuletzt durch die mathematischen Versuche zu einer Kalkülisierung menschlichen Entscheidungsverhaltens überhaupt erst diskursiv fassbar wurde.25 Denn im Rahmen dieser Versuche wurden immer mehr Spezialfälle sichtbar, die es als immer aussichtsloser erscheinen ließen, das Verhalten von Subjekten mit Formeln erfassen zu können, und das führte längerfristig dazu, dass die Mathematik den auch durch sie selbst hervorgetriebenen dunklen Kontinent der Subjektivität aus ihrem Aufmerksamkeitsfokus rückte und sich stattdessen auf die Messung und Kalkülisie24 Georg Christoph Lichtenberg: Betrachtungen über einige Methoden, eine gewisse Schwierigkeit in der Berechnung der Wahrscheinlichkeit beim Spiel zu heben [1770]. In: Ders.: Schriften und Briefe. Hrsg. v. Wolfgang Promies. Bd. 3. München 1967 ff., S. 9–23. 25 Damit soll nicht behauptet werden, dass der emphatische Begriff des Subjekts, wie er sich im 18. Jahrhundert herausbildet, allein gleichsam dialektisches Resultat der mathematischen Versuche zur Erfassung individuellen Verhaltens sei. Die Emergenz der Subjektivität ist selbstverständlich ein viel breiter abgestützter Prozess. Doch es ist aufschlussreich zu beobachten, wie das anthropologische Wissen über das Subjekt im Rahmen dieses allgemeineren Prozesses auch gerade durch den wahrscheinlichkeitstheoretischen Blick auf die Glücksspieler befördert wurde.

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rung von Häufigkeitsverteilungen auf der makroskopischen Ebene der Gesellschaft beschränkte.26 Die Mathematiker wandten sich also später wieder vom Phänomen der Subjektivität ab, zu dessen Erscheinung sie dialektisch beigetragen hatten, doch für die Vertreter anderer Wissensbereiche – für die Vertreter einer neuen Anthropologie und Psychologie – wurde dieses Phänomen nun umso wichtiger. Sie interessierten sich gerade für die idiosynkratischen Verzerrungen in jenen subjektiven Weltauffassungen, welche sich dem kalkülisierenden Zugriff entzogen. Und auch für die Generierung ihres Wissens spielte nun der Blick auf die Glücksspieler wiederum eine wichtige Rolle. Die individuellen Abweichungen und Verzerrungen, die sich in den subjektiven Zeicheninterpretationen der Spieler beobachten ließen, qualifizierten diese in besonderem Maße als Forschungsgegenstand einer Psychologie und Anthropologie, die sich für die Geheimnisse der menschlichen Emotionen, Empfindungen und Gefühle interessierten. Am Spieltisch ließ sich gleichsam unter Laborbedingungen verfolgen, wie einzelne Subjekte je nach ihrer Veranlagung und Stimmung ganz unterschiedlich auf bestimmte Situationen reagieren konnten; wie im Zerrspiegel ihrer überreizten Imagination Spielumstände ganz verschieden interpretiert wurden und wie damit die Transmission und Verarbeitung von Zeichen subjektiv verzerrt wurden. Diese Psychologisierung und Anthropologisierung, die den Spieler im Laufe des 18. Jahrhunderts gleichsam zu einem Paradigma des neu entdeckten Subjekts werden ließ, lässt sich in der Entwicklung der Spielliteratur verfolgen. Denn während in den einschlägigen moralischen Traktaten zum Glücksspiel zu Beginn des Jahrhunderts – etwa in dem einflussreichen Traité du Jeu des Juristen Jean Barbeyrac27 – noch Fragen im Vordergrund stehen wie die, welche Formen des Spiels zulässig seien und wie hoch und mit wem gespielt werden soll, rückt in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts unübersehbar die Frage nach dem Wesen der Spiel-Passion, der Leidenschaft, in den Vordergrund. Der Fokus verschiebt sich von der Erörterung der richtigen Rahmenbedingungen des Spiels auf die Verfassung der Spieler, auf die psychischen und physischen Symptome ihrer Leidenschaft, die nun breit ausgeführt werden, und schließlich auch – jenseits von juristischen Verboten – auf therapeutische Ratschläge zur Bezähmung der Spielleidenschaft. Beispielhaft für diese Wendung zum Spieler als Subjekt im emphatischen Sinne sind die Schriften des Rousseau-Freundes Jean-Joseph Dusaulx, der v. a. mit seinem zweibändigen Standardwerk De la Passion du Jeu von 1779 einen zentralen Beitrag 26

Lorraine Daston: Rational Individuals versus Laws of Society. From Probability to Statistics. In: The Probabilistic Revolution, hrsg. v. Lorenz Krüger u. a. Bd. 1. Cambridge Mass. 1987, S. 295–304. 27 Jean Barbeyrac: Traité du Jeu, où l’on examine les principales questions de droit naturel et de morale qui ont rapport à cette matière. Amsterdam 1709. – Eine erw. Aufl. erschien ebd. 1737.

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zum Spieldiskurs leistete. Darin entwirft er nicht nur eine Geschichte des Glücksspiels von der Antike bis in seine Gegenwart, sondern versucht v. a. auch, das Seelenleben des Spielers zu erkunden. Wie er bemerkt, genüge es für ein solches Vorhaben freilich nicht, das Geschehen am Spieltisch bloß zu beobachten. Vielmehr verlange die Annäherung an die Erlebniswelt des Subjekts am Spieltisch nach eigener Erfahrung.28 Wer über die Spieler schreibe, müsse selbst gespielt haben. Tatsächlich erfüllte Dusaulx selbst diese Anforderung nur allzu gut, denn er war, wie er zerknirscht antönt, lange selbst dem Spiel verfallen.29 Für seine Abhandlungen wendete er diese Erfahrung nun aber zur besonderen Qualität, denn die Philosophie versage, so behauptet er, wenn es darum gehe, die schnell wechselnden Veränderungen im spielenden Subjekt zu erfassen, wo widersprüchlichste Regungen simultan präsent sein können. Das sei nur durch das minutiös geführte Journal eines Spielers möglich.30 Abgesehen vom anthropologischen Erkenntniswert solcher Tagebuchaufzeichnungen eines Spielers glaubte Dusaulx, dass die Verschriftlichung seiner Befindlichkeiten einem Spieler auch helfen könnte, seine Passion zu überwinden.31 Dem Verfassen eines Buches über das Glücksspiel kam mithin zugleich eine therapeutische Bedeutung zu, und es wird erkennbar, dass Dusaulx mit seinen Schriften nicht zuletzt gegen seine eigene Spielsucht angeschrieben hat – wenn auch erfolglos, wie man aus späteren Quellen weiß.32 In sorgfältiger Selbstbeobachtung hat er die Wirkungen aufgezeigt, denen das Subjekt beim Spiel ausgesetzt ist; wie es zum geradezu besessenen Zeichenleser wird, um Aufschluss über den Spielverlauf zu erhalten; wie ihm die Herrschaft über die Sprache und jedes Zeitgefühl abhanden kommen; wie es der Kontrolle über seinen Körper und sein Mienenspiel verlustig gehen und wie es jeden Bezug zu seiner weiteren Umwelt verlieren kann. Doch das Porträt des passionierten Spielers, wie es Dusaulx zeichnet, ist trotz aller Kritik und warnenden Belehrung nicht so eindeutig negativ wie es zunächst scheint. Die Spieler verlieren zwar die Herrschaft über sich und ihr Tun. Sie vergessen Ort und Zeit und wiederholen nur immer wieder die gleichen Bewegungen, die mit je28

Jean-Joseph Dusaulx: De la Passion du Jeu. Bd. 1. Paris 1779, S. 208. Ebd., Bd. 1, xxiv f. 30 Jean-Joseph Dusaulx: Lettre et Réflexions sur la Fureur du Jeu. Paris 1775, S. 44, Anm.: »La philosophie & la sagacité, ne font point deviner une foule de circonstances passagères, d’affections intérieurs & de nuances imperceptibles, sans lesquelles néanmoins, il est impossible de remonter au principe, & de raisonner juste sur quelque passion que ce soit. Or le Journal d’un Joueur, s’il s’étoit longtemps & fidèlement observé, offriroit à tous ces égards, d’amples matériaux, des phénomènes singuliers & utiles à l’Histoire du cœur humain. On y verroit, sur-tout, avec quelle rapidité les passions se succèdent; & comment notre pauvre esprit admet souvent les contraires presqu’en même temps.« 31 Dusaulx: Passion (wie Anm. 28). Bd. 1, S. 118 ff. u. S. 252 ff. 32 Vgl. Carl Gustav Jochmann: Reliquien. Aus seinen nachgelassenen Papieren, gesammelt von Heinrich Zschokke. Bd. 2. Hechingen 1837, S. 46. 29

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der neuen Spielrunde nötig werden. Sie werden mithin zu »Maschinen«: »Autant de joueurs, autant de machines«.33 Doch das Vergleichsfeld des Maschinenhaften wird zugleich relativiert und überlagert durch den in immer neuen Varianten wiederholten Verweis auf das unbezähmbare Feuer der Phantasie, das die Spielenden beseelt. Die Einbildungskraft der Spieler vermag jeden gegebenen Rahmen zu sprengen, und durch sie kann jede Spielszene zu einer »magischen Höhle voller Orakel« – »un Antre fécond en Oracles« – werden.34 Die Spieler sind Subjekte, deren Einbildungskraft bis aufs Äußerste gereizt wird, und entsprechend sind Menschen, deren Einbildungskraft besonders reizbar ist, nach Dusaulx auch in größerer Gefahr als andere, dem Spiel zu verfallen. Das erklärt für ihn nicht nur, weshalb die »Wilden« eine große Neigung zum Spiel haben, sondern auch, weshalb die Frauen gefährdeter seien durch das Spiel und weshalb sich unter den Dichtern besonders viele Spieler fänden.35 Spätestens an dieser Stelle zeichnet sich nun eine neuartige Ambivalenz in der Charakterisierung des Spielers ab: Über die Einbildungskraft – »l’imagination des joueurs ne vieillit jamais«36 – ergibt sich eine unübersehbare Wahlverwandtschaft zwischen Dichtern und Spielern; eine Wahlverwandtschaft, die übrigens auch auf der Rezeptionsseite der Literatur ausgemacht werden kann, denn im zeitgenössischen Diskurs werden auch die »Lesewuth« und die »Spielwuth« in einem Atemzug genannt.37 Und obschon Dusaulx in seinem spielkritischen Traktat ganz auf die Gefahren der entfesselten Einbildungskraft der Spieler abzielt, die es zu »zähmen«38 gelte, ist in seiner deskriptiven Annäherung an dieses Phänomen ex negativo eine unübersehbare Faszination für die subjektive, eben geradezu dichterische Zurichtung der Welt durch den Spieler erkennbar. Der Spieler kann sich von allen vorgegebenen Regeln der Vernünftigkeit lösen und sich in eine ganz eigene Welt hineinimaginieren. Er ist nicht an die Mühen eines schrittweisen (Er-)Arbeitens gebunden. Er kennt weder Vergangenheit noch Zukunft, sondern lebt nur in der Intensität des Augenblicks und des Moments. Er ist, wie man in Anlehnung an Lavaters zeitgleiche Bestimmung des Genies sagen könnte, ein Meister der »Momentaneität«,39 und es ist deshalb hoch signifikant, wenn Carl Friedrich Pockels – der an Karl Philipp Moritz’ 33

Dusaulx: Passion (wie Anm. 28). Bd. 2, 26. Ebd., Bd. 1, S. 208. 35 Vgl. zu den Wilden ebd., Bd. 2, S. 14–28, zu den Frauen Bd. 2, S. 65–75, und zu den Dichtern Bd. 1, S. 243–252; allg. zum Thema Frau und Spiel um 1800 Gillian Russell: Faro’s Daughters. Female Gamesters, Politics, and the Discourse of Finance in 1790s Britain. In: Eighteenth-Century Studies 33/4 (2000), S. 481–504. 36 Dusaulx: Passion (wie Anm. 28). Bd. 1, 137 f. 37 Vgl. dazu das Journal des Luxus und der Moden 15 (1800), S. 623–626. 38 Dusaulx: Passion (wie Anm. 28). Bd. 2, S. 142. 39 Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente. Vierter Versuch. Leipzig und Winterthur 1778, S. 82. Vgl. allgemein zur Ästhetik des Moments Thomas M. Kavanagh: Esthetics of the Moment. Literature and Art in the Eighteenth Century. Philadelphia 1996. 34

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Magazin zur Erfahrungsseelenkunde mitarbeitete – gegen Ende des 18. Jahrhunderts über das Hasardspiel als »Krankheit« des »Genies« spekuliert;40 und zwar in einem psychologischen Aufsatz über Lessing, der nach seiner eigenen Aussage immer wieder die »heftige Bewegung« des leidenschaftlichen Spiels brauchte, um seine »stockende Maschine in Thätigkeit« zu setzen für seine Aufklärungsarbeit.41 Auch hier erweist sich die Sache der Aufklärung in besonderer Wendung als Sache des Glücksspiels. Führt man in dieser Weise den Spieler- und den Geniediskurs der späteren Aufklärung eng, zeigt sich, welche neue diskursive Position der Glücksspieler nun einnehmen konnte. Er konnte jetzt als paradigmatisches Subjekt erscheinen, das zwar in besonderer Weise gefährdet war, zum Opfer einer ungebändigten Einbildungskraft zu werden, das aber zugleich, ebenfalls wie das Genie, mit einer unvergleichlichen Erlebensintensität begabt war. In ihm konnten das Pathologische und das Außergewöhnliche ganz unmittelbar aufeinander stoßen, und es ist diese neue konstitutive Ambivalenz, die den Spieler seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zugleich zum Inbegriff des gefährdeten Subjekts und zur Identifikationsfigur für post-aufklärerische Künstlerfiguren – ganz besonders augenfällig bei den russischen »Genies« Puschkin und Dostojewski42 – werden ließ. Doch damit ist bereits die Schwelle zum 19. Jahrhundert überschritten.

IV Die Sache des Glücksspiels lässt sich auf den ersten Blick – wie gezeigt – nur schwer mit der Sache der Aufklärung zusammen denken. Das war schon den Protagonisten der Wahrscheinlichkeitsrechnung im ausgehenden 17. Jahrhundert bewusst, und sie bemühten sich deshalb immer wieder darum, den Nutzen ihres Glücksspielwissens zu unterstreichen. Sie wurden nicht müde darauf hinzuweisen, dass gerade beim vermeintlich so frivolen Spiel die von ihnen postulierte probabilistische Vernunft paradigmatisch eingeübt werden könne, denn im Grunde befinde sich der Mensch in jeder Entscheidungssituation in derselben Situation wie ein Spieler, der die Chancen in seiner nächsten Spielrunde abschätzen müsse. 40

Carl Friedrich Pockels: Lessing. Ein passionirter Hazardspieler. In: Ders.: Denkwürdigkeiten zur Bereicherung der Erfahrungsseelenlehre und Characterkunde I. Halle 1794, S. 73–89, hier S. 73 u. S. 83. 41 So in einer Äußerung, die von seinem Bruder Karl überliefert wurde. Zit. nach Richard Daunicht: Lessing im Gespräch. Berichte und Urteile von Freunden und Zeitgenossen. München 1971, S. 176. Vgl. dazu auch Karl S. Guthke: Der Glücksspieler als Autor. Überlegungen zur »Gestalt« Lessings im Sinne der inneren Biographie. In: Euphorion 71/4 (1977), S. 353–382. 42 Vgl. zur Bedeutung des Glücksspiels in der russischen Literatur Ian M. Helfant: The High Stakes of Identity. Gambling in the Life and Literature of Nineteenth-Century Russia. Evanston Ill. 2002.

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Damit ist die eine Entwicklungslinie der Wissensgeschichte des Glücksspiels in der Aufklärung noch einmal angedeutet; jene Entwicklungslinie, die im Laufe des 18. Jahrhunderts eben dazu führte, dass immer weitere Lebensbereiche nach dem Modell des Spiels konzeptualisiert und neuartige statistische und versicherungstechnische Verfahren entwickelt wurden. Diese Verfahren erwiesen sich als äußerst fruchtbar für die Sache der Aufklärung, solange es um die »Zähmung des Zufalls«43 auf der Ebene der Gesellschaft ging. Bei der Erfassung und Modellierung der Entscheidungsprozesse von Individuen kam die neue Mathematik freilich an ihre Grenzen. Hier wurde der im eigentlichen Sinne unberechenbare Bereich des Subjekts und des Subjektiven sichtbar. Hier rückten all jene Idiosynkrasien und eigenwilligen Weltlektüren in den Fokus, denen nicht rechnend beizukommen ist. Doch genau damit konnte das Glücksspiel zum Kristallisationspunkt für ein anderes neuartiges Wissen über den Menschen werden, zu einem Kristallisationspunkt für anthropologisches Wissen; das heißt, für ein Wissen, das sich nun gerade für die Psychologie der eigenwilligen Spieler und deren subjektive Zeichenlektüren interessierte. Hier konnte sich ein neues psychologisches und hermeneutisches Wissen an die Glücksspielpraxis anlagern. Die Wissensgeschichte des Glücksspiels in der Aufklärung lässt sich demnach nach zwei Strängen aufteilen. Sie steht zum einen im Zusammenhang mit dem Aufschwung von Statistik, Versicherung und politischer Ökonomie, zum andern im Zusammenhang mit der Emergenz von Anthropologie, Psychologie und Hermeneutik. Diese zwei Stränge stehen für zwei grundsätzlich verschiedene Umgangsweisen mit den Kontingenzen des Lebensspiels, doch sie haben im 18. Jahrhundert einen gemeinsamen Bezugspunkt in der Praxis des Hasardspiels, und das macht das Glücksspiel zu einem besonders erkenntnisträchtigen Ansatzpunkt für die Erforschung des 18. Jahrhunderts. Denn hier kann paradigmatisch beobachtet werden, wie sich die Sache der Aufklärung ausgehend von einer ganz konkreten Sache in unterschiedliche Richtungen entwickeln konnte, wobei es aufschlussreich ist zu sehen, wie sich im Werk vieler Autoren des 18. Jahrhunderts die beiden Varianten der Beschäftigung mit dem Glücksspiel überkreuzen können; sei es nun bei Lichtenberg, der dem Spiel nicht nur rechnend auf die Spur kommen wollte, sondern auch selber spielte und in verschiedenen Sudelhefteinträgen den Aberglauben beim Lotteriespiel thematisierte;44 sei es bei Novalis, der sich für den Glücksspielkalkül begeisterte45 43

Ian Hacking: The Taming of Chance. Cambridge 1990. Seine aktive Teilnahme an Lotterien ist z. B. dokumentiert in Einträgen im sog. »Staatskalender« in Lichtenberg: Schriften (wie Anm. 24). Bd. 2, S. 695–859 (Nr. 102, 795, 816, 824, 964); vgl. zum Aberglauben z. B. ebd., Bd. 1, S. 578 (Nr. 829). 45 Vgl. dazu v. a. seine Condorcet-Rezeption, die sich im Allgemeinen Brouillon niedergeschlagen hat. Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hrsg. v. Paul Kluckhohn, Richard Samuel. Bd. 3. Stuttgart 21960 ff., S. 424–427 (Nr. 790, 793, 795, 798, 805 u. 807). 44

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und zugleich der Unberechenbarkeit der Zeichenlektüre im Glücksspiel des Lebens nachspürte; oder sei es – um hier den Bogen zu schließen – bei Casanova, der nicht nur in allen Varianten der Intensität der Erfahrung am Spieltisch frönte, sondern sich auch mit d’Alembert über die wahrscheinlichkeitstheoretischen Grundlagen einer Lotterie austauschte, die er in Paris für Louis XV eingerichtet hat.46 Im Blick auf das Glücksspiel werden mithin zwei wichtige Themenfelder der Aufklärung sichtbar, vereinfacht gesagt: die Probabilität und die Subjektivität; zwei Themenfelder, die in den eingangs genannten Lexika zur Aufklärung unter verschiedenen Stichworten berücksichtigt worden sind. Doch bei diesen Stichworten geht man eben immer von abstrakten Konzepten aus und perpetuiert damit gleichsam eine einseitig intellektualistische Auffassung der Aufklärung. Im Gegensatz dazu scheint es mir besonders wichtig und aufschlussreich, sich den abstrakten Konzepten auch von einem konkreten kulturellen Phänomen wie dem Glücksspiel her anzunähern, denn die Aufklärer haben ihre Sache auch und gerade in diesem Fall immer wieder von der konkreten Sache her gedacht. Deshalb plädiere ich mit Nachdruck dafür, dass in jedes zukünftige Lexikon der Aufklärung, in jede Encyclopedia of the Enlightenment und in jeden Dictionnaire des lumières ein Artikel zum Glücksspiel aufgenommen werden sollte.

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Casanova: Geschichte meines Lebens (wie Anm. 1). Bd. 5, S. 46–60, hier S. 57. Vgl. allg. zu Casanova als Spieler und Lotterieunternehmer Thomas M. Kavanagh: Dice, Cards, Wheels. A Different History of French Culture. Philadelphia 2005, S. 85–109.

Hartmut Böhme (Berlin) Die imaginierte und pluralisierte Antike der Aufklärung Here I first saw a Tropical forest in all its sublime grandeur. – Nothing, but the reality can give any idea, how wonderful, how magnificent the scene is. […] I never experienced such intense delight. – I formerly admired Humboldt, I now almost adore him; he alone gives any notion, of the feelings which raised in the mind on first entering the Tropics (Charles Darwin).1

0. Einleitung Alexander von Humboldt war ein vorzüglicher Kenner der philosophischen, literarischen und wissenschaftlichen Quellen der klassischen Antike. Dieser Wissensschatz stand ihm stets zu Gebote und erlaubte ihm zu demonstrieren, was man ohne Antike-Kenntnis gar nicht bemerken würde: dass nämlich viele Innovationen, auch umstürzende Zäsuren in der nachantiken Geschichte Europas, erst durch spezifische Transformationen der antiken Überlieferung möglich wurden. Mein Beispiel hierfür ist die Entdeckung Amerikas durch Columbus, der, wie Humboldt bemerkt, diese Entdeckung gar nicht verstanden hatte, weil er sich in einer »mythischen Geographie« bewegte. Humboldt zeigt, dass es gerade die Befangenheit in antiken Phantasmen ist, die auf der Faktenebene der Geschichte zu einer epochalen Innovation führt. Zum Zweiten formiert die Schulung an klassischen Kunstwerken und Literaturen eine Ästhetik, welche die Wahrnehmung exotischer Landschaften oder Monumente prägt. Dadurch steht Humboldt, wo immer er ist, die Antike stets lebendig vor Augen: als andere Antike. Das will sagen: Er identifiziert das Antike an den außereuropäischen Kulturen. Und zwar nicht so, dass dabei die klassische Antike zum absoluten Maßstab wird, sondern so, dass sein Verhältnis von ästhetischer Wertschätzung griechisch-römischer Monumente in ein Schema verwandelt wird, das Humboldt die eigensinnige Dignität der exotischen Altertümer wahrnehmen und erkennen lässt. Mein Beispiel dafür ist das Kordilleren-Buch. Sein Ergebnis ist: die lateinamerikanischen Kulturen haben ihre eigenen, hochrangigen Antiken, die zu der europäischen Antike oder den orientalischen Altertümern in struktureller Korrespondenz stehen. Das führt zu meinem dritten Punkt: nämlich die Beendigung des absoluten Geltungsanspruchs der klassischen Antike, die innerhalb einer Pluralität von Antiken nur das uns Vertraute und Kanonische darstellt, während sie in Wahrheit nicht weni1

Brief von Darwin an J. S. Henslow, 18 May – 16 June 1832. In: The Correspondence of Charles Darwin 1821–1836. Bd. 1. Cambridge u. a. 1985, S. 236–239, hier S. 237.

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ger fremd und exotisch ist als die untergegangenen Antiken anderer Kulturen. Dieser Gedanke führt zu Humboldts Idee einer pluralen, in sich historisch differenzierten Weltkultur, die neben einer Fülle von Disjunktionen auch eine Fülle von Strukturanalogien aufweist, die nicht zuletzt in den stabilen Gesetzmäßigkeiten der auf der Erde überall gleichen Naturgesetze begründet ist. Dieser Punkt kann nur beiläufig behandelt werden.

1. Die transatlantische Passage ist eine Reise in die Antike In Alexander von Humboldts »Kritischer Untersuchung zur historischen Entwicklung der geographischen Kenntnisse von der Neuen Welt«,2 erschienen zuerst 1814, findet sich der erstaunliche Satz, wonach »die Entdeckungen des fünfzehnten Jahrhunderts« sich »unserem Geist oft als bloße Erinnerungen aus früheren Zeitaltern« darstellten (KU 1814, 189; kursiv: HB). Sollte die Entdeckung Amerikas, welche Humboldt immerhin »eine der denkwürdigsten Epochen im Leben der Völker des Westens« (ebd.) nennt, sich aus einer Kette phantastischer Erinnerungen als ebenso zufälliges wie folgerichtiges Faktum ergeben haben? Humboldt hat in einer akkuraten philologischen Quellenanalyse der von ihm so bezeichneten »mythischen Geographie« (ebd., 50) der Antike sowie der »christlichen Topographie« gezeigt, dass der reale Schiffskursus des Columbus einer phantastischen Bahn folgte. Columbus, so kann man zuspitzen, segelte nicht nach Amerika, sondern in die Antike. Und er segelte auch ins sagenhafte Goldland Indien, ins Land Ophir zum mythischen Berg Sopora, sagenhaften Regionen, die teils aus »biblischen Erinnerungen« an die Aussendung einer Expedition nach Indien durch Salomo, teils aus »geographischen Kompilationen des Mittelalters«, teils aus Ptolemäus u. a. antiken Quellen gewoben wurden, während in Wahrheit, wie schon Peter Martyr d’Anghiera erkannte, Columbus auf den Antillen gelandet war (ebd., 38, 127/8, 139, 166).3

2 Alexander von Humboldt: Kritische Untersuchung zur historischen Entwicklung der geographischen Kenntnisse von der Neuen Welt und den Fortschritten der nautischen Astronomie im 15. und 16. Jahrhundert. Nach der Übers. v. Julius Ludwig Ideler. Hrsg. v. Ottmar Ette. Frankfurt a. M., Leipzig 2009. Dieser Edition ist beigefügt Alexander von Humboldt: Geographischer und Physischer Atlas der Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents. Unsichtbarer Atlas aller von Alexander von Humboldt in der Kritischen Untersuchung aufgeführten und analysierten Karten. Hrsg. v. Ottmar Ette. Frankfurt a. M., Leipzig 2009. – Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe abgekürzt im laufenden Text zitiert als: KU 1814 + Seitenzahl. Die verdienstvolle Herausgeberschaft wird durch den Kartenteil in ihrem Wert gesteigert, besonders durch den »Unsichtbaren Atlas«, der Einblicke in das vermittelt, was mit Humboldts Worten als ›mythische Geographie‹ bezeichnet ist. 3 »Was uns von Tagebüchern und Briefen von der Hand des Columbus erhalten worden, ist

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Schließlich glaubte Columbus, auf seiner dritten Reise das Paradies aufgefunden zu haben (ebd., 128). Die Raumreise war also eine Zeitreise in die phantasmatischen Dimensionen der antiken Geographie, die von Columbus mehr und mehr auch mit biblischen und eschatologischen Semantiken aufgeladen wurde. Humboldt zeigt, wie durch geradezu halluzinatorische Referenzen auf Bibel und Antike, auf arabische und mittelalterliche Quellen, so selektiv, missverstanden oder identifikatorisch diese Referenzen sein mochten, etwas epochal Neues auf der Realitätsebene von Geschichte generiert wurde. Mit diesem Ansatz kommt Humboldt den Konzepten des Sonderforschungsbereichs 644 »Transformationen der Antike« nahe, die für die folgende Darstellung den theoretischen Hintergrund bilden. Dies gilt auch methodisch. Was also tut Humboldt? Der ungestüme Eifer des Columbus hatte ihn gleichzeitig zur Lektüre der Kirchenväter, der arabisierenden Juden und der mystischen Schriften des Gerson4 sowie zu den alten Geographen geführt, von denen er Auszüge zu Rate zog, welche sich in den Origines des Isidor von Sevilla und der Kosmographie des Kardinals d’Ailly vorfanden (KU 1814, 191).

Letzterer wurde nach Humboldt zur Hauptquelle der Kenntnisse des Columbus über antike Geographie: »Es ist wahrscheinlich, daß der Admiral alles, was er von den Meinungen des Aristoteles, Strabo und Seneca über die Möglichkeit, nach Indien auf dem Westweg zu gelangen, wußte, aus dessen Schrift De Imagine Mundi geschöpft hat« (ebd., 35). Humboldt nennt dies »eine Eroberung durch Nachdenken« (ebd., 190). Da ist ein ebenso abenteuerlicher wie entschlossener Mann, ein »genauer Beobachter der Natur« und »unerschrockener Seefahrer« (ebd., 193), ein Mann der Praxis also, eben Columbus: Auf der Grundlage sekundär rezipierter antiker Quellen nimmt er die alte Achse des kulturellen Transfers von Ost nach West, die der Makedone Alexander und später Marco Polo in eine West-Ost-Richtung umgedreht hatten, erneut auf und verbindet sie mit antiken Spekulationen über die Verhältnisse von Meer und Land jenseits der Säulen des Herkules (ebd., 189). Gewiss ist Columbus auch erfüllt von den Legenden des sagenhaften Landes voll Gold und Spezereien, das traditionell im Osten imaginiert und zum obskuren Objekt der Begierde des beginnenden Kolonialismus wurde. Und gewiss geisterte im Kopf des Columbus auch die »Christliche Topographie« des spätantiken Nestorianers, Reisenden und Kosmographen Cosmas Indicopleustes (ebd., 30 ff.), aber auch die frommen Spekulationen über die Loziezugleich mit biblischen Erinnerungen an Ophir angefüllt und mit Erinnerungen an Ptolemäus« (Humboldt: KU 1814 [wie Anm. 2], S. 127). 4 Gemeint ist Jean Charlier de Gerson (1363–1429), Schüler von Pierre d’Ailly, zeitweise Kanzler der Pariser Universität (vgl. auch Humboldt: KU 1814 [wie Anm. 2], S. 36, 467).

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rungen von Hölle oder Paradies irgendwo an den Rändern der Oikomene, in der antipodisch gedachten südlichen Halbkugel oder an einem ungeheuren Berg im atlantischen mare tenebrosum, an dem der Dante’sche Odysseus mit seinem Schiff zerschellt, nachdem er das Non Plus Ultra der Herkules-Säulen in ein kühnes Plus ultra gewendet hatte (Inferno XXVI, 88–142).5 Auch hatte Columbus die Verse des Chors in Senecas Medea in seinem »Libro de las Profécias« (1501) ins Spanische übersetzt und auf seine eigene Mission umgemünzt, Verse, die Humboldt mehrfach zitiert (zuerst KU 1814, 27): Venient annis saecula seris, Quibus Oceanus vincula rerum Laxet, et ingens pateat tellus, Tethysque novos detegat orbes, Nec sit terris ultima Thule. (Seneca: Medea 375–79) [Kommen wird in späteren Jahren die Zeit, in der der Ozean die Fesseln der Dinge lockert und gewaltig die Erde offensteht, Tethys neue Welten enthüllt und Thule nicht mehr der letzte Punkt der Erde ist.]

All diese Formen und Richtungsdynamiken der mythischen Topographie hatten sich in Columbus verdichtet zu der idée fixe, das sagenhafte Goldland im Osten auf dem angeblich kürzeren Weg nach Westen zu erreichen. Diese Idee ist das energetische Zentrum, von dem aus die antiken geographischen Schriften zu Phantasmen seines seefahrerischen Unternehmens transformiert wurden. Und wie das möglich ist, wird nun von Humboldt durch genaues Quellenstudium rekonstruiert. Wie, so fragt Humboldt, erlangen antike Quellen eine performative Kraft, die Columbus erfolgreich in seinen diplomatischen Überzeugungsmissionen einsetzt? Über welche Vermittlungswege werden die antiken Quellen zum imaginativen Antrieb seiner Expedition, die zur Entdeckung Amerikas führte, doch von Columbus, gefangen in seinen »geographischen Träumereien« (KU 1814, 157), bis zu seinem Tode niemals begriffen wurde? Humboldt fasst die historisch geprägte wie ihre Epoche prägende Figur des Columbus, der darin eine epochale Brückenfunktion innehat, wie folgt zusammen, dabei die lebenslange Verkennung der eigenen Leistung mitbedenkend:

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Auf diese Stelle haben in unterschiedlicher Sicht schon Ernst Bloch und Hans Blumenberg Bezug genommen. Vgl. dazu Hartmut Böhme: Der Affe und die Magie in der »Historia von D. Johann Fausten«. In: Thomas Mann. Doktor Faustus 1947–1997. Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge, hrsg. v. Werner Röcke, Bd. 3. Bern 2001, S. 109–145.

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Zu Beginn einer neuen Zeitrechnung, auf der unbestimmten Grenze, wo sich Mittelalter und die neuen Zeiten (temps modernes) miteinander vermischen, beherrscht diese großartige Gestalt das Jahrhundert, von dem sie den Anstoß erhielt und das sie ihrerseits wiederum beherrscht. Die Entdeckung Amerikas war ohne Zweifel unvorhergesehen. […] Er starb, ohne das zu kennen, was er erreicht hatte (KU 1814, 190).

Natürlich berücksichtigt Humboldt daneben auch die politischen Rahmenbedingungen der expansiven Dynamik der frühen Kolonialländer. Er behandelt die Intrigen und Konkurrenzen der Entrepreneure an den iberischen Höfen. Er untersucht die Fortschritte der Navigation, der Kartographie und der Astronomie, welche zu den praktischen Randbedingungen der Expedition wurden. Entscheidend aber ist, dass Humboldt die Realreise als Phantasiereise versteht. Deswegen muss er, wenn man so sagen darf, in den Kopf des Columbus eindringen, um begreiflich zu machen, was er »eine Eroberung durch Nachdenken« nennt, die Entdeckung eines Kontinents aus einer Kopfgeburt heraus. Dafür identifiziert Humboldt in den Schriften des Columbus die antiken Referenzen, aber auch die mittelalterlichen und zeitgenössischen Quellen, die sich ihrerseits auf antike Autoren beziehen. Bei diesem Unternehmen erlebt man Humboldt als versierten Philologen, der sich souverän in einem Quellenkorpus aus vielen Sprachen bewegt. Es sind v. a. Herodot, Aristoteles, Plutarch, Strabo, Ptolemäus, Cicero, Seneca, Pomponius Mela, Diodorus Sicilus, Macrobius, ferner die arabischen Gelehrten Avicenna, Averroes und Scherif Edrisi, die christlichmittelalterlichen Naturforscher Albertus Magnus, Vincent von Beauvais und Roger Bacon und viele mehr. Nach welchem Muster Humboldt dabei vorgeht, kann an einem Beispiel verdeutlich werden. Wenn Columbus in einem Brief 1498 an die spanischen Monarchen, ohne Quellen zu nennen, aus den Werken des Petrus Alliacus (= Kardinal Pierre d’Ailly, 1350/1–1420) zitiert und auch aus Texten des Kanzlers der Pariser Universität, Jean Charlier de Gerson, die den Schriften d’Aillys angehängt sind, mehrfach Stellen anführt, so glaubt Humboldt hier eine Masterquelle der geographischen Imaginationen des Columbus ausgemacht zu haben. Der Text des Columbus entspricht wörtlich dem des Kardinals d’Ailly, der wiederum, ohne dass es Columbus wissen konnte, lange Passagen aus Roger Bacon’s Opus Maius (1267) abschreibt, der wiederum Aristoteles, Ptolemäus, Seneca, Plinius kompiliert. Indem Humboldt diese intertextuelle Verwebung freilegt, erzeugt er mehrere transformationstheoretisch relevante Einsichten: 1. erweist die philologische Rekonstruktion, dass der Brief des Columbus eine Kompilation und damit seine imaginäre Kartographie ein Hybrid ist. 2. hat Humboldt erkannt, dass topographische Vorstellungen sehr oft nicht empirisch, sondern textuell generiert werden. 3. ist ihm klar geworden, dass die zeitgenössischen kartographischen Vorstellungen nicht etwa durch direkte Rückgriffe auf

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antike Geographen entstehen, sondern das Ergebnis jahrhundertelanger Transformationsketten sind. Diese Transformationsketten weisen wiederum 4. die performative Kraft auf, eine Handlungssequenz auszulösen, an deren Ende die faktische Entdeckung Amerikas steht. Dabei verhält sich Columbus (wie schon d’Ailly) den antiken Quellen gegenüber nach den Transformationstypen der Selektion und der Negation. Die Selektion macht Humboldt in folgender Passage deutlich: Man erkennt in den wenigen Bruchstücken, welche uns von den Schriften des Columbus erhalten worden sind, daß das, was die geistige Tätigkeit des großen Mannes am meisten beschäftigte, was er mit dem größten Eifer bei den Schriftstellern des Altertums und des seinem Jahrhundert zunächst stehenden Kosmographen aufzufinden suchte, die geringe Entfernung Indiens von den Küsten Spaniens war, ferner die Kenntnis von der bedeutenden Ausdehnung Asiens gen Osten, die Anzahl reicher und fruchtbarer Inseln, welche die Ostküsten des asiatischen Festlandes umgaben, die absolute Kleinheit unseres Planeten, und das Verhältnis, welches im allgemeinen die area [Fläche] der Länder und der Meere auf der Oberfläche des Erdkörpers zueinander darboten (KU 1814, 43).

Columbus greift also aus den Quellen nur das auf, was seine idée fixe affirmiert. Im folgenden Text erkennt man den Transformationstyp der Negation: Columbus tadelt den Ptolemäus, die Ausdehnung der Länder gen Osten für geringer gehalten zu haben, als sie früher Marinus von Tyrus angenommen hatte; er verwirft alle Meinungen der Alten über das Verhältnis, welches zwischen den Flächenräumen der Festländer und der Meere obwalte, und versichert […], ›daß der Umfang der Erde nur unbedeutend sei, daß sechs Teile der Erdoberfläche trocken liegen und nur der siebte unter Wasser stehe‹ (KU 1814, 43–4).

Humboldt macht klar, dass Columbus in einem ebenso willkürlichen wie konsequenten Wechsel von Negation und Selektion seine phantastische Topographie assembliert: So adaptiert er die aristotelische Argumentation für die Kugelgestalt der Erde, verwirft aber die schon antike, auch aristotelische (ebd., 43), und durch das Mittelalter kolportierte Vorstellung von der Unbeschiffbarkeit des mare tenebrosum, also des Atlantiks; während er positiv wiederum die These von der Kontinuität des chinesischen und des atlantischen Ozeans übernimmt, die durch arabische Gelehrte ins Mittelalter geschleust wurde (ebd., 58). Die in der Antike mythisch geschlossene Welt des Nec plus ultra findet schon in der Antike ihren Kontrapunkt in den Legenden von den westlich orientierten Atlantisfahrten der Karthager (Ps.-Aristoteles, KU 1814, 48, 55, Diodorus Sicilus, ebd. 56), von der Befahrbarkeit des Atlantiks, an dessen Gegenseite Indien läge (Strabo), von der antipodischen »anderen Welt« oder einem transozeanischen Festland (álle oikouméne, antí-chton; Aristoteles, Strabo,

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Cicero, Macrobius, KU 1814, 51/52, 61): Derartige antike Elemente schmilzt Columbus wie Spolien in seine phantastische Kartographie ein. So hatte etwa Seneca (Quaest. natur. Praefat. 13) geschrieben: »Da verachtet er (der wissbegierige Betrachter) die Enge der früheren Wohnstatt. Denn wie groß ist der Raum zwischen den äußersten Küsten Hispaniens und Indiens? Nur ganz wenige Tagesreisen weit, wenn der richtige Wind das Schiff antreibt« (KU 1814, 64). Denn die Erde ist, nach Seneca, nur ein punctum im Verhältnis zu den ingentia spatia des Weltalls (Seneca ebd. 11; KU 1814, 65). Zweierlei arbeitet Humboldt in seiner quellenphilologischen Rekonstruktion der phantastischen Geographie des Columbus heraus: Zum einen erkennt Humboldt mit größter Klarheit, dass derjenige epochale Akt, der die Wende zur Neuzeit einleitete, v. a. als eine imaginative Operation zu verstehen ist, die auf einer komplexen Transformationsgeschichte von der Antike bis 1500 aufruht. Wir werden wir aber sehen, dass eben diese Modell bildende Antike gerade durch die Begegnung mit den lateinamerikanischen Altertümern bei Humboldt zu einer Relativierung der klassischen Antike als Leitkultur führt. Für die ersten Atlantik-Passagen bot die Antike indes den kognitiven und moralischen Legitimationsrahmen. Die Antike stellte ferner die von Humboldt als unwissenschaftlich deklarierte »mythische Geographie«6 bereit. Diese lieferte den Stoff für das unbändigen Begehren des Columbus nach Westen. Zum zweiten erkennt Humboldt sehr klar, dass die Antike den Gelehrten und Reisenden der Epochenschwelle nicht einfach zur Verfügung stand, sondern dass sie zumeist durch scholastische und arabische Vermittlungen, also schon in transformierter und zumeist auch in kompilierter Form wirksam wurde. Die Antike, die Humboldt als Hintergrund der Eroberung Amerikas entdeckt, ist nicht eine feststehende Entität, sondern eine ›zurechtgemachte‹, den aktuellen Bedürfnissen und Interesse assimilierte Antike. Und wenn diese transformierte Antike die Gründungsakte der Neuzeit formatiert, dann entdeckt Humboldt dabei etwas weiteres, was zur Rehabilitation der Leistungen des ›finsteren‹ Mittelalters führt: Diese Finsternis erstreckte und verbreitete sich allerdings […] über die Massen; aber in den Klöstern und Kollegiatschulen bewahrten einzelne Individuen die Überlieferungen des Altertums. Selbst Bacon, welcher mehr als irgend jemand die Macht der Gelehrsamkeit und den Einfluß der Sprachkenntnis […] anerkannte, hebt hervor, ›daß, besonders seit vierzig Jahren, in den Burgen und Klöstern eine rege Wißbegierde neben der allgemeinen Unwissenheit des Volkes bemerkbar sei.‹ Wenn von einer fortlaufenden, ununterbrochenen Reihe von Ideen, einer Verkettung von Meinungen die Rede ist, darf

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An anderen Stellen spricht Humboldt von »geographischen Träumereien« (Humboldt: KU 1814 [wie Anm. 2], S. 157), von »Träumereien der Kartenzeichner«, die Einfluss auf Seefahrer haben (ebd., S. 151), vom »geographischen Mythos« (ebd., S. 159) usw.

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man jenen Zeitraum des Mittelalters nicht mit Geringschätzung übergehen, wo man um Roger Bacon Männer wie Albert den Großen, Scotus, Vincent de Beauvais und Reisende von dem Verdienst des Plano Carpini, Ascelin, Rubruquis und Marco Polo vereinigt findet. In jeder einzelnen Epoche des Völkerlebens erkennt man, daß alles, was mit den Fortschritten der Vernunft, mit der Vervollkommnung der Intelligenz im Zusammenhang steht, tiefe Wurzeln in den vorhergehenden Jahrhunderten hat… (KU 1814, 35; vgl. 125 ).

In klarer Weise wird hier ausgesprochen, dass selbst umstürzende Ereignisse wie die Amerika-Entdeckung niemals nur Zäsuren sind, sondern dass das Diskontinuierliche vielmehr der Effekt einer Transformationskette in der longue durée von Historie darstellt. Charakteristisch für Humboldt ist es, dass er, der in Südamerika die schwarzen Seiten des europäischen Kolonialismus studierte, dennoch an den »Fortschritten der Vernunft« festhält und diese in den langwelligen Transformationsketten gesichert sieht. Doch ist dieser Bezug auf das Heilsame der fortschreitenden Rationalität nicht eindimensional und führt nicht zur Denunziation der mythischen oder protowissenschaftlichen Phasen der Geschichte. Darum sieht sich der Aufklärer Humboldt, angesichts der Columbianischen Entdeckung, contre cœur auch zu einer Rehabilitation des Mythischen, hier also der »mythischen Geographie« veranlasst. Von den Origines des Isidorus von Sevilla bis auf Gregor Reisch […] haben die berühmtesten Männer, Vincenz von Beauvais […], John Salisbury […], Roger Bacon und Pierre d’Ailly, aus den Schriften des Aristoteles, des Plinius, der unglücklicherweise dem Strabo vorgezogen wurde, und dem Seneca alles geschöpft, was sich auf Kosmographie und auf die Physik unseres Globus bezieht. Durch dieses ununterbrochene Ineinandergreifen ist es möglich gewesen, das eine und dieselbe Gedankenfolge sich erhielt und einen herrschenden Einfluß auf die Geister ausübte, als der Eifer für weite Reisen in das Innere des Festlandes dem Eifer für Unternehmung zur See Platz machte. Indem ich eine Reihe von Untersuchungen anstellte und Fragen aufwarf, welche schon wegen ihrer Wichtigkeit für das Studium des klassischen Altertums von erheblicher Bedeutung sind, habe ich es nicht über mich gebracht, alles dasjenige mit Stillschweigen zu übergehen, was sich weniger auf die Beschreibung der wirklichen Welt bezieht, als in das Gebiet der mythischen Geographie hinübergreift (KU 1814, 49/50).

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2. Die »Ansichten der Kordilleren« als Dokument einer anderen Antike 1813 vollendete Humboldt die »Vues des Cordillères et Monuments des Peuples Indigènes de l’Amérique«.7 Humboldt schreibt über sein Werk an Goethe am 2. Januar 1810: »Natur und Kunst sind in meinem Werke eng verschwistert.«8 Mit dieser Formel rückt Humboldt sein Buch in die Nähe dessen, was er als Doppel-Leitstern des Goetheschen Werkes versteht. »Vue« heißt Blick, Ansicht, Aussicht, Panorama, Aufnahme. Mit »Ansichten« referiert die deutsche Übersetzung auf die »Ansichten der Natur« von 1806 und Georg Forsters »Ansichten vom Niederrhein« (1791–94), denen wiederum eine Reise zugrunde liegt, die Forster 1790 gemeinsam mit dem jungen Humboldt unternahm. Lubrich/Ette weisen darauf hin, dass die französische Übersetzung der »Ansichten der Natur« ›Tableaux‹ setzt.9 Dem Tableau kommt indes Humboldts Begriff »Naturgemälde« am nächsten, das sowohl eine ästhetische Vergegenwärtigung eines ganzheitlich gefassten Naturausschnitts wie auch ein aus empirischen Daten geformtes, ›physiognomisches‹ Wissens-Tableau meint, wozu Diagramme, Bilder, Berechnungen, Texte aller Art gehören. Die Abbildungen der »Ansichten der Kordilleren« entsprechen im Stil den Reise-Veduten des 18. Jahrhunderts. Mit ›Monumenten‹ ist gemeint, was um 1800 auch ›Denkmäler‹ der Vergangenheit genannt wurde, materielle Relikte einer ›antiken‹ Kultur. Auch sie werden abgebildet: architektonische Reste, künstlerische Objekte, Basreliefs, der berühmte aztekische Kalenderstein, sog. Hieroglyphen-Gemälde usw. Diese Monumente werden durch Beschreibung und Deutung zu »Zeugnissen« gemacht, die den hohen Rang der indigenen Kulturen Lateinamerikas belegen. Im Brief an Goethe benutzt Humboldt eine aufschlussreiche Formel: »mein pittoreskes Werk über die Denkmäler und Reste alter Zivilisation des Menschengeschlechts in Amerika«.10 Das Pittoreske etabliert sich um 1800 als neue ästhetische Kategorie – neben den zwei bereits antiken Registern des Schönen und Erhabenen. 7

Alexander von Humboldt: Ansichten der Kordillieren und Monumente der eingeborenen Völker Amerikas. Mit 69 Tafeln der Neuen Welt. Aus dem Franz. v. Claudia Kalscheuer, ed. u. mit einem Nachw. v. Oliver Lubrich u. Ottmar Ette. Frankfurt a. M. 2004. – Im Folgenden wird nach dieser Ausg. im laufenden Text abgekürzt zitiert als: Kordilleren + Seitenzahl. 8 Briefe an Goethe. Briefe der Jahre 1809–1832. Hrsg. v. Karl Robert Mandelkow. München 1964 (Hamburger Ausgabe in 6 Bden., Bd. 2), S. 33 ff. u. S. 622. Vgl. Goethes Briefwechsel mit Wilhelm und Alexander von Humboldt. Hrsg. v. Ludwig Geiger. Berlin 1909, S. 304 ff. – Diese Gabe Humboldts an Goethe ist durchaus zwiespältig und wird so auch von Goethe verstanden und gekontert. Vgl. dazu Hartmut Böhme: Goethe und Alexander von Humboldt. Exoterik und Esoterik einer Beziehung. In: Wechselwirkungen. Kunst und Wissenschaft zwischen Berlin und Weimar im Zeichen Goethes, hrsg. v. Ernst Osterkamp. Bern u. a. 2002, S. 167–193. 9 Lubrich/Ette in Humboldt: Kordilleren (wie Anm. 7), S. 411. 10 Mandelkow: Briefe an Goethe (wie Anm. 8), S. 33.

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Sie geht auf William Gilpin (1724–1802) zurück, der für seine Reiseschilderungen der kargen Partien Englands, Wales und Schottlands (1774–98) das Pittoreske erfand (»the principle of picturesque beauty in landscape«). Europaweit wurde das Pittoreske zur bevorzugten Wahrnehmungs- und Darstellungsform stadtferner, besonders wilder Natur sowie von Altertümern der Vergangenheit in ihrer malerischen Mannigfaltigkeit. Das Pittoreske war die Form zur ästhetischen Schätzung des Wilden und Archaischen. Es wurde rasch auch zur bevorzugten Ästhetik des einsetzenden Alpentourismus.11 Die einzige deutsche Teilübersetzung des Humboldtschen Werkes bei Cotta 1810 titelte denn auch »Pittoreske Ansichten«. Das frz. monuments gibt Humboldt im Brief an Goethe mit »Denkmäler und Reste« wieder – ganz im Sinne der damaligen Altertumswissenschaftler, Archäologen und Antiquare. Wichtiger ist, dass Humboldt die vorkolumbianische Kultur unter die Formel setzt: »alte Zivilisation des Menschengeschlechts in Amerika«. Damit werden die indigenen Völker unter das aufklärerische Konzept der Menschheitsgattung und der Universalgeschichte gebracht, die sämtliche Kulturen der Erde integriert. Darin drückt sich die kolonialkritische Haltung Humboldts aus. Er lehnt jede Unterdrückung indigener Völker aus einem Superioritätsanspruch heraus ab, ebenso wie deren Subsumtion unter ›Natur‹, womit die Völker in eine barbarische Natur einund aus der Geschichte ausgeschlossen werden. Im Gegenteil will Humboldt zeigen, dass die vorkolumbianischen Kulturen eine eigene Geschichtlichkeit haben und diese in Mythen, Bilder-Handschriften und Kalenderordnungen dokumentierten. Darum gehören die indigenen Völker in den Kreis der Weltkulturen. Letzteres demonstriert Humboldt durch ein kulturkomparatistisches Verfahren. Im Kordilleren-Buch herrscht keine chronologische, topographische, historische, narrative oder wissenschaftliche Ordnung. Gegenüber den »Ansichten der Natur« von 1807 treten nicht nur die sorgfältigen Abbildungen hinzu, sondern es hat sich der Fächer der Textverfahren noch vergrößert. Lubrich/Ette sprechen von einer »beweglichen Netzwerkstruktur«, von »Ikonotexten«, einem hybriden Mobile, von unsteten Rhythmen, von diskontinuierlichen, multidimensionalen, vielstimmigen, vielsprachigen und multimedialen Verfahren, die das Buch irgendeiner Text-Gattung zuzuordnen unmöglich machen. Gerade das zeichne die Modernität des KordillerenBuches aus.12 Die Texte sind von der Art, die Humboldt am perfektesten beherrschte: die Szene, der kurze Traktat, die assoziationsreiche Verknüpfung eines Monuments mit weltweit gestreuten Analogien, die Miniatur, aber auch die kompakte, ideenreiche wie detailgenaue, gelehrte und diskutierende Abhandlung, wie diejenige über den Kalen11

Malcolm Andrews: The search for the picturesque. Landscape aesthetics and tourism in Britain 1760–1800. Stanford 1989. 12 Lubrich/Ette in Humboldt: Kordilleren (wie Anm. 7), S. 412–15, 417, 420, 422.

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der-Stein. Überragend ist seine Fähigkeit, verschiedenste Wissensfelder gleichzeitig zu mobilisieren – die vorkolumbianischen Schriften (Paläographie), die Geologie, Mineralogie und Vulkanologie, die Architektur, die Religionsgeschichte und Ritualkunde, die Ethnographie, die Landschafts-Physiognomie usw. Humboldt bewegt sich experimentell in vielen Wissensprovinzen, die als Disziplinen erst im Entstehen begriffen sind. Es handelt sich also nicht um Reiseskizzen aus den Kordilleren. Viele

Abb. 1: A. v. Humboldt: Ansichten der Kordilleren, Tafel LXIX: Der Drachenbaum von La Orotova.

Texte gehen zwar auf Autopsien und Vorstudien zurück, doch sind alle später bearbeitet, wenn nicht neu entstanden, mit dem Stand der Forschung abgeglichen, oder um nachträgliches Quellenstudium vertieft. Das Buch endet mit einem Naturmonument aus Teneriffa, dem gewaltigen »Drachenbaum«, den Humboldt zu Beginn seiner Reise studierte, und der nun als leben-

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des (!) Zeugnis einer Vergangenheit bezeichnet wird, das wahrscheinlich »älter ist als die meisten Monumente, die wir in diesem Werk beschrieben haben« (Kordilleren 384): dies ist ein Hinweis darauf, dass bei Humboldt jede noch so alte Kultur vom biotischen Kosmos gerahmt wird. Am Anfang bespricht Humboldt hingegen die mit ägyptischen Skulpturen korrelierte »Büste einer Priesterin«13 aus dem »Kabinett eines aufgeklärten Kunstliebhabers« in Mexico. Diese Büste stellt ein Paradigma für die ästhetischen »Gemeinsamkeiten zwischen den Völkern des neuen und des alten Kontinents dar« (Kordilleren 25). Sie entstamme dem »Kindheitszustand der Kunst« (Kordilleren 22): ein im 18. Jahrhundert, etwa von Herder, viel gebrauchter Topos einer evolutionär verstandenen Kunst- und Weltgeschichte. Dies zeigt an, dass Humboldt eine archaische Phase der Kunstentwicklung annimmt, welche die verschiedenen Antiken als ausdifferenzierte Provinzen einer Weltkultur erscheinen lässt. Als 4. Nummer lässt er die »Natürlichen Brücken von IcoAbb. 2: A. v. Humboldt: Ansichten der Kordilleren, nozo« in den Kordilleren folgen. Tafel I: Büste einer aztekischen Priesterin. Die Naturbrücken über einer wild-erhabenen Schlucht bezeugen eine Kunst, die einer uralten Natur immanent ist: im Sinne der Kleistschen Ästhetik des Zusammensturzes von Steinen, die zufällig zum nunc stans des Sturzes werden, schildert Humboldt das Werk einer absichtslosen Natur, welche die Baukunst präformiert: ludus naturae ist die Kunstform, die allen Antiken und aller menschlichen

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Es ist indes die »Statuette der Wassergöttin Chalchiuhtlicue« (Lubrich/Ette in Humboldt: Kordilleren [wie Anm. 7], S. 415).

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Kunst vorausgeht.14 »Drei ungeheure Felsbrocken sind solcherart herabgefallen, daß sie sich gegenseitig stützen: Der mittlere bildet den Schlußstein des Gewölbes, ein Zufall, der den Eingeborenen die Idee des Bogenbaus hätte eingeben können…«. Humboldt erinnert sich an einen »Unfall im römischen Kolosseum«, »wo man in einer halb eingestürzten Mauer mehrere Steine sieht, die in ihrem Fall aufgehalten

Abb. 3: A. v. Humboldt: Ansichten der Kordilleren, Tafel IV: Natürliche Brücken von Icononzo. 14

Vgl. dazu Ludi Naturae. Spiele der Natur in Kunst und Wissenschaft, hrsg. v. Natascha Adamowsky, Hartmut Böhme, Robert Felfe. München 2010.

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wurden, indem sie zufällig einen Bogen bildeten« (Kordilleren 32). In der Kombination von Zufall und Fall ist Humboldt hier der Kleistschen Ästhetik denkbar nah, die ihre ›Architektur‹ aus der Katastrophe des Zusammensturzes bildet, in welcher Fall und Zufall einen stabilen ›Bogen‹ des Narrativs konstituieren. Kleist berichtet am 18. November 1800 Wilhelmine von Zenge von seinem Würzburger Erlebnis, als er unter einer Torwölbung hindurch schreitend sich verwundert: »Warum, dachte ich, sinkt wohl das Gewölbe nicht ein, da es doch keine Stütze hat? Es steht, antwortete ich, weil alle Steine auf einmal einstürzen wollen«. Er fügt dem Brief-Konvolut eine Zeichnung (Abb. 4) bei, die ein selbsttragendes Gewölbe zeigt, bei dem der SchlussStein dem allgemeinen Zusammensturz ein stabiles Gefüge verleiht.15 Kleist zieht daraus den Trost, »daß auch ich mich halten würde, wenn alles mich sinken läßt«. Dieses Bild bestimmt nicht nur das Verfahren der Novelle »Das Erdbeben in Chili«, sondern ist der Clue aller seiner poetischen Konstruktionen. So heißt es: »Der Boden wankte unter seinen Füßen, alle Wände des Gefängnisses rissen, der ganze Bau neigte sich, nach der Straße zu einzustürzen, und nur der, seinem langsamen Fall begegnende, Fall des gegenüber liegenden Gebäudes verhinderte, durch eine zufällige Wölbung, Abb. 4: Heinrich von Kleist: Eigenhändige Zeichnung im die gänzliche Zubodenstreckung Brief vom 18.11.1800, Zusatz vom 30.12.1800. desselben.«16 15

Heinrich von Kleist: Briefe. Hrsg. v. Siegfried Streller. Berlin, Weimar 1978 (Werke und Briefe, Bd. 4), S. 154, S. 159. 16 Heinrich von Kleist: Erzählungen. Gedichte. Anekdoten. Schriften. Hrsg. v. Peter Goldammer, Siegfried Streller. Berlin 1978 (Werke und Briefe, Bd. 3), S. 160. Vgl. Werner Hamacher: * * * Das Beben der Darstellung. In: Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen von Kleists »Das Erdbeben in Chili«, hrsg. v. David Wellberry. München 1985, S. 149–173, hier S. 150–155. – Vgl. aus der »Penthesilea« die Verse 1349 ff.: »PROTHOE: So hebst du dich empor? – Nun, meine Fürstin, So sei‹s auch wie ein Riese! Sinke nicht, Und wenn der ganze Orkus auf dich drückte! Steh, stehe fest, wie das Gewölbe steht, Weil seiner Blöcke jeder stürzen will! Beut deine Scheitel, einem Schlußstein gleich, Der Götter Blitzen dar, und rufe, trefft! Und laß dich bis zum Fuß herab zerspalten, Nicht aber wanke in dir selber mehr, Solang ein Atem Mörtel und Gestein, In dieser jungen Brust, zusammenhält. Komm. Gib mir deine Hand.«

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Humboldt vermutet ebenfalls ein Erdbeben als Ursache der beiden Naturbrücken, die er genau untersucht. Die Vedute in extremer Untersicht pointiert den erhabenen Eindruck, der im Text noch verstärkt wird durch die »Unzahl von Nachtvögeln« und »gigantischen Fledermäusen«, deren Flug ein »unheimliches Geräusch« (Kordilleren 33) machen. Derart dem Ungeheuren konfrontiert schafft Humboldt mittels der wissenschaftlichen Erkundung, welche die Ursachen derartiger erhabener Phänomene ergründet, eine nüchterne Beobachterdistanz. Hier kommen ›Physik‹, ›Geognosie‹, ›Kontingenz‹ und ›Ästhetik‹ so zusammen, dass dabei der alle Kultur fundierende Naturbegriff Humboldts geradezu allegorisch konzentriert wird. Welch ein ›Zufall‹, dass »die Natur« zwei Brücken »gebildet« hat. Die zweite Brücke besteht aus einem einzigen kompakten Bogen, der »als ununterbrochen fortbestehende Lage« stehen blieb, als das weichere Umgebungsgestein durch das Erdbeben kollabierte und durch Wassererosion fortgebracht wurde. Ist die eine Brücke das Emblem eines permanenten, doch stillgestellten Absturzes, so die andere das Emblem einer in sich stabilen, durchgehenden Struktur, die Katastrophen ›übersteht‹. Beide sind Beispiele einer, wie bei Kleist, durchaus antiklassizistischen Ästhetik. Als Geognost war Humboldt Anhänger des Vulkanismus, und damit der Katastrophen-Theorien, die er in den Anden überall bestätigt sah.17 Doch gerade durch diese dynamische Sicht auf die Naturgeschichte entdeckt Humboldt zugleich dasjenige, was mitten im katastrophischen Geschehen Stabilitäten kreiert. Das ist Natur als Kunst, so wie umgekehrt Kunst Zerstörung voraussetzt, in derem Medium sie die Beständigkeit des Werks herausprozessiert. »Natur und Kunst sind in meinem Werke eng verschwistert«, so hatte er an Goethe geschrieben und meinte damit, sich ganz klassisch-antik ankündigen zu dürfen. Doch dem Neptunisten Goethe führt er in den beiden Naturbrücken Beispiele dafür vor, dass diese Verschwisterung auch dort möglich ist, wo Goethe es für unmöglich hielt: in der Katastrophe. Ja, ästhetischer Bann und wissenschaftliche Rationalität halten sich gegenseitig in einem ›Gewölbebogen‹, der die Katastrophe in Form verwandelt. Dieser allegorischen Szene folgt unmittelbar der Prospekt vom Quindío-Paß, ein »herrliches Schauspiel«, das an den »Anblick der Schweizer Alpen« erinnert – freilich »in weit imposanteren Dimensionen«. Die Schweizer Alpen gelten im 18. Jahrhundert als der natürliche Korrespondent einer Freiheit, die im Milieu von Felsen, Wasserfällen und Abgründen ihre Heimstatt hat. Der Gipfelblick, den Humboldt immer wieder sucht, das freie Auge in seiner panoramatischen Souveränität wird

17

Bernhard Fritscher: Vulkanismusstreit und Geochemie. Die Bedeutung der Chemie und des Experiments in der Vulkanismus-Neptunismus-Kontroverse. Stuttgart 1991; Günter Hoppe: Die Entwicklung der Ansichten Alexander von Humboldts über den Vulkanismus und die Meteorite. In: Studia Fribergiensa. Vorträge des Alexander-von-Humboldt-Kolloquiums in Freiberg. Berlin 1994, S. 93–101.

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Abb. 5: A. v. Humboldt: Ansichten der Kordilleren, Tafel V: Quindío-Paß in der Kordillere der Anden.

zum Paradigma der Freiheit überhaupt. Schon Georg Forster (wie vor ihm Louis Antoine de Bougainville) hatte seine Landschaftsschilderungen exotischer Regionen an die Gemälde Salvatore Rosas, Nicolas Poussins und Claude Lorrains angeschlossen, die ihrerseits auf antike Modelle der heroischen, arkadischen oder bukolischen Landschaft rekurrierten und dadurch die Veduten des 18. Jahrhunderts formal präformierten. Textliche Rückgriffe auf Homer, Horaz oder Vergil bestärkten den Versuch, die unbekannten Naturformen fremder Länder durch Vergleiche mit den vertrauten Landschaftsformen antiker oder antikegeprägter Ästhetik nahezubringen: das entspricht dem Transformationstyp der Assimilation. So wie Georg Forster die Antiken-Ästhetik nach Tahiti translationiert und dadurch dem europäischen Geschmack anähnelt,18 so stilisiert auch Humboldt in seinen textuellen Vergleichen die unbekannte Natur Südamerikas in den vertrauten Formen des Antiken oder dessen, was dafür gehalten wird. Dabei nutzt Humboldt die typische Semantisierung, durch welche die Natur zur politischen Metapher der Freiheit wird. So zitiert Humboldt nicht umsonst in den „Ansichten der Natur“ (1807) die Verse 2585–8 aus Schillers „Braut von Messina« 18

Vgl. dazu Takashi Mori: Klassifizierung der Welt. Georg Forster »Reise um die Welt«. Freiburg i. Br. 2011, S. 109–137.

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(1801–3): »Auf den Bergen ist Freiheit! Der Hauch der Grüfte / Steigt nicht hinauf in die reinen Lüfte, / Die Welt ist vollkommen überall, / Wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual.«19 Bergeshöhen, Erhabenheit und Freiheitspathos fusionieren besonders im deutschen Idealismus, in rousseauistischer Kulturkritik sowie im Lobpreis der Schweizer Demokratie, deren Bedingung bereits durch die Freiheit der Bergwelt eingelöst ist. Dem freien Prospekt vom Quindío-Paß auf dem beigefügten Kupfer kontrastiert indes eine kleinformatige, doch kompositorisch in den Vordergrund gerückte Szene, die den Menschen »mit seiner Qual« zeigt. Fast nackte Indios schleppen weiße Reisende in einem Tragsessel über den »beschwerlichsten Paß der gesamten Kordillere«. Nicht zufällig hat Humboldt an die Schweizer Alpen als FreiheitsTopos erinnert: denn hier in den Kordilleren erblicken wir die Perversion dieser Freiheit. Ausführlich werden die cargueros besprochen, »eine Klasse von Menschen«, die einer kolonialen Versklavung unterworfen werden (Kordilleren 34–39). Die Erhabenheit der Berge ist dem Despotismus der spanischen Kolonialmacht entgegengesetzt. Dieser Szene lässt Humboldt den KupferAbb. 6: A. v. Humboldt: Ansichten der Kordilleren, stich mit dem »Wasserfall Tafel VI: Wasserfall von Tequendama. von Tequendama« folgen. Die Vedute zeigt den Stil des 18. Jahrhunderts, als malerische und literarische Schilderungen von alpinen Wasserfällen à la mode waren – Humboldt nimmt darauf Bezug, wenn er den Schweizer Staubbach, die Niagara-Fälle, den Rheinfall, weitere 19

Alexander von Humboldt: Ansichten der Natur. Hrsg. v. Hanno Beck. Darmstadt 1987 (Studienausgabe, Bd. 5), S. X. – Das Zitat wird von Humboldt politisch instrumentalisiert, insofern es als Trost hineingesprochen wird in die Niederlage, die Preußen durch Napoleon erfahren hatte.

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Alpen-, Pyrenäen- und Kordillerenfälle vergleichend heranzieht. Hier aber handelt es sich darum, dass »alle Wasser« des Hochplateaus von Bogota abfließen, nämlich durch einen »engen Schlund« einhundertfünfundsiebzig Meter in eine Schlucht stürzen. (Kordilleren 40–45). Ohne diesen Abfluss wäre das gesamte Plateau, wo jetzt Menschen siedeln, Ackerbau treiben und Städte gegründet haben, ein gewaltiger See. Humboldt stellt geognostische Hypothesen auf, wonach auch dieser Wasserablauf durch ein Erdbeben entstanden sein könnte. Doch bemerkenswert für seine Einstellung zur indigenen Kultur ist es, dass er deren mythische Erklärung plausibel macht, ohne den Realismus wissenschaftlicher Verfahren aufzugeben. So sei die »Fabel« begreifbar, die man erzählt: Ein mythischer Kulturbringer habe einem barbarischen Urvolk Kulturtechniken geschenkt und dieses vor dem Untergang in einer Sintflut dadurch behütet, dass er die das Plateau versperrenden Felsen an jener Stelle zertrümmerte, wo heute noch die Wasser abfließen. Gewiss ist bei diesem indigenen Mythos an griechische Kulturbringer-Mythen zu denken, an Prometheus oder an Deukalion. Mythopoetisches Narrativ (»Kunst«) und geognostische Erklärungen (»Natur«) treten hier zusammen zu einem ›Bogen‹ der Darstellung. So wird der »wundersame Ursprung« einer kulturellen Topographie aus geomorphologischen und klimatischen Bedingungen erklärt, wie Humboldt dies sehr oft tut. Er erweist sich darin als moderner Nachfolger der aristotelischen Geographie. Zugleich widerfährt dem indigenen Mythos, der im Blick ratiozentrischer Aufklärung ›Unsinn‹ erzeugt, Gerechtigkeit, obwohl die wissenschaftliche Überlegenheit der Geologie nicht aufgegeben wird. Doch diese kann nicht das leisten, was der Mythos vermag: nämlich diese Tatsachen in einen teleologischen Sinnzusammenhang zu bringen, der die Genesis einer Kultur erklärt. Auch hier sehen wir eine Gewalt der Natur, die Goethe aus ihr verbannen wollte, ›kreativ‹ werden, indem sie die landschaftlichen Bedingungen der Kultur erst schafft. Hier (und anderswo) wird von Humboldt die Mythologie der »Indianer« weder exotistisch ins Recht gesetzt noch eurozentrisch degradiert. Er nimmt sie als Zeugnisse einer kulturellen Überlieferung ernst, in der diese Kulturen ihre eigene Herkunft und Geschichte reflektierten. Humboldt versucht generell, den indigenen Völkern ihre Geschichte, die ihnen durch die Weißen abgesprochen oder geraubt wurde, wiederzugeben. Er tut dies, indem er diesen Völkern eine ›Antike‹ zuschreibt, deren erhabenes Alter und kulturelle Dignität der klassischen Antike Europas entspricht, jenes Europas, das diese Völker unterwirft und einer barbarischen Natur zuschlägt, welche die indigenen Völker aus der Weltkultur, wie sie Humboldt vorschwebt, ausschließt. Die Dokumentation der sog. Hieroglyphen-Codices sowie der baulichen und künstlerischen Monumente sind als symbolische Akte der ›Wiedererstattung‹ zu sehen. Diese ist die Antwort des aufgeklärten Humanisten auf die Geschichte einer Gewalt, die von Europa ausging. Menschen oder Völkern ihre Geschichte ›wiederzuerstatten‹

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heißt für Humboldt, sie in die Universalgeschichte der Gattung zu integrieren. Das geschieht im Rahmen dessen, was für den in den 90er Jahren geprägten Humboldt ›Menschheits-geschichte‹ hieß: nämlich die Koevolution von Wissenschaften, Freiheitsrechten und Freihandel.20 In diesem Sinn ist das Rahmenmodell Humboldts selbstverständlich europäisch. Doch geht für ihn von Europa nicht nur koloniale Zerstörung, sondern auch die Idee einer Weltkultur der Differenzen aus. In diesen Rahmen werden die indigenen Kulturen eingeordnet. Die südamerikanischen Kulturen werden dabei weder naturalisiert noch idealisiert. Humboldt bemerkt etwa an den vorkolumbianischen Hochkulturen der Inka oder der Azteken die Züge gnadenloser Herrschaft und barbarischer Riten. Er liest diese Züge sozialer Unterdrückung auch aus den Bilderschriften heraus, die er in den »Vues des Cordillères« bespricht. Umso wichtiger sind ihm solche Monumente, an denen er beweisen zu können glaubt, dass die vorkolumbianischen Kulturen bereits über ein hohes Maß von Kulturtechniken verfügten und dass diese in einer strukturellen Analogie zu klassisch-antiken, asiatischen und altorientalischen Hochkulturen stehen, wenn sie nicht gar durch Kulturkontakte in illo tempore zustande gekommen sind. So wird die Hypothese erwogen, dass die Strukturanalogien durch die archaische Verwurzelung der asiatischen und amerikanischen Völker in einem gemeinsamen Grund erklärt werden könnten. Die andere Erklärungsstrategie ist, dass es eine Entwicklungslogik gäbe, die universell gelte: danach entstünden auch ohne Kulturtransfer an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten, autopoetisch und spontan, analoge kulturtechnische Lösungen für analoge Probleme. Die Unterschiede der Völker und Kulturen sind vor diesem Hintergrund einer gemeinsamen Universalgeschichte nur kontingent. Dies ist der Grund, warum die Abhandlung über das »Basaltrelief, den mexikanischen Kalender darstellend« das Zentrum des Buches ist (Kordilleren 165–235). Dieses Traktat kann hier nicht kommentiert werden. Nur weniges soll herausgestellt werden: Kalender sind weltweit eine zentrale Kulturtechnik, wodurch Gesellschaften ihre eigene Geschichte syn- und diachronisieren sowie eine symbolische Lebensordnung generieren und stabil halten. Sie stiften in Abstimmung mit kosmischen Abläufen die Identität von Gemeinschaften, weil durch die Kalender säkulare wie religiöse Ordnungen und Lebensrhythmen konstituiert werden.21 In umfänglichen Analy20 Besonders deutlich ist dies zu beobachten in Alexander von Humboldt: Mexiko-Werk. Politische Ideen zu Mexiko. Mexikanische Landeskunde. Darmstadt 1991 (Studienausgabe, Bd. 4); ders.: Cuba-Werk. Darmstadt 1992 (Studienausgabe, Bd. 3). 21 The Aztec Calendar Stone, hrsg. v. Khristaan D. Villela, Mary Ellen Miller. Los Angeles 2010 (über dasselbe Kalender-Monument, über das Humboldt schrieb); Hannes E. Schlag: Ein Tag zuviel. Aus der Geschichte des Kalenders. Würzburg 1998; David Ewing Duncan: Der Kalender. Auf der Suche nach der richtigen Zeit. München 1999; Thomas Schmidt: Temporal Maps. Der Kalender und die Konstruktion kollektiver Zeiten. Leipzig 2007; Winfried Görke: Datum und Kalender. Von der Antike bis zur Gegenwart. Berlin, Heidelberg 2011.

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sen, die er im Kontext der Kalenderforschung diskutiert, expliziert Humboldt die chrono-topologischen Leistungen der Arithmetiken und Symboliken der vorkolumbianischen Kalender. Darüber hinaus zeigt er, dass diese Kulturen eine eigene Form von Geschichtsschreibung besaßen. Sie haben nicht nur Geschichte, sondern sie führen und reflektieren sie. Kalender werden so als Medien der Selbstbeobachtung und Selbstgestaltung von Kulturen erkennbar, entgegen der kolonialen Perspektive, worin ihnen weder Geschichtlichkeit noch Reflexivität zukam. In der typischen Weise seiner globalen Vernetzungsstrategien stellt Humboldt die strukturellen Analogien zu den Kalendertechniken asiatischer, orientalischer, ägyptischer und europäischer Kulturen her. Insofern steht der Kalender-Stein zu Recht im Herzen des Buches: durch ihn wird der Erweis gebracht, dass die antiken Kulturen Amerikas essentiell in den Kreis der Weltkultur gehören.22 Als Resümee ist festzuhalten: die Operationen, durch welche Humboldt den indigenen Völkern ihre Geschichte und ihre Kulturleistungen zurückerstattet, beruhen v. a. auf dem Nachweis von Strukturverwandtschaften mit alten europäischen, orientalischen und asiatischen Hochkulturen. Dabei entsteht der Effekt, dass die als welthistorische Singularität verstandene klassische Antike relativiert wird; die klassische Antike ist nur der uns am besten vertraute Modellfall, dessen kanonische Lösungen funktionsäquivalent auch in anderen Kulturen aufgefunden werden können. Dies zeigt sich im panomaratischen Blick auf die verschiedenen Kulturen der Welt, die als Weltkultur oder als Menschheitsgeschichte zu denken das Ziel Humboldts ist. Der Universalismus, den Humboldt am Modell der klassischen Antike gelernt hatte, ist zugleich der Modus ihrer Transgression.

3. Antike, Moderne und Globalisierung nach Humboldt Aus den beiden besprochenen, um 1810 publizierten Werken Humboldts lassen sich weitreichende Schlüsse ableiten. Über Jahrhunderte war die griechisch-römische Antike die Grundlage der europäischen Nationalstaaten und das Rückgrat der kanonischen Bildung in Universitäten und Schulen. Sie war Vorbild für die Gestaltung von Herrschaftsarchitekturen, Villen oder Gärten. Sie stimulierte die Entwicklung der bildenden Künste und des Theaters, der Literaturen und auch der Wissenschaften. Es ist singulär, dass eine untergegangene Kultur über eine Reihe von Renaissancen 22

Vgl. dazu Lubrich/Ette in Humboldt: Kordilleren (wie Anm. 7), S. 416. Die ›Antikisierung‹ Altamerikas wie überhaupt die Bedeutung der griechisch-römischen Antike in Humboldts Werk bedarf noch einer systematischen Untersuchung. Wie präsent die europäische Antike auch in »Vues des Cordillères« ist, dazu vgl. ebd., S. 418, wo die Herausgeber die vorkommenden antiken Autoren auflisten. Es ist evident, dass Humboldt, bei aller Idealität der griechischen Antike, das Antikekonzept des Klassizismus pluralisiert: Es gibt viele Antiken.

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den Rhythmus der europäischen Geschichte bestimmt hat. Dies schien die Ewigkeit der antiken Kultur zu garantieren. Die Antike blieb lebendig, gerade weil sie die Modernisierungen Europas antrieb. Niemals war es dieselbe Antike, die zum Vorbild oder auch zum Anstoß und zur Herausforderung der Nachfolgekulturen wurde: war es im Mittelalter im wesentlichen die latinisierte, arabisch vermittelte und christlich transformierte Philosophie, so waren es in der Renaissance die antiken Künste, die ethische Lebensführung und die Politik, im Barock das Theater und die Baukunst, im 18. Jahrhundert die Literatur und die Skulptur, die jeweils Modell bildend wurden. In dieser longue durée wurde ›die Antike‹ zunehmend differenzierter wie normativ als ›das Klassische‹ ausgezeichnet: Leitbild für die Selbstpositionierung der jeweiligen Gegenwartskulturen. In diesem Sinn wurde Humboldt sozialisiert – und dies blieb bis in den »Kosmos«23 hinein spürbar. Diese fraglose Geltung der Antike geht im Zeitalter Humboldts zu Ende. Das Verblassen der Antike hat viele Gründe. Dazu gehört auch die Entdeckung der Dignität und Geltungskraft fremder, untergegangener wie rezenter Kulturen, woran Humboldt lebhaften Anteil hatte. Bei Humboldt führt dies zu einer symmetrischen Kulturkomparatistik, die sich bei ihm weniger in funktionalistischen Systemvergleichen als vielmehr in abertausenden von mikrologischen Vergleichsoperationen ausdrückt. Zudem hat sich nicht erst bei Nietzsche, sondern schon bei Humboldt die Idee einer Einheit der antiken Kultur aufgelöst – so sehr er geschmacksästhetisch am Klassizismus festgehalten haben mag, der ihn so nachhaltig geprägt hatte. Zerfallen war auch die Gewissheit einer nobilitierenden Kontinuität der Geschichte von der Antike bis heute, will sagen: bis zur antikisierenden Selbstdarstellung Preußens, die Humboldt ausdrücklich nicht beförderte. Zwar ging er nicht so weit wie Nietzsche: »Mein Ziel ist: volle Feindschaft zwischen unserer jetzigen ›Cultur‹ und dem Alterthum zu erzeugen. Wer der ersten dienen will, muss das letztere hassen.«24 Doch sein kulturkomparatistischer Blick auf die alten Kulturen und seine Idee der Weltkultur verbot sowohl die hegemoniale Inanspruchnahme der klassischen Antike durch irgendeine moderne Gesellschaft wie auch die Translation antiker Leitbilder in fremde Kulturen. Humboldt wusste, dass die Antike selbst eine hybride, keineswegs ursprungshafte, vielmehr heterogene, multikulturelle und multireligiöse Epoche darstellt. Die orientalischen und ägyptischen Einflüsse auf die klassischen Antike waren ihm klar und ließen ihn das Bild einer ›autochthonen‹ Antike verabschieden. Das Kanonische antiker Bildung traf zwar auf seine Generation noch völlig zu; doch

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Alexander von Humboldt: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. 4 Bde. Stuttgart 1845–58. Vgl. dazu Petra Werner: Himmel und Erde. Alexander von Humboldt und sein ›Kosmos‹. Berlin 2004. 24 Friedrich Nietzsche: Notizen zu Wir Philologen (3 [68]). März 1875. In: Kritische Studienausgabe, hrsg. v. Giorgio Colli, Mazzino Montinari, München 31993, Bd. 8, S. 33.

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zugleich hatte Humboldt bereits die industrielle Entwicklung, die Ökonomie und v. a. die Naturwissenschaften und Techniken vor Augen, die für die Zukunft der Gesellschaft ungleich wichtiger erschienen als humanistische Bildung. Ferner war, wie Jürgen Osterhammel25 gezeigt hat, die Globalisierung, auch unter postkolonialem Aspekt, zu Humboldts Lebzeiten bereits in voller Entfaltung begriffen – und Humboldt hat das Denken in globalen Dimensionen wesentlich miterfunden. Humboldt verbot sich die an deutschen Universitäten verbreitete universalgeschichtliche Betrachtung, die ihren Ursprung nur im Mediterraneum nimmt.26 Globalisierung hieß für Humboldt, anzuerkennen, dass es eine Vielzahl von ›Antiken‹ gibt – in Südamerika, im vorderen und mittleren Orient, in Indien und China. In welthistorischer Sicht schrumpfte die Antike zu einer Sinnprovinz. Den Blick auf die Weltkulturen hat Humboldt dabei stets durch eine naturökologische und kosmische Dimension erweitert. Dafür standen die kleinen Beispiele aus dem Kordilleren-Buch, während ich diese Dimension für das opus magnum, den »Kosmos«, schon an anderer Stelle prinzipieller gezeigt habe.27 Kulturgeschichte ist bei Humboldt in Naturgeschichte eingebettet und darum ist es ihm gerade für den ersten Verwissenschaftlichungs-Schub in der griechischen Kultur so wichtig, dass dieser mit einer kosmisch fundierten Naturphilosophie anhob. Aufgebraucht ist bei Humboldt auch das Modell der Renaissancen, das die europäische Geschichte rhythmisiert hatte. Wie sollte die Weltkultur, die ihm vorschwebte, von den Wiedergeburten der alten mediterranen Kulturen bestimmt werden? Wenn Europa zwar der Ausgang, aber nicht mehr das Zentrum, sondern ein Teil der globalisierten Welt ist; wenn diese Globalität unhintergehbar geworden ist, dann entfällt jeder Anspruch auf den paradigmatischen Charakter der Antike im klassizistischen Sinn: dass nämlich die ›Welt‹ mit der griechisch-römischen Kultur identisch und alles ›Andere‹ Barbarei sei. Aus diesem kolonialen, wenn nicht imperialen Hintergrund heraus hatte Europa seinen Superioritätsanspruch abgeleitet. Die Höherrangigkeit der Antike begründete die koloniale Hegemonie Europas gegenüber dem Rest der Welt. Auch dies ist bei Humboldt vorbei. Gleichwohl insistiert Humboldt auf dem paradigmatischen Charakter der klassischen Antike. Um dies zu verdeutlichen, verweise ich zum Schluss auf Salvatore 25 Jürgen Osterhammel, Niels P. Peterssin: Geschichte der Globalisierung. [o. O.] 2003; ders.: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2009, S. 465–564 sowie S. 1010–1055; ders.: Alexander von Humboldt. Historiker der Gesellschaft, Historiker der Natur. In: Archiv für Kulturgeschichte 81 (1999), S. 105–131. 26 Vgl. dazu Die Vergangenheit der Weltgeschichte. Universalhistorisches Denken in Berlin 1800–1933, hrsg. v. Wolfgang Hardtwig, Philipp Müller. Göttingen 2010. 27 Hartmut Böhme: Alexander von Humboldts Entwurf einer neuen Wissenschaft. In: Prägnanter Moment. Studien zur deutschen Literatur der Aufklärung und Klassik. Festschrift für Hans-Jürgen Schings, hrsg. v. Peter-André Alt u. a. Würzburg 2002, S. 495–512.

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Settis, der, ohne es zu wissen, Humboldt folgt.28 Settis macht in der Spannung zwischen kultureller Identität und Alterität ein zentrales Problem der globalisierten Welt aus. Hierfür bietet die Antike ein Paradigma. Verabschiedet man nämlich das ›Klassische‹ und die Illusion der Homogenität der Antike, dann erscheint sie in neuem Licht: als frühes Experiment einer ökonomischen, multikulturellen und multiethnischen Globalisierung. Dieses Experiment ist umso aufschlussreicher, als es historisch abgeschlossen ist und sich für die Untersuchung der stabilisierenden und destabilisierenden Dynamiken kulturell heterogener Großgebilde anbietet.29 Das antike Mediterraneum ist ein paradigmatischer Fall, an dem strukturelle Integrationen und dissoziative Prozesse beobachtet werden können, die Kulturvergleiche mit ›anderen‹, außereuropäischen Antiken erlauben. Die Antike wird so zum Exempel für Kulturkomparatistik; eben diese Funktion hat sie auch für Humboldt. Die Antike bietet sich auch deswegen an, weil die vergleichende Ethnologie, wie Humboldt sehr gut wusste, schon in Griechenland beginnt und etwa auch die Renaissance, nach einem Vorschlag von Claude Lévi-Strauss, als die Epoche verstanden werden kann, die – im Zeichen der fremdartigen Antike (Lévi-Strauss spricht von der »Technik der Verfremdung«) – diese selbst zum Gegenstand einer Kulturkomparatistik (wenn auch noch nicht der Ethnologie) gemacht hatte.30 Die hier initiierten Beobachtungsverfahren und Reflexionspotentiale sind unverzichtbar, um den Pendelschlag zwischen Identität und Alterität, wie er in der globalisierten Welt verlangt ist, politisch wie kulturell praktikabel zu machen. Dies wäre nach Lévi-Strauss ein Humanismus dritter Stufe, nämlich eine Ethnologie, welche die »Totalität der bewohnten Erde« zum Gegenstand hat und alle »Formen des Wissens« heranzieht: »Wissenschaften vom Menschen und Naturwissenschaften«.31 Man darf sagen: genau dies stand Humboldt vor Augen und wurde von ihm auch schon praktiziert. Wenn Globalisierung davon abhängt, dass sich in ihr die vielen Kulturen und ihre Geschichten sowohl in Wechselwirkung wie in behaupteter Differenz zu entwickeln vermögen, wenn sich also Globalität und Regionalität, Identität und Alterität balancieren müssen, dann wird es möglich, politische Lösungen zu finden jenseits jener eurozentristischen Überlegenheit, die aus der Antike sich nährte. An diesen Lösungen arbeitete Humboldt und er wusste, dass er dabei die klassische Antike ebenso brauchte wie er sie als absoluten Maßstab überschreiten musste. Bei Hum28

Salvatore Settis: Die Zukunft des ›Klassischen‹. Eine Idee im Wandel der Zeiten. Berlin

2004. 29

Vgl. dazu Herfried Münkler: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten. Berlin 2005; Jared Diamond: Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen. Frankfurt a. M. 2005. 30 Claude Lévi-Strauss: Die drei Stufen des Humanismus. In: Ders.: Strukturale Anthropologie. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1992, S. 305–308. 31 Ebd., S. 306 u. S. 307.

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boldt ist Alterität ein Differenzierungseffekt auf der Grundlage kulturkomparativer Operationen, welche die wechselseitigen Durchdringungen, Hybridisierungen und Identitäten der Kulturen mitdenken. Für ein solches Projekt bleibt die Antike in der Tat aktuell, weil sie sowohl ein Differenzmerkmal Europas und seiner Regionen wie auch einen alten Globalisierungsmechanismus darstellt. Humboldt hält daran fest, dass von der Antike ein Prozess ausgeht, der nicht nur das neuzeitliche Europa trägt, sondern auch die Globalisierung bestimmen sollte. Sein Festhalten an der Aufklärung ist das Festhalten an jenem Ursprung der Wissenschaften in der Antike, welche nicht nur die Dynamik der europäischen Entwicklung, sondern der gesamten Erde bestimmt. Gemeint ist der einzigartige Drive zur Autonomisierung der Wissenschaften, des Rechts, der Politik, der Künste, der Erziehung und der Ökonomie, kurz: die Abkoppelung der sozialen Systeme von sakralkulturellen und religiösen Rahmenbedingungen. Diese Differenzierung hält Humboldt auch für eine Chance der lateinamerikanischen Völker, um sich aus der kolonialen Versklavung zu befreien, die ihnen von jenem Europa zugefügt wurde, das zugleich die Mittel der Befreiung, nämlich den Freihandel, die Menschenrechte und die Wissenschaften mitliefert. Gewöhnlich wird dieser Gewinn an Autonomie mit Modernisierung gleichgesetzt. Modernisierung ist ein gewaltiger Zug, der weit über Europa hinaus die Globalisierung beherrscht, in der Humboldt denkt. Er weiß aber, dass die ›moderne‹ Ausdifferenzierung von Recht, Wissenschaften, Künsten, Politik etc. in der Antike beginnt. Darum liest Humboldt die Geschichte der Antike in Europa und die neuzeitliche Dialektik von Kolonialismus und postkolonialer Befreiung als ein großes und großartiges Experiment, in welchem die zerstörerischen wie kreativen Kräfte der Modernisierung freigesetzt werden. In seinen eher politischen und ökonomischen Schriften etwa zu Kuba oder Mexiko oder den jüngst von Oliver Lubrich wieder veröffentlichten kleinen Schriften32 schlägt Humboldt deswegen vor, den unilinearen kolonialen, im besten Fall paternalistischen Transfer von ModerneModellen viel vorsichtiger und in Abstimmung mit sog. vormodernen Beständen der Weltkulturen zu gestalten. Darin ist Humboldt eindeutig ein liberaler Weltbürger. Sein Verhältnis zur Antike ist indes zwiespältiger: während er als Sohn der GoetheZeit v. a. in ästhetischen Fragen dem antiken Schönen verhaftet bleibt, das er auf seinen Reisen um die Register des Erhabenen und Pittoresken nur erweitert, so überschreitet er als Beobachter fremder Kulturen die normative Leitfunktion der Antike, um sie als Vergleichs-Kultur wiederum einzubauen in seine Konzeption der weltwei-

32

Alexander von Humboldt: Ueber die Urvölker von Amerika und die Denkmähler, welche von ihnen übrig geblieben sind. Anthropologische und ethnographische Schriften. Mit einem Nachw. versehen v. Oliver Lubrich. Hannover 2009; Alexander von Humboldt: Ueber die künftigen Verhältnisse von Europa und Amerika. Politische und historiographische Schriften. Hrsg. v. Oliver Lubrich. Hannover 2009.

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ten Vernetzungen und Strukturanalogien der Kulturen. So kann für uns, die wir nach den möglichen Funktionen der Antike in einer modernen und globalisierten Welt suchen, Humboldt noch immer ein überaus aufschlussreicher Fall sein.

4. Humanitas, Litteræ, Fruges Besonders deutlich kann man die humanisierende Rolle der Antike im Verhältnis Europas zu den kolonisierten und unterworfenen Kulturen Südamerikas abschließend an jenem Kupferstich verdeutlichen, den Humboldt der ersten Lieferung seines »Atlas géographique et physique des régions équinoxiales du Nouveau Continent« (1814) voranstellte (Abb. 7). Humboldt kommentiert: Das Titelblatt […] stellt Amerika dar; angesichts der Schrecken der Eroberung spenden Minerva und Merkur Trost. Darunter stehen die Worte humanitas, litteræ, fruges. Plinius der Jüngere schreibt Maximus, dem Quästor von Bithynien, als dieser zum Statthalter der Provinz Achaia ernannt wurde: ›Bedenkt, daß die Griechen Abb. 7: François Gérard (Zeichner), Barthélemy Roger (Stecher): Frontispiz zu A. v. Humboldt: Atlas den anderen Völkern Kultur, Wissenschaft und Nahrung géographique et physique des régions èquinoxiales du Nouveau Continent. Paris 1814–1838. schenkten.‹ Eben diese Güter verdankt Amerika dem alten Kontinent. Waffen, Gewänder, Schmuck Bauten und Statuen sind mir großer Genauigkeit und Treue wiedergegeben.33 33

Zit. nach Ottmar Ette im Kommentar zu seiner wichtigen Edition von Alexander von Humboldt: Reise in die Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinent. 2 Bde. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1991, S. 1609 f. – An Cottas Sohn Georg schreibt er am 24. Juni 1854 einschränkend: »Ameri-

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Den Hintergrund bildet der mächtige Chimborazo, den Humboldt fast bezwungen hatte. Unterhalb des rechten Arms der Minerva erkennt man jene »Pyramide von Cholula« in der Ebene von Puebla, die Humboldt im Kordilleren-Buch in Tafel VII abbildet und als ein uraltes Monument vermutlich der Kultur der Tolteken sorgfältig vermisst, beschreibt, historisch erfasst und in Beziehung zu antiken, ägyptischen und babylonischen Monumenten und Dokumenten setzt (Kordilleren 46–57). Auf Bau-Relikte stützt sich ein geschlagener (aztekischer?) Prinz, der von Merkur vor dem Niedersinken bewahrt wird, während Minerva ihm einen Olivenzweig darreicht. Zu Füßen des Prinzen die Waffen des Geschlagenen. Die antiken Gottheiten, die den aztekischen Krieger anteilnehmend ansehen, sind mit den üblichen Attributen bezeichnet (das Gorgoneion auf der Aigis der behelmten Minerva, Flügelhelm und -schuhe sowie der Caduceus des Merkur). Die Subcriptio lautet »Humanitas. Litteræ. Fruges.« »Plin.jun. I.VIII.Ep.24« verweist auf die Fundstelle in Plinius’ Epistularum Libri Decem. Der jüngere Plinius schreibt an seinen Freund Sextus Quinctilius Valerius Maximus, der durch Kaiser Trajan 108 n. Chr. als Bevollmächtigter (corrector) in die Provinz Achaia (Mittel-Griechenland und Peleponnes) entsandt wurde. Dieser Brief gilt als Dokument des römischen, besonders an Cicero angelehnten Humanismus – etwa bei Johannes Christes, Eckhard Lefèvre oder James H. Oliver. Plinius erklärt das von Rom besiegte, doch »wahre und unverfälschte« Griechenland zum Ursprung von Menschlichkeit, Bildung und Agrikultur (Humboldt übersetzt: Kultur, Wissenschaft, Nahrung): Achaia erfordere seitens Rom Ehre und Achtung vor der »einstigen Größe«, aber auch die Anerkennung von Freiheit und Würde, um die verfassungsmäßige Ordnung in den freien Städten Achaias festzusetzen34 – und zwar von Seiten der Siegermacht. Denn durch Schrecken (terror) und Furcht (timor) Respekt zu erzwingen, ist die falsche Politik. Ganz sicher las Humboldt diesen Brief des Plinius als Kritik an der imperialen Unterdrückungspolitik Europas gegenüber den amerikanischen Völkern. Die Lesart des Stichs und des Humboldtschen Kommentars ist vielschichtig: einerseits ist Lateinamerika das Griechenland Roms, nämlich die von einem Imperium unterworfene Provinz. Die europäischen Kolonialmächte sollen sich Amerika gegenüber als jenes humane Rom zeigen, welches das unterworfene Griechenland achtet und nicht terrorisiert. Denn Griechenland, andererseits, ist der Ursprung eben ka traurend zwischen den Resten alter mexicanischer Kunst aufgerichtet durch Pallas u. Merkur. Inschrift aus einem Briefe des jüngeren Plinius Humanitas, Litteræ, Fruges (Korn Cerealien, was beide Gottheiten der Neuen Welt gebracht zu haben glauben)« (Alexander von Humboldt und Cotta. Briefwechsel. Hrsg. v. Eberhard Knobloch, Ulrike Leitner. Berlin 2009, S. 23, Anm. 47). 34 »So hatte […] Sext. Quinctilius Valerius Maximus die Überprüfung und Neufestsetzung der civitates liberae von Achaea durchzuführen« (Gabriele Wesch-Klein: Provincia. Okkupation und Verwaltung der Provinzen des Imperium Romanum von der Inbesitznahme Siziliens bis auf Diokletian. Münster 2008, S. 149).

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von humanitas, litteræ, fruges. Wenn Humboldt die dem aztekischen Prinzen aufhelfenden, ursprünglich griechischen Götter mit ihren römischen Namen bezeichnet, so vertreten sie jene aus Griechenland stammenden, römisch transformierten Kulturleistungen, die nunmehr an die Neue Welt weitergegeben werden sollen. Die europäischen Staaten sollen also die transformierte griechische Antike zur Grundlage ihrer Kolonialpolitik machen – und stoßen dann in Amerika auf ein ›anderes‹ Griechenland, nämlich auf von ihnen, als quasi-römische Kolonialmächte, unterworfene Kulturen, die sehr alt sind (oft, wie Humboldt bemerkt, älter als viele europäischen Mächte). Doch waren sie hochentwickelt, während sie jetzt zerstört und barbarisiert sind, also der Kultur bedürfen. Minerva und Merkur stehen allegorisch für die Idee einer freizügigen, von Anerkennung und Achtung geprägten sowie von ›Gaben‹ begleiteten Politik der Entwicklung jener Kulturen, die von Europa zerstört wurden. Die Humanität, die Plinius gegenüber Griechenland einfordert, ist eben die Humanität, die Humboldt gegenüber Amerika einklagt. Er tut dies in der Rolle des Plinius – als Angehöriger der imperialen Macht, doch als Anwalt der kolonisierten Völker. Die Kolonialmächte sollen die Kulturleistungen weitergeben, die sie selbst auch nur empfangen haben und nicht als Eigentum und Privileg beanspruchen dürfen. Nur dann kann man davon sprechen, dass Amerika Europa auch etwas »verdankt« und nicht nur erleidet. In dem Stich vertritt Humboldt, in allegorischer Form, einen freiheitlichen Universalitätsanspruch, der sich in einer Vielheit der Kulturen differenziert, dann jedenfalls, wenn das Zeitalter der Imperien überwunden und Europa wie die ehemals kolonisierten Länder zu gleichberechtigten Akteuren der globalisierten Welt geworden sind. Gleichwohl: die paternalistischen Gesten der römischen Gottheiten (die dem Paternalismus der Politik Trajans entsprechen) sollen zwar für die aufgeklärten, gleichsam schon ›postkolonialen‹ europäischen Staaten stehen, doch wird dabei eine Überlegenheit Europas selbstverständlich in Anspruch genommen.35

35

Dieser Meinung ist auch Bettina Heyl: Das Ganze der Natur und die Differenzierung des Wissens. Alexander von Humboldt als Schriftsteller. Berlin, New York 2007, S. 188 f.

teil ii Aspekte 1. sektion: Redesachen – Gegenstände der Rhetorik

Carsten Zelle (Bochum) Redesachen – Gegenstände der Rhetorik: Einleitung

Nichts wird in der Aufklärung zur Sache, wenn es nicht zur Sprache gebracht wird. Wie die Sache als Rede zur Sprache gebracht und dargestellt werden kann, regelt das rhetorische System. Es sorgt dafür, dass Sachen gefunden (inventio), lokalisiert (dispositio) und formatiert (elocutio) werden können, und zwar unabhängig davon, ob es sich um programmatische Ziele des Projekts Aufklärung, um einzelne Kampfideen, Probleme und Anliegen oder einfach nur um Gerüchte, Klatsch oder Tratsch handelt. Dabei nehmen nicht nur die Sachen selbst diskursive Gestalt an, sondern auch das rhetorische System als solches, das den Diskurs reguliert, gestaltet sich um: Es verliert im Prozess der Aufklärung alte Aufgaben und übernimmt neue. Einerseits stehen damit die Relationierung von res und verba in der Aufklärungsrhetorik, ihr Wandel im Blick auf die Betonung von Interesse, Perspektive und Standortgebundenheit zur Diskussion – praktisch z. B. in der Disputierkunst, theoretisch z. B. in der neuen Disziplin der Ästhetik bzw. der ihr zugrundeliegenden empirischen Psychologie, insofern sich die Vorstellung der Dinge nach der Stellung des Körpers in der Welt richtet (Alexander Gottlieb Baumgarten), oder der Geschichtswissenschaft, in der dementsprechend der ›Sehe-Punkt‹ zum Ausgangspunkt hermeneutischer Überlegungen gemacht wird (Johann Martin Chladenius). Andererseits führen diese Probleme zu einer spezifischen Rhetorik des Wissens mit ihren unterschiedlichen Verfahren der Darstellung, Bildgebung und Evidenzerzeugung. Mit den im Sektionstitel bezeichneten Gegenständen der Rhetorik geht es also gerade auch um die Umstände, unter denen eine Sache zur wissenschaftlichen Objekt oder gar zum ›epistemischen Ding‹ (Hans-Jörg Rheinberger) werden kann. Die Rhetorik im 18. Jahrhundert, ihre Transformation bzw. ihre Diskontinuität und Widersprüchlichkeit im Jahrhundert der Aufklärung kann daher strenggenommen nicht isoliert thematisiert werden. Ihre Isolation in die Grenzen einer Sektion ist Resultat eiserner Tagungsgesetzlichkeit. Tatsächlich stehen die hier verhandelten Wandlungen in einem engen Zusammenhang mit der Entstehung der Ästhetik (Sektion III) und den Verschiebungsprozessen in der Poetik und dem System der Künste (Sektion V). Zugleich durchherrscht die in der Rhetorik regulierte Darstellung der Sachen und die damit verbundene Ordnung der Dinge die Streitsachen selbst (Sektion II) und solche Themen wie Empirie (Sektion VII) oder Wissen vom Menschen (Sektion IX), da Ergebnisse von Beobachtungen und Experimenten stets diskursiv festgehalten, vermittelt und weitergegeben bzw. Fälle archiviert, ausgewertet und verallgemeinert werden müssen.

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1. Sektion · Carsten Zelle

Das Verhältnis von res und verba bzw. zwischen les mots et les choses ist im ›ewigen‹ Widerstreit zwischen Rhetorik und Philosophie umstritten. Ob die kulturellen Kodes den Blick rastern und die empirische Ordnung beherrschen oder ob sich der Geist, ohne ein Medium nötig zu haben, selbst durchsichtig ist, mag hier nicht entschieden werden. Die Frage ist – wie die Dynamik der hier versammelten Beiträge zeigt – im 18. Jahrhundert eine ›Streitsache‹ gewesen. Dass »Die Dinge im Vordergrund« stehen, erarbeitet Anna Echterhölter (Berlin) an den »Strategien der Sachlichkeit in akademischen Totenreden«. Das epideiktische Genre der Totenrede, die neben der Kanzelrede, die Gegenstand der Homiletik ist, den wichtigsten Erfahrungshintergrund frühaufklärerischer Rhetorikkritik bildet, schließt Echterhölter für eine Geschichte des Wissens auf. Programmatisch formuliert Friedrich Andreas Hallbauer in seiner Vollständige[n] Anweisung zum Parentieren (1727), dass sich »die Sachen nicht nach den Worten, sondern die Worte […] nach den Sachen« zu richten hätten und man daher nicht länger »excerpieren«, sondern »meditieren« und »aus dem Wesen der Sache reden« solle. Die elocutio verliert an Bedeutung zugunsten einer Neubewertung der inventio, die freilich der Rhetorik entzogen, an die Logik gebunden und auf diese Weise philosophisch erneuert wird. Der an der scheinbar marginalen Gattung der Totenrede gewonnene Befund ist für die Programmatik aufklärerischer Rhetorik – wie die Ausführungen von Dietmar Till (Berlin) zum Thema »Kommunikation der Aufklärung: Über Popularphilosophie und Rhetorik« bestätigen – verallgemeinerbar. In der Diskussion der Frühaufklärung wird das Verhältnis zwischen Rhetorik und Philosophie zugunsten der Logik, d. h. des erkenntnistheoretischen Primats, verschoben. Die Rhetorik wird dadurch in eine nachgängige Position gedrängt. Sie wird zum bloßen »Supplement der Logik« (Till). Die spätestens mit dem Idealismus einsetzende Diskreditierung populärer bzw. verständlicher philosophischer Darstellungsformen führt Till zufolge zur Aufgabe der Bemühung, die »›Sachen der Aufklärung‹ zu kommunizieren«. Die Philosophie – so Till – beziehe dadurch ein selbstgewähltes akademisches Schneckenhaus und räume das Feld, gesellschaftliche Reflexionsinstitution zu sein. Die aufklärerische, spätestens mit Kants platonisierendem Verdikt (KdU, § 53) approbierte Zurückdrängung der Rhetorik zu einem ›Supplement der Logik‹ entbindet freilich eine dekonstruktive Logik des Supplements, die in den anschließenden Beiträgen entfaltet wird. Davide Giuriato (Frankfurt am Main) arbeitet in seinem systematischen, Wolff, Breitinger und Klopstock umfassenden Aufriss zum Begriff der »Deutlichkeit im 18. Jahrhundert« die überschüssige Struktur dieses aufklärerischen Leitbegriffs heraus. In dessen Definition werde philosophische cognitio distincta von der rhetorischen Tugend der perspicuitas überlagert. Christian Wolffs Klarheit und Deutlichkeit besorgende »figürliche [!] Erkäntniß« (Deutsche Metaphysik, 111751, § 319) ist auf die Kraft figurativer evidentia angewiesen, so dass ausgerechnet Wolffs antirhetorische Semiotik auf einem rhetorischen Effekt aufbaut. Die vom Wolffia-

Einleitung

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ner Breitinger geprägte, oxymoral anmutende Formel einer »lebhaften Deutlichkeit« bringt solche Verschränkung von Erkenntnislehre, Poetik und Rhetorik treffend zum Ausdruck. In seinem »Verziert – überspannt« überschriebenen Beitrag »Zur Sache der Poesie in Lessings Fabel Der Besitzer des Bogens« interpretiert Florian Schneider (München) den kurzen Text als eine ›Metafabel‹, die das Wesen poetischer Sprache selbst thematisiert. Zwar zielt der Inhalt des Fabel auf eine Ablehnung ›frostiger‹ Allegorie, insofern der exaltiert ornamentierte Bogen – »›Du verdienest diese Zierraten, mein lieber Bogen!‹« – »zerbricht«, d. h. zum Jagen untauglich wird, jedoch vermag Lessing das, was gemeint ist, nur »durch die Blume« (Schneider), d. h. nur allegorisch im ›Gewand‹ der Fabel zu sagen. In ihren Ausführungen »Das Auge des Anatomen: Zur Figur des Beispiels bei Kant« zielt Carolin Blumenberg (Potsdam und Frankfurt/ Oder) in ähnliche Richtung. Zwar unterscheidet Kant in epistemologischer Hinsicht zwischen dem Beispiel, das auf objektive Realität und logische Subordination hin angelegt ist, von anderen Formen veranschaulichender Bildgebung, insbesondere von der indirekten Darstellung symbolisierender und schematisierender Hypotypose (KdU, § 59). Die als Beispiel für das Beispielgeben angeführte, anatomische Zergliederung eines menschlichen Auges (KdU, § 57, Anm. 1) entpuppt sich jedoch als das, was es gerade nicht sein soll: als rhetorische Figur symbolischer Hypotypose. Auf das Problem der Darstellung zielt auch der zwischen Rhetorik und Narratologie – ›narratio‹ ist freilich wiederum Gegenstand der rhetorischen Dispositionslehre – angesiedelte Vortrag »Das wilde Erzählen« von Wolfram Malte Fues (Basel), in dem am Beispiel eines ›elenden Romans‹ (Lessing) – »Der mit seiner Donna Charmante herumirrende Ritter Don Felix« von 1754 – die verschiedenen literarischen Darstellungsmittel »ständisch umgrenzter und bestimmter, reproduktiver Subjektivität« einerseits, »bürgerlich entgrenzter und sich bestimmender, produktiver Subjektivität« andererseits herausgearbeitet werden. Die uns heute befremdenden Verfahren des Benennens, Aufzählens, generalogischen Addierens u. ä. – »Sonderbündigkeiten« hatte Clemens Lugowski das genannt – werden als Formen einer Individualität geltend gemacht, die der »generalisierte[n] Individualität« (Schiller an Körner, 10. Nov. 1794) des klassischen Bildungsromans, die mittels »Ähnlichkeit, Analogie und Metapher« figuriert wird, vorangingen. Damit wird, ohne dass dies im Vortrag explizit benannt würde, der Unterschied zwischen barocker Allegorie und klassischem Symbol im Blick auf die »Form der Individualität« (Lugowski) nochmals ausbuchstabiert. Nicht von einer epistemologischen, sondern von einer frauenrhetorikgeschichtlichen Perspektive her nähert sich Lily Tonger-Erk dem Paradigma bzw. exemplum als Mittel rhetorischer Induktion bzw. Beweisführung. In ihrem Beitrag »Exempla« gerät die »Figur der Rednerin in der Frühaufklärung« anhand eines wohlrecherchierten Textkorpus in den Blick. Zwar wird der ideale Redner seit der Antike männlich gefasst, im Kontext der Querelle des Femmes des 17. und 18. Jahrhunderts entwerfen die Exempelsammlungen der Frauenzimmerlexika jedoch das Gegenbild einer weib-

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1. Sektion · Carsten Zelle

lichen Rednerin. Tatsächlich öffnen diese Exempel im Zuge frühaufklärerischer Rhetorikkritik weiblicher Wohlredenheit einen Binneraum jenseits öffentlicher Beredsamkeit, der jedoch – wie die Auswertung eines 1745/47 stattgehabten ›Federkriegs‹ um die rhetorischen Vorzüge von Männern und Frauen belegt – nicht unumstritten war. Während einerseits das Beispiel Evas als erster Rednerin dazu dient, persuasive Rede per se als verführerisch, böse und sündhaft zu diskreditieren, fungiert andererseits die Nennung gelehrter Frauenzimmer, z. B. der Dacier oder der Gottschedin, als Exempel bzw. Muster für die rednerische Befähigung von Frauen.

Anna Echterhölter (Berlin) Die Dinge im Vordergrund. Strategien der Sachlichkeit in akademischen Totenreden

Den traurigen Zustand der funeralen Rhetorik seiner Zeit führt Friedrich Andreas Hallbauer auf die Praxis zurück, Versatzstücke aus Materialsammlungen mehr oder weniger willkürlich zu assemblieren: In collectaneis […] findet man die Titel und Materien nicht aus ihren Wesen, gründlich ausgeführet; sondern das allermeiste darunter sind Realien, die ausser den Wesen der Sachen sind, Historien, Exempel, Gleichnisse, Gebräuche, Zeugnisse, auch wol emblemata, Münzen u.d.g. und also wird ein Parentator, der aus collectaneis redet, doch allemal mit ganzen Wolcken solcher Sächelchen aufgezogen kommen, fremd Zeug vortragen, nichts gründlich ausführen, Unverständiger Ohren auf eine kurze Zeit kützeln, Niemand überzeugen, Niemand bessern, und mit einem Worte nach Art der Pedanten reden.1

Es fällt auf, dass bei Hallbauer die Ebene der Textproduktion auf ungewöhnlich genaue Art verhandelt ist. Seiner Diagnose der »Verzettelung« wird zunächst nachgegangen, da sich hier die Rekonfiguration des Verhältnisses von Redner und Sachen exemplarisch für die ›philosophische Oratorie‹ der Frühaufklärung verfolgen lässt. Die Erwähnung des Pedanten weist zudem darauf hin, dass mit der monierten Fehlanwendung von Informationsspeichern eine weitergehende Wissenschaftskritik verknüpft ist. Es ist in diesem Zusammenhang alles andere als bedeutungslos, dass Hallbauer seine Reform der Redesachen einer Anthologie von Totenreden auf Gelehrte voranstellt. Als professor eloquentiae war Hallbauer von 1731–1740 verpflichtet, der Jenaer Todesfällen in öffentlicher Rede zu gedenken. In diesen Versammlungen erhalten die von ihm vertretenen Strategien der Sachlichkeit ihren konkreten historischen Kontext. Dieser wird als akademischer Kommunikationsort vorgestellt, an dem historische methodische Überzeugungen, die zumeist nonverbal die Arbeit lenken, in Ansätzen greifbar und explizit werden. Es schließt sich die Frage nach den Mechanismen an, mit denen diese topischen oder methodischen Präferenzen Anhängerschaft generierten. Um Hallbauers Totenreden für eine Geschichte des Wissens zu perspektivieren, wird die von ihm eingeklagte Versachlichung der Epideiktik mit der

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Friedrich Andreas Hallbauer: Vollständige Anweisung zum Parentieren. In: Ders.: Zehenden der auf der Jenaischen Academie gehaltenen Parentationen. Jena 1730 [1727], S. 7–41, hier S. 61.

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akademischen Lobrede in Frankreich verglichen, deren herausragende Stellung für die Entstehung der Naturwissenschaft unbestritten ist. Hallbauers Leistungen für die Rhetorik der Frühaufklärung stehen außer Zweifel.2 Eine medienpragmatische Betrachtung seiner Empfehlungen verspricht wichtige Aufschlüsse für eine Wissensgeschichte der Notiz und der Rolle konkreter Schreibpraktiken in der intellektuellen Arbeit.3 Die Rekonstruktion der Redeanlässe erfolgt im Anschluss an das gestiegene Interesse an der mündlichen Kommunikation innerhalb der Wissenschaft bei William Clark und Martin Mulsow.4 Herangezogen wurden zudem Arbeiten zur akademischen Panegyrik, die allerdings die Wissenschaftsgeschichte nicht eigens verhandeln.5

Hallbauers Reform der Information Kritik an der Rhetorik wird in der Frühaufklärung zwar geübt, sie richtet sich allerdings nicht gegen die Institution als Ganze. Vertreter der ›vernünftigen Oratorie‹ – neben Friedrich Andreas Hallbauer zählen hierzu Johann Andreas Fabricius und Johann Christoph Gottsched – zielen vielmehr auf einen Waffenstillstand zwischen den Ansprüchen auf Wahrheit und dem, was mit Renate Lachmann als ›Kunst der persuasiven Rede‹, als eingestandener Machtaspekt der Rhetorik zu bezeichnen wäre.6 Wichtigster Austragungsort der Debatte ist dabei die Überwindung des topischen Rhetorik-Modells des Barock, das vorwiegend im Zerrbild einer sinnentleerten Anhäufung von Versatzstücken aufgerufen wird.7 2

Dietmar Till: Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2004; Gunther E. Grimm: Von der ›politischen Oratorie‹ zur ›philosophischen‹ Redekunst. Wandlungen der deutschen Rhetorik in der Frühaufklärung. In: Rhetorik 3 (1983), S. 65–96. 3 Peter Becker, William Clark (Hrsg.): Little Tools of Knowledge. Historical Essays on Academic and Bureaucratic Practices. Michigan 2001; Karin Krauthausen: Vom Nutzen des Notierens. Verfahren des Entwurfs. In: Dies., Omar Nasim (Hrsg.): Notieren, Skizzieren. Schreiben und Zeichnen als Verfahren des Entwurfs. Zürich 2010, S. 7–26. 4 William Clark: Academic Charisma and the Origins of the Research University. Chicago 2006; Martin Mulsow: Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissen, Libertinage und Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Stuttgart 2007. 5 Ralf Georg Bogner: Der Autor im Nachruf. Formen und Funktionen der literarischen Memorialkultur von der Reformation zum Vormärz. Tübingen 2006; Josef Kopperschmidt, Helmut Schanze (Hrsg.): Fest und Festrhetorik. Zur Theorie, Geschichte und Praxis der Epideiktik. München 1999. 6 Renate Lachmann: Rhetorik – alte und neue Disziplin. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 4 (1981), S. 21–29, hier S. 22. Vgl. zum Balanceakt der ›philosophischen Oratorie‹ Till: Transformationen, S. 340 f. 7 Vgl. zur Homiletik Andres Straßberger: Die ›Leipziger Predigerkunst‹ im (Zerr-)Spiegel der

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Hallbauer bringt früh einige Schärfe in den Ton dieser Auseinandersetzung und geht dabei besonders konkret auf seiner Meinung nach irrige Schreib- und Entwurfspraktiken ein. So auch in seinen ab 1724 publizierten Überlegungen zur Abfassung von Parentationen.8 In diesen Grabreden, die als Teile des barocken Leichenbegräbnisses von erheblicher kultureller Sichtbarkeit waren,9 sieht er nichts als bloße »Haufen von Worten« oder gar »Cloacen aller abgeschmackter Sachen und Worte«. Sie sind »Muster vollkommener pedantischer Reden«, die von den »vernünftigen Parentationen« ersetzt werden müssen.10 Grundlage der irrigen Informationsverarbeitung sind die Collectaneen, also Stellensammlungen und Exzerptbücher, die das Abfassen einer Rede durch ihre thematisch angelegten Register erleichterten, die zumeist handschriftlich aufgefüllt wurden. Hallbauer erwähnt verschiedene rhetorische Ordnungsrahmen, die das Auffinden der Sachen und Redestoffe in einen klaren Handlungsalgorithmus fassten, wobei zu Hallbauers Zeit die Topik, also die Kunst der Findung der Argumente, und die Methode der loci communes, die klassisch der Ausschmückung der Argumente dient, sich angenähert haben.11 Seine Kritik setzt Hallbauer also bereits auf der Ebene des konkreten gestischen Repertoires der Wissensverwaltung an, dass – wie Karin Krauthausen in ihrer Untersuchung der epistemologischen Funktion der Notiz betont – die Akteure weit zuverlässiger prägt als bloße Vorstellungen.12 Selten gerät dabei in den Blick, was als Leistung oder Ehrgeiz der Barockrhetorik anzusehen wäre. Wie sich das Motiv des Adlers beispielsweise in dem »tropologischmoralischen Sinn [der] allegorisierenden Methode« entfalten kann, hat Hans-Jürgen Schings aufgezeigt,13 der die Ausstrahlungskraft gerade der Parentationen bis in die Trauerspiele des Barock betont. Diesen Möglichkeiten verschließt sich Hallbauer.

aufklärerischen Kritik. In: Andreas Gößner u. a. (Hrsg.): Die Theologische Fakultät der Universität Leipzig. Leipzig 2005. S. 73–163. 8 Ab 1724 erschienen 3 x 10 Beispielreden, jeweils mit einer Vorrede und Kritik der rhetorischen Praxis der Zeit. Friedrich Andreas Hallbauer: Anweisung zum Parentieren. In: Ders.: Zehenden der auf der Jenaischen Academie gehaltenen Parentationen. Jena 1733 [1724], S. 7–41; Andreas Hallbauer: Vollständige Anweisung zum Parentieren. In: Ders.: 2. Zehend der auf der Jenaischen Academie gehaltenen Parentationen. Jena 1730 [1727]. S. 9–133. Hierzu existiert eine fast identische Version in: Friedrich Andreas Hallbauer: Fortgesetzten Anweisung zum Parentieren. In: Ders.: 2 Zehend der auf der Jenaischen Academie gehaltenen Parentationen. Jena 1727. 9 Eberhard Winkler: Die Leichenpredigt im deutschen Luthertum bis Spener. München 1967; Bogner: Autor im Nachruf. 10 Hallbauer: Anweisung, S. 21. 11 Hans Georg Coenen: Locus communis. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hrsg. v. Gert Ueding, Bd. 5. Tübingen 2001, Sp. 398–411. 12 Krauthausen: Nutzen des Notierens, S. 11 f. 13 Hans-Jürgen Schings: Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius. Untersuchungen zu den ›Dissertationes funebres‹ und Trauerspielen. Köln 1966, S. 53.

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Christian Weises »Politischer Redner« oder Christian Weidlings »Emblematischer Trauerredner« lehren für seine Begriffe nichts als kopflose Kombinatorik. Diese Verfahren beschränkten sich durchaus nicht nur auf den engen Kreis der Verfasser von Reden oder gar Totenreden. Das Argumentationsschema der Chrie dominierte den Schulunterricht, topische Modelle hatten in viele Lehrpläne Eingang gefunden.14 Die Rezeption der ludisch-theologischen Kombinatorik des Lullismus oder anderer Entwürfe des universalen Wissens tendierte in Richtung einer Meta-Wissenschaft, welche Bibliographie, Indizierung des Gesamtwissens und Pansophie zu verschiedenen Anteilen enthalten konnte. Diesen Denkweisen entsprachen fragmentierte Informationseinheiten. Ein Zeugnis der Verbreitung von Verzettelungspraktiken liefert etwa die von Vincent Placcius verbreitete Ars excerpendi, die eine Bauanleitung für den Exzerptschrank Thomas Harrisons enthielt, der den loci-communes-Büchern in mehrfacher Hinsicht überlegen war (unbegrenzter Raum, Portabilität und Rekombination der einzelnen Papierträger).15 Ein nach diesem Modell gebauter Schrank gelangte in Leibniz’ Besitz und avancierte, neben Joachim Jungius’ Zettelkasten, zu den bekanntesten Sammlungsobjekten aus dieser Zeit.16 Es ist bemerkenswert, wie Hallbauer sowohl die ludischen als auch die metaphysisch gestützten Informationsarchitekturen des Barock, die Stefan Rieger als künstliche Intelligenzen charakterisiert, stets eifersüchtig abkanzelt.17 Dabei argumentiert Hallbauer durchaus mediengeschichtlich gegen diese Speicherungsverfahren, wenn er betont, dass für Cicero das Abschreiben jeglicher Information die einzige Möglichkeit der Sicherung der Inhalte gewesen sei. In Zeiten des Buchdrucks und -handels allerdings noch so zu arbeiten, sei hingegen schlichtweg anachronistisch.18 Auch »mit weissem Pappiere durchschossene Bücher«,19 auf denen zusätzlicher Platz für den Eintrag der dazugehörigen Realiensammlung vorgesehen ist, lehnt er ab. Diese Schreibpraktiken sind für Hallbauer Techniken, das 14

Heike Mayer: Lichtenbergs Rhetorik. Beitrag zu einer Geschichte rhetorischer Kollektaneen im 18. Jahrhundert. München 1999, S. 30. 15 Vincent Placcius: De arte excerpendi. Vom Gelahrten Buchhalten. Hamburg 1689; Noel Malcolm: »Thomas Harrison and his ›Ark of Studies‹: An Episode in the History of the Organization of Knowledge.« In: The Seventeenth Century 19 (2004), S. 196–232. 16 Anke te Heesen: Die Materialität von Exzerpt und Zitat. In: dies.: Der Zeitungsausschnitt. Ein Papierobjekt der Moderne. Frankfurt a. M. 2006, S. 25–45; Markus Krajewski: Zettelwirtschaft. Die Geburt der Kartei aus dem Geiste der Bibliothek. Berlin 2002; Christoph Meinel: Enzyklopädie der Welt und Verzettelung des Wissens. Aporien der Empirie bei Joachim Jungius. In: Enzyklopädien der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Franz M. Eybl u. a. Tübingen 1995, S. 162–187. 17 Stefan Rieger: Speichern/Merken. Die künstlichen Intelligenzen des Barock. München 1997. 18 »[D]enn diese [die Alten] excerpirten aus Noth.« (Hallbauer: Vollständige, S. 67). 19 Ebd., S. 72.

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Denken zu verhindern. Zulässig ist es lediglich, sich Verweisstellen zu anderen Büchern neben dem Text zu vermerken. Hierzu aber genügt ein vom Buchbinder etwas verbreiterter weißer Rand.20 Bei ihm dient das Verweissystem der Erinnerung an zugehörige Argumente in anderen Büchern und ist keine bloß thematische Ordnung.21 Aufgezeichnet wird nicht im enzyklopädischen Erkenntnismodus, nicht als Materialbasis für ein elegant verzahntes Verweisgeflecht, das mit emblematischen, hieroglyphischen, allegorischen und numismatischen Bezügen überrascht. Hallbauers Schreibszene ist auf eine neue Einheit angelegt, die anders gelagert ist und mit dem zusammenhängt, was er »Wesen der Sache« nennt.

Curiöse Realien und ›schwache Vernunft‹ Es zeigt sich, dass Hallbauer nicht nur gegen die von der Rhetorik bereitgehaltenen Register der Topik angeht, denen er einen mechanischen, kombinatorischen und automatischen Aufbau der Rede unterstellt. Nicht nur der unreflektierte Umgang mit vorgefertigten Ordnungssystemen, sondern auch deren bevorzugter sachlicher Inhalt wird disqualifiziert als »Spiel-und Puppenwerk, das man in den neuern Zeiten, nach dem Exempel der jesuitischen Windmacher in die Reden eingeführt hat«.22 Dies bezieht sich vor allem auf die Verwendung von Emblemata, Münzen, Wappen, Symbolen, Hieroglyphen. Es betrifft zudem die Sammlung von Schwänken, Apophthegmata oder Sprichwörtern, von exotischen, ausgefallenen Realien und Allegorien. Vor allem bei letzteren ist Vorsicht geboten, denn diejenigen, die »wenig von der Beurtheilungs-Kraft besitzen, werden hierbey in viele Auslachenswürdigkeiten verfallen: gleichwohl verlieben sich solche am ersten in allegorische Reden«.23 Diese Aversion gegen ein paralysierendes Interesse und die blendende Außergewöhnlichkeit der »curiösen« Realien fügt sich in das, was Lorrain Daston als größeres Szenario des Anti-Wunderbaren in der Aufklärung beschrieben hat.24 Die Anziehungskraft der Sachen findet ihre Entsprechung in mangelnder Urteilskraft. Mehr noch, die pedantische Redeweise resultiert für Hallbauer aus einem intellektuellen Vakuum, einer »Schwachheit [des] Verstandes«,25 einer Verfallenheit an und Verführbarkeit durch allzu reizvolle und exotische Realien. Diese curiösen Sachen bewirken einen Zustand der Abhängigkeit, den Hallbauer mehrfach »Exzer20

Ebd. Ebd. 22 Hallbauer: Fortgesetzte, S. 58. 23 Hallbauer: Vollständige, S. 90. 24 Katharine Park, Lorraine Daston: Wunder und die Ordnung der Natur 1150–1750. Berlin 2002, S. 387 f. 25 Ebd., S. 74. 21

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pier-Sucht« nennt. Seine Anleitungen zum Parentieren versteht er dagegen als Mittel, »den Excerpir-Süchtigen Verstand als [auch den] Willen zu curiren«.26 Hallbauers Therapie sieht eine Distanz zu Notizen und Vertextungen vor und weist für den Entwurf der Reden auf eigene Wissenschaft und Erfahrung.27 Es empfiehlt sich zudem, sich Themen anzueignen und »Bücher im Kopf zu tragen«.28 Bei dieser Vorgehensweise sei darauf zu achten, wie sich bei ganz anderen Tätigkeiten zwischendurch Ideen entwickelten, die dann auf einen »Denkzettel«29 notiert werden sollten. Nur so, als im Moment des Einfalls verfertigte Notiz, wird das externalisierte Gedächtnis nicht übermächtig und fördert das zutage, was bei Hallbauer zum positiven Gegenbegriff des Exzerpierens avanciert – die Meditation: »Meditieren heißt eine Sache nach ihrem Wesen, Natur, Grunde, Ursachen, Eigenschaften selbst betrachten und erwegen: excerpieren heißt aus andern Dinge schreiben, die nicht zum Wesen der Sachen gehören, ja wol gar auf Spielwerck und in der Beredsamkeit nie üblig gewesenen Zeug hinaus lauffen.«30 Die Sache tritt hier in den Vordergrund, aber keinesfalls als neutrales Faktum, sondern als eine Entität, als ein Geflecht, dem man folgt und dem eine gewisse Eigendynamik zukommt. Wenn Hallbauer immer wieder fordert, der Redner solle »aus dem Wesen der Sache reden«,31 klingt es als entfalte sich die Wahrheit dann wie von selbst. Das zu Sagende wird an die Kette des Wesens der Dinge gelegt und es bedarf lediglich der aufrichtigen Geistesarbeit, damit sich Zusammenhang organisch und unfehlbar richtig darstellt. Eingeführt wird also eine neue Allianz von Argument und Wesen, die sich als alternatives Orientierungssystem an die Stelle der Topik setzt. Einfache Forderungen wie: »Man richtet die Sachen nicht nach den Worten, sondern die Worte sollen sich nach den Sachen richten,«32 sind von der Warte dieses pietistisch inspirierten epistemischen Arkadiens keinesfalls mehr selbstverständlich, sondern setzen einen vollkommen neuen Naturbegriff voraus.33 Es ist bezeichnend, dass in diesem Zusammenhang die Prozesse des Betrachtens und Erwägens, die zentral für den Bereich der inventio sind, wie schon im obigen Zitat betont werden.

26

Hallbauer: Fortgesetzte, S. 70. Ebd., S. 74. 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Hallbauer: Vollständige, S. 65. 31 Ebd., S. 61. 32 Ebd., S. 35. 33 Vgl. Zur Konstruktion pastoraler Natur in den Eloges Dorinda Outram: The Language of Natural Power. The ›Éloges‹ of Georges Cuvier and the Public Language of Nineteenth Century Science. In: The History of Science 36 (1978), S. 153–178. 27

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Sachgerechte inventio oder der Autor im Hintergrund Rhetorikgeschichtlich wird die zu Hallbauers Zeiten eintretende Wende der Redekonventionen als eine Neubewertung der inventio greifbar, die die Techniken zur Auffindung der richtigen Sachen und Gegenstände der Rede betrift. Hans-Henrik Krummacher hat die Transformation des rhetorischen Ehrgeizes anhand von Epicedien (den Beigaben zu Leichenpredigten und Parentationen) in diesen Parametern vorgeführt. Von den drei Stadien der Abfassung einer Rede (inventio, dispositio, elocutio) wurde im Barock vor allem in die letzte der drei Phasen investiert,34 was die deutschsprachige Gelegenheitsdichtung zu einem Exerzierfeld gelehrter Verweise und geschachtelter, figurativer Sinnstrukturen machte. Die getürmten Anspielungen sind dabei, wie Maria Fürstenwald bemerkt, als genuiner Ausdruck von Gelehrsamkeit zu verstehen.35 Eine Gelehrsamkeit allerdings, die weit stärker auf glanzvoller Verknüpfung entlegener Kenntnisse beruhte, als auf einem aktiv vorgeführten Urteilsvermögen über einen konkreten Sachverhalt. Hallbauer allerdings entfernt sich merklich von einer Zentralstellung der elocutio. Dietmar Till fasst die Transformationen der Rhetorik in dieser Zeit als Abschied von der Überzeugung und Inthronisation des Beweises. Die Arbeitsstufe der inventio wird dabei tendenziell der Rhetorik entzogen und philosophisch erneuert.36 Unverkennbar nähert Hallbauer durch seine Forderungen nach »kräftigen Bewegungsursachen« und »bindigen Beweisgründen«37 die inventio der Argumentation und der Logik an. Stärker vom Resultat her betrachtet, stellt sich dieser Sachverhalt als eine Adaption der Gerichtsrede für die Situation der Fest- und Lobrede dar. Diesen Prozessen entspricht in wirkungsästhetischer Hinsicht ein entscheidender Effekt – die explizite Hineinnahme der Findungs- und Beurteilungsprozesse in die Rede: »Es wird auch manchmal artig heraus kommen, wenn man eine Antwort gibt, die man nachdem selbst zu seinem Vortheile wieder umstösset, u. eine andere behauptet: von welchen man iedoch wol zuweilen wieder abgehen, u. der ersten abermals beypflichten kann.«38 Hallbauer empfiehlt hier das Argumentieren als eine Gelegenheit, sich selbst im Umgang mit den intellektuellen Gegenständen zu zeigen. Nicht allein die Sachen, sondern auch derjenige, der sich zu den Sachen äußert, kommen zur Darstellung. 34

Hans-Henrik Krummacher: Das barocke Epicedium. Rhetorische Tradition und deutsche Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 18 (1974), S. 89–147. 35 Maria Fürstenwald: Andreas Gryphius ›Dissertationes Funebres‹. Studien zur Didaktik der Leichenabdankungen. Bonn 1967, S. 12. 36 Till: Transformationen, S. 346. 37 Hallbauer: Anleitung, S. 24. 38 Hallbauer: Vollständige, S. 81.

1. Sektion · Anna Echterhölter

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Es geht um das Dafürhalten, Dagegensprechen, darum, die Gültigkeit der eigenen Überlegungen in Zweifel zu ziehen oder der gesicherten Wahrheit ein temporäres Opfer zu bringen, um sie nach diesem Verzicht nur um so endgültiger zu bestätigen. Dies gibt Gelegenheit zu einer Haltung, in der sich die Vernunft bei ihren Operationen deutlich selbst in Szene setzt. Im Gegensatz zur schwachen Vernunft, die sich von curiösen Realien überwältigen lässt, wird in der Frühaufklärung die Urteilskraft zu einer in sich überzeugenden Figur. Zwar stehen die Sachen im Vordergrund, im Vorfeld und Hintergrund erweist sich jedoch ein erkennbar operierender Autor als ubiquitär. Um die Tragweite dieser aufgeführten Instanz des Verzichtens, Urteilens und intellektuellen Arbeitens nachzeichnen zu können, ist ein Blick auf die Kontexte der Rede sowie auf die Institution der französischen éloge historique bei Fontenelle hilfreich.

Beamte und wissenschaftlicher Totenkult Es soll zunächst unterstrichen werden, dass Parentationen auf Universitätsangehörige bei Hallbauer wie auch bei Gottsched, der in Königsberg das Amt eines professor eloquentiae versah, neben der Homiletik den wichtigen Erfahrungshintergrund der frühaufklärerischen Rhetorikkritiker ausgemacht haben. Hallbauer verfasst sein oratorisches Hauptwerk erst im Anschluss an die Parentationen.39 Auch Fontenelle, d’Alembert und Condorcet haben nicht nur ihren Status als Protagonisten der Aufklärung gemeinsam: Sie waren als Sekretäre der großen französischen Wissenschaftsakademien zugleich für die Totenreden verantwortlich, was umfängliche, publizierte Redesammlungen belegen. Es liegt auf der Hand, dass dieser bürokratische Zwang zur Verbindung von Aufklärung und Panegyrik immer wieder auch das hervorbrachte, was als die »Sache« der Aufklärung zu bezeichnen wäre, ihr Projekt, Anliegen und Versprechen. Vergleicht man etwa Condorcets Eloge auf Voltaire mit seiner »Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain«,40 so wird die enge Verflechtung der nur anscheinend marginalen Textsorte der akademischen Lobrede mit der Programmatik des 18. Jahrhunderts augenfällig. Aber nicht nur die großen Zukunftslinien, auch die Ernüchterung der Totenrede und die Betonung der Sachlichkeit finden sich in der französischen Wissenschaftsrhetorik. 39

Friedrich Andreas Hallbauer: Anweisung zur verbesserten Teutschen Oratorie. Nebst einer Vorrede von den Mängeln der Schul=Oratorie. Jena 1725 [ND der Ausg. Kronberg 1974]; zuvor allerdings Friedrich Andreas Hallbauer: Nöthiger Unterricht zur Klugheit erbaulich zu predigen, zu katechisieren und geistliche Reden zu halten. Nebst einer Vorrede zur homiletischen Pedanterei. Jena 1723. 40 David Williams: Biography and the Philosophic Mission. Condorcet’s Vie de Voltaire. In: Eighteenth-Century Studies 18/4 (1985), S. 494–502.

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Es war Fontenelle, der für das Totengedenken an der Académie des Sciences einen neuen Ton anschlug und dem man die Begründungsleistung der akademischen Lobrede schon im 18. Jahrhundert zuerkannte. Von Anfang an qualifiziert Fontenelle diese Lobreden durch das Adjektiv »historique«. Sie sind demnach detailgetreu, historisch korrekt und nüchtern im Ton. In einem Vorwort zu seiner ersten Elogensammlung führt Fontenelle seinen Titel als Beglaubigungsstrategie ein: »Ces éloges ne sont qu’historiques, c’est-à-dire vrais.«41 Wie bei Hallbauer findet sich hier eine Argumentation mit der Kategorie der Wahrheit, die die Gültigkeit der Rede zu garantieren vermag. Durchaus betrifft dies auch die Inhalte der über 50 erhaltenen Reden, die nicht biblische Anspielungen, sondern Theoriereferate entlegener wissenschaftlicher Entwicklungen enthalten.42 Auch wenn Volker Schröder zurecht darauf hinweist, dass diese Qualifikation in der Tradition der viri-illustribus-Literatur eingesetzt wurde, um einem Kompilationsverdacht zu begegnen,43 so ist es doch schon in der Spätaufklärung ausgemacht, die éloge historique als Gegenmodell zur éloge funèbre der französischen Hocharistokratie anzusehen und die Usurpation dieser adeligen Repräsentation für bürgerliche Wissenschaftler als einen Akt symbolischer Subversion.44 Nüchterner Ton und Konzentration auf die Sachen werden so zum Indiz einer folgenreichen sozialen Abgrenzungsbewegung. Voltaire sagte über Fontenelles Elogen: »[Ils] ont le mérite singulier de rendre les sciences respectables«,45 was zu Georges Canguilhems Einschätzung passt, dass mit Fontenelle nicht nur die Wissenschaftsgeschichtsschreibung beginne, sondern sich ihre Funktionsweise als ein Tribunal, auf dem Geltungshoheiten ausgefochten werden, zugleich deutlich ablesen lasse.46 Antoine Leonard Thomas, dessen »Essay sur les éloges« die bis zu dieser Zeit umfänglichste Geschichte der Gattung Lobrede darstellt, feiert Fontenelle als denjenigen, der die rhetorische Überzeugungskraft aus der zwielichtigen Indienstnahme durch Tyrannen befreit und ihrem natürlichen Zweck, dem Lob bürgerlicher Qualitäten, zugeführt habe.47 Zugleich nennt er Fontenelles Lobreden aber auch »éloge froidement histo41

Fontenelle: OEuvres complètes. Hrsg. v. Georges Bernard Depping, Bd. 1. Genf 1968 [ND der Ausg.?], S. 209. 42 Charles B. Paul: Science and Immortality. The Éloges of the Paris Academy of Sciences (1699–1791). Berkeley, Los Angeles, London 1980. 43 Volker Schröder: Entre l’oraison funèbre et l’éloge historique. L’hommage aux morts à l’Académie française. In: MLN 116 (2001), S. 666–680. 44 Jean-Claude Bonnet: Les morts illustres. Oraison funèbre, éloge académique, nécrologie. In: Les lieux de mémoire, hrsg. v. Pierre Nora, Bd. 2. Paris 1997, S. 1831–1854. 45 Voltaire: Le Siècle de Louis XIV. In: Ders.: OEuvres Historiques. Hrsg. v. René Pomeau. Paris 1957, S. 1163. 46 Georges Canguilhem: Fontenelle, philosophe et historien des sciences. In: Ders.: Études d’histoire et de philosophie des sciences. Paris 1968, S. 51–59. 47 Antoine Léonard Thomas: Essay sur les éloges. In: Ders.: OEuvres complètes. Bd. 3 u. 4. Paris 1803, S. 175 f.

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rique«, was für Thomas eine Gefährdung und unnötige Einschränkung des persuasiven Potentials der Eloquenz bedeutet, die beim mündlichen Vortrag einen durch Körpersprache dirigierten, affektiven Gleichschritt der Zuhörer erzeugen soll. Angesichts des epochalen Beitrags für die Selbstpositionierung der Wissenschaftler, die mit Fontenelles sachlich gehaltenen Reden gelang, scheint Thomas’ Sorge unbegründet gewesen zu sein und die Effekte der Sachlichkeit scheinen ebenfalls der Mehrheitsbildung fähig. Hallbauer hatte nicht wie Fontenelle einen Descartes zu beklagen – an der Universität Jena verstarben etwa ein Billardmeister oder die sich notorisch duellierenden Studenten. Die Parallele kann und soll also nicht im Grad der Öffentlichkeit aufgesucht werden, den die jeweiligen Totenredner erreichten. Angesichts der Tatsache, dass die französischen Elogen als einer der zentralen Kommunikationsorte wissenschaftlicher Standards anzusehen sind, stellt sich die Frage, ob auch im deutschsprachigen Raum von derartigen Wirkungen der Reden auszugehen ist. Dies ist gleichbedeutend mit dem Problem sozialer Abgrenzungen, die bei Hallbauer eher in einer Korrektur der Haltung oder des Habitus auszumachen sind, nicht in der Konfrontation mit den Aristokraten. Hallbauer gibt direkte Anweisungen zur physischen Haltung während des Parentierens – man solle nicht mit dem Rücken zum Publikum stehen, nicht mit dem Trauerflor spielen oder den Hut durch die Hand ziehen48 – unüberhörbar ist darüber hinaus jedoch, dass er nicht Grabrednern, ja nicht einmal bloß der Topik, sondern vor allem den Pedanten und damit einem sozialen Phänotyp den Kampf ansagt. Zwar ist das Lamento über Pedanterei und auch über den Missbrauch der Topik weitaus älter als die Frühaufklärung,49 dennoch ist die Blütezeit topischer Modelle im Barock ebenso unbestritten, wie eine sehr folgenreiche Aktualisierung der Pedantenkritik.50 Unterstellt wird den Schulfüchsen durch Hallbauer neben kopfloser Kompilation ein falscher Geltungswille, etwa, dass sie mit »Buchführer Gelehrsamkeit prahlen«51 wollten oder die Allüre hätten, in Fremdworten zu reden und sich damit bei den unwissenden Hörern Ansehen zu verschaffen.52 Insgesamt wird unterstellt, dass die topische Kombinatorik einer Form der unbescheidenen Selbstdarstellung der Redner

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Hallbauer: Vollständige, S. 130. Heike Mayer betont, dass die Kritik an der Topik und den Exzerptbüchern in der Antike einsetzt, sieht jedoch mit Werken wie Jeremias Drexels »Aurifodina artium et scienciarum omnium excerpendi solertia…« von 1635 oder Just Christoph Udenius »Excerpendi ratio nova« von 1681 eine signifikante kulturelle Verbreitung gegeben. Mayer: Kollektaneen, a. a. O. 50 Marian Füssel: Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit. Darmstadt 2006, S. 380 f. 51 Hallbauer: Anleitung, S. 33. 52 Ebd., S. 32. 49

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Vorschub leistet, während die weniger eitlen ›vernünftigen Parentatoren‹ die Sachen sprechen lassen. Die Dichotomie pedantisch – vernünftig wird bei Hallbauer unter Berufung auf Johann Burckardt Mencke und Michael Lilienthal53 eingeführt, die als Protagonisten der Charlataneria eruditorum gelten. Diese Form der Gelehrtensatire war ihrerseits mit den Meta-Büchern der Historia literaria und der schier nicht enden wollenden Flut der Personenlexika der Historia eruditorum verknüpft. Dieser literarische Komplex, der weite Teile der Philosophischen Fakultät beschäftigt, folgt einem Programm der geisteswissenschaftlichen Empirie im Sinne Bacons. Und obwohl dabei nur die Äußerlichkeiten, die Sitten, Praktiken, Titel und Orte der Gelehrsamkeit externalistisch kartiert werden, ist es doch genau diese »Mode-Wissenschaft«54 die mit der Pedantenkritik eine Korrektur der sozialen Position des Wissens erreicht. Mehrfach ist inzwischen betont worden, dass die zuweilen ostentativen Zeichen einer vita contemplativa, der Weltfremdheit, Armut oder Provinzialität bei Gelehrten, verschliffen wurden, je mehr man der Gelehrten in den anwachsenden Bürokratien bedurfte.55 Die dafür besonders günstige Fusion eines galanten Bürgers oder soliden Höflings ist der normative Kern vieler satirischer Ausfälle der Pedantenkritik auch bei Hallbauer.

Fazit In Jena wie in Paris zeigen sich Spuren einer Neuformierung der wissenschaftlichen Landschaft in den Totenreden. Diese können nicht als Ursache, aber – gerade durch die Kontexte kollektiv begangener Feste – doch wohl als Katalysatoren dieser Prozesse gelten. Verhandelt wird in den Reden nicht die Notwendigkeit, alte Verhaltensmuster abzulegen, sondern ein in beiden Ländern auffällig an den Tag tretendes Ethos der Sachlichkeit lenkt und stützt die soziale Segregation. Die aufklärerische Geste des Zurücktretens vor den Dingen, die auffällig moralische Formulierung des SprecherStoff-Verhältnisses, in dem fast ein Persönlichkeitsrecht für Sachen anklingt, all dies ist darauf berechnet und dazu geeignet, Anhängerschaft zu generieren. Auch wenn 53

Ebd. Johann Burckhardt Mencke: Vorrede. In: Compendiöses Gelehrtenlexikon. Denen Liebhabern der Historie der Gelehrten, und andern curieusen Personen zu nützlichem Gebrauch zum Druck befördert. Leipzig 1715, unpag., S. 1 f. 55 Manfred Beetz: Der anständige Gelehrte. In: Res publica litteraria, hrsg. v. Conrad Wiedemann. Bd. 1, S. 155–173; Martin Gierl: Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997, S. 565 f.; Friedrich Vollhardt, Frank Grunert (Hrsg.): Histoira literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin 2007. 54

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ein Jenaer Universitätsbegräbnis zu den vielleicht eher obskuren Gegenständen der Wissenschaftsgeschichte zählen mag, durch die folgenreiche Konstellation von Sache und Redner sind auch hier wesentliche Umcodierungen vollzogen worden. Was durch diese Sachlichkeit mitverhandelt wird, ist die soziale Ordnung, die allerdings nicht selbst zum Thema wird. Statt ihrer wird in der Neufassung der inventio zunächst ein aktiverer Zugriff der Redner gefordert als in der ›pedantischen Rede‹, die an den Rastern der Topik resigniert und Exzerptstellen häuft. Beim Vortrag tritt der Autor zwar hinter die Sachen zurück, er bescheidet sich mit einer einfachen, wenig glanz- und effektvollen Darstellung der Sachverhalte, er ist aber im Hintergrund durch seine demonstrativen Urteile präsent. Strategisch eingeführt wird dieses neukonfigurierte Verhältnis zu den Sachen bei Hallbauer vor allem mittels einer sittlichkeitslastigen Beschreibung der prahlenden und süchtigen bzw. der verzichtenden Parentatoren. Nicht die Fakten selbst sprechen hier für die Aufklärung, sondern das Verhältnis des Sprechers zu seinen Stoffen wird auf beredte Art als ein höfliches, selbstloses, faires und altruistisches inszeniert.

Dietmar Till (Berlin) Kommunikation der Aufklärung. Über Popularphilosophie und Rhetorik

1. Der philosophiehistorische Wertungsbegriff »Populärphilosophie« ›Popularität‹ und ›Philosophie‹ sind heute Begriffe mit antagonistischer Semantik: Präzise Begriffsarbeit und anstrengendes Denken vertragen sich mit eloquentem Sprechen kaum, auch wenn man in unserer Mediengegenwart vielleicht Beispiele finden mag, die das Gegenteil beweisen könnten. Der Gegensatz ist für die Philosophiegeschichte der Aufklärung insofern zentral, als Denker vor Kant immer wieder versucht haben, den Graben zwischen philosophischer Esoterik und Exoterik zu überwinden. Dieses schon in der griechischen Philosophie virulente Problem wird in dem Moment besonders drängend, in dem sich die Frage nach der Propagierung und Verwirklichung des Projekts ›Aufklärung‹ stellte. Damit die aufklärerische Philosophie praktisch bedeutsam werden konnte (in Erkenntnistheorie wie Ethik), mussten ihre Erkenntnisse kommunikativ vermittelt werden. Das ist die Geburtsstunde der Popularphilosophie der Aufklärung, die in engem Zusammenhang mit der Rhetorik des 18. Jahrhunderts gesehen werden muss.1 1 Die Forschung zum Gebiet der Popularphilosophie ist vergleichsweise begrenzt, hat allerdings in den vergangenen zwei Jahrzehnten einen bedeutenden Aufschwung erlebt. Zu einer »Rehabilitation« (Zimmerli) der Popularphilosophie ist es indes nicht gekommen. Ich nenne im Folgenden die wichtigsten Arbeiten: Claus Altmayer: Popularphilosophie. Neue Forschungen zu einem immer noch vernachlässigten Thema. In: Das achtzehnte Jahrhundert 15 (1991), S. 86–92; ders.: Aufklärung als Popularphilosophie. Bürgerliches Individuum und Öffentlichkeit bei Christian Garve. St. Ingbert 1992; Christoph Böhr: Philosophie für die Welt. Die Popularphilosophie der deutschen Spätaufklärung im Zeitalter Kants. Stuttgart-Bad Cannstatt 2003 (materialreiche Darstellung im Ausgang von Ernesti, allerdings auf Inhaltsaspekte beschränkt); Helmut Holzhey: Philosophie als Eklektik. In: Studia Leibnitiana 15 (1983), S. 18–29; Helmut Holzhey: Der Philosoph für die Welt – eine Chimäre der deutschen Aufklärung? In: Esoterik und Exoterik der Philosophie. Beiträge zu Geschichte und Sinn philosophischer Selbstbestimmung, hrsg. v. Helmut Holzhey, Walther Ch. Zimmerli. Basel, Stuttgart 1977, S. 117–138; ders.: s. v. »Popularphilosophie«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Bd. 7 (1989), Sp. 1093– 1100 (zentraler Übersichtsartikel; material- und kenntnisreich); Gerhard Sauder: Popularphilosophie und Kant-Exegese: Daniel Jenisch. In: Idealismus und Aufklärung. Kontinuität und Kritik der Aufklärung in Philosophie und Poesie um 1800, hrsg. v. Christoph Jamme, Gerhard Kurz. Stuttgart 1988, S. 162–178; Werner Schneiders: Der Philosophiebegriff des philosophischen Zeitalters. Wandlungen im Selbstverständnis der Philosophie von Leibniz bis Kant. In: Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung, hrsg. v. Rudolf Vierhaus. Göttingen 1985, S. 58–92; Walther Ch. Zimmerli: Arbeitsteilige Philosophie? Gedanken zur Teil-Rehabilitierung der Popularphilosophie. In: Wozu Philosophie? Stellungnahmen eines Arbeitskreises, hrsg. v. Hermann Lübbe. Berlin, New

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Die antagonistische Grundkonstellation von Popularität vs. Philosophie scheint heute für eine auf Kant zentrierte Philosophiegeschichte der Aufklärung geradezu selbstverständlich. Um diesen Antagonismus angemessen zu beschreiben, ist es sinnvoll, die Philosophiegeschichtsschreibung ihrerseits zu historisieren: Es stellt sich dann heraus, dass der Antagonismus ein philosophiehistorisches Interpretament ex post ist. Zentrale Hinweise hierzu enthält ein Artikel von Helmut Holzhey, der im ›Historischen Wörterbuch der Philosophie‹ die Begriffsgeschichte von ›Popularphilosophie‹ in ihren Grundzügen dargestellt hat: Der Begriff entsteht demnach erst am Ende des 18. Jahrhunderts. Der erste Beleg findet sich im ersten Band von Wilhelm Ludwig Gottlob von Ebersteins (1762–1805) ›Versuch einer Geschichte der Logik und Metaphysik bey den Deutschen von Leibnitz bis auf die gegenwärtige Zeit‹ aus dem Jahre 1794. Das Werk fällt in die Hochzeit des Idealismus und ist in der Überzeugung der epochalen Bedeutung der kritischen Philosophie Kants verfasst. Unter den Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts ist das deutsche Wort ›Popular-‹ bzw. (häufiger) ›Populärphilosophie‹ nicht belegt, wohl aber verwandte Wendungen wie ›Der Philosoph für die Welt‹ (hier eine Sammlung von Aufsätzen Johann Jacob Engels, 1776). Zwar hält Johann August Ernesti 1754 eine lateinische prolusio (also eine rhetorische ›Vorübung‹) ›De philosophia populari‹, auf die noch näher einzugehen sein wird, aber weite Verbreitung erreichte der Begriff zunächst nicht. Das geschieht erst, als der Begriff als Terminus der Philosophiegeschichtsschreibung seit dem 19. Jahrhundert kanonisiert wird. Im Folgenden wird zunächst dieser Kontext rekonstruiert. Für Eberstein ist das Aufkommen der sogenannten »Populär-Philosophie«2 in Nachfolge der philosophischen Systeme Christian Wolffs von vornherein eine Dekadenzerscheinung. Diese Philosophen hätten nämlich »viel zum Verfalle der Philosophie in Deutschland« beigetragen, »indem sich ihre Schriften verbreiteten.« Denn, so heißt es in einer Fußnote; »Populäre Schriften werden leichter als gründliche Werke verbreitet; da sie auch von Ungelehrten gelesen werden, die sie nicht gehörig prüfen York 1978, S. 181–212. – Die Rolle der Rhetorik ist in der von Philosophiehistorikern dominierten Forschung bislang unterbelichtet. Einzig Gert Ueding hat in zwei (weitgehend textidentischen) Aufsätzen auf den Konnex von Popularphilosophie und Rhetorik hingewiesen: G. Ueding: Popularphilosophie. In: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680–1789, hrsg. v. Rolf Grimminger. München, Wien 1980 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 3), S. 605–634; ders.: Rhetorik und Popularphilosophie. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 1 (1980), S. 122–134 (wieder abgedruckt in: G. Ueding: Aufklärung über Rhetorik. Versuche über Beredsamkeit, ihre Theorie und praktische Bewährung. Tübingen 1992. S. 47–58); ders.: s. v. »Popularphilosophie«. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hrsg. v. Gert Ueding, Bd. 6 (2003), Sp. 1541–1564. 2 Wilhelm Ludwig Gottlob von Eberstein: Versuch einer Geschichte der Logik und Metaphysik bey den Deutschen von Leibnitz bis auf die gegenwärtige Zeit. Hrsg. v. Johann August Eberhard. 2 Bde. Bd. 1. Halle 1794/1799, S. 342.

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können. Daher die angeführten Uebel zum Theil ihre Folgen sind.«3 Die Folge der »Vernachlässigung« der »reinen Wissenschaft« sind argumentative »Schwächen«,4 die sich bei strengerem Vernunftgebrauch nicht eingeschlichen hätten. Eberstein hält die Verbindung von Popularität und ›Gründlichkeit‹ noch für prinzipiell möglich, wenngleich sie nicht sein Ideal richtigen Philosophierens darstellt. Das ändert sich in der idealistischen und nachidealistischen Philosophiegeschichtsschreibung: In Hegels ›Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie‹ heißt es, in der historiografischen Rekonstruktion der Eberstein’schen Argumentation zunächst ähnlich: »Die Wolffische Philosophie hat nichts bedurft, als ihre steife Form abzuschütteln, so ist der Inhalt die spätere Populärphilosophie. Sie redet unserem gewöhnlichen Bewußtsein zu Munde, legt es als den letzten Maßstab an.«5 Hegel trennt die ›wahre Philosophie‹ nachdrücklich von der ›Populärphilosophie‹ ab. Ein ganzes Kapitel seiner Vorlesungen handeln von beider – wie es mit einer Metapher aus der Mechanik heißt – »Abscheidung«.6 Die Popularphilosophie habe es mit allgemeinen Gegenständen zu tun, [der Popularphilosoph] philosophiert über Gott und Welt […]. Doch auch diese Philosophie müssen wir noch auf die Seite stellen. Die Schriften des Cicero können hierher gerechnet werden. Es ist ein Philosophieren, das seine Stelle hat, es wird Vortreffliches gesagt. Er hat vielfache Erfahrungen des Lebens gemacht und seines Gemütes, daraus sich das Wahrhafte genommen, nachdem er gesehen, wie es zugeht in der Welt. Mit gebildetem Geiste drückt er sich über die größten Angelegenheiten des Menschen aus; er wird so sehr beliebt sein. Schwärmer, Mystiker werden nach einer anderen Seite hierher gerechnet werden können.7

Bei der Diskussion der römischen Philosophie gebraucht Hegel wie selbstverständlich die Wendung von der »ciceronianischen Populärphilosophie«.8 Damit ist nicht nur Cicero als Verfasser wichtiger staats- und rechtsphilosophischer Werke gemeint, sondern dezidiert auch Cicero als berühmtester römischer Redner und Rhetoriker, also Theoretiker der Redekunst. Das zeigt nicht zuletzt die Philosophiegeschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts, die sich in der – durchgängig mit dem Ziel der Abwertung vorgenommenen – Parallelisierung von Popularphilosophie und Rhetorik stets im Fahrwasser Hegels bewegt. Wilhelm Windelband etwa spricht 3

Ebd., S. 342 Anm.*. Ebd., S. 357. 5 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Hrsg. v. Eva Moldenhauer, Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1969–1971 (Werke in 20 Bden., Bd. 18–20), hier Bd. 20, S. 263f. 6 Ebd., Bd. 18, S. 113. 7 Ebd., S. 114. 8 Ebd., Bd. 20, S. 16. Weitere Stellen mit ähnlicher Aussage: Ebd., Bd. 19, S. 252; Bd. 20, S. 12; S. 15; S. 285. 4

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in seinem weitverbreiteten ›Lehrbuch der Geschichte der Philosophie‹ von der »eklektische[n] Popularphilosophie des gesunden Menschenverstandes«, die »in geschmackvoller Form und möglichst im rhetorischen Gewande« vorgetragen werde.«9

2. Oratio exoterica, oratio esoterica Die zitierten Belege zeigen die Nähe von Popularphilosophie und Rhetorik. Beides wird dabei nachhaltig diskreditiert – nach dem harschen Rhetorik-Verriss in Kants ›Kritik der Urteilskraft‹ keine Überraschung, und es ist auch keine Überraschung, dass die Invektive gegen die Rhetorik mit ähnlichen Argumenten vorgetragen wird. In dem berüchtigten § 53 der ›Kritik der Urteilskraft‹ hatte der Königsberger Philosoph die Ablehnung der Rhetorik in folgender Weise begründet: Sie könne weder für die Gerichtsschranken, noch für die Kanzeln angeraten werden. Denn wenn es um bürgerliche Gesetze, um das Recht einzelner Personen, oder um dauerhafte Belehrung der Gemüter zur richtigen Kenntnis und gewissenhaften Beobachtung zur Pflicht, zu tun ist: so ist es unter der Würde eines so wichtigen Geschäftes, auch nur eine Spur von Üppigkeit des Witzes und der Einbildungskraft [also Stilmittel und rhet. Figuren etc.], noch mehr aber von der Kunst, zu überreden und zu irgend jemandes Vorteil einzunehmen, blicken zu lassen.10

Bekanntlich vertritt Kant in der KdU die Auffassung, dass »der bloße deutliche Begriff« alleine schon genügend »Einfluß auf menschliche Gemüter« habe, »als das es nötig wäre, noch die Maschinen der Überredung hiebei anzulegen.«11 Kant glaubt also an die Evidenz von Argumentationen, an die Kraft der ›nackten‹ Argumente, ähnlich wie Faust in Goethes Drama Wagner auf die Frage nach der richtigen Redekunst geantwortet hatte: Es trägt Verstand und rechter Sinn Mit wenig Kunst sich selber vor; Und wenn’s euch Ernst ist, was zu sagen, Ist’s nötig, Worten nachzujagen?12 9 Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Tübingen 61912, S. 297. Die Stelle handelt vom Humanismus des 16. Jahrhunderts. Die Wertungen sind allerdings identisch. 10 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Hrsg. v. Karl Vorländer. Hamburg 1963 [ND der Ausg. 1924], B 217. 11 Ebd. 12 Johann Wolfgang v. Goethe: Faust I. In: Ders.: Dramatische Dichtungen I. Hrsg. v. Erich Trunz. München 101976 (Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 3), S. 25. Zur Rhetorik bei Goethe vgl. nun ausführlich Olaf Kramer: Goethe und die Rhetorik. Berlin 2010.

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Rhetorikhistorisch betrachtet steht damit nichts weniger zu Disposition als die Konzeption der ars rhetorica als einer civilis scientia, wie sie Cicero am Beginn von ›De inventione‹ bestimmt hatte.13 Sie erstreckt sich auf eben jene Bereiche, die auch Kant in dem Zitat aus der ›Kritik der Urteilskraft‹ angesprochen hatte: Gegenstand der Rhetorik sind seit Aristoteles ethisch-politische Fragen aus dem »öffentlichen Leben«14 und dem Rechtswesen. Neben dieser ›minimalistischen Konzeption‹ des Gegenstandbereichs gibt es in der Rhetorik auch noch eine ›maximalistische‹, welche die Materie auf alle möglichen Fälle ausweitet. Besonders prominent hat Quintilian eine solche ausgreifende Position vertreten. Sie bringt die Rhetorik fast notwendig in Konfrontation mit der Philosophie. Ernst Cassirer hat in seiner ›Philosophie der Aufklärung‹ (1932) auf zwei Tendenzen der Aufklärungsphilosophie hingewiesen: Einerseits der Wille, »die Form der philosophischen Erkenntnis, die Form der metaphysischen Systeme, zu zerbrechen«;15 andererseits das Drängen auf Praxis: die »eigentlich-produktive Bedeutung des Denkens der Aufklärung« liege »nicht sowohl in irgendeinem bestimmt-angebbaren Gedankeninhalt, als vielmehr in dem Gebrauch, den die Aufklärung vom philosophischen Gedanken macht.«16 Und weiter: »Sie bleibt nicht im Kreise des bloßen Denkens gefangen, sondern sie fordert und findet den Durchbruch zu jener tieferen Ordnung, aus der, wie der Gedanke, so auch alles geistige Tun des Menschen entspringt, und in der es sich, nach der Grundüberzeugung der Aufklärungsphilosophie, begründen muss.«17 Möglicherweise reicht also, anders als Kant es postuliert hatte (und mit ihm bis in die Gegenwart viele Argumentations- und Diskurstheoretiker glauben), das gute Argument alleine nicht. Dessen Kraft genügt nämlich für sich nicht, ein Publikum zu überzeugen und zum Handeln zu bewegen. Vielmehr benötigt persuasive Kommunikation auch einen spezifischen Modus, in dem die Argumente vorgetragen und verbreitet werden, damit das bloße Denken seine Wirksamkeit entfalten kann. Dies ist eine grundlegende Frage der Philosophie am Beginn der Aufklärung um 1700. Sie ist auch für das Verhältnis von Rhetorik und Popularphilosophie zentral: Denn die Frühaufklärer greifen auf ein Begriffspaar zurück, das antiken Ursprungs ist, auf die Opposition von Esoterik und Exoterik, mit der man die Schriften des Aristoteles 13 Cicero: De inventione I,5,6 oratoriam facultatem in eo genere ponemus, ut eam civilis scientiae partem esse dicamus. 14 Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. Stuttgart 42008 [ND der Ausg. München 1960], § 48 zur Frage der materia artis rhetoricae und den unterschiedlichen ›maximalistischen‹ und ›minimalistischen‹ Konzeptionen. 15 Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. Hamburg 1998 [ND der Ausg. 1923], S. X. 16 Ebd., S. XI. 17 Ebd.

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klassifiziert hat.18 Cicero bezeichnet esoterische Schriften, wie Holzhey zitiert, als limatius, also im wörtlichen Sinne ›ausgefeilter‹. Die lima, die Feile, verwendet auch Horaz in seiner ›Ars poetica‹ für das kunstgemäße und regelrecht handwerkliche ›Feilen‹ am Gedicht. Die exoterischen Schriften dagegen seien, so schreibt der römische Rhetoriker in ›De finibus‹ popularis, also ›populär‹, ›volksmäßig‹.19 Er gebraucht damit ein Wort, das gerade im Kontext der Rhetorik zwar nicht mit großer Frequenz, aber doch in stabiler Bedeutung Verwendung findet – und zwar in solchen Kontexten, in denen es um das Problem einer ›verständlichen‹ Präsentation philosophisch komplexer Sachverhalte geht. In den ›Paradoxa Stoicorum‹ etwa kontrastiert Cicero die oratio erudita mit der von ihm verwendeten oratio popularis, um seine eigene, ›verständliche‹ Darstellungsweise zu legitimieren.20 Eine zentrale Diskussion der Frühaufklärung betrifft die Legitimität der Persuasion – und damit die Legitimität von Rhetorik überhaupt. In den Debatten um 1700 steht das Problem der Wahrscheinlichkeit – seit Aristoteles’ ›Rhetorik‹ epistemologische Zentralkategorie der ars rhetorica – im Zentrum, ihr Verhältnis zur Wahrheit, mithin also die seit der Antike immer wieder virulente Frage nach dem Verhältnis von Rhetorik und Dialektik bzw. Logik. Sie wird in einem Umfeld ausgetragen, das seit Descartes von rhetorikfeindlichen Positionen dominiert wird.21 Es überrascht deshalb kaum, dass die Frage überwiegend zugunsten der Logik entschieden wird, dem der erkenntnistheoretische Primat zukommt.22 Die Rhetorik wird im Gegenzug reduziert auf die bloße Vermittlung von Wahrheiten, die der Philosoph mit Mitteln des ›demonstrativischen Beweises‹ bereits gefunden hat. Vorgängig aller Kommunikation ist also das Finden der Wahrheit, die Rhetorik wird auf eine nachgängige Position reduziert. Ich habe an anderer Stelle dafür den Ausdruck von der Rhetorik als ›Supplement der Logik‹ verwendet.23

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Konrad Gaiser: s. v. »Exoterisch/esoterisch”. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2 (1972), Sp. 865ff. 19 Cicero: De finibus V,2. 20 Cicero: Paradoxa 4. 21 Vgl. insgesamt Peter France: Rhetoric and Truth in France: Descartes to Diderot. Oxford 1972. 22 Dieses Thema ist seit den 1970er Jahren in einer Reihe von Arbeiten untersucht worden, von denen ich hier nur die wichtigsten nenne: Rainer Klassen: Logik und Rhetorik der deutschen Aufklärung. Diss. München 1973; Manfred Beetz: Rhetorische Logik. Prämissen der deutschen Lyrik im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert. Tübingen 1980; Gunter E. Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung. Tübingen 1983. 23 Dietmar Till: Rhetorik und Stilistik der deutschsprachigen Länder in der Zeit der Aufklärung. In: Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft (HSK): Rhetorik und Stilistik, hrsg. v. Ulla Fix u. a. Berlin, New York 2009, S. 112–130.

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Diese Konzeption ist schon bestimmend für Christian Thomasius’ ›Höchstnöthige Cautelen, Welche ein Studiosus Juris […] zu beobachten hat‹ (1713, 21729): Der Hallenser Philosoph konstatiert, dass die Persuasion »eines andern Gemüthe / auch wieder seinen Willen« einnehmen könne, sodass »man es lencken kan wie und wohin man wil.«24 Dazu braucht der Redner Kenntnisse der Affektenlehre, denn die Beeinflussung der Affekte ist das zentrale Mittel, das Publikum ›wider seinen Willen‹ zu überzeugen. Thomasius geht somit, durchaus realistisch, von einem Publikum aus, das von Vorurteilen eingenommen ist und deshalb auch durch die Zwangsmittel der Rhetorik quasi auf den richtigen Wert geführt werden darf. Dazu sind auch die Persuasionsmittel der Rhetorik erlaubt – und nur dann. Kontrastiert man diese Konzeption einer Rhetorik als bloßes Supplement der Philosophie mit der Konzeption des Aristoteles, dann werden die Unterschiede sehr schnell deutlich. Aristoteles war bekanntlich von einem ähnlichen Problem ausgegangen: von der Verhältnisbestimmung der Rhetorik zur Dialektik, die er durch den Begriff der antístrophê (›Gegenstück‹) näher bestimmt hatte. Die Rhetorik ist demnach zuständige Disziplin bei der kommunikativen Lösung alltagsweltlicher, politisch-sozialer Kontingenzsituationen, bei denen – und das ist der entscheidende Punkt – für die Wahrheitsfindung keine Zeit ist (weil eine Notsituation besteht und der Feind schon vor den Stadttoren steht) oder es gar keine ›Wahrheit‹ im einfachen Sinne gibt. Gerade letztere Fälle einer epistemologischen Kontingenz sind die eigentliche Domäne der Rhetorik.25 Interessant ist nun, wie die frühaufklärerische Logik, im einzelnen durchaus heterogen, dieses Feld systematisiert. Klaus Petrus hat in einigen wichtigen Aufsätzen die entscheidenden Linien der Diskussion rekonstruiert. Er weist vor allem auf die Dichotomie von ›guter‹ convictio (Überzeugung) und ›böser‹ persuasio (Überredung) hin, wie sie sich etwa in Andreas Rüdigers Werk ›De sensu veri et falsi‹ von 1709 finde.26 Rüdiger wendet sich, so schreibt Petrus, »unerbittlich gegen jede Form von Überredung […]: Wo nur Affekte erzeugt werden, da wird auf unzulässige Weise beeinflußt; und wo derart beinflußt wird, da sind die Sophisten nicht weit, lautet ein Vorbehalt, der seinen Ausgangspunkt in der Kritik an der aristotelischen Charakterisierung der persuasio als Zweck der rhetorischen Rede hat.«27

24

Christian Thomasius: Cautelen zur Erlernung der Rechtsgelehrtheit. Halle 1713, S. 178. Aristoteles: Rhetorik I,1–2. Vgl. Hans Blumenberg: Anthropologische Annäherungen an die Aktualität der Rhetorik [1971]. In: Ders.: Äthetische und metaphorologische Schriften. Hrsg. v. Anselm Haverkamp. Frankfurt a. M. 2001, S. 406–431. 26 Vgl. auch Lutz Danneberg: Pyrrhonismus hermeneuticus, probabilitas hermeneutica und hermeneutische Approximation. In: Unsicheres Wissen. Skeptizismus und Wahrscheinlichkeit 1550–1850, hrsg. v. Carlos Spoerhase, Dirk Werle u. Marcus Wild. Berlin, New York 2009, S. 365–436, hier S. 276ff. (auch zum philosophiehistorischen Kontext). 27 Klaus Petrus: Convictio oder persuasio? Etappen einer Debatte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Rüdiger – Fabricius – Gottsched). In: Zeitschrift für deutsche Philologie 113 25

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Rüdiger limitiert den Geltungsanspruch der rhetorischen Persuasion: Nicht jede Rede, die – wie Psychologen heute sagen würden – auf Einstellungsänderung zielt, bedient sich rhetorischer Mittel der Persuasion. Er unterscheidet dazu eine oratoria acroamatica bzw. erudita (also die ›Lehrvortrags-Rhetorik‹ oder ›gelehrte Beredsamkeit‹) von der oratoria exoterica. Erstere argumentiert mit Mitteln der demonstrativischen Beweisführung, letztere setzt bei den Ururteilen (praeiudicia) der Zuhörer an und erregt deren Affekte. Sie sei diejenige Form der Rede, die Aristoteles in seiner ›Rhetorik‹ behandle. Zugleich, so Rüdiger, sei sie ethisch zu verwerfen, weil der Redner durch Verwendung von Scheingründen den Zuhörer letztlich täusche. Die Opposition von esoterischer und exoterischer Rede findet sich, verbunden mit einer klaren Wertung, also auch in diesen rhetoriktheoretischen Diskussionen der Frühaufklärung. Die Rhetoriktheoretiker der Frühaufklärung wie Friedrich Andreas Hallbauer, Johann Andreas Fabricius und Johann Christoph Gottsched kommen nicht umhin, sich mit dieser Diskreditierung der Rhetorik systematisch auseinanderzusetzen, denn sie berührt ja die Kernfrage nach dem Aufgabengebiet, prinzipieller noch der Daseinsberechtigung der Rhetorik. Die Reformrhetoriker wählen eine vermittelnde Lösung, die argumentativ einerseits nicht hinter das erkenntnistheoretisch Erreichte zurückfällt, andererseits der Rhetorik ein Zuständigkeitsgebiet erhält. Gottsched trennt in seiner 1736 erstmals erschienenen ›Ausführlichen Redekunst‹ deshalb eine ›vernünftige Beredsamkeit‹, die zugleich als »wahre Beredsamkeit«28 apostrophiert wird, von der ›falschen Beredsamkeit‹ ab. Die vom Redner verwendeten Beweisgründe müssten, wie der Leipziger Professor nachdrücklich betont, »wohl gegründet«29 sein. Der Redner muss eigentlich ein Logiker sein, damit er sie aus der Vernunftlehre herleiten kann. Gottsched unterscheidet dabei zwei unterschiedlichen Modi: ›Überredung‹ (Rhetorik) und ›Überführung‹ (Logik). Die Theoretiker der Frühaufklärung etablieren damit die heute geläufige (und häufig überexplizierte) Trennung von ›Überzeugen‹ und ›Überreden‹:30 »Einen überführen, heißt einen durch eine Reihe unumstößlicher Vernunftschlüsse, die aus den ersten Gründen hergeleitet werden, oder durch eine Demonstration, zum Beyfalle bewegen, ja dazu nöthigen und zwingen.«31 Der Leipziger Professor für Logik und Metaphysik lässt an der Überlegenheit des logischen Kommunikationsmodus keinen Zweifel. Dennoch gibt es Raum für die (1994), S. 481–495, hier S. 484; vgl. auch Grimm: Literatur und Gelehrtentum (wie Anm. 22), S. 587ff. 28 Johann Christoph Gottsched: Ausführliche Redekunst. Leipzig 1736, S. 93. 29 Ebd., S. 92. 30 Hierzu instruktiv: Walter Mesch: s. v. »Überredung/Überzeugung”. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 9 (2000), Tübingen 2009, Sp. 858–870. 31 Gottsched: Ausführliche Redekunst (wie Anm. 28), S. 94.

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Rhetorik. Es gibt nämlich Situationen, in denen der Redner noch über keine ›gründliche‹ Erkenntnis verfügt oder »solche Zuhörer vor sich hat, die eine so geübte Vernunft [nicht] besitzen, daß sie eine lange Kette von Schlußreden fassen, und einsehen können.«32 Rhetorik ist bei Gottsched eine Art kommunikativer Hilfswissenschaft der Logik für solche Fälle, in denen der Redner entweder noch keine umfassende Erkenntnis hat oder vor ungebildeten Zuhörern, dem ›Pöbel‹, sprechen muss.

3. Rhetorik im Dienste der Popularphilosophie Auch der Leipziger Schulmann Johann August Ernesti (1707–1781) argumentiert im Kontext dieser frühaufklärerischen Problemlage. Die ›Initia rhetorica‹ (deutsch ›rhetorische Anfangsgründe‹), sein zuerst 1750 erschienenes und dann in vielen Auflagen bis in die 1790er Jahre verbreitetes Rhetoriklehrbuch, beginnen mit einer Verhältnisbestimmung von Rhetorik und Dialektik. Sie wird ganz im Sinne der gegenwärtigen Debatten unterschieden: Die Dialektik wird dem intellegere zugeordnet, die Rhetorik dem delectare und dem commovere, also den emotionalen Redefunktionen des Erfreuens und Bewegens.33 Die Wirkungstrias der römischen Rhetorik34 wird als Opposition umgedeutet. Den Gegenstand der Rhetorik bestimmt Ernesti in den ›Initia rhetorica‹ als eine ›res popularis‹. Das ist nicht nur von der Sache her zu verstehen, sondern zielt auf die Vermittlungsfunktion. Entsprechend werden in der begriffsgeschichtlich zentralen ›Prolusio de philosophia popularis‹ von 1754 zwei Modi (»genera«) unterschieden: »alterum subtile & acutum, alterum populare«.35 Man würde diese beiden Genera, so Ernesti, Philosophie und Rhetorik zuweisen. Doch er möchte prüfen, ob es nicht eine »subtilis et eruditas popularitas« geben könne. Vorbilder hierfür sind neben Voltaire vor allem Diderot, dessen (eigentlich auf die Popularisierung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse gerichtete) Aufforderung »Hâtons nous, de rendre la philosophie populaire« Ernesti gleich auf der ersten Seite zitiert. Eine populäre Philosophie befördere die Verbreitung der Wahrheit, erweitere das Publikum und sichere nicht zuletzt dem Autor angemessenen Ruhm bei der Nachwelt. Popularität müsse das Ziel jedes Philosophen sein. In diesen wesentlich von den Auseinandersetzungen um die Position der Rhetorik in der Frühaufklärung geprägten Bahnen verläuft auch die weitere Diskussion. 32

Ebd., S. 94f. Johann August Ernesti: Initia rhetorica. Leipzig 1734, S. 17. Über die Rhetorik heißt es: illa autem fere de rebus populari intelligentiae subiectis, et non modo ad intelligendum, sed etaim ad delectandum, comouendumque accommodate. 34 Vgl. etwa Cicero: Orator 99–101. 35 Johann August Ernesti: Prolusio de philosophia populari. In: Ders.: Opuscula oratoria, Orationes, Prolusiones et Elogia. Leiden 1762, S. 149–156, hier S. 149. 33

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Auch für die Philosophen der Wolff-Schule ist die rhetorische Konzeption zentral. Sie schließt, wie gesehen, die demonstrativische Beweisführung nicht aus, weil sie auf einer strikten Arbeitsteilung zwischen Philosophie und Rhetorik basiert. Ähnlich wie bei Ernesti heißt es in Georg Friedrich Meiers ›Abbildung eines wahren Weltweisen‹ (1745): Ich will noch ein eintziges Stück anführen, so zu dem Character eines wahren Weltweisen erfodert wird. Es besteht dasselbe in der Ausbreitung der Weltweisheit. Ein wahrer Weltweiser ist wie eine lebendige Quelle zu betrachten, die in hundert Flüsse ausbricht, und gantze Länder durchströmt. Er sucht die Weltweisheit recht nützlich und fruchtbar zu machen. Er weiß, daß es zur Glückseeligkeit des menschlichen Geschlechts, und zur Vollkommenheit des gantzen Reichs der Wahrheit, unbeschreiblich viel beyträgt, wenn viele wahre Weltweisen erzeugt werden. Er erlangt demnach die Geschicklichkeit, die Weltweisheit dergestalt vorzutragen, daß viele Menschen zu einer recht vollkommenen Erkenntniß der Wahrheit, dadurch gelangen können. Er trägt die philosophischen Wahrheiten mündlich und schriftlich vor, nach allen den Regeln, so die Vernunftlehre, nebst der Rede- und Dichtkunst, an die Hand geben. Dergestalt wird ein wahrer Weltweiser ein Vater vieler andern Weltweisen, welcher diese seine Kinder auf ein Art erzieht, daß sie ihm und der Weltweisheit Ehre verursachen. Ein wahrer Weltweiser ist also ein grosser Lehrer der Weltweisheit, und ein vortrefflicher Schriftsteller, so viel als ihm möglich ist.36

Analog, doch zugleich mit expliziterem Bezug auf die Rhetorik konstatiert Alexander Gottlieb Baumgarten in seinem deutschsprachigen Ästhetik-Kolleg: »Will der Philosoph bloß nach den Regeln der Logik verfahren, so ist er nicht beredt, er kann aber von seinen Gegenständen auch schön denken und also beredt schreiben. In gewissen Umständen hat er das letzte nötig, weil er in einer Welt ist, wo er auch mit andern Leuten zu tun hat als denen, die abstrahiren können.«37 Dass es hier aber nicht einfach nur um eine nachgeordnete ›Vermittlungsleistung‹ geht, zeigt Baumgartens Antrittsvorlesung ›Vom vernünfftigen Beyfall auf Academien‹, gehalten am 4. Juli 1740. Der frischberufende Frankfurter Philosoph wählt ein heute noch aktuelles Thema: Hochschuldidaktik. Baumgartens Interesse gilt dem »mündlichen Vortrage eines academischen Lehrers«;38 er möchte erkunden, unter welchen Bedingungen die Vermittlung gewonnener philosophischer Erkenntnisse gelingen kann. Auch in der Antrittsvorlesung zieht er dazu auch Begriffe aus der

36

Georg Friedrich Meier: Abbildung eines wahren Weltweisen. Halle 1745, S. 196f. Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhetik-Kolleg. Hrsg. v. Bernhard Poppe. Borna, Leipzig 1907, S. 171. 38 Alexander Gottlieb Baumgarten: Vom Vernünfftigen Beyfall auf Academien, […]. Frankfurt a. d. Oder 1740, S. 3 37

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Rhetorik heran: Ein wirkungsvoller Vortrag muss »wahr, klar, gewiß und lebendig oder practisch«39 sein. Zwei Gesichtspunkt sind dabei aufschlussreich: Baumgarten besteht nachdrücklich darauf, dass philosophische Erkenntnisse auch praktisch wirksam sein müssen: Eine Vorlesung muss »einige Trieb-Federn und Bewegungs-Gründe zum vernünfftigen Handeln, zum klugen Thun und Laßen in sich enthalte[n].« Bei der bloßen Erkenntnisvermittlung darf der Philosoph also nicht stehen bleiben; stets drängt Theorie darauf, zur Praxis zu werden. Dazu bedarf es der Rhetorik: Ein Vortrag, der »keinem einzuschlaffen erlaubt« – gewiss die unterste Ebene rhetorischen Erfolges, das bloße attentum parare – muss nicht zuletzt auch stilistisch nach rhetorischen Gesichtspunkten gearbeitet sein. Die »Lebhafftigkeit im Vortrage« wird durch die »kräfftigsten Mittel einer muntern Beredsamkeit und feurigen Dicht-Kunst« bewirkt: »ein geschickter Lehrer darff des lebhafften nie gantz vergessen.«40 Um die Jahrhundertmitte gehörten, was heute vergessen ist, Überlegungen zur eloquenten Vermittlung philosophischer Erkenntnisse noch zum festen Inhalt von philosophischen Lehrbüchern. In seinem zuerst 1752 erschienen ›Auszug aus der Vernunftlehre‹ integriert Georg Friedrich Meier wie selbstverständlich ein Kapitel über die gelehrte Schreibart.41 Der gute Stil – wozu auch Redeschmuck und Wohlklang gehören42 – soll, wie es am Anfang des Kapitel heißt, »die gelehrte Erkenntniß und ihre Vollkommenheiten befördern«:43 Rhetorik im supplementären Dienste der Philosophie.

4. Popularität: Hume, Garve, Kant 1755 erschien mit der Ortsangabe Hamburg und Leipzig die erste deutsche Ausgabe von David Humes ›An Enquiry concerning Human Understanding‹ (1748).44 Werk und Übersetzung markieren nicht nur für die Philosophie der Aufklärung bis hin zu Kant einen prinzipiellen Neuanfang, sondern auch für die Frage nach dem Verhältnis von Rhetorik und Popularphilosophie. In Humes ›Enquiry‹ nämlich sahen die deutschen Leser einen neuen Typus philosophischer Popularität verkörpert. Johann

39

Ebd., S. 7. Ebd., S. 8. 41 Georg Friedrich Meier: Auszug aus der Vernunftlehre. Halle 21760, S. 135ff. (§§ 468 ff.). 42 Ebd., S. 136 f., §§ 474 f. 43 Ebd., S. 194, § 465. 44 Zur Rezeptionsgeschichte vgl. die knappen Bemerkungen bei Günter Gawlick, Lothar Kreimendahl: Hume in der deutschen Aufklärung. Umrisse einer Rezeptionsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1987 (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung, Ab. II, Bd. 4), S. 20ff. 40

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Georg Sulzer, in dessen Umkreis die Übersetzung entstanden ist, steuert ein Vorwort und Anmerkungen bei: Man muß gestehen […] daß der, den meisten deutschen Philosophen gewöhnliche Vortrag der Ausbreitung der Wahrheit etwas nachtheilig sey. Die Philosophie ist eine Wissenschaft für jeden Menschen, und muß auf eine solche Art vorgetragen werden, die jedem Leser deutlich und angenehm ist. – Es ist wahr, die Erforschung der Wahrheit ist mühsam, und sie wird keinem gelingen, der nicht Geduld genug hat, unzählige Hindernisse zu überwinden. Ein Erfinder philosophischer Wahrheiten muß nothwendig durch manchen finstern und widrigen Weg eindringen. Wenn er aber einmahl die Wahrheit durch schwere Untersuchungen erweckt hat: so ist er im Stande, solche Wege zu bahnen, die auch Leuten von wenigerer Geduld und Scharfsinn sich sichern Zugang dahin verstatten.45

Auch Immanuel Kant in Königsberg ist von den stilistisch-rhetorischen Fertigkeiten Humes – der Kant immerhin aus seinem »dogmatischen Schlummer«46 gerissen hatte – äußerst angetan.47 Im Vorwort zu den ›Prolegomena‹ (1783) schreibt Kant, dass es »nicht jedermann gegeben [sei], so subtil und zugleich so anlockend zu schreiben wie David Hume«. Für sein eigenes Unternehmen aber nimmt Kant nicht in Anspruch, ›populär‹ zu sein. Mehr noch: Er verweigert sich ganz bewusst der aufklärerischen Tradition und ihrem Postulat rhetorischer Wirksamkeit. In den Logik-Vorlesungen greift er dazu noch einmal auf die traditionelle Dichotomie von ›scholastischem‹ und ›popularem‹ Vortrag zurück. Letzterer ist ersterem nachgeordnet: Der Philosoph lässt sich, wird er populär, »zu den Fähigkeiten und Bedürfnissen derjenigen [herab], welche die Logik nicht als Wissenschaft studiren, sondern sie nur [!] brauchen wollen, um ihren Verstand aufzuklären.«48 In den ›Prolegomena‹ verstärkt er diese exkludierende Argumentation noch. Bündig heißt es: Es sei »eben nicht nöthig […], daß jedermann Metaphysik studire.«49 In der Vorrede zur ersten Auflage der ›Kritik der reinen Vernunft‹ (1781) kann man studieren, wie Kant innerhalb traditioneller Begrifflichkeiten der popularphilo-

45

Hier zit. nach der Biografie Blankenburgs in: Johann Georg Sulzer: Vermischte Schriften. Bd. 2. Leipzig 1781, S. 65. 46 Immanuel Kant: Prolegomena, AA I/4, S. 260. (Die Sigle AA steht im Folgenden für Immanuel Kant: Akademie-Ausgabe. Bd. 1–22. Hrsg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 23 v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ab Bd. 24 v. der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Berlin, New York 1900ff.). 47 Zur Topik der Durchsetzung der Kantischen Philosophie vgl. Lutz-Henning Pietsch: Topik der Kritik. Die Auseinandersetzung um die Kantische Philosophie (1781–1788) und ihre Metaphern. Berlin 2010 (Frühe Neuzeit 150). 48 Kant: Logik, AA I/9, S. 19. 49 Kant: Prolegomena, AA I/4, S. 263.

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sophischen Tradition bleibt, dabei aber die Begrifflichkeit um das rhetorische Wirkungsmoment kupiert. Er nennt als Voraussetzungen des philosophischen Vortrags nur noch »Gewißheit und Deutlichkeit«50 als Oberbegriffe. Letzteres wird unterschieden in Deutlichkeit »durch Begriffe« und Deutlichkeit »durch Anschauung«.51 Der ›Anschauung‹ verweigert sich Kant bewusst, wobei er einerseits auf die Schwierigkeit seines Unternehmens verweist, andererseits herausstellt, dass sein Werk ohnehin nur auf den fachphilosophischen Diskurs zielt: Ich aber sah die Größe meiner Aufgabe und die Menge der Gegenstände, womit ich es zu thun haben würde, gar bald ein; und da ich gewahr ward, daß diese ganz allein im trockenen, scholastischen Vortrage das Werk schon gnug ausdehnen würden, so fand ich es unrathsam, es durch Beispiele und Erläuterungen, die nur in populärer Absicht nothwendig sind, noch mehr anzuschwellen, zumal diese Arbeit keineswegs dem populären Gebrauche angemessen werden könnte und die eigentliche Kenner der Wissenschaft diese Erleichterung nicht so nöthig haben […].52

Kants programmatische Fokussierung auf den philosophischen Elfenbeinturm fand nicht durchgängig Beifall. Christian Garve publizierte in den ›Göttingischen Gelehrten Anzeigen‹ eine Besprechung der eben erschienenen ›Kritik der reinen Vernunft‹, die allerdings offensichtlich von dem Göttinger Philosophen Feder so stark bearbeitet war, dass Garve sie nicht mehr als seinen Text annehmen wollte.53 In der Rezension kritisiert Garve, dass Kants Stil den Leser »bis zur Ermüdung anstrengt«54. In einem erklärenden Brief an Kant aus dem Jahre 1783 gesteht er: »[I]ch weiß kein Buch in der Welt, das zu lesen mir soviel Anstrengung gekostet hätte«.55 Garve lässt keinen Zweifel an der epochalen Bedeutung der ›Kritik der reinen Vernunft‹, zeigt sich aber über Kants rhetorisches Ungeschick verwundert: Garve fordert, »es müsse möglich seyn, Wahrheiten, die wichtige Reformen in der Philosophie hervorbringen sollen, denen welche des Nachdenkens nicht ganz ungewohnt sind, leichter verständlich zu machen.«56 Und er postuliert: »daß das Ganze Ihres Systems, wenn es wirklich brauchbar [!] werden soll, populärer ausgedruckt werden müsse, u. wenn es

50

Kant: Kritik der reinen Vernunft (1781), A XV; AA I/4, S. 10. Ebd., A XVII f.; AA I/4, S. 12. 52 Kant: Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur ersten Auflage, A XVIII; AA I/4, S. 12. 53 Anregend Klaus Petrus: »Beschrieene Dunkelheit« und »Seichtigkeit«. Historisch-systematische Untersuchungen der Auseinandersetzung zwischen Kant und Garve im Umfeld der Göttinger Rezension. In: Kant-Studien 85 (1994), S. 280–302; Altmayer: Aufklärung als Popularphilosophie (wie Anm. 1), S. 640 ff. 54 Abdruck in I. Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. Hrsg. v. Karl Vorländer. Hamburg 71993, S. 167. 55 Garve an Kant. In: Ebd., S. 176. 56 Ebd., S. 178. 51

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Wahrheit enthält, doch ausgedrückt werden könne«.57 In seinem Antwortschreiben geht Kant auf Garves These, dass Vermittlung möglich ist, nicht ein. Er gesteht es rundweg zu, dass seine ›Kritik‹ einen »Mangel[!] an Popularität«58 aufweist – »jede philosophische Schrift [müsse] derselben fähig sein« – doch mit dem Streben nach Popularität könne man ein Werk wie die ›Kritik der reinen Vernunft‹ nicht beginnen.59 Die Vermittlung von Erkenntnis mit rhetorischen Verfahren hat am Ende des 18. Jahrhunderts keine Priorität mehr.

5. Schluss Das Problem der Vermittlung der kritischen Philosophie hat Kant aber durchaus beschäftigt. Es findet Niederschlag in den ›Prolegomena‹ von 1783, für die er in Anspruch nimmt, dass sie nach »analytischer Methode« angelegt seien.60 Die Kontroverse mit Kant sollte aber auch seinen Opponenten Garve weiter beschäftigen. Dieser publiziert 1793 – also ein Jahr vor der eingangs erwähnten Philosophiegeschichte Ebersteins – einen Aufsatz ›Von der Popularität des Vortrags‹. Er richtet sich nachdrücklich gegen die Diskreditierung der Popularphilosophie im Umfeld Kants: »Es haben, seit einiger Zeit, verschiedne Schriftsteller der Kantischen Schule, an den Nahmen eines Populärphilosophen, eine verächtliche Nebenidee geknüpft.«61 Diese, so Garve, hätten einen falschen Begriff vom Anspruch der »Populär-Philosophen«: »Humes Beyspiel« zeige, dass es möglich sei, »über die ersten Elemente unsrer Erkenntniß, auf eine faßliche und selbst auf eine anmuthige Art, zu schreiben.«62 ›Popularität‹ ist für Garve ein philosophisches Ideal: Der »höchste Grad der Vollkommenheit und Ausbreitung philosophischer Ideen [sei] dann erst erreicht […], wenn sie sich allen Menschen von gebildetem Verstande, auf eine leichte Art, mittheilen lasse.«63 Anders als Kant bedenkt Garve also, dass Kommunikation für die Ausbreitung von Erkenntnis unverzichtbar ist. Sie ist damit auch unverzichtbar für das Projekt ›Aufklärung‹. Solche Vermittlungsleistung allerdings – und hier scheint Garve Kant in Schutz zu nehmen – ist immer erst dann möglich, wo Erkenntnis

57

Ebd. Ebd., S. 183. 59 Ebd. 60 Kant: Prolegomena, AA I/4, S. 263. 61 Christian Garve: Von der Popularität des Vortrags [1793]. In: Ders.: Popularphilosophische Schriften über literarische, ästhetische und gesellschaftliche Gegenstände. Im Faksimiledruck hrsg. v. Kurt Wölfel. Bd. 2. Stuttgart, S. 352 (alle Seitenangaben beziehen sich auf die Originalpag.). 62 Ebd., S. 353. 63 Ebd., S. 351. 58

Kommunikation der Aufklärung. Über Popularphilosophie und Rhetorik

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schon verfügbar ist, in Garves Worten, wo die philosophischen Gedanken »ihre völlige Entwickelung erhalten haben. […]. Populär kann also der Vortrag der Erfinder nie seyn, oder er ist es selten.«64 Auch Garve folgt damit noch dem Modell der Rhetorik als Supplement der Philosophie. Wenn er davon spricht, dass »Deutlichkeit«65 eine conditio sine qua non philosophischer Verständlichkeit sei, so folgt er damit ebenso der klassischen rhetorischen Lehre von den virtutes dicendi wie im Postulat, dass es »Bilder und Beyspiele« seien, was den »populären Vortrag vielleicht am meisten auszeichnet.«66 In der Folgezeit werden ›populär‹ und ›Popularität‹ mit negativer Bedeutung versehen. Die Verständlichkeit ›für viele‹ wird als ›auch den untersten Volksklassen‹, also dem ›Pöbel‹, verständlich umgedeutet. In Johann Christoph Adelungs ›Grammatisch-kritischem Wörterbuch der hochdeutschen Mundart‹ (zuerst 1774–1786, 21793–1801) heißt es dazu: Populaer, -er, -ste, adj. et adv. ein von einigen neuern Schriftstellern ohne Noth aus dem Franz. populaire entlehntes Wort, dem größten Haufen, den niedern Classen der Glieder eines Staates verständlich; allgemein verständlich. Ein populärer Vortrag. Ein populärer Schriftsteller. Auch für, den niedern Classen der Weltbürger nützlich, haben es einige einführen wollen, als wenn wir nicht schon das gute eben das sagende Deutsche Wort gemeinnützig hätten. Bey andern bedeutet es, der Art zu denken und sich auszudrucken des großen Haufens gemäß.67

Im Ergebnis ist damit den aufklärerischen Bemühungen um die Kommunikation der ›Sache der Aufklärung‹ eine Absage erteilt. Mit dem Beginn der philosophischen Projekte des Idealismus wird eine ›populäre‹ und damit verständliche Darstellungsform als ›Popularphilosophie‹ ausgegrenzt. Seit 1800 zieht sich die Philosophie endgültig in jenes akademische Schneckenhaus zurück, aus dem sie sich seither nur noch selten bewegt. Ihr Anspruch, gesellschaftliche Reflexionsinstitution zu sein, hat darunter durchaus gelitten.

64

Ebd., S. 345. Ebd., S. 335. 66 Ebd., S. 339. 67 Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. Bd. 3. Wien 1811, Sp. 808. (Online unter http://lexika.digitale-sammlungen.de/adelung [10.2.2011]). 65

Davide Giuriato (Frankfurt a. M.) Deutlichkeit im 18. Jahrhundert. Ein systematischer Aufriss (nach Klopstock)

Zu den innovativsten Bestimmungen der deutlichen Rede gehört ein bemerkenswerter Passus aus Klopstocks 1774 erschienener Gelehrtenrepublik,1 der sich im Kontext eines längeren Abschnitts zu den Kunstmitteln der poetischen Darstellung findet: Die Deutlichkeit der Rede stehet nicht allein mit dem Verstande, den Kenntnissen, und der Aufmerksamkeit der Zuhörer in Verhältnissen; sondern auch mit den Gegenständen, die vorgestellt werden. Diese bestimmen nämlich, durch ihre verschiedene Beschaffenheit, die bey ihnen erreichbaren Grade der Deutlichkeit. Erhabne Gegenstände, wenn man sie von der rechten Seite angesehn, und mit wahrem Gefühl ganz empfunden hat, können vorzüglich deutlich vorgestellt werden. (GR 74)

Bedenkt man, dass die antike Rhetorik eine vergleichbar komplexe Erläuterung der griechischen sapheneia bzw. der lateinischen perspicuitas vermissen lässt, sticht Klopstocks poetologische Rekonfiguration umso mehr ins Auge. Bei aller Dichte besitzt seine Bestimmung analytische Qualitäten, die geeignet sind, den für die deutschsprachige Aufklärung leitenden Begriff der Deutlichkeit systematisch unter die Lupe zu nehmen. Zu diesem Zweck sind die folgenden Ausführungen in drei Teile gegliedert: Zunächst ist es geboten, auf die für das 18. Jahrhundert folgenreiche terminologische Prägung durch Christian Wolff einzugehen. In einem zweiten Schritt wird das Nachleben des Begriffs im poetologischen Diskurs, besonders bei Klopstocks Gewährsmann Breitinger, verfolgt und herausgearbeitet, dass die Deutlichkeit durch eine historische Ambiguität gekennzeichnet ist, die noch in der Bestimmung aus der Gelehrtenrepublik eine Rolle spielt. Wenn hier von einer Deutlichkeit der Rede und einer Deutlichkeit der Vorstellungen gesprochen wird, dann haben wir es mit einem Namen und zwei unterschiedlichen Konzepten zu tun. Diese Homonymie ist nicht etwa ein Fehler Klopstocks, sondern das vitium eines ganzen Zeitalters, geht sie doch in spezifischer Weise auf Wolffs Semiotik zurück. Schließlich kann vor dem Hintergrund dieser skizzenhaften Genealogie des Begriffs auf Klopstocks Definition eingegangen und die These entworfen werden, dass Deutlichkeit durch eine überschüssige Struktur gekennzeichnet ist.2 1

Friedrich Gottlieb Klopstock: Die deutsche Gelehrtenrepublik. Hrsg. v. Rose-Marie Hurlebusch. Berlin, New York 1975 (Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, Abt. Werke, Bd. 7,1); im Folgenden zit. mit der Sigle: GR Seitenzahl. 2 Im Unterschied zu den vorliegenden Begriffsgeschichten geht es mir darum, eine noch ausste-

Deutlichkeit im 18. Jahrhundert. Ein systematischer Aufriss (nach Klopstock)

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I Klopstocks Übersetzung der perspicuitas mit ›Deutlichkeit‹ ist für Rhetorik und Poetik der Aufklärungszeit durchweg charakteristisch – dabei übernimmt er einen Begriff, mit dem sich das Programm der Epoche auf den Punkt bringen lässt. Deutlichkeit meint nach der wissenschaftlichen Neubegründung im 17. Jahrhundert die höchste Qualität begrifflicher Erkenntnis.3 In analytischer Hinsicht werden dadurch zwei kollidierende Konzepte zusammengefasst, für die in der lateinischen Terminologie unterschiedliche Begriffe gelten: auf der einen Seite die von Descartes geprägte cognitio distincta, auf der anderen Seite die rhetorische perspicuitas, die man treffender mit ›Durchsichtigkeit‹ wiedergeben könnte. Während der Cartesianismus eine Denkstruktur adressiert, die »klare und deutliche« Erkenntnis über einen wesentlich nicht-kommunikativen Abstraktionsprozess gewährleisten soll, läuft die Rede vor dem Hintergrund dieser Prämisse die Gefahr dunkler Verworrenheit. Aus dieser Perspektive zeigt sich, dass die Aufklärung den Umgang mit einem epistemisch heterogenen Gefüge übt, dessen Spannungen nicht erst in der Poetik virulent werden, sondern bereits den philosophischen Diskussionszusammenhang bestimmen. In der Deutschen Logik (1713) definiert Wolff die cognitio distincta wie folgt: Ist unser Begrif klar; so sind wir entweder vermögend, die Merckmale, daraus wir eine Sache erkennen, einem andern herzusagen, oder wenigstens uns selbst dieselbe besonders nach einander vorzustellen, oder wir befinden uns solches zu thun unvermögend. In dem ersten Falle ist der klare Begrif deutlich, in dem andern aber undeutlich. […] Derowegen kan man einen deutlichen Begrif einem andern mit blossen Worten beybringen.4

Die Innovation dieser Bestimmung besteht darin, dass Wolff die Deutlichkeit im Unterschied zu seinen Vorgängern nicht auf die vollständige Explikation des Begriffs beschränkt, sondern zusätzlich nach dem Kriterium der Mitteilbarkeit konzipiert. Nur was deutlich gedacht wird, kann auch deutlich gesagt werden, und umgekehrt ist nur das deutlich gedacht, was auch deutlich ausgesprochen werden kann – so lautet der logische Zirkel nach Wolff. Der philosophische Leitbegriff der Aufklärung, der wie kein anderer für den Ausschluss der Redekunst aus dem Bereich der wahren hende Systematik der Deutlichkeit als transdiskursivem Terminus herauszuarbeiten. Die ausführliche, von Descartes bis Kant reichende Auseinandersetzung findet sich in meiner entstehenden Frankfurter Habilitationsschrift »Kunst der Deutlichkeit«. 3 Vgl. zusammenfassend René Descartes: Die Prinzipien der Philosophie. Hrsg. v. Arthur Buchenau. Hamburg 1992, S. 15 f. (§ 45–47). 4 Christian Wolff: Von den Kräften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkenntnis der Wahrheit (Deutsche Logik). Hrsg. v. Hans Werner Arndt. Hildesheim 1965 (Gesammelte Werke, Abt. I, Bd. 1), S. 128 (§ 13).

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Erkenntnis steht, verrät eine genuin rhetorische Herkunft. Das Wort ›deutlich‹, mit dem Wolff ›distinctus‹ übersetzt, ist nämlich seit der Sprachlehre des 16. und 17. Jahrhunderts als kanonische Übersetzung für das lateinische perspicuus reserviert. Um die begriffliche Qualität des Denkens nach den von Descartes und Leibniz ausgeführten Differenzierungen wiederzugeben, hat Wolff somit eine für die deutschsprachige Terminologie schillernde Ambiguität in Kauf genommen – allerdings handelt es sich dabei nicht um ein kontingentes Phänomen. Man könnte eher von einer Ironie der Begriffsgeschichte sprechen, wenn der Umstand nicht erahnen ließe, wie sehr der philosophische Wortgebrauch über seine disziplinären Grenzen hinaus dominierend gewirkt hat. Indem Wolff die perspicuitas nicht etwa mit ›Durchsichtigkeit‹ übersetzt, sondern den rhetorischen mit dem logischen Begriff zusammenfallen lässt, folgt er einem Kalkül, das von der anschließenden »philosophischen Oratorie« zwecks Rekonfiguration der antiken Terminologie ohne Vorbehalte weitergeführt worden ist. Gottscheds Verständnis der perspicuitas beispielsweise äußert sich in seinem Handlexikon (1760) wie folgt: »Deutlichkeit in der Schreibart. Wer diese erhalten will, der muß erst selbst deutlich und ordentlich denken, damit er wisse, was er sagen will. Hernach muß er sich bekannter, üblicher und nicht zweydeutiger Wörter, und zwar in ihrem gewöhnlichen Verstande, bedienen«.5 Der stille Reiz solcher Definitionen liegt darin, dass sie gegen alle Suggestion in die widersprechenden Momente von Programm und sprachlicher Performanz auseinanderfallen. Die rhetorische Abstammung der Deutlichkeit ist weder Zufall noch ein Einzelfall. Wolffs System ist in den Grundsätzen von Motiven aus der Redekunst durchdrungen. Seine Neubestimmung der Deutlichkeit liegt im Gedanken begründet, den Leibniz mit seiner Schrift Meditationes de Cognitione, Veritate et Ideis von 1684 als ›symbolische Erkenntnis‹ entworfen hat.6 Dieser frühe Traktat, der sich aus einer kritischen Auseinandersetzung mit Descartes’ Lehre von der »klaren und deutlichen« Perzeption motiviert, begreift das distinkte Denken nach Maßgabe einer dynamischen Prozessualität und gliedert den Bereich des Wissens graduell nach unterschiedlichen Stufen von der dunklen über die klare bis hin zur deutlichen Erkenntnis. In diesem hochdifferenzierten Bereich betrifft Leibnizens cognitio symbolica vel ceacam den Umstand, dass sich die kognitive Aktivität über sprachliche Entäußerung realisiert und daher bei aller Klarheit zugleich ›blind‹ bleibt. Gemessen am Ideal der intuitiven Erkenntnis, die in der begrifflichen Durchdringung den göttlichen Rang benennt, sind Zeichensysteme zwar unvollkommen – gleichwohl hat ihnen Leibniz mit der symbolischen Deutlichkeit eine gnoseologisch produktive Rolle zugewie5

Johann Christian Gottsched: Handlexicon oder Kurzgefaßtes Wörterbuch der schönen Wissenschaften und freyen Künste. Hildesheim 1970 [ND der Ausg. Leipzig 1760], Sp. 525. 6 Gottfried Wilhelm Leibniz: Kleine Schriften zur Metaphysik. Hrsg. v. Hans Heinz Holz. Frankfurt a. M. 1996 (Philosophische Schriften, Bd. 1), S. 33.

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sen. Die von Wolff aufgegriffene Verbindung der Epistemologie mit der Semiotik umreißt im Ansatz die paradoxe Situation, dass die symbolische Erkenntnis zwar an einen sinnlichen Träger gebunden, aber dennoch als der höchstmögliche Grad des menschlichen Wissens profiliert wird. Diese Komplexion kann nur mit einigem Optimismus überwunden werden, woran es Wolff bekanntlich nicht gemangelt hat. Die bei Leibniz noch im Begriff vor Augen stehende Blindheit der cognitio symbolica vel caecam geht so bei Wolff verloren – dieser verdeutscht nämlich mit dem Ausdruck ›figürliche Erkenntnis‹. Auch diese Übersetzung enthält ein Programm. Wolff beschreibt damit die von der leibnizschen Semiotik geprägte Vorstellung, dass der Weg der Erkenntnis notwendigerweise über Sprachen führen muss, und zwar so, dass der Gedanke in herausragender Weise durch Wörter deutlicher wird. In der Deutschen Metaphysik heißt es entsprechend: »Denn da jetzund unsere Empfindungen größten Theils undeutlich und dunckel sind; so dienen die Wörter und Zeichen zur Deutlichkeit«.7 Das epistemische Potential der Sprache ist jedoch nur dort optimal umgesetzt, wo die Zeichenhaftigkeit des Gedankens ausgeblendet und auf die begriffliche Struktur hin durchsichtig wird. Auch an dieser zentralen Stelle greift Wolff auf eine genuin rhetorische Figur zurück, wie sich mit einem anderen Zitat aus der Deutschen Metaphysik belegen lässt: »Es ist möglich, daß auch in die figürliche Erkäntniß eine Klarheit und Deutlichkeit gebracht wird, und sie eben dasjenige vor Augen stellet, was in einer Sache anzutreffen ist, und dadurch man sie von anderen unterscheidet«.8 Mit der Rede vom Vor-Augen-Stellen modelliert Wolff die figürliche Erkenntnis nach dem Vorbild der rhetorischen evidentia, also nach Maßgabe jenes Vergegenwärtigungszaubers, durch den Quintilian zufolge das sprachliche Gemachtsein der Äußerung zugunsten eines unmittelbaren Präsenzerlebnisses zurücktritt.9 Wenn man in Erwägung zieht, dass Wolff eine dezidiert anti-rhetorische Semiotik entwirft, ist dieser Umstand verblüffend. Gerade dort, wo er die vollkommene Deutlichkeit des Denkens im Sinne der perspicuitas skizziert, zeigt sich, dass das normative Ideal der durchsichtigen Rede auf einen figuralen Effekt angewiesen bleibt – der Ausdruck von der ›figürlichen Erkenntnis‹, mit dem Wolff die cognitio symbolica vel caecam von Leibniz überträgt, hält die Erinnerung an die Notwendigkeit von Figuren im rhetorischen Sinn wach. Besser ist nicht zu erklären, warum für Wolff die volle Transparenz der Sprache eine 7

Christian Wolff: Von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (Deutsche Metaphysik). Hrsg. v. Charles A. Corr. Hildesheim 1983 (Gesammelte Werke. I. Abt. Bd. 2), S. 176 (§ 319). – Zu Wolffs Semiotik vgl. grundlegend David Wellbery: Lessing’s Laocoon. Semiotics and Aesthetics in the Age of Reason. Cambridge u. a. 1984, S. 9–42. 8 Ebd., S. 179 (§ 324). 9 Marcus Fabius Quintilianus: Institutionis Oratoriae / Ausbildung des Redners. Hrsg. v. Helmut Rahn. Darmstadt 2006, S. 460: »non dicendum, sed quodammodo etiam ostendendum est« (ebd., IV 2, 64).

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unerreichbare Vorstellung geblieben ist – in der Tat übersteigt seine Hellsicht die Beschränktheit eines Buchhalters, als den man ihn lange eingeschätzt hat, wenn er festhält, »daß unser Verstand niemahls gantz reine ist, sondern bey der Deutlichkeit beständig noch viel Undeutlichkeit und Dunckelheit übrig bleibet«.10

II Wo Rhetorik und Poetik an die Wolffschen Koordinaten anknüpfen, werden diese daher regelrecht trivialisiert, wenn eine angeblich ohne jeden Wortschmuck auskommende Deutlichkeit mit dogmatischer Unnachgiebigkeit eingefordert wird. Gottsched etwa beharrt darauf, dass die Prosa der Wissenschaft die »nackte Wahrheit ohne alle Schminke sagt«, während in der Dichtung bloß noch veranschaulicht wird, was sich letztlich auch ohne Figuren ausdrücken lässt.11 Allerdings tritt in der Folge mit dem poetologischen Diskurs hervor, dass Wolffs Konzeption nicht im Mittelpunkt eines philosophischen Systems steht, das man einfach umzusetzen hätte, sondern dass es um ein noch ungelöstes Problem kreist. Wenn die vollständige Deutlichkeit als ideale Einheit von Wissen und Sprache erreicht werden soll, genügt es für Wolff nicht, die Rhetorik philosophisch zu rekonfigurieren – es bedarf darüber hinaus einer zusätzlichen Anstrengung, die späterhin ihren Ort in der Dichtung zugewiesen bekommt. Eine neue Bestimmung der Deutlichkeit entspringt so nicht von ungefähr der poetologischen Debatte zwischen Gottsched und den Schweizern. In seiner Critischen Dichtkunst von 1740 prägt Breitinger das Konzept der »lebhaften Deutlichkeit«, das er aus der aristotelischen energeia und der evidentia bei Cicero und Quintilian herleitet.12 Auf diese Weise äußert sich Breitinger zu dem Umstand, dass sich das rhetorische System durchweg schwer tut, diese Figur einzuordnen. Während Cicero sie mit der perspicuitas gleichsetzt,13 schwankt Quintilian lange, ob er das Affektmittel zur perspicuitas oder zum ornatus zählen soll – erst im achten Buch seiner Institutio Oratoria entschließt er sich, die Evidenz von der affektlosen Durchsichtigkeit abzurücken.14 Mit seiner Übersetzung schließt Breitinger die Figur wieder in die

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Wolff: Deutsche Metaphysik, S. 158 (§ 285). Vgl. Hans Adler: Fundus Animae – der Grund der Seele. Zur Gnoseologie des Dunklen in der Aufklärung. In: DVjs 62 (1988), S. 197–220. 11 Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Darmstadt 1962, S. 354 (XI, § 9). 12 Johann Jakob Breitinger: Critische Dichtkunst. Hrsg. v. Wolfgang Bender. Bd. 1. Stuttgart 1966, S. 66 f. 13 Marcus Tullius Cicero: Hortensius. Lucullus. Academici libri. Hrsg. u. übers. v. Laila Straume-Zimmermann u. a. München, Zürich 1990 (Academici libri II, 19). 14 Wo Quintilian im vierten Buch von der narratio handelt, wird die evidentia ausdrücklich zur perspicuitas gezählt (vgl. Quintilian: Institutionis Oratoriae, IV 2, 64), während die evidentia

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terminologischen Grenzen der perspicuitas ein und stellt damit fest, dass die nüchterne Durchsichtigkeit in ihrem Innern von einem sinnlich-anschaulichen Moment durchdrungen ist. Die Deutlichkeit der Evidenz besteht in Breitingers Worten darin, dass uns »die Sachen so lebhaft vorgestellt« werden, »als ob wir sie vor Augen sähen« und als würden sie sich gewissermaßen von selbst zeigen.15 Mit Blick auf Wolffs figürliche Erkenntnis ruft er keineswegs zufällig die Figur der medialen »Transposition des Redens zum Zeigen« auf, wie Rüdiger Campe formuliert hat.16 Zwar ist diese poetische Deutlichkeit bei den Schweizern der rationalen noch gegenübergestellt, doch gibt es genügend Ausführungen, die sie als Supplement des philosophischen Gedankens umreißen. Wie Breitinger in der Critischen Abhandlung über die Gleichnisse ausführt, sind das Denken und die Sprache in struktureller Hinsicht »arm und mangelhaft«17 – aus diesem Grund entsteht die Deutlichkeit einer Sprache überhaupt erst durch den Gebrauch von Figuren, allen voran durch die Katachrese, aber auch durch Bilder, Gleichnisse und Parabeln. Der Reichtum der Sprache und zugleich derjenige des Denkens wird von Grund auf mit Hilfe rhetorischer Abweichungen gewonnen oder, wie Breitinger ganz in der Tradition der aristotelischen Rhetorik formuliert: »Die Erweiterung unserer Erkenntnis geschieht darum niemahls ohne Ergetzen«.18

III Nach diesen begriffsgeschichtlichen Eckpunkten kann schließlich Klopstocks Definition angemessen besprochen werden. Wie gesehen, ist die Verschaltung von Rhetorik, Erkenntnislehre und Poetik für den Begriff der Deutlichkeit systematisch bedingt. Klopstock greift aus dem antiken System die sachorientierte Variante des durchsichtigen Redens auf, die unter dem Namen perspicuitas in rebus im Teil über die narratio abgehandelt wird und die affektfreie Erzählung von Geschehnissen adressiert – diesen Begriff zergliedert Klopstock nach den in der Schulphilosophie ausgelegten Koordinaten, wenn die Passage aus der Gelehrtenrepublik gleich eingangs die Deutlichkeit der Rede am Verstand, den Kenntnissen und der Aufmerksamkeit der Zuhörer bemisst und die Wirkung somit an zentralen Konzepten der rationalen Psychologie orientiert. Mit dem Ausdruck von den »Graden der Deutlichkeit« greift im achten Buch bei der Einleitung zur Figurenlehre von der perspicuitas getrennt und dem ornatus eingeordnet wird (vgl. ebd., VIII 3, 61). 15 Breitinger: Critische Dichtkunst, Bd. 2, S. 260 f. 16 Rüdiger Campe: Vor Augen Stellen. Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung. In: Poststrukturalismus. Hrsg. v. Gerhard Neumann. Stuttgart, Weimar 1997, S. 208–225, hier S. 219. 17 Johann Jacob Breitinger: Critische Abhandlung von der Natur, den Absichten und dem Gebrauche der Gleichnisse. Hrsg. v. Manfred Windfuhr. Stuttgart 1967, S. 24. 18 Breitinger: Critische Dichtkunst, Bd. 1, S. 61.

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er zudem direkt auf die seit Leibniz kursierende Vorstellung von der perfektiblen Stufenfolge des Wissens zurück. Es sind jedoch vor allem zwei Momente, die für besondere Verstörung sorgen. Der erste Punkt betrifft den Umstand, dass sich die Deutlichkeit für Klopstock nicht nur aus der Koppelung von Gnoseologie und Rhetorik bestimmt, sondern erst eigentlich auf dem Gebiet des Poetischen realisiert. Klopstocks Analyse greift damit das bei Wolff virulente Problem auf und zieht daraus die logischen Konsequenzen. Wie zuvor Breitinger erweitert Klopstock den terminologischen Rahmen der perspicuitas um das sinnliche Moment der lebendigen Wiedergabe – wie der Schweizer legt auch Klopstock nahe, dass damit ein innerer Mangel supplementiert wird. Weil deutliches Reden und Denken nie deutlich genug sein können, sind sie von Grund auf an figurale Verfahren der Verdeutlichung verwiesen. In der Konsequenz sind somit Effekte einbeschlossen, für die traditionell die Poetik zuständig ist, wenn diese sich in rhetorischer Tradition die Erregung der Leidenschaften zur Aufgabe nimmt. Daher rührt auch Klopstocks von Longin inspirierter Gedanke, dass insbesondere erhabene Gegenstände deutlich vorgestellt oder eben ›vor-Augen-gestellt‹ werden können. Wenn die Rede desto deutlicher ist, je erhabener die Dinge sind, von denen sie spricht, dann hat die perspicuitas ihren angestammten Ort verloren und ist zu einer Angelegenheit des stilus sublime avanciert. Mehr noch: Indem Klopstock die Momente der richtigen Perspektive und der wahren Empfindung ins Spiel bringt, ist das rhetorisch-poetologische Dispositiv um eine ästhetische Dimension erweitert. Die Deutlichkeit der Repräsentation kommt nicht nur durch begriffliche Abstraktion, sondern grundlegend auch durch die Mitwirkung der Sinne zustande – in diesem Punkt zeigt sich Klopstock maßgeblich von Baumgartens Ästhetik informiert. Natürlich stellt dies eine offene Provokation der im Schlepptau der Schulphilosophie entstandenen Handbücher zur Rhetorik dar: Während diese die perspicuitas als das wissenschaftliche Stilideal schlechthin proklamieren, verknüpft Klopstock die transparente Rede gerade nicht mit der theoretischen Abhandlung, sondern mit der poetischen Darstellung, ist Deutlichkeit doch nicht allein eine Sache des distinkten Denkens und Redens, sondern auch oder sogar in erster Linie die Angelegenheit einer Poetik der psychischen Suggestion.19 Anders als die Forschung behauptet hat, entwirft die Passage aus der Gelehrtenrepublik nicht das Gegenteil, sondern eine auf höchste sinnliche Wirkung zielende Variante der Deutlichkeit.20 Bei allem Pathos muss Klopstock so gelesen werden, dass er ein dem philosophisch-rhetorischen Begriff inhärentes Spannungsmoment offenlegt – die rationale Deutlichkeit selbst 19

Jan-Peter Pudelek: Der Begriff der Technikästhetik und ihr Ursprung in der Poetik des 18. Jahrhunderts. Würzburg 2000, S. 115–150. 20 Vgl. August Schleiden: Klopstocks Dichtungstheorie als Beitrag zur Geschichte der deutschen Poetik. Saarbrücken 1954, S. 135.

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teilt sich in eine kognitiv-intellektuelle und in eine sinnlich-anschauliche Seite und zeichnet sich durch eine ebenso widerstreitende wie überschüssige Struktur aus. Dies schlägt sich schon in der Syntax von Klopstocks Passage nieder: Damit eine deutliche Rede zu Stande kommt, bedarf es nicht allein geistiger Fähigkeiten, sondern darüber hinaus noch eines zusätzlichen Moments, das Fragen der Poetik und der Ästhetik angeht. Der zweite Punkt fällt direkt in diesen Bereich und betrifft das Verhältnis von res und verba. Klopstock zufolge hängt Deutlichkeit weder vom sprechenden, noch allein vom aufmerksam zuhörenden Subjekt ab, sondern ist durch die Gegenstände geprägt, von denen die Rede ist. Er sagt ausdrücklich, dass sie die Vorstellung »bestimmen« – es sind also die Sachverhalte, die den unterschiedlichen Grad der Deutlichkeit in der Repräsentation determinieren. Das aber heißt: verba und res sind nicht einfach so gegenübergestellt, als ob die verba die res wiedergeben würden. Klopstock zufolge ist die deutliche Vorstellung zu wesentlichen Teilen heteronom. Allerdings modifiziert er den rhetorischen Terminus der res in repräsentationstheoretischer Hinsicht. Wie Klopstock in der Schrift Von der Darstellung festhalten wird, ist »[d]er Gegenstand […] vornehmlich alsdann darstellbar, wenn er erhaben ist, und wenn er viel Handlung und Leidenschaft in sich begreift«.21 Im Unterschied zu Breitinger radikalisiert Klopstock mit dem Entwurf der poetischen Darstellung die Produktivität der sprachlichen Performanz jenseits der mimetischen Nachahmung. Die Gegenstände, von denen die Rede ist, sind nicht statisch vorgegeben, sondern in originärer Weise sprachlich generiert und in Bewegung gesetzt – die begriffliche Differenz von res und verba tendiert zusehends zum Kollaps. Mit dieser Verschiebung rücken für Klopstock auch die herkömmlichen Figuren der Persuasion in den Hintergrund und werden andere Techniken der Gegenwärtigung in den Blick genommen. Im Fall der hier interessierenden Passage kommt dies im abschließenden Teil zum Ausdruck: Oft ist es, um hier bis zu diesem Grade der Deutlichkeit zu kommen, nicht etwa nur gut; es ist noth wendig kurz zu seyn. Die Kürze fasset wenige Theile durch Worte von starker Bedeutung zusammen, und leuchtet, gleich einer großen Lichtmasse auf einem Gemälde. Gleichwohl ist sie es, die am gewöhnlichsten der Dunkelheit beschuldigt wird. Aber von wem denn? Von Leuten, denen es entweder an Verstande, oder an Kenntnissen, oder an Aufmerksamkeit, oder gar an allen dreyen fehlt. (GR 74)

Die brevitas, die in der Rhetorik neben der perspicuitas zu den Grundanforderungen an die transparente Erzählung gehört, dient Klopstock als Ausdrucksverknappung mit dem Ziel der Ausdruckssteigerung. Ohne hier die von Menninghaus und 21

Friedrich Gottlieb Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie. Hrsg. v. Winfried Menninghaus. Frankfurt a. M. 1989, S. 168.

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Mülder-Bach ausgearbeitete Theorie der Wortbewegung bei Klopstock referieren zu können,22 muss zum Schluss mit Bezug auf Klopstocks Prosa der Hinweis genügen, dass sich die Überlegung zur Deutlichkeit selbst in aller ›Kürze‹ artikuliert und eine Reihe von ›Worten mit starker Bedeutung‹ zusammenfasst. Die dadurch erreichte Dichte und Komplexität mag durchaus ratlos machen.23 Man sollte diesen Sachverhalt jedoch angemessener mit Klopstocks programmatischer Unterscheidung zwischen ›Abhandlung‹ und ›Darstellung‹ fassen: Die Definition der perspicuitas »ist« nicht Theorie, sondern »hat« Theorie (GR 9) und lässt sich nicht restlos in diskursive Klarheit überführen. Es liegt gleichwohl am Verstand, an den Kenntnissen und an der Aufmerksamkeit der Leser, die Deutlichkeit darin zu erkennen und wenigstens teilweise zu realisieren. Der Vorwurf der Dunkelheit, mit dem Klopstock konfrontiert worden ist und auf den er mit der Schlusspointe auch polemisch reagiert haben mag, ist damit an die Absender retourniert.

22

Winfried Menninghaus: Nachwort. In: Klopstock: Gedanken, S. 259–351; Inka MülderBach: Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der ›Darstellung‹ im 18. Jahrhundert. München 1998, S. 149–229. 23 Auch nach den Ausführungen von Menninghaus, die mit der Frage nach Klopstocks Deutlichkeitsbegriff enden, ohne freilich die analytischen Qualitäten der Bestimmung aus der Gelehrtenrepublik zu erörtern, stellt sich die Frage, welchen Sinn der Terminus der Deutlichkeit nach »Klopstocks Angriff auf Gegenstand und Repräsentation« noch haben kann (Menninghaus: Nachwort, S. 350 f.).

Florian Schneider (Konstanz) Verziert – überspannt. Zur Sache der Poesie in Lessings Fabel Der Besitzer des Bogens

I. Rhetorik und/oder Ästhetik Dass sich Rhetorik und Ästhetik im Programm einer Tagung zu den »Sachen der Aufklärung« in verschiedenen Sektionen wiederfinden, ist nicht zuletzt ein Effekt aufklärerischer Diskurspolitik selbst. Denn bekanntlich entsteht Ästhetik im 18. Jahrhundert – sachlich wie als theoretische Disziplin – im Zuge einer nachhaltigen Verdrängung der frühneuzeitlichen und insbesondere barocken Rhetorik. Sie entsteht also entgegen und anstelle der Rhetorik, und zwar im Rahmen der Figuren- und Tropenlehre, der Lehre vom Ornatus oder der »Ziehr der Worte«, wie es bei Opitz geheißen hatte.1 Der Ort, an dem diese Verdrängung statthat, an dem sie sich eingeschrieben und Spuren hinterlassen hat, ist dementsprechend die Poetik. Als erstes Symptom dieser diskursiven Verschiebung darf man bereits die frühaufklärerische Kritik am manierierten »Schwulst« betrachten, etwa wenn Albrecht von Haller sich im programmatischen Vorwort seines »Versuchs Schweizerischer Gedichte« vom »geblähten und aufgedunstenen Wesen des Lohensteins« distanziert, der »auf Metaphern wie auf leichten Blasen schwimmt.«2 – Ein Urteil, das Haller nicht davor bewahrt hat, nur wenige Jahrzehnte später selbst ein Exempel überholter rhetorischer Kunstfertigkeit abzugeben, namentlich in Lessings Laokoon-Abhandlung: als Prügelknabe für deren zentrale Invektive gegen die verjährte »poetische Malerei« und just mit einer Strophe der Alpen-Dichtung, dem Glanzstück seiner »Schweizerischen Gedichte« wie seines poetischen Oeuvres insgesamt. Die berühmte Passage sei hier ausführlich zitiert, da sie im Kontrast zu Haller die wesentlichen Merkmale der neuen, ästhetischen Poesie verzeichnet: Es sind Kräuter und Blumen, welche der gelehrte Dichter mit großer Kunst und nach der Natur malet. Malt, aber ohne alle Täuschung malet. Ich will nicht sagen, daß wer diese Kräuter und Blumen nie gesehen, sich auch aus seinem Gemälde so gut als gar keine Vorstellung davon machen könne. Es mag sein, daß alle poetische Gemälde eine vorläufige Bekanntschaft mit ihren Gegenständen erfordern. Ich will auch nicht leugnen, daß demjenigen, dem eine solche Bekanntschaft hier zustatten kömmt, der

1

So lautet in Martin »Opitz’ Buch von der deutschen Poeterey« der Titel des 6. Kapitels, das die Figurenlehre abhandelt. 2 Vgl. Albrecht von Haller: Versuch schweizerischer Gedichte. Göttingen 41748, S. 6.

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Dichter nicht von einigen Teilen eine lebhaftere Idee erwecken könnte. Ich frage ihn nur, wie steht es um den Begriff des Ganzen? Wenn auch dieser lebhafter sein soll, so müssen keine einzelne Teile darin vorstechen, sondern das höhere Licht muß auf alle gleich verteilet scheinen; unsere Einbildungskraft muß alle gleich schnell überlaufen können, um sich das aus ihnen mit eins zusammenzusetzen, was in der Natur mit eins gesehen wird. Ist dieses hier der Fall? Und ist er es nicht, wie hat man sagen können, »daß die ähnlichste Zeichnung eines Malers gegen diese poetische Schilderei ganz matt und düster sein würde?« Sie bleibet unendlich unter dem, was Linien und Farben auf der Fläche ausdrücken können, und der Kunstrichter, der ihr dieses übertriebene Lob erteilet, muß sie aus einem ganz falschen Gesichtspunkte betrachtet haben; er muß mehr auf die fremden Zieraten, die der Dichter darein verwebet hat, auf die Erhöhung über das vegetative Leben, auf die Entwickelung der innern Vollkommenheiten, welchen die äußere Schönheit nur zur Schale dienet, als auf diese Schönheit selbst, und auf den Grad der Lebhaftigkeit und Ähnlichkeit des Bildes […] gesehen haben.3

Lessings zentrales Argument der medialen Materialgerechtigkeit – die lineare, zeitliche Sukzession der willkürlichen Sprachzeichen, wie sie der Poesie »bequem« sind,4 gegenüber der räumlichen Koordination natürlicher Bildzeichen, wie sie die Malerei gebraucht – diese Opposition vorausgesetzt, lässt sich Lessings ästhetischer Entwurf wie folgt skizzieren: Poetische Gelehrsamkeit, rhetorische Kunstfertigkeit und mimetischer Detailreichtum stehen nicht mehr hoch im Kurs, seit sich alles um eine ästhetische »Täuschung« dreht, die statt außersprachliche Referenten zu repräsentieren, nun innersprachlich »lebhafte Ideen« und »Vorstellungen« produzieren soll. Versucht aber der Dichter zu »malen«, anstelle der sprachlicher Sukzession angemessenen chronologischen Handlung also räumliche Synchronizität darzustellen, gelingt es der Einbildungskraft des Lesers nicht mehr, die in der Zeit zerstreuten ästhetischen Eindrücke als lebendiges Ganzes aufzufassen, und das Ergebnis wirkt ent-täuschend. Was bleibt, sind ein paar tote Blumen der Rhetorik, »fremde Zierraten« ohne ästhetischen Reiz und »frostiges Spielwerk«, wie es an anderer Stelle heißt.5 Soweit der schematische Abriss der Herkunft der Ästhetik und der Versuch, die synchrone Existenz einer rhetorischen und einer ästhetischen Tagungssektion als diachrone Sukzession zu fassen – als eine zeitliche Folge, die keine andere wäre, als die der modernen Literaturgeschichte selbst. An solchen Versuchen herrscht freilich in der Literaturgeschichte wie auch in den Geschichten, die die Forschung über sie erzählt, keineswegs Mangel. Da wäre zunächst Goethe anzuführen, der am Ausgang 3

Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: Ders.: Kritische Schriften, Philosophische Schriften. München ³1995 (Werke in 3 Bden. [Winklers Weltliteratur Dünndruckausg.], Bd. 2), S. 7–166, hier S. 99 f. 4 Vgl. ebd., S. 97. 5 Vgl. ebd., S. 101.

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der Aufklärung mit der Epoche des ästhetischen Symbols auch das Ende aller barocken Allegorik verkündet und sich selbst gleich mit als Wortführer dieser poetischen Revolution – ein Schema, dem die Germanistik immerhin 150 Jahre gefolgt ist und deren erratische Diktion die Philologie nach wie vor beschäftigt. Gegen diese pauschale (und in der Folge Goethes zunehmend unhistorische) Abwertung aller Allegorik hat sich zuerst Walter Benjamin gewandt, dessen Trauerspielbuch zeigt, wie präzise die allegorischen Strukturen barocker Zeiterfahrung, Vergänglichkeitsobsession und Spielfreude entsprachen, und was mithin in der aufgeklärten Rede von der ›toten‹ und ›frostigen‹ Allegorie nicht mehr zur Sprache kommt. Ausgehend von hier hat Paul de Mans Rhetorik der Zeitlichkeit dann für eine Rehabilitation der temporalen Allegorie plädiert, die er gegen die Ideologie des ewigen Symbols ausspielt – eine Position, die später selbst unter ideologischen Verdacht gerät und bis heute mit guten Argumenten bestritten und verteidigt wird. Unter den aktuelleren Versionen der Geschichte sind hier vor allen zwei interessant, die das Problem von verschiedenen Seiten angehen und sich sozusagen gegenüberstehen, ohne deshalb gleich eine strenge Alternative zu bilden. Die erste der beiden, die hier allein der Kürze halber mit den Namen Rüdiger Campe und Anselm Haverkamp adressiert sei,6 begreift Ästhetik als eine Rhetorik auf zweiter Stufe, als Inversion und Potenzierung der Rhetorik, deren Dreh in einer (gleichwohl rhetorisch verfahrenden) Dissimulation der Rhetorik besteht – Ästhetik also als Rückwendung und Selbstverbergung der Rhetorik, deren Kronzeugen etwa Baumgarten und Klopstock abgeben. Die andere, die mit den Namen Winfried Menninghaus und Inka Mülder-Bach verbunden ist,7 kreist um den tatsächlich erst im 18. Jahrhundert zu theoretischen Ehren gekommenen Begriff der »Darstellung«, der die Poesie spätestens seit Klopstock und Lessing nicht mehr außersprachliche Referenten abbilden, sondern stattdessen in der Immanenz des Zeichenmaterials ästhetische Effekte kalkulieren lässt, die den Leser nur um so realistischer anmuten sollen. Betont also die erste Theorie, die die Ästhetik als und aus Rhetorik entstehen lässt, eher die Kontinuität der Literaturgeschichte, so fasst die zweite Ästhetik als ganz neues und spezifisch modernes Paradigma und betont entsprechend mehr die Diskontinuität, den Bruch, der mit der »Darstellung« einhergeht. Dass es sich hierbei weniger um einen theoretischen Dissens als vielmehr um einen paradoxen Effekt von Ästhetik selbst handelt,

6

Vgl. z. B. Rüdiger Campe: Bella Evidentia. Begriff und Figur von Evidenz in Baumgartens Ästhetik. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 49 (2001), S. 243–255; sowie Anselm Haverkamp: Figura Cryptica. Theorie der literarischen Latenz. Frankfurt a. M. 2002. 7 Vgl. z. B. Winfried Menninghaus: »Darstellung«. Friedrich Gottlieb Klopstocks Eröffnung eines neuen Paradigmas. In: Was heißt Darstellen?, hrsg. v. Christiaan L. Hart Nibbrig. Frankfurt a. M. 1994, S. 175–204; sowie Inka Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der »Darstellung« im 18. Jahrhundert. München 1998.

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soll im Folgenden eine Lektüre von Lessings Fabel »Der Besitzer des Bogens« zeigen, die exakt diese Bruch- und/oder Nahtstelle markiert.

II. Lessings fabelhafter Bogen Nur als Beleg, dass es hier durchaus um theoretische Erwägungen geht, die bei Lessing selbst eine Rolle spielen, sei ein Zitat vorweggeschickt, das der Vorrede seiner 1759 in drei Büchern publizierten »Fabeln. Nebst Abhandlungen mit dieser Dichtungsart verwandten Inhalts« entstammt. Dort heißt es, nachdem Lessing seine theoretische Kompetenz und Kenntnis der Gattungstradition beteuert hat: »Ich hatte mich oft gewundert, daß die gerade auf die Wahrheit führende Bahn des Äsopus, von den Neuern, für die blumenreichern Abwege der schwatzhaften Gabe zu erzählen so sehr verlassen werde.«8 Schon hier reagiert Lessing allergisch auf die »Blumen«, was weniger der Natur geschuldet ist als abermals dem rhetorischen Redeschmuck, dessen Prunkstücke ja bereits seit dem Mittelalter in sogenannten »Florilegien« (also »Blumenlesen«) gesammelt wurden. Dass die Literatur der »neueren« (sprich: modernen) Schriftsteller so wenig nach der reinen, griechisch-antiken »Quelle« schmeckt (wie es in »Laokoon« heißt),9 liegt also wiederum an deren ostentativer Rhetorik, als die sich Lessings »blumenreichere Abwege der schwatzhaften Gabe« unschwer entziffern lassen. Sie ist es, die die modernen Fabeldichter »so sehr« von der geraden Bahn des Gattungsgründers Äsop abgekommen ließ. Und genau darum geht es auch in der Fabel vom Besitzer des Bogens, die als programmatischer Text das dritte Buch der Sammlung eröffnet: Ein Mann hatte einen trefflichen Bogen von Ebenholz, mit dem er sehr weit und sehr sicher schoß, und den er ungemein werthielt. Einst aber, als er ihn aufmerksam betrachtete, sprach er: »Ein wenig zu plump bist du doch! Alle deine Zierde ist die Glätte. Schade!« – Doch dem ist abzuhelfen; fiel ihm ein. Ich will hingehen und den besten Künstler Bilder in den Bogen schnitzen lassen. – Er ging hin; und der Künstler schnitzte eine ganze Jagd auf den Bogen; und was hätte sich besser auf einen Bogen geschickt, als eine Jagd? Der Mann war voller Freuden. »Du verdienest diese Zierraten, mein lieber Bogen!« – Indem will er ihn versuchen; er spannt, und der Bogen – zerbricht.10 8

Lessing: »Vorrede« [zu: Fabeln. Drey Bücher. Nebst Abhandlungen mit dieser Dichtungsart verwandten Inhalts, Berlin 1759]. In: Ders.: Vermischte Schriften. München ²1995 (Werke in 3 Bden., Bd. 3), S. 424 ff. , hier S. 424 f. 9 Vgl. Lessing: Laokoon (wie Anm. 3), S. 7. 10 Lessing: Der Besitzer des Bogens. In: Ders.: Dichtungen. München ³1994 (Werke in 3 Bden., Bd. 1), S. 1023.

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Nach David Wellbery, dessen Interpretation der Fabel in seinem Aufsatz »Das Gesetz der Schönheit. Lessings Ästhetik der Repräsentation« als Leitfaden dienen kann,11 handelt es sich hier um eine »Metafabel« – um eine Fabel nämlich, deren Moral die Poetik der Fabel selbst oder allgemeiner: die poetische Sprache ist. Dafür, dass Wellberys semiotische Argumente treffen, spricht bereits der im ersten Satz abgeschossene Pfeil, dessen seit jeher deiktische Qualität auch hier besticht, und so ist also im besagten Bogen nicht weniger als die »Sache« der Poesie selbst zu erkennen. Entscheidend für deren ästhetische Qualität ist die Ökonomie der Zeichen, die die Fabel von der Fabel impliziert, indem sie den »Bogen« der poetischen Sprache »sehr weit und sehr sicher« das Ziel treffen lässt, solange er nur die »Glätte« zur »Zier« hat; ihn jedoch »zerbricht«, nachdem sein Besitzer »den besten Künstler Bilder in den Bogen schnitzen« lässt.12 Auf Ganzheit und »Glätte« der poetischen Sprache kommt es mithin an, wenn Poesie die Wahrheit »treffen« und ihre Leser ästhetisch »täuschen« soll, wohingegen der ornamentale und sicherlich rhetorische »Zierrat« sie am Ende buchstäblich fragmentiert und ruiniert. Als »Feind dieser Ökonomie«, der Lessings schmucklose Einfalt der poetischen Sprache unterläuft, hat Wellbery jene mediale Verdopplung ausgemacht, die Poesie als sprachliche Repräsentation außersprachlicher Wirklichkeiten ist. Und tatsächlich trifft ja im Text der zwar »ein wenig zu plumpe«, aber vollkommen »glatte« Bogen anfangs sein Ziel, indessen er am Ende zwar in seinen »Bildern« die Jagd redupliziert, aber zu keinem Schuss mehr taugt, nichts außer sich selbst bezeichnet und daher buchstäblich »ver-ziert« zu nennen ist. Auch hier ist es der rhetorische Exzess kunstvoller »Bilder«, das exaltierte Ornament, das sich in den Vordergrund drängt, den Blick auf das ›eigentlich‹ Dargestellte in seiner ›natürlichen‹ Schönheit verstellt und die poetische Sprache in eine reflexive, blinde Verdopplung stürzt. In dieser Repräsentation usurpiert die rhetorische Figur den Platz der Wahrheit, verdrängt und ersetzt künstliche Wiederholung das Original, anstatt dessen Präsenz ästhetisch zu simulieren: Es ist die Katastrophe des ›eigentlichen‹ Sprechens, die Herrschaft des signifikanten Supplements über die Bedeutung und im übrigen ein perverses, da fetischistisches Begehren des Zeichens vor dem Objekt ›selbst‹. Angesprochen darf sich von dieser Kritik insbesondere der französische Fabeldichter La Fontaine fühlen, dem es nach Lessings Abhandlung »Von dem Vortrage der Fabeln« genauso gehe wie »meinem Manne mit dem Bogen«,13 und der damit in der 11

Vgl. David E. Wellbery: Das Gesetz der Schönheit. Lessings Ästhetik der Repräsentation. In: Nibbrig: Was heißt Darstellen? (wie Anm. 7), S. 175–204, hier S. 184 ff. 12 Für den Hinweis, dass diese ›handgeschnitzte‹ Ökonomie einen Überschuss an Signifikanten einem Mangel an Substanz korrelieren lässt und somit einer Logik des Supplements folgt, sei an dieser Stelle Stephan Kammer gedankt. 13 Vgl. Lessing: Von dem Vortrage der Fabeln. In: Ders.: Vermischte Schriften (wie Anm. 8), S. 473–481, hier S. 477.

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Fabeltheorie dieselbe Rolle spielt wie später Haller im Laokoon. Doch nicht darauf kommt es hier an, sondern auf die Komplikationen, die diese Bemerkung in Lessings Fabeltheorie auslöst. Hatte er nämlich in der Abhandlung »Vom Wesen der Fabel« zunächst rundheraus bestritten, dass Fabeln überhaupt allegorisch genannt werden können und überdies festgestellt, dass »ein so fremdes Wort […] überhaupt aus einer guten Erklärung verbannt sein« sollte,14 so muss Lessing dann doch einräumen, dass die Fabel »alsdenn allegorisch wird, wenn ich dem erdichteten einzeln Falle, den sie enthält, einen andern ähnlichen Fall, der sich wirklich zugetragen hat, entgegenstelle« – wie etwa den Dichter La Fontaine der Bogenfabel. Und schließlich, nach einer etwas fadenscheinigen Argumentation, die die Allegorie als bloß äußerlichen, der Fabel angehängten Dekor abtut und sie dem Wort, nicht aber der Sache nach aus der Fabeltheorie verdrängt, beeilt er sich hinzuzufügen: Und man glaube ja nicht, daß ich es bloß als ein müßiges, überflüssiges Wort daraus verdrängen will. Es ist hier, wo es steht, ein höchst schädliches Wort, dem wir vielleicht eine Menge schlechter Fabeln zu danken haben.15

»Hier, wo es steht« – nämlich in Lessings Fabeltheorie. Grund genug jedenfalls, noch einmal auf die poetische Qualität von Lessings eigener Fabel zurückzukommen.

III. Der beste Künstler und der Überschuss des Signifikanten Wie ist es also um die sprachliche Einheit und »Glätte« von Lessings »Besitzer des Bogens« selbst bestellt? Laut Wellbery soll sie in einer geistigen Aufhebung, einer ästhetischen Verflüchtigung des Zeichenkörpers liegen, die die poetische Sprache als Medium transparent und auf die erzeugten Vorstellungen hin durchsichtig macht. Sie beruhe mithin […] auf der Intellektualität der semiotischen Mittel, derer sie sich bedient. Da sie nämlich mit willkürlichen Zeichen operiert, die rein funktional und ohne jegliche materielle bzw. sinnliche Flagranz sind, Zeichen, die sich gleichsam in der Bezeichnung auslöschen, ermöglicht sie eine Autonomie imaginativer Gegenstandskonstitution […].16

So einleuchtend die These im Hinblick auf den Besitzer des Bogens zunächst erscheint, entgeht ihr doch die Pointe von Lessings Metafabel: dass sie nämlich, um zu 14

Vgl. hier und im Folgenden Lessing: Vom Wesen der Fabel. In: Ders.: Vermischte Schriften (wie Anm. 8), S. 426–454, hier S. 430 ff. 15 Ebd., S. 433. 16 Vgl. Wellbery: Das Gesetz der Schönheit (wie Anm. 11), S. 189.

Verziert – überspannt

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bezeichnen, was sie diskreditieren will, selbst mit der Verdopplung spielt. Denn der Text thematisiert und verwirft die figurale Doppelung nicht allein, sondern inszeniert sie zugleich äußerst kunstvoll auf Ebene des Zeichenmaterials, als Signifikantenspiel und damit allemal rhetorisch. Und so ist es eben auch nur ein Aspekt der ästhetischen »Täuschung«, dass man den Bogen desto leichter überspannt, je mehr man ihn ver-ziert; der andere ist, dass sich schon in der »Trefflichkeit« des Bogens die »Jagd« nach dem Sinn redupliziert, die dann im Text (fast scheint es überflüssig) tatsächlich zweimal auftaucht. Alles – vom »trefflichen« über den »verzierten« bis zum ›überspannten‹ Bogen – folgt hier einer literalen Logik. Mit der Vervielfältigung der »Jagd« ist die figurale Streuung des Sinns bereits im Signifikantenmaterial angelegt und vorgesehen; und auch der »Bogen« selbst – Sache der Poesie als deren »glatte« papierne Grundlage, als Spannungsbogen der Fabel und Flugbahn ihrer Bedeutung – hat insgeheim von Anfang an begonnen, den Sinn zu teilen und führt am Ende – im Zerbrechen – wieder auf die skripturale Differenz zurück. Nicht in der Absenz jeglicher Rhetorik (als Spürbarkeit der Zeichen), nicht in der Eliminierung des Ornaments (als Überschuss der Signifikanten gegenüber der Bedeutung) liegt also die ästhetisch gebotene »Glätte«, die der Text explizit »Zierde« nennt. Sondern umgekehrt in deren Potenzierung, die die Figur als solche »durchsichtig« macht, und in ihrer signifikanten, die angestrebte Illusion störenden Materialität verbirgt. Spätestens dann also, wenn ihm der Bogen in der Hand »– zerbricht« und just der ›Bruchstrich‹ (als graphisches Zeichen der signifikanten Differenz) im Text den Augenblick größter Evidenz markiert, wird der Besitzer wissen, was er an seinem »glatten Bogen« hatte: eine Poesie, in der Rhetorik anstatt des Dargestellten sich selbst verstellt, um das Bedeutete als »Eingebildetes« wirklich erscheinen zu lassen. Ästhetik als (rhetorische) Dissimulation der Rhetorik, Verbergen der Technik also, nicht aber Beseitigung aller Figuren und Tropen oder gar Aufhebung des Zeichenkörpers überhaupt – das heißt »Darstellung«, so schmucklos sie auch scheinen mag. Bleibt die Frage, was mit der Engführung von ästhetischer »Darstellung« und rhetorischer »Inversion« gewonnen ist. Im Hinblick auf Lessings Fabel lässt sich nun immerhin sagen, dass sie ihr eigenes Verdikt gegen die Rhetorik unterläuft und konsequent genau das tut, was sie der poetischen Sprache untersagt, das Verdikt unterläuft, um es poetisch zu sagen und indem sie es sagt. Einer rein rhetorischen Analyse muss daran tendenziell der epochale Bruch entgehen, den Lessings Text vollzieht und der diesen Text durchzieht; der exklusiven Aufmerksamkeit für die Darstellung andererseits aber die Tatsache, dass dieser ästhetische (Aus-)Bruch nur aus Rhetorik heraus möglich und nur rhetorisch inszenierbar ist. Allgemeiner, über die offensichtliche Autoreflexivität von Lessings Fabel hinaus gefasst und auf eine paradoxe Formel gebracht, könnte man sagen, dass das ästhetische Prinzip »glatter« Schmucklosigkeit poetisch nur in figuraler Reduplikation formulierbar ist – also genau in jener reprä-

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1. Sektion · Florian Schneider

sentativen Verdopplung, die nach Lessing die Poesie intransitiv und blind macht und in der doch der neue ästhetische ›Realismus‹ besteht. Zu jener »systematic closure of Enlightenment culture«, die Wellberys klassische Lessing-Studie im Laokoon-Aufsatz diagnostiziert,17 ist es daher wohl nie gekommen. Doch lässt sich auch aus dem, was einer solchen Schließung systematisch entgegenarbeitet – dem ästhetischen »Überschuss« des Signifikanten – am Ende eine literaturgeschichtliche Lehre ziehen: Was immer man seither zur »Sache der Poesie« erklärt hat – man konnte es nur durch die Blume tun, um nicht zu sagen »allegorisch«, verstanden mit Quintilian als fortgesetztes Anders- und Anderes-Sagen, als ›eigentlich‹ gemeint ist. In diesem Punkt wird die Literaturgeschichte also nie auf ihre Kosten kommen und ihren Anspruch auf Einheit und Kontinuität nur im Zerbrechen wahren. Geschichten von Literatur also und keine Einheit, soweit der Bogen tragen mag. Denn die Sache der Poesie ist eine Metapher; sie wird dort am sichersten verfehlt, wo sie am eindeutigsten erscheint.

17

Vgl. David E. Wellbery: Lessing’s Laocoon. Semiotics and Aesthetics in the Age of Reason. Cambridge 1984, S. 8.

Carolin Blumenberg (Berlin) Das Auge des Anatomen. Zur Figur des Beispiels bei Kant

Eine Sache der Aufklärung ist für Kant die Metaphysik-Kritik. Diese beginnt als Kritik der reinen Vernunft1 mit einer Untersuchung des menschlichen Erkenntnisvermögens, deren Ergebnis u. a. darin besteht, dass die Metaphysik, sofern sie den Status einer Wissenschaft behalten will, um all ihre klassischen, übersinnlichen Gegenstände gebracht wird (wie Gott, die Engel, die unsterbliche Seele). Dies geschieht im Wesentlichen durch eine Neubestimmung dessen, was unter einer Sache bzw. einem realen Gegenstand zu verstehen ist. Nach dieser Neubestimmung sind Gott und alles Übersinnliche keine realen Sachen, sondern nur Postulate oder Ideen der Vernunft. Die Sache der Aufklärung bedeutet eine Verschiebung im Konzept der Sachen und des Realen. Als solche impliziert sie, so meine These, zugleich eine Verschiebung im Konzept der Exemplifikation, insofern Beispiele laut Kant den Sachbezug der Philosophie (oder allgemeiner: von Begriffen und Theorien) ausweisen sollen. Beispiele sollen von da-seienden Dingen, Sachen »hergenommen« werden2 – statt von (anderer Leute) Urteilen oder Erzählungen. Sie sollen nicht nur abstrakte Gedanken lebendiger darstellen, sondern zeigen, dass Begriffe nicht »bloße Gedankenformen ohne objektive Realität«3 sind. Die Frage des Beispiels ist insofern untrennbar mit der Frage der objektiven Realität verknüpft. Auf diese Weise wird eine traditionell rhetorische Frage zum Dreh- und Angelpunkt, an dem sich die Geltung philosophischer Wissensansprüche entscheidet. Was aber ist objektiv real oder ein reales Objekt? Folgen wir der Kritik der reinen Vernunft, dann ist ein reales Objekt ein sinnlicher, kategorial bestimmter, in Raum und Zeit gegebener Gegenstand der Erfahrung, eine »empirische Anschauung« (Phaenomenon), und kein übersinnliches »Ding an sich« (Noumenon). Insofern nun die

1

Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1781/87). Berlin 1968 (Akademie-Ausgabe, Bde. III u. IV) – im Folgenden abgekürzt mit: AA, Band, Seitenzahl/Seitenpaginierung des Originals, vorzugsweise der 2. Auflage (B-Zählung); so auch bei allen anderen Werken: AA, Band, Seitenzahl/ggf. Seitenpaginierung des Originals. 2 »[D]iesen auf das bloße Geratewohl gewagten und endlich ganz geläufig gewordenen Begriff [Gott, c. b.] hat man noch dazu durch eine Menge Beispiele zu erklären geglaubt, so, daß alle weitere Nachfrage wegen seiner Verständlichkeit ganz unnötig geschienen. […]. Alle vorgegebene Beispiele sind ohne Ausnahme nur von Urteilen, nicht aber von Dingen und deren Dasein hergenommen. Die unbedingte Notwendigkeit der Urteile aber ist nicht eine absolute Notwendigkeit der Sachen.« (Kant: AA III, S. 398/B 621). [Hervorh. C. B.] 3 Kant: AA III, S. 118/B 148; vgl. ebd., S. 198/B 288–294.

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Aufgabe der Beispiele darin besteht, die objektive Realität oder »reale Möglichkeit«4 von Begriffen nachzuweisen, so werden auch die Beispiele von Kant als Darstellungen eines Begriffs an einem konkreten Gegenstand der Erfahrung oder schlicht als empirische Anschauungen bezeichnet.5 In dieser Bestimmung, die das Beispiel in der Ästhetik, einschließlich der transzendentalen Ästhetik, verortet, scheint die (ältere) Auffassung des Beispiels als rhetorischer Figur ganz aufgegeben worden zu sein. Die Abgrenzung gegenüber der Rhetorik-Tradition wird durch eine weitere Bestimmung unterstrichen, die Kant in die Formel fasst: »[Ein] Beispiel ist nur das Besondere (concretum), als unter dem Allgemeinen nach Begriffen (abstractum) enthalten vorgestellt, und bloß theoretische Darstellung eines Begriffs.«6 Während im Anschluss an Aristoteles’ Rhetorik bis in die Neuzeit auch Gleichnisse und Fabeln zu den Unterarten des Beispiels gezählt und die Beispiele in erster Linie als Narrationen sowie als Vergleiche oder rhetorische Induktionen verstanden wurden,7 so werden die Beispiele bei Kant a) auf objektive Realität und b) auf logische Subordination verpflichtet. Auch in der Kritik der Urteilskraft hält Kant an dieser Eingrenzung des Beispiels fest, wenn er das Beispiel mit der empirischen Demonstration a posteriori gleichsetzt und dabei sowohl von der schematischen wie auch der symbolischen Darstellung unterscheidet, die beide als »Hypotyposen« bezeichnet werden.8 Kant greift damit auf einen Terminus der antiken Rhetorik zurück, der laut Quintilian eine besonders lebendige und detaillierte Schilderung bezeichnete.9 Die Hypotypose erzeugt die Evidenz des Abwesenden, nicht (mehr) Erfahrbaren durch ein vergegenwärtigendes Vor-Augen-Stellen, durch eine Technik der Verlebendigung. Kant betont hierbei das konstruktiv-kreative Verfahren, wenn er schreibt, dass es sich bei beiden Hypotypose-Varianten, dem Schema und dem Symbol, um a priori Versinnlichungen von Begriffen handele. Ein Beispiel stelle hingegen, einen Begriff anhand a posteriori gegebener Anschauung dar.10 Zwar räumt Kant ein, dass im Falle des Symbols auch auf empi4

Kant: AA III, S. 206/B 302. Z. B. Kant: AA III, S. 470/B 743; AA V, S. 342/240; AA III, S. 227 Anm./B 338 Anm. 6 Kant: AA VI, S. 479 f. Anm. 7 »Es gibt zwei Arten von Beispielen: Eine besteht darin, frühere Ereignisse zu erzählen, die zweite darin, selbst etwas zu erdichten. Letztere ist entweder ein Gleichnis oder aber Fabeln, wie die von Äsop oder die libyschen.« (Aristoteles: Rhetorik. 2. Buch, 1393 b); vgl. zur rhetorischen Induktion: Ebd., 1356 b 4 ff. Besonders weit und unbestimmt ist Erasmus’ Gebrauch des Beispiels: »We include under ›examples‹ stories, fables, proverbs, opinions, parallels or comparisons, similitudes, analogies, and anything else of the same sort.« (Erasmus: De copia. Übers. v. B. I. Knott, hrsg. v. C. R. Thompson, Collected Works, Bd. 24, Toronto [u. a.] 1978, S. 607). 8 Kant: AA V, S. 351 f./254 ff. In meinem Vortrag bin ich auf die sehr komplexe HypotyposeFrage nicht näher eingegangen und hole das hier, da dieser Aspekt im Auditorium vermisst wurde, ein wenig nach. 9 Vgl. Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners: Zwölf Bücher. Hrsg. u. übers. v. H. Rahn, Teil 2, Darmstadt 21988, IX 2, 40 ff., S. 287. 10 Vgl. Kant: AA V, S. 351/254 f. 5

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rische Anschauungen zurückgegriffen werde, aber die Beziehung zwischen dargestelltem Begriff und Anschauung kennzeichnet er dennoch als a priori hergestellte.11 Dadurch entsteht der Eindruck, »a priori« heiße in diesem Zusammenhang schlicht so etwas wie »selbst hervorgebracht« oder »selbst konstruiert«. Für diese Lesart spricht auch die Herkunft des griechischen Begriffs hypotyposis, die ursprünglich eine Technik der Herstellung und Vervielfältigung von Bildern bezeichnete.12 Rodolphe Gasché übersetzt hypo mit »unterhalb«, »unter« und typosis mit »geprägte oder gestaltete Figur, ursprünglich Entwurf, Skizze oder Umriss«.13 Die hypotyposis wäre in diesem Sinne die Darstellung eines allgemeinen Wesens, Schemas oder Urbildes14 – im weitesten Sinne eine artifizielle Darstellung, eine kunstvolle Technik der Bildgebung. Wenn Kant also die Beispiele von der schematischen und symbolischen Darstellung unterscheidet und betont, dass ein Beispiel immer einen empirisch gegebenen, logisch subordinierten Gegenstand zeige, dann möglicherweise um zu unterstreichen, dass ein Beispiel kein kunstvolles Konstrukt (weder Modell, noch Metapher, Allegorie oder Fabel) sein und nicht als Urbild betrachtet werden sollte.15 Als Subordiniertes ist es stets ein möglicher Fall von vielen und kann niemals einen Begriff in seiner Absolutheit oder universalen Anwendbarkeit und Allgemeingültigkeit darstellen. Doch genau das ist nach Kant jeweils die Aufgabe des Schemas und des Symbols. Symbolische Hypotyposen bieten die Möglichkeit, qua Analogie (d. h. als Metaphern oder Allegorien) die nicht-exemplifizierbaren (»indemonstrablen«) Vernunftideen – als Ideen des Absoluten und Transzendenten – darzustellen; schematische Hypotyposen wiederum haben die Funktion, die Verstandeskategorien in ihrer universalen Anwendbarkeit und Reinheit – d. h. als transzendentale – darzustellen. An beiden Aufgaben können Beispiele nur scheitern. Doch zur Demonstration objektiver Realität oder realer Möglichkeit bleiben sie zugleich unverzichtbar. In diesem Zusammenhang fungiert bei Kant die anatomische Sektion als Paradigma oder Gleichnis des Beispielgebens:

11

Vgl. Kant: AA V, S. 352/256. Vgl. Bernhard Jonas Hafner: Darstellung. Die Entwicklung des Darstellungsbegriffs von Leibniz bis Kant und sein Anfang in der antiken Mimesis und der mittelalterlichen Repraesentatio. Düsseldorf 1976, S. 96. 13 Rodolphe Gasché: Überlegungen zum Begriff der Hypotypose bei Kant. In: Christiaan L. Hart Nibbrig (Hrsg.): Was heißt »darstellen«? Frankfurt a. M. 1994, S. 152–174, hier S. 157. 14 Tatsächlich rekurriert Kant bezogen auf die symbolische und schematische Darstellung wiederholt auf den platonischen Begriff des Urbildes (z. B. Kant: AA V, S. 232/54 Kritik der Urteilskraft, 53 f.). Bezogen auf das Schema spricht er auch von einem »Monogramm der reinen Einbildungskraft a priori.« (Kant: AA III, S. 136/B 181, [Hervorh. C. B.]). 15 Nur durch Kritik, so Kant, könne »verhütet werden, daß die Beispiele, die ihm [dem Schüler, c. b.] vorgelegt werden, von ihm nicht sofort für Urbilder und etwa keiner noch höheren Norm und eigener Beurteilung unterworfene Muster der Nachahmung gehalten und so […] die Freiheit der Einbildungskraft selbst in ihrer Gesetzmäßigkeit erstickt werde…«. (Kant: AA V, S. 355/261 f.). 12

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1. Sektion · Carolin Blumenberg

Allein aus Gründen a priori kann […] Philosophie zwar beweisen, aber nicht demonstrieren; wenn man nicht ganz und gar von der Wortbedeutung abgehen will, nach welcher demonstrieren (ostendere, exhibere) soviel heißt, als (es sei in Beweisen oder auch bloß in Definieren) seinen Begriff zugleich in der Anschauung darstellen; welche, wenn sie Anschauung a priori ist, das Konstruieren desselben heißt, wenn sie aber auch empirisch ist, gleichwohl die Vorzeigung des Objekts bleibt, durch welche dem Begriffe die objektive Realität gesichert wird. So sagt man von einem Anatomiker: er demonstriere das menschliche Auge, wenn er den Begriff, den er vorher diskursiv vorgetragen hat, vermittelst der Zergliederung des Organs anschaulich macht.16

Auch an anderer Stelle greift Kant auf die Anatomie zurück, etwa wenn er betont: »Verstandesbegriffe müssen jederzeit demonstrabel sein (wenn unter demonstrieren wie in der Anatomie bloß das Darstellen verstanden wird)«.17 Das Darstellen besteht hier nicht (wie im Falle der schematischen bzw. mathematischen Demonstration) in der Konstruktion, sondern in der »Vorzeigung des Objekts […], durch welche dem Begriffe die objektive Realität gesichert wird« (s. o.). Da Kant die Demonstration an empirischer Anschauung als Exemplifikation versteht,18 kann die anatomische Sektion des menschlichen Auges als Paradigma des Beispielgebens bei Kant betrachtet werden. Dabei scheint die rhetorische und analogische Dimension des Beispiels vollkommen ausgeblendet oder durchsichtig geworden zu sein für den Blick auf die reine Referenz. Das deiktische Moment der Sektion kann aber in zweierlei Weise gelesen werden: Das Beispiel ist ein empirischer Gegenstand (epistemisch) bzw. es zeigt auf ihn oder es stellt ihn dar (rhetorisch-sprachlich, performativ). Diese Doppeldeutigkeit des Beispiels bleibt im Bild der anatomischen Sektion gewahrt: Einerseits scheint das Beispiel ein empirischer Gegenstand, ein Referenzobjekt zu sein (das sezierte Auge); andererseits wird es als ein bestimmter Darstellungsakt vorgestellt (das Sezieren, Kommentieren und Zeigen des Gegenstandes), wodurch zwischen Besonderem und Allgemeinem vermittelt wird. Die anatomische Sektion figuriert dabei eine Situation rhetorischer Deduktion zur nachträglichen Bestätigung und Illustration von Theorie. Denn erst, so Kant, werde der Begriff zergliedert, dann der reale Gegenstand. Der Baum der logischen Subordination verwandelt sich in das Bild einer Rangordnung: Das Beispiel scheint geltungslogisch nachgeordnet und folglich ganz in der Wissenschaftsdidaktik zu Hause zu sein, als »Belegbeispiel«19 im Modus des bestimmenden Urteilens. Andererseits wird jedoch der Begriff eines organischen Körpers (wie jeder empirische Begriff) nach Kant reflexiv und induktiv gewonnen: auf Basis diverser 16

Kant: AA V, S. 343/241, [Hervorh. C. B.]. Ebd., S. 342/240. 18 Vgl. z. B. Kant: AA V, S. 351/254 u. S. 342/240. 19 Stefan Willer, Jens Ruchatz, Nicolas Pethes: Zur Systematik des Beispiels. In: Dies. (Hrsg.): Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen. Berlin 2007, S. 9 ff. 17

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Vergleichsbeispiele. Daher spricht Kant auch von der »comparativen Anatomie«, welche die »Analogie der Formen« vergleiche.20 Als organische Körper gehören die Beispiele zum niemals abschließend Bestimmbaren (z. B. KrV, B 756 f.). Der Gestus des bestimmenden Urteils basiert auf Leistungen der reflektierenden Urteilskraft. Beide Verfahrensweisen der Begriffsklärung lässt das Beispiel des Anatomen eigentümlich in der Schwebe. Der Zergliederung (Analyse) von Begriffen in der Theorie wird die Zergliederung (Erforschung) des empirischen Gegenstandes gegenübergestellt [griech. anatemnein: zerschneiden, zergliedern], als ob hier die rhetorisch-didaktische Situation identisch mit der epistemologischen wäre. Das Belegbeispiel scheint zugleich ein ehemaliges Ausgangsbeispiel zu sein oder jederzeit zu einem solchen werden zu können bzw. zu einem solchen zurückzuführen. Die Frage ist: Kann die anatomische Sektion ein sinnvolles Paradigma für die Exemplifikation im Rahmen der Philosophie vorstellen? Dies ist in der Forschung wiederholt bestritten worden. Während etwa Günther Buck einwendet, dass es sich beim »frappierende[n] Beispiel des ›Anatomikers‹«21 gar nicht um ein Beispiel für das Verfahren des Beispielgebens handelt, so kritisiert Mirjam Schaub, dass Beispiele in Texten anders als Augen auf Seziertischen funktionieren müssen. Sie werden gerade nicht dadurch belebt, dass man sie auseinandernimmt […], sondern sie beleben ihrerseits, indem sie selbst nachvollzogen werden, indem all die Bilder, Vorgänge, Bewegungen und Konjunktionen, die in ihnen enthalten sind, in der Vorstellungskraft des Lesers entfaltet werden. Die Fixierung auf die Sachhaltigkeit und der rasche Griff nach ihr durch die Analogie zum demonstrierenden Anatomen verstellt das Moment der Kreativität (i. e. der Selektivität, der Konstruktion und Rekombination von Bekanntem).22

Doch gerade indem Kants »Anatomiker« dem Beispiel seinen Ort auf dem Seziertisch zuweist, verdichtet sich das Beispiel zur Allegorie seines eigenen Beispielseins. Kant betreibt dabei ein subtiles Spiel mit der antiken Figur des Vor-Augen-Stellens (des sub oculos subiectio,23 wie es bei Quintilian in Bezug auf die hypotyposis als Evidenz-Figur heißt), die in gewisser Weise nun verkehrt wird: Denn das vor Augen gestellte ist hier die Figur des »Vor-Augen« selbst bzw. die Anatomie des Anschauungsvermögens, insofern es die Bedingung der Möglichkeit des Vor-Augen-Stellens darstellt. Das Beispiel zeigt eine empirische Anschauung des menschlichen Anschauungsvermögens.

20

Kant: AA V, S. 418/368. Günther Buck: Lernen und Erfahrung. Zum Begriff der didaktischen Induktion. Stuttgart 2 u. a. 1969, S. 107. 22 Mirjam Schaub: Das Singuläre und das Exemplarische. Zu Logik und Praxis der Beispiele in Philosophie und Ästhetik. Zürich 2010, S. 105. 23 Quintilianus: Ausbildung des Redners, IX 2, 40, S. 287. 21

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Das Vor-Augen-Stellen des Auges besteht dabei gerade nicht – wie im Falle der rhetorischen Hypotypose – in einer lebhaften Narration, die alle besonderen Details in ihrer Fülle ausmalt, sondern in der maximalen Reduktion der (narrativen) Materie auf die wesentliche, allgemeine Form. Mit dem Seziermesser soll das Beispiel von möglichst allen besonderen Umständen gereinigt werden, um – so gut es geht – ein ihm zugrunde liegendes Schema zu offenbaren. In diesem Sinne ist das Beispiel der anatomischen Sektion des Auges eine Art Anti-Hypotypose – einerseits. Oder vielmehr: Es versinnbildlicht die paradoxe Aufgabe, keine Hypotypose zu sein (sondern das »sachliche« Verweisen auf einen empirischen, raum-zeitlich und kategorial bestimmten Gegenstand, der dem Begriff, den er darstellen soll, subordiniert ist) – und doch zugleich alle an eine Hypotypose gestellten Ansprüche zu erfüllen, nämlich die Erzeugung »einer simultan-augenblickshaft erfahrenen Totalanschauung«24 des Allgemeinen zu leisten. So suggeriert das Anatomiebeispiel optimistisch, dass man zur im Innern verborgenen, unsichtbaren Struktur ( dem Schema) vordringen, diese herausschälen kann, wenn man vom sinnlichen Fleisch (dem Individuellen) abstrahiert. Es entwirft eine Vision bzw. Illusion vollkommener Kongruenz: Der Zergliederung des Begriffs wird die Zergliederung des realen Gegenstandes gegenübergestellt, als ob Sagen und Zeigen konfliktfrei zur Deckung kommen könnten und sich das Allgemeine direkt im Besonderen manifestiert. Während die Hypotyposen von Kant als Lebensformen oder Verlebendigungstechniken des Geistes vorgestellt werden, figuriert das Beispiel als passives Medium von Herstellung und Beherrschung. Auf dem Seziertisch des Anatomen erscheint es verfügbar, weil getötet – und seine Subordination als Akt der Gewalt. Es ist nicht lebendiges, sehendes Auge, sondern ein verobjektiviertes, aus seinem besonderen, organischen Zusammenhang gewaltsam herausgelöstes. Auch hierin gleichnishaft bezieht sich das sezierte Auge des Anatomen auf die Wortgeschichte des lateinischen »eximere« zurück, das John D. Lyons mit »to take out, to remove, to take away, to free, to make an exception of« übersetzt. »Therefore, the example is something cut out and removed from some whole. […]. In both its Latin origin in eximere and the widespread medieval usage of the ›clearing in the woods‹, exemplum concerns a distinction made between a prior whole and a resultant fragment.«25 Der organische Zusammenhang, das »Ganze«, aus dem das Beispiel herausgelöst wurde, ist aber nicht das »Ganze« im Sinne des Allgemeinen, dem es zu- bzw. untergeordnet wird. Vielmehr haben wir es bei der anatomischen Sektion mit einer De- und Rekontextualisierung zu tun: Das Auge exemplifiziert

24

Petra Bahr: Darstellung des Undarstellbaren. Religionstheoretische Studien zum Darstellungsbegriff bei A.G. Baumgarten und I. Kant. Tübingen 2004, S. 197. 25 John D. Lyons: Exemplum. The Rhetoric of Example in Early Modern France and Italy. Princeton, New Jersey 1989, S. 9.

Das Auge des Anatomen. Zur Figur des Beispiels bei Kant

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nicht den Körper, dem es entnommen wurde, sondern den Begriff bzw. die Klasse aller menschlichen Augen. Insofern ist die vermeintliche Rollenzuweisung des Beispiels als natürlicher, realer Sache durchaus trügerisch – nicht nur insofern es sich bei der anatomischen Sektion um einen hoch selektiven und (re-)konstruktiven Akt handelt. Im Gleichnis der anatomischen Sektion wird der Zusammenhang zwischen dem »natürlichen« Beispiel und seiner eigenen Medialität und Künstlichkeit ebenso verborgen wie kunstvoll allegorisiert (sprich bestätigt): Während die heutigen Leser dazu verleitet werden, nur den naturwissenschaftlichen Aspekt des Anatomieparadigmas zu sehen, fanden im 17. und 18. Jahrhundert die anatomischen Sektionen öffentlich statt, in sog. »Anatomischen Theatern«.26 Im Theatrum Anatomicum bildet sich das Publikum aus dem ganzen Volk, das (nicht zuletzt) auch einfach unterhalten werden will.27 Zudem kamen wichtige Impulse für die Entwicklung der neuzeitlichen Anatomie aus der RenaissanceKunst, die sich um eine realistische Darstellung des menschlichen Körpers bemühte. Umgekehrt waren die Anatomen, um ihre Erkenntnisse festzuhalten, auf möglichst exakte, naturgetreue Abbildungen angewiesen. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Anatomen und Künstlern ist daher charakteristisch für die im 16. Jahrhundert liegenden Anfänge der Anatomie als empirischer Wissenschaft, weshalb für diese Epoche auch von einer »Künstleranatomie«28 gesprochen wird oder von der Anatomie als »Schwester der hohen Künste«.29 Vor seinem historischen Hintergrund erscheint Kants Beispiel des »Anatomikers« daher äußerst durchdacht, steht es doch im Zentrum einer Schrift, die sich in genau diese zwei einander durchdringenden Gegenstandsbereiche aufteilt: Kunst (Kreation) und Leben (Kreatur). In beiden Fällen, bei der Betrachtung von Kunstwerken wie von Lebewesen sei das reflektierende Urteilen die angemessene Umgangsart mit den gegebenen Gegenständen, die jeweils als freie Schöpfungen (des Genies oder der Natur) dem Beobachter gegenübertreten. Der Verstand resp. Wissenschaftler schreibe hier nicht a priori die Regel oder Form vor, sondern das Allgemeine müsse vom Besonderen ausgehend erst gefunden bzw. gebildet werden.30 Die schematische Darstellung ist demgegenüber nur dort möglich, wo ausschließlich die bestimmende Urteilskraft von a priori gegebenen Begriffen aus operiert. Im Beispiel hingegen verschränken sich beide

26

Vgl. Kurt W. Becker: Anmerkungen zur Geschichte der anatomischen Sektion. In: KunstOrt Anatomie. Saarbrücken 2002, S. 7–14, hier S. 10 f. 27 Vgl. Hartmut Böhme: Der Körper als Bühne. Zur Protogeschichte der Anatomie. In: Helmar Schramm u. a. (Hrsg.): Bühnen des Wissens. Interferenzen zwischen Wissenschaft und Kunst. Berlin 2003, S. 110–140, hier S. 126; sowie Inge Baxmann: Der Tod als Schauspiel des Körpers und Szenario des Blicks im 18. Jahrhundert. In: Dies. u. a. (Hrsg.): Das Laokoon-Paradigma. Zeichenregime im 18. Jahrhundert. Berlin 2000, S. 514. 28 Vgl. Kurt W. Becker: Anmerkungen S. 9. 29 Böhme: Körper, S. 128. 30 Kant: AA V, S. 179 f./XXVI f.

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1. Sektion · Carolin Blumenberg

Urteilsformen, bestimmendes und reflektierendes Urteil, unauflöslich. Genau diese methodische Verschränkung von bestimmender und reflektierender Urteilskraft, Didaktik und Forschung war es, durch die Andreas Vesal (1514–1564) die Anatomie im 16. Jahrhundert revolutionierte und den Boden für die moderne Anatomie als empirische Wissenschaft bereitete.31 Über tausend Jahre wurde die Anatomie dogmatisch auf Basis der Lehrbücher des griechisch-römischen Arztes Galen (129–201) gelehrt. »Vesal stellte […] fest, dass Galens Beschreibungen offensichtlich auf der Sektion von Schweinen, Affen und Hunden beruhten und nicht mit dem übereinstimmten, was er selbst bei der Sektion menschlicher Leichen vorgefunden hatte.«32 Es zeigte sich, mit anderen Worten, dass Galens Lehrsätze auf falschen Beispielen bzw. unzulässigen Analogieschlüssen beruhten. Vesals methodische Revolution entfaltete schließlich eine unerwartete dogmenkritische Dynamik, die die Autorität des überlieferten Schriftwissens grundlegend in Frage stellte.33 Auch Kant geht es um die Kritik gewisser (hier: metaphysischer) Dogmen. Auch er will die klassische Metaphysik, wie analog Vesalius, derart revolutionieren, dass sie nach ihm nicht mehr anders als im Sinne der Transzendentalphilosophie betrieben werden könne. »Schulwissen« solle mit »Weltwissen«, Begriffe mit Anschauungen vermittelt werden. In gewisser Weise spiegelt das Beispiel des öffentlichen Anatomietheaters daher seinen »Erfinder«: Kant, den Anatomen des menschlichen Erkenntnisvermögens, unseres »geistigen Auges«, der im öffentlichen Gerichtshof der Kritik den »Gliederbau des Systems«34 einer künftigen Metaphysik, die sich wird Wissenschaft nennen können, freilegen will, so wie Vesal einst die moderne Anatomie begründete. Der »Vorriß zu einem System der Metaphysik«, den Kant »verzeichnen« will, solle eine »abgesonderte für sich bestehende Einheit [sein], in welcher ein jedes Glied, wie in einem organisierten Körper, um aller anderen und alle um eines Willen da sind«.35 Die Beispiele, so Kant, drohen den »Gliederbau des Systems [zu] verkleben«36 – im Anatomiesaal legen sie ihn frei. Zwar ist nach Kant bei empirischen Begriffen eine schematische Demonstration im Sinne eines reinen top-down-Verfahrens eigentlich unmöglich – aber in der Anatomie, so scheint Kant zu sagen, ist sie es doch zumindest fast. Hier triumphiert die Herrschaft des menschlichen Geistes über das Fleisch. Hier verfügt der Verstand über die unverfügbare Materie des Anderen, des besonderen Individuums und legt noch in dessen Innerstem beständige Formgesetze, einen allgemeinen Bauplan der Gattung frei. Durch diese

31 32 33 34 35 36

Vgl. Becker: Anmerkungen, S. 7–14. Becker: Anmerkungen, S. 9. Vgl. Becker: Anmerkungen, S. 10. Kant: AA III, S. 26/B XLIV. Ebd., S. 15/B XXIII. Kant: AA IV, S. 13/A XIX.

Das Auge des Anatomen. Zur Figur des Beispiels bei Kant

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Suggestion wird die kritische Frage nach der Exemplarizität des Einzelfalls, die doch der Vesalschen Revolution der Anatomie zugrunde lag, verleugnet. Wenn wir also Kants Beispiel des »Anatomikers« nicht nur im Hinblick auf das lesen, was es sagt, sondern auch wie es etwas sagt, dann zeigt sich, dass »das Auge des Anatomen«, indem es die Erfüllung aller an ein Beispiel gestellten Erwartungen veranschaulicht, ihnen performativ widerspricht. Denn das Beispiel entpuppt sich bei näherem Hinsehen als genau das, was es nicht sein soll: eine rhetorische Figur, ein kunstvolles Gleichnis, eine Allegorie des aufgeklärten und aufklärenden Blicks, eine symbolische Hypotypose der Kritik.

Wolfram Malte Fues (Basel) Das wilde Erzählen

Die kommenden Seiten bitten zum Rendez-vous mit einem schlechten Roman: Der mit seiner Donna Charmante herumirrende Ritter Don Felix, Frankfurt und Leipzig 1754. »Wenn dieser Titel nicht schon einen elenden Roman verriethe, so dürften wir nur sagen, dass es ohngefehr eine Nachahmung der bekannten Felsenburg seyn solle. Sie ist […] unendlich elender als das Original; aber eben deswegen […] weit lesbarer.«1 Ein sehr schlechter Roman also. Aber weswegen weit lesbarer als ein bloß schlechter? Weil »das ganz Schlechte, wenn es einen gewissen Grad der Tiefe erlangt hat, eben deswegen, weil man es sich schwerlich schlechter einbilden kann, eine Art von Belustigung bey sich führt«. Man beginnt nämlich, meint Lessing, sich an der Einfalls- und Ausdrucks-Armut des Autors zu ergötzen, man fängt an, seine Bewunderung für seine kläglichen Ideen zu bewundern, »man genießt mit ihm das Vergnügen, durch ganze Alphabete nicht die geringste Spur eines gesunden Verstandes zu finden […] Aus diesen Gründen also wagen wir es, auch Lesern von Geschmack die Donna Charmante anzupreisen.«2 Aus nicht ganz denselben Gründen wage ich es, heutige Leserinnen und Leser mit der Donna Charmante zu behelligen. Vielleicht liegt ja hinter der Untiefe des ganz Schlechten eine Tiefe, deren Grund wir heute besser erkennen können, als es Lessing möglich war. »Es werde«, verspricht die Vorrede, »der werthgeschätzte Leser viel nützliche Lehren, geographische Nachrichten und einen angenehmen Zeitvertreib bey der Durchlesung finden.«3 Der angenehme Zeitvertreib beginnt mit der Herkunfts- und Jugendgeschichte des Don Felix in der Form eines galanten Romans. Dieser Roman geht ohne weiteres in einen Ritter-Roman über, der den Don Quixote in Handlung und Hauptfiguren wiederholt, ohne allerdings dessen parodierend fiktions-kritische Dimension auch nur zu streifen. Der Ritterroman des Don Felix/Don Quixote endet erwartungsgemäß mit glücklicher Heirat, woraufhin er sich in einen Avanturier verwandelt, denn Don Felix und seine Donna Charmante gehen nun auf eine weite Reise in die Südsee, die damaliger Zeit im Fadenkreuz der Entdeckungsreisen liegt: »Die Insul Felix auf der mittägigen 1

Gotthold Ephraim Lessing in der Berlinischen privilegirten Zeitung vom 4. Julius 1754. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Karl Lachmann u. Franz Muncker, Bd. 5, Stuttgart 31890, S. 415. 2 Ebd. S. 415 f. 3 Anonym: Der mit seiner Donna Charmante herumirrende Ritter Don Felix, Frankfurt, Leipzig 1754, S. 8.

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Seite des Oceans, gegen die Terram antarcticam zu, sey derjenige Ort, wohin er seinen Lauf nehmen wolle, indem allda sein Vater Herr einer von ihm angebaueten Insul sey.«4 Bevor jedoch die Reisenden an Bord gehen, will der Erzähler »diejenigen mit Namen melden, welche diese Reise zu unternehmen bey dem Don Felix sich anmeldeten […], und wir werden nicht unrecht thun, wenn wir sie paar und paar setzen, wie sie einander durch das Band der Ehe […] zutheil worden.«5 Folgen neun Seiten, die aufzählen: erstens diese Paare, zweitens die gesamte Besatzung aller Schiffe, nach Geschlecht und nach Beruf mit Namen geordnet, drittens die 32 verschiedenen Windarten, die es auf dem Ozean, und viertens die 26 verschiedenen Religionen, die es auf der Erde gibt. Benennen und vor allem Zählen von Menschen und Dingen sind Lieblingsbeschäftigungen des Erzählers, die seinen Text so von Anfang bis Ende durchziehen, wie es auch bei den deutschen Avanturiers und Robinsonaden ab den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts der Fall ist. Dabei befindet sich Hegel zufolge »das Denken […] in einer Tätigkeit, die zugleich äußerste Entäußerung seiner selbst ist, in der gewaltsamen Tätigkeit, sich in der Gedankenlosigkeit zu bewegen und das keiner Notwendigkeit Fähige zu verknüpfen«6. Die weitläufig erzählte Reise, die aus dem Don Felix mehrerer eroberter und besiedelter Inseln halber schließlich einen König Felix macht, reichert den Avanturier mit allen üblichen Motiven der Robinsonade an und bedient sich dazu gründlich aus dem Episoden-Schatz der Insel Felsenburg. Recht genau in der Mitte des Romans langt sein Held auf der »Insul Felix« bei seinem Vater an, dessen Mitregent und späterer Nachfolger er wird. Dementsprechend verwandelt sich der Text nun in einen utopischen Staatsroman nach Art Ludwig Ernst von Faramunds (das ist: Sinold von Schütz) »Die glückseligste Insul auf der gantzen Welt oder Das Land der Zufriedenheit […]«, Frankfurt und Leipzig bey Peter Conrad Monath 1728. Alle diese Inseln liegen wie die »Insul Jaketan […] Josephii Mauritii von Brachfeld« in den »Unbekannten Sud-Ländern« (Frankfurt, Leipzig 1739), und alle sind auf ganzseitigen Karten verzeichnet sowie detailgenau beschrieben, damit bei ihren Leserinnen und Lesern keinerlei Zweifel an ihrer Realität aufkommen. Unser Roman bemüht sich nun, ein möglichst vollständiges Bild aufgeklärt absolutistischen Regiments, seiner Institutionen und Prozeduren, seiner Probleme und Chancen zu geben. Der Roman schließt, indem er die Gestalt eines Fürstenspiegels annimmt, der am Beispiel des Mätressen-Un-Wesens zeigt, welche moralischen Anforderungen an den Charakter eines absoluten Herrschers zu stellen sind. Friedrich II. und Ludwig XV. werfen ihre Schatten zwischen die Zeilen. 4

Ebd., S. 122. Ebd., S. 123. 6 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik, Erstes Buch, II. Abschnitt, 2. Kapitel: Das Quantum. Hrsg. v. Eva Moldenhauer, Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1969 (TheorieWerkausgabe, Bd. 5), S. 244. 5

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Last but not least: die »geographischen Nachrichten«. Von ihnen birst der Text geradezu. Er benutzt jede Gelegenheit, um Landeskunde zu betreiben: Geographie, Regierungs- und Gesellschaftsform, politische Geschichte, Religion, Sitten und Gebräuche, Ökonomie, Sehenswürdigkeiten und Kuriositäten. Unser Autor geht offenbar davon aus, dass seine Leserinnen und Leser seinen Roman auch als Schaufenster zur Welt, als Geo-Magazin und Geschichtsklitterung nutzen. Galanter Roman, Ritterroman, Avanturier, Robinsonade, Staatsroman, Fürstenspiegel, Fachbuch – wie passt das zusammen? Wie geht das zusammen? Sehen wir uns ein paar typische Beispiele näher an. »Auf dieser Reise ereignete sich bis nach der Insul Maltha nichts merkwürdiges.«7 Damit beginnt der Erzähler seine ausführliche Beschreibung, der ein ganzseitiger Kupferstich eines »Ritters von Malta« beigegeben ist. Kurz vor dem Happyend des Ritterromans muss dessen Held von »traurigen Gedanken« abgelenkt werden, was dadurch erreicht werden soll, dass man ihn nach dem Königreich Spanien, nach seiner »Beschaffenheit und seiner Einwohner Sitten und Gebräuche«8 fragt, worüber Don Felix einen zehnseitigen, reich mit Namen und Zahlen, Statistiken und Ämterlisten gespickten Bericht abstattet. »Wir wollen nun den Befehlshaber Horch alda ausschiffen […] lassen, uns aber indessen wieder aufs Meer begeben, um zu sehen, wie es dem Don Felix und seinem Schiffe ergangen sey.«9 Der auktoriale Erzähler ist allgegenwärtig und darin Herr über Raum und Zeit. Wir, die wir uns hier in diese Allmacht plötzlich und unverhohlen einbezogen finden, sind sonst an Erzähler gewöhnt, die ihre Macht behutsam gebrauchen, schritt- und nicht sprungweise vorgehen. Unser Erzähler versagt sich derartige Vermittlungs-Schritte jedoch ausdrücklich: »Wollte man hier moralisiren, würde man darzu sattsamen Stoff bekommen; doch wir geben nur Bericht […] und gehen einzig historice.«10 Was also macht die eben aufgezählte Reihe von Romanen im Roman zu einem Roman? Der Zufall im Sinne des Wortes, das, was dem Erzählen im Verlauf seiner Berichterstattung Wort an Wort zu-fällt, eine allseits gleichgültige Verknüpfung, »der die Notwendigkeit fehlt« und die deshalb imstande ist, »das keiner Notwendigkeit Fähige zu verknüpfen«11. Das Erzählen übt sich nicht nur immer wieder im Nennen und Zählen, es geht zugleich auch in diese Tätigkeiten als in seinen Grund und seinen Ursprung zurück. Die Vermittlung zwischen seinen einzelnen Momenten erweist sich demgemäss als reine Willkür, damit aus Sicht der Vermittelten als unbestimmt und somit als unmittelbar. Jede Episode, jedes Motiv, jedes Ereignis wird von seinem ihm folgenden so vollkommen abgelöst, dass es keine weitere Bedeutung anzuneh7 8 9 10 11

Der mit seiner Donna Charmante, S. 63. Ebd., S. 99. Ebd., S. 161. Ebd., S. 294. Hegel, Wissenschaft der Logik, a. a. O.

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men vermag als die solcher Ablösung. Jeden Sinn, den die Erzählung aufzubauen sich anschickt, löscht sie im gleichen Zug wieder aus, so dass dem »werthgeschätzte[n] Leser« am Ende nur die Feststellung übrig bleibt, der Text habe das Versprechen seiner Vorrede gehalten und in der Tat einen »angenehmen Zeitvertreib«12 geboten. Offenbar völlig zu Recht konstatiert Goethe, »dass der erste Schritt, um aus der wässerigen, weitschweifigen, nullen Epoche sich herauszuretten, nur durch Bestimmtheit, Präzision und Kürze getan werden könne«13. Gemäß Walter Benjamin ist es »schon die halbe Kunst des Erzählens, eine Geschichte, indem man sie wiedergibt, von Erklärungen freizuhalten«14. Diese Kunst beherrscht, wie wir gesehen haben, unser Roman aus dem Grund. Er verbietet sich jeden begleitenden Kommentar, jede eingeschobene Reflexion, jeden abschweifenden Exkurs so gründlich, dass die Wiedergabe seiner Geschichte ihrem reinen Bericht ausnahmslos treu bleibt. Wendet man die Definition auf ihn an, mit der Aristoteles im neunten Kapitel seiner Poetik den Dichter vom Geschichtsschreiber unterscheidet, dass nämlich »der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte«15, dann entpuppt sich sein Autor als Historiker, der die erfundene Geschichte eines erfundenen Helden und des von ihm aufgefundenen Landes fakten- und aktenkundig überliefert. Es sei, haben wir uns eben von Benjamin sagen lassen, »die halbe Kunst des Erzählens, eine Geschichte […] von Erklärungen freizuhalten«16. Was macht dann die andere Hälfte dieser Kunst aus? Das,»was am Erzähler das Wunderbarste ist: dass er nämlich sein Leben erzählen kann, diesen Docht sich in der sanften Flamme des Erzählens verzehren lässt«17. Der Erzähler zehrt sein Leben auf, indem er es erzählt. Es wird zu einer sanften Flamme, die ein ruhiges, stetiges, niemals flackerndes Licht auf das wirft, was sie umgibt, so dass es gleichmäßig hell wird, seine Flächen und Linien, seine Höhen und Tiefen deutlich hervortreten. Was aber umgibt den Erzähler, der sein Leben erzählt? Das Leben seiner Leserinnen und Leser, die im Licht der Erzählung ihr eignes klarer, deutlicher, schärfer erkennen, indem sie in seinem Hintergrund die Prinzipien und Kategorien, die Beweggründe und Leidenschaften wahrnehmen, die es beherrschen.

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Der mit seiner Donna Charmante, S. 8. Johann Wolfgang Goethe: Dichtung und Wahrheit. Teil 2. Hrsg. v. Eduard von der Hellen. Stuttgart u. a. 1904 (Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in 40 Bden., Bd. 23), S. 64 f. 14 Walter Benjamin: Denkbilder. Kunst zu erzählen. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Unter Mitw. v. Theodor W. Adorno u. Gershom Scholem. Hrsg. v. Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, Bd. 4,1. Frankfurt a. M. 1972, S. 437. 15 Aristoteles: Poetik, griechisch/deutsch. Hrsg. u. übers. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, S. 29. 16 Benjamin: Denkbilder, a. a. O. 17 Walter Benjamin: Das Taschentuch. In: Ders.: Ges. Schriften, Bd. 4,2. Frankfurt a. M. 1972, S. 742. 13

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1. Sektion · Wolfram Malte Fues

In dieser Absicht muss das Erzählen die bloße Tatsächlichkeit des erzählten Lebens in eine Möglichkeit verwandeln, die sich von den epochal wirklichen Bedingungen menschlicher Existenz ableitet, um sie in seinem Fortgang für die auf ihre zufällige Daseinsform scheinbar festgelegten Individuen sichtbar und nachvollziehbar zu machen. »Der Romanendichter zeigt uns in seinem Werke […] die möglichen Menschen der wirklichen Welt.«18 Diese Menschen zeigt uns der Roman, mit dem wir uns hier beschäftigen, nie und nirgends. Einzig historice gehend, verfehlt er den Weg, auf dem er anthropologice und damit nach klassischer Auffassung literarisch vorzugehen vermöchte. Wozu dann der ganze Aufwand an Analyse und Überlegung? Für nichts? Viel Geschrei um kein bisschen Wolle? Im Gegenteil. Unser unglücklicher, viel gescholtener Roman legt vielmehr eine unumgängliche Strecke auf dem Weg von ständisch umgrenzter und bestimmter, reproduktiver Subjektivität zu bürgerlich entgrenzter und sich bestimmender, produktiver Subjektivität zurück. Er gibt noch kein Beispiel für die große Erzählung sich totalisierender Subjekt-Identität in Form symbolischer Individualität, aber er gibt die ursprüngliche Bedingung an, von der solche Beispiele künftig abhängen. Zwischen dem Docht und dem Licht schürt er das Feuer, das den einen entzündet und das andre erhellt. Dieser Vorgang erschöpft sich keineswegs, wie man auf den ersten Blick meinen könnte, im Paradigma-Wechsel zwischen barocker Allegorie und klassischem Symbol. Er weist darin zugleich die ursprünglichen Spuren dieses Symbols auf, seine Frühgeschichte, die jenen Realismus des Erzählens erst ermöglicht und auf den Weg bringt, von dem seine volle Entfaltung abhängt.19 Descartes’ berühmtem »Cogito – sum«20 entspringt der unabschließbare Modernisierungsprozess bürgerlicher Subjektivität. »Es darf nicht ergo lauten.«21 Der Gedankenstrich annulliert jeden Versuch, die unmittelbare Gleichung von Denken und Sein vermittelnd aufzuweichen, die Setzung in einen Satz, den Anspruch in eine Maxime zu verwandeln. Jede Vorschrift, jede Regel, jedes Stadtregiment, jede Hofoder Zunftordnung, die sich an seine Stelle zu schieben versucht, wird sogleich wieder durchgestrichen. Am Ort der Vermittlung, den dieses Durchstreichen anzeigt, bleibt nichts als eine leere Unmittelbarkeit, die sich zu jeder sie erfüllenden Ver-

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Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman. Stuttgart 1965 [Faks. der Originalausg. 1774], S. 257. 19 Die Zahl ist nämlich »die Abstraktion von der sinnlichen Mannigfaltigkeit; sie hat von dem Sinnlichen nichts als die abstrakte Bestimmung der Äußerlichkeit selbst behalten; hierdurch ist dieses in ihr dem Gedanken am nächsten gebracht; sie ist der reine Gedanke der reinen Entäußerung des Gedankens«. Hegel, Wissenschaft der Logik, a. a. O. 20 Siehe dazu Rene Descartes: Meditationes de prima philosophia. meditatio II: De natura mentis humanae: Quod ipsa sit notior quam corpus. 21 Immanuel Kant: Opus postumum. 1. Hälfte. Hrsg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin u. a. 1936 (Kant‘s gesammelte Schriften, Abt. 3, Bd. 8), S. 82; vgl. auch S. 102 f.

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mittlung ebenso positiv bestimmen wie darin wieder negieren lässt. Sie erlaubt eine Existenzform, die weiß, »dass der Moment alles ist und dass […] der Vorzug eines vernünftigen Menschen darin bestehe, sich so zu betragen, dass sein Leben […] die möglichste Masse von vernünftigen, glücklichen Momenten enthalte«22. Um dieses Ziel zu erreichen, muss sie allerdings noch einiges mehr wissen. Zuerst nämlich hat ein vernünftiger Mensch sich darüber klar zu werden, wie seine Vernunft sich ihm darstellt und welchen Begriff er sich demzufolge von sich, seinem Denken und Handeln sowie schließlich von dem darin möglichen Glück macht. Dieser Begriff wird eine »Masse von vernünftigen, glücklichen Momenten« nicht einfach zusammenballen, sondern sie in eine Konsequenz entfaltend vermitteln, die jedem Moment seinen Ort so zuweist, dass er mit allen anderen ohne Misston zusammenstimmt und somit als glücklich erlebt werden kann. Gelingt das, hat das ›Ich denke‹ im ›Ich bin‹ seinen gültigen Ausdruck gefunden. Aber nicht seinen endgültigen. Denn die Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt, dem Anspruch der Vernunft und ihren ihn realisierenden Momenten, ist und bleibt ebenso positiv wie negativ, ebenso wirklich wie darin weiterhin möglich. Also darf auch das glücklich individuierte Subjekt die Vorläufigkeit seines Glücks nie außer acht lassen. Es muss vielmehr darauf bauen, dass jede Individualität in dem Grade idealisch ist, als sie selbständig ist d. h. als sie innerhalb ihres Kreises ein unendliches Vermögen einschließt, und dem Gehalt nach alles zu leisten vermag, was der Gattung möglich ist.23

Für das Erzählen möglicher Menschen in einer wirklichen Welt ergibt sich daraus: Bey dem schriftstellerischen Vortrag soll auf die Gattung gewirkt werden, und das muss durch die Gattung geschehen. Es soll aber zugleich auf jedes Individuum, als solches, gewirkt werden, und das muss durch Individualität geschehen. Also ist die Forderung: generalisierte Individualität.24

22 Johann Wolfgang Goethe: Italienische Reise. Teil 2. Hrsg. v. Eduard von der Hellen. Stuttgart 1907 (JA, Bd. 27), S. 137. 23 Friedrich Schiller an Wilhelm von Humboldt am 4. Januar 1796. In: Schillers Briefe. 01.07.1795–31.10.1796. Hrsg. v. Norbert Oellers. Weimar 1969 (Nationalausgabe der Werke und Briefe, Abt. VII, Bd. 1,7) S. 154. – Ich könnte, überlegt Clemens Brentano, »den in seiner Individualität Vollendeten […] jenen nennen, der auf allen Punkten seiner selbst gleich stark empfängt und gibt, und diesen denke ich mir als eine Kugel, nenne ihn den Gesunden, Natürlichen, den Gebildeten«. (Clemens Brentano: Der Philister vor, in und nach der Geschichte. In: Ders.: Gedichte und Erzählungen. Hrsg. v. Heinz Amelung, Karl Viëtor. Frankfurt a. M. 1923 [Gesammelte Werke, Bd.1], S. 483). 24 Schiller an Körner am 10. November 1794. In: Schillers Briefe. 1794–1795. Hrsg. v. Günter Schulz. Weimar 1958 (Nationalausgabe, Abt. VII, Bd. 1,6), S. 81.

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1. Sektion · Wolfram Malte Fues

Dieser Forderung ist unser Roman offensichtlich nicht gewachsen. Er versagt ja bereits vor derjenigen nach einfacher Individualität. Weshalb graben wir ihn dann wieder aus, statt ihn im Moor seiner »wässerigen, weitschweifigen, nullen Epoche«25 ruhig weiter modern zu lassen? Auf der Reise von Neapel nach Rom erinnert sich Goethe »mit großem Behagen« an die »Eindrücke der vergangenen Monate«, fühlt aber, »dass eine eigentliche Mitteilung unmöglich sei. Der Erzählende muss alles einzeln hinstellen; wie soll daraus in der Seele des dritten ein Ganzes gebildet werden?«26 Wir haben die Antwort eben gehört: durch Individualisierung, die an die Stelle der leeren Unmittelbarkeit zwischen jeweils einzelnen Daseins-Momenten bestimmte, Sinnzusammenhang stiftende Vermittlung setzt, sowie durch Idealisierung solcher Vermittlung, die ihre wirkliche Besonderheit zum Erscheinungsort ihrer möglichen Verallgemeinerung symbolisiert. Ähnlichkeit, Analogie und Metapher sorgen dafür, dass derartige Vermittlung nicht auf eine bestimmte Gestalt ausschließlich festgelegt ist, sondern dass sie zugleich für weitere, sich durch sich stetig erweiternde Gestaltungen offen bleibt. Die reine und radikale Negativität, in der die jeweiligen Einzelnen im Erzählen unmittelbar aufeinander bezogen sind, scheint in diesem Vorgang am wachsenden Horizont positiver Vermittlungen allmählich zu verschwinden. Scheint. Jedoch: »Der Gegenstand ist der abstrakte Gedanke der Äußerlichkeit selbst.«27 Folglich bildet er in solcher Abstraktheit und Äußerlichkeit die unabdingbare Voraussetzung seiner Erinnerung zu Individualisierung und Idealisierung. Die klassische Ästhetik des Romans (und nicht nur des Romans), die auf »Bestimmtheit, Präzision und Kürze«28, also auf notwendige Vermitteltheit baut, drängt diese Voraussetzung aus ihrem Produktionsbewusstsein. Sie erklärt deren schlechthinnige Zeugnisse zu Manifestationen erzählerischen Unvermögens, zum Beweis erzählerischer Ohnmacht, statt sie als ursprüngliche Bedingung der Möglichkeit ihrer eigentümlichen Darstellungs-Macht anzuerkennen und zu achten. Aber: Ist das alles in der Geschichte des deutschen Romans nicht schon längst durchbuchstabiert worden? In einer Untersuchung, die der hier vorliegenden kleinen Skizze eine ihrer wesentlichen Fragestellungen vorwegnimmt: »Was es bedeutet, wenn in einem Roman […] ein ›Mensch‹ auftritt mit dem Anspruch, ein konkreter Einzelner […] zu sein.«29 Nur: Geht diese Untersuchung tatsächlich von demselben Begriff des Individuums aus? Von demselben Konzept von Geschichte und Gesellschaft? Fragt sie nach demselben Gegenstand? 25

Goethe: Dichtung und Wahrheit, a. a. O. Goethe: Italienische Reise, S. 35. 27 Hegel: Wissenschaft der Logik, a. a. O. 28 Goethe: Dichtung und Wahrheit, a. a. O. 29 Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Mit einer Einleitung von Heinz Schlaffer, Frankfurt a. M. 1976, S. 9. 26

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Lugowski stützt sich auf die Lebens-Philosophie Diltheys.30 Ihr gilt jede besondere Individualität als eine geschichtlich begrenzte Phase im Fluss des Lebens, die, ihrer Zeit folgend, dadurch zu einem konkreten Individuum wird, dass sie gewisse in ihr angelegte Möglichkeiten verwirklicht, während sich andere ihr unerreichbar zeigen. Dem rückblickenden, historisch reflektierenden Verständnis, das ein solches Individuum in den Blick nimmt, sind nur die verwirklichten Möglichkeiten zugänglich; die bloß möglich gebliebenen, die nach wie vor zu diesem Individuum gehören, relativieren jenes Verständnis prinzipiell auf etwas hin, was zu seiner vollkommenen Begrifflichkeit notwendig wäre, sich ihm aber entzieht. »So ist in allem Verstehen ein Irrationales, wie das Leben selber ist.«31 Demgegenüber verkörpern die symbolischen Formen des Kunstwerks klar und distinkt vollendete Rationalität, wie sie dem Leben nicht eigen ist und ihm deshalb in der ästhetischen Analyse deutend und erhellend entgegengesetzt werden kann. Deshalb muss die Formgeschichte von der Realgeschichte strikt getrennt bleiben.32 Formgeschichte schließlich geht der Realgeschichte nicht voran, sie begleitet sie nicht einmal, sie bleibt hinter ihr zurück, retardiert sie, retardiert sich von ihr, um sie aus solcher Distanz verständlich zu machen.33 Dieser Versuchs-Anordnung gemäss werden die Romane Jörg Wickrams analysiert, was zur Entdeckung des mythischen Analogons als dem Inbegriff ihrer Form und zur Einsicht in dessen allmähliche Zersetzung durch seinen Kontakt mit der sich verbürgerlichenden, verwissenschaftlichenden Welt führt. Hingegen beruht das Individualitäts-Konzept der hier vorgelegten kleinen Skizze auf jenem transzendentallogisch gefassten Projekt des Vernunft-Subjekts, das, mit Descartes beginnend, in der Selbstverständigung der Moderne bis heute wirksam ist. Dieses Projekt existiert als Theorie immer nur zugleich mit der Reflexion seiner ökonomischen, politischen und sozialen Objektivierungen; eine Untersuchung, die auf es Bezug nimmt, muss den Übergriff auf andere Gebiete des objektiven Geistes aufs sorgfältigste suchen. Darin entpuppt sich die Objektivität der ästhetischen Form nicht als retardierend, sondern im Gegenteil als progressiv. Sie ist dem, was sie aus anderen Gebieten des objektiven Geistes an sich zieht, in eben dieser Geste immer um mindestens eine künftig mögliche Bestimmtheit voraus und so mit ihrer Irrationalisierung in unversöhnlichem Bündnis. Folglich wird sogar im hier untersuchten »elenden Roman« die Form des Vernunft-Analogons und seiner Individuierungs30

Siehe hier dazu Wilhelm Dilthey: Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, II: Das Verstehen anderer Personen und ihrer Lebensäußerungen; Ges. Schriften, VII. Band, 6., unveränderte Aufl. Stuttgart und Göttingen 1973, S. 205 ff. 31 Ebd. S. 218. – Vgl. dazu Lugowski, Form der Individualität, S. 15 ff. 32 Lugowski verspricht, »dass jeder vergleichende Übergriff auf ein anderes Gebiet des objektiven Geistes, als es die Dichtung ist, aufs sorgfältigste vermieden werden wird.« Ebd., S. 19. 33 Lugowskis Buch »verspricht Erkenntnis aus der Differenz, es eröffnet das Verständnis des Späten aus der Untersuchung des Frühen« Schlaffer: Einleitung. In: ebd., S. XVII.

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1. Sektion · Wolfram Malte Fues

Perspektiven sichtbar, auch und grade dort, wo es Torso bleibt und dadurch auf seine noch fehlenden Glieder hinweist. Fazit: Die gleichklingende Anfangs-Frage führt bei beiden Untersuchungen zu Fragestellungen, die ihren theoretischen und methodischen Bedingungen nach völlig verschieden sind und deren Resultate ihrer Bedeutung und deren Konsequenz nach diese Verschiedenheit teilen.34

34

Ich danke abschließend Carsten Zelle für seinen diesbezüglichen Einwand, der die obenstehenden Überlegungen hervorgerufen hat.

Lily Tonger-Erk (Tübingen) Exempla. Zur Figur der Rednerin in der Frühaufklärung

Seit der Antike wird der ideale Redner explizit männlich entworfen: »Orator est, Marce fili, vir bonus dicendi peritus«.1 Catos wirkmächtige Definition zwingt geradezu zu einer geschlechtsdifferenzierten Wahrnehmung des Redners: Der vir bonus zeichnet sich nicht nur durch seine umfassende allgemeine und rhetorische Bildung, seine staatsbürgerliche Aktivität und seine ethisch-moralische Integrität aus, sondern auch durch seine Männlichkeit. Die Differenzkategorie ›Weiblichkeit‹ wird in den alten Rhetoriken nur bemüht, um einen ›guten‹, dezidiert männlichen Redeauftritt von einer unangemessen effeminierten, überbordenden oder weichlichen rhetorischen Performanz zu unterscheiden und letztere zu verwerfen. Frauen sind in der Antike ebenso wie Kinder und Sklaven als rhetorische Subjekte undenkbar.2 In den kanonischen Rhetoriken von Aristoteles, Quintilian oder Cicero findet dementsprechend – mit der einzigen kurzen Ausnahme Hortensias bei Quintilian3 – keine einzige Rednerin Erwähnung. Umso mehr mag es überraschen, dass in einem sogenannten Frauenzimmer-Lexikon von 1631 behauptet wird, Hortensia habe selbst den besten Redner der Antike, Demosthenes, übertroffen. Johann Frawenlob schreibt in Die Lobwürdige Gesellschafft der Gelehrten Weiber: Hortensia »hat es in der Wohlredenheit dem Demostheni zuvor gethan«.4 Wenn auch die späteren Frauenzimmer-Lexika dieses höchste Lob als eine »Schmeicheley« anzweifeln, ist doch signifikant, dass verschiedene Enzyklopädien des frühen 18. Jahrhunderts überhaupt diskutieren, dass eine Frau den berühmtesten Redner überflügelt haben könnte.5 Allein dass es für die Verfasser denkbar erscheint, 1

Cato Ad M. fil. F. 14. Zum Stand der gender-orientierten Rhetorikforschung vgl. Lily Tonger-Erk: Rhetorik und Gender Studies. In: Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung, hrsg. v. Ulla Fix, Andreas Gardt u. Joachim Knape. Berlin, New York 2008, S. 880–894. 3 Quint. Inst. or. I, 1, 6. 4 Johann Frawenlob: Die Lobwürdige Gesellschafft der Gelehrten Weiber […]. o. O. 1631, S. 18. 5 Johann Caspar Eberti: Eröffnetes Cabinet Deß Gelehrten Frauen-Zimmers […]. Frankfurt a. M., Leipzig1706, S. 192. Trotz Ebertis Distanzierung wird der Vergleich weiter tradiert: Sowohl Lehms als auch Amaranthes vergleichen Hortensia mit Demosthenes, wenn auch zurückhaltender: Hortensia solle »es fast dem berühmten Griechischen Oratori Demostheni zuvor gethan haben«. Gottlieb Siegmund Corvinus [Amaranthes], Nutzbares, galantes und curiöses Frauenzimmer-Lexicon […]. Hrsg. v. Manfred Lemmer. Frankfurt a. M. 1980 [ND der Ausg. Leipzig 1715], S. 864. 2

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1. Sektion · Lily Tonger-Erk

Hortensia mit Demosthenes zu vergleichen, ist als spektakuläre Kampfansage an die traditionelle (Rhetorik-)Geschichtsschreibung zu verstehen. Und Hortensia ist nicht die einzige Rednerin, die in den bis dato ausschließlich männlichen Kanon berühmter Redner eingeschrieben wird. Eine bemerkenswert große Zahl rhetorisch versierter Frauen wird von den Lexika ans Licht geholt.6 Die Beispiele von der Antike bis in die damalige Gegenwart zeigen, dass es immer wieder – vor allem in der Antike und der Renaissance – vereinzelt Rednerinnen gegeben hat, die allerdings, so meine These, erstmals im Rahmen der Querelle des Femmes – und zwar eben in den Frauenzimmer-Lexika – am Übergang vom Barock zur Aufklärung zur Sache des Diskurses werden. Zur ›Sache‹, zu einem Objekt des Wissens und der Verständigung, wird die Rednerin also nicht in den Institutionen der Rhetorik – in Redeschulen, Universitäten, Rednergesellschaften oder Rhetoriken –, sondern im Rahmen einer Debatte über den Wert und den Unwert der Frau, der Querelle des Femmes. Wird dagegen der Kontext gewechselt, wird die Rednerin ausnahmsweise in einem institutionellen Feld der Rhetorik thematisiert, werden Konflikte offenbar, die von der Unvereinbarkeit der traditionell männlichen Codierung rhetorischer Rede und dem Auftreten von Frauen als Rednerinnen herrühren. Dies werde ich anhand einer Scherzrede zeigen, die Jacob Wilhelm Blaufus über die Vorzüge des Frauenzimmers vor den Mannspersonen in der Beredsamkeit 1745 vor einer Jenaer Rednergesellschaft gehalten hat. Im Mittelpunkt meines Interesses stehen dabei die rhetorischen Operationen, mithilfe derer Blaufus die ›Realien‹, die historisch existenten Rednerinnen, überdeckt durch klassische Topoi weiblicher – und das heißt hier mangelhafter und unrhetorischer – Rede. Diese Zurückdrängung weiblicher Redekunst am Ende der oftmals als besonders gynophil beschriebenen Frühaufklärung bleibt nicht unwidersprochen, wie ein durch die Scherzrede angestoßener ›Federkrieg‹ belegt.

1. Bevor ich auf die Kontroverse um die Scherzrede eingehe, will ich zunächst zeigen, wie die Rednerin in den Frauenzimmer-Lexika zur Sprache kommt und in welchem argumentativen Zusammenhang sie eingeführt wird.

Bei Lehms heißt es fast wortgleich, Hortensia »soll es in der Wohlredenheit so gar dem berühmten Demostheni zuvor getan haben«. Georg Christian Lehms: Teutschlands Galante Poetinnen mit ihren sinnreichen und netten Proben […]. Frankfurt a. M. 1715, unpag. Vorrede. 6 Vgl. auch Christian Franz Paullini: Das Hoch- und Wohl-gelahrte Teutsche Frauen-Zimmer. Frankfurt a. M., Leipzig 1705 und 1712; Johann Gerhard Meuschen: Courieuse Schau-Bühne Durchläuchtigst-Gelahrter Dames […]. Frankfurt a. M., Leipzig 1706.

Zur Figur der Rednerin in der Frühaufklärung

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Frauenzimmer-Lexika sind Kataloge mit Kurzbiographien von gelehrten Frauen. Sie verfolgen das Ziel, Vitae von Schriftstellerinnen, Wissenschaftlerinnen und eben auch Rednerinnen aus entlegenen Schriften zusammenzutragen, sie einem größeren Publikum gesammelt vor Augen zu führen und damit zu beweisen, dass die Frau ebenso vernunftbegabt, gelehrsam und eloquent ist wie der Mann. Unterschiede in der intellektuellen Leistung der Geschlechter begründen die Frauenzimmer-Lexika mit dem mangelnden Zugang der Frau zu Bildung – im Gegensatz zu solchen Schriften, die eine Inferiorität des weiblichen Geschlechts gegenüber dem männlichen als naturgegeben erklären oder gar behaupten, »daß die Weiber keine Menschen«7 sind. Die Frauenzimmer-Lexika sind damit als Teil der sogenannten ›Querelle des Femmes‹ erkennbar, der großen europäischen Geschlechterdebatte, die im Spätmittelalter ihren Ausgang nimmt und deren Ende zumeist auf das späte 18. Jahrhundert datiert wird.8 In diesem Kontext werden die gelehrten Frauen – darunter sind auch die Rednerinnen – als exempla präsentiert, und zwar in einem doppelten Sinne: Zum einen sollen sie als nachahmenswerte Vorbilder dienen. Die Frauenzimmer-Lexika des frühen 18. Jahrhunderts unterscheiden sich daher auch von den Katalogen berühmter Frauen der Renaissance wie Giovanni Boccaccios De claris mulieribus (um 1362) oder Christine de Pisans Livre de la Cité des Dames (1405/1407): Die neueren Lexika zielen weniger auf die admiratio berühmter Frauen ab, als auf die imitatio der gelehrten Frauen.9 Zum anderen sollen die exempla belegen, dass Frauen überhaupt vernunftbegabt und bildungsfähig sind. Die Beweiskraft der exempla scheint so offensichtlich, dass sie nicht weiter erläutert werden muss. So heißt es in Frawenlobs Die Lobwürdige Gesellschafft der Gelehrten Weiber: »Auß diesen Exempeln ist leicht zu ermessen/ daß nicht weniger Weibspersonen Ingenia haben/ dann die Männer […].«10 Und Johann Caspar Eberti argumentiert in seinem Eröffneten Cabinet Deß Gelehrten Frauen-Zimmers (1706) ganz ähnlich: Es stehe fest, dass »alles was ein Mann löbliches verrichten kann/ von Weibes-Bildern eben könne vollbracht werden […] und die unzehlichen Exempel bestätigen es zur Gnüge.«11 Gesteigert wird die solchermaßen evidente Beweiskraft der exempla noch durch ihre schiere Masse: Nicht das einzelne Beispiel 7

Eberti: Eröffnetes Cabinet Deß Gelehrten Frauen-Zimmers (wie Anm. 5), unpag. Vorrede. Vgl. Gisela Bock, Margarete Zimmermann: »Die Querelle des Femmes in Europa. Eine begriffs- und forschungsgeschichtliche Einführung«. In: Die europäische Querelle des Femmes. Geschlechterdebatten seit dem 15. Jahrhundert, hrsg. v. dens. Stuttgart, Weimar 1997, S. 9–38. 9 Vgl. Brita Rang: »Jus fasque esse in rempublicam litterariam foemina adscribi«. Gelehrt(inn)enEnzyklopädien des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Paedagogica Historica 28/3 (1992), S. 511–549, S. 515. 10 Frawenlob: Die Lobwürdige Gesellschafft der Gelehrten Weiber (wie Anm. 4), S. 33. 11 Eberti: Eröffnetes Cabinet Deß Gelehrten Frauen-Zimmers (wie Anm. 5), unpag. Vorrede. 8

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1. Sektion · Lily Tonger-Erk

garantiert den Rückschluss, dass die Frau im Allgemeinen intellektuell befähigt ist, sondern die Exempelsammlung. Erst die Quantität der gelehrten Frauen verfestigt den grundsätzlich umstrittenen Bezug zwischen Einzelfall und Allgemeinem. Dabei produzieren die exempla nicht nur eine Ähnlichkeitsrelation zwischen dem Einzelfall (bspw. Aspasia) und dem Allgemeinen (der Frau), sondern auch zwischen der Frau und dem Mann – und zwar nicht zuletzt durch die Nutzung des seit der Antike der imitatio und admiratio des Mannes vorbehaltenen Formats exemplum.

2. In den Exempelsammlungen wird die Rhetorik als eine von vielen Wissenschaften und Künsten dargestellt, in denen Frauen eine am männlichen Maßstab gemessen vergleichbare Leistung erbracht haben. Die Frauenzimmer-Lexika geben keine Aussage über die Beschaffenheit der weiblichen Rede, sondern statuieren lediglich, dass es 1. Rednerinnen gegeben hat, sie 2. oftmals in Konkurrenz zu männlichen Rednern gestanden haben und diese 3. mehrfach besiegt haben. Die Darstellung der Rednerinnen und ihrer rhetorischen Erfolge legt nicht nahe, dass sie auf eine andere Art redeten als ihre männlichen Konkurrenten. Vielmehr wird, und das ist bemerkenswert, die Rede als neutrales Instrument dargestellt, das Frauen wie Männer ergreifen. Meine Frage ist nun, ob das solchermaßen erstmals gesammelte und zur Sprache gebrachte Wissen um die Existenz von Rednerinnen in irgendeiner Weise in ›die Rhetorik’ eingeht, und zwar bezieht sich diese Frage sowohl auf das proklamierte Redner-Ideal, als auch, damit verbunden, auf das Gendering der Rede selbst. In der Tat findet sich zumindest die Überlegung, dass man das Frauenzimmer in die Rhetorik-Lehre einbeziehen könnte, in solchen frühaufklärerischen Rhetoriken, die eine Popularisierung des rhetorischen Wissens anstreben. Sie vertreten ein Konzept der Rhetorik, das die private Wohlredenheit nicht nur als Teil der öffentlichen Beredsamkeit anerkennt, sondern diese sogar präferiert. Carl Christian Schramms Die Kunst im gemeinen Leben 1.) Wohl zu dencken, 2.) Vernünftig zu reden, 3.) Weißlich zu scherzen und wo es nöthig ist 4.) Klüglich zu schweigen von 1741 kritisiert die Begrenzung rhetorischer Theoriebildung und praktischer Anleitung auf die öffentliche Rede. Alle Buchläden sind voll von Anweisungen zum Reden. Nur handeln sie nicht von derjenigen Art zu sprechen, welche zu wissen wir im gemeinen Leben alle Augenblick bedürfen: sondern sie legen meistentheils bloß das aus, was die Gelehrten in gebundner, oder ungebundener Rede auf Cathedern, oder Cantzeln, eine oder mehr Stunden lang gebrauchen; Allein was nützet dieses beydes Soldaten, Leuten vom Hofe, Bürgern und denen, so auf dem Lande wohnen, wenn sie nicht zugleich sich der Ge-

Zur Figur der Rednerin in der Frühaufklärung

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lehrten Beredsamkeit gewidmet haben? Und was soll vollends das arme Frauenzimmer machen, das durchgehends, wenige ausgenommen, zum nehen, spinnen und kochen verdammet ist, gleichwohl aber im alltäglichen Leben so nöthig hat, ohne Plauderey geschickt zu reden, als der größte Gelehrte?12

Wird Rhetorik nicht nur als gelehrte, öffentliche Rede, sondern in einer aufklärerischen Wendung auf ihre bürgerliche Nützlichkeit auch als Kunst des Umgangs begriffen, erscheint die Einbeziehung der Frau denkbar. Praktisch umgesetzt wird dies allerdings noch nicht von Schramm, der im weiteren Verlauf seines Lehrbuchs das ›arme Frauenzimmer‹ mit keinem weiteren Wort erwähnt, sondern erst in den Anstandslehren ab ca. 1800. Wird die Rhetorik jedoch nicht als Wohlredenheit, sondern als – an den fünf officia orientierte, öffentliche – Beredsamkeit definiert, bleibt sie, so Johann Christoph Gottscheds Ausführliche Redekunst von 1729 explizit eine »ernstliche, männliche und philosophische Kunst«13 und der Redner »ein[] gelehrte[r] und rechtschaffene[r] Mann, der die wahre Beredsamkeit besitzt«.14 Gottscheds Neubegründung der Rhetorik als vernünftige Rede geht mit einer ausdrücklichen Rückbesinnung auf ihre Männlichkeit einher. ›Rednerinnen‹, also exempla von Frauen, die sich einer gelehrten Beredsamkeit bedienen, sind weder bei Schramm noch bei Gottsched denkbar. Ich möchte nun ausführlicher auf einen der Institution ›Rhetorik‹ verbundenen Text eingehen, der insofern für meine Fragestellung von besonderem Interesse ist, als er zu erkennen gibt, dass ihm die von den Frauenzimmer-Lexika propagierten Rednerinnen durchaus bekannt sind: Jacob Wilhelm Blaufus hält 1745 eine ironische Lobrede auf die Vorzüge des Frauenzimmers vor den Mannspersonen in der Beredsamkeit vor der Teutschen Gesellschaft in Jena15 – einer ausschließlich männlichen Rednergesellschaft, die 1728 von Johann Andreas Fabricius gegründet wurde. Der in den FrauenzimmerLexika tradierte Darstellungsmodus von Rednerinnen als exempla scheint für Blaufus so gegenwärtig und zwingend, dass er direkt nach seiner captatio benevolentiae auf eben die bekannten exempla zu sprechen kommt: Aspasia, Sappho und Hipparchia 12

Carl Christian Schramm: Die Kunst im gemeinen Leben 1.) Wohl zu dencken, 2.) Vernünftig zu reden, 3.) Weißlich zu scherzen und wo es nöthig ist 4.) Klüglich zu schweigen. Leipzig, Budißin 1741, unpag. Vorrede. 13 Johann Christoph Gottsched: Ausführliche Redekunst […]. Leipzig 51759, ND in: Ders.: Ausgewählte Werke. Hrsg. v. Phillip M. Mitchell. Bd. 7.1: Ausführliche Redekunst, Erster, allgemeiner Theil. Berlin, New York 1975, S. 90. 14 Ebd., S. 102. 15 Jacob Wilhelm Blaufus: Zwo Scherzreden, unter welchen die Erste Die Vorzüge des Frauenzimmers vor den Mannspersonen in der Beredsamkeit, die Andere aber Die Vorzüge der Mannspersonen vor dem Frauenzimmer in der Galanterie den witzigen Menschfreunden anpreiset, in der teutschen Gesellschaft in Jena gehalten. Jena 1745.

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1. Sektion · Lily Tonger-Erk

werden ebenso genannt wie die im frühen 18. Jahrhundert berühmten ›Ausnahme‹Wissenschaftlerinnen und Rednerinnen Anna Maria von Schurmann, Anne Dacier, Sibylla Schwarz und die Gottschedin, Luise Adelgunde Victoria Kulmus. Allerdings werden diese exempla hier mit gänzlich anderen Absichten und auf eine andere Weise angeführt als in den Frauenzimmer-Lexika. Genannt werden die Namen der Rednerinnen nur, um sie gleich darauf mit dem Hinweis auf ihre allgemeine Bekanntheit wieder zu übergehen: »Hier habe ich es nicht nöthig, […] Ihnen eine Aspasia, Sappho und Hipparchia unter die Augen zu stellen«,16 bemerkt Blaufus. Die rhetorische Figur der aposiopese/reticentia – zu sagen, was man nicht sagen will – bedient einerseits eine Erwartungshaltung, scheint doch die Rede über weibliche Beredsamkeit exempla unumgänglich zu machen. Andererseits wird den exempla eben nicht der erwartbare Raum beigemessen. Blaufus nutzt diese Figur in extenso: Was für erwünschte Gelegenheit würde ich hier nicht haben, meine Rede in eine Abhandlung von den geschickten Rednerinnen zu verwandeln; wie verdient könnte ich mich hier nicht sowohl um das schöne Geschlecht, als um die Geschichte der Beredsamkeit machen? Aber die Wichtigkeit meines Hauptsatzes verbietet mir alle Ausschweifungen, und so gerne ich hier die Realien aus meinen Kollektaneenbüchern anbringen möchte, so genöthigt sehe ich mich doch, dieses Mittel meine Rede zu schmücken, zu verabsäumen.17

Blaufus präsentiert die exempla hier nicht als unübergehbare »Realien«, als handfeste, überzeugende Argumente für die Befähigung als Rednerin, sondern degradiert sie zu »Ausschweifungen« und Rede-»Schmuck«. So werden die exempla selbst weiblich gegendert.18 Sie werden auf eine illustrative Funktion reduziert, während ihre induktive sowie normative Funktion implizit verneint wird. Das Abbildungsverhältnis vom Allgemeinen im Besonderen, von dem die Belegbeispiele in den FrauenzimmerLexika ausgehen, wird zuletzt auch explizit angezweifelt, indem Blaufus von Anna Maria Schurmann behauptet, dass »dieser allein […] die Gottheit alles das verliehen [hat], was sie vielen tausenden ihres Geschlechtes einzeln versagt hat.«19 Schurmann wird damit nicht als Beleg für die Allgemeingültigkeit einer Regel – dass Frauen über Intelligenz und Eloquenz verfügen – angeführt, sondern als Ausnahme von der entgegengesetzten Regel – dass Frauen nicht über Intelligenz und Eloquenz verfügen – dargestellt.

16 17 18

Ebd., S. 6. Ebd., S. 8. Zur abwertenden, weiblichen Konnotation der Rhetorik als Schmuck vgl. Plat. Gorg. 464b–

465e. 19

Blaufus: Zwo Scherzreden (wie Anm. 15), S. 7.

Zur Figur der Rednerin in der Frühaufklärung

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Den Platz der exempla realer, historisch verbürgter Rednerinnen nehmen stattdessen topische Darstellungen weiblicher Rede ein: Blaufus beginnt, indem er behauptet, der erste Redner der Welt sei Eva gewesen – eine ironische Analogie, in der die Urszene verführerischer Weiblichkeit mit persuasiver Rhetorik gleichgesetzt wird. Diesem Topos der Herkunft (genus) folgen im Wortsinne ›Gemeinplätze‹: Blaufus führt sein Publikum auf eben die loci communes, an denen die weibliche Rede stattfindet. Evas rhetorisch begabte Töchter seien nicht etwa an den klassischen Orten gebildeter Beredsamkeit zu finden (also im Gericht, auf der Kanzel oder dem Katheder), sondern in der Kirche, auf dem Markt und in den Straßen. Dort überflügelten sie jeden männlichen Redner – allerdings nicht mit ihrer rhetorischen Rede, sondern schwatzend oder lästernd, gegenstandslos aber leidenschaftlich, mit vollem Einsatz von Mimik, Gestik und Stimmführung. Damit greift Blaufus einen Topos auf, den schon Agrippa von Nettesheims Von Adel und Vorrang des weiblichen Geschlechts (1509, gedr. 1529) pointiert wiedergibt: »Jeden noch so fähigen, erfolgreichen Redner schwadroniert ein billiges Dirnchen in Grund und Boden.«20 Allerdings konkurrieren hier männliche und weibliche Redner gerade nicht auf einer Ebene – wie in den Frauenzimmer-Lexika. Vielmehr entwirft Blaufus eine spezifisch weibliche Redeweise, die naturhaft, ungebildet, körperlich, sexuell verführerisch und inhaltsleer ist. Dagegen grenzt er die männliche Rede in der akademischen Institution einer Rednergesellschaft implizit als gebildet, kunstvoll, vernünftig und inhaltlich relevant ab. Diese Markierung der weiblichen Rede als andere Rede erfordert das Ausblenden der exempla, die ja genau das Gegenteil beweisen. Eben hier setzt Gottlieb Friedrich Amandus Trautmann an, der eine Abgenöthigte Vertheidigung des artigen Geschlechtes wider die erste Scherzrede von Blaufus in den Druck gibt.21 Es ist kein Zufall, dass Trautmann sich in seiner Kritik kategorisch außerhalb der ›rhetorischen Gemeinschaft‹ positioniert: Er nennt sich explizit keinen Redner, sondern einen ›ehrlichen Teutschen‹. Trautmann beschuldigt Blaufus, eine

20

»Orator nuspiam tam bonus aut tam felix, ut suadela vel meretricula superior sit.« H. Cornelius Agrippa von Nettesheim: De nobilitate et praecellentia foeminei sexus. Von Adel und Vorrang des weiblichen Geschlechts. Übers. u. eingel. v. Otto Schönberger. Würzburg 1997, S. 66 f. 21 Gottlieb Friedrich Amandus Trautmann: Abgenöthigte Vertheidigung des artigen Geschlechtes wider die erste Scherzrede welche von dem Herrn M. Jacob Wilhelm B** unter der Auffschrift die Vorzüge des Frauenzimmers vor den Manns-Personen in der Beredsamkeit den witzigen Menschen-Freunden angepriesen in der hochlöblichen teutschen Gesellschaft in Jena gehalten […], verfertiget und vor die vernünftigen Verehrer des schönen Geschlechtes herausgegeben von einem ehrlichen Teutschen. Jena 1746. Blaufus: Abgenöthigte Antwort auf Gottlieb Friedrich Amandus Trautmanns […] abgenöthigte Vertheidigung des artigen Geschlechtes, o. O. o. J. [ca. 1746]. Trautmann: Kurze Beantwortung der alzuhöflichen Antwort des Herrn M. Jacob Wilhelm Blaufuß Welche er auf die abgenöthigte Vertheidigung des artigen Geschlechts herausgegeben hat […]. Frankfurt a. M., Leipzig 1747.

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1. Sektion · Lily Tonger-Erk

unzulässige Generalisierung vorzunehmen: Edle Rednerinnen seien keine schwatzhaften Mägde. Wie unrecht thut demnach der Herr Gegner, daß er diese schönen Kinder all in eine Brühe wirft. Hätte er Mägde und andere schlechte Weibes-Personen zu dem Gegenstande seiner Rede genommen, so wäre er nicht zu tadeln, da er sich aber weiter versteiget, und sogar zu dem gelehrten Frauenzimmer, zu den Griechinnen, zu einer Schurmannin, Dacier, Schwarzin und Gottschedin sich nahet, und diese Muster des weiblichen Geschlechtes zu schwatzhaften Papageyen machen will, dieses ist höchststrafbar […].22

Trautmann wirft Blaufus vor, von der Frau schlechthin zu sprechen und diese als schwatzhaft darzustellen, während die exempla eine solche Verallgemeinerung schlichtweg nicht erlaubten. Damit bringt Trautmann explizit die sogenannten »Realien« in Anschlag, um gegen das fiktionale Konstrukt ›Frau‹, das Blaufus entwirft, Widerspruch einzulegen.23

3. Die Rednerin erscheint, wie ich gezeigt habe, nur für eine kurze Zeit und nur in der Textgattung der Frauenzimmer-Lexika als ein mustergültiges exemplum und als ein Beleg für die rhetorische Befähigung der Frau. Mit dem Ende der Gattung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verschwinden die im Modus des exemplum zum Wissen gebrachten gelehrten Frauen und Rednerinnen ebenfalls. Dass dieses Verschwinden konkreter als eine Form der Verdrängung beschrieben werden kann, legt die Scherzrede von Blaufus nahe. Die Kontroverse zwischen Trautmann und Blaufus ist deshalb so signifikant, als sie das Verfahren der Verdrängung sichtbar macht: Der exemplarische Einzelfall einer Rednerin muss marginalisiert werden, um weibliche Rede als sinnentleertes Geplapper darstellen zu können. An die rhetorische Systemstelle, die es erlaubt, Frauen als Einzelfall, als Individuum zu konzeptualisieren und sie gleichzeitig als ›Muster‹ zu propagieren, tritt eine Leerstelle. Mit hohem argumentativen Aufwand wird diese Leerstelle mit dem diskursiven Konstrukt ›Topos Frau‹ überdeckt. Doch gelingt diese Operation nicht vollständig, die ›Realien‹ werden zum Störfall, wie Trautmanns Einwände gezeigt haben.

22 23

Trautmann: Abgenöthigte Vertheidigung des artigen Geschlechtes (wie Anm. 21), S. 34. Vgl. ebd., S. 37.

2. sektion: Streitsachen – Akteure, Medien, Öffentlichkeiten

Marian Füssel (Göttingen) Streitsachen – Akteure, Medien, Öffentlichkeiten: Einleitung

»Streitkulturen« sind bereits seit längerer Zeit zu einem beliebten Thema interdisziplinärer kulturwissenschaftlicher Forschung zu vormodernen Gesellschaften avanciert.1 Im Vordergrund standen zuletzt meist die Praktiken des Streitens und ihre Akteure, die Strategien der Konfliktlösung und die Stile des Streitens. Etwas in den Hintergrund getreten sind hingegen die Inhalte, um die gestritten wurde, die »Streitsachen«. Eine Tendenz, die sicher auch als Reaktion gegenüber einer vormals allein auf Inhalte fokussierten traditionellen Ideen- oder Rechtsgeschichte zu verstehen ist. Die schenkte gerade den ›Umständen‹ des Streitens, den sozialen Habitusformen, rhetorischen und körperlichen Strategien der Streitenden und ihren symbolischen wie materiellen Profiten wenig Aufmerksamkeit, ja mochte sie lediglich als kolorierendes Beiwerk des ›Eigentlichen‹, nämlich der bestrittenen Sache, werten.2 Ein neuer Blick auf die Streitsachen der Aufklärung kann daher aus zwei Richtungen hilfreich sein. Zum einen, indem er ein entsprechendes Auseinanderdriften von Form- und Inhaltsanalysen aufhebt zugunsten einer integrierenden Perspektive, zum anderen, indem die neue Aufmerksamkeit für das Dingliche dem Thema des Streits weitere heuristische Perspektiven eröffnen kann. Zu diesem Zweck wird notwendig ein recht weiter Begriff von Streitsache zugrunde gelegt, der sowohl die Inhalte wie die Materialität des Streitens berücksichtigt. Bereits seit längerem bildet die Frage nach der »Materialität der Kommunikation« einen wichtigen Zugang auch zur Geschichte agonaler Interaktion.3 So wurden 1

Zum Thema »Streitkulturen« in historischer Perspektive vgl. Franz Josef Worstbrock, Helmut Koopmann (Hrsg.): Formen und Formengeschichte des Streits. Der Literaturstreit. Tübingen 1986 (Kontroversen, alte und neue, hg. v. Albrecht Schöne, Bd. 2); Wolfram Mauser (Hrsg.): Streitkultur. Strategien des Überzeugens im Werk Lessings. Internationale Lessing Tagung 1991. Tübingen 1993; Magnus Eriksson, Barbara Krug-Richter (Hrsg.): Streitkulturen. Gewalt, Konflikt und Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft (16. – 19. Jahrhundert). Köln u. a. 2003; Gunther Gebhard (Hrsg.): StreitKulturen. Polemische und antagonistische Konstellationen in Geschichte und Gegenwart. Bielefeld 2008; Uwe Baumann (Hrsg.): Streitkultur. Okzidentale Traditionen des Streitens in Literatur, Geschichte und Kunst. Göttingen u. a. 2008; Marc Laureys (Hrsg.): Die Kunst des Streitens. Inszenierung, Formen und Funktionen öffentlichen Streits in historischer Perspektive. Göttingen u. a. 2010; Henning Jürgens, Thomas Weller (Hrsg.): Streitkultur und Öffentlichkeit im konfessionellen Zeitalter. Göttingen 2012 (im Druck). 2 Vgl. Kurt Flasch: Kampfplätze der Philosophie. Große Kontroversen von Augustin bis Voltaire. Frankfurt a. M. 2008. 3 Hans Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt a. M. 1988.

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2. Sektion · Marian Füssel

inzwischen nicht nur das Wechselspiel verschiedener Medien des Streitens erforscht, sondern auch die unterschiedlichen Bedeutungskonstitutionen, die das jeweilige Medium ermöglicht und mitkonstituiert.4 Mit anderen Worten, die Frage der Wahl des Mediums ist nicht allein auf verschiedene Transportkanäle zu reduzieren, sondern beeinflusst auch die umstrittene Sache, wird mitunter selbst zu einer Aussage. Begriffsgeschichtlich verweist die »Streit-Sache« zunächst auf das Feld der »Rechts-Sachen«, die »causae judiciales« und damit auf den frühneuzeitlichen Verrechtlichungsprozess von Streitkulturen.5 An dieser Stelle soll es jedoch nicht um die Begriffsgeschichte, sondern um einige systematische Fragestellungen und Forschungskontexte gehen, zu welchen die hier behandelten Streitsachen beitragen.6 Zunächst einmal gilt es anzuerkennen, dass auch und gerade im Jahrhundert der Aufklärung, das sich als Zeitalter der Kommunikation und des Freundschaftskultes entwarf, der Streit konstitutiver Bestandteil der Kultur war und nicht etwa eine Art »Unfall«, »Störung« oder »Ausnahmezustand« darstellte.7 Gerade um die Sache der Aufklärung selbst wurde ja immer wieder gestritten und indem man dies tat, veränderte sich auch der verhandelte Gegenstand. Der Streit kann also ebenso produktiv wie destruktiv sein. Zu den klassischen materiellen »Dingen«, an denen sich Aufklärung etwa im Sinne eines gewandelten Verhältnisses zu göttlicher Strafe manifestierte, zählte beispielsweise der Blitzableiter. An seiner Einführung kristallisierte sich ein Widerstreit theologischer

4

Vgl. Martin Dinges: Ehrenhändel als ›Kommunikative Gattungen‹, kultureller Wandel und Volkskulturbegriff. In: Archiv für Kulturgeschichte 75 (1993), S. 359–393. 5 Der Zedler beispielsweise kennt achtzehn unterschiedliche Bindestrich-»Rechts-Sachen« und nennt die Streit-Sachen als synonym des Oberbegriffs, vgl. den Art. »Rechts-Sachen, Rechts-Händel, Gerichts-Händel, Proceß-Sachen, Streit-Sachen«. In: Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon […]. Leipzig, Halle 1741, Sp. 1526; Ruth Schmidt-Wiegand: Art. »Sache«. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. 4. Berlin 1990, Sp. 1216–1218. Zum Phänomen der Verrechtlichung vgl. exemplarisch Barbara Stollberg-Rilinger: Rang vor Gericht. Zur Verrechtlichung sozialer Rangkonflikte in der frühen Neuzeit. In: Zeitschrift für Historische Forschung 28 (2001), S. 385–418; sowie allg. Michael Bock: Recht ohne Mass. Die Bedeutung der Verrechtlichung für Person und Gemeinschaft. Berlin 1988. 6 Damit knüpfe ich an folgende frühere Überlegungen an: Marian Füssel, Stefanie Rüther: Einleitung. In: Christoph Dartmann, Marian Füssel u. Stefanie Rüther (Hrsg.): Raum und Konflikt. Zur symbolischen Konstituierung gesellschaftlicher Ordnung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Münster 2004 (Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496, Bd. 5), S. 9–18, hier S. 14–17; Marian Füssel: Gelehrte Streitkulturen. Zur sozialen Praxis des Gelehrtenstreits im 17. und 18. Jahrhundert. In: Markus Meumann (Hrsg.): Ordnungen des ›Wissens‹ – Ordnungen des Streitens. Gelehrte Debatten des 17., 18. Jahrhunderts in diskursanalytischer Perspektive. Berlin 2012 (im Druck). 7 Ursula Goldenbaum: Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687–1796. 2 Bde. Berlin 2004; Carlos Spoerhase, Kai Bremer (Hrsg.): Gelehrte Polemik. Intellektuelle Konfliktverschärfungen um 1700. Frankfurt a. M. 2011 (Zeitsprünge 15/2–3); Meumann: Ordnungen des Wissens.

Einleitung

159

und naturwissenschaftlicher Weltdeutungen.8 Im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie könnte man hier nach der Aktantenqualität eines Blitzableiters fragen.9 Ein weiterer Punkt, der den Streit gerade für kulturgeschichtliche Fragestellungen zu einem besonders attraktiven Forschungsgegenstand macht, ist sein heuristisches Potential als »tracer« für unausgesprochene, unsichtbare oder gar unbewusste Werthaltungen, Mentalitäten und Bewusstseinsformen. Im Streit sind die Akteure dazu angehalten, Farbe zu bekennen, explizit zu machen, warum sie streiten und warum die bestrittene Sache für sie Bedeutung hat. Die Art des Streitens, der Streitstil eröffnet zudem einen analytischen Zugang zu bestimmten Habitus bzw. Denkrahmen, in denen alle Streitenden agieren. Redewendungen, wie eine ›Debatte versachlichen‹ oder eine Diskussion ›unsachlich‹ führen tragen heute eindeutig normative Implikationen.10 Ein zunächst trivialer Befund, der aber Anlass geben kann, die geforderte »Sachlichkeit« nicht als überzeitlich gegebenes Phänomen zu betrachten, sondern vielmehr zu historisieren. In einer vormodernen Gesellschaft konnte die Anweisung, ›nicht persönlich‹ zu werden, eine ganz andere Brisanz haben als in posttraditionalen Gesellschaften. Wenn es um die Ehre ging, ging es um das soziale Ganze einer Person, nicht um eine temporäre, individuelle Kränkung.11 Der Streit hat eine strukturbildende Wirkung. Man kann nicht neutral bleiben, muss »Position« beziehen.12 Gerade die Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit bietet zahlreiche Beispiele dafür, wie sich zunächst begrenzte Auseinandersetzungen zu regelrechten Flächenbränden auswachsen konnten.13 Ein Aspekt, der damit unmittelbar zusammenhängt, ist die Öffentlichkeit des Streitens. Spätestens seit der Reformation stand eine breite mediale Öffentlichkeit als Bühne für Streitigkeiten aller Art zur Verfügung. Eine Sphäre, das zeigen die folgenden Beiträge deutlich, die sich im 18. Jahrhundert noch einmal nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ enorm ausweitete.14 Ein für moderne Beobachter immer wieder irritierendes Moment

8

Vgl. Heinz D. Kittsteiner: Die Entstehung des modernen Gewissens. Frankfurt a. M. 1995, S. 79–86. 9 Vgl. Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Frankfurt a. M. 2007. 10 Vgl. Caspar Hirschi: Piraten der Gelehrtenrepublik. Die Norm des sachlichen Streits und ihre polemische Funktion. In: Spoerhase, Bremer: Polemik (wie Anm. 7), S. 101–138. 11 Klaus Schreiner, Gerd Schwerhoff (Hrsg.): ›Verletzte Ehre‹. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Köln, Weimar 1996 (Norm und Struktur 5); Sybille Backmann u. a. (Hrsg.): Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit. Berlin 1997 (Colloquia Augustana 8). 12 Vgl. Niklas Luhmann: Konflikt und Recht. In: Ders.: Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie. Frankfurt a. M. 1999, S. 92–112, hier S. 100. 13 Vgl. exemplarisch die methodisch gründliche Untersuchung von Markus Friedrich: Die Grenzen der Vernunft. Theologie, Philosophie und gelehrte Konflikte am Beispiel des Helmstedter Hofmannstreits und seiner Wirkungen auf das Luthertum um 1600. Göttingen 2004. 14 Vgl. aus der umfangreichen Literatur nur James Van Horn Melton: The rise of the public

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2. Sektion · Marian Füssel

frühneuzeitlicher Konfliktführung ist deren lange Dauer und Unentschiedenheit. Hier gilt die bereits von Georg Simmel entwickelte streitsoziologische Erkenntnis, dass es in Situationen der Konkurrenz oft weniger auf eine eindeutige Entscheidung ankommt, als auf ein permanentes ›in der Schwebe halten‹ des Konflikts, um damit fortdauernd die eigenen Geltungsansprüche artikulieren zu können.15 In den folgenden Beiträgen fragen wir nach den Akteuren, Medien und Öffentlichkeiten des Streitens, um damit schließlich den Aktanten-Status der Streit-Sache selbst zu problematisieren: Wie beeinflusst der Gegenstand die Art und Weise, wie gestritten werden kann? Was begrenzt er? Was ermöglicht er? Welche Medien zum Streitaustrag werden genutzt? Möglicherweise symptomatisch für den Umgang der Aufklärungsforschung mit dem Thema Streit ist die Tatsache, dass es in den folgenden Beiträgen vorwiegend um gelehrte Streit-Sachen bzw. Streit-Sachen unter Gelehrten geht, was ja gerade allein angesichts der Breite der vor Gericht verhandelten Probleme keineswegs eine Selbstverständlichkeit und noch viel weniger zwingend ist. Wiebke Hemmerling behandelt die Diskussion um Sinn und Unsinn von Rezensionen in der deutschen Frühaufklärung und zeigt dabei die Ambivalenzen der Anonymität der Rezensenten auf. Was von den Zeitgenossen eigentlich als Mechanismus der Streitvermeidung gedacht war, konnte ebenso dazu genutzt werden, ungestraft intellektuelle Gegner zu attackieren und damit ihre gelehrte Ehre zu gefährden. Die Kontroverse über das Rezensionswesen wurde damit zu einem Streit über das Streiten, genauer gesagt über die legitimen öffentlichen Artikulationsformen von sachlicher Kritik, die jederzeit zur Kritik ad personam werden konnte. Die Institutionalisierung des neuen Mediums der Rezensionszeitschrift hatte somit mit den kommunikativen Gewohnheiten von Anwesenheitskommunikation zu kämpfen.16 Eine ›Versachlichung‹ der Kritik konnte durch den Medienwechsel allein offenbar nicht erreicht werden. In der Debatte um den sogenannten »Kryptojesuitismus« in der deutschen Spätaufklärung weist Carmen Götz ebenfalls, ähnlich wie in der Debatte über das Rezensieren, auf eine Art Meta-Streit hin. Denn den Beteiligten ging es vielfach nicht mehr allein um die Frage, ob ein versteckter Jesuit am Werk sei, sondern darum, wie innerhalb der aufgeklärten Medienöffentlichkeit mit welchen Mitteln und welchen Verfahren gestritten werden sollte und durfte. Der alte konfessionelle Gegensatz bildete eine thematische Bühne, um über die kommunikative Etikette der Gelehrtenrein Enlightenment Europe. Cambridge u. a. 2001; Hans-Wolf Jäger (Hrsg.): »Öffentlichkeit« im 18. Jahrhundert. Göttingen 1997; Lucian Hölscher: Öffentlichkeit und Geheimnis. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zur Entstehung der Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit. Stuttgart 1979; Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied 1962. 15 Georg Simmel: Der Streit. In: Ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Frankfurt a. M. 1999, S. 284–382. 16 Vgl. André Kieserling: Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme. Frankfurt a. M. 1999.

Einleitung

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publik zu streiten.17 Insofern wurde gleich in mehrfacher Hinsicht um die Sache der Aufklärung gestritten: Einerseits durch die Identifikation von ›wahrer‹ Aufklärung und Protestantismus, andererseits durch die Reflexion der Grundlagen aufgeklärter Kommunikation. Bernward Schmidt widmet sich ebenfalls den streitkulturellen Persistenzen des Konfessionalismus im 18. Jahrhundert, allerdings gewissermaßen von der ›anderen‹ Seite in Gestalt der Reaktionen der römischen Kurie auf papstkritische Publizistik. Am Beispiel des Zeremoniells zeigt Schmidt, wie sich ältere konfessionelle mit jüngeren aufgeklärten Argumentationsmustern vermischten. Rom als Streitgegenstand wie als Streitpartei bietet dabei manche Besonderheiten der Konfliktführung, wie besonders am Zensurwesen als Mechanismus der Verknappung von Diskursen, nicht deren streittypischer Ausweitung, deutlich wird. Eine sprachliche Provinzialisierung Roms war schließlich die Folge des Übergangs vom Lateinischen zum Italienischen. Wie eine große wissenschaftliche Debatte in nahezu allen zeitgenössischen Printmedien von den Zeitschriften und Journalen bis hin zu dickleibigen Abhandlungen geführt werden konnte, zeigt Heiko Pollmeier anhand des Streits um die Blatterninokulation in Frankreich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Der Konflikt kann als Paradebeispiel für die immense Ausweitung der Anzahl der beteiligten Akteure und Foren in einer Streit-Sache gelten. Rund zweihundert verschiedene Autoren beteiligten sich an einer zwanzig Jahre währenden Debatte, die jedoch ohne einen signifikanten Sieg einer der Streitparteien endete. Für die Frage nach dem Streiten ad personam bezeichnend ist dabei, das gerade bekannte Namen der französischen Aufklärungsgesellschaft zur Zielscheibe von Kritik wurden, durch die die Kritiker sich selbst einen Namen zu machen suchten. Auch der Rechtsweg wurde zum Entscheid über Für und Wider der Impfung beschritten und band erhebliche Kräfte. Die Pocken waren eine Sache, die buchstäblich alle betraf und die Gemüter erhitzte, weshalb sich offenbar auch kein eindeutiges soziologisches Profil von Befürwortern und Gegnern bestimmen lässt. In kritischer Anlehnung an Arbeiten Steven Shapins zu den frühneuzeitlichen Amateur Gentlemen Englands geht Caspar Hirschi exemplarisch einem Konflikt innerhalb der Londoner Royal Society von 1783/84 nach. Hier trafen in Gestalt der sich als men of science wähnenden Vertreter mathematisch-naturwissenschaftlicher Fächer und der als Macaronies diffamierten Amateur Gentlemen mit stärker natur17

Vgl. Anne Goldgar: Impolite learning. Conduct and community in the Republic of Letters 1680 – 1750. New Haven u. a. 1995; Martin Mulsow: Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissen, Libertinage und Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Stuttgart u. a. 2007; Marian Füssel: ›On the means of becoming famous in the learned world‹. Practices of scholarly status constitution and the emergence of moral economy of knowledge in the 18th century. In: André Holenstein u. a. (Hrsg.): Scholars in Action. The practice of knowledge and the figure of the savant in the 18th century. Leiden, Boston 2012 (im Druck).

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geschichtlichen Interessen nicht nur Vertreter zwei unterschiedlicher Wissensfelder aufeinander, sondern vor allem Exponenten zweier inkommensurabler wissenschaftlicher Habitus und Denkformen. Aus Perspektive der für wissenschaftliche Disziplinierung und Spezialisierung stehenden »richtigen« Wissenschaftler wurde dem privilegierten Gentleman Oberflächlichkeit, Dilettantismus und Dekadenz vorgeworfen. Wichtiger als die Tatsache, dass der Streit schließlich doch zugunsten der Gentlemen endete, ist die Einbettung des Konflikts in den Differenzierungsprozess unterschiedlicher Disziplinen. Langfristig gesehen, so Hirschis Argument, war die Passfähigkeit der Forschungen in die jeweiligen Formen der Wissensproduktion entscheidend. Die Aushandlung und Geltung epistemischer Autorität erweist sich also ebenso abhängig von den Denkstilen und Habitus wie von der verhandelten »Sache«. An der Frage der »Allgemeinverständlichkeit« zeigt Annette Meyer den Wandel in der Bewertung philosophischer Denk- und Schreibstile auf. Waren es Mitte des 18. Jahrhunderts Philosophen wie Johann Georg Sulzer, Johann Nikolaus Tetens oder Christian Garve, die über Übersetzungen und Kommentare englischer Autoren wie Locke und Hume eine später als Popularphilosophie diskreditierte Denkrichtung beförderten, wendete sich mit der Philosophie Kants das Blatt. Von nun an wurden dem verständlichen, populären Stil mangelnder Tiefgang und Oberflächlichkeit unterstellt. Eine Herabwürdigung, die noch mit einer nationalen Grundierung versehen wurde und die Oberflächlichkeit mit ›undeutschem‹, ausländischem Stil identifizierte. Auch dieses Beispiel zeigt, wie wenig die inhaltliche Qualität der Sache zur Debatte stand, sondern vielmehr über Stile und die Zugehörigkeit zu rivalisierenden Denkkollektiven gestritten wurde. Gerade die Streit-Sache »Allgemeinverständlichkeit« zeigt zudem, inwieweit Sachlichkeit, im Sinne von Klarheit und Transparenz, zum Gegenstand einer Debatte werden konnte, die selbst mit eher unsachlichen Argumenten wie nationalen Stereotypen geführt wurde. Insgesamt zeigen die Beiträge bei aller inhaltlichen Heterogenität gemeinsame Tendenzen einer Streitkultur des 18. Jahrhunderts auf. So wird deutlich, dass die um- und bestrittenen Sachen oftmals nur ein Vehikel darstellten, um andere Probleme zu ventilieren, die als solche im Zweifelsfall schwerer zu thematisieren waren. Gerade die sich ausdifferenzierende Medienöffentlichkeit bot den Zeitgenossen nicht nur neue Möglichkeiten, sondern beinhaltete auch neue Risiken, etwa im Bereich der Statuswahrung. Insofern erweisen sich die behandelten Debatten tatsächlich als »tracer« für Fragen der Metakommunikation. Auch machen die Beiträge deutlich, welch unterschiedliche Rollen die Aktanten des Streitens spielen konnten. Das Spektrum reichte von einer völligen Entgrenzung im Falle der Blatterninokulation bis hin zum Streit um Habitus und Wissenschaftsstil der streitenden Gelehrten selbst wie im Falle der Royal Society. Die Debatten um Rezensionen, Kryptojesuiten oder Allgemeinverständlichkeit zeigen schließlich, dass hier tatsächlich um die Sache(n) der Aufklärung selbst gestritten wurde.

Wiebke Hemmerling (Göttingen) Totschlag mit der Feder? Zur Kontroverse um das anonyme Rezensionswesen in der deutschen Frühaufklärung

Mit der Einführung der ersten Rezensionszeitschriften auf dem deutschen Buchmarkt gegen Ende des 17. Jahrhunderts ging eine beharrlich und teilweise recht ungestüm geführte Debatte über die Rechtmäßigkeit öffentlicher Buchkritik einher.1 Die als ein informativer Wegweiser durch das Labyrinth der Neuerscheinungen erdachten Periodika entpuppten sich durch ihre zum überwiegenden Teil anonyme Veröffentlichungsweise als ein delikates Podium der Gelehrtenwelt. Ein gewisser Hang zum öffentlichen Räsonieren, wie er sich etwa bei den Zeitschriftenunternehmen Christian Thomasius’,2 Wilhelm Ernst Tentzels,3 Nicolaus Hieronymus Gundlings4 oder auch Christian Gottfried Hoffmans5 beobachten lässt, gab Anlass zu Auseinandersetzungen um das neue Medium, die in Journalbeiträgen, Streitschriften, Vorreden, Dissertationen, Abhandlungen, Zeitschriftenbibliografien und vereinzelt sogar in Metaperiodika über Jahre hinweg geführt wurden. In einer Zeit, in der sich Klugheitslehren einer besonderen Beliebtheit erfreuten und die Höflichkeit als eine Grundform sozialer Regulierung das beherrschende Kommunikationsideal darstellte, musste die öffentlich geäußerte Kritik auch innerhalb der Gelehrtenrepublik gegen die Konvention verstoßen.6 Die Beurteilung und Bemängelung gelehrter Schriften entsprach weder den gängigen Vorstellungen über das Decorum, die Wohlanständigkeit, wonach die Fehler anderer Personen schon aus Nächstenliebe besser zu verschweigen waren, noch den Faustregeln einer klugen Le-

1

Vgl. Wiebke Hemmerling: Versprochene Früchte, leere Schalen. Zur Journaldebatte des frühen 18. Jh.s in Deutschland. In: Scientia Poetica 15 (2011), S. 115–153. 2 Wie etwa die Auserlesene[n] Anmerckungen Über allerhand wichtige Materien und Schrifften. Frankfurt a. M., Leipzig 1704–1707. 3 Monatliche Unterredungen einiger guten Freunde Von Allerhand Büchern und andern annehmlichen Geschichten. Leipzig 1689–1698. 4 Im Besonderen die eigentlich von Wilhelm Türck in Halle gegründete und nach Gundling von Peter Adolph Boysen fortgeführte Neue Bibliothec oder Nachricht und Urtheile von neuen Büchern Und allerhand zur Gelehrsamkeit dienenden Sachen. Frankfurt a. M., Leipzig 1709– 1721. 5 Aufrichtige und unpartheyische Gedancken, Über Die Journale, Extracte und MonathsSchrifften / Worinnen Dieselben extrahiret / wann es nützlich suppliret und wo es nöthig emendiret werden. Freyburg [Leipzig] 1714–1717. 6 Vgl. Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Berlin 2007, S. 72.

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bensführung, nach denen sich ein kluger Mensch ohne Not keine Feinde machen sollte.7 Demgemäß war das öffentliche Rezensieren und Kritisieren der Publikationen von noch lebenden – und damit auch wehrhaften – Mitgliedern der Gelehrtenwelt durch die kaum zu vermeidende Verbindung von Buchkritik und Gelehrtenkritik eine heikle Angelegenheit, der man sich seit dem Auftakt der gelehrten Journale durch die Gründung des französischen Journal de Sçavans im Jahr 1665 durchaus bewusst war. So musste der erste Herausgeber des Journals, der Pariser Parlamentsrat Denys de Sallo, bereits nach drei Monaten die Segel streichen, nachdem er durch die »allzugrosse Freyheit«8 seiner Rezensionen den Zorn einiger Gelehrten und insbesondere den Guy Patins, Professor am Collège Royal de France, auf sich gezogen hatte.9 Obwohl auch im deutschsprachigen Raum gelegentlich Sanktionen gegenüber allzu freimütigen Journalschreibern verhängt wurden, was mit der Thomasius-MasiusAffäre sicherlich sein prominentestes Beispiel gefunden hat, war das Vergehen der öffentlichen Diffamierung eines Textes eigentlich kaum zu ahnden. Der »Todtschlag mit der Feder«10 entzog sich, trotz der Option eine Injurienklage anzustrengen, der Jurisdiktion weitgehend. Dem Tatbestand einer fahrlässigen Grobheit und Unhöflichkeit hielt man von Seiten der Journalisten entgegen, »daß in der freyen Republique der Gelehrten auch freye Raisonnemens und Gedancken seyn müssen«.11 Ihrer Ansicht nach war es durchaus fraglich, ob ein Wert, wie der der Höflichkeit, anderen Werten, wie dem der Aufrichtigkeit, vorzuziehen war. Schließlich bildete das Bemühen um »Wahrheit« den Hintergrund, vor dem sich – für sie – die öffentliche Kritik zweifellos legitimierte. Sehenden Auges wurde dabei in Kauf genommen, wie es etwa 1718 in einer Vorrede der ausschließlich auf ungünstige Buchbesprechungen spezialisierten Acta Semi-Eruditorum heißt, dass »dieses Werck viel Verdrüßlichkeit und Haß mit sich führet/ immassen ein jeder seine Mißgeburthen liebkoset und nicht gerne siehet/ daß sie allhie ihre Grabstätte finden«.12 Aller Verdrießlichkeit zum Trotz sollte mittels der kritischen Rezensionen ein ganz konkreter Gewinn für die Gelehrsamkeit erzielt werden. Das durch die Bücher ver7

Vgl. Aufrichtige und Unpartheyische Gedancken, 13. Stück. Freyburg [Leipzig] 1715, S. 7. Grosses vollstandiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, hrsg. v. Johann Heinrich Zedler, Bd. 33, Art. Sallo (Denys oder Dionysius de). Leipzig, Halle 1742, Sp. 966. 9 Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge, hrsg. v. Moritz Hermann Eduard Meier u. a., Dritte Section O–Z, Dreizehnter Theil. Leipzig 1840, S. 315. 10 Aufrichtige und Unpartheyische Gedancken, 19. Stück. Freyburg [Leipzig] 1716, S. 445. 11 Nicolaus Hieronymus Gundling: Otia. Frankfurt a. M., Leipzig 21706, fol. )( 3v. 12 Acta Semi-Eruditorum Das ist: Nachricht und Urtheile Von Unnützen / schädlichen / und grobe Fehler und Irrthümer mit sich führenden Büchern, Übelgerathnen Dissertationibus, unbedachtsamten Übersetzungen, nichts würdigen Chartequen Und andern Schrifften und Piecen, deren Uhrheber nicht geschickt gewesen sind / selbige so / wie sie hätten seyn sollen und können / zu verfertigen. Der 1. Theil. o. O. 1718, fol. A 4v. 8

Totschlag mit der Feder?

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mittelte Wissen musste sich durch die Revision im Journal einer öffentlichen Musterung unterziehen lassen, was im Zweifelsfall mit dem dezidierten Abraten vom Kauf eines Buches enden konnte. Mithin sollte auch die Leserschaft dazu ermutigt werden, sich in der Beurteilung und Prüfung des Gelesenen zu üben, um auf diesem Wege die Dezimierung schlecht verfasster Bücher herbeizuführen und dadurch letztlich den Wissenschaften einen großen Dienst zu erweisen. Die Intention eines uneigennützigen Verbraucherschutzes wurde jedoch nicht allerorten für bare Münze genommen und so ließ die Kritik an den Kritikern nicht lange auf sich warten. Die Vorbehalte gegenüber der Rezensionspraxis lassen sich dabei zu wenigen grundsätzlichen Überlegungen zusammenfassen. Der Tenor der Argumentationen lautete, dass die periodische Buchkritik in der Gelehrtenrepublik als ein illegitimes Unternehmen zurückgewiesen werden konnte. Dieser Illegitimitätsverdacht basierte hauptsächlich auf dem Problem der anonymen Verfasserschaft der Rezensionen. Vermöge der Anonymität der Rezensenten, die als Schutz vor Kabalen und insofern als Garant der Meinungsfreiheit gedacht war, sah man der Willkür in der Beurteilungspraxis Tür und Tor geöffnet. Viel zu schnell konnte aus der beschworenen Freiheit der Gelehrtenrepublik eine Narrenfreiheit für jeden »Harlequin au theatre dela Republique des lettres«13 werden. Der Verdacht auf eine mangelnde Kompetenz, ja gelehrten Machiavellismus, folgte auf dem Fuße. Ebenso ließ die Frage der Verfasserschaft einigen Spielraum für Spekulationen über die Motive der Journalisten und ihre eventuelle Parteilichkeit. Denn wie es sich mit der Beurteilung der Bücher auch verhielt, ob eine Bewertung ausnehmend gut oder schlecht geriet, differierende Resümees der Rezensenten führten zu dem Schluss, dass das jeweilige Urteil sich nicht allein aus der Betrachtung des Textes ergab.14 Es war kaum auszuschließen, dass anonym verfasste Rezensionen als Austragungsort von Streitigkeiten und Schauplatz persönlicher Animositäten genutzt wurden. Vom unparteiischen, wahrheitsliebenden Richter zum gelehrten Heckenschützen war es am Ende nur ein kleiner Schritt und es bleibt zu bemerken, dass den Vorbehalten über die Parteilichkeit der Journalisten letztlich nur deren Beteuerung ihrer Unparteilichkeit gegenüberstand. Als Reaktion auf die Mutmaßungen über ihre Inkompetenz und Parteilichkeit ließen einige Rezensenten Erwiderungen in gesonderten Journalvorreden abdrucken. Im Fall der Neuen Bibliothec Oder Nachricht und Urtheile von neuen Büchern Und

13

[Christian Juncker]: Anmerckungen über Eines ungenandten Satyrici Acta Semi-Eruditorum. o. O. 1709, S. 5. 14 Eine Zusammenstellung der Verdachtsmomente findet sich bei [Julius Bernhard von Rohr]: L’Esprit des Journaus; Oder Unpartheyische Gedancken Über die so häuffig edirten und jetzo aufs höchste gestiegene Journale, Durch welche Dererselben Betrug gebührend entdecket / Der Nutzen und Schaden so sie bringen erwogen / Und Ob sie in wohlbestellten Republiquen zu dulten / Kürtzlich untersuchet wird. Berlin 1716.

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allerhand zur Gelehrsamkeit dienenden Sachen wurde 1716 vom Herausgeber Peter Adolph Boysen sogar in Erwägung gezogen, am Ende eines jeden Bandes eine separate Abteilung zur Beantwortung von »Remonstrationes, die uns auf modeste oder immodeste Art/ mündlich/ schrifftlich/ oder gedruckt zukommen« zu eröffnen, um ausreichend »Satisfaction« geben zu können.15 Trotz der einen oder anderen defensiven Maßnahme war die ganze Aufregung um die Kritiken für die betreffenden Journalisten in der Regel nur schwerlich nachzuvollziehen, denn schließlich war ohnehin jede einzelne Schrift mit ihrer Publizierung der Beurteilung jeder ihrer Leser überlassen. Mit Rücksicht auf die viel zitierte Gedankenfreiheit in der Respublica litteraria schien es kein Skandal zu sein, ein solches Urteil zum Gegenstand einer neuerlichen Schrift zu erheben. Niemand konnte gezwungen werden, mit dem Urteil eines Rezensenten übereinzustimmen. Man überließ die Sache also der Mündigkeit der Leser und resümierte, dass die Rezensionen wohl kaum selbst zu einem Problem erklärt werden konnten, sondern allenfalls ein unbedarfter Umgang mit ihnen. Mit diesem nicht ganz uneingängigen Fazit sprach man den Antikritiken indes die Berechtigung zur Kritik am Journalwesen und der Rezensionspraxis mehr oder weniger ab. Das Kritisieren sollte offenbar nur dem Kritiker vorbehalten bleiben. Dass jedoch ein Kritiker mit der Veröffentlichung seiner Kritik gleichermaßen zum Autor eines Textes wurde und in dieser Rolle wiederum kritisierbar war, wurde in diesem Zusammenhang geschickt übergangen. Was ebenso nur selten zur Sprache gebracht wurde, war die durchaus schwierige Situation, in welche die kritisierten Autoren durch die öffentlichen Buchbesprechungen versetzt wurden. In den betreffenden Streitschriften wurde eine Thematisierung der so empfundenen öffentlichen Ehrverletzung, die Angst vor einem nachhaltigen Image-Schaden, im Regelfall vermieden. Anscheinend wollte man nicht Gefahr laufen, mit einer Kritik am Rezensionswesen lediglich als befangen und tendenziös wahrgenommen zu werden. Einer der spärlich gesäten Texte, die dennoch über die Perspektive der schlecht besprochenen Autoren Aufschluss geben, ist eine von dem Rostocker Theologen Johann Fecht im Jahr 1713 herausgegebene Streitschrift gegen die Hallenser Neue Bibliothec. Fecht sprach hier seine Motivation für eine öffentliche Rechtfertigung offen an: Ob nun wohl ich mein Tag einen Abscheu vor denen Anonymis, die ohne daß sie roth werden dörffen/ diejenige/ die sie attaquiren wollen/ nach aller ihrer Lust und Begierde schimpffiren dörffen/ gehabt habe/ so habe ich mich doch dißmahlen entschliessen müssen/ meine Gewohnheit zu ändern. In Erwegung daß meinen Tractat de Excommunicatione wohl wenige und welche anderen/ als Theologischen studiis ergeben

15

Neue Bibliothec oder Nachricht und Urtheile von neuen Büchern Und allerhand zur Gelehrsamkeit dienenden Sachen, 51. Stück. Frankfurt a. M., Leipzig 1716, S. 4.

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seynd/ kaum einiger sich anschaffen und lesen/ solche Excerpta aber/ Acta, Journal, Bi[b]liothecken und wie sie Nahmen haben mögen/ die meiste gelehrte von aller Gattung der studiorum, aufs wenigst aus curieusitet/ umb zu sehen/ was in der Welt passire und geschrieben werde/ zur Hand nehmen und an dero judicieusen recension sich delectiren werden/ wodurch dann leichtlich mancher/ der sonsten noch einen guten concept von mir gehabt haben mag/ in weiß nicht was vor Gedancken von mir/ als ob ich der absurdeste Mensch und wehrt wäre/ daß ich gleichsam an den Pranger aller ungeschickten gestellet würde/ gebracht werden möchte/ als habe ich mich genöthiget befunden/ meinen honneten Nahmen zu retten und auch in Teutscher Sprach und in wenigen Bogen […] meine Wiedersacher zu wiederlegen.16

Abgesehen davon, dass Fecht vor allem in der Anonymität der Journalisten die Triebfeder für leichtfertige und böswillige Kritiken sah, bestand das Problem für ihn hauptsächlich darin, dass diese Kritiken einen wesentlich größeren Grad an Öffentlichkeit erreichen konnten, als die in ihnen kritisierte Schrift. Hatte Fecht sich mit seiner Schrift an eine kalkulierbare Teilöffentlichkeit von wenigen Theologen gewandt, so sah er sich nun durch die Rezension vor der gesamten Respublica litteraria gebrandmarkt. In diese prekäre Lage gebracht, konnte er, in Ermangelung anderer Schritte, einem öffentlichen »Rufmord« nur mit einer wiederum öffentlich zugänglichen Rechtfertigung begegnen. Für die Veröffentlichung einer solchen »Antikritik« gab es nun im Grunde lediglich vier Möglichkeiten. Erstens konnte der Autor versuchen, eine Entgegnung im gleichen Journal als eine Art Leserbrief abdrucken zu lassen, wobei jedoch eine höhnische Kommentierung von Seiten des Rezensenten kaum zu verhindern war. Zweitens konnte ein anderes Journal, das möglichst in direkter Konkurrenz publiziert wurde, für diese Zwecke eingespannt werden. Drittens konnte er, begabt mit einem langen Atem, die Vorrede des nächsten eigenen Druckwerkes als Podium nutzen oder viertens eigens für diesen Fall eine Streitschrift herausgeben. Dabei musste allerdings offen bleiben, wie viel »Gegenöffentlichkeit« auf diesem Wege herzustellen war. Darüber hinaus stand der Kritisierte in einem Spannungsfeld von persönlicher und öffentlicher Kritik, was sich vor allem hinsichtlich der Kommunikationssituation als problematisch erwies. Mit seiner Rezension richtete sich der Journalist an eine nicht näher bekannte gelehrte Öffentlichkeit, die den Autor der rezensierten Schrift nicht unbedingt mit einschloss. Diese Adressierung sorgte indessen immer wieder für Irritationen, denn dem Ton der Antikritiken nach zu urteilen, sahen die Autoren die Kritik an ihren Schriften in der Regel an sie selbst gerichtet. Auf ein

16

Johann Fecht: Kurtze Nachricht von dem Kirchen-Bann, dessen Göttliche Einsetzung und Christliche Billigkeit wieder die so genandte Neue Bibliothec vertheidiget wird; mit einem dazu gehörigen Register. Rostock 1713, S. X.

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derartiges Missverständnis ist es wohl zurückzuführen, wenn beispielsweise der erste deutsche Zeitschriftenbibliograf, Christian Juncker, in einer anonym herausgegebenen Streitschrift von 1709 bemerkt: Nun lässet man iedweden gerne bey seiner Weise/ mithin auch dem Autori das Plaisir, auf dem Eise der Satyrischen Schändung honneter Männer zu tantzen/ und auf seine/ oder des Verlegers Unkosten sich lustig zu machen/ so lange er wil. […] Doch hatte der Censor nicht soviel humanität und complaisance vor ihn [Juncker]/ daß er ihm diese seine Gedancken privatim communiciren können u. dessen raisons dagegen anhören? Warumb muß es auf eine so bittre Art geschehen? Ist die Sache auch solcher Mühe werth?17

Mit diesen Worten gab Juncker zu erkennen, dass er die Kritik an seiner Schrift vornehmlich als Auftakt einer eigentlich persönlichen Auseinandersetzung interpretierte, an der seiner Meinung nach kaum ein öffentliches Interesse bestehen konnte. Und tatsächlich dürfte es sich bei seinem Briefsteller um einen der »Schmetterlinge« gehandelt haben, nach denen, wie Johann Christoph Gottsched später konstatieren wird, mit einer »Herkuleskeule« ausgeholt worden war.18 Das oft beschworene »Zeitalter der Kritik« schien bereits angebrochen, ohne dass Juncker dessen Dimension realisiert hatte. Während er in seiner Streitschrift noch auf ein älteres Modell der Kritik, die Briefkommunikation als private Verhandlung von Emendationen, referierte, war der anonyme Rezensent schon als Vermittlungsinstanz zwischen Werk und Publikum getreten und an einem Austausch mit dem Autor kaum noch interessiert. Eine tatsächliche Auseinandersetzung, ein wirklicher Streit war unter diesen Vorzeichen mehr oder weniger unmöglich geworden und so wird hier ferner der Einfluss des Mediums auf die Streitkultur innerhalb der Gelehrtenrepublik greifbar. Was die Journale mit ihren Buchkritiken ebenso mit sich gebracht hatten, war eine Neustrukturierung der akademischen Öffentlichkeit, deren Grenzen sich nun weiter über den universitären Rahmen hinaus verschoben. In der Kontroverse um das Rezensionswesen ist ein Zeugnis der Bewusstwerdung dieser neuen Form der Öffentlichkeit zu sehen. Die anschließende Ausweitung der in den Zeitschriften vorgenommenen Kritik auf ästhetische Gegenstände trug im Laufe des Jahrhunderts nicht nur zu einer weitergehenden Popularisierung des Mediums bei, sondern ließ im Zuge der Geschmacksdebatte auch die Diskussionen um die Figur des Rezensenten und die Legitimität seiner Urteile nicht verstummen. Und so kann es kaum verwundern,

17

[Juncker]: Anmerckungen, S. 4, S. 25. Vgl. Die Vernünftigen Tadlerinnen. Der andre Theil, hrsg. v. Johann Christoph Gottsched. Hamburg 31748, S. 131 ff. Die Einschätzung über die Acta Semi-Eruditorum findet sich erst in dieser Aufl. der ursprünglich ab 1725 publizierten Zeitschrift. 18

Totschlag mit der Feder?

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wenn etwa in einer polemischen Replik August von Kotzebues auch am Ende des 18. Jahrhunderts noch Folgendes zu lesen ist: Recensenten! wollt ihr dem Publikum beweisen, daß es ohne euch sich gar nicht behelfen kann, so laßt es einmal ein Decennium nach euch schmachten, straft und überzeugt die Ungläubigen, indem ihr eure Feder niederlegt; überlaßt sie eine Zeitlang den gräßlichen Folgen eures Schweigens; wenn sie dann sehen werden, daß alles drunter und drüber geht, daß kein vernünftiges Wort mehr geschrieben wird; so werden die verirrten Schaafe schon von selbst kommen, und euch den verschmähten Hirtenstab wieder aufdringen.19

19

August von Kotzebue: Fragmente über Recensenten-Unfug. Eine Beylage zu der Jenaer Literaturzeitung. Leipzig 1797, S. 81.

Carmen Götz (Bochum / Basel) Der Streit um den »Kryptojesuitismus« als Vehikel der Verständigung über den öffentlichen Umgang mit Texten?

Der Berliner Verleger, Schriftsteller und Publizist Friedrich Nicolai, Herausgeber des bedeutenden Rezensionsorgans »Allgemeine Deutsche Bibliothek«, unternahm 1781 eine »Reise durch Deutschland und die Schweiz«, deren Beschreibung er in den Jahren 1783 bis 1796 in zwölf Bänden erscheinen ließ.1 In dieser Reisebeschreibung wird der Katholizismus in Österreich und Bayern der äußeren Form nach im Sinne eines lehrreich-beschreibenden Reiseberichts präsentiert – eine Art früher Fall von europäischer Ethnologie, wenn man so will –, inhaltlich jedoch in einer extrem abwertenden Form. Der Katholizismus mit seinem Papsttum, seiner Heiligenverehrung, seinem Reliquienkult, seinen Wallfahrten, Prozessionen und Devotionalien steht für das, was Zielscheibe aller Aufklärung ist: Aberglaube, Schwärmerei und blinder Gehorsam gegenüber einer höheren Autorität. Der Katholizismus ist das antiaufklärerische Gegenmodell zum Protestantismus. Ist aber der Katholizismus als solcher schon zu verdammen und unbedingt im Sinne der Aufklärung zu reformieren, so steht der Aufklärung in Gestalt des 1773 eigentlich aufgehobenen, tatsächlich jedoch, so Nicolai, im Verborgenen weiterhin aktiven Jesuitenordens ein strategischrational operierender Feind gegenüber. Als Beispiel für Tendenz und Duktus der Nicolaischen Schriften möge hier eine Passage aus dem 1784 erschienenen dritten Band seiner Reisebeschreibung dienen: In Linz befinden sich noch bis jetzt beständig eine Anzahl junge Dänen und Schweden, welche da katholisch erzogen werden. Herr Prof. Sander sagt: […] »Diese jungen Herrn in Linz wären meist Majoratsherren, oder einzige Söhne, die Hofnung vieler Familien.« Wie? die Majoratsherren, die Hofnung vieler Familien in den ganz protestantischen Ländern Dännemark und Schweden, sollen katholisch erzogen werden? Wozu das? Oder wie geht das zu? Wer hier nicht geheimen Einfluß der Jesuiten erkennet, wer hier nicht die unabläßige Bemühung der katholischen Kirche, sich, selbst unter allem Reden von Toleranz, auszubreiten, erkennet, muß wahrhaftig die so wichtigsten und so offenbarsten Thatsachen gar nicht einer ernsthaften Betrachtung würdigen. Ich überlasse jedem wohldenkenden Protestanten, ob ein solches Verfahren ganz gleichgültig sey, oder ob es ernsthafte Aufmerksamkeit verdiene. Auch aus dem Reiche hört man allerhand sonderbare Nachrichten von solchen katholischen Mis1

Friedrich Nicolai: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781. Nebst Bemerkungen über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und Sitten, 12 Bde. Berlin, Stettin 1783–1796.

Der Streit um den »Kryptojesuitismus«

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sionen, davon ich, weil sie noch im Finstern schleichen, hier nichts sagen | will. Im sogenannten Kirchenboten finden sich einige Spuren davon, und es werden da Sachen auf eine schleichende Weise gelobt, die sehr bedenklich sind. Ein jeder Protestant, der Thatsachen dieser Art offenbar macht, und in ihrem rechten Lichte zeigt, thut nicht allein dem protestantischen Wesen, sondern auch der wahren Aufklärung einen Dienst.2

Diese Rede von den geheimen Umtrieben der Jesuiten erfuhr eine spezifische Ausgestaltung in Form der These von der Unterwanderung des Freimaurerordens und allgemein der geheimen Gesellschaften durch die Jesuiten zum Zwecke der Proselytenmacherei und antiaufklärerischer Umtriebe. Vehement verbreitet wurde sie zunächst vor allem von dem Redakteur, Verleger und Übersetzer Johann Joachim Christoph Bode, der ein begeisterter und kenntnisreicher Anhänger der Freimaurerei und einer der führenden Köpfe des Illuminatenordens war.3 Mittler zwischen Bode und den Berliner Aufklärern war Franz Michael Leuchsenring, der in der Öffentlichkeit – wohl fälschlicherweise – als der eigentliche Urheber dieser Verschwörungstheorie identifiziert wurde.4 »Die These einer jesuitischen bzw. ›kryptokatholischen‹ Unterwanderung der verschiedenen Geheimgesellschaften erfuhr gerade durch die mystisch-religiösen Tendenzen schon in der Strikten Observanz, dann aber besonders der ›Wohltätigen Ritter‹ und der Martinisten«5 einen geeigneten Nährboden und entsprechendes Demonstrations- und Auslegungsmaterial. Der Georg-Forster-Experte Ludwig Uhlig erläutert das Verfahren folgendermaßen: »Nicolai untermauerte seine These dadurch, daß er alle geheimnisvollen Hieroglyphen, symbolischen Teppiche, Paßworte und

2

Nicolai: Reisebeschreibungen, Bd. 3: »Zusätze zum zweyten Bande.«, S. LVI f. Vgl. Manfred Agethen: Geheimbund und Utopie. Illuminaten, Freimaurer und deutsche Spätaufklärung. Mit einem Geleitwort v. Eberhard Schmitt. München 1984 (Ancien Régime, Aufklärung und Revolution 11), S. 279 ff.; sowie Hans-Werner Engels: Johann Joachim Christoph Bode. In: Demokratische Wege. Deutsche Lebensläufe aus fünf Jahrhunderten, hrsg. v. Manfred Asendorf, Rolf von Bockel. Stuttgart, Weimar 1997, S. 70 ff., hier S. 71; und Johann Joachim Christoph Bode: Journal von einer Reise von Weimar nach Frankreich. Im Jahr 1787. Hrsg. sowie mit einer Einleit., Anmerkungen, einem Register u. dokumentarischen Anhang versehen v. Hermann Schüttler. München 1994, S. 176, Anm. 477. 4 Vgl. Bode: Journal einer Reise, S. 199, Anm. 545: »Aus diesen Bemerkungen [im Reise›Journal‹] geht deutlich Bodes Einfluß auf die Berliner Aufklärer um Nicolai hervor. Die Pressekampagne gegen Starck und Lavater (›Kryptokatholizismusstreit‹) wurde auf sein Betreiben begonnen, Zielscheibe der Gegner wurde Leuchsenring.« Vgl. hierzu beispielsweise den Brief Friedrich Heinrich Jacobis an Johann Friedrich Kleuker vom 5. Dezember 1785. In: Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel 1785. Nr. 1108–1306. Nachtrag zum Briefwechsel 1764–1784, hrsg. v. Albert Mues, Gudrun Schury u. Jutta Torbi. Stuttgart-Bad Cannstatt 2003 (Gesamtausgabe. Briefwechsel, Reihe I, Bd. 4), S. 269 f. 5 Bode: Journal einer Reise, S. 176, Anm. 477. 3

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2. Sektion · Carmen Götz

dergleichen, auch die Theosophie von Saint-Martin, als chiffrierte Hinweise auf die Jesuiten entschlüsselte. So seien die Initialen ›S. I.‹ einerseits wohl die Abkürzung für die ›Superiores Incogniti‹, die Geheimen Oberen der Strikten Observanz und der Rosenkreuzer, in Wirklichkeit aber stünden sie für ›Societas Iesu‹, den Jesuitenorden. Dieser stehe hinter allen Logensystemen und Orden, auch wenn diese einander scheinbar bekämpften, wahrscheinlich auch hinter den Illuminaten.«6 Was diese Dechiffrierungsanstrengungen der Aufklärer anbelangt, so ließen sich Beispiele anführen, die die zeitgenössische Kennzeichnung als »hospitalsmäßige[n] Zeichendeuterey«7 nicht unbedingt abwegig oder übermäßig bösartig erscheinen lässt. Geradezu als ein Glücksfall für die Bestätigung der von führenden Köpfen der deutschen Aufklärung vertretenen und verbreiteten Theorie vom »Krypto-Katholizismus« oder »Krypto-Jesuitismus« musste daher die (mutmaßliche?) Entlarvung des Darmstädter Oberhofpredigers Johann August Starck angesehen werden.8 Der Fall Starck wurde – nicht zuletzt aufgrund der Renitenz und Schreibwütigkeit Starcks – zum Kristallisationspunkt der These von der jesuitischen Verschwörung und beschäftigte und unterhielt die Zeitgenossen in der zweiten Hälfte der 1780er Jahre mit einer schier unglaublichen Anzahl von Beiträgen in teils erheblichem Umfang. Lassen wir die Sache im Jahre 1785 beginnen mit dem im Januarheft der »Berlinischen Monatsschrift« erschienenen Artikel »Beitrag zur Geschichte itziger geheimer Proselytenmacherei«. Es handelt sich, so die Herausgeber, um den »Auszug« aus einem ihnen zur Veröffentlichung zugesandten »Schreiben[s]«. Der anonyme Verfasser behauptet darin, dass er auf seinen Reisen durch Deutschland zu seinem »Erstaunen« festgestellt habe, dass sich in den protestantischen Ländern »der Katholicismus, und zwar von der gröbsten Art« eindränge.9 Nachdem er eine Anzahl von Belegen für die katholischen und jesuitischen Umtriebe, insbesondere mit dem Ziel der Bekehrung einflussreicher Herrscherpersönlichkeiten, angeführt hat, teilt er des Weiteren mit: 6

Ludwig Uhlig: Georg Forster. Lebensabenteuer eines gelehrten Weltbürgers (1754–1794). Göttingen 2004, S. 165. 7 Johann August Starck: Über Krypto-Katholicismus, Proselytenmacherey, Jesuitismus, geheime Gesellschaften und besonders die ihm selbst von den Verfassern der Berliner Monatsschrift gemachte Beschuldigungen: mit Acten-Stücken belegt. 2 Bde. Frankfurt a. M., Leipzig 1787, hier Bd. 2, S. 136 f. 8 Vgl. zum Fall Johann August Starck insbesondere: Wilhelm Kreutz: »L’inscription qu’on pourra mettre sur les ruines des trônes, […] peut-être conçue dans ces deux mots: L’ouvrage de l’Illuminatisme!« Johann August Starck und die ›Verschwörungstheorie‹. In: Von ›Obscuranten‹ und ›Eudämonisten‹. Gegenaufklärerische, konservative und antirevolutionäre Publizisten im späten 18. Jahrhundert, hrsg. v. Christoph Weiß. St. Ingbert 1997 (Literatur im historischen Kontext 1), S. 269–304. 9 Berlinische Monatsschrift, 1785, 1. Stück (Januar), S. 59–80, hier S. 60.

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Es giebt auch schon hin und wieder, sonderlich im Reiche, Protestanten von mittlern Stande, welche wirklich heimliche Katholiken sind, und vom Papste Dispensation haben, es vor der Hand noch heimlich zu halten. Ja es giebt sogar wirklich schon pro-testantische Prediger, welche heimliche Katholiken sind. Ich | selbst habe einen durch Schriften bekannten protestantischen Gottesgelehrten besucht, von welchem es bei-nahe schon öffentlich gesagt wird, daß er nicht nur den Jesuiten affiliirt, sondern selbst ein Jesuit von der vierten Klasse ist, von der Klasse, welche das Gelübde thun muß, sich zu Missionen brauchen zu lassen. Dies wird der größten Menge der Protestanten unglaublich scheinen. Aber darum sind diese Dinge doch wahr, zuverläßig wahr!10

Man kann sich vorstellen, dass von dieser Veröffentlichung an fleißig spekuliert wurde, wer dieser protestantische Prediger wohl ist. Die »Berlinische Monatsschrift« aber veröffentlichte den Namen erst eineinhalb Jahre später in ihrem Heft vom Juli 1786 in dem Beitrag »Noch etwas über Geheime Gesellschaften im protestantischen Deutschland.« Wiederum handelt es sich nach Angabe der Herausgeber um ein ihnen zugesandtes Schreiben, das anonym abgedruckt wird. Die einschlägige Stelle lautet: Was allen redlichen und vernünftigen Menschen bei den bisherigen Erzählungen von Anfang an zum meisten aufgefallen zu sein scheint, war die Nachricht von einem angesehenen protestantischen Gottesgelehrten, welcher, auf Veranlassung solcher [Geheimen; CG] Gesellschaften, katholisch geworden, die Tonsur empfangen, zum Klerikus gemacht, ja selbst ein Jesuit der vierten Klasse geworden sein soll. Man hat mit Recht gewünscht, daß genauere Umstände von diesem merkwürdigen und fast unnatürlich scheinenden Faktum geliefert würden, vorzüglich aber, daß der protestantische Gottesgelehrte selbst, der sich getroffen fühlte, sich hierüber erklären mögte, wozu er unter andern in der B. Monatsschr. zweimal (1785, Aug. S. 150, | und Decemb. S. 573) freimüthig und gerecht ist aufgefordert worden. Zugleich wird daselbst sein Ordensnamen, den er als Klerikus in jenem geheimen und mit Recht verdächtigen Orden geführt, bekannt gemacht: er heißt Frater Archidemides ab Aquila Fulva. – Die wichtigste Frage war also: Giebt es einen solchen protestantischen Gottesgelehrten? […] Und siehe da! der verlangte Namen ist in einer so eben erschienenen Schrift, betitelt: Archidemides oder Anti=St. Nicaise zweiter Theil, öffentlich genannt worden. Fr. Archidemides ab Aquila Fulva ist, den in diesem Buche gedruckten Nachrichten zufolge, Hr. Johann August Stark, Magister der Philosophie, und Doktor der Theologie, welcher bekanntlich seit mehrern Jahren sehr wichtige Aemter in der lutherischen Kirche bekleidet hat, ehemals Professor der Theologie, Generalsuperintendent (d. h. erster Geistlicher im ganzen Königreich), und Oberhofprediger zu Königsberg war, und itzt als Oberhofprediger | zu Darmstadt steht.11 10 11

Ebd., S. 61 f. Das Wort »affiliieren« bedeutete in der Regel: »in eine Freimaurerloge aufnehmen«. Berlinische Monatsschrift, 1786, 7. Stück (Juli), S. 44–100, hier S. 45.

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Starck strengt nach dieser öffentlichen Bloßstellung einen »Injurienprozeß« gegen die Herausgeber der »Berlinischen Monatschrift« an, den er verliert. Etwa zeitgleich erscheinen dann 1787 die Akten des Prozesses in Buchform (im Umfang von 300 Seiten)12 wie auch (im Umfang von gut 600 Seiten) der erste Teil von Starcks sogenannter »Apologie« unter dem Titel »Johann August Starck über Krypto-Katholicismus, Proselytenmacherey, Jesuitismus, geheime Gesellschaften und besonders die ihm selbst von den Verfassern der Berliner Monatsschrift gemachte Beschuldigungen: mit Acten-Stücken belegt.« Noch im selben Jahr erscheint der zweite Teil der »Apologie« (ca. 1000 Seiten) sowie 1788 ein weiterer Nachtragsband und einige anonyme Schriften von Starck, die sämtlich seiner Verteidigung und der Anklage der Berliner Aufklärer dienen. Damit nicht genug, ergeben sich in dieser Streitsache in den kommenden Jahren eine ganze Reihe weiterer Fronten, die sich in Schriften und Gegenschriften niederschlugen: Geht man nur von den Monographien aus, so sind als Gegner Starcks unter anderem zu nennen: Elisa von der Recke, Friedrich Nicolai, Christian Friedrich Kessler von Sprengseisen und Carl Friedrich Bahrdt. Vielleicht mitbedingt dadurch, dass Starck sich zu der Hauptbeschuldigung nicht direkt äußert, das heißt: sie zwar bestreitet, aber ein konkretes Eingehen auf die vorgebrachten Belege und Zeugenaussagen permanent unterläuft, vielleicht auch dadurch, dass er zunächst einen »Injurienprozeß« anstrengte, wird der Streit um den »Kryptojesuitismus« zum Austragungsort ganz anderer Angelegenheiten als bloß der Frage, ob Starck heimlich konvertierte und ob die These von der jesuitischen Verschwörung sich beweisen lässt. Zum einen nämlich wurde die Streitsache von den Kritikern der Berliner Aufklärer genutzt, um der Aufklärung ein Umschlagen von Vernunft in Despotismus und Unvernunft zu bescheinigen. Unter dem Deckmäntelchen nämlich so edler Ziele wie der Aufdeckung und Bekämpfung von Schwärmerei, Aberglaube und Despotismus betrieben, so die Kritiker, die Aufklärer eine »Jesuitenriecherei« (J. G. Zimmermann), eine Verfolgungsjagd, die sich mit einer humanen, freien und das Individuum vor willkürlichen Zugriffen einer übergeordneten Macht bewahrenden Aufklärungsgesellschaft nicht mehr vertrüge. Der höhere Zweck einer Totalreinigung von allem, was der Aufklärung schaden könnte, scheine nun vielmehr, so der Vorwurf, alle Mittel zu rechtfertigen. Die ›heilige‹ Sache der Aufklärung wird, so das Thema der Streitsache aus der Sicht der Gegner, von den Aufklärern selbst verraten. Zum zweiten aber wird der Streit um den »Kryptojesuitismus« auch in massiver, bisweilen das eigentliche Anliegen des Streits gänzlich in den Hintergrund drän12

Proceß über den Verdacht des heimlichen Katholicismus zwischen dem Darmstädtischen Oberhofprediger D. Stark als Kläger, und den Herausgebern der Berlinischen Monatsschrift, Oberkonsistorialrath Gedike und Bibliothekar D. Biester als Beklagten; vollständig nebst der Sentenz aus den Akten herausgegeben von den loßgesprochenen Beklagten. Berlin 1787.

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genden Weise zum Austragungsort der Frage, wie eigentlich im öffentlichen Raum mit Personen und Texten umgegangen werden darf. An erster Stelle steht dabei der Widerstreit zwischen dem Recht auf Pressefreiheit und dem Schutz der Persönlichkeit; zugespitzt formuliert: Darf eine Person um eines höheren Wertes willen öffentlich moralisch vernichtet werden? Diese Seite der Diskussion wird von einer anonym erschienenen Schrift, die auch den Injurienprozesses rechtfertigt, ausdrücklich benannt: Ohne den Injurien=Prozeß wäre vielleicht die ganze Streitsache blos eine Materie für wenige Theologen und die Liebhaber der Journals=Lectüre geblieben. Nun aber, da die Materien von der Anonymität der Schriftsteller und den Rechten der Preßfreyheit auf eine Art behandelt werden wollen, daß andere bisher bestandene Gesetze keine Anwendung mehr finden sollen, daß es nöthig wäre darüber einen neuen Codex zu entwerfen, da sogar ein praejudicium in der Mitte liegt, welches ganz neue Grundsätze rechtskräftig festsetzen zu wollen scheinet; da wird der ganze Streit, Sache der Juristen, die hier ein interessantes noch wenig bearbeitetes Feld vor sich sehen, ja er wird die Sache eines jeden Gelehrten, dem es nicht gleichgültig seyn kann, auf allen Fall sein eigenes Schicksal im Perspective zu erblicken.13

Neue moral- und rechtsphilosophische Fragen als Folge einer expandierenden Medienwelt ergaben sich jedoch nicht bloß in Bezug auf den Schutz der Persönlichkeit, sondern auch in Bezug auf den Schutz der Texte eines Autors: Wie darf man mit dem Text eines Gegners umgehen? Was ist erlaubt, was nicht? Wie weit darf man – im Dienste der eigenen Argumentation – gehen? Die Empörung eines Autors über die Entstellung seines Textes liest sich dabei aus der historischen Distanz bisweilen amüsant, so etwa, wenn in dem zweiten Heft der anonym erschienenen sechsteiligen Schrift »Nicolai, Biester und Gedike in gefälligen Portionen dem Publicum vorgesetzt« angemerkt wird: Hier lassen die Berliner eine Behauptung mit Schwabacher drucken [also in einer breiteren, der Hervorhebung dienenden Schriftart; CG], die in Starks Buch nicht zu finden ist. Was Stark in Schwabacher drucken lassen, nemlich das Wort, wie, um zu verstehen zu geben, daß hier blos von dem modo die Rede sey, das lassen sie klein drucken, um seine wahre Meinung zu verbergen. Was das vor Leute sind!!!14

13

[Ludwig Adolf Christian von Grolmann:] [und Johann August von Starck?:] Nicolai, Gedike und Biester in gefälligen Portionen dem Publikum vorgesezt [sic]. o. O. [vermutlich Gießen und Marburg]. 6 Bde. 1788–1789, hier: Portion 1, S. 24. »Perspective« ist das zeitgenössische Wort für Fernglas: »sein eigenes Schicksal im Perspective zu erblicken« bedeutet demnach etwa: sein eigenes Leben wie durch ein Vergrößerungsglas in der Öffentlichkeit ausgestellt zu sehen. 14 Ebd., Portion 2, S. 48.

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Kritik an ungebührlichen Hervorhebungen durch die Schwabacher Schrift findet man vielfach, zum Teil auch ausführlicher, in Starcks zahlreichen Verteidigungsschriften. Auch die gegnerische Seite argumentiert auf diesem Feld. So heißt es in der Jenaer »Allgemeinen Literatur-Zeitung« in einer Rezension jenes Buches, mit dem Starck auf die Enthüllungen der Frau von der Recke reagiert: Wie will es das Publicum nennen, wenn Hr. St. behauptet, die meisten und größten Theologen und der größre Theil des Publicums erkennten den vorgeblichen Kryptokatholicismus unsrer Tage für ein Hirngespinst; u. wenn er z. B. namentlich sagt, (S. 114). »Plank habe die Kryptokatholikenchimäre untersucht und nichts gefunden; Döderlein habe sich ganz wider diese abgeschmackte Chimäre erklärt?« Er muß darauf rechnen, daß keiner seiner Leser seine Citaten nachschlagen werde, denn wenn man das thut, so findet man, daß Hr. D. Döderlein (auf der von Hrn. St. selbst angeführten S. 790 seiner Bibliothek) bloß sagt, (was so viele andere sagen): »Die Gefahr sey jetzt nicht größer als sie sonst war« (folglich doch nicht überhaupt bloße Chimäre), und daß vollends Hr. Plank nach sehr scharfer Abwägung aller Gründe und Thatsachen (in der ebenfalls von Hrn. Stark angeführten neuesten Religionsgeschichte, Th. I. S. 109.110.) endlich das Resultat zieht: »Aus diesem allen zusammen genommen folgt nun, daß man gegenwärtig in der That einen Grund hat, eine leichter als jemals mögliche Ausbreitung des Katholicismus zu befürchten. – Dies hat den höchsten Grad von Wahrscheinlichkeit, daß die unsichtbaren Obern der so vielen, so weit verbreiteten Gesellschaften unter uns Jesuiten sind, dies ist völlig unwidersprechlich, daß diese geheimen Gesellschaften – – das aller|brauchbarste, wirksamste und sicherste Ausbreitungsvehikel des Katholicismus seyn und werden können.« Sind das die Stellen, woraus Hr. St. folgert: Hr, [sic] P. habe nichts gefunden? Uns geht hier die ganze Untersuchung und die Meynungen dieser ehrwürdigen Männer darüber nichts an; aber das ist hier überaus bemerkenswerth, wie Hr. St. citirt.15

Neben solcher Kritik an falschen Druck- und Zitierweisen werden insbesondere unlautere, nicht selten mit Unterstellungen arbeitende Argumentationsweisen – gerne »Kunstgriffe« genannt – sowie Beleidigungen und Beschimpfungen immer wieder der Kritik unterzogen.

15

ALZ Nr. 173b (19. Juli 1788), Sp. 187–192, hier Sp. 191 f. – Die aus Kurland stammende Elisa von der Recke – eine ehemalige Verehrerin von Starck, die dann den Berliner Aufklärern nahestand – hatte in ihrer Publikation »Etwas über des Herrn Oberhofpredigers Johann August Stark Vertheidigungsschrift. Nebst einigen andern nöthigen Erläuterungen« (Berlin, Stettin 1788) Belege für die Vorwürfe gegen Starck, unter anderem auch Zeugen seiner Konversion, angeführt. Auf diese Schrift antwortete Starck mit seinem »Auch Etwas wider das Etwas der Frau von der Recke über des Oberhofprediger Starcks Vertheidigungsschrift« (Leipzig 1788), das hier rezensiert wurde.

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Es ist bemerkenswert, in welchem Ausmaß und in welcher thematischen Breite diese ganzen Verfahrensfragen in dieser Streitsache eine Rolle spielen und dass sie bisweilen das eigentliche Anliegen ganz in den Hintergrund treten lassen oder sogar, wie im eben gegebenen Zitat, ausdrücklich in den Hintergrund stellen. Ähnliches gilt übrigens für verschwisterte und etwa zeitgleiche ›Streitsachen‹ wie derjenigen zwischen Nicolai und Johann Michael Sailer sowie Johann Kaspar Lavater oder derjenigen um das »Bahrdt-Pasquill« Kotzebues. Wäre es möglich, so möchte ich daher abschließend fragen, dass – im Sinne einer ›List der Vernunft‹ oder einer ›invisible hand‹ – der Streit auch deshalb immer weiter getrieben wurde, weil die Regelung der Verfahrensfragen aufgrund der Explosion der Schriftmedien und der Konstituierung eines neuen öffentlichen Raumes an der Tagesordnung war? Dienten die Streitsachen der Einübung in den Umgang mit Medien? Ging es gar nicht primär um die Inhalte, sondern um die Festlegung und Durchsetzung eines Ehrenkodex für öffentliches Schreiben? War der Streit um die Sache der Aufklärung nur ein Vehikel für die Entwicklung einer ihrer vornehmsten Sachen: der mit der Schrift verbundenen Medienwelt? Es gibt wohl kein wissenschaftliches Verfahren, mittels dessen sich eine solche These in einem irgend strengeren Sinne beweisen oder widerlegen ließe. In der Zusammenschau der Vorträge aber, die innerhalb der Tagungssektion zu den ›Streitsachen‹ gehalten wurden, drängte sich der Eindruck nachgerade auf, dass Anlässe und Personen (Akteure) der Streitsachen zwar in diachroner – und gewiss auch synchroner – Hinsicht variieren, dass aber – trotz unterschiedlicher Medien- und Öffentlichkeitswelten – bestimmte konstante Strukturen in diesen ›Streitsachen‹ sich zeigen, die die Vermutung nahelegen, es ginge in ihnen doch jeweils auch um eine Art von ›update‹ auf den jeweiligen ›Stand der Produktivkräfte‹, wenn man unter letzteren einmal den Stand der Medientechnik und der mit ihr und durch sie konstituierten Öffentlichkeit versteht. Möglicherweise ließe sich hier – in diachroner Perspektive und mit Blick auf Medien und Öffentlichkeit – noch der ein oder andere Schatz (der Erkenntnis) heben.

Bernward Schmidt (Aachen) Streitsache zwischen Konfessionalismus und Aufklärung. Papsttum und päpstliches Zeremoniell

Kaum ein Etikett dürfte für das Papsttum im 18. Jahrhundert treffender sein als »Streitsache«. Als eine Art Initialzündung hierfür darf die Erklärung der »gallikanischen Freiheiten« der Assemblée générale du Clergé Gallican von 1682 in vier Thesen gelten, die der Tübinger Theologe Johann Wolfgang Jäger 1708 für das Reich adaptierte1 und die sich noch 1786 in der Synode von Pistoia spiegeln. In den Pontifikaten Clemens’ XI. (1700–1721) und Benedikts XIV. (1740–1758) war die weltliche Souveränität des Papstes im Kirchenstaat nicht nur theoretisch in Frage gestellt, sondern wurde durch die militärischen Aktionen im spanischen und österreichischen Erbfolgekrieg geradezu negiert. Hinzu kamen in der ersten Jahrhunderthälfte die lang andauernden Streitigkeiten mit den Habsburgern um die päpstlichen Besitztümer in Comacchio, Parma und Piacenza.2 Nicht nur durch den auch im 18. Jahrhundert weiterwirkenden konfessionellen Gegensatz oder die aufklärerische Religionskritik, sondern auch durch diese kirchenund machtpolitischen Ereignisse wurde das Papsttum in vielschichtiger und wahrlich grundlegender Weise in Frage gestellt – und durch die entsprechenden Reaktionen seiner Apologeten zur Streitsache. Die Fundamentalität dieser Debatten wird daran deutlich, dass sie sich mit mehr oder weniger großer Intensität auf alle »Personen« des Papstes bezogen: den Papst und Bischof der Universalkirche, den Patriarchen des Westens, den Bischof von Rom und selbstverständlich auch den weltlichen Fürsten.3 Da die Forschung dem Papsttum im 18. Jahrhundert im allgemeinen und dem Streiten um das Papsttum im besonderen bislang keine allzu große Aufmerksamkeit geschenkt hat, sind an dieser Stelle nur einige wenige Andeutungen möglich, in welche Richtungen eine systematische Untersuchung gehen könnte.4 Aus der großen 1

Vgl. Ludwig von Pastor: Geschichte der Päpste. Bd. 15. Freiburg 1930, S. 40 f. Nach wie vor unersetzt Ludwig von Pastor: Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters. Bde. 15 und 16/1–3. Freiburg i. Br. 1930–1933. 3 So die in Anschluss an Giovanni Battista de Luca vorgenommene Einteilung bei Paolo Prodi: Il sovrano pontefice. Un corpo e due anime: La monarchia papale nella prima età moderna. Bologna 1982. Prodi unterzog seine Thesen gut 20 Jahre später einer kritischen Überprüfung. Vgl. ders.: »Plures in papa considerantur personae distinctae.« Zur Entwicklung des Papsttums in der Neuzeit. In: Werte und Symbole im frühneuzeitlichen Rom, hrsg. v. Günther Wassilowsky, Hubert Wolf. Münster 2005, S. 21–35. 4 Vgl. die Forschungsüberblicke bei Claus Arnold: Die römische Zensur der Werke Cajetans und Contarinis (1558–1601). Grenzen der theologischen Konfessionalisierung. Paderborn 2008, 2

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Bandbreite der Themen kann hier lediglich ein Beispiel herausgegriffen werden; die Perspektive beschränkt sich auf die römische Seite des Streitens, mithin die Verteidiger des Papsttums, und die Quellenauswahl auf monographische Publikationen. Für eine umfassende Bearbeitung des Themas müssten darüber hinaus Beiträge in Zeitschriften, etwa den verschiedenen Periodika mit dem Titel Giornale de’Letterati, ebenso berücksichtigt werden wie die Akten der römischen Buchzensur als eine Art negativer Rezeption und zugleich Selbstvergewisserung der kurialen Elite. Thematisch könnte sich eine solche Studie an den von Paolo Prodi benannten Funktionen des frühneuzeitlichen Papsttums ausrichten und versuchen, die einzelnen Felder des Streitens entsprechend zuzuordnen bzw. Überlappungen zu benennen.5 Als eigenes und hochkomplexes Feld müsste auch die Historiographie bearbeitet werden, da die Auseinandersetzung um historische und überzeitliche Wahrheit zwar teilweise unter den Vorzeichen des Konfessionalismus weitergeführt wurde, aber sich durch die methodischen Errungenschaften des späten 17. Jahrhunderts auch neue Herausforderungen stellten.

Streitsache Papstzeremoniell Das päpstliche Zeremoniell scheint gegenüber den theologischen oder machtpolitischen Auseinandersetzungen qualitativ und quantitativ (gemessen an der Zahl der einschlägigen Publikationen) eine Streitsache zweiten Ranges zu sein.6 Doch darf nicht verkannt werden, dass sich gerade hier wie in einem Brennglas all das sammelt, was das frühneuzeitliche Papsttum ausmacht. Für jede der päpstlichen »Personen« wurde hier nicht nur die adäquate Inszenierung gesucht, vielmehr stellt sich der Vollzug des Zeremoniells als Legitimierungsleistung dar, indem der Papst als Souverän präsentiert und von den übrigen Mitwirkenden als solcher akzeptiert wird. Insofern ist das päpstliche Zeremoniell zugleich Aufführung und Herstellung bzw. Affirmation S. 47–54; Bernward Schmidt: Virtuelle Büchersäle. Lektüre und Zensur gelehrter Zeitschriften an der römischen Kurie 1665–1765. Paderborn 2009, S. 20–26; ders.: Das Concilio Romano 1725. Anspruch und Symbolik einer päpstlichen Provinzialsynode. Münster 2012 (im Druck). 5 In diesem Kontext wäre etwa an die bereits anfangs behandelte Debatte um die Buchzensur mittels des Index der verbotenen Bücher zu denken. Vgl. Bernward Schmidt: »Wie ein Hund, der den Stein beißt, weil er den Werfer nicht mehr fangen kann.« Überlegungen zu einer Rezeptionsgeschichte des Index librorum prohibitorum. In: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 28 (2009), S. 23–37. Ursula Paintner: Mio Dio! meno di questo preteso lume, e più fede – Kritik und Rechtfertigung des Index im 18. Jahrhundert. In: Inquisition und Buchzensur im Zeitalter der Aufklärung, hrsg. v. Hubert Wolf. Paderborn 2011, S. 43–65. 6 Es ist darauf hinzuweisen, dass die Liturgie – im Sinne des auf Gott hin ausgerichteten gottesdienstlichen Betens und Handelns – gerade um die Jahrhundertmitte eine eigene Streitsache war, auf die hier nicht eingegangen werden kann.

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einer bestimmten Ordnung in Kirche und Welt.7 Seit der Reformationszeit diente es daher als ein Angriffspunkt par excellence für jede Art von Papsttumskritik, vom eher burlesken Umgang mit Symbolen wie der Tiara bis hin zur ätzenden Polemik der Konvertiten Paolo Sarpi und Gregorio Leti. Reichlich Material hatten dabei immer wieder die Diarien der päpstlichen Zeremonienmeister geliefert, vor allem dasjenige Johannes Burckards, der unter dem berüchtigten Alexander VI. (1492–1503) tätig war, minutiös notierte, was am römischen Hof vorging, und auf diese Weise das Bild vom »Renaissancepapsttum« nicht unerheblich mitgeprägt hat. Die nachtridentinischen Reformen hatten neben einer möglichst weitgehenden Festschreibung des Zeremoniells auch die Reduktion der Zeremonialdiarien auf die schlichte Darstellung liturgischer und zeremonieller Handlungen gebracht. Das Zeremonialdiarium wurde damit eine äußerst langweilige Lektüre verglichen mit den wilden Zeiten Alexanders VI. und Johannes Burckards und eignete sich nicht mehr als polemische Materialsammlung.8 Dass jedoch gerade Burckard weiterhin faszinierte und Teildrucke nicht verhindert werden konnten, zeigt sich schön im Frühjahr 1703, als sich die Indexkongregation mit jenem Auszug zu befassen hatte, den Gottfried Wilhelm Leibniz als Historia arcana herausbrachte.9 Auch wenn Leibniz es nicht so intendiert haben sollte, mussten die römischen Zensoren darin einen Angriff auf das Papsttum sehen und das Werk auf den Index setzen. Nicht besser erging es jenem Diarium, das der Bologneser Kanoniker Alessandro Formagliari 1728 über die Geschichte der römischen Provinzialsynode von 1725 publizierte, an der er selbst teilgenommen hatte. In diesem Fall befanden die Zensoren der Inquisition, dem Papst und seinem Amt werde auf üble Weise Unrecht getan und verboten das Werk im Jahr seines Erscheinens. Das Bild ändert sich vollkommen um die Mitte des Jahrhunderts, als römische Autoren beginnen, allgemein zum päpstlichen Zeremoniell zu publizieren und über besondere Ereignisse wie das Konklave hinauszugehen.10 Anspruchsvolle, interes7

Grundlegend dazu Maria Antonietta Visceglia: La città rituale. Roma e le sue cerimonie in età moderna. Rom 2002. 8 Vgl. Nikolaus Staubach: »Honor Dei« oder »Bapsts Gepreng«? Die Reorganisation des Papstzeremoniells in der Renaissance. In: Rom und das Reich vor der Reformation, hrsg. v. dems. Frankfurt a. M. 2004, S. 91–136; Julia Zunckel: »Erit ergo de hac re in congregatione discutiendum.« Die Bedeutung des Zeremonialwesens im Rahmen kurialer Reformprozesse. In: Ekklesiologische Alternativen? Monarchischer Papat und Formen kollegialer Kirchenleitung, hrsg. v. Bernward Schmidt, Hubert Wolf. Münster 2012 (im Druck). 9 Vgl. Andreea Badea: Geschichte schreiben über die Renaissancepäpste. Römische Zensur und Historiographie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Inquisition und Buchzensur im Zeitalter der Aufklärung, hrsg. v. Hubert Wolf. Paderborn 2011, S. 295–320. 10 Zum Konklave vgl. Alain Tallon: Les conclaves dans l’historiographie de la contre-réforme. In: Nunc alia tempora, alii mores. Storici e storia in età postridentina, hrsg. v. Massimo Firpo. Florenz 2005, S. 25–46.

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sierte Leser mussten sich nun also weder mit Hoftraktatistik11 noch dem eher an der liturgischen Praxis interessierten (antiprotestantischen) Werk des Elsässer Pfarrers Anton Gregor Rippel,12 noch dem »ethnologischen« Blick Bernard Picards begnügen,13 sondern konnten auf sauber recherchierte Darstellungen und Quelleneditionen zugreifen. Dieser Wandel ist wohl nicht zuletzt mit der »Kulturpolitik« Benedikts XIV. zu begründen, der noch im ersten Jahr seines Pontifikats vier Akademien gründete, unter anderem eine für liturgische Fragen. Deren Referenzpunkt dafür bildeten die Werke von Giuseppe Maria Tomasi, der zu Beginn des Jahrhunderts die römische Liturgiegeschichte begründet hatte.14 Den Auftakt für unseren Kontext macht die kirchliche Gewänderkunde des Jesuiten Filippo Bonanni.15 Indem er die Gewandung verschiedener Stände der Kirche vorführt, möchte Bonanni zugleich die kirchliche Hierarchie darlegen – sowohl mit darstellendem als auch mit polemischem Interesse. Denn ecclesia militans und ecclesia triumphans, irdische und endzeitlich-himmlische Hierarchie entsprechen einander und werden in ihrer hierarchischen Struktur anhand der Gewandkultur sichtbar gemacht. Überspitzt ausgedrückt: Kein Gewand – kein Platz in der Kirche! Einen Schritt weiter ging Francesco Cancellieri, der seine Geschichte der feierlichen Krönungsumzüge der Päpste just zu dem Zeitpunkt publizierte, als das Papsttum unter Napoleon auf einem Tiefpunkt angekommen war.16 Cancellieris Werk kommt jedoch sehr seriös-wissenschaftlich daher, das Vorwort spart in schon fast unerhörter Weise an Polemik und ignoriert konsequent jede Art protestantischer oder aufklärerischer Kritik am päpstlichen Zeremoniell, wiewohl es sich doch gerade bei dieser größten Zurschaustellung geistlich-weltlicher Macht des Papstes bzw. Papsttums wahrlich angeboten hätte, auf die Sichtbarkeit der wahren Kirche mit polemischem Unterton einzugehen. Cancellieri demonstriert damit, dass eben nicht jede Publikation in Rom zu unseren Themen polemisch sein musste und führt mit seiner nüchtern-positivistischen Quellenarbeit ein Gelehrtenideal vor Augen, wie es nicht nur in

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Hier ist vor allem an den Traktat des Girolamo Lunadoro zu denken, der im 18. Jh. auch in deutscher Übersetzung verfügbar war. Vgl. Moritz Trebeljahr: Von der Corte di Roma zum Gran Teatro del Mondo. Die Relatione della Corte di Roma des Girolamo Lunadoro. In: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken (QFIAB) 87 (2007), S. 247–291. 12 Anton Gregor Rippel: Alterthumb, Ursprung und Bedeutung Aller Ceremonien, Gebräuchen und Gewohnheiten der Heiligen Catholischen Kirchen. Augsburg 1737. 13 Bernard Picard: Cérémonies et coutumes religieuses de tous les peuples du monde. 8 Bde. Amsterdam 1723–1743. 14 Vgl. Schmidt: Virtuelle Büchersäle (wie Anm. 4), S. 166–177. 15 Filippo Bonanni: La Gerarchia Ecclesiastica considerata nelle vesti sacre, e civili usate da quelli, li quali la compongono. Rom 1720. 16 Francesco Cancellieri: Storia de’ solenni Possessi de’ Sommi Pontefici […] dopo la loro Coronazione dalla Basilica Vaticana alla Lateranense. Rom 1802.

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Rom immer wieder propagiert wurde.17 Bei einem Thema scheint Cancellieri allerdings vorübergehend seine nüchtern-distanzierte Haltung aufzugeben: Die Thronbesteigung Innozenz’ X. 1644 dient ihm als Anlass, auch auf die Päpstin Johanna einzugehen. Doch nach einem kleinen Ausbruch fängt er sich wieder und referiert in Fußnoten wahrhaft Bayle’schen Ausmaßes die Geschichte der historischen Forschung und Polemik zum Thema.18 Eine der Quellen Cancellieris war das Werk des Kanonikers Giambattista Gattico, der in acht systematisch orientierten Durchgängen alles edieren wollte, was die berüchtigte Gattung der Zeremonialdiarien von etwa 1500 bis 1684 zu bestimmten Themen an Material zu bieten hatten. Der erste Band umfasst daher neben der Edition einiger normativer Quellen das Material zu Tod, Wahl und Amtseinführung von Päpsten, der zweite bietet Zeremonialquellen zu päpstlichen Reisen.19 Jedoch bricht dieser zweite Band mit Seite 208 mitten im Text einfach ab. Warum? Ganz offensichtlich ließ der (der älteren Forschung zufolge) so aufgeschlossene Papst Benedikt XIV. das Vorhaben unterbinden – dies legen zumindest eine handschriftliche Notiz im Exemplar der Vatikanischen Bibliothek und eine Mitteilung Francesco Antonio Zaccarias nahe. Dieser musste in seiner Bibliotheca ritualis bedauernd feststellen, dass Gatticos Werk im Gegensatz zu der Textauswahl des Protestanten Christian Gottfried Hoffmann äußerst selten geworden sei.20 Umso verwunderlicher wird die Unterdrückung von Gatticos Vorhaben, berücksichtigt man ein anderes Editionsunternehmen dieser Jahre, das keineswegs weniger anspruchsvoll war als dasjenige Gatticos: 1750/51 publizierte Giuseppe Catalani eine Edition der wichtigsten normativen Quelle für das Papstzeremoniell, des Kurienzeremoniales von Agostino Patrizi Piccolomini (1488).21 Catalani beließ es jedoch nicht bei einer reinen Wiedergabe des kollationierten Textes, er bot darüber hinaus einen ausführlichen liturgie- und zeremonialhistorischen Kommentar zu jedem Abschnitt Patrizis. Dabei berücksichtigte Catalani zwar die Zeremonialüberlieferung, edierte sie aber nicht wie Gattico. Dass Catalani ungehindert publizieren konnte, lag dabei nicht nur an seinen exzellenten 17

Cancellieris Werk bildet gleichwohl den römischen Gegenpart zur Zeremonialkritik bei Johann Gerhard Meuschen: Caeremonialia Electionis et Coronationis Pontificis Romani, Et Caeremoniale Episcoporum. Frankfurt a. M. 1732. 18 Cancellieri: Storia (wie Anm. 16), S. 242–263. 19 Giambattista Gattico: Acta selecta Caeremonialia Sanctae Romanae Ecclesiae. 2 Bde. Rom 1753. Weitere vorgesehene Themen waren Konsistorien und Kardinalat, Legationen von Kardinälen, die päpstliche Liturgie, Besuche weltlicher Potentaten bzw. ihrer Gesandter am römischen Hof sowie die kurialen Amtsträger: vgl. ebd., Bd. 1, S. XIII. 20 Francesco Antonio Zaccaria: Bibliotheca ritualis. Bd. 1. Rom 1776, S. 177. In Bd. 7 der Storia letteraria d’Italia (1755) hatte Zaccaria das Werk noch begrüßt. Vgl. auch Jörg Bölling: Das Papstzeremoniell der Renaissance. Texte – Musik – Performanz. Frankfurt a. M. 2006, S. 70. 21 Giuseppe Catalani: Sacrarum Caeremoniarum sive Rituum Ecclesiasticorum Sanctae Romanae Ecclesiae Libri Tres. Rom 1750–1751.

Streitsache zwischen Konfessionalismus und Aufklärung

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Beziehungen in der Kurie, sondern wohl vor allem an der Quellenart: Bei Zeremonialdiarien fürchtete man offensichtlich weitaus stärker den polemischen Missbrauch als im Fall des normativen Kurienzeremoniales – doch muss dies so lange Vermutung bleiben, wie die Akten zur Causa Gattico nicht aufgefunden sind.22 Im Unterschied zu diesem verbindet Catalani auch eindeutig formulierte Ziele mit seinem Werk: Gegen heterodoxe und »pseudokatholische« Anschauungen exemplarisch das Papsttum zu verteidigen und den Angehörigen der Kurie gleichsam ein Musterbuch für das Zeremoniell an der römischen Kurie und außerhalb zu liefern. Obwohl sie explizit formuliert wurde, scheint die streitbare Absicht bei Catalani dennoch der gelehrten Übung des Edierens und Kommentierens untergeordnet oder doch zumindest untrennbar mit ihr verwoben zu sein. Doch müssen gerade auch diese Werke im Gewand seriöser Wissenschaftlichkeit als Mittel im Streiten um das Papsttum verstanden werden, da ihre Autoren von einem klar definierten Standpunkt her ihre Darlegung vornahmen und dabei nicht zuletzt eine gegnerische Seite im Blick hatten. Eine Beschreibung des päpstlichen Zeremoniells, die nicht aus einem äußerlich»ethnologischen« Blick erfolgte, konnte so selbst nur zustimmend-mitwirkende oder ablehnende Reaktion auf die darin erhobenen Ansprüche sein.

Arbeitshypothesen und Forschungsperspektiven Angesichts des knapp bemessenen Raumes konnten hier nur Schlaglichter auf das Streiten um das Papsttum im 18. Jahrhundert geworfen und einige Quellen präsentiert werden. Weitere Forschungen zum Zeremoniell und etlichen weiteren Themenfeldern müssten folgen (z. B. ekklesiologische Debatte, territoriale Streitigkeiten und bella diplomatica, Papsttum und Jurisdiktionalismus, Historiographie). Vorläufig lassen sich jedoch einige Arbeitshypothesen aufstellen: Der Konfessionalismus ist im 18. Jh. noch keineswegs tot und immer noch ein wichtiges Movens für streitbares Schreiben, v. a. in der ersten Jahrhunderthälfte. Dabei sind das Vokabular relativ erstarrt, die Aussagen stereotyp; bestimmte Argumentationsschemata haben sich etabliert und werden ab der Jahrhundertmitte auch auf eine aufklärerische Kirchenkritik ohne konfessionellen Hintergrund angewandt.23 Dies aber erfordert auch eine genaue Kenntnis der theologischen Motive, die das Denken der Zeitgenossen prägten.

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Ironie der Geschichte: Catalani stützte sich hauptsächlich auf den 1516 gegen den Widerstand des päpstlichen Zeremoniars Paris de Grassis publizierten Druck des Cristoforo Marcello, der der protestantischen Zeremonialkritik als Grundlage gedient hatte. Vgl. Bölling: Papstzeremoniell (wie Anm. 20), S. 69. 23 Vgl. Badea: Geschichte schreiben (wie Anm. 9), S. 317.

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Die Akzente im römischen Streiten um das Papsttum verlagerten sich im Lauf des Jahrhunderts von der konfessionellen Polemik einerseits zu innerkirchlichen Debatten (einschließlich einer Spiritualisierung), andererseits zur Auseinandersetzung mit der (italienischen) Aufklärungsphilosophie, die Praxis und Staat in Mittelpunkt stellte. Paradigmatisch hierfür scheint mir das noch näher zu untersuchende Werk Francesco Antonio Zaccarias, des wohl profiliertesten kirchlichen Aufklärungskritikers in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.24 Ablesen ließe sich dieser Prozess wahrscheinlich auch an den Akten der römischen Buchzensur.25 Dem allgemeinen Autoritätsverlust des Papsttums wie auch der Wahrnehmung des Zeremoniells als leer und bedeutungslos stellen die römischen Autoren die mit Bedeutung gefüllte Symbolsprache des Papstzeremoniells entgegen und halten so an einem »vormodernen« Ideal symbolischer Akte fest. Die Medien des Streitens sind dabei sehr unterschiedlich: theologische oder historische Traktate sind ebenso zu finden wie populärwissenschaftliche Werke oder Texteditionen. Eine eigene Untersuchung lohnte wohl die Bildpropaganda, die etwa auf den Frontispizien des Index librorum prohibitorum oder mit Verbreitung von Darstellungen des Trienter Konzils betrieben wurde.26 Ein nicht zu unterschätzendes Medium im Streiten ist jedoch auch die Zensur als Kehrseite des Schreibens, und zwar sowohl hinsichtlich des zensorischen Aktes wie auch – gerade im Falle Roms – der für die Zensur erstellten Gutachten. Ein Grundproblem ist mit dem Rückgang des Lateinischen als Gelehrten- und Kuriensprache gegeben. Denn je mehr sich das Italienische durchsetzte, desto weniger wurden römische Diskurse – etwa in Zeitschriften – außerhalb Roms rezipiert. Die eigentümliche Spannung zwischen konfessioneller Polemik, Kritik an der Aufklärung und Übernahme aufklärerischer Denk- und Arbeitsmuster durch römische Intellektuelle bedarf in all ihren Facetten noch der gründlichen Untersuchung. Unsere heutigen Vorstellungen vom 18. Jahrhundert ließen sich so vielleicht teilweise korrigieren, in jedem Fall aber vervollständigen. 24

Vgl. Hans Ullmaier: s. v. Zaccaria, Francesco Antonio. In: BBKL 29 (2008), Sp. 1581–1587. Das Archiv der Kongregation für die Glaubenslehre verwahrt zudem ein Zaccaria zugeschriebenes Manuskript, das eine allgemeine Auseinandersetzung mit »der Aufklärung« enthält: ACDF SO St. St. P 5-h. 25 Vgl. Patrizia Delpiano: Il governo della lettura. Chiesa e libri nell’Italia del Settecento. Bologna 2007. 26 Roberto Panchieri: Il Concilio di Trento. storia di un’immagine. In: L’Uomo del Concilio. Il cardinale Morone tra Roma e Trento nell’età di Michelangelo, hrsg. v. dems., Roberta Primerano. Trient 2009, S. 103–149; Bernward Schmidt: La censure dans l’image – des images de la censure. L’Index des livres interdits. In: Efficacité / Efficacy, hrsg. v. Véronique Plesch u. a. (Word and Image Studies; 8), S. 227–242.

Heiko Pollmeier (New York) »Pour le bien de l’humanité«? Ein Streit für die ganze Gesellschaft: Die französische Debatte über die Blatterninokulation (1754–1774)

1. Einleitung Am Morgen des 8. Juni 1763 begaben sich der Lieutenant Général de Police Antoine de Sartine und der Procureur Général du Roi au Châtelet Jean Omer Joly de Fleury zum Parlement de Paris, um ihr Anliegen vorzutragen: die Verkündung eines temporären Verbots der Blatterninokulation. In seinem Plädoyer vor Frankreichs Oberstem Gerichtshof legte Joly de Fleury die Hintergründe dar: Eine besonders lange Pockenepidemie seit Sommer 1762, die untypisch selbst über den Winter anhielt, hatte die Pariser in Angst versetzt und war einigen Impflingen zur Last gelegt worden, die sich im Herbst zu früh wieder unters Volk gemischt hätten. Um solche potenziellen Ansteckungsquellen auszuschließen, verhängte Joly de Fleury vorübergehend ein Impfverbot. Der Arrêt bestimmte, dass diese hochinfektiöse Übertragung menschlichen Pockeneiters (zur Hervorrufung einer milden, kontrollierten Erkrankung) vorerst nur außerhalb der Stadtmauern von Paris stattfinden dürfe, und verlangte eine mehrwöchige Isolationszeit für Frischgeimpfte. Der Theologischen und der Medizinischen Fakultät der Université de Paris trug er auf, zu klären, ob im Falle des einzig bekannten Prophylaktikums gegen die Pockennot ein völliges Verbot, eingeschränkte Tolerierung oder uneingeschränkte Erlaubnis (samt Förderung) geboten seien. Dem Verbot vorausgegangen waren neun Jahre öffentlicher Streit über Nutzen und Legitimität dieses seit Jahrhunderten im Orient gängigen Eingriffs, sowie acht Jahre bescheidener Impfpraxis in Frankreich. Der öffentliche Streit, der im Folgenden als ein Stück praktizierter Aufklärung skizziert wird, zog sich noch elf Jahre hin.

2. Der französische Inokulationsstreit Dass die Blatterninokulation (oder Variolation) in Frankreich zu einem langwierigen Streitfall wurde, ist abzulesen an einer lebhaften, mehr als zwei Jahrzehnte währenden öffentlichen Debatte ab 1754,1 als drei sich ergänzende französischsprachige 1

Der Artikel beruht auf folgenden Werken des Verfassers (mit ihren ausführlichen Anmerkungen): Die französische Debatte über die Einführung der Blatterninokulation (1754–74). Dissertationsschrift, online-Publikation, UB der TU Braunschweig 2009; Le Conseil de la Raison or tenter

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Schlüsseltexte die Inokulation ins Bewusstsein der Franzosen rückten. Anstoß zur eigentlichen Debatte gab der Vortrag des Naturforschers und Mathematikers Charles-Marie de La Condamine vor der Académie Royale des Sciences zu Paris im April 1754, im gleichen Jahr als Mémoire sur l’inoculation de la petite vérole veröffentlicht. In der Aufstellung von Argumenten und Gegenargumenten nahm La Condamine, der die Inokulation als »préservatif sûr, avoué par la raison; confirmé par l’expérience; permis, autorisé même par la Religion«2 deklarierte und dies anhand einer präzisen Dokumentation der Geschichte ihrer Anwendung (nebst erster statistischer Erhebungen) unterlegte, zusammen mit der medizinischen Abhandlung L’Inoculation justifiée des Lausanner Arztes S.A.D. Tissot und dem theologischen Essai apologétique des Haager Hugenottenpriesters Charles Chais die starke Polarisierung der folgenden Debatte vorweg, welche die französische Gesellschaft heftiger als andere bewegte. In der vom wissenschaftlichen Austausch und Streit geprägten République des Lettres stellt die französische Inokulationsdebatte als Kontroverse von allgemeinem und überregionalem Interesse eine flexible, dynamische Form eines multipersonalen Dialogs von etwa 200 französischsprachigen Individuen dar, darunter literati und dilettanti, das nicht spezialisierte, kultivierte und an Wissenschaften sehr interessierte Publikum, sowie soziale Gruppen (Ärzte, Theologen, Naturwissenschaftler, Mathematiker) und Institutionen wie Universitäten, Gerichte, Akademien, Hospitäler. Auch das Königshaus selbst war involviert. Es gab in den Jahren 1754–1774 eine Flut von Aufsätzen in Zeitschriften (ca. 800) und selbständiger Veröffentlichungen (ca. 200). Inhaltlich berührte die Inokulationsdebatte Moral, Mathematik und Medizin, welche drei einigermaßen distinkte, konsekutive Debattenphasen definierten. Zu Beginn dominierte die Frage nach der prinzipiellen Legitimität des Eingriffs, die in ihren vielfältigen theologischen, moralischen, philosophischen und sozialen Implikationen diskutiert wurde (1754–59). Anschließend berechneten Mathematiker (mittels Totenstatistiken oder Wahrscheinlichkeitsrechnung) den effektiven Nutzen oder Schaden der Behandlung (1760–63). Abschließend erörterten Ärzte verstärkt die Verbesserung der Impfmethoden oder alternativ Maßnahmen der Hygiene und Quarantäne zur Ausrottung der Pocken (1764–74). Mit der Impfung Louis’ XVI. im Sommer 1774 (als Reaktion auf den Pockentod Louis’ XV.) verebbte die Debatte im eigentlichen Sinne.

Dieu? On some Objections morales in the French Debate on Smallpox Inoculation, 1754–1774. In: Intellectual News 16 (2010), S. 129–144; Streiten, bis der König fällt. Die französische Inokulationsdebatte (1754–74). In: Ordnungen des Wissens, Ordnungen des Streitens. Gelehrte Debatten des 17. und 18. Jahrhunderts in diskursgeschichtlicher Perspektive, hrsg. v. Markus Meumann. Berlin 2012 [im Druck]. 2 Charles-Marie de La Condamine: Mémoire sur l’inoculation de la petite vérole. Paris 1754, S. 2.

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3. Die Medien der Debatte Während die Impfgegner zur Verbreitung ihrer Ansichten eher auf das Buch zurückgriffen, nutzten die Befürworter das Schlüsselmedium der Aufklärung, die zeitnah berichtende und in die Breite wirkende periodische Presse. Der Streit über den Pockenschutz stellt eine der ersten im expandierenden Zeitschriftenwesen des ancien régime dokumentierten großen öffentlichen Debatten dar – abzulesen an mindestens 800 Artikeln in 17 repräsentativen gelehrten und allgemeinen Journalen. Mit ihrem erweiterten Teilnehmerkreis und ihrer Medienvielfalt ging die Impfdebatte weit über die klassische akademisch-literarische Querelle hinaus. Die im Umfeld der Encyclopédie nach 1750 entstehende Öffentlichkeit, die das Feld für kritisches Mitdenken und für aktive Meinungsäußerungen auch zu konkreten Verbesserungen der Lebensqualität öffnete, beförderte die Gründung einer Vielzahl (langlebiger) medizinischer (Journal de Médecine, de Chirurgie et de Pharmacie, ab 1755), kulturell-literarischer (Année littéraire, ab 1754), und gemischtwissenschaftlicher (Journal oeconomique, ab 1752; Journal encyclopédique, ab 1756) Periodika, die ausführlich über die Inokulation berichteten. Die konstante und breite Berichterstattung in Zeitschriften jeglicher couleur zeugt von der Aktualität der Inokulationsproblematik, die häufigen Aufrufe zur Einsendung von Beiträgen von einem brennenden Interesse am Thema. (So fehlte im ersten Jahr nach dem Impfverbot in keiner einzigen Ausgabe der Gazette littéraire de l’Europe der Inokulationsbezug.) Zeitschriften lebten von solchen Kontroversen und von publikumswirksamen Skandalen (wie 1765 die Pockenerkrankung der Duchesse de Boufflers trotz erfolgter Inokulation). Ihrerseits hielt die Berichterstattung die Debatte am Leben, die sich allerdings keinesfalls aus einzelnen Vorfällen erklären lässt. Der medizinische Diskurs ist von Anfang an und ununterbrochen vertreten, und zwar nicht nur in den medizinischen Fachzeitschriften wie dem Journal de Médecine mit ihren Fallstudien und Impfjournalen oder der kurzlebigen Gazette de Santé (1773/4) mit ihren diätetisch-praktischen Tipps zur Selbstbehandlung und Prophylaxe. Die etablierten medizinischen und gemischtwissenschaftlichen Zeitschriften (u. a. Mercure de France) sahen sich selbst als Archive und trugen alle Meldungen und Meinungen zum Thema zusammen. Parteiischer agierten wissenschaftlich-literarische Zeitschriften (insbesondere solche, die wie das Journal Britannique aus dem Ausland berichteten). Ihr Spektrum umfasste Berichte, Rezensionen, Kommentare, aber auch fait divers, Berichte über prominente Pockentodesfälle, Inokulationen gekrönter Häupter, der Besuch eines berühmten Inokulators (Tronchins Paris-Besuch war 1756 ein ausführlich behandeltes Thema), kuriose Fälle und die Einrichtung eines Impfhospizes oder die kostenlose Inokulation von Findelkindern. Unterhaltungsjournale (Journal des Dames) sprachen Frauen als eigene Lesegruppe sowie als Patientinnen an und präsentierten die Impfung zielgruppengerecht als Mittel der Schönheitswahrung.

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4. Die Akteure der Debatte Ein wesentliches Merkmal der Impfdebatte ist, dass nicht nur berühmte philosophes wie Diderot oder Voltaire, sondern viele unbekannte Autoren teilnahmen, darunter anonyme minores, deren Anteil an der Verbreitung aufklärerischen Gedankenguts in der Spätaufklärung hoch war. So finden sich unter den Debattenteilnehmern Hofärzte neben Landärzten, Ärzte neben Chirurgen, Experten neben dilettanti, Franzosen neben Ausländern. Für den Zeitraum 1754–1774 sind 200 Autoren namentlich bekannt, auch wenn ihre Biografie oft im Dunklen bleibt. Die Spannbreite reicht von Autoren mit einem Debattenbeitrag – häufig Landärzte mit konkreten Fallstudien – bis hin zu Autoren mehrbändiger Werke. Zwei Drittel der Debattenteilnehmer waren Ärzte, wovon mehr als die Hälfte den beiden führenden, rivalisierenden Medizinschulen des Landes entstammten: der eher konservativen (und in der Inokulationsfrage gespaltenen) Pariser Medizinfakultät und der eher progressiven Fakultät in Montpellier, in deren Nähe (Aix) der Gouverneur der Provence, Duc de Villars, 1760 ein Inokulationshospiz einrichtete. Jahrgang, Ausbildungsort oder Wirkungsstätte ermöglichen keine pauschale Lagerzuordnung noch Rückschluss auf die Einstellung eines Arztes zur Inokulation. So haben in Montpellier Befürworter wie Tissot (*1728) oder Théophile de Bordeu (*1722) neben Gegnern wie Jean Astruc (*1684) oder Jean-Jacques Paulet (*1740) studiert. An der Pariser Medizinfakultät lehrte mit André Cantvel (ca. 1710) ein ausgewiesener Impffeind Seite an Seite mit dem Impfbefürworter Antoine Petit (*1718). Anscheinend waren Ablehnung oder Zustimmung bei der Inokulation auch keine bloße Generationenfrage, wie die extremen Beispiele des Befürworters Jean-BaptisteNicolas Boyer (*1693) und des Gegners Paulet (*1740) zeigen. Quantitativ weniger auffällig war die Gruppe der philosophes. Dafür nutzten die Enzyklopädisten alle zur Verfügung stehenden Medien und Institutionen wie die Pariser Académie Royale des Sciences (samt deren Histoire et Mémoires) zur Propagierung der Inokulation als Symbol einer von Vernunft und vom Menschen selbst gelenkten Welt. Ebenso meldeten sich Mathematiker (wie der Basler Daniel Bernoulli) und Publizisten (wie Augustin Roux und Charles-Augustin Vandermonde vom Journal de Médecine) zu Wort. Der Klerus spielte eine geringe Rolle in der Debatte und repräsentierte keineswegs den Hauptgegner in dieser Frage; der Hugenottenpastor Chais oder der Journalist Abbé Arnaud (Gazette de France) etwa setzten sich enthusiastisch für die Impfpraxis ein. Jesuiten berichteten in ihrem den Wissenschaften und Künsten verschriebenen Journal de Trévoux schon seit 1715 positiv über die Inokulation. Die Debattenbeiträge waren nicht auf Frankreich beschränkt: Fremdsprachige Publikationen wurden ins Französische übersetzt, und die bedeutendsten Inokulisten – allesamt Nichtfranzosen (wie der Genfer Tronchin oder der Italiener Gatti) – nach Frankreich eingeladen. Umgekehrt wurden insbesondere La Condamines Werke ins

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Englische, Dänische, Deutsche, Italienische und Spanische übersetzt und regten dort die Debatten an. Französische Gelehrte (Hosti) informierten sich in England persönlich über den Stand der Inokulation. Es entstand ein internationaler Gedankenaustausch, den alle an der Sache interessierten gens de lettres nutzten.

5. Streitparteien und Netzwerke »Les adversaires de l’inoculation appellent ses partisans meurtriers, ceux-ci traitent leurs antagonistes de mauvais citoyens«, klagte Jean Le Rond d’Alembert 1760 über den »dispute polémique«.3 Gerade nach dem Impfverbot spaltete die Inokulation in der Selbstwahrnehmung der Zeitgenossen die Debattanten in unversöhnliche Lager der für ein umfassendes Impfverbot plädierenden Gegner und der für eine auflagenfreie Zulassung der Impfung eintretenden Befürworter; dies galt insbesondere für die Ärzteschaft: »Les docteurs se disputoient, les intrigues, les cabales, la mauvaise foi étoient tour-à-tour employées.«4 Tatsächlich war die Parteienbildung komplexer; bei Forderungen nach hohen Sicherheitsauflagen verschwammen die Grenzen zwischen Befürwortern und Gegnern. Auch kam es zu Lagerwechseln: Frühe Befürworter wie Cantvel wurden nach Impfunfällen zu erklärten Feinden; umgekehrt ließ der anfängliche Gegner Dr. David (Lyon) sich später von der Methode überzeugen. Die Trennlinie verlief durch alle beteiligten Berufsgruppen, Stände und Altersstufen. Mehr als ein Problem einer von den Zeitgenossen beklagten Parteibildung stellte die Inokulation eine Frage individueller Überzeugung und Gewissensentscheidung dar. Der Eindruck einer »affaire de parti« war dem wachsenden Antagonismus in der französischen Gesellschaft und in der Presse geschuldet.5 Ein Großteil der Inokulisten gehörte als Herausgeber, Mitarbeiter oder Finanziers auf nationaler wie internationaler Ebene zum weiteren Encyclopédie-Umfeld und verkehrte in den Salons eines Baron d’Holbach oder einer Madame Necker. Durch das gemeinsame Ideal der Selbstbestimmung des Menschen, der alle vorhandenen Mittel nutzt, um persönliches und gesellschaftliches Glück zu finden, entstand ein Gemeinschaftsgefühl, das sich durch Angriffe von Feinden der Aufklärung verstärkte. Gefördert wurde das Gruppengefühl auch durch internationale Korrespondentennetzwerke (etwa um La Condamine oder Tissot). Mit d’Alembert oder Jean-Jacques Rousseau fanden sich auch unter den Aufklärern Bedenkenträger, die zwar im Prinzip für das Impfen wa-

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Jean Le Rond d’Alembert: Mélanges de littératures, d’histoire et de philosophie, Bd. 5. Amsterdam 1767, S. 307. 4 Jean La Fosse: Inoculation. In: L’Encyclopédie, Supplément, hrsg. v. Jean Le Rond d’Alembert, Denis Diderot, Bd. 3. Paris 1777, S. 602. 5 Candide: Avis sur l’Inoculation. Paris 1763, S. 11.

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ren, aber die unterschiedlich gelagerten Interessen von Staat und Bürger oder die Vor- und Nachteile von Natur und Medizin stärker betonten. Demgegenüber handelte es sich bei den Gegnern vielfach um Einzelkämpfer. Unter ihnen finden sich die meisten anonymen Autoren, mit Anton van Haen allerdings auch ein Leibarzt Maria Theresias. Wenn überhaupt, gruppierten die Impfgegner sich institutionell eigentlich nur um die Pariser Faculté de Médecine, an der die prominentesten Gegner (Cantvel) unterrichteten.

6. Strategien Polemik als fester Bestandteil der frühneuzeitlichen Wissenschaft drückte sich in unterschiedlichsten Praktiken aus. Vorrangig ging es ums convaincre, um die rationale Überzeugung des Gegners. Die beteiligten Mathematiker etwa führten die objektive Beweiskraft von Totenlisten gegen vage Ängste und Vorurteile an. Ärzte versuchten zu beweisen, dass die Inokulation nicht der noch immer gültigen Säftelehre widerspreche. Innerhalb der Ärzteschaft entbrannte ein Streit zwischen für Quarantäne optierenden Kontagionisten und Isolierungsmaßnahmen ablehnenden Anti-Kontagonisten. Vielen ging es einzig ums vaincre, ums Rechthaben mit allen rhetorischen Mitteln, wobei die konkurrierenden Debattenlager auf konträre rhetorische Strategien setzten: Die Befürworter maximierten die Pockengefahr und minimierten das inhärente Inokulationsrisiko, während die Gegner diese ›Pockennot‹ bezweifelten und die Bedrohung durch endemische Infektionsherde ausmalten. Indem Ärzte wie van Haen theologisch argumentierten und Theologen wie Chais medizinisch, vermischten sich die Diskurse. Da ein medialer Schlagabtausch mit einem bekannten Kollegen Autoren half, sich einen Namen zu machen, konzentrierte die Inokulationsdebatte sich nicht selten auf einzelne Akteure, was die vielen Angriffe und Verleumdungen ad hominem (vor allem gegen La Condamine oder Gatti) erklärt, deren gängigste Formen der Plagiatsvorwurf oder die Unterstellung von Inkompetenz waren.

7. Die Blatterninokulation vor Gericht Von Impfgegnern wurde gleich zweimal prominent ein Gericht angerufen: Dies bewirkte das Impfverbot vom Juni 1763 und blockierte in der Folge die Pariser Medizinfakultät. Das Pariser Parlement hatte die Faculté de Théologie und die Faculté de Médecine in Paris zur Stellungnahme aufgefordert. In seinem Brief vom 14. Juni 1763 an den Obersten Staatsanwalt Joly de Fleury erklärte der Dekan der Sorbonne, Don Gervaise, dass seiner Meinung nach allein die Mediziner über die Inokulation zu

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befinden haben, was die Fakultätsversammlung prîma mensis im Juli bestätigte. Sein Medizinerkollege Jean-Jacques Belletête kündigte in seinem Brief die Bildung einer Kommission aus zwölf Fakultätsmitgliedern an. Die seit Ende Juni 1763 wöchentlich tagende Kommission verschickte eine Umfrage nach dem Stand der Inokulation in den jeweiligen Ländern an doctores regentes wie Van Swieten in Wien, Gaubius in Leiden oder Monro sen. in Edinburgh und Kollegen anderer Universitäten. In den folgenden zwei Jahren erhielt die Fakultät ca. 28, die Inokulation zumeist befürwortende Zuschriften. In der Fakultät kam es zu einem Patt zwischen den Impfgegnern (um Guillaume Lépine) und den Befürwortern (um Petit). Über die unterschiedliche Auslegung der Untersuchungsergebnisse spaltete sich die Kommission und legte 1765/6 zwei sich widersprechende Gutachten vor, jeweils ergänzt um einen Supplementband, deren Drucklegung sich bis 1767 hinzog. Obschon sich die Impffraktion in zwei Sitzungen im Sommer 1764 durchsetzte, vereitelten die Gegner die für ein bindendes Votum nötige dritte Sitzung. Einige Streithähne kämpften auf mehreren Fronten, wie der parallele Streit um naissances tardives (1764/5) zeigt, wobei so manche persönliche Animosität vor Gericht endete. So verlangten Impfbefürworter im November 1767 eine sofortige Entscheidung sowie die Übereignung der an die Fakultät adressierten Antwortschreiben und übermittelten eine requête judiciaire über missachtete Fakultätsstatuten ans Parlement de Paris. Während wegen solcher persönlichen Händel eine offizielle Empfehlung der Fakultät aus formalen Gründen ausblieb, setzten die Behörden mit der Inokulation aller Militärkadetten 1769 das Verbot praktisch aus. Auch auf der lokalen Ebene beschäftigten Streitfälle zwischen verfeindeten Inokulatoren die Justiz: In Besançon etwa führte der Militärarzt François Dézoteux, dem selbst großer Eifer bei der Inokulation nachgesagt wurde – er reiste 1766 nach London, um die erfolgreiche Impfmethode der Familie Sutton zu studieren – 1765 einen Pamphletkrieg mit seinem irischstämmigen, seit 1732 als Chirurg niedergelassenen Konkurrenten Edward Acton, der 1764 die Inokulation dort eingeführt hatte. Dézoteux bezichtigte Acton der Scharlatanerie und wurde von diesem wiederum vor Gericht gebracht. Hier standen, wie so oft, die finanziellen Interessen im Vordergrund – in der Franche-Comté wurden ab 1765 Masseninokulationen durchgeführt –, nicht das viel beschworene »bien de l’humanité«, denn die Inokulation war in den Händen europäischer Ärzte und Chirurgen zu einem lukrativen Geschäft geworden.6

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François Dézoteux: Lettres concernant l’inoculation. Besançon 1765, S. 4; Arrêt auf S. 2.

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8. Schluss Die französische Inokulationsdebatte war ein diskursiver und praktischer Handlungszusammenhang von Fachleuten und Laien, die durch ihre medienwirksamen Aktivitäten die Pockeninokulation nachhaltig ins öffentliche Bewusstsein Frankreichs der Zeit brachten. Ihr öffentlicher, vielstimmiger und komplexer internationaler Diskurs ist ein Paradebeispiel für die Expansion gelehrten Streitens durch die Erweiterung des Teilnehmerfeldes sowie der Diversifikation der Printmedien, bestimmt von der Schnelligkeit und Dichte der Wissenszirkulation. Charakteristisch ist, dass mehr als nur das vorgegebene Thema behandelt wurde. Da die Inokulation Leben oder Tod, Unversehrtheit oder Entstellung betraf, provozierte sie heftige Emotionen. Ein jeder musste für sich (und seine Schutzbefohlenen) Position beziehen. Trotz unversöhnlicher Fronten standen sich in der Inokulationsfrage die Lager der Aufklärung und Gegenaufklärung nicht als solche gegenüber. Bei der Frage, welche Institution die endgültige Entscheidung festlegen sollte sowie beim Impfen ging es auch um Zunftmonopole, persönliche Pfründe und verbriefte Rechte, die eifersüchtig verteidigt wurden, notfalls durch Anrufung von Gerichten. Die Zerstrittenheit unter den Fachleuten war der Impfpraxis selbst eher abträglich, denn bemerkenswerterweise wurde die Inokulation – trotz zwanzig Jahre leidenschaftlichen, öffentlichen Streits und insgesamt überwiegend positiver Berichterstattung in den Periodika – in Frankreich nicht nachhaltig praktiziert. Das Thema der Inokulation allein schon regte hier die Geister, es bedurfte nicht der tatsächlichen Praxis, die erst gegen Ende des Jahrhunderts gängig wurde mit der Entdeckung der milderen Vakzination.

Caspar Hirschi (Zürich) Men of science versus Macaronies. Die Polemik gegen die Amateur Gentlemen der Royal Society im späten 18. Jahrhundert

Die Figur des Amateur Gentleman spielt in der wissenschaftsgeschichtlichen Forschung seit der bahnbrechenden Studie Leviathan and the Air-Pump von Steven Shapin und Simon Schaffer eine Hauptrolle.1 Shapin selber hat zu ihrer ›Karriere‹ mit weiteren Büchern und Aufsätzen maßgeblich beigetragen.2 Ausgangspunkt seiner Beschäftigung mit dieser Figur waren Untersuchungen zur sozialen Organisation und publizistischen Außendarstellung der wissenschaftlichen Experimente in der Royal Society während der Wirkungszeit von Robert Boyle. Boyle, den Shapin als mustergültige Verkörperung des Amateur Gentleman betrachtete, sei es gelungen, die charakteristischen Eigenschaften, die dieser Figur in der englischen Gesellschaft zugeschrieben worden seien, für die epistemische Autorität seiner Forschungen fruchtbar zu machen. Weil der exklusive soziale Status eines Gentleman zu ehrenwertem Verhalten verpflichtet habe, sei seinem Wort höhere Glaubwürdigkeit geschenkt worden, und weil er zu pekuniären Geschäften vornehme Distanz habe wahren müssen, sei sein Interesse an den Wissenschaften für rein erkenntnisgeleitet gehalten worden. Shapin und Schaffer zufolge hatte Boyle die Autorität des Amateur Gentleman an nicht weniger als drei Stationen der experimentellen Wissensproduktion und -distribution eingesetzt:3 Erstens bei der Regie des Versuchsablaufs, die Boyle bei der ›öffentlichen‹ Demonstration von Experimenten gerne selber übernommen habe, auch wenn die Versuchsanordnung von seinem – vergleichsweise niedrig geborenen – Assistenten Robert Hooke erstellt worden sei; zweitens bei der Auswahl von wissenschaftlichen Zeugen, die vor Ort den korrekten Ablauf der Versuche und die Richtigkeit der Ergebnisse verbürgten; drittens schließlich in der publizistischen Repräsentation der experimentell gewonnenen Erkenntnisse, in der die hochstehenden Zeugen noch einmal virtuell auftraten, um gegenüber dem nichtanwesenden Ge-

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Steven Shapin, Simon Schaffer: Leviathan and the Air-Pump. Hobbes, Boyle, and the Experimental Life. Princeton 1985. 2 Steven Shapin: A Social History of Truth. Civility and Science in Eighteenth Century England. Chicago, London 1994; vgl. auch ders.: »A Scholar and a Gentleman«. The Problematic Identity of the Scientific Practitioner in Early Modern England. In: History of Science 29 (1991), S. 279–327; ders.: The Image of the Man of Science. In: The Cambridge History of Science, hrsg. v. Roy Porter, Bd. 4: Eighteenth-Century Science. Cambridge 2003, S. 159–183; ders.: The Man of Science. In: The Cambridge History of Science, hrsg. v. Katharine Park, Lorraine Daston, Bd. 3: Early Modern Science. Cambridge 2006, S. 179–191. 3 Siehe dazu Shapin, Schaffer: Leviathan, S. 55–69.

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lehrtenpublikum die Vertrauenswürdigkeit der wissenschaftlichen Tatsachenberichte zu bestätigen. Obwohl sich Shapins Erklärungsansatz weit über sein Thema, ja die Wissenschaftsgeschichte hinaus als anschlussfähig erwiesen hat, ist er auch auf vielseitige und in einigen Fällen gut begründete Kritik gestoßen.4 Zu letzterer gehören Barbara Shapiros Monographie über die Culture of Fact im frühneuzeitlichen England sowie Simone de Angelis Aufsatz über die Praxis der Zeugenschaft und des Vertrauens in der medizinischen Anatomie. Shapiro verdeutlicht in ihrer Studie, wie stark der Aufbau und Ablauf der wissenschaftlichen Experimente in der Royal Society von der frühneuzeitlichen Gerichtspraxis des englischen Common Law geprägt war. Wie beim juristischen Prozessieren sei es beim wissenschaftlichen Experimentieren darum gegangen, facts respektive matters of facts zu bestimmen, und wie im Gerichtssaal sei dieser Vorgang im Experimentiersaal über die Befragung von Zeugen abgelaufen. Bei der Auswahl von Zeugen seien die Hauptkriterien ebenfalls in vielem identisch gewesen: Verlangt worden sei eine möglichst unmittelbare Beobachtung des Geschehens, eine möglichst große Sachkompetenz und eine möglichst hohe Unbefangenheit.5 Shapiros Hauptkritik an Shapin besteht darin, dass die Standeszugehörigkeit für die Erfüllung dieser Kriterien nicht wesentlich gewesen sei, ja dass sogar Boyle bei der Auswahl seiner Zeugen wissenschaftliche Sachkenntnis stärker gewichtet habe als soziale Herkunft. Shapiro widerspricht damit nicht Shapins Grundannahme, wonach die experimentelle Wissenschaft auf eine umfassende Glaubwürdigkeitspolitik angewiesen gewesen sei; sie relativiert jedoch den Stellenwert, den Shapin den Gentlemen Practitioners beim Erfolg der experimentellen Naturphilosophie gibt.6 Mit ihrem Rückgriff auf die frühneuzeitliche Gerichtspraxis verdeutlicht sie, dass für den epistemischen Kredit von Experimenten weniger die jeweilige Person als die Institution des Zeugen entscheidend gewesen ist. Auch de Angelis bleibt in seiner jüngst vorgebrachten Kritik auf dem von Shapin ausgelegten theoretischen Boden. Sein Haupteinwand lautet, dass in der ana4

Zu den rhetorisch schärfsten und argumentativ schwächsten Kritiken gehört Mordechai Feingolds Rezension der Social History of Truth, in der er einer fundierten Diskussion mit Shapins Theorie ausweicht und ihn stattdessen in bester kennerschaftlicher Manier wegen ein paar strittiger Textinterpretationen als schlechten Wissenschaftler zu überführen versucht, dem – und hier folgt Feingold dann wieder Shapins Ansatz – seriöse scholars nicht vertrauen dürften. Mordechai Feingold: When Facts Matter, Review of: A Social History of Truth. Civility and Science in Eighteenth Century England. In: Isis 87 (1996), S. 131–139. 5 Barbara J. Shapiro: A Culture of Fact. England, 1550–1720. Ithaca, London 2000, S. 8–19. 6 »In short, the culture of fact was as much a culture of professional success as of gentle courtesy. And the realm of professional success is one of competence and expertise. In natural philosophy as in law, social status bore on credibility, but so did expertise and competence. That expertise about nature was largely generated, as it was in most areas of human endeavour, by the opportunity for observation or learning by experience« (ebd., S. 141).

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tomischen und pflanzenkundlichen Praxis bereits mehr als ein Jahrhundert vor der Durchsetzung physikalischer Experimente eine ausgeklügelte »Autoritäts- und Testimoniumslehre« etabliert worden sei, und zwar nicht nur für Erkenntnisprozesse unter Anwesenden, sondern auch für den Austausch unter Abwesenden – also jenen publizistischen Bereich, den Shapin zusammen mit Simon Schaffer als »virtuelle Zeugenschaft« (virtual witnessing) beschrieben hat.7 De Angelis legt damit einen blinden Fleck in Shapins Theorie offen – jenen der wissenschaftsimmanenten Traditionen, die Robert Boyle und die Fellows der Royal Society in ihrer experimentellen Methode weitergeführt haben. Einen Nachweis, dass die Konzipierung physikalischer Experimente unter Rückgriff auf anatomische Untersuchungsverfahren erfolgt sei, erbringt De Angelis allerdings nicht. Auch der vorliegende Aufsatz formuliert seine kritischen Reflexionen über Shapins Gentleman-These unter der Annahme, dass der Rezeptionserfolg der an der Wissensproduktion beteiligten Akteure maßgeblich davon abhängt, welche soziale Autorität und moralische Integrität ihnen zugeschrieben wird. Zugleich nimmt er aber an Shapins Theorie eine erhebliche Einschränkung vor, indem er behauptet, dass das Ansehen und die Glaubwürdigkeit eines Wissenschaftlers nur für den kurzfristigen Erfolg seiner Forschungen von Relevanz sind. Langfristig dagegen ist es viel entscheidender, ob die Methoden und Resultate der Forschungen in die nachfolgende Wissensproduktion integrierbar sind. Die hier geäußerte Kritik zielt direkt auf Shapins Darstellung des Amateur Gentleman als idealen wissenschaftlichen Glaubwürdigkeitsgaranten im 17. und 18. Jahrhundert. Sie geht über die Einwände von Shapiro insofern hinaus, als sie die »Eignung« der Figur zur Autorisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse während dieses Zeitraums in zweierlei Hinsicht in Frage stellt: Erstens hatten adlige Amateure in England eine viel dominantere Position als auf dem europäischen Kontinent, weil der institutionelle Rahmen, in den die englische Naturphilosophie eingebettet war, eher aristokratisch als bürokratisch geprägt und eher informell als formell strukturiert war. Shapins Studien zur Royal Society lassen sich entgegen seiner eigenen Überzeugung nur bedingt auf das französische Akademie- oder das deutsche Universitätssystem übertragen, in denen eine stärkere Institutionalisierung und staatliche Durchdringung andere epistemische Glaubwürdigkeitspraktiken begünstigt hat.8 7 Simone De Angelis: Sehen mit dem physischen und dem geistigen Auge. Formen des Wissens, Vertrauens und Zeigens in Texten der frühneuzeitlichen Medizin. In: Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Herbert Jaumann. Berlin, New York 2010, S. 211–253. 8 Ausführlicher zu Frankreich vgl. Caspar Hirschi: Moderne Eunuchen? Offizielle Experten im 18. und im 21. Jahrhundert. In: Wissen, maßgeschneidert. Die Geburt des Experten in der Vormoderne, hrsg. v. Frank Rexroth. München 2011, ca. 35 Seiten (im Druck); ders.: Magistrate der Öffentlichkeit. Politische Selbstdarstellung aufklärerischer Gelehrter im Gewand antiker Autoren. In: Macht Antike Politik? Politische Antiketransformationen in der Europäischen Geschichte, hrsg. v. Johannes Helmrath, Stefan Schlelein. Berlin, New York 2010, ca. 40 Seiten (im Druck).

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Zweitens hatte die Figur des Amateur Gentleman in epistemischer Hinsicht eine offene Flanke, die im Verlauf des 18. Jahrhunderts wiederholten Angriffen ausgesetzt war, gegen Ende des Jahrhunderts zu einer Neuausrichtung der Figur zwang und im 19. Jahrhundert ihr allmähliches Verschwinden von der wissenschaftlichen Bühne einleitete. Diese offene Flanke waren das Nützlichkeitspostulat und der Spezialisierungszwang, die im Verlauf des 18. Jahrhunderts über eine Disziplinierung (im Sinne von diszipliniertem Arbeiten und disziplinärer Abgrenzung) und im 19. Jahrhundert über eine Professionalisierung (im Sinne von beruflicher Anstellung und institutioneller Kasernierung) der Wissensproduzenten durchgesetzt wurden.9 Gentleman Practitioners mussten zur Instrumentalisierung von Wissen für politische und wirtschaftliche Zwecke vornehme Distanz wahren. Die praktische Anwendung ihrer Erkenntnisse hatte in der Regel da ihre Grenzen, wo sie in pekuniäre Geschäfte verwickelt, in funktionale Nähe zu Handwerkern gerückt oder in ein Dienstverhältnis zum Staat gedrängt wurden. Gleichzeitig hatten sie als Amateure das Privileg, von einem Interessengebiet zum anderen zu springen, und die Pflicht, jedes pedantische Sich-Verbeißen in einen Stoff zu vermeiden. Es war daher für sie mit beträchtlichen Risiken verbunden, sich auf ein einziges Fachgebiet, oder gar auf einen einzigen Gegenstand zu spezialisieren. Ein beliebtes Mittel, der doppelten Distanz zu Anwendungs- und Spezialwissen sprachlichen Ausdruck zu verleihen, war die Selbstbezeichnung von Amateuren als philosophers.10 Die wissenschaftliche Tätigkeit, die am besten zur Figur des Amateur Gentleman passte, war nicht, wie man aus Shapins Studien schließen könnte, die experimentelle Naturphilosophie. Diese verlangte technische Fertigkeiten im Umgang mit Apparaturen und stand damit der handwerklichen Arbeit gefährlich nahe. Nicht zuletzt deshalb wurden Bau und Bedienung der Apparaturen, also die eigentliche experimentelle Arbeit, gerne an Assistenten von bescheidener Herkunft delegiert. Ungleich angemessener erschienen Praktiken des Sammelns, Ordnens und Systematisierens, wie sie in der Botanik, Zoologie und Naturgeschichte betrieben werden konnten. Hier ließ sich Wissenschaft am leichtesten als Liebhaberei zelebrieren und in adlige Traditionen stellen, indem etwa wissenschaftliche Expeditionen in exotische Weltgegenden als globale Grand Tour inszeniert wurden. Als der junge Naturforscher und wohlhabende Gentleman Joseph Banks mit James Cook 1768 auf Weltreise ging, soll er gesagt haben: »My grand tour shall be one round the whole globe.«11 9

Siehe dazu die noch immer lesenswerten Artikel von Roy Porter: Gentlemen and Geology. The Emergence of a Scientific Career, 1660–1920. In: Historical Journal 21 (1978), S. 809–836; sowie John Lankford: Amateurs versus Professionals. The Controversy over Telescope Size in Late Victorian Science. In: Isis 72 (1981), S. 11–28. 10 Porter: Gentlemen, S. 814. 11 Zit. nach John Gascoigne: Joseph Banks and the English Enlightenment. Useful Knowledge and Polite Culture. Cambridge 1994, S. 61.

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Die Royal Society im Vergleich zu kontinentalen Akademien Anders als in Frankreich gab es in den Akademien Englands – auch in der Royal Society – weder eine staatliche Aufsicht noch staatliche Pensionen. In der Regel hatten die Gründungsmitglieder der Institution ein bescheidenes königliches Startkapital erhalten, danach mussten sie sich selber finanzieren. Dies taten sie hauptsächlich durch Zuwendungen der eigenen Fellows. In der Royal Society dominierten denn auch begüterte Amateure, wobei die Mehrheit von ihnen keine eigenen Forschungen betrieben. Sie waren aber in der Gesellschaft, die mehrere hundert Mitglieder umfasste, nicht unter sich, sondern mit nicht-adligen Fellows vereint, von denen wiederum die Mehrheit wissenschaftlich tätig war.12 Die von den meisten kontinentalen Akademien abweichenden Organisationsund Finanzierungsstrukturen hatten auch Auswirkungen auf die politischen und ökonomischen Einflussmöglichkeiten der Royal Society.13 Im Unterschied zur Pariser Académie des Sciences gelang es trotz wiederholter Anstrengungen nicht, der Gesellschaft die Vollmacht zur Patentierung von technischen Innovationen zu übertragen. Deutlich schwieriger war es zudem, durch staatliche Großaufträge aktiv in Handwerksbetrieben, Manufakturen und im öffentlichen Bauwesen zu intervenieren. Auch Pläne einer umfassenden History of Trades als Konkurrenzunternehmen zur Descriptions des arts et des métiers der Académie des Sciences gediehen nicht weit.14 Was die Zusammenarbeit mit der staatlichen Bürokratie anging, waren bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts nur die Beziehungen zum Militär und hier besonders zur Admiralty stark ausgebildet, allerdings auch in diesem Fall eher auf informeller denn auf formeller Basis. Insgesamt entsprach im 18. Jahrhundert die Pariser Académie des Sciences in vieler Hinsicht mehr dem von Francis Bacon 1627 in The New Atlantis formulierten Ideal einer staatlich protegierten und alimentierten Institution für kollaborative Forschung als die Royal Society.15 Wie sehr sich die Struktur der Royal Society in ihrer Kultur spiegelte, lässt sich anhand einer Aussage veranschaulichen, die Joseph Banks 1785, sieben Jahre nach seiner Wahl zum Präsidenten der Gesellschaft, gegenüber dem Reichsgrafen und wis-

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James McClellan III: Scientific Institutions and the Organization of Science. In: The Cambridge History of Science, hrsg. v. Roy Porter, Bd. 4: Eighteenth-Century Science. Cambridge 2003, S. 87–106, hier S. 92 f.; John Gascoigne: Science in the Service of Empire. Joseph Banks, the British State and the Uses of Science in the Age of Revolution. Cambridge 1998, S. 19. 13 Vgl. zum Folgenden auch Hirschi: Moderne Eunuchen? 14 Kathleen H. Ochs: The Royal Society of London’s History of Trades Programme. An Early Episode in Applied Science. In: Notes and Records of the Royal Society of London 39 (1985), S. 129–158, hier S. 151. 15 Francis Bacon: New Atlantis. A Work Unfinished. London 1627 (die lateinische Erstausg. unter dem Titel Nova Atlantis erschien 1624).

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senschaftlichen Dilettanten Joseph Ludwig Nikolaus von Windisch-Graetz gemacht hat. Banks stellte im Brief an seinen deutschen Korrespondenten einen Vergleich zwischen der Royal Society auf der einen und der Académie des Sciences sowie der Preußischen Akademie der Wissenschaften auf der anderen Seite an: Both of these academies appear to have been instituted in Imitation of ours as nearly as the policy of the respective governments would allow: they are associations of learned men collected together by their respective monarchs, constantly calld upon to answer such Questions as their Government think proper to put to them & held to the necessity of answering them whatever they might be by Pensions granted at the will of the Monarch. By contrast, we are a set of Free Englishmen, elected by each other & supported at our own expense without accepting any pension or other emolument which can in any point of view subject us to receive orders or directions from any department of Government be it ever so high […] we have uniformly resisted when our Government have calld upon us for decisions.16

Banks übertreibt in dieser Passage nicht nur erheblich, was die Abhängigkeit kontinentaler Akademiker von ihren Königen angeht,17 sondern er unterschlägt auch einiges, darunter seine Versuche als junger Präsident der Royal Society in den Jahren zuvor, die finanziellen und machtpolitischen Nachteile der Gesellschaft durch eine engere Anbindung an staatliche Institutionen auszugleichen. In seiner Lobbyarbeit bei Parlamentariern während jener Zeit hatte er ein etwas anderes Bild von den kontinentalen Akademien gezeichnet: »The Academies of the Nations who are our Rivals in Sciences are cherished by their respective Governments at an expense which to their Lordships may […] appear incredible.«18 Darben musste die Royal Society freilich nicht. Dank der informellen Kontakte zu Ministern, Parlamentariern und hohen Offizieren erhielten ihre Mitglieder in den Jahren nach Banks’ Wahl zum Präsidenten Staatsaufträge im Auftragsvolumen von mehreren tausend Pfund. Die britischen Akademien zeichneten sich also, anders als es Banks darstellte, gegenüber ihren französischen und deutschen Pendants nicht unbedingt durch eine größere Distanz und Unabhängigkeit vom Staat aus. Der wesentliche Unterschied bestand vielmehr im inoffiziellen Charakter ihrer Beziehung zu politischen und militärischen Entscheidungsträgern. In der Royal Society mussten die Fellows, um das Rollenspiel als Gentlemen Amateurs aufrechtzuerhalten, ihre staatliche Auftragsarbeit 16

Joseph Banks: Brief an Joseph Ludwig Nikolaus von Windisch-Graetz, 2. Juni 1785, zit. nach John Gascoigne: The Royal Society and the Emergence of Science as an Instrument of State Policy. In: The British Journal for the History of Science 32 (1999), S. 171–184, hier S. 182. 17 Zur Académie Royale des Sciences und Académie Royale d’Architecture in Paris siehe Hirschi: Moderne Eunuchen? 18 Banks, Brief an einen unbekannten Adressaten, 1781, zit. nach Gascoigne: The Royal Society, S. 183.

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als freiwilligen Dienst darstellen, und das hieß nicht nur, ihre Arbeit ohne Pensionen oder Spesenentschädigung zu erledigen, sondern auch, eine sichtbare Institutionalisierung ihrer Regierungsberatung zu verhindern. Anstatt durch offizielle Organisationsstrukturen wurde die Beziehung zwischen Akademikern und Politikern durch aristokratische Verhaltensnormen geregelt, kam doch die Mehrheit der Parlamentarier und Offiziere aus den gleichen privilegierten Kreisen wie die Naturphilosophen.

Die Gelehrtenrolle als Streitsache: Die Polemik gegen die Amateur Gentlemen 1783–1784 Die Royal Society wurde im späten 17. und 18. Jahrhundert mehrmals zum Objekt von Spott- und Streitschriften, und die Figur des adligen Virtuoso, porträtiert als dilettantischer Produzent unnützer Erkenntnisse, gehörte dabei zu den beliebtesten Zielscheiben.19 Das satirische und kritische Schrifttum stammte jedoch fast ausschließlich von Autoren, die nicht zur Gesellschaft gehörten oder die, wie im Fall von John Hill, nach anfänglicher Teilnahme an Sitzungen der Royal Society bei Ihren Bemühungen um ein Fellowship gescheitert waren.20 Ob dieser Angriffe von außen mussten sich die Amateur Gentleman kaum beunruhigt fühlen, ja, in gewisser Hinsicht konnten sie die Schriften sogar als indirekte Bestätigung für die hohe Autorität verstehen, die ihnen von der gebildeten Öffentlichkeit in wissenschaftlichen Belangen attestiert wurde. Eine ganz andere Dimension nahm die Infragestellung ihres Status an, als zwischen 1783 und 1784 wissenschaftliche Praktiker im Innern der Royal Society die Kritik von außen aufgriffen, verschärften und gezielt in die Medien trugen. Im Mittelpunkt dieser Kritik stand Joseph Banks, den man nicht nur als Verkörperung des Amateur Gentleman, sondern auch als Verantwortlichen für die Vorherrschaft dieser privilegierten Gruppe in der Royal Society betrachtete. Die Anführer der Angriffe auf Banks kamen aus dem wissenschaftlich aktiven Teil der Royal Society und waren Vertreter der mathematischen und physikalischen Wissenschaften, deren Rang sie 19

Siehe etwa, um nur eine kleine Auswahl zu geben, Samuel Butler: The Elephant on the Moon. In: Ders.: The Genuine Remains of Verse and Prose of Mr. Samuel Butler. Bd. 1. London 1759, S. 1–56; Samuel Johnson: The Rambler, Numb. 83, Tuesday, Jan. 1, 1751; William King: The Transactioneer, With Some of his Philosophical Fancies (1700). In: Ders.: The Original Works of William King. Bd. 2. London 1776, S. 1–178; Thomas Shadwell: The Virtuoso. London 1676; Jonathan Swift: Travels into Several Remote Nations of the World. By Capt. Lemuel Gulliver. London 1727, part III. 20 John Hill: A Review of the Works of the Royal Society of London: Containing Animadversions on such of the Papers as Deserve Particular Observation. London 1751; zu Hill siehe Kevin J. Fraser: John Hill and the Royal Society in the Eighteenth Century. In: Notes and Records of the Royal Society of London 48 (1994), S. 43–67.

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wegen Banks Vorlieben für botanische und naturgeschichtliche Studien als bedroht wahrnahmen. Insgesamt vermengten sich im Protest gegen Banks mindestens drei verschiedene Motive: Empörung über die zunehmende Machtfülle von Banks und seiner Entourage im Council der Royal Society, Unmut über die Dominanz wissenschaftlich inaktiver Aristokraten in der gesamten Körperschaft und Sorge um die Zurückdrängung der traditionsreichen mathematischen Fächer unter den wissenschaftlich aktiven Mitgliedern.

Abb. 1: Matthew Darly: A Macaroni Print Shop, London 1772, © by the Trustees of the British Museum

Als sich die lange angestauten Spannungen 1783 wegen der von Banks betriebenen Entlassung des Mathematikprofessors Charles Hutton als Foreign Secretary der Royal Society entluden, berichtete Charles Blagden, Banks’ rechte Hand in diesem Konflikt, die Gegner des Präsidenten sprächen von einem »struggle of the men of science against the Macaronies of the Society«, wobei sie für Banks und seine Freunde »the latter title« reserviert hätten.21 Es war nicht das erste Mal, dass sich Banks als Macaroni betitelt sah. Die italienische Nudel diente seit den 1760er Jahren als wenig schmeichelhaftes Etikett für vornehme Engländer, die sich auf der Grand Tour zu italianisierten Gecken gewandelt hätten und, zurück im Mutterland, mit modischem Firlefanz, extravaganten Attitüden und eitel-nutzlosen Liebhabereien auffielen. 21

Gascoigne: Joseph Banks, S. 62.

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Zwischen 1771 und 1773 hatte der Drucker Matthew Darly im noblen West End von London eine mehrbändige Reihe von Portraits publiziert, auf denen bekannte Persönlichkeiten als Macaronies karikiert wurden (Abb. 1). Unter diesen fand sich auch eine Darstellung von Joseph Banks, die sich, was den Kleidungsstil des Naturforschers betraf, offenbar beträchtliche Freiheiten erlaubte (Abb. 2). Die Karikatur spielt mit den beiden Erdhalbkugeln auf die Weltumsegelung von Banks mit James Cook in den Jahren 1768 bis 1771 an. Banks’ angebliche modische Extravaganz ist durch die grellen Farben der Kleider, das Schwert, die Pfauenfeder am Hut sowie durch die Bagwig (eine Seidenperücke, in der die Haare Abb. 2: Matthew Darly: The Fly Catching Macaroni in eine auf den Rücken fallende (Joseph Banks), London 1772, © by the Trustees of the British Museum Tasche gepackt sind) hervorgehoben. Die Eselsohren, die Banks neben dem Hut aus dem Kopf wachsen, sind eine Anspielung auf Nick Bottom, den ebenso großen wie lächerlichen Naturliebhaber aus Shakespeare’s Midsummer Night’s Dream.22 Im Macaroni-Titel, der Banks und den Gentlemen Amateurs 1783 von ihren Kritikern innerhalb der Royal Society verpasst wurde, schwang vom spielerischen Spott der Karikatur von 1772 nichts mehr mit. Samuel Horsley, der Herausgeber von Newtons Werken und Anführer des Widerstands, fällte über Banks das vernichtende Urteil: »Science had never been more signally insulted than by the elevation of a mere amateur to occupy the chair once filled by Newton.«23

22

Amelia Faye Rauser: Caricature Unmasked. Irony, Authenticity, and Individualism in Eighteenth-Century English Prints. Newark 2008, S. 73. 23 Anonymus: The Right Hon. Sir Joseph Banks, K.B. In: The Annual Biography and Obituary for the Year 1821. Bd. 5. London 1821, S. 97–120, hier S. 104.

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Weil Horsley und seine Anhänger in der Royal Society für ihre Anliegen keine Mehrheit fanden, suchten sie den Weg an die Öffentlichkeit. 1784 erschien in der London Review ein Authentic Narrative of the Dissentions and Debates in the Royal Society, der in aller Entschiedenheit für Banks’ Gegner Partei ergriff und mehrere ihrer Reden ausführlich zitierte.24 Als Autor des anonym erschienen Artikels gilt Paul Maty, der seit 1771 Fellow der Royal Society war und zum Zeitpunkt des Konflikts als Sekretär der Gesellschaft amtete.25 Der genaue Ablauf der Debatte soll hier nicht rekonstruiert werden; es genügt der Hinweis, dass diejenigen, die im Bericht von Maty argumentativ Oberwasser erhalten, die Auseinandersetzung politisch verloren haben. Banks wurde nach der stellenweise tumultartigen Debatte mit der großen Mehrheit von 119 zu 42 Stimmen im Amt bestätigt. Im Folgenden soll es darum gehen, was Banks gemäß der veröffentlichten Darstellung in der London Review während der Debatte von seinen Gegnern zu hören bekommen hat – oder hätte bekommen sollen. Horsley behauptete in seiner Rede, er spreche für die »majority of the Scientific part of this society; of those who do its scientific business«. Dem Präsidenten drohte er: »Sir, when the hour of recession comes, the President will be left with his train of feeble Amateurs.« Banks’ Präsidentenstab – die Insignie wurde von Horsley als »the toy upon your table« bezeichnet – stehe dann für den »ghost of that Society in which Philosophy once reigned and Newton presided as her minister«.26 Noch ausführlicher griff der Mathematiker James Glenie Banks’ Personalpolitik an. Sie bestehe darin, so sein Vorwurf, wissenschaftlich unbedarfte Amateure auf Kosten seriöser Forscher in die Royal Society aufzunehmen. Seine Rede wurde jedoch unterbrochen, und so konnte der Berichterstatter nur nachtragen, was Glenie hätte sagen wollen, aber nicht mehr sagen konnte. Dazu gehörte eine Liste von rhetorischen Fragen, mit denen der Redner zu einer Antwort auf die eigentliche Frage gelangen wollte, wie die Royal Society ihre »Freiheit, Unabhängigkeit, Ehre, Reputation und Würde« erhalten könne: Is it by the catalogue of its members? Is it by the list of wealthy, or even noble names, that are to be found in it? [Hier soll dann die Unterbrechung der Rede erfolgt sein.] Is it by the authority of the President and an over-ruling indecent interference in the 24 Anonymous (Paul Maty): An Authentic Narrative of the Dissentions and Debates in the Royal Society: Containing the Speeches at large of Dr. Horsley, Dr. Maskelyne, Mr. Maseres, Mr. Poore, Mr. Glenie, Mr. Watson, and Mr. Maty. In: The European Magazine and London Review 5 (1784), S. 265–271. 25 Christa Jungnickel, Russel McCormmach: Cavendish. The Experimental Life. Lewisburg PA 1999, S. 343 ff. 26 Der Berichterstatter kommentierte Horsleys Rede mit den Worten: »Dr. Horsley has integrity, abilities, and great powers of eloquence and satire.« Anonymous: An Authentic Narrative, S. 268.

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election of candidates? Is it by the formation of a council incapable of examining or even perusing the various papers on mathematical, mechanical, astronomical, optical, and chemical subjects, &c. that may come before them? Is it by the expenditure of money intended for the encouragement of science on useless pompous show and decorations?27

Glenies Antwort auf diese Fragen lautete nicht ganz überraschend: »Clearly not«. Der einzige gangbare Weg zu alter Größe führe über »the cultivation and improvement of those sciences, which first brought this Society into credit and repute, which first made Englishmen boast of it, and foreigners admire it«. Die Vertreter dieser Wissenschaften (gemeint waren weiterhin Mathematik, Physik und Chemie) würden jedoch unter Banks’ Regie »discountenanced, oppressed, discouraged«. Glenies – im doppelten Wortsinne – ungehaltener Vortrag schloss mit der Warnung: If they [die besagten Wissenschaften, nicht ihre Vertreter] are to be discouraged and totally renounced for fashionable pursuits and trifles, the reputation of this Society must become as changeable and transitory as fashion itself – Then this house, instead of being the resort of philosophers, will become a cabinet of trifling curiosities, and degenerate into a virtuoso’s closet decorated with plants and shells.28

Schärfer als in dieser Passage hätte man die Figur des Wissenschaftlers wohl kaum von jener des adligen Amateurs absetzen können. Stand der Begriff des philosophers für die spezialisierten Vertreter der mathematischen und experimentellen Wissenschaften, die sich die Forschung zum Hauptlebensinhalt gemacht hatten, so repräsentierte jener des virtuoso die noblen oder versnobten Hobby-Sammler von naturkundlichen Kuriositäten, die Wissenschaft als modischen Zeitvertreib betrieben. Für den Berichterstatter Maty waren Glenies polemische Worte offenbar nicht stark genug, denn er fügte seiner Rekapitulation der Debatte einen eigenen Kommentar im Namen aller Kritiker innerhalb der Royal Society an. In diesem hielt er fest: We regret that the vanity of the President, and the noble and rich Amateurs who support him should bend all their efforts, not to objects of science, but to trifling curiosities, and to matters of form, order and decorum. These men seem to be actuated not by the noble pride of science, but by the mean vanity of keeping what is called good company. Hence, as is abundantly proved in the Narrative before us, they have excluded from their fellowship men who deserve well of the Republic of Letters, and endeavour to convert the Royal Society into a place of rendezvous, into a drum or route for the virtuosi of men of rank and fashion.29 27 28 29

Ebd. Ebd. Ebd., S. 269.

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Matys dichotomisierende Darstellung nahm für die Gentlemen Amateurs in der Royal Society bedrohliche Züge an, auch wenn diese den Machtkampf innerhalb der Gesellschaft bereits für sich entschieden hatten. Was hier von den Anhängern Horsleys unternommen wurde, war nämlich der Versuch, die epistemische Autorität, die hochstehenden Dilettanten aufgrund lange etablierter Konventionen attestiert wurde, in ihrem ideologischen Fundament zu erschüttern: Aus Unvoreingenommenheit wurde Unwissen, aus Unabhängigkeit Gleichgültigkeit, aus adliger Tugendhaftigkeit dekadenter Dünkel und aus spielerisch-zweckfreier Neugier modisch-nutzloser Firlefanz. Die Gegner von Banks hatten gut erkannt, dass die Figur des Gentleman Amateur leichter angreifbar wurde, wenn sich ein Verständnis von Wissenschaft als hochspezialisierte und zeitintensive Tätigkeit durchsetzte, die einer systematischen Ausbildung und einer lebensfüllenden Ausübung bedurfte. Zwar gab es durchaus Amateur Gentleman, die dieses Verständnis verinnerlicht hatten (nicht zuletzt dank asketischer Vorbilder wie Robert Boyle), aber sie konnten es in der ihnen zugeschriebenen Rolle kaum zum Ausdruck bringen. Darin bestand ihr Legitimationsproblem.

Amateurendämmerung? Ausblick und Schluss Die Kontroverse in der Royal Society von 1783/84 könnte leicht den Eindruck erwecken, dass hier eine dem Untergang geweihte Spezies von unproduktiven Privilegierten ein letztes Gefecht gegen die schöpferischen Kräfte des Fortschritts gewonnen habe. Damit jedoch würde man Horsley und seinen Mitstreitern zuviel Ehre erweisen und zugleich die Innovations- und Anpassungsfähigkeit von Banks und seinen Anhängern unterschlagen. Abschließend soll daher anhand der Betrachtung zweier weiterer Aspekte eine differenzierte historische Einbettung der Kontroverse vorgenommen werden. Der erste Aspekt ist, dass in diesem Disput die Verfechter einer »moderneren« Wissenschaftlerrolle nicht unbedingt für eine »avantgardistischere« Wissenschaft standen. Im Gegenteil, in ihrer Ablehnung der Botanik und Zoologie vertraten Horsleys Anhänger ein traditionalistischeres und heteronomeres Wissenschaftsverständnis als die Gentlemen Amateurs im Umkreis von Joseph Banks. Ausdruck davon ist unter anderem die wohl 1785 anonym erschienene Philosophical Puppet Show, mit der die öffentlichen Diffamierungsversuche eine satirische Wendung nahmen.30 Dem Präsidenten der Royal Society wird auf dem Frontispiz die Narrenkappe aufgesetzt (Abb. 3). Als »Shallow Banks« und »Naturalist«31 betitelt, thront er auf einem dop30

Simon Snip (Pseudonym): The Philosophical Puppet Show, or, Snip’s Inauguration to the President’s Chair. London 1785(?). 31 »Natural« hat hier die – umgangssprachlich geläufige – Bedeutung von »half-witted«, also

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pelten Sockel, in den die Wörter »ignorance«, »arrogance« und »pride« eingraviert sind. Um ihn herum gruppieren sich die adligen virtuosi, beschäftigt mit dem Studium exotischer Kuriositäten oder der Lektüre lächerlicher Texte. Das aufschlussreichste Objekt ist jedoch die große Tropenmuschel, die Banks selber durch die Lupe inspiziert. Ihre phallische Gestalt spielt wohl nicht nur auf die öffentlich ausgebreiteten sexuellen Abenteuer von Banks mit tahitischen Frauen während der Endeavour-Expedition an, sondern auch auf die »Sexualisierung« der Natur in der zeitgenössischen Zoologie und Botanik. Während sich etwa Linnés Lehre bei Banks und seinen botanisierenden Amateuren höchster Beliebtheit er- Abb. 3: Frontispitz der Philosophical Puppet Show, freute, stieß sie bei seinen Gegnern London 1785(?), © by Cambridge University Library wegen ihrer angeblichen Obszönität auf scharfe Ablehnung. Die selbst ernannten men of science bekämpften hier also einen wissenschaftlichen »Modernisierungssprung« mit moralischen und religiösen Einwänden. Der zweite Aspekt ist, dass Banks und die Gentlemen Amateurs auch nach der Kontroverse von 1783/84 in der Lage waren, den ideologischen Widerspruch zwischen ihrer Wissenschaftlerrolle und ihrer wissenschaftlichen Praxis erfolgreich zu überbrücken. Sie nahmen weiterhin für sich in Anspruch, ihre wissenschaftliche Agenda unabhängig von den Interessen politischer Behörden und wirtschaftlicher Unternehmen zu setzen. Ihre epistemische Autorität ruhte nach wie vor auf den beiden Pfeilern einer höheren Unbefangenheit kraft ihres Rentnerstatus und einer höheren Wahrheitsverpflichtung kraft ihrer Standesehre. Zugleich intensivierte Banks während seiner noch mehr als drei Jahrzehnte währenden Präsidentschaft die Kooperation der Royal Society mit staatlichen Institutionen, wobei die Admiralty und das Board of halbschlau; dazu und zum Folgenden siehe Noah Heringman: Natural History in the Romantic Period. In: A Concise Companion to the Romantic Age, hrsg. v. John P. Klancher. Chichester 2009, S. 141–167, hier S. 148 f.; zu dieser und anderen bildlichen Darstellungen von Banks als Präsident der Royal Society siehe Patricia Fara: The Royal Society’s Portrait of Joseph Banks. In: Notes and Records of the Royal Society of London 51 (1997), S. 199–210, hier S. 201 f.

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Ordnance unvermindert zu den wichtigsten Auftraggebern gehörten. Die Informalität dieser Kooperation drückte sich darin aus, dass viele Meetings zwischen Ministern, Militärs und Wissenschaftlern in geselligem Rahmen in Banks’ Londoner Haus stattfanden. Und da auch die staatliche Politik ein Geschäft von Gentlemen blieb, begegneten sich zu solchen Anlässen Männer mit einem ähnlich privilegierten Hintergrund, die ein gemeinsames Interesse an der Wahrung ihrer Standesvorteile hatten. Betrachtet man die Kontroverse von 1783/84 mit Blick auf die britische Geschichte des 19. Jahrhunderts, so kann ihr hinsichtlich der wissenschaftlichen Praxis keine einschneidende Wirkung zugeschrieben werden. Innerhalb wie außerhalb der Royal Society wurde die naturwissenschaftliche Forschung trotz fortschreitender Disziplinenbildung maßgeblich von Amateur Gentlemen bestimmt. Man denke nur an die herausragende Stellung von John Herschel in der Astronomie oder von Charles Darwin in der Naturgeschichte.32 Die Bedeutung von vermögenden Privatiers in der Forschungspraxis schwand erst mit dem wissenschaftlichen Professionalisierungsschub in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als sich Großbritannien verstärkt am überlegenen deutschen Wissenschaftssystem auszurichten begann und sich die britischen Universitäten in der Folge zu den zentralen Forschungsstätten mauserten.33 Nun konnten nur noch wenige Amateure mit den finanziellen Ressourcen, institutionellen Mitteln und spezialisierten Arbeitsformen mithalten, die universitären Wissenschaftlern zur Verfügung standen. Und mit der Zeit ersetzte der universitäre Titelbesitz die Glaubwürdigkeitsfunktion des adligen Landbesitzes. In ideologischer Hinsicht jedoch kann man die Kontroverse von 1783/84 durchaus als Anfang einer Amateurendämmerung in der britischen Wissenschaftskultur sehen. Anders als den Amateur Gentlemen des 17. und 18. Jahrhunderts war es nämlich ihren Nachfolgern im 19. Jahrhundert nur noch bedingt vergönnt, aus ihrem privilegierten sozialen Status eine privilegierte epistemische Autorität herauszuschlagen. Der Titel eines Gentleman ließ sich immer weniger als Pfand für wissenschaftliche Anerkennung einsetzen, und der Ruf eines Amateurs konnte sogar zur Belastung werden. Hier hatte die polemische Unterscheidung zwischen men of science und Macaronies ihre Spuren hinterlassen. Die öffentlichen Angriffe auf Banks und seine vornehmen Anhänger waren zwar kaum die Ursache für den schleichenden Ansehensverlust von »unprofessionellen« Wissenschaftlern, sie läuteten ihn aber weithin hörbar ein.

32

Einen ähnlichen Befund für die britische Geologie bietet Porter: Gentlemen, S. 817 f.; zur erfolgreichen Anpassung von Amateuren an die professionalisierte Astronomie bis ins späte 19. Jahrhundert siehe Lankford: Amateurs, S. 11 f. 33 Siehe etwa John Lankfort: Amateurs and Astrophysics: A Neglected Aspect in the Development of a Scientific Specialty. In: Social Studies of Science 11 (1981), S. 275–303.

Annette Meyer (München) Die Sache der Allgemeinverständlichkeit. Vom Desiderat zum Makel der Aufklärung

I. Weder die Erkenntnisform des ›Common Sense‹ der schottischen noch die des ›bon sens‹ der französischen Aufklärung haben in der deutschen Philosophiegeschichtsschreibung ein klares Pendant finden können. Dennoch wäre es verfehlt zu glauben, die Sache der Allgemeinverständlichkeit sei kein Thema in der deutschen Philosophie des 18. Jahrhunderts gewesen. Die zentralen Maximen der angelsächsischen und französischen Aufklärung, die sich hinter diesen Termini verbergen, nämlich eine allgemeinverständliche, erfahrungs- und praxisbezogene, dem gesunden Menschenverstand zugängliche Philosophie zu entwickeln, war ebenso Desiderat der deutschen wie der anderen europäischen Aufklärungsbewegungen. Dennoch fristen die Vertreter dieser philosophischen Richtung in Deutschland immer noch ein Dasein am Rande des philosophiehistorischen Interesses. Bis heute werden sie unter der immer wieder bemängelten und dennoch nie ersetzten Bezeichnung »Popularphilosophie« versammelt, die auf Kriterien der Kritiker dieser Denkrichtung rekurriert.1 Dieses Schattendasein verdankt sich einer der vehementesten Fehden innerhalb der deutschen Geistesgeschichte, aus der nicht nur eine Partei als klarer Sieger hervorging. Die überlegene Seite verstand es zudem, die unterlegene Gruppierung für die folgenden Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, in einer Weise zu diskreditieren, die es bis heute erforderlich macht, zumindest in Fachkreisen zu erläutern, wieso man sich in diese philosophiegeschichtliche Sackgasse begibt.2 Entsprechend findet in neueren philosophiehistorischen Darstellungen das Zeitalter der Aufklärung nur als »Philosophie vor Kant« Interesse.3 Damit wird das alte Verdikt fortgeschrieben, dass die

1

Helmut Holzhey: s. v. Popularphilosophie. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Bd. 7. Basel 1989, Sp. 1093–1100, hier Sp. 1094. 2 Seit den wichtigen Impulsen zur Erforschung der deutschen Popularphilosophie durch die Arbeiten von Helmut Holzhey, Walter Ch. Zimmerli und Werner Schneiders in den ausgehenden 1970er und frühen 1980er Jahren ist eine nähere Bearbeitung des Forschungsfeldes bis auf punktuelle Studien weitgehend ausgeblieben. Einen systematischen Überblick bietet Jan Rachold, der allerdings die Texte als Ferment des Illuminatismus untersucht. Ders.: Die aufklärerische Vernunft im Spannungsfeld zwischen rationalistisch-metaphysischer und politisch-sozialer Deutung. Eine Studie zur Philosophie der deutschen Aufklärung. Frankfurt a. M. 1999. 3 Wolfgang Röd: Der Weg der Philosophie, Bd. II: 17. bis 20. Jahrhundert. München 22009, S. 110 ff.

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2. Sektion · Annette Meyer

deutsche Philosophie zwischen Leibniz und Kant eigentlich nichts Nennenswertes hervorgebracht habe: »Had Kant not lived, German philosophy between the death of Leibniz in 1716 and the end of the eighteenth century would have little interest for us, and would remain largely unknown.«4. Ob der Diskurs allerdings in dieser Weise durch den Höhenkamm segmentiert werden sollte, wird selbst für die Einordnung Kants in die Philosophie der Spätaufklärung von der jüngeren Forschung infrage gestellt.5

II. Anders als in den Nachbarländern schien die Szenerie der deutschen Spätaufklärung zunächst wenig Potential für Differenzen und klare Parteiungen aufzuweisen. Ganz im Gegenteil. Die deutschsprachige Aufklärungsbewegung lässt sich als eine relativ homogene Gruppe von Gelehrten beschreiben; das betrifft ebenso ihre soziale Zusammensetzung wie ihr intellektuelles Portfolio. Im Vordergrund stand die Frage, auf welche Weise die Maximen der Aufklärung in eine verständliche Sprache übersetzt werden könnten. Orientierung fand eine ganze Generation deutscher Denker dabei in Werken der englisch-schottischen Aufklärung, und es ist bemerkenswert, wie viele ihrer Vertreter als Übersetzer und Herausgeber tätig waren. Durch Anleihen bei den angelsächsischen Vorbildern sollte eine neue Sprache für die Philosophie gefunden werden, was Autoren wie Christian Garve dazu bewog, als Übersetzer von Werken Adam Fergusons, Adam Smiths oder Henry Homes’ hervorzutreten.6 Andere Spätaufklärer trugen zur Popularisierung der schottischen Werke durch Vorreden und Kommentare bei, wie die Göttinger Philosophieprofessoren Johann Georg Feder, Christoph Meiners und Michael Hißmann.7 Als zentrale Schrift kann in diesem Zusammenhang die Veröffentlichung der ersten deutschen Übersetzung von David Humes Enquiry Concerning Human Understanding durch Johann Georg Sulzer gelten. Sulzer gab die Schrift 1755 sicherlich nicht ohne Bedacht anonym in einer Kompilation verschiedener Schriften Humes heraus.8 Was Sulzer vor allem an Hume bewunderte, war die radikale Zuspitzung 4 Lewis White Beck: From Leibniz to Kant. In: The Age of Idealism, hrsg. v. Robert C. Solomon, Kathleen Marie Higgins. London, New York 1993, S. 5–39, hier S. 5. 5 Manfred Kühn: Kant. Eine Biographie. München 2003, S. 37. 6 Fania Oz-Salzberger: Translating the Enlightenment. Scottish Civic Discourse in EighteenthCentury Germany. Oxford 1995. 7 Annette Meyer: Von der Wahrheit zur Wahrscheinlichkeit. Die Wissenschaft vom Menschen in der schottischen und deutschen Aufklärung. Tübingen 2008, S. 211 ff. 8 Günter Gawlick, Lothar Kreimendahl: Hume in der deutschen Aufklärung. Umrisse einer Rezeptionsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, S. 20.

Die Sache der Allgemeinverständlichkeit

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der Frage, ob die Philosophie tatsächlich mit dem Anspruch auf Erkenntnisgewissheit auftreten dürfe: »Es wäre also kein geringer Vortheil für die Philosophie, wenn jedem Weltweisen in seine Untersuchungen ein Zweifler an die Seite gesetzt würde, der ihn immer beym Aermel zöge, so oft er die Gewißheit einer Sache behauptet, gegen welche noch wichtige Zweifel übrig sind.«9 Hume galt Sulzer als Mahner an die Grenzen der philosophischen Einsicht und an ihre Selbstbescheidung. Neben dieser Funktion könne Humes Werk dazu dienen, die »müßige Ruhe« der deutschen Philosophen aufzurütteln und ihnen dabei eine Lektion im Bemühen um Allgemeinverständlichkeit zu erteilen: »Die Philosophie ist eine Wissenschaft für jeden Menschen, und muß auf eine Art vorgetragen werden, die jedem Leser deutlich und angenehm ist.«10 Neben der Darstellung war es die Art und Weise, auf welche Hume sich die Welt aneignete, die Sulzer mustergültig war. Diese bestand in sorgfältiger Beobachtung und zeitigte letztlich die gleichen, vielleicht etwas unsichereren, Ergebnisse wie der förmliche Beweis. Eine Einschränkung, die um den Preis, »die Philosophie dem größern Theile der Menschen angenehm, einleuchtend und nützlich« zu machen, hingenommen werden könne. Denn der Erfolg empirischer Erkenntnis aus Vernunftgründen sei aufgrund der achtenswerten Resultate solcherart verfahrender Wissenschaften unbestritten.11 Sulzer wollte durch seine Empfehlung der beobachtungsgeleiteten Erkenntnis keinen Königsweg entwerfen. Er wählte vielmehr einen diplomatischen Mittelweg, indem er reine Logik und Metaphysik den »erfahrnen Philosophen« überlassen wollte und zumindest der praktischen Philosophie den aus der Naturkunde erprobten Erkenntnisvorgang Humes empfahl. Sein Plädoyer für die Verständlichkeit und damit die Vermittelbarkeit an breitere Leserschichten war verbunden mit einer Parteinahme für eine empirisch fundierte Philosophie, die anzuwerben offenbar noch den Schild der Anonymität erforderte. Auf dieses Panier waren die Grundsätze einer positiv formulierten ›Popularphilosophie‹ avant la lettre geschrieben: Der Rückzug von der Wahrheit um den Preis der Ungewissheit erfahrungsgebundener Erkenntnis, die Nützlichkeit dieser Erkenntnis für eine außerhalb der Gelehrtenwelt bestehende Öffentlichkeit und die Gleichsetzung dieser Öffentlichkeit mit einer ethisch-politischen Wertegemeinschaft. Diese über ihre Werte aufzuklären, sollte schließlich die Aufgabe verstehbar vermittelter Wissenschaften sein. Angeregt von Sulzer unternahm der Kieler Philosophieprofessor Johann Nikolaus Tetens in seinem Hauptwerk Philosophische Versuche über die menschliche Natur und

9

[Johann Georg Sulzer] Anonym: Vorrede des Herausgebers. In: David Hume: Philosophische Versuche. Nach der zweyten vermehrten Ausgabe aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen des Herausgebers begleitet. Hamburg, Leipzig 1755, [unpag. a 3]. 10 [Sulzer]: Vorrede, [unpag.]. 11 [Sulzer]: Vorrede, [unpag. b].

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2. Sektion · Annette Meyer

ihre Entwickelung (1777) den Versuch, die empirische mit der rationalen Erkenntnisweise zu versöhnen.12 Seine Impulse zur erfahrungsgeleiteten Erkenntnis hatte Tetens von Locke und Hume erhalten.13 Allerdings stand Tetens Humes Vorstellung eines rein konstruktiven Vorgangs bei der Assoziation von Ideen und der Herstellung von Kausalitäten kritisch gegenüber.14 Er vertrat vielmehr die Ansicht, dass die Verbindung der Ideen aus einer »nothwendigen Wirkungsart des Verstandes« entspringen müsse.15 Tetens bezeichnete im Gefolge von Locke seine Methode als »beobachtend« und grenzte sich dabei von der »anthropologischen« oder »analytischen Methode« ab, worunter er den physiologischen Ansatz zur Lösung des Leib-SeeleProblems verstand. Die Entschlüsselung der Seelenveränderungen liege außerhalb der Grenzen der Beobachtung.16 Und auch die bislang ermittelten sicheren Erkenntnisse über den menschlichen Verstand beruhten auf reinen Hypothesen.17 Dennoch teilte Tetens Humes Auffassung, dass eine neue Wissenschaft vom Menschen nur auf einem theoriegeleiteten Empirismus fußen könne: »Gleichwohl ist der Hang der Forscher, mit Vermuthungen da durchzubrechen, wo mit Erfahrung und Vernunft allein nichts auszurichten ist, so nützlich als natürlich, und in der Psychologie sowohl als in andern Wissenschaften.«18 Tetens versuchte bei der Aufzählung verschiedener Erkenntnisformen, die epistemologisch geschmähte Hypothesenbildung als eine der möglichen zu nennen und damit als Mischform zwischen Rationalismus und Empirismus zu adeln: »Ueberdieß ist es in andern Hinsichten nützlich, zuweilen gar nothwendig, die festen Kenntnisse mit leichten Vermuthungen zu versetzen, wie das Gold mit unedlen Metallen, wenn man es zum allgemeinen Gebrauch verarbeitet.«19 Was Tetens somit anstrebte, war eine Vermittlung zwischen »räsonnierender Vernunft« und »gemeinem Menschenverstande«. Sein Lösungsvorschlag lag in einem gegenseitigen Begründungszusammenhang aus Hypothesenbildung und empirischen Daten: »Ich wiederhole die Erklärung, daß es mein fester Vorsatz gewesen sey, auf nichts zu fußen, als was entweder unmittelbare Beobachtung selbst ist, oder evidente und durch die Uebereinstimmung der Beobachtungen bestätigte Vernunft.«20 12

Wilhelm Uebele: Johann Nikolaus Tetens nach seiner Gesamtentwicklung betrachtet, mit besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses zu Kant. Berlin 1911, S. 5–25. 13 Christian Hauser: Selbstbewußtsein und personale Identität. Positionen und Aporien ihrer vorkantischen Geschichte. Locke, Leibniz, Hume und Tetens. Stuttgart 1994, S. 129. 14 Nicolaus Tetens: Ueber die allgemeine speculativische Philosophie. Bützow, Wismar 1775, S. 38. 15 Nicolaus Tetens: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung. Bd. 1. Leipzig 1777, S. 309. 16 Ebd., S. IV f. 17 Ebd., S. VI. 18 Ebd., S. XV. 19 Ebd., S. XV. 20 Ebd., S. XXX.

Die Sache der Allgemeinverständlichkeit

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III. Will man Immanuel Kant innerhalb dieser Szenerie verorten, ist es sicher kein Fehler, ihn ebenfalls zu der angelsächsisch inspirierten Philosophengeneration zu zählen. Neuere Studien haben Kants Verbindung in die schottische Philosophie überzeugend darlegen können.21 So ist es auch kein Zufall, dass Kant seine Hoffnungen, die er mit dem Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft im Jahr 1781 verband, neben Mendelssohn vor allem in Garve und Tetens setzte: »Garve, Mendelssohn und Tetens wären wohl die einzigen Männer, die ich kenne, durch deren Mitwirkung diese Sache in eben nicht langer Zeit zu einem Ziele könnte gebracht werden, dahin es Jahrhunderte nicht haben bringen können«22. Umso größer war Kants Enttäuschung, als die erwartete Unterstützung ausblieb, die er sich für die Durchsetzung seiner Revolution der Denkungsart erhoffte. Am 19. Januar 1782 erschien die erste Rezension der Kritik der reinen Vernunft in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen. Tatsächlich wurde das Werk dort in die britische Tradition des Idealismus Berkleyscher Provenienz und des Skeptizismus Humescher Ausprägung gestellt. Allerdings hätte Kant durch sein »System des höhern oder […] des transzendentalen Idealismus« nicht den Mittelweg zwischen übertriebenem Skeptizismus und Dogmatismus gewählt. Seine Argumente seien vielmehr die eines Räsonneurs, der den gemeinen Menschenverstand hinter sich lassen will, »indem sein Idealismus […] noch mehr gegen die Gesetze der äußern Empfindung [also der Erfahrung] und die daher entstehende unserer Natur gemäße Vorstellungsart und Sprache (streitet)«.23 Schnell wurde vermutet, dass Johann Georg Feder hinter der kritischen Besprechung stand, deren überwiegender Teil jedoch ursprünglich von Christian Garve verfasst war.24 Feder hatte diese Rezension jedoch für den Druck mit deutlich verändernden Konnotationen überarbeitet und insbesondere den Vergleich mit Berkeley und Hume hinzugefügt. Der beleidigende Unterton in der dort formulierten Kritik bestand darin, zu behaupten, dass Kant der idealistischen Position Berkeleys und der skeptischen Haltung Humes im eigentlichen Sinne nichts Substantielles hinzugefügt habe und sein originärer Beitrag nur darin bestehe, diesen lange bekannten skeptischen Einwänden zum Trotz einen fragwürdigen Versuch zur 21 Hier soll v. a. auf die Arbeiten von Reinhard Brandt, Heiner Klemme und Manfred Kühn hingewiesen werden. Vgl. etwa Manfred Kühn: German Aufklärung and British Philosophy. In: British Philosophy and the Age of Enlightenment, hrsg. v. Stuart Brown. London, New York 1996, S. 309–331. 22 Kühn: Kant (wie Anm. 5), S. 291 f. 23 Christian Garve, Johann Georg Heinrich Feder: Rezension der Kritik der reinen Vernunft. In: Göttingische Gelehrte Anzeigen 3, Zugabe 1, (1782), S. 40–48. 24 Zwi Batscha: »Despotismus von jeder Art reizt zur Widersetzlichkeit«. Die Französische Revolution in der deutschen Popularphilosophie. Frankfurt a. M. 1989, S. 61 ff.

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2. Sektion · Annette Meyer

Rettung der Metaphysik unternommen zu haben.25 Kant formulierte seine Replik auf die in seinen Augen ärgerlich missverständliche Rezension in den Prolegomena zu jeder künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783), woraufhin Feder wiederum mit der Schrift Ueber Raum und Caussalität. Zur Prüfung der Kantischen Philosophie (1787) reagierte. Vor dem Hintergrund des Anspruchs auf Verständlichkeit war ein grundsätzlicher Einwand Feders gegen Kants Kritik der reinen Vernunft ihre komplizierte abstrakte Sprache, die weniger der Komplexität des Themas als dem künstlichen Bemühen um »mehreres Ansehen von Neuheit und Tiefsinn« geschuldet sei.26 Feder verlieh damit seinen Bedenken Ausdruck, die gerade gewonnene Allgemeinverständlichkeit in der Philosophie wieder gegen eine hermetische, aus Begriffen formallogisch folgernde Gelehrtensprache einzutauschen. Mit seiner Kritik an der dogmatischen Metaphysik habe Kant nur einen Popanz aufgebaut, um diesen in einem zweiten Schritt durch eine neue Dogmatik zu ersetzen.27 Kant habe damit die erst jüngst gründlich infrage gestellte Scholastik rehabilitiert und die Erfolge der sich neuerdings durchsetzenden »empirischen Philosophie« diskreditiert. Mit diesem Argument perpetuiere Kant auf anderer Ebene die niedrige Meinung von empirisch-analogischen Urteilen in der klassischen Philosophie, die stets darauf beharrt habe, dass solcherart gewonnenen Sätzen nicht den Rang der ›Wissenschaftlichkeit‹ zuzubilligen sei.28 Beunruhigend war für Feder zudem, dass Kant die »Herabwürdigung der Erfahrungsphilosophie« besonders auf dem Feld der Moralphilosophie und natürlichen Theologie vorantreibe, auf dem durch empirisch fundierte Studien vom Menschen in den vergangenen Jahrzehnten so viel gewonnen worden sei: Aufs neue also durch die Kritik der R. V. und die sichtbaren Wirkungen, die sie bisher hervorgebracht hat, und, ich darf es sagen, nach sorgfältiger Prüfung derselben mehr als je davon überzeugt, daß nichts, was in gewöhnlicher Sprache Begriff, Erkenntnis, Grundsatz irgendeiner Art heißen kann, vor aller sinnlichen Wahrnehmung und Empfindung dem Menschen beywohne; und von der Schädlichkeit des Glaubens an eine nicht auf Erfahrung und analogischen Schlüssen völlig beruhenden Philosophie aufs neue und lebhafteste überzeugt, hielt ich es in meiner Pflicht gemäß, ausführlichere Untersuchungen über den menschlichen Verstand herauszugeben; in der Absicht, wo möglich, den Glauben vollends zu vernichten, wovon der kleinste Ueberrest,

25

Johann Georg Heinrich Feder: Leben, Natur und Grundsätze. Zur Belehrung und Ermunterung seiner lieben Nachkommen, auch Anderer die Nutzbares daraus aufzunehmen bereit sind. Leipzig u. a. 1825, S. 118. 26 Johann Georg Heinrich Feder: Ueber Raum und Caussalität. Zur Prüfung der Kantischen Philosophie. Göttingen 1787, S. V. 27 Ebd., S. VII. 28 Ebd., S. X.

Die Sache der Allgemeinverständlichkeit

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wie Kants Beyspiel beweiset, noch so schädlich werden kann, den Glauben an Begriffe, die nicht empirischen Ursprungs sind.29

Sehr viel weniger umständliche Reflexionen als seine schottischen Vorläufer verwendete Feder auf die Frage, in welcher Weise die Hypothesen zustande kommen, die der empirischen Untersuchung vorausgehen. Er zog sich auf eine einfache psychologische Begründung der Erkenntnis, um den Preis der Subjektivität von Wahrheit, zurück, wodurch seine Einwände gegen die Kantische Epistemologie auf tönernen Füßen standen. Das Modell, das Feder der Transzendentalphilosophie entgegenstellte, lag im, vom skeptischen Erkenntnisvorbehalt beförderten, Rückzug in die praktische Philosophie.30 Ähnlich wie seine schottischen Vorläufer war er bereit, das Streben nach Erkenntnisgewissheit gegen die Selbstbeschränkung auf »vernünftige Wahrscheinlichkeiten« einzutauschen.31 Feders Konzept war ganz den Maximen von Nützlichkeit und Allgemeinverständlichkeit für die Verbesserung einer zukünftigen Gesellschaft sowie der direkten Verbreitung von Humanität geschuldet.32 Die Nachwelt betrachtete es indessen als »verhängnisvoll für eine spätere wissenschaftliche Laufbahn«, dass Feder sich in diesen Gegensatz zur kritischen Philosophie begeben hatte.33 Auch wenn etliche prominente Zeitgenossen – wie z. B. Kants Freund Hamann – die kritische Haltung gegenüber der Transzendentalphilosophie teilten, wandelte sich die Stimmung schnell. Obwohl Garve alles unternahm, um sich Kant gegenüber soweit wie möglich von der Rezension zu distanzieren, wurde auch er bald Opfer der Kampagne einer wachsenden Anhängerschaft der kantischen Philosophie. So entbrannte ein Philosophenstreit, der zwei klare Parteiungen zeitigte, wobei die Strategie der Parteigänger Kants sich schnell als die überlegene erwies. Bemerkenswerterweise verfingen in dieser Kampagne nicht hauptsächlich die inhaltlichen Argumente, wie häufig in der Philosophiegeschichtsschreibung vermittelt.34 Nicht die Auseinandersetzung über die unterschiedlichen philosophischen Auffassungen war maßgebend, weshalb etwa Feder noch lange auf eine Annäherung 29

Ebd., S. XII f. Johann Georg Heinrich Feder: Vorrede. In: Ders.: Lehrbuch der praktischen Philosophie. Göttingen, Gotha 31773, [unpag.]. 31 Johann Georg Heinrich Feder: Untersuchungen über den menschlichen Willen. Bd. 4. Lemgo 1793, S. 160. Vgl. auch Batscha: Despotismus (wie Anm. 24), S. 72. 32 Feder: Vorrede. In: Ders.: Untersuchungen über den menschlichen Willen (wie Anm. 31), S. V–XX. 33 Richter: s. v. Feder, Johann Georg Heinrich. In: Allgemeine Deutsche Biographie 6 (1877), S. 595 ff. 34 »They failed to see that the fundamental question was really not practical – How do we act according to reason? Rather it was philosophical – Should we act according to reason? By failing to address this question, the Popularphilosophen contributed to the extinction of the movement and to the decline of Aufklärung itself« (Frederick C. Beiser: The Fate of Reason. German Philosophy from Kant to Fichte. Cambridge, London 1987, S. 168). 30

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2. Sektion · Annette Meyer

oder zumindest das Ende der Zurückweisungen durch Kollegen und Studenten hoffte.35 Was den Streit wirklich entschied, war das Argument mangelnden Tiefgangs, das Kants Anhänger schnell mit der Formel »Popularphilosophie« versahen. Der Vorrang der praktischen Philosophie und das Bemühen um Allgemeinverständlichkeit wurde zunehmend in einen Mangel intellektueller Schärfe umgedeutet. Die »Orientierung an ausländischen Vorbildern« wurde im Verlauf des 19. Jahrhunderts dann bald auch als »undeutsch« und damit »oberflächlich« interpretiert. So sei Garve nicht in der Lage gewesen, »die Anregungen der Engländer […] zum Ausgangspunkte eigener Betrachtung und durchgreifender Kritik zu machen; diese große Aufgabe musste er Kant überlassen«.36 Es ließen sich weitere Autoren anführen, deren skeptische Haltung gegenüber der kritischen Wende und Festhalten an einer stärker naturphilosophisch, empirisch ausgerichteten Art des Denkens zu ihrer Marginalisierung beigetragen hat. Anders als Feder, Garve und Tetens sind sie uns heute kaum mehr bekannt. Werden Versuche zu ihrer Rehabilitierung unternommen, so dadurch, dass man sie ex post näher an Kant rückt. Dem Kieler Philosophieprofessor Martin Ehlers etwa, der die Vorzüge des ›Common Sense‹ pries, wurde vorgeworfen, dass er »eklektischer Aufklärer ohne Tiefe und Schärfe des Denkens« sei, »ein gemüthvoller Menschenfreund […], welcher für die Verbesserung und hiermit Beglückung der Menschheit schwärmt, ja auch der Philosophie überhaupt nur diesen praktischen Zweck setzt. Mit einiger Vorliebe nennt er Wolff, Mendelssohn, Garve, aber an Kant’s Schriften geht er geschlossenen Auges vorbei«.37 Ein neuerer Biograph unternimmt die Ehrenrettung, indem er sagt, dass Ehlers ähnlich wie sein Kieler Kollege Tetens, »Kant näher steht als seine älteren Beurteiler dachten«.38 Dass die Kampagne der kritischen Philosophie, ihre Gegner aufgrund ihres Bemühens um die Allgemeinverständlichkeit – sowohl in formaler als auch in epistemologischer Hinsicht – als oberflächliche Popularphilosophen zu schmähen, dauerhaften Erfolgt hatte, zeigt sich darin, dass es noch immer des Nadelöhrs des Idealismus bedarf, um die deutsche Philosophiegeschichtsschreibung unbeschadet passieren zu können. Die philosophiehistorische Epochenschwelle um 1800 wird nach wie vor als »Vorgeschichte des Idealismus« oder als »Idealismus mit Folgen« beschrieben.39

35 Johann Georg Heinrich Feder: Abhandlung. Versuch einer möglichst kurzen Darstellung des Kantischen Systems. In: Philosophische Bibliothek 3 (1790), S. 1–13, hier S. 2. 36 Daniel Jacoby: s. v. Garve, Christian. In: ADB 8 (1878), S. 385–392. 37 Carl v. Prantl: s. v. Ehlers, Martin. In: ADB 5 (1877), S. 699 f. 38 Ferdinand Weinhandl: s. v. Ehlers, Martin. In: NDB 4 (1958), S. 347. 39 Dieter Henrich: Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus. Tübingen, – Jena (1790–1794). Frankfurt a. M. 2004; Idealismus mit Folgen. Die Epochenschwelle um 1800 in Kunst und Geisteswissenschaften, hrsg. v. Hans-Jürgen Gawoll, Christoph Jamme. München 1994.

Die Sache der Allgemeinverständlichkeit

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Der Streit unter den philosophischen Richtungen im 18. Jahrhundert wurde erfolgreich mit nationalen Stereotypisierungen verbunden, die bis heute fortwirken. Dass diese Verengung der Perspektiven einen Diskurs zerschneidet, der keine nationalen Grenzen kannte, hat oft übersehen lassen, wie sich andere philosophische Richtungen neben dem Idealismus in der deutschsprachigen Philosophie entwickelten, welche Entwicklungslinien sich etwa aus der Popularphilosophie in den Positivismus und Pragmatismus aufzeigen lassen. Die Popularphilosophen verweigerten sich einer »Metaphysik der Sitten« und setzten weiterhin auf David Humes Programm, das er im Untertitel des Treatise of Human Nature formulierte: »An attempt to introduce the experimental method of reasoning into moral subjects«. Dieser Weg führte nicht in die »Selbstauslöschung der deutschen Popularphilosophie«,40 sondern zu Versuchen, die Philosophie in eine »Wissenschaft der Realität« zu überführen, wodurch neue Verbindungen in die junge Nationalökonomie, Anthropologie, Statistik und Frühsoziologie entstanden.41 Welche dieser Richtungen als das wahre Erbe der Aufklärung angesehen werden darf, können wir getrost einem weiteren Streit in der Philosophiegeschichte überlassen.

40

Beiser: Fate of Reason (wie Anm. 34), S. 168. Dieses Konzept verfolgte etwa Friedrich Buchholz in seinem 1802 anonym publizierten Neuen Macchiavell. 41

3. sektion: Sinnliches Erfassen der Sachen – Ästhetik als neue Wissenschaft

Ulrike Zeuch (Zürich) Sinnliches Erfassen der Sachen – Ästhetik als neue Wissenschaft: Einleitung

Als die ›Wissenschaft von allem, was sinnlich ist‹, wird die Ästhetik im 18. Jahrhundert zur Leitdisziplin. Die Aufwertung der unteren gegenüber den oberen Erkenntnisvermögen durch Baumgarten und Meier verleiht den Sachen in ihrer Materialität eine neue Dignität. Da die Ästhetik weit mehr als die so genannten Schönen Künste erfasst, wird sie zur Grundlage für sehr verschiedene Disziplinen – Psychologie, Semiotik, Rhetorik und Poetik, Metaphysik, Theologie und Ethik; aber auch Physik (Optik) und Medizin – und die Sinnlichkeit neben der Vernunft zur zweiten zentralen Instanz auf der Suche nach gewisser Erkenntnis. Inwiefern nun erschließt die Ästhetik als Grundlage verschiedener Disziplinen neue Gegenstände bzw. Sachen? Entsteht ein anderer Typus von Wissenschaftler? Erfordert die Ästhetik eine grundlegend andere Methode zur Gewährleistung sicherer Erkenntnis? Oder ist die Ästhetik mit Blick auf die Wahrnehmungstheorien im 17. Jahrhundert kaum neu? Welche Rolle schließlich spielt die Ästhetik für die Abgrenzung des Idealismus von der Aufklärung? Diese Fragen an die Ästhetik der Aufklärung, die den Status der Sinnlichkeit sowohl im interdisziplinären Zusammenhang als auch im Kontext seiner Verhandlung überprüfen sollten, waren Ausgangspunkte für die Beiträge zur Sektion »Ästhetik als neue Wissenschaft«. Die vorliegenden Beiträge dieser Sektion verhandeln einzelne Aspekte dieser komplexen Thematik im Fokus der zur Debatte stehenden Neuheit und kommen zu differenzierten Ergebnissen. Dass der Anspruch, neu zu sein, spätestens mit der Frühen Neuzeit, der Hochzeit diverser querelles des anciens et modernes, mit Vorsicht zu behandeln ist, da er stets mit der Notwendigkeit einhergeht, das Vorangehende kleinzuschreiben, um sich selbst als innovativ profilieren zu können, ist bekannt. Daher ist jeder einzelne Fall gesondert in den Blick zu nehmen, um exakte Aussagen über die Beschaffenheit des jeweiligen Neuseins, den Grad dieses betreffenden Neuseins treffen zu können; sonst läuft man Gefahr, mit generellen Aussagen zu ideengeschichtlichen Prozessen über die Differenzen und die Ungleichheiten des Gleichzeitigen bzw. die Gleichheiten des Ungleichzeitigen hinwegzugehen. Erschwert wird das Bemühen, exakte Aussagen über die Beschaffenheit des jeweiligen Neuseins zu machen, durch den Umstand, dass die Auffassungen dessen, was mit res jeweils gemeint ist (Wesen, individuell Allgemeines, Ding, Vorstellung), erheblich differieren bzw. diese oft nicht zureichend differenziert sind.

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3. Sektion · Ulrike Zeuch

Lothar van Laak macht in seiner Analyse zweier Gedichte in seinem Beitrag Schönheit und Bedeutung bei Johann Christian Günther und Barthold Heinrich Brockes das Verhältnis von res und verbum zum Thema. Die Frage der Übereinstimmung von res und verbum oder Bezeichnetem und Bezeichnendem ist alt. Sie wird bereits im platonischen Dialog Kratylos diskutiert und durch Ficino im Florenzer Neoplatonismus auf für die Sprachphilosophie der Nachfolgezeit entscheidende Weise produktiv umgedeutet.1 Die Konzeption der res als individuelles Allgemeines, die Auffassung des verbum als an sich abstrakte Vorstellungseinheit, die es allererst über die Erfahrung mit (sinnlichen) Inhalten oder Merkmalen anzureichern gilt, reicht zurück bis zur sogenannten Epochenschwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit und bedeutet eine für die Neuzeit entscheidende Wende innerhalb der Erkenntnistheorie seit dem Nominalismus, namentlich seit Duns Scotus, durch dessen Aufwertung der intuitiven sinnlichen Erkenntnis (cognitio intuitiva sensitiva) zur eigentlichen Erkenntnis des Gegenstandes.2 Neu bei Günther ist zum einen, dass er die Vergewisserung über die Beschaffenheit der res im Kontext der Liebeslyrik von der Wahrnehmungsebene auf die Gefühlsebene überträgt und zum anderen das seit dem Nominalismus probate methodische Verfahren der Anreicherung des an sich inhaltlich leeren verbum (= des abstrakten Begriffs) durch primäre sinnliche Erfahrung als Spiel gestaltet, das Gefühle intensiviert und vieldeutiger macht. Damit lockert er das ohnehin bereits prekäre Verhältnis von res und verbum, macht es noch vager, disponibler, subjektiver. Brockes geht einen Schritt weiter, indem er aus der Vagheit der Relation zwischen res und verbum sowie der bereits von Günther thematisierten, für prinzipiell gehaltenen Ergänzungsbedürftigkeit der sinnlichen Wahrnehmung den Schluss zieht, dass das eigentlich zu Erkennende, die res, weder zureichend erkannt noch hinlänglich im verbum erfasst werden könne, sondern sich sinnlichem Erfassen wie dem Beschreiben (oder Schildern) letztendlich entziehe. Brockes macht aus der res ein Numinosum und öffnet damit – im Lichte seiner Prämissen legitim – den Raum für ein freies Spiel sprachlicher Annäherung an etwas selbst Unaussprechliches. Barbara Thums untersucht in ihrem Beitrag »Kann die Phantasie etwas geben, was sie nie empfangen hat?«– Geister sehen und Geister beschwören als ›Sache‹ von Aufklärern 1

Ulrike Zeuch: Herderowska filozofia jezyka a ›Kratylos‹ Platona w kontekcie epoki, in: Rozum i swiat. Herder i filozofia XVIII, XIX i XX wieku (=Herders Sprachphilosophie und Platons Kratylos im Kontext des 18. Jahrhunderts. In: Marion Heinz u. a. [Hrsg.]: Vernunft und Welt. Herder und die Philosophie des 18., 19. und 20. Jahrhunderts). Warszawa 2004, S. 311–327, hier S. 320–327. 2 Arbogast Schmitt: Anschauung und Denken bei Duns Scotus. Über eine für die neuzeitliche Erkenntnistheorie folgenreiche Akzentverlagerung in der spätmittelalterlichen Aristoteles-Deutung. In: Arbogast Schmitt, Gyburg Uhlmann (Hrsg.): Philosophie im Umbruch. Der Bruch mit dem Aristotelismus im Hellenismus und im späten Mittelalter – seine Bedeutung für die Entstehung eines epochalen Gegensatzbewußtseins von Antike und Moderne. Stuttgart 2009, S. 79–103, hier S. 83–84, S. 91 f., S. 102.

Einleitung

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und anderen Liebhabern des Sinnlichen die Frage, wie die Aufklärung das offensichtliche Problem zu lösen unternimmt, das mit der Prämisse einhergeht, dass nur sinnliche Data (= Gegebenes) als wahrhaftig und wirklich gelten. Die Prämisse selbst ist nicht neu. Seit dem Spätmittelalter wird in einer Umdeutung der aristotelischen Wahrnehmungstheorie in De anima die Einsicht, dass der Erkenntnisprozess mit der Wahrnehmung beginne, dahingehend verstanden, dass nichts im Intellekt sei, was nicht zuvor in den Sinnen gewesen sei, die menschliche Seele mithin vor aller (sinnlichen) Erfahrung oder, wie es dann bei Kant heißt, apriori, eine tabula rasa sei.3 Diese Annahme problematisiert Grimmelshausen im Simplizissimus Teutsch unter Bezugnahme auf Averroes in der Gestalt der Wissensvermittlung des Einsiedels an Simplizissimus: Wenn die Erfahrung bzw. die Wahrnehmung Maßstab aller nachfolgenden Erkenntnis ist, dann lässt sich einmal vollzogene Erkenntnis weder modifizieren noch falsifizieren, es sei denn, die wächserne Seelentafel würde neuerlich überschrieben und man begänne von neuem: als unbeschriebene Tafel.4 Lernen aus Erfahrung wäre demnach nicht möglich, ein Abgleichen bereits gemachter Erfahrung im Hinblick auf einen Maßstab jenseits der Erfahrung ebenfalls nicht. In einem nächsten Schritt wird die Annahme, dass nur den Sinnen Gegebenes dem Anspruch, wahrhaftig und wirklich zu sein, Genüge leiste, Gegenstand der Kritik, und zwar einige Jahrzehnte vor Schiller und seinem Romanfragment Der Geisterseher – Thums Bezugstext: Bodmer rechtfertigt das Wunderbare, obwohl sinnlich nicht erfahrbar, wie etwa die Engel, durch seine sichtbare, körperliche Vorstellung als Gegenstand der Literatur; Breitinger postuliert, Poesie mache das Unsichtbare sichtbar.5 Neu hingegen ist Schiller dahingehend, dass er durch die Vervielfältigung der Erzählinstanzen im Medium der Literatur die Unterscheidbarkeit zwischen Fiktionalität und Realität radikal in Zweifel setzt und für den lesenden Rezipienten absichtsvoll verunmöglicht. Es scheint kein Zufall, dass auch Stefan Metz in seinem Beitrag Gemalt, gefoltert und gelacht. Zum Phänomen des Kitzels in der Ästhetik der Aufklärung auf Grimmelshausen Bezug nimmt, ja mehr noch: Grimmelshausen antizipiert Metz zufolge im Simplicissimus am Beispiel der Kitzelfolter im 4. Kapitel des ersten Buches bereits die Ästhetik der Aufklärung. Das Bedeutungsspektrum des Kitzels reicht dabei von Berühren und Berührtwerden, taktilem Wahrnehmen und rezeptivem Gereiztwerden bis zum – so zumindest der Anspruch – das Sinnliche transzendierenden, men3

Zu den Konsequenzen vgl. Schmitt: Anschauung, S. 100–102 und 102, Anm. 46. Ulrike Zeuch: Das Versprechen der ›ewigen Seeligkeit‹ Rhetorische Übertragung als Problem in Grimmelshausens ›Simplicissimus‹. In: Simpliciana 31 (2009), S. 429–448, hier S. 438. 5 Ulrike Zeuch: Dichtungstheorie der Frühaufklärung. In: Aufklärung 17 (2005), S. 117–140, hier S. 128. 4

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3. Sektion · Ulrike Zeuch

talen, produktions- wie rezeptionsästhetisch relevanten Reiz oder geistigen Kitzel, der beides zugleich ist: Lust und Schmerz, Lachen und Folter. Auch im Fall des Kitzels ist die Prämisse selbst nicht neu. Die Korpuskulartheorie des 17. Jahrhunderts, wie sie beispielsweise von Gassendi vertreten wird, einerseits, der Cambridger Neoplatonismus in der Nachfolge Ficinos andererseits6 spielen bereits die verschiedenen Varianten einer materiell verstandenen Wahrnehmung im Sinne von Druck und Stoss bzw. einer inneren Reizung einer subjektimmanenten Idee durch einen äusseren Gegenstand durch. Mit der Korpuskulartheorie geht die Einebnung der Unterschiede innerhalb der einzelnen Sinnesvermögen, die Angleichung der geistigen an die sinnlichen Vermögen und die Ineinssetzung von sensus communis mit dem sensorium commune als physiologischer Basis einher.7 Neu hingegen ist im 18. Jahrhundert das schier unauflösliche Ineinander von äußerem Berühren und innerem Berührtwerden, eben jenes Zusammenspiel von Innen und Außen, äußerer (physiologischer) Wahrnehmung und (mentaler) Selbstwahrnehmung, das lange in der Wahrnehmungstheorie seit der Antike sorgfältig auseinander gehalten worden war. Betrieben wird dieses Ineinander entweder in bewusster Antizipation romantischer Verwirrung (Schlegels Lucinde) oder aus Unkenntnis ehedem vorgenommener Unterscheidungen. Metz selbst belegt dieses Ineinander in seinem Beitrag am Beispiel von Jean Paul. Bleibt auch die Prämisse seit Duns Scotus unangetastet, dass das individuell Allgemeine sämtliche Bestimmungen enthalte, welche für die begriffliche Erkenntnis im Sinne einer Ausdifferenzierung des ungeschieden bereits Erkannten erforderlich seien, und dass fundiertes, abgesichertes Wissen unmittelbar aus dem empirisch erfahrbaren Einzelnen ableitbar sei, so ändert sich doch etwas Anderes, nämlich die Zuversicht, dieses vorbegrifflich bereits Erkannte in Gänze und damit zureichend analysieren und im Prozess der Analyse begrifflich erfassen zu können. Dieser Zweifel wird im 18. Jahrhundert vielfältig zum Thema. Uwe C. Steiner zeigt in seinem Beitrag Die Sachen als Streitsache der Idylle, dass selbst den scheinbar so konkret fasslichen, alltäglichen Dingen wie einem Krug jenseits ihrer haptisch und optisch erfahrbaren Materialität etwas Numinoses, Unfassbares anhaftet, welches in der sprachlichen Repräsentation als Sache im Medium der Literatur an die Grenze des Verstehens, d. i. des begrifflichen Erfassens, und damit an eine Grenze der Aufklärung führt. Steht der Krug für Geselligkeit, ist diese in der Moderne – so die Annahme – lediglich noch künstlich, im Medium der Literatur, der Idylle, wiederherstellbar. Was 6

Ulrike Zeuch: Umkehr der Sinneshierarchie. Herder und die Aufwertung des Tastsinns seit der frühen Neuzeit. Tübingen 2000 (Communicatio 22), S. 87–94 und S. 112–118. 7 Ulrike Zeuch: Sensus communis, imaginatio und sensorium commune im 17. Jahrhundert. In: Dies., Hans Adler (Hrsg.): Synästhesie. Interferenz – Transfer – Synthese der Sinne. Würzburg 2002, S. 167–184, hier S. 179–183.

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einst für lebendiges Beisammensein stand, der Krug, lebt nur noch fort als Zitat gelebten Lebens. Oder aber der Krug wird als zerbrochen dargestellt und verweist in der Idylle und ihrer Poetik auf die seit der Entdeckung sentimentalischer Sehnsucht nach ursprünglicher Naivität und Unmittelbarkeit der Dinge stets neu verhandelte Streitsache der Kultur. Gestritten wird darüber, ob der Zugang zur Natur ein für allemal verstellt, mithin unwiederbringlich verloren sei oder ob er sich wiedergewinnen lasse, und wenn ja, auf welche Weise. In allen vier Beiträgen der Sektion wird das sinnliche Erfassen der gegenständlichen Welt, welches als conditio sine qua non jeder Art fortschreitender, höherer, abstrakterer Erkenntnis gilt, zum Problem. Je bewusster der Zugriff (!) auf die Dinge erfolgt, desto mehr scheinen sie sich zu entziehen. Keines der literarischen Beispiele, weder die Idylle noch der Roman, weder das Gedicht noch das Drama, löst das zur Frage anstehende Problem. Die Literatur im Besonderen wie die Ästhetik im Allgemeinen legen vielmehr die wunden Punkte offen; sie zeigen, in welcher Hinsicht die Erkenntnistheorie durch die Praxis widerlegt wird. Die Literatur zieht dabei keine theoretischen Konsequenzen aus den offen gelegten Lücken im System. Sie demonstriert am Einzelfall die systembedingten Defizite und damit implizit, dass die Prämissen falsch sind, setzt an deren Stelle aber keine neuen: Das ist ihre Stärke und zugleich auch ihre Grenze.

Lothar van Laak (Bielefeld) Schönheit und Bedeutung bei Johann Christian Günther und Barthold Heinrich Brockes Mit den Begriffen bzw. Konzepten von Schönheit1 und Bedeutung rücken die Disziplinen von Ästhetik und Hermeneutik in den Blick, und ihr Verhältnis zueinander versteht sich dabei keineswegs von selbst. Das zeigt sich sowohl in der aktuellen Debatte2 als auch in historischer Perspektive. Denn im 18. Jahrhundert werden diese Begriffe, Konzepte und Disziplinen grundlegend neu zueinander in Beziehung gesetzt und dynamisiert. Das komplexe Verhältnis, mit den mehrfachen Beziehungen zwischen Schönheit und Bedeutung einerseits und zwischen Ästhetik und Hermeneutik andererseits, erfährt aber noch eine weitere besondere Prägung bis ins späte 18. und frühe 19. Jahrhundert, bis zu Friedrich Schiller: Denn das ganze Feld mehrfacher Beziehungen und vielfältiger Wechselbeziehungen zwischen Schönheit und Bedeutung ist primär nicht nur als ein ästhetisches bzw. hermeneutisches Feld im engeren Sinn zu sehen; dazu entwickelt es sich erst in dieser Zeit.3 Es muss vor allem auch als ein rhetorisches Feld gedacht werden.4 Die Dinge, die Sachen, die Gegenstände, die res, haben dementsprechend ihren eigenen Charakter; und mit ihnen und durch sie auch die verba, die ja in einer festen Verbindung zu den Dingen stehen. In diesem Zusammenhang soll im Folgenden an einigen Gedichten von Johann Christian Günther (1695–1723) und Barthold Heinrich Brockes (1680–1747) den Fragen nachgegangen werden, ob und inwieweit dieses feste res-verba-Verhältnis von 1

Vgl. zur Schönheit die differenzierten Studien von Joachim Jacob: Die Schönheit der Literatur. Zur Geschichte eines Problems von Gorgias bis Max Bense. Tübingen 2007. Winfried Menninghaus: Das Versprechen der Schönheit. Frankfurt a. M. 2003. 2 Einen wichtigen Impuls, das Verhältnis von Ästhetik und Hermeneutik nach Gadamer noch einmal grundsätzlich neu zu diskutieren und zu bestimmen, hat gegeben: Rüdiger Bubner: Ästhetische Erfahrung, Frankfurt a. M. 31994. Siehe in diesem Zusammenhang auch: Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen, hrsg. v. Jörg Schönert, Friedrich Vollhardt. Berlin, New York 2005. Georg W. Bertram: Hermeneutik und Dekonstruktion. Konturen einer Auseinandersetzung der Gegenwartsphilosophie. München 2002, sowie die jüngsten Beiträge der Debatte: Günter Figal: Über die Schönheit der modernen Kunst. In: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 9 (2010), S. 117–128. Tanehisa Otabe: »Schöne Kunst muß als Natur anzusehen sein.« In: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 9 (2010), S. 147–160. 3 Vgl. meine weiteren Überlegungen in: Lothar van Laak: Hermeneutik literarischer Sinnlichkeit. Historisch-systematische Studien zur Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Tübingen 2003. 4 Siehe zu diesem grundlegenden Wandlungsprozess und den rhetorischen Fundierungen der Argumentation: Dietmar Till: Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2004.

Schönheit und Bedeutung bei J. C. Günther und B. H. Brockes

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beiden Lyrikern noch ganz unter rhetorischen Bedingungen gedacht wird, oder ob sich etwa schon neue Bedeutungskonzepte unter den Vorstellungen der Sinnlichkeit, der Schönheit und des »Irdischen Vergnügens« herausbilden.

1. Zeichen, Herz und Spiel in Johann Christian Günthers Gedicht An Leonoren (1715) Johann Christian Günthers frühes Leonoren-Gedicht An Leonoren, datiert auf Lüben, den 29. Oktober 1715, ist ein Abschiedsgedicht.5 Es besteht aus fünfzehn sechszeiligen Strophen. Sie sind regelmäßig aus einem Kreuzreim und einem abschließendem Paarreim gebaut. Gegenstand des Gedichts ist die Treue. Sie soll über die Entfernung der Liebenden hinaus gewahrt bleiben.6 Das ist der Wunsch des lyrischen Ichs, der aber durch »des Frauenzimmers Wancken« (V. 9), das »Man kennt«, ins Zweifeln gerät. Das lyrische Ich relativiert diesen Zweifel und spricht am Beginn der 3. Strophe: »Der Zweiffel darff dich nicht betrüben, / Er ist ein Zeichen zarter Treu« (V. 13 f.). Begründet wird diese Deutung des Zweifels als Zeichen der Treue mit der Offenheit der Zukunft: Bisher bekenn ich zwar dein Lieben Und weiß, wie rein die Flamme sey; Wer bürgt mir aber vor das Glücke, Daß keine Zeit das Ziel verrücke (V. 15–18).

Was dann folgt, ist ein überaus komplexes Erinnerungs- und Gedächtnis-Arrangement.7 Das lyrische Ich entwirft es, um die Treue der Liebenden dauerhaft abzusichern. Einbezogen in dieses Werk von Regeln, die der Geliebten »in das Hertze« geschrieben werden (V. 24), und das Gesetzes-Werk, das das lyrische Ich gibt, aber auch selbst einhält (V. 87), sind z. B. die gemeinsam besuchten Orte in der 8. Strophe, das »Bildniß«, der »Ring, die Liebes-Kette«, des Geliebten in der 10. Strophe, seine Gedichte in der 11. Strophe, Exempelerzählungen in der 12. Strophe und nicht zuletzt der Briefwechsel in der 13. Strophe. Das lyrische Ich gesellt diesen Medien, Kom5 Es wird im Folgenden unter Angabe des Verses zit. nach: Johann Christian Günther: Werke. Hrsg. v. Reiner Bölhoff. Frankfurt a. M. 1998, S. 864–867. 6 Siehe dazu auch Ernst Osterkamp: Johann Christian Günthers Redlichkeit. In: Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert, hrsg. v. Claudia Benthien und Steffen Martus. Tübingen 2006, S. 297–310; für das Spiel der erotischen Dichtung Günthers auch den älteren Aufsatz Osterkamps: Scherz und Tugend. Zum historischen Ort von Johann Christian Günthers erotischer Lyrik. In: Text + Kritik 74/75 (1982) Johann Christian Günther, S. 42–60. 7 Für ein Beispiel der Moderne siehe: Anja Lemke: Gedächtnisräume des Selbst. Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Würzburg 22008.

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munikationsweisen, -formen und -regeln des Weiteren auch noch Regeln der Selbstbeobachtung und Selbstbewahrung oder eines diätetischen Sozialverhaltens hinzu. Ihnen wird eine stabilisierende Kraft für den Bestand der Beziehung zugesprochen. Die individuelle Gefühlsordnung wird auch in eine topologische, soziale und von der Legitimität der Tradition bestimmte Ordnung hineingestellt. Der Reiz des Gedichts liegt nun darin, dass diese Stabilität keine absolute ist und werden kann, sondern immer wieder und auf unterschiedlichen Ebenen Instabilitäten erzeugt werden. Am deutlichsten wird das in der vorletzten Strophe, in der es heißt: »Ja halt ein jegliches Gerüchte / Von meiner Untreu vor Gedichte« (V. 83 f.). Nicht nur kann die üble Nachrede die Ordnung der Beziehung gefährden. Die Formulierung spielt auch mit der Doppeldeutigkeit von Dichtung als Gedicht und Erdichtung als fragwürdiger Fiktion.8 Auch der ganze Erinnerungsaufwand, den das lyrische Ich die Geliebte betreiben lassen will, steht in einer nicht unproblematischen, disproportionalen Relation zum Zweifeln des Ich und zur überaus knappen Selbstbestimmung in der Schluss-Strophe, in der es nur lapidar heißt: »Soll etwas mir dein Bild entführen, / So muß ich vor mein Hertz verliehren« (V. 89 f.). Die Stabilität des Herzens, die das lyrische Ich für sich beansprucht, ist eine, die es sich selbst zuspricht. Die Stabilität des Herzens der Geliebten ist demgegenüber eine, die sie sich vom lyrischen Ich zuschreiben lässt: »So laß Dir, willst du mein verbleiben, / Die Regeln in das Hertze schreiben« (V. 23 f.). Man kann daraus sowohl eine prinzipielle Ungleichgewichtigkeit der beiden Liebenden als auch eine prinzipielle Differenz der ihnen zugeordneten Medien des Schreibens und Sprechens bzw. Dichtens, als Praxis des Mündlichen oder der Rede, ableiten. Das lyrische Ich verfügt über Identität, seine und nicht nur seine eigene; die Geliebte wird von ihm identifiziert, ihr wird Identität zugeschrieben, sie kann sich diese aber auch selbst zu Eigen machen. Für beide Varianten lässt sich eine relativ feste und sichere Relation der Zeichengebung feststellen. Es ist die Zeichengebung der Identität und der Identifizierung. Als weitere Möglichkeit formuliert die 10. Strophe aber noch eine dritte Variante. Sie ist offener und dynamischer und sie bringt mit dem Zeichen des Bildes auch ein weiteres Medium – und dies sogar wörtlich – ›ins Spiel‹: Steh freudig auf, geh froh zu Bette! Doch sieh vorher mein Bildniß an Und nimm den Ring, die Liebes-Kette; Denn obgleich keines reden kan, So wirst du doch bey ihren Spielen Viel Wachsthum sanffter Neigung fühlen (V. 55–60). 8

Vgl. zum Problem von Fiktionalität und Faktizität: Frank Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. Berlin 2001.

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Diese dritte Variante schreibt nicht ins Herz und ist auch keine feste Bindung zwischen dem Herz des Liebenden und dem Bild der Geliebten. Es ist das Bild, das angeschaut wird, aber keine Rede führt, sondern spielt. In den »Spielen« des Anblicks jedoch ergibt sich eine Veränderung des Herzens. Deren Dynamik wird als »Wachstum sanffter Neigung« (V. 60) für die Geliebte fühlbar. Die klare und feste Zeichenrelation – in Baumgartens ästhetischen Termini könnte man sie auch als klare und distinkte Bestimmung für die Erkenntnis bezeichnen9 – wird hier durch ein Gefühl zum Ausdruck gebracht. Dieses wird in einer Natur-analogen Dynamik gesehen. Es ist eine Dynamik der Sinnlichkeit, die gleichwohl als sanft, als Neigung, als fühlbares Wachstum in einer sehr temperierten Weise bestimmt wird. In dieser Dynamik der Sinnlichkeit liegt ein Beispiel für eine Erweiterung einer festen Relation von res und verba vor. Diese offenere Zeichenrelation wird vom Bildnis und vom Spiel her gedacht, das sich im Anblick zeigt. Offener heißt hier auch: für verschiedene Deutungen offener, sie umfassen den Zweifel, die Erzählungen und Gerüchte. Dieser Offenheit korrespondiert die Billigkeit des Verstehens, wie die vorletzte Strophe verdeutlicht: Leg alles, was ich schrifftlich sende, Ohn Argwohn auf dein Vortheil aus; Betrachte wohl den Zug der Hände Und suche vor das L heraus (V. 79–82).

Der hermeneutische Zugewinn an Vieldeutigkeit10 und die Intensivierung und Versinnlichung des Gefühls hängen konstitutiv miteinander zusammen. Wo Vieldeutigkeit erzeugt wird oder werden kann, ergeben sich Spielräume für eine immer wieder neue Modellierung und sinnlich wirkende Konkretisierung des Gefühls. Die Vieldeutigkeit geht dabei soweit, dass sie auch das Spiel selbst einem vieldeutigen Spiel unterzieht, heißt es doch in der 7. Strophe über Scherz, Spiel und den Reiz der Gelegenheit: Vermeide die Gelegenheiten, Wo viel Gesellschafft spielt und küßt; Der Schertz kann offters viel bedeuten, Man weiß, wie starck die Reitzung ist (V. 37–40).

9

Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhetik. Lateinisch-deutsch. 2 Bde. Übers., mit einer Einf., Anm. u. Registern. Hrsg. von Dagmar Mirbach. Hamburg 2007. 10 Vgl. Gerhard Kurz: Vieldeutigkeit. Überlegungen zu einem literaturwissenschaftlichen Paradigma. In: Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte. Positionen und Perspektiven nach der »Theoriedebatte«, hrsg. v. Lutz Danneberg, Friedrich Vollhardt. Stuttgart 1992, S. 315–333.

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Die Vorstellung des Spiels, die dann später verwendet wird, ist somit selbst vieldeutig, und dabei durchaus erotisierend vorgeprägt, »Man weiß, wie starck die Reitzung ist«. Vieldeutigkeit und Versinnlichung sind nicht die einzigen Leistungen, die aus dieser am Bild orientierten dritten Variante des Verhältnisses von res und verbum resultieren. Eine weitere Differenzierung ist gleich zu Beginn des Gedichts Johann Christian Günthers schon deutlich angelegt: So weit ich auch von hinnen scheide, So nah behalt und küß ich dich; Weil Licht und Nacht in tausend Bildern Dem Hertzen dein Gedächtniß schildern (V. 3–7).

Nicht der Erinnerung wird das Herz gezeigt, wie man vielleicht erwarten würde, sondern genau umgekehrt: Das Herz agiert hier, es lässt sich die Erinnerung an die Geliebte »schildern«, als Bild-Welt imaginieren und so erhalten. Auch hier liegt eine Erweiterung der festen Relation von res und verbum vor, insofern als die Bilder Erinnerung und Gedächtnis ins Herz, ins Gefühl transponieren. Dabei wird die rhetorische Topologie des visuellen Gedächtnisraums geradezu umgekehrt: Nicht der Gedächtnisraum thesauriert die Bilder für die Erinnerung des Herzens – das Herz, das sich auf die Natur einlässt, imaginiert durch »Licht und Nacht« in den Bildern und Schilderungen überhaupt erst das Gedächtnis, die Erinnerung von der Geliebten. Die Imaginationstätigkeit lockert so einerseits die feste Relation zwischen res und verbum, und implementiert andererseits in diese Relation die Bilder, was die Relation weiter differenziert, ausgestaltet und anreichert.

2. Natur, Bild und Schönheit in Barthold Heinrich Brockes’ Naturlyrik Auch in der Natur schildernden Lyrik von Barthold Heinrich Brockes11 finden sich Beispiele dafür, wie die Relation zwischen res und verbum über die Reflexion des Bildes, der Schilderung, erweitert wird. Im Gedicht Die durch Veränderung von Licht und Schatten sich vielfach verändernde Landschaften12 wird die Landschaft wie ein Gemälde der Natur betrachtet. Die Ef11

Zu Brockes’ Naturdichtung siehe u. a.: Günter Peters: Die Kunst der Natur. Ästhetische Reflexion in Blumengedichten von Brockes, Goethe und Gautier. München 1993; Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd 5/2: Frühaufklärung. Tübingen 1991, S. 127; Barbara Hunfeld: Der Blick ins All. Reflexionen des Kosmos der Zeichen bei Brockes, Jean Paul, Goethe und Stifter. Tübingen 2004; Barbara Thums: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und Selbstbegründung von Brockes bis Nietzsche. München 2008, insb. S. 40–44. 12 Im Folgenden unter Nennung der Seitenzahl zit. nach der Auswahlausg.: Barthold Heinrich

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fekte von Licht und Schatten auf diesem natürlichen Landschaftsgemälde sind denen ähnlich, die »Licht und Schatten« in Günthers Gedicht machen, die »in tausend Bildern / Dem Herzen dein Gedächtnis schildern«. Auch Brockes spricht vom schillernden, abwechslungsreichen Spiel des Anblicks, wie es sich an Günthers Ring und Liebeskette zeigt: Der Landschaft Vorgrund ist bald dunckel und bald hell: Ist der Gesicht-Kreis hier im duncklen Schatten; schnell Bestrahlet sie ein Licht bald vorn, bald in der Mitten. Durch diesen Wechsel nun geschichts, Daß, auf bald schattigter, bald heller Fluth und Erden, Durch nichts, als Aenderung des Schattens und des Lichts, Aus einer Landschaft, hundert werden Von denen, wenn mans recht ermisst, Stets eine schöner noch, als wie die ander’, ist. Den Endzweck dieses Spiels begreiff’ ich anders nicht, Als daß dieß alles bloß geschicht, Durch steten Wechsel dir den Eckel zu verwehren, Und, durch Veränderung, dein’ Anmuht stets zu mehren (S. 53).

Wechsel und Veränderung verhindern Eintönigkeit und erhöhen die Anmut des Anblicks. Der »Endzweck dieses Spiels« kann dabei nur geahnt werden, ›nicht anders begriffen werden‹, d. h begreiflich werden, aber nicht gänzlich erfasst und klar erkannt werden. Der Endzweck des Spiels weist eine Offenheit auf. Sie liegt in der Unvollständigkeit, Vagheit und prinzipiellen Ergänzungsbedürftigkeit dieser ästhetischen, als einer sinnlichen Wahrheit, die erkenntnisförmig ist, aber nicht in der Erkenntnis ganz aufgeht.13 Entsprechend ist auch der physiko-theologische Schluss eine Vermutung, ein Ansinnen eines möglichen Urteils: Es scheint die Sonne sich recht zu bemühen, (Damit man GOttes Allmacht mercke,) Dein Aug’, o Mensch, auf GOttes Wercke, Durch öfter’ Aenderung der Schönheit, hinzuziehen (S. 53).

Nicht nur sind die Landschaften in ihrem vielfältigen Spiel von Licht und Schatten in Relationen sich überbietender Schönheit zu sehen, wenn »Aus einer Landschaft, Brockes: Irdisches Vergnügen in Gott. Naturlyrik und Lehrdichtung. Hrsg. v. Hans-Georg Kemper. Stuttgart 1999, S. 52 ff. 13 Auch diese Konzeption entspricht dem Modell ästhetischer Erfahrung, wie es sich im 18. Jahrhundert, u. a. mit Baumgarten: Ästhetik (wie Anm. 9), herausbildet und von Kant expliziert wird. Vgl. Andrea Kern: Schöne Lust. Eine Theorie der ästhetischen Erfahrung nach Kant. Frankfurt a. M. 2000.

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hundert werden / Von denen, wenn mans recht ermisst, / Stets eine schöner noch, als wie die ander’, ist« (S. 53). Darüber hinaus wird das Auge des Menschen durch diese »öfter[e] Aenderung der Schönheit« auf Gottes Schöpfung hingelenkt, in der man dann, wie es in den Schluss-Versen des Gedichts heißt, »[... ] des Schöpfers Güt’ / In vergnügter Andacht sieht« (S. 54).14 Diese Andacht und ihr Vergnügen sind aber an die Logiken der Schönheit gebunden und auch diese zeigen die Unabschließbarkeit ihrer Erfahrung und, entsprechend, ihres Urteils. In der ästhetischen Wahrheit, die hier im Spiel zum Vorschein kommt, liegt die Tendenz einer Loslösung der Schönheit, die in der Uneigentlichkeit der Anmut zu sehen ist, von der Bedeutung mit ihrem Anspruch auf Eigentlichkeit; und mit ihnen auch eine Möglichkeit der Entkopplung von res und verbum. Der schönen Sache soll das Wort zwar gerecht werden, aber es steht prinzipiell defizitär dem Schönen gegenüber, insofern ihm dieses nicht gänzlich verfügbar ist. Ein zweites Beispiel kann diese Spannung noch weiter verdeutlichen, Brockes’ kürzeres Gedicht Trost über mein Unvermögen.15 Es handelt von der Unfähigkeit, […] der schönen Bäume Pracht, Zu Ehren dem, der sie gemacht, Mit schönen Worten zu beschreiben. Allein Trotz aller meiner Müh, Weil die entworffene Copie Dem Urbild überall nicht glich, Must alles unterbleiben (S. 78).

Die Grenzen der Beschreibungskunst werden theologisch gerechtfertigt; vielleicht lassen sie sich auch nur theologisch, bzw. außerästhetisch oder transzendent rechtfertigen. Brockes nimmt sich auf Bewunderung und Lob Gottes zurück und sucht darin Trost und Hoffnung, Gott auch »Mit meiner Schwachheit« (S. 79) zu dienen. Diese ästhetische Bescheidung, die Brockes im Blick auf die Möglichkeiten der Beschreibung äußert, ist allerdings ein nur sehr kleiner theologischer Zugewinn, der gegenüber Brockes’ sonstigen ›irdischen Vergnügungen‹ doch sehr mager daherkommt. Das legt deshalb eher den Schluss nahe, dass es hier nicht so sehr um die theologische Aussage geht, sondern um die Kritik einer Beschreibungskunst, die unter einem Abbild-Realismus von »Copie« und »Urbild« zu einfach angelegt ist. Mit dieser Kritik an einem solchen Abbild-Realismus wird aber auch bei Brockes die feste Relation von res und verbum gelockert, insofern als das Bild in seiner eigenen Wertigkeit Bedeutung erhält. In ihr erhält das Bild selbst eine Schönheit zugesprochen, die 14 15

Siehe auch Thums: Aufmerksamkeit (Anm. 11), S. 42 f. Ebd., S. 78 f.

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mit der religiösen Erfahrung die Unverfügbarkeit über das ›ganz andere‹ Gegenüber teilt: »Indem ich von der Bäume Bildern / Die Schönheit nicht vermag zu schildern« (S. 78). Die Bäume, die selbst Bilder in Gottes Natur sind, sind in ihrer, d. h. der Bilder, wie Gottes Schönheit nicht zu schildern. Diese Schönheit hat ihre eigene Bedeutung, ihre Bedeutung liegt in ihr selbst.

3. Vergleich und Ausblick Nimmt man beide Positionen vergleichend in den Blick, zeigen sich deutliche Ähnlichkeiten. Sie liegen darin, dass in der Kategorie des Spiels eine Differenzierung der festen Relationen zwischen res und verba möglich wird.16 Diese Differenzierung wird, bei Günther wie bei Brockes, durch die Einbeziehung des Bildes und seiner Reflexion gestaltet. Das Bild wird zu einem vermittelnden und erweiternden Dritten zwischen res und verbum. Durch seine Schönheit gewinnt es eine neue Form der Bedeutung, die die Relation zwischen Sache und Wort erweitert. Unterschiede zeigen sich in dem, wie und unter welcher Akzentuierung sich diese Erweiterung darstellt. Bei Johann Christian Günther resultiert aus der Entfaltung des Spiels eine besondere Wertschätzung der Vieldeutigkeit, die das ›Sprach-Spiel‹ als Kunst der Versinnlichung verstehen lässt. Brockes ist hier vorsichtiger. Gegenüber Günthers sprachorientierter, ›säkularer‹, Variante nimmt Brockes die Möglichkeiten der ästhetischen Wahrheit, die in der Schönheit liegen kann, religiös zurück, als ›vergnügte Andacht‹, als ›Trost‹ für die Demut und als ›Hofnung‹ angesichts menschlichen Unvermögens und Schwachheit. So lässt sich bei Brockes von einer gegenstandsorientierten Variante sprechen. In ihr richtet sich die immanente Kritik an die Beschreibungskunst, die es im Sinn von Bild und Schönheit zu überbieten gilt. Insofern bleibt bei Brockes die Relation zwischen res und verbum enger. Auf die Gegenstände bleibt das Spiel ausgerichtet. Primär sind es die religiös gedeuteten Gegenstände der Natur. Günthers ›säkulare‹ Variante scheint sich stärker auf die Seite des Wortes zu schlagen, insofern es um die literarische Darstellung von Welt und um ästhetische Mimesis geht. Das Spiel kann sich von den Gegenständen lösen und eine ›spielerische‹ Eigendynamik entwickeln. Sie wird dann die weitere Entwicklung der Lyrik, der Literatur und Ästhetik im 18. Jahrhundert prägen. So wird Klopstocks ›Heilige Poesie‹17 in der Mitte des Jahr-

16

Siehe zur weiteren Debatte und Kontextualisierung der Kategorie des Spiels in diesem Zusammenhang u. a.: Gunter Gebauer: Spiel, Ritual, Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt. Reinbek bei Hamburg 1998; Ruth Sonderegger: Für eine Ästhetik des Spiels. Hermeneutik, Dekonstruktion und der Eigensinn der Kunst. Frankfurt a. M. 2000. 17 Vgl. hierzu: Joachim Jacob: Heilige Poesie. Zu einem literarischen Modell bei Pyra, Klop-

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3. Sektion · Lothar van Laak

hunderts mit seiner Konzeption der »fastwirklichen Dinge« überaus produktiv die Orientierung an der religiösen Gegenständlichkeit, wie sie sich bei Brockes findet, mit der Dynamik des sprachlichen Spiels verbinden.18 Schiller, noch einmal einige Jahrzehnte später, wird dann am Ende des Jahrhunderts das Spiel selbst zu seiner zentralen ästhetischen Kategorie machen, um ästhetische Gegenständlichkeit und Freiheit der sprachlichen Darstellung wechselweise aufeinander zu beziehen und so in ihren Möglichkeiten zu potenzieren.

stock und Wieland. Tübingen 1997, S. 111–171; Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 6/1: Empfindsamkeit. Tübingen 1997, S. 417–497. 18 Siehe hierzu ausführlicher van Laak: Hermeneutik literarischer Sinnlichkeit (wie Anm. 3), S. 149–173.

Barbara Thums (Tübingen) »Kann die Phantasie etwas geben, was sie nie empfangen hat?« Geister sehen und Geister beschwören als ›Sache‹ von Aufklärern und anderen Liebhabern des Sinnlichen Die Intervention der Einbildungskraft in Wahrnehmungsprozesse wird im 18. Jahrhundert zu einem zentralen Problem. Dabei werden auch das Wunderbare sowie das Geistersehen und die Geisterbeschwörung zu einer intensiv diskutierten ›Sache‹ der Aufklärung. Beteiligt sind die unterschiedlichsten Wissensformen,1 es betrifft den Paradigmenwechsel im Verhältnis von Mimesis und Darstellung, zudem induziert es eine beunruhigende Unentscheidbarkeit zwischen Natürlichem und Künstlichem sowie zwischen Fakt und Fiktion. In diesem Kontext scheint eine umfassende Wahrnehmungsschulung unabdingbar: Sie bezieht sich auf das Wissen der Moralphilosophie, Pädagogik, Medizin, Physiologie, Anthropologie und Ästhetik; sie richtet sich auf die Konstitution des modernen Subjekts; und sie betrifft Prozesse der Produktion und Rezeption in den Künsten. Insbesondere die Kategorie der Aufmerksamkeit spielt eine entscheidende, aber immer noch wenig beachtete Rolle.2 Sie soll Wahrnehmungsprozesse so steuern, dass ein schwärmerisches oder gar irrationales Ausschweifen der Einbildungskraft verhindert und ein Darstellungskonzept garantiert wird, das sich einer antimimetischen Kunst einfügt, ohne die Grenzen des Geschmacks zu verletzen. Dieser Problemzusammenhang ist für Schillers Geisterseher grundlegend, für den die dichotome Organisation der Begriffe ›Blendwerk‹ und ›Aufmerksamkeit‹ sowie medientheoretische und poetologische Aspekte der Aufmerksamkeitssteuerung leitend sind: Schillers Geisterseher nämlich bringt eine spezifisch ästhetische Neubewertung eben jener Unentscheidbarkeit hervor, die im Diskurssystem der Aufklärung ausschließlich als Gefährdung wahrgenommen werden konnte.

I. Narrative Zerstreuung Schillers Romanfragment Der Geisterseher ist ein ausgesprochen disparates Textgebilde, das insgesamt dem Prinzip der Zerstreuung zu folgen scheint. Als Fortsetzungsroman ab 1787 in sechs Lieferungen in der Thalia und 1798 dann als Buchaus1

Vgl. dazu Yvonne Wübben: Gespenster und Gelehrte. Die ästhetische Lehrprosa G. F. Meiers (1718–1777). Tübingen 2007. 2 Vgl. dazu Barbara Thums: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und Selbstbegründung von Brockes bis Nietzsche. München 2008.

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gabe erschienen, lässt er sich auf kein bestimmtes Genre festlegen: Es ist ein buntes Gemisch aus populärer Gespenstergeschichte, Geheimbundroman, Detektiverzählung, Politikthriller, psychologischer Fallstudie, Liebesroman, Briefroman und philosophischem Traktat.3 Auch der verwirrende Wechsel der Erzählinstanzen scheint dem Prinzip der Zerstreuung zu folgen: So weist sich die Rahmenerzählung des Grafen von 0** als authentische Erinnerung eines verlässlichen Zeugen aus: »Reine, strenge Wahrheit wird meine Feder leiten«,4 versichert der Graf, der dem Leser die Geschichte des hinters Licht geführten Prinzen als »Beitrag zur Geschichte des Betrugs und der Verirrungen des menschlichen Geistes« (48), d. h. als Fallgeschichte im Geiste der Aufklärung erzählt. Die anschließende Binnenerzählung steht diesem Wahrheitsanspruch in nichts nach – ihr Erzähler, der Sizilianer, stellt sich ebenfalls als »Augenzeuge« vor, der »eine merkwürdige Begebenheit« (79) zu erzählen hat. Beide Erzählungen konstruieren also die Fiktion einer Authentizität und damit zugleich einen Leser, der seine Aufmerksamkeit auf die Differenzierung von Fakt und Fiktion, von Sein und Schein, von Wahrheit und Täuschung zu richten hat. Und doch besteht ein bemerkenswerter Unterschied: Der Graf erzählt eine Fallgeschichte, der Sizilianer eine ›unerhörte Begebenheit‹: Die dem Leser aufgetragene Differenzierung zwischen Fakt und Fiktion ist durch diese Verschiebung von der Fallgeschichte zur Novelle offenbar mit einem dicken, Verwirrung stiftenden Fragezeichen versehen. Er soll einerseits Unterscheidungen vornehmen, andererseits aber verweist die Verschiebung von Fallgeschichte zu Novelle darauf, dass Unterscheidbarkeit nicht gegeben ist. Überdies treten zumindest zwei Erzähler, der Sizilianer und Civitella, explizit als Betrüger in Erscheinung. Nicht nur die Multiplikation der Erzählinstanzen, auch die verschachtelten Erzählebenen deuten auf das Prinzip der Zerstreuung. So kommentiert etwa ein anonymer Herausgeber die Memoiren des Grafen von 0**, der einen Brief mitteilt, in den eine Novelle eingelassen ist. Auch hier wird die Aufmerksamkeit auf die Authentizität des Erzählten so inszeniert, dass die ›reine Wahrheit‹ zerstreut wird in die Relativität vieler Wahrheiten. Insgesamt wird im Verlauf der Erzählung zunehmend deutlich, dass sie nicht der Wissensvermittlung dient, sondern selbst immer aktiver Scheinhaftigkeit produziert. So übernehmen die eingelassenen Briefe im zweiten Teil des Geistersehers komplett die Darstellungsfunktion, und zwar nicht als Medien des authentischen Selbstzeugnisses, sondern als Medien der Täuschung und der Intrige. 3

Vgl. zu den Gattungsreferenzen in den einzelnen Lieferungen ausführlich Hans Richard Brittnacher: Schiller als Erzähler und Romancier. »Der Geisterseher« und seine Fortsetzungen. In: Friedrich Schiller. Die Realität des Idealisten, hrsg. v. Hans Feger. Heidelberg 2006. S. 343–365, S. 352–357. 4 Friedrich Schiller: Der Geisterseher. In: Ders.: Erzählungen, theoretische Schriften. Hrsg. v. Wolfgang Riedel. München, Wien 2004 (Sämtliche Werke in 5 Bden., Bd. 5), S. 48–182, S. 48. Zitate werden im Folgenden in Klammern im Text ausgewiesen.

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Äußerst vielschichtig und komplex kommt also das Prinzip der Zerstreuung auf der Darstellungsebene zum Tragen. Dass diese narrative Zerstreuung funktional bezogen ist auf die im Geisterseher verhandelte Problematik der sinnlichen Erkenntnis und damit auch auf die Frage »Kann die Phantasie etwas geben, was sie nie empfangen hat?« (135) – dies gilt es im Folgenden näher auszuführen.

II. Aufmerksamkeit, pathologisch: Zur Bildungsgeschichte des Prinzen Die Intrigen im Geisterseher haben einzig das Ziel, die empfindsame Seele des protestantischen Prinzen so zu zerrütten, dass er zum Übertritt in die katholische Kirche und zur widerrechtlichen Aneignung der Krone seines Landes bereit ist. Hierfür setzen die katholische Geheimgesellschaft, ihre Helfershelfer und allen voran ihr Oberhaupt, der genialische Magier, genannt der Armenier, auf ein ausgeklügeltes Überwachungsund Bespitzelungssystem sowie auf eine umfassende und mit modernsten Mitteln der Technik ausgestattete Täuschungsmaschinerie.5 Doch auch durch Kunst und durch die Anziehungskraft der weiblichen Körperschönheit in Gestalt der schönen Griechin soll der Prinz verführt werden. All diese Verführungskünste richten sich auf die sinnliche Erkenntnis, der die Aufmerksamkeit als Wahrnehmungsinstanz vorgeschaltet ist. Die Manipulation der Wahrnehmung, genauer die gezielte Steuerung der Aufmerksamkeit, die Voraussetzung und Strategem von Wahrnehmung ist, bildet – so die These – den Brennpunkt all der im Geisterseher erzählten Geschichten. In einem ersten Schritt lässt sich dies an der im Romanfragment dargestellten Bildungsgeschichte des Prinzen erläutern, die natürlich auch immer unter dem Vorbehalt des unzuverlässigen Erzählarrangements zu sehen ist. »Religiöse Melancholie war eine Erbkrankheit in seiner Familie«, die »bigotte, knechtische Erziehung« und die falsche Lektüre haben das Übrige getan, um »seinem zarten Gehirne Schreckbilder ein[zudrücken], von denen er sich während seines ganzen Lebens nie losmachen konnte« (105). So lautet die Diagnose, die aus der Position des philosophischen Arztes gestellt zu sein scheint. Denn auch hier waltete sein Lieblingshang vor, der ihn immer zu allem, was nicht begriffen werden soll, mit unwiderstehlichem Reize hinzog. Nur für dasjenige, was damit in Beziehung stand, hatte er Aufmerksamkeit und Gedächtnis; seine Vernunft und sein 5

Zur Einordnung des Romans in die Arkanwelten der Aufklärung vgl. Michael Voges: Aufklärung und Geheimnis. Untersuchungen zur Vermittlung von Literatur- und Sozialgeschichte am Beispiel der Aneignung des Geheimbundmaterials im Roman des späten 18. Jahrhunderts. Tübingen 1987; sowie zuletzt Ralf Klausnitzer: Poesie und Konspiration. Beziehungssinn und Zeichenökonomie von Verschwörungsszenarien in Publizistik, Literatur und Wissenschaft 1750–1850. Berlin, New York 2007.

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Herz blieben leer, während sich diese Fächer seines Gehirns mit verworrenen Begriffen anfüllten (108).

Dieses setting einer pathologisch fixierten Aufmerksamkeit, die Trug- und Wahnbilder hervorbringt, ist eine als äußerst problematisch eingestufte ›Sache‹ der Aufklärung. Aus Sicht der philosophischen Ärzte liegt eine mangelnde Aufmerksamkeitsschulung vor, was zu einer zerstreuten, ins Maßlose überspannten Einbildungskraft, mithin zu einer kranken Seele führt. Die »Lieblingsschwärmerei« des Prinzen, mit »der Geisterwelt in Verbindung zu stehen« (59), ist ein typisches Symptom für eine derart definierte kranke Seele. Diese macht ihn zum perfekten Opfer für die Verführungskünste des Sizilianers und des Armeniers, die aus dem empfindsamen und moralisch integren Prinzen einen in Ausschweifungen und Luxus schwelgenden, spielsüchtigen Lebemann machen, dessen »Zweifelsucht« (106) die Grundlage seines unglücklichen Bewusstseins bildet: »Er fühlt, daß er nicht ist, was er sonst war – er sucht sich selbst – er ist unzufrieden mit sich selbst und stürzt sich in neue Zerstreuungen, um den Folgen der alten zu entfliehen.« (122) III. Aufmerksamkeit, detektivisch: Die mediale Inszenierung des Wunderbaren In welch hohem Maße Der Geisterseher die Aufmerksamkeit als Voraussetzung und Strategem von Wahrnehmung in den Brennpunkt des Geschehens rückt, ist allein mit dem erfahrungsseelenkundlichen Blick auf die Bildungsgeschichte des Prinzen jedoch nicht zu klären. Im 18. Jahrhundert und auch im Geisterseher durchquert die Aufmerksamkeit in ihrer Bezogenheit auf die Zerstreuung nicht nur das pädagogische, psychologische, medizinische und religiöse Wissen der Zeit, sondern auch das philosophische und ästhetische. Ein ausführlicher Blick auf die medialen Inszenierungen des Wunderbaren kann dies zeigen: Als erstes verfolgen die Betrüger den Prinzen auf Schritt und Tritt mit detektivischer Aufmerksamkeit. Dann setzen sie kleinere »Taschenspielerstückchen« (66) ein, deren Ziel es ist, »einen Gemütszustand in [ihm] vorzubereiten, der [ihn] für das Wunderbare, das [sie] mit [ihm] im Sinne [hatten], empfänglich machen« soll (72 f.). Bei der anschließenden Inszenierung der Geistererscheinung wird schließlich durch gezielte Reizüberflutung eine kontrollierte Aufmerksamkeit verhindert. Alle Sinne werden aktiviert, um die Zuschauer so zu manipulieren, dass sie von den betrügerischen Praktiken abgelenkt und stattdessen auf das Wunderbare vorbereitet werden. Der Geruchssinn wird mit »Spiritus« und »Olibanum« beschäftigt, das Gehör mit einer unverständlichen »Beschwörung«, mit »eine[r] hohle[n], kaum hörbare[n] Stimme« sowie mit einem plötzlichen »Donnerschlag«, und der Tastsinn ist beteiligt, weil der Sizilianer die Zuschauer etwa »einander die Hände reichen« oder am Ende »alle zugleich einen Streich wie vom Blitze« (63) erhalten lässt. Die Medien dieser

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»›magischen‹ Sinnesdatensymphonie«6 bleiben freilich unsichtbar, ist es doch für das »moderne Dispositiv des Wunderbaren« entscheidend, dass alle Aufmerksamkeit auf das Sichtbarwerden des Unsichtbaren gelenkt und die Medien dieser Sichtbarmachung vergessen werden.7 Auf die Frage, wozu während der Beschwörung zwei Degen kreuzweise über seinen Schädel gehalten werden sollten, antwortet der Sizilianer unumwunden: Zu nichts weiter, als um Sie beide, denen ich am wenigsten traute, während des ganzen Aktus zu beschäftigen. Sie erinnern sich, daß ich Ihnen ausdrücklich einen Zoll hoch bestimmte; dadurch, daß Sie diese Entfernung immer in acht nehmen mußten, waren Sie verhindert, Ihre Blicke dahin zu richten, wo ich sie nicht gerne haben wollte (75).

Kleinste Details werden also für solche gezielten Ablenkungsmanöver im Sinne des perfekten Betrugs wichtig. Eine solche Aufmerksamkeit aufs Kleinscheinende – um eine zeitgenössische Formulierung von Karl Philipp Moritz zu verwenden – ist es aber auch, die des Sizilianers Trickbetrügereien auffliegen läßt. Denn auch der Prinz erweist sich als Meister der detektivischen Aufmerksamkeit auf jenes ›Kleinscheinende‹, das schon im Begriff anzeigt, dass das vermeintlich Kleine genau besehen eine große ›Sache‹ der Aufklärung ist. Es ist nämlich ausgerechnet ein Ring, mithin das Symbol der Aufklärung schlechthin, der den Prinzen stutzig macht und den Sizilianer zu Fall bringt. Im Rahmen der im Geisterseher angestellten Suche nach der Unterscheidbarkeit von Schein und Wahrheit wird der Ring als Symbol der Bindung und Treue, der Ewigkeit und Vollendung sowie der genealogisch abgesicherten Identität zwar immer wieder genannt,8 doch nur, um die an ihn gebundenen und für die Aufklärung so zentralen Wertigkeiten in ihr Gegenteil zu verkehren. So wird der Ring hier zum Zeichen für die Abwesenheit von Moralität, für die Durchschlagskraft des Überwachungssystems mit seinen ausgeklügelten Strategien der Aufmerksamkeitsmanipulation und damit für die Absolutheit des betrügerischen Scheins.

6

Volker Mergenthaler: Sehen schreiben – Schreiben sehen. Literatur und visuelle Wahrnehmung im Zusammenspiel. Tübingen 2002, S. 68. 7 Vgl. dazu Natascha Adamowsky: Das Wunderbare als gesellschaftliche Aufführungspraxis: Experiment und Entertainment im medialen Wandel des 18. Jahrhunderts. In: Reiz – Imagination – Aufmerksamkeit. Erregung und Steuerung von Einbildungskraft im klassischen Zeitalter (1680–1830), hrsg. v. Jörn Steigerwald, Daniela Watzke. Würzburg 2003, S. 165–185, S. 167. 8 Zum Ringsymbol vgl. s. v. »Ring«. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole, hrsg. v. Günter Butzer, Joachim Jacob. Stuttgart, Weimar 2008, S. 298 f.

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IV. Aufmerksamkeit, ästhetisch: Die mediale Inszenierung des Schönen Die hohe Kunst der Aufmerksamkeit ist jedoch nicht nur eine notwendige Voraussetzung zur Erzeugung betrügerischen, sondern auch zur Erzeugung ästhetischen Scheins. Dies zeigt etwa der lange Dialog zwischen dem Prinzen und dem Grafen über die Täuschungsmanöver des Sizilianers und des Armeniers. Dort wird die Kunst der Aufmerksamkeit auf Kleinscheinendes explizit mit der Vorgehensweise »dramatischer Schriftsteller« (96) in Bezug gesetzt. Gleichzeitig wechselt die Erzählung hier in den dramatischen Modus von Rede und Gegenrede, und es werden produktionsund wirkungsästhetische Fragen diskutiert, die man auch aus der zeitgenössischen Dramentheorie kennt: Etwa die Frage nach dem Verhältnis von Aufmerksamkeit und Zerstreuung als Strategie der Scheinerzeugung: Setzen Sie, er habe es getan, um eben dadurch, daß er meine Aufmerksamkeit auf einer Seite vorsätzlich aufforderte und wachsam erhielt, sie auf einer andern, die ihm wichtiger war, einschlummern zu lassen. Setzen Sie, er habe einige Erkundigungen einzuziehen gehabt, von denen er wünschte, daß sie auf Rechnung des Taschenspielers geschrieben würden, um den Argwohn von der wahren Spur zu entfernen (98).

Die Konzentration der Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Punkt bei gleichzeitiger Abschattung des Umfelds ist ein zentrales Prinzip der aufklärerischen Rahmenschau. Spätestens mit der in Georg Friedrich Meiers Ästhetik formulierten Empfehlung, alle übrigen Bewusstseinsinhalte zugunsten der abstrahierenden Isolation in den »ästhetischen Schatten«9 zu stellen, hält dieses Prinzip Einzug in die ästhetische Theorie10, und diese konzentrierte, klare Grenzen zwischen Zentrum und Peripherie ziehende Aufmerksamkeit wird insbesondere für die Abstraktionskunst des Klassizismus grundlegend. Die Täuschungsmanöver des Armeniers und des Sizilianers sind von unterschiedlicher Qualität. Während nämlich der Armenier bei seinen Täuschungsmanövern stets das rechte Maß einhält, neigt der Sizilianer, wie der Prinz erkennt, zur Übertreibung: »›Aber es liegt im Charakter dieser Art Leute, daß sie solche Aufträge übertrei-

9

Georg Friedrich Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Erster Theil. Halle 1748, S. 26. 10 Vgl. dazu etwa auch Johann Georg Sulzer: s. v. »Ganz«. In: Ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter aufeinanderfolgenden, Artikeln abgehandelt. Bd. 1. Von A bis J. Reprograf [ND der 2. verm. Aufl. Leipzig 1792]. Mit einer Einl. v. Giorgio Tonelli. Hildesheim 1970. Bd. 2, S. 292: »Man kann die Aufmerksamkeit so stark auf einen Theil richten, daß man das Ganze, dem er zugehöret, kaum gewahr wird. […] Wenn also der Künstler seinen Gegenstand interessant zu machen, und unsre Aufmerksamkeit ganz auf ihn zu lenken weis, so löset er ihn dadurch von dem Ganzen, dem er zugehört, ab, und kann ihn selbst leicht zu einem Ganzen machen.«

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ben und durch das Zuviel alles verschlimmern, was ein bescheidener und mäßiger Betrug vortrefflich gemacht hätte.‹« (100) Maßlosigkeit gefährdet hier den Betrug, und Maßlosigkeit wird auch in der zeitgenössischen Anthropologie als Gefährdung der schönen Seele und in der zeitgenössischen Ästhetik als Gefährdung des Kunstwerks gesehen. Wiederholt werden also Aspekte der betrügerischen und der ästhetischen Scheinerzeugung bis zur Ununterscheidbarkeit übereinander geblendet. Schließlich stellt sich auch hinsichtlich der Erzeugung des ästhetischen Scheins die Frage: »Kann die Phantasie etwas geben, was sie nie empfangen hat?« So fragt nämlich der sich im Liebestaumel befindende Prinz nach seiner Begegnung mit der schönen Griechin, die er als »Idealisches«, als »überirdisch Vollkommenes« wahrnimmt und die in ihm ein absolut »neues, einziges Gefühl« auslöst (135).11 Der Prinz kann keine Worte finden, um »das himmlisch schöne Angesicht zu beschreiben«, welches diese »Engelseele« hat, die »wie auf ihrem Thronensitz die ganze Fülle ihrer Reize ausbreitete« (132). Die Beschreibung der ästhetischen Erfahrung, die der Prinz hier gibt, erinnert an Statuenbeschreibungen, wie man sie bei Winckelmann oder Herder finden kann, sie erinnert aber auch an die himmlischen Erscheinungen der romantischen Kunstreligion (etwa Wackenroders). Und tatsächlich wird das Romantische im Sinne von romanhaft und wunderbar aufgerufen: »Die geheimnisvolle Unbekannte des Prinzen erinnerte den Marchese Civitella an eine romantische Erscheinung, die ihm selbst vor einiger Zeit vorgekommen war, und um den Prinzen zu zerstreuen, ließ er sich bereit finden, sie uns mitzuteilen« (142). Civitella erzählt, wie er die Schöne mit einem »Tubus« (144) beobachtet und was er mittels dieser medial gesteuerten Aufmerksamkeitskonzentration auf das gleichsam gerahmte Bild sieht: »Welche himmlische Gestalt erblicke ich! – War es das Spiel meiner Einbildung, war es die Magie der Beleuchtung? Ich glaubte, ein überirdisches Wesen zu sehen, und mein Auge floh zurück, geschlagen von dem blendenden Licht« (144). Offenbar ist die Wirkung der überirdischen Schönheit so gewaltig, dass Civitellas Blick nicht standhalten kann. Vergleichbares geschieht dem Prinzen: Gerade die leidenschaftliche Aufmerksamkeit, womit er ihren Anblick gleichsam verschlang, hatte ihn gehindert, sie zu sehen; für alles das, worauf andere Menschen ihr Augenmerk vorzüglich würden gerichtet haben, war er ganz blind gewesen; nach seiner Schilderung war man eher versucht, sie im Ariost oder Tasso als auf einer venezianischen Insel zu suchen (139).

Bei maßloser Aufmerksamkeit – so könnte man die beiden Passagen zusammenfassen – geht das Objekt verloren. Die Einbildungskraft des Betrachters ersetzt das 11

»Er geht wie ein Träumender umher, und nichts von allem, was ihn sonst interessiert hatte, kann ihm jetzt nur eine flüchtige Aufmerksamkeit abgewinnen« (158).

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konkrete Wahrnehmungsobjekt durch die ästhetische Idee, und das heißt auch: Für die ästhetische Erfahrung des Scheins, für die »Geistigkeit ihrer Bilder« und für deren imaginative Durchsicht auf die Sinneinheit der Idee spielen materielle Zeichen keine Rolle.12 Den Wahrnehmungsmanipulationen der Geisterinszenierungen vergleichbar, gilt es auch hier, vom Materiellen zu abstrahieren, alle Aufmerksamkeit auf das Sichtbarwerden des Unsichtbaren zu lenken und die Medien dieser Sichtbarmachung zu vergessen. Das Zusammenspiel von Erinnerung und Ahndung, wie es die Romantik für ihre Ästhetik produktiv machen wird, ist offenbar bedeutsamer als das faktisch zu Sehende. Damit aber dieses romantische Zusammenspiel von Erinnerung und Ahndung in Gang gesetzt werden kann, bzw. damit ästhetische Erfahrungen wie die des Prinzen zustande kommen können, müssen vergangene mit aktuellen Sinneseindrücken verschaltet, erinnerte mit aktuellen Wahrnehmungsbildern verknüpft werden. Im Geisterseher geschieht dies, indem der Prinz auf die Erscheinung der schönen Griechin gezielt vorbereitet wird – er wird nämlich »durch Betrachtung schöner Kunstwerke für Schönheit überhaupt empfänglicher gemacht« (135), und er geht nur deshalb in die Kirche, in der er dann die schöne Griechin treffen wird, weil man ihn für die Kirche »sehr aufmerksam gemacht hatte« (130). Die Begegnung mit der schönen Griechin ist also, der Geistererscheinung vergleichbar, ein Ergebnis betrügerischer Aufmerksamkeitsregie.13 Doch auch der Leser wird kunstvoll manipuliert. Der aufmerksame Leser wird – dafür sorgt das Erzählarrangement – die aktuelle Wahrnehmung der Liebesszene mit der vergangenen Wahrnehmung der Geistererscheinung verknüpfen und dabei zu der Ahndung gelangen, dass die Wahrheit des ästhetischen Scheins und die trickbetrügerische Kunst der Täuschung zwei Seiten einer Medaille sind. Auf diese Weise bringt Schillers Geisterseher nicht nur die Nachtseiten der Aufklärung zur Anschauung,14 sondern betreibt eine Aufklärung der Aufklärung, für die

12

Vgl. dazu Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766). In: Ders.: Werke 1766–1769. Hrsg. v. Wilfried Barner. Frankfurt a. M. 1990 (Werke und Briefe in 12 Bden., Bd. 5.2), S. 11–206, S. 60 f. Zu Lessings Repräsentationsmodell vgl. David E. Wellbery: Das Gesetz der Schönheit. Lessings Ästhetik der Repräsentation. In: Was heißt »Darstellen«?, hrsg. v. Christiaan L. Hart Nibbrig. Frankfurt a. M. 1994, S. 175–204. 13 Auf die Analogien zwischen der im Geisterseher dargestellten Erzeugung des betrügerischen und jenes ästhetischen Scheins, den die Ästhetischen Schriften Schillers später ausarbeiten werden, ist bereits mehrfach hingewiesen worden. Anders als im vorliegenden Beitrag, lag der Fokus jedoch stets auf der Frage nach der moralischen Funktion der Kunst. Vgl. dazu insb. Gert Ueding: Wahrheit lebt in der Täuschung fort. Historische Aspekte der »Vor-Schein-Ästhetik«. In: Literatur ist Utopie, hrsg. v. dems. Frankfurt a. M. 1978, S. 81–102; Liliane Weissberg: Geistersprache. Philosophischer und literarischer Diskurs im späten achtzehnten Jahrhundert. Würzburg 1990, S. 127; und zuletzt Matthias Hurst: Im Spannungsfeld der Aufklärung. Von Schillers Geisterseher zur TVSerie The X-Files: Rationalismus, Film und Fernsehen 1786–1999. Heidelberg 2001, S. 139. 14 Zur Einordnung des Geistersehers in die Aufklärung vgl. Hans Richard Brittnacher: Dunkel-

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das Wechselverhältnis von Aufmerksamkeit und Zerstreuung grundlegend ist: Denn zum einen spielt die Aufmerksamkeit als Wahrnehmungsinstanz für die Bildungsgeschichte des Prinzen ebenso wie für die Inszenierungen des Wunderbaren und Schönen eine entscheidende Rolle. Zum anderen verdankt sich die narrativ konstruierte Ununterscheidbarkeit von betrügerischem und ästhetischem Schein wesentlich dem Darstellungsprinzip der Zerstreuung. Dabei kommt es zu einer Überlagerung anthropologischer, wahrnehmungstheoretischer und ästhetischer Begründungsmuster: D. h. die Schwärmerei und religiöse Melancholie des Prinzen bereiten den fruchtbaren Boden für die Aussaat der ›neuen Philosophie‹, die wiederum in Verbindung zur ästhetischen Erfahrung in der Kunstbetrachtung, zur Erzeugung des ästhetischen Scheins und zur ästhetischen Wahrnehmung der Körperschönheit gebracht wird. Tendenziell erschließt sich eine Verschiebung vom betrügerischen zum ästhetischen Schein, der auf der Ebene der Darstellung eine Verschiebung vom Anliegen der Fallgeschichte hin zum Novellistischen und Dramatischen korrespondiert. Dabei wird die im Geisterseher so intensiv diskutierte Frage, ob die Phantasie etwas geben kann, was sie nie empfangen hat, mit einem deutlichen Ja beantwortet.

männer im Licht. Dialektik der Aufklärung in Schillers Der Geisterseher. In: Übersetzen, Übertragen, Überreden. Hrsg. v. Sabine Eickenrodt, Stephan Porombka u. Susanne Scharnowski. Würzburg 1999, S. 173–183. Vgl. außerdem Matthias Hurst: Im Spannungsfeld der Aufklärung. Von Schillers Geisterseher zur TV-Serie The X-Files: Rationalismus, Film und Fernsehen 1786–1999. Heidelberg 2001.

Christian Metz (Frankfurt a. M.) Gemalt, gefoltert und gelacht. Zum Phänomen des Kitzels in der Ästhetik der Aufklärung

1. Einleitung Das Phänomen des Kitzels in der »Ästhetik der Aufklärung« hat von Seiten der Forschung bislang keinerlei Beachtung gefunden. Das Ziel der folgenden Überlegungen ist, darzustellen, dass der Kitzel ebenso in Kunstwerken wie in der ästhetischen Theorie der Aufklärung eine bislang verborgen gebliebene, aber dennoch essentielle Rolle spielt. Dazu stelle ich zwei Erscheinungsformen des Kitzels vor, die innerhalb von zwei Kunstgattungen und im Rahmen von zwei unterschiedlichen ästhetischen Konzepten zu verorten sind. Die Analyse widmet sich erstens dem leichten Kitzel in der religiösen Malerei der Aufklärung. Sie zeigt, dass der Kitzel ein elementarer Bestandteil in der Produktions- wie in der Rezeptionsästhetik dieser Zeit ist. Die Untersuchung wendet sich zweitens dem heftigen – mit Lachen verbundenen – Kitzel in der Literatur derselben Zeit zu. Sie führt vor, dass der Lachkitzel dort im Spannungsfeld von Komik und Gewalt zu verorten ist.

2. Der leichte Kitzel in der religiösen Malerei der Aufklärung Auf den ersten Blick spielt der Kitzel in der religiösen Malerei der Aufklärung keine Rolle. Um ihn dennoch ausfindig zu machen, orientiert sich die Argumentation zunächst an Joseph Imordes Studie »Affektübertragung«.1 Dort hat Imorde, ohne dass es ihm selbst darauf angekommen wäre, den »leichten Kitzel« in der Ästhetikdebatte der Aufklärung entdeckt. Imorde betrachtet – vor allem anhand von Beispielen aus der italienischen Malerei –, wie man sich in unterschiedlichen Epochen die Übertragung von Affekten in der religiösen Bildkunst vorgestellt hat. Aus seiner Sicht basiert diese Übertragung auf einem Modell, das seinerseits aus vier Einheiten und drei Übertragungen besteht. Diese vier Einheiten sind: Gott, Maler, Bild und Betrachter. Übertragen werden Offenbarungsempfindungen. Gott überträgt diese auf den Maler, dieser – indem er zum Pinsel greift – auf die Leinwand, und das Bild affiziert im Augenblick der Rezeption den Betrachter. Wichtig an diesem Modell ist die Wahrhaftigkeit der Übertragung, also zum einen die Authentizität der übertragenen Empfindungen sowie zum anderen die Identität derselben: Gott gibt dieselben 1

Joseph Imorde: Affektübertragung. Mit 22 Abbildungen und 5 farbigen Beilagen. Berlin 2004.

Gemalt, gefoltert und gelacht

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Affekte in derselben Weise auf den Maler weiter wie das Bilder (späterhin) auf den Betrachter. Imorde behauptet nun – in einer Art »grand recit« –, dass es im Übergang vom Barock zur Aufklärung zu einer grundlegenden Neuformation kommt, wie man sich diese Übertragung der Affekte vorgestellt hat. Er korreliert diese Umkodierung mit der sich parallel vollziehenden Ablösung der antiken Körpervorstellungen, die von der Humorallehre, der Pneumatheorie und der Vorstellung, das Herz bilde das Zentrum äußerlicher Wahrnehmung, geprägt sind. Sie werden ersetzt durch ein neues Körperverständnis, welches die Körperströme austrocknet, die empirischen Grenze der Körperlichkeit als manifest erklärt, und das Gehirn als Schaltzentrum der Wahrnehmung erkennt.2 Diese Veränderung führt nach Imorde dazu, dass das aufklärerische Modell der Übertragung nicht mehr länger auf dem Schmecken der »Süße« Gottes beruht, sondern jetzt auf das Taktile rekurriert: »Begriffe des Haptischen beginnen die Seele zu bearbeiten. Die Metaphorik eines wie aus der Ferne wirkenden Tastsinns läßt sich nun häufiger den Selbstzeugnissen und Briefwechseln entnehmen.«3 Und so behauptet Imorde weiter: Die Offenbarungsempfindung beruht auf einem willensunabhängigen Eindruck, eine wie von Ferne auf den Leib eindringende, penetrante Kraft, die sich dem tastenden Sensorium mechanisch als Kitzel, Beben oder Zittern bemerkbar machte und vorzugsweise als Rührung oder Empfindung metaphorisiert wurde.4 [Hervorh. C.M.]

Der Maler wartet – so die Vorstellung – zurückgezogen von der Alltagswelt, passiv und ständig bereit auf den Moment, in dem Gott von seinem exklusiven Zugriffsrecht Gebrauch macht und ihn berührt – ihn kitzelt. Und was für den Maler gegenüber Gott verbindlich ist, konstituiert auch das Verhältnis zwischen Bild und Betrachter. Das Bild, die Sache, greift auf den Betrachter über. Die Kunst berührt, sie kitzelt den Betrachter so, wie Gott den Künstler. Von diesem produktions- und rezeptionsästhetischen Kitzelmodell Imordes aus nehmen die folgenden Überlegungen zwei Fäden auf. Erstens kann man aus der Tatsache, dass Imorde diese Übertragung von Offenbarungsempfindungen in ein Umfeld der Ruhe und Ausgeglichenheit einbettet, in welchem die Vormacht der Vernunft zu keiner Zeit gefährdet ist, auf den Charakter des Kitzels schließen, der dort wirksam ist. Da ein heftiger – mit Lachen verbundener – Kitzel das Szenario der Ruhe zerstören würde, handelt es sich um einen »leichten Kitzel«.5 Wobei dieser

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Diese Neukodierung hat eindrücklich Albrecht Koschorke in seiner brillanten Studie »Körperströme und Schriftverkehr« nachgezeichnet. Vgl. ders.: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999, S. 47 f. 3 Imorde: Affektübertragung, S. 130. 4 Ebd., S. 131. 5 Zum Kitzel als Empfindung vgl. Eva-Maria Engelen: Emotionologie. In: Emotionales Gesetz-

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3. Sektion · Christian Metz

leichte Kitzel offenbar eine andere Empfindungsform annimmt, als wir sie heute am eigenen Leib erfahren können. Wenn wir uns heute beispielsweise leicht über den Arm streifen, so empfinden wir einen leichten Kitzel, die so genannte »Knismesis«, als eher unangenehm. Im 17. Jahrhundert hingegen galt dieser Kitzel, der nicht mit Lachen verbunden war, als eindeutig angenehm. René Descartes hält dies in seinen 1649 erschienenen »Leidenschaften der Seele« fest. Er verwendet dort den Kitzel sogar als Chiffre für alle angenehmen Empfindungen überhaupt: So folgt dem Kitzel der Sinne unmittelbar die Freude und dem Schmerz die Traurigkeit. Aber der Grund, der bewirkt, daß gewöhnlich auf einen Kitzel die Freude folgt, liegt darin, daß alles, was man Kitzel oder angenehme Empfindung nennt, in der Bewegung besteht, die die Gegenstände der Sinne in den Nerven hervorrufen […].6

Da diese Einschätzung des Kitzels von den heutigen Einschätzungen divergiert, hält der Kommentar zu Descartes Ausführungen extra noch einmal fest: »Der Kitzel ist hier noch in der universalen Bedeutung von angenehmer Empfindung gebraucht.«7 Wie kontinuierlich diese Einschätzung bis in das 19. Jahrhundert wirksam ist, bestätigt ein Blick auf J. Eberhards »Kritisches Wörterbuch der Philosophie«, das in drei Ausgaben 1787, 1826 und 1852 erschienen ist. Dort heißt es noch in der dritten, überarbeiteten Auflage: »Der Kitzel ist an und für sich eine angenehme Empfindung.«8 Und darauf: »Wohltun? Was ist’s – ein Kitzel ist es«, sowie – in einer wohl etwas heiklen, etymologischen Ableitung: »Es ist daher auch wahrscheinlich, dass Kitzeln aus Getzeln entstanden sei und also von dem Getzen, welches noch in Ergetzen üblich ist.« Indem diese Definition den Kitzel erneut in einem Zusammenhang mit dem Ergötzen bringt, schließt sich der Kreis zwischen Gott und Kitzel erneut. Der Kitzel erscheint als Empfindung göttlicher Kraft, welchen den Gekitzelten »ergötzt«. Man kann also schlussfolgern: In der Aufklärung spielt der Kitzel an zwei Funktionsstellen der Produktions- wie Rezeptionstheorie religiöser Bildkunst eine entscheidende Rolle: Gott kitzelt den Künstler, das Bild kitzelt den Betrachtet, und zwar jeweils auf die angenehmste Weise, so, wie wir es heute nicht mehr am eigenen Leib erfahren. Zweitens erweitert sich Imordes Modell insofern, als die Vorstellung des »sanften Kitzels« in der Aufklärung nicht einfach aus dem Nichts aufkommt. Vielmehr lässt die Ästhetik eine Vorstellung aufleben, welche dem christlichen Denken und der buch. Dekalog der Gefühle, hrsg. v. Rainer Maria Kiesow, Martin Korte. Köln, Weimar, Berlin 2005, S. 295. 6 René Descartes: Die Leidenschaften der Seele. Französisch–Deutsch. Hrsg. u. übers. v. Klaus Hammacher. Hamburg 1996, S. 90. 7 Ebd., Kommentar S. 350. 8 Johann August Eberhard u. a.: Versuch einer allgemeinen Synonymik in einem kritisch-philosophischen Wörterbuch. Bd. 3. Leipzig 1826, S. 514 (Lemma, Juck).

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ebensolchen Bildkunst grundlegend eingeschrieben ist. Der zur conditio humana gehörende »sanfte Kitzel«, durch den sich schon bei Aristoteles, dann aber auch bei Descartes der Mensch von allen anderen Lebewesen unterscheidet,9 gehört überall dort zum elementaren Bestandteil religiöser Malerei, wo diese die »Leibhaftigkeit Jesu« in Szene setzt. Dort inszenieren die Bilder den sanften Kitzel, um das Faszinosum der Menschwerdung und Leiblichkeit Gottes ins Bild zu setzen. Ist Jesus sanft berührbar oder nicht, entscheidet darüber, ob er als Menschgewordener oder als »Idee« des unsterblichen Gottessohnes inszeniert wird. Die religiöse Bildkunst kennt vor allem zwei Schlüsselstellen, an denen diese Frage in besonderer Weise virulent ist. Erstens ist dies der Fall kurz nach Jesus Auferstehung. Dort haben sich zwei Bildsujets ausgeprägt, die sich beide auf das Johannes-Evangelium beziehen. Zum einen ist dies das Bild von Maria Magdalena vor Jesus Grab, das zum Typus des »Noli me tangere« geronnen ist. Zum anderen handelt es sich um die Inszenierung des »ungläubigen Thomas«. Zweitens stellt sich die Frage nach der »Leiblichkeit Gottes« am anderen Ende von Jesus Leben, nämlich an seiner Geburt, die in der bildenden Kunst stets im Bildsujet der Mutter mit dem Kinde inszeniert wird. Jean Luc Nancy hat am Bildtypus des »Noli me tangere« gezeigt, dass das Taktile dort als Zugang zum Unzugänglichen dient: »[…] du berührst das Unberührbare, das sich außerhalb der Reichweite deiner Hände hält […].«10 Berührung findet statt, indem sie nicht stattfindet. Statt eines faktischen Kontakts ist die dort inszenierte Berührung »Tangente ohne Kontakt.«11 Tatsächlich gilt in den »Madonnen-Jesus-Bildern«, denen Nancy in seiner Studie keinerlei Beachtung schenkt, dasselbe für die Berührung, wie im Fall von »Noli me tangere«. Denn dort ist Jesus als Menschenkind und als Gottessohn, als Leibhaftiger und Unsterblicher zugleich dargestellt. In diesem Bildsujet dient der sanfte Kitzel dazu, die Berührbarkeit des unberührbaren Gottessohnes einerseits, die liebevolle (durchaus auch erotisch konnotierte) Zuneigung der Mutter zu ihrem »leibhaftigen« Sohn andererseits, in das Bild umzusetzen. Der sanfte Kitzel ermöglicht, beides gleichzeitig in eine Bildsprache zu übersetzen. Um diese Formen des Kitzels darzustellen, genügen zunächst drei Beispiele. Tiepolos Bild entstand im 18. Jahrhundert. Um die Konstanz des Motivs aufzuzeigen, das eben nicht erst in der Aufklärung aufkommt, stammen die anderen beiden Beispiele aus dem 15. respektive 16. Jahrhundert (vgl. Abb. 1–4).

9

»Dass nur der Mensch kitzlig ist, dafür ist die Ursache die Feinheit seiner Haut« (Aristoteles: Über die Teile der Lebewesen. Übers. u. erläutert v. Wolfgang Kullmann. Berlin 2007, S. 81). 10 Jean-Luc Nancy: Noli me tangere. Übers. v. Christoph Dittrich. Berlin 2008, S. 30. 11 Ebd., S. 35.

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Abb. 1., oben links: Giovanni Battista Tiepolo, Madonna mit Kind, Padua, Santa Martino, Piove di Sacco (1736). Abb. 2., oben rechts: Cosmè Tura: Madonna col Bambino, Bergamo, Accademia Carrara (1460-1465) Abb. 3 und Abb. 4, mitte und unten: (Detail): Tizian, Madonna der Familie Pesaro, Venedig, Santa Maria Gloriosa dei Fari (1526).

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Da auf den Bildern sanft gekitzelt wird, kommt man zu folgendem Schluss: Die Inszenierung des sanften Kitzels in der religiösen Bildkunst geht weit über die Zeit der Aufklärung hinaus. Im 18. Jahrhundert aber kommt es erstmals zu einer Verschaltung von drei religionsästhetischen Ebenen. Gott berührt den Maler, wie Maria (auf dem Bild) das Jesuskind, wie das Bild den Betrachter, auf angenehmste Weise, als Figur des Berührens des Unberührbaren – in Form des sanften Kitzels. So viel zum sanften Kitzel in der religiösen Malerei.

3. Die Kitzelfolter in Grimmelshausens »Simplicissimus« Anders als beim »sanften Kitzel« gehen die Überlegungen im Fall des Lachkitzels nicht auf Spurensuche nach einem auf den ersten Blick verborgenen Phänomen. Vielmehr entwickeln sie sich von einem konkreten literarischen Beispiel aus, das den Lachkitzel prominent ausstellt. Den Ausgangspunkt der Argumentation bildet Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausens »Der abentheuerliche Simplicissimus Teutsch« aus dem Jahre 1668/69. Der Roman inszeniert gleich zu Beginn, noch bevor sein Protagonist auf seine Reise aufbricht, den Kitzel, der mit Lachen verbunden ist, als Kitzelfolter. Simplicissimus lebt zu diesem Zeitpunkt der Erzählung auf dem Land, im Hause seiner Eltern, um ihn herum tost der 30jährige Krieg. Eines Tages überfallen Soldaten den heimischen Hof: In Summa, es hatte jeder seine eigene Invention, die Bauren zu peinigen und also auch jeder Baur seine sonderbare Marter. Allein mein Knän war meinem damaligen Bedenken nach der glücklichste, weil er mit lachendem Munde bekannte, was andere mit Schmerzen und jämmerlicher Weheklage sagen mußten, und solche Ehre widerfuhr ihm ohn Zweifel darum, weil er der Hausvater war; denn sie satzten ihn zu einem Feur, banden ihn, daß er weder Hände noch Füße regen konnte, und rieben seine Fußsohlen mit angefeuchtem Salz, welches ihm unser alte Geiß wieder ablecken und dadurch als kitzeln mußte, daß er vor Lachen hätte zerbersten mögen. Das kam mir so artlich und anmutig vor, daß ich Gesellschaft halber, oder weil ich’s nicht besser verstund, von Herzen mitlachen mußte. In solchem Gelächter bekannte er seine Schuldigkeit und öffnete den verborgenen Schatz, welcher von Gold, Perlen und Kleinodien viel reicher war, als man hinter den Bauren hätte suchen mögen.12

Mit dieser Szene ist die Kitzelfolter an einer unübersehbaren Stelle in den literarischen Diskurs eingearbeitet. Betrachten wir diese Folterszene, welche die Körper12

Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausens: »Der abentheuerliche Simplicissimus deutsch«. Aus dem Deutschen des 17. Jahrhunderts u. mit einem Nachwort v. Reinhard Kaiser. Frankfurt a. M. 2009, S. 26 f.

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lichkeit vehement in den Vordergrund rückt, näher, so fällt auf, dass dort mindestens vier Figuren lachen und – das ist im Folgenden zu zeigen – auch vier gekitzelt werden. Erstens der Vater, der »Knän«, der von einer Ziege gekitzelt wird, sowie drei andere Figuren, die jeweils der Anblick eines Bildes zum Lachen reizt. Das ist zunächst Simplicissimus junior, der vom Anblick seines Vaters lachen muss. Das ist zum zweiten Simplicissimus senior, der Erzähler, der vom Anblick seines jugendlichen Selbst sowie seines Vaters lachen muss. Und nicht anders ergeht es viertens auch dem (imaginären) Leser, auf den die gesamte Szene komisch wirkt. Wenn man diese vier Instanzen nacheinander betrachtet, lässt sich von ihnen aus ein Gewebe des Kitzels entspinnen, das den ästhetischen Diskurs des 18. Jahrhunderts durchzieht. Der Blick konzentriert sich zunächst auf den Gefolterten. Betrachtet man, warum der Vater lacht, zeigt sich, dass dem Dargestellten das von der Antike bis zur Barockzeit tradierte Körpermodell unterliegt. Wie es dem Vater ergeht, kann man mit Aristoteles’ Vorstellung des Körpers, des Lachens und des Kitzels erklären. Aristoteles versteht in seiner Abhandlung »Über die Theile der Geschöpfe« Lachen und Kitzel nicht als mentale, sondern als physiologische Phänomene. So entsteht das Lachen durch Erschütterung und Erwärmung des Zwerchfells. »Wenn das Zwerchfell durch untere Aktivitäten erwärmt wird oder durch andere Ereignisse in Schwingung versetzt wird, so muss der Mensch lachen.«13 Das ist ein unwillkürlicher Vorgang, gegen den man sich nicht wehren kann – exakt so, wie wenn man gekitzelt wird: Wenn man nämlich gekitzelt wird, lacht man sofort, weil die Bewegung schnell an diese Stelle [das Zwerchfell, C.M.] gelangt, und, obwohl sie nur ganz wenig erwärmt, dennoch die Gesinnung ans Licht bringt und erregt, und zwar gegen den Willen. […] Kitzlig sein ist Lachen infolge einer derartigen Erregung in der Gegend der Achselhöhle.14

Der äußere Reiz wird also über die Erwärmung und Bewegung der Humorales an das Zwerchfell weitergeleitet. Dessen Schwingung wirkt sich ihrerseits über die Körpersäfte unmittelbar auf die Wahrnehmung und den Verstand des Gekitzelten aus, und zwar alles andere als positiv: »Wenn es [das Zwerchfell] nämlich wegen der Nachbarschaft warme überschüssige Flüssigkeit anzieht, verwirrt es offensichtlich sofort den Verstand und die Wahrnehmung.«15 Angesichts dieser Ausführungen erweist sich Grimmelshausens Szene als eine beinahe 1:1 Übersetzung von Aristoteles’ Theorie des Kitzels. Der Vater wird am Fuß gekitzelt, diese Berührung erzeugt Wärme, die ihrerseits an das Zwerchfell weitergeleitet wird. Das gerät in Schwingung, und der Vater lacht und lacht, bis er die Beherrschung über seinen Verstand verliert und sein 13 14 15

Aristoteles: Über die Teile der Lebewesen, S. 80. Ebd. Ebd.

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Geheimnis des verborgenen Schatzes (und damit seine Gesinnung) verrät. Dass die Soldaten in dieser Szene ebenfalls auf der Folie dieses antiken Körpermodells handeln und selbstverständlich über Aristoteles’ Wissen verfügen, wird klar, da sie den Vater neben ein Feuer setzen. Dessen Wärme steigert nach Aristoteles’ Erklärung den Kitzeleffekt zusätzlich, weil sie das Zwerchfell in noch größere Schwingung versetzt, als es der Kitzel alleine tun würde, und die Wahrscheinlichkeit auf ein Geständnis damit beträchtlich erhöht. Der einzige Unterschied zwischen Aristoteles’ Vorlage und Grimmelshausens Narrativ ist: Bei Aristoteles werden die Achselhöhlen gekitzelt. Bei Simplicissimus’ Vater sind es die Füße, die zudem auch noch von einer Ziege abgeleckt werden. Der Kontakt besteht also nicht mehr wie bei dem antiken Vorbild zwischen zwei Menschen, sondern zwischen Tier und Mensch, und die Fußsohlen sind in der Hierarchie der Körperteile den feinhäutigen Achselhöhlen eindeutig nachgeordnet. Zudem ist der Kitzel bei Grimmelshausen keine Lust mehr, sondern eine Folter. Mit dieser Verschiebung im Vergleich zu Aristoteles markiert der Text die Verrohung der eigenen Zeit und grenzt sie von der zur Positivfolie stilisierten Antikenvorstellung ab. Mit der Reinszenierung aber von Aristoteles’ Kitzel ist der Ausgangspunkt von Grimmelshausens narrativer Reflexion klar markiert. Er stellt die Tatsache aus, dass die eigene Zeit weiter in den Körpervorstellungen der Antike verhaftet ist. Auf dieser Basis kann man sich der zweiten lachenden Figur, dem jungen Simplicissimus, zuwenden. Warum lacht dieser? Bleibt man dem vom Text aufgerufenen Körpermodell der Antike treu, so kann man dessen Lachen mit Hilfe der Humorallehre und der Pneumatheorie erklären. Denn die Pneumatheorie gibt ja – wie Albrecht Koschorke eindrücklich vorgeführt hat16 – vor, dass alle Körper in einem physiologischen Dauerkontakt stehen, bei dem jeder äußere Reiz, der von einem Körper ausgeht, eine direkte Reaktion in den Körpern der Gegenüber auslöst. Lachen und Kitzeln stecken unter diesen Umständen auf physiologischem Wege an. Sie sind in der Folterszene als »Kontaktkrankheiten« inszeniert, die jederzeit barrierefrei von einem auf einen anderen Körper überspringen können. Allerdings ist dies nur die eine Lesart der Szenerie, es gibt noch eine zweite: Denn die Szene hebt mit einigem sprachlichen Aufwand hervor, dass Simplicissimus ein Verständnisproblem hat. Der einfachste unter den Einfachen versteht nicht, dass der tödliche Ernst hier in der Gestalt des Lachens erscheint, dass die Qual der Folter im Falle seines Vaters die Ausdrucksform der Freude annimmt, und dass die zuvor am eigenen Leib erfahrene Armut im scharfen Kontrast zu dem dann offenbarten, bislang verborgenen Reichtum steht. Dieses paradoxiale Zusammenfallen von Gegensätzen, die bestimmte Erwartungen evozieren, um diese umgehend zu unterlaufen, bewirkt, dass er die Kitzelszene als Scherz auffasst. Und über diesen Scherz lacht er. 16

Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 35 f.

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Dass diese hermeneutische Konzeption ein aufklärerisches Programm einschließt, kristallisiert sich besonders klar heraus, wenn man liest, dass Immanuel Kant ca. 70 Jahre nach dem Erscheinen von Grimmelshausens Roman den Scherz exakt so definiert, wie die Kitzelfolterszene ihn inszeniert. Offenbar hat Kant den Simplicissimus, die dort exponierte Kitzelszene und den Aristoteles fest im Blick, als er sich an seine Definitionsarbeit macht. Der Scherz besteht nach Kant darin, dass eine Erwartung (Folter sei mit Schmerzen verbunden) aufgebaut wird, das Erwartete aber nicht eintritt. In Folge dieses Prozesses hebt der Scherz – wie bei Kant später auch die Einbildungskraft – die sonst so streng verteidigte Trennung zwischen Geist und Sinnlichkeit auf, und zwar ausdrücklich zum Wohle des so Gereizten. Im § 54 der »Kritik der Urteilskraft« heißt es: Im Scherze hebt das Spiel der Gedanken an, die insgesamt, sofern sie sich sinnlich ausdrücken wollen, auch den Körper beschäftigen, und indem der Verstand in dieser Darstellung, worin er das Erwartete nicht findet, plötzlich nachläßt, so fühlt man die Nachlassung im Körper durch Schwingung der Organe, welche die Herstellung ihres Gleichgewichts befördert und auf die Gesundheit einen wohltätigen Einfluß hat.17

Während der Widersinn des Scherzes den Verstand täuscht, reizt er das Zwerchfell wohltuend. Das geschieht, […] indem es [das Zwerchfell, C. M.] bey einer Erwartung zusammengezogen wird; es geräth in schwankende Bewegung, die durch unerwartete Dinge verursacht wird. Diese Bewegung stößt die Lunge an, und setzt sie gleichfalls in Bewegung, die durch das Einziehen und Abstoßen der Luft stoßweise den Ausbruch der Freude oder des Lachens hervorbringt. - Der Gedanke, der beim Lachen ist, macht nicht fröhlich, sondern die innere Bewegung durch das Lachen, es ist eine beßre Bewegung als Hölzer sägen und reiten.18

Die Bewegung macht fröhlich, nicht aber der Gedanke. Das ist wichtig, weil man daraus folgern kann, dass der Scherz bei Kant exakt so funktioniert wie der Kitzel bei Aristoteles. Denn – so Manfred Geier in seiner Studie »Worüber kluge Menschen lachen« über Kants Theorie des Scherzes: »Durch Witze wird, wie auch durch das Kitzeln, das Zwerchfell in Schwingung versetzt.«19 Oder noch pointierter formuliert und die Folterszene im »Simplicissimus« in den Blick nehmend: Der Scherz kitzelt 17

Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Wiesbaden 1957 (Werke in 6 Bden., Bd. 5), S. 436. 18 Immanuel Kant: Wintersemester 1772/1773. Nachschrift Collins. In: Ders.: Vorlesungen zur Anthropologie. Erste Hälfte. Hrsg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1997 (Gesammelte Schriften, Abt. IV, Bd. 2,1), S. 1–238, hier S. 145. 19 Manfred Geier: Worüber kluge Menschen lachen. Kleine Philosophie des Humors. Reinbek 2006, S. 134.

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Simplicissimus, und zwar im Modus und Modell der Aufklärung, weil Simplicissimus zwar denkt, sich seine Gedanken aber im »freien Spiel« verlieren und er aufgrund der Bewegung des Zwerchfells lacht. Der Scherz kitzelt, weil er eine doppelte Wirkung hat. Die Gedanken entlässt er ins freie Spiel, das Zwerchfell versetzt er zugleich in Bewegung. Dieses Kitzelkonzept fungiert in Grimmelshausens Roman als Initiation des Protagonisten, der direkt im Anschluss an die dort geschilderten Ereignisse von zu Hause aufbricht. Simplicissimus lacht sich frei. Seine von da an beginnende Reise changiert nun ihrerseits zwischen barocken und aufklärerischen Vorstellungsmustern. Einerseits verläuft sie noch so abenteuerlich wie zu Don Quijotes Zeiten, andererseits enthält sie mit der Initiation und der schrittweisen Schulung des Protagonisten das Programm, das nach ihm die Bildungsromane ausformulieren. Zwei Lachende sind bedacht, bleibt noch, einen Blick auf den erzählenden Simplicissimus und den imaginären Leser zu werfen. Warum lachen diese? Weil Simplicissimus und mithin die gesamte Szenerie ihnen als Lächerlich erscheinen. Das Lächerliche ist in der Aufklärung alles andere als ein schwammiger Begriff. In der deutschen Literaturgeschichte ist es vor allem Jean Paul, der sich in seiner »Vorschule der Ästhetik«, in feiner Abtrennung von anderen Formen des Komischen, dem Lächerlichen widmet. Jean Paul bildet den dritten Eckpfeiler, welcher das Gewebe des literarischen Kitzels stützt. Als Lächerlich erscheint nach Jean Paul eine Figur in den Augen eines Beobachters immer dann, wenn sie wie Simplicissimus im Rahmen ihrer begrenzten Möglichkeiten ihre Situation versteht und nach Maßgabe ihrer eingeschränkten Erkenntnis handelt. Der Leser fühlt sich in diese Figur ein, kann ihr Handeln als subjektiv sinnvoll nachvollziehen und weidet sich doch zugleich an der Lust der eigenen, der Figur überlegenen Einsicht. Genau hier führt Jean Paul in der »Vorschule der Ästhetik« den Kitzel ein: Ein drittes Element des komischen Genusses ist der Reiz der Unentschiedenheit, das Kitzeln des Wechsels zwischen scheinbarer Unlust (an dem Minimum des fremden Verstandes) und zwischen der eignen Lust der Einsicht […]. Insofern daher nähert sich das Komische dem körperlichen Kitzel […].20

Jean Paul etabliert den Kitzel als »Kategorie des Geistes«. Wobei die Hin- und Herbewegung der Unentschiedenheit sowie die Oszillation zwischen Unlust und Lust die körperliche Kitzelbewegung, das Streifen mit einer Feder über die Haut, aufnehmen und in das kognitive Register übertragen. Dass dieser geistige Kitzel seinerseits Lust und Folter zugleich evoziert, betont Jean Paul bereits kurz zuvor: »Das Komische in der Kunst kann den geistigen Kitzel bis an die Nähe des geistigen Schmerzes

20

Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. Levana oder Erziehlehre. Politische Schriften. Hrsg. v. Norbert Miller. München 1996 (Sämtliche Werke, Abt. I, Bd. 5), S. 123.

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führen.«21 Wer also den jungen Simplicissimus aus der Sicht des erzählenden Alter Egos und des imaginären Lesers betrachtet, wird gekitzelt und lacht. Wobei es sich um den Kitzel des Lächerlichen handelt, mit dem sich Komik und Gewalt auch auf der Ebene des discours überkreuzen. Der »Simplicissimus« inszeniert ein umfassendes Kitzel-Programm. Er ist als Text zu lesen, der sich anhand des Kitzels bereits über die Ästhetik der Aufklärung verständigt.

21

Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 120.

Uwe C. Steiner (Mannheim) Die Sachen als Streitsache der Idylle

1. Zugegeben: Der Titel dieses Beitrags ist um der sprachlichen Pointierung willen nicht eigentlich genau formuliert. Er unterschlägt die Unterscheidung zwischen Ding und Sache, die seine These voraussetzt. Sie, die These, lautet: in der zeitweilig modischen Gattung der Idylle, und in der ästhetischen Diskussion, die sie auch lange nach ihrer Konjunktur noch in Atem halten sollte, offenbaren sich materielle Dinge, insbesondere Artefakte, als eine heikle Streitsache der Aufklärung. Dort erfährt man die Dinge nicht nur in ihrer gegenständlichen Konkretion, man erfährt sie als sozial gleichsam agierende, aber auch als sich entziehende. Aber um diese nicht zufällige, in der Etymologie des Wortes »Ding« – Versammlung und Streitsache – schon angelegte Unschärfe geht es ja gerade. Die Gattung, die sich nicht zuletzt dadurch definiert, dass sie den Konflikt verbannt, die Idylle, trägt unterschwellig einen Streit zwischen Ding und Sache aus. Ich mache mir hier die Unterscheidung zunutze, mit der Jacques Lacan Heideggers Berufung auf die Etymologie von »Ding« als »Versammlung« oder »Streitsache« mit der kantianischen Dingproblematik zusammengedacht hat. Lacan befindet, die zivilisatorischen Dinge ließen sich nie ganz in Sachen auflösen. Dinge öffnen sich zwar für das Sachliche, nämlich für Sprache und symbolische Verkehrsformen, für Gabe, Tausch oder Distribution, für Hantierungen und Praktiken. Indem Dinge, das soll deutlich werden, Sachlichkeit mitbegründen, materielle und symbolische Verkehrsformen, Tausch und Diskurs, ineinander verschränken, indem sie, wie man heute gern sagt, als Aktanten wirksam werden, ermöglichen sie dies alles nicht nur. Vielmehr markieren sie zugleich einen gleichsam dunklen Rückbehalt in oder an jeder Sache. Seinetwegen, meinte Lacan, gehöre das Ding der »stummen Realität« an.1 »Das Ding hat seinen Ort anderswo«, zu ergänzen: als in der Sache. Vorsichtiger formuliert: Darin, dass sich Dinge nicht restlos in Sachen auflösen lassen, offenbart sich eine Grenze von Aufklärung.

1

S. 70.

Jacques Lacan: Das Seminar. Buch VII: Die Ethik der Psychoanalyse. Weinheim 1996,

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2. In einer von Salomon Geßners 1756 publizierten Idyllen geht es nicht gar so konfliktfrei zu, wie es die Gattung eigentlich verlangt. Sie trägt einen nachmalig berühmten Titel: Der zerbrochene Krug. Hirten treffen auf einen schlafenden Faun und fesseln ihn an eine Eiche. Zu seiner Lösung verlangen sie ihm ein Lied ab. Es handelt von eben dem eponymischen Gefäß, den Krug, den der Faun tags zuvor im trunkenen Zustand zerbrochen hatte. Daher erklingt um ihn nun der klagende Refrain: »Er ist zerbrochen, er ist zerbrochen, der schönste Krug, da liegen die Scherben umher!«2 Zwei Eigentümlichkeiten fallen gleich ins Auge. Erstens führt der Antagonismus zwischen Hirten und Faun die rohe, dionysische Natur in die idyllisch befriedete ein, gleichsam als sei es das Problem, das zu lösen die Gattung antritt. Zweitens stellt Geßners bukolische Miniatur keine Menschen, sondern einen Gegenstand ins eigentliche Zentrum. Sujet der Idylle, nämlich ihr Gegenstand und ihr Subjekt, ist der Krug. Der Krug, als primäre Vermittlung zwischen den Quellen der Natur und der Menschenwelt womöglich das idyllische Artefakt par excellence, ist hier bei Geßner ein ganz besonderes Ding. Die Klage des Fauns besingt ihn als ein Ding, das materialiter und figuraliter Gemeinschaft erzeugt. Man könnte ihn mit dem Begriff von Michel Serres als Quasi-Objekt bezeichnen: Als ein Ding, das durch Zirkulation, Einschlussund Ausschlussprozeduren Kollektive hervorbringt.3 So wie Geld die Wirtschaftsgemeinschaft konstituiert, die Monstranz die Gläubigen zur Prozession und die Fernbedienung die Sofakartoffel mit dem Fernsehgerät zusammenschließt,4 ermöglichen, inskribieren, präskribieren, härten und verstetigen Dinge Handlungen5 In Geßners Idylle begründet der Krug die faunische Gemeinschaft als materielle und als symbolische Ökonomie. Als Gebrauchsgegenstand fundiert er die materielle Konsumption, die Gemeinschaft der Zecher. Zugleich trägt er Bilder mythischer Geschichten, und bewirkt so als auf schöne Weise repräsentierendes Ding die symbolische Vergemeinschaftung. Das Ding ist die Sache der Kultur, es löst gleichsam das Versprechen seiner Etymologie ein, es bewirkt und es ist die Versammlung. Wer aus dem Krug trinkt, so heißt es, singt die »darauf gegrabene Geschichte, die seinen Lippen die nächste war«.6 An die Zirkulation des Dings knüpft sich die Sache: während 2 Salomon Geßner: Idyllen von dem Verfasser des Daphnis. Zürich 1756. Zitiert wird im Folgenden: Salomon Geßner: Idyllen. Kritische Ausgabe. Hrsg. v. Ernst Theodor Voss. Stuttgart 1973, S. 35. 3 Vgl. Michel Serres: Der Parasit. Frankfurt a. M. 1981, S. 344–360. 4 Vgl. Bruno Latour: Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory. Oxford, New York 2005, S. 77. 5 Vgl. Ingo Schulz-Schaeffer: Technik in heterogener Assoziation. Vier Konzeptionen der gesellschaftlichen Wirksamkeit von Technik im Werk Latours. In: Bruno Latours Kollektive, hrsg. v. Georg Kneer, Markus Schroer u. Erhard Schüttpelz. Frankfurt a. M. 2008, S. 108–152. 6 Geßner: Idyllen (wie Anm. 2), S. 36.

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der Krug herumgereicht wird, erzählt man rituell, und man sublimiert derart die Triebgewalten, von deren Entfesselung die dem Krug aufgravierten mythischen Geschichten handeln: von Pan und Syrinx, Zeus und Europa. Zwar kann hier auf diese Binnengeschichten nicht näher eingegangen werden, ebenso wenig wie auf Heinrich von Kleists auch in dieser Hinsicht analogen, nationalsymbolisch geschmückten Krug, den eine faunisch gewaltsame Sexualität zu Bruch gehen lässt. Erkennbar wird gleichwohl: Dem Schild des Achill in Homers Ilias vergleichbar, hält das idyllische Requisit in Gestalt dieser alles andere als friedfertigen Ereignisse den nichtidyllischen Problemgehalt repräsentativ im Kern der idyllischen Gattung fest. Als Quasi-Objekt aber wird der Krug erst in der Retrospektive erkennbar. Gegenstand und Subjekt der Idylle ist, um mit Heideggers Zeuganalyse zu sprechen, unzuhandenes Zeug.7 Erst in der Unzuhandenheit tritt das Ding als solches, in seiner Vorhandenheit, in Erscheinung. In ähnlicher Weise wird der Krug, der bislang Flüssigkeit gespeichert und weitergegeben, Bilder getragen und Geschichten ermöglicht hat, erst als zerbrochener zum eigenen sentimentalischen Gegenstand von Erzählungen oder Liedern. Und damit zum geschichtsphilosophischen Inbild einer verlorenen Natur. Wenn Geßners Idylle den Faun klagen lässt: »Izt trinken wir nicht mehr, ihr Brüder! aus dem Krug, izt singen wir nicht mehr die Geschichte, die jedes Lippen die nächste ist«,8 dann erzählt sie nicht nur elegisch vom Verlust kollektiv bindender Objekte, sondern von der Spaltung zwischen Ding und Sache als kaum verhohlenem Kern der Idyllenpoetik. Der letzte Satz streicht darum die elegische Grundierung der Idylle heraus: »So sang der Faun, und die jungen Hirten banden ihn los und besahen bewundernd die Scherben im Gras.«9 Das ist Klartext. Die Bewunderung der Hirten macht aus dem unzuhandenen Gegenstand ein ästhetisches Objekt. Eines aber, das über das Schöne hinausweist. Es symbolisiert sentimentalisch das Ideal der Einheit von Ding und Sache. In der Sprache der Aufklärung heißt das auch: Natur. Der Krug war die Versammlung. Zerbrochen, evoziert er die in der Idylle und ihrer Poetik stets erneut verhandelte Streitsache, die Streitsache der Kultur, die verlustig gegangene Natur. Dergestalt schreibt sich die Idylle ins Problemzentrum der bald florierenden kulturreflexiven Diskurse ein. Was die idyllische Miniatur am konkreten Gegenstand festmacht, verhandelt ihre Poetik auf dem Schauplatz der zivilisationskritischen Reflexion. Wenn Schiller in Über naive und sentimentalische Dichtung die Unverträglichkeit des vorkulturellen Arkadiens mit den »künstlichen Verhältnissen der größern Sozietät« beschreibt, resümiert er ein geläufiges Motiv.10 Schon Gottsched begreift 7 8 9 10

Martin Heidegger: Sein und Zeit (1927). Tübingen 151984, §§ 15, 16. Geßner: Idyllen (wie Anm. 2), S. 36. Ebd., S. 37. Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Ders.: Erzählungen.

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im Versuch einer critischen Dichtkunst (1724–29) Arkadien als Normbild einer natürlichen, also rechtmäßig geordneten Gesellschaft im Kontrast zur frühmodernen Gesellschaft und ihren Lasten, wie sie noch aus den Residuen feudaler Macht und schon aus der einsetzenden funktionalen Differenzierung resultieren. Gottsched kontrastiert die Schäfer des goldenen Zeitalters mit dem realen Landleben der Gegenwart, das politisch unterdrückt, ökonomisch karg und moralisch korrupt sei. Zugleich legt er einigen Wert darauf, gleichsam alle elementaren sozialen und kulturellen Funktionen im arkadischen Modell auszumachen. Er spricht von der Ökonomie, er thematisiert den Handel, der noch bloßer Tauschhandel und noch nicht zu Händeln entartet gewesen sei, er rühmt mit der hausväterlichen Autarkie zugleich deren Rechtsprechung als ein Konfliktmanagement noch vor der Ausdifferenzierung von Recht und Moral.11 Wieland betont in seinem Artikel »Hirtengedichte« für Sulzers Allgemeine Theorie der schönen Künste 1771, das bukolische Genre verweise auf einen realhistorischen Kern. Darüber hinaus grenzt er die »Idillen« als »Gemählde aus der unverdorbenen Natur« gegen all das ab, »was bey policierten Völkern unter den Namen der Gebräuche, des Wohlstands, der Politesse und dergleichen, die freyen Würkungen der Natur hindert« und zumal gegen die Idolatrie »von unsern schimärischen Gütern«.12 M. a. W.: In den modernen Gütern und Gegenständen vermisst man den substantiellen Widerhalt, die Sachen haben gleichsam kein Fundament im Ding und vice versa. Aus diesem Grund wird sich Goethe in Herrmann und Dorothea der Aufgabe widmen, die »modernen Gegenstände«, trotz ihrer »empirischen Breite« dem Epischen anzubequemen.13

Theoretische Schriften. Hrsg. v. Gerhard Fricke, Herbert G. Göpfert. München 91993 (Sämtliche Werke, Bd. 5), S. 745. 11 Vgl. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. Teil 2: Anderer besonderer Teil. Hrsg. v. Joachim Birke, Phillip Marshall Mitchell. Berlin 1973 (Ausgewählte Werke, Bd. 6.2), hier insb.: Kap. III: Von Idyllen, Eklogen oder Schäfergedichten, S. 75 ff. 12 Johann Georg Sulzer: s. v. »Hirtengedichte«. In: Ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. In einzelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt. Bd. 1. Leipzig 1771–74, S. 537–540, hier S. 539. 13 Johann Wolfgang von Goethe: Briefe der Jahre 1786–1805. Hrsg. v. Karl Robert Mandelkow. München 31988 (Goethes Briefe und Briefe an Goethe, Hamburger Ausgabe in 6 Bden., Bd. 2), S. 294. Vgl. Uwe Steiner: »Gespenstige Gegenständlichkeit«. Fetischismus, die unsichtbare Hand und die Wandlungen der Dinge in Goethes Herrmann und Dorothea und in Stifters Kalkstein. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissen und Geistesgeschichte (DVjs) 74/4 (2000), S. 627–653.

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3. Goethe folgt bekanntlich einem Vorbild: Johann Heinrich Voß. Es war Vossens bürgerliche Idylle, die die modernen und moderneren Gegenstände in aller empirischen Breite in die Gattung eingebracht hatte und damit eine in ihren Folgen kaum zu überschätzende Zäsur in der Idyllenpoetik und –rezeption markieren sollte. Die bürgerliche Idylle schließt an das idyllische Projekt, Dinge wieder zu Sachen zu machen, modifiziert es aber in einer entscheidenden Hinsicht: In ihr weicht die sentimentalische Natur der bukolischen Idylle der zweiten Natur der hervorgebrachten Gegenstände. Sie führt die »Hirtenunschuld« nicht nur in den »Subjekten der Kultur« aus, wie Schiller sagt14, sondern auch in deren Objekten. Die bürgerliche Idylle verhält sich sentimentalisch zur Inneneinrichtung, zu Intérieur und Hausrat. Hegels Ästhetik wird dieses Ideal im 19. Jahrhundert resümieren. Im von ihm so genannten »epischen Weltzustand« sind Ding und Sache noch eins gewesen, »Haus und Hof, Gezelt, Sessel, Bett, Schwert und Lanze« seien nie »nur […] to(te) Mittel« gewesen.15 Dagegen hebt sich das prosaische Zeitalter ab: Die bürgerliche Welt der Herstellung, des Handels und des Verkehrs, der Organisationen und Institutionen, in Hegels Worten: »der lange weitläufige Zusammenhang der Bedürfnisse und Arbeit, der Interessen und deren Befriedigung«, der »jedes Individuum aus seiner Selbständigkeit heraus in eine unendliche Reihe der Abhängigkeiten […] verschränkt«, tauge »seiner ganzen Breite nach« nicht mehr in Verse.16 Es sei denn in der beschränkten Welt des Haushalts. Ein kurzer Blick auf Johann Heinrich Voß: Der siebzigste Geburtstag (1780) mag das illustrieren. Hier wird mit der Vorbereitung des titelgebenden Festes der bürgerliche Alltag zum Gegenstand einer minuziösen epischen Vergegenwärtigung, einer poetischen Empirie der bürgerlichen Haushaltung. Die Hexameter tasten geradezu minuziös das Inventar der Dinge ab. Die gute Stube versammelt lauter gediegenene Dinge, Dinge von ererbter Solidität, etwa den »eichenen Schrank mit Engelköpfen und Schnörkeln,/ Schraubenförmigen Füssen, und Schlüsselschilden von Messing«,17 darinnen aufbewahrt auch Nachfolger des faunischen Krugs, nämlich »Trinkgläser mit eingeschliffenen Bildern«,18 die auf Wilhelm Busch vorausdeutende Tabakspfeife und dergleichen mehr.

14

Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung (wie Anm. 10), S. 750. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III. Hrsg. v. Eva Moldenhauer, Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1986 (Werke, Bd. 15), S. 341. 16 Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I (Werke, Bd. 13), S. 336 f. 17 Johann Heinrich Voß: Der siebzigste Geburtstag (1781). In: Ders.: Sämtliche Gedichte von Johann Heinrich Voß. Zweiter Theil: Idyllen. Bern 1969 [ND der Ausg. Königsberg 1802), S. 267–293, hier S. 274. 18 Ebd. 15

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3. Sektion · Uwe C. Steiner

Ja, Voß entwickelt gleichsam Vorformen einer Materialpoesie, wenn er die Stofflichkeit der Gegenstände betont, den haargepolsterten und mit Leder bezogenen Lehnstuhl etwa, auf dem der Patriarch in seinem kalmankenen Hausrock ruht, während die Hausfrau auf dem binsenbeflochtenen Spinnstuhl sitzend tätig wirkt. Ausführlich werden zudem die Alltagsvollzüge geschildert, die Pragmatiken der Dingpflege, des Hantierens und der Besorgungen, das Aufräumen, Reinigen und Feuermachen, Garnwickeln und Weben, und, natürlich, das Kaffeekochen,19 das Hegel so vehement beanstanden sollte. Die Kolonialware Kaffee impliziert ja das den beschränkten Kreis der Idylle überschreitende System globaler Vermittlungen.20 Wie die Hausfrau auf der Handlungsebene, wenn sie die Dinge reinigt, poliert und an den rechten Ort rückt, so macht sich die bürgerliche Idylle selbst die Dinge und deren Ordnung zu ihrer Sache. Vielleicht darum nimmt es wenig Wunder, dass ihre Poetik einem dem häuslichen Wirtschaften analogen »Prozeß der Akkumulation«21 unterliegt. So, wie sich im Haushalt die Dinge vermehren, erweitert sich Der siebzigste Geburtstag, und erweitert sich erst recht auch Vossens populärste Idylle Luise von Fassung zu Fassung. Immer mehr Geräte und Details, Praktiken und MenschDing-Assoziationen werden von Mal zu Mal ausführlicher beschrieben. Voß ist sich der poetologischen Brisanz seiner Dingvermehrungen bewusst. Die »mannigfaltigen Beschreibungen äußerlicher Dinge und Zustände«,22 um noch einmal Hegel in Erinnerung zu rufen, werfen ja spätestens seit Lessing das Problem der Integration ausgedehnter Dinge in den poetischen Prozess auf. Voß trägt dem weitgehend Rechnung, indem er die Dinge, wie Lessing es gefordert hatte, in Handlungen integriert, indem er die ekphrastischen Exzesse in Praktiken übersetzt. Aber exakt die Bündigkeit solcher Übersetzungen ist ja mittlerweile nicht nur ein ästhetisches, sondern ein kulturelles Problem. Es wird, darin bleibt Geßners faunische Idylle sozusagen emblematisch problemleitend, aus der Retrospektive sichtbar. Der Krug fasziniert als zerbrochener, der Ausgangspunkt bleibt die zunehmende kulturelle Unzuhandenheit der Objektwelt. Die Streitsache trägt denn auch ein Doppelgesicht, das einer Krise der Dinge, und das einer Krise der Sachen. Die Konjunktur der Idylle, insbesondere die der bürgerlichen, fällt zusammen mit Krise der Zweckursachen. Die teleologische Erklärungsweise, seit Aristoteles die Elementarkategorie der Sinngebung, wurde schon von Spinoza vernichtend kritisiert und im Verlaufe des 18. Jahrhunderts zugunsten der mechanischen Kausalursachen aus dem Feld der Naturerklärung ausgeschlos-

19

Ebd., S. 281 f. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I (wie Anm. 16), S. 339 f. 21 Helmut J. Schneider: Die sanfte Utopie. Nachwort. In: Idyllen der Deutschen. Texte und Illustrationen, hrsg. v. dems. Frankfurt a. M. 1978, S. 399. 22 Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III (wie Anm. 16), S. 341. 20

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sen. Konnte die arkadische Idylle noch an das physikotheologische Programm einer Lobpreisung der Schöpfung in ihrer durchgängigen Ordnung und Zweckmäßigkeit anschließen, fokussiert sich die bürgerliche Idylle auf die menschliche Schöpfung, auf die zweite Natur. (Noch der Pfarrer in Herrmann und Dorothea argumentiert wie ein Physikotheologe.) Auf dem Gebiet der Naturerklärung mag es sich bei der Zweckvorstellung um einen »Anthropomorphismus« handeln, gut.23 Artefakte aber, sind sie nicht von Menschen zu bestimmten Zwecken geschaffen worden? Sollte das Zweckschema daher nicht wenigstens auf dem Feld der geschaffenen Dinge noch gelten dürfen? Mit dieser Anmutung tritt das bürgerliche Intérieur als Sinn- und Ordnungsmodell an die Stelle der Natur, es handelt sich gewissermaßen um die Urform des Cocooning. Wo, wenn nicht hier, könnten Dinge ganz Sachen sein? Umso irritierender muss es wirken, wie die Krise der Zweckursachen auch auf die menschengeschaffenen Dinge durchschlägt. Damit überschreitet der ut-picturapoesis-Streit die Grenzen der ästhetischen Immanenz. Vor dem Hintergrund der einsetzenden Artefaktrevolution reflektiert er, auf seine Weise, die historisch neue Aufdringlichkeit der Dinge für die europäische Kultur. An ihrer für illegitim befundenen Macht hatte sich insbesondere die aufgeklärte Kritik des Fetischismus24 gestoßen. Eine irritierende Macht bekunden die sperrigen Objekte auch in ihrer Sprödigkeit oder gar Resistenz gegen das Material der Poesie, gegen arbiträre Zeichen in zeitlicher Sequenz. Wenn strittig ist, ob die Dinge fortan überhaupt noch Sache der Poesie sein können, scheint dann nicht gar die Sache der Aufklärung überhaupt bedroht? Wenn sich, wie bei Lessing, herausstellt, dass die Integration der Dinge in Beschreibungen problematisch wird, Dinge vielmehr nur in Handlungsvollzügen darstellbar seien, wird ein Überschuss im Ding jenseits des Handlungs- und damit Sinnvollzugs erkennbar. Das wird auch bei Lessing gut erkennbar. »Handlungen«, heißt es im Laokoon, »können […] nicht für sich selbst bestehen, sondern müssen gewissen Wesen anhängen. In so fern nun diese Wesen Körper sind, oder als Körper betrachtet werden, schildert die Poesie auch Körper, aber nur andeutungsweise durch Handlungen.«25 Lessings Formulierung ist intrikat. Sie beschreibt Handlungen als Produkte von Wesen, denen sie anhängen. Als diese Wesen kommen Körper überhaupt, also nicht etwa nur Menschen, in Betracht. Die Handlungen in Vossens Der siebzigste Geburtstag stehen in der Tat nicht für sich. Sie hängen an Dingen und die Menschen mit ihnen. Indem Lessing kein Humanprivileg des Handelns statuiert, 23

Ernst Cassirer: Kant und die moderne Biologie. In: Ders.: Geist und Leben. Schriften zu den Lebensordnungen von Natur und Kunst, Geschichte und Sprache. Hrsg. v. Ernst Wolfgang Orth. Leipzig 1993, S. 61–93, hier S. 66. 24 Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Reinbek 2006, S. 15. 25 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon. In: Ders.: Kunsttheoretische und kunsthistorische Schriften. Hrsg. v. Herbert G. Göpfert u. a. München 1974 (Werke, Bd. 6), S. 103.

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3. Sektion · Uwe C. Steiner

indem er auch andere als menschliche Akteure einräumt, vermeidet er die anthropozentrische Fokussierung, die bald darauf einsetzen sollte. So löst der transzendentale Idealismus Dinge in Konstitutionen und Konstruktionen auf, darin Lessings Dekomposition von Körpern in Handlungen vergleichbar. Und der beschreibungstranszendente Rest kehrt im Grenzbegriff des Dings an sich wieder. Den kollabierenden Zweckursachen folgt also eine Krise der Ontologie der geschaffenen Gegenstände auf dem Fuße. Der Dingpol wird, zugespitzt ausgedrückt, theoretisch nicht mehr recht adressierbar. Muss man vor diesem Hintergrund die Subjektivierung in Epistemologie und Ästhetik, bei Kant und Schiller und darüber hinaus, nicht als anthropozentrische Reaktion auf die theoretische, aber zunehmend pragmatische Unzuhandenheit des Gegenständlichen begreifen, von der die Idylle gleichsam ex negativo kündet? Indem das Transzendentalprinzip »nach den ausschließlich menschlichen Quellen der Objektivität« fragt,26 ergreift es gleichsam eine anthropozentrische Rettungsmaßnahme. Schillers Über naive und sentimentalische Dichtung adressiert das aus der Idyllenpoetik längst bekannte Problem des Unbehagens in der Kultur nicht aus der Perspektive auf die Objekte, sondern aus der Perspektive des ästhetischen Gemüts, das »eine Art von Liebe und von rührender Achtung« angesichts der Natur empfindet, einer Natur, wie sie auch in Kindern und »in den Sitten des Landvolks und der Urwelt« anzutreffen sei.27 Der Grund dafür ist leicht zu sehen. Spätestens seit der Kritik der Urteilskraft stellt die ästhetische Subjektivität das Residuum der Teleologie dar, und sei es auch in Gestalt einer Zweckmäßigkeit ohne Zweck. Angesichts der anhaltenden Krise der Dingontologie und der Dingkulturen sollte sich das als Sackgasse erweisen. Die Idylle rettet sich jedoch ins 19. Jahrhundert und damit ins Säkulum der Dinge.28 Mit ihrer Hilfe bewahrt das literarische Wissen ein anderswo gefährdetes Wissen vom Ding, und zwar auch über die offensichtlichen Gattungsspätlinge wie etwa Mörikes Alten Turmhahn hinaus. An Goethes Herrmann und Dorothea werden Wilhelm von Humboldt und Hegels Ästhetik Kulturtheorien der Moderne entwickeln.29 In seiner systematischen Konfliktausmerzung und gegenständlichen Fixierung betreibt Stifters Nachsommer gleichsam

26

So resümiert Steffen Dietzsch: Dimensionen der Transzendentalphilosophie. Studien zur Entwicklung der bürgerlichen deutschen Philosophie 1780–1810. Berlin 1990, S. 11. [Hervorh. i. O.] 27 Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung (wie Anm. 10), S. 694. 28 Vgl. Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Reinbek 2006, S. 17. 29 Vgl. Uwe Steiner: Die Tücke der Kultur und die Utopie des Objekts. In: Kultur-Kompetenz. Aspekte der Theorie, Probleme der Praxis, hrsg. v. Kunibert Bering, Johannes Bilstein u. Hans Peter Thurn. Oberhausen 2003 (Artificium. Schriften zu Kunst, Kunstvermittlung und Denkmalpflege, Bd. 13), S. 47–67.

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einen idyllischen Extremismus. Im Rosenhaus, gleichsam einer kulturtherapeutischen Modellanstalt, sollen die Dinge wieder zur Sache werden. Der approximative Realismus der Bürgerlichkeit der Voß’schen Idyllen sollte eine Matrix für das bereitstellen, was später bürgerlicher Realismus heißen wird, insbesondere für dessen Intérieurs.30 Geßners Krug war nicht von ungefähr zerbrochen. Die Dinge der bürgerlichen Idylle laufen im 19. Jahrhundert auf einen perspektivischen Fluchtpunkt zu, der ihrem Gattungsimpetus denkbar entgegengesetzt erscheint, als Problemhorizont ihres befriedeten Vordergrundes jedoch stets mit präsent gewesen ist. Man denke an August von Platens satirisches Lustspiel Die verhängnißvolle Gabel, in dem das titelgebende Objektsubjekt ein an der zeitgenössischen Schicksalstragödie angelehntes Verhängnis über ein Personal kommen lässt, das arkadische Schäfernamen trägt. Und man denke vor allem an die Tücke des Objekts. Tatsächlich spielt Friedrich Theodor Vischer, der diese Wendung geprägt hat, in seinem Roman Auch Einer von 1878 mehrfach auf die Gattungstradition, etwa auf Johann, den muntren Seifensieder aus Friedrich von Hagedorns so betitelter, auf die bürgerliche Idylle vorausdeutender Verserzählung von 1738 an. Der Philosoph, Ästhetiker und Romancier Vischer lässt seinen Helden die Krise der Zweckursachen explizit auf die Intervention einer aufständischen Dingwelt beziehen. Vom rutschigen Griff eines Handleuchters genarrt, peroriert Vischers romaneskes Alter Ego A. E., es sei doch das »Hauptbestreben« der »deutsch(en) Industrie […] Alles zweckwidrig zu machen.«31 Die Idylle gehört damit in eine Geschichte der Unzuhandenheit, die spätestens in der frühen Neuzeit beginnt, die bei Sterne, Jean Paul, E.T.A. Hoffmann und Vischer literarisch und in Heideggers Zeug-Analyse theoretisch kulminiert. Und wie sehr die materiellen Objekte Sache und Streitsache der Gesellschaft bleiben, erhellt z. B. aus Theodor Fontanes Vor dem Sturm. Im fünften Kapitel des zweiten Bandes erhebt auf einer Weihnachtsgesellschaft eine redselige Figur ihre Stimme. Bamme, so heißt der Mann, echauffiert sich über eine zweiflügelige Rundtür. Er nimmt vor allem Anstoß daran, dass sie ja nichts anderes sei als das »uralte, aus dem Wirtschaftshof in den Salon transponierte Scheunentor«. Ein Ding also, in dessen Gestalt das Bäuerliche Einzug ins Wohnambiente hält, eine idyllengeschichtliche Chiffre, in der sich noch einmal die genrespezifische Transformation vom Arkadischen ins Bürgerliche manifestiert. Eine prekäre Verknüpfung von Ding und Sache, und zumal eine Differenz von Sacherscheinung und wahrem Dingverhalt stellt für Bamme ein eklatantes Ärgernis dar. Der Gegenstand zeige sein wahres Gesicht 30

Vgl. z. B. Richard Brinkmann: Der angehaltene Moment. Requisiten – Genre – Tableau bei Fontane. In: DVjs 53 (1979), S. 428–458. 31 Friedrich Theodor Vischer: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. 2 Bde. Bd. 1. Stuttgart u. a. 51891, S. 111.

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3. Sektion · Uwe C. Steiner

nicht, und übe unter der Maske des bürgerlichen Anstands eine gleichsam zersetzende, anstößige Handlungsmacht aus: worauf ich glaube hinweisen zu müssen, das sind die sozialen, um nicht zu sagen, die sittlichen Gefahren, die von dieser Türform mehr oder minder unzertrennlich sind. Im höchsten Grade solide von Erscheinung, ehrbar, würdig und gesetzt, führen sie zu Konsequenzen, die das gerade Gegenteil von dem allen bedeuten.32

32

Theodor Fontane: Vor dem Sturm. Hrsg. v. Peter Goldammer u. a. Berlin, Weimar 1973 (Romane und Erzählungen in 8 Bden., Bd. 1), S. 182 f.

4. sektion: Materialität der Kommunikation – Medialität der Dinge

Stephan Kammer (München) Materialität der Kommunikation – Medialität der Dinge: Einleitung

Sommer 1689, Lagny-sur-Marne: Am 18. Juli schlägt der Blitz während einer Messe in die Kirche Saint-Sauveur des kleinen, ungefähr 30 Kilometer östlich von Paris gelegenen Städtchens ein. Er trifft den Glockenturm, bricht ins Gewölbe durch und richtet schließlich auf dem Altar der Kirche eine »ziemliche Unordnung« an (bien du desordre). Unter anderem zerstört er den hölzernen Sockel des Christusbilds auf dem Retabel, lässt die Statue aber intakt und an ihrem Platz, so dass sie nach den Berichten der Augenzeugen »wundersamerweise« (miraculeusement) an ihrem vormaligen Ort zu schweben scheint. Außerdem zerreißt er Altartuch und -decke dergestalt, dass deren Risse die Form eines Antoniuskreuzes zeigen. Und schließlich druckt er im Augenblick seines Einschlags auf dieses Altartuch die »heiligen Konsekrationsworte«, den gesamten Text des entsprechenden Ausschnitts aus dem Missale Romanum (›Qui pridie…‹), indes mit zwei bemerkenswerten Ausnahmen. Es fehlen – ausgerechnet – die zentralen Wandlungsworte: »Hoc est enim corpus meum« sowie »Hic est enim Calix Sanguinis mei, novi et aeterni testamenti, mysterium fidei, qui pro vobis et pro multis effundetur in remissionem peccatorum«. An ihrer Stelle steht auf dem Stück Stoff, das unter derart außergewöhnlichen Umständen bedruckt worden ist, buchstäblich nichts – eine Lücke, eine Aussparung, so als hätte der Blitz diese Worte, denen man sonst doch auch im Missal einige typographische Aufmerksamkeit zu widmen pflegt, übersprungen. François Lamy, ein gelehrter Mauriner, dessen Bericht1 über dieses Ereignis die eben genannten phänomenalen Eindrücke überliefert hat, macht sich daran, den Sachverhalten auf den Grund zu gehen, nachdem in der Gemeinde bereits diverse Parteien mit durchaus konträren Auslegungen dieses Wunders begonnen haben. Trotz manifester Vorliebe für Erklärungen, die keinerlei außer- oder gar übernatür-

1

[François Lamy]: Conjectures sur les merveilleux effets du tonnerre tombé a Lagni sur l’Eglise de Saint Sauveur le 18. Juillet 1689. In: Conjectures physiques sur deux colomnes de nuë qui ont paru depus quelques années, & sur les plus extraordinaires effets du Tonnerre. Avec une explication de ce qui s’est dit jusques icy des Trombes de mer. Et une nouvelle addition, où l’on verra de quelque maniére le Tonnerre tombé nouvellement sur une Eglise de Lagni, a imprimé sur une nappe d’Autel, une partie considerable du Canon de la Messe. Paris 1689, S. 170–241 (dort, S. 173, die eben zitierten Passagen; die zusammenfassende Darstellung der überlieferten Effekte nach dem Bericht ebd., S. 173–176). – Den Hinweis auf dieses Ereignis und auf dessen Aufzeichnung verdanke ich Peter Geimer: Bilder aus Versehen. Eine Geschichte fotografischer Erscheinungen. Hamburg 2010, S. 23 f.

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4. Sektion · Stephan Kammer

liches Eingreifen in Anspruch nehmen, versäumt Lamy es nicht, die Fragwürdigkeit der rapportierten Effekte deutlich herauszustellen.2 Die beiden ersten genannten Phänomene allerdings bieten einer an den Naturgesetzen orientierten Herleitung wenig Schwierigkeiten. Die Christusstatue entpuppt sich als Konstruktion, deren Standfestigkeit keineswegs vom hölzernen Sockel, sondern von einer eisernen Stange auf der Rückseite gewährleistet wird; das wundersame Schweben der Staute ist somit nichts anderes als ein perspektivischer Wahrnehmungseffekt. Den Rissen in den Altartextilien, deren Zustandekommen Lamy mit materialkundiger Akribie rekonstruiert, kann ebenfalls nur eine dezidiert voreingenommene Aufmerksamkeit die Form des Antoniuskreuzes zusprechen. Vertrackter aber erweist sich die Erklärung der seltsamen Druckszene, beziehungsweise der erstaunlichen Selektivität, die darin zum Ausdruck kommt. Mechanische Gesetzmäßigkeiten helfen in diesem Fall nicht weiter; und erst nach ebenso aufwendigen wie vorsichtigen Kautelen sowie nach scheiternden experimentellen Nachstellungen des Phänomens gelingt es Lamy, sowohl den »Druck« (impression) der einen als auch die »Unterdrückung« (suppression) der anderen Textstellen zu erklären.3 Im Druck des vom Blitz kopierten Missals nämlich sind die ausgesparten Passagen rubriziert, und die unterschiedliche Beschaffenheit der schwarzen Druckertinte einerseits und der roten Druckfarbe andererseits ist für das phänomenale Ergebnis dieses Kopierakts verantwortlich. Lamys lakonisches Fazit: »Lors que l’on a une cause naturelle d’un effet qui paroist surprenant, il est contre les regles du bon sens de recourir aux mysteres & aux miracles.«4 Lamys Dekonstruktion des Wundergeschehens in der Kirche von Lagny spielt die Materialität der Kommunikation gegen die Medialität der Dinge aus. Die Effekte jenes kontingenten Ereignisses, das der Blitzschlag durch diese Erklärung wird: die versehrten und entstellten Gegenstände des Altars sind ihr zufolge nichts, was eine außernatürliche Deutung erforderte. Den Dingen haftet, in ihrer durch dieses Ereignis verliehenen Gestalt, keine, zumal keine übernatürliche Bedeutsamkeit an. Das schwebende Christusbild verdankt sich der Logik seiner materialen Konstruktion, die zerrissenen Altartextilien sind auf die von der Assemblage der Altargegenstände bedingten Sollbruchstellen ihres Materials zurückzuführen, der vom Blitz erzeugte Kopierakt folgt nicht den Signifikanzen der Textsemantik, also des linguistic code, sondern der materialen Beschaffenheit des Exemplars, dem bibliographical code.5 2

»Que peuvent, dis-je, se figurer des esprits peu Philosophes sur une relation aussi cruë & aussi surprenante que celle-là? que penser de ce choix, de ce discernement, de cette mystérieuse préference de quelques paroles aux autres? quelles seront les privilegiées, ou de celles qui sont écrites, ou de celles qui sont omises? que s’imaginer de cette prodigieuse suspension de la figure du Sauveur? que soupçonner de cette bizarre impression de croix?« (ebd., S. 177). 3 Ebd., S. 224 f. 4 Ebd., S. 234. 5 Diese Unterscheidung nach Jerome J. McGann: The Textual Condition. Princeton 1991.

Einleitung

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1751–1752, Kopenhagen/Lyngby/Quedlinburg – Hamburg: Zwischen den wechselnden Aufenthaltsorten des aufstrebenden Dichters Friedrich Gottlieb Klopstock und den Hamburger Adressen der Kaufmannstochter Margarete Moller begründet der Postverkehr jene Beziehung, die das paradigmatische deutsche Liebes- und dann Ehepaar des ausgehenden 18. Jahrhunderts hervorbringen wird. Es ist bei den Beteiligten und Umständen kaum anders zu erwarten, als dass dieser Briefwechsel in radikaler Weise die Möglichkeiten, das Potential und die Bedingungen jenes neuen Kommunikationsmittels verhandelt, das beinahe zeitgleich von Christian Fürchtegott Gellert zum zentralen Ausdrucksorgan neuzeitlich-natürlicher Individualität erklärt worden ist6 – der Erstkontakt mit dem Dichter geht für Margarete Moller, der Legende nach, auf zu Lockenwicklern entstellte Messias-Strophen zurück;7 Klopstocks poetologisches Interesse für die Kommunikationsmaterialien der Literatur, von der Metrik über den Vortrag bis zum Selbstverlagsgeschäft per Subskription, bedarf hier kaum der näheren Erläuterung. Angefangen beim zeitlich-räumlichen und zugleich »institutionelle[n] Apriori der Distanz«,8 auf das Schriftlichkeit und insbesondere deren briefliche Realisierungen gründen, und längst nicht aufgehört bei Papierfarben und Tintenflecken an den Materialien dieses Verkehrs,9 deklinieren die zwischen Klopstock und Moller zirkulierenden Briefe somit sämtliche nur denkbaren Facetten einer Materialität der Briefkommunikation. Herstellungs- und Zustellungsbedingungen der Briefe, die Latenzen der Beförderungsdauer und die Taktung der Posttage, erhaltene und nicht erhaltene, geschriebene und nicht geschriebene Sendungen, all dies wird von Anfang an in einem Maße an diesem Briefverkehr konstitutiv mitbeteiligt, dass man sich wundern mag, wie lange selbst professionelle Leser darin die Zeugnisse einer »echten Natürlichkeit« diagnostizieren zu können geglaubt haben.10 Bereits in Klopstocks zweitem Brief wird dieser Sachverhalt überdies selbst 6

Dazu Bernhard Siegert: Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post 1751–1913. Berlin 1993, S. 35–58. 7 So der Bericht der Schwester, Elisabet Schmidt, geb. Moller: »Meta hat den Messias dadurch zuerst kennen lernen daß sie etwas von den 3 ersten Gesängen, in Papliotten zerschnitten auf der Toilette einer ihrer Freundinnen gefunden, welches sie zusammen geklebt, und mit großem Beyfall gelesen; Gieseke mit vielem Feuer gefragt: Ist mehr von diesen göttlichen Gedicht zuhaben, u wo? und wer ist der Verfasser.« Franziska u. Hermann Tiemann (Hrsg.): ›Es sind wunderliche Dinger, meine Briefe.‹ Meta Klopstocks Briefwechsel mit Friedrich Gottlieb Klopstock und mit ihren Freunden 1751–1758. Neuausg. München 1980, Nr. 2, S. 15 (im folgenden zitiert mit der Sigle BW, Dokumentnummer, Seitenzahl). 8 Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 22003, S. 237. 9 Vgl. etwa die Handlungsanweisung zu Meta Mollers »blauen Brief[en]« in Klopstocks Brief vom 1. Januar 1752 (BW 68, 105); »Vergieb es mir mein lieber Klopstock, daß dieses Papier so mit Dinte beschmutzt ist. Es ist heute gar zu notwendig gewesen sowol den Brief als auch die Dinte so gar in der Tasche zu tragen«, merkt Meta Moller am 16. Juli 1752 an (BW 106, 165) 10 So etwa – selbstredend für den weiblichen Part des Briefverkehrs – Erich Trunz: Die Sprache

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4. Sektion · Stephan Kammer

zum Thema: »Diesen kurzen Brief schreibe ich nur, Ihnen zu sagen daß ich Ihnen einen sehr langen schreiben würde, wenn ich nicht im Schiffe wäre«, meldet Klopstock an Ostern 1751 vom Großen Belt (BW 6, 22). Die Beobachtung, dass aus dem Verhältnis zwischen den Materialbedingungen brieflicher Kommunikation und dem um die Mitte des 18. Jahrhunderts aufkommenden Anspruch der ›natürlichen Schreibart‹ ein beträchtliches Potential an (paradoxen) Effekten und eine (gelegentlich abgründige) Serie von Substitutionen entspringen kann, wird nach den maßgeblichen Studien etwa von Bernhard Siegert und Albrecht Koschorke kaum noch überraschen. Mit welchem strategischen Geschick, wie ambiguitätsoffen Klopstocks und Mollers Briefverkehr dieses Differenzpotential nicht nur nutzt, sondern geradezu ausstellt, kann allerdings nach wie vor verblüffen. Denn so selbstverständlich auf der einen Seite die materialen Kommunikationsbedingungen als Matrix und Motor des Briefwechselns funktionieren und zur produktiven Positivität einer Beziehungsstiftung werden, so selbstverständlich nehmen die Briefe zugleich für sich in Anspruch, Supplemente, Substitutionen von Rede und Präsenz zu sein: »Ein Brif ist zwar allemal nur ein Brif, aber wenn man sich doch nicht selbst haben kann, so ist er schon viel«, kommentiert Moller diese zweideutige Beziehungsform in einem Brief an Gleim.11 Gerade aus diesem Spiel von Distanz und »Imagination von Nähe« gewinnt der Briefwechsel von Moller und Klopstock allerdings eine weitere Facette. Deren Generalisierung hat Albrecht Koschorke folgendermaßen auf den Begriff gebracht: »In der Konsequenz daraus lagert sich ein tausendfältiger Fetischismus an die Aktionen und Materialien des Briefverkehrs an.«12 Auch wenn der Terminus ›Fetischismus‹ begriffsgeschichtlich und sachlogisch für diesen Zug des Briefwechsels passt – »…was ich für einen kleinen Abgott bisher aus Ihrem lezten Briefe gemacht habe«13 –, auch wenn er als diagnostischer Begriff neuerdings einiges von seiner traditionellen ›Negativität‹ verloren haben mag:14 treffender scheint für der Freundschaft und der Liebe. Meta Klopstock, geb. Moller, in ihren Briefen. In: Ders.: Weltbild und Dichtung im Zeitalter Goethes. Weimar 1993, S. 40–58 (Zit. S. 46). 11 3. November 1752 (BW 142, 213). 12 Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr (wie Anm. 8), S. 195. – Vgl.: »Auf den ersten Blick läßt sich das metonymische Eintreten der Schrift für den Schreiber in der konventionellen Bedeutung verstehen, daß das Schriftzeugnis eine mehr oder minder unzureichende Entschädigung für die Absenz seines Urhebers bietet. In der zeitgenössischen Epistolartopik sind solche Unvollkommenheitsbekundungen durchaus geläufig; nähme man sie beim Wort, so schiene der anschwellende Briefverkehr im wesentlichen aus einem weitreichenden Ressentiment gegen die Schriftlichkeit und ihr Fremdheitspotential selbst zu bestehen. Aber das Substitut Schrift bescheidet sich nicht mit dieser dienstbaren Rolle. Es bindet fetischistische Energien an sich, die wie jeder Fetisch nicht mehr auf das, wovon sie herrühren, zurückführbar sind. Die mediale Gegenwart entwickelt ihre eigenen Valenzen und Intensitäten« (ebd., S. 206 f.). 13 Klopstock an Moller, 26. Oktober 1751 (BW 51, 84). 14 Dazu Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Reinbek b. Hamburg 2006.

Einleitung

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diesen Bedeutsamkeitsüberschuss die Beobachtung, dass im Briefverkehr zwischen Klopstock und Moller die Medialität der (Brief-)Dinge ausgespielt wird gegen die Materialität der Kommunikation, deren Logik die besagte Ambiguität provoziert. Die Brief-Dinge selbst können schließlich zum Gegenstand unverstellt erotischer, wenn auch nicht mehr auf die beiden menschlichen Akteure Meta Moller und Friedrich Gottlieb Klopstock begrenzter Praktiken werden; sie antizipieren, transportieren und respondieren Küsse, sie werden »auf den Augen« und an das »Herz« gehalten,15 ja regelrecht mit ins Bett genommen – und die Berichterstattung darüber wird erneut umgehend in den Briefverkehr eingespeist, die Dingmedialität dieses Briefwechsels so wieder in die sprachliche Briefkommunikation übersetzt: »Diese Nacht hatte ich Deine lezten beiden Briefe mit zu Bette genommen. Und diesen Morgen fand ich sie warm, warm u las sie wieder. Dazu hatte ich meine zwo kleinen Locken von Dir bey mir. Was denkst [Du] bey dem allen? Ich schlief vor Entzückung ein«, schreibt Klopstock wenige Wochen nach der Verlobung.16 Die beiden Exempla mögen Extreme darstellen, was ihre jeweilige Selbstpositionierung im Verhandlungs- sowie Spannungsfeld zwischen den Polen Materialität der Kommunikation und Medialität der Dinge betrifft; und dies mag seinerseits damit zusammenhängen, dass die Praxis philologisch-antiquarischer Kritik, die das Handlungsmuster von François Lamys Wunderdekonstruktion bietet, ebenso wie diejenige des Briefverkehrs je für sich eine Sache der Aufklärung darstellen, die den daran beteiligten Sachen von jeher einen irreduziblen Stellenwert eingeräumt hat. Ohne die akribische Aufmerksamkeit auf die Materiallogiken der ›Semiophore‹17 und die Bedingungen ihrer Überlieferung, Beschreibung und Analyse sind die Praktiken der Kritik nicht zu haben, ohne die dinglich-phänomenale Performativität der Briefobjekte eine epistolare Praxis, die nicht länger Austausch aktualisierter Formatvorlagen sein will, nicht zu erreichen.18 Die folgenden Sektionsbeiträge gehen die Problemkonfigurationen einer Materialität der Kommunikation sowie einer Medialität der Dinge in Zusammenhängen an,

15

Moller an Klopstock, 18. Januar 1752 (BW 71, 111). 30. Juli 1752 (BW 117, 181). 17 Dazu Krzysztof Pomian: Collectionneurs, amateurs et curiex. Paris, Venise: XVIe – XVIIIe siècle. Paris 1987, S. 37–47. 18 Vgl. zu ersterem: Stephan Kammer: Überlieferung. Das philologisch-antiquarische Wissen im frühen 18. Jahrhundert. [Ms.] Frankfurt a. M. 2011; zum Brief Anne Bohnenkamp, Waltraud Wiethölter (Hrsg.): Der Brief – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum. Basel, Frankfurt a. M. 2008; Waltraud Wiethölter: Von Schreib- und Schriftkörpern. Zur Materialität der Briefschreibeszene. In: Dies., Anne Bohnenkamp (Hrsg.): Der Brief – Ereignis & Objekt. Frankfurter Tagung. Basel, Frankfurt a. M. 2010, S. 92–133. 16

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in denen ihr Zutagetreten (historisch und/oder sachbezogen) unwahrscheinlicher zu sein scheint als in den eben ausgestellten Beispielen. Johann Gottfried Herder ist zweifelsohne einer der wirkmächtigsten und schärfsten Kritiker jener »Mittel der Letternkultur«, aus denen er die »Künstliche Denkart« des 18. Jahrhundert gebildet sieht.19 Wie die materiale Praxis des ›Lesens‹ dennoch in Herders Spätwerk ihre Spuren hinterlassen hat, zeigt der Beitrag von Endre Hárs. Zwar wird Herders aisthetisch am Laut und anthropologisch am Denken orientierte, »auf den Medientransfer von Sehen und Hören in Text gerichtete Hermeneutik«20 schon programmatisch darauf ausgerichtet sein müssen, die Verstrickungen in Materialitäten und Dingmedialitäten der Schriftlichkeit nach Möglichkeit aufzuheben. Wenn aber bei Herder – wie Lessing oder Winckelmann mit Praktiken und Dispositiv der Gelehrsamkeit trotz aller Grundsatzkritik daran mehr als nur vertraut – noch um 1800 »eine Art reflektiert-unreflektierte Mediologie« (S. 285) schreibenden und lesenden paper work insistiert, mag dies nicht zuletzt daran liegen, dass so inszeniert, mithin zur Schreib- und Lese-Szene21 wird, was die eigene Arbeitspraxis nach wie vor begründet. Selbst in einer – wenngleich auch raffinierten und komplexen – Figuration des Schweigens können die Materialität der Kommunikation und die Medialität der Dinge, kann zumal deren wechselweises Bezogensein seine Dringlichkeit behalten. Dem Helmstedter Gelehrten Hermann von der Hardt gilt eine bestimmte Form des Schweigens als »Lebensdevise« (S. 309), dieser ein bestimmtes Ding als Emblem: der titelgebende ›Silen von Helmstedt‹, dem der Beitrag von Martin Mulsow gewidmet ist. Dass Schweigen alles andere als einen Kommunikationsverzicht bedeutet, kann geradezu als Topos der abendländischen (Sprach-)Philosophie gelten; dass Schweigen indes genau so wenig einen Verzicht auf die Materialien der Kommunikation implizieren muss, scheint ungewohnter zu sein. Von der Hardt kann seine spezifisch aufklärerische, ja radikalaufklärerische Figuration des Schweigens in der Figur des Silen emblembatisch verkörpert sehen, deren Genealogie er erarbeitet hat: Silen ist zugleich ›silentii et eloquii deus‹, »Gott des Schweigens und der Rede« (S. 304). Ein Zufallsfund aus einem Lüneburger Acker gerät zum medialen Ding dieser Pro19

Johann Gottfried Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Beytrag zu vielen Beyträgen des Jahrhunderts. Hrsg. v. Bernhard Suphan. Berlin 1891 (Sämmtliche Werke, Bd. 5), S. 540 f. 20 Ralf Simon: Das Gedächtnis der Interpretation. Gedächtnistheorie als Fundament für Hermeneutik, Ästhetik und Interpretation bei Johann Gottfried Herder. Hamburg 1998, S. 192 (Anm. 105). 21 Vgl. zum Konzept der ›Schreib-Szene‹ Davide Giuriato: Einleitung. In: Ders., Martin Stingelin, Sandro Zanetti (Hrsg.): ›SCHREIBKUGEL IST EIN DING GLEICH MIR: VON EISEN‹. Schreibszenen im Zeitalter der Typoskripte. München 2005, S. 8: »Wo sich […] dieses Ensemble [von Instrumentalität, Geste und Sprache] in seiner widerstrebenden Heterogenität und NichtStabilität an sich selbst aufhält und problematisiert, kann von Schreib-Szene gesprochen werden.«

Einleitung

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grammatik; die Materialität der Kommunikation, auf die solches Schweigen setzt, besteht aus einer gedoppelten Schriftlichkeit. Von der Hardts Publikationen und Briefe der späten 1730er und 1740er sind gelehrte Kommunikation und Steganogramme zugleich; in dieser zweiten Funktion steigern sie das aller Kryptographie zugrundeliegende Angewiesensein auf die Materialität der Kommunikation, indem sie es dissimulieren: Die Anfangsbuchstaben dieser Schriften bergen als rückläufige Akrosticha verschlüsselte Botschaften. Als geradezu apriorisch unvermittelte, von Kommunikationsmaterialitäten und Dingmedialitäten denkbar ferne Formate der ästhetischen Empfindung respektive der Vernunft gelten gemeinhin Musik und Mathematik, deren in der enzyklopädischen Tradition festgeschriebene Korrespondenz sich gerade im Verlauf des 18. Jahrhunderts zusehends zu lösen beginnt. Karsten Mackensen benennt mit Johann Mattheson einen frühen und dezidierten Anwalt dieser Aufkündigung epistemischer Verwandschaftsverhältnisse. Matthesons sensualistisch begründete Abkehr von einem Musikverständnis more geometrico setzt, wie Mackensen zeigen kann, auf zwei – bei genauerem Hinsehen durchaus problematische – Strategien: Anstatt aus den Gesetzen der Geometrie soll die »Materialität der Musik« erstens »in unmittelbarer Emergenz aus der Gegenwärtigkeit des Textes« erwachsen (S. 293) – so ließe sich Matthesons als ›musikalische Erkenntnis‹ inszenierte Psalmenlektüre resümieren. Dass daraus zunächst natürlich keinerlei artikulierte Töne, sondern vielmehr ein bloßer Wechsel von Notations- und damit Bezugssystemen resultieren, ist die versteckte Pointe dieses Einsatzes. Dass die »Materialität der Musik« zweitens für die »klanglich-gegenständliche[n] Manifestation einer theoretischen Konzeption sinnlicher Erkenntnis« (S. 293) einstehen soll, mag die Musik aus dem Zuständigkeitsbereich geometrischer Vernunft in denjenigen physiologisch-psychologischer Seelenkonzeptionen überführen – auch dabei aber ist die musikalische Evidenz vorrangig eine, die »in Noten anschaulich gemacht werden« muss (S. 299). »Die Zeichen der Begriffe und Dinge«, so postuliert Lamberts Neues Organon, »sind im engeren Verstande wissenschaftlich, wenn sie nicht nur überhaupt die Begriffe oder Dinge vorstellen sondern auch solche Verhältnisse anzeigen, daß die Theorie der Sache und die Theorie ihrer Zeichen mit einander verwechselt werden können.«22 Damit aber dieses programmatische Verwechslungsgeschäft so vonstatten gehen kann, »als wenn die Sache selbst vor Augen läge«,23 dürfen weder die Materialien der Kommunikation noch die Medialität der Dinge eine Eigenlogik und ein Eigenleben entfalten. Die Träume eines transparenten, die Risiken und Nebenwirkungen sym22

Johann Heinrich Lambert: Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrthum und Schein. Bd. 2. Leipzig 1764, § 23, S. 16. 23 Ebd., § 24, S. 16.

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bolischer Erkenntnis minimierenden Zeichensystems, und damit diejenigen einer Austreibung der Kommunikationsmaterialien und ihrer phänomenalen Medialität gleichermaßen, wachsen seit dem Ende des 17. Jahrhunderts zumal auf mathematischem Boden; Lambert zufolge sind es das »Zahlengebäude« und die algebraische Notation, die solchen Erfordernissen am ehesten gerecht werden.24 Wie aber vermittelt man diese Notationsformen und die mit ihnen durchführbaren Operationen (des Rechnens, des Denkens) selbst? Wie macht man sie zum Gegenstand didaktischer Aufbereitung? Kerrin Klingers Beitrag zur Unterrichtspraxis im Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach um 1800 weist auf den Stellenwert der »Anschaulichkeit« hin (S. 303), die im frühen 19. Jahrhundert sowohl im mathematischen Elementarunterricht wie auch in der höheren mathematischen Bildung erwartet wird. Dafür sollen neben einer Unterrichtsgestaltung, die – Johann Heinrich Pestalozzis Prämissen folgend – Anschauungsbezogenheit mit formaler Denkschulung verbindet, die konkreten Lehrmaterialien einstehen. Von einer Vereinheitlichung, gar einer flächendeckenden Versorgung der Schüler mit entsprechendem Unterrichtsmaterial jedoch kann, wie Klinger zeigt, allen Reformerfordernissen und -bemühungen zum Trotz keine Rede sein. Darüber hinaus verlässt sich der Mathematikunterricht – in bemerkenswerter Differenz zu den epistemologischen Einsichten hinsichtlich symbolischer Erkenntnis und von Notationssystemen – noch lange Zeit überwiegend auf die Transferverpflichtungen geschriebener Sprache.25 Die naheliegende, allerdings wohlfeile Pointe, dass eine derartige (Partial-)Blindheit für die Belange einer Materialität der Kommunikation, einer Medialität der Dinge im 18. Jahrhundert (und darüber hinaus) symptomatisch sein könnte, soll allerdings an dieser Stelle nicht unproblematisiert das letzte einleitende Wort behalten. Denn einer einheitlichen Logik, auch einer einheitlichen Logik der Verdrängung unterliegen diese Belange nicht, nirgends. Und so werden auch weiterhin Fallstudien und Detailanalysen die Differenzen – die Defizite so gut wie die Überschüsse – bilanzieren müssen, wie sie dem Verhältnis der Aufklärung zu ihren Sachen entspringen.

24

Vgl. ebd., §§ 34–38, S. 22–25. Eberts Unterweisung in den philosophischen und mathematischen Wissenschaften, die Klinger als Unterrichtsgrundlage für den mathematischen Gymnasialunterricht noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts namhaft macht, präsentiert beispielsweise allen Ernstes auch die sprachlich-syntaktische Auflösung einer quadrinomischen Formel: »(a+b+c+d)2 = […]: Das Quadrat einer viertheilichten Wurzel enthält das Quadrat des ersten Theils, ein zweyfaches Product aus dem ersten Theile in den andern, das Quadrat des andern Theils, ein zweyfaches Product aus der Summe der ersten beyden Theile in den dritten, das Quadrat des dritten Theils, ein zweyfaches Product aus der Summe der ersten drey Theile in den vierten Theil, und das Quadrat des vierten Theils« (Johann Jakob Ebert: Unterweisung in den philosophischen und mathematischen Wissenschaften für die obern Classen der Schulen und Gymnasien. Neue vermehrte u. verb. Aufl. Leipzig 1779, S. 150 f.). 25

Endre Hárs (Szeged) Adrasteas Sammelwut. Herders Spätwerk zwischen Lesen und Auflesen

Eine Reihe von Sprachgesten des jungen Herder haben nachhaltige Wirkung gehabt und wurden zum literaturhistorischen Paradigma des Lebensgefühls einer Generation, zu Merkmalen des Sturm und Drang. Allem voran pflegt man jene Rhetorik zu diesen Gesten zu zählen, mit der sich Herder von den »vielen Beyträge[n] des Jahrhunderts«,1 d. h. von der zeitgenössischen Gelehrsamkeit distanziert. Tatsächlich werden in seiner Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) die »Erfahrung«, die »That«, die »Anwendung des Lebens, in dem bestimmtesten Kreise« dem »abgezogne[n] Geist« (5: 544), der selbstgefälligen Sprachgewalt der Aufklärung gegenübergestellt und auch die Institutionen der »Letternkultur« (5: 541) kritisiert. Herders Charakterisierung seiner Epoche als des »Jahrhundert[s] des Bücherlesens«2 wird darüber hinaus in der Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts (1774) verbunden mit einem apokalyptischen Denken, das eine Schelte der Aufklärung einschließt. Für Ralf Simon schafft die Buchkultur eine »medientheoretisch«3 signifikante Situation: Das große Archiv, das durch den Buchdruck ermöglicht und bis einschließlich des 18. Jahrhunderts errichtet wurde, erhebt sich über die Zeit und wird zum Medium einer Art papierenen Posthistoires. Bezogen auf die Adrastea ist auch Simons Vermerk interessant, dass es in der konzeptuellen Verkettung der Ideen, der Humanitätsbriefe und des Zeitschriftenprojekts eigentlich die Humanitätsbriefe seien, die die Analyse der Bedeutung des Buchdrucks leisten, »während sich die Adrastea über diese Bedingungen ihrer Möglichkeit ausschweigt«.4 Während die Humanitätsbriefe dank ihres epochalen Bezugs Anlass und Grund haben, über den Buchdruck zu handeln, werden dessen Folgen in der Adrastea real und in actu erfahrbar, ohne jedoch Gegenstand der medientheoretischen Reflexion zu sein. M. a. W.: kein Wort mehr über Bücher, die gleichwohl ausschließlich oder jedenfalls epistemisch (als blinder Fleck) das Feld der Erfahrung beherrschen. 1

Johann Gottfried Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Beytrag zu vielen Beyträgen des Jahrhunderts. In: Ders.: Sämmtliche Werke. Hrsg. v. Bernhard Suphan. Bd. 5. Berlin 1891 [ND der Ausg. Hildesheim, New York 1967], S. 475–594. Bde. der Ausg. im Folgenden zit. als SWS, bei wiederholten Zitationen im Haupttext. 2 Ralf Simon: Apokalyptische Hermeneutik. Johann Gottfried Herder: Maran Atha, Geschichtsphilosophie, Adrastea. In: Herder-Jahrbuch / Herder yearbook 1998, S. 27–52, hier S. 38. 3 Ebd., S. 39. 4 Ebd.

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Simon macht darüber hinaus darauf aufmerksam, dass sich das Wort ›lesen‹ – anders als andere hermeneutisch bedeutsame Termini – überraschend oft in Herders Texten findet. Er fügt jedoch hinzu, dass sich das Lesen als »Theoriethema« wiederum »so nahe an der Praxis des Buchstabens«5 befinde, dass sich der hermeneutisch interessierte Interpret von ihm abwenden und, allem Schweigen abhold, auf die Überwindung der genannten Buchstabennähe, auf Herders ton- und stimmenbestimmte, tönende »Hermeneutik der Vergegenwärtigung«6 setzen müsse. Das philosophisch-poetologische Interesse am metaphysischen Kommunikationsparadigma ist unstreitig grundlegend für Herders Werk und reguliert vielfach dessen Wunschstruktur. Und am Wünschen mangelt es natürlich auch in der oft als moralistisch wahrgenommenen Adrastea nicht. Beispielhaft würdigt Herder z. B. in seiner Besprechung von Fénelons Schriften dessen Fähigkeit, die Geschichte lebendig zu vermitteln, so zu schreiben, als ob alles »[g]edacht und gesprochen […], nicht geschrieben«7 wäre, mit der Konsequenz, dass Fénelons Totengespräche weit über ihre Gattung hinaus zum Muster avancierten. »Aus jeder gelesenen Geschichte mache jeder sich selbst Gespräche der Todten«, (23: 50) lautet Herders entsprechendes Rezept und dieser Topos wiederholt sich in den Beiträgen der Adrastea. Denn die Wahrheit, »die den Menschen gegeben ist«, so der Shaftesbury-Abschnitt, ist »[i]n allen freien und hellen menschlichen Seelen […] nur Eine« (23: 154). Mag sie sich historisch wandeln: man gehört mit ihr einem Kontinuum an, durch das sich jederzeit und für jeden das Humane verlautbart. Der vorliegende Beitrag setzt eher bei der von Simon verabschiedeten Buchstabennähe als bei der üblicherweise betonten Stimmen-Präsenz an. Berechtigt scheint dies durch die Ambivalenz, die sich bei Herder als Schwanken zwischen der kulturkritischen und der medientheoretischen Beurteilung der »Letternkultur« immer schon dokumentiert. Denn es lässt sich gut zeigen, wie sich im Kapitel über Fénelon auch die Bezugnahmen darauf häufen, was den genannten »Geister-Umgang« (23: 238) erst ermöglicht: Es sind »Fenelons Schriften« (23: 49, 50) – ein mehrfach wiederholter Ausdruck –, die faszinieren. »[E]s spricht, es schreibt [in ihnen] ein Himmels-Genius unter den Menschen« (23: 48), den man jedoch lesen, mit dem man als einem Schreibenden umgehen kann. Dem Austausch mit dem Autor kommen in Herders Darstellung dessen Schriften, und zwar in ihrer papierenen Seinsweise und Überlieferung, gleichsam dazwischen. Und dies geschieht nicht lediglich im Hinblick auf die potentielle Leserschaft Fénelons, sondern auch unter Bewusstmachung des kommunikativen Bedingungsrahmens. Auch die Pensées etablieren sich 5

Ralf Simon: Das Gedächtnis der Interpretation. Gedächtnistheorie als Fundament für Hermeneutik, Ästhetik und Interpretation bei Johann Gottfried Herder. Hamburg 1998, S. 157. 6 Ebd., S. 190. 7 Johann Gottfried Herder. Adrastea. In: SWS 23–24, hier S. 49.

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in Herders benachbarter Schilderung als »eine eigne Gattung von Schriften« (23: 233), die man sammeln kann (23: 233), die den »Geist«, den »esprit« der Schriftsteller als »Gedankenlese« (23: 235), in Gestalt von »Gedankenvorräthe[n]« (23: 236) verwalten, »durchgeh[en]«, »controllir[en]«, »variiren« oder eben ausspannen und »commentir[en]« (23: 238). Und so fällt letztlich auch in den Abschnitten zu Shaftesbury auf, dass es die Geschichte, ja die Druckgeschichte seiner Schriften ist, die der Darstellung zum roten Faden dient. Denn Herder hält es für wichtig, Shaftesburys Wirkung auf die Zeitgenossen mitten unter wahrheitsbezogenen Sätzen hauchdünn, aber trotzdem merklich an Verfasser-, Herausgeber- und historische Leserschaften zu binden. Bezüglich dieses Interesses bietet Herders Besprechung der Geschichte der Akademien unter Ludwig XIV. weitere Anhaltspunkte. Die Akademie sei »eine Stiftung und Versammlung (ecclesia) des Geistes der Wißenschaften« (23: 54), wohlgemerkt, des Geistes, denn die Geister, »die sich [in ihr] mit einander einverstehn, und […] wetteifernd […] miteinander arbeiten«, beteiligen sich an dieser Versammlung – über ihren zeitlich begrenzten Umgang hinaus, der ohnehin schon »Gewinn« ist – erst recht durch ihre bleibenden Leistungen, »ihr[en] Vortrag« und »ihre Sprache« (23: 53–54). Die »Männer von Wissenschaft« (zit. Duclos, 23: 58; auch 158) tragen »zum Apparat der Geschichte in Bibliotheken, Sammlungen oder in historischer Kritik« (23: 217) bei; es ist die Ordnung der Schrift, und eine Ordnung von Schriften, durch die sich Geschichte konstituiert und auf ihre prüfende Rekapitulation hin öffnet. Soweit, dass dies über das paradigmaschaffende Akademische hinausreicht: Das Bedürfnis, Schriften zu haben, der Anspruch, sie herzustellen, den Herder in seinen Beiträgen dokumentiert, muss, wie er z. B. im Aufsatz »Denkwürdigkeiten (Memoires)« formuliert, zum allgemeinen nationalen, d. h. alle Völkerschichten vereinigenden Imperativ werden. »Schreibt Denkwürdigkeiten, ihr stille, fleißige, zu bescheidne, zu furchtsame Germanen!« (23: 226), fordert Herder, denn »[i]n Memoirs kommt zum Vorschein, was sonst nirgend ans Licht tritt, ja wo manche Philosophie und Politik kaum träumet« (23: 225). »Biographieen« müssen »gesammlet« (23: 226) werden, in patriotischen Archiven und zum Nationalruhm, zugleich mit einer Gültigkeit, die jede Denkwürdigkeit in eine »menschliche Denkwürdigkeit« (23: 228) verwandelt und jeden Leser anhält, selbst zum Werk zu greifen. Was hier angedeutet wird, ist die implizite Ideologie der Adrastea und zugleich eine Art reflektiert-unreflektierte Mediologie. Der ideologische Gehalt macht sich durch ein Schriftenbewusstsein merklich, das sich keineswegs nur über Partien erstreckt, die sich mit Schriftstellern, Œuvres oder Gattungen auseinandersetzen. Es begegnet in den historischen und politikgeschichtlichen Beiträgen, man könnte auch sagen, es sticht in den großen Abschnitten zur Ereignisgeschichte viel mehr ins Auge als in den zu den sogenannten »Früchten« des vergangenen Jahrhunderts. In ihnen kann man eine Akzentverschiebung beobachten, die die Bedeutsamkeit der Intellektuel-

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lengeschichte und des Bücherwesens nachweisbar höher ansetzt, als die sonst politikund zeitgeschichtliche Perspektive vermuten lässt. Es handelt sich um einen unterschwellig mitlaufenden Diskurs über Schriftlichkeit, Materialität und Lesen, der sich stellenweise in den Vordergrund spielt und dessen Grund in Simons bereits zitierter Beobachtung zu suchen ist: Das 18. Jahrhundert sei das Jahrhundert des Schreibens und Lesens und zwar unabhängig davon, ob »die besten der Französischen Feldherrn« (23: 167), »Könige und Königinnen […] schrieben, dichteten, übersetzten« (23: 156), oder ob eben professionelle »M[ä]nn[er] des Publikums« (23: 173) und ein angehender Literaturbetrieb die Grundlage hierfür gesichert haben. Jedenfalls bleibt dieser Rahmen zu berücksichtigen, auch wenn man andernorts an »den Zeiten des wieder in Gang gekommenen Schreibens« (23: 220) nicht partizipierte, wenn die Wochenblätter »bald über bald unter dem Publicum [waren], an und für welches sie geschrieben seyn sollten« (23: 172). Denn auch in Deutschland ist man auf Bildung und Geschmack, folglich auf Universitäten, Sozietäten und Akademien angewiesen und benötigt hierzu Dokumentationen (»gute Urkunden«, zit. nach Schlözer, 23: 467), Repräsentation (z. B. eine »National-Galerie« der Geschichte, gemalte und erschriebene »Kriegsgemählde« und »Idyllenscenen«, 23: 466) und Männer, die mit »stille[m] Fleiß«, »Absicht« und »Ordnung« (23: 467) schreiben und sammeln. Da das Vorhaben, »die Geister [auf jede Reform E.H.] durch Schriften vor[zu]bereiten« (24: 171), darüber hinaus auch ein gutes Management und entsprechende Institutionen verlangt, dürfe man sich auch nicht scheuen, »Skribbler[n]« und dem »Verderb der lesenden Welt« (24: 168) durch »Tribunal[e]« (24: 169, 170) der Kritik und des Verlagswesens, durch die »unmerkliche Sichtung der Lesebibliotheken« (24: 175) etc. entgegenzuwirken. In der Etablierung einer anspruchsvollen Buchkultur gebe es einiges nachzuholen. Auch wenn nicht mehr als die soeben eingeblendeten Akzente nachweisbar wären, könnte die These vertreten werden, dass Herders Projekt einer Natur- und Kulturgeschichte des Menschen im 18. Jahrhundert die Gestalt einer »Medienkulturgeschichte«8 annimmt. Sie wird plausibel durch die Arbeit eines Intellektuellen an der Geschichte, die sich als Gelehrten-, und folglich als Büchergeschichte (im weitesten Sinne) erweisen sollte.9 Als solche reicht sie über den in der Adrastea anvisierten historischen Abschnitt hinaus, wird ideologisch (teilweise nationalistisch) und lässt sich im Œeuvre Herders gut verorten. Zur reflektiert-unreflektierten Mediologie, von der zugleich die Rede ist, gehört jedoch mehr, und sie bedarf weiterer Erklärung bzw. Nachweise im Zeitschriftenprojekt. Herders Mediologie ist unreflektiert, da es 8

Vgl. Werner Faulstich: Die bürgerliche Mediengesellschaft (1700–1830). Göttingen 2002,

S. 9. 9

Faulstich expliziert den medienhistorischen Hintergrund (auch) des Herderschen »Jahrhundert[s] der Buchkultur« (ebd., S. 177).

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ihm als Verfasser der Beiträge gewiss nicht darauf ankommt, einen Bedingungsrahmen zu schaffen, der die Verlautbarung der Wahrheit – der wesenhaften wie der geistigen – unterläuft. Und doch operiert er vom ersten Stück an mit einem Begriff von Literatur, der als littérature ins Breite geht und zugleich Buchstabennähe schafft.10 Dabei darf nicht unterschätzt werden, was aus der Perspektive des Herderschen Wahrheitsdiskurses bloß als Rhetorik und Schreibstil des Verfassers Herder erscheint. Die Sprache (ver)spricht (sich) auch hier, und fördert leicht die Intentionen des Autors Überformendes zu Tage: Formulierungen und Argumentationsfragmente, die unter der Hand zu Medienreflexionen geraten und als solche der Ansicht Simons über das Ausschweigen der Bedingungen des Bücherwesens zuwiderlaufen. Hier sind die bereits angedeuteten (von Simon beiseitegelegten) Stellen zum Lesen von Relevanz, und diesbezüglich ist die Haltung Herders spezifisch und als solche auch recht konsequent. Die Adrastea fasst das Gewesene nicht nur zusammen, sie zieht nicht nur (geschichtsphilosophische) Bilanz und bestimmt die Aufgaben, sondern versucht den Anforderungen der historischen Schreib- und Lesekultur des vergangenen Jahrhunderts auch in eigener (Text-)Gestalt Genüge zu tun. Und dies geschieht, indem sie die Sichtung des Vergangenen, gepaart mit Gesten des Zu-schreiben- und Zulesen-Gebens mit in Szene setzt. Denn es gab Schriftsteller und Schriftstellerinnen zu Zeiten Ludwigs, »die man immer noch […] gern lieset« (23: 69–70); Novellen, die »noch lange gelesen werden« (23: 294). »St. Reals […], du Bos Geschichte […] u. f. werden immer noch mit Wohlgefallen gelesen« (23: 217). »[L]iebend oder haßend lesen wir« (23: 225), etwa Denkwürdigkeiten, wenngleich einiges darunter »eckel zu lesen« (23: 227) ist. Und »manche Delikateße […] lesen wir kaum anders als mit Verwunderung, wie man so delicat sein konnte!« (23: 285). Folglich gibt es natürlich auch Schriften, von denen »viele nicht mehr gelesen werden« (23: 87); Schriften, die, wie die der »Karthager […] sammt und sonders untergegangen sind« (23: 188). Alles zusammengenommen gilt jedoch die Maxime, dem Vergangenen als dem historisch ebenso Fremden wie Eigenen weiterhin zu begegnen, und dies aus gegebenem Anlass im Rahmen des Bücherwesens zu tun. Denn wer Zinzendorfs »Leben lieset […], bemerkt die Umstände leicht, die […] zu diesem Beruf vorbereiteten und zu ihrer Zeit weckten« (24: 34); Locke, Leibniz, Shaftesbury werden zu »leitenden Genien der Wißenschaft«, wenn »[e]in unverdorbner junger Mann« sie »mit Nachdenken lieset« (23: 132). »Lese man Adam Bernds eigne Lebensbeschreibung, Hallers Tagebuch, und so viele Tag- und Stundenbücher geprüfter Kinder Gottes« (23: 92); »[l]ese man Swifts, Pope’s Briefe« oder »durchlaufe man die berühmten Wochen- und Staatsblätter damaliger Zeit« (23: 158) etc. Wichtig ist nur, man wisse auch, wann selbst »vortreffliche Gedan10

Vgl. Johann Gottfried Herder: Werke in 10 Bden. Bd. 10. Hrsg. v. Günter Arnold. Frankfurt a. M. 2000, S. 1095 f. (Kommentar).

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ken […] einen vorsichtig prüfenden Leser oder einen einschränkenden Commentar nöthig« (23: 234) haben, mit anderen Worten, »nur wiße man sie zu lesen« (23: 283284), hat man sie einmal in die Hand bekommen. Diese Anmerkungen verdeutlichen, dass der Geister-Umgang vielfach unterbunden ist, dass dem Verfasser der Adrastea das Problem der historischen Distanz und der gewandelten Wertevorstellungen durchaus bewusst ist. Ausgeklinkt wird das hermeneutische Paradigma auch dort, wo durch Benennung des Leseakts dessen mediale Bedingungen sichtbar bzw. konkret werden. Lesen heißt, so Herder, mit Schriften umzugehen, und hierzu muss auch die Geschichte ihrer Entstehung, Herstellung und Distribution berücksichtigt werden.11 Man ist folglich angehalten, das ganze Spektrum der bürgerlichen (und nicht nur bürgerlichen) Medienkultur des letzten Säkulums und zwar als Totalität der Medienwirklichkeit zum Vorschein zu bringen. Neben den bereits genannten Medienformationen bekommt man es in den Beiträgen der Adrastea also auch mit »Almanach[en]« (24: 154) und »Magazin[en]«, »Wochenschriften« (23: 171), »Journalen« (23: 256), »Jahrb[ü]cher[n]« (23: 526), »Collectaneen« (23: 240) und »Ana[s]« (23: 240) zu tun. Man wird vielfach ans Werden des Buches erinnert und darf die Entstehung, beginnend mit »Worte[n] (23: 107) und »ungedruckte[n] Nachrichten« (23: 38), »Vorschlägen und Entwürfen« (23: 469), fortgeführt über »Handschriften« (24: 353), »Manuscripte« (Text v. Knebel, 24: 258), »Verbeßerungen« (24: 184), »Einschiebsel, Zusätze, [und] Lücken« (24: 227) betrachten, wie auch den weiteren Hergang in »Ausgaben« (24: 223) und »Foliobänden« (23: 575), »Lesarten« (24: 181) und »Localcommentar[en]« (24: 305), »Noten und Anmerkungen« (Text v. Knebel, 24: 258), »Auszüge[n] oder Übersetzungen« (23: 56) weiterverfolgen. Zu lesen gibt es dann in Herders Abhandlungen nicht nur »Lesebücher« (24: 398) und »Fabelb[ü]ch[er]« (23: 269), nicht nur »Denkbücher« (23: 240-41), »Stammbücher« (23: 240) und »Gebetb[ü]ch[er]« (23: 198), sondern auch »Wörterbücher« (24: 353) und »Enzyklopädie[n]« (23: 552), sogar ein »Constitutionsbuch« (24: 126). Mitunter zählt man dabei »20 kleine und große Schriften« (23: 574), »hundert und vier Bücher« (23: 101), »zwei und funfzig« (23: 99) Romane, oder eben »hundert Bücher der Art« (23: 442). Zum Inventar alles Geschriebenen (oder eben: zum Archiv) gehören nicht zuallerletzt auch »Verzeichni[sse]« (24: 300), »Repertori[en]« (24: 355), »Summarien« (23: 70), »Genealogien und Chronologien« (23: 50), selbst »Zeugniße« (24: 34) und »Testament[e]« (23: 140), »Freiheitsbriefe« (23: 159) und »Lettres de Cachet« (23: 101). Aus Umfangsgründen bleibt nur noch die Erwägung zweier Einwände. Herders 11

Vgl. Michael Cahn: Hamster: Wissenschafts- und mediengeschichtliche Grundlagen der sammelnden Lektüre. In: Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jahrhundert. Studien zu ihrer Bewertung in Deutschland, England, Frankreich, hrsg. v. Paul Goetsch. Tübingen 1994, S. 63–78, hier S. 64.

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hier als medienkulturgeschichtlich und mediologisch gekennzeichnete Sammeltätigkeit steht natürlich in unmittelbarer Verbindung mit der Arbeitsmethode des Verfassers sowie mit dem Medium, als welches sich die Adrastea selbst realisiert. Herders Schaffen war immer schon durch ergiebigen und in seiner Art dialogischen Quellengebrauch gekennzeichnet. In Beiträgen, Artikeln und Aufsätzen, gar in Auszügen und Beilagen, die sich in der Adrastea reichlich finden, ist selbstverständlich, was hier als etwas Besonderes und konzeptuell Bedeutsames hervorgehoben wurde. Dass Schriftsteller Schriften hinterlassen, ist gewiss kein Anlass zur medientheoretischen Reflexion. Man arbeitet ja mit Quellen und einige der genannten Beispiele sind aus dem Fußnotenapparat Herders genommen. Dennoch verwiesen obige Erläuterungen darauf, dass die Adrastea die redaktionelle Situation des Sammelns und Lesens von Schriften konzeptuell in Szene setzt. Und da muss man, auch wenn es nicht immer einfach oder klar ist, zwischen den Spuren des regulären Quellengebrauchs und den textuellen Signalen der besagten Quellenreflexion differenzieren.12 Einzuräumen ist nur, dass die Sprachgesten des Medialen durchgängig Merkmale des schwächeren und verdrängten Prinzips bleiben – stellt doch Herders »postalisches Kommunikationskonzept«13 lediglich das andere seines hermeneutischen dar. Dies führt zum zweiten, speziellen Einwand, ob das, was hier als mediologisches Surplus einer Herderschen Medienkulturgeschichte beschrieben wurde, nicht allzu beiläufig ist und eher als untypisch betrachtet werden muss. Es fragt sich, ob die Anhäufung von Textsignalen, das stellenweise unkontrollierte und exzessive Zitieren für den Beleg eines Konzeptes ausreicht. Möglicherweise hat man es tatsächlich mit einem Phänomen zu tun, das sich nicht immer deuten, das sich nur zusammentragen, auf- und herzählen lässt. Das Konzept entblößt sich als Frequenz von Formulierungen, als leises, doch vernehmbares Rauschen des Papiers − als ein Hintergrundgeräusch, das sich mit der Zeit erst für Forscher tertiärer und quartärer Medien derart verstärkt hat, dass es auch konzeptuell vernehmbar wurde. Man muss in der Textur der Adrastea selbst sammeln, um der Sammeltätigkeit Herders auf die Spur zu kommen. Dennoch gehört auch diese »Spannung von antiquarisch-archivischem versus rhetorisch-imaginativem Diskurs«14 zu jener Geschichtsphilosophie, die als Ordnung der beiden Adrasteen Gestalt gewinnt. Deren »gedächtnismediale Metatextualität«15 12 Herder operiert mit direkt zitierten/paraphrasierten und besprochenen Quellen, und tut dies im laufenden Text, in Auszügen oder Beilagen. Die Differenz von markierten und unmarkierten Quellen kann angesichts des eingestandenen Quellenreichtums eher zweitrangig genannt werden. Sie erübrigt sich auch durch die Rede von Quellen überhaupt, die durch den mitlaufenden Kommentar und Sprechmodus des Verfassers ein Bewusstsein des Schriftengebrauchs konstituiert. 13 Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphsyik der Medialität. Frankfurt a. M. 2008, S. 12. 14 Wolfgang Ernst: Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung. Berlin 2002, S. 55. 15 Ebd., S. 92.

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opponiert gegen Herders frühe Schelte gegen das »Mechanische Spiel« (5: 536) der Gelehrsamkeit seines Jahrhunderts. Was diese gegenläufige Bewegung zurück zu den Beiträgen des Jahrhunderts jedoch kennzeichnet, ist nicht der Umschlag des negativen Urteils ins Positive, sondern vielmehr eine »unemphatische«16 Kenntnisnahme und Nutzung dessen, was sich als Positivität der Schrift äußert oder vielmehr veräußerlicht – eine hintergründige Botschaft, die im Gegenzug zu allen anderen Botschaften vielfach im unerzielten Effekt ihr Medium findet. Das 18. Jahrhundert ist sehr wohl das Jahrhundert der Bücher und die Ordnung der Adrastea eine Tautologie, die diese Erfahrung lediglich verdoppelt – sie den Lesern der Zeitschrift gewissermaßen schriftlich gibt.

16

Ernst: Das Rumoren der Archive, S. 121.

Karsten Mackensen (Halle) Musik zwischen Wahrheit und Wissenschaft. Zu einer Epistemologie des Existentiellen als Vorstufe zu einer Ästhetik der Musik 1. Wovon man nicht sprechen kann, davon muss man singen Was musikalische Erkenntnis sei, was das Wesen, aber auch Zweck und Nutzen der Musik, welche Position innerhalb der Wissenschaften und welchen Rang innerhalb der Künste sie einnehme, das sind um die Mitte des 18. Jahrhunderts strittige Fragen von nicht nur ästhetischer, sondern von hoher gesellschaftlicher Brisanz. Keineswegs auf das Kunstsystem beschränkt sind die weitreichenden Implikationen einer Theorie derjenigen Kulturform, die der Überlieferung zufolge »maximae permutationes«1 in den Menschen zu erzeugen imstande ist, Veränderungen der affektiven Zustände, ja von Tugend oder Moral, also genuin sozialer und kommunikativer, indirekt geradezu politischer Qualitäten. Der Aufklärung als einer originären Denkbewegung2 ist dieser Bereich so suspekt wie faszinierend – erschließt er doch einerseits die Möglichkeit einer idealen, natürlichen und unmittelbaren, mithin wahrhaftigen Kommunikation, entzieht sich andererseits aber der rationalen Kontrolle, der Beherrschung durch das Wort, durch Vernunft, Logik und Wissenschaft. Einer der streitbarsten Protagonisten innerhalb der Debatten um den Stellenwert der Musik im System der Künste und Wissenschaften ist der Hamburger Aufklärer Johann Mattheson. Tätig war er nicht nur als Komponist, Sänger, Musiktheoretiker und Musikschriftsteller, sondern auch als Gesandtschaftssekretär, Legationsrat und Übersetzer. Die Fülle seiner Schriften, deren Formate von der Moralischen Wochenschrift über Pamphlet und Romanübersetzung, über Fachzeitschrift und gelehrten Traktat bis hin zur theologischen Abhandlung reichen, belegt die äußerst breit gestreuten Interessen Matthesons, aber auch sein enormes, in protestantischer Geisteshaltung fundiertes Arbeitspensum, zumal er eben auch musikpraktisch – und keineswegs erfolglos – in Erscheinung getreten ist.3 Als Begründer der ersten deut1

Anicius Manlius Severinus Boethius: De institutione musica libri quinque. Hrsg. v. Godofredus Friedlein. Leipzig 1867, liber I, 1, S. 180, zit. nach Thesaurus musicarum latinarum, URL: http://www.chmtl. indiana.edu/tml/start.html [08.12.2003]. 2 Vgl. Rudolf Vierhaus: Was war Aufklärung? Wolfenbüttel 1995. 3 Eine vollständige Bibliographie der gedruckten Schriften Matthesons in: Johann Mattheson als Vermittler und Initiator. Wissenstransfer und die Etablierung neuer Diskurse in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, hrsg. v. Wolfgang Hirschmann, Bernhard Jahn. Hildesheim u. a. 2010, S. 479–498.

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4. Sektion · Karsten Mackensen

schen Moralischen Wochenschrift und streitbarer Polemiker in zahllosen Debatten der res publica literaria, vor allem aber auch als Vermittler englischen Ideenguts in den Bereich der norddeutschen Aufklärung wird Matthesons Rolle von der aktuellen Forschung neu eingeschätzt. Eine Konzentration wesentlich auf den Musiktheoretiker wird der Vielschichtigkeit seiner Ansätze nicht länger gerecht.4 Mattheson vertritt, in Anlehnung an englische Vorbilder, einen strikt sensualistischen Ansatz, der sich vehement gegen die Vorstellung einer mathematisch-naturwissenschaftlichen »Erklärbarkeit« der Musik wendet. Zugleich liegt ihm aber an einer disziplinären Verortung der Musik im System der Künste und Wissenschaften, und zwar als eine wesentliche, wenn nicht sogar führende Disziplin auch wissenschaftlicher Gelehrsamkeit. Diese Verortung der Musik als künstlerisches und wissenschaftliches Fach strebt Mattheson dezidiert außerhalb ihrer traditionellen Position im Quadrivium der septem artes an. Stattdessen sieht er ihren Ort in Gestalt einer eigenständigen Fakultät gleichberechtigt neben der Theologie. Wichtigste und in unzähligen Varianten im gesamten Schrifttum wiederkehrende Begründung hierfür ist die Fähigkeit der Musik zu Andacht und Freude zu bewegen; wichtigster Gewährsmann Luther. Aus sensualistischer Perspektive, am Gegenständlichen des real Erklingenden und damit an ureigenen Eigenschaften der »Musik selbst« interessiert, formuliert Mattheson schon 1713 in seiner ersten Publikation, dem Neu-Eröffneten Orchestre, eine Kritik des Nachahmungskonzepts für den Bereich der Musik, die nichts weniger artikuliert als eine Musikästhetik in nuce, wie Hans-Joachim Hinrichsen gezeigt hat.5 Diese höchst unzeitgemäße Auflösung einer überhaupt erst viel später virulent werdenden Debatte verhallt zwar ungehört. Der Kern der Argumentation Matthesons aber erhält sich bis in die Spätschriften der 1750er Jahre und erfährt dort einen Ausbau zu einer Konzeption, die ich als existentielle Erkenntnis charakterisieren möchte. Diesen Kern einer Ästhetik der Musik im eigentlichen Wortsinne bildet die theologische Vorstellungen einer transzendenten Herkunft der Musik, die 1713 als grundlegender Einwand gegen eine irgend geartete Naturnachahmung angeführt wird, zumal Musik ja selber »Natur« sei. Lange vor der kritischen Auseinandersetzung – gerade im Bereich der Musik – über Charles Batteux’ Konzeption einer Rückführung aller Künste auf das Prinzip der Naturnachahmung, argumentiert Mattheson im Zusammenhang eines Musik-Malerei-Vergleichs mit der Ursprünglichkeit 4

Vgl. Wolfgang Hirschmann, Bernhard Jahn: Einleitung. In: Dies.: Johann Mattheson als Vermittler und Initiator, S. 9–16, sowie die einzelnen Beiträge zu den Schwerpunkten des Bandes: Mattheson und die Hamburger Publizistik; Mattheson und der Transfer literarischer Modelle; Mattheson und die Musik; Mattheson und die Wissenschaften. 5 Vgl. Hans-Joachim Hinrichsen: Musikästhetik avant la lettre? Argumentationsstrategien in Johann Matthesons Verteidigung der Oper. In: Hirschmann, Jahn: Johann Mattheson als Vermittler und Initiator, S. 217–232.

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der Musik. Ahme Malerei lebendige Dinge nur nach und sei dabei aber selber tot, sei Musik göttlichen Ursprungs und daher essentiell Leben: »Daß das Wesen der Music, Göttlich lebendig und natürlich sey / mag theils auch aus der täglichen Erfahrung leicht abgenommen werden.«6 Die himmlische Herkunft der Musik verleiht ihr eine nur ihr eigene Erkenntniskraft, die keiner anderen Kunst zukommen kann: »Hergegen die Music hält in sich eine göttliche Weißheit verborgen und ein Gebet / wenn es mit der Music vergesellschafftet / wird desto stärcker seyn / weil NB. das Göttliche ja kräfftiger kan zu GOtt dringen / von welchem es sein Wesen und seinen Ursprung hat.«7 Die anti-intellektualistische, vernunft-skeptische Idee einer existentiellen Erkenntnis, die in diesem musikästhetischen Kernel bereits präformiert ist, erklärt sich vor derjenigen Aufwertung des Sinnlichen in der Neubewertung der Erkenntnisvermögen, die bei Mattheson einen programmatischen roten Faden seines gesamten Musikschrifttums bildet. Gemeint ist ein Erkenntnisbegriff, der mit den Worten von Panajotis Kondylis »wenigstens tendenziell die ganze Existenz in ihrer Vielschichtigkeit, aber auch in ihrer sinnlichen Verwurzelung«8 umfasst. In der Formulierung Jean-Jacques Rousseaus – dessen Lettre sur la musique von 1753 Mattheson nebenbei sehr wohlwollend zur Kenntnis nimmt: »Exister pour nous, c’est sentir.«9 Matthesons Ansatz wendet sich entschieden gegen die Reduktion des Zwecks, Nutzens und Wirkens der Musik auf naturwissenschaftlich-mathematische Parameter – ja noch mehr: Er postuliert eine Erkenntnis durch und in Musik, die sich dem logisch-analytischen Zugriff entzieht, eine Erkenntnis, die in genuin musikalischen Mitteln ihre Form und Ausdruck findet. Dem Wort – eigentlich unverzichtbarem Träger ausdrucksvoller Musik in der Musikphilosophie der Aufklärung – bleibt hierbei nur mehr die Rolle eines Katalysators. Die Unmittelbarkeit dieser Form des Wissens rekurriert in zweifacher Hinsicht auf die Materialität ihres Gegenstands: Erstens als Materialität der Musik in unmittelbarer Emergenz aus der Gegenwärtigkeit des Textes, und zweitens als klanglich-gegenständliche Manifestation einer theoretischen Konzeption sinnlicher Erkenntnis. »Wovon man nicht sprechen kann, davon muss man singen«, ließe sich Matthesons Position vielleicht am besten zusammenfassen.

6

Johann Mattheson: Das Neu-Eröffnete Orchestre. Hamburg 1713, S. 320. Ebd., S. 321. 8 Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. München 1986, S. 290. 9 Jean-Jacques Rousseau: Émile. Éducation. Morale. Botanique. Éd. publ. sous la dir. de B. Gagnebin et M. Raymond. Paris 1969 (Oeuvres Complètes, Bd. 4), S. 600, zit. nach Kondylis: Die Aufklärung, S. 311. 7

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2. Die Musik des Wortes Zwei Beispiele sollen demonstrieren, in welcher Weise Mattheson eine derartige Konzeption nicht nur abstrakt ausführt, sondern im selben Atemzug auch in concreto, das heißt musikpraktisch vorführt. Er muss dies tun, um aus der Evidenz des Musikalisch-Faktischen die Ohnmacht der wortgebundenen Vernunfterkenntnis zu erweisen. Denn, so formuliert Mattheson angesichts der ethisch-affektiven Kraft der Musik bündig, »Da stehet unser Verstand stille.«10 Den theologischen Hintergrund verdeutlicht das erste Beispiel, die mit dem Wort zugleich entstehende Vertonung eines Psalms; die erkenntnistheoretische Dimension erschließt sich dann deutlicher noch im zweiten Beispiel einer komplementären Ergänzung der Musikkritik durch die Macht der Musik. Wie verfehlt eine Zuordnung der Musik zum Bereich des Mathematischen und rationaler Erkenntnis ist, belegt Mattheson in seiner späten Schrift Plus ultra, einem ab 1754 in mehreren Bänden erschienenen »Stückwerk«, wie er es im Untertitel nennt, u. a. mit teils seitenlangen Erläuterungen und Kommentierungen von Bibelstellen. Auch in anderen seiner Schriften betreibt er diese intensive Bibelexegese im Dienste der Musik. Zu nennen wären etwa Das Erläuterte Selah (1745), Behauptung der himmlischen Musik (1747) oder Die neuangelegte Freuden-Akademie (1751/53). Eine wichtige Rolle spielen dabei immer wieder Psalme, als anschauliche Beweise für die konstitutive Rolle der Musik in der Huldigung und Erkenntnis Gottes. Unmittelbar aus der Lektüre, aus der Präsenz des Textes, emergiert gleichsam ohne weiteres Zutun, ohne jeden Akt der rationalen oder wortgebundenen Vermittlung die Musik. Die Wirkung der Musik erschließt sich so in einem Handlungsakt des innerlichen oder auch sich nach außen wendenden Musizierens, das selbst als Evidenz für die Bedeutung und Wirkmächtigkeit der Musik dient. Nicht zufällig steht dieses innere Musizieren in großer Nähe zu einer religiösen Andacht; die Gewissheit der musikalischen Kraft (die nur in der Musik selbst sich zeigt und nicht rational hergeleitet werden kann) ist eine Gewissheit des Glaubens. Konkret schildert Mattheson, wie ihm, bei winterlicher Bibellektüre, die Worte des 108. Psalms »Ich will singen und dichten« und »ich will dir lobsingen« unmittelbar als Musik vor Ohren standen: Ohne es vorher durchzulesen, sang ich nicht nur diese 3 ersten Verse gleich auf der Stelle, wie es mir einfiel; sondern auch die drei nachfolgenden geriethen mir, mit weniger Veränderung, ohne Bedenken und Überlegung, in eben derselben Melodie; da sie doch, in ihrer Prosa, wegen des Sylbenmaaßes, und andrer Umstände halber, sehr unterschieden sind […]. So gesungen, so geklungen; so geschrieben, so getrieben.11 10 11

Johann Mattheson: Das Forschende Orchestre. Hamburg 1721, S. 363. Johann Mattheson: Plus ultra, ein Stückwerk von neuer und mancherley Art. Erster Vorrath

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Das Ergebnis druckt Mattheson als »Hymni matutini Paradigma extemporaneum« ab, also als Beispiel eines spontan improvisierten morgendlichen Lobgesangs, und macht so die Musik zu einem integrativen Bestandteil seiner musikästhetischen Darstellung (vgl. Abb. 1).

Abbildung 1

Sie wird Teil des Buches und damit Teil der Argumentation. Die Musik ist hier keine »Vertonung« oder Darstellung eines wortgebundenen Affekts, sie repräsentiert vielmehr eine konstitutive Erkenntnisbedingung ihrer eigenen Funktion und Bedeutung und eröffnet eine zusätzliche, über den Text des Buches hinausgehende Bedeutungsdimension. Und dies ausdrücklich durch ihre immanent-musikalischen Qualitäten – zuvorderst durch die melodische Gestaltung als der musikalischen Substanz. Eine weitere musikalische Ausarbeitung wäre möglich (so sagt Mattheson), sei aber für die

dazu. Hamburg 1754, S. 30 f.; verwendet wurde das Exemplar der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Sign.: Mus. Hb 523 Rara.

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»edle Einfalt« und »ungezwungene Herzensandacht« nicht notwendig.12 Das private, innere, gleichsam kontemplierende Singen könnte aber direkt in die Öffentlichkeit gewendet werden. Unter den Noten merkt Mattheson an: Wenn diese Sätze mit Solo, Tutti, Forte, Piano etc. abgewechselt, auch mit Instrument. in besondern Nebensätzen begleitet, hier und da unterbrochen, ausgeführet, variirt und erweitert werden, als wozu die Pausen ihres Orts Anlaß geben; so kann es schon in einem Kirchen Oratorio, zum Anfange, u. Beschluße dienen; welche Ausarbeitung ich zwar in Partitur versucht, hier aber einzuschalten viel zu weitläuffig befunden habe.13

In der Musik selbst, alleine in der Melodie bereits also liegt ein Erkenntnisvermögen, das über jede sprachliche Darstellung einerseits hinausgeht, andererseits außerhalb der je individuellen, subjektiven Erfahrung nicht in irgendeiner mathematischen oder logisch-rationalistischen Weise erklärt oder vollständig dargestellt werden kann. Dass dieses Beispiel keine Laune Matthesons ist oder ein bloß kontingenter Einfall, zeigt das auch im Folgenden wiederkehrende, gleichsam den Lesefluss kontrapunktierende, innere Singen und Komponieren. Damit begleitet diese Musik sowohl den Erkenntnisprozess, der sich in der Niederschrift des Plus ultra artikuliert, als auch den Erkenntnisprozess der Lektüre, welche das Hören der Klangbeispiele notwendig einschließt. Die Musik hat hier den gleichen Erkenntnisrang wie die Schrift bzw. ist sogar imstande eine Erkenntnisebene auszudrücken, die in der Sprache nicht wiedergegeben werden kann. Musik selbst wird in diesen Beispielen Teil der Argumentation, die Mattheson verfolgt, um – einmal mehr und wie schon häufig – der Musik als Wissensform sui generis ihren Platz innerhalb der Wissenschaften und Künste zuzuweisen. Sie dient dabei als inhaltliches Argument, aber auch der unmittelbaren Veranschaulichung des modus operandi. Nicht nur der Andacht dient dieses Psalmodieren, sondern auch als ganz reale Kraftquelle, die zu repräsentieren Mattheson für die Musik nicht nur behauptet, sondern so eben auch konkret, gegenständlich vorführt. Die Musik selbst gibt Mattheson – und mit ihm dem innerlich singenden Leser – die Kraft des Widerstands gegen eine pedantisch-mathematische Auffassung von Musik, die der sinnlichen Erkenntnis keinen Platz zugestehen will. Wieder spielt Mattheson dagegen die Evidenz der musikalischen Gestalt aus, wenn er berichtet: »Ich singe und spiele indessen diesen Augenblick, mit freudigem Muth, den 27[.] Psalm, als ein Canticum animosum extemporaneum.«14 Und wieder liest und singt der Leser zugleich mit ihm die sich selbstbewusst und zuversichtlich zum Licht und zum Heil zweifach auf12

Ebd. Ebd., vor S. 31. 14 Ebd., S. 118, das gestochene Notenbeispiel ist im verwendeten Exemplar eingebunden nach S. 118. 13

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schwingende Melodie-Linie (vgl. Abb. 2); die Vortragsbezeichnung lautet »ardito«, also kühn oder mutig: »Der Herr ist mein Licht und Heil, mein Licht und Heil, / vor wem, vor wem sollt ich mich fürchten!« Die melodische Qualität dieses beherzten Gesangs belegt und bringt das Selbstbewusstsein einer ganz eigenen musikalischen Erkenntnis zugleich zum Ausdruck. Der Halbschluss der Phrase repräsentiert keine Frage – nicht nur das Ausrufezeichen markiert die selbstbewusste Feststellung, sondern auch die entsprechend absteigende Vorhalts-Sekunde der Melodie a’-g’. Die sich rasch aufschwingende und in den Spitzentönen über Licht und Heil dann auf dem f ’’ wiederum das Licht im Sprung erreichende Melodie ist von fröhlicher Zuversicht. Unter die gedruckten Noten notiert Mattheson: »So gehe ich die Psalmen naïvement durch, andern ein Exempel zu geben.« Gänzlich ohne Reflexion, ohne Regel, ohne satztechnisches, harmonisches oder gar mathematisches Wissen fügt sich die Melodie zum Psalmvers, der Attitüde nach unverfälscht, spontan und unmittelbar und damit als musikalisch wahrhafter, wahrer Ausdruck.

Abbildung 2

Weniger theologisch als strikter philosophisch und ästhetisch stellt sich die Fortführung dieses Prinzips einer musikalischen Veranschaulichung eines Sachverhalts, eines genuin musikalischen »Arguments« in einer Rezension dar, die Mattheson in das »Stückwerk« des Plus ultra integriert. Gegenstand der äußerst umfangreichen Besprechung ist eine jüngst in einer Musikzeitschrift abgedruckte Teilübersetzung des Buches Tentamen novae theoriae musicae (»Versuch einer neuen Theorie der Musik«) des Mathematikers Leonhard Euler.15 Verfasser der kommentierten Übersetzung ist einer der profiliertesten Gegenspieler Matthesons, der Leipziger Wolffianer Lorenz Christoph Mizler. 15

Leonhard Euler: Tentamen Novae Theoriae Mvsicae. Ex Certissimis Harmoniae Principiis Dilvcide Expositae. Sankt Petersburg 1739; die Teilübersetzung in: Musikalische Bibliothek Oder Gründliche Nachricht, nebst unpartheyischem Urtheil von Musikalischen Schrifften und Büchern. Bd. 3 (1746), S. 61–136 u. S. 305–346; Bd. 3 (1747), S. 539–558; Bd. 4 (1754), S. 69–103.

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Der den Paragraphen 137 kontrapunktierende musikalische Subtext geht nicht aus bestimmten Worten der Abhandlung hervor, wie im Fall der Psalme, sondern ergänzt die in diesem Abschnitt stattfindende inhaltliche Auslassung um eine gänzlich eigene Bedeutungsschicht – in einer Art Kommunikation mit dem Text. Nicht zufällig geht es in dem Paragraphen um eine nähere Bestimmung der Sinne, mithin um eine Darlegung der Möglichkeit sinnlicher Erkenntnis. Mattheson begreift die Sinne als Seelenvermögen, gesteht also den Sinnesorganen lediglich den Status von »Einleitungen« zu den eigentlichen Sinnen zu und damit auch als bloße Vorstufe einer auf die Sinne gegründeten Erkenntnis. Über die Anbindung der Sinne an die Seele und damit an die in ihr ruhenden Vernunftvermögen gelingt Mattheson zweierlei: Er kann der totalen Relativität und damit Beliebigkeit von Sinneseindrücken begegnen und zugleich die gefährliche moralische Nähe von Sinneswahrnehmung und reiner Sinnenlust umgehen. In der Vernachlässigung dieses spezifischen Seelenvermögens liege ein Hauptmanko der mathematischen oder rationalistischen Erkenntnisform: Die Beschäftigungen vieler so genannten Gelehrten, ja, der meisten, zielen hauptsächlich dahin, daß sie die Sele nur zerstreuen und von der Aufmerksamkeit ihrer selbst entfernen. Man lernet die ganze Welt kennen; nur sich selbst nicht.16

Dem Wesen der Dinge, insbesondere dem Wesen der Musik, bleibe eine solche Betrachtungsweise fern. Entschieden widerspricht Mattheson der Ansicht, dass eigentlich überhaupt kein musikalisches Gehör notwendig sei, »die Philosophie musikalischer Klänge zu verstehen«.17 Im mathematisch-naturwissenschaftlichen Paradigma würden, so Mattheson, Klang und Gehör durch eine »taube Philosophie« getrennt, statt durch eine Philosophie der sinnlichen Erkenntnis sozusagen verbunden zu werden. Kaum merklich präjudiziert hier Mattheson, in Form einer petitio principii, den Schluss als Prämisse, wenn er das Wesen der Musik im Klanglichen manifestiert sieht. Hohn und Spott ergießen sich in der für Matthesons Stil typischen Polemik über derartige taube Philosophen: Ach ihr ehrliche, mit Fleiß, tauben Klangrichter! ihr redliche, aus Eigensinn, blinde Farbenschichter! […] Eure Grillenfängerey gibt lauter weit entfernete und von allen Sinnen, als Selenkräften, unendlich abgesonderte Begriffe, die vielen Schaden und nicht den geringsten Nutzen schaffen können.18 16

Johann Mattheson: Plus ultra, ein Stückwerk von neuer und mancherley Art. Zweether Vorrath. Hamburg 1755, S. 254. 17 Johann Mattheson: Plus ultra, ein Stückwerk von neuer und mancherley Art. Vierter Vorrath dazu. Hamburg 1756, S. 682. Eingesehen wurde der in der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek vorhandene Mikrofilm des einzigen bekannten Exemplars, das sich im Besitz der Harvard College Library, Cambridge, MA, befindet. Mattheson zit. an dieser Stelle aus Robert Smith: Harmonics, or the philosophy of musical sounds. Cambridge 1749. 18 Ebd., S. 683.

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Wer nun aber Ohren hat, und nur dieser – so erschließt sich die Kontrapunktierung dieser Auslassungen –, wird im Hören der Musik sich auch ihres einzigartigen Erkenntnisanspruchs bewusst. Was musikalisch manifest wiederum die jenseits von Vernunfterkenntnis angesiedelte Gewissheit der existentiellen Erkenntnis evident macht, kann von Mattheson erneut in Noten anschaulich gemacht werden (vgl. Abb. 3).19

Abbildung 3

»Der Herr ist mit mir, darum fürcht ich mich nicht«, lautet der mit der Darlegung resonierende Psalmtext, den Mattheson für sein inneres »Epinicium« wählt, also für nichts anderes als ein Siegeslied. Im Stil eines einfachen Kirchenliedes erreicht der strophische Gesang seinen Höhepunkt wiederum in der Gewissheit regelrechter Unbesiegbarkeit aus der protestantischen Festigkeit des Glaubens – eines Glaubens nicht zuletzt an die Richtigkeit und Gerechtigkeit des eigenen Standpunkts –, wenn es heißt, »Was können mir Menschen thun?«20 Fast bescheiden und lakonisch dann 19 Notenbeispiel im Typendruck mit Hinweis »in fine. §. 137.«; im verwendeten Exemplar am Schluss des Bandes eingebunden. 20 Ein geradezu hypertrophes Selbstbewusstsein zeichnet Matthesons Denken im Alter ohnehin aus, gespeist zum einen aus dem Stolz, seine Gegner schlicht und ergreifend überlebt zu haben, stets aber auch religiös motiviert und dadurch legitimiert. In einer Überlegung zum Thema Feindschaft bezieht sich Mattheson in der selben Publikation auf Luthers Gedanken, dass den Wissenden immer Feindschaft entgegengebracht werde, und resümiert für seine eigene Person: »[I]ch bin des Waffenversprechens mächtig, und längst unverletzlicher, als Achilles […]« (Mattheson: Plus ultra. Bd. 4, S. 708). Vgl. zum Polemik-Gebrauch Matthesons auch Karsten Mackensen, Dirk Rose:

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erklingt das »Und ich will meine Lust sehen an meinen Feinden, an meinen Feinden« mit seiner echoartigen, in der Dynamik abfallenden Abspaltung der Schlusswendung. Hier ist keine Emphase weiter notwendig; diese Form der Überlegenheit bedarf nicht des lauten Tons. Die genannten Beispiele können als eine materielle, sinnlich-musikalische Umsetzung einer musikästhetischen Konzeption gelesen werden, die – als erklingende, oder innerlich gesungene – zu einem integralen Bestandteil des Buches und seines Anliegens wird. Dies geschieht auf zwei Ebenen. Zum einen verbindet sich die logisch argumentierende Ebene mit der sinnlich-überwältigenden Evidenz der musikalischen Äußerung, die weit über ihr Notat und weit über jede sprachliche Äußerung hinausgeht – sie muss gesungen werden; ihre substantiellen Eigenschaften erschöpfen sich nicht im zugrundeliegenden Psalmwort. Diese liegen vielmehr in über den Klang sich eröffnenden musikalisch-immanenten Qualitäten. Zum anderen wird die Materialität des Gegenstandes »Buch« durch die physikalische Materialität der erklingenden Musik ergänzt. Hierdurch erfährt die Ästhetik im Wortsinne gleichzeitig ihre Umsetzung: Das Gegenständliche, Fühlbare und Bewegende der Musik; die Erkenntnis (des Glaubens und der Gewissheit), die durch sie zu gewinnen sind, kann eben in Sprache nicht ausgedrückt werden.

3. Auf der Suche nach einer Philosophie der Musik Mattheson elaboriert also nicht nur, sondern demonstriert zugleich eine spezifische Form musikalischer Erkenntnis jenseits traditioneller Regelpoetik oder Musik-Wissenschaft. Es handelt sich um eine sinnliche Form der Erkenntnis, die auf genuin musikalische Qualitäten zielt. Kunst, und insbesondere Musik, deren nicht-mimetische Qualitäten Mattheson hervorhebt, führt zu einer Gewissheit, die die Wissenschaften nicht bieten können. Dies aus erkenntnistheoretischen Gründen und nicht aufgrund eines in der Zukunft im Prinzip zu behebenden, defizitären Zustands dieser Wissenschaften. Evidenz tritt an die Stelle der demonstratio, wie sie beispielsweise durch Lorenz Christoph Mizler als Kern und Voraussetzung jeder Erkenntnis bestimmt wird.21 Mattheson hält dem entgegen: Johann Matthesons Gelehrtenpolemik und die Neukonzeption der musikalischen Wissenschaft in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Kai Bremer, Carlos Spoerhase: Gelehrte Polemik: Typen und Techniken wissenschaftlicher Konfliktführung in der respublica litteraria des 17. und 18. Jahrhunderts (Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit, Bd. 15, Heft 2/3), Frankfurt am Main 2011, S. 101–124. 21 Vgl. Lorenz Christoph Mizler: Disputatio quod musica ars sit pars eruditionis philosophicae. Leipzig 1734, ediert in: Johann Matthesons und Lorenz Christoph Mizlers Konzeptionen musikalischer Wissenschaft. De eruditione musica (1732) und Dissertatio quod musica scientia sit et pars

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Und es fällt auch selbst den besten Allmessern in vielen Stücken lange nicht so leicht, zu der von ihnen auf das Strengeste erforderten Gewißheit zu gelangen, als den übrigen Gelehrten, absonderlich den rechtschaffenen Beflissenen der höhern Tonkunst, so viel zu ihrem Zwecke genug ist, vor aller Welt Augen und Ohren zu legen. Das ist, ohne allen Zweifel, die beste Demonstration in Künsten.22

Wenn Mattheson dann in diesem Zusammenhang vom »Wesen« der Musik spricht, das eben nicht in Zahlen, Proportionen oder dem Satz des Widerspruchs zu finden sei, dann ist dieses Wesen eine existentielle und zutiefst menschliche Qualität. Die nicht taube, sondern hörende und empfindende Philosophie der scientia musica, die Mattheson vorschwebt, ist eine Philosophie auch des Lebendigen. Nicht zufällig hatte, wie oben angesprochen, Mattheson schon 1713 das Nachahmungsprinzip dem Bereich des Toten und Irdischen zugeordnet, Musik dagegen dem Lebendigen und Göttlichen.23 Zahlenabmessungen in der Musik vergleicht er im Spätwerk, in ausdrücklicher biblischer Anspielung, mit der Anbetung von Bildern.24 Es handele sich lediglich um Abbildungen von Intervallen, die deren Substanz nicht transportieren: »Denn ihre Abmessungen haben nichts wesentliches. Die eine Form bildet die Octav ab, die andre die Quint […] u.s.w. Alles ohne Wesen, ohne Leben.«25 Auch wenn Mattheson im Frühwerk vielleicht die Brisanz seiner Musikästhetik in nuce selber gar nicht bemerkt hat, gelingt ihm noch im Spätwerk die Formulierung eines Prinzips sinnlicher Erkenntnis, das Musik selbstbewusst neben, wenn nicht sogar oberhalb anderer Erkenntnisvermögen des Menschen positioniert. Verbindendes Element bleibt eine theologisch verwurzelte Betrachtungsweise, die Mattheson hier in überraschender Weise an den Beginn einer philosophischen Ästhetik führt.

eruditionis philosophicae (1734/1736) mit Übers. u. Komm., hrsg. v. Karsten Mackensen, Oliver Wiener. Mainz 2011 (Structura & experientia musicae, Bd. 2), S. 79–123. 22 Mattheson: Plus ultra. Bd. 2, S. 339. 23 S. o., S. 283. 24 Psalm 97,7: »Schämen müssen sich alle, die den Bildern dienen und sich der Götzen rühmen.« 25 Mattheson: Plus ultra. Bd. 4, S. 646.

Kerrin Klinger (Jena) »… unter dem Namen Schulbücher aber blos diejenigen, welche in dem hiesigen Gymnasio, auch andern Stadt- und Landschulen beim dociren und informiren gebraucht zu werden pflegen, zu verstehen sind.«1 Schulbücher der Mathematik in Weimar um 1800 Mathematikbücher sind wie Schulbücher eingebunden in komplexe Kommunikationssituationen, wobei grundsätzlich Entstehungs- und Gebrauchssituation unterschieden werden können.2 Am Ende des 18. Jahrhunderts kannte man die heute üblichen Herstellungs- und Genehmigungsverfahren für Schulbücher nicht, so verfassten etwa Schullehrer, Universitätsprofessoren, Beamte, aber auch Kaufleute Bücher für den mathematischen Schulunterricht. Im vorliegenden Text sollen ausgehend von ihrem Gebrauch an Weimarer Schulen Heterogenität und Funktionen der an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert verfügbaren mathematischen Lehrwerke vorgestellt werden.3 Auch im kleinen Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach war der absolutistischaufgeklärte Potentat Ende des 18. Jahrhunderts bemüht, all seinen Landeskindern zumindest eine Elementarbildung angedeihen zu lassen und die höhere Bildung zu standardisieren. Nachdem infolge der Gebietszuwächse durch den Wiener Kongress die landesweite Vereinheitlichung der Lehrinhalte und -methoden notwendiger denn je geworden war, unterstützte der Herzog Carl August eine grundsätzliche Debatte über die Einrichtung eines geordneten Schulwesens. In den daraufhin entbrennenden pädagogischen Diskursen nahm die Mathematik – neben den Sprachen – eine Sonderrolle ein.4

1

Sammlung Großherzogl. S. Weimar-Eisenachischer Gesetze. Verordnungen und Circularbefehle in chronologischer Ordnung, hrsg. v. Ferdinand von Goeckel, Bd. 1. Eisenach 1828, S. 97. 2 Vgl. dazu die von Gärtner entwickelte Analysematrix in: Barbara Gärtner, Johannes Widmanns: »Behende vnd hubsche Rechenung.« Die Textsorte »Rechenbuch« in der Frühen Neuzeit. Tübingen 2000. 3 Vgl. dazu Hugo Grosse: Historische Rechenbücher des 16. und 17. Jahrhunderts und die Entwicklung ihrer Grundgedanken bis zur Neuzeit. Ein Beitrag zur Geschichte der Methodik des Rechenunterrichts. Wiesbaden 1965 [ND der Ausg. Leipzig 1901]; Karl Heinz Franke: Verlaufsformen der Entwicklung des Rechenbuchs der deutschen Volksschule, aufgezeigt an ausgewählten Beispielen des Rechenbuchs aus dem 18., 19. und 20. Jahrhundert. Univ. Diss. Erlangen, Nürnberg 2001. 4 Siehe dazu und zu den folgenden Ausführungen zur Weimarer Schulsituation die Konsistorial-Akten des Thüringer Hauptstaatsarchiv Weimar sowie Paul Krumbholz: Geschichte des Weimarischen Schulwesens. Berlin 1934; Hugo Arndt: Aus der Geschichte der Karl-August-Schule in Weimar. Weimar [1925]; Otto Francke: Geschichte des Wilhelm-Ernst-Gymnasiums in Weimar. Weimar 1916.

Schulbücher der Mathematik in Weimar um 1800

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1819 wurde ein Sachverständigengremium damit beauftragt, die Grenzen zwischen Gymnasium und Universität auf der einen und zwischen Gymnasium und Bürgerschule auf der anderen Seite zu bestimmen. In der Folge verständigten sich Oberkonsistorialrath Karl Friedrich Horn, Legationsrath und Waisenhausleiter Johannes Daniel Falk aus Weimar sowie der Direktor des Eisenacher Gymnasiums Franz Christoph Frenzel und der Jenaer Professor Ferdinand Hand über die Einrichtung des Schulwesens.5 Dem Gymnasium als gelehrter Schule wurde ein altsprachliches und der Bürgerschule ein muttersprachliches Profil zugewiesen. Dabei rekurrierten die Sachverständigen auf ein ständisches Gesellschaftsmodell mit einer Verschränkung von Berufs- und Geburtsstand: Die Volksschulen, also die Bürgerund Landschulen, sollten künftige Bauern, Handwerker, Künstler und Kaufleute ausbilden; das Gymnasium sollte auf eine Beamten- und Akademikerlaufbahn vorbereiten. Der mathematische Unterricht, welcher in Rechnen und Mathematik differenziert wurde, sollte dabei vor allem die formalen Geisteskräfte schulen. Prinzipiell verstand man unter Rechnen, das an Volksschulen gelehrt werden sollte, die vier Grundrechenarten mit einfachen und gebrochenen Zahlen und ihre Anwendung in Dreisatz und Kettenrechnung. Mathematikunterricht war nur der oberen Bürgerschulklasse und dem Gymnasium vorbehalten, hier sollte die reine Mathematik vermittelt werden. Die Grundlagen der reinen Mathematik waren von Euklid um 300 v. Chr. in den Elementen in einem streng axiomatisch-deduktiven Schema ohne Konstruktionshinweise oder Anwendungsbeispiele zusammengestellt worden.6 Hinsichtlich des mathematischen Unterrichts stellten die Sachverständigen für das Gymnasium die in der Tradition der artes liberales stehende Euklidrezeption nicht infrage und nahmen im Bereich der bürgerlichen Bildung den Lehrkanon der Rechenmeister selbstverständlich auf. Ergänzt werden sollten diese Traditionslinien durch das Moment der Anschaulichkeit: Die mathematische Elementarbildung sollte nach Johann Heinrich Pestalozzis Anschauungslehre mit den geometrischen Grundformen beginnen und im Bereich der höheren Bildung in die Experimentalphysik münden. Bekräftigt wurde die zeitübliche Orientierung durch das Urteil Horns, der sich während einer Schweizreise vom Erfolg der mathematischen Lehrmethode an Pestalozzis Institut überzeugt hatte.7 Um 1800 war es in Weimar weitestgehend dem einzelnen Lehrer überlassen, wie er seinen Unterricht ausgestaltete. Daher bot die Anordnung oder Empfehlung 5

Eine Art Zusammenfassung der Beratungen gibt Falks Schrift: Johannes Daniel Falk: Von dem Einen, was unsern Gymnasien und Volksschulen in ihrem jetzigen Zustande not tut. Leipzig 1821. 6 Vgl. etwa Christoph J. Scriba, Peter Schreiber: 5000 Jahre Geometrie. Berlin [u. a.] 2005, S. 49–52. Peter Schreiber: Euklid. Leipzig 1987. 7 Vgl. Krumbholz, Paul: Karl Friedrich Horns Reise zu Pestalozzi im Jahre 1819. Sonderdruck aus Zeitschrift für Geschichte der Erziehung und des Unterricht 2/1 (1912).

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bestimmter Lehrbücher durch die Schulaufsichtsbehörde eine der wenigen Möglichkeiten, die Lehre inhaltlich und didaktisch zu beeinflussen.8 Das Schulbuch als Medium wurde im Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach durch seine Gebrauchssituation bestimmt, dies konnte bedeuten, dass explizit für Schulen geschriebene Bücher nie Eingang in den Unterricht fanden oder, dass ursprünglich nicht dazu vorgesehene Bücher durch ihre Verwendung zu Schulbüchern wurden. Der Unterricht an den meisten Volksschulen beschränkte sich auf die Vermittlung der Zahlen und der vier Grundrechenarten. So sollten die Zahlen zusammen mit den Buchstaben spielerisch eingeführt werden, wie Johann Gottfried Herder, ab 1776 als Generalsuperintendent für die Oberaufsicht über das Schulwesen zuständig, im Vorwort seines für das Herzogtum verbindlichen Buchstaben- und Lesebuch (1787) dem Landschullehrer empfahl. In dieser Fibel wurden die Ziffern von 1–20 und in Zehnerschritten bis 100 und 1000 nach dem Alphabet aufgelistet und am Ende des dünnen Heftchens findet sich das Einmaleins, wobei die Ziffern mit »mal« und »ist« zu Gleichungen verbunden sind – Herder verzichtet also auf die mathematische Kurzschrift. Auch Friedrich August Born, ein Landschullehrer aus Apolda, verwendet in seinem schmalen Heftchen mit dem Titel Das Unentbehrlichste beim Kopf- und Tafelrechnen (1818) keine mathematischen Zeichen, sondern verknüpft die Ziffern mit »und« oder »ist«. Er überschreibt seine Abschnitte allerdings mit den lateinischen Fachbegriffen wie »Numeration«, »Addition« etc. und ordnet den Lehrstoff für Unter- und Oberklasse einer Volksschule in Form von einfachen Übersichtstabellen mit kurzen Hinweisen für den Lehrer. Dies ergänzt er mit Sachaufgaben und Angaben zu den regional gängigen Maßen, Münzen und Gewichten. Der Rechenunterricht in der Elementarklasse an der Weimarer Freischule, die von Waisenkindern, armen Soldatenkindern und Almosenempfängern beiderlei Geschlechts besucht wurde, orientierte sich sowohl an den Methoden, die Andreas Bell und Josef Lancaster in den 1790er Jahren in England zum Unterricht großer Klassen entwickelt hatten als auch an der Anschauungslehre Pestalozzis. Das heißt, die Schulstunden in der Elementarklasse wurden nach Bell-Lancaster im Monitorensystem unterrichtet, wobei fortgeschrittene Schüler unter der Aufsicht des Hauptlehrers ihre Kenntnisse an kleinere Schülergruppen weitergaben. Dies begünstigte besonders im Rechenunterricht eine starke Mechanisierung, denn die Schüler lernten, indem sie unzählige Exempel rechneten, vor allem Rechenrezepte auswendig.9 Ob-

8

Vgl. dazu Kissling, Walter: »… Die Jugend aus keinem anderen als den vorgeschriebenen Büchern unterweisen« -- Das Hilfsmittel Schulbuch als historisches Medium staatlicher Unterrichtskontrolle. In: Schulbuchforschung, hrsg. v. Richard Olechowski. Frankfurt a. M. [u. a.] 1995, S. 116–174. 9 Vgl. Joseph Hamel: Der gegenseitige Unterricht […]. Paris 1818.

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wohl Pestalozzi sich im Grunde gegen dieses stumpfe Repetitieren wandte, war der Unterrichtsgang nach seiner Zahlenlehre damit gut vereinbar, denn auch er machte chorisches Sprechen und Wiederholungen neben der sinnlichen Veranschaulichung zu Grundlagen des Unterrichts. Anschaulichkeit bezieht sich hier jedoch weniger auf reale Gegenstände, sondern auf abstrakte Zeichen und Figuren, die von den Schülern auf Nachfrage durch den Lehrer im Chor benannt, gezählt und verglichen werden sollten. In Weimar verwendete man Pestalozzis Tabellen und führte Zahlen, Grundrechenarten und Brüche in dessen Sinne mit Strichlisten ein, ergänzte sie aber mit den üblichen Lehrinhalten der Rechenmeister. Dabei wurden Pestalozzis Schriften – wie das ABC der Anschauung (1803), ein Lehrerleitfaden, der das Unterrichtsgespräch mit Lehrerantworten und Schülerfragen detailliert vorgab – ausdrücklich nicht streng umgesetzt, sondern als Anregung verstanden. 1825 wurde unter Zusammenlegung mehrerer Volksschulen die Weimarer Bürgerschule gegründet. Hinweise zur Gestaltung des dortigen Unterrichts gibt deren Direktor Ernst Ludwig Schweitzer 1833 in seiner Methodik für Elementarlehrer oder Wegweiser auf den Unterrichtsfeldern der Volksschule. Darin forderte er ganz im Sinne der zeitgenössischen Rechendidaktik eine Abkehr vom mechanischen und eine Orientierung hin zum selbsttätigen Rechnen, denn die Schüler sollten nicht nur mechanisch eine Lösung reproduzieren, sondern aus sich selbst heraus entwickeln.10 Darüber hinaus sollte nun auch dem einfachen Volk explizit eine formale Bildung im Sinne einer Schulung des allgemeinen Denkvermögens zu Teil werden. Sachaufgaben zu Münzen, Maßen und Gewichten sollten daneben wie bisher materiale Inhalte – also lebensweltliche, das heißt hier bürgerliche Anwendungsbeispiele – vermitteln. Schweitzer gibt in seiner Methodik auch konkrete Beispiele zum Unterrichtsgespräch und zur Veranschaulichung der Lehrinhalte. So wollte er etwa das Dezimalsystem über Einheiten eingeführt wissen, die der Lehrer mit den im Anmerkungsapparat abbildeten Symbolen für Tüten, Säckchen und Kästchen veranschaulichen sollte. Auch die Formlehre, wie sie der Pestalozzi Schüler Joseph Schmidt in seinem Lehrerleitfaden Die Elemente der Form und Größe (1809) ausgeführt hatte, sollte als eine Vorgeometrie in enger Verknüpfung mit dem Rechnen und Zeichnen an jeder Landschule eingeführt werden. Sie könne durch die Anleitung zu genauer Beobachtung und Beschreibung der äußeren Gegenstände nicht nur die formale Bildung, sondern auch Schönheitsgefühl und Geschmackssinn der Schüler befördern – Fähigkeiten, wie sie etwa dem künftigen Handwerker nützten. Die Methodik war auf Anregung der Schulaufsichtsbehörde als Richtlinie für die Landschullehrer des Herzogtums entstanden, um dem Mangel an einem einheitlichen 10

Siehe dazu etwa Rechenbücher für den Unterricht in der Elementarschule. Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Kaiserreich in Auszügen, hrsg. v. Siegbert Schmidt. Köln [u. a.] 1993, S. XX ff.

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Lehrplan entgegenzuwirken. Schweitzer betont, dass er kein Lehrbuch verfasst habe und verweist stattdessen auf unzählige Lehrmittel anderer Autoren. Problematisch daran war, wie schon eine zeitgenössische Kritik bemerkte, dass er dem unbedarften und unbemittelten Landschullehrer keine Kriterien für eine zweckmäßige Auswahl an die Hand gab.11 Die Annahme liegt also näher, dass sich Schweitzer, wenn er in seinen Ausführungen etwa auf Friedrich Kranckes Arithmetisches Exempelbuch oder dessen Ausführliche Anleitung zu einem zweckmäßigen Unterricht im Rechnen für Volksschullehrer verweist, in erster Linie in einem pädagogischen Fachdiskurs verortet. Für die konkrete Unterrichtsgestaltung an den Landschulen des Herzogtums ist allerdings davon auszugehen, dass die Methodik selbst – wie in der Kritik auch empfohlen – als Lehrbuch im Sinne eines Lehrerleitfadens fungierte. Am Gymnasium war um 1800 in der Quarta ein Rechen- und Schreibmeister für den Rechenunterricht zuständig. Der Rechenmeister war zumeist ein einfacher Hofbeamter und vermittelte das bürgerliche Rechnen: die Ziffern, das Nummerieren und die Grundrechenarten. Auch die Tertia erhielt noch Stunden vom Rechenmeister. Für den geometrischen Unterricht in der Tertia nutzte man das Lehrbuch Adam Friedrich Ernst Jakobis, der in seiner Meßkunst für Kinder und für das gemeine Leben (1783) eine einfache Einführung gab. Jacobi, Sachsen-Gothaer Superintendent und Privatlehrer, betont in seinem Vorwort die sinnliche Erfahrung der Kinder als Ausgangspunkt der Geistesbildung. Er orientierte sein Lehrschema stark an Euklids Elementen, die noch bis weit in das 19. Jahrhundert den mathematischen Schulunterricht prägten. Jakobi allerdings verzichtete teilweise auf die bei Euklid üblichen Beweise und führte im Gegensatz zahlreiche Anwendungsbeispiele an. Dieses Buch befand sich nicht in Klassenstärke in der Gymnasialbibliothek, wenn es die Schüler nicht selbst erwarben, konnte es daher nur der Unterrichtsvorbereitung des Lehrers und vereinzelt der privaten Nacharbeit der Schüler dienen. In Tertia, Sekunda und Prima war der Erste Professor für den Unterricht in Arithmetik und Geometrie zuständig. Nach Euklid wurden hier streng deduktiv die mathematischen Grundsätze diktiert, die Richtigkeit der Regeln demonstriert und bewiesen. Man begriff die mathematische Ausbildung more geometrico in erster Linie als eine Schulung des Denkvermögens, sie sollte die Grundsätze der Logik und damit die des gründlichen Denkens vermitteln. Dabei waren Johann Jacob Eberts Unterweisungen in den philosophischen und mathematischen Wissenschaften die Unterrichtsgrundlage. In diesem über 750 Seiten starken Buch war die euklidische Mathematik ganz im Sinne einer Vorbereitung auf das akademische Studium von Vernunftlehre auf der einen und von Naturlehre, Naturgeschichte und Metaphysik auf der anderen Seite gerahmt. Wie Jakobis Meßkunst befand sich Eberts Lehr11

Vgl. Wegweiser für deutsche Lehrer. Neue Aufl. in 2 Bden., Bd. 1, hrsg. v. Adolph Wilhelm Diesterweg. Essen 1838, S. 52.

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werk zwar in mehreren Exemplaren, aber nicht als Klassensatz in der Schulbibliothek. 1811 fiel bei der Aufnahme von Gymnasiasten ins Militär deren schlechter mathematischer Bildungsstand auf, woraufhin durch die Schulaufsichtsbehörde eine noch stärkere Orientierung an Euklid angeordnet wurde. Doch erst, als 1813 durch den Tod des Ersten Professors ein Personalwechsel stattfand, wurde der mathematische Unterricht nach der deutschen Übersetzung von Euklid’s Elemente[n] [1. Aufl. 1781] von Johann Friedrich Lorenz eingeführt. Lorenz war Lehrer und Rektor am Pädagogium des Benediktinerklosters nahe Magdeburg und verfolgte mit seiner Übersetzung nicht zuletzt philologische Interessen. Schlägt man dieses Buch auf, so wird schnell klar, dass es nur als Leitfaden für den Lehrer oder als Gedächtnisstütze fungieren kann, da ein Anfänger den knapp formulierten Inhalten ohne zusätzliche Erklärungen und Demonstrationen kaum zu folgen vermag. Der ab etwa 1813 nach Lorenz eingerichtete Unterricht bildete nun den Hintergrund für das Urteil der Sachverständigen, die 1819 einen langweiligen, leblosen und unverständlichen Mathematikunterricht beklagt hatten. Eine Veränderung dieser Situation wurde jedoch erst ab 1828 ernsthaft versucht, als der junge Mathematiker Carl Ludwig Albrecht Kunze die Stelle des Ersten Professors am Gymnasium übernahm.12 Kunze baute nicht nur den physikalischen Unterricht aus, sondern erarbeitete und veröffentlichte erstmals einen detailliert abgestuften Lehrplan für seine Unterrichtsstunden, der durch die Jenaer Universität begutachtet worden war, und publizierte sein eigenes Lehrbuch. Kunzes Lehrbuch der Geometrie. Erster Band: Planimetrie (1842) sollte jedoch nicht nur ein Leitfaden für den Lehrer, sondern explizit ein Schülerbuch sein. Zu diesem Zweck habe er, wie Kunze in seinem Vorwort betont, den kompletten Unterricht mit seinen sämtlichen Erläuterungen und Verweisen verschriftlicht. Er gibt in komplexer Typographie mit umfangreichem Anmerkungsapparat Erklärungen, konkrete Konstruktionsschritte, Übungsempfehlungen für Anfänger, historische und zeitgenössische Literaturhinweise sowie zahlreiche Anwendungsbeispiele aus Feldmesskunst, Physik, Astronomie und Reisskunst. Außerdem entwickelte er die Lösungswege mathematischer Aufgaben heuristisch und blieb so trotz zahlreicher Ergänzungen zwar inhaltlich an Euklids Vorgaben, veränderte aber die Darstellungsweise, mit dem Ziel den mathematischen Unterricht interessanter und nachvollziehbarer zu gestalten. Der mathematische Unterricht am Gymnasium war demnach weiterhin durch Euklid bestimmt, wurde jedoch didaktisch modernisiert und durch Bezüge zur Physik ergänzt. An der Bürgerschule wurde das Rechnen methodisch an Pestalozzis An12

Siehe dazu Jan-Christoph Hauschild: Die kleine Welt des Alltags und das Universum der Zahlen: Ludwig Kunze, eine soziale Biographie. 1805–1890. Mit Textzeugnissen und Bilddokumenten. Darmstadt 1990.

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schauungslehre orientiert und durch dessen Vorgeometrie erweitert, jedoch inhaltlich auch im Sinne der Rechenmeister weitergeführt. Grundsätzlich war nur die Fibel als Schulbuch im Elementarbereich selbstverständlich in Schülerhand. Zwar hatte Kunze erstmals explizit ein Schülerbuch verfasst, doch es stand den Schülern frei, es zu erwerben. Es war ihm mit diesem Lehrbuch nicht nur daran gelegen, sich als Pädagoge zu bestimmen, sondern er wollte sich zudem als Wissenschaftler in einem fachwissenschaftlichen Diskurs verorten. In diesem Sinne hatte er seine Publikation als mehrbändiges Lehrbuchprojekt angelegt und adressierte es über den schulischen Kontext hinaus. Allerdings erschien nur der erste Band, was sich möglicherweise mit der komplexen Darstellung, dem Schwierigkeitsgrad und dem daraus resultierenden mangelndem Publikumserfolg seines Lehrbuchs begründet. Wie auch Born, Jakobi oder Schweitzer dokumentierte Kunze seinen individuellen Unterricht in schriftlicher Form und konzipierte darüber hinausgehend ein Programm hinsichtlich der didaktischen Vermittlung und der Organisation des Lehrstoffes, das idealerweise zukünftig auch von anderen Lehrern im Unterricht umgesetzt werden sollte. Dieser Aspekt wurde zusätzlich verstärkt, wenn die Lehrwerke durch die Schulaufsicht als Unterrichtsgrundlage bestimmt wurden, was nur im Fall von Herders Lesebuch im Elementarbereich und für das Gymnasium explizit geschah. Das ausgewählte Lehrbuch sollte im Bereich der höheren Schulbildung für die Qualität der Ausbildung bürgen, so dass das Herzogtum mit seinen Nachbarstaaten konkurrieren konnte. Doch generell war weiterhin von anderen Faktoren etwa der Bereitschaft des Lehrers – und dessen Beharrungsvermögen sollte nicht unterschätzt werden – abhängig, ob und inwiefern diese Vorgaben tatsächlich umgesetzt wurden. An den Bürger- und Landschulen wurde eine Standardisierung des Unterrichts implizit über die zentrale Ausbildung am Lehrerseminar angestrebt. Unterstützt werden sollte dies durch die Methodik des Bürgerschuldirektors und Lehrerseminarinspektors Schweitzer, dessen Buch den Lehrern auf dem Lande als Leitfaden empfohlen war. Zwar empfahlen einige der Autoren ihre Bücher zum Selbststudium, doch ist eher davon auszugehen, dass sie wie etwa im Fall von Jakobis Messkunst späterhin, nach einer mündlichen Unterweisung als Nachschlagewerke fungierten. Auch im Fall der Exempelbücher, Sammlungen von Sachaufgaben, war es wahrscheinlich, dass der Lehrer daraus nur diktierte. Eines der Bekanntesten war Kranckes Arithmetisches Exempelbuch, das keinerlei Veranschaulichungen oder Erklärungen gibt und im Volksschulbereich für die im jahrgangsübergreifenden Unterricht üblichen Stillarbeitsphasen bestimmt war.13 Schweitzer empfahl dieses Exempelbuch in seiner Methodik zwar, doch er sah kein mathematisches Lehrbuch in Schülerhand vor. 13

Schmidt: Rechenbücher für den Unterricht in der Elementarschule, S. XXIV ff.

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Der Überblick über die in Sachsen-Weimar-Eisenach verwendeten mathematischen Bücher für den Schulunterricht zeigt also, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts weniger von Schulbüchern im heutigen Sinne – als von für Schüler verfasste oder zusammengestellte Lehrwerke14 – gesprochen werden kann, vielmehr handelte es sich um Leitfäden oder Aufgabensammlungen auf deren Grundlage der Lehrer seinen Unterricht aufbauen konnte oder sollte.

14

Zur Schulbuchdefinition allgemein Richard Olechowski: Schulbuchforschung. Frankfurt a. M. [u. a.] 1995.

Martin Mulsow (Erfurt/Gotha) Der Silen von Helmstedt

1. In der Helmstedter Universitätsbibliothek stand in den 1740er Jahren eine kleine, kaum sieben Zentimeter große Figur aus Metall.1 Sie stellte eine Büste dar, deren Kopf mit einer Art Haube bedeckt war, die um das Kinn herumführte und Platz für lange, nach oben gestreckte Ohren ließ. (Abb. 1) Diese unscheinbare Figur war

Abb. 1: Bad. LB Karlsruhe, Ms. 396, fol. 55v/56r. 1

Eine ausführlichere Fassung dieses Textes soll in einer Monographie über Hermann von der Hardt erscheinen, die ich plane. – Als 1750 J. C. C. O [=Johann Carl Conrad Oelrichs] auf seiner Reise durch einen Teil von Ober- und Niedersachsen durch Helmstedt kam, gab man ihm einen »von dem ehemaligen Hausgötzen Silenus, so zugleich eine kleine gedruckte Nachricht davon enthält; er ist von Erz, noch nicht eines Fingers groß und der obere Theil eines menschlichen Körpers. Der seel. Hermann von der Hardt hat solchen aus Lüneburg, in welcher Gegend ihn ein Bauer in der Erde gefunden, erhalten, und er sowohl als der jüngere dieses Namens, der jetzige D. und Prof. von der Hardt halten es für ein Original=Stück.« In: Johann Bernoulli: Sammlung kurzer Reisebeschreibungen. Bd. 6. Berlin 1782, S. 57–59. Oelrichs spricht von einem »Hausgötzen«, da ein Silen in der Antike auch ein Hausgott sein konnte. Vgl. die in Anm. 5 genannte Literatur.

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eine Sache der Aufklärung. Warum sie das war, das ist eine lange und verwickelte Geschichte. An ihren Platz gestellt hat sie Hermann von der Hardt, zu dieser Zeit Bibliothekar der Universität und zuvor Professor für orientalische Sprachen.2 Von der Hardt hatte die Figur bekommen, nachdem sie von einem Bauern in der Nähe von Lüneburg in der Erde gefunden worden war und er um eine Expertise gebeten wurde.

2. Die Statuette befindet sich heute – das ließ sich nach einigem Suchen herausfinden – im Anton Ulrich Museum in BraunAbb. 2: Ursel Berger und Volker Krahn: schweig.3 (Abb. 2) Nach dem Äußeren könnte Bronzen der Renaissance und des vermutet werden, dass es sich um eine spätmitBarock im Anton-Ulrich-Museum, Braunschweig 1994, Nr. 184. telalterliche Narrenfigur handelt, mit Narren2

Zu Von der Hardt (1660–1746) vgl. die ausführliche Studie von Hans Möller: Hermann von der Hardt als Alttestamentler. maschinenschriftliche Habilitationsschrift Leipzig 1962; vgl. weiter A. G. Hoffmann: s. v. »Hardt«. In: Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste. Zweite Section. H-N, Zweiter Theil. Leipzig 1828, Sp. 388–395; Ferdinand Lamey: Hermann von der Hardt in seinen Briefen und seinen Beziehungen zum Braunschweiger Hofe, zu Spener, Franke und dem Pietismus. Beilage I zu den Hss. der Großherzoglichen Badischen Hof- und Landesbibliothek Karlsruhe. Karlsruhe 1891; Dieter Merzbacher: Die »Herwiederbringung der herrlichen Schriften, so fast verloren gewesen«. Das ›concilium Constantiense‹, ein Editionsprojekt Hermann von der Hardts und des Herzogs Rudolf August von Braunschweig-Lüneburg. In: Dorothea Klein u. a. (Hrsg.): Vom Mittelalter zur Neuzeit. Festschrift für Horst Brunner. Wiesbaden 2000, S. 569–592; Ralph Häfner: Tempelritus und Textkommentar. Hermann von der Hardts ›Morgenröte über der Stad Chebron‹. Zur Eigenart des literaturkritischen Kommentars im frühen 18. Jahrhundert. In: Scientia Poetica 3 (1999), S. 47–71; ders.: »Denn wie das buch ist, muß der leser seyn« – Allegorese und Mythopoesis in den ›Hohen und hellen Sinnbildern Jonae‹ des Helmstedter Gelehrten Hermann von der Hardt. In: Herbert Jaumann (Hrsg.): Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter des Konfessionalismus. Wiesbaden 2001, S. 183–202; Martin Mulsow: Sintflut und Gedächtnis. Hermann von der Hardt und Nicolas-Antoine Boulanger. In: Ders., Jan Assmann (Hrsg.): Sintflut und Gedächtnis. Erinnern und Vergessen des Ursprungs. München 2006, S. 131–161; ders.: Religionsgeschichte in Helmstedt. In: Jens Bruning, Ulrike Gleixner (Hrsg.): Das Athen der Welfen. Die Reformuniversität Helmstedt 1576–1810. Wolfenbüttel 2010, S. 182–189; Asaph Ben-Tov: Helmstedter Hebraisten. In: ebd. S. 224–231. 3 Ich danke Regine Marth von Anton-Ulrich-Museum für ihre Recherche. Die Statuette trägt die Inventarnummer Bro 197. Vgl. Ursel Berger, Volker Krahn: Bronzen der Renaissance und des Barock im Anton-Ulrich-Museum. Braunschweig 1994, Nr. 184, S. 223 f. (mit Abbildung).

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kappe und Schellenknöpfen – und so ist sie auch im Brauschweiger Katalog der Bronzeplastiken gedeutet worden: Narrenfigur, süddeutsch, um 1600.

3. Doch ganz so einfach verhält sich die Sache nicht. Denn dadurch, dass die Figur in Lüneburg gefunden worden ist, gehört sie in einen ganz bestimmten Kontext. Von der Hardt hat die Figur denn auch anders interpretiert, nämlich als antike Figur, und zwar als Silen.4 Ein Silen ist eine Art Satyr, ein Gefährte des Dionysos oder Bacchus, eine Figur im Bedeutungshof von Wein, Trunkenheit, Animalität – aber auch von Weisheit und Klugheit.5 Von der Hardt meint nun, dass diese Silen-Figur als Gottheit von Julius Caesar höchstpersönlich in Lüneburg eingeführt worden sei. Ganz so abwegig, wie es scheint, war das in der Mitte des 18. Jahrhunderts nicht. In Lüneburg gab es die vom Kalkberg hinabgeholte sogenannte »Lunasäule«, eine zweieinhalb Meter hohe Säule aus Marmor, die wahrscheinlich wirklich von den Römern dort aufgestellt worden ist.6 Zwar nicht von Julius Caesar, aber vom »Caesar« Tiberius, als dieser im Jahre 4 nach Christi Geburt mit seinen Truppen an die Elbe vorstieß. Schon in der »Sächsischen Weltchronik« aus dem 13. Jahrhundert wird davon gesprochen, Caesar habe im Mondschein den Kalkberg in Lüneburg gefunden und ihn dem Gott des Mondes geweiht (daher Luna-burg, Lüne-burg), und er habe auf eine steinerne Säule einen goldenen Mond gehängt, den alle Leute anbeteten. Die davon abhängige »Sachsenchronik« von 1492 – verfasst von Hermann Bote – schreibt noch spezifischer: »do richte he daruppe eyne sule, darup satte he eyne belde mit hogen oren, dat hadde vor sick eynen vorgulden maen« (»er errichtete darauf eine Säule, auf der ein Bildnis saß mit hohen Ohren, das vor sich einen vergoldeten Mond hatte«). Das Seltsame an dieser Beschreibung sind die »hohen Ohren«. Ich habe noch nicht herausgefunden, woher Bote sie hat – ob durch einen Textfehler in der Transmission der Legende oder aufgrund von Objekten, die er vor Augen hatte. Der Holzschnitt in seiner Chronik

4

Zweifel an dieser Deutung äußerte schon ein Zeitungsbericht in den Braunschweigischen Anzeigen vom Jahr 1745, 46. St., S. 1113. 5 Vgl. s. v. »Silenos-Satyros« in: Der kleine Pauly. Bd. 5. München 1979, Sp. 191–193; Frank Brommer: σιληνοί und σάτυροι. In: Philologus 94 (1941), S. 222–228; Gerhield Conrad: Der Silen. Wandlungen einer Gestalt des griechischen Satyrspiels. Trier 1997. 6 Zum folgenden vgl. Klaus Alpers: Die Luna-Säule auf dem Kalkberge. Alter, Herkunft und Wirkung einer Lüneburger Tradition. In: Lüneburger Blätter 25/26 (1982), S. 87–129. Ich danke Herrn Alpers auch für weitere Auskünfte. Der Aufsatz ist jetzt wiederabgedruckt in Klaus Alpers: Lüneburg und die Antike. Studien zur Rezeption antiker Stoffe im Humanismus des 16. Jahrhunderts in Lüneburg. Lüneburg 2010, S. 99–150 und 169–176.

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jedenfalls (Abb. 3) interpretiert die »hohen Ohren« ganz im Sinne der zeitgenössischen Narrenabbildungen, etwa im kurz zuvor erschienenen »Narrenschiff« Sebastian Brants oder gängiger Gemälde. Auf jeden Fall bildete sich in Lüneburg seit dem 16. Jahrhundert ein populärer Luna-Mythos aus, der überall in der Stadt Darstellungen wie kleine Mondsicheln oder Figuren als Ziergegenstände oder Wappen hervorbrachte. Ich halte es für möglich, dass die kleine Bronzefigur – die eine Applik gewesen ist, also zur Zierde auf etwas aufzustecken war, etwa ein Möbelstück – tatsächlich zu diesen Produkten des Luna-Mythos gehört und daher nur sekundär Ähnlichkeit mit einer Narrenbüste hat, eben wegen der spezifischen Darstellung in Botes Chronik und ihrer Abbildung. Dann hätte von der Hardt gar nicht so unrecht gehabt. Er kannte nämlich Lüneburg gut, seit er sich 1688 dort drei Monate lang mit August Hermann Francke bei Pastor Sandhagen aufgehalten hatte, um Bibelexegese zu studieren. Er wusste vom Lunamythos und seinen Niederschlägen in der Stadt, und kannte wohl auch die Abbildung bei Bote. So suchte er für das Narrenhafte der Figur ein antikes Äquivalent und fand: eben den Silen.7 Hinzu kam für ihn noch die lautliche Nähe vom griechischen Ausdruck für Mond (selene) mit dem Wort silenos. Und er sah eine weitere Nähe zu lateinisch silere: Schweigen. Abb. 3: Herman Bote: Chronekken der Sassen, Mainz 1492. Aus: Klaus Alpers: Die Luna-Säule auf dem Kalkberge. Alter, Herkunft und Wirkung einer Lüneburger Tradition, in: Lüneburger Blätter 25/26 (1982) Tafel 26. 7

Vielleicht ist für diesen Interpretationsfall der Begriff des Anachronistischen passend, den Alexander Nagel und Christopher S. Wood eingeführt haben: Anachronic Renaissance. New York 2010. – Die Autoren weisen darauf hin, dass Objekte komplexe Temporalitäten mit unterschiedlichen Zeitschichten haben konnten, besonders dann, wenn sie Zeugen einer uralten Zeit sein sollten, für deren Authentizität sie bürgen. Vgl. auch Christopher S. Wood: Forgery, Replica, Fiction: Temporalities of German Renaissance Art. Chicago 2008.

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4. Schon 1730 unterhielt er sich mit dem Wolfenbüttler Bibliothekar Johann Heinrich Burckhard über die Deutung der Figur und schrieb eine Expertise für den Herzog.8 Der Niederschlag davon erschien auf einem Einblattdruck Silenus, Salganeus Boeotus (Abb. 4) und 1739 in einem kleinen Werk mit dem Titel Silenus, priscum luneburgensium numen (Silen, eine frühe Lüneburgische Gottheit).9 Im ersteren hieß es, zusammen mit einer Abbildung der Büste: »Silen, der böotische Salganeer, in Onchestus wohnend […], schweigend und beredsam. Er war kundig in verschiedenen Wissenschaften, unterrichtet in der besten Gelehrsamkeit, der Lehrer und Erzieher von Bacchus, der von ihm seine Klugheit und Weisheit erlernt hat. In den Kriegen des Bacchus mit den Indern war er dessen unzertrennlicher Begleiter, jener als Herrscher, dieser als Führer. Ihm sind zwei Künste eingeboren, das opportune Schweigen – auch eine Fertigkeit der Dissimulation – und die weise und ausgebreitete Rede, um Geschäfte glücklich abzuschließen. Silen, dessen Begleiter und Kollege beim Führen des Krieges Pan war, von den niedrigeren satyrischen Präfekten; in ihrem ganzen Heer, das aus rasenden Frauen zusammengestellt war, die nicht mit dem Eisen, sondern den Thysosstäben unter ungeschlachtem Lärmen mit den Indern kämpften und sie besiegten. Von Gaius Julius Caesar in Niedersachsen eingeführt als Gott des Schweigens und der Rede, eine Lüneburgische Gottheit.«10

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Vgl. die zwischen von der Hardt und Burckhard gewechselten Briefe: Badische Landesbibliothek Karlsruhe, Ms. 396. Erste Erwähnungen der Silen-Figur und einer zur Klärung der Frage eingerichteten Kommission finden sich dort sogar bereits aus dem Jahr 1727. Als Experte für die Bestimmung des Objektes ist wohl zunächst Johann Georg Eccard herangezoegen worden, der ehemaliger Leibniz-Mitarbeiter und Bibliothekar in Hannover; erst danach wurde von der Hardt befragt. 9 Silenus, Salganeus Boeotus […]. o.J.; Silenus, priscum luneburgensium numen, Luciani encomio, serenioribus auspiciis natalis tertii academiae regiae Georgiae Augustae [1739]. Ein Sammelband aus dem Nachlaß von der Hardts mit Drucken über den Silen befindet sich in der Bad. Landesbibliothek Karlsruhe, Ms. 323. 10 »Silenus, salganeus Boeotus, Onchesti sedens, sigēlos, eulogios kai ellogimos, silens et eloquens. Variarum scientiarum peritus, optimis literis imbutus, Bacchi praeceptor et nutritor, qui ab illo prudentiam et sagacitam didicit. In Bacchi bellis cum Indis individuus illius comes, ille imperatore hoc duce. Cui duae artes nativae, opportunum silentium, dissimulandique artificium, et eloquium sapiens ac diffusum, pro negotiis feliciter conficiendis. / SILENUS / Cujus in belli regimine socius et collega Pan, inferioribus praefectis satyris; universo illorum exercitu ex furiosis feminis composito, quae non ferro sed thyrsis inter inconditos clamores cum Indis pugnarent et vincerent. A Cajo Julio Caesare constitutus in Saxonia Inferiori silentii et eloquii deus, Lunaeburgensium numen.«

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5. Man sieht, dass von der Hardt im Silen nicht einfach den animalischen und erotischen Satyr sieht, sondern eine durch und durch positive Gestalt. In der Tat gibt es auch sehr alte Traditionen, die Silen als Begleiter und Lehrer von Dionysos ausweisen. Nun war von der Hardt, was Mythen anging, ein überzeugter Euhemerist, das heißt, er führte Mythen grundsätzlich auf historische Personen und historische Begebenheiten wie Feldzüge, Kriege und Landnahmen zurück. Erst später, so die Überzeugung, sind daraus Vergöttlichungen und fabelartige Geschichten geworden. Insofern kann man tatsächlich versuchen, Silen als historisch individuierbare Gestalt – einen Berater in Böotien – zu fassen. Abb. 4: Silenus, Salganeus Boeotus […], o.J.

6. Der Grund aber, warum dem Helmstedter Professor gerade der Silen als Deutung in den Sinn gekommen war, lag darin, dass er sich ohnehin mit einer euhemeristischen Deutung der Bukolik beschäftigte. Ob dies die Silen-Deutung begleitete oder sogar von ihr ausgelöst wurde, ist schwer zu beurteilen. Auf jeden Fall gibt es einen großen Komplex zahlreicher Schriften vor allem aus der Zeit zwischen 1738 und 1742, die von Vergil (vor allem dessen sechster Ekloge – dem »Lied des Silen«) handeln, aber auch von Theokrit und anderen Bukolikern.11 Diese Dichter haben, so 11 Ich versuche hier, eine – nicht auf Vollständigkeit bedachte – Übersicht über von der Hardts Bukolik-Komplex der Jahre 1738–1741 zu geben: Aquila Gordii serena auguria felicis natalis terti Academiae Regiae Georgiae Augustae a. 1739. d. 17 Sept. ex laetis auspiciis. Helmstedt 1739, 33 S.; Virgilii Silenus quis? In: Aeneide parva. Helmstedt 1738(39?), 2 Bl. (enth. auch: Virgilii praecursores…); Theocriti..Syrinx …Carmen bucolicum ... ingenti mythorum cumulo stipatum a nullo hactenus interprete enodatum. Helmstedt 1739, 84 S.; Syrinx Ovidii. Helmstedt 1739 (Silenus expergiscatur, Silenus expergiscetur, Silenus expergiscaris); Heistero Musam Cliffortianam, Muntingianam, et Lipsiensem in Helmstadiis Hortus (mit: Prooemium in botanica et bucolica Virgilii). Helmstedt 1739 (28 S., S. 19 ff. Silenus); Patula Fagus. Helmstedt 1740, 28

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von der Hardt, den Silen-Mythos – im Sinne des weisen Kriegsberaters – jeweils für ihre eigene Zeit reaktiviert, Vergil etwa für den Feldzug des Marcus Antonius nach Ägypten und seine Konkurrenz mit Oktavian – dem Vergil bekanntlich huldigt – in Alexandria im Jahr 41 vor Christus.

7. Doch auch die Bukolik-Beschäftigung hat noch einen lebensweltlichen Kontext im Helmstedt der Jahre, in denen sie stattfand. Damals war nämlich Lorenz Heister, der medizinische Kollege von der Hardts, dabei, einen neuen botanischen Garten, einen »Hortus medicus« für die Universität einzurichten.12 Er hatte den alten Garten Stissers verkauft und orientierte sich jetzt an den modernen Pflanzungen eines Clifford oder Munting in den Niederlanden, wo exotische Früchte, Bananen oder Granatäpfel gezogen wurden.13 Von der Hardt identifiziert nun Heister und seine Kollegen mit den Hirten Arkadiens, nennt sie Tityrus, Alexis und Pan, und widmet ihnen einige seiner Werke, mit Vorworten über Vergils Eclogae und Georgica.

S.; Publii Virgilii Maronis Dulcia arua Quintilius Varus. Helmstedt 1740, 60 S.; Publii Virgilii Maronis Formosa Amaryllis. Helmstedt 1740, 52 S.; Publii Virgilii Maronis Deus Pan. Helmstedt 1740, 72 S.; Publii Virgilii Maronis […] Alexis. Helmstedt 1740, 59 S.; Daphnis et Damoetas. Helmstedt 1740, 48 S.; Silenus, Alexandria, bellum Alexandrinum, ab Octaviano Augusto […] subiugata. Helmstedt 1740; Silenus Graecorum apud Indos victor iosus belli dux, prudentia et eloquio perinclytus, sagax et prosper. Helmstedt 1741; Silenus expergefactus. Helmstedt 1741, 14 S.; Dic mihi, Damoeta. Helmstedt 1741. – Zu Vergil vgl. Zeph Stewart: The Song of Silenus. In: Harvard Studies in Classical Philology 64 (1959), S. 179–205; Ernst August Schmidt: Poetische Reflexion. Vergils Bukolik. München 1972; ders.: Bukolische Leidenschaft oder Über antike Hirtenpoesie. Frankfurt a M. 1987. 12 Zu Lorenz Heister vgl. ADB 11, Leipzig 1880, S. 672–676. Zum Botanischen Garten in Helmstedt vgl. Johann Andreas Stisser: Botanica curiosa, oder nützliche Anmerckungen, wie einige frembde Kräuter und Blumen in seinem anno 1692 zu Helmstedt angelegten medicinischen Garten bißhero cultiviret und fortgebracht worden. Helmstedt [ca. 1708]; Johann Sigismund Leinker: Horti medici helmstadiensis praestantiam ex plantis rarioribus ibidem florentibus exhibet. Helmstedt 1746. Für eine ähnliche Verbindung von Zuchtgärten und bukolischer intellektueller Kultur vgl. Nürnbergische Hesperiden und Orangeriekultur in Franken. Petersberg 2011. 13 Vgl. Carl von Linné: Hortus Cliffordianus. Amsterdam 1738; Abraham Munting: Phytographia Curiosa, exhibens Arborum, Fruticum, Herbarum & Florum Icones. Amsterdam und Leiden 1702. Zum globalen Kontext frühneuzeitlicher botanischer Gärten: Harold J. Cook: Matters of Exchange. Commerce, Medicine and Science in the Dutch Golden Age. New Haven 2007, S. 304–338.

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8. Überhaupt war Hardts Euhemerismus ganz und gar eingebettet in Panegyrik. Die Silen-Schriften sind teilweise Elemente derjenigen Schriften, die von der Hardt nach Göttingen schickte, um die dort im Aufbau befindliche Universität zu feiern.14 Er erinnert an die Passage bei Lukian, wo geschildert wird, es gebe in Indien in einem Hain drei Quellen, »wovon die erste dem Satyr, die andere dem Pan, die dritte dem Silenus heilig ist.«15 Die drei Quellen entsprechen den drei Lebensaltern, und die Menschen, die aus der Quelle des Silen trinken, werden geschwätzig. »Aber«, so Lukian, »sowie die Trunkenheit vorüber ist, werden sie wieder still und sind die Menschen wieder, die sie vorher waren.« So versteht sich, warum Hardt vom Silen als dem Gott des Schweigens und der Beredsamkeit sprechen kann. Er belässt es aber nicht damit, sondern deutet nun – in panegyrischer allegorischer Tradition die sieben Schalen Wasser aus dem Brunnen als die sieben freien Künste – wie er auch sonst in seiner Göttingen-Panegyrik von sieben Säulen, sieben Kränzen, sieben Basen der Weisheit spricht. Eine »Brunnenkur« des Silen verordnet er der jungen Universität, vergleicht den Brunnen mit der biblischen Quelle Siloah, wieder geleitet durch die scheinbare Etymologie von Sil* (Silen-Siloah).

9. Diesen Brückenschlag zwischen römischer Poesie und der hebräischen Tradition versucht von der Hardt auch in seiner kleinen Schrift Sileni gemini, fratres augusti, die der Vergil-Deutung in Bezug auf die Geschehnisse in Alexandria eine Hiob-Deutung an die Seite stellt, die an seinen Hiob-Kommentar anknüpft und Hiob im Kontext Samarias versteht, das vom assyrischen König Salmanassar unterjocht wurde.16 Doch das kann an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. Ich möchte stattdessen darauf hinweisen, dass von der Hardt für die »Brunnenkur« eine Reihe von Inschriften erfindet – wie man es im Barock tat –, in denen von Johannes Hus und Hieronymus von Prag die Rede ist.17 14

Zu diesen Schriften allg. Möller: von der Hardt als Alttestamentler, S. 264 ff. Von der Hardt: Aquila Gordii; Lukian: Bacchus. In ders.: Werke. Bd.2. übers. von Chr. M. Wieland. Berlin, Weimar 1981, S. 210–215, hier S. 213. 16 Sileni gemini, fratres augusti (vgl. Möller: Hardt als Alttestamentler, Nr. 576 in der Bibliographie); von der Hardt: Tomus I in Jobum. Helmstedt 1728. 17 Von der Hardt: Aquila Gordi, S. 19. Vgl. auch Von der Hardt: Silenus et Hussus ac Hieronymus Pragensis armati Paradisi custodes. In paradise necis et vitae arbores, silentii et eloquentii remedia. In: Prospervm Natalem Tertivm Academiæ Regiæ Georgiæ Avgvstæ, A. MDCCXXXIX. D. XVII. Sept. 15

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10. Das nun verweist auf eine weitere Bedeutungsschicht im Denken von der Hardts. Hus, Hieronymus und Lorenzo Valla waren für ihn Heroen der (Vor-) Reformation, Männer, ohne deren Courage und Freiheitsdrang die Neuzeit und der Ausgang aus der dunklen Scholastik nicht möglich gewesen wäre. Da Hardt die Akten des Konstanzer Konzils herausgegeben hatte und auch die des Basler Konzils zum Druck vorbereitete, waren ihm diese Schicksale ständig präsent – und so vermischt er sie (fast in einer Art Privatmythologie) mit seiner Figur des Silen.18 (Abb. 5)

Abb. 5: Bad. LB Karlsruhe, Ms. 396, fol. 91v/92r.

18 Vgl. Hardts Briefe an Burckhard, S. 59 ff., etwa den vom 11. Dezember 1730. Die SinnbildGeschichte Vallas ist in den Briefen an Burckhard mit einer Fledermaus-Phantasie und den SilenErörterungen verquickt – eines wirft Licht auf das andere. Valla ist der Patron der Freiheit, die konfiszierten Bücher wollen ans Licht, und der Silen will gedeutet und erworben sein. – Von der Hardt: Magnum oecumenicum Constantiense concilium. 6 Bände. Frankfurt 1697–1700; vgl. auch die Historia literaria reformationis, Leibniz-Bibliothek Hannover Ms. I,228. Zum Forschungsstand: Erika Rummel: Voices of Reform from Hus to Erasmus. In: Thomas A. Brady Jr., Heiko A. Oberman, James D. Tracy (Hrsg.): Handbook of European History, 1400–1600. Bd. 2. Leiden 1995, S. 61–92 (mit ausführlicher Bibliographie).

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11. Warum aber soll nun diese in spätbarocke Panegyrik und Concettismus eingebettete kleine »Silen«-Figur aus Bronze, die von der Hardt unbedingt besitzen wollte und für sich täglich sichtbar an seinem Arbeitsort, der Helmstedter Universitätsbibliothek aufgestellt hat, eine »Sache der Aufklärung« sein? Der Bezug auf Hus, Hienoymus von Prag und Valla deutet meine Antwort schon an: Weil sie für ihn ein Denkbild war, ganz im Benjaminschen Sinne, eine emblematische Figur. Sie verkörperte seine Lebensdevise: das Schweigen.19 Dieses Schweigen ist nicht irgendein Schweigen, sondern das vorsichtige, »politische« Schweigen eines Menschen, der Arkana verstanden hat, nämlich wesentliche dem einfachen Volk verborgene Tatsachen, die er sich aber hüten muss mitzuteilen, da er sonst denunziert und verfolgt würde, der aber dennoch, auf seine Weise, couragiert für die Wahrheit eintritt. In den 1710er und 20er Jahren hatte von der Hardt schon einmal eine emblematische Figur des Schweigens sich zu eigen gemacht: die Figur des ägyptischen Gottes Harpokrates, der den Finger auf den Mund hält, scheinbar (wie die zeitgenössische Missdeutung besagte) als Zeichen der Verschwiegenheit.20 Damals Harpokrates, jetzt Silen: beides sind Schweiger. Das heimliche Geschäft desjenigen aber, der schweigt, ist Aufklärung. Aufklärung darüber, wie die Geschichte wirklich verlaufen ist, wie die Antike zu entschlüsseln ist, wenn man nur ihren geheimen Code kennt.

12. Das alles hat seine sehr konkreten Gründe und Auswirkungen gehabt. Von der Hardt stand seit 1713 unter Zensur, seine wichtigsten Bücher hat man konfisziert, die Bibelexegese hat man ihm verboten, und 1727 hat man ihn von seinem Lehrstuhl entfernt.21 Zu gefährlich schien dem Fürsten und seinen Beratern die euhemeristische »Entmythologisierung« der Bibel, die Hardt betrieb, denn er wandte den Euhemerismus vor allem auf die Bibel an. Wenn Hardt publizieren wollte, konnte er es nur noch indirekt tun, verpackt in rechtlich erlaubte Textformen wie Widerlegungen 19

Als Grabspruch wählte von der Hardt: »Hic jacet homo ex terra et terra ex homine pro justitia et silentio ex fide et caritate ut resurgat homo ex terra ad vitam aeternam pro Dei potentia et gratia ex verbo et promissione.« Vgl. Möller: von der Hardt als Alttestamentler, S. 99. Zum Schweigen vgl. Claudia Benthien: Barockes Schweigen. Rhetorik und Performativität des Sprachlosen im 17. Jahrhundert. Paderborn 2006. 20 Vgl. Martin Mulsow: Harpocratism. Gestures of Retreat in early Modern Germany. In: Common Knowledge 16 (2010), 110–127. 21 Vgl. Möller: von der Hardt als Alttestamentler, S. 87 ff.

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oder Panegyriken. Doch das war ihm nicht genug. Er sann auf einen Weg, wie er sich mitteilen und seine private Korrespondenz vor der Zerstörung sichern konnte. Und er fand einen: die Geheimschrift. Seit 1738, seit dem Beginn seiner Silen- und Bukolik-Schriften, sind die meisten seiner Texte wie der sprichwörtliche Silen des Alkibiades: innen anders als außen.22 Man kann sie auf doppelte Weise lesen. An der Oberfläche enthalten sie lateinische Sätze, die durchaus sinnvoll sind und zum Thema reden, wenn auch etwas lakonisch und iterativ. Das hat seinen Grund. Denn diese Sätze sind nur das Material, aus dem sich die eigentliche Botschaft speist. In Wirklichkeit muss man die Anfangsbuchstaben der Worte rückwärts lesen, dann ergibt sich ein eigener Sinn. Es enthüllen sich Sätze, oft ebenfalls in Latein, manchmal auch in Deutsch oder anderen Sprachen.23

13. Um ein Beispiel zu geben: In der Schrift Silenus, Alexandria von 1740, die die euhemeristische Lesart von Ekloge VI enthält, gibt es viele Seiten lang Passagen, die jeweils von einem Motto oder einer Überschrift ausgehen. Entschlüsselt man diese Passagen, kommt man auf Botschaften wie diese: »Es ist die Unkenntnis der Mythen, die die gesamte Lehre der plattnäsigen Autoren – von wem auch immer – in den alten Dichtern, Propheten und dunklen Aposteln unterdrückt, auf dass man nichts versteht.«24 Plattnäsig, »simus«, ist der Ausdruck, den die Lateiner für die Physiognomie von Ziegen, aber auch von Satyrn verwendeten. Hardt meint also eine spezifisch »silenische« oder »satyrische« Lehre aufgedeckt zu haben, eine »sapientia satyrica veterum«, von der schon der Humanist Marcus Zuerius Boxhorn gesprochen hat.25 Man findet aber auch solche rätselhaften Botschaften: »Die Rechte schweigen bis sie erwachen, von der Vernunft geführt. Die Neiße hat ihre Brust noch nicht geöffnet, Brieg hatte gefroren, bis sie sich in der Frühlingszeit erwärmte mit einer Luft, die den Preußen ergeben war.«26 Was steckt hinter diesen Worten? Nun, 1740 tobte 22 Zum Silen des Alkibiades (Platon: Symposion 215a) vgl. auch Ernst Benz: Christus und die Silene des Alkibiades. Wandlungen eines platonischen Bildes im Zeitalter der Reformation. Berlin 1940. 23 Vgl. Möller: von der Hardt als Alttestamentler, S. 95 ff. 24 Silenus, Alexandria, S. 5: »Est ignorantia mithorum quae doctrinam universam vetustis simorum quorumcunque autorum in poetis prophetis et apostolis tenebris oppressit ut intelligatur nihil.« Wiedergegeben wird hier nicht der Drucktext, sondern der bereits aus den rückwärts gelesenen Anfangsbuchstaben zusammengezogene Text. 25 Vgl. Martin Mulsow: Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissen, Libertinage und Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Stuttgart 2007, S. 90. 26 Silenus expergefactus: Der zusammengezogene Text: »Iura silent donec evigilent ratione duce / nissa nondum aperuit sinum / friguerat briga / donec incalesceret verno aere borussis devote.«

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in Schlesien der Erste Schlesische Krieg um das österreichische Erbe.27 Die Preußen standen im Januar vor Brieg und Neisse, doch gab es in den folgenden Wochen Österreichische Gegenwehr, so dass erst im Frühjahr, im Mai Brieg eingenommen wurde, während die Festung Neiße »ihre Brust noch nicht geöffnet hat«, wie von der Hardt sagt, also noch von den Österreichern gehalten wurde. Was tut von der Hardt mit solchen Botschaften? Er gibt verschlüsselte Kriegsberichte – notabene mit einem in Braunschweig-Wolfenbüttel nicht unbedingt gern gesehenen pro-preußischen Akzent –, ganz in der Art, wie er es von Vergil oder den biblischen Büchern behauptete. So wie Vergil heimlich von Feldzügen Oktavians, so wie das Buch Jona heimlich von den Feldzügen Josias erzähle, so erzählt hier von der Hardt heimlich von den preußischen Eroberungen.

14. War das nun Spielerei eines Interpreten, der wie seine Helden den Code auch einmal ausprobieren möchte? Oder ernsthafte Geheimbotschaft eines in die Enge gedrängten und von der Zensur beäugten Professors, der Anhänger des jungen Friedrich II. war? Das ist äußerst schwer zu beurteilen, wie auch der ganze ungeheure Aufwand, den von der Hardt mit seinen verschlüsselten Schriften trieb. Hunderte von Seiten mussten gedruckt werden, um wenige Seiten Realtext zu ergeben, und das Geschäft des Schreibens auf zwei Ebenen zugleich muss Stunden, Tage, Wochen gekostet haben. Ist Hardts Fähigkeit, mehrschichtig zu denken und überall mögliche Verbindungen zu sehen, im Alter in einen Kombinationszwang umgeschlagen, der mit einem Verfolgungswahn gekoppelt war?28 Fast scheint es so, denn die Botschaften und Briefe, die bei einer mühsamen Dekodierung zu Tage treten, sind oft nichts weiter als alltägliche Korrespondenz.

27

Colmar Grünhagen: Geschichte des ersten schlesischen Krieges. 2 Bände. Gotha 1881; Die Kriege Friedrichs des Grossen: Der Erste Schlesische Krieg. 1740–1742. 1. Bd. Die Besetzung Schlesiens und die Schlacht bei Mollwitz. 2.–3. Bd. (in einem Band) Von Mollwitz bis zum Beginn des Mährischen Feldzugs. Der Feldzug in Mähren und der Feldzug in Böhmen und Oberschlesien. 1893; Silvia Mazura: Die preußische und österreichische Kriegspropaganda im Ersten und Zweiten Schlesischen Krieg. Berlin 2006. 28 Die Lust an der Polysemie zeigt sich bereits in von der Hardts Assoziationskette Silen – Selene – silere.

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15. Immerhin ist diese Korrespondenz nicht uninteressant. Im Falle von Silenus, Alexandria, ist sie mit dem preußischen Gesandten in Halberstadt, einem Herrn von Ribbeck, geführt worden, und hört sich so an: »Zu Unrecht habe ich Dich, verehrt. und gel. Tityrus, bis jetzt mit Schweigen behandelt. Deine Hirtenflöten würde ich für ein Zeichen unterbrochener Freundschaft gehalten haben. Deine Briefe von kürzlich lehren etwas anderes, und das Buch, das zusammen mit ihnen geschickt wurde, ließ sichtlich keinen Zweifel daran, daß die Freundschaft bis jetzt beständig und unverletzt ist.«29 Kein Zweifel: hier bilden einige ältere Männer einen bukolischen Zirkel, pflegen, ganz wie im Barock, aber auch bei der jungen Generation der Anakreontiker wieder, ein spielerisches Rollenspiel als Theokritische und Vergilsche Hirten.30 Schwer zu sagen, wo hier die Spielerei aufhört und die politische Geheimbotschaft anfängt. Zumindest hat von der Hardt es als Geheimkorrespondenz empfunden.

16. Ich komme zum Ende. Von der Hardt verkörpert den seltenen und paradoxen, vielleicht einzigartigen Fall eines spätbarocken Radikalaufklärers. Um ihn zu verstehen, muss man das »politische« Denken eines Lohenstein aufrufen und den kombinatorischen Enthusiasmus eines Kuhlmann, ebenso aber den Sinn eines Vico für die sinnbildliche Denkart der antiken Völker und den Aufklärungsgestus französischer Euhemeristen wie Banier und Freret.31 Man muss Spinozas Bibelkritik ebenso parat 29

Silenus, Alexandria, S. 7 f. Wiederum nur der zusammengezogene Text: »Iniuste tecum rev. ac doc. titire hactenus egi cum silentium. fistulae tuae pro signo interrupta emictiae habuerim. litterae tuae nuperrimae aliud docuere et liber una cum iis transmissus plane nihil dubii reliquit quin constans illa ac illaesa adhuc sit.« Hardt gibt auch das Datum dieses Briefes an: 8.10.1740. Es handelt sich offenbar um Christoph Friedrich von Ribbeck (1689–1774), der 1723 Domherr in Brandenburg geworden war und danach in Halberstadt Präsident der Kriegs- und Domänenkammer wurde. 1744 kehrte er auf die havelländischen Besitztümer seiner Familie zurück. Vgl. Almut Andreae, Udo Geiseler (Hrsg.): Die Herrenhäuser des Havellandes. Eine Dokumentation ihrer Geschichte bis in die Gegenwart. Berlin 2001, S. 108. Halberstadt gehörte seit 1648 zum Kurfürstentum Brandenburg und war insofern 1740 preußisch. 30 Zur Anakreontik und Bukolik des Barock vgl. Klaus Garber (Hrsg.): Europäische Bukolik und Georgik. Darmstadt 1976; ders.: Arkadien. Ein Wunschbild der europäischen Literaten. München 2009; Thomas G. Rosenmeyer: The Green Cabinet: Theocritus and the European pastoral lyric. Berkeley 1973. 31 Zu Lohenstein vgl. Elida Maria Szarota: Lohensteins Arminius als Zeitroman: Sichtweisen des Spätbarock. Bern 1970; zu Kuhlmann vgl. Walter Dietze: Quirinus Kuhlmann. Ketzer und Poet. Berlin 1963. Zu Vico, Banier und Freret vgl. Frank Manuel: The Eighteenth Century Con-

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haben wie die viel spätere Göttinger Mythenforschung eines Heyne, Eichhorn und Gabler.32 Der Silen in der Helmstedter Universitätsbibliothek verkörpert in seiner narrenähnlichen Gestalt alle diese paradoxen Verbindungen, er lächelt weise und verschwiegen – ein Denkbild eben – zu dem großen, ja universalhistorischen Versteckspiel, das sein Besitzer ersonnen hat.

fronts the Gods. Cambridge, Mass. 1959; Lucas Marco Gisi: Einbildungskraft und Mythologie. Die Verschränkung von Anthropologie und Geschichte im 18. Jahrhundert. Berlin 2007. 32 Zur Göttinger Mythenforschung vgl. Otto Merk: Das Problem des Mythos zwischen Neologie und »religionsgeschichtlicher Schule« in der neutestamentlichen Wissenschaft. In: Hans-Heinrich Schmid (Hrsg.): Mythos und Rationalität. Gütersloh 1988, S. 172–194.

5. sektion: Schöne Sachen – Deutung und Bedeutung der Künste und ihrer Geschichte

Joachim Jacob (Gießen) Schöne Sachen – Deutung und Bedeutung der Künste und ihrer Geschichte: Einleitung

Die europäische Aufklärung entdeckt auch das Schöne auf eine neue Weise. Sie ist auf der einen Seite dadurch charakterisiert, das durch Jahrhunderte hindurch, noch etwa bei Dominique Bouhours (La Manière de bien penser dans les Ouvrages d’esprit,2 1688), für ›unerklärbar‹ gehaltene Schöne doch in eine überzeugende Systematik der Dinge und der Erkenntnis einzubinden. Hierfür stehen die französischen Enzyklopädisten Denis Diderot und Jean Le Rond d’Alembert ebenso wie die deutsche Leibniz-Wolffische Schule bis zu Alexander Gottlieb Baumgartens epochalem Entwurf einer eigenen, den Bereich des Schönen systematisch erschließenden ›Ästhetik‹ (Aesthetica, 1750/1758). Auf der anderen Seite gewinnt auch hier die Zuwendung zu den Sachen, zur konkreten Materialität des Schönen und seiner Gestaltwerdung in den Artefakten der Kunst eine neue, ebenfalls systematisch relevante Bedeutung. Jean Baptiste Dubos’ Réflexions critiques sur la Poësie et sur la Peinture (1719), Shaftesburys A Notion of the Historical Draught or Tablature of the judgement of Hercules (1713) oder etwas später auch Lessings literaturkritische Schriften, besonders Bedeutung der Laokoon (1766), sind Teil einer materialästhetisch sensibilisierten Kunstkritik, der intensiv an der Aufhellung der unterschiedlichen, in ihrem spezifischen Material begründeten Darstellungs- und Rezeptionsbedingungen der Künste gelegen ist. Deutungen und Bedeutung der Künste, so können diese aufklärerischen Bemühungen zusammengefasst werden, sind für Kunstschaffende wie für Kunstwahrnehmende nicht von ihrer sächlichen Faktur zu trennen. Bedeutung und Material sind aufeinander verwiesen. Es liegt nahe, dass mit diesem verstärkten Blick auf die materialen Grundlagen der einzelnen Künste sowohl ihre spezifischen Darstellungsleistungen als auch ihre Grenzen, die Unterschiede der verschiedenen Kunstgattungen und ihre Wechselbeziehungen in den Blick geraten. Die Beiträge der folgenden Sektion thematisieren an unterschiedlichen Gegenständen aus der bildenden Kunst, Literatur und Architektur alle diese genannten Aspekte. Wie sich Text und Bild im Dienst einer historisch-wissenschaftlichen Erkenntnis der Kunst durchdringen – dass zur Sache der Aufklärung in besonderem Maße auch die Verwissenschaftlichung ihrer Gegenstände gehört, muss nicht eigens betont werden –, zeigt der Beitrag von Gabriella Catalano Vor Augen führen. Text-Bild-Konstellation in Winckelmanns »Monumenti antichi inediti«. Das letzte 1767 zu Lebzeiten veröffentlichte Werk Johann Joachim Winckelmann, von Zeitgenossen und Nachwelt meist eher geringgeschätzt, stellt Catalano als eine neue Stufe in der Darstellungs-

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5. Sektion · Joachim Jacob

praxis des Begründers der modernen Kunstgeschichte vor. Es ist ein eigenwilliges Experiment mit der angemessenen Repräsentationsform von Bildkunstwerken, die durch besondere Text und Bild separierende, teils isolierende, Ordnungsstrategien in ein neues Licht gesetzt werden, in der auch die Materialität der Dinge auf neue Weise erscheint. Mit Daniel Nikolaus Chodowieckis Cabinet d’un peintre (1771), dessen Deutung im Mittelpunkt von Martin Kirves’ Studie Der Künstler als zentrale Randfigur. Benjamin Wests »The Family of the Artist« und Daniel Nikolaus Chodowieckis »Cabinet d’un peintre« – Zwei programmatische ›Familienstücke‹ steht, rückt eine andere, für die Kunst der Aufklärung charakteristische Wendung zu den ›Sachen‹ in den Vordergrund. In der Gegenüberstellung mit Benjamin Wests motivverwandtem, jedoch religiös konnotierten Stück The Family of the Artist (1772) wird bei Chodowiecki eine Hinwendung zur natürlichen Realität des Lebens als Devise des aufgeklärten Künstlers anschaulich, die sein Bild programmatisch reflektiert. Der verlangte Realitätscharakter der Kunst in der präzisen Beobachtung der Empirie wird wichtiger als ein zeitloses Schönheitsideal, das für Winckelmann noch fraglose Geltung besaß. Zeigen die ersten beiden Beiträge der Sektion, wie Materialität und Bedeutung der ästhetischen Zeichen eine glückliche Verbindung eingehen: in Winckelmanns Monumenti antichi inediti in der Form einer wechselseitigen Erhellung von Bild und philologischem Kommentar, in Wests und Chodowieckis Stichen in Form einer, wenn auch auf Unterschiedliches zielenden, bildgewordenen kunsttheoretischen bzw. metaphysischen Reflexion, werden in Jürgen Brokoffs Beitrag »Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen« – Materialität und Sinnlichkeit deutscher Verssprache in der Epoche der Aufklärung auch gegenläufige Dynamiken erkennbar. Brokoff zeigt am Beispiel von Friedrich Gottlieb Klopstocks Ode Die Zukunft (1764) und Karl Philipp Moritz’ Versuch einer deutschen Prosodie (1786), wie die Forderung nach sinnlicher Wahrnehmbarkeit der deutschen Verssprache dem konventionellen Charakter des reinen Bedeutungstransfers eines in seiner materialen Klanglichkeit neutralisierten sprachlichen Zeichens in gewisser Weise zuwiderläuft. Sie erweitert sich auch schon für die Zeitgenossen angesichts einer solchen Verskunst zur Frage, inwieweit von einer solchen Kunst zu Recht überhaupt noch Aufklärung erwartet werden darf: »muß uns denn alles etwas zu denken geben?« (Lessing, 51. Literaturbrief). Aus nahe liegenden Gründen galt in den systematischen Ordnungsversuchen der Aufklärung wie auch noch späterer Zeiten die Baukunst als besonders ›materiell‹, wie zugleich ihre Zugehörigkeit zu den schönen ›freien‹ Künsten aufgrund ihres festen Sitzes im Leben strittig war. Kathrin Holzapfels Beitrag Die Baukunst als ›schöne Sache‹ der Aufklärung? Ein Blick auf Georg Forsters Architekturbeschreibungen zeichnet vor diesem Hintergrund die Ästhetisierung der Architekturwahrnehmung in Georg Forsters Ansichten vom Niederrhein (1790) nach und führt damit in ein Stadium spätaufklärerischer und antiklassizistischer Kunstkritik, in der die Erfahrung der

Einleitung

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Schönheit zur Sache des Individuums wird. Dass Forsters nachdrückliche Aufwertung der Baukunst zu einer schönen Kunst, in der die Schönheit dem Gebrauchswert der Sache nicht widerstreitet, sondern mit ihm harmoniert, auch bereits als Kritik an einer den Sinnen feindlich gewordenen, rationalisierenden Tendenz der Aufklärung lesbar ist, verdeutlicht die Weite der Amplitude, in der die schönen Sachen in der langen Epoche der Aufklärung schwingen.

Gabriella Catalano (Rom) Vor Augen führen. Text-Bild-Konstellation in Winckelmanns Monumenti antichi inediti

Das letzte Werk Winckelmanns, Monumenti antichi inediti, das der deutsche Kunsthistoriker im Selbstverlag veröffentlichte und in seinen Briefen als sein »großes italienische Werk« bezeichnet, gilt zu Recht als ein bestrittenes Werk.1 Von den Zeitgenossen meistens heftig kritisiert, wurde das Werk lange Zeit für fehlerhaft und nicht besonders originell gehalten. Sogar die Sprache wurde nach einer ständig zitierten Bemerkung von Giorgio Zampa, der Winckelmanns italienische Briefe kollationiert, als »antiquata e artificiale« (altmodisch und künstlich) abgestempelt. Im Nachhinein hat man vermutet, dass der seit 1763 ernannte Prefetto delle Antichità romane durch die reichlich illustrierten prächtigen Bände lediglich seine Stellung im römischen antiquarischen Milieu sichern und seinem Mäzen in Rom, dem Kardinal Alessandro Albani, und seiner Villa in der Via Salaria, Verehrung zeigen wollte. Es steht aber außer Zweifel, dass trotz dieser pragmatischen Motivationen die Monumenti mit ihrem ausgiebigen Bildapparat (über 200 Abbildungen) ein Unikum im Winckelmanns Oeuvre darstellen: Hier experimentiert der deutsche Archäologe mit einem neuen System des Text-Bild-Gefüges. Durch einen kurzen Umweg kann man sich dieser Text-Bild-Konstellation annähern. Einen ersten Einstieg bietet die italienische Übersetzung der Geschichte der Kunst und Altertums, die auf der Basis der Wiener Ausgabe 1783 vom Altertumsforscher Carlo Fea geliefert wurde, eine Ausgabe, die in der Winckelmann-Rezeption besonders berühmt geworden ist, weil Goethe sie in Rom kaufte und las.2 Wie bereits im Titel angekündigt, hat der italienische Herausgeber Winckelmanns Text korrigiert und seine Lehre weiter ausgebaut, »commentata e aumentata« lautet der Untertitel. Zu dieser Revision gehört auch die Ergänzung durch Reproduktionen, welche 1 Agnes Allroggen-Bedel: Die Monumenti inediti: Winckelmanns »großes italienisches Werk«. In: Gino Bandelli, Paola Bonifacio, Heinz Berhold (Hrsg.): Altertumskunde im 18. Jahrhundert. Wechselwirkungen zwischen Italien und Deutschland. Stendal 2000, S. 89–105; Sabine Naumer: Monumenti Antichi Inediti. Kassel 2000. URL: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok// volltexte/2008/521/ (28.02.2011). Über Werkgenese und Editionsgeschichte informiert Max Kunze, Adolf H. Borbein (Hrsg.): Johann Joachim Winckelmann, Schriften und Nachlass. Bd. 6.1. Bearb. v. Max Kunze und Axel Rügler. Mainz 2011. 2 Ernst Osterkamp: Goethe als Leser Johann Joachim Winckelmanns. In: Victoria von Flemming (Hrsg.): Ars naturam adiuvans. Festschrift f. Matthias Winner. Mainz 1996, S. 572–582. Zu Feas Übersetzung vgl. Stefano Ferrari: I traduttori italiani di Winckelmann. In: Giulia Cantarutti, Stefano Ferrari Paola Maria Filippi (Hrsg.): Traduzioni e traduttori del Neoclassicismo. Milano 2010, S. 167–174.

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bei der Visualisierung des geschriebenen Textes mitwirken sollen. Man stößt auf ein Bildrepertoire (insgesamt 58 Bilder, z. T. aus der ersten mailändischen Ausgabe vom Jahre 1779 wiederaufgenommen, z. T. neu ausgeführt), das den historischen und stilistischen Diskurs der Kunstgeschichte veranschaulicht. Offenbar war der Mangel an einer optischen Darstellung der in der Geschichte behandelten Werke als eine Lücke empfunden worden, die zu füllen war. Bei näherem Hinsehen gehört Feas Ausgabe mit ihren Illustrationen zu einer Tradition der Aufnahme von Winckelmanns Texten, welche die Visualisierung als ein notwendiges Hilfsmittel versteht – die frühere mailändische Ausgabe war ein Vorzeichen davon. Ein weiteres Beispiel aus der späteren italienischen Rezeption bestätigt eine solche Aufnahmetradition, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts aufrecht erhält. Es handelt sich um die erste Ausgabe der zwölfbändigen gesammelten Werke in italienischer Sprache, die 1834 in Prato erscheint: In einem Atlas-Band größeren Formats erscheinen außer den Stichen, die in den Monumenti veröffentlicht wurden, andere Kupferstichtafeln, welche die Rezeption der Texte durch die in Winckelmanns Texten nicht anwesenden Bilder bezeugen. Bedauert noch Ernst Gombrich, dass die Geschichte der Kunst nicht illustriert wurde3, lässt sich darin die Spur einer Meinung erblicken, die sich von früh an durchsetzt. Die Aufmerksamkeit auf den bildlichen Apparat (oft greift heute noch die Literatur über Winckelmann auf Bilder aus den Monumenti zurück) oder dessen Vernachlässigung (man denke etwa an die Weimarer Ausgabe von Winckelmanns Schriften, herausgegeben von Meyer, Fernow und Schulze, die von den Monumenti inediti nur den nicht illustrierten Trattato preliminare veröffentlichte) weisen zwei prinzipiell entgegengesetzte Auslegungen auf, die ebenso in Winckelmanns Werk ihre Rechtfertigung finden: einerseits vermisst man Bilder, andererseits zeigen einige Werke wie die Geschichte der Kunst des Altherthums eine eigene Bildstrategie.4 Der experimentellen Gesinnung der Monumenti entspricht die Heterogenität in der Darstellungsform. Selbst die Werktypologie – Kunst- bzw. Museumskatalog oder ikonographisches Repertoire – ist auf keinen gemeinsamen Nenner zu bringen. Wie in einem Musee imaginaire werden die Kunstobjekte nach mythologischen Figurationen geordnet, während die Objektgattung nur eine sekundäre Rolle spielt. Eine andere Funktion ist methodischer Natur und hat mit der Wirkung der idealen Kunst Griechenlands zu tun.5 Die antiken Monumente, die Winckelmann in Rom sehen konnte, werden anhand der griechischen Mythologie, d. h. der griechischen Dichtung ausgelegt und in ihrem ästhetischen Sinn bewertet. Schon im Titel Monumenti antichi inediti steckt seine Perspektive der Interpretation. An der Stelle eines 3

Ernst Gombrich: Kunst und Fortschritt. Köln 2002, S. 36. Ernst Osterkamp: Zierde und Beweis. Über die Illustrationsprinzipien von J. J. Winckelmanns »Geschichte der Kunst des Altertums«. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 89 (1989), S. 301–325. 5 Vgl. Nikolaus Himmelmann: Winckelmanns Hermeneutik. Mainz 1971. 4

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rein argumentativen Titels, den der Kunsthistoriker ursprünglich gewählt hatte, tritt in der knapperen Überschrift Monumenti antichi inediti die Kenntnis der Antike als Denkvorgang in den Vordergrund. Wenn Winckelmann von Monumenti inediti (d. h. nicht publiziert) spricht, meint er nicht damit, dass die von ihm beschriebenen Denkmäler einfach dem Publikum unbekannt sind. Der Grad des Novums ist vielmehr an der Werkinterpretation zu messen. Werden wohlbekannte Skulpturen ikonographisch neu aufgefasst und damit in das richtige Licht gesetzt, machen die Werke ihre neue Identität sichtbar. Die Bedeutung des Worts »inedito« zeigt sich dann als facettenreich, was dem ersten deutschen Übersetzer Friedrich Leopold Brunn (Berlin 1791–1792) manche Schwierigkeiten bereiten sollte: Das Wort wird so gut wie aufgehoben, indem im Titel auf alte Denkmäler hingewiesen wird. Aus der Textstruktur resultiert, dass Winckelmanns Projekt verschiedene Blickpunkte unter einen Hut bringen wollte. Das 1767 in zwei Bänden veröffentliche Werk besteht aus einem Textband und einem Bildband. Die innere Gliederung weist eine deutliche Zäsur zwischen dem theoretischen Teil, den Trattato preliminare, der in synthetischer Form die Ergebnisse der Geschichte der Kunst des Alterthums wiedergibt, und dem eigentlichen Werk, das dazu neigt, die mythische Welt der Antike zu klassifizieren. Der theoretische Teil, der keine Bilder zeigt, nimmt die Rolle einer kritischen Einführung zum ikonographischen Teil an, der den Kern des Werks ausmacht und dessen Titel rechtfertigt. Winckelmanns Konzentration auf die Klassifizierung der einzelnen Objekte (das umfangreiche, über 80 Seiten sich ausstreckende Index ist ein explizites Zeichen davon) kommt deutlich hervor. Im Vorwort erörtert Winckelmann seine Methode, indem er von den bekannten Arbeiten von Bellori oder Montfaucon Distanz nimmt. Das Ziel dieser früheren Werke, die antike Kunst zu sammeln und zu zeigen, erweist sich nun als unzulänglich. Anders als bei Montfaucon oder bei Caylus, bei denen eine einzige Druckplatte nach einem sich wiederholenden Layout-Muster mehrere Gegenstände erfasst (Montfaucon zeigt übrigens auf dem selben Blatt antike und moderne Kunstwerke), charakterisiert die Vereinzelung des Stichs auf dem beidseitig gedruckten Folioblatt Winckelmanns Werkausstellung, während die ikonographische Argumentation mehrere Seiten in Anspruch nimmt. Der punktuellen Betrachtung des einzelnen Gegenstands entspricht dessen sorgfältige Reproduktion nicht im Hinblick auf die äußeren Angaben oder auf die ergänzten Teile, von denen keine Rede ist (nie wird wie bei Caylus von Maßangaben gesprochen), sondern in Bezug auf die inhaltliche Wiedergabe. Der Bildinhalt – d. h. das Wesentliche der Figur – muss ins Blickfeld rücken. Markiert die Linienführung am treulichsten die Ikonographie, so kommt die Umrisszeichnung einem abstrahierenden Prozess – der Idealisierung der Werke – entgegen, der ihr Korrelat im Text findet. Dem Kontur, d. h. der Möglichkeit, Präsenz und zugleich Distanz vom Gegenstand zu veranschaulichen, entspricht die sprachliche Äußerung der Vermutung. Auf syntaktischer Ebene verwendet Winckelmann oft den italienischen Modus des

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Konditionals, der die subjektive Perspektivierung der Anschauung ausdrückt. Hinzu kommt das Stichwort congettura, das immer wieder die argumentative Metaebene und das semantische Feld des Denkvorgangs bezeichnet. Orientiert das schriftlich Fixierte die Lesbarkeit des Werks am Gedankenfluss, der ihre Stabilität in der ikonographischen Deutung des Stücks sucht, symbolisiert das bildlich Fixierte dessen Konkretisierung im Kunstobjekt. Seinerseits erfüllt der Text die Aufgabe, das Bild anschaulich zu machen, indem er den mythologischen Kontext anhand der antiken Literatur auf den Plan ruft. Dank der neugewonnenen allegorischen Sichtweise nehmen die Bilder die Funktion von Urbildern an: Sie werden zu Erinnerungsstücken, welche die Semantik der Gegenstände und den Sinn der Quellen ausstellen. Als Erinnerungsstütze brauchen Zeichnungen die Integrität der Zeichen: Das Finito sucht in den Bildern seine Evidenz. Dass Winckelmann nur selten auf die Restaurierung der Stücke hinweist und dass er sie nie in den Zeichnungen signalisiert, darin liegt kein Widerspruch. Winckelmann hatte sich mit der Restaurierung von antiken Werken beschäftigt, war dann mit deren Problematik wohl vertraut. Und dass er trotzdem die ergänzten Stellen nicht optisch markiert, hängt vielmehr mit der Funktion der Monumenti zusammen. Als ikonographisches Repertoire wollte das Werk beim Betrachter den Gedanken an unversehrte, d. h. in ihrer Ganzheit aufbewahrte Gestalten aktivieren, während philologische Erläuterungen und Analysen dem Text überlassen werden. Jenseits der philologischen Lektüre garantieren les belles infedeles, von denen unter lexikalischer Anlehnung an die Frühzeit einer Übersetzungswissenschaft bei Barthelemy die Rede ist, das Angenehme beim Betrachten der Kunstwerke.6 Der Text – wie es auch bei der mit Winckelmann befreundete Restaurator Cavaceppi der Fall ist – integriert, was »il disegno non lo dimostra«, in der Zeichnung nicht zu sehen ist, wie dieser schreibt.7 Aber auch die Wahl der präsentierten Objekte hat mit dem Text bzw. mit der Konnotation der bildlichen Darstellung zu tun: In der Auswahl liegt eigentlich der Kern der Sache. Winckelmanns Erörterung der dargestellten Figuren ergibt sich aus der Interpretation von antiken Quellen, aber auch aus der Erkenntnis, dass das gleiche Sujet mehrmals dargestellt wird. Sein kunsthistorischer Diskurs fußt auf der Existenz von Repliken, welche die Verbreitung einer typenartigen Darstellung, d. h. eines ikonographischen Codes dokumentieren.8 Dies ist z. B. bei der Bronzestatuette des Apollon Sauroktonos der Fall (Abb. 1).

6

Paola D’Alconzo: Naples and the Birth of a tradition of conservartion. In: Journal of the History of Collections, Spet. 27 (2007), S. 7. 7 Bartolomeo Cavaceppi: Raccolta D’Antiche Statue Busti Teste Cognite Ed Altre Sculture Antiche Scelte. Roma 1768, S. 4. 8 Vgl. Marcello Barbanera: Original und Kopie. Stendal 2006.

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In den Monumenti spricht Winckelmann von einigen Exemplaren, darunter auch von einer Kopie in der Villa Borghese, die er im zweiten Band abbildet. In seiner Beschreibung geht der Kunsthistoriker von Plinius aus, der die Schönheit der Skulptur von Praxiteles preist. Das erste Zeugnis des Motivs des Jünglings mit der Eidechse findet Winckelmann – wie oft – im Text eines antiken Autors. Vom literarischen Text ausgehend erwähnt er dann die von ihm bekannten Exemplare, rühmt die Bronzestatuette in der Sammlung Albani, und geht auf das Thema der Schönheit und deren Repräsentation durch die Haarfarbe über, wie es bei verschiedenen Autoren (Homer, Ovid Abbildung 1 und Catull und anderen 9 mehr) zum Ausdruck kommt. Der Hinweis auf das bildliche Kunstwerk, das illustriert wird (die Illustrationen werden einzeln nummeriert und die Bildzahl am Texteingang erwähnt), belegt durch die explizite Wiederaufnahme die Kohärenz von Text und Bild. Auf das Bild geht nochmal der Text in einer längeren Beschreibung 9 Winckelmann hatte den Typus des Apollon Sauroktonos schon im Katalog der Sammlung Stosch und in der Geschichte der Kunst behandelt. Auf Winckelmanns Beschreibung und auf seine Methode bezieht sich Giambattista Visconti im ersten Band des Werks, Museo Pio Clementino, das im Jahre 1783 erscheint, S. 30. Durch die Repliken kann man das originale Werk Praxiteles rekonstruieren. Zur Behandlung der Statue vgl. J. J. Winckelmann: Geschichte der Kunst des Altertums. Teil 2. Katalog der antiken Denkmäler. Hrsg. v. Adolf Heinrich Borbein u. a. Mainz 2006 (Schriften und Nachlass, Bd. 4,2), S. 147; Forschungen zur Villa Albani. Katalog der antiken Bildwerke, Bd. 1. Bildwerke im Treppenaufgang und im Piano nobile des Casino, hrsg. v. P. C. Bol. Berlin 1989, S. 188–191.

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ein, die sozusagen in der Mitte des hermeneutischen Zirkels bzw. der Argumentation steht. Diese geht von der Literatur aus und endet auch damit. Anders als bei den Beschreibungen nach dem Ideal, wie es bei Laokoon oder beim Torso der Fall war, handelt es sich da um analytische Beschreibungen, die trotz den gelehrten Abschweifungen die Materialität der Dinge parat hält. Damals waren eigentlich die verschiedenen Fassungen der Beschreibungen der Statuen im vatikanischen Cortile del Belvedere, die Winckelmann im Laufe der Jahre niedergeschrieben hatte, ein Indiz seiner Suche nach einem passenden Muster der Bildbeschreibung. In den Monumenti wird das Experiment auf eine andere Ebene durchgeführt. Gelten die literarischen Texte als historische Quellen, so wird die philologische Methode gebraucht, um mittels der Textüberlieferung die leeren Stellen im Bild verständlich zu machen. Daraus ergibt sich eine Wechselbeziehung: die Versprachlichung macht transparent, was im Bild nicht zu verstehen ist, das Bild erörtert dunkle Stellen, oft auch einzelne Wörter, dessen Bedeutung erst durch das Bild plausibel wird. Die ikonische Repräsentation wird lesbar, erst wenn der Rezipient ihren Sinn versteht. Was die eigentliche Ekphrasis angeht, die in die Argumentation eingebettet wird, nimmt sie verschiedene Exemplare in Anspruch, von denen aber nur eins seine bildliche Konkretisierung findet: Damit bezeugt der Text die Existenz der Variation, die das jeweilige Bild eingrenzt und fixiert. Indem der Text die Varianten analysiert, kann ein Vergleich angestellt werden, der aber ohne Visualisierung beziehungslos bliebe. Aufgrund verschiedener Exemplare und rekurrierender bildlicher Merkmale ist der Kunsthistoriker in der Lage, seinen ikonographischen Diskurs zu formulieren. Wiederholung und Variation sind dessen notwendige Voraussetzung: Nur dank replizierender Muster oder Details kann der Kunsttheoretiker den Stilbegriff erläutern. Erst aus der Erkenntnis der thematischen Migration innerhalb der griechischen und der römischen Kultur kann der in den Monumenti theoretisierte Rückgriff der römischen Kunst auf Muster und Motive der griechischen Mythologie und Literatur erklärt werden. Basiert die ikonographische Interpretation auf der Rückkehr von einem einzelnen Element, so wird dieses Element auch bildlich herausgestellt. Das sogenannte Ritterrelief Albani, das Winckelmann anhand der Darstellung der Ohren als ein mythologisches Sujet anerkennt und dem Reiter die Identität eines Pankratisten zuschreibt, wird entsprechend illustriert: Das Ohr wird vergrößert und isoliert von der Ganzheit des Bildes gedruckt (Abb. 2, siehe S. 336)). Eine solche Darstellungsweise spielt auf eine Erkenntnismethode an: das komplexe Kunstgebilde kann nur unter Rückgriff auf einzelne Faktoren angemessen erfasst werden. Seinerseits ist die Isolierung eines Details Voraussetzung einer neuen Verwendung: die Abbildung des einzelnen Körperteils zeigt die Nähe zu Vorlagenbüchern für Zeichner. Zwischen dem Studium der Antike, ihrer Aktualisierung und Re-produktion wird damit eine Brücke geschlagen.

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Abbildung 2

Verschiedene Möglichkeiten der Kombination, aber auch der Differenzierung von Text und Bild werden von Winckelmann in seinem langwierig zu Stande gekommenen italienischen Werk erprobt. Ganz offensichtlich stammen die Zeichnungen aus verschiedenen Stechern, variiert deswegen ihr Darstellungsstil. Winckelmann selber macht häufig auf den Unterschied zwischen der Zeichnung und dem Original aufmerksam, wenn auch manchmal eine Zeichnung statt des Originals als Vorlage dient. Eine Differenz, die oft nicht mit der Technik, dem Material oder auch mit der Größe des Originals zu tun hat, sondern nur mit der punktuellen Emulatio der äußeren Form. Manchmal wird die Technik nachgeahmt, aber sonst wird lediglich auf das Aussehen der Figuren aufgepasst. Falls der Gegenstand in den Vordergrund tritt, wird der ikonographische Teil der Dekoration entweder durch eine Doppelstruktur des Bildes (oben die Vase und unten eine Seite der Dekoration) oder durch eine lineare Folge wiedergegeben, was dem dreidimensionalen Objekt eigen ist, wie es beim Becken aus weißem Marmor aus der Sammlung Albani der Fall ist. Von einem Kandelaber werden hingegen alle Seiten hintereinander abgebildet, obwohl nur ein Bild an das Objekt zurückerinnert, während bei den anderen zwei Seiten lediglich die figürliche Konsistenz vorgestellt wird. Dass die Präsentation des Objekts keine sekundäre Aufgabe des Werks war, zeigen die unternommenen Änderungen im Layout in den späteren Ausgaben, die 1820 in Neapel und 1821

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in Rom erscheinen: Obwohl in der Einführung von der römischen Ausgabe versichert wird, dass die originellen Druckplatten verwendet wurden, offenbaren bei einigen Zeichnungen das Format der Druckplatte wie auch die veränderten Schraffuren, dass manches neu – wenn auch mit aller Sorgfalt und Präzision – wieder gezeichnet worden war. Es handelt sich um geringe Unterschiede, die aber das graphische Arrangement der Objekte auf dem Blatt und damit die Veränderung in der Rezeption kennzeichnen. Markant ist auch, dass von der originalen Ausgabe manche Exemplare, darunter diejenigen in Stendal und in Neapel, die Bilder in keinem separaten Band sammeln, sondern mitten im Text zeigen, was natürlich das unmittelbare Verhältnis zum Text deutlicher an den Tag legt.10 Daraus folgt die thematische Anordnung der Figuren, die durch die Mobilität der Lektüre entsteht.

Abbildung 3

Reduziert die Umrisszeichnung das dargestellte Monument auf minimale Hauptzüge, so hebt der dunkle Hintergrund bei anderen Abbildungen – wie beim berühmten Antinoo der Fall – die Gestalt hervor. Hier zeigt die Rezeption – diesmal 10

Auf diesen Unterschied beim Exemplar in Stendal macht auch Sabine Naumer aufmerksam. Vgl. Naumer: Monumenti, S. 28 (wie Anm. 1).

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die erste deutsche Ausgabe – wie nicht nur die Sprache, sondern auch die Bilder übersetzt werden: Das Papierweiß, dem die deutsche Ausgabe mehr Platz einräumt, weist auf eine Richtung hin, die sich mit Zeichnern wie Flaxmann durchsetzen wird (Abb. 3).11 Was die Zeichnung an sich betrifft, belegt die Dekontextualisierung der Figur vom dekorativen Rahmen des Kaminaufsatzes, dass das Buch mit den reproduzierten Bildern als selbständiger Kontext aufgetreten ist. Das Antinoo-Relief, dessen Wichtigkeit für Winckelmann das bekannte Portrait von Anton Maron bezeugt, ist auch ein Zeichen der Verbreitung eines Kunstobjekts mittels der Reproduktionen12. Wenn Inventarisieren auch Aneignung bedeutet, so zeigt die zukunftsweisende bildliche Dokumentation der Monumenti inediti, die Schule gemacht haben, die Transformation der alten Kunstwerke zu vertrauten Bildern: Vervielfältigung der Druckgraphik macht die Welt der Antike ein für allemal gängig und bekannt. Die eroberte Nähe setzt sich aber noch mit der Weite auseinander, wie es im letzten Bild des Bandes zum Ausdruck kommt. Das Paese dipinto ist der einfache Titel eines kleinen Gemäldes, das heute noch in der Villa Albani zu sehen ist. Im Werk Winckelmanns handelt es sich um die einzige Darstellung einer Landschaft, die – an die Schlussworte der Geschichte erinnernd - das neue Land einer verlorengegangenen Welt von der Ferne anblickt: »con uno sfuggimento di lontananza tanto vago e grazioso«, wie Winckelmann im Bezug auf das Bild in den Monumenti schreibt, entspricht nun die in der antiken Malerei dargestellten alltägliche Szene dem modernen Gefühl einer unumgänglichen Entfernung.

11

Max Kunze: Zur Umrisszeichnung in der Illustration. John Flaxman bei August Wilhelm von Schlegel. In: Marginalien 92 (1983), S. 45. 12 Claudia Tausch: Man muss mit ihnen, wie mit seinem Freund, bekannt geworden seyn… zum Bildnis Johann Joachim Winckelmanns von Anton Maron. Mainz 1995.

Martin Kirves (Basel) Der Künstler als zentrale Randfigur. Benjamin Wests The Family of the Artist und Daniel Nikolaus Chodowieckis Cabinet d’un peintre : zwei programmatische ›Familienstücke‹ »Ich schätze alles, was [die Engländer] Gutes heraus geben, und kaufe davon, so viel mein Beutel es erlaubt; nur West’s Familienstück nicht.«1 Mit diesen Worten beschließt Daniel Nikolaus Chodowiecki die 1780 verfasste Beschreibung seines künstlerischen Werdegangs. Was hatte ihn an dem Gemälde Benjamin Wests, welches Chodowiecki als Schabkunstblatt bekannt geworden ist (Abb. 1), derart gestört, dass er ein solch harsches Urteil äußerte?

Abb. 1: Georg Siegmund Facius: The West Family, 1779, 56 x 67 cm. Nach: Benjamin West: The West Family, 1772, 52 x 67 cm, Yale Center for British Art, New Haven Connecticut.

1

Miscellaneen artistischen Inhalts, hrsg. v. Johann Georg Meusel, 5. Heft, Erfurt 1780, S. 14.

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5. Sektion · Martin Kirves

Zur apodiktischen Schärfe mag beigetragen haben, dass Chodowiecki nicht über das handwerkliche Können der in England zur höchsten Blüte gebrachten ›Schwarzkunst‹ verfügte, die in einer zuvor nicht gesehenen Intensität malerische Valenzen in der Druckgrafik präsent werden ließ. Dessen ungeachtet ging es ihm jedoch – wie wir zeigen wollen – um nichts weniger als sein künstlerisches Selbstverständnis, das er als ›Sache der Aufklärung‹ gefährdet sah. Ein Blick auf sein nahezu zeitgleich mit Wests Gemälde geschaffenes druckgrafisches Familienstück (Abb. 5) lässt die Differenzen unmittelbar augenfällig werden. Gehen die Dargestellten bei Chodowiecki einer Beschäftigung nach, bei der die Beteiligten auf eine noch näher zu bestimmende Weise miteinander interagieren, hat West die porträtierten Personen kommunikativ stillgestellt und ihnen auf diese Weise eine monumenthafte Wirkung verliehen, die sich vor allem bei den sitzenden Männern – Wests Vater John und seinem Halbbruder Thomas – zeigt. Regungslos blicken die beiden Quäker auf Mutter und Kind und doch an ihnen vorbei. Ihr Blick zielt ins Bildjenseits, das für die vom neuen Leben aufgerufene unbestimmte Zukunft einsteht. Verrät ihre Haltung, insbesondere die nicht gänzlich zugeknöpften Mäntel, eine der Situation angemessene Gelassenheit, sitzen die beiden dennoch ›im Gleichschritt‹ da, um mit ungetrübtem Blick des Kommenden zu harren, dessen Anfechtungen – wie auch immer diese ausfallen mögen – ihre religiöse Entschlossenheit bezwingen wird. Eine innere Einstellung von der auch die gebetartig gefalteten Hände zeugen. Die derart aufgeladene ernste Stille der beiden Quäker thematisiert das Leben als religiöse Prüfung, die einen unbeirrbaren Willen erfordert, der sich tief in die herbe Physiognomie des Vaters eingegraben hat. Als Resultat dieser Haltung vermag er zu gewahren, was weder den anderen Personen im Bild noch dem Betrachter zugänglich ist: Sein weit geöffneter Blick ist geradlinig in den bildjenseitigen Bereich gerichtet, der aus seiner Perspektive die weiß leuchtende Mutter-Kind-Gruppe rahmt. Ihm wird die Dualität des Diesseits und Jenseits durchlässig2, während dem Bildbetrachter einzig der allegorische Widerschein der jenseitigen Sphäre an der Fensterlaibung zugänglich ist. Die hier visionär gegebene personale Offenbarung ist den Quäkern die lebendige Erfahrung des Bibelwortes.3 Indem Mutter und Kind durch den Blick des Alten mit dem jenseitigen Bereich in Beziehung gesetzt sind, schlägt der situative Charakter der Szene bildintern ins Überzeitliche um, wozu auch die anderen dargestellten Personen beitragen: Der bilddurchmessende, eine Bedeutungsachse der Augen konstituierende Blick des Alten wird von dem Jungen am Fenster – dem sechsjährigen Sohn Benjamin Wests, Ra2

Auf die Bedeutungsdimension der Lebensalter weist bereits Charles Robert Leslie hin (Allen Staley: Benjamin West. American Painter at the English court. Baltimore 1989, S. 21). 3 Vgl. George Fox: Aufzeichnungen und Briefe des ersten Quäkers. Tübingen 1908, S. 13.

Der Künstler als zentrale Randfigur

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phael Lamar, – ins Bild zurückgelenkt. Während er auf der Druckgrafik den Betrachter ansieht und dadurch der Szene die Momenthaftigkeit eines Augen-Blicks verleiht, die den überzeitlichen Ausdruck der Quäker konterkariert, sieht er auf dem Ölbild in die Richtung seines kleinen Bruders, ohne ihn allerdings direkt in den Blick zu nehmen. Wie die beiden Quäker ist auch Raphael ›über den Dingen‹ und verdeutlicht, in der Blickachse des Alten stehend, dass der in die unbestimmte Ferne zielende Blick zugleich nach innen gerichtet ist, was sich bei ihm freilich auf seine ganz eigene, von den gesenkten Augenlidern angedeutete träumerische Art vollzieht. Die dabei eingenommene legere Haltung weist bereits insofern einen überzeitlichen Zug auf, als sie eine ›ewig gültige‹, aus der Antike abgeleitete akademische Pose instanziiert, während die Protagonistin des Bildes, die strahlend weiß gewandete Mutter Elizabeth mit dem Kind Benjamin jr., in der Haltung Mariens erscheint. Die Analogie zur Gottesmutter wird durch den thronähnlichen Sessel und die dorsaleartige Hintergrundfläche – beides von einem goldenen Schimmer gerahmt, und darüber hinaus durch die einen Baldachin aufrufende Draperie und das als Suppedaneum dienende Kissen verstärkt. Zudem wird sie im Ölgemälde als farbinszenatorischer Höhepunkt innerhalb des herrschenden modesten Grün-Braun-Kontrastes zur unnahbaren Erscheinung einer höheren Reinheit verklärt und als solche zum konkreten Adorationsobjekt der Quäker.4 Die sakrale Atmosphäre des Bildes gewahrend, bemerkt Charles Robert Leslie: »[…] and the silence that reigns over the whole is that of religious meditation; which will probably end, according to the Quaker custom, in a prayer from the patriarch of the family.«5 Bei dem gegen 1770 in mehreren Versionen entstandenen Tondo Mrs. West with Raphael West (Abb. 2, siehe Seite 342) hat sich der Künstler zur Erzeugung einer heiligen Aura auf ein ganz bestimmtes Bild, dessen Urheber der Namenspatron seines Sohnes ist, auf Raffaels Madonna della Sedia bezogen, das West 1762 im Palazzo Pitti studiert hatte (Abb. 3). Seine unmittelbare Wirkung entfaltet das Werk Raffaels, indem es aus der ikonografischen Tradition ausschert, ohne sie gänzlich abzustreifen. Das rot-blaue Gewand und der Johannesknabe weisen Mutter und Kind als Maria und Jesus aus, die hier aus der ikonografischen Form in ihrer ›menschlichen Natürlichkeit‹ hervortreten. Bei West fehlt Johannes und die blau-rote Farbgebung ist derartig reduziert, dass ihr Zeichencharakter visuell apokryph wird. Die Einsetzung in die unmittelbar wirkende ›Lebendigkeitsform‹ des im Bildbewusstsein der Zeit zur Ikone gewordenen Werkes Raffaels ist zur Implantierung des sakralen Gehalts gänzlich hinreichend, womit zugleich der durch die Einsetzung implizierte Anspruch, dass Wests 4

»White«, so West, »holding the preeminent places or attractive parts«, während die Farben grün und braun »ever go in the retiring parts and shadows« (Franziska Forster-Hahn: The sources of true taste. Benjamin West’s instruction to a young painter for his studies in Italy. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 30 (1967), S. 381). 5 Charles Robert Leslie: A hand-book for young painters. London 1855, S. 293.

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5. Sektion · Martin Kirves Abb. 2: Benjamin West: Elizabeth West und Benjamin jr., um 1770, 66,5 x 66,5 cm, Cleveland Museum of Fine Art.

Abb. 3: Raffael: Madonna della Sedia, 1513, 71 x 71 cm, Palazzo Pitti, Florenz.

Frau und Kind tatsächlich Maria und Christus seien, negiert wird. Dies verdeutlicht West zusätzlich vermittels der uns bereits aus dem Familienstück bekannten ikonografischen Etablierung des weißen Gewandes. Als universales Reinheitszeichen verweist es nicht – wie die Gewandfarben Mariens – auf eine konkrete Person der Heilsgeschichte, sondern bezeichnet eine Qualität, die – und hierin liegt der mit der Lehre der Quäker konforme aufklärerische Gehalt – nicht allein Wests Sohn Raphael oder seiner Frau Elizabeth zukommt, sondern prinzipiell jedem menschlichen Wesen innewohnt. Tritt auf dem Bild Raffaels das ›natürlich Menschliche‹ aus der ikonografischen Würdeform hervor, inkorporiert West diese Form in das ›natürlich Menschliche‹

Der Künstler als zentrale Randfigur

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des profanen Familienstücks, wodurch, anstelle der unmittelbaren Präsenz bei Raffael, jene Distanz erzeugt wird, die es überhaupt erst ermöglicht, dass Mutter und Kind zum Objekt der indirekten Anbetung werden. Eben dieses von Joshua Reynolds geforderte Prinzip des borrowing 6 hatte West mit größtem Erfolg auf seinem Gemälde The Death of General Wolfe (1770) angewendet, das ihm die Ernennung zum Painter to the Court für Historienmalerei einbrachte. Vor dem Hintergrund des Kostümstreits optierte West für zeitgenössische, statt antikisierende Kleidung7 und kompensierte die damit einhergehende semantische Depotenzierung durch die Einsetzung des aktuellen Inhalts – General James Wolfe ist während des French and Indian War am 13.09.1759 in Québec verstorben – in die modifizierte Pathosform der Beweinung Christi.8 Eben dieses Verfahren hatte Chodowiecki auf seinem gleichfalls druckgrafisch verbreiteten und ebenso erfolgreichen Bild, dem Abschied des Calas von seiner Familie (1765), angewendet. Bei den borrowings spaltet sich der in die Pathosform insertierte ikonografische Gehalt gleichsam auf: Einerseits sinkt er durch die szenische Neubesetzung der Form auf den semantischen Grund des Bildes ab, um die Darstellung ›von innen her‹ zu semantisieren, andererseits wird mit dem Auffälligwerden der Pathosform ihr ursprünglicher Gehalt aufs Neue thematisch, wodurch die Darstellung in ein Analogieverhältnis zur ›Urszene‹ tritt, die in ihrem Nach-Bild revitalisiert Präsenz gewinnt. Die borrowings sind daher nicht als anmaßende Gleichsetzung zu verstehen, auch bewirken sie keine semantische Entleerung der instanziierten Form oder führen die Uneinholbarkeit der Urszene vor Augen, vielmehr partizipiert das Dargestellte an ihr, wodurch es zugleich nobilitiert wird. Im eingangs betrachteten Familienstück sind beide zuvor von West durch borrowings evozierte Wirkungen synthetisiert: In den diszipliniert-ernsten Quäkern ist die heroische Dimension des Death of General Wolfe präsent, während Mutter und Kind die anmutig-auratische Sphäre von Mrs. West with Raphael West freisetzen. Damit übersteigt dieses conversation piece ›without conversation‹ seine Gattungsgrenzen und sublimiert die Alltagsszene zu einer sich schweigend vollziehenden sacra conversatione. Dass es sich bei diesem Familienstück um ein im Jahr von Wests Ernennung zum Hofmaler verfasstes künstlerisches Manifest handelt, verdeutlicht schließlich die bisher unbeachtet gebliebene Figur am rechten Bildrand, bei der es sich um den Künstler selbst handelt. Nimmt er auch eine Haltung ein, die ihn mit seinem älteren Sohn verbindet, wodurch beide die Darstellung nach außen hin rahmen, befindet 6

Joshua Reynolds: Discourses on Art, hrsg. v. Robert R. Wark. New Haven, London 1997, S. 106. 7 West entgegnet Reynolds, der eine antikisierende Gewandung vorgeschlagen hatte: »[…] the same truth that guides the pen of the historian should govern the pencil of the artist« (John Galt: The Life, Studies, and Works of Benjamin West. Bd. 2. London 1820, S. 48). 8 Vgl. Charles Mitchell: Benjamin West’s »Death of General Wolfe« and the popular history piece. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 7 (1944), S. 32.

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Abb. 4: Daniel Nikolaus Chodowiecki: Frau und Kinder des Künstlers am Tisch, 1771, 11,5 x 17 cm, Kupferstichkabinett Berlin.

sich dieser dennoch innerhalb der bisher betrachteten Szenerie, während West – durch die Rücken der Quäker von ihr getrennt – außerhalb steht. Aufgrund seiner im Gegensatz zu den anderen Figuren höchst bewegt wirkenden Haltung vermittelt er den Eindruck eines hinzugetretenen Beobachters, was der Binnenszene ungewollt den Charakter eines tableau vivant verleiht. Diesen Zuschauer weisen Palette, Pinsel und Malstock zugleich als Urheber der Szene aus, was wiederum Wests periphere Position reflektiert: Als einzige Figur wird er, und mit ihm die Palette, vom Rand überschnitten, so dass er sich zugleich innerhalb wie außerhalb des Bildes befindet. Damit vereint West in der Darstellung seiner Person drei Momente, deren für die Kunst der Aufklärung charakteristisches Zusammenspiel uns bei Chodowiecki wiederbegegnen wird: Sein jüngstes Kind ansehend partizipiert er als Familienvater an der Szene, während er außerhalb stehend zum verifizierenden Zeugen dessen wird, was er als Künstler geschaffen hat. Eingedenk der Komplexität dieser zentralen Randfigur und der virtuosen semantischen Verdichtung, welche die geschilderte Alltagssituation sakralisiert, bezeichnet Leslie West das ›Familienstück‹ als »his most original picture«,9 eine Wertung, der Chodowieckis eingangs angeführtes schroffes Diktum entgegensteht. 9

Staley: Benjamin West, S. 21.

Der Künstler als zentrale Randfigur

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Auf der Zeichnung, auf der sein Familienstück basiert (Abb. 4), hat Chodowiecki, dessen Hand rechts ins Bild hineinragt, mit dezenten und dennoch bestimmten Bleistiftstrichen jede phänomenale Nuance einzufangen gesucht und im nächsten Schritt das Wesentliche der Szene, die Gesichter in ihrem momentanen charakteristischen Ausdruck, mit Tinte konkretisiert und die Zeichnung nachträglich durch den Vermerk »nach der Natur gezeichnet zu No 75« als authentisch dargestelltes ›Hier und Jetzt‹ verifiziert. Eine handschriftliche Notiz gibt Auskunft über ihren ursprünglichen Zweck: »Die Mutter des Künstlers, geb. Henriette Ayrer in Danzig, bat ihn um eine Zeichnung von seinen Kindern. Er fing an zu zeichnen und dachte, daß wenn er es radirte, würde es ihm nicht viel Mühe mehr kosten, und er radirte es.«10 Indem Chodowiecki von sich selbst in der dritten Person spricht, verliert die Notiz ihren privaten Charakter: Als Erzähler teilt er sein Handeln einer fiktiven Öffentlichkeit mit. Eben dieser Wechsel der Sprecherebene kennzeichnet auch den Übergang von der intimen Zeichnung für die Mutter in Danzig zur öffentlich verfügbaren Druckgrafik. Ein Übergang, der, wie dem Vermerk zu entnehmen ist, nicht viel Mühe koste, da – so die kunsttheoretische Pointe – die Mühe einzig der medialen Übertragung geschuldet sei, während die eigentlich künstlerische Leistung bereits vollständig erbracht wurde, schließlich müsste jeder nachträgliche Eingriff in die Darstellung eine Abschattung ihrer Wahrhaftigkeit zur Folge haben. Und dennoch vollzieht sich mit der Übertragung ein Wechsel der Ebenen, den der Untertitel hervorhebt: Das Sujet wird nicht etwa als ›Die Familie Chodowiecki‹ oder ›Die Familie des Künstlers‹ bezeichnet, sondern als ›Kabinett eines Malers‹ ausgewiesen, wobei erst der Titelzusatz darüber Auskunft erteilt, um welchen Künstler es sich handelt. Entscheidender als das ›Wer‹ ist folglich das ›Was‹ der Darstellung, nämlich dass hier ein Maler in seinem Kabinett arbeitet, wodurch Chodowiecki, gerade aufgrund des ihn selbst zurücknehmenden unbestimmten Artikels, für den Künstler als solchen einsteht und die hier formulierte programmatische Position Allgemeingültigkeit für die ›Kunst der Aufklärung‹ beansprucht. Die vermittels der paratextuellen Rahmung eröffnete kunsttheoretische Perspektivierung wird innerbildlich nicht allein in der ebenfalls am Rand situierten Person Chodowieckis explizit, sondern auch durch die Konkretion des auf der Zeichnung unbestimmten Ortes als Raum der Kunst. Dieser ist mit Gemälden ausgekleidet, zwischen denen auf Rocaille-geschmückten Konsolen Statuetten zu sehen sind, während im unteren Bereich, links neben dem Tisch, großformatige Grafikmappen an der Wand lehnen.

10

Elisabeth Wormsbächer: Daniel Nikolaus Chodowiecki. Erklärungen und Erläuterungen zu seinen Radierungen. Hannover 1988, S. 16.

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Ist auf herkömmlichen Kabinettbildern größter Wert auf Wiedererkennbarkeit der einzelnen Gemälde gelegt, die en minature als piktoraler Katalog einen homogen beleuchteten Raum füllen, tritt die Kunst in Chodowieckis Kabinett wie eine Schattenwand hinter die ›reale‹, hell erleuchtete Vordergrundszene zurück. Nicht die Kunstwerke an der Wand, sondern das von Chodowiecki beobachtete, vor der Kunst stattfindende Leben soll betrachtet werden, bei dem es sich doch um nichts anderes, als um ein von ihm selbst angefertigtes Kunstwerk handelt, das sich allerdings gerade darin erfüllt, dass es nicht als Kunstwerk auffällig wird, sondern die dargestellte Szene ›ihrer Natur nach‹ freigibt. In der Allgemeinen Theorie der schönen Künste (1771–74) formuliert Johann Georg Sulzer eine diesem künstlerischen Anliegen entsprechende Rezeptionsanleitung, die zugleich einen Qualitätstest des betrachteten Werkes bereitstellt: Sehet ihr ein historisches Gemälde, so suchet zu vergessen, dass es ein Gemälde ist; vergeßt den Maler […]. Stellt euch vor wirkliche Menschen zu sehen und gebet dann auf die Handlungen dieser Menschen Achtung. Sehet zu, ob sie wichtig seien, ob die Personen in ihren Gesichtern, Gebärden und Bewegungen, Gedanken und Empfindungen anzeigen; ob ihr die Sprache ihrer Mienen und Gebärden versteht und ob sie euch etwas Merkwürdiges sagen. Findet ihr es nicht der Mühe wert, diesen in eurer Einbildung wirklichen Menschen zuzusehen, so hat der Maler schlecht gedacht.11 Das adäquate Werk macht die ›Arbeit des Vergessens‹, dass es sich bei der betrachteten Szene um ein Kunstwerk handelt, so unbeschwert als möglich, indem die imaginativ konstituierten Personen von einem Eigenleben getragen werden, das sie von sich aus gegenwärtig werden lässt. Die angestrebte Präsenz macht, um einen Begriff Dagobert Freys zu verwenden, den spezifischen Realitätscharakter der Kunst der Aufklärung aus, der sich im Cabinet d’un Peintre gerade vermittels des Kontrastes zu den Kunst-Sachen etabliert. Folglich erschöpfen sich die gezeigten Kunstwerke keineswegs darin, ein diffuses Dekorum des Kabinettraums zu bilden; sie gehen in die Bildargumentation ein und stehen summarisch für die sich in einzelne Gattungen gliedernde Kunst, der in hellem Licht die paradigmatisch von Chodowiecki vertretene ›Kunst der Aufklärung‹ gegenübergestellt ist. Sie rückt den Menschen in seinen lebensweltlichen Zusammenhängen ins Zentrum und positioniert sich damit jenseits der Gattungshierarchie. Das auf William Hogarths The Battle of the pictures (1743) offensiv ausgetragene Oppositionsverhältnis zielt hier allerdings nicht auf gegenseitige Vernichtung – Chodowiecki hat seine Bildersammlung sehr geschätzt – und dennoch wird die Gegensätzlichkeit forciert, indem die Ausfüllung des zur freien Disposition stehenden Raums der Vorzeichnung mit Kunstwerken, unabhängig davon, ob die Bilder 11

Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste. Bd. 1. Berlin 1771, S. 432.

Der Künstler als zentrale Randfigur

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tatsächlich so gehangen haben mögen, gezielt gesetzte Bezüge etabliert.12 So wirkt das Bild hinter der stehenden Tochter Suzette, das einen ambivalenten, zwischen Spiegelbild und Gemälde changierenden Status aufweist, wie ein piktorales Echo der Mutter Jeanne und ist als solches ein blasses Abbild der raumgreifenden lebendigen Hauptfigur, dem anstelle der Tochter ein in seinem Bildstatus nicht näher zu bestimmendes Wesen beigeordnet ist, welches sich mit gefalteten Händen Suzette zuzuwenden scheint.

Abb. 5: Daniel Nikolaus Chodowiecki: Cabinet d’un peintre, 1771, 18 x 23 cm (E 75, B 136).

Darüber hinaus ist die Mutter die positive Gegenfigur zu der als Halbporträt dargestellten Dame ganz links, die mit weit ausgeschnittenem Dekolleté, von einer ›scheinheiligen‹ Lichtaura umgeben, hochnäsig die Szene im Vordergrund ignorierend aus dem Bilderrahmen blickt und doch bereits durch die Höhe der Hängung der ›realen‹ Person untergeordnet ist. Schließlich offenbart das in zweiter Reihe über dem zeichnenden Wilhelm angebrachte Gemälde das narzisstische Verhältnis dieser Kunst: eine Selbstbespiegelung, der Chodowiecki die präzise Beobachtung des empirischen Menschen entgegensetzt. 12

An einer Identifizierung der einzelnen Bilder anhand der verschiedenen Auflagen von Friedrich Nicolais Beschreibung der königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam und Chodowieckis Nachlassverzeichnis versucht sich Karl Heinz Janda (ders.: Chodowieckis als Sammler. In: Festschrift Johannes Jahn. Leipzig 1958, S. 295).

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Dass die Kunst reale Menschen und keine Nachschöpfungen idealer Gestalten zu bilden habe, verdeutlicht die Darstellung der Skulpturen auf den Konsolen, deren kontrapostische Haltungen, wie wir sie bei dem Jungen in Wests Bild beobachtet hatten, Antikennachbildungen aufruft, deren Oberkörper allerdings durch den Bildrand fein säuberlich von den Beinen abgetrennt sind, während der antikisierende Kopf unter dem Rocailletischchen dazu verurteilt ist, das Treiben der lebendigen Beine unter dem Tisch zu beobachten. Die ausschließliche Betrachtung solcher Werke präge geradewegs einen Blick, der das Lebendige erkalten lasse und zur künstlerischen Produktion tot wirkender Formen führe: »[…] so übersetzen sie […] das Natürliche Fleisch in Gibs. Und ich wollte lieber sie machten aus ihrem Gibs Fleisch. So geht’s auch Denen die in Rom nichts als die Antiken zeichnen, wenn sie wieder zu hause kommen mahlen sie steinerne Leblose Figuren, an stat lebende und handelnde […].«13 Dementsprechend nimmt Chodowiecki nicht die Schönheit der vor ihm hockenden Venus in den Blick, sondern fasst, zur Verfertigung eines Miniaturporträts, scharf seine Tochter Jeanette ins Auge, wobei er selbst unentdeckt bleibt. Denn um »die Natur selbst reden [zu] hören«,14 muss sich der Künstler als Person zum Verschwinden bringen: »[…] wenn ein Frauenzimmer (und auch zuweilen Mannspersonen) weiß, daß man’s zeichnen will, so will es sich angenehm stellen und verdirbt alles, die Stellung wird gezwungen. […] Ich habe stehend, gehend, reitend gezeichnet; ich habe Mädchen im Bette in allerliebsten, sich selbst überlassenen Stellungen durchs Schlüsselloch gezeichnet.«15 Der Künstler hat sich aber nicht allein als Beobachter, sondern auch als Künstler zum Verschwinden zu bringen: »Die Manier ist immer ein Abweichen von der Wahrheit und jede Abweichung von derselben ein Fehler.«16 Aber: »Kein Künstler ist ohne Manier, am glücklichsten ist der, der am wenigsten hatt; und sie entsteht ohnstreitig aus dem Leidigen idealisieren.«17 Die Hand des Künstlers hat zum Seismografen seines Auges zu werden, wobei das Ziel nicht darin besteht, möglichst genau – wie das spiegelnde Wasser das Antlitz des Narziss – die ›äußere‹ Form zu reduplizieren. Der Blick des Künstlers hat tiefer zu dringen und die von Anthony Earl of Shaftesbury am Beginn der Aufklärung systematisch unter ästhetischen Vorzeichen thematisierte ›innere‹ Form des Menschen, seine charakterliche Disposition, die sich insbesondere in Handlungszusammenhän-

13

Robert Violet: Daniel Chodowiecki (1726–1801). Eine verschollen geglaubte Autobiographie. Bad Karlshafen 2010, S. 64 f. 14 Violet: Daniel Chodowiecki (1726–1801), S. 60 f. 15 Wolfgang von Oettingen: Daniel Chodowiecki. Ein Berliner Künstlerleben im achtzehnten Jahrhundert. Berlin 1895, S. 63 f. 16 Ludwig Kaemmerer: Chodowiecki. Bielefeld 1898, S. 110. 17 Violet: Daniel Chodowiecki (1726–1801), S. 62.

Der Künstler als zentrale Randfigur

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gen zeigt, zu gewahren.18 Die schöpferische Aufgabe des Künstlers besteht folglich darin, die ›innere‹ Form in der ›äußeren‹ zu veranschaulichen. Weil dies Chodowiecki in den Augen seiner Zeitgenossen besonders eindringlich gelungen ist, wurde er immer wieder als ›Seelenmahler‹ tituliert. Vor diesem Hintergrund sind die marginalen und doch bedeutenden Veränderungen innerhalb der ›bruchlosen‹ Übertragung der Zeichnung in das Medium der Grafik, wie die Hand, mit der die Mutter die stehende Tochter berührt, nicht nur legitim, sondern geradewegs vom Künstler geforderte Präzisierungen. Die Kunst vermag die ›innere‹ Form des Menschen aber nicht allein zu erkennen zu geben, sondern diese auch zu bilden. Einerseits verdeutlicht die im Schatten liegende Bilderwand, dass die Kunst dem Leben nachgeordnet ist, schließlich ist sie – was Chodowieckis Blick veranschaulicht – auf ein reales Urbild angewiesen, das allerdings vermittels des künstlerischen Abbildes epistemisch aufgeschlossen werden kann, andererseits ist die Kunst aber auch im Zentrum des Bildes präsent, wo sie innerhalb einer kommunikativ eingebetteten Selbstformung zum Lebensmittelpunkt wird. Der stille und dennoch intensive Austausch der hier Versammelten bringt die unauflösliche Verzahnung von Kunst und Leben zum Ausdruck: So hat Jeanette die Betrachtung der Kupfer des Foliobandes unterbrochen, um das Entstehen der Pferdezeichnung ihres Bruders Wilhelm zu betrachten, was ebenso wie der den jungen Künstler ansehende kleine Isaac Heinrich vom Primat des Schaffensprozesses vor der Werkbetrachtung zeugt. Die Interaktion vermittels der Kunst findet ihr Gegenstück im zärtlichen Umgang der anderen drei Personen: Während die Mutter Jeanne ihre zweitälteste Tochter Suzette liebkost, nimmt sich diese Justine Henriettes an, vor der wiederum eine Puppe liegt, die auch als künstlerisches Übungsmodell fungieren könnte. An diesem Tisch ist, was die große, parallel zum Stuhl des Zeichentisches stehende Lehne anzeigt, Chodowieckis angestammter Platz, den das leicht aus der Mitte gerückte jüngste Familienmitglied nicht gänzlich einnimmt. Damit kommt Chodowiecki zwei Positionen im Bild zu: Am Tisch partizipiert er als Familienvater am häuslichen Leben, während er im Modus des kunsttheoretischen Bildes – wie West – als zentrale Randfigur erscheint, um sich, außerhalb der Szenerie sitzend, als Künstler zum Verschwinden zu bringen und zugleich die von ihm verfertigte Darstellung als bildinterner Zeuge zu verifizieren. Ist die Parallelität, die Chodowiecki in unmittelbare Nachbarschaft zu West rückt, deutlich geworden – sie beruht auf einem gemeinsamen, das alltäglich Lebenswelt18

Zu einer näheren Bestimmung des Verhältnisses von ›innerer‹ und ›äußerer‹ Form siehe meinen Aufsatz Das Urteil des Herkules. Shaftesburys gemalte Kunsttheorie. In: Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte 22 (2010), S. 173–201.

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5. Sektion · Martin Kirves

liche als genre übersteigendes Sujet etablierenden ›Realismus‹ der Aufklärung, – hat der Vergleich beider ›Familienstücke‹ auch ihre kunsttheoretischen Differenzen offenbart: Wests Anliegen ist es, die Kunst vermittels eines synthetisch verschmelzenden Eklektizismus neu zu semantisieren, ein Verfahren, für welches ihm Raffael einsteht: »[…] his stile is made up from all he ever saw in works of art and nature.«19 Seinem Adepten Johann Heinrich Ramberg empfiehlt er, auf seiner Italienreise, wie er es ehemals selbst tat, die Madonna della Sedia zu kopieren,20 denn Raffael »made every man a painter that made him the subject of his emulation.«21 Dagegen steht Chodowieckis kunsttheoretischer Standpunkt, den er in dem bündigen Satz zusammenfasst: »[Die Natur] ist meine einzige Lehrerin.«22 Die Opposition zeigt sich auf der Darstellungsebene, indem das In-Form-Bringen vermittels der Modifikation des tradierten Formenkanons bei West Chodowieckis Freisetzung der inneren Form innerhalb der ›naturalistisch‹ geerdeten ›äußeren‹ Form entgegensteht. Soll auf Chodowieckis Familienstück die seelische Disposition der Dargestellten ins Bild gesetzt werden, indem die Unmittelbarkeit der in ihrer Intensität nicht konstruierbaren Situation dauerhaft festgehalten wird, soll eben dieses Darstellungsziel auf Wests Familienstück durch den Umschlag des situativen Augenblicks ins Überzeitliche eingelöst werden. Dies führt zu einer tendenziellen Isolierung der dargestellten Personen, die Chodowiecki als konstruierte Addition in Pose gesetzter Einzelfiguren erschienen, deren Formelhaftigkeit, für welche ihm insbesondere die erstarrte Physiognomie der wie aus dem Bild herausgeschnittenen Quäker eingestanden haben mag, der Entfaltung eines seelischen Innenlebens keinerlei Raum lässt, worin Chodowiecki nicht nur die ›Sache der Kunst‹, sondern auch diejenige der Aufklärung gefährdet sah.

19 20 21 22

Forster-Hahn: The sources of true taste, S. 377. Ebd., S. 382. Ebd., S. 377. Oettingen: Daniel Chodowiecki, S. 64.

Jürgen Brokoff (Bonn) »Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen.« Materialität und Sinnlichkeit deutscher Verssprache in der Epoche der Aufklärung

»Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit, Leicht bei einander wohnen die Gedanken, Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen, […].«1

– mit diesen Worten glaubt Wallenstein in Schillers Drama Wallensteins Tod den jugendlichen und noch unerfahrenen Max Piccolomini über die wahre Beschaffenheit der Welt und das dort vorherrschende Realitätsprinzip aufklären zu müssen. Die Einsicht in die Bedingtheit und Beschränktheit des politischen Handelns führt dabei in den Augen des kaiserlichen Generalissimus keineswegs zu einer Herabsetzung des Handelns gegenüber dem Denken. Im Gegenteil: Was immer sich der Mensch in Gedanken vorstellen mag, diese Gedanken bleiben in einer Hinsicht stets defizitär: Sie sind im direkten Vergleich mit den hart im Raum sich stoßenden Sachen inkonkret, abstrakt und immateriell. Demgegenüber eignet den Sachen eine konkrete Existenz, die sinnlich wahrnehmbar, d. h. fühl- und spürbar ist – und sei es auf eine unangenehme Weise. Die dem historischen Drama Schillers entnommene Gegenüberstellung von Gedanken und Sachen, die mit einer Aufwertung des körperlich Wahrnehmbaren einhergeht, lässt sich mit Blick auf die zurückliegende Epoche der Aufklärung auch materialästhetisch und poetologisch fruchtbar machen. Sie spielt seit dem Auftreten Klopstocks eine wichtige Rolle in der Versästhetik. Die hart im Raum sich stoßenden Sachen sind in dieser Perspektive nichts anderes als die Wörter und Silben der verssprachlichen Dichtung. Im Folgenden soll die versästhetische Auffassung der Wörter und Silben als körperlich wahrnehmbare Sachen in vier Hinsichten näher erläutert werden. Erstens ist die Vorstellung eines harten Sich-Stoßens zu erörtern, die in Deutschland erstmals um die Mitte des 18. Jahrhunderts bei Klopstock aufkommt und versästhetisch umgesetzt wird. Es geht dabei im Wesentlichen um die sogenannte »harte Fügung« des Wort- und Silbenmaterials der Verssprache. Zweitens ist der Umstand in den Blick zu nehmen, dass die sinnliche Wahrnehmbarkeit der Verssprache im 18. Jahrhundert über die harte Fügung und über Klopstock hinaus eine Aufwertung erfährt. So werden die akustische Hörbarkeit, die artikulatorische Sprechbarkeit und die plastische Greifbarkeit der im Vers verwendeten Sprache 1

Friedrich Schiller: Wallensteins Tod. In: Ders.: Wallenstein. Hrsg. v. Frithjof Stock. Frankfurt a. M. 2000 (Werke und Briefe, Bd. 4), S. 181, V. 787–89.

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5. Sektion · Jürgen Brokoff

nicht nur in Klopstocks Arbeiten thematisiert, sondern auch in der Versästhetik des Spätaufklärers Karl Philipp Moritz. Die Betonung der sinnlichen Wahrnehmbarkeit der Verssprache geht drittens mit einer gedanken- und bedeutungskritischen Tendenz einher, die zu einer Verselbständigung des verssprachlichen Materials in semantischer Hinsicht führt. Mit dieser Verselbständigung steht viertens die Verbindung zwischen den »Sachen« und der »Sache« der Aufklärung zur Disposition. Es ist zu fragen, ob die Sachen, hier also die Wörter und Silben der Verssprache, stets im Licht der von der Aufklärung vertretenen Sache wahrgenommen werden und ob die Sache der Aufklärung an deren Sachen wie die Kehrseite einer Medaille gebunden ist.

1. Ein hartes Sich-Stoßen der Wörter und Silben lässt sich am folgenden Beispiel erläutern: Himlischer Ohr hört das Getön der bewegten Sterne; den Gang, den Seleno und Pleione Donnern, kent es, und freut hinhörend, Sich des geflügelten Halls, Wenn der Planet fliehend sich wälzt, und im Kreislauf Eilet, und wenn, die im Glanze sich verbergen, Um sich selber sich drehn! Sturmwinde Rauschen, und Meere dann her!

Es handelt sich um die ersten beiden Strophen von Klopstocks Ode Die Zukunft in der Fassung von 1764.2 Auffällig ist neben dem sich nur zögernd erschließenden Inhalt die mit Unterbrechungen und Stauungen der Satzmelodie arbeitende syntaktische Fügung. Schon beim ersten Wort »Himlischer« ist und bleibt unklar, ob es sich als vorangestellter Genitiv auf das Ohr bezieht – das Ohr der Himmlischen – oder ob es sich um einen Komparativ handelt, der das himmlischere Hören (bzw. das himmlischere Ohr) bezeichnet, was zu den Steigerungsformen der nachfolgenden Strophen passen würde.3 Auffällig ist weiter das Aufeinanderstoßen, der Hebungsprall zwischen der betonten vierten und der betonten fünften Silbe der Eingangszeile, der die ersten beiden Wörter vom Rest des Verses abtrennt. Eine vergleichbare Isolierung von Wörtern zeigt sich im dritten Vers der ersten Strophe (»hinhörend«) 2

Friedrich Gottlieb Klopstock: Die Zukunft. In: Ders.: Oden. Hrsg. v. Franz Muncker, Jaro Pawel, Bd. 1. Stuttgart 1889, S. 164. 3 Das Interesse an Steigerungsformen kennzeichnet schon frühzeitig Klopstocks Gedichte. Die Ode Der Zürchersee von 1750 ist hierfür ein prägnantes Beispiel.

»Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen«

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und im ersten Vers der zweiten Strophe (»fliehend«), und zwar unabhängig von den Satzzeichen, die die Partizipien üblicherweise umgeben würden. Solche Isolierungen einzelner Wörter oder Wortgruppen werden seit den Arbeiten des Hölderlin-Forschers Norbert von Hellingrath als harte Fügung bezeichnet.4 Unter Rückgriff auf die Kompositionslehre des griechischen Rhetorikers Dionysius von Halikarnass hat Hellingrath das Begriffspaar der harten und der glatten Fügung auf die deutsche Poesiesprache seit Klopstock übertragen.5 Hellingrath bezeichnet die zitierten Verse Klopstocks als das »Bedeutendste harter Fügung« (S. 22) in deutscher Sprache, wobei er in seiner Präsentation der Verse Klopstocks durch die Hinzusetzung von Satzzeichen den Eindruck der Härte zu verstärken suchte.6 Eines der wichtigsten Merkmale der harten Fügung ist das Hervortreten des einzelnen Wortes in seiner Materialität und Körperlichkeit. Dieses Hervortreten, das die Wörter »sinnlich wahrnehmbar« (S. 22) macht, steht im Kontrast zum Stilprinzip der glatten Fügung, bei der »das Wort als solches nicht ins Bewusstsein fällt« (ebd.). Während die glatte Fügung, so Hellingrath, es strikt vermeidet, dass »das Wort selbst sich dem Hörer aufdränge« (S. 23), setzt die harte Fügung alles daran, dass das Wort selbst empfunden und wahrgenommen wird. Verbunden ist damit eine bedeutungskritische Tendenz, auf die schon an dieser Stelle hinzuweisen ist. Wenn bei der glatten Fügung zugunsten des »gedanklichen Zusammenhangs« (S. 21) das Wort selbst nicht erfasst wird, so wird bei der harten Fügung »dessen Bedeutung […] kaum noch erfaßt« (S. 25). Im 18. Jahrhundert ist Klopstocks syntaktisch wie semantisch sperrige Verssprache hierfür ein prägnantes Beispiel. Die von Hellingrath beobachtete Aufwertung der sinnlichen Dimension der Verssprache bringt einen Begriff des Plastischen ins Spiel, der sich nicht auf die bildliche Qualität des Plastischen bezieht, sondern dessen taktile und haptische Qualitäten hervorhebt. Die von der harten Fügung bestimmte Dichtung mache die Wörter zu »greifbaren Wesen« (S. 50). Damit ist einerseits eine Beziehung zur Verlebendigung von sprachlich-grammatikalischen Elementen in Klopstocks Werken hergestellt: Dieser lässt in seinen Grammatischen Gesprächen einzelne Buchstaben wie etwa das

4

Vgl. Norbert von Hellingrath: Pindarübertragungen von Hölderlin. Prolegomena zu einer Erstausgabe. In: Hölderlin-Vermächtnis, hrsg. v. Ludwig von Pigenot. München 1936, S. 15–71; Zitatnachweise im Folgenden im Text. – Vgl. dazu auch Jürgen Brokoff: Der »Hunneneinbruch in die civilisirte literarhistorie«. Vor einhundert Jahren schrieb Norbert von Hellingrath seine Dissertation über Hölderlin. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 86, 14. April 2010, S. N4. 5 Vgl. dazu Jürgen Brokoff: Geschichte der reinen Poesie. Von der Weimarer Klassik bis zur historischen Avantgarde. Göttingen 2010, S. 488–502. 6 Vgl. Joachim Jacob: Klopstock – Ursprung des deutschen Ästhetizismus. Die KlopstockRezeption im George-Kreis. In: Kevin Hilliard, Katrin Kohl (Hrsg.): Wort und Schrift – Das Werk Friedrich Gottlieb Klopstocks. Tübingen 2008, S. 266 f.

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Es oder das En leibhaftig auftreten. Zugleich impliziert die Vorstellung der Wörter als »greifbare Wesen« das Konzept einer körperlichen Berührung. Diese körperliche Berührung findet in zweifacher Hinsicht statt: in Bezug auf das Ohr des Hörers und in Bezug auf die Artikulationsorgane des Sprechers. Sie steht, über die harte Fügung und über Klopstock hinaus, im Zentrum einer sinnlich orientierten Versästhetik im 18. Jahrhundert. Der Grund, warum ausgerechnet die harte Fügung am Anfang der Wieder- oder Neuentdeckung der Sinnlichkeit der Verssprache im 18. Jahrhundert steht, ist darin zu sehen, dass das hart gefügte, isolierte Wort am ehesten die sinnliche Erfahrung einer Spürbarkeit der Zeichen zulässt. Danach ist der Weg frei für andere Formen verssprachlicher Sinnlichkeit.

2. Die Betonung der Sinnlichkeit der Verssprache geht im 18. Jahrhundert über die harte Fügung hinaus. Dass die sinnliche Komponente in Klopstocks Theorie und Praxis der Verssprache eine zentrale Rolle spielt, ist seit längerem bekannt.7 Neuere Arbeiten, die sich für die Materialität und Medialität von Klopstocks Verssprache interessieren, haben diesen Sachverhalt bestätigt.8 Einige wenige Hinweise müssen deshalb genügen. So betont Klopstock in seiner Deutschen Gelehrtenrepublik von 1774, dass das Gedicht von seiner konkreten Realisierung in der Deklamation nicht abzulösen sei. Wie andere Sprachphänomene (etwa die Rechtschreibung) ist das Gedicht ein »Ding fürs Ohr«.9 Die »Empfindungen des Ohrs«10 sind dabei nicht nur rezeptionsästhetisch von Interesse. Sie sind auch der wichtigste produktionsästhetische Maßstab: Auch beim Schreiben eines Verses, das – wie das laute Lesen bzw. die Deklamation – die Aussprache der Wörter und Silben zur Voraussetzung hat, sind die »Fordrungen des Ohrs«11 zu berücksichtigen. Die Frage, ob Klopstocks Überlegungen zum Hören und Sprechen des Verses letztlich dem Medium Schrift verhaftet bleiben oder aber einen Medienwechsel von der Schrift zur Stimme vollziehen, kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden.12 7

Zur Geschichte der Klopstock-Forschung vgl. Katrin Kohl: Friedrich Gottlieb Klopstock. Stuttgart, Weimar 2000, S. 4–11. 8 Vgl. dazu jetzt: Frauke Berndt: Poema/Gedicht. Die epistemische Konfiguration der Literatur um 1750. Tübingen 2011. 9 Friedrich Gottlieb Klopstock: Die deutsche Gelehrtenrepublik. Hrsg. v. Rose-Maria Hurlebusch. Berlin, New York 1975 (Werke und Briefe, Abt. Werke: VII/1), S. 126. 10 Friedrich Gottlieb Klopstock: Von der Nachahmung des griechischen Silbenmaßes im Deutschen. In: Ders., Ausgewählte Werke. München 1962, S. 1042 – Zitatnachweise aus dieser Ausgabe fortan unter Angabe der Sigle AW und der Seitenzahl. 11 Klopstock: AW 1041. 12 Klopstocks Äußerungen zum öffentlichen Vortrag in Gesellschaft, die sich in der Vorrede

»Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen«

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Statt der Erörterung dieser Frage soll der Fokus erweitert und der Blick auf die Theorie der Verssprache von Karl Philipp Moritz gerichtet werden. Der von Moritz 1786 publizierte Versuch einer deutschen Prosodie setzt in vielfacher Hinsicht Klopstocks versästhetisches Programm fort.13 Moritz, der zahlreiche Oden Klopstocks als Beispiele anführt, versteht wie Klopstock die Verssprache als eine »Sprache des Ohrs«,14 die den Anforderungen dieses menschlichen Organs und nicht den Vorgaben des Verstandes Folge zu leisten hat. Und auch bei Moritz gibt es eine Reflexion darüber, welche Bedeutung die Sprechwerkzeuge des Menschen für die Verssprache haben. Diese Sprechwerkzeuge müssen, so die von Moritz erhobene Forderung, genügend Zeit haben, die Wörter und Silben ohne Druck und Nötigung aussprechen zu können. Eine Nötigung erfolgt immer dann, wenn die Sprache unter dem »herrschenden Gesetz des Bedeutenden« (S. 16) steht, wenn sie gezwungen ist, etwas mitzuteilen, wenn der Gebrauch der Sprache vom »Bedürfniß, sich verständlich zu machen« (S. 32), bestimmt wird. Alle diese Zwänge kennzeichnen nach Moritz die Prosasprache, die er von einer gewaltsamen Struktur durchzogen sieht. Die vom Gesetz der Bedeutung und vom Zwang der Mitteilung beherrschte Prosasprache vergewaltigt das Ohr und die Sprechwerkzeuge des Menschen. Sie zerstört damit jeden Anspruch auf ein Mit- und Nebeneinander der Wörter und Silben: Die Bedeutung greift bei uns allenthalben ein, und zerstört Verhältnis, Harmonie und Wohlklang; sie läßt die Stimme über eine unbedeutende Silbe hinschlüpfen, hinschmettern, oder hinrasseln, das Ohr mag dabei zurechtkommen, wie es wolle. (S. 12)

Dieser Zerstörung steht nach Moritz das von der antiken Verssprache beherzigte Gebot gegenüber, dass »weder dem Ohre noch den Sprachwerkzeugen die mindeste Gewalt angethan werden« (S. 10) darf. Erreichbar ist dies durch eine Suspendierung des »herrschend[en] Gesetz[es] des Bedeutenden« (S. 16). Alle Wörter und Silben müssen, so Moritz, unabhängig von ihrer Bedeutung den »gleichen Werth« (S. 27) erhalten. Erst durch diese Gleichberechtigung, die prosodisch einen Ausgleich der Zeit- und Betonungsverhältnisse bedeutet, wird die Gewalt der Prosasprache überwunden: Das gewaltsame Hinstreben nach der Silbe, die den Hauptgedanken in sich faßt, ver-

zum zweiten Band des Messias finden, und seine Überlegungen zur Praxis der Deklamation deuten darauf hin, dass ein Medienwechsel stattfindet. 13 Zu Moritz’ Versästhetik, die im Gegensatz zur Kunsttheorie des Autors noch nicht hinreichend gewürdigt wurde, vgl. jetzt die ausführliche Analyse in: Brokoff: Geschichte der reinen Poesie, S. 137–183. 14 Karl Philipp Moritz: Versuch einer deutschen Prosodie. Hrsg. v. Thomas Saine. Darmstadt 1975 [ND der Ausg. 1786], S. 15 f. – Zitatnachweise im Folgenden im Text.

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wandelt sich in ein sanftes, mit sich selbst genügsames auf und nieder Wallen. (S. 24)

Das Vorhaben, dem Ohr und den Sprechwerkzeugen keine Gewalt anzutun und den Wörtern und Silben der Verssprache Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, führt eine Kritik an der Verstandes-, Gedanken- und Bedeutungsorientierung der Prosasprache mit sich. Diese Kritik ist gewissermaßen die Kehrseite der Hinwendung zur sinnlichen Qualität der Verssprache, die bei Moritz ganz im Zeichen der Harmonie, des Wohlklangs und der Sanftheit steht.

3. In Moritz’ Versästhetik verlieren der Gedanke und die mit ihm zusammenhängende Bedeutung ihre höchste Stellung in der Hierarchie der Werte. Sind die tönenden Wörter und Silben in der Prosa dem Gedanken und dessen Bedeutung untergeordnet, so befreien sie sich in der Verssprache aus dieser Unterordnung. Damit ist keine vollständige Suspendierung des Gedankens, kein fröhliches Spiel des Signifikanten verbunden, wohl aber eine Auflösung und ein Ausgleich des hierarchischen Gefälles: Die Silbe ge in Geliebter ist mir nun nicht mehr bloß wichtig, in so fern sie die Person, die ich anrede, als den Gegenstand meiner Liebe, bezeichnet, und also meinen Gedanken ausdrückt; sondern auch in so fern sie, als eine kurze auf eine lange Silbe folgt, mit welcher sie nun zusammengenommen einen sanften Fortschritt meiner Rede ausmacht, der dem unmittelbar darauf folgenden gleich ist, […]. (S. 44)

Welche Radikalität dieses Konzept in sich birgt, zeigen weitere Äußerungen von Moritz. So reduziert Moritz an einer Stelle die Wörter und Silben, die auch in der Verssprache Träger von Gedanken und deren Bedeutung sind, auf das »Aufeinanderfolgende« (S. 38) ihrer Bewegung. Doch dies ist noch nicht der Endpunkt des von Moritz ins Auge gefassten Transformationsprozesses. Das Gefallen an der sanft fortschreitenden Verssprache zeichnet nicht nur den Verse sprechenden bzw. hörenden Menschen aus. Vielmehr sieht Moritz in der Verssprache eine Eigendynamik am Werk und bescheinigt dieser ein Gefallen an sich selbst. Die Verssprache, so Moritz an entscheidender Stelle, »hört sich gern, so oft wie möglich, wieder tönen, darum verweilet sie, wo sie kann, auch auf der unbedeutendsten Silbe, […]« (ebd.). Mit dem Sich-selbst-Gefallen der Verssprache unabhängig von der Bedeutung ist zweifellos ein Extrempunkt erreicht, an dem die Selbstbezüglichkeit der Verssprache offenkundig wird. Eine solche Selbstbezüglichkeit der Verssprache ist bereits bei Klopstock angelegt, der bekanntlich Oden über das Schreiben von Oden geschrieben hat. Und auch eine bedeutungskritische Tendenz lässt sich bei Klopstock ausmachen.15 Dies 15

Vgl. dazu Brokoff: Geschichte der reinen Poesie, S. 163–171.

»Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen«

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zeigt eine Stelle aus der Abhandlung Vom deutschen Hexameter, die 1779 erschienen ist: Wir bekommen die Vorstellungen, welche die Worte, ihrem Sinne nach, in uns hervorbringen, nicht völlig so schnell, als die, welche durch die Worte, ihrer Bewegung nach, entstehn. Dort verwandeln wir das Zeichen erst in das Bezeichnete; hier dünkt uns die Bewegung geradezu das durch sie Ausgedrückte zu sein.16

Anzuführen ist in diesem Kontext auch ein Epigramm Klopstocks, demzufolge die Wortbewegung imstande ist, etwas »auszudrücken, was nicht Wortessinn, nicht Klang vermag«.17 Auf der Grundlage dieser Poetik der schnellen Wortbewegung wurde Klopstock eine Emanzipation vom Semantischen zugeschrieben, die den Autor aus der Epoche der Aufklärung in die avantgardistische Moderne des 20. Jahrhunderts befördert.18 Dass bei solchen Unterfangen eine gewisse Vorsicht geboten ist, soll abschließend anhand der Frage erörtert werden, inwiefern die Emanzipation der Verssprache von der Bedeutung, die sowohl Moritz’ als auch Klopstocks Theorie charakterisiert, Auswirkungen auf das Verhältnis der Wörter und Silben zur Sache der Aufklärung hat.

4. Zu diesem Zweck ist der Blick auf eine Rezension zurückzuwenden, die Lessing im Jahr 1759 in seinen Briefen, die neueste Litteratur betreffend vorgelegt hat. Gegenstand von Lessings Rezension im 51. Literaturbrief sind u. a. zwei Gedichte von Klopstock, zu denen auch die Ode über die Allgegenwart Gottes gehört, die später den Titel Dem Allgegenwärtigen erhält. Lessing schreibt über dieses in freien Rhythmen verfasste Gedicht, dessen ungewöhnliches Silbenmaß er eingehend erörtert: Ein würdiger Anfang! Aber wenn ich Ihnen sagen sollte, was ich denn nun aus dem Folgenden, von der Allgegenwart Gottes mehr gelernet, als ich vorher nicht gewusst; welche von meinen dahin gehörigen Begriffen, der Dichter mir mehr aufgeklärt; in welcher Überzeugung er mich mehr bestärket: so weiß ich freilich nichts darauf zu antworten. Eigentlich ist das auch des Dichters Werk nicht.19 16

Friedrich Gottlieb Klopstock: Vom deutschen Hexameter. In: Ders.: Gedanken über die Natur der Poesie. Dichtungstheoretische Schriften. Hrsg. v. Winfried Menninghaus. Frankfurt a. M. 1989, S. 148. 17 Friedrich Gottlieb Klopstock: Der Vers der meisten Neuern. In: Ders.: Epigramme. Text und Apparat. Hrsg. v. Klaus Hurlebusch. Berlin, New York 1982 (Werke und Briefe, Abt. Werke: II), S. 21. 18 Vgl. Winfried Menninghaus: Klopstocks Poetik der schnellen »Bewegung«. In: Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie, S. 259–361. 19 Gotthold Ephraim Lessing: Werke 1758–1759. Hrsg. v. Gunter E. Grimm. Frankfurt a. M. 1997 (Werke und Briefe, Bd. 4), S. 618 f.

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Man sollte sich Lessings Aussage in aller Deutlichkeit vor Augen führen: Es gehört nicht zu den Aufgaben des Dichters, zur Aufklärung der Begriffe des Lesers beizutragen. Das heißt aber, dass hier am Beispiel der Verssprache Klopstocks die Sache der Aufklärung von »des Dichters Werk« dissoziiert wird. Beides, die Sache der Aufklärung und »des Dichters Werk«, ist getrennt voneinander zu sehen. Doch das ist gewissermaßen nur die halbe Wahrheit, die erst vollständig wird, wenn man Lessings Rezension weiterliest: Eigentlich ist das auch des Dichters Werk nicht. Genug, daß mich eine schöne, prächtige Tirade, über die andere, angenehm unterhalten hat; genug, daß ich mir, während dem Lesen, seine Begeisterung mit ihm zu teilen geschienen habe: muß uns denn alles etwas zu denken geben?20

Auch wenn also die gedankliche Leistung von Klopstocks Gedicht fraglich ist, erfüllt das Gedicht doch eine bestimmte Funktion: Es unterhält und verbleibt damit im Rahmen einer rhetorisch fundierten Ästhetik. Das ist in Bezug auf Klopstocks Werk keine neue Einsicht, aber sie verdient festgehalten zu werden, angesichts der Tendenz, aus ihm einen Vertreter der modernen Poesie zu machen. Man wird in diesem Kontext auch anführen müssen, dass Klopstock neben der Unterhaltungsfunktion bis zum Schluss an der Wirkungsfunktion der poetischen Rede festhält, die die Seele des Rezipienten in Bewegung zu setzen vermag – Lessings »Begeisterung« ist dafür ein eindrückliches Beispiel. Zu berücksichtigen ist ferner Klopstocks stete Bezugnahme auf die rhetorische Angemessenheitsforderung: Wenn der Ausdruck dem Gedanken ebenso angemessen ist, als der Gedanke dem Gegenstande, […]; so hat der Dichter allen Foderungen, die man ihm tun kann, genug getan.21

Und dennoch haben diejenigen nicht ganz Unrecht, die Klopstock an der Grenze der Epoche von Aufklärung und Empfindsamkeit, und das heißt: im Übergang zur modernen Kunst ansiedeln. Dies zeigt ein abschließender Blick auf Klopstocks Epigramm Leiserer, lauterer Mitausdruck, das es in sich hat: Leiserer, lauterer Mitausdruck der Gedanken des Liedes Sei die Bewegung des Verses. Sooft er diesem Gesetz nicht Treu und hold ist, gehet er nur, um zu gehn; und verirrter Tritt er einher, wenn er gar anwandert gegen den Inhalt. Doch stets treuen Gehorsam verbieten nicht wenige Worte, Und die Stellungen, welche der Sinn und die Leidenschaften ordnen,

20 21

Ebd., S. 619. Klopstock: AW 993.

»Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen«

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Auch Gedanken, die dem Verein mit Bewegung sich weigern. Deutsche, strebet, ihr könnts, nach dem Kranze der seltensten Untreu!22

Nahezu alle der in diesem Epigramm versammelten Gedanken sind mit der Tradition der Rhetorik und Poetik vereinbar: dass die Bewegung des Verses die Gedanken des Liedes mit ausdrücken solle; dass der Aufstand gegen den Inhalt ein zu vermeidender Irrweg sei; dass es bestimmte Worte, Wortinhalte und Wortstellungen gebe, die ein Aussetzen des angezeigten Gleichschritts von Gedanken und Versbewegung notwendig machten. Interessanter ist demgegenüber die vom Sprecher des Gedichts ins Spiel gebrachte Untreue. Sie wird in der zweiten Hälfte des Epigramms an zwei Stellen thematisiert. Erstens in der schon angesprochenen Erwägung, dass bestimmte Worte, Wortstellungen und Gedanken eine Untreue gegen das ansonsten gültige »Gesetz« des Mitausdrucks erfordern. Und zweitens im Aufruf an die Deutschen, diese Untreue nicht nur aus rein sachlichen Erwägungen, sondern auch aus einem gewissen Mut zur Neuerung heraus zu wagen. Der interessanteste Punkt ergibt sich jedoch, wenn man diesen Aufruf zur Untreue mit jener Untreue in Beziehung setzt, die in der ersten Hälfte des Epigramms, im ersten und zweiten Vers, thematisiert wird. Was wäre, wenn sich das Wagnis der Untreue, von dem im letzten Vers die Rede ist, auch auf den im zweiten Vers angesprochenen Fall bezöge: zu gehen, um zu gehen – sich zu bewegen, um sich zu bewegen? Dies ist exakt die Definition, die kurze Zeit nach Klopstock Moritz der selbstgenügsamen Verssprache geben wird: »sich zu bewegen, bloß um sich zu bewegen« (S. 31). Bei Moritz findet die Bewegung der Verssprache rein um ihrer selbst willen statt. Die Bewegung hört damit auf, der »Mitausdruck der Gedanken des Liedes« zu sein. Sie wird zum selbstzweckhaften Ausdruck. Bei Moritz, nicht schon bei Klopstock, erfolgt die Trennung zwischen der Sache der Aufklärung und dem Werk des Dichters, von der implizit bereits Lessing gesprochen hat. Aber keimhaft angelegt ist diese Trennung bereits in Klopstocks Epigramm.

22

Ebd., 186.

Kathrin Holzapfel (Kassel) Die Baukunst als ›schöne Sache‹ der Aufklärung? Ein Blick auf Georg Forsters Architekturbeschreibungen

Wir gingen in den Dom und blieben darin, bis wir im tiefen Dunkel nichts mehr unterscheiden konnten. So oft ich Kölln besuche, geh ich immer in diesen herrlichen Tempel, um die Schauer des Erhabenen zu fühlen.1

Mit dieser so eingeleiteten Beschreibung des Kölner Doms in den Ansichten vom Niederrhein schuf Forster die wohl meist besprochene Architekturansicht innerhalb seiner Schriften, die darüber hinaus auch als »Gründungsdokument des Gothic Revival«2 angesehen wird. Ebenso breit wie sich die Besprechung dieser Passage darstellt, zeigt sich aber auch ihre Interpretation. So stehen sich Einordnungen in Klassik oder Romantik in der Forschung ebenso gegenüber, wie Nachweise einer produktionsästhetischen Argumentation einerseits und solche einer wirkungsästhetischen auf der anderen Seite. In dieser Untersuchung soll nun nicht die epochenspezifische Einordnung in literaturwissenschaftliche oder kunsthistorische Konzepte die Analyse leiten, sondern vielmehr die Beschaffenheit von Forsters Architekturekphrasen – ihre Poetizität insbesondere – herausgearbeitet werden. Im Anschluss daran wird die Aufwertung der Architektur im Ensemble der Künste als ›Sache der Aufklärung‹ diskutiert. Zentral ist dabei die Frage, ob die Baukunst zu den eher beiläufigen Sachen der Aufklärung gehört oder ob es sich die Aufklärung zur Sache macht, die Architektur kunsttheoretisch und ästhetisch aufzuwerten, sie als ›schöne Sache‹ zu begreifen. Grundlegend für die Untersuchung von Forsters Architekturbeschreibungen ist im Folgenden Schleiermachers memoriakritische Bildästhetik, wonach die Individualität einer Ekphrase – je individueller ›gesehen‹ statt kulturgeschichtlich ›wiedererkannt‹ wird – auch den Grad der Poetizität der jeweiligen Beschreibung ausmacht.3 Denn genau darin unterscheiden sich poetische Ekphrasen von beispielsweise kunstwissenschaftlichen Beschreibungen: Erstere verdanken ihre Qualität dem ästhetischen Verhalten des Beobachtenden zum Bild; letztere erschöpfen sich 1

Georg Forster: Ansichten vom Niederrhein, von Brabant und Flandern, Holland, England und Frankreich im April, Mai und Junius 1790. Hrsg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Bearb. v. Gerhard Steiner. Berlin 1958 (Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, Bd. IX), S. 23 [fortan zit. als AA]. 2 Jens Bisky: Poesie der Baukunst. Architekturästhetik von Winckelmann bis Boisserée. Weimar 2000, S. 181. 3 Vgl. Stefan Greif: Die Malerei kann ein sehr beredtes Schweigen haben. Beschreibungskunst und Bildästhetik der Dichter. München 1998, S. 47 ff.

Die Baukunst als ›schöne Sache‹ der Aufklärung?

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in der vollständigen Wiedergabe des im Bild Sichtbaren und dessen Decodierung nach traditionellen Schemata. Auf Forsters Dombeschreibung angewendet, kann mithilfe dieser Unterscheidung zwischen poetischen und memorierenden Ekphrasen die besondere Qualität seiner Beschreibung herausgearbeitet werden, indem sein ästhetisches Verhalten zum Kunstwerk untersucht wird. Diesbezüglich fällt auf, dass Forster schon zu Beginn des Domkapitels und noch vor der eigentlichen Ekphrase dem Leser seine Intention mitteilt. Bezeichnenderweise heißt es einleitend, er wolle »Jahrhunderte später, dem Künstler nach [fühlen]« und »die Bilder seiner Phantasie [ahnden]«.4 Eine detailgenaue Beschreibung des Doms oder die memorierende Darstellung einzelner Elemente wird hier explizit ausgespart, sondern das sinnliche Erfassen des Kunstwerks in das Zentrum des Interesses gerückt. Erst danach beginnt schließlich die eigentliche Ekphrase, in der Forster sein »Durchwandern« des »redenden Denkmals« nachzeichnet: In ungeheurer Länge stehen die Gruppen schlanker Säulen da, wie die Bäume eines uralten Forstes: nur am höchsten Gipfel sind sie in eine Krone von Ästen gespalten, die sich mit ihren Nachbarn in spitzen Bogen wölbt, und dem Auge, das ihnen folgen will, fast unerreichbar ist. Läßt sich auch schon das Unermeßliche des Weltalls nicht im beschränkten Raume versinnlichen, so liegt gleichwohl in diesem kühnen Emporstreben der Pfeiler und Mauern das Unaufhaltsame, welches die Einbildungskraft so leicht in das Gränzenlose verlängert.5

Forster schildert hier den gotischen Chor als sinnlich überwältigendes Ereignis und damit, wie es bei Bisky heißt, die »paradoxe Vorstellung der im Raum sinnlich erscheinenden Unendlichkeit«.6 Doch erscheint diese Unendlichkeit nicht ohne Hilfe. Forster weist in der zitierten Passage selbst darauf hin, dass sich »das Unermeßliche« eben nicht »im beschränkten Raume versinnlichen« lasse. Dazu bedarf es vielmehr einer ›Idee‹ des »Unaufhaltsamen«, die dem »kühnen Emporstreben der Pfeiler und Mauern« des Doms innewohnt, schließlich aber erst von der »Einbildungskraft« ins »Gränzenlose« und damit Unendliche vollendet werden kann. Die Imagination als vollendende Kraft löst damit das von Bisky behauptete Paradoxon auf und erscheint als produktive Komponente der Wahrnehmung auch an anderen Stellen im Werk Forsters. Im Anschluss an sein Gedankenbild vom Amsterdamer Hafen heißt es beispielsweise: »Das Ganze ist nur da für die Phantasie, die es aus einer gewissen Entfernung unbefangen beobachtet und die größeren Resultate mit künstlerischer Einheit begabt.«7 4 5 6 7

Forster: Ansichten vom Niederrhein, S. 23. Ebd. Bisky: Poesie der Baukunst, S. 181 u. S. 184. Forster: Ansichten vom Niederrhein, S. 300.

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5. Sektion · Kathrin Holzapfel

In dieser ebenfalls oft besprochenen Passage, in der Forster eine seiner umfassenden Stadtansichten darlegt, wird neben ästhetischen Gesichtspunkten auch sein gesellschaftliches und historisches Interesse deutlich. Folgt man Peitsch, sind beide mit den »Schönheiten des Städtebaus und der Architektur«8 untrennbar verbunden. Dass die Ästhetik den richtigen Rahmen für die Untersuchung von Forsters Architekturansichten darstellt, wurde bislang, u. a. aufgrund dieser Feststellung, oft bezweifelt. Dazu mag beigetragen haben, dass Forster in seinen Architekturbeschreibungen, wie von Peitsch angemerkt, eben nicht nur sein Verhältnis zum ›Schönen‹ thematisiert, sondern sich der Baukunst darüber hinaus auch in Hinblick auf andere Aspekte nähert. So finden sich innerhalb der Architekturbetrachtungen – ebenso wie in anderen Beschreibungen Forsters, etwa von Bildern oder Landschaften – immer mehrere Ebenen der Ekphrase. In seiner Amsterdamer Hafenansicht stehen beispielsweise allgemeine Beschreibungen von Schiffen sowie Gedanken zum gesellschaftlichen Zusammenhang von Handel und Fortschritt und poetische Ekphrasen nebeneinander. Einleitend heißt es diesbezüglich etwa: »Vor uns breitete sich die unermessliche Wasserfläche des Hafens aus, und in dämmernder Ferne blinkte der Sand des flachen jenseitigen Ufers. Weit hinabwärts zur Linken hob sich der Wald von vielen tausend Mastbäumen der Kauffahrer.«9 Im weiteren Verlauf wechseln sich dann poetische und allgemeine Beschreibungen immer wieder ab. Den »schwimmenden Schlössern« und »Wunderbauten« folgen beispielsweise genaue Betrachtungen der Schiffe im Hafen, »zur Rechten lagen die Schiffe der ostindischen Kompanie bis nach der Insel Osterburg, wo ihre Werfte sind«, und gesellschaftlichhistorische Reflexionen, »ich verweile noch einen Augenblick auf diesem Schauplatz der umfassendsten Geschäftigkeit; denn sie ist es, der die Stadt und selbst die Republik ihr Dasein und ihre Größe verdanken, und in der Betrachtung dieses Phänomens werden zugleich die Hauptzüge des Nationalcharakters offenbar«.10 Diese Komplexität und Mehrschichtigkeit der Beschreibungen Forsters sollte jedoch nicht zu dem Schluss führen, dass deren ästhetische Qualität nicht zur Analyse kommen darf, ebenso wie ihre poetischen Elemente. Vielmehr sollte man in diesem Zusammenhang fragen, ob es ein ›rein‹ ästhetisches Interesse bzw. Verhältnis überhaupt geben kann und ob eine beschreibungsästhetische Analyse der jeweiligen Ekphrase 8 Helmut Peitsch: Georg Forsters Ansichten vom Niederrhein. Zum Problem des Übergangs vom bürgerlichen Humanismus zum revolutionären Demokratismus. Bern, Frankfurt a. M., Las Vegas 1978, S. 459. Peitsch macht selbst trotz dieser Einschränkung im weiteren Verlauf seiner Ausführungen darauf aufmerksam, dass Forster »zu den Werken der Architektur […] in den Ansichten ein ästhetisches Verhältnis« zeige, da »der gesellschaftliche Verwendungszusammenhang in Forsters Wahrnehmung von Architektur keine Rolle« spiele. Ausschlaggebend ist für Peitsch diesbezüglich die Dombeschreibung (ebd., S. 464 f.). 9 Forster: Ansichten vom Niederrhein, S. 297. 10 Ebd., S. 299.

Die Baukunst als ›schöne Sache‹ der Aufklärung?

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nicht gewinnbringender ist als generalisierende Schlüsse von derselben auf Forsters grundsätzliches Verhältnis zum jeweils beschriebenen Gegenstand. Rückt man in Hinblick auf sein Gesamtwerk nämlich die jeweilige ›Beschreibungsart‹ – und in dieser Untersuchung die poetische Architekturbeschreibung – in den Mittelpunkt des Interesses, so kann man Forsters poetischen Ekphrasen gerecht werden, ohne ihn in der Hinsicht festschreiben zu müssen, den jeweiligen Gegenstand ausschließlich poetisch zu betrachten. Dies würde zwar die traditionellen kunst- und literaturwissenschaftlichen epochenspezifischen Einordnungen in den Hintergrund rücken, Forsters Beschreibungsstil aber in seiner Beschreibungsqualität untersuchbar machen. Im Gegensatz zu den bisherigen Versuchen, Forster mit den herkömmlichen Unterscheidungsparadigmen fassen zu wollen und die daraus resultierende vereinfachende Diagnose der Widersprüchlichkeit seiner Aussagen, würde der vorliegende Ansatz die Möglichkeit darstellen, Forsters komplexe Ekphrasis herauszuarbeiten und zu analysieren. Betrachtet man nun unter den eben erläuterten Gesichtspunkten die Beschreibung des Kölner Doms im Speziellen, so muss man hier feststellen, dass Forster nicht nur seinen Blick auf den Dom als Kunstwerk richtet, sondern auch aktiv all das ausschließt, was nicht in die Betrachtung mit einfließen soll. So heißt es wie folgt: Ich erzähle Dir nichts von den berüchtigten heiligen Drei Königen und dem sogenannten Schatz in ihrer Kapelle; nichts von den Hautelissetapeten und der Glasmalerei auf den Fenstern im Chor; nichts von der unsäglich reichen Ciste von Gold und Silber, worin die Gebeine des heiligen Engelberts ruhen, und ihrer wunderschönen ciselirten Arbeit, die man heutiges Tages schwerlich nachzuahmen im Stande wäre.11

Von all dem will Forster uns nichts erzählen – und tut es doch. So muss man nicht nur fragen, ob Forster den gesellschaftlichen Zusammenhang hier unberücksichtigt lässt, sondern vor allem warum ihm gerade Kirchen ›herrliche Tempel‹ und in dieser Ausschließlichkeit ganz Kunstwerk sind. Denn mit dieser Einordnung, welche gerade in religiösen Bauten von deren Verwendungszusammenhang völlig absieht, provoziert Forster: nämlich den Verdacht, eben durch das Nichtnennen deutlich Stellung zu gesellschaftlichen Fragen zu beziehen. Bezeichnenderweise macht er so nicht nur seine Position der Religion gegenüber deutlich, sondern widerspricht zudem dem bürgerlichen Schönheitsbegriff. Dieser definierte sich seinerzeit ja nicht über die kirchliche, sondern über die griechische Baugeschichte. Indem Forster nun in Kirchen ›herrliche Tempel‹ erkennt, geht er in doppelter Weise gegen dieses bürgerliche Schönheitsideal vor: Da er den gotischen Bau rühmt, relativiert er einerseits die im 18. Jahrhundert aus der Antike übernommenen Schönheitsideale. Andererseits errichtet er sich am Beispiel des Doms einen ästhetisch wirkmächtigen ›Tempel‹, der 11

Forster: Ansichten vom Niederrhein, S. 24.

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aus aufgeklärt-bürgerlicher Sicht im Kontext religiöser Unmündigkeit wahrgenommen wird, in Forsters religionskritischer Perspektive nun aber in Konkurrenz zu den ›heiligen‹ Bestimmungen des Schönen in der Aufklärung tritt. In Bezug auf Schleiermachers Bildbegriff und das ›erinnerungsfreie Sehen‹ muss man Forster zudem eine besondere Kompetenz zuschreiben: Er ›sieht‹ nicht nur den Dom individuell, d. h. frei von allgemeinkulturellen Vorprägungen, als Kunstwerk, sondern schließt zuvor aktiv all diese kulturrelevanten Aspekte aus. So wird deutlich, dass Forster, obwohl er um die kulturellen Inhalte des Bauwerks weiß, den Dom nicht nur individuell betrachten kann, sondern ihn bewusst in genau dieser Art und Weise sehen will. Im weiteren Verlauf von Forsters poetischer Dombeschreibung folgt schließlich die Gegenüberstellung von gotischer und griechischer Bauart – eine Gegenüberstellung mit der sich Forster in die Geschichte der Architekturtheorie einschreibt. In ihr nämlich konzentrieren sich zentrale architekturtheoretische und -ästhetische Fragen der Zeit. Bei Forster findet sich in dieser Gegenüberstellung eine gleichberechtigte Darstellung beider Baustile, die zugleich aus seiner vorherigen Stellungnahme resultiert. Die Architektur im griechischen Stil schließt sich für Forster an »alles an […], was da ist, an alles, was menschlich ist«12 – sie bedient sich kulturell festgelegter Inhalte, gründet sich auf klassische Formen und Regeln und enthält so vertraute Motive. Die gotische Baukunst hingegen erscheint Forster wie »aus einer anderen Welt, wie Feenpalläste«.13 Hier finden, in Hinblick auf die zeitgenössische klassizistische Kunstauffassung, keine »beruhigenden Wiederholungen«14 für den Rezipienten mehr statt. Vielmehr wird die »Differenz zwischen der fremden und der eigenen Identität«15 sichtbar und verunsichert den Betrachter – aus dieser Unsicherheit heraus kann jedoch nach Schleiermacher die individualpoetische Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk erst beginnen. Dass Forster in der Fremdheit des gotischen Baus eine besondere Faszination erkennt, Fremdheit somit von ihm positiviert wird, prädestiniert ihn folglich als individuellen poetischen Betrachter. Insofern verurteilt er auch das Abweichen von den klassischen Regeln nicht, sondern stellt den je spezifischen Wert von Gotik und griechischer Baukunst einander gegenüber. Betrachtet man diese Parallelisierung der Baustile bei Forster vor dem Hintergrund der architekturtheoretischen Diskussion der Zeit, so lässt sich die Entwicklung der Gotikinterpretation als »Ariadnefaden im Irrgarten«16 bezeichnen. Denn diese sich entwickelnde Positivierung der gotischen Bauart ermöglichte im Folgenden den Übergang vom Vitruvianismus zu einer historisch fundierten Architekturtheorie. Forsters Beschreibung findet dabei in genau diesem Zusammenhang Eingang 12 13 14 15 16

Ebd. Ebd. Greif: Die Malerei kann ein sehr beredtes Schweigen haben, S. 48. Ebd. Bisky: Poesie der Baukunst, S. 6.

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in zentrale Untersuchungen. So bezeichnet Philipp in seiner Arbeit zur Architekturtheorie Um 1800 Forsters Text als »vielleicht folgenreichsten«17 für die weitere Gotikdiskussion im 19. Jahrhundert und auch Bisky bespricht ihn in seiner Poesie der Baukunst. Trotz der positiven Einschätzung bezüglich der Nachwirkungen von Forsters Beschreibung sieht Philipp allerdings »nichts Neues« in der Domdarstellung, sondern reduziert dieselbe auf den Aspekt des »Künstlergenies«. Zu dessen Darstellung habe der Kölner Dom Forster lediglich als »Folie« gedient, vergleichbar beispielsweise mit Goethes Beschreibung des Straßburger Münster.18 Dass Forster sich in seinem Domkapitel auch mit genieästhetischen Überlegungen auseinandersetzt, ist sicherlich richtig. Jedoch vergisst er darüber hinaus nie das Kunstwerk in seiner Gesamtheit – als Produkt des Künstlers bzw. Genies einerseits, aber eben auch dessen Wirkung auf den Betrachter findet andererseits große Beachtung. Denn, wie weiter oben bereits angemerkt, ist es der Rezipient, der dem Künstler beim Betrachten seines Kunstwerks »nachfühlen« will. Forster praktiziert dabei dieses ›Nachfühlen‹ der Wirkungen, die der Dom in seinen Betrachtern auslöst, auf zweierlei Weise. Zum einen, indem er selbst das Kunstwerk ›sieht‹, und zum anderen, indem er sich im zweiten Teil seiner Beschreibung dem Kunsterleben seines Begleiters Iffland zuwendet. Wenn Forster dann im Folgenden vom »Siegel des Herrschers« spricht, das »wir an jedem Kunstwerk […] erblicken wollen«, so argumentiert er hier sicher ganz im Sinne der zeitgenössischen Genieästhetik.19 Diese Aussage korrespondiert aber auch – und das ist für die Untersuchung von Forsters Beschreibungsart von höherer Relevanz – der »unplatonisch modernen Bildästhetik«20 Schleiermachers. Denn das ausschließliche Wiedererkennen kultureller Codes in Kunstwerken zeigt nicht nur die geringe Poetizität von Ekphrasen, sondern auch die – aus Sicht des Schreibenden – ebenso geringe Autonomie des beschriebenen Kunstwerks in seiner ästhetischen Wertigkeit. Diese kann nur vom Künstler ›erhöht‹ werden, indem sich »im künstlerischen Schaffensprozeß sein subjektives Aufbegehren gegen eine als übermächtig erlebte Wirklichkeit«21 ausdrückt.

17

Klaus Jan Philipp: Um 1800. Architekturtheorie und Architekturkritik in Deutschland zwischen 1790 und 1810. Stuttgart, London 1997, S. 194. 18 Ebd., S. 195. Im Gegensatz zu Philipp weist Bisky daraufhin, dass sich Forster mit seinem Begriff von Einbildungskraft und deren produktiver Verwendung hinsichtlich der Betrachtung und Beschreibung von Kunstwerken von Hirschfeld und dem anonymen Verfasser der Untersuchungen unterscheide. Denn in deren Abhandlungen sollte die Imagination »Bekanntes heraufrufen«, bei Forster hingegen selbsttätig »Gestalten […] ersinnen, Neues und Fremdes […] erkennen« (Bisky: Poesie der Baukunst, S. 186). 19 Forster: Ansichten vom Niederrhein, S. 26. 20 Greif: Die Malerei kann ein sehr beredtes Schweigen haben, S. 54. 21 Ebd., S. 50.

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Was wäre aber die Kunst, was hätte sie, hinweggesehen vom Sinnlichen, Erweckendes und Anziehendes für unsern denkenden Geist, wenn es nicht diese, dem Naturstoff, den sie bearbeitet, eingeprägte Spur der lebendigwirkenden, umformenden Menschheit wäre? Das Siegel des Herrschers in der Natur ist es eben, was wir an jedem Kunstwerk, wie das Brustbild eines Fürsten auf seiner Münze, erblicken wollen; und wo wir es vermissen, da ekelt die allzusklavisch nachgeahmte Natur uns an.22

Ohne den subjektiven Anteil des Künstlers – sein »Siegel« – bleibt auch dem Betrachter nur leere Reproduktion vorgeformter Inhalte. Als ›leer‹ erweist sich die Rezeption solcher Kunstwerke nach Forster deshalb, weil der »denkende Geist« mehr bedarf als ›nur‹ der Sinnlichkeit des Kunstwerks: Ohne Genie in der Produktion fehlt dem Werk folglich auch seine spezifische Wirkung auf den Betrachter und so bleibt Letzterem nur der »Ekel« vor der »allzusklavisch nachgeahmte[n] Natur«.23 Dass es Forster neben dem Aspekt der Produktion auch um die wirkungsästhetische Qualität von Kunstwerken geht, zeigen nicht nur obige Überlegungen, sondern auch folgende Äußerung, die er in Zusammenhang mit der Düsseldorfer Gemäldegalerie macht: Die einzige Art, den Werth eines Gemäldes verständlich zu machen, ist die, daß man die Empfindungen ausdrückt, die es rege machte. Diese sprechen, diese können vom Herz in das Herz übergehen, und ahnden lassen, nicht wie das Kunstwerk wirklich beschaffen ist, aber gleichwohl, wie viel es enthalten mußte, um diese oder jene Kräfte zu äußern.24

Nach Forster – das zeigt diese Bemerkung ganz deutlich – soll »die Phantasie sich Gestalten ersinnen«, »denen sie diese Wirkung zutraut«.25 Der Betrachter und dessen durch das Kunstwerk hervorgerufene Empfindungen stehen damit im Mittelpunkt seiner Überlegungen – sei es in der direkten Anschauung oder sekundär durch die Beschreibung des Ekphrasten gesehen, der so die Einbildungskraft des Lesers anregt. Die Entwicklung einer solchen Art der Wahrnehmung in Bezug auf Bauwerke, die sich »ausschließlich an das sinnlich Wahrnehmbare von Bauten und die von dieser Wahrnehmung ausgehenden Gefühlslagen«26 wendet, kann man indes auch in der architekturästhetischen Diskussion der Spätaufklärung beobachten. Im Mittelpunkt steht dabei die sogenannte Lehre von den unterschiedlichen Charakteren der Archi22

Forster: Ansichten vom Niederrhein, S. 26. Ebd. Auch Schleiermacher plädiert dafür, dass der Maler kein Kunstwerk schaffen soll, vor dem der Betrachter sich selbst verliert, vielmehr provoziere der Maler den »drohenden Gedächtnisverlust« gerade dadurch, dass »er sich an den vernunftbegabten und fühlenden Betrachter gleichermaßen« wende (Greif: Die Malerei kann ein sehr beredtes Schweigen haben, S. 50). 24 Forster: Tagebücher. In: AA XII, S. 206. 25 Ebd. 26 Philipp: Um 1800, S. 15. 23

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tektur, die Ende des Jahrhunderts einen Ausweg aus den zu starren Regeln der antiken Ordnungsmuster darstellen soll. Architekturtheoretische Äußerungen in diesem Sinne sind u. a. sowohl von Moses Mendelssohn, Christian Cay Lorenz Hirschfeld als auch von Johann Georg Sulzer bekannt. Mendelssohn stellte diesbezüglich bereits 1757 fest, dass die Baukunst Leidenschaften im Menschen hervorrufen könne: »So erregen prächtige und majestätische Gebäude Ehrfurcht und Schauern. Luftschlösser laden zur Fröhlichkeit ein; ländliche Häuser zu Ruhe und Unschuld; Einsideleyen zu Ernst und Tiefsinn, und ein Grabmal kann Leidwesen und Traurigkeit erregen.«27 Die architektonische Charakterlehre des ausgehenden 18. Jahrhunderts fußt nun auf genau dieser Grundüberlegung Mendelssohns, dass man »der Baukunst selbst die Erregung der Leidenschaften nicht ganz absprechen«28 kann. Wurde dabei der Charakter bei Sulzer im »Rahmen der Schicklichkeit noch als das ›Gepräge‹ des Gebäudes verstanden«,29 das auf den Rezipienten wirkt, findet sich in den anonym verfassten Untersuchungen über den Charakter der Gebäude bereits eine sehr viel stärkere Beziehung zum Betrachter. Das Zentrum dieser wohl »exponiertesten architekturtheoretischen Position«30 stellt dabei die Einbildungskraft dar, die in der Betrachtung eines Bauwerks vollenden soll, was über die Gegenständlichkeit des jeweiligen Gebäudes hinausreicht und somit »dem Auge nicht gezeigt werden kann«.31 Nach eben diesem Grundsatz verfährt auch Forster, wie weiter oben bereits gezeigt wurde. Der Einbildungskraft wird in seiner Domekphrase eine produktive Funktion zugeschrieben, weil sie die Idee des Unaufhaltsamen, die das Bauwerk in seinen »Pfeilern und Mauern« nur andeuten kann, vollendet.32 Die Phantasie des Lesers soll dabei, angeregt durch die Empfindungen, die durch die Beschreibung transportiert werden, ›ahnden‹, was das Kunstwerk ›enthalten mußte‹, um die jeweiligen Emotionen im Ekphrasten hervorrufen zu können. Die Entwicklung der architekturtheoretischen Diskussion – weg von den von außen herangetragenen Regeln und hin zur sinnlichen Wirkung – korrespondiert dabei der Entwicklung des allgemeinen Kunstdiskurses während der Spätaufklärung. 27 Moses Mendelssohn (anonym veröffentlicht): Betrachtungen über die Quellen und die Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste (1757). Bd. 1, S. 231–268, hier S. 233. 28 Ebd. 29 Jörg Biesler: BauKunstKritik. Deutsche Architekturtheorie im 18. Jahrhundert. Berlin 2005, S. 228. 30 Biesler: BauKunstKritik, S. 264. 31 Untersuchungen über den Charakter der Gebäude; über die Verbindung der Baukunst mit den schönen Künsten und über die Wirkungen, welche durch dieselben hervorgebracht werden sollen. Mit einer Einf. v. Hanno-Walter Kruft. Nördlingen 1986 [ND der Ausg. Leipzig 1788], S. 101. 32 Forster: Ansichten vom Niederrhein, S. 23.

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Betrachtet man die Architekturtheorie in eben diesem Zusammenhang, so kommt man zu der Einschätzung, dass es sich die Aufklärung durchaus zur Sache macht, die Baukunst ästhetisch aufzuwerten, sie als ›schöne Sache‹ zu begreifen. Diesbezüglich postuliert Philipp beispielsweise, dass »der Versuch die Baukunst als schöne und ästhetische Kunst auf einen Rang mit den bildenden Künsten zu heben, […] die Theoriediskussion des ganzen 18. Jahrhunderts«33 durchziehe und schließlich an dessen Ende ihren Höhepunkt erreiche. Mit den anderen Künsten werde die Architektur auf eine Stufe gehoben, seit man damit begonnen habe, sie mit verwandten Beurteilungskriterien zu untersuchen. Bisky bringt diesen Versuch der Aufwertung der Baukunst Ende des Jahrhunderts auf den Punkt, wenn er postuliert, dass »im Namen des Poetischen und der Einbildungskraft« versucht wurde, »die spezifischen Regeln der Baukunst so zu fassen, dass die Architektur einem allgemeinen, allen Künsten gemeinsamen Verständnis von Schönheit entsprach«.34 Die Grundproblematik, weshalb überhaupt über die Zugehörigkeit der Architektur zum Kanon der schönen Künste diskutiert wurde, liegt dabei in der ihr innewohnenden Dominanz der Funktion begründet. Diese besondere Beschaffenheit der Baukunst spricht bereits Mendelssohn an, wenn er darauf hinweist, dass diese durch den ihr immanenten funktionalen Aspekt dazu gezwungen sei, die »Linien«35 der Schönheiten in einem sehr viel unfreieren Schwung zu zeichnen als dies beispielsweise in der Malerei der Fall sei. Denn nicht im Vergnügen ist der Ursprung der Baukunst zu suchen, sondern »die Nothdurft sich für die Ungestümigkeiten der Witterung und Jahreszeiten zu bewahren, hat die Menschen angetrieben, Gebäude aufzurichten«.36 Sichtbarstes Kennzeichen für die Aufwertung der Baukunst als ›schöne Sache‹ ist jedoch in der Folge, dass die technische und ästhetische Betrachtung von Architektur getrennt verläuft. So findet sich in Sulzers Allgemeinen Theorie der schönen Künste die Architektur zwar formal gleichberechtigt neben den anderen Künsten, jedoch nur der Teil, an welchem der Geschmack seinen Anteil habe. Den technischen Aspekt der Baukunst unterscheidet Sulzer klar von Ersterem und lässt ihn deshalb in seiner Abhandlung außer Acht. Die Architektur wird somit hinsichtlich ihrer Ästhetik besprochen. Die Wirkungen, die durch sie hervorgerufen werden und damit die durch sie erregten ›Leidenschaften‹ stehen im Zentrum der Betrachtung. In Forsters Architekturansichten findet sich diesbezüglich eine Besonderheit, denn sein erweiterter Architekturbegriff schließt auch Nutzbauten in die ästhetische architektonische Betrachtung mit ein. Diese werden von ihm dabei nicht nur in ihrer funktionalen Bedeutung, sondern zudem sinnlich als ›schöne‹ Sache wahrge33 34 35 36

Philipp: Um 1800, S. 16. Bisky: Poesie der Baukunst, S. 7. Mendelssohn: Betrachtungen, S. 466. Ebd.

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nommen: In der sonst als Mangel empfundenen Dominanz der Funktion entdeckt er folglich eine eigene Ästhetik. So sieht Forster beispielsweise in Wasserleitungen »schöne malerische Bogengänge«37 und auch im Apparativen findet er Schönheit. In seiner detaillierten Beschreibung des Herschelschen Teleskops bezeichnet er den Erbauer nicht nur als »Künstler«, sondern glaubt auch, »am Rande eines Zauberkreises zu stehen«.38 Ähnlich lesen sich seine Äußerungen über die Schiffe im Amsterdamer Hafen. Nachdem er das Ziel seiner Beschreibungen erläutert hat, nämlich der »Einbildungskraft« des Lesers »den Stoff zu einigen Vorstellungen von Amsterdam zu liefern«, berichtet er weiter vom »Wald« der »vielen tausend Mastbäume«, von den »schwimmenden Schlössern« und »Wunderbau[ten]« der »ungeheuren Maschinen«.39 Der Waldvergleich sowie die Begriffe »Wunderbauten« und »Zauberkreis« erinnern dabei an Forsters Dombeschreibung. Deutlich wird hier, dass sich bei Forster selbst innerhalb allgemeiner gesellschaftlicher Reflexionen – wie über den Handel im Amsterdamer Hafen – immer auch Versatzstücke poetischer Ekphrasen finden. Forsters vielgestaltige Wahrnehmung von Architektur zeigt sich somit darin, Bauwerke einerseits als Nutzgegenstände wahrzunehmen, die ihm den menschlichen Fortschritt bezeugen. Andererseits aber betrachtet er diese Nützlichkeit immer wieder auch poetisch und wertet Nutzbauten insofern als ›schöne Sachen‹ auf bzw. verschafft ihnen eine zusätzliche Wertigkeit. Dem eigentümlichen Wesen der Baukunst wird Forster so in besonderem Maße gerecht. Denn deren Vielgestaltigkeit zeichnet sich ja sowohl durch ihre dinglichen als auch undinglichen Informationen aus, die Fähigkeit Gebrauchsgegenstand und Kunstwerk, nützliche und schöne Sache zugleich zu sein. Dieser binären Struktur verdankt die Baukunst dabei letztlich auch ihre besondere Wertschätzung im Zeitalter der Aufklärung: Einerseits lässt sie ihr besonderes Potential zu einer »aktiven Größe im Dienste der Aufklärung«40 avancieren, denn ihr wurde die Fähigkeit zugesprochen, dass gute Architektur auch gute Menschen forme. Andererseits führt der darin liegende Widerstreit zwischen funktionalem und ästhetischem Aspekt der Baukunst erst zur Diskussion um ihre Zugehörigkeit zu den schönen Künsten, die sie in diesem Zusammenhang zu einer ›Sache der Aufklärung‹ werden lässt – zu einer ›Sache‹ allerdings, die bei Autoren wie Forster auch über die Aufklärung hinauszuweisen beginnt. In der Diskussion um ihre Rezeption als schöne Kunst zeigt sich nämlich das Bestreben, Kunstwerke eben nicht mehr in ihren durch äußere Regeln aufgetragenen Bedeutungen zu erfassen, sondern in dem, was ihnen immanent ist. Sinnlich will man dem »Künstler [nachfühlen]« und »die Bilder seiner Phantasie« in seinen Werken »ahnden«. So lässt sich in Forsters Beschreibung des 37 38 39 40

Forster: Tagebücher. In: AA XII, S. 82. Ebd., S. 313. Ebd., S. 298. Philipp: Um 1800, S. 11.

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Doms sowie in der Auseinandersetzung mit der Baukunst und ihrer Aufwertung im Ensemble der Künste eine Hauptsache der deutschen Spätaufklärung erkennen – das Aufbegehren gegen die Sinnenlosigkeit einer sinnenfeindlichen weil instrumentalisierten Aufklärung. Die Hinwendung zum Subjekt, das fühlend und individuell das ›Siegel‹ des Künstlers wahrnimmt, aber auch die Aufwertung der Einbildungskraft des Rezipienten, dem eine eigene Produktivität zugesprochen wird, stehen dabei im Zentrum dieses Aufbegehrens am Ende des Jahrhunderts. Für Forsters Ekphrastik gilt diesbezüglich, dass erst »durch Empfindung erschüttert, […] alsdenn die Phantasie sich Gestalten ersinnen [kann], denen sie diese Wirkung zutraut«.41 Für den Beschreibenden – das wird in dieser Äußerung Forsters deutlich – ist somit die Empfindung unabdingbarer Bestandteil der Vermittlung von Kunstwerken, denn diesen besonderen »Gegenständen« kann man mit detailgetreuen Beschreibungen, wie es weiter unten heißt, nicht beikommen: »Was kann irgend jemand mit einem solchen trockenen Catalog, ja was mehr ist, mit der treuesten wörtlichen Beschreibung eines Gegenstandes gedient seyn, dessen Werth bloß von den Sinnen empfunden werden kann.«42 Sinnlich kann man Kunst nach Forster nur »empfinden« und sie in eben dieser Art auch nur beschreiben. Dass Kunst jedoch nicht gleich Kunst ist, macht Forster außerdem deutlich. Gemäß einer unplatonisch modernen Ästhetik fordert er mehr in einem Kunstwerk als bloße Nachahmung oder etwa technische Perfektion – Individualität in der Produktion, Ideen statt Abbilder zu schaffen, korrespondiert dabei der Möglichkeit, das Kunstwerk auch individualpoetisch erfassen zu können. Erst dann – und hier ist Forsters Begriff der produktiven Einbildungskraft zentral – kann der Rezipient das Kunstwerk durch Imagination vollenden, es »mit neuaufblühender Phantasie weiterfortträumen«.43

41 42 43

Forster: Tagebücher. In: AA XII, S. 206. Ebd. Ebd., S. 206 f.

6. sektion: Gedächtnis der Dinge – Materialität von Erinnerungsobjekten und Gedächnismodellen

Christiane Holm (Weimar) Gedächtnis der Dinge – Materialität von Erinnerungsobjekten und Gedächtnismodellen: Einleitung

Die Frage nach den Formen und Mechanismen von Gedächtnis und Erinnerung gewann in der Aufklärung eine programmatische Dimension. Es ging einerseits um die Organisation der zunehmend unübersichtlich werdenden Wissensbestände, andererseits um neue Einsichten in die Konstitution individueller und kultureller Identität. Parallel zur theoretischen Reflexion lässt sich auf der Ebene der materiellen Kultur eine Konjunktur von tradierten wie neuartigen Erinnerungsmedien beobachten.1 Die Sektion fragt nach dem Verhältnis von Gedächtnistheorie und Dingen der Erinnerung, von Sache und Sachen, von Programm und Praxis. Dabei werden die Dinge der Erinnerung nicht auf formale und semantische Aspekte der Objektebene reduziert, sondern vielmehr über die Kulturpraktiken erfasst und analysiert, in die sie involviert sind.2 Bis in das 18. Jahrhundert hinein dominierte das durch die antike Mnemotechnik plausibilisierte Gedächtnismodell eines mit Merkzeichen angefüllten räumlichen Speichers. Dieses Modell gründet auf der Vorstellung, dass die zu erinnernden Inhalte in Form von Dingen und Bildern genauso abgelegt wie wieder abgerufen werden können, so dass die »Identität von Einlagerung und Rückholung« gewährleistet sei.3 Bereits die Frühaufklärung hat sich kritisch mit dieser Vorstellung vom Gedächtnis als einem räumlich-dinglich gedachten Behältnis auseinandergesetzt. Im Folgenden werden kurz die entsprechenden Argumentationen von Christian Thomasius und Christian Wolff skizziert.4 Indem Thomasius das produktive Selberdenken gegen das 1

Vgl. dazu die Überblicksdarstellungen insb. zu den Bereichen Architektur, Archive und Bibliotheken, Museen, Denkmale und Gedenkstätten s. v. Medien des Erinnerns. In: Christian Gudehus, Ariane Eichenberg u. Harald Welzer (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, S. 127–245. Ergänzend sei mit Blick auf die inhaltlichen Schwerpunkte dieser Sektion auf zwei Ausstellungen zu den Erinnerungsmedien der Kunstreproduktion und des Souvenirs verwiesen. Elisabeth Décultot (Hrsg.): Musées de papier. L’antiquité en livres. 1600–1800. Ausst.-Kat Louvre. Paris 2010; Ulrich Schneider (Hrsg.): Der Souvenir. Die Erinnerung in Dingen von der Reliquie zum Andenken. Ausst.-Kat. Museum für Angewandte Kunst Frankfurt. Köln 2006. 2 Vgl. dazu kulturtheoretische Ansätze in der Forschung zur materiellen Kultur, die die Dinge über die praxeologische Seite begreift. Andreas Reckwitz: Der Ort des Materiellen in den Kulturtheorien. Von sozialen Strukturen zu Artefakten. In: Ders. (Hrsg.): Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie. 2008, S. 131–156, hier S. 146 ff. 3 Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 2003, S. 29. 4 Bei dieser Skizze folge ich der luziden Darstellung von Frank Grunert: Die Marginalisierung des Gedächtnisses und die Kreativität der Erinnerung. Zur Gedächtnistheorie der deutschen

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6. Sektion · Christiane Holm

reproduzierende Erinnern in Stellung brachte, wertete er das Gedächtnis zugunsten der Urteilskraft ab. War dies vor allem ein wissenschaftspolitisches Statement, so gingen Wolff und seine Schule in ihrer Psychologie weiter, indem sie dem Gedächtnis den Status eines eigenständigen Seelenvermögens absprachen. Sie koppelten das Gedächtnis an die Einbildungskraft als ein Verfahren, nicht nur räumlich, sondern ebenso zeitlich Abwesendes zu vergegenwärtigen. Diese Verkoppelung erwies sich als folgenreich, denn nun war das Stabilität implizierende Behältnismodell ausgehebelt und ein kreatives, konstruktives und dynamisches Moment von Erinnerung begründet. Damit waren nicht nur neue Erklärungen für die auf empirischer Ebene immer schon notierten partiellen Amnesien und vor allem falsche, also eingebildete Erinnerungen möglich. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts rückte die aufklärerische Anthropologie vielmehr gerade solche Störungen ins Zentrum des Interesses, um das Erinnerungsgeschehen zu untersuchen, wie etwa die Fallstudien im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde bezeugen. Zudem wurde diese Reflexion ganz maßgeblich von der Literatur getragen, die in immer neuen Versuchsanordnungen die Bedingungen von gelingenden und scheiternden Erinnerungsprozessen auslotete. Diesem literarischen Feld widmet sich ein Großteil der Beiträge dieser Sektion mit Einzelanalysen von erzählerischen Gedächtnisexperimenten von Sophie von La Roche, Révéroni SaintCyr, Karl Philipp Moritz und Johann Wolfgang Goethe, in denen dinggestützte Erinnerungspraktiken vorgeführt und problematisiert werden. Mit der skizzierten aufklärerischen Umstellung des rhetorisch gestützten, statisch konzipierten reproduktiven Speichergedächtnisses zur dynamisch konzipierten kreativen Erinnerungspraxis könnten – so ließe sich vermuten – auch die räumlichdinglichen Gedächtnismedien diskreditiert worden sein. Das Gegenteil ist der Fall: Die Enträumlichung und Entdinglichung des Gedächtnismodells ging mit einem erhöhten Bedarf an räumlich-dinglichen Gedächtnismedien einher. Die zur Diskussion stehende These ist, dass dieses Re-entry des Räumlich-Dinglichen nicht einem kompensatorischen Bedürfnis folgt, ein bereits verabschiedetes Modell auf der kulturpraktischen Ebene etwas länger am Leben zu erhalten. Vielmehr zeichnet die neuen Umgangsweisen mit Gedächtnismedien aus, dass sie erstens den konstruktiven und dynamisierenden Anteil des Selberdenkens und der Einbildungskraft integrieren und dabei zweitens die Dinge prinzipiell mit einem Zeitindex markieren. An der Verdinglichung des Gedächtnisses in allen Lebens- und Wissensbereichen, kurz: an der Entäußerung von Erinnerung wird beobachtbar, dass und wie Erinnerungen konstruiert werden und dass und wie sie nur verbindlich bleiben können, wenn sie mit bestimmten Praktiken verbunden wird, die sich freilich fortlaufend Aufklärungsphilosophie. In: Günter Oesterle (Hrsg.): Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. Göttingen 2005 (Formen der Erinnerung 26), S. 29–51.

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verändern. Zugleich aber entstehen neue Gefahren in diesem Dingverhältnis, wenn die Praktiken Eigendynamiken entfalten, wie es etwa im Fetischismus der Fall ist, einem Phänomen, das sich besonders in der emphatischen Erinnerungspraxis der Empfindsamkeit beobachten lässt und gegen Ende des 18. Jahrhunderts theoriefähig wird.5 Die Sektion beginnt mit einem Beitrag von Anett Lütteken zu einem alltagsnahen Phänomen des kulturellen Personengedächtnisses, das über Dinge transportiert und legitimiert wird: Die Mode, neben Herrscher- neuerdings auch Gelehrten- und vor allem Dichterporträts en miniature auf Porzellan zu bringen, beginnt in den 1720ern, feiert ihre Konjunktur mit Wedgwoods ausdifferenziertem Warenangebot im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts und verliert um 1800 an Attraktivität. Regionale Unterschiede in den Porträtprogrammen zeigen, wie die Produkte auf Kanonisierungsprozesse reagieren, bzw. teilweise selbst in wissenspolitische Strategien zur Festschreibung eines kulturellen Gedächtnisses involviert sind. Zugleich zeigen die Zeugnisse der Integration solcher Porzellane in die Wohneinrichtungen, wie stark sie von den individuellen Bildungsgeschichten her inszeniert und gedeutet werden. Die folgenden Beiträge untersuchen die Inszenierung von dinglichen Erinnerungsmedien in der Literatur, wobei entsprechende Referenzen in der materiellen Kultur mitbedacht werden. Sie alle nehmen ihren Ausgang von der Möglichkeit einer konstruktiven Verbindung von kultureller und individueller Erinnerung sowie der identitätsstabilisierenden Wirkung dinggestützter Erinnerungspraktiken. Auf unterschiedlichen Ebenen zeigen sie jedoch die Probleme auf, die entstehen, wenn die Zeitlichkeit des Erinnerten oder der Erinnerungsvorgänge selbst ausgeblendet wird. Claudia Bamberg stellt mit Sophie von La Roche eine Autorin vor, die im Rahmen einer ausdifferenzierten autobiographischen Erinnerungspraxis eine aufklärerische Andenkensammlung aufbaute, die sowohl ihre Wissenserträge als auch ihre Lebensstationen in dinglicher Form ordnet und verfügbar hält. In ihrem erzählerischen Spätwerk jedoch führt sie die Gefahren des Gebrauchs von Dingen bei schmerzhaften, identitätsdissoziierenden Erinnerungen vor. Am Beispiel des Romans Geschichte von Miss Lony (1789) wird die empfindsame Andenkenpraxis unter geschlechtsspezifischen Vorzeichen problematisiert: Die Sachen der Erinnerung verdrängen zunehmend die Sache der Erinnerung, und im Verlauf dieses Prozesses beginnt die Protagonistin sich selbst durch Erinnerungsmedien zu ersetzen, bis sie schließlich körperlich ganz verschwindet und als Erinnerungsmonument im Garten den Status dauerhafter Präsenz erhält. Ebenfalls ein Experiment aus der intimen Erinnerungskultur diskutiert Anna Ananieva im heute vergessenen, seinerzeit mehrfach 5

Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 22003, S. 140–162; Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Hamburg 2006, S. 178–215.

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6. Sektion · Christiane Holm

übersetzten und aufgelegten Bestseller Sabina d’Herfeld (1796) von Jacques-Antoine de Révéroni Saint-Cyr. Auf der Suche nach einer Sprache des Gefühls setzt der Roman bei einer radikalen Schriftkritik an, in der neben dem Gesang prominent die Blumensprache als vermeintlich ursprüngliche Kommunikations- und Erinnerungsform eingeführt wird. Dabei wird die Blume aus ihrer wirkmächtigen emblematischen Tradition gelöst, um in konkreten Situationen, nämlich im ästhetisch zugerichteten und wahrnehmungstechnisch dynamisierten Gartenraum, in diese Mittlerfunktion eingesetzt zu werden. Der Versuch, über diese vermeintlich reinen Dinge die Affekte zu kultivieren, scheitert, indem die Dingverhältnisse selbst immer passionierter werden und schließlich zu psychopathologischen Störungen führen. Die folgenden beiden Beiträge widmen sich individuellen Dingbeziehungen im Rahmen von Kulturtechniken der historisch informierten Kunstbetrachtung und binden sie somit an das kulturelle Gedächtnis zurück. Johannes Grave konzentriert sich in seiner Lektüre von Johann Wolfgang Goethes Erzählung Der Sammler und die Seinigen, die 1799 in der auf die Kunsterziehung zielenden Programmzeitschrift Propyläen erschien, auf die Analyse des dinggestützten Personengedächtnisses, das in die Kunstsammlung und somit in die hier eingeübten Betrachtungstechniken implementiert ist. In einer ganzen Versuchsreihe werden entlang von drei Sammlergenerationen die spezifischen Chancen und Gefahren von naturalistisch gemalten Porträts über Interieur-Installationen mit Wachsfiguren bis hin zur exzessiven Darstellung der dinglichen Hinterlassenschaften der Verstorbenen in Form von Stillleben narrativ entfaltet. Auf unterschiedlichen Ebenen liegt das Problem aller dieser Versuche darin, dass die scheinhafte Gegenwart der Abwesenden von der realen Gegenwart der Dinge absorbiert und somit paradoxerweise die Bedingung der Möglichkeit von Erinnerung unterlaufen wird. Vor diesem Hintergrund ist der Blick in Goethes eigene Erinnerungspraxis in seiner Kunstsammlung aufschlussreich: Hier wird die Präsenzerfahrung der Kunst systematisch gerahmt von autobiographischen Erinnerungsritualen, die die zeitlichen Distanzen einbeziehen und zudem mit Reflexionen der Faktur der Erinnerungsmedien verbinden. Eine ähnliche Beobachtung macht Marie Wokalek bei der Analyse eines autobiographischen Textes von Goethe, der Campagne in Frankreich (1822), in der er die 1792 gemachten Erlebnisse der Revolutionskriege festhält. Diese retrospektive Perspektive eröffnet einen analytischen Blick auf die Funktionsweisen des individuellen wie des kulturellen Gedächtnisses dahingehend, dass beide entscheidend von der jeweiligen Gegenwart disponiert und – entgegen ihrer normativen Selbstbestimmung – historisch verfasste Phänomene sind. Diese Konstellation nutzt Goethe, um darin den von ihm vertretenen dezidiert subjektiven Zugang in der Kunstbetrachtung von antiken Zeugnissen – im Zentrum steht die Hemsterhuis’sche Gemmensammlung – gegenüber den gelehrten Materialprüfungen mit Blick auf die antike Provenienz ins Recht zu setzen. Diese Gegenüberstellung ist deshalb auch poetologisch interessant, weil die Gemmen inzwischen verschollen sind

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und Goethe die Reflexionen ausdrücklich an den Abgüssen und Nachzeichungen entwickelt, an denen materialiter die transformatorischen Mechanismen der Erinnerung in Erscheinung treten. Sabine Schneider zeigt, wie die Verschränkungen von individuellen und kulturellen Erinnerungspraktiken in spätaufklärerisch-klassizistischen Gedächtnismodellen auf neue Weise bestimmt werden müssen, als die Frage nach der Erinnerung an die verlorene Antike von einer speziellen Problemstellung der Archäologie ins epistemische Zentrum der Anthropologie rückt. Der Vorstellung vom stabilen Speichergedächtnis wird gleich doppelt der Boden entzogen: Einerseits sind die Dinge der Erinnerung selbst verschwunden, bzw. treten nur in defekter und fragmentierter Form in Erscheinung und fordern als »opake Reste« die Einbildungskraft heraus. Andererseits wird nun auch die Zeiterfahrung problematisiert, da der Betrachter »in der Flucht der Zeit von den Bildern, die vorüberrauschen, gleichsam nur die Umrisse stehlen« kann, wie Karl Philipp Moritz in seinem Aufsatz Über die Würde des Studiums der Alterthümer (1789) erklärt. Auf die Frage, ob Erinnerung im »Wirbel der Dinge« (Moritz) überhaupt möglich ist, wird zunehmend mit der Strategie der »notwendigen Täuschung« (Humboldt) geantwortet. Diese setzt gerade da an, die Zeitlichkeit ins Räumliche zu transponieren, was nicht zuletzt in einer eigenartigen Entmaterialisierung der Dinge der Erinnerung Ausdruck findet, die nun als Umrisse und Schattenbilder in Erscheinung treten. Die eingangs skizzierte Neubestimmung von Gedächtnis und Erinnerung, wie sie von den Frühaufklärern als Zugewinn der produktiven Vermögen, der Urteils- sowie der Einbildungskraft proklamiert wurde, erweist sich bei zunehmender Temporalisierungserfahrung Ende des 18. Jahrhunderts als äußerst prekäre Konstruktion, die in Konzepten von Raumzeitlichkeit und komplexen Praktiken dinggestützter Erinnerung austariert werden musste.

Anett Lütteken (Bern) Gelehrte Köpfe. Porträtprogramme europäischer Porzellanmanufakturen im Vergleich

Als Theodor Fontane, wohl im Jahr 1861, auf einem Dampfschiff, das zwischen Frankfurt/Oder und Schwedt verkehrte, einen »Gipsfigurenhändler« kennenlernte, konnte er sein Interesse an dessen Warenangebot kaum verhehlen. Neben »König und Königin, Amor und Psyche« sowie einigen Tierfiguren befanden sich nämlich auch Darstellungen von, wie er notierte: »Goethe, Schiller, Lessing«, im Korb. »Was geht denn so am besten?« hakte Fontane neugierig nach und erhielt zur Antwort, dass sich dies unter anderem »nach der Gegend« richte. Neben dem sowieso absatzstarken »königliche[n] Haus« seien aber »Goethe-Schiller immer voran«.1 Diesem etwas skurrilen Gespräch könnte man entnehmen, dass es mit Lessings Renommee um die Jahrhundertmitte womöglich nicht mehr gar so weit her war. Oder, dass der Verkauf von Gips-Porträts illustrer Personen einen Mann ernähren konnte, wenn dieser auf die rechte Zusammensetzung seines Angebotes und damit auf die Präferenzen der Käufer bedacht war. Selbst der Hinweis auf regionale Differenzen der Interessenlagen lässt aufhorchen, scheint dabei doch von Geschmacksunterschieden innerhalb von nicht übertrieben großen geographischen Bereichen die Rede zu sein (hier etwa vom Raum links und rechts der Oder). Schließlich kann von einem erfreulich hohen Bildungsstand ausgegangen werden, wenn sich in ländlichen Bezirken immerhin mindestens drei Geistesgrößen als Wohnzimmerzierde behaupten konnten. Natürlich war bisher die Rede von einer Art von Schwundstufe, von einer kostengünstigen Variante und damit zugleich tendenziell trivialisierten Form des Gedenkens,2 wobei zu klären bleibt, was durch sie ursprünglich einmal ausgesagt werden sollte: Was genau war die ›Botschaft‹ und Funktion solcher Miniatur-Büsten und -Figuren? Handelt es sich bei derartigen Porträts im kleinen und kleinsten Format lediglich um Belege für Ehrfurcht und Respekt gegenüber verdienten Persönlichkeiten? Sind die Kleinplastiken Manifestationen des Bemühens, sich an etwas 1

Theodor Fontane: Von Frankfurt bis Schwedt. In: Ders.: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Zweiter Teil. Das Oderland. Barnim-Lebus. Hrsg. v. Gotthard Erler, Rudolf Mingau. Berlin 1997 (Große Brandenburger Ausgabe 2), S. 9–21, hier S. 14. 2 In diesen Zusammenhang gehören selbst noch die Tendenzen, die bürgerliche Gestaltungskultur in revolutionäre Kontexte zu überführen. Vgl. hierzu: Die Tafel der Zaren und das Porzellan der Revolutionäre. Porzellan als Kunst und Instrument in Diplomatie, Wirtschaft und Gesellschaft. Die russische Tafelkultur des 18. bis 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Klaus Klemp, Karl Weber für das Museum für Angewandte Kunst Frankfurt und die Staatliche Verwaltung Schlösser und Gärten, Schloss Bad Homburg. Bad Homburg 2008 (vgl. z. B.: »Besprechung des Projektes der Stalinschen Verfassung von 1937 in einer usbekischen Kolchose«, 1936–37 von N. Danko [Modell]).

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zu erinnern, das uneingeschränkt als Ausdruck von Fortschritt und/oder überindividuell und überzeitlich gültigen Werten verstanden wurde? Hat man es hier mit prägnanten Visualisierungen von komplexen Ideen zu tun und damit vielleicht mit einer epochenspezifischen Spielart der Mnemotechnik? Oder doch nur mit schönem Dekor, das auf vagen Bildungsreminiszenzen basiert? Welche Funktionen Porträtdarstellungen in Miniaturformat – sei es als Medaillon, als Vasendekor oder als Skulptur – für deren Besitzer hatten oder haben konnten, soll im folgenden untersucht werden und auch, ob sich diese diachronisch betrachtet signifikant gewandelt haben oder eher konstant geblieben sind. Um hierzu wenigstens schlaglichtartig Aussagen treffen zu können, erscheint es naheliegend, sich auf die Vorgeschichte der Fontaneschen Gipsfiguren zu konzentrieren. Anhand einiger Beispiele aus dem Zeitraum seit der Mitte der 1720er Jahre bis etwa 1800 wird dabei zugleich zu analysieren sein, welche Anwendungsbereiche derartige kunsthandwerkliche Artefakte aus verschiedensten europäischen Produktionsstätten hatten.

Tradierte, normierte und individualisierte Formen der Reverenz Der sächsische Hofpoet und Librettist Johann Ulrich König (1688–1744) veröffentlichte im Jahr 1727 die »Gedichte« des Freihern Friedrich Rudolph Ludwig von Canitz (1654–1699).3 Mit erkennbar repräsentativem Anspruch optimierte er dessen Texte, wo er konnte und sorgte für eine aus seiner Sicht angemessene Illustration des Bandes durch Kupferstiche.

Abbildung 1a

3

Des Freyhern von Canitz Gedichte, Mehrentheils aus seinen eigenhändigen Schrifften verbessert und vermehret. Mit Kupffern und Anmerckungen, Nebst dessen Leben, und Einer Unter-

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6. Sektion · Anett Lütteken

Seinem Naturell gemäß scheute sich der selbstbewusste König nicht, seinen eigenen Beitrag dazu zu betonen: In der »Erklärung der Erfindung Zu dem Kupffer-TittelBlatt«, für das eine Vorlage der Miniaturenzeichnerin Anna Maria Werner (1688– 1753) verwendet worden war,4 hielt er dementsprechend fest, dass seine Edition die Werke in »einer bessern Ordnung« biete als jede frühere. Weiter heißt es: »Um nun dem Leser, so fort auf dem Titel-Blatte, einen Begriff von dem vornehmsten Inhalte des Buches zu geben, habe ich die darinn vorkommende Haupt-Stücke, durch folgende Bilder, angezeigt.« Was zu sehen und gemeint ist, wird ausführlich erklärt, und auch, welche Rollen den abgebildeten persönlichen Schutzgeistern des Freiherrn von Canitz, den »Genien«, zukommen. So verkörpert beispielsweise derjenige mit dem Fuchspelz am »Camin-Feuer« den »Genius« von Canitz selbst, der offenbar am liebsten bei angenehmen Raumtemperaturen arbeitete. Für den konkreten Zusammenhang ist von besonderem Interesse, was oberhalb des Kamins gezeigt wird. König beschreibt die lorbeerbekränzten Häupter folgendermaßen:5 Abbildung 1b

8.) Auf dem Gesimse des Camins stehen drey Brust-Bilder derjenigen Dichter, aus deren Schrifften er übersetzt, und darunter ihre Nahmen: Horatius, Boileau, Juvenal. 9.) An der Wand zwey mit Bändern aufgehängte Bildnisse des ersten Römischen, und des ersten Teutschen Kaysers; auf jenem C. JVL. CÆS. auf diesem CARL. M. wegen der Poetischen Beschreibungen, die er [Canitz] so wohl von den Römischen, als einigen Teutschen Kaysern, verfertigt. suchung Von dem guten Geschmack in der Dicht- und Rede-Kunst. Leipzig. Berlin 1727; vgl. auch Friedrich Rudolph Ludwig Freiherr von Canitz: Gedichte. Hrsg. v. Jürgen Stenzel. Tübingen 1982 (Neudrucke deutscher Literaturwerke, N. F. 30); Andreas Keller: Johann Ulrich König (1688–1744) als Nachlaßverwalter und Herausgeber Johann von Bessers. Ein Autor-Editor im Spannungsfeld des preußisch-sächsischen Kulturraums. In: Autoren und Redaktoren als Editoren, hrsg. v. Jochen Golz, Manfred Koltes. Tübingen 2008 (Beihefte zu Editio 29), S. 91–116. 4 Vgl. Eleonora Höschele: Von »gunst zur wahrheit angetrieben«: Leben und Werk der Dresdner Hofzeichnerin Anna Maria Werner. In: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden 28 (2000), S. 33–46. 5 Canitz: Gedichte, S. VII f.

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Indem König hier einen absolut fiktiven Raum mit zunächst einmal ausschließlich im Blick auf den Freiherrn von Canitz selbst relevanten Autoren bestückt, eröffnet er zugleich einen bemerkenswert weiten Assoziationsraum für den Betrachter. Nicht die allgemeine Verehrung ›klassischer‹ Autoren als ein mnemotechnisches Verfahren kulturbeflissener Personen, wie man wohl eigentlich zunächst annehmen würde, oder die Canitzische Belesenheit werden damit gekennzeichnet, sondern rein virtuelle Konstellationen, die ihre spezifische Aussagekraft allein im Blick auf das Œuvre des Freiherrn gewinnen. König zeigt mithin einen persönlichen Kanon, der aber kein privater Kanon bleibt, weil er seinerseits wieder für Leser der Edition als ›beispielhaft‹ und damit als nachahmenswert gepriesen wird.6 Der Satiriker Canitz hat in seinem fiktiven Salon also lediglich solche Autoren stehen, die gattungsbezogen für ihn selbst als Autor relevant gewesen sind. Die Trias Boileau, Horaz und Juvenal dokumentiert damit den entschiedenen Willen des Canitz-Interpreten Königs, einen adäquaten, weil eben individualisierten Zugang zum Schriftsteller Canitz zu schaffen, der sich durchaus nicht in der emphatischen Namenserwähnung erschöpft. Indem Canitz die deutschsprachigen Pendants zu den lateinischen und französischen Satiren der Vorläufer aus der Antike und des 17. Jahrhunderts vorgelegt hat, hat er einen wichtigen Beitrag zum Kulturtransfer wie zur Fortentwicklung der Gattung insgesamt geleistet – auch dies will König thematisieren und zugleich die damit untrennbar verknüpfte Aufwertung der deutschen Sprache. Vergleichbare Sinnzuweisungen finden sich auch noch gegen Ende des Jahrhunderts. Im Jahr 1783 schildert beispielsweise Sophie von La Roche (1730–1807) eine strukturell durchaus ähnliche »Antwort auf Fragen nach meinem Zimmer«.7 In ihrem Essay über einen fiktiven Ideal-Innenraum aus weiblicher Perspektive gruppiert sie nämlich »Wielands Bild«, »unser[n] verewigte[n] Lessing« und »über diesem« einen »alte[n] Griechische[n] Kopf, der über die Fehler der Menschen unter ihm lächelt.« Wieland erscheint dort, weil sie stolz darauf ist, wie sie schreibt, »daß der grosse Mann mein Freund, und mein sehr naher Verwandter ist« (und nicht etwa, weil er ein berühmter Schriftsteller oder ein ›Klassiker‹ wäre); Lessing, weil er ihr als intellektuelle Autorität gilt, und der Griechische Kopf, um der heiteren Weltweisheit, die auch in La Roches Haushalt angestrebt wird, einen (Gesichts-)Ausdruck zu verleihen. 6

Vgl. hierzu auch Der Kanon im Zeitalter der Aufklärung. Beiträge zur historischen Kanonforschung, hrsg. v. Anett Lütteken, Mathias Weishaupt u. Carsten Zelle. Göttingen 2009; darin v. a. Carsten Zelle: Europäischer Kanon im Zeitalter der Aufklärung? Versuch einer Zusammenfassung in sechs Thesen, S. 229 ff. 7 Sophie von LaRoche: Antwort auf Fragen nach meinem Zimmer. In: Pomona für Deutschlands Töchter […]. 1783, März, S. 227–249; vgl. auch: Anne Hegemann: Linas Kanon – Leseempfehlungen für das weibliche Geschlecht bei Sophie von La Roche. In: Lütteken u. a.: Kanon im Zeitalter der Aufklärung, S. 112–145.

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Es lässt sich somit vorerst festhalten: Beim Umgang mit derartigen Porträts ist grundsätzlich von ausgesprochen komplexen Deutungsmustern auszugehen sowie von praktisch unbegrenzten – und damit enorm attraktiven, zu Gedankenspielen aller Art geradezu auffordernden – Sinnpotenzierungsmöglichkeiten. Solche Porträts sind Projektionsflächen. Weil sie semantische ›Leerstellen‹ enthalten, kann der jeweilige Betrachter diese nach Gutdünken und eigenem intellektuellem Vermögen für sich selbst (oder für eine soziale Gruppe mit vergleichbaren Interessen) definieren. Dass dies in kleinstem Format möglich ist, erhöhte für die Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts den Reiz und machte das Gedankenspiel mit dem Gedenken zudem noch tauglich für bürgerliche Wohnzimmer.

Referenztechniken im Zeichen vorindustrieller Reproduzierbarkeit Als Johann Ulrich König im Jahr 1727 über die fiktiven »Brust-Bilder« nachsann, war das zu Jahrhundertbeginn erfundene keramische Material für solche Zwecke im engeren Sinne noch nicht verfügbar. Erst sukzessive avancierte das Porzellan zum Mode-Werkstoff des 18. Jahrhunderts schlechthin. Den Zeitgenossen galt es bald als luxuriös im guten wie im schlechten Sinne: Während sich die Produzenten von der schwer handhabbaren Technologie herausgefordert fühlen mussten, schätzten die Konsumenten je länger je mehr die Eleganz und Kostbarkeit der Manufaktur-Produkte.8 M. a. W.: Es brauchte einige Zeit, bis der bei König geradezu exemplarisch dokumentierten Porträt-Vorliebe des Zeitalters auch in diesem als besonders exklusiv geltenden Werkstoff ein adäquater Ausdruck verliehen werden konnte. Es kommt hinzu, dass hierfür geeignete Vorlagen in jedem Fall zunächst zu ermitteln und dann in hinreichender künstlerischer Qualität zu adaptieren waren. Dennoch lassen sich bei verschiedenen der nun zahlreich neubegründeten Manufakturen ganze Produktlinien finden, die dem Sujet der Porträtkunst gewidmet wurden. Form- und normgebend war hierbei namentlich der englische PorzellanFabrikant Josiah Wedgwood (1730–1795), der sein ererbtes Töpfer-Handwerk systematisch industrialisierte und vorzügliche Geschäfte mit (noch heute beliebten) Reliefs aus Steingut in zweifarbigen Schichten, der sog. »Jasper ware«, machte. Die jahrhundertelang kultivierte Freude am Hagiographischen und damit an der Darstellung von Angehörigen der Königshäuser im weitesten Sinne lebte dabei nicht nur in 8

Vgl. hierzu auch Ulrich Pietsch: Meißen und die Folgen: Wechselbeziehungen zwischen Meißen und den europäischen Manufakturen im 18. Jahrhundert. In: Ders.: Zauber der Zerbrechlichkeit: Meisterwerke europäischer Porzellankunst. Leipzig 2010, S. 10–24; Erika Herzfeld: Preußische Manufakturen: großgewerbliche Fertigung von Porzellan, Seide, Gobelins, Uhren, Tapeten, Waffen, Papier u. a. im 17. und 18. Jahrhundert in und um Berlin. Berlin 1994.

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seinem Verkaufskonzept während des ganzen 18. Jahrhunderts zwanglos fort.9 Was noch bei Fontane zutraf, dass sich nämlich »König und Königin« am besten verkaufen lassen, galt umso mehr auch für die spätabsolutistische Ära. Mit Wedgwood trat nun aber ein Akteur auf den Plan, der der traditionell staatstragenden Porträtkunst bedachtsam neue Funktionen zuwies, um deren Marktfähigkeit zu steigern. In gewisser Hinsicht demokratisierte er damit zugleich die Erinnerungskultur.10 Denn mit seinen Porzellanporträts gewährte er der stetig wachsenden bürgerlichen Käuferschicht mit Bildungsambitionen den virtuellen Zugang zu den Zelebritäten der Geisteswelt und zwar sowohl zu den zeitgenössischen wie zu den bereits verstorbenen. Einfallsreich war Wedgwood zudem hinsichtlich der Einsatzmöglichkeiten der Waren,11 während die Systematik wie die Wertungskriterien, die seiner Auswahl zugrunde lagen, nicht durchweg offen zu Tage liegen. Neben den für das Zeitalter typischen Darstellungen von altägyptischen und antiken Köpfen12 sowie der immerhin 253 Titel umfassenden Liste mit Papst-Köpfen13 wurden beispielsweise im Katalog des Jahres 1774 45 »Têtes des Grands Hommes Modernes, depuis Chaucer jusqu’à present« angeboten, die chronologisch angeordnet wurden. Sieht man einmal von dem Kuriosum ab, dass »Madame Dacier«14 als einzige Frau dem Reigen der »Grands Hommes« hinzugerechnet wird, muss die Aufstellung insgesamt als aussagekräftiges Dokument für die Befindlichkeiten des fortgeschrittenen 18. Jahrhunderts gelten. Das ausgeprägte Interesse an Persönlichkeiten des 17. und 18. Jahrhunderts zeugt vom Selbstbewusstsein der Epoche und auch von der werdenden nationalen Denkart. Sichtbar werden an der Auswahl vor allem aber die dezidiert europäisch ausgerichteten Bildungspräferenzen: Indem die Reihe von Geoffrey Chaucer über Erasmus, Michelangelo und Luther bis hin zu Milton, 9

Typisch für dieses Genre ist beispielsweise ein Porträt Friedrichs II. von Preußen aus der Manufaktur Worcester aus den späten 1750er Jahren; vgl. hierzu: Aileen Dawson: Art of Worcester porcelain: 1751–1788. Masterpieces from the British Museum collection. London 2007, S. 28 ff.; sowie Peter Bradshaw: Derby Porcelain Figures, 1750–1848. London 1990, passim. 10 Vgl. Josiah Wedgwood: Catalogue de Camées, intaglios, médailles, bustes, petites statues, et bas-reliefs; avec une déscription générale des vases, et autres ornemens […]. London [1774]. Hinsichtlich der Orientierung an europäischen Märkten erscheint das Faktum, dass die Werbebroschüre in französischer Sprache publiziert worden ist, als aussagekräftig. 11 Vgl. z. B. Wedgwood: Catalogue (1774), S. 4: »Les Camées sont propres pour des Bagues, des Bracelets, et autres Joyaux; ils sont particulierement bons pour marqueter en beau, des Armoires, des Tables à écrire, des Bibliotéques, &c. qu’on peut embellir de ces Ornemens à un Prix très modiques.« 12 Vgl. hierzu auch Elisabeth Sladek: Zeremonien. Feste. Kostüme. Die Wiener Porzellanfigur in der Regierungszeit Maria Theresias, hrsg. v. Elisabeth Sturm-Bednarczyk. Wien, München 2007 (vgl. z. B. Kat. Nr. 72: Heraklit und Demokrit, 1750–1752). 13 Vgl. Wedgwood: Catalogue (1774), S. 50–58. 14 Gemeint ist die französische Übersetzerin Anne Dacier (1654–1720), die durch ihre Klassiker-Ausgaben großen Ruhm erlangt hatte.

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Isaac Newton, Thompson, Swift zu Voltaire und Rousseau reicht, wird konsolidiertes Wissen in eine mnemotechnisch günstige Form gebracht. Dass Wedgwood mit seinem Angebot den Nerv der Zeit traf, belegt die signifikante Ausweitung der Produktpalette, wie sie in seinem über 100-seitigen »Catalogue« von 1788 dokumentiert ist.15 Die ursprünglich schlichte Zusammenfassung in »Illustres Modernes« ist hier einer nach Wissensgebieten feindifferenzierten und primär auf englische Verhältnisse ausgerichteten Einteilung gewichen. Bei den »Portraits des Modernes illustres«16 finden sich neben Adeligen und Staatsmännern folglich weitaus mehr neuzeitliche »Philosophes & Naturalistes« (z. B. Newton, Locke, Diderot), »Médecins« (z. B. Boerhave, Haller), »Poètes Anglois« (wie z. B. Shakespeare, Prior, Pope, Addison, Swift), »Poètes François« (z. B. Molière, La Fontaine, Voltaire), »Peintres« (z. B. Charles Maratti, Joshuah Reynolds), »Architectes« (z. B. Christopher Wren), »Antiquaires« (z. B. William Stukeley), »Théologiens & Auteurs Moraux« (z. B. Samuel Johnson, Jonas Hanway) und – an letzter Stelle – die »Femmes célèbres«.17 Es sind dies 23 Frauen, darunter Ninon de Lenclos (1620–1705), aber auch die Schauspielerin Sarah Siddons (1755–1831), die besonders als Lady Macbeth Erfolge feierte. Letzteres verweist auf die augenscheinlich spezifisch britische Vorliebe für die Abbildungen von berühmten Schauspielern.18 Typisch hierfür sind zahlreiche Darstellungen, auf denen der Mime David Garrick (1717–1779) in seinen Parade-Rollen (wie beispielsweise als »Tancred« in James Thomsons Tragödie »Tancred and Sigismunda« von 1745) gezeigt wird.19 Die Theatralik der Bühne wird dabei – wie in der Plastik des Jahres 1760 aus der Manufaktur Derby – zur Theatralik der Skulptur transformiert. Wedgwood zog es dagegen vor, die berühmten Schauspieler auf den deutlich kostengünstigeren und damit marktgängigeren Medaillons abzubilden. 15

Vgl. Josiah Wedgwood: Catalogue de Camées, Intaglios, Médailles, Bas-Reliefs, Bustes et Petites Statues; Accompagne d’une Description Générale de diverses Tablettes, Vases, Écritoires, et autres Articles tant utiles que pûrement agréables; le tout fabriqué en porcelaine et terre cuite de différentes espèces, principalement d’après l’Antique, et aussi d’après quelques uns des plux beaux modèles des Artistes Modernes. Par Josias Wedgwood. […]. London 1788. Der Titel bezeugt, dass – mindestens von den Produzenten – nach wie vor eine Art von Legitimationsdruck hinsichtlich der Auswahl neuzeitlicher Persönlichkeiten empfunden wurde. 16 Ebd., S. iv u. 44–48. 17 Anregungen für eine geeignete Auswahl ließen sich auch in weithin verbreiteten zeitgenössischen Kompendien finden. Vgl. etwa [Jean François de La Croix]: Dictionaire historique portatif des femmes célèbres. Paris 1769; Galerie françoise: ou Portraits des hommes et des femmes célèbres qui ont paru en France. Paris 1771. 18 Vgl. Jan Seewald: Theatrical Sculpure – Skulptierte Bildnisse berühmter englischer Schauspieler (1750–1850), insbes. David Garrick und Sarah Siddons. München 2007, S. 31 f., 59 ff. und passim; sowie Heather McPherson: Garrickomania: Art, Celebrity and the Imgaging of Garrick. (Online-Ressource: http://www.folger.edu/template.cfm?cid=1465 [21.08.2011]). 19 Vgl. auch James Thomson: Tancred and Sigismunda. A tragedy: As it is acted at the Theatre-

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Seine bisweilen etwas zufällig wirkende Mischung dessen, was als beliebt, populär und berühmt galt, wurde innerhalb kürzester Zeit europaweit zum Vorbild genommen, obwohl festzuhalten bleibt, dass eigentlich kaum ein Geschäft in dieser Zeit so verlustträchtig (wie prestigeverheißend) war wie die Produktion von Porzellan. Dem Porträtprogramm der Manufaktur Fürstenberg im Weserbergland kommt – trotz der evidenten Orientierung am Konzept Wedgwoods – in diesem Kontext ein quantitativ und qualitativ einzigartiger Status zu. Während in vielen Manufakturen Porträts von Nicht-Adeligen eher zufällig und sporadisch produziert wurden,20 profilierte man sich in Fürstenberg durch ein bemerkenswert breites Spektrum von Darstellungen unterschiedlichster Machart. In den Jahrzehnten zwischen 1770 und 1800 sind dort immerhin 135 unterschiedliche Modelle für die Herstellung von Biskuitbüsten geschaffen worden.21 Nur 34 davon stellen Mitglieder des Braunschweiger Herrscherhauses dar, dem die Manufaktur gehörte; auf immerhin 45 Büsten werden dagegen zeitgenössische Dichter bzw. Dichter aus dem 17. Jahrhundert abgebildet. Zudem wurden 56 Köpfe nach vermeintlichen oder wirklichen antiken Vorlagen gestaltet. Hinzu kommen weitere 170 Porträtmedaillons, von denen 61 zwar antiken Sujets gewidmet wurden, die restlichen aber vorwiegend Dichtern und Denkern und vergleichsweise wenigen Staatsmännern.22 Während das Programm Wedgwoods dauerhaft und eher grundsätzlich impulsgebend blieb, scheint die räumliche Nähe der Manufaktur zum Braunschweiger Collegium Carolinum und dessen Gelehrten sehr konkrete Konsequenzen für das Fürstenberger Bildprogramm gezeitigt zu haben. So wirkt etwa der relative Schwerpunkt auf angelsächsischer Literatur (beispielsweise mit Darstellungen von John Milton, Joseph Addison, John Dryden, Alexander Pope oder auch Matthew Prior) im niedersächsischen Umfeld keineswegs zwingend. Selbst angesichts der Tatsache, dass die benachbarten hannoverschen Kurfürsten temporär als englische Könige wie als Royal in Drury-Lane. London 1745; Wedgwood: Catalogue (1774), S. 28 (Nr. 210) u. S. 30 (Nr. 280); sowie Wedgwood: Catalogue (1788), S. 47 – wo Garrick allerdings eingedenk der 27 von ihm verfassten Lustspiele und unter Hinweis auf »plusieurs modèles« bei den »Poètes Anglois« rubriziert wird. 20 Vgl. etwa die Klein-Skulpturen von Franziska von Hohenheim und Carl Eugen von Württemberg in Glanz des Rokoko. Ludwigsburger Porzellan aus der Sammlung Jansen. Texte von Reinhard Jansen, mit einem Beitrag von Patricia Brattig, hrsg. v. Patricia Brattig. Köln 2008. 21 Vgl. Alfred Walz: Bildnisse berühmter Persönlichkeiten und Dichter und ihre Nachbildungen. In: Reiz der Antike. Die Braunschweiger Herzöge und die Schönheiten des Altertums im 18. Jahrhundert, hrsg. v. Gisela Bungarten, Jochen Luckhardt. Petersberg 2008, S. 64–69, hier S. 64; sowie Michael Unterberg: Frühes Fürstenberger Porzellan: die Sammlung Reichmann im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg. Hamburg 2010. 22 Vgl. Siegfried Ducret: Fürstenberger Porzellan. 3 Bde. Bd. 3. Braunschweig 1965, S. 263– 266; grundsätzlich hierzu auch Beatrix von Wolff Die Porzellanmanufaktur Fürstenberg: eine Kulturgeschichte im Spiegel des Fürstenberger Porzellans, hrsg. v. Wolff Metternich u. a., 2 Bde. München 2004 (Braunschweigisches Kunsthandwerk 1).

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Universitätsgründer in Göttingen wirkten, war das Interesse an kanonisierten englischsprachigen Autoren nicht naheliegend. Nachvollziehbarer aber wird es, wenn man bedenkt, dass in Braunschweig einer der bedeutendsten deutschen Anglisten des Zeitalters, Johann Arnold Ebert (1723–1795), tätig war, der sein Renommee durch die Übersetzung der »Night Thoughts« von Edward Young (1683–1765) erworben hatte. Aus heutiger Sicht gehört er zu denjenigen, die den Kulturtransfer zwischen England und dem deutschen Sprachraum maßgeblich befördert haben. Zugleich aber war Ebert auch Prinzenerzieher und hochgeschätzter Fürsten-Berater.23 Kurzum: Es ist mehr als wahrscheinlich, dass er in Fragen der Porträtauswahl beratend Stellung genommen hat. Die direkte Bezugnahme auf die genannten englischen Autoren spiegelt die durch Ebert konstituierten und mit hoher Wahrscheinlichkeit im Braunschweiger Gelehrtenkreis signifikant erweiterten Diskurse, wie sie später dann in Johann Joachim Eschenburgs (1743–1820) »Beispielsammlung« sogar in kanonkonstituierender Funktion Eingang gefunden haben.24 Der von verschiedenen Vertretern des Collegium Carolinum (wie z. B. auch von Friedrich Wilhelm Zachariä (1726–1777)) ausdrücklich verfolgte, auf die gesamthafte und systematische Erschließung der abendländisch-europäischen Literatur ausgerichtete Ansatz, bei dem die italienische Literatur ebenso einbezogen wurde wie die mittelalterliche oder die antike, dieser Ansatz wird in den Bildnisbüsten der Manufaktur als dem kunsthandwerklich aufbereiteten Resultat einer den zeitgenössischen Kern-Kanon dokumentierenden Selektion überaus anschaulich gemacht. Diese Auswahl-Kriterien lassen sich auch anhand anderer Schwerpunkte des Porträtprogramms gut erkennen. So ist beispielsweise die signifikante Vorliebe für klassizistische Themen von Beatrix von Wolff Metternich plausibel auf Gotthold Ephraim Lessings Winckelmann-Studien zurückgeführt worden25. Der Fürstenberger Laokoon von 1772 belegt dies ebenso anschaulich wie die antikisierenden Bildnisbüsten zahlreicher griechischer und römischer Philosophen, Gelehrter und Staatsmänner (wie z. B. Homer, Sokrates, Demosthenes, Seneca).26 Damit gelangt aber eben keineswegs allein persönliche Präferenz zum Ausdruck, sondern vielmehr

23

Vgl. hierzu Anett Lütteken: »Minna« auf der Zuckerdose: Porzellane des 18. Jahrhunderts als literaturgeschichtliche Quelle betrachtet. In: Das Achtzehnte Jahrhundert 27/2 (2003), S. 217– 234. 24 Vgl. Johann Joachim Eschenburg: Entwurf einer Theorie und Litteratur der schönen Wissenschaften. Zur Grundlage bei Vorlesungen. Neue umgearb. Ausg. Berlin, Stettin 1789; vgl. auch Carsten Zelle: Eschenburgs Beispielsammlung – ein norddeutsch-protestantischer Kanon? In: Lütteken u. a.: Kanon im Zeitalter der Aufklärung, S. 89–111. 25 Vgl. Beatrix von Wolff: Metternich. Die Porträtbüsten der Manufaktur Fürstenberg unter dem Einfluß Lessings. In: Keramos 92 (1981), S. 19–68. 26 Vgl. auch: Herzog Anton Ulrich Museum Braunschweig, Inv. für 5856.

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der festverankerte Kanon des aufgeklärten 18. Jahrhunderts. Dem abendländischen Bildungs- und Ideengut wurde derart buchstäblich ein neues Antlitz verliehen. Nimmt man die Partizipation des Braunschweiger Gelehrtenkreises an der Fürstenberger Motivwahl als wahrscheinlich an, liest sie sich zudem als eine prägnante Dokumentation derjenigen Traditionslinien, innerhalb derer man sich selbst als gelehrter Zeitgenosse bevorzugt verortet sehen wollte. Der Reigen der Bildnisbüsten der Schriftsteller Lessing, Herder, Wieland, Winckelmann und Lavater dokumentiert damit also nicht zuletzt Geistesund Wahlverwandtschaften, erkennbar etwa an den Zweier-Kombinationen, die sich auf den Potpourri-Vasen finden (Karl Wilhelm Ramler trifft dort auf Immanuel Kant und Johann Jacob Bodmer auf Moses Mendelssohn). Die virtuelle, meist aber durch biographische Fakten und/oder gemeinsame Forschungsinteressen gestützte ›Paarbildung‹ vollzieht sich überdies auf dezidiert zusammengehörigen Geschirrteilen (wie Tasse und Untertasse), wo Ramler aus nachvollziehbaren Gründen mit seinem Freund Salomon Gessner kombiniert wird, mit dem er seit dessen Berliner Zeit befreundet war. Eingedenk solcher Facetten sticht das Fürstenberger Programm deutlich aus der allgemeinen Porträt-Lust heraus, wie sie Lavater etwa mit seinen physiognomischen Gedankenspielchen flächenAbbildung 2a deckend verbreitete, oder wie sie auch am allseits beliebten Silhouetten-Schneiden sichtbar wird.27 Vergleicht man etwa das riesige Spektrum der in Fürstenberg dargestellten Personen mit der Handvoll Medaillons, auf denen man in der Porzellan-Fabrik Kilchberg-Schooren Zürcher Geistesgrößen abbildete – gezeigt wurden Lavater, Pfenninger, Gessner sowie Bodmer und Breitinger –, dann wird die im Weserberg27

Vgl. hierzu Schattenrisse: Silhouetten und Scherenschnitte in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert, hrsg. v. Marianne Bernhard. München 1977.

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land zugrundegelegte Programmatik noch evidenter.28 Auch in Zürich pflegte man zweifellos das Bewusstsein für den gesamteuropäischen Kanon, kam aber über die Betonung der vor allem regionalen Relevanz der Dargestellten, aus welchen Gründen auch immer, nicht hinaus. Abbildung 2b

Bleibt noch zu erwähnen, dass die Fürstenberger Produzenten ihr ambitioniertes Porträt-Programm um das Jahr 1800 einstellten, weil es offenbar schlichtweg nicht mehr absetzbar war. Phänomene des Stilund Kanonwandels werden hieran ebenso erkennbar wie Epochengrenzen, die sich augenscheinlich kaum überwinden lassen. Es ist daher recht offenkundig, dass mit den Porträt-Porzellanen auch das Programm der (Braunschweiger) Aufklärer zu den Akten gelegt wurde. An die Voraussetzungen dieses Zeitalters gebunden und ihm verhaftet blieb schließlich ein partiell anders gearteter Typus von Porzellan-Porträt: das Denkmal im Kleinformat. Es setzt gewissermaßen quer zu dem Ideen personalisierenden Konzept an, von dem bisher die Rede gewesen ist, weil die Reverenz selbst hier sehr viel stärker emotionalisiert wird. Dies ist Teil einer umfassenderen Gedenk-Kultur, bei der das Erinnern und Bewahren von Bewahrenswertem eine wichtige Rolle spielt. Ein herausragendes Beispiel hierfür ist Johann Jochim Kaendlers (1706–1775) »Denkmal für den Dichter Gellert« von 1775, das knapp 30 cm hoch ist. Auf einem Sockel ist dort ein Obelisk mit Reliefmedaillon mit dem Porträt Gellerts plaziert. Darüber schwebt ein Fanfare blasender Engel; auf der Obelisken-Spitze sitzt eine Taube, am Sockel rechts eine trauernde Muse, links findet sich eine Urne und vorne eine kleine Engelsfigur mit Schreibfeder. Diese Darstellungsweise lässt sich sicherlich als typisch empfindsame Sentimentalisierung des Todes eines berühmten Mannes verstehen.29

28

Vgl. Franz Bösch: Zürcher Porzellanmanufaktur 1763–1790: Porzellan und Fayence. Zürich

2003. 29

Vgl. Timo John: Adam Friedrich Oeser (1717–1799): Studie über einen Künstler der Empfindsamkeit. Beucha 2001, S. 147 ff.; vgl. das Modell zu Oesers Denkmal von 1779 im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig sowie die Gellert-Denkmale des Modelleurs Michel Victor Acier

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Mit seiner Nachahmung des Denkmals von Adam Friedrich Oeser (1717–1799) gestaltet Kaendler die Vorlage aber so detailreich und luxuriös, dass hierdurch auch Rückschlüsse auf den besonderen Ruhm Gellerts (1715–1769) sowie auf verbreitete Formen des Totengedenkens ermöglicht werden. Hervorhebenswert ist daran, dass Kaendler bei seinem Denkmal nirgendwo den engen Konnex zu Präfigurationen und Prätexten verleugnet. Die über Hektors Tod weinende Andomache,30 die man in Derby gleichfalls um das Jahr 1775 herum in Porzellan in Szene setzte, klingt hier als Reminiszenz mindestens an, aber natürlich und vor allem auch Goethes Gedicht »Gellerts Monument von Oeser«.31 Darin hatte er die aller Vielfalt der Formen zum Trotz wohl wichtigste Wirkabsicht der Gestalter der in diesem Beitrag erwähnten kunsthandwerklichen Objekte auf den Punkt gebracht: »Ein bleibend Bild, ein lieblich Deuten / Auf den verschwundnen werten Mann.«

(1736–1799) von 1777 und 1778. Siehe hierzu auch Das Jahrhundert der Freundschaft. Johann Wilhelm Ludwig Gleim und seine Zeitgenossen, hrsg. v. Ute Pott. Halberstadt 2004, S. 134. 30 Das populäre Motiv »Andromache weeping over the ashes of Hector« war unter anderem von Angelica Kauffmann (1741–1807) gemalt worden; vgl. auch die Porzellan-Plastiken aus der Manufaktur Derby, um 1775 (Powerhouse Museum Collection, Sydney; A 2038) und aus der Manufaktur Leeds, zwischen 1790–1810 (Victoria & Albert Museum, London; C 29–1950). 31 Johann Wolfgang Goethe: Gellerts Monument von Oeser. In: Ders.: Gedichte. 1756–1799. Hrsg. v. Karl Eibl. Frankfurt 1987 (Bibliothek deutscher Klassiker 18), S. 249 f.

Claudia Bamberg (Frankfurt a. M.) Ambivalente Erinnerung. Anmerkungen zum Verhältnis von Ding, Text und Gedächtnis in Sophie von La Roches später Erzählung Geschichte von Miß Lony (1789) »hier haben Sie 2 briefe aus den reliquien meiner Julie Bondely – die ich Ihnen mitheile«, schreibt die fast 68-jährige Sophie von La Roche am 4. Dezember 1798 an ihren Altersfreund, den Prinzenerzieher Johann Friedrich Christian Petersen aus Offenbach nach Darmstadt; und sie fügt hinzu: »da dieße briefe in eigenschaft des titels reliquie eben so mürbe sind als der mantel der Heiligen Elisabeth in Hanover – so bitte [ich] – sie auch eben so sorgsam zu behandlen«.1 Die Autorin übersendet die Briefe ihrer klugen und ebenfalls literarisch ambitionierten Schweizer Brieffreundin Julie Bondeli, die bereits 1778 verstorben ist und mit der sie sechzehn Jahre lang einen regen Briefwechsel führte, ohne sie je persönlich kennengelernt zu haben, demnach nur mit einer strengen Gebrauchsanweisung. Denn die Briefe der verehrten Freundin besitzen wie die Gewandreliquie einen unschätzbaren, quasi-religiösen Wert und bedürfen deshalb einer ganz besonderen Behandlung, was sich Petersen womöglich nicht gleich erschließt, da die ›mürben‹ Briefe, anders als der ›wunderbare‹ Mantel, auf den ersten Blick nicht besonders wertvoll erscheinen. Sophie von La Roche steigert somit die Beschreibung der spirituellen Qualitäten der Briefe nicht nur durch die Verbindung, sondern zusätzlich durch den Materialkontrast zum »mantel der Heiligen Elisabeth«. Denn der Legende nach handelt es sich bei dieser Reliquie um eine kostbare Himmelsgabe: Die Heilige Elisabeth von Thüringen (1207–1231) schenkte ihren Mantel einem Bettler, woraufhin ihr ein Engel, da sie in adäquater Kleidung bei Hofe zu erscheinen hatte, einen ebenso prächtigen zukommen ließ. Indessen soll Petersen, La Roches weiterer Anweisung nach, nicht nur diese Energien des angegriffenen Briefmaterials erfahren, sondern – so geht aus den Zeilen auch hervor – vor allem den Text lesen.2 Gleichwohl darf auch er die Briefe nicht als beliebige tote Gegenstände und auch nicht bloß als Dokumente betrachten, bei denen es allein auf den Inhalt ankommt. 1

Sophie von La Roche an Johann Friedrich Christian Petersen, 4. Dezember 1798 (FDH 6529). Patricia Sensch, die eine Edition der Briefe La Roches an Petersen vorbereitet, danke ich herzlich dafür, dass sie mir ihre Transkription des bislang unveröffentlichten Briefes zur Verfügung gestellt hat. La Roches Briefe an Petersen befinden sich im Frankfurter Goethe-Haus – Freien Deutschen Hochstift. 2 So möchte Sophie von La Roche mit der Übersendung der Briefe ihre Vermutung bekräftigen, die Krankheitssymptome von Petersens Darmleiden seien die gleichen wie seinerzeit diejenigen bei Julie Bondeli. Für den Hinweis danke ich nochmals Patricia Sensch.

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Vielmehr muss auch er sie als »reliquien«, als im weitesten Sinne körperliche Überbleibsel auffassen. Denn für Sophie von La Roche entsteht ihr hoher Wert aus der unlöslichen Verbindung von materiell-sinnlicher und geistig-spiritueller Bedeutung, vermögen es doch offenbar nur die Originalbriefe, den bewunderten Geist der verstorbenen Freundin präsent zu halten und ihn damit dem Vergessen sowie einer möglichen Vernichtung zu entreißen. Die materielle und die mediale Dimension der Briefe sind demnach nicht voneinander zu trennen. Die Forschung hat sich in den letzten Jahren wiederholt mit Sophie von La Roches empfindsamer Erinnerungspraxis befasst.3 Dabei hat sie gezeigt, dass die Autorin eine passionierte Sammlerin war und dass sich diese Leidenschaft mit zunehmendem Alter verstärkte. Das dokumentieren nicht nur ihre schriftlichen Zeugnisse – Briefe, Reisetagebücher, autobiographische und fiktive Texte –, sondern auch ihre Andenkensammlung, die sich in Teilen im Freien Deutschen Hochstift erhalten hat. Sophie von La Roche hat Gegenstände jedoch nicht allein zum Zweck des Erinnerns, sondern auch aus einem schier unermüdlichen Wissensdrang heraus gesammelt, der im Kontext der Kunst- und Wunderkammertradition gesehen werden muss – empfindsame Erinnerungspraxis und aufklärerische curiositas gehen bei ihr eine eigentümliche Verbindung ein.4 Folglich mag es nicht allzu sehr überraschen, dass das, was La Roche im Brief an Petersen ganz selbstverständlich praktiziert, auch und gerade in ihren späten Schriften ein zentrales Thema ist. So geht es hier immer wieder um die Installation eines Andenkens, und immer wieder wird dabei besonders die Herstellung eines Erinnerungsgegenstandes in Szene gesetzt und zum Ereignis gemacht. Wie anhand eines späten Textes der Autorin gezeigt werden soll, der Geschichte von Miß Lony von 1789, sind die zum Zwecke des Erinnerns eingesetzten Dinge sowohl als handlungstreibendes Motiv auf der Ebene des Plots als auch für das Erzählverfahren bedeutsam. 3

Vgl. Gerhard Kölsch, Petra Maisak: »Köstliche Reste«. Andenken an Goethe und die Seinen. Freies Deutsches Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum in Zusammenarbeit mit der Adolf und Luisa Haeuser-Stiftung für Kunst und Kulturpflege. Ausstellung und Bestandskatalog. 1. Dezember 2002 bis 2. Februar 2003. Frankfurt a. M. 2002, S. 112 ff.; Anna Ananieva, Christiane Holm: Phänomenologie des Intimen. Die Neuformulierung des Andenkens seit der Empfindsamkeit. In: Der Souvenir. Erinnerung in Dingen von der Reliquie zum Andenken. Ausstellung im Museum für Angewandte Kunst Frankfurt, 29. Juni bis 29. Oktober 2006, hrsg. v. Museum für Angewandte Kunst Frankfurt. Frankfurt a. M. 2006, S. 156–187, hier S. 177; Claudia Bamberg: Sophie von La Roche. Mit einem Beitrag von Patricia Sensch. Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum, 18. Februar bis 6. Mai 2007. Frankfurt a. M. 2007, S. 67 ff., S. 74–77, S. 106 f., S. 114 f., S. 121. 4 Vgl. hierzu ausführlich Claudia Bamberg: Zwischen Souvenir, Freundschaftsgabe und Erkenntnisobjekt. Die Andenkensammlung der Sophie von La Roche im Kontext von Empfindsamkeit und Spätaufklärung. In: Monika Lippke, Mathias Luserke-Jaqui, Nikola Roßbach (Hrsg.): »bald zierliche Blumen – bald Nahrung des Verstands«. Lektüren zu Sophie von La Roche. Hannover 2008, S. 141–168.

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Zudem findet diese Vorliebe für Dingliches ihren Niederschlag in der Buchgestaltung und wird somit in verschiedenen Medien greifbar: Die Herstellung und Inszenierung eines Andenkens ist, so die These, eine der zentralen poetischen Strategien in La Roches späten Schriften. Anschließend an die jüngeren Forschungsarbeiten sollen im Folgenden wichtige Strukturmerkmale von La Roches Spätwerk herausgearbeitet und der Blick auf dieses differenziert werden. Damit lässt sich deutlich zeigen, dass die vorwiegend von der älteren Forschung vertretene These, der einst erfolgreichen Autorin der Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) falle im Alter nichts – oder zumindest nichts Neues – mehr ein, weshalb sie in ermüdender Weise auf einen immer gleichen und zugleich unzeitgemäßen Fundus an Gedanken und Erzählverfahren zurückgreife, nicht aufrecht erhalten werden kann.5 In Sophie von La Roches Alterswerk besitzen die Erinnerungspraktiken des ausgehenden 18. Jahrhunderts eine Schlüsselfunktion, wobei diese Praktiken nicht vorschnell und pauschal als unzeitgemäß oder naiv zu bewerten sind, sondern historisch-kritisch und vor allem mit Blick auf ihre poetischen Effekte gelesen werden müssen. Auch darin schließe ich an die neuere Forschung an, die sich in zunehmendem Maße auf den kulturgeschichtlichen Kontext von La Roches Schreiben sowie auf die Voraussetzungen und Implikationen der empfindsam-aufklärerischen Kulturpraktiken konzentriert. In der Geschichte von Miß Lony ist es vor allem die Erfahrung des Verlusts, welche die Figuren dazu anhält, ein Andenken zu installieren. Damit reagieren sie nicht nur auf den Verlust oder die Abwesenheit einer bestimmten Einzelperson, sondern auch, denkt man an den historischen Verlauf am Ausgang des 18. Jahrhunderts, auf den Zusammenbruch von Ordnung und Stabilität, d. h. auf die Auflösung des schöpfungstheologischen Weltbildes. Das Andenken-Ding erscheint anders als der Mensch – als das moderne Subjekt, das am Ende des 18. Jahrhunderts die Bühne betritt und für die historischen Umwälzungen verantwortlich ist – nicht korrumpierbar und sich nicht den Harmonisierungs- und Ordnungsbestrebungen zu widersetzen. Anders formuliert: Mit der Erfahrung, dass die Vorstellungen von Empfindsamkeit und Aufklärung angreifbar sind und da außerdem das übergeordnete, vermeintlich stabile ideelle und politische Koordinatensystem im Begriff ist, unwiederbringlich zusam5 Das haben jüngst auch zahlreiche Beiträge eines Tagungsbandes zu Sophie von La Roche gezeigt. Vgl. Gudrun Loster-Schneider, Barbara Becker-Cantarino (Hrsg.): Ach, wie wünschte ich mir Geld genug, um eine Professur zu stiften. Sophie von La Roche im literarischen und kulturpolitischen Feld von Aufklärung und Empfindsamkeit, hrsg. unter Mitarb. v. Bettina Wild. Tübingen 2010. – Interessant ist in gegebenem Zusammenhang besonders der Beitrag von Gerhard Sauder ›Ansichten der Empfindsamkeit im Werk Sophie von La Roches‹: Sauder spricht vom »Opernhafte[n]« der »Inszenierungen« von Erinnerung im Spätwerk der Autorin, das allerdings stets Gefahr laufe, den »Schein […] von Authentizität« zu zerstören. Vgl. ders.: Ansichten der Empfindsamkeit im Werk Sophie von La Roches: In: Ebd., S. 11–26, hier S. 25.

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menzubrechen, kann das Andenken bei La Roche seine Energien freisetzen: Ihm haftet der Schmerz über Verlorenes an, da es dieses immer wieder ins Bewusstsein zurückruft. Zugleich aber kann es durch seine dingliche Präsenz helfen, das vermeintlich Verlorene in die Gegenwart zurückzuholen und hier erneut zu verankern. Damit scheint es sich dem Bedürfnis nach Ordnung und Stabilität zu fügen und wirkt weitaus weniger fragil als das Subjekt mit seinen Leidenschaften und überschwänglichen Ideen, die für Sophie von La Roche beide gleichermaßen für die Bedrohung der großen Ordnung – an deren Richtigkeit sie zeitlebens glaubt – verantwortlich zu machen sind. Das Ding soll demnach offensichtlich helfen, das (alte), scheinbar sichere Koordinatensystem wieder in Kraft zu setzen oder zumindest über Irritationen und Kontingenzen hinwegzutrösten – im Gegenstand des Andenkens sind Schmerz und Trost, Zeitlichkeit und Zeitlosigkeit zugleich präsent. Allerdings kann das Andenkending in La Roches späten Texten, so eine weitere These, Erinnerungsprozesse unterschiedlicher Qualität in Gang setzen: So können die Objekte sowohl retrospektiv als auch prospektiv funktionieren, was jeweils unterschiedliche Folgen für das Befinden der Figuren hat. An Sophie von La Roches Erzählung Geschichte von Miß Lony, 1789 bei Carl Wilhelm Ettinger in Gotha »[m]it zwey Kupfern« und einer eingelegten Arie zusammen mit dem Text Der schöne Bund erschienen,6 lässt sich diese Funktion beispielhaft darstellen. Sie handelt vom Schicksal der englischen Waise Lony: Diese verliebt sich in den leidenschaftlichen Lord Redall, der seinerseits von ihrem Wesen, ihrer ›schönen Seele‹, hingerissen ist. Beide verloben sich miteinander, werden jedoch noch vor der Hochzeit durch die Ränke der rach- und eifersüchtigen Stiefmutter Lonys wieder voneinander getrennt. Deren leibliche Tochter konnte durch die eigene Verbindung mit einem Adeligen nicht die gleiche Standeserhöhung erreichen wie Lony mit ihrer geplanten Hochzeit. Redall glaubt den boshaften Anschuldigen gegenüber Lony, der vorgeworfen wird, Kuppelei zum Zwecke der eigenen Standeserhöhung betrieben zu haben, und verlässt England wutentbrannt, ohne noch einmal mit seiner Verlobten zu sprechen. Diese ist am Boden zerstört, findet aber bei Lady Charlotte, einer Tante des Lords, liebevolle Aufnahme und gesellschaftliche Ablenkung. Dennoch kommt sie über den Schmerz der Trennung ebenso wie über Redalls Heftigkeit nicht hinweg. Obwohl dieser nach vielen Monaten reumütig erkennt, dass er einer Intrige zum Opfer gefallen ist, nach England zu Lony zurückkehrt und sie erfolgreich um Verzeihung bittet, kann sie sich von den Ereignissen nicht mehr erholen und stirbt kurz nach der Hochzeit mit ihm an Auszehrung, ohne ihre Unschuld zu verlieren. 6

Geschichte von Miß Lony und der schöne Bund. Von Sophie, Wittwe von La Roche. Mit zwey Kupfern. Gotha 1789. – Ich zitiere aus Sophie von La Roche: Geschichte von Miss Lony. In: Sophie von La Roche. Lesebuch, hrsg. u. mit einem Nachwort v. Helga Meise unter Mitarb. v. Claudia Bamberg u. Andreas Jacob. Königstein 2005, S. 141–225.

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Schon am Beginn der Erzählung sind die Dinge ein wesentlicher Bestandteil des Textgefüges. Hierbei verdient insbesondere die Schilderung von Lonys Cabinet im Hause ihres Pflegevaters und die damit verbundene Bewertung von »Erinnerung« Aufmerksamkeit: Das Cabinet war einfach, mit blaßgrünem Papier ausgeschlagen, seine Verzierungen Kupferstiche hinter Glas, ein Gestell mit auserlesenen Büchern und das Brustbild des Sokrates, der Venus Medicis und dem Kopf der Niobe gegenüber aufgestellt, zur Erinnerung, daß Weisheit die Reize der Schönheit und Wollust und die Anfälle des Kummers und des Schmerzes beherrschen solle.7

Lonys Zimmer ist wie eine kleine neuzeitliche Kunstkammer arrangiert und präsentiert sich damit als geordneter, stabiler Mikrokosmos. Lony selbst wirkt dabei fast wie ein Teil oder Ding ihrer Sammlung; durch ihren »Gang und [ihr] Wesen voll Anmut und Würde«8 erscheint sie wie eine allegorische Darstellung empfindsamer Tugend bzw. der ›schönen Seele‹ avant la lettre – und weniger wie ein Mensch aus Fleisch und Blut. Indes versteht sich das Arrangement im Cabinet nicht als biographische, sondern als mahnende Erinnerung; es ist also nicht retrospektiv, sondern prospektiv angelegt, benennt es doch auch die Gefahr eines möglichen Fehlverhaltens. Damit deutet es zugleich seine Fragilität an und weist voraus auf das weitere Geschehen. Es bedarf folglich der kontinuierlichen »Erinnerung«, dass der geordnete Zustand ein gefährdeter ist; mögliche Bedrohungen müssen gleichsam stoisch unterdrückt und beherrscht werden. Im weiteren Verlauf der Handlung verändert sich nun interessanterweise die Bedeutung und Bewertung von Erinnerung ebenso wie die Funktion der Dinge. Dabei ist entscheidend, dass »Erinnerung« für Lony nur bedingt eine retrospektivbiographische werden darf, da sie sonst zur Lebensbedrohung gerät. Nach Redalls fluchtartigem Aufbruch geht sie, noch voller Hoffnung, dass sich bald alles wieder zum Guten wende, auf eine Anhöhe hinauf, von der aus sie »das paradiesische Tal von Richmond übersehen konnte«. Plötzlich jedoch »zerstörte eine ungefähre Erinnerung alle gegenwärtige Freude«: Sie gedenkt ihres letzten glücklichen Beisammenseins mit dem Lord in ähnlicher Naturszenerie, bei dem dieser ihr versprochen hatte: »›Lony! Wenn der Mond wieder auf dieser Höhe steht, dann kann mich nichts mehr von dir entfernen.‹ / Diese Erinnerung traf ihr Leben. Sie ging mit bebenden Schritten zurück und betrat diese Stelle nie wieder.«9 Auch die geselligen Ablenkungen können nur vorübergehend helfen, die belastenden Erinnerungen in den Hintergrund treten zu lassen. Lony beginnt, empfindsam7 8 9

La Roche: Geschichte von Miss Lony, S. 144 f. Ebd., S. 144. Ebd., S. 197.

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melancholische Arien zu singen, von denen eine, Offender non so überschrieben und »von Antonette von Breitenbauch« komponiert,10 mit Partitur in der Erstausgabe abgedruckt ist. Der Beginn des Arientextes erscheint noch einmal auf dem Kupferstich, der Lony in melancholischer Haltung kurz nach dem Singen der Arie zeigt und der ebenfalls dem Erstdruck beigegeben ist. Im rechten Hintergrund des Bildes ist außerdem eine Urne zu sehen, die zu den zentralen empfindsamen Topoi in der bildenden Kunst gehört11 und neben Melancholie moralische Rührung – also ›Empfindsamkeit‹ – zum Ausdruck bringen bzw. hervorrufen soll. Sie wird im Schlusstableau des Textes noch einmal auftauchen und deutet insofern auf das Ende der Erzählung voraus. Wie aus den Briefen der Autorin hervorgeht, legt diese großen Wert auf die angemessene Illustration ihrer Bücher und ist durchaus nicht immer zufrieden mit der Arbeit der Kupferstecher. Für die Bildbeigaben der Geschichte von Miß Lony indessen findet sie großes Lob: »Die Zeichnungen [sind] von Professor Langer aus Düsseldorf«, heißt es in einem Brief an Leonhard Meister vom 10. Januar 1789, »der gewiß der erste Teutsche ist, dessen Hand ganz mit griechischem Geist und Grazie begabt scheint […]. Thelott, sein Schüler, der gerad aus England kommt, wo [er] die Kupferstecherkunst lernte, sticht sie.«12 Der Stich bezieht sich direkt auf den Text: Ein von Lady Charlotte beauftragter Maler soll, wie es auch hier heißt, »den Geist und die Grazie«13 Lonys zeichnen, die beim Musizieren offenbar besonders deutlich zum Ausdruck kommen. »Das Bild wurde meisterhaft ausgeführt und auf Lady Charlottes Vorschlag unter den auf dem Tisch gemalten Musikalien die Arie, die Lony sang, deutlich angezeigt. Es war die bekannte vortreffliche: Offender non so, […]«.14 Später, als Redall nach langer Abwesenheit in seine Heimat zurückkehrt, führt ihn Lady Charlotte zunächst nicht zu Lony selbst, sondern zu jenem Bild: »[…] Lonys untergrabene Gesundheit verhärtete ihr sanftes Herz so sehr, daß sie ihn in dem Zimmer zu empfangen beschloß, wo das herrliche Bild des Engels von der Hand des großen Künstlers nebst der schönen Aussicht, die Miss Lony so vorzüglich liebte, aufgehängt war.« Außerdem drückt sie Redall das Papier mit der italienischen Arie und dem Hinweis in die Hand, dass es

10

Ebd., S. 211. Vgl. Ananieva, Holm: Phänomenologie des Intimen, S. 162. 12 Sophie von La Roche an Leonhard Meister, 10. Januar 1789. In: Michael Maurer (Hrsg.): »Ich bin mehr Herz als Kopf«. Sophie von La Roche. Ein Lebensbild in Briefen. München 21985, S. 314. 13 La Roche: Geschichte von Miss Lony, S. 200. 14 Ebd., S. 201. Der Arientext lautet weiter: »Offender non so / Ma perdonnar à chi m’offende / E la scienza del mio cor. […]«. (ebd.; »Ich kann nicht verletzen, aber demjenigen zu vergeben, der mich verletzt hat, darin liegt die Wissenschaft meines Herzens. […].« 11

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diejenigen »Worte« seien, »die sie«, Lony, »selbst aufsetzte«, und dass jene »Worte« »das letzte« gewesen seien, »was ich sie singen hörte.«15 Es ist bemerkenswert, dass das Bild und die notierte Arie bereits vor Lonys Tod, der zu diesem Zeitpunkt noch keineswegs gewiss ist, den Status eines Andachtsmediums erhalten, wobei das Papier mit der Arie, ähnlich wie die eingangs erwähnten Briefe Julie Bondelis, fast schon den Charakter einer Reliquie besitzt. Zu singen vermag Lony inzwischen nicht mehr; und auch dem Bild entspricht sie nicht mehr. Mit Lonys Existenz sind auch die alte Ordnung und Harmonie zerstört worden, was Lord Redall, bei seiner Ankunft noch immer nicht ganz besänftigt, endlich begreifen soll; es bleiben die Dinge, die an sie erinnern und zugleich ermahnen sollen, dass solch eine durch Leidenschaften verursachte Katastrophe nie wieder geschehe. Indem die Andenken darüber hinaus zu Kunstwerken geformt werden – auf dem Kupferstich ist neben der Arie auch Lonys Laute zu sehen, die sie von Anfang an bei sich hat und die sie ihrer besten Freundin »zur Erinnerung der Harmonie, die zwischen ihren Seelen geherrscht hatte«,16 vermachen wird – wird die Verdinglichung sogar verdoppelt. Zudem scheint die Verklärung zum schönen Kunstwerk die Kraft des Andenkens zu verstärken; als stabile harmonische Konfiguration soll es jedenfalls der bewegten defizitären Wirklichkeit entgegengehalten werden. Die Buchbeigaben belegen folglich, dass der Autorin gerade jene Szenen besonders wichtig sind, in denen die vorgängige Harmonie bereits verloren ist und der Verlust beklagt wird. Sie setzt den Akzent auf den Umschlagspunkt, in dem Lony noch als klassisch-griechische Grazie, als ›schöne Seele‹ erscheint, aber schon erste Spuren der Verletzung erkennen lässt. Diese Übergangsphase scheint folglich das Stadium zu sein, das es durch Andenken festzuhalten gilt, und besitzt offenkundig – im Medium des Textes, des Bildes und der Musik – die größte ästhetische Wirkung. Schließlich lohnt sich der Blick auf das Ende der Erzählung: Lony kann sich, wie zu befürchten war, nicht mehr von den leidvollen Erfahrungen erholen und stirbt an innerer und äußerer Auszehrung. Während sie selbst ihren Angehörigen und Freunden Briefe, Tagebuchauszüge sowie persönliche Dinge aus ihrer Sammlung zur – wie es ausdrücklich heißt – »Erinnerung« an Freundschaft, Harmonie und gemeinsam erlebtes Glück hinterlässt, entwirft der verzweifelte Redall nach ihrem Tod in einem Park einen »runde[n] Tempel«, in dessen Mitte ein Aschenkrug auf einem Altar steht. Die Bildsäule der Tugend umfaßt ihn und beugt voll Trauer ihr Haupt auf die Urne, und hält mit einer Hand den Sternenkranz über ihr. An dem Altare steht: ›Ach Lony Redall! Beste meiner Töchter!‹

15 16

Ebd., S. 210. Ebd., S. 223.

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Auf der untern Stufe des Altars selbst kniet der Gott der Liebe, seine Pfeile, zerbrochen neben ihm, seine Hände ausgebreitet. Die eine weist auf die Inschrift am Fuß des Altars: ›Vergib! Heilige Asche, vergib!‹ Zypressen und Trauerweiden, von Redall und Horten [einem Freund Redalls] selbst gepflanzt, umgeben den Tempel von allen Seiten, und oben auf dem Gesimse steht: ›Ihr künftigen Besitzer dieses Parks, beschützet das Denkmal der tugendhaften Lony Redall.‹ Oft kommen blühende Engländerinnen hin, legen eine Lilie zu den Füßen des Altars und weinen über Lonys Schicksal eine sanfte Träne.17

Es ist bemerkenswert, dass die Vernichtung von Lonys physischer Existenz zur Voraussetzung dafür wird, dass das Andenken sich der Zukunft öffnen und neben den ästhetischen auch seine didaktischen und religiösen Wirkungen entfalten kann. Indem dabei die empfindsamen Topoi aufgerufen werden, vermischen sich Trauer um Verlorenes, unheilbarer Liebesschmerz, Schuldbewusstsein und die Hoffnung, dass es nie wieder zu einem solchen Vergehen an einem ›Engel‹ komme, untrennbar miteinander. Ähnlich gehen Ding, Bild und Text eine unauflösliche Allianz ein im Zeichen eines gelingenden Erinnerns, das den Verweis auf die Zukunft immer mit einschließt. Sophie von La Roche leuchtet in ihrer Erzählung Geschichte von Miß Lony die Möglichkeiten eines literarischen Verfahrens aus, dem es um die Darstellung von Erinnerung geht und das im Spannungsfeld von Ding und Text die Herstellung und Installation eines Andenkens zum bestimmenden Ereignis werden lässt. Unterdessen tritt die ambivalente Dynamik von Erinnerung deutlich zutage: Sie kann als Mahnung, Trost und Verheißung erfahren werden, ist für die Protagonistin jedoch vor allem eines: tödlich. Die Möglichkeit der prospektiven Mahnung, wie sie anfänglich im allegorisch inszenierten Arrangement von Lonys Cabinet geschehen sollte, wird zwar im Schlusstableau aufgegriffen und scheint auch hier wieder zu funktionieren – wenn auch um den Preis der totalen Verdinglichung Lonys. Jedoch konnte sie im Kontext der Liebeshandlung nicht glücken: Lonys Erinnerung war hier stets rückwärtsgewandt und hat bei ihr allein größten Schmerz und Kummer auslösen können. Hierin liegt eine deutliche Akzentverschiebung gegenüber der 27 Jahre zuvor erschienenen Geschichte des Fräuleins von Sternheim, die ebenfalls harte, ja eigentlich härtere Prüfungen und Schicksalsschläge als Lony zu be- und überstehen hatte, die sich aber anders als diese von ihnen erholen konnte. Das Sammeln und Inszenieren von Andenken war für Sophie von Sternheim eine lebensstärkende Praxis, wohingegen Lony darüber zugrunde gehen muss. Zwar lässt sie erst die Erinnerung ein 17

Ebd., S. 224 f.

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Mensch, eine von Leidenschaften bewegte Frau und damit eine überzeugende literarische Figur werden, jedoch ist der Preis dafür die Zerstörung ihrer ›schönen Seele‹. Andererseits jedoch wird Lony durch die vermehrte Herstellung und Inszenierung von Andenken im Verlauf der Erzählung unwillkürlich mehr und mehr selbst zum Ding und schließlich sogar zum Denkmal, hinter dem sie als Subjekt verschwindet. Nicht ihre reale Person oder Individualität soll in Erinnerung bleiben, sondern das, was den Hinterbliebenen als erinnerungswert erscheint. Dies ist ihre außergewöhnliche Tugendhaftigkeit, ohne dass zur Kenntnis genommen wird, dass es gerade diese war, die sie letztlich vernichtet hat. Eine Entwicklung wird Lony folglich nicht zugestanden, soll sie doch um jeden Preis diejenige bleiben, die sie am Beginn der Erzählung war: die unschuldige ›schöne Seele‹. Diese lässt sich am Ende jedoch nur noch im Denkmal beschwören – die Verdinglichung der inzwischen toten Titelfigur erreicht im Schlusstableau ihren Höhepunkt. Allerdings sorgt Lony selbst dafür, dass ihre Freunde dieses Bild von ihr pflegen und nach ihrem Tod kultivieren, indem sie die Erinnerung an ihr Schicksal durch die sorgfältige Vergabe von Andenken bewusst steuert. Sie selbst also kann und will sich nur als ›schöne Seele‹ wahrnehmen – auch dies ist vielleicht ein Grund, warum sie, als sie diesem Selbstbild nicht mehr entsprechen kann, daran zerbrechen muss. Überhaupt ist sie im Umgang mit Dingen viel geübter als mit der unmittelbaren Realität, was sich kurz vor ihrem Tod nochmals verstärkt: Die Natur kann sie nun nicht mehr direkt, sondern nur noch vermittelt – über Gemälde und einzelne Blumen, die in ihr Zimmer gebracht werden – ertragen.18 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Akt des Erinnerns in der Geschichte von Miß Lony zu einer radikalen Fetischisierung des Andenkens führt. Zugespitzt könnte man darum formulieren, dass die Sache – das Erinnern – im Verlauf der Erzählung immer mehr von den Sachen – den Erinnerungsstücken – verdrängt wird. Diese werden damit zu den eigentlichen Protagonisten, hinter denen die Subjekte und ihre Handlungen zurücktreten. Inwieweit sich darin bereits der Rückzug in die geschützten Innenräume des Biedermeier ankündigt – eine Tendenz, die schließlich umschlagen und zu einer immer bedrohlicheren Eigendynamik der Dinge führen wird – wäre dabei sicherlich eine interessante Frage.

18

Vgl. hierzu auch Michaela Krug: Auf der Suche nach dem eigenen Raum. Topographien des Weiblichen im Roman von Autorinnen um 1800. Würzburg 2004.

Anna Ananieva (Bonn) Getrocknete Blumen. Literarische Figurationen sentimentaler Erinnerungspraktiken zwischen modischer Chiffre und intimem Souvenir in Révéroni Saint-Cyrs Sabina d’Herfeld 1. Dingliche Andenken »Es pflegen nemlich viele Menschen zu einem leblosen Ding, welches mit einem geliebten Gegenstand in irgend einem anmerklichen Verhältniß steht, oder von ihm herrührt, eine besondere Zuneigung zu faßen, weil es ihnen bei aller Gelegenheit das Lieblingsbild ihrer Seele zurükruft. Diese Anhänglichkeit pflegt bei weniger empfindenden Menschen, welche sie blos nachmachen, und sich hernach damit amüsiren in eine ganz zweklose Tändelei, bei tieferfühlenden in Schwärmerei auszuarten. Allein auch in ihrem besten Zustande ist sie ein bald mehr bald weniger schädliches Mißverständniß der Fantasie.«1 Als Friedrich Schleiermacher am Ende der 1780er Jahre einen Systematisierungsversuch über die Liebe zu Dingen unternimmt, notiert die Literatur bereits europaweit die Genese eines Alltagsphänomens, das sich durch psychisch-affektive Bindung an »leblose Dinge« auszeichnet und zahlreiche Facetten der von Schleiermacher kritisch betrachteten empfindsamen Zuneigung zu geliebten Objekten hervorbringt.2 Die Herausbildung dieser neuen Gefühlskultur wird im deutschen Sprachgebrauch durch das neue Verständnis vom Andenken markiert: Seit den 1770er Jahren meint »Andenken« nicht mehr allein den memorativen Akt, den mentalen Vorgang, sondern zudem das »Mittel der Erinnerung«, das man »einem […] hinterlassen« kann.3 Als »Mittel der Erinnerung« erhalten gerade die kleinen, unansehnlichen und materiell wertlosen Objekte eine neue Bedeutsamkeit.4 1

Friedrich Schleiermacher: Anmerkungen zu Aristoteles: Nikomachische Ethik 8–9. In: Ders.: Jugendschriften 1787–1796, hrsg. v. Günter Meckenstock. Berlin 1984 (Kritische Gesamtausgabe, Abt. 1, Bd. 1), S. 8 f.; vgl Christiane Holm, Günter Oesterle: Andacht und Andenken. Zum Verhältnis zweier Kulturpraktiken um 1800. In: Günter Oesterle (Hrsg.): Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. Göttingen 2005, S. 433–448 (Formen der Erinnerung; 26), hierzu S. 444 f. 2 Anna Ananieva, Christiane Holm: Phänomenologie des Intimen. Die Neuformulierung des Andenkens seit der Empfindsamkeit. In: Der Souvenir. Erinnerung in Dingen von der Reliquie zum Andenken. Ausst.-Kat. Museum für Angewandte Kunst Frankfurt. Köln 2006, S. 156–187. 3 Johann Christoph Adelung: Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der hochdeutschen Mundart, mit vollständiger Vergleichung der übrigen Mundarten. Leipzig 1774, Sp. 234. 4 Ein prominentes Beispiel stellt die Andenkensammlung von Sophie von La Roche dar, die

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In dem übervollen Magazin der literarischen Andenken-Motive befindet sich auch ein ausgesprochen fragiles Objekt, dem im Folgenden die besondere Aufmerksamkeit zukommen soll: die trockene Blume. Erinnerungskulturell attraktiv erscheint die Trockenblume dank ihrer spezifischen Materialität: als ein Gegenstand der Natur steht sie für unverfälschte Empfindungen und unmittelbaren Ausdruck. Die appellative Zeichenhaftigkeit einer aus ihrem natürlichen Kontext isolierten Blume bringt sie in die Nähe zur Schrift. Gepflückt und getrocknet wird eine lebende Blume vom Naturzeichen zum Artefakt. Ohne dabei ihr Ursprungsversprechen einzubüßen, gewinnt sie eine eigene Zeitstruktur hinzu, die sie als intimes Andenken semantisiert: Der Schnitt markiert sie als Vergangenes, die Konservierung macht sie als einen in der Gegenwart anwesenden und in die Zukunft hinein wirkenden Gegenstand evident. Gerade hier lässt sich eine strukturelle Verwandtschaft mit einem anderen beliebten Objekt intimer Erinnerungskultur – der Haarlocke – ausmachen.5 Bezeichnenderweise werden häufig beide Materialien, Haare wie Trockenblumen, gemeinsam im Memorialschmuck bis ins späte 19. Jahrhundert verarbeitet. (Abb. 1)

Abb. 1: Medaillon mit Haararbeit. Holland, 1814 (Signiert: F.F. Mente). Glatter Goldrahmen, Unter Glas Malerei auf Elfenbein. 7 x 10,5 cm. Stedelijk Museum De Lakenhal, Leiden, Inv. Nr. 1760 (Foto: A. Dingjan, Den Haag). Aus: Gisela Zick: Gedenke mein. Freundschafts- und Memorialschmuck 1770–1870. Dortmund 1980, Tafel 20.

sie seit den 1770er Jahren pflegt. Siehe: Gerhard Kölsch, Petra Maisak (Hrsg.): »Köstliche Reste«. Andenken an Goethe und die Seinen. Ausst.-Kat. Freies Deutsches Hochstift Frankfurt. Frankfurt a. M. 2002, Kat.-Nr. 89, S. 112 ff. Vgl. dazu den Beitrag von Claudia Bamberg im vorliegenden Band. 5 Christiane Holm: Intime Erinnerungsgeflechte: Memorialschmuck aus Haaren um 1800. In: Kritische Berichte 32/1 (2004), S. 29–41.

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Die folgenden Ausführungen sollen am Beispiel eines wenig bekannten Romans aus den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts veranschaulichen, wie komplex literarische Figurationen solcher blumenbezogener Praktiken sein können, wenn getrocknete Blumen als Chiffre intimer Kommunikation und als dingliches Mittel der Erinnerung in Szene gesetzt werden.

2. Der Roman von Révéroni Saint-Cyr »Sabina d’Herfeld« und seine Übersetzungen Im Jahr 1796 erscheint in Paris ein Roman unter dem Titel »Sabina d’Herfeld, ou les Dangers de l’imagination, lettres Prussiennes recueillies par St. C***«. Der Verfasser, Jacques Antoine baron de Révéroni Saint-Cyr (1767–1829), ist zu diesem Zeitpunkt bereits seit einigen Jahren als erfolgreicher Librettist bekannt und hat damit nun sein Debüt als Romanautor. Die in Duodez gedruckte französische Originalausgabe erfährt bald eine zweite Auflage und wird bereits ab Februar 1797 verstärkt in deutschen Zeitschriften beworben.6 Im Juni 1798 kündigt die »Allgemeine Literaturzeitung« eine deutsche Übersetzung »von dem mit vielem Beyfall aufgenommenen Buch Sabina d’Herfeld« an.7 Zu der Oster-Messe 1799 bietet die Neue Günthersche Buchhandlung in Glogau das Buch unter dem Titel »Sabina von Herfeld, oder die Gefahren einer feurigen Einbildung, 2 Theile mit Kupf.« für einen Reichstaler an.8 Im Juli desselben Jahres landet der Roman auf der Liste der durch die kaiserliche Bücherzensur in Wien verbotenen Bücher. Der russische Bücherzensor findet dagegen keinen Anstoß an dem Buch, und so erscheint »Sabina« im Jahr 1802 auch in einer russischen Übersetzung im Verlag der Moskauer Universität, wovon umgehend auch das deutschsprachige Publikum unterrichtet wird.9 Zeugen die deutschen und französischen Repertorien von immer neuen Auflagen des Romans bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, so gestaltet sich heute die Suche nach einem Exemplar als äußerst schwierig. Die zweite Auflage der französischen Ausgabe ist in München belegt, eine russische Ausgabe ist in Moskau greifbar. Die

6

Allgemeine Literaturzeitung, Intelligenzblatt Nr. 19, 11. Februar (1797), Sp. 167; ALZ, IB Nr. 66, 20. Mai (1797), Sp. 550. 7 ALZ IB Nr. 96, 30. Juni (1798), Sp. 801. 8 ALZ IB Nr. 26, 1. März (1800), Sp. 204. Die deutsche Übersetzung ist kurz darauf ausführlich besprochen worden: Neue allgemeine deutsche Bibliothek. Bd. 64, 2 (1801), S. 70–73. 9 Sabina Gerfel’d, ili opasnosti voobraženija. Prusskie pis’ma, sobrannye g-nom Sen Sir. Moskva 1802. Eine Ankündigung der russischen Übersetzung ist unter dem deutschen Titel erfolgt: »Sabina Herfeld, oder die Gefahren der Einbildungskraft. 2 Th. M[oskau]. [1]802«. In: Russland unter Alexander dem Ersten. Eine historische Zeitschrift, hrsg. v. Heinrich Friedrich von Storch, Bd. 9.h St. Petersburg, Leipzig 1808, S. 167.

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deutsche Übersetzung, wenn auch zeitnah rezensiert, ist offensichtlich überhaupt nicht zum Objekt bibliothekarischer Sammeltätigkeit geworden. Zunächst sollen daher die wesentlichen Züge dieser – wie nicht anders zu erwarten – tragischen französisch-preußischen Geschichte skizziert werden.10 Die zweiundfünfzig »preußischen« Briefe, die der Verfasser des Romans – wie im Titel angegeben – »gesammelt« haben will, geben Einblicke in die Entwicklung der Leidenschaft zwischen der verheirateten Gräfin Sabina von Herfeld und dem Kornett Versen. Diese Beziehung nimmt ihren Anfang in einem Berliner Theater, als Versen mit einer von ihm vorgetragenen Arie die Aufmerksamkeit von Sabina weckt. Zwischen beiden entwickelt sich eine Liebesbeziehung, die sich vorzugsweise in Gartenräumen abspielt und ihre Verwirklichung in Form von floralen Liebesgaben erfährt. Doch es gelingt dem Gegenspieler, einem einst zurückgewiesenen Verehrers Sabinas, Major Lormer, die Beziehung durch eine Intrige zu zerstören. Die Geschichte endet mit dem Tod Sabinas am Fuße eines Turms, der zu einer Schweizer Nervenheilanstalt gehört, in der der inzwischen geisteskranke Versen untergebracht ist. (Abb. 2)

Abb. 2: Frontispiz und Titelseite des Romans »Sabina d›Herfeld ou les dangers de l›imagination« (1796) von Jacques Antoine de Révéroni Saint-Cyr. Digitalisat: Universitätsbibliothek München, Signatur: 0001/8 P.gall. 3786 (1/2).

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Alle Zitate aus dem Roman in diesem Aufsatz beziehen sich auf das Exemplar der Universitätsbibliothek München, Signatur: 0001/8 P.gall. 3786 (1/2: Jacques Antoine de Révéroni SaintCyr: Sabina d›Herfeld ou les dangers de l›imagination, 2 Bde. Paris 1796. Die Stellennachweise erfolgen im Fließtext in Klammern, römische Zahl steht für den Band, arabische Zahl bezeichnet die Seite. Alle Hervorhebungen stammen aus dem Original. – Bei der Vorbereitung der Publikation konnte außerdem die russische Ausgabe des Romans gegengelesen werden, wofür der Dank der Verfasserin insbesondere der Bibliothekarin des DHI Moskau, Larisa Kondrateva gilt.

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Die vielfachen Perspektiven auf die Peripetien der Leidenschaft artikulieren sich in verschiedenen Stimmen: Die Briefe wechseln zwischen Sabina und ihrer Schwester, Camille de Valtheim, zwischen Versen und seinem Freund Dorvill, zwischen Valtheim und Dorvill und zwischendurch auch zwischen Sabina und Versen. Stehen die wechselseitigen Mitteilungen dieser Briefsteller für eine nicht immer harmonische, aber unverstellte Kommunikation zwischen den Vertrauten, so bringen einige wenige, von dem Major Lormer an Kornett la Fare gerichtete Briefe die böswillige Intrige des Romans zum Vorschein. Aus Rache für die Ablehnung seiner Werbung um Sabina führt Lormer der tugendhaften Gräfin den ahnungslosen, schönen und jungen Kornett Versen vor Augen, mit dem Ziel, »ihre schlummernde Sinnlichkeit durch ihn zu hellen Flammen zu wecken, sie bis auf den gewünschten Punkt der Hingebung zu leiten; dann aber sich unterzuschieben, und an der Stelle seines Lehrlings zu genießen.«11 Obwohl Lormer nur der erste Teil des Plans gelingt, bestimmt die entfachte Leidenschaft der beiden Protagonisten den unglücklichen Verlauf der Geschichte. Wie das Sujet des Briefromans bereits nahelegt, spielt sich die tragische Handlung in der zeitgenössischen Gegenwart ab, in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts also. Neben der Stadt Berlin mit ihren Theatersälen, Salonräumen und Spazierwiesen stellt der gräfliche Landsitz der Herfelds als fiktiver Ort im Berliner Umland einen wichtigen Handlungsort dar. Hier, in der Gartenpartie »l’hermitage«, befindet sich das verunglückte Liebesideal der Protagonistin, »l’Étre Impossible« (I, 111), ein »unmögliches Wesen«, plastisch verkörpert in einer geschlechtslosen Statue mit melancholischer Haltung und einem in weiche Stoffe verhüllten Körper. Zentral verhandelt wird im Roman nämlich das Modell einer Geschlechterbeziehung, die sich durch tiefe Gefühle auszeichnet, aber in der Paarbeziehung das Innenleben an Stelle der körperlichen Interaktion kultiviert.12 Entsprechend Sabinas Traumvorstellung, die in der Paarbeziehung eine Zeitlang eingelöst zu sein scheint, soll Kornett Versen an Stelle des Grafen Herfeld die fehlende leidenschaftliche Beziehung zu dem Ehemann ersetzen und damit die ursprünglich zusammengehörenden Hälften der geteilten »mannweiblichen« Urgestalt zu einem »glückseligen« Wesen vereinen.13 Mit dem Verweis auf diese bei Platon von Aristophanes vorgetragene Erklärung der Liebe po11

Rezension zu »Sabina von Herfeld«, in: NADB, Bd. 64, 2 (1801), S. 72. Dabei reiht sich Saint-Cyr mit seinem Roman unter die Literaten ein, die europaweit zur Überführung von »Körperströmen« in den »Schriftverkehr« beitragen. Vgl. Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999. 13 Platon: Das Gastmahl. In: Platons Werke, hrsg. u. ü. v. Friedrich Schleiermacher, Theil 2, Bd. 2. Berlin 1807, S. 371–452 (Rede von Aristophanes: S. 398–404), hier S. 402 ff. Vgl. auch S. 404: »Sondern ich meine es von Allen insgesammt Männern und Frauen, daß so unser Geschlecht glükselig wäre, wenn es uns in der Liebe gelänge und jeder seinen eigenthümlichen Liebling gewönne um so zur ursprünglichen Natur zurükzukehren.« 12

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stuliert der Roman das Liebesverlangen als den Kern eines erfüllten Lebens, das die Protagonisten, »entzückt zu freundschaftlicher Einigung und Liebe«,14 vorwiegend in dem ersten Teil des Romans zu führen scheinen. Dabei handelt es sich, dem bereits erwähnten Ideal des »unmöglichen Wesens« getreu, um ein von Verlangen bewegtes Innenleben. In diesem Zusammenhang werden im Roman die Blumen als das der Buchstabensprache überlegene Kommunikationsmittel prominent eingeführt. Überhaupt inszeniert Saint-Cyr in seinem Roman die reguläre gesprochene und geschriebene Sprache nur als Mittel, das zwar Sachverhalte dokumentiert und Inhalte mitteilt, letztlich aber doch nur Missverständnisse stiftet. Als ein adäquater, unmittelbarer Ausdruck der Gefühle gilt dagegen die Musik, vor allem der Gesang, der dem Protagonisten vorbehalten ist. Die Protagonistin hingegen teilt ihre Gefühle in materialen Zeichen, gesammelten und getrockneten Blumen, mit. Im Umgang mit diesen dinglichen Mitteln lauern aber auch einige Gefahren: gerade die vermeintlich harmlosen Trockenblumen werden zum Zündstoff unkontrollierter Leidenschaft. Die platonische Liebesbeziehung scheitert schließlich an der Übermacht der Gefühle, die beide Protagonisten entfalten.

3. Blumensprache als Chiffre intimer Kommunikation Den Trockenblumen begegnen wir im Roman erstmals, als Sabina sich entschließt, den Kornett Versen in ihre »Lieblingssprache« – »de mon idiôme favori, ma langue de fleurs« (I, 68) – einzuführen (Brief 13). Auf einem morgendlichen Spaziergang in Berlin lässt sie, scheinbar versehentlich, aus einem Taschenbuch, das sie bei sich führt, einige Briefe ihrer Schwester fallen. Beim Aufheben der Briefe bemerkt Versen einzelne Trockenblumen, die auf den gefalteten Papierbögen heften. Er betrachtet sie, erkennt unter den Blumen ein Veilchen, stellt Fragen, bekommt nur stumme Antworten, und am Ende dieser Konversation stellt Sabina fest: »J’ai souri, il m’a devinée; cela suffit, il connaît déjà les substantifs favoris de mon coeur: Nature et Amitiè«15 (I, 69). In gleicher harmonischer Eintracht findet ein Gespräch in Blumensprache während eines Ausfluges zu einer Abtei an der polnischen Grenze statt (Brief 40). Hier wird in einer geselligen Runde ein illustriertes botanisches Blumenbuch aufgeschlagen und gemeinsam betrachtet. Als Antwort auf eine bei der Betrachtung der Blumenbilder aufkommende Frage muss Versen die Wahl zwischen einer weißen Wildrose und einem blau blühenden Immergrün treffen (II, 62). Ohne zu zögern zieht 14

Ebd., S. 402. »Ich lächelte auf, er hat mich erraten, es genügt mir bereits, dass er die beiden Lieblingsvokabeln meines Herzens kennt: Natur und freundschaftliche Einigung.« [Übers. v. A. A.] 15

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er die weiße Rose vor – »je préfére la rose des champs, elle est parfaite et ignorée (II, 63) – und entscheidet sich damit zur stillen Freude Sabinas und zum Entsetzen des Gastgebers gegen das Immergrün – »la pervenche, la favorite de Linnée, de JeanJacques« (ebd.). Bei diesem Gespräch ist der intrigante Major Lormer anwesend, der nach Hinweisen auf Verstellung und nach Zeichen geheimer Botschaften zwischen den Liebenden sucht, aber lediglich »graces naturelles« (II, 64) vorfindet. Die auf einer Blumenchiffre basierende Verständigung zwischen den Liebenden bleibt für Lormer unerkannt, weil er eine andere, galante Liebeschiffre erwartet: die Fächersprache. In seinen dem Ausdruck der Enttäuschung folgenden Ausführungen zählt er schließlich die ihm gut vertrauten Aussagen auf, die man an der Bewegung des Fächers in der weiblichen Hand sowohl in einer geselligen Runde als auch bei einem gesellschaftlichen Ereignis sicher ablesen kann. Die Kommunikationsform, auf die sich Versen und Sabina verlegt haben, wird gerade in dieser kontrastiven Gegenüberstellung zu dem modischen Accessoire als eine natürliche und verinnerlichte Chiffre hervorgehoben. Der Handlungsverlauf des Romans legt nahe, dass Lormer in diese intime Sprachform nicht nur nicht eingeweiht ist, sondern ihrer grundsätzlich nicht fähig ist, da er ein ›falsches‹ Liebesmuster verfolgt und damit kein ›richtiges‹ Kommunikationsmodell beherrscht. Denn die Blumensprache kann nicht erlernt, sie muss empfunden werden.

4. Einführung in die Blumensprache im Garten Diesem Grundsatz der Blumensprache räumt Révéroni Saint-Cyr eine zentrale Stelle im Roman ein, was ihn freilich nicht davon abhält, seine Leserschaft in aller Ausführlichkeit in die weiterführenden Techniken der floralen Kommunikation einzuführen. Wird die erste Begegnung mit der Blumensprache am Beispiel des Briefwechsels zwischen den Schwestern in einem öffentlichen Raum – beim Spaziergang in Berlin – angesiedelt und in Anwesenheit der beiden Protagonisten inszeniert, so findet die Vermittlung eines komplexeren Vokabulars der Blumen im eigenen Garten der Romanheldin auf dem Land statt. Die spezifische Raumästhetik des Gartens und die körperliche Abwesenheit der Protagonistin liefern dabei die notwendigen Voraussetzungen für einen empfindsamen Umgang mit den Blumen, der über eine erlernte emblematische Lektüre hinausgeht. Die erste Trennung der Liebenden steht bevor, als der Kornett Versen unerwartet zu seiner Einheit nach Spandau abberufen wird. Sabina bittet ihn, den Weg zum Regiment über ihren Landsitz in Herfeld zu nehmen (Brief 19). Versen soll dort ihre Eremitage im Garten aufsuchen, zu der er auch einen Schlüssel erhält: »Demandez mon heremitage, mon pavillon, en voici la clef, je vous la confie; parcourez-le en entier, prenez toutes les fleurs qui vous plairont, et envoyez-moi seulement du lau-

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rier-thim et des pensées«16 (I, 69 recte 99). Zum Abschied erhält Versen neben dem Schlüssel noch zwei papierene Gaben. In einem der beiden Couverts findet er einen Kranz getrockneter Blumen vor, ein Rätsel, das er nur für sich allein lösen soll: »Puis elle a tiré de son porte-feuille un papier plié à deux enveloppes, et j’ai trouvé dans la seconde plusieurs fleurs d’une variété charmante, rangées par ordre, et séchées avec un art admirable. […] C’est une énigme, devinez-là seul et n’en prononcez jamais le mot«17 (I, 101–102). Mit diesen schön arrangierten Trockenblumen, den »Stimmen Sabinas« (»avec soin les airs, les fleurs de Sabina« [I, 103]) als einem Talisman in der Brusttasche begibt sich Versen nach Herfeld (»j’ai placé son Talisman sur mon coeur et j’attends l’instant fatal« [I, 103]). In Herfeld angekommen lässt er sich von dem Kastellan durch das Haus und die englischen Gartenanlagen führen (Brief 20). Für das Wohnhaus des Grafen und seine Kunstsammlungen zeigt Versen wenig Interesse und schreitet ungeduldig zu dem Wohnhaus Sabinas fort. Dieses entpuppt sich als ein bezauberndes Reich der Natur: eine mit Blumentöpfen umsäumte Treppe führt Versen zu einem Saal, in dessen Mitte er eine Platon-Statue erblickt. Er registriert hier lauter »hiérogliphes indéchifrables« (I, 107), eilt weiter zu dem Schlafzimmer Sabinas und findet sich plötzlich in einer täuschend echt arrangierten Waldszenerie wieder. Unter den grünen Baumästen des Gemachs sieht er das Bett der Geliebten, das die Form eines Blumenkorbes hat: »C’est une corbeille de fleurs. Hélas! leur reine y manquait!« (I, 108). Bei diesem Anblick spürt Versen nun besonders eindringlich die Abwesenheit der »Blumenkönigin«, wird von Erinnerungen an Sabina beinahe überwältigt, kann sich jedoch beherrschen, verlässt den Raum und bittet seinen Begleiter, ihn zu der Eremitage zu führen.18 Gleich nach dem Betreten dieser Gartenpartie wird Versen in eine sanftmelancholische Stimmung versetzt: Er sieht eine mit Zypressen und Trauerweiden umgebene Urne. Ganz im Sinne einer empfindsamen Gartensemantik ruft diese Staffage eine literarische Assoziation hervor, Versen wähnt sich vor Werthers Grab: »[…] sous une voûte de saules pleureurs et de cyprès, j’ai aperçu une urne funèbre … J’y ai cherché la cendre de Werther, mais envain… Nul indice! j’ai frémi involontairement, et il m’a semblé voir une main de feu graver mon nom sur le marbre!«19 (I, 108–109). 16 »Gehen sie dort umher, nehmen sie alle Blumen mit, die Ihnen gefallen, pflücken Sie für mich Thymian mit Vergissmeinnicht, und senden Sie mir diese zurück.« [Übers. v. A. A.] 17 »Dann zog sie aus der Brieftasche zwei gefaltete Papiercouverts, und ich fand in einem einige Blumen vor, die in einer angenehmen Mannigfaltigkeit in einer bestimmten Ordnung angebracht und mit bewundernswerter Kunstfertigkeit getrocknet worden sind. […] Es ist ein Rätsel, löse es für Dich selbst und sprich das Wort nicht aus.« [Übers. v. A. A.] 18 Zum leeren Bett als einem empfindsamen Standardmotiv siehe die Ausführungen in: Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 141 f. 19 »[…] unter einem Baldachin aus Weiden und Zypressen, sah ich eine Urne … Ich suchte die

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In dieser Szene setzt Saint-Cyr auf eine habitualisierte Technik, die einen Gartenbesuch am Ende des 18. Jahrhunderts charakterisiert: im Raum kultivierter Affekte und abwechselnder Stimmungen steht die Wahrnehmung dezidiert im Dienste individualisierter Aneignung tradierter Ikonografien. So soll eine durch die Kleindenkmäler und Inschriften evozierte Stimmung der Vergänglichkeit auf eigene Erfahrungen bezogen werden, um Erinnerungen an die »Täuschungen unserer Hoffnungen und Leidenschaften«20 aufzurufen. Die ästhetische Dimension der Landschaftsinszenierung und die Wirkung auf die Einbildungskraft machen den Gartenbesuch zu einem individuellen Erlebnis. Und so folgt im Roman an dieser Stelle eine ›Vision‹ der eigenen Fantasie des Romanhelden: Versen imaginiert eine unsichtbare Hand, die seinen Namenszug in die Tafel unterhalb der Urne einzeichnet. Mit dem leeren Bett und dem Gartengrab zitiert Saint-Cyr zwei Motive aus der Ikonografie des Intimen, die eine Signalwirkung innerhalb der Romanhandlung erzeugen und den Romanhelden in eine auf das kommende Schlüsselerlebnis in der Eremitage vorbereitende Disposition versetzen. Bei dem anschließenden Spaziergang benötigt Versen sowohl sein Gedächtnisvermögen als auch seine freie Einbildungskraft. Auf dem Weg von der sanftmelancholischen Partie zu dem Rundtempel der Eremitage in der Mitte des Gartenbezirks durchschreitet der Protagonist insgesamt fünf verschiedene, aufeinander folgende Pflanzenkompartimente. Hier wendet Versen seine Vorkenntnisse in der Blumensprache an, erkennt einzelne Bedeutungen der etwa zwanzig in dieser Szene namentlich erwähnten Pflanzen und verfolgt die wechselnde Semantik dieses Gartenraums von »Sorge« und »Trauer«, die er in der äußeren Heckenbepflanzung der Partie antrifft,21 bis zu »Tugend, Schönheit, Empfindung und Treue«, die das Blumenparterre unmittelbar vor dem Pavillon zum Ausdruck bringt: »Encore un pas, c’est le baume, le laurier-rose, la sensitive, la barbeau bleu, et la fleur de pêcher; c’est-à-dire la vertu, la beauté, le sensibilité, la délicatesse et la constance.«22 (I, 110). Das Abschreiten dieser Abfolge an Sträuchern und Blumen sieht Versen als Erweiterung seines eigenen Vokabulars, »qui a perfectionné mon dictionnaire« (I, 111). Tatsächlich werden die Bedeutungen der Pflanzenarrangements von ihm aber weniger abgelesen, als vielmehr erraten und erahnt.

Werthers Asche, aber vergebens … Kein Hinweis! Ich erschauderte unwillkürlich und glaubte, eine Hand meinen Namens in den Marmor eingravieren zu sehen!« [Übers. v. A. A.] 20 Christian Cay Lorenz Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst, Bd. 4. Leipzig 1782, S. 81. 21 »d’abord j’ai trouvé des ronces, des rosiers sauvages, des épines-vinettes; […]. Tu devines aisément qu’ils représentant les soucis, les chagrins, les remords et tous les résultats du vice.« (I, 109–110). 22 »Ein weiterer Schritt und es folgen Melisse, Oleander, Mimose, blaue Kornblume, und Pfirsichblüten, das heißt: Tugend, Schönheit, Sensibilität, Zartheit und Treue.« [Übers. v. A. A.]

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Im Inneren des Pavillons angekommen, findet Versen die Marmorstatue mit melancholischer Geste vor, die die Inschrift »l’Étre Impossible« (I, 111) trägt. Auf den Seiten des Postaments sieht er außerdem, wie bereits im Haus Sabinas, einige Zeilen mit »Hieroglyphen«. Jetzt, nachdem er im Garten sein »Blumenvokabular« erweitert hat, kann er diese nun als lesbare Zeichen identifizieren: Es handelt sich um Auszüge aus dem »Gastmahl« Platons, die durch ausgeschriebene Pflanzennamen chiffriert sind: »Les pans du pied-d’estal sont chargés de sentences tirées du banquet de Platon, toutes écrites en langue de fleurs« (I, 111). Die gleichen Textfragmente enthält nämlich – in Buchstabenschrift verfasst – das andere Papierstück, das Versen von Sabina zum Abschied erhalten hat. Nun setzt er die Namen der Blumen von dem Postament der Statue mit dem geschriebenen Text zusammen und erkennt darin den vollständigen Schlüssel zu dem Rätsel – »énigme« (I, 102) – Sabinas, dem Couvert mit dem Trockenblumen: »Tu penses que le premier usage que j’en ai fait, a été d’ouvrir mon talisman«23 (I, 111). Aus der Reihenfolge der Trockenblumen ergibt sich der Satz: »Si vous avez vertu, beauté, sensibilité, délicatesse, constance et mistère; si vous n’avez défauts, impatience ni désirs, vous aurez amie tendre et fidele«24 (I, 112).

5. Talismane zwischen Andenken und Ahnung Am Ende eines komplizierten Spiels mit Blumen- und Schriftzeichen vollzieht sich in der Eremitage des Gartens eine Transformation der Trockenblumen: von einer stummen Liebesgabe, die Versen an der Brust trägt, zu einer komplexen Botschaft, die erst in der Referenz auf das Erlebte verständlich wird. Der Kranz aus den trockenen Blumen bringt ein Liebesbekenntnis zum Ausdruck und vermittelt zugleich die Idealvorstellung der Liebesbeziehung. Während des Erlebnisses im Garten der Protagonistin wird der Blumenkranz zusätzlich affektiv aufgeladen: Trotz der schwierigen Bedingungen, die das Liebesbekenntnis Sabinas stellt, verbindet Versen damit Hoffnungen auf eine glückliche Vereinigung. Nachdem die Trockenblumen eine als natürlich markierte »Sprachwerdung des Gefühls«25 ermöglicht haben, werden sie im Roman vom Mittel der Kommunikation zum Mittel der Erinnerung stilisiert und tragen zunehmend zur Vergegenwärtigung des Abwesenden – sowohl der Person Sabinas als auch der mit ihr verbundenen Hoffnungen Versens – bei. Während sich 23

»Du wirst es wissen, das erste, was ich tat, war, mein Talisman zu öffnen.« [Übers. v. A. A.] »Wenn Du tugendhaft, schön, empfindsam, wählerisch, treu, bescheiden bist, wenn du keine Laster wie Ungeduld und Begierde hast, dann wirst du eine zärtliche und treue Frau als deine Freundin haben.« [Übers. v. A. A.] 25 Günter Oesterle: Die Sprachwerdung des Gefühls und die Wendung zum Lakonischen. In: Anne Fuchs (Hrsg.): Sentimente, Gefühle, Empfindungen. Zur Geschichte und Literatur des Affektiven von 1770 bis heute. Würzburg 2003, S. 45–58. 24

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die Beziehung zwischen den beiden Liebenden weiter entwickelt, wandern die von Sabina gesammelten, trocken gepressten Blumen in ein Holzkästchen, wo Versen sie zusammen mit ihren Briefen aufbewahrt. Mit der zunehmenden Verschiebung ihrer Funktion geht eine auffällige Betonung ihrer Dinglichkeit einher. Der spezifische Charakter und die Wirkung der dinglichen Andenken werden von Versen in einer Rede über die »Talismane« reflektiert, die in einer Verteidigung der geliebten Dinge gipfelt (Brief 22). In Konkurrenz zu visuellen und auditiven Vermögen, die als Gesehenes und Gehörtes zu physisch (I, 122) seien und nur simultane, in Anwesenheit generierte Empfindungen hervorriefen, hebt Versen bestimmte Dinge hervor, die er als Talismane bezeichnet. Diese unterscheiden sich von den Dingen, die eine zeremonielle bzw. emblematische Funktion aufweisen; die Talismane seien als Souvenirs fähig, Gefühle unmittelbar in der Gegenwart hervorzubringen oder frühere Empfindungen zu vergegenwärtigen. Aber nur die dinglichen Talismane vermögen futurisch zu wirken, Vorahnungen und künftige Empfindungen (I, 121) zu evozieren: »Parmi plusieurs définitions délicates et ingénieuses, j’ai remarqué ces mots: Les Talismans (il m’a regardée), précieux gages du souvenir, existèrents de tout tems. Le ruban de la simple bergère, l’écharpe du Chevalier, tous étaient des recommandations tacites, mais puissantes de fidélité et de valeur; tous enflammaient le courage, et rappellaient la constance. N’attribuons point des effets magiques à ces dons inanimés. Non, ne gâtons point la réalité, ne perdons pas le mérite qu’on peut y avoir; c’est notre imagination sans-cesse alimentée de l’image et de son but qui se porte à remplir les vues de l’objet aimé, et qui en fait notre gloire et notre félicité. C’est assez entretenir de mes idées, si ce sont des chimères elles ne nuisent à personne. Heureux moi-mème de pouvoir par elles sauver une inquiétude aux personnes qui m’interessent, pressentir ce qui peut leur plaire, et agir suivant leurs moindres dèsirs«26 (I, 123–124). Der weitere Verlauf der Romanhandlung scheint allerdings dieses positive Bekenntnis zu den Dingen Lügen zu strafen. Denn gerade als sollte Schleiermacher mit seiner Diagnose des »schädliche[n] Mißverständniß[es] der Fantasie« Recht behalten, entzünden die Trockenblumen das nicht mehr kontrollierbare Innenleben der Protagonisten. 26

»Talismane, als kostbare Gaben und Ermahnungen hat es immer gegeben. Das Haarband einer einfachen Schäferin, der Gürtel eines Ritters, sind bloß stumme Befehle für Treue und Tapferkeit gewesen. Man sollte keine übernatürlichen Kräfte diesen gefühllosen Gaben zuschreiben. Warum sollen wir den Wert dieser Dinge verringern, den sie für uns besitzen können? Denn sie entzünden unentwegt unsere Einbildungskraft und liefern uns das Bild unseres lieben Gegenstandes, sie weisen damit auf unser eigentliches Ziel hin, die Wünsche unserer Geliebten zu erahnen und zu erfüllen, um dadurch unser eigenes Wohl zu erfahren.« [Übers. v. A. A.] Innerhalb des Romans klingt es wie eine Antwort auf das von Sabina ihrer Schwester gegenüber geäußerte Ideal. Im 10. Brief wünscht sie sich im Bezug auf Versen »die Kunst mich erraten zu können und von jedem doppeldeutigen Ausdruck auf Abstand zu gehen, feine Empfindung zu besitzen, die zur Vorahnung fähig macht.«

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Nach der Verwandlung zum dinglichen Andenken taucht der Blumenkranz bevorzugt in den Krisensituationen der Liebesbeziehung auf: das Couvert mit Trockenblumen wird von Versen aus dem Kästchen geholt und mit Tränen begossen, als die endgültige Trennung und damit die Katastrophe nicht abzuwenden ist. Nachdem Versen den Verstand verloren hat, übergibt sein Freund den Blumenkranz an Sabina, zusammen mit ihren Briefen; übrig bleibt das leere Kästchen. Die Trennung vom leeren Gehäuse der Andenken ist aber auch für den erkrankten, geistig abwesenden Versen nicht möglich. Am Ende des Romans bleibt er als eine tragische Figur in Erinnerung, die, in der Schweizer Anstalt eingeschlossen, das leere Kästchen unentwegt an seine Brust presst (Brief 52).

6. Ausblick: Blumensprachen des 19. Jahrhunderts In der anschaulichen Vermittlung der spezifischen Funktionsweise der Blume, die zwischen Chiffre und Andenken changiert, erkennt man noch bis in die 1830er Jahre die besondere Leistung des Romans »Sabina d’Herfeld, ou les Dangers de l’imagination, lettres Prussiennes«. Das zeigt sich einerseits darin, dass einige von Saint-Cyr vorgelegten Blumendeutungen als Vorboten einer neuen Mode gewürdigt werden, indem sie in die Bücher der Blumensprachen aufgenommen werden.27 Solche Bücher

Abb. 3: Stammbuch des Fräulein Pfeiffer. Frankfurt 1830. Museum für angewandte Kunst Frankfurt (Linel Sammlung), Inv. Nr. L St 690. Aus: Der Souvenir. Erinnerung in Dingen von der Reliquie zum Andenken. Ausst. -Kat. Museum für Angewandte Kunst Frankfurt. Köln 2006, Abb. 39, S. 224. 27

Die entsprechenden Verweise auf den Roman finden sich beilspielsweise in : Les Fleurs, Réve allégorique. Paris 21811, S. 83 (Gelbe Narzisse), 88 (Scabiose).

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verbreiten seit den 1820er Jahren europaweit umfangreiche Blumen-Alphabete und tragen einer enormen Konjunktur der Blumensprachen bei.28 Andererseits wird das raffinierte Wechselspiel zwischen Schrift und Ding, das die Transformationen der Trockenblumen im Roman bedingt, als Bestandteil der Salonkultur aufgegriffen und individuell inszeniert.29 In Verbindung mit den geselligen Praktiken eines album amicorum erfreuen sich solche auf Blume bezogenen Techniken spielerischer Kommunikation großer Beliebtheit bis ins Ende des 19. Jahrhunderts. (Abb. 3) Auf diesen ausdifferenzierten Praktiken der Blumengabe und ihrer Konservierung entwickelt sich schließlich die bis heute florierende Konjunktur der Schnittblume als einem beinahe universellen Zeichen der Zuneigung.30

28

Siehe dazu: Clemens Alexander Wimmer: Bücher über Blumensprache. In: Zandera 13/1 (1998), S. 15–25; Beverly Seaton: The language of flowers: a history. Charlottesville, London 1995 (Victorian literature and culture series); Klara Šarafadina: »Alfavit Flory« v obraznom jazyke literatury puškinskoj epochi: istočniki, semantika, formy. Sankt-Petersburg 2003. 29 Laure d›Abrantès: Histoire des Salons de Paris, 3. Aufl., Bd. 4. Paris 1838, S. 102 f. (Salon de Madame de Genlis). 30 Vgl. Karin Hausen: »…durch die Blume gesprochen«. Naturaneignung und Symbolvermarktung. In: Wolfgang Ruppert (Hrsg.): Fahrrad, Auto, Fernsehschrank. Zur Kulturgeschichte der Alltagsdinge. Frankfurt a. M. 1993, S. 52–78.

Johannes Grave (Bielefeld) Erstarrung im Bild oder verlebendigende »Erinnerungs-Erbauung«? Goethe und das Bild im Interieur

I. Unter den Gegenständen, die der Sicherung und Stützung von Erinnerung dienen, kommt Bildern besondere Bedeutung zu. Bilder scheinen sich durch eine hohe Wirkmacht und Zuverlässigkeit auszuzeichnen und können auch längst vergangene Begebenheiten wie gegenwärtig vor Augen führen. Der Wert des Bildes für die Erinnerung ist entsprechend oft gewürdigt worden. Unmissverständlich äußert er sich bereits in Leon Battista Albertis Malereitraktat, der das Bildnis in folgenreicher Weise aufwertet. Für Alberti beschränkt sich die Leistung des Bildes nicht darauf, »Abwesende [zu] vergegenwärtig[en]«, vielmehr könne es auch Verstorbene so anschaulich wiedergeben, dass deren »Züge […] irgendwie ein verlängertes Leben [zu] führen«1 scheinen. Es mutet beinahe wie ein fernes Echo von Albertis Bemerkung an, wenn es in Goethes Wahlverwandtschaften heißt: Es gibt mancherlei Denkmale und Merkzeichen, die uns Entfernte und Abgeschiedene näher bringen. Keins ist von der Bedeutung des Bildes. Die Unterhaltung mit einem geliebten Bilde, selbst wenn es unähnlich ist, hat was Reizendes, wie es manchmal etwas Reizendes hat, sich mit einem Freunde streiten. Man fühlt auf eine angenehme Weise, daß man zu zweien ist und doch nicht auseinander kann.2

Schon in diesen wenigen Sätzen deuten sich neben dem besonderen Potential des Bildes zugleich die Probleme und Gefahren der bildgestützten Erinnerung und Vergegenwärtigung an. Die kurze Reflexion, ein Auszug »aus Ottiliens Tagebuche«, lässt bei aufmerksamer Lektüre erkennen, wie das Bild auf unheilvolle Weise Macht über seine Betrachter gewinnt: Es wird nicht nur angeschaut, sondern zum Gegenüber einer »Unterhaltung«; das Bild zieht starke Emotionen auf sich und wird gar »geliebt«. Was zählt, ist allein die räumliche Nähe. Dass mit der bildlichen Vergegenwärtigung zugleich ein Bewusstsein für die räumliche oder zeitliche Distanz des Dargestellten

1

Leon Battista Alberti: Das Standbild. Die Malkunst. Grundlagen der Malerei, hrsg. v. Oskar Bätschmann, Christoph Schäublin. Darmstadt 2000, S. 235. 2 Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften. In: Sämtliche Werke. Epoche der Wahlverwandtschaften. 1807–1814. Hrsg. v. Christoph Siegrist u. a. München 1987 (Münchner Ausgabe, Bd. 9), S. 283–529, hier S. 410; Bde. der Ausg. im Folgenden zit. mit der Sigle: Goethe, MA.

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einhergehen könnte, wird indes regelrecht ausgeblendet. Die mit Ottilies Worten implizierte Aufwertung des Bildes zu einem gleichsam menschlichen Subjekt markiert ein Grundproblem des Romans: die Verkennung des Bildes, das so stark belebt wird, dass seine Wirkung in einen mortifizierenden Effekt umschlägt. Ottilies Überlegungen zum Bild haben nicht zufällig Eingang in den Roman gefunden. Die Wahlverwandtschaften entfalten auf vielfältige und abgründige Weise die Faszination der Bilder, aber auch die von ihnen ausgehenden Gefährdungen, in denen sich die Protagonisten des Romans zunehmend verstricken. In immer neuen Konstellationen führt der Roman vor Augen, wie Bilder, die ihren eigenen Bildstatus dissimulieren, nicht nur partielle Täuschungen und Verwechslungen verursachen, sondern letztlich die Wahrnehmung der Wirklichkeit überhaupt tiefgreifend bestimmen und kontaminieren. Die Annäherung von Bild und Realität, so haben zahlreiche Studien zu den Wahlverwandtschaften gezeigt,3 birgt nicht allein die Möglichkeit, das bildlich Dargestellte lebendig erscheinen zu lassen, sondern kann auch zur Folge haben, dass das Lebendige ›bildhaft‹ erstarrt, weil es durch das Bild verdrängt und ersetzt wird. Das Simulakrum beraubt nicht nur das Bild seiner Bildlichkeit, sondern droht die Wirklichkeit jenseits des Bildes zu affizieren. Die Gefahr einer Mortifizierung durch Bilder hatte Goethe bereits zehn Jahre zuvor literarisch verarbeitet. Stärker noch als die späteren Wahlverwandtschaften exponiert die kurze Erzählung Der Sammler und die Seinigen die dem Bild inhärenten Probleme dort, wo sie eine besondere Dringlichkeit entfalten: im Interieur, im alltäglichen Lebensraum des Bürgers. Die Sammlernovelle verknüpft die Bildproblematik zudem besonders eng mit Praktiken des Erinnerns.4 Die aus Briefen bestehende Novelle kreist nicht allein um das Sammeln und Betrachten von Kunst, sondern stößt den Leser wiederholt auf die Frage, was es heißt, mit Bildern und Kunstwerken zu leben und sie zugleich als Andenken zu verstehen. Von insgesamt acht Briefen, die aus dem Kreis um einen sammelnden Arzt an die Herausgeber der Propyläen adressiert werden, sind die ersten drei der Geschichte jener Sammlung gewidmet, die der Arzt geerbt hat und weiterführt. Nach dessen Großvater findet der Vater Erwähnung, der »nur für eine gewisse Art von Kunst-

3

Vgl. David E. Wellbery: Die Wahlverwandtschaften (1809). Desorganisation symbolischer Ordnungen. In: Goethes Erzählwerk. Interpretationen, hrsg. v. Paul Michael Lützeler, James E. McLeod. Stuttgart 1985, S. 291–318; Fritz Breithaupt: Jenseits der Bilder. Goethes Politik der Wahrnehmung. Freiburg i. Br. 2000; Claudia Öhlschläger: »Kunstgriffe« oder Poiesis der Mortifikation. Zur Aporie des erfüllten Augenblicks in Goethes Wahlverwandtschaften. In: Erzählen und Wissen. Paradigmen und Aporien ihrer Inszenierung in Goethes Wahlverwandtschaften, hrsg. v. Gabriele Brandstetter. Freiburg i. Br. 2003, S. 187–203. 4 Vgl. auch Carrie Asman: Kunstkammer als Kommunikationsspiel. Goethe inszeniert eine Sammlung. In: Johann Wolfgang Goethe: Der Sammler und die Seinigen, hrsg. v. Carrie Asman. Dresden 1997, S. 119–177.

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werken eine entschiedne Liebhaberei« zeigte, nämlich für die »genaue Nachahmung der natürlichen Dinge«.5 Getrieben von einem Begehren nach dauerhaftem, unvergänglichem Besitz, ließ er zunächst Vögel, Blumen, Schmetterlinge und Muscheln naturgetreu abbilden, um dann vor allem Bildnisse von Familienmitgliedern in Auftrag zu geben. Auffällig ist, dass der Vater jede zeitlose Idealisierung der dargestellten Personen ablehnt und seine Familie schließlich mit Dingen ihres alltäglichen Lebens porträtieren lässt. Dass sich auf diese Weise zugleich Zeichen der Vergänglichkeit in das Bild einschleichen, zeigt sich u. a. an einem Bildnis seiner Tochter, in das scheinbar beiläufige Accessoires, ein Pfirsich und Nelken, eingefügt sind, die sich bei genauerer Lektüre als klassische vanitas-Topoi erweisen. Stärker noch äußert sich die Verstrickung des Bildes in Begehren und Tod bei einem anderen, ungewöhnlicheren Gemälde. Seinem Schwiegersohn, einem Künstler,6 unterbreitet der Vater des Sammlers die Idee zu einem Trompe-l’œil-Bild, das der lebendigen Erscheinung seiner selbst und seiner Frau Dauerhaftigkeit verleihen soll: In dem obern Zimmer, wo die besten Portraite hängen und welches eigentlich das letzte in der Reihe der Zimmer ist, haben Sie vielleicht eine Türe bemerkt, die noch weiter zu führen scheint, allein sie ist blind, und wenn man sie sonst eröffnete, zeigte sich ein mehr überraschender als erfreulicher Gegenstand. Mein Vater trat mit meiner Mutter am Arme gleichsam heraus und erschreckte durch die Wirklichkeit, welche teils durch die Umstände, teils durch die Kunst hervorgebracht war; Er war abgebildet, wie er, gewöhnlich gekleidet, von einem Gastmahl, aus einer Gesellschaft, nach Hause kam. Das Bild ward an dem Orte, zu dem Orte, mit aller Sorgfalt gemalt, die Figuren aus einem gewissen Standpunkte genau perspektivisch gehalten und die Kleidungen, mit der größten Sorgfalt, zum entschiedensten Effekte gebracht. Damit das Licht von der Seite gehörig einfiele, ward ein Fenster verrückt und alles so gestellt, daß die Täuschung vollkommen werden mußte.7

Der Aufwand für das illusionistische Bild ist erstaunlich. Um die Bildwirkung zu perfektionieren, wird die Situierung eines Fensters angepasst. Die realen baulichen Gegebenheiten müssen sich dem Bild fügen, das in die Wirklichkeit, den Lebensraum der Familie, einzugreifen vermag. Doch der doppelte Schein, die Kopplung von Scheintür und Trompe-l’œil-Gemälde, erweist sich als tückisch. Zielte das Begehren des Vaters auf die Konservierung des Lebendigen im Bild, so wird auch dieses Bild von einer eigenen, ganz handfesten Vergänglichkeit eingeholt. Die Vergänglich5

Goethe: MA 6.2, S. 79. Diese eheliche Verbindung zwischen Maler und Tochter ist Ausdruck einer weiteren problematischen Verstrickung von Bild und Begehren. Indem die Bildproduktion in die Familie inkorporiert wird, muss die Grenze zwischen Wirklichkeit und Bildwelt fast zwangsläufig noch fragiler werden. 7 Goethe: MA 6.2, S. 83. 6

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keit des Dargestellten, die durch die Fixierung auf einem Bildträger arretiert werden soll, greift auf die Materialität der Darstellung über: Leider hat aber ein Kunstwerk, das sich der Wirklichkeit möglichst näherte, auch gar bald die Schicksale des Wirklichen erfahren. Der Blendrahm mit der Leinwand war in die Türbekleidung befestigt und so den Einflüssen einer feuchten Mauer ausgesetzt, die um so heftiger wirkten als die verschloßne Türe alle Luft abhielt, und so fand man nach einem strengen Winter, in welchem das Zimmer nicht eröffnet worden war, Vater und Mutter völlig zerstört, worüber wir uns um so mehr betrübten, als wir sie schon vorher durch den Tod verloren hatten.8

Wie weitgehend das illusionistische Bildregime die Wirklichkeit kontaminiert, zeigt sich nicht zuletzt in sprachlichen Details: Nicht von einem verdorbenen Bild oder einer verschimmelten Leinwand ist die Rede, vielmehr heißt es, »Vater und Mutter« seien »völlig zerstört« aufgefunden worden. Als seien die illusionistischen Porträts hinter der Scheintüre nicht genug, treibt der Vater des Sammlers später sein Begehren nach natürlicher und täuschender Wiedergabe auf die Spitze. In einer aufwendigen Prozedur lässt er sich eine Lebendmaske abnehmen, mit deren Hilfe eine lebensgroße Wachsfigur geformt wird, die zudem eine besonders natürliche Farbgebung, eine »wirkliche Perücke« sowie einen »damastne[n] Schlafrock« erhält. Doch das dadurch geschaffene »Phantom« erscheint dem sammelnden Arzt so verstörend, dass er es hinter einem Vorhang verbirgt, »den ich vor Ihnen nicht aufzuziehen wagte«.9 Dienten die Bilder zunächst dazu, die Zumutungen der Vergänglichkeit zu verdrängen, so müssen nun die Bilder selbst verdrängt werden, da sie in ihrer zudringlichen Dauerhaftigkeit umso unheimlicher erfahren lassen, dass das Leben endlich ist. Die in den ersten Briefen der Sammlernovelle geschilderten Bilder und Bildpraktiken stehen in einem merkwürdigen Verhältnis zur familiären Erinnerungskultur. Die mit zunehmendem Aufwand geschaffenen Porträts scheinen ganz dem Zweck verpflichtet, das Andenken an die Familie und ihre einzelnen Mitglieder zu sichern. Bei genauerer Betrachtung erweisen sich die Bilder jedoch als Mittel, um eine Erinnerungsarbeit zu umgehen, die ein Bewusstsein für die zeitliche Distanz des Erinnerten implizieren müsste. Die Grenzverwischungen zwischen Bild und Realität zielen indes darauf, die Porträtierten gegenwärtig erscheinen zu lassen – nicht um ihrer als Abwesender oder Verstorbener zu gedenken, sondern um den Schein ihrer Gegenwart aufrechtzuerhalten. Dass diese Strategie der Erinnerungsvermeidung schließlich kollabiert, erscheint unausweichlich. Der Versuch, sich mit Bildern und der ihnen eigenen Präsenz der Zeitlichkeit und Vergänglichkeit entziehen zu wollen, 8 9

Ebd. Goethe: MA 6.2, S. 84.

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muss scheitern. Er führt bei dem in die Familie eingeheirateten Maler nach dem Tod seiner Frau zu einer beinahe manischen Stilllebenproduktion, in der er wieder und wieder Ensembles von Alltagsgegenständen der Verstorbenen variiert. »Nur fähig das Gegenwärtige zu sehen«10 und zu malen, fixiert er sich in seiner Erinnerungsarbeit auf die Hinterlassenschaft der Toten und kann zu keinem Abschluss kommen.

II. Zwischen dem kritischen Blick, den Goethe in der Sammlernovelle und in den Wahlverwandtschaften auf Bilder wirft, und seiner eigenen Ausstattungspraxis im Goethehaus scheint ein grundlegender Widerspruch zu bestehen: Im Haus am Frauenplan deutet auf den ersten Blick nichts darauf hin, dass sein Bewohner darüber nachgedacht hat, in welch hohem Maße Bilder Macht über ihre Betrachter und über deren Wahrnehmung der Wirklichkeit gewinnen können. Das Goethehaus wartet vielmehr mit einer Vielzahl verschiedenartigster Bilder auf. Als »ein Pantheon vol[l] Bilder und Statuen«, wie Jean Paul schrieb, besticht es nicht nur durch die Fülle der Bildwerke, sondern auch durch deren respektheischende Inszenierung. Jean Pauls Bericht über seinen Besuch bei Goethe im Juni 1796 vermittelt einen Eindruck davon, wie insbesondere das Bildprogramm des Treppenhauses den Gast auf fragwürdige Weise einstimmen konnte: »[…] eine Kühle der Angst presset die Brust – endlich trit[t] der Gott her, kalt, einsylbig, ohne Akzent. Sagt Knebel z. B., die Franzosen ziehen in Rom ein. ›Hm!‹ sagt der Gott.«11 Was sich dem Besucher im Haus am Frauenplan darbot, diente zwar nicht ausschließlich der Pflege von Erinnerungen, war aber immer auch mit Erinnerungspraktiken verknüpft. Die Gipsabgüsse, Gemälde, Zeichnungen, Graphiken, Majoliken und anderen Ausstattungsstücke des Goethehauses sind keineswegs vorrangig oder gar ausschließlich als gelehrtes Programm aus ausgewählten Meisterwerken der klassischen Kunst zu verstehen, das den Hausbesitzer gleichsam in olympische Höhen entrückt hätte.12 Die für die Ausstattung genutzte Bilderfülle war nicht nur reicher

10

Ebd. Jean Paul: Briefe. 1794–1797. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin 1958 (Sämtliche Werke, Abt. III, Bd. 2), S. 210. 12 Vgl. Christa Lichtenstern: Jupiter – Dionysos – Eros/Thanatos. Goethes symbolische Bildprogramme im Haus am Frauenplan. In: Goethe-Jahrbuch 112 (1995), S. 343–360; Doris Strack: Omnia vincit amor: Heinrich Meyers Supraporten in Goethes Wohnhaus. In: Goethe-Jahrbuch 116 (1999), S. 365–389; Jörg Traeger: Goethes Vergötterung. Von der Kunstsammlung zum Dichterkult. In: Räume der Kunst. Blicke auf Goethes Sammlungen, hrsg. v. Markus Bertsch, Johannes Grave. Göttingen 2005, S. 172–215. – Für einen Überblick über die Ausstattung des Goethehauses und weitere Literatur vgl. Johannes Grave: Goethes Kunstsammlungen und die künstlerische 11

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und mannigfaltiger, als manche ikonographische Ausdeutungen suggerieren, sondern zudem zutiefst mit Goethes Erinnerungskultur verbunden. In Dichtung und Wahrheit nimmt Goethe ganz in diesem Sinne für sich in Anspruch, bei allem was ich besitze, mich gern zu erinnern, wie ich dazu gelangt, von wem ich es erhalten, es sei durch Geschenk, Tausch oder Kauf, oder auf irgend eine andre Art. Ich habe mich gewöhnt, beim Vorzeigen meiner Sammlungen der Personen zu gedenken, durch deren Vermittelung ich das Einzelne erhielt, ja der Gelegenheit, dem Zufall, der entferntesten Veranlassung und Mitwirkung, wodurch mir Dinge geworden, die mir lieb und wert sind, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.13

Jedes Objekt der Sammlungen und zumal der Ausstattung des eigenen Lebensumfeldes weist auf diese Weise einen Zeitindex auf, der den Gegenstand mit der Biographie seines Besitzers verknüpft. Die Erinnerung an den Schenker oder Vermittler eines jeden (Kunst-)Gegenstands erschöpft sich aber nicht in einer nostalgischen Rückschau. Sie kann vielmehr zu einer Vergegenwärtigung und Belebung führen, die auf den ersten Blick an die verfehlten Bildpraktiken der Wahlverwandtschaften oder der Sammlernovelle erinnert: Das was uns umgibt erhält dadurch ein Leben, wir sehen es in geistiger, liebevoller, genetischer Verknüpfung, und durch das Vergegenwärtigen vergangener Zustände wird das augenblickliche Dasein erhöht und bereichert, die Urheber der Gaben steigen widerholt vor der Einbildungskraft hervor, man verknüpft mit ihrem Bilde eine angenehme Erinnerung, macht sich den Undank unmöglich und ein gelegentliches Erwidern leicht und wünschenswert.14

Die von Goethe beschriebene Praxis der Vergegenwärtigung weist jedoch nur vordergründig Parallelen zu jenem fragwürdigen Einsatz von Bildnissen auf, wie er sich in der Sammlernovelle beobachten ließ. Goethes Umgang mit den ihn umgebenden Dingen respektiert die zeitliche Distanz zum Schenker oder Vermittler und kann daher zur Grundlage einer Erinnerungskultur im eigentlichen Sinne werden. Der Akt der Vergegenwärtigung nivelliert die Entfernung zur Vergangenheit nicht, sondern setzt Vergangenheit und Gegenwart in ein Verhältnis zueinander. Ausdrücklich spricht Goethe vom Anteil der Einbildungskraft und von dem »Bilde« der Erinnerung, das in der Beschäftigung mit den Gegenständen hervorgerufen wird. Seine ding- und bildgestützte Erinnerungskultur zeichnet sich mithin durch Bildbewusstsein aus und beruht gerade nicht auf einer Verleugnung der bildlichen Ausstattung des Goethehauses. In: Goethe-Handbuch. Supplemente, Bd. 3: Kunst, hrsg. v. Andreas Beyer, Ernst Osterkamp. Stuttgart 2011. S. 46–83. 13 Goethe: MA 16, S. 443 f. 14 Ebd., S. 444.

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Vermittlung, wie sie etwa noch mit dem Trompe-l’œil in der Sammlernovelle angestrebt war.

Abb. 1: Goethehaus, Treppenhaus mit Gipsabgüssen des sog. Betenden Knaben, eines Windspiels und eines Satyrn. © Klassik Stiftung Weimar

Dass Goethe dabei jedoch die affektive Wirkmacht des Bildes keineswegs gänzlich bändigen will, zeigt sich exemplarisch in der Blickregie einiger Skulpturen im Eingangsbereich des Hauses am Frauenplan (Abb. 1). Das Windspiel und der Betende Knabe stehen nicht nur exemplarisch für die Skulptur der Antike, sondern sie eröffnen zugleich Bezüge im Raum, indem sie die Aufmerksamkeit in eine für den Besucher zunächst nicht einsehbare Richtung lenken: Ostentativ, ja, im Fall des Windspiels sogar überrascht, wenden sie sich dem ersten Treppenabsatz zu und damit in eine Richtung, aus der gegebenenfalls der Hausherr zu erwarten wäre. Dennoch handelt es sich nicht um Wachsfiguren, die den Gast auf derart verstörende, unheimliche Weise frappieren wie die lebensgroßen Porträts, von denen in der Sammlernovelle die Rede war. Das Beispiel der Skulpturen im Treppenhaus deutet die grundsätzliche Tendenz von Goethes ›Bildpolitik‹ an: Goethe sucht nach Wegen, um Bezüge zwischen den Bildern und ihrem Umfeld zu stiften, die über ikonographische und zeichenhafte Referenzen hinausgehen. Zugleich aber bemüht er sich darum, durchgehend eine

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prinzipielle Distanz zwischen Bild und Betrachter und damit ein Bildbewusstsein zu wahren. Ein nochmaliger Blick in die Novelle Der Sammler und die Seinigen kann helfen, jene Praktiken genauer zu bestimmen, mit denen Goethe auf die Gefahren des Bildes zu antworten sucht: Die Sammlernovelle konfrontiert nicht allein mit problematischen Grenzverwischungen zwischen Bild und Wirklichkeit, sondern skizziert zugleich den Weg zu einer Bildpraxis, die das Problem einer Erstarrung angesichts der Bilder meidet. Denn in seinem eigenen, kontingent erscheinenden Verlauf entfaltet der Text einen Umgang mit Kunstwerken, der erst deren sinnliche, performative und soziale Potentiale hervortreten lässt. Die Sammlernovelle schildert zwar nicht die Idealfigur eines Kunstsammlers oder -betrachters und mündet nicht in unmissverständliche Prinzipien, Normen oder Verbote. In ihrer offenen, dialogischen und mäandrierenden Struktur erweist sie sich aber als Plädoyer für den Versuch, die Pluralität der gesammelten Kunstwerke und die Vielstimmigkeit ihrer verschiedenen Betrachter zum Tragen kommen zu lassen.15 In diesem Sinne wird im Text kein endgültiger Idealzustand der Sammlung angestrebt, vielmehr interessiert – vor allem in den ersten Briefen – deren wechselvolle, aber stetige Entwicklung sowie – in den späteren Briefen – die fortwährende Aktualisierung der gesammelten Werke in der sinnlichen Erfahrung der Betrachter. Für Goethes Bildpraxis lässt sich Vergleichbares geltend machen. Bei seinem Versuch, eine kritische Distanz zum Bild zu wahren, ohne es gänzlich seiner Potentiale zu berauben, griff er auf ein ganzes Bündel an Strategien zurück: Durch die Kontextualisierung des Einzelwerks in einer Vielzahl von Bildern sowie durch den bewussten Rückgriff auf Reproduktionen, etwa Gipsabgüsse oder Kupferstiche, deren eigene, charakteristische Materialität nicht verleugnet wurde, strebte Goethe eine Relativierung und bewusste Entauratisierung des Bildes an. Ganz in diesem Sinne unterzog er die Ausstattung seiner Wohnräume immer wieder kleineren Modifikationen, aber auch einschneidenden Änderungen. Die vergleichsweise einfache und flexible Möblierung mit Vitrinen und Wechselrahmen erlaubte ihm jederzeit Eingriffe in die Disposition von Ausstattungs- und Sammlungsstücken. Darüber hinaus verhinderte die Einbindung der Bildrezeption in performative Vollzüge und in das soziale Leben feste Bedeutungszuschreibungen und eine Fetischisierung der Ausstattungsgegenstände.16 Und schließlich wurde jedes Bild in zeitliche und historische Zusammenhänge integriert: Es wurde zum einen in eine morphologisch verstandene 15

Vgl. Johannes Grave: Der »ideale Kunstkörper«. Johann Wolfgang Goethe als Sammler von Druckgraphiken und Zeichnungen. Göttingen 2006, S. 355–362 u. S. 424–430. 16 Die materiellen, performativen und sozialen Aspekte der Ausstattung des Goethehauses sind Gegenstand einer umfassenden Studie, die im Rahmen des Projekts »Sinnlichkeit, Materialität, Anschauung. Ästhetische Dimensionen kultureller Übersetzungsprozesse in der Weimarer Klassik« von Christiane Holm vorbereitet wird. Vgl. jetzt auch Weimarer Klassik. Kultur des Sinnlichen

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Kunstgeschichte17 eingeordnet und zum anderen auf die Biographie des Sammlers bezogen. Die Ausstattung seines Hauses am Frauenplan begriff Goethe in den letzten zwei Jahrzehnten seines Lebens zunehmend als Teil einer umfassenderen Erinnerungsarbeit, die sich in autobiographischen Werken, etwa der Italienischen Reise, den Tag- und Jahresheften sowie Beiträgen zu den Heften zur Morphologie niederschlug, sich aber auch im eigenen Lebensumfeld gleichsam materialisierte. Goethe prägte

Abb. 2: Goethehaus, Gelber Saal mit Gipsabguss des Antinous Mondragone. © Klassik Stiftung Weimar

für diesen Vorgang bekanntlich die Formel, er selbst erscheine sich »immer mehr und mehr geschichtlich«.18 Aus Tagebuchnotizen, Briefen und anderen Quellen lässt sich erschließen, wie stark insbesondere die Abfassung der Italienischen Reise mit der (Aust.-Kat. Klassik Stiftung Weimar). Hrsg. v. Sebastian Böhmer, Christiane Holm, Veronika Spinner, Thorsten Valk. Berlin 2012. 17 Dazu vgl. Grave: Goethe als Sammler, S. 396–416. 18 Goethe an Wilhelm von Humboldt, 1. Dezember 1831: »[…] so gesteh ich gern daß in meinen hohen Jahren mir alles mehr und mehr historisch wird: ob etwas in der vergangenen Zeit, in fernen Reichen oder mir ganz nah räumlich im Augenblicke vorgeht, ist ganz eins, ja ich erscheine mir selbst immer mehr und mehr geschichtlich […]«; Johann Wolfgang Goethe: Briefe Juli 1831 – März 1832. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1909 (Weimarer Ausgabe, Abt. IV, Bd. 49), S. 165; Bde. der Ausg. im Folgenden zit. mit der Sigle: Goethe, WA.

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Betrachtung eigener Sammlungsbestände verflochten war. Es erstaunt daher nicht, dass sich Goethe besonders über Gipsabgüsse jener antiken Werke freute, von denen er bereits während seiner Zeit in Rom Abgüsse erworben hatte, ohne sie schließlich 1788 mit nach Weimar nehmen zu können.19 Gegenüber Carl Friedrich Zelter sprach Goethe im Mai 1828 anlässlich eines neuen Gipsabgusses vom Antinous Mondragone (Abb. 2) von der »große[n] Erinnerungs-Erbauung«,20 die ihm das Werk gewähre. Der auf den ersten Blick leblos und kalt wirkende Abguss verwies nicht nur auf eine längst vergangene Kunstepoche, sondern auch auf die eigene Biographie und auf frühere Kunsterlebnisse in Italien. Entsprechend reflektierte Goethe in seinem Brief an Zelter nicht über die künstlerische Bedeutung der klassischen Büste, sondern konzentrierte sich ausschließlich auf die durch sie angeregte Erinnerungsarbeit: »Ich hatte in Erwartung desselben, um Tag und Stunde noch mehr zu belasten, das Mährchen meines zweyten Aufenthalts in Rom zu dictiren angefangen.«21 Vor diesem Hintergrund musste Goethe auch ein Gipsabguss der Medusa Rondanini (Abb. 3) höchst willkommen sein; hatte er doch bereits in Rom einen Abguss besessen und in Briefen ausführlich beschrieben. Als der bayerische König Ludwig I. einen Abguss nach Weimar schickte, verkehrte sich der Mythos der Medusa für Goethe geradezu in seinen Gegenteil: »Vor mir aber steht ein langersehntes, einer mythischen Urzeit angehöriges Kunstwerck. Ich richte die Augen auf und schaue die ahnungsvollste Gestalt. Das Medusenhaupt, sonst wegen unseliger Wirkungen furchtbar, erAbb. 3: Goethehaus, Gipsabguss der 22 Medusa Rondanini. scheint mir wohltätig und heilsam […].« © Klassik Stiftung Weimar Und gegenüber Zelter sprach er von einem »Anblick, der keineswegs versteinerte sondern den Kunstsinn höchlich und herrlich belebte«.23 Indem Goethe – zum Teil gegen etablierte ikonographische Codierungen – 19

Vgl. Jörg Traeger: Zur Rolle der Gipsabgüsse in Goethes Italienischer Reise. In: Italiensehnsucht. Kunsthistorische Aspekte eines Topos, hrsg. v. Hildegard Wiegel. München 2004, S. 45–57; und Gabriella Catalano: Musei invisibili. Idea e forma della collezione nell’opera di Goethe. Rom 2007, S. 67–112. 20 Goethe: WA IV, 44, S. 101 (Brief an Zelter vom 21.05.1828). 21 Ebd. 22 Goethe: WA IV, 40, S. 195 (Konzept eines Briefes an Ludwig I. von Bayern, Nov. 1825). 23 Goethe: WA IV, 40, S. 256 (Brief an Zelter vom 21.01.1826).

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seine Gipsabgüsse antiker Skulpturen in einem autobiographischen Zusammenhang situierte, mithin die Kunstwerke relativ unvermittelt mit der eigenen Lebenswirklichkeit verknüpfte, scheint er sich zunächst einer ähnlich unheilvollen Dynamik von Projektionen ausgeliefert zu haben, wie er sie in den Wahlverwandtschaften schonungslos dargelegt hatte. Doch spricht er gegenüber Zelter nicht ohne Grund vom »Kunstsinn«, der durch die Medusa Rondanini belebt worden sei. Bei allen biographischen Reminiszenzen blieb für Goethe jedes Bild in einen übergreifenden kunsthistorischen Zusammenhang eingebettet, der eine Fetischisierung des Einzelwerks unterband. Geradezu emblematisch mutet daher die frühere Positionierung der Medusa an: Anders als die heutige Aufstellung des Abgusses im Gelben Saal es suggeriert, fand das Haupt der Medusa zu Goethes Lebzeiten auf dem Repositorium für die Graphikmappen seinen Platz. Das verstörende Bildwerk war auf diese Weise implizit auf eine Fülle unterschiedlicher anderer Bilder verwiesen. Dem Fetisch oder Idol eines einzelnen faszinierenden Anblicks setzten die Sammlungen die Pluralität einer Vielzahl von Bildern entgegen, die als Darstellungen nicht mit dem jeweils Dargestellten verwechselt werden sollten. Das Beispiel des Antinous Mondragone und des Medusen-Hauptes kann vor Augen führen, dass Goethe Bildwerke und Kunstgegenstände offensiv in seine Erinnerungskultur integrierte und dabei durchaus eine vergegenwärtigende und verlebendigende Betrachtung anstrebte, ohne jedoch Gefahr zu laufen, dass die Grenze zwischen Bild und Wirklichkeit fragwürdig wurde. Auch bei Kunstwerken, die in besonderer Weise mit Schlüsselmomenten der eigenen Biographie verknüpft waren, wahrte Goethe durchweg ein Bewusstsein für deren Bildlichkeit, für die Materialdifferenz von Original und Reproduktion sowie für die zeitliche Distanz zwischen dem erinnerten Moment und der Zeit des Erinnerns.

Marie Wokalek (Berlin) Objekte der Erinnerung, Unterhaltung und Bildung. Goethe zu Hemsterhuis’ Gemmensammlung in Campagne in Frankreich

In Erinnerung an die Gemmensammlung des niederländischen Philosophen und Kunsttheoretikers Frans Hemsterhuis bemerkt Goethe in seiner autobiografischen Rückschau Campagne in Frankreich, dass »für einen Privatmann, der sich nicht in großen Räumen ergehen und selbst auf Reisen einen gewohnten Kunstgenuss nicht entbehren« könne, »eine Sammlung geschnittener Steine höchst wünschenswert« sei: Ihn »begleitet überall das Erfreulichste, ein belehrendes Kostbare [!] ohne Belästigung, und er genießt ununterbrochen des edelsten Besitzes.«1 Das Gemmensammeln war in der Renaissance in Mode gekommen. Vornehmlich der vermögende Adel, aber auch einzelne wohlhabende Kaufleute sammelten. Wo die verfügbaren antiken Originale die wachsende Nachfrage nicht mehr decken konnten, behalf man sich mit Pasten, Abdrücken, Abgüssen und mit den Werken zeitgenössischer Steinschneidekünstler. In dieser Entwicklung wurzelt der im späten 18. Jahrhundert aufkommende Streit um Fragen der Authentizität. Die Skepsis gegenüber den Befunden »Original« oder »Imitation« bzw. »antik« oder »modern« wuchs. Später zeigte sich, dass der Anteil neuzeitlicher Arbeiten in den meisten Sammlungen höher war, als man damals ahnen konnte. In der Goethezeit nahm die Kenntnis über die Glyptik auch im gebildeten Bürgertum zu. Gemmen galten wie die Münzen als Zeugen des Altertums. Zu einer Zeit als man erst begann, die Reste der antiken Kunst auszugraben und diese nur wenigen wohlhabenden Reisenden zugänglich waren, dienten die Gemmen als Kulturgeschichte en miniature. Die bequem zu betrachtenden, oft farbschönen Objekte kamen einem humanistischen Bildungsstreben entgegen. Durch das Studium geschnittener Steine werde »der menschliche Geist mit vielseitigen Kenntnissen bereichert«, »das Gefühl des Edlen und Schönen erweckt und genährt«, das Altertum »versinnlicht«, die »Mythologie« im Zusammenhang greifbar und »in dem Genie des Künstlers erhabene Ideen zu neuen Kunstschöpfungen« angeregt.2 Mit diesen Worten rühmte Roth den Nutzen

1

Johann Wolfgang von Goethe: Campagne in Frankreich. Hrsg. v. Klaus-Detlef Müller. Frankfurt a. M. 1994 (Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, I. Abt. 16), S. 546 (in der Folge zit. als Goethe, Campagne, FA I, 16). 2 Johann F. Roth: Mythologische Daktyliothek. Nürnberg 1805, S. IV, zit. nach: Gerald Heres: Daktyliotheken der Goethe-Zeit. In: Staatliche Museen zu Berlin. Forschungen und Berichte 13 (1971), S. 59–74, S. 68.

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einer Sammlung von Gemmen-Pasten, die er in einem als Buch gestalteten Kasten unter dem Titel Mythologische Daktyliothek 1805 in Nürnberg herausgab.3 Goethes Erinnerung an Hemsterhuis’ Gemmensammlung in Campagne in Frankreich trägt diesem kunsthistorischen und bildungsgeschichtlichen Phänomen der Glyptik-Begeisterung Rechnung. Die Reminiszenz an Hemsterhuis’ Gemmen in Goethes Autobiografie erfüllt jedoch auch eine narrative Funktion, die über den kulturgeschichtlichen Kommentar hinausgeht. Die Praktik des Sammelns, gemeinsamen Betrachtens und Vergleichens geschnittener Steine dient Goethe als ein sozialer Bezugsrahmen, der ihm sowohl seine individuelle Erinnerung als auch seine narrative Selbstkonstruktion erleichtert. Eine Notiz Goethes aus dem Jahre 1814/15 lässt außerdem vermuten, dass ihm die Kunst des Steinschneidens selbst zum Modell für eine schriftstellerische Erinnerungs- und Darstellungspraxis im Zeichen der Anschauung wurde. Die »skizzenhafte Behandlung«, welcher die alten »Steinschneider« mächtig gewesen seien, so heißt es dort, sei »unschätzbar«, insofern man eine solche »Arbeit als gründliches und treffliches Symbol ansehen« könne, »das alles sagt, wenn es auch nicht alles darstellt« (Steinschneider, FA I, 19, S. 655). Der Rekurs auf Hemsterhuis’ Gemmen, so meine Hypothese, dient Goethe – gleichsam alles sagend, wenn auch nicht alles darstellend – dazu, kunstphilosophische Fragen zu berühren, Aspekte seines individuellen Bildungsbegriffs wie in einem Prisma zu bündeln, zu reflektieren und sich im Medium der Autobiografie retrospektiv als unverwechselbares Individuum zu stilisieren. Wie der Schnitt der Steine die symbolischen Formen antiken Denkens und antiker Mythologie vor Augen führt, so wird die Geschichte von Hemsterhuis’ Gemmen in Goethes Text zum Symbol einer spezifischen autobiografischen Konstellation: der Einsicht in die Diskrepanzen zwischen seinen individuellen Erfahrungen und den kollektiven Überzeugungen seiner alten Freunde nach seiner Rückkehr aus Italien. Diese Diskrepanzen, die vornehmlich in Fragen der Naturbetrachtung, der Kunstphilosophie und der Religion hervortraten, fasst Goethe rückblickend in das Wort von seinem »Realismus«, der »zum Vorschein kommend« die alten Freunde »nicht sonderlich erbaute.«4 Zu dem Kreis der alten Freunde um F. H. Jacobi in Pempelfort gehörten auch Adelheid Amalia Fürstin von Gallitzin und ihr Kreis in Münster. Im zweiten Teil der Campagne schildert Goethe seinen Besuch in Münster im Jahre 1792 auf der Rückreise aus dem revolutionären Frankreich. In Münster hatte Goethe zum ersten Mal die Gelegenheit, die Gemmensammlung des bereits verstorbenen Hemsterhuis

3

Vgl. Helge Knüppel: Daktyliotheken – Konzepte einer historischen Publikationsform. In: Daktyliotheken. Götter & Caesaren aus der Schublade. Antike Gemmen in Abdrucksammlungen des 18. und 19. Jahrhunderts, hrsg. v. Valentin Kockel, Daniel Graepler. München 2006, S. 17–38, bes. S. 20 f. 4 Goethe: Campagne, FA I, 16, S. 516 (wie Anm. 1).

Objekte der Erinnerung, Unterhaltung und Bildung

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zu bewundern. Im Anschluss an Goethes Besuch verlieh Amalia von Gallitzin die Gemmen für fünf Jahre nach Weimar zum Studium und zur Bekanntmachung. Sie hoffte, dass Goethe einen Verkauf der Sammlung in die Wege leiten werde. Den Erlös gedachte sie wohltätig zu spenden. Die Verkaufspläne scheiterten. Nachdem Goethe die Gemmen zusammen mit seinem Kunstfreund J. H. Meyer sorgsam geordnet, gelagert und katalogisiert hatte, gab er sie 1797 nach Münster zurück. Meyer schrieb im Namen der »Weimarischen Kunstfreunde« einen Aufsatz über 60 Objekte der Sammlung. Dieser Aufsatz erschien, illustriert mit fünf Abbildungen, 1807 im ersten Band der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung.5 Goethe zitiert daraus im Campagne-Text, ohne den Auszug als Zitat zu kennzeichnen. Zum Zeitpunkt der Arbeit an seinen autobiografischen Erinnerungen Campagne in Frankreich (1820– 1822) liegen Goethe also nur noch Meyers Aufsatz und die Abdrücke vor, die er von Hemsterhuis’ Sammlung anfertigte.6 In der »Zwischen-Rede« zwischen dem ersten und dem zweiten Teil der Campagne reflektiert Goethe darüber, dass das Gedächtnis kein blanker Speicher ist, der die Vergangenheit bewahrt, sondern dass Erinnerungen – besonders dort, wo sie individuelle soziale Konstellationen betreffen – kognitive Leistungen sind, die in der Gegenwart erbracht werden und von gegenwärtigen Vorstellungen und Überzeugungen des sich erinnernden Subjektes immer mit geprägt sind. Was »in geselligen Zirkeln sich ereignet«, so schreibt Goethe, »kann nur aus einer sittlichen Folge der 5

W. K. F. [= J. H. Meyer]: Nachrichten von einer Sammlung meistens antiker geschnittener Steine. In: Unterhaltungen über Gegenstände der bildenden Kunst als Folge der Nachrichten von den Weimarischen Kunstausstellungen. In: FA I, 19, S. 295–326. Im Intelligenzblatt Nr. 33 der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung erschien am 29.04.1807 noch einmal ein Verkaufsangebot. Vgl. FA I, 19, S. 327. Ein Katalog aus dem Jahre 1952 weist die meisten Gemmen der Hemsterhuis-Gallitzinschen Sammlung als Arbeiten des 16., 17. und 18. Jahrhunderts aus. Vgl. Goethe und der Kreis von Münster. Zeitgenössische Briefe und Aufzeichnungen, hrsg. v. Erich Trunz, Waltraud Loos. Münster 21974, S. 417–420, Abb. 17 u. Erläuterungen. Den Katalog, den Trunz/ Loos zitieren, konnte ich nicht einsehen: Zadoks-Josephus Jitta, Annie Nicolette: La collection Hemsterhuis au Cabinet royal des Médailles à la Haye. Den Haag 1952. 6 Die Abdrücke befinden sich nach wie vor im Weimarer Daktyliotheken-Bestand. Vgl. hierzu auch: Carina Weiss: »Köstliche Ringe besitz ich! Gegrabne fürtreffliche Steine...«. Zu Goethes Sammlung antiker und nachantiker Gemmen (mit 18 Abb.). In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (2004), S. 116–151; dort weitere einschlägige Literatur zum Thema. Im Campagne-Text selbst schaltet Goethe noch einmal eine öffentliche Anfrage über den Verbleib der Sammlung (vgl. FA I, 16, S. 564). Daraufhin erfährt er, dass sie sich im Medaillenkabinett des Königs der Niederlande befindet. 1823 teilt er dies seinem Publikum in Kunst und Altertum, Bd. IV, H. 1 mit (vgl. Hemsterhuis-Galizinische Gemmen-Sammlung, FA I, 21, S. 385–388). Im Auftrag des Königs der Niederlande wird ihm am 20.09.1823 durch den Landgrafen Ludwig Christian von HessenDarmstadt ein Katalog zugeschickt mit dem Titel: Notice sur le cabinet des médailles et des pierres gravées de sa majesté le roi des pay-bas; par J. C. de Jonge, Directeur. A la Haye. 1823. Goethe übersetzt einen Teil der Vorrede, schließt einige aufschlussreiche Betrachtungen an und veröffentlichte den Text 1824 in Kunst und Altertum, Bd. IV, H. 3 (vgl. FA I, 21, S. 567–571).

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Äußerungen innerlicher Zustände begriffen werden; die Reflexion ist hier an ihrer Stelle, der Augenblick spricht nicht für sich selbst, Andenken an das Vergangene, spätere Betrachtungen müssen ihn dolmetschen.«7 Im Zuge der autobiografischen Retrospektion konstruiert sich das Ich als seine Geschichte. Goethes Einsicht in diesen konstruktiven Charakter von individueller Erinnerung manifestiert sich anhand der narrativen Einbindung der Geschichte von Hemsterhuis’ Gemmen in seine autobiografische Darstellung. In zweifacher Hinsicht wird Hemsterhuis’ Sammlung geschnittener Steine zur Sache von Goethes individueller Erinnerung und erinnerter Individualität. Erstens dient die Erinnerung an die Gemmen Goethe dazu, die gesellige Praktik des gemeinsamen Betrachtens geschnittener Steine zu thematisieren und dabei zugleich seine weltanschauliche Distanz zum Kreis von Münster narrativ zu inszenieren (I). Zweitens veranlasst das Nachdenken über die Praktik des Sammelns, Betrachtens und Vergleichens geschnittener Steine Goethe dazu, seinen subjektiven Zugang zum antiken Gehalt der Gemmen von den Herangehensweisen pedantischer Gelehrter abzugrenzen. Goethe stilisiert sich als Kunstrichter, dem weniger an kunsthistorisch zweifelsfreien Befunden über die Authentizität der geschnittenen Steine liegt, als vielmehr an den formalen Qualitäten und normativen Wirkungen der kleinen Objekte (II).

I. Das Verhältnis zur Fürstin Amalia von Gallitzin bezeichnet Goethe in der Campagne einerseits als »rein« (ebd., S. 543), andererseits unterstreicht seine wohlwollende, gleichwohl ironisch gefärbte Charakterisierung des Kreises von Münster mit jedem Satz eine innere Distanz zu der dort herrschenden frommen Sittlichkeit. Man kannte sich von einem Besuch der Fürstin in Weimar, den sie 1785 zusammen mit Frans Hemsterhuis und dem Freiherrn von Fürstenberg unternahm. »Schon damals«, so schreibt Goethe rückblickend, »verglich man sich« »über gewisse Punkte und schied, Einiges zugebend, Anderes duldend, im besten Vernehmen« (ebd., S. 544). Mehrfach klingt an, dass auch das Wiedersehen in Münster im Jahre 1792 wieder auf der Interaktionskultur des Takts beruhte: »Ich wußte daß ich in einen frommen sittlichen Kreis hereintrat und betrug mich darnach. Von jener Seite benahm man sich gesellig, klug und nicht beschränkend« (ebd., S. 543). Dieser Takt materialisierte sich nach Goethes Darstellung in Hemsterhuis’ Gemmensammlung. Die Gemmen fungierten als sensus communis, dem es gelang, die weltanschaulichen Differenzen der kleinen Gesellschaft zu integrieren. »Immer aber konnten 7

Goethe: Campagne, FA I, 16, S. 512 (wie Anm. 1).

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die geschnittenen Steine als ein herrliches Mittelglied eingeschoben werden, wenn die Unterhaltung irgend lückenhaft zu werden drohte«, (ebd., S. 549) erinnert sich Goethe. Das gemeinsame Betrachten der geschnittenen Steine, zu dem »wieder zurückzukehren« »mehrmals höchst erfreulich« gewesen sei, (ebd., S. 547) bewährt sich als Praktik der Schonung fremder Individualität und der Duldung des Anderen. »Dulden« jedoch, so formuliert es Goethe in einer seiner Maximen, »Dulden heißt beleidigen« und »Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung seyn; sie muß zur Anerkennung führen.« »Die wahre Liberalität ist Anerkennung.«8 Goethe vertritt hier eine ganz eigene Auffassung des spannungsgeladenen Wechselverhältnisses von Individuum und Gesellschaft; ein Thema, das sich wie ein roter Faden durch den zweiten Teil des Campagne-Textes zieht. Gemäß dieser Auffassung nutzt Goethe die Reminiszenz an die gesellige Erfahrung der Gemmenbetrachtung dazu, seine Individualität narrativ zu inszenieren und seiner Andersartigkeit im autobiografischen Text dauerhaft Anerkennung zu verschaffen. Ein Beispiel muss hier genügen: Goethe nimmt die Gemmen zum Anlass, das Verhältnis von bildender Kunst und christlicher Religion zu thematisieren und dem »religiösen Gefühl«, das im Kreise von Münster »jede Verehrung eines würdigen Gegenstandes« begleitete, (ebd., S. 548) sein sogenanntes »allegorisches Glaubensbekenntnis« (ebd., S. 549) entgegenzuhalten. Man musste es doch »gewiß als einen der sonderbarsten Fälle ansehen daß gerade die Blüte des Heidentums in einem christlichen Hause verwahrt und hochgeschätzt werden sollte,« (ebd., S. 547 f.) bemerkt er ironisch. Während sich die Freunde um die Sinnlichkeit sorgen, von der sich die »reinste christliche Religion« doch einerseits »zu entfernen« strebe, die aber andererseits ja der »eigentlichste[n] Wirkungskreis« der bildenden Kunst sei (ebd., S. 548), versucht Goethe in einem Epigramm Sitte und Sinnlichkeit anders zu vermitteln: Amor, nicht aber das Kind, der Jüngling, der Psychen verführte,/ Sah im Olympus sich um, frech und der Siege gewohnt;/ Eine Göttin erblickt’ er, vor allen die herrlichste Schöne,/ Venus Urania war’s, und er entbrannte für sie./ Ach! und die Heilige selbst, sie widerstand nicht dem Werben,/ Und der Verwegene hielt fest sie im Arme bestrickt./ Da entstand aus ihnen ein neuer lieblicher Amor,/ Der dem Vater den Sinn, Sitte der Mutter verdankt;/ Immer findest du ihn in holder Musen Gesellschaft,/ Und sein reizender Pfeil stiftet die Liebe der Kunst.9

8 9

FA I, 13, S. 249 (Nr. 2.111.1). Goethe: Campagne, FA I, 16, S. 548 f. (wie Anm. 1).

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Goethe möchte mit seinem »allegorischen Glaubensbekenntnis« (ebd., S. 549), wie er das Epigramm auch nennt, das Schöne von der Last des sittlichen Guten befreien. Das Schöne ist nicht das Gute, und das fromme Gute ist nicht das Schöne, sondern schön ist der intentionale Eros des Subjekts für das Kunstobjekt. Unter Rekurs auf Hemsterhuis’ Vereinigungsphilosophie definiert Goethe in diesem Zusammenhang »das Schöne« als »versprechend« nicht als »leistend« (ebd., S. 546 f.). Er lenkt den Fokus auf die Reizung von Sehnsucht und Befriedigung durch das Schöne. Die polare Spannung von Sehnsucht und Befriedigung – nicht die fromme Gewissheit von der christlichen Wahrheit – ist für Goethe Kennzeichen sowie Mechanismus sittlicher Bildung. Das Anlegen einer Kunstsammlung stimuliert diesen pulsierenden Mechanismus so lange, wie Hoffnung und Neugierde des Sammlers nicht im Besitzstreben nach materiellem Wert erstarren.

II. In einer weiteren Hinsicht wird Hemsterhuis’ Gemmensammlung zur Sache von Goethes autobiografisch konstituierten Individualität: Die Praktik des Betrachtens und Vergleichens geschnittener Steine veranlasst Goethe dazu, seinen subjektiven Zugang zum antiken Gehalt der Gemmen abzugrenzen von einer Betrachtungsweise, die in erster Linie Zweifel über die kunsthistorische Authentizität der kleinen Objekte des Altertums zu beruhigen sucht. »Ich von meiner Seite«, so erinnert er sich in der Campagne, »konnte freilich nur das Poetische schätzen, das Motiv selbst, Komposition, Darstellung überhaupt beurteilen und rühmen, dagegen die Freunde dabei noch ganz andere Betrachtungen anzustellen gewohnt waren« (ebd., S. 549). Goethe grenzt sein Verfahren des subjektiven Sehens von den nahezu vergeblichen Bemühungen Hemsterhuis’ ab, zusammen mit dem Steinschneider Johann Lorenz Natter anhand der Gesteinsart, der SchnittTechnik und Darstellungsweisen einen Befund über Authentizität, Alter und somit auch über den materiellen Wert der Gemmen zu erstellen. Goethe ist der Überzeugung, dass die Motive der geschnittenen Steine Nachahmungen »großer würdiger älterer Werke« sind, »die für uns ewig verloren wären«, wenn sie nicht »in diesen engen Räumen juwelenhaft aufgehoben worden« wären (ebd., S. 548). Er unterstreicht die Bedeutung der Gemmen als Reservoire und Ressourcen: als Reservoire antiker und mythologischer symbolischer Formen und als Ressourcen für »Geschichtseinsicht«,10 für die künstlerische Einsicht in Darstellungs- und Behandlungsformen sowie für die Bildung des Menschen zum Schönen und Guten.

10

Goethe: Notice sur le cabinet des médailles, FA I, 21, S. 570 f. (wie Anm. 6).

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Goethe und sein Kunstfreund Meyer betrachteten die Frage, ob die geschnittenen Steine tatsächlich antiken oder neuzeitlichen Ursprungs sind, als zweitrangig. Man überließ die Datierung gerne den Gelehrten11 und konzentrierte sich in der Rolle der Kunstkenner und Kunstrichter auf die nuancierte Beschreibung von Komposition, Ausführung, Charakter, Geschmack, Geist oder Wahrheit der geschnittenen Motive, kurz: auf das »Poetische« der Kleinodien (ebd., S. 549). Der ideelle Kunstgehalt wurde hier über den kunsthistorischen Nachweis authentischen Altertums und damit auch über den materiellen Wert der Objekte gestellt. Dahinter stand eine dezidierte Skepsis gegenüber pedantischem Fachwissen und gelehrter Zweifelsucht. 1823 lässt Goethe in Kunst und Altertum seine Leser wissen, dass sich Hemsterhuis’ Sammlung nun unter den Schätzen des Königs der Niederlande befindet. In diesem Zusammenhang beklagt er: »Nun aber findet die Zweifelsucht kein reicheres Feld sich zu ergehen als gerade bey geschnittenen Steinen; bald heißt es eine alte, bald eine moderne Copie, eine Wiederholung, eine Nachahmung; bald erregt der Stein Verdacht, bald eine Inschrift, die von besonderem Werth seyn sollte, und so ist es gefährlicher sich auf Gemmen einzulassen, als auf antike Münzen« (Goethe, Hemsterhuis-Galizinische Sammlung, FA I, 21, S. 386 f., (wie Anm. 6). Der Zweifel aber überhebe sich des Beweises: »Worauf beruht denn aber in solchen Fällen der Beweis anders als auf einem innern Gefühl, begünstigt durch ein geübtes Auge das gewisse Kennzeichen gewahr zu werden vermag, auf geprüfter Wahrscheinlichkeit historischer Forderungen und auf gar manchem andern, wodurch wir, alles zusammen genommen, uns doch nur selbst, nicht aber einen andern überzeugen« (ebd.). In Goethes Plädoyer für ein Vertrauen auf das innere Gefühl, den »innern Sinn«12 und die eigenen Augen klingt sein Bekenntnis zur Methode des inneren subjektiven Sehens an, das er an anderer Stelle als einen physiologisch-psychologischen Vorgang beschreibt, in welchem »die Erscheinung des Nachbildes, Gedächtnis, produktive Einbildungskraft, Begriff und Idee alles auf einmal im Spiel«13 ist. Das Gedächtnis wird hier als eine dynamische Kraft aufgefasst, die im organischen Wechselspiel von Physiologie, Psychologie und Philosophie überlieferte Formen erschließt und neue

11

Vgl. W. K. F. [= J: H. Meyer]: Nachrichten von einer Sammlung meistens antiker geschnittener Steine (Anm. 5), FA I, 19, bes. S. 306: »[…] wollen aber auch nicht gegen die erwähnten Inschriften streiten, teils weil das Urteil in solchen Fällen weniger dem Kunstrichter, als dem Gelehrten zusteht, teils weil bloße Namen doch nur literarische Merkwürdigkeiten sind, und den Wert eines Kunstwerks eigentlich nicht vermehren, […].« 12 Goethe: Campagne, FA I, 16, S. 550 (wie Anm. 1): Angesichts der Kürze seines Aufenthalts in Münster bedauert Goethe gegenüber der Fürstin, dass er gerne seine »Augen sowohl als den innern Sinn« auf die Gemmen noch kräftiger gerichtet hätte. 13 Goethe: Das Sehen in subjektiver Hinsicht von Purkinje (1819), FA I, 25, S. 825 ff. Am 11. Januar 1821, also während der Arbeit an der Campagne, notiert Goethe in sein Tagebuch: »Hemsterhuis, sur la sculpture in Bezug auf Purkinje betrachtet.«

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Formen bildet. Im Rahmen autobiografischen Schreibens stimuliert die Auseinandersetzung mit den geschnittenen Steine einerseits diese dynamisch schöpferische mentale Kraft »Gedächtnis« und andererseits dienen die Steine selbst als materiell und räumlich strukturierte Medien der Erinnerung, als mnemotechnische Hilfsmittel für die Konstitution einer kohärenten Identität.

Sabine Schneider (Zürich) Opake Reste, Zeitfluchten, Raumzeiten. Dynamisierte Erinnerungstechniken in Spätaufklärung und Klassizismus

Es ist ein Indiz für die epistemische Situierung des Klassizismus in der von Koselleck als Sattelzeit der Moderne beschriebenen zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, dass er seit Winckelmanns Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke als Projekt der Verräumlichung von Zeit, oder der aktiven Herstellung von Raumzeit durch kulturelle Erinnerungstechniken beschrieben werden kann.1 Dieses Projekt teilt seine ebenso emphatisch formulierte wie spannungsvolle und prekäre Konstruktion mit dem dynamischen Erinnerungskonzept der Anthropologie der Spätaufklärung. Es gewinnt der »Flucht der Zeit«, um Karl Philipp Moritz’ programmatische Schrift Über die Würde des Studiums des Altertums zu zitieren, einen mit der Metaphorik der Umrisslinie bezeichneten abgegrenzten Erinnerungsraum ab, der zur Voraussetzung für die im Modus des Ästhetischen erfahrbare Präsenz nicht nur einer vergangenen Epoche, sondern auch der Gegenwart wird. Moritz legitimiert den kulturellen Nutzen des Studiums der Altertümer nicht mit deren fragloser normativer Geltung, sondern mit einer auf Benjamins Geschichtsauffassung vorverweisenden Jetztzeitperspektive im momenthaft vergegenwärtigten, als prägnante Konfiguration isolierten Bild der Antike, dessen Grunderfahrung eine spezifisch moderne Beschleunigungserfahrung ist: Suchen wir nun von dem schönen Alterthum ein getreues Bild in uns zu entwerfen, so ist dies ein nicht zu raubender Schatz, an dem wir uns oft in stillen Stunden ergötzen […]. Auf die Weise muß das Gebildete in dem Geiste des Menschen, dessen Tage dahin eilen, wieder abgebildet sich verjüngen und wir müssen in der Flucht der Zeit von den Bildern, die vorüberrauschen, gleichsam nur die Umrisse stehlen.2

Es ist bezeichnend, dass die räumliche Metapher für dieses Modell produktiver Erinnerung auf die Umrisstechnik des Klassizismus rekurriert, die durch ihre Nähe zur Arabeske einen prekären, nämlich amimetisch gefassten Wahrheitsindex mit sich trägt und auf eine die produktive Bildungskraft ermächtigende produktionsästhetische Radikalisierung des Klassizismus verweist. Diese Metaphorik des Umrisses im Zusammenhang der Erinnerungskonzepte ist auffällig und selbstreflexiv. 1

Reinhart Koselleck: Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit. In: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, hrsg. v. dems., Reinhart Herzog. München 1987, S. 269–282. 2 Karl Philipp Moritz: Über die Würde des Studiums der Alterthümer. In: Ders.: Schriften zur Ästhetik und Poetik, hrsg. v. Hans Joachim Schrimpf. Tübingen 1962, S. 107 f.

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Sie vernetzt die anthropologischen Modelle von individueller Erinnerung mit den klassizistischen Konzepten der kulturellen Erinnerung an die Antike, welche sich beide an den ästhetischen Formgebungsverfahren des Klassizismus orientieren. So spricht auch Winckelmann im berühmten Schlussbild seiner Geschichte der Kunst des Altertums vom sehnsuchtsvoll aus der Ferne erblickten »Schattenriß von dem Vorwurf unserer Wünsche« und von »Kopien der Urbilder« als einzigem Gegenstand der kulturellen Erinnerung an die entschwundene Antike.3 Die dreifache Potenzierung der subjektiven Vermittlung und der implizite Hinweis auf die Reproduktionskultur des Klassizismus, ihrer abstrahierenden Techniken des Schattenrisses und des reproduktionsfähigen Umrisses in Gemmensammlungen und Stichwerken, reflektiert den projektiven Charakter der Antikenimagination und motiviert ihn aus den Bedürfnissen einer modernen Kunstproduktion. Auch der Brief Wilhelm von Humboldts aus Rom, den die Weimarer Kunstfreunde als programmatischen Erinnerungstext in die Gemeinschaftspublikation Winckelmann und sein Jahrhundert 1805 einrücken, beschwört die »Bestimmtheit der Umrisse in einem klaren Medium«, um zu beschreiben, wie sich in Rom durch die »Masse von Trümmern […] für unsere Ansicht das ganze Altertum in eins zusammenzieht«.4 Die Fähigkeit, das Inkohärente durch Isolierung zu einer intern organisierten ästhetischen Konfiguration zu verdichten, hatte Moritz in seiner – Anthropologie und Kunsttheorie vereinenden – Formulierung des Bildungstriebs anhand des Umrisses akzentuiert: Er vermöge durch Isolierung »demjenigen, was an sich keinen Schluß, keine Grenzen hat, eine Art von Vollendung zu geben […], wodurch es sich zu einem Ganzen bildet«.5 Der klassizistische Umriss impliziert seiner Abstraktions- und Stilisierungsleistung wegen ein Erinnerungsmodell, das die auf die Abbreviatur von Formeln gebrachte Kunstvergangenheit auf artifizielle Weise neu konfiguriert – was in der auch von Moritz gebrauchten Rede der »Verjüngung« thematisiert ist.6 Dass die klassizistische Antikenreproduktion sich einer modernen Zeichenökonomie verdankt, wird allenthalben reflexiv bedacht. Auch der Besucher des Mannheimer Antikensaals in Schillers Brief eines reisenden Dänen bemerkt, dass es sich bei dieser Sammlung von Gipskopien um die verdichtete Abbreviatur von Antike

3

Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Altertums. Darmstadt 1982, S. 393. 4 Johann Wolfgang von Goethe: Winckelmann und sein Jahrhundert. In: Ders.: Ästhetische Schriften 1806–1831, hrsg. v. Hendrik Birus. Frankfurt a. M. 1998 (Sämtliche Werke, Abt. I, Bd. 19), S. 190. 5 Karl Philipp Moritz: Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamente (Der Rahmen). In: Klassik und Klassizismus, hrsg. v. Helmut Pfotenhauer, Peter Sprengel Frankfurt a. M. 1995, S. 385. 6 So die Thesen von Werner Busch und Günter Oesterle. Vgl. Werner Busch: Die notwendige Arabeske. Wirklichkeitsaneignung und Stilisierung in der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts. Berlin 1985.

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handelt, um einen »kurzen geschmackvollen Auszug der edelsten Denkmäler griechischer und römischer Bildhauerkunst«.7 Seit Hemsterhuis’ Lettre de la sculpture, dessen Umrisstheorie in der Debatte zwischen Goethe und A.W. Schlegel um die Flaxmanschen Umrisszeichnungen eine zentrale Rolle spielte, wird diese Zeichenökonomie anhand des Verhältnisses von Abstraktion und Ideenfülle im Rekurs auf die Zeitlichkeit der Wahrnehmung reflektiert. Schön sei ein Umriss, der im Wahrnehmungsprozess ein Maximum von Ideen in einem Minimum von Zeit hervorrufe.8 Hemsterhuis’ Wahrnehmungs- und Erinnerungsmodell entspricht der in der Anthropologie der Spätaufklärung sich durchsetzenden Einsicht von der radikalen Zeitlichkeit der Perzeption und Apperzeption, eine Einsicht, die den wissenschaftlichen Subtext für Moritzens melancholische Rede von der »Flucht der Zeit« in seiner Altertums-Schrift bildet. In Moritzens erfahrungsseelenkundlichen und lebensphilosophischen Schriften, im anthropologischen Roman Anton Reiser, in den Beiträgen zum Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, in den auf grüblerische Selbstbeobachtung gerichteten Denkwürdigkeiten, den Beiträgen zur Philosophie des Lebens und den Fragmenten aus dem Tagebuche eines Geistersehers wird die menschliche Zeiterfahrung als die einer diskontinuierlichen Abfolge einzelner, sich überstürzender Empfindungsmomente beschrieben, die als »Schwindel« oder »Wirbel der Dinge« wahrgenommen wird und zu einer Derealisierung führt, welche die vorüberrauschende Wirklichkeit sich verflüchtigen lässt: Mit Pfeilschnelle ist wieder ein Tag verschwunden – Ich werde mit unwiderstehlicher Gewalt durchs Leben fortgerissen – und von allem dem, was vor mir vorüberfliegt, haftet so wenig, so äusserst wenig – Die mannichfaltigen Gestalten der Dinge entschlüpfen meinem Auge wieder, ehe es sie noch fassen kann […].9

Da in dieser Flucht der partikularen Empfindungsmomente einzig die Erinnerung das identitätsstiftende Band ist, wie seit David Humes Essay concerning human understanding zum ›Common sense‹ der Anthropologie gehört, wird ihr es übertragen, die fliehende Zeit zu sistieren, zu verdichten und zu gestalten. Sie hat als produktiver, auf ästhetischen Verfahren beruhender Akt das sich in die Zeitlichkeit verflüchtigende Leben als Form wieder zu erstatten. Sie ist mehr als nur Gedächtnis, sie bringt an7 Friedrich Schiller: Brief eines reisenden Dänen. In: Ders.: Philosophische Schriften I, hrsg. v. Benno von Wiese. Weimar 1962 (Werke, Nationalausgabe, Bd. 20), S. 101–106, hier S. 102. 8 Francois Hemsterhuis: Ueber die Bildhauerey in einem Briefe an H. Theodor von Smeth zu Amsterdam (1769). In: Vermischte philosophische Schriften des H. Hemsterhuis. Teil 1. Leipzig 1782, S. 1–70. 9 Karl Philipp Moritz: Die lezte Freistadt des Weisen. In: Denkwürdigkeiten, aufgezeichnet zur Beförderung des Edlen und Schönen, hrsg. v. dems., Karl Friedrich Pockels, Bd. 1. Zwölftes Stück. Berlin 1786, S. 179; ders.: Aus dem Tagebuche eines Selbstbeobachters. In: Denkwürdigkeiten. Bd. 1. Zehntes Stück. 1786, S. 174.

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gesichts der Transitorik des immer schon Verschwundenen allein Gegenwart hervor in einem geglückten Moment ästhetischer Ideenfülle. Moritz fasst diese Leistung als Überführung des Sukzessiven in das Simultane. Darin gleichen sich die Erinnerung und die Kunst. Möglich wird diese Verräumlichung aber nur durch die Anbindung der Ideenfülle an konkrete Orte. Im Roman Anton Reiser sind es herausgehobene Orte, die einen Überblick gewähren, wie Wälle oder Türme, oder Schwellenorte wie Tore, an denen die produktive Erinnerung die verschwundenen Momente seines Lebens blitzartig und unwillkürlich zusammenfasst und aus den dunklen Sensationen von »tausend Kleinigkeiten« einen palimpsestartig überblendeten dichten Raum schafft. So widerfährt es ihm schockartig beim Spaziergang vor das Stadttor von B....: »– alle die abwechselnden Scenen seines Lebens […] drängten sich dicht ineinander, und die einzelnen Bilder schienen sich nach einem größern Maßstabe, den seine Seele auf einmal erhielt, zu verkleinern.«10 Der Umschlag von zerstreuter Zeitlichkeit in verdichtete Raumzeitlichkeit wird anhand der topographischen Bezeichnung des sich zusammendrängenden »Zwischenraums« artikuliert.11 Und wie die durch die Isolierungskraft der Kunst geschaffene intern organisierte Totalität so ist auch diese Ganzheit wie Philomeles Tuch »verwebt«, weil sie die sukzessiven Fäden der Lebenszeit zum »Momentanen, Alltäglichen und Zerstückten« der Wirklichkeit abzuschneiden vermag.12 Diesen Erinnerungsszenen folgt im Anton Reiser eine anthropologische Begründung für die Anbindung der dunklen Sensationen an die Orte, deren Vorstellung als der »Stift« fungiert, um den sich solche Erinnerungsräume konfigurieren können und der ihnen erst Konsistenz verleiht.13 Aufgrund dieser als Anthropologikum formulierten Bindung der Erinnerung an Orte ist die Italienreise und die Autopsie der Reste des Altertums konstitutiv für die Utopie des Klassizismus, Antike als dichtes Palimpsest und schöne Konfiguration durch produktive kulturelle Erinnerung zu vergegenwärtigen. So formuliert es Moritz in seiner Reisebeschreibung Reisen eines Deutschen in Italien unter den Überschriften »Lokalität« und »Klassischer Boden«. An die »Ortsidentität« müsse sich die Erinnerung knüpfen, wenn sie lebendig sein

10

Karl Philipp Moritz: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. In: Ders.: Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde. Hrsg. v. Heide Hollmer, Albert Meier. Frankfurt a. M. 1999 (Werke in 2 Bden., Bd. 1), S. 158 f. So die These von Helmut Pfotenhauer: »Des ganzen Lebens anschauliches Bild«. Autobiographik und Symbol bei Karl Philipp Moritz. In: Jahrbuch des Wiener Goethevereins 86–88 (1982–84), S. 325–337. 11 Moritz: Anton Reiser (wie Anm. 10), S. 161; ders.: Über die Würde des Studiums der Altertümer. In: Monatsschrift der Akademie der Künste und mechanischen Wissenschaften zu Berlin, hrsg. v. dems., J. A. Riem, 2. Jg., 3. Bd., 1. Stück, 1789, S. 93. 12 Moritz: Anton Reiser (wie Anm. 10), S. 161; ders.: In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können. In: Ders.: Schriften zur Ästhetik (wie Anm. 2), S. 93. 13 Ebd., S. 160.

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wolle.14 Auch der Text Über die Würde des Studiums der Altertümer verwendet diese textile Metaphorik des Knüpfens der Erinnerung an die Ortsidentität, um den erinnerungsauslösenden und -organisierenden Aspekt von Roms noch bestehenden Altertümern zu bezeichnen.15 »Alles kommt aufs Anschauen an« – mit Goethes Propyläen-Einleitung gesprochen – aber nicht im Sinne des Abschreitens eines Gedächtnisortes als Aufbewahrungsort eines kulturellen Erbes wie in der klassischen Memoriavorstellung, sondern als Auslöser für jene subjektivierte, konstruktive Leistung einer produktiven Erinnerung.16 1798 formuliert Novalis in seinem Goethe-Porträt den Zusammenhang zwischen dem Werden, der Konstruktion der Antike aus dem Standpunkt der Gegenwart und ihres dynamischen Bezugs zu an den Orten aufgesuchten antiken Überresten. Dabei macht er gleichzeitig deutlich, dass deren fragmentarischer und versehrter Charakter als »Reste« einen neuen Status erhält. Er ist nicht mehr Ausweis einer die Tradition und ihre kontinuierliche Geltung verbürgenden Alterswürde. Die Reste des Altertums sind vielmehr aus der kulturellen Tradition gefallene, dekontextualisierte Trümmer, die zum sensualistischen »Reiz« für den modernen Betrachter werden, sie imaginativ auszugestalten: »Erst jetzt fängt die Antike an zu entstehen. Sie wird unter den Augen und der Seele des Künstlers. Die Reste des Alterthums sind nur die specifischen Reitze zur Bildung der Antike.«17 Der prekäre Status der »Reste« oder »Trümmer« in dieser neuen Funktion ist es, der sie in ihrer aufs Sinnliche verwiesenen Präsenz geeignet macht, auslösender Reiz für die imaginäre Konstruktion einer Antike zu werden. Als Beispiel sei nur die Winckelmann’sche Beschreibung des Torso von Belvedere genannt, die programmatisch von dem »grausam verstümmelten […] ungeformten Stein« ausgeht, dessen fehlende Kontextualisierung der Betrachter durch imaginative, das Fehlende halluzinierende Ergänzung leisten muss.18 In der Szenographie einer historischen Erinnerung, die sich an opaken Resten und nicht mehr verständlichen Trümmern einer verschwundenen Kultur abarbeitet und dabei halluzinativ verfährt, artikuliert sich eine diskontinuierliche Zeiterfahrung, ein Zeitenbruch, der als definitiver Abbruch einer von der Antike herreichenden kul14 Karl Philipp Moritz: Reisen eines Deutschen in Italien. In: Ders.: Popularphilosophie. Reisen. Ästhetische Theorie. Hrsg. v. Heide Hollmer, Albert Meier. Frankfurt a. M. 1997 (Werke in 2 Bden., Bd. 2), S. 704 f. 15 Karl Philipp Moritz : Über die Würde des Studiums der Altertümer (wie Anm. 11), S. 108. 16 Johann Wolfgang von Goethe: Einleitung in die Propyläen. In: Ders.: Ästhetische Schriften 1771–1805. Hrsg. v. Friedmar Apel. Frankfurt a. M. 1998 (Sämtliche Werke, Abt. I, Bd. 18), S. 471. 17 Novalis: Das philosophisch-theoretische Werk. Hrsg. v. Hans-Joachim Mähl, Richard Samuel. Darmstadt 1999 (Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, Bd. 2), S. 413 f. 18 Johann Joachim Winckelmann: Beschreibung des Torso vom Belvedere. In: Frühklassizismus. Position und Opposition. Winckelmann, Mengs, Heinse, hrsg. v. Helmut Pfotenhauer. Frankfurt a. M. 1995, S. 168 f.

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turellen Tradition problematisiert wird. Hatte Koselleck den Gedanken eines den linearen und kontinuierlichen Zeitverlauf aufsprengenden Zeitenbruchs, der Zeitphänomene nur als diskontinuierliche, stets von der Subjektivität des jeweils erst zu konstruierenden Gegenwartsstandpunkts aus wahrnehmbare denkt, nur in Ansätzen und vorsichtig formuliert, so ließe sich diese das Raster des Fortschreitens unterminierende Zeiterfahrung doch von seinen Beobachtungen zur »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« auf einem pluralistisch differenzierten Globus her weiterdenken. Sie bindet die Wahrnehmung historischer Zeit(en) an räumliche Erfahrung, wobei deren korrelierter Begriff der »Zeitschichten« aber in der geologischen Sedimentmetaphorik eher evolutionär neptunisch, als revolutionär vulkanisch daherkommt.19 Einen solchen revolutionären Umbruch im Verhältnis zum linearen Fortwirken kultureller Tradition konstatierte Nietzsche im Rückblick des an der Krankheit des Historismus leidenden neunzehnten Jahrhunderts auf seine Entstehungszeit im Klassizismusprojekt des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts. Im 221. Aphorismus von Menschliches, Allzumenschliches mit dem Titel »Die Revolution in der Poesie« attestiert er anhand der klassizistischen Bühnenexperimente Goethes mit Voltaires Mahomet einen unwiderruflichen »Abbruch der Tradition«, welche als alteuropäisches Kontinuum von der Antike bis zur Aufklärung Voltaires gereicht habe, seit dem Klassizismus aber »ein für alle Mal der europäischen Cultur verloren gegangen ist.«20 Die eklektizistische und sentimentale Trümmerkultur des Klassizismus liest er dabei nicht als antiquarische Verehrung des Alten, sondern als Ausdruck der in seiner Historismuskritik diagnostizierten aggregathaften Anhäufung fremder Stile und fragmentierter kultureller Reste. Sie sei Ausdruck moderner »Barbarei« und des Verlusts einer »Einheit des künstlerischen Stils«. Das Archiv fragmentierter kultureller Reste steht, so Nietzsche, dem Klassizismus zur Plünderung frei, in dem »alles indirect durch jenen Abbruch der Tradition an neuen Funden, Aussichten, Hülfsmitteln entdeckt und gleichsam unter den Ruinen der Kunst ausgegraben worden war«.21 Diese Diagnose der Moderne nimmt indirekt Winckelmanns Formulierung aus der Schlusspassage der Geschichte der Kunst des Altertums auf, wonach die schlecht abgefundenen Erben nach dem definitiven Untergang der Kunst der Antike auf die Reflexion und die subjektive Imagination verwiesen sind. Der Moderne ist es überlassen, so Nietzsches Diagnose, »den stehen gebliebenen Trümmern und Säulengängen des Tempels mit der Phantasie des Auges wenigstens die alte Vollkommenheit und Ganz-

19

Vgl. Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Formen und Funktionen von Pluralität in der ästhetischen Moderne, hrsg. v. Sabine Schneider, Heinz Brüggemann. München 2011, S. 7–35. 20 Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I. In: Ders.: Menschliches, Allzumenschliches. Bd. 1. Nachgelassene Fragmente. 1876 bis Winter 1877–1878. Hrsg. v. Giorgio Colli, Mazzino Montinari. Berlin u. a. 1967 (Werke, Abt. IV, Bd. 2), S. 184. 21 Ebd., S. 186.

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heit anzudichten«.22 Und ähnlich formuliert Moritz in seiner Altertums-Schrift den Zusammenhang von Trümmerstruktur und imaginierter Ergänzung zum schönen Erinnerungsbild: Das Antike »ist in den Nebel des Alterthums zurückgewichen, und hat sich gänzlich unserm Blick entzogen; so dass wir es nur noch aus Bruchstücken, welche uns die Geschichte und die auf die Nachwelt gekommenen Werke liefern, zusammengesetzt, vors Auge stellen und unsere Phantasie damit täuschen können.«23 Die Artifizialität der aus heterogenen Bruchstücken »zusammengesetzten« Antike findet ihre Einheit, auch das artikuliert Moritz wie nach ihm Nietzsche, durch Täuschung. An anderen Stellen ist von »Darstellung« und »Schauspiel« die Rede, damit die theatrale und performative Seite dieser Antikeninszenierung bedenkend. Auch Humboldt nennt die Erscheinung der Antike auf dem Trümmerfeld Roms »eine notwendige Täuschung«, für die das Halbversunkene der Ruinen die theatrale Kulisse darstellt, die auszugraben und zu untersuchen »auf Kosten der Phantasie« ginge.24 Damit freilich gerät der doch unter normativen Vorzeichen angetretene Klassizismus in den Ruch, Geisterseherei zur Füllung einer Leerstelle zu betreiben. Winckelmann benennt dies auch explizit so: »Es geht uns hier vielmals wie Leuten, die Gespenster kennen wollen und zu sehen glauben, wo nichts ist. Der Nebel des Altertums ist zum Vorurteil geworden, aber auch dieses Vorurteil ist nicht ohne Nutzen.«25 Die selbstkritische Perspektive einer kulturellen Erinnerung als Geisterbeschwörung artikuliert sich in der allgegenwärtigen Semantik der Schattenbilder und der Schattenbühne – etwa in Schillers philosophischer Lyrik. Sie spielt auch eine Rolle in der wechselseitigen Polemik zwischen Klassizisten und Nazarenern, welche sich gegenseitig vorwerfen, spiristischen Totenkult mit toter Kunstvergangenheit zu treiben. Die Totalität, welche die nach ästhetischen Verfahren organisierte kulturelle Erinnerung ineins mit produktiver Imagination stiftet, ist somit eine (mit Humboldt gesprochen) »notwendige Täuschung«. Die diskontinuierliche Zeiterfahrung, die ihren epistemischen Untergrund ausmacht, stellt dabei die so ins Zentrum der theoretischen Bemühungen gestellte intendierte Ganzheit und Geschlossenheit der Antikenimagination in Frage. Befördert wird diese Erfahrung von Diskontinuität nicht zuletzt durch die Dekontextualisierung der antiken Trümmer durch die napoleonischen Kunstplünderungen und ihre Neuinszenierung im musealen Kontext von Paris. Die antiken Reste Roms in der Hauptstadt der Moderne Paris, von Carl Ludwig Fernow ausführlich den Lesern des Neuen Teutschen Merkur geschildert, von Schiller in polemischen Gedichten bedacht (Die Antiken in Paris), von Goethe zum problematischen Ausgangspunkt seines Propyläen-Projekts gemacht, bringen den Bruch 22 23 24 25

Ebd. Moritz: Ueber die Würde des Studiums der Altertümer (wie Anm. 11), S. 105. Goethe: Winckelmann und sein Jahrhundert (wie Anm. 4), S. 190. Winckelmann: Geschichte der Kunst des Altertums (wie Am. 3), S. 393.

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6. Sektion · Sabine Schneider

mit einer linearen Geschichtsauffassung und damit eine ins Räumliche transponierte Zeitlichkeit, welche ganz und gar nicht dem Paradigma der Einheit und ästhetischen Einstimmigkeit gehorcht, zur sehr konkreten Anschauung. Schinkel zeigte sich bei seinen Paris-Reisen von solcher Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gleichermaßen betäubt wie inspiriert und macht diese Erfahrung zur Grundlage seines modernen Klassizismus. Jene »Dislokationen« der antiken Kunstwerke, so Goethe in der Einleitung zu den Propyläen 1798,26 die Zerstörung und Zerstreuung des Kunstkörpers Italien und die im Werden befindliche Bildung eines heterogenen, die Zeitebenen vermischenden Kunstkörpers im modernen Paris, machen das Projekt des Weimarer Klassizismus, durch eine reflektierte Kultur der Erinnerung, die gleichwohl zukunftsbildende Kraft hat, um »einen idealen Kunstkörper bilden zu helfen«, zu einem ebenso riskanten wie ambitionierten Unternehmen, das die Spannungen moderner Zeiterfahrung auszutarieren hat.

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Goethe: Einleitung in die Propyläen (wie Anm. 16), S. 475.

7. sektion: Empirie der Tatsachen – Sachverstand in Beobachtung und Versuchsanordnung

Olaf Breidbach (Jena) Empirie der Tatsachen – Sachverstand in Beobachtung und Versuchsanordnung: Einleitung

Die Sachen der Aufklärung sind auch im einfachen und direkten Sinne Dinge. Es sind nicht nur Materialien, in denen sich Diskussionen abbilden, an denen sich Handlungen ausrichten und in denen sich Problemlösungen abbilden. Es sind auch die Dinge, mit denen umgegangen wird. Es sind Dinge, an denen sich weitere Handlungsschritte ausrichten und mögliche Reflektionen um diese Dinge brechen. Das 18. Jahrhundert ist schließlich nicht nur das Jahrhundert umfassender theoretischer Umbrüche. Es ist zugleich das Jahrhundert, in dem sich wesentliche Schritte der wissenschaftlichen Entwicklung in Veränderungen von Handlungspraktiken abbilden oder umgekehrt auch erst durch den Sachverstand, der sich in der Veränderung solcher Handlungspraktiken kondensiert, ermöglicht wurde. Solcher Sachverstand zeigt sich etwa in der Messung. Es ist neues Maß, das die Franzosen am Ende des Jahrhunderts verbindlich machen.1 Dies wird nun aber nicht einfach erfunden, vielmehr wird es in der Natur ermessen. Gewonnen wird die Grundeinheit, in der sich der durch Frankreich laufende Meridian in einem ganzzahligen Verhältnis erfassen lässt. Dabei findet sich in diesem aus den Abmessungen des Landes ermessenen Meter der Anspruch realisiert, mit ihm ein Naturmaß gefunden zu haben. Dass dieser in Frankreich bemessen wird und die Natur dann doch politisch genommen ist, steht auf einem anderen Blatt, auf dem sich die Nation der Freiheit dann selbst zum Maßstab des Natürlichen nimmt. Möglich wird diese Vermessung der Landschaft aber nicht nur auf Grund eines neuen Willens; ermöglicht wird sie durch einen neuen Typ von Instrumenten, die es erlauben, auch über große Distanzen genaue Werte abzugreifen.2 Es sind dies die Messgeräte, in denen Winkelpeilungen auch über Zehnerstellen von Kilometern auf ein hundertstel Grad genau abzulesen sind. Es sind demnach Instrumente, die in ihrer Konstruktion nicht nur äußerst präzise zu gestalten sind, sondern bei denen auch zu berücksichtigen ist, wie sich das Material etwa in Sonne oder Kälte während einer Messreihe verändert, und bei denen Verfahren einzuführen sind, die es erlauben, solche material- und konstruktionsbedingten 1

Vgl. Denis Guedj: Die Geburt des Meters. Oder wie die beiden Astronomen Jean-Baptiste Delambre und Pierre Mechain aus dem Geist der Aufklärung in den Wirren der Französischen Revolution das neue Maß aller Dinge fanden. Frankfurt a. M. 1991; Ken Alder: Das Maß der Welt. Die Suche nach dem Urmeter. München 2003. 2 Vgl. Wolfgang Torge: Geschichte der Geodäsie in Deutschland. Berlin 2009; vgl. auch Jules Loridan: Voyages des Astronomes français à la recherche de la figure de la terre et de ses dimensions. Paris 1890.

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7. Sektion · Olaf Breidbach

Fehler auszuschließen. So sind es nicht allein die Apparaturen, die hier verfügbar gemacht werden; es ist zugleich auch immer der Sachverstand zum Umgang mit solchen Apparaturen, der benötigt wird. In diesem Sinne ist vielleicht die Mikrometerschraube, jener im astronomischen Teleskop, an den Skalen von Sextant und Theodolit eingebaute Feinvorschub, eines der wesentlichen Ereignisse in der zu großen Teilen noch ungeschriebenen Geschichte dieses Maßnehmens einer beobachtenden Wissenschaft.3 Im Resultat der nun möglichen, durch die Messung geprägten Sicht auf die Welt wird nicht nur eine neue Betrachtung auf Infrastruktur und Handelswie auch Handlungsmöglichkeiten gewonnen. Es wird nicht nur ein neuer Standard von Beobachtungen und einer hierfür bereitzustellenden mathematischen Ausbildung konsolidiert. Es wird nicht einfach nur eine neue Weltsicht detailliert, vielmehr ändert diese zugleich auch die Größen, in denen die Welt zu beschreiben ist. Und schließlich ändert sich damit auch die Form dieser Weltbeschreibung, die Mathematik. Diese gewinnt nicht nur neue Ansatzpunkte, um die Welt in ihren Formeln zu erfassen. In der neu erarbeiteten Messpräzision lernt sie sich selbst in neuer Form anzuwenden, und lernt dabei auch, sich in diesem Maß-Nehmen selbst neu zu beschreiben. Schon 1672 hatte Ole Roemer ein Mikrometer für Fernrohre erfunden und konstruierte Planetarien sowie neuartige Messinstrumente für die Astronomie.4 Er bestimmte für diese neuen Geräte zudem eine Formel, mit der sich deren konstruktionsbedingte, systematische Messfehler korrigieren ließen. Schon 1683, also 100 Jahre vor dem Versuch einer universellen Metrisierung, führte er im Königreich Dänemark ein landesweit einheitliches System von Gewichts- und Längenmassen ein. Insbesondere aber bestimmte er, dass das Licht nicht ein instantan wirkendes Phänomen, sondern eine auch in seiner Geschwindigkeit einzugrenzende Größe sei. Er bestimmte eine endliche, wenn auch ungeheuer große Geschwindigkeit für die Ausbreitung des Lichtes. Seiner Schätzung nach benötigte es für eine Länge, entsprechend dem Erddurchmesser, deutlich weniger als eine Sekunde. James Bradley – und er ist nur ein Beispiel für eine insgesamt nachzuzeichnende Entwicklung – konnte Mitte des 18. Jahrhunderts diese Darstellung von Messgrößen noch weiter verbessern.5 Er entdeckte die Aberration des Lichtes, die durch die Bewegung der Erde um die Sonne hervorgerufen wird. Hierdurch scheinen sich die Sternpositionen in Abhängigkeit von der Bewegungsrichtung der Erde um die Sonne zu verschieben. Weiter entdeckte er, dass die Erdachse mit einer Periode von knapp 19 Jahren in einer wenige Bogen-

3

Vgl. Maurice Daumas: Scientific Instruments of the Seventeenth and Eighteenth Centuries and Their Makers. London 1989. 4 Vgl. I. Bernhard Cohen: Roemer and the first determination of the velocity of light (1676). In: Isis 31 (1940), S. 327–379. 5 Vgl. Anton Pannekoek: A history of astronomy. New York 1989.

Einleitung

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sekunden überspannenden Ellipse taumelt. Das Augenfällige wird – das zeigt schon James Bradley – in den Dimensionen der Messung immer weiter detailliert. Die Welt, die sich derart in Messungen darstellt, ist nur noch in einem Modell wirklich anschaulich zu machen. Es sind nunmehr Messreihen, in denen sich die Wirklichkeit des Existenten abbildet. Es sind die Instrumente, in denen und nach denen sich die Erfahrung bestimmt. So sind die Dinge in einer neuen Weise in den Blick genommen.6 Es sind nicht nur die Dinge, die in den Tropen oder den fernen Inseln fortwährend neu entdeckt werden. Es sind vor allem auch die neuen Instrumente, mit denen in neue Erfahrungsdimensionen vorgestoßen wird, und durch die dann, etwa mit der Vakuumpumpe und der Elektrisiermaschine, auch völlig neue Phänomene beschrieben werden.7 Erfahren werden hierin Wirklichkeiten, die der bisherigen Erfahrung gänzlich fremd waren, die eben, wie die Elektrizität, in keinem unserer Sinne direkt abzubilden war. Was dann Ende des 18. Jahrhunderts Alexander von Humboldt und Johann Wilhelm Ritter zu ihren heroischen Selbstversuchen trieb, in denen sie diese Elektrizität auch körperlich zu erfahren suchten.8 Die Erfahrung der Dinge und mit ihr die Dinge selbst gewinnen so einen neuen Stellenwert. Das Beobachten wird zur Messung. In der Messung vertraut sich der Beobachter seinen Instrumenten an; er liest ab, was ihm die Instrumente zeigen und korrigiert seine Messreihen auch in Blick auf mögliche von ihm auf Grund der Konstruktionseigenheiten seines Instruments erwarteten Fehler.9 Es ist diese neue Präzision des Blickes, mit dem der Sachverstand die Beobachtungen in ganz neuer Form leitet. Die wissenschaftshistorische Analyse zeigt, dass in der Strukturierung von Denkmustern nicht nur die konzeptionelle Diskussion, sondern auch Handlungspraktiken und die mit ihnen verbundenen Strategien und Apparaturen zusehends an Bedeutung gewinnen. So entsteht vor 1800 ein Erfahrungs- und Bemessungsraum, in dem nicht einfach die erfassten Ergebnisse, sondern auch die Verfahren und die damit verbundenen konkreten Handlungspraktiken weitergereicht werden – und zwar unabhängig und zum Teil gegenläufig zur zeitgleichen konzeptionellen Entwicklung.10 Die Apparaturen in diesem Raum bringen auch fachfremde, da

6

Vgl. Lorraine Daston, Elizabeth Lunbeck (Hrsg.): Histories of scientific observation. Chicago, London 2011. 7 Vgl. Gerhard Wiesenfeldt: Luftpumpenexperimente. Forschungen an wissenschaftlichen Einrichtungen des 17. Jahrhunderts. In: Matthias Puhle (Hrsg.): Die Welt im leeren Raum. Otto von Guericke 1602–1686. Berlin 2002, S. 84–89. 8 Vgl. Gerhard Wiesenfeldt: Eigenrezeption und Fremdrezeption: Die galvanischen Selbstexperimente Johann Wilhelm Ritters (1776–1810). In: Jahrbuch für europäische Wissenschaftskultur 1 (2005), S. 207–232. 9 Vgl. Christoph Meinel (Hrsg.): Instrument – Experiment. Historische Studien. Berlin, Diepholz 2000. 10 Vgl. Olaf Breidbach, Paul Ziche (Hrsg.): Naturwissenschaften um 1800. Weimar 2001;

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7. Sektion · Olaf Breidbach

apparaturbedingte Zwänge mit sich und disponieren somit Handlungsgefüge und Handlungsmöglichkeiten auf eine ihnen eigene Weise: Ein Gerät, das nur bestimmte Manipulationen zulässt, kann von einem Anwendungsbezug in einen anderen – und damit von einem Fachkontext in einen zweiten – getragen werden. Hier wird es dann trotz einer unter Umständen ganz anderen konzeptionellen Ausrichtung seine Handlungsbestimmungen etablieren, die nun ihrerseits die Umsetzung neuartiger oder zumindest anderer Konzepte bestimmen. Wissen, das zeigt sich hier, wird aus einem Erfahrungszusammenhang gewonnen, der zusehends Sachverstand benötigt. Dieser Sachverstand kann sich in der Konstruktion eines Instrumentes verdichten, das dann, in einer bestimmten Weise genutzt, auch dem nützt, der die mathematischen Grundlagen der von ihm vollzogenen Messungen nicht versteht. Die Kunst des Wissenschaftlers ist es, einen noch unbekannten Erfahrungszusammenhang gleichsam zu umstellen, ihn im Bekannten einzugrenzen, mit ihm umzugehen, ihn zu behandeln und dabei mehr und mehr an Effekten zu registrieren, die in das bisher Bekannte einzuordnen sind. So wird gegebenenfalls auch etwas, das bisher noch nicht beschrieben war, im Gefüge der es behandelnden Wissenschaft greifbar und dann in einem zweiten Schritt als solch ein Etwas, das zu behandeln war, auch beschreibbar. Dies zeigt sich etwa an der Darstellung der Elektrizität, die zunächst über bestimmte Verfahren abgebildet, in standardisierten Handlungsabfolgen zu Geltung gebracht wird und derart als etwas beschrieben ist, das mit solchen Handlungen zu evozieren wäre. Diese Handlungen verdichten sich dann in Maschinen, die genau dazu konstruiert sind, derartige Manipulationen zur Darstellung von Elektrizität zu standardisieren. So ist Ende des 1800 Jahrhunderts Elektrizität das, was aus einer Elektrisiermaschine »herauskommt«, wenn diese in der rechten Weise behandelt wird.11 Diese Maschinen erlauben das Umgehen mit bisher Unbekanntem. Sie richten damit Erfahrungsmöglichkeiten aus, fangen das, was vorab nicht zu erfahren ist, in einem Instrument ein und lassen – in einem zweiten Schritt – das, was hier über ein Instrument zur Geltung kommt, an diesem Instrument bemessen. Das, was bisher unbekannt war, wird damit auf das bezogen, was der Wissenschaftler verfertigt hat oder was er sich hat verfertigen lassen. Das Neue wird so zu etwas Bekanntem. So wird dann auch die Elektrizität zu einem Phänomen, das nach Regeln zu erschließen ist, auch wenn man nicht weiß, was sie letztlich ist und was sie darstellt. Analogisierungsmuster, in denen Eigenschaften des so Vorgeführten beschrieben werden, stehen damit nicht frei im Raum möglicher Beschreibungen. Sie sind gebunden an die Instrumentarien, mit denen das Elektrische dargestellt wird; und so gewinnt sich

Robert Michael Brain, Robert Sonné Cohen u. Ole Knudsen (Hrsg.): Hans Christian Ørsted and the Romantic Legacy in Science. Ideas, Disciplines, Practices. Dordrecht 2007. 11 Vgl. Heiko Weber: Die Elektrisiermaschinen im 18. Jahrhundert. Berlin 2011.

Einleitung

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in der Abgrenzung zu dem, was machbar ist, sukzessive doch so etwas wie ein Begriff von dem, was dort behandelt wurde.12 So lässt sich etwa um 1800 in der Physik eine Tradition dingfest machen, in der schon vor Faraday, der den Feldbegriff in die Wissenschaft eingebracht hat, das elektrische Feld thematisch ist.13 Der Physiker, an dem sich dieses Umgehen mit der Elektrizität im Sinne eines Feldbegriffes zeigen lässt, Weber, hat allerdings selbst explizit nie einen Feldbegriff benutzt. Er vermittelt in seinen Darstellungen nur Phänomene, die er in und mit seiner Experimentalpraxis tradiert. D. h. er beschreibt ein Verfahren, das ihm die Elektrizität als physikalische Größe verfügbar macht, und in dem er mit einem elektrischen Feld umgeht. Er beschreibt in seinen Schriften diese Experimentalpraxis, in der er einen Feldbegriff – im expliziten Sinne – behandelt, ohne ihn auf den Begriff zu bringen. Solch eine Praxis kann aber nicht nur Neues erschließen, sie kann wissenschaftlichen Sachverstand auch allgemeiner, über den engeren Bereich der Wissenschaft hinaus verfügbar machen. So kann ein Geometer schon vor 1800 Instrumente ausleihen, deren Funktion er nicht in allen Details begreifen muss, deren Umgang er aber gelernt haben kann. Hat er dies, so kann er, wenn er die Instrumente nach den vorliegenden Regeln einsetzt, den in ihnen gebunden Sachverstand dazu nutzen, nun auch seinerseits eine Karte zu zeichnen, die den Wissenschaftsstandards seiner Zeit entspricht. So setzt er mittels des Instruments den Sachverstand seiner Zeit für sich um.14 Gegebenenfalls verändern sich im Weiteren dann wieder Feinheiten im Bau der zu benutzenden Instrumente, die in ihrer Ablesegenauigkeit so zusehends optimiert werden.15 Die erlernten Handlungsstandards sind dann aber nur ein wenig zu variieren, da diese Innovationen auf den schon gelernten Verfahren aufsitzen. Diese Verfahren können jeweils in sehr unterschiedlicher Weise ausgerichtet sein. So ist es möglich, wichtige Punkte der Landschaft mittels der Triangulation darzustellen. Hierzu werden Abstands- und Neigungsverhältnisse ausgewiesener Messpunkte in der Landschaft dargestellt. Das Resultat ist eine topographische Karte. Es ist aber auch möglich, die Profillinien eines Gebirgszuges darzustellen. Hierzu können zeichnerische Hilfsmittel wie das Velum oder auch Photographien verwendet werden. Dargestellt wird so die Ansicht einer Landschaft. Das erste Verfahren ist mit dem zweiten aber nicht in Deckung zu bringen. Es zeigt sich, dass die jeweils gewonnenen Resultate nicht so einfach aufeinander abzubilden sind. 12

Vgl. Klaus Hentschel: Zur Bedeutung von Analogien in den Naturwissenschaften. In: Scientia Poetica 11 (2007), S. 241–275. 13 Vgl. Olaf Breidbach: Begriff und Praxis am Beispiel der Elektrizitätslehre um 1800. In: Ernst Müller, Falko Schmieder (Hrsg.): Begriffsgeschichte und Naturwissenschaften. Zur historischen und kulturellen Dimension naturwissenschaftlicher Konzepte. Berlin 2008, S. 345–364. 14 Vgl. Olaf Breidbach, Kerrin Klinger u. André Karliczek (Hrsg.): Natur im Kasten. Lichtbild, Schattenriss, Umzeichnung und Naturselbstdruck um 1800. Jena 2010. 15 Vgl. etwa Jürgen Hamel: Friedrich Wilhelm Bessel. Leipzig 1984.

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Deren Maßstab ist je unterschiedlich. So wird deutlich, dass bestimmte Darstellungsverfahren jeweils auf bestimmten, gegebenenfalls eben unterschiedlichen Vorgaben aufbauen. Eventuell kann dabei die konsequente Umsetzung dieser Vorgaben die Anwendung an eine Grenze führen. Dies erfuhr der Mathematiker Gauss in seinem Versuch der Vermessung des Landes Hannover. Hier erlaubte ihm ein neues, präziser operierendes Messgerät zwar die vorhandenen Praktiken zu optimieren, im Resultat war die so gewonnene Kartierung allerdings unstimmig. Die einzelnen Werte passten nicht zueinander. Es zeigte sich, dass die Präzision der Vermessung die Vorannahmen des Messvorganges in Frage stellte. In diesem Falle war es die Annahme, dass für eine solche Landvermessung eine letztlich ebene Fläche geometrisch zu umschreiben sei. Ab einer gewissen Messpräzision wird nun allerdings die durch die Krümmung der Erdoberfläche bedingte Verzeichnung der Abstandsverhältnisse kritisch für den Abgleich der ermessenen Werte. Um die nun mögliche Messpräzision zu nutzen, muss sich also die Grundannahme für eine Darstellung, nämlich eine ebene Fläche mathematisch darzustellen, verändern. Geschieht dies, werden die präziser operierenden Messinstrumente nutzbar. Die entdeckte Unstimmigkeit in den gewonnenen Daten machte es nötig, die theoretischen Grundannahmen der Messpraxis zu reflektieren und die tradierten Darstellungsmuster insgesamt in Frage zu stellen. Auch damit gerät etwas Neues in den Blick. Hier sind nun in drei Arbeiten drei Aspekte dieses Umgehens mit Sachverstand in den Wissenschaften und für die Wissenschaften exemplarisch dargestellt. Es gibt das Neue, etwas, das noch nicht zu erfahren war, das – wie es in der frühen Naturphilosophie Hegels deutlich wird – in der Tat das Denken einer Naturforschung elektrifizierte. Die Aufklärung erscheint hier, wie Benjamin Specht deutlich macht, in der Tat elektrisiert. Es gibt aber nicht nur die Theorie, es gibt das Tun, und hierfür gibt es Maschinen. Die Entwicklung der Maschinerie ist, wie oben angedeutet, ein wesentlicher Teil der Entwicklung, in der ein Bild der Welt nunmehr zu bemessen ist. Dass dabei die Zäsur in der Entwicklung von einer bloß beobachtenden zu einer bemessenden Erfahrung nicht erst im 19. Jahrhundert, sondern zu Beginn des 18. Jahrhunderts anzusetzen ist, zeigt Nikola Roßbach exemplarisch an dem Maschinenbauer Jacob Leupold. Und, wir reden hier auch mit Blick auf die Entwicklung von Sachverstand und Erfahrung in einer europäischen Dimension. Dass dabei naturwissenschaftliches Tun und politisches Denken zusammengehen kann, zeigt Frank Jung für das Großherzogtum Toskana. Hier zeigt sich dann auch – weit vor dem Ereignis Weimar-Jena – wie diese Kultur der Wissenschaft direkt politisch zu nutzen war.

Benjamin Specht (Stuttgart) Die Elektrisierung der Aufklärung. Kontexte, Metaphorisierungen und Funktionen der Elektrizität im Wissenssystem des späten 18. Jahrhunderts Im Herbst 1810 veröffentlicht Heinrich von Kleist (1777–1811) in seiner Zeitschrift Berliner Abendblätter eine fünfteilige satirische Serie unter dem Titel Allerneuester Erziehungsplan (1810). Hier postuliert ein fiktiver Konrektor Levanus mit großer Geste ein elektrisch fundiertes »gemeine[s] Gesetz des Widerspruchs«,1 wonach in der ›moralischen Welt‹ jede Position ihre Negation hervortreibe, und zwar in exakter Analogie zum physikalischen Phänomen der elektrostatischen Induktion. Aus Minus resultiere stets Plus, aus Plus werde Minus. Dies ließe sich »nicht bloß von Meinungen und Begehrungen« behaupten, »sondern, auf weit allgemeinere Weise, auch von Gefühlen, Affekten, Eigenschaften und Charakteren.«2 Und da das Prinzip ebenso universale Gültigkeit aufweise, sei es ein Gebot der Stunde, die konventionelle Pädagogik, die auf bloßer Imitation beruhe, zu verabschieden und stattdessen eine auf dem Muster elektrischer Influenz basierende sogenannte ›Lasterschule‹ einzurichten, in der sich die Persönlichkeit auf antagonistische Weise herausbilde. Er selbst erkläre sich dabei gerne persönlich bereit, in dieser Anstalt Liederlichkeit, Spiel, Trunk, Faulheit und Völlerei zu unterrichten, damit seine Schüler dadurch zu besonderer Sparsamkeit, zu Fleiß und Abstinenz erzogen würden. Seine Frau hingegen übernehme die Fächer Unreinlichkeit, Streitsucht sowie Verleumdung.3 Es ist hier nicht genug Raum, die gedankliche und formale Raffinesse von Kleists mehrfach gebrochener und hochgradig paradoxer literarischer Argumentation zu erschöpfen,4 und es muss genügen festzuhalten, dass er mit seinem psychophysischen Einheitsgesetz ein zentrales Axiom der Aufklärung persifliert, nämlich die Idee einer 1

Heinrich von Kleist: Allerneuester Erziehungsplan. In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. v. Helmut Sembdner. Zweibändige Ausg. in einem Bd. Bd. 2. München 2001, S. 329–335, hier S. 330. 2 Ebd., S. 331. 3 Siehe ebd., S. 334. 4 In der Forschung wird zwar häufig auf diesen Text rekurriert, Einzeluntersuchungen gibt es bisher hingegen kaum. Die wichtigsten Ausnahme bilden die Aufsätze von Roland Borgards: ›Allerneuester Erziehungsplan‹. Ein Beitrag Heinrich von Kleists zur Experimentalkultur um 1800 (Literatur, Physik). In: Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert, hrsg. v. Marcus Krause, Nicolas Pethes.Würzburg 2005, S. 75–101; Michael Gamper: Elektrische Blitze. Naturwissenschaft und unsicheres Wissen bei Kleist. In: Kleist-Jahrbuch, Stuttgart 2007, S. 254–272. Siehe auch Benjamin Specht: Physik als Kunst. Die Poetisierung der Elektrizität um 1800. Berlin, New York 2010, S. 359–372.

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»Übereinstimmung zwischen den Erscheinungen der physischen und moralischen Welt«.5 Diese Figur der Korrespondenz von Physis und Psyche, Physik und Ethik findet im 18. Jahrhundert bekanntlich zahlreiche Ausprägungen und Anwendungsfelder, kann als materialistische Identität der beiden Bereiche gedacht werden (La Mettrie, Helvétius), aber auch in Form einer prästabilierten Harmonie (Wolff). Ihre in der Hoch- und Spätaufklärung verbreitetste Spielart ist jedoch der sog. leibseelische Influxionismus, der in der Zeit sehr häufig mit Hilfe der noch jungen Elektrizitätsforschung plausibel gemacht wird. Kleist kann sich mit seinem Vorschlag der Lasterschule also durchaus auf ein gängiges ›elektrisches‹ Junktim zwischen Physik und Moral im ›kulturellen Wissenssystem‹6 der Aufklärung beziehen, das er nun aber einer schneidenden Kritik aussetzt. Das Zustandekommen eben dieser Figur der ›elektrischen‹ Entsprechung von physischer und mentaler Natur, die Gründe ihrer phasenweise hohen kulturellen Suggestivität sowie ihrer multiplen Anwendungen will ich diesem Beitrag näher konturieren. Da die Funktion der Elektrizität im Ensemble der Wissenschaften sowie in der Technikgeschichte bereits oft untersucht wurde,7 wende ich mich statt einer Rekapitulation der gewonnenen wissenschaftshistorischen Einsichten dabei verstärkt den weltanschaulichen Übergängen von der Wissenschafts- zur allgemeinen Problemgeschichte zu, wobei den metaphorischen Popularisierungen des elektrischen Wissens besondere Aufmerksamkeit gelten soll. Anhand der erstaunlich homogenen Felder und Funktionen, in denen elektrisch inspirierte Metaphorik im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zur Anwendung kommt, lassen sich besonders deutlich die weltanschaulichen Desiderate und Figuren erkennen, die man außerhalb des im engeren Sinne wissenschaftlichen Diskurses an die Elektrizitätsforschung heranträgt. Die Metaphern zeigen oft deutlicher als die Begriffe nicht nur die bereits gedanklich entwickelten und systematisch denkmöglichen oder gar gesicherten Wissensbe-

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Siehe Kleist: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe (wie Anm. 1). Bd. 2, S. 319–324, hier S. 321. 6 Siehe zu diesem Begriff Karl Richter, Jörg Schönert, Michael Titzmann: Literatur – Wissen – Wissenschaft. Überlegungen zu einer komplexen Relation. In: Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930, hrsg. v. dens. Stuttgart 1997, S. 9–48, hier S. 16. 7 Siehe z. B. Edmund T. Whittaker: A History of the Theories of Aether and Electricity. Bd. I: The Classical Theories. London 1951; John Heilbron: Electricity in the 17th and 18th Centuries. A Study of Early Modern Physics. Berkeley, Los Angeles, London 1979; Karl E. Rothschuh: Vom Spiritus animalis zum Nervenaktionsstrom. Ciba-Zeitschrift 8/89 (1958); Rudolf Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740–1890. Frankfurt a. M. 1984, bes. S. 252–317; Francesco Moiso: Magnetismus, Elektrizität, Galvanismus. In: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Wissenschaftshistorischer Bericht zu Schellings naturphilosophischen Schriften 1797–1800, hrsg. v. Michael Baumgartner u. a. Stuttgart 1994 (Historisch-kritische Ausg., Reihe 1, Erg.-Bd. zu Bd. 5 bis 9), S. 165–372; Oliver Hochadel: Öffentliche Wissenschaft. Elektrizität in der deutschen Aufklärung. Göttingen 2003.

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stände, sondern auch die impliziten Hoffnungen, Erwartungen und Wertungen in Bezug auf den jungen Forschungszweig. Bevor die diversen Anwendungsfelder aber identifiziert (2.) und die Funktion der elektrischen Metaphern im Wissenssystem genauer bestimmt werden kann (3.), sollen zunächst eben die Fragen benannt werden, auf die die Elektrizität die Antwort versprach (1.).

1. Kontexte Elektrizität ist im 18. Jahrhundert eine Sache, von der man erhofft, dass sie die Sache der Aufklärung auf eine fundierte Basis stellen könne, dass sie die Einlösung zentraler programmatischer Desiderate der Anthropologie und Naturlehre der Zeit verspreche. Im Groben sind es dabei drei Kontexte, hinsichtlich derer man sich von ihr eine Vermittlungsleistung verspricht: die Anbindung und das Zusammenspiel der einzelnen Erscheinung und des Naturganzen zu klären, ohne sich dabei die Reduktionismen des Mechanismus einzuhandeln (1.), den Zusammenhang zwischen der anorganischen und der organischen Natur zu konturieren, der durch die zunehmende Ausdifferenzierung der Wissenschaften aus dem Blick zu geraten scheint, und schließlich das Verhältnis zwischen Geist und Materie zu erläutern (3.). Auf all diesen Gebieten stellt die Elektrizität eine Vermittelbarkeit und ›Übereinstimmung‹ im Laufe der Aufklärung virulent gewordener Dualismen in Aussicht, die allerdings stets unter dem Vorbehalt bestehen bleibt, dass sie sich nur vermuten, aber noch nicht erweisen lässt. Zu (1.) In Bezug auf den ersten Aspekt – den Nexus der Naturphänomene – erscheint Elektrizität zu Beginn des Jahrhunderts zunächst noch als Problem und gerade nicht als Lösung. Die bis dato bekannten elektrostatischen Phänomene (Aufladung, Anziehung, Abstoßung, Influenz, Funkenschlag) lassen sich nur schwer in den Systembau des Mechanismus integrieren (wie er seit Descartes’ Prinzipien der Philosophie [1644] ein attraktives Welterklärungsmodell bot), da es sich um fernwirkende Attraktionsphänomene (actiones in distans) handelt, die kaum durch das einfache Muster von Druck und Stoß erklärbar sind. Die Elektrizität lässt sich als nicht träger, scheinbar immaterieller, fernwirkender und anziehender Stoff somit kaum in das impulsionistische Naturparadigma integrieren, das auf zwei Prämissen beruht: der qualitativen Homogenität jeglicher Materie und der quantitativen Konstanz der Bewegung.8 Schon die deutsche Übersetzung des Begriffs ›Elektrizität‹, nämlich ›Wahlanziehung‹ (im Ensemble mit magnetischen Phänomenen), demonstriert diese konzeptionelle Schwierigkeit. Sie impliziert einen Stoff, der nicht stößt, sondern anzieht, und nicht universal wirkt, sondern sich bestimmte Materialien ›erwählt‹. 8

Siehe René Descartes: Die Prinzipien der Philosophie. Hamburg 81992, S. 150.

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Im Zuge der steigenden Akzeptanz eines empirischen Wissensschaftsstils gereicht ihr diese systematische Widerständigkeit jedoch im Laufe des Jahrhunderts immer mehr zum Vorteil. Sie ist – im Gegensatz zum weitgehend spekulativen ›Äther‹ – empirisch nachweisbar und dennoch nahezu grenzenlos agil und vielseitig. Damit könne sie das mechanistische Weltbild ergänzen, korrigieren oder gar überwinden, hofft etwa Herder (1744–1803), der in seinen Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784) notiert, nur Elektrizität könne der Stoff sein, der alles »durchfließt und alle Kräfte der Natur vereinigt«.9 Und auch laut François Bertholon (1742–1800), einem besonders radikalen Elektritzitätsforscher der Zeit, sind alle Dinge in einen elektrischen Ozean versenkt, der sie von innen und außen in Beziehung setzt, alles mit allem verbindet und so das Wirkungskontinuum der Natur garantiert.10 Wenn es allerdings daran geht zu erläutern, wie Elektrizität diesen ›Consensus‹ der Naturerscheinungen im Detail bewerkstelligt, dann vertagen sich Herder wie Bertholon auf einen künftigen fortschrittlicheren Wissensstand, denn noch liege die genaue Funktionsweise im Dunkeln.11 Es ist gerade dieses die Ursachen und Wirkungsweisen betreffende Nicht-Wissen12, das einer erheblichen Fülle von experimentellen Fakten und Daten gegenübersteht, welches die Phantasie der Forscher,aber auch die Metaphorisierungen der Elektrizität im 18. Jahrhundert stimuliert und das epochale Faszinosum der Elektrizität begründet. Zu (2.): In Bezug auf das zweite Desiderat – die Vermittlung von Organik und Anorganik – wird die Elektrizität häufig zum Bezugspunkt für Physiologen, die einerseits eine mechanistische Identifizierung von belebter und unbelebter Natur wie bei Descartes nicht akzeptieren wollen,13 zugleich aber andererseits auch eine allzu strikte Antithese der Naturreiche, wie sie sich etwa bei Albrecht von Haller (1708–1777) abzeichnet und sich im Vitalismus verstärkt,14 ablehnen. Schließlich

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Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Hrsg. v. Martin Bollacher, Günter Arnold. Frankfurt a. M. 1989 (Werke, Bd. 6), S. 174. 10 Pierre Bertholon: Anwendung und Wirksamkeit der Elektrizität zur Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit des menschlichen Körpers. Aus dem Französischen übersetzt und mit neuern Erfahrungen bereichert und bestätiget von Carl Gottlob Kühn. 2 Bde. Bd. 1. Weißenfels, Leipzig 21788/89, S. 28. 11 Herder: Ideen (wie Anm. 9), S. 38. 12 Siehe hierzu eingehend Michael Gamper: Elektropoetologie. Fiktionen der Elektrizität 1740–1870. Göttingen 2009, bes. S. 13–68. 13 Descartes kennt keine eigenständige Theorie des Lebens und behauptet in seinen Prinzipien der Philosophie (1644), es sei »der aus diesen und jenen Rädern zusammengesetzten Uhr ebenso natürlich, die Stunden anzuzeigen, als es dem aus diesem oder jenem Samen angewachsenen Baum natürlich ist, diese Früchte zu tragen« (Descartes: Prinzipien [wie Anm. 8], S. 246). 14 Siehe Albrecht von Haller: Anfangsgründe von der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd 1: Die Faser, die Gefässe, der Umlauf des Bluthes, das Herz. Berlin 1759, o.P. Erschöpfen sich bei Haller die organischen Gesetze nicht in den anorganischen, bleiben aber prinzipiell kompati-

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ist Elektrizität ein Phänomen, das in beiden Naturreichen gleichermaßen anzutreffen ist, im geriebenen Glas ebenso wie im Zitteraal. So kann sie einen Zusammenhang zwischen den Naturreichen wahrscheinlich machen, ohne dabei eine völlige Identität zu behaupten, so dass die Einheit der Natur zum einen garantiert erscheint, zum andern aber auch der Gefahr eines mechanistischen Reduktionismus vorgebeugt ist. Die Hoffnung auf eine solche Koordinationsleistung wird wiederum etwa explizit, wenn Herder in Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele (1778) betont, dass sich mit der Elektrizität schon im anorganischen Reich eine erste Form der Apperzeption und Spontaneität abzeichne, die sich schließlich bis hinauf zum reizbaren Fäserchen der organischen Materie sublimiere.15 Zu (3.): Die Elektrizität wird aber nicht nur für die Vermittlung des Dualismus von unbelebter und belebter Natur herangezogen, sondern auch für den noch prinzipielleren von Materie und Geist. Damit übernimmt sie eine wichtige Funktion zur Lösung eines der zentralen Probleme der aufklärerischen Anthropologie, nämlich der Frage, ob und wie ein commercium mentis et corporis möglich ist. Noch Descartes’ strikte Trennung in eine denkende und eine ausgedehnte Substanz lässt bekanntlich keine Kommunikation zwischen den Körpern und Seelen zu. Die Quantität der Bewegung müsste in die Qualität der Empfindung transformiert werden, was prinzipiell unmöglich scheint. Die Elektrizität kann dagegen jedoch Indizien liefern, dass es sehr wohl ein Medium geben kann, das eine Konversion der Substanzen leistet, ja manche Forscher meinen gar, es bereits in ihr gefunden zu haben.16 Außer der Elektrizität sei schließlich kein Stoff bekannt, der zugleich materielle und immaterielle Eigenschaften aufweise, der scheinbar nicht schwer und überaus agil ist, aber sich dennoch isolieren lässt. Nur dieser Zwischenstatus der Elektrizität sei annähernd vergleichbar mit der Fähigkeit des gesuchten Influxus-Mediums, den qualitativen Sprung zwischen Leib und Seele zu vollziehen. »Entweder hat die Wirkung meiner Seele kein Analogon hinieden, […] oder es ist dieser himmlische Licht- und Feuergeist«17 der Elektrizität, bemerkt Herder. Allerdings findet sich wiederum allenthalben der Verweis, dass die Elektrizität zwar mittelfristig eine Lösung des commercium-Problems

bel, verschärft sich die Antithese im Laufe des Jahrhunderts. Im Vitalismus der 1780er und 90er Jahre werden sie gar in ein dezidiert kontradiktorisches Verhältnis gesetzt. Siehe etwa Joachim Dietrich Brandis: Versuch über die Lebenskraft. Hannover 1795, S. 18: »[D]ie Lebenskraft ist der organischen Materie eigen und würkt den physischen Kräften der Verwandtschaft, Anziehung usw. entgegen.« 15 Siehe Johann Gottfried Herder: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. In: Ders.: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum. Frankfurt a. M. 1994 (Werke, Bd. 4), S. 327–393, hier S. 331. 16 Zur Identifizierung von Elektrizität und Nervengeist siehe Rothschuh: Spiritus animalis, S. 2963. 17 Herder: Ideen (wie Anm. 9), S. 174.

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in Aussicht stelle, aber dass bis dahin noch etliche Wissenslücken zu schließen seien. Aufgrund dieser mutmaßlichen Einflüsse auf Körper und Geist etabliert sich ein ganzer Zweig innerhalb der Medizin, der sich mit den Wirkungen der Elektrizität auf den Metabolismus befasst.18 Für viele der ›vernünftigen Ärzte‹ der Epoche gilt sie dabei nicht nur als ein Therapeutikum für physische Leiden, sondern auch psychische. Für Bertholon lassen sich etwa verschiedene Gemütslagen direkt mit körperlichen Elektrizitätsniveaus korrelieren: Wer zur Wut neigt, weist zu viel eigene Körperelektrizität auf, wer an Heimweh leidet, bewegt sich in einer ungewohnten Atmosphäre.19 Und nicht nur individuelle und temporäre Gemütsveränderungen sind auf dieses feine Fluidum zurückzuführen. Wie später satirisch bei Kleists Konrektor Levanus hängen bei Bertholon und Herder, noch gänzlich ohne Kleists beißende Ironie, generelle Charakterdispositionen, ja ganze Nationalcharaktere »vom Himmelstriche, und folglich von der Elektrizität der Atmosphäre […] ab.«20 Wenn die elektrische Balance gestört ist, degenerieren die mäßigen Empfindungen zu Leidenschaften oder umgekehrt zu Gefühllosigkeit. Der Influxionismus bietet jedoch die theoretische Grundlage und die künstliche Elektrizitätserzeugung, etwa durch die Leidener Flasche (einem frühen elektrischen Kondensator), ein Mittel, dem durch gezielte Zu- oder Abfuhr von Elektrizität entgegenzuwirken.21 So wird die Technologie der Elektrisierung in den Dienst der Affektenlehre der Epoche gestellt und hilft, das empfindsame Ideal mittlerer Empfindungen zu verwirklichen.

2. Metaphorisierungen Es sind besonders Beobachtungen und Deutungen auf diesem physiologischen und psychologischen Terrain, die in der Kultur des 18. Jahrhunderts eine metaphorische Transformation erfahren. Dabei sind es v.a. die vielen publikumswirksamen Experimente der wissenschaftlichen Schausteller,22 die die Brücke zwischen metonymischem und metaphorischem Elektrizitätsdiskurs herstellen, etwa die Venus electrificata, die elektrische ›Beatifikation‹ oder die fernwirkende Weingeistentzündung. Die Konno18 Als Diskursbegründer im deutschsprachigen Raum gilt der Hallenser ›philosophische Arzt‹ Christian Gottlieb Kratzenstein (1723–1795) mit seiner Abhandlung von dem Nutzen der Electricität in der Arzneywissenschaft (1745). 19 Siehe Bertholon: Anwendung und Wirksamkeit (wie Anm. 10). Bd. 2, S. 37 und S. 45. 20 Ebd., Bd. 1, S. 88. Dass dies durchaus nicht nur die extreme Position eines Außenseiters ist, zeigt sich etwa darin, dass sich dasselbe Argument auch bei einer diskursprägenden Figur wie Herder wiederholt, siehe Herder: Ideen (wie Anm. 9), S. 30. 21 Bertholon: Anwendung und Wirksamkeit (wie Anm. 10). Bd. 1, S. 166. 22 Siehe zu den diversen Milieus en détail Hochadel: Öffentliche Wissenschaft.

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tationen, die diese Experimente, allein schon ersichtlich durch die Namensgebung, evozieren, sind dabei überraschend einheitlich: künstlerische und religiöse Inspiration sowie Liebe und Erotik. Alle konvergieren sie in einem gemeinsamen Charakteristikum: Die Elektrizität wird hier immer mit Bereichen in Verbindung gebracht, die den Menschen über sich hinausführen, ›transzendieren‹, so wie die Elektrizität selbst die Grenzen von Organik und Anorganik, von Geist und Körper überwindet, ohne aber beides in eins zu setzen. Die Inspirationstopik kann sich dabei auf einen geradezu ›wissenschaftlichen‹ Zusammenhang von Kreativität und Elektrizität berufen. Wie sie die inerte Materie aktiviert, so macht sie auch den Geist produktiv. Wiederum Bertholon notiert: »Alle, welche sich mit den bildenden Künsten, der Dichtkunst, Mahlerey und Musik beschäftigen, können hier unsre Gewährsleute seyn, und uns bezeugen, daß sie ihre Meisterstücke nur in solchen Zeiten verfertigt haben, welche für die Elektrizität des Dunstkreises die vortheilhaftesten waren.«23 Dabei ist v. a. die Spontaneität und Unberechenbarkeit des elektrischen Funkens für den metaphorischen Transfer dieses Arguments verantwortlich, entsprechen sie doch auch den Attributen des künstlerischen ingenium. Wie Elektrizität von Raum und Zeit unabhängig zu sein scheint, so durchdringt und produziert das Genie in einem Augenblick eine ganze Welt. Diese Unmittelbarkeit und Amedialität wird etwa wiederum bei Herder aufgegriffen, wenn er erklärt, der Geist des Künstlers gehe »aus seinem Herzen gleichsam ins Herz; aus dem Genie ins Genie […] wie der elektrische Funke sich mitteilt.«24 Beide – Genie und Elektrizität – setzen damit die üblichen Regeln außer Kraft, hier die der mechanischen Bewegung, dort die der Regelpoetik. Der Künstler soll »als ein zweiter Prometheus den elektrischen Funken vom Himmel holen«25 und sein Kunstwerk auf diese Weise beseelen. Die elektrische Metaphorik verleiht dieser Vorstellung des Schöpfungsvorgangs einerseits besondere Glaubwürdigkeit, belebt Elektrizität doch in der Tat die passive Materie, andererseits wahrt sie das Geheimnis des künstlerischen Akts. Denn so wie die Ursachen der gestaltenden elektrischen Kraft in der Natur letztlich im Unklaren bleibt, so auch die Quelle der genialischen Spontaneität des Künstlers. Neue Naturwissenschaft und traditionelle Inspirationstopik verleihen sich so gegenseitig Plausibilität. Bei der Liebessemantik sind es ebenfalls Durchdringungskraft und Spontaneität des elektrischen Funkenschlages, die als Analogon herangezogen werden, vor allem

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Bertholon: Anwendung und Wirksamkeit (wie Anm. 10). Bd. 1, S. 87. Elektrizität steht hier nicht mehr für den mäßigen Affekt sondern – wie knapp 20 Jahre später noch in Heinrich von Kleists Essay Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden – den schöpferischen Ausnahmezustand. 24 Herder: Ideen (wie Anm. 9), S. 275. 25 Ebd., S. 38.

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aber natürlich Polarität und Attraktion. So ist oft auch die gerade nicht mehr mäßige, leidenschaftliche Anziehung zwischen den Geschlechtern ein gängiger Referent elektrischer Metaphern. Dies wird etwa deutlich in der Schilderung des Venus electrificata-Experiments durch seinen Erfinder Georg Mathias Bose (1710–1761), einen Hallenser Politiker und Polyhistor, der in seinem Langgedicht Die Elektrizität nach ihrer Entdeckung und Fortgang (1744) von der Elektrisierung einer schönen jungen Frau berichtet. Berührt ein Sterblicher etwan mit seiner Hand Von solchem Götter-Kind auch selbst nur das Gewand, So brennt der Funcken gleich, und das durch alle Glieder. So schmerzhaft als es that, versucht er’s dennoch wieder. […] Und kommt er näher hin, gleich sengt die helle Flamme Er findet, daß ihn die zur Sclaverey verdamme.26

Das elektrische Hin und Her von Anziehung und Abstoßung, von Lust und Schmerz, wird in dieser Passage zum Sinnbild eines paradoxe amoureux, bei dem die Unerfülltheit des Begehrens zugleich Bedingung dafür ist, dass die Faszination erhalten bleibt. Elektrizität ist sowohl Allegorie für die Leidenschaft, der der zur Hingabe verdammte Mann passiv ausgeliefert ist, als auch der Sanktion seiner moralischen Übertretung, die der Leidenschaft zwangsläufig folgt. Beide – Anziehung und Abstoßung, Vergehen und Strafe – sind in diesem Arrangement unzertrennlich verbunden und wirken mit quasi-physikalischer Übereinstimmung. Ein ebenfalls äußerst populäres Experiment, das von Bose inszeniert wurde, ist die sog. elektrische ›Beatifikation‹. Dabei wird eine Versuchsperson isoliert und elektrisiert, so dass sich im Dunkeln um ihren Kopf ein elektrischer Nimbus bildet.27 Wie im Falle der künstlerischen Begeisterung sind es wohl wiederum der geheimnisvolle Ursprung des Lichteffekts und die Sublimität der elektrischen Materie, die der Zuschreibung Plausibilität verleihen. So wie der Heilige sich aus der Masse der Gläubigen heraushebt, so steht elektrisierte Mensch auf einem Isolatorium. Beide können sie Wunderheilungen vollbringen und die Naturgesetze außer Kraft setzen, indem sie z. B. Distanzen ohne sichtbare Verbindung überwinden und Alkohol ohne wirkliche Berührung elektrisch entzünden. Solch magisch-religiösen Konnotationen 26

Georg Mathias Bose: Die Elektrizität nach ihrer Entdeckung und Fortgang mit poetischer Feder entworfen. Wittenberg 1744, S. 29. Geht der verliebte Mann noch weiter und versucht gar, sie zu küssen, schlägt es ihm fast die Zähne aus dem Mund (siehe ebd., S. 30). Ähnliche Szenarien finden sich in großer Zahl bei Jean Paul, etwa in der ›Konjektural-Biographie‹ (1799) (Jean Paul: Kleinere erzählende Schriften. 1796–1801. Hrsg. v. Norbert Miller. Darmstadt 2000 [Sämtliche Werke, Abt. I, Bd. 4], S. 925–1080, hier S. 1037 f.) oder Ächte Samlung meiner besten Bonmots (1784) (Ders.: Jugendwerke; 1 [Sämtliche Werke, Abt. II, Bd. 1], S. 879–917, hier S. 908 f.). 27 Bose: Elektrizität (wie Anm. 26), S. 33.

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der Elektrizität spielte dabei sicher auch die Tatsache in die Hände, dass sie durch die elektrische Erklärung des Blitzes durch Benjamin Franklin (1706–1790) an eine bereits wohl etablierte Allegorie – nämlich des Blitzes und des Göttlichen – anschließen konnte. Bemerkenswert ist nun, dass exakt diese Felder – Kreativität, Liebe, Religion – in großer Homogenität auch dann noch elektrisch metaphorisiert werden, wenn überhaupt kein physikalisches fundamentum in re mehr erkennbar ist und sie sich ganz aus dem experimentellen Kontext gelöst haben. Auch wenn es freilich nicht möglich ist, dies hier auch nur an ausgewählten Beispielen eingehender zu demonstrieren, so seien doch wenigstens wichtige Belegstellen aufgezählt, in denen die Literatur das bereits konnotierte Wissen über Elektrizität einer weiteren und noch elaborierteren Semiose zuführt. Die Elektrizität funktioniert als Element literarischer Texte nur deshalb so breit und effektiv, weil sie um 1800 bereits mit zahlreichen kulturellen Bedeutungen angereichert ist, etwa als universales Agens in der Natur, als Lebensäther, als Medium zwischen Geist und Materie oder als Liebes- und Inspirationsmetapher. Bei Johann Wilhelm Ritter (1776–1810) und Heinrich von Kleist finden sich elektrische Inspirationsmetaphern in Hülle und Fülle, etwa in Ritters Fragmenten aus dem Nachlasse eines jungen Physikers (1810) oder Kleists Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden (1805/6) Novalis versinnbildlicht im Klingsohr-Märchen aus dem Heinrich von Ofterdingen (1802) mit der Elektrizität v. a. die stets zugleich persönliche und kosmische Liebe, E.T.A. Hoffmann (1776–1822) im Kater Murr (1819/1821) dagegen eine dämonische Anziehung und Leidenschaft. Die magischreligiösen Konnotationen werden wiederum etwa bei Novalis (1772–1801) aufgegriffen, mitunter eher spöttisch auch bei Jean Paul (1763–1825) in seinem kurzen Essay aus den Teufelspapieren (1789) mit dem sprechenden Titel über den Nutzen der Elektrizität für das Christentum.28

3. Funktionen Warum erweist sich aber ausgerechnet die Elektrizität unter den potenziell unendlich vielen möglichen Stoff- und Motivquellen um 1800 als besonders attraktiv, wenn es um die Modellierung der erwähnten epochalen Problemkonstellationen geht? Aufgrund welcher Eigenschaften ließe sich plausibel machen, warum sie eine so breite metaphorische Übertragung in unterschiedlichste fremde Zusammenhänge erfährt? Im Folgenden möchte ich abschließend eine mögliche Antwort auf diese Fragen skizzieren. 28

Zur Literarisierung der Elektrizität bei diesen Autoren siehe Gamper: Elektropoetologie (wie Anm. 12); Specht: Physik als Kunst (wie Anm. 4).

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7. Sektion · Benjamin Specht

Wegen der Konnotationen, die die Elektrizität schon in ihrem naturkundlichen und Ursprungskontext erfährt, nämlich Zusammenhänge zwischen verschiedenen Aspekten der materiellen und ›transphysikalischen‹ Welt zu suggerieren, kann sie auch dort noch eine Funktion als Synthesefigur übernehmen, wo sie mutmaßlich nur Metonymie (Influxus-Debatte, elektrische Psychologie) oder bereits erkennbar Metapher ist (Liebe, Genie). Dies leistet sie, indem sie ein lediglich vage konturiertes integratives Leitbild transportiert, das alle diversen Anwendungsfelder als Tertium strukturell zusammenbindet, auch da, wo keine substanziellen Zusammenhänge dingfest gemacht werden können.29 Auf all den Terrains, in denen elektrische Metaphorik zur Anwendung kommt, besteht diese strukturelle Parallele im Schema einer ›Einheit von Gegensätzen‹, das wechselnd mit den in der Spätaufklärung zunehmend unvermittelbar erscheinenden Dualismen ›aufgefüllt‹ werden kann. Sie scheint somit auf bildhaft-figurative Weise ein Komplement zu parallelen Tendenzen in der Ideengeschichte der Zeit darzustellen. Mit ihrer polaren Struktur, bei der Plus und Minus aufeinander bezogen, aber nicht identifiziert werden, offeriert Elektrizität somit auch in anderen Bereichen eine Figur der Vermittlung, ohne dass dabei das Trennende in der Einheit aufgelöst würde, sei es zwischen Einzelnem und Ganzem, organischer und anorganischer Natur, Geist und Leib, Mann und Frau, etc. Die Übertragung zwischen diesen Sphären gewinnt dabei wohl deshalb besondere Plausibilität, weil in den meisten Anwendungsfeldern vor 1800 noch immer die Option im Raum steht, dass idiomatische Metaphern wie der ›Liebesfunken‹, der ›Geistesblitz‹ oder das ›Wie-elektrisiert-Sein‹ tatsächlich eine reale physische Basis aufweisen könnten. So dokumentiert sich in der hohen Okkurenz elektrischer Metaphern ein Synthesewille zwischen den zunehmend auseinanderstrebenden Bereichen des Wissenssystems im späten 18. Jahrhundert, der begrifflich aber (noch) nicht eingeholt werden kann, bevor es dann in den Systementwürfen der 1790er Jahre (Fichte, Schelling, die romantische ›Enzyklopädistik‹) für kurze Zeit tatsächlich so scheint, als stehe man mit der ›neuen Denkungsart‹ der Transzendentalphilosophie und den naturwissenschaftlichen Entdeckungen im Kontext des Galvanismus nun tatsächlich kurz vor dem Durchbruch zu einem neuen integrativen Weltbild, als ließen sich all die Desiderate in Bezug auf die Elektrizität nun tatsächlich einlösen (Einheit von organischer und anorganischer Natur, Commercium-Problem, Natur-Subjekt-Einheit, etc.). Für relative kurze Zeit – etwa zwischen 1790 und 1810 – sieht es nun so aus, als ließe sich die Elektrizität, die im Wissenssystem der Aufklärung noch eine Irritation darstellt, jetzt an tragender Funktionsstelle in einen natur- und geschichtsphilosophischen Systembau eingegliedern.30 Allerdings wird diese Hoffnung, ein gänzlich neues Zeital29

Diese integrative Funktion unter dem Begriff ›epochale Metapher‹ näher erläutert bei Specht: Physik als Kunst (wie Anm. 4), S. 413–422. 30 Siehe hierzu ebd., bes. S. 91–118.

Die Elektrisierung der Aufklärung

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ter des Mensch-Natur-Verhältnisses einzuläuten, schon bald wieder enttäuscht, wie etwa Kleists Erziehungsplan verdeutlicht, in dem die elektrische Synthesefigur bereits 1810 dem Spott preisgegeben wird. Levanus ist von der Konvertierbarkeit von natürlicher und moralischer Welt in seiner Lasterschule allzu überzeugt und diskreditiert so die Idee einer elektrischen Übereinstimmung, die er an sich postulieren will. Der Versuch, physische und moralische Welt im Zeichen der Elektrizität als ein System zu denken, so macht Kleists literarische Argumentation deutlich, steht damit in der letzten Phase vor ihrer endgültigen Verabschiedung – dem bloß noch ironischen Zitat.

Nikola Roßbach (Kassel) »die selbst-eigene Erfahrung zuhülffe nehmen.« Der Maschinenbauer Jacob Leupold und die epistemische Zäsur um 1700

Metaphysik an der Unversteht An der Schwelle zum 18. Jahrhundert erscheint in Halle Johann Gottfried Zeidlers satirische Schrift Die WohlEhrwürdige/Großachtbare und Wohlgelahrte Metaphysica oder Uber-Naturlehre. Laut Titel entstand sie an der Unversteht zu Abel, gedruckt Dreyviertel Jahr vor dem neuen Seculo. Der fingierte Vorredner, ein Gelehrter der Philosophie, muss sich mit Kritikern auseinandersetzen, die die weltferne Abstraktheit und Nutzlosigkeit seiner Wissenschaft, die sich durch das exklusive Latein als Geheimwissenschaft inszeniere, bemängeln. Zur Widerlegung der gegnerischen Argumente will der Philosoph ein Metaphysiklehrbuch auf Deutsch verfassen – nämlich den Hauptteil. Doch auch dieser ist satirisch grundiert. Auf Deutsch erweist sich erst recht die Absurdität einer erfahrungsfernen ›Weltweisheit‹, die sich in Begriffsklauberei und Überstrukturiertheit verliert. Die Einwände der Kritiker gegen die zeitgenössische Schulphilosophie sind auch die Einwände Johann Gottfried Zeidlers – realer Autor und fingierter Verfasser vertreten konträre Positionen. Die Kritiker, so gibt der empörte Vorredner sie wieder, schelten, die philosophischen Wissenschaften »wären ein grosses Nichts/ da wir redeten und schrieben/ wie der Blinde von der Farbe: Wolten Metaphysici sein/ d. i. übernatürliche Dinge/ und übersteigerliche lehren/ und könten mit der Physica nicht einmal zu rechte kommen/ wüsten darinnen weder kix noch kax/ wären nur halbe Menschen/ und könten keinen Nagel einschlagen […].«1 Dass Zeidler selbst es tatsächlich mit den Angreifern, also den Antimetaphysikern, hält, bezeugt dieses Motiv des Nagel in die Wand Schlagens: Der streitbare Theologe und Pädagoge, dem realitäts- und realienferne Gelehrsamkeit zuwider sind, verwendet es auch in anderen Schriften. Gemäß seiner wissenschaftstheoretischen Überzeugung muss die Physik (gemeint ist so etwas wie alltagspraktisches Anwendungswissen, handwerklich-technisches Können, konkreter Umgang mit Realia) das Fundament bilden, auf das, wenn überhaupt, die Metaphysik seriöserweise aufgebaut werden könne. Zeidlers frühaufklärerische Satire ist ein Wegweiser weg von der abstrakten Schulmetaphysik hin zu den konkret erfahrbaren Sachen – und eben diese Entwicklung durchlaufen auch Mechanik und Maschinenbautechnik an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert. 1

Johann Gottfried Zeidler: Die WohlEhrwürdige/Großachtbare und Wohlgelahrte Metaphysica oder Uber-Naturlehre. [Halle 1699], Vorrede, unpag. [S. 5].

»die selbst-eigene Erfahrung zuhülffe nehmen.«

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Intuitiv würde man meinen, Maschinentechnik habe immer schon mit Realia, mit Sachen zu tun haben müssen – doch so einfach ist es nicht. Die Mechanik gehörte zur Physik, die noch im 17. Jahrhundert als Teilgebiet der Philosophie keine Erfahrungswissenschaft war. Der Technikhistoriker Lothar Hiersemann erläutert: »Zu dieser Zeit war das wissenschaftliche Werk, das den Vorlesungen an der Leipziger Universität, insbesondere den physikalischen zugrunde gelegt wurde, Aristoteles’ Physicorum libri octo. Die Professoren hatten lediglich die Aufgabe, den Inhalt der aristotelischen Bücher vorzutragen und zu interpretieren. Die Physik war noch eine Teildisziplin der Philosophie, die sich in scholastischer Weise mit der unbelebten Natur beschäftigte.«2 Die Mechanik selbst war im ausgehenden 17. Jahrhundert noch keine eigenständige akademische Disziplin, auch wenn, wie erste, meist militärisch orientierte Konzepte von Ingenieursschulen belegen,3 Technik im ausgehenden 17. Jahrhundert gewissermaßen schulfähig wurde.

Die barocke Maschine und das Unmögliche Dass die Physik und, als ihr Teilgebiet, die Mechanik im akademischen Bereich lange Zeit keine Erfahrungswissenschaften waren, lässt sich unter anderem mit der beharrlichen Tradition idealistischer Philosophie erklären. Bemerkenswerterweise präsentierten und betrieben aber sogar die Praktiker des Maschinenbaus die Mechanik in der von ihnen verfassten Technikliteratur nicht als Erfahrungswissenschaft, sondern als ideale, nicht unbedingt material grundierte Wissenschaft. Speziell in der Technikliteratur der Renaissance und des Barock, häufig verfasst von Praktikern, Ingenieuren und Architekten, stand die Maschine nicht unbedingt für die Realität, sondern vielmehr für das Ideal, für die Utopie. Die Maschine wird in Text und Bild effektvoll als Spektakel inszeniert, sie eröffnet einen theatralen Raum technischer Möglichkeiten. Einerseits wird der neuste Stand der Maschinentechnik anhand von realistischen Arbeitsmaschinen demonstriert, andererseits werden Technikutopien gestaltet. Dabei sind die Grenzen zwischen Phantastik und Empirie, zwischen Pragmatik und Vision fließend; gerade der Aspekt der Unmöglichkeit von dargestellten maschinellen Funktionen offenbart den Raum des Möglichen.4 2

Lothar Hiersemann: Jacob Leupold – ein Wegbereiter der technischen Bildung in Leipzig. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der Technischen Hochschule Leipzig. Leipzig 1982, S. 20. 3 Vgl. Geschichte der Technikwissenschaften, hrsg. v. Gisela Buchheim, Rolf Sonnemann. Leipzig 1990, S. 123. 4 Vgl. Verf.: Maschinenräume. Technik und Theater in der Frühen Neuzeit. In: Die Erschließung des Raumes. Konstruktion, Imagination und Darstellung von Räumen und Grenzen im Barockzeitalter. Kongress in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, 26.–29.08.2009 [Tagungsbd. in Vorbereitung].

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Besonders signifikant ist in diesem Kontext die sogenannte Theatrum Machinarum-Literatur, ein Korpus technischer Schaubücher, an deren Anfang das lateinische Theatrum instrumentorum et machinarum (1578) des Franzosen Jacques Besson steht. Es folgen italienische, deutsche und niederländische Titel von Agostino Ramelli (Le diverse et artificiose Machine, 1588, dt. 1620), Heinrich Zeising/Hieronymus Megiser (Theatrum Machinarum, 1607-1636), Vittorio Zonca (Novo Teatro di Machine et Edificii, 1607), Fausto Veranzio (Machinae Novae, 1615), Salomon de Caus (Von Gewaltsamen bewegungen, 1615), Jacobus Strada (Kunstliche Abriß/ allerhand WasserWind- Roß- und Handt Mühlen, 1617/1618), Giovanni Branca (Le Machine, 1629), Georg Andreas Böckler (Theatrum Machinarum Novum, 1661); Jan van Zyl (Theatrum Machinarum Universale; Of Groot Algemeen Moolen-Boek, 1734), Tileman van der Horst/Jacob Polley (Theatrum Machinarum Universale; Of Keurige Verzameling van verscheide grote en zeer fraaie Waterwerken, 1736/37) und erneut Tileman van der Horst (Theatrum Machinarum Universale; Of Nieuwe Algemeene Bouwkunde, 1739).5 In eben dieser literarischen Tradition steht noch Jacob Leupolds Theatrum Machinarum von 1724–1739, das gerne als Höhe-, aber auch Endpunkt der Theatrum Machinarum-Literatur bezeichnet wird.

»alles durch Experimente untersuchen«: die Wende zur Erfahrungswissenschaft Ganz allmählich vollzieht sich am Übergang zum 18. Jahrhundert eine szientifische Wende hin zur Kategorie der Erfahrung und damit auch zu einer material culture, zu den Sachen. Die Abkehr von Schematismus und Spitzfindigkeit scholastischer Philosophie ist um 1800 prominent verknüpft mit Universitätslehrern wie Christian Thomasius, Christian Wolff und Hermann August Francke – und auch mit dem nicht ganz so bekannten Thomasius-Schüler Johann Gottfried Zeidler. In diesen wissenschaftstheoretischen und -praktischen Kontext gehört auch der Leipziger Maschinenbauer Jacob Leupold (1674–1720). Leupold, der als Student die seminarähnlichen, experimentgestützten Vorlesungen des berühmten Jenaer Professors Erhard Weigel hört, schreibt: »Nachdem es die heutigen Philosophi nicht bey den blosen Worten: Summus Aristotoles dixit, bewenden lassen, sondern die selbst-eigene Erfahrung zuhülffe nehmen und alles durch Experimente untersuchen, so kommen viel Machinen und Instrumente zum Vorschein, davon die Alten nichts

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Vgl. meine Artikel zu Besson, Zeising/Megiser, Zonca, Böckler, Zyl, van der Horst/Polley und van der Horst in: Welt und Wissen auf der Bühne. Die Theatrum-Literatur der Frühen Neuzeit. Repertorium. Hrsg. v. Nikola Roßbach und Thomas Stäcker unter Mitarbeit von Flemming Schock, Constanze Baum, Imke Harjes und Sabine Kalff. Wolfenbüttel: Herzog August Bibliothek 2011 .

»die selbst-eigene Erfahrung zuhülffe nehmen.«

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gewust, vielweniger solche vor nöthig erachtet […].«6 Durch seinen Instrumentenbau trägt Leupold selbst maßgeblich bei zum Wandel der Physik bzw. ihrer Teildisziplin Mechanik zu einer experimentell betriebenen Wissenschaft – fast alle großen deutschen Universitäten kauften für Schauexperimente seine 1705 neu entwickelte Luftpumpe. Dass jedoch eine fortschrittlichere akademische Praxis oft schlicht an den Kosten scheiterte, lässt sich ebenfalls bei Leupold nachlesen, der konzediert, man könne »von denen Herren Professoribus nicht mehr prætendiren, als daß sie die Gesetz oder Theorie der Mechanic nebst etlichen Figuren von Machinen weisen, weil die Praxin wenigstens nur durch Modelle zu zeigen, schon die Kosten, so ein Professor von seiner Besoldung hat, übersteigen […]«.7 Es versteht sich angesichts der frühaufklärerischen Etablierung der Erfahrungswissenschaft von selbst, dass die spektakuläre Maschine des Barock in die Kritik gerät. Maschinen sollen nicht mehr wirkungsträchtig für Emotionen und Staunen sorgen. Der Aspekt der Unterhaltung tritt zurück hinter den von Nutzen und Nutzung in funktions- und anwendungsbezogenen Rahmungen. In vereinfachender Zuspitzung könnte man formulieren, dass die ›Sache‹ des Barock, zu deren ›Sachen‹ die Maschine gehörte, die spektakuläre Repräsentation von Macht und Herrschaft war – die ›Sache‹ der Aufklärung hingegen, ebenfalls geprägt durch eine material culture der Maschine, die Ökonomisierung, Verwissenschaftlichung und Popularisierung von Wissen ist. Exemplarisch lässt sich die Entwicklung an zwei Maschinentheatern zur Wasser(bau)kunst nachvollziehen: Die Architectura Curiosa Nova, ein Maschinenbuch, das der barocke Polyhistor Georg Andreas Böckler im Jahr 1664 seinem Theatrum Machinarum Novum (1661) folgen lässt, behandelte die in barocken Gärten zum Einsatz kommende Unterhaltungstechnik, speziell die Wasserkünste. Für Jacob Leupold hingegen, der 1724/1725 sein Theatrum Machinarum Hydraulicarum publiziert, bedeutet Wasserkunst etwas vollkommen anderes als höfische Lustbarkeit. Hydraulik dient nicht mehr repräsentativer Gartengestaltung, sondern gehört nun in den Kontext des frühindustriellen Montanwesens.8 Mit dem technikhistorischen Umbruch um 1700 verliert die Maschine ganz offensichtlich an Attraktivität für eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Forschung. 6

Jacob Leupold: Pars III. Theatri Statici Universalis, Sive Theatrum Aërostaticum. Leipzig 1726, S. 296. 7 Jacob Leupold: Vollkommene Nachricht Von denen Mechanischen Schrifften Oder Theatro Machinarum Universali. Leipzig 1720, unpag. [S. 5]. 8 Leupold betont den bergbautechnischen Anwendungszweck explizit: »Es ist die Erkäntnis und Wissenschafft von Wasser-Künsten ein sehr nöthiges und unentbehrliches Stück im menschlichen Leben, und vernehmlich beruhet fast gäntzlich die Aufnahme des edlen Bergwercks darauf/ so daß ohne solche Künste die besten Schätze in der Tieffe verbleiben, und die reichsten Zechen aufläßig werden müssen« (Jacob Leupold: Theatrum Machinarum Hydraulicarum. 2 Bde. Bd. 1. Leipzig 1724/1725, Widmung, unpag. [S. 3]) Vgl. Verf.: Artikel Jacob Leupold: Theatrum Machinarum Hydraulicarum. In: Roßbach, Stäcker: Welt und Wissen auf der Bühne. (wie Anm. 5).

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Das mag daran liegen, dass populäre ›interdisziplinäre Diskurselemente‹ (ein Begriff Helmar Schramms) wie Theatralität und Performativität sich zur Beschreibung der Maschinentechnik, Maschinenphilosophie und -ideologie des 17. Jahrhunderts besser eignen als für die des 18. Jahrhunderts.9 Im Zuge der Ausdifferenzierung und Diversifizierung wissenschaftlicher Systeme und professionalisierter Arbeitsbereiche geht es bei Maschinen immer weniger um Literatur, Kunst und Theater: Die Maschine des 18. Jahrhunderts hat ihren Funktionsort in der frühindustrialisierten, technisierten Arbeitswelt. Im Prozess der Mechanisierung und Maschinisierung10 entsteht das Profil des aufgeklärten Maschinentechnikers, der praktisches Know-how des Handwerkers und theoretisches Wissen des Gelehrten vereint.11 Immer wieder nennt die Forschung Leupold als Beispiel und betont seine europaweite Bedeutung12 als »geistreicher Mechanicus und Autor kompendiöser Werke zur Ingenieurskunst«.13 Leupold repräsentiert modellhaft das Denken der frühen Aufklärung, das ebenso wissenschaftlich fundiert ist wie praktisch-ökonomisch orientiert.

9

Zum Zusammenhang von Theater und Technik, Literatur und Maschine im 17. Jahrhundert liegen inzwischen zahlreiche literaturwissenschaftliche, linguistische, technikhistorische und theaterwissenschaftliche Forschungsbeiträge vor. Außer den von Helmar Schramm, Ludger Schwarte und Jan Lazardzig herausgegebenen Theatrum Scientiarum-Bänden (Berlin 2003 ff.) sei stellvertretend verwiesen auf Jutta Bacher: Das Theatrum machinarum. Eine Schaubühne zwischen Nutzen und Vergnügen. In: Erkenntnis – Erfindung – Konstruktion. Studien zur Bildgeschichte von Naturwissenschaft und Technik vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, hrsg. v. Hans Holländer. Berlin 2000, S. 509–518; Karlheinz Jakob: Maschine. Mentales Modell und Metapher. Studien zur Semantik und Geschichte der Techniksprache. Tübingen 1991; Jan Lazardzig: Theatermaschine und Festungsbau. Paradoxien der Wissensproduktion im 17. Jahrhundert. Berlin 2007; Marcus Popplow: Neu, nützlich und erfindungsreich. Die Idealisierung von Technik in der frühen Neuzeit. Münster [u. a.] 1998; Hélène Visentin: Le Théâtre à Machines en France à l’Âge Classique. Histoire et Poétique d’un Genre. [o. O.] 1999. 10 Vgl. ›Propyläen Technik Geschichte‹, hrsg. v. Akos Paulinyi, Ulrich Troitzsch, Bd. 3: Mechanisierung und Maschinisierung 1600–1840. Berlin 1997. 11 Vgl. dazu Edgar Finsterbusch, Werner Thiele: Vom Steinbeil zum Sägegatter. Ein Streifzug durch die Geschichte der Holzbearbeitung. Leipzig 1987. 12 Leupolds Theatrum Machinarum wurde, sicherlich nicht zuletzt aufgrund des enormen Umfangs, nie übersetzt, so dass, wie kaum ein Leupold-Forscher unerwähnt lässt, ein berühmter Engländer Deutsch lernen musste: James Watt (1736–1819), der den Nutzen von Dampfexpansion entdeckte und den Wirkungsgrad der frühen Dampfmaschinen 1769 entscheidend verbessern konnte, rezipierte zuvor Leupolds Schriften (vgl. Ulrich Troitzsch: Jacob Leupold 1674–1727. Mechanikus und Technik-Autor im Zeitalter der Aufklärung. In: Jacob Leupold: Theatrum staticum universale. Hannover 1982, 5 unpag. Seiten, hier [S. 4]; Friedrich Klemm: Technik. Eine Geschichte ihrer Probleme. Freiburg, München 1954, S. 236). 13 Friedrich Naumann: Jacob Leupold – Sächsisch-polnischer Rath und Bergwercks-Commissar in Königl. Gnaden. In: Persönlichkeiten des Montanwesens im sächsisch-böhmischen Erzgebirge. Tagungsband zum Kolloquium am 8. November 2003 in der Berg- und Adam-Ries-Stadt Annaberg-Buchholz, hrsg. v. Götz Altmann. Annaberg-Buchholz 2003, S. 75–90, hier S. 75.

»die selbst-eigene Erfahrung zuhülffe nehmen.«

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Die bedeutendste Technikenzyklopädie der Aufklärung: Leupolds Theatrum Machinarum 1699 eröffnet Leupold in Leipzig eine Mechaniker-Werkstatt:14 fünf Jahre nach Gründung der Reformuniversität Halle, ein Jahr nach Gründung der Franckeschen Stiftungen, im gleichen Jahr wie Zeidlers Metaphysiksatire und ein Jahr vor Gründung der Berliner Akademie der Wissenschaften. Sein eigenes Monumentalwerk, das Theatrum Machinarum (1724 ff.), gilt als die bedeutendste Technikenzyklopädie der Aufklärung. Von den fertiggestellten neun Bänden erschienen einige postum: Bd. 1: Theatrum Machinarum Generale (1724); Bd. 2: Theatrum Machinarum Hydrotechnicarum (1724); Bd. 3 (1/2): Theatrum Machinarum Hydraulicarum (1724/25); Bd. 4: Theatrum Machinarum, Oder: Schau-Platz der Heb-Zeuge (1725); Bd. 5 (1/2/3/4): Theatrum Staticum Universale (1726); Bd. 6: Theatrum Pontificiale (1726); Bd. 7: Theatrum Arithmetico-Geometricum (1727); Bd. 8: Jacob Leupold/Joachim Ernst Scheffler: Theatri Machinarum Supplementum (1739); Bd. 9 (1/2/3): Matthias Beyer/ Johann Karl Weinhold: Theatrum Machinarum Molarium (1735/35/88).15 Leupolds Theatrum Machinarum repräsentiert eine epistemische Zäsur. Einerseits trägt es noch den Theatrum-Titel, der auf die barocke Maschinenschau, auf Repräsentation, Utopie und Spiel verweist; andererseits bietet es jedoch keine spektakulären Vorführungen mehr (verzichtet etwa auf den Betrachter im Bild) und basiert stattdessen auf Kriterien wie Funktionalität, Rationalität und theoretisch-wissenschaftlich fundiertem Praxisbezug. Maschinen werden vorwiegend nicht mehr in ihrer Totalität, sondern fragmentarisiert und abstrakt, in technischer Terminologie und Klassifikation erfasst. Mit seiner deskriptiven Maschinenkunde steht der Instrumentenbauer auf einer Vorstufe zur Darstellung idealisierter, mathematisch beherrschbarer technischer Modelle.16 Leupold wird nicht müde, den Bruch mit der vorausgegangenen Theatrum Machinarum-Literatur zu betonen. Ausdrücklich beklagt er die Mängel bisheriger Maschinenbücher: »denn da ist bey den allermeisten kein eintziges Fundament, worauf ihre Krafft, Vermögen, Bewegung, oder Operation beruhet, weder Maaß-Stab, Proportion, Materialien, noch andere nöthige Observationes berühret, ja selbige offt 14

Vgl. Günter Meier: August der Starke war begeistert: Jacob Leupold. In: Hundert sächsische Köpfe. Chemnitz 2002, S. 120 f. 15 Vgl. die Repertoriumsartikel zu allen Einzelbänden des Leupold’schen Theatrum Machinarum, die größtenteils im Rahmen eines von mir durchgeführten studentischen Projektes an der TU Darmstadt entstanden sind, in: Roßbach, Stäcker: Welt und Wissen auf der Bühne (wie Anm. 5). 16 Vgl. dazu Buchheim, Sonnemann: Geschichte der Technikwissenschaften (wie Anm. 3), S. 68, 123; Lothar Hiersemann: Der Mechaniker Jacob Leupold und sein Beitrag zur technischen Bildung. In: Technisches Bildungswesen in Leipzig, hrsg. v. Norbert Kammler u. a. Leipzig 1989, S. 38–47, hier S. 45.

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nur dem äusserlichen Ansehen nach gezeichnet und beschrieben, (das innere mag errathen, wer da kan) ja viele sind gäntzlich, so wol wider die Reguln der Mechanic, als Natur und Operation, daß ein armer Stümper, der da meynet, es sey alles richtig, viele Zeit, ja offt Kosten und Ehre darüber verliehret […].«17 Kein Maßstab, kein Material, keine Observation: Dass praktische Erfahrung und Anwendung nicht die Grundlagen der immer noch wirkungsmächtigen barocken Mechanik darstellten, bringt Leupold, der unermüdlich gegen Projektemacher und ›Perpetuomobilisten‹ polemisiert,18 hier auf den Punkt. Er selbst verspricht hingegen bereits in der Ankündigung seines Theatrum Machinarum: »Jede Machine soll, so viel möglich, nach ihrer Proportion, accuraten Maaß-Stab, Materialien, innerlichen und äusserlichen Stücken, im Grund-Riß, Aufzug, Profil, Perspectiv, eintzeln Theilen, in summa, wie es zur Erkäntniß und imitirung nöthig ist, gezeichnet werden.«19 Tatsächlich sind Leupolds Maschinenzeichnungen neuartig: Sie verdeutlichen den »Umbruch von der Gesamtansicht einer Maschine, die in manieristischer Zeit noch mit allerlei Zierat überladen wurde, zur nüchternen, maßstabsgerechten technischen Projektionszeichnung«.20

»Erkäntnis so wohl nütz- als unnützlicher Machinen«: Wissenspopularisierung und ihre Didaxe Im Kampf gegen die alte Maschinenliteratur setzt Leupold auf demonstrative Entblößung ihrer Schwächen. Ständig täten sich »neue Künstler« hervor, »die gewaltig große Dinge vorgeben, und unbeschreiblichen Nutzen versprechen, aber wenn es darzu kommt, öffters nur aus denen alten Theatris, nemlich des Ramelli, Zeisings, Bessonii und anderer, eine alte verlegene und unbrauchbare bishero unbekandte Invention, die sie selbst nicht einmahl gnugsam verstehen, erschnappet haben, die im geringsten nichts nutzet und also nicht nur andre, sondern auch sich selbst am meisten dadurch betrügen und schaden; so ist es desto nöthiger daß man, wo es möglich, alle solche Inventiones darstellte, und die Fehler darinnen deutlich vor Augen legte […].«21

17 Leupold: Vollkommene Nachricht Von denen Mechanischen Schrifften (wie Anm. 7), unpag. [S. 6]. 18 Vgl. Klemm: Technik (wie Anm. 12), S. 233. 19 Leupold: Vollkommene Nachricht Von denen Mechanischen Schrifften (wie Anm. 7), unpag. [S. 8]. 20 Hiersemann: Der Mechaniker Jacob Leupold und sein Beitrag zur technischen Bildung (wie Anm. 16), S. 44. 21 Leupold: Theatrum Machinarum Hydraulicarum (wie Anm. 8), Bd. 1, Vorrede, unpag. [S. 2].

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Es stellt sich die Frage, wem er die Fehler der anderen vorführen will. Leupold hat ein anderes Zielpublikum als die repräsentativen Zwecken dienende Technikliteratur des Barock. Diese richtete sich in erster Linie an gebildete, nicht fachmännische Aristokraten, speziell an finanzkräftige potenzielle Auftraggeber für technische Bauvorhaben. Höchstens in zweiter Linie diente die Popularisierung gelehrter Kenntnisse einer maschinentechnischen Ausbildung der Praktiker; keinesfalls jedoch einer Hebung des allgemeinen Bildungsstandes in einem volksaufklärerischen Sinn.22 Demgegenüber dienen die in Leupolds Theatrum Machinarum präsentierten ›Sachen‹ der Aufklärung durchaus der Sache der Aufklärung – der wissenschaftlichen Erkenntnis und deren Popularisierung. Ausdrücklich benennt der Verfasser seine Adressaten, widmet sein Werk »nicht nur Künstlern, Kunstmeistern, Berg-Leuthen und Kunst-Steigern, ja allen die selbst Hand anlegen, sondern auch Architectis, Ingenieurs, Commissarien, Beamten, überhaupt allen Hauswirthen und Kunst-liebenden«, »absonderlich aber der Jugend«.23 Deutlich grenzt er seine Leser von der gelehrten Welt ab und richtet sein Schreiben auf ihr Lektüremodell aus: Da diese nicht wie die Gelehrten ›in der Connexion‹ läsen und verstünden, sondern selektiv und konsultatorisch, habe er viele wiederholende Beschreibungen eingefügt.24 Leupolds Stil zeichnet sich in der Tat durch extreme Genauigkeit, zuweilen Umständlichkeit und Redundanzen aus. Zur Unterweisung seiner vertraulich in der zweiten Person Plural angesprochenen Leser dienen ihm als didaktische Mittel nicht nur die Demonstration unnützer Maschinen, »damit man dero Beschaffenheit und ihre Fehler möge erkennen lernen und einen Unterscheid zwischen nützlichen und ächten und zwischen unrichtigen und falschen machen lerne«,25 sondern auch praktische Rechenbeispiele und konkrete Anleitungen.

22

Ausführlich dazu Verf.: »Zu besserer Begreiffung aller Materien«. Wissensorganisation und -vermittlung bei Georg Andreas Böckler, Architect & Ingenieur. In: Polyhistorismus und Buntschriftstellerei. Populäre Wissensformen der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Flemming Schock, [in Vorbereitung]. 23 Vgl. Titel des Theatrum Machinarum Hydraulicarum, Bd. 1 und 2. 24 Das in verständlichem Deutsch verfasste, ohne wissenschaftliche Vorbildung rezipierbare Lehrwerk sei »nicht vor Gelehrte, sondern vor Künstler, Haußwirthe, Cavallier und dergleichen Personen geschrieben« (Leupold: Theatrum Machinarum Hydraulicarum [wie Anm. 8], Bd. 2, Vorrede, unpag. [S. 2 f.]). 25 Ebd., [S. 1]. Auch Troitzsch verweist auf die »geradezu auffällige Vorliebe für die Darstellung und kritische Analyse solcher Maschinenentwürfe, die zwar auf dem Papier imponierend wirken, aber in der Realität gar nicht funktionieren können oder einen zu geringen Wirkungsgrad aufweisen« (Troitzsch: Jacob Leupold [wie Anm. 12], [S. 2 f.]).

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7. Sektion · Nikola Roßbach

Schlapperiche Blätter und funkelnde Kühe: Ein Curriculum der material culture Leupold ist nicht der einzige, dem es um die materiale »Beschaffenheit« der Maschinen geht. Johann Gottfried Zeidlers satirische Schimpfkanonade gegen die Metaphysik enthält einen Fragenkatalog für angehende Philosophen. Die Fragen sind ernster gemeint, als sie womöglich in ihrem kuriosen Durcheinander klingen: »1. Wie sie es machen wolten / daß höltzerne Teller mit breiten Adern nicht auffspringen.« […] 5. Wie es zugehet / daß die Blätter im Buche hinten im Heft schlapperich werde(n) / un(d) wie diesem Unglück zu begegne(n)? […] 9. Wie viel man an einer Stubenthür von Fichtenbretern muß an der Breite fehle(n) laße(n) / nachdem sie im Winter quilt? […] 14. Welches besser / daß man die von der Wunde abgenommen Pflaster vergräbt / oder verbrennet? […] 19. Warumb die kohlschwartzen Kühe und Hunde wenn man sie streichelt / fünckeln?«

Leupold hätte diesen Fragenkatalog sicherlich begrüßt. Es ist eine Art satirisches Curriculum zur material culture. Erst wenn man die verachtete »Unterphysica« beherrsche, sollte man sich, wenn überhaupt, an die Metaphysik heranwagen, meint Zeidler. Wenn die »Herren Superphysici« den Fragenkatalog nicht in einer halben Stunde beantworten könnten, »sollen sie zwar titulum suum haben/ aber nur in der albernen Philosophie, und bekennen daß sie arme Stümper sind«.26

26

Zeidler: Die WohlEhrwürdige/Großachtbare und Wohlgelahrte Metaphysica oder UberNaturlehre (wie Anm. 1), Vorrede, [S. 28 ff.].

Frank Jung (München) Experiment und Reform. Naturwissenschaftliche Praxis und politisches Handeln im Großherzogtum Toskana Issak Iselin beabsichtigte, mit den Ephemeriden der Menschheit »die Glückseligkeit der Menschen« zu vermehren. Daher forderte er die Leser auf, ihm über »richtige und wohl erwogne Erfahrungen […] zuverläßige Nachrichten« zu senden.1 Als in den Ephemeriden die »Geschichte der toscanischen Gesetzgebung« veröffentlicht wurde, erweckte der Bericht den Eindruck, als resultiere der landwirtschaftliche Wohlstand des Landes aus den Gesetzesreformen, die »Früchte von Versuchen und Erfahrungen« waren.2 Folglich schien es, als habe man sich in der Toskana das aus Experiment und Erfahrung resultierende Wissen für die Gesetzesreformen zunutze gemacht. Das 18. Jahrhundert war durch eine regelrechte »Erfahrungsgläubigkeit« gekennzeichnet,3 die sich in einer naturphilosophischen Rhetorik spiegelte. Die Analogie, die zwischen Erfahrung und Experiment bestand, kam sprachlich darin zum Ausdruck, dass »esperienza« und »esperimento« synonym verwendet wurden. So sprach Lavoisier von »expérience«, wenn Experimente gemeint waren. Die Erfahrung diente in den Berichten, die Iselin veröffentlichte, als autoritatives Argument, um die positive Auswirkung einer Gesetzesreform darzustellen, denn diese Erfahrungstatsache legitimierte a posteriori die durchgeführte Reform als vorbildlich. In vergleichbarer Weise nutzte Lavoisier ausführliche Erfahrungsberichte in den Observations sur la physique dazu, dass der Leser an den Experimentaltatsachen teilhaben, aber auch das Experiment wiederholen und überprüfen konnte.4 Im Großherzogtum Toskana, so lautet die These, bestanden Parallelen zwischen der Durchführung eines naturwissenschaftlichen Experiments und einer Gesetzesreform: Die ›galileiische‹ Tradition kennzeichnete die Verfahrensweise toskanischer Naturphilosophen und die Durchführung von Gesetzesreformen. In beiden Fällen stand am Anfang die Beobachtung eines Phänomens, das experimentell erkundet oder aus dessen Beschaffenheit induktiv eine Hypothese abstrahiert wurde, die dann im Experiment verifiziert oder falsifiziert wurde. Die Analogie, die zwischen natur1

Isaak Iselin (Hrsg.): Ephemeriden der Menschheit. Bd. 1. Basel 1776, S. 107 f. Ebd., Bd. 3, S. 73–104, hier S. 77. 3 Gerhard Frey: Experiment. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer, Bd. 2. Basel 1972, S. 868 ff., hier S. 869. 4 Vgl. Frank Jung: ›Erfahrung‹ als Argument und Reform als ›Experiment‹. Ein aufklärerischer Darstellungsmodus, die Gazzetta di Weimar und das Großherzogtum Toskana. In: Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach und die Italien-Beziehungen im klassischen Weimar, hrsg. v. Peter Kofler, Thomas Kroll u. a. Bozen, Innsbruck 2010, S. 47–73, hier S. 48 f., 58 ff. 2

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7. Sektion · Frank Jung

philosophisch experimenteller Methode und dem Vorgehen bei der Umsetzung einer Gesetzesreform bestand, wird exemplarisch an der Liberalisierung des Getreidehandels aufgezeigt. Abschließend soll an einem weiteren Beispiel knapp skizziert werden, wie die ›galileiische‹ Experimentalkultur die Reformstruktur bestimmte.

Experimentalkultur: die ›galileiische‹ Tradition5 Mit der Rezeption Newtons in Italien zu Beginn des 18. Jahrhunderts ging das Bestreben einher, Galilei – trotz kirchlichen Verbots – öffentlich zu rehabilitieren, sodass 1718 in Florenz die Opere di Galileo Galilei gedruckt wurden, nachdem 1710 der Dialogo klandestin in Neapel erschienen war.6 Die Wertschätzung Galileis dokumentierte sich ferner 1737 in der feierlichen Überführung seines Leichnams nach Santa Croce in Florenz.7 Trotz des Inquisitionsprozesses gegen Galilei und neben einer vorherrschend peripatetischen Philosophie hatte sich seit Mitte des 17. Jahrhunderts an der Universität Pisa eine später als ›galileiisch‹ bezeichnete Tradition ausgebildet. Die Personen, die sich in ihren experimentellen Methoden auf Galilei beriefen, waren zumeist Mitglieder der 1657 entstandenen Accademia del Cimento, die unter dem besonderen Schutz des mediceischen Großherzogs stand. Zweck der Accademia del Cimento war es, eigene und fremde naturphilosophische Hypothesen und Meinungen zu prüfen. Als 1667 die Saggi di naturali esperienze fatte nell’Accademia del Cimento erschienen, war auf der Titelvignette, die Einblick in einen laboratoriumsähnlichen Raum gewährte, das Motto »provando e riprovando« zu lesen.8 Die Accademia bestand zwar nur rund zehn Jahre, aber Anfang des 18. Jahrhunderts war Cosimo III. – wie schon sein Vater – an der Durchführung naturwissenschaftlicher Versuche beteiligt oder er beauftragte toskanische Naturphilosophen wie Giuseppe Averani damit, Experimente durchzuführen. Averani lehrte eigentlich Zivilrecht an der Universität Pisa, doch er unternahm ebenfalls zahlreiche physikalische Experimente und war Fellow der Royal Society.9 Außerdem war Averani an der Veröffentlichung galileiischer

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Aus Platzgründen muss darauf verzichtet werden, das personelle Netzwerk detaillierter darzustellen. 6 Vgl. Vincenzo Ferrone: Scienza, natura, religione. Mondo newtoniano e cultura italiana nel primo Settecento. Napoli 1982, S. 131–145. 7 Vgl. Paolo Galluzzi: I sepolcri di Galileo, le spoglie ›vive‹ di un eroe della scienza. In: Il Pantheon di Santa Croce a Firenze, hrsg. v. Luciano Berti. Firenze 1993, S. 145–182. 8 Vgl. William Edgar Knowles Middleton: The Experimenters. A Study of the Accademia del Cimento. Baltimore 1971, S. 84. 9 Vgl. Alessandro Tosi: Tra scienza, arte e ›diletto‹: collezioni naturalistiche in Toscana nell’età di Cosimo III. In: La Toscana nell’età di Cosimo III, hrsg. v. Franco Angiolini, Vieri Becagli u. a.

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Werke beteiligt, die – wie erwähnt – in engem Zusammenhang mit der Rezeption Newtons stand. Durch einen Schüler Averanis, Giovanni Gualberto De Soria, erfuhren Newtons Principia 1745 eine deistische Deutung. Mit den Rationalis philosophiæ institutiones sive de emendanda, regendaque mente, die 1750 auf Italienisch erschienen, trug De Soria wesentlich zur Verbreitung der Lockeschen Erkenntnisphilosophie in Italien bei.10 De Soria unterschied – wie Locke – zwischen einfachen und zusammengesetzten Ideen, und in gleicher Weise befasste er sich mit den Kriterien der Gewissheit. Wenn es um bisher unbeobachtete Phänomene gehe, sei es allein »la esperienza attuale, che possa sciorre il nodo«.11 Die Erfahrung betrachtete De Soria als die entscheidende Prüfungsinstanz, und für ihn – wie für Locke – resultierte letztlich alles menschliche Wissen aus der Erfahrung. Zu den Schülern De Sorias gehörten Raimondo Niccoli und Angelo Tavanti, aber ebenso Giuseppe Maria Buondelmonti, der »[la] fisica sperimentale« zu den nützlichen Kenntnissen eines Herrschers zählte, da sie den menschlichen Verstand von Irrtümern befreie und vor Fehlern bewahre.12 Angelo Tavanti kommentierte und übersetzte mit Gian Francesco Pagnini die ökonomischen Texte von Locke, in denen er sich argumentativ der Erfahrung bediente, während Pagnini und Tavanti in ihrer Vorrede betonten, dass Lockes Darlegungen inzwischen durch die Erfahrung bestätigt seien.13

Firenze 1993, S. 377–387, hier S. 384 f., sowie Frank Jung: Naturrecht, Gesellschaftsvertrag und Widerstandsrecht. Zum politisch-juristischen Denken im Großherzogtum Toskana in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Das Naturrecht der Geselligkeit. Anthropologie, Recht und Politik im 18. Jahrhundert, hrsg. v. Vanda Fiorillo, Frank Grunert. Berlin 2009, S. 105–133, hier S. 109 f. 10 Vgl. Ferrone: Scienza, S. 651–667, sowie Ugo Baldini: De Soria, Giovanni Gualberto. In: Dizionario biografico degli italiani. Bd. 39. Roma 1991, S. 408–416. 11 Giovanni Gualberto De Soria: La scienza dell’uomo o la filosofia emendatrice, e direttrice della ragione, della memoria, e della volontà. Parte seconda. In: Ders.: Opere filosofiche italiane. Bd. 2. Lucca 1750, S. 8 f. 12 Giuseppe Maria Buondelmonti: Delle lodi dell’Altezza Reale del Serenissimo Gio. Gastone, VII Gran Duca di Toscana: Orazione funerale. In: Politici ed economisti del primo Settecento. Hrsg. v. Raffaele Ajello, Marino Berengo et al., Milano, Napoli 1978, S. 543–558, hier S. 548 f. 13 Vgl. Ragionamenti sopra la moneta l’interesse del denaro le finanze e il commercio scritti e pubblicati in diverse occasioni dal signor Giovanni Locke tradotti per la prima volta dall’inglese con varie annotazioni. Firenze 1750, S. XVII–XXI, 73, 90.

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7. Sektion · Frank Jung

Reformstruktur: die Liberalisierung des Getreidehandels Im 18. Jahrhundert bedienten sich die Verfasser ökonomischer Traktate naturwissenschaftlicher Metaphern oder Analogien, um ihre Aussagen zu erklären und zu veranschaulichen. Ihren volkswirtschaftlichen Schriften lag die Annahme zugrunde, dass ökonomische Naturgesetzlichkeiten bestanden, die es zu erkennen galt. Die betreffenden Präsuppositionen konkretisierten sich in naturphilosophischen Metaphern und Analogien, die in den ökonomischen Traktaten verwendet wurden. Der Anlass für Sallustio Bandini, 1737 den Discorso sopra la Maremma di Siena zu verfassen, war seine Beobachtung, dass sich die Maremma in einer wirtschaftlich desolaten Situation befand. Diese Situation sei – so Bandinis Induktionsschluss – durch die bestehenden Gesetze und Verordnungen verursacht, die eine ausreichende Versorgung mit Getreide gewährleisten sollten, aber nicht verhindert hätten, dass Hungersnöte als Folge von Missernten aufträten. Eine Hungersnot werde jedoch erst durch zahlreiche Handelsbeschränkungen wie Zölle und Preisbindungen hervorgerufen. In diesem Zusammenhang verglich Bandini die Maremma mit einem kranken Körper: Vi sono alcune infermità che altrimenti non si curano, che con un poco d’aria aperta, ed i medici medesimi, dopo di avere sperimentato o nocivi o inutili gli altri medicamenti, ne danno il consiglio. […] Non farò altro adunque in questo discorso, che quello che costumano di fare i familiari e domestici d’un infermo: ne descrivono questi la complessione, i disordini, le cagioni della malattia, acciocché quindi il perito pigli lume per ordinarli i medicamenti, e prescriverli il metodo da tenersi in avvenire.

Gleich einem Arzt schlug Bandini ein Heilmittel vor, das an dem kraftlosen Körper der Maremma erprobt werden solle: »deve lasciarvisi oprar la natura, deve regolarsi con poche leggi, e queste semplici.« Da die göttliche Vorsehung dafür gesorgt habe, so Bandinis Präsupposition, dass die Natur alles Lebensnotwendige bereithalte, funktioniere der Wirtschaftskreislauf zum gemeinen Nutzen, wenn die Gesetze der Natur beachtet würden. Deshalb hätten wenige Gesetze dafür zu sorgen, dass die Waren möglichst frei zirkulieren, damit der »buon senso della natura« walten könne.14 Eine Liberalisierung des Getreidehandels beinhaltete folglich den Versuch, die bestehende Situation angesichts der bisherigen Erfahrungen so zu verändern, dass die Maremma ökonomisch prosperieren konnte und infolgedessen die Schlussfolgerung Bandinis überprüft wurde. Mitte der 1760er Jahre wurde dann angesichts neuerlicher Missernten und Hungersnöte versucht, durch eine Liberalisierung des Getreidehandels die Versorgungs14

Sallustio Bandini: Discorso sopra la Maremma di Siena. In: George R. F. Baker, Sallustio Bandini. Con una nuova edizione del Discorso sopra la Maremma Senese, hrsg. v. Lucia Conenna Bonelli. Firenze 1978, S. 201–296, hier S. 220, 244.

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krise im Großherzogtum Toskana zu bewältigen. Da die bisherigen Mechanismen zur Krisenbewältigung ungeeignet erschienen, wurde versuchsweise zwischen 1764 und 1766 – jeweils bis zur nächsten Ernte – innerhalb des Großherzogtums der Getreidehandel freigegeben. In der Folge sprach sich Pompeo Neri, der bei Averani promoviert hatte und mit Bandini befreundet war, unter Hinweis auf diese toskanischen Erfahrungen dafür aus, den Getreidehandel langfristig zu liberalisieren. Wie schon in den 1740er Jahren verwies Neri auf England als »un esempio trionfante con un’esperienza seguitata per lo spazio di quasi cent’anni del vantaggio della libertà«. Außerdem führte Neri – neben zahlreichen ökonomischen Schriften, die inzwischen in der Handelsfreiheit die Ursache für Bevölkerungswachstum und nationalen Wohlstand erblickten – Frankreich als weiteres Beispiel an, denn Frankreich, »che nei diversi governi ha sperimentato tanto l’uno, quanto l’altro sistema, ha modernamente creduto essere migliore quello della libertà«.15 Die genannten Beispiele dienten Neri dazu, aufgrund der aus diesen historischen Erfahrungen abgeleiteten Regel eine Liberalisierung des Getreidehandels zu fordern, denn als Erfahrungstatsachen schienen sie die Richtigkeit seiner Forderung zu bestätigen. Im September 1767 wurde schließlich der Binnenhandel mit Getreide unbefristet zugelassen, die Getreidesteuer wurde abgeschafft und die Brotherstellung freigestellt. Darüber hinaus durfte seit 1771 Getreide ausgeführt werden, und als 1775 der Getreidehandel vollständig freigegeben wurde, hieß es im Proömium des Gesetzes: »avendo ormai anco l’esperienza fatto conoscere evidentemente, che quanto insufficienti anzi dannosi sono riusciti in addietro i Regolamenti e le provvidenze dei Magistrati.«16 Um den Ausgang des Freihandelsexperiments nicht zu gefährden, hatte der Großherzog in diesen Jahren keineswegs vor regulierenden Eingriffen zurückgeschreckt. Wiederholt wurde Getreide zugekauft, um weitere Versorgungskrisen abzumildern, sodass – trotz aller Kritik17 – die Reformgesetze keiner Revision bedurften und die vollständige Liberalisierung des Getreidehandels nicht gefährdet war, zumal die französischen Physiokraten das toskanische Reformprojekt aufmerksam beobachteten: Die Physiokraten betrachteten das Großherzogtum als Prüfungsinstanz ihrer Theorie, und die Evidenz des toskanischen Experiments war dann in ihren Augen der Beweis, dass die physiokratische Theorie ökonomischer Naturgesetzlichkeiten zutreffend war.18 15

Pompeo Neri: Memoria sopra la materia frumentaria. In: Giovanni Fabbroni: Scritti di pubblica economia. Bd. 2. Firenze 1848, S. 267–289, hier S. 273 ff. 16 Bandi e ordini da osservarsi nel Granducato di Toscana, cod. VII. Firenze 1776, n. LXXII. 17 Vgl. Frank Jung: Zensur, Buchmarkt und öffentliche Meinung im Großherzogtum Toskana während des 18. Jahrhunderts. In: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 82 (2002), S. 702–729, hier S. 721 ff. 18 Vgl. Frank Jung: Der toskanische Getreidefreihandel und die Konstruktion eines ›Modell-

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7. Sektion · Frank Jung

Die Erfahrung diente – in Neris Denkschrift ebenso wie im Proömium von 1775 – als autoritatives Argument und Legitimation, damit das, was aus der Erfahrung als Regel abgeleitet wurde und was man als richtig betrachtete, seine positiven Auswirkungen entfalten konnte. Während sich Neri argumentativ der englischen und französischen, aber auch der toskanischen Erfahrungen bedient hatte, argumentierte Turgot 1774 später mit dem erfolgreich verlaufenden toskanischen Experiment, um die von ihm geplanten Wirtschaftsreformen zu rechtfertigen.19 An diesem Punkt tauchte – darauf sei hingewiesen – das historische Beispiel als sog. Erfahrung wieder lehrreich auf.20

Experimentalkultur und Reformstruktur In den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts standen Tavanti, inzwischen Leiter des Finanzsekretariats, und Niccoli, mittlerweile toskanischer Legationssekretär in Paris, in regem Briefkontakt. Niccoli berichtete nicht nur über Turgots Reformbestrebungen, sondern er sandte auch immer wieder verschiedene Samensorten mit den entsprechenden Instruktionen nach Florenz, »di farne delle esperienze«, wie er im April 1777 schrieb,21 denn: »Il farne la prova è sempre un bene.«22 In seinen Briefen schilderte Niccoli die Rahmenbedingungen, unter denen sowohl Turgot seine Reformpläne umzusetzen versuchte als auch der Anbau von Brotfrucht, Rhabarber oder Reis zu unternehmen sei, während Tavanti in seinen Schreiben auf die Bedingungen hinwies, die dazu geführt hatten, dass sich die Regolamenti generali und particolari für die Gemeinden des Contado und des Distretto Fiorentino unterschieden, damit sie auf Akzeptanz bei den Betroffenen stoßen konnten. Bei den Reformbestrebungen ging es ebenso wie bei dem Anbau bislang unbekannten Saatguts darum, Erfahrungen zu sammeln und die Kultivierung fremder Nutzpflanzen ebenso wie die Praktikabilität einzelner Reformen zu prüfen. Einzelne Reformvorhaben – wie der Versuch, einen neuen Kataster zu erstellen, oder die Gemeindereform – glichen regelrecht explorativen Experimenten,23 bei denen

staates‹ in der deutschen Aufklärung. In: Europa und seine Regionen. 2000 Jahre Rechtsgeschichte, hrsg. v. Andreas Bauer, Karl H. L. Welker. Köln 2007, S. 389–424, hier S. 392, 406 f. 19 Niccoli an Tavanti: 21.09.1774. In: A.S.F. (= Archivio di Stato, Firenze), Segreteria e Ministero degli Esteri, Appendice, n. 4. 20 Vgl. im Gegensatz dazu Reinhart Kosellek: Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1989, S. 38–66, insb. S. 38 f., 62. 21 Niccoli an Tavanti: 28.04.1777. In: A.S.F., Miscellanea di Finanze, n. 529. 22 Niccoli an Tavanti: 15.06.1777. In: Ebd. 23 Vgl. Friedrich Steinle: Die Vielfalt experimenteller Erfahrung: Neue Perspektiven. In: »Die

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schrittweise Erfahrungen gemacht wurden, um zu sehen, welche Auswirkungen die jeweiligen Maßnahmen hatten. Nachdem 1769 die florentinischen Magistrate zusammengelegt wurden, denen die Aufsicht über die Gemeinden oblag, um ihre Kompetenzen in der Camera delle Comunità zu konzentrieren, zeigte sich alsbald, dass die neue Behörde infolge der Zusammenlegung an die Grenze ihrer Funktionsfähigkeit geraten war. Deshalb wurden schrittweise Möglichkeiten erprobt, um die Arbeit der Camera delle Comunità zu vereinfachen, ohne ihre Funktion grundsätzlich in Frage zu stellen. Als schließlich der Versuch unternommen wurde, durch eine G e m e i n d e r e f o r m die Arbeit der neuen Behörde rationeller zu gestalten, waren die Pläne in Florenz ausgearbeitet worden. Ob die neuen Gemeindeordnungen die gewünschten Resultate zeitigen würden, musste zuerst in einzelnen Gemeinden erprobt werden, bevor die Gemeindereform schrittweise auf den Territorialstaat ausgeweitet werden konnte.24 Bei der Gemeindereform spielte – im Gegensatz zur Liberalisierung des Getreidehandels – eine übergeordnete Ordnungsvorstellung keine dominierende Rolle. Theorie- und Begriffsbildung vollzogen sich während des explorativen Experimentierens, sodass sich die Gemeindereform erst rückblickend als Vorstufe des Verfassungsprojekts zu erkennen geben konnte.

Schlussbemerkung Charles Dupaty schrieb 1785 in seinen Briefen über Italien: »une bonne législation est comme la bonne physique, elle doit être expérimentale.«25 Die Experimentalkultur ›galileiischer‹ Tradition kennzeichnete nicht nur die Verfahrensweise toskanischer Naturphilosophen, sondern auch die Durchführung von Gesetzesreformen. Sowohl die Liberalisierung des Getreidehandels und die Abschaffung der Binnenzölle als auch das Katastrierungsvorhaben und die Gemeindereform verdeutlichen den geradezu »experimentellen Charakter«26 der leopoldinischen Reformpolitik. Im Zusammenhang mit dem toskanischen Strafgesetzbuch hieß es 1786, »col soccorso

Erfahrungen, die wir machen, sprechen gegen die Erfahrungen, die wir haben«. Über Formen der Erfahrung in den Wissenschaften, hrsg. v. Michael Hampe, Maria-Sibylla Lotter. Berlin 2000, S. 213–233. 24 An dieser Stelle sei auf meine in der Niederschrift befindliche Studie Die leopoldinische Gemeindereform. Studien zur Herrschaftspraxis im Großherzogtum Toskana (Arbeitstitel) verwiesen. 25 [Charles Dupaty]: Lettres sur l’Italie, en 1785. Bd. 1. Rome 1788, S. 125. 26 Adam Wandruszka: Leopold II. Erzherzog von Österreich, Großherzog von Toskana, König von Ungarn und Böhmen, Römischer Kaiser. Bd. 1. Wien-München 1963, S. 180, sprach vom experimentellen Charakter der leopoldinischen Regierungsmethode, ohne dies näher auszuführen.

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7. Sektion · Frank Jung

dell’esperimento« sei die Reform der Strafgesetzgebung vorbereitet worden,27 und Herder berichtete im Oktober 1789, der toskanische Großherzog, der selbst chemische Experimente durchführte, »hat sich nicht geschämt, Gesetze frei zurückzunehmen, sobald sie nicht taugten. Er geht aber auch mit langsamem Schritt zu wirklich neuen Gesetzen; er versucht die Sache, sobald sie ihm zweifelhaft erscheint, durch partikulare Befehle, bis er sich von der Güte derselben überzeugt hat, da ihn denn auch nichts mehr wankend macht, oder davon abwendet.«28 Die Erfahrung hatte – als Resultat einer Reform und eines Experiments – ein erwartetes oder erhofftes Ergebnis als Tatsache zu z e i t i g e n und damit ex post den Beweis zu erbringen, dass sich etwa eine als reformbedürftig betrachtete Situation erkennbar verbessert hatte. Daher appellierte Crome angesichts der Französischen Revolution: »Wohlan, so überzeuge dann jede Regierung ihre Unterthanen durch Erfahrungen und Thatsachen, dass sie wirklich glücklich sind: und unsere Staaten werden eben so ruhig seyn und bleiben, wie Heturien unter Leopold II. es war.«29

27

Vgl. Jung: Erfahrung, S. 65 f. Johann Gottfried Herder: Briefe. Bd. 6. Hrsg. v. den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (Goethe- und Schiller-Archiv) unter Leitung v. Karl-Heinz Hahn. Bearb. v. Wilhelm Dobbek, Günter Arnold. Weimar 1981, S. 185. 29 Die Staatsverwaltung von Toskana unter der Regierung seiner Königlichen Majestät Leopold II. aus dem Italiänischen übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von Dr. August Friedrich Wilhelm Crome. Bd. 1. Gotha 1795, S. 7. 28

8. sektion: Schaustücke und Lehrmodelle – Dingbasierte Bildungskonzepte in Realienunterricht, Museen und Wissenstransfer

Holger Zaunstöck (Halle) Schaustücke und Lehrmodelle – Dingbasierte Bildungskonzepte in Realienunterricht, Museen und Wissenstransfer: Einleitung

Die Sektion »Schaustücke und Lehrmodelle« rekurriert in besonderer Weise auf den Genius loci der hier dokumentierten Tagung: Die Kunst- und Naturalienkammer der Franckeschen Stiftungen zu Halle stellt in ihrer heute noch erlebbaren, authentischen Form des 18. Jahrhunderts, in ihrer physischen Präsenz den unmittelbaren Sachbezug zu den verhandelten Themen her. Damit bildet sie zudem eine exemplarische Vergleichsgröße und Entfaltungskulisse für Entwicklungslinien objektbezogener Wissenskultur im 18. Jahrhundert: In ihr kristallisiert sich die dominierende Sammlungsform des 16. und 17. Jahrhunderts, und von ihr aus lassen sich Veränderungsschübe und Bedeutungsverschiebungen ebenso wie neue Praxen des Vermittelns und Sehens mit und durch Objekte ausmachen. Gemeint sind etwa der Entwicklungsgang von den Kunst- und Naturalienkammern zu den akademischen Museen, die Genese des Realienunterrichts, die Öffentlichkeit bzw. Zugänglichkeit von Sammlungen und die mit ihnen ermöglichte, erstrebte und praktizierte Performativität des Wissens sowie seiner Vermittler und Rezipienten, das Spannungsverhältnis zwischen dem Erkennen und Interpretieren der göttlichen Schöpfung und der Genese naturwissenschaftlicher Forschung, schließlich das Verlassen der Kammern und Museen, die Abwendung von den Modellen hin zur Betrachtung in situ. Insofern verfolgen die Beiträge zu dieser Sektion zugleich auch einen Wandel in der Medialität dingbasierter Wissenskonzepte und der damit einhergehenden Praktiken. In den Fallstudien geht es um die Vielfalt der Materialität von Wissen und der mit ihr verbundenen epistemologischen, pädagogischen, geselligen und kritikfördernden Potentiale in der Entfaltung der Aufklärung. Der Wandel von der Naturalienkammer hin zum akademischen Museum steht im Zentrum von Dominik Collets Text Das Academische Museum der Universität Göttingen (1773–1840). Inszenierung, Naturalisierung und ›Disziplinierung‹ aufgeklärten Wissens. Ausgehend von der Beobachtung, dass die Sammlungen und ihre räumlichen Inszenierungen in der Forschung zuletzt verstärkt Aufmerksamkeit gefunden haben, konstatiert Collet einen »object turn« in der Wissenschaftsgeschichte: Die Objekte und ihre Anordnungen in begehbaren Räumen sowie die damit einhergehenden Zuschreibungen sowohl epistemischer Verfahren als auch sozialer Praktiken rücken ins Zentrum. Den Entwicklungsgang vom Kabinett zur Sammlung skizziert Collet in einer ganzen Reihe von Dimensionen: der Schärfung von Disziplingrenzen an den Objekten, dem inszenatorischen Moment universitärer Gelehrsamkeit, der Bedeutung der Sammlung als Ort der Formung von Erinnerungskultur durch die Stiftung

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8. Sektion · Holger Zaunstöck

von (kostbaren) Objekten sowie der Verschränkung von Öffentlichkeit, Geselligkeit und Bildung auch über engere akademische Kreise hinaus. Für die Menschen des späteren 18. Jahrhunderts lag, so das Resümee, die Attraktivität neuer akademischer Sammlungen nicht in einem scharfen Bruch mit den Vorgängerformen, sondern vielmehr »in der spannungsvollen Synthese älterer und neuerer Sammlungsformen sowie akademischer und außerakademischer Traditionen«. Diesen Aspekten widmet sich eingehend Andrea Linnebach in ihrem Aufsatz Das Museum der Aufklärung und sein Publikum - »Raritätenkram für jeden Narren«? Zum Besucherbuch von »Kunsthaus« und »Museum Fridericianum« in Kassel. Das Kasseler Kunsthaus befand sich im Ottoneum, das seit 1696 die landgräfliche Naturalienund Kunstobjektesammlung beherbergte. Anhand des Besucherbuches rekonstruiert die Autorin eine sozial differenzierte und weitreichende besuchende Öffentlichkeit: Neben den zu erwartenden Adligen und bürgerlichen Gebildeten finden sich auch Köche, Friseure, Soldaten, Schauspielerinnen – und überhaupt vergleichsweise viele Frauen. Allerdings apostrophierte kein geringerer als Herder das zu Sehende als »Raritätenkram«. Damit, so analysiert Linnebach, war aber weniger ein Negativurteil über die Qualität der Einzel-Objekte ausgedrückt, als vielmehr der »kritisch-distanzierte Blick der Aufklärungszeit auf die vermeintliche Un-Ordnung dieser Sachen in einer fürstlichen Kunstkammer«. Allerdings waren auch in Kassel bereits die Zeichen auf Veränderung gestellt: Landgraf Friedrich hatte im Jahr 1768 einen Vorschlag für ein Mittelalter-Kabinett entwickelt. Auch wenn dieses letztendlich nicht realisiert worden ist, ist der Vorgang doch bemerkenswert, denn »zum ersten Mal in der Geschichte des Sammelns wird ein größerer Komplex unterschiedlicher Objekte unter einem historischen Bezugssystem zusammengefasst«. Diese Beobachtung verweist auf die Auseinandersetzung mit dem Mittelalter im Jahrhundert der Aufklärung und damit auf die Vermittlung von Geschichtsbildern, sowie zugleich auch auf einen anderen medialen Kontext. Sebastian Schmideler beschreibt in seinem Aufsatz »Hier sind Abbildungen und Modelle von allem, was dazugehört.« – Schaustücke zum Mittelalter in der Kinder- und Jugendliteratur des 18. Jahrhunderts, wie Autoren sich in Geschichte vermittelnden Texten bestimmter Schaustücke bedienten. So untersucht Schmideler die dritte Ausgabe von Johann Balthasar Springers Kurtzer Einleitung zur Reichs-Historie von Teutschland (1727), der nämlich eine Historisch-Chronologische Spiel-Tafel Darauf sich sothane Begebenheiten und Geschichte zum Begriff der edlen Jugend in Medaillen oder Schau-Müntzen praesentiren beigegeben war. Diese Medaillen waren gleich einem »imaginierten Münzkabinett« angeordnet und nehmen damit als Schaustücke die Intention der höfischen »Histoire Metallique« auf. Dabei findet sich dann der Rückbezug zu den Kunstkammern: In ihnen waren Münzsammlungen eigene Schränke gewidmet. Gibt es hier also eine Verbindung zwischen Buch und Kammer über die Schaustückform der Münzen, so lässt sich in Christian Carl Andrés Lesebuch (1788 f.) eine Verbindung zwischen Buch

Einleitung

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und spielerisch-praktischer Aneignung im Sinne der philanthropischen Pädagogik bei der Vermittlung des mittelalterlichen Rittertums über nachgestellte Turniere beobachten. In diesem Kontext kamen auch Modelle zum Einsatz. Der Vermittlungstrias aus Objekt, Beobachtung im Freien und Text geht Dragana Grbić in ihrem Aufsatz A Comet and a Balloon – the Matter of Enlightenment Matters nach. Sie zeigt dies am Beispiel des serbischen Mönchs und Historikers Jovan Rajić und blickt auf Wissensvermittlung am Objekt, aber insbesondere auch auf deren Wege und Formen »in the absence of specific teaching aids«. Schon den hallischen Pietismus und seine Wunderkammer hatte das Konzept des »Realienunterrichts« geprägt. Rajić folgte auch diesem Konzept, verließ aber sozusagen das Klassenzimmer aufgrund fehlender oder nicht genügender Objekte. Grbić analysiert zwei Texte, einen von Charles Messier, einen von Rajić, die die Beobachtung eines Kometen 1769 beschreiben, sowie Jean Pierre Blanchards Ballonflüge und deren Wahrnehmung nach 1784. Dabei arbeitet sie den Zusammenhang zwischen Beobachtung und Beschreibung dieser Phänomene heraus, um zentrale Sachen der Aufklärung (»the attitudes towards miracles and superstition«, »the state-of-the-art ingenuity of the educated and enlightened reason«) zu vergleichen, gerade auch in ihrer Wirkung auf die rezipierende und/oder zu bildende Öffentlichkeit, auf das Publikum. Dies verweist auf den Zusammenhang zwischen Beobachtung und Betrachtung am Modell und am Original. Der Text von Erdmut Jost Wie die Aufklärung Übersicht gewann: Basrelief und Vue d’oiseau zeigt eine doppelte Wandlung der Sehgewohnheiten. Am Beispiel des berühmten Basrelief der Urschweiz des Schweizers Franz Ludwig Pfyffer von Wyher zeigt Jost eine seit der Mitte des Jahrhunderts in Gang befindliche Veränderung der Betrachtung von Landschaften. Es beginnen statt des fokussierten Schauens mit dem Ziel erkenntnisfördernder Effekte nun zunehmend die Übersichten zu dominieren: »Statt um Begrenzung geht es nun um Entgrenzung des Blicks.« Die populäre Reiseliteratur übernahm in diesem Prozess die Rolle der Schulung. Die steigende Nachfrage nach solchen Schulen des Sehens förderte das Entstehen neuer Kunstformen: Panorama, Diorama und Pleorama. In diese Gruppe gehört auch das Basrelief. An der dreidimensionalen Darstellungsform des Landschaftsmodells ließ sich nun die schroffe und unwegsame Natur in freier Sicht überblicken. Jost bezieht die von Stephan Oettermann im Blick auf das Panorama konstatierte »Demokratisierung des Blicks« auch auf das Basrelief. Gleichwohl verweist sie darauf, dass dies nicht das Ende der Geschichte war: Im frühen 19. Jahrhundert änderte sich die Wahrnehmung und Einschätzung des Basrelief. Hermann von Pückler-Muskau betont nun die Unvergleichbarkeit der zu begehenden und zu sehenden Natur mit dem Modell. Die Basreliefs wurden einerseits weiter in Wissenschaft und Pädagogik genutzt, andererseits aber der tatsächliche Landschafts-Überblick als individuelles Seh-Erlebnis bevorzugt. Der Blick vom Schaustück und Lehrmodell wandte sich zurück zum Original.

Dominik Collet (Göttingen) Das Academische Museum der Universität Göttingen (1773–1840). Inszenierung, Naturalisierung und ›Disziplinierung‹ aufgeklärten Wissens

Historische Sammlungen sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten als Orte der Wissensproduktion wiederentdeckt worden. Anstatt als passives Archiv hat man Sammlungen zunehmend als aktiven Forschungsraum interpretiert und dabei auf strukturelle Homologien zwischen Museum und Labor verwiesen. Im Zuge dieser Engführung von Sammeln und Forschen sind nun auch die Universitätssammlungen in den Fokus des Interesses gerückt. Verschiedene Hochschulen haben ihre historischen ›Dinge der Aufklärung‹ daher im Rahmen großer Ausstellungen neu inszeniert – so bei den 600 Jahrfeiern in Leipzig und den 300 Jahrfeiern in Berlin.1 Dieser ›object turn‹ der Wissenschaftsgeschichte kann sich wesentlich auf Aussagen der historischen Akteure selbst stützen. In Göttingen, wo 1773 das erste deutsche Universitätsmuseum gegründet wurde, betonten die Professoren den Bruch mit den älteren ›Raritätenkabinetten‹. Johann Friedrich Blumenbach verkündete, es handele sich im Göttinger Fall um eine »academisch[e] Sammlung, – wo nichts zur Parade sondern alles zum Nutzen« diene.2 Auch Georg Christoph Lichtenberg bemerkte: »Diese älteren Sammlungen hatten doch den Fehler, daß man mehr Seltenheiten als Merkwürdigkeiten der Natur zusammenraffte und dadurch dem Ganzen ein buntschäckiges geschmackloses Ansehen gab [… In Göttingen dient] das akademische Cabinett dagegen nicht zum Prunck, sondern lediglich zum Gebrauch, zur Untersuchung und zum Unterricht […] Göttingen ist die erste Universität in Deutschland, vielleicht in Europa, die mit einem eigentlich akademischen Museum versehen worden, und wir halten uns verpflichtet, von ihm, auch schon als epochemachendem Phänomen [zu sprechen]«.3 Solche programmatischen Abgrenzungen sind im Rückblick oft als Keimzelle einer modernen, objektbasierten Wissensepisteme interpretiert worden. Ein Blick auf die Praktiken der Akteure verweist aber auf die konstitutive Verschränkung neuer Evidenzstrategien sowohl mit älteren Sammlungsformen als auch mit akademischen 1

Jochen Hennig, Udo Andraschke (Hrsg.): Weltwissen. 300 Jahre Wissenschaften in Berlin. München 2010; Claus Deimel u. a. (Hrsg.): Auf der Suche nach Vielfalt. Ethnographie und Geographie in Leipzig. Leipzig 2009; Udo Andrascke, Marion Maria Ruisinger: Die Sammlungen der Universität Erlangen-Nürnberg. Begleitband zur Ausstellung. Nürnberg 2007. 2 Johann Friedrich Blumenbach: Einige Nachrichten vom academischen Museum zu Göttingen. In: Annalen der Braunschweigisch-Lünebürgischen Churlande 1 (1787), S. 84–99. 3 Georg Christoph Lichtenberg: Etwas vom Akademischen Museum in Göttingen. In: Taschenbuch zum Nutzen und Vergnügen fürs Jahr 1779 […]. Göttingen 1778, S. 45–57, hier S. 47 f.

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Traditionen. Neben der Forschung am Objekt diente der Sammlungsraum der Markierung disziplinärer Grenzen, der Selbstvergewisserung der Forscher und der Inszenierung akademischer Gelehrsamkeit. Aus der Perspektive einer neuen Wissenschaftsgeschichte lassen sich historische Sammlungen daher als materielle Kristallisationspunkte von spezifischen historischen Wissenskulturen verstehen. Die Sammlungen stellten Forschern und Fächern kulturelle Kapitalien zu Verfügung, die als Ressourcen wissenschaftlicher Identitätsstiftung genutzt wurden. Die kulturelle Konstruktion fachlicher Grenzziehungen wurde in den Sammlungen anhand von Objekten naturalisiert. Als »disciplinary objects«4 strukturierten und markierten die Exponate Wissensfelder- und praktiken und wurden so selbst zu Akteuren.5 Akademische Sammlungen bilden daher ein einzigartiges Archiv historischer Wissensordnungen der Aufklärung.

Ein »academisches« Museum Die Sammlungen der Georg-August-Universität gehören heute mit über sechs Millionen Objekten zu den größten Deutschlands. Mit ihren Wurzeln im »Academischen Museum« zählen sie zugleich zu den ältesten. Die Universität war 1737 als Ort der Erneuerung akademischen Lernens gegründet worden. Teil des Reformanspruchs war es, neue Fächer ins Curriculum zu integrieren. Viele akademische Disziplinen – Anthropologie, Archäologie, Kunstgeschichte, Musikwissenschaften, Veterinärmedizin oder die Deutsche Philologie – sind daher in Göttingen erstmals als eigenständiges Fach konzipiert worden – ein Prozess, der regelmäßig in enger Verbindung mit den Universitätssammlungen stand und oft genug auch von ihnen inspiriert wurde.6 Lehr- und Forschungssammlungen bildeten von Beginn an einen programmatischen Teil des Göttinger Modells. Neben der zentralen Bibliothek mit ihrem neuartigen Universalsystem war von Beginn an ein universitäres Naturalienkabinett geplant.7 Mit Johann Heinrich Gottlob von Justi war man der Meinung, daß »ein naturalien Cabinet fast unumgänglich nöthig« sei. Debattiert wurde lediglich darü-

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Barbara Kirshenblatt-Gimblett: Reconfiguring Museums. An Afterword. In: Cordula Grewe (Hrsg.): Die Schau des Fremden. Ausstellungskonzepte zwischen Kunst, Kommerz und Wissenschaft. Stuttgart 2006, S. 361–376, hier S. 363. 5 Vgl. Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandoras. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaften. Frankfurt a. M. 2002, S. 7–35. 6 Vgl. dazu Dietrich Hoffmann, Kathrin Maack-Rheinländer (Hrsg.): »Ganz für das Studium angelegt«. Die Museen, Sammlungen und Gärten der Universität Göttingen. Göttingen 2001. 7 Christine Nawa: Sammeln für die Wissenschaft. Das Academische Museum Göttingen (1773–1840). Magisterarbeit Universität Göttingen 2005, S. 41 (http://webdoc.sub.gwdg.de/ master/2010/nawa/nawa.pdf [01.02.2011]).

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ber, ob es eine zentrale und öffentliche »public anstalt« sein solle, oder die privaten Sammlungen der neuberufenen Professoren nicht zielführender waren.8 Der Streit zwischen akademischer Exklusivität einerseits und dem Prestigewert einer öffentlichen Sammlung andererseits wurde erst 1773 entschieden. Zum einen gewährte der Landesherr König Georg III. großzügige Mittel für den Aufbau eines Museums. Zum anderen fand sich mit Johann Friedrich Blumenbach ein Student, der die anfallenden Betreuungsaufgaben »mit Vergnügen unentgeltlich übernahm«.9 Dieses Museum verfolgte von Beginn an ein doppeltes Ziel: Während die Professoren den Nutzen für Forschung und Lehre betonten, sollte es zugleich vermögende Studierende anziehen und das Profil der Universität nach außen schärfen. Zahlreiche Objekte illustrieren diese doppelten Absichten. So bedienten die in Zeitungsartikel prominent herausgestellten Muscheln das Interesse von Sammlern und Virtuosi. Zugleich wies Blumenbach aber darauf hin, dass man keineswegs nur die farbenprächtigen Schalen, sondern zu Forschungszwecken auch die Tiere selbst sammele.10 Gegenüber König Georg betonte er daher zugleich den der Universität aus dem Museum »erwachsende[n] weitere[n] Lustre und den für die Wissenschaften daher zu nehmenden Vortheil«.11 Den mit dem Museum verbundenen Glanz wussten die Professoren eindrucksvoll zu inszenieren: Die Eröffnung der Sammlung wurde 1773 im feierlichem Rahmen des Stiftungsfestes der Universität verkündet.12 Trotz großen Platzmangels stellte man für die Objekte zudem einen zentralen Raum im Hauptgebäude der Universität bereit. Auch der Name der Institution war sorgsam ausgesucht worden. Während man im Vorfeld zunächst von einem Naturalienkabinett gesprochen hatte, benutzte man jetzt konsequent den lateinischen Begriff des ›Museums‹ gekoppelt mit dem Zusatz ›akademisch‹, um es bewusst von den gewöhnlicheren Sammlungen abzuheben.13 Nach außen kommunizierte man die Neueröffnung mit Berichten in den wichtigsten gelehrten Journalen.14 Die Öffentlichkeitsarbeit hatte offenbar großen Erfolg: Zahlreiche Geschenke ließen die Bestände des Museums rasch anwachsen. Zu den bekanntesten zählen der Nachlass Friedrich Armand von Uffenbachs, der wesentlich zur Etablierung

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Ebd., S. 42. Ebd., S. 45. 10 Lichtenberg: Museum, S. 50. 11 Frank William Peter Dougherty (Hrsg.): The Correspondence of Johann Friedrich Blumenbach. Bd. I. Göttingen 2006, S. 2. 12 Göttingische Anzeigen von Gelehrten Sachen 131 (01.11.1773), S. 1113 f. 13 Nawa: Sammeln, S. 56 ff. 14 Vgl. bspw. Lichtenberg: Museum; Blumenbach: Nachrichten; Anon: Nachrichten von Naturaliensammlungen. In: Magazin für das Neueste aus der Physik und Naturgeschichte 4 (1783), S. 167–170. 9

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der Kunstgeschichte als eigenständigen Fach beitrug, sowie die Objekte der Reisen James Cooks, Georg Forsters und des Barons von Asch, die wiederum die Entwicklung der ›Völkerkunde‹ in Göttingen inspirierten.15 Der Zuwachs war so groß, dass die Sammlungen 1793 ein eigenes Museumsgebäude neben der Bibliothek beziehen mussten, wo sie bald fast 50 Räume belegten (Abb. 1).16 Erst nach dem Tod des ersten Museumsdirektors Blumenbach 1840 beschleunigte sich neben dem fachlichen auch der räumliche Prozess der Spezialisierung. Zahlreiche Sammlungen zogen in diejenigen Institute um, deren Gründung sie zuvor befördert hatten. Neuere Sammlungen wie die Museen für Zoologie, Abb 1: Friedrich Doeltz, »Skizze von dem Museum zu Chemie oder Geburtsheilkunde Göttingen«, ca. 1862. Universitätsarchiv Göttingen: wurden erstmals direkt an den Sign. Kur 13 a 49 Plan fol. 43. jeweiligen Unterrichtsgebäuden errichtet – nicht zuletzt deshalb, weil sie disziplinäre Grenzziehungen wirksam zu visualisieren halfen. Diese Entwicklung hat heute vom ›Akademischen Museum‹ zu über 30 separaten Sammlungen geführt.17

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Blumenbach: Nachrichten. Günther Beer: Beitrag zur Baugeschichte des Akademischen Museum 1773 bis 1877 mit drei Gebäudeplänen des Akademischen Museums. In: Museumsbrief (Museum der Göttinger Chemie) 29 (2010), S. 2–20. 17 Vgl. Ulrike Beisiegel, Susanne Ucle-Koeher (Hrsg.); Dinge des Wissens. Die Sammlungen, Museen und Gärten der Universität Göttingen. Göttingen (erscheint 2012). Zur komplizierten Geschichte der Sammlungsteile vgl. Christine Nawa: Zum »öffentlichen Gebrauche« bestimmt. Das Academische Museum Göttingen. In: Göttinger Jahrbuch 58 (2010), S. 23–62. 16

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Sammlung und Soziabilität Für die Universität als Institution waren die akademischen Sammlungen nicht nur als Wissensort, sondern auch als Distinktionsmerkmal bedeutsam. Den Ruf, die führende Hochschule der deutschen Aufklärung zu sein, suchte man auch über die luxuriöse Ausstattung zu befördern. Gerade bei den in Göttingen besonders zahlreichen adeligen Studierenden waren Sammlungen ausgesprochen beliebt. Die Anlage eines akademischen Kabinetts kam dieser finanzkräftigen Gruppe ebenso entgegen wie zuvor schon die Fechtbahn, die Reithalle und der Tanzsaal der Universität.18 Zudem war die Naturgeschichte, wie Blumenbach berichtete, zu einem »allgemeine[n] Lieblingsstudium« und Markenzeichen für Göttingen geworden, sodass eine eigene Sammlung Attraktivität und Profil des Standortes zu erhöhen versprach.19 Akademische Sammlungen besaßen in der dichten Universitätslandschaft des alten Reiches ein wichtiges Distinktionspotential. Die öffentlich-werbende Zugänglichkeit des Museums und seine akademisches Rolle bildeten dabei keinen Widerspruch. So bemerkte ein Studienführer von 1813: »Lobenswerth ist zugleich der hohe Grad von Gemeinnützigkeit dieser vortrefflichen Sammlung von Merkwürdigkeiten aus allen Naturreichen, in dem man von einem angesetzten Aufseher sich das Ganze zu beliebigen Stunden gegen eine kleine Erkenntlichkeit (von 2 Gulden; wofür aber 6 Personen das Vergnügen genießen können) zeigen lassen kann: ungleich größeres Interesse gewährt es allerdings, wenn man Blumenbachs eigene Ansichten und Bemerkungen zugleich hören kann. Dieser geistige Genuß wird seinen jedesmahligen Zuhörern in der Naturgeschichte zu Theil.«20 Schon in Blumenbachs Dienstanweisung – einem seltenen museumspraktischen Dokument – war der »öffentliche« Charakter der Sammlungen festgehalten worden. Neben Studierenden sollten auch »Fremd[e]« und »hiesige Liebhaber« Zutritt erhalten.21 Das Eintrittsgeld sorgte für das gewünschte sozial exklusive Publikum, ohne den Besucherstrom jedoch nennenswert einzuschränken. So dokumentiert ein Besucherbuch, das Christina Nawa ausgewertet hat, über 3000 nicht-studentische Besucher in 10 Jahren, darunter Alexander von Humboldt, Goethe oder Jerôme Bonaparte, den König von Westfalen.22 Die Zusammensetzung der Besucher illustriert, dass das Museum überregionale Ausstrahlung besaß und zahlreiche nicht18

Vgl. Luigi Marino: Praeceptores Germaniae. Göttingen 1770–1820. Göttingen 1995 (Göttinger Universitätsschriften, Serie A, Bd. 10). 19 Blumenbach: Nachrichten, S. 84. 20 [Ludwig Wallis]: Der Göttinger Student oder Bemerkungen, Ratschläge und Belehrungen über Göttingen und das Studentenleben auf der Georgia Augusta. Göttingen 1981 [ND der Ausg. v. 1813 u. 1913], S. 15. 21 Universitätsarchiv Göttingen: Sign. Kur 4 V g 5, fol. 12r–15r. 22 Nawa: Sammeln, S. 135–144

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akademische Besucher, zumeist in Gruppen anzog – darunter viele Frauen, die sonst aus dem Universitätsbetrieb ausgeschlossen waren. Besonders prominent sind auch Offiziere und Militärs der Göttinger Garnison vertreten, die den Besuch offenbar als willkommene Demonstration ihres gesellschaftlichen Status ansahen. Dass nahezu alle Besucher die Sammlung nur ein einziges Mal besuchen, deutet vermutlich darauf hin, dass ihr Interesse weniger dem forschenden Studium als der geselligen Unterhaltung galt. Die Bedeutung von Soziabilität lässt sich auch daran erkennen, wie sehr das Bild der Sammlungen in den erhaltenen Berichten von der Person ihres leitenden Professors geprägt ist. Die Objekte an sich blieben ohne lebendige Erklärung schlicht stumm. Gelehrte Konversation und Geselligkeit waren dabei sicher zwei der Hauptattraktionspunkte für ein breiteres Publikum. Im Zeichen aufgeklärter Geselligkeitskultur erfüllte das Museum gleichsam die Funktion eines Salons, in dem es auf kulturelle Kontakte und kurzweilige Konversation ankam.23 So berichtet etwa Johann Wolfgang von Goethe 1801 von seinem Aufenthalt in Göttingen über die Sternwarte: »Auch Professor Seyffer zeigte mir die Instrumente der Sternwarte mit Gefälligkeit umständlich vor. Mehrere bedeutende Fremde, deren man auf frequentierten Universitäten immer als Gäste zu finden pflegt, lernt’ ich daselbst kennen, und mit jedem Tag vermehrte sich der Reichtum meines Wissens über alles Erwarten.«24 Ein anderer Besucher fasste seinen Tag in Göttingen folgendermaßen zusammen: »Auf der Bibliothec – Die Professoren Reuhs, Beneke, Himly, - Das Naturalien Cabinet – Das neue Observatorium – Professor Schrader – Die Reitbahn – Zurück«.25 Mit der herausgehobenen Rolle einzelner Gelehrter ging die zentrale Rolle der Sammlung in der Erinnerungskultur der Universität einher. Großzügige Spender konnten sich dort einen dauerhaften Platz im Gedächtnis der Nachwelt sichern. Dies galt zuerst für König Georg III., dem man dankbar zusicherte, dass das Museum auf Dauer ein »Denkmal Dero Landesväterlichen Milde« darstellen werde.26 Auch Spendern wie dem Baron von Asch oder Uffenbach gab die Sammlung die Gelegenheit, sich der Nachwelt in Erinnerung zu bringen. Die aus aller Welt stammenden Exponate belegten dabei ebenso die weltumspannenden Netzwerke der edlen Spender wie umgekehrt die der Göttinger Empfänger und Gelehrten. Die verbreitete Personalisierung von Objekten (»von Herrn Leibnitz«, »vom unvergeßlichen Cook«,

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Vgl. Stefan Siemer: Geselligkeit und Methode. Naturgeschichtliches Sammeln im 18. Jahrhundert. Mainz 2004. 24 Wilhelm Ebel: Briefe über Göttingen. Aus den ersten 150 Jahren der Georgia Augusta. Göttingen 1975, S. 60. 25 Thomas Stamm-Kuhlmann (Hrsg.): Karl August von Hardenberg 1750–1822. Tagebücher und autobiographische Aufzeichnungen. München 2000, S. 895. 26 Dougherty: Correspondence, S. 281.

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vom »verdienten Hrn. Prof. Büttner«) setzte diesen Memorialkult bis in Einzelexponate hin fort.27 Es wundert daher kaum, dass die Universität das Museum nicht nur an ihrem Stiftungsfest inaugurierte, sondern bald auch ihre Jubiläen mit dessen Hilfe inszenierte und die Sammlung eine zentrale Rolle bei der »Säcular-Feier« der Gründung 1837 spielte.28

Objekte als Zeugen Blumenbach und Lichtenberg betonten allerdings immer wieder, dass das Museum seine eigentliche Bestimmung in Unterricht und Forschung habe. Einige von Blumenbach extra für Demonstrationszwecke angefertigte Kopien ethnographischer Stücke belegen eine solche Nutzung. Wie die Lehre am Objekt von statten ging, zeigt das Beispiel Hermann Ludwig Heerens (1760–1842), der ab 1803 regelmäßig eine mehrstündige Vorlesung wie folgt ankündigte: »Allgemeine Länder- und Völkerkunde […] trägt Hr. Prof. Heeren um 6 Uhr M. vor, u. erläutert alles durch einen reichen Vorrath der beßten und neuesten Karten, die er seinen Zuhörern vorlegen wird, und, was die Kleidungen, Waffen, Geräthe der entfernten Völker betrifft, durch die ethnographische Sammlung in dem königl. Museum.«29 Allerdings zeigen die Akten des Museums auch, dass Heeren über lange Jahre wohl der einzige Professor neben Blumenbach blieb, der die Objekte tatsächlich im Unterricht einsetzte. Weitere Entleihungsgesuche, wie sie von Heeren vorliegen, sind nicht belegt. Ähnlich dünn sind die Belege für den Bereich, der heute besondere Aufmerksamkeit genießt: die Forschung am Objekt. Obwohl die Göttinger Professoren ausgesprochen gerne publizierten, finden sich Hinweise darauf äußerst selten. Schon die Auswahl der Objekte stellte ein Problem dar. Das Museum verfügte bis 1837 über keinerlei eigenen Etat. Exponate erhielt man daher nahezu ausschließlich über das florierende Geschenkwesen, das auch in den nicht-akademischen Sammlungen eine große Rolle spielte. Die Zusammensetzung der ›Cook-Sammlung‹ orientierte sich daher weniger an den Interessen der Göttinger Gelehrten, als an den Vorlieben der Seeleute, die sie gesammelt hatten, den Vorstellungen des vermittelnden Raritätenhändlers Humphreys und dem imperialen Anspruch des königlichen Stifters. Der Schweizer Student Greyerz bemerkte denn auch, im Museum befänden sich: »[e]ine Menge Götzen von abscheulichen Verzerrungen des Körpers und der größten 27

Blumenbach: Nachrichten, S. 87; Lichtenberg: Museum, S. 48, 52. Hans Plischke: Die ethnographische Sammlung der Universität Göttingen. Ihre Geschichte und Bedeutung. Göttingen 1937, S. 33. 29 Vgl. Urban: Sammlung, S. 95. 28

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Geschmacklosigkeit. Viele Amphibien, eine Menge menschlicher Embryonen, von Negern etc. […] eine wohlbehaltene Mumie […] was man in jeder Kunstsammlung etwa findet.«30 Der Hauslehrer Karl Gottlob Küttner notierte 1797: »Auch hier stieß ich wieder auf einen Vorrath von Kleidern und Lumpen des Südmeeres […]. Fast ist es mir lästig, Dinge der nehmlichen Art immer wieder und wieder zu sehen, weil die Aufseher nicht begreifen können, warum man so vorüber eilt«.31 Auch Blumenbach musste zugeben, dass man den Großteil der Exponate »auch aus einer Kunstkammer nehmen könnt[e]«.32 Schwerwiegender wog aber die miserable Dokumentation der Objekte. Zumeist erfuhr man wenig mehr als Namen und einen vagen Herkunftsort. Für die weitere Einordnung war man dann auf genau die Texte angewiesen, die man eigentlich hatte überprüfen wollen. Tatsächlich scheint die ägyptische Mumie der Sammlung das einzige Objekt zu sein, dass einer demonstrativ gründlichen Untersuchung unterzogen wurde. Allerdings dürfte diese einmalige Aktion sicher ebenso sehr auf den besonderen Status des königlichen Spenders – König Christian VII. von Dänemark – zurückzuführen sein, wie auf die Tatsache, dass die Göttinger Forscher dieses mythenumwobene Objekt königlicher Patronage dadurch gleichsam ›akademisieren‹ wollten. Neue Erkenntnisse konnten die Gelehrten aber auch in diesem Fall aufgrund der lückenhaften Dokumentation und mangelnder Vergleichsmöglichkeiten nicht erlangen.33 Vielmehr scheint die Sammlung vor allem als ›Zeuge‹ gedient zu haben. Sie visualisierte bereits zuvor oder anderswo erlangte Ergebnisse. So ließ Blumenbach ab 1784 dutzende Schädel anschaffen, an denen er seine Studien zur physischen Anthropologie illustrierte – Studien, die er allerdings lange vor der Entstehung der Sammlung durchgeführt hatte.34 Wenn der Beitrag des Museums zur Forschung zunächst gering blieb, so eignete den Sammlungen doch eine besondere Dynamik im Prozess disziplinärer Ausdifferenzierung. Die Auseinandersetzung mit der Cook/Forster-Sammlung inspirierte den gelernten Mediziner Blumenbach dazu, die Völkerkunde so grundlegend zu sy30 Wolfgang Gresky (Hrsg.): »Eine Göttingen-Schilderung vom Mai 1799. Ein Brief des Schweizer Studenten Gottlieb von Greyerz«. In: Göttinger Jahrbuch 1982, S. 181–199, hier S. 197 f. 31 Nadine Plesker: Das Königlich Akademische Museum in Göttingen. In: Bénédicte Savoy (Hg.): Tempel der Kunst. Die Geburt des öffentlichen Museums in Deutschland 1701–1815. Mainz 2006, S. 476–483, hier S. 482. 32 Blumenbach: Nachrichten, S. 87. 33 Vgl. die Dokumentation der Untersuchungen in: Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 123 (08.10.1781), S. 985–992. 34 Vgl. Johann Friedrich Blumenbach: De Generis Humani Varietate […]. Göttingen 1776; sowie Thomas Nutz: »Varietäten des Menschengeschlechts«. Die Wissenschaften vom Menschen in der Zeit der Aufklärung. Köln u. a. 2009, S. 260 f.

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stematisieren, dass daraus bald ein eigener Fachbereich entstand. Später beförderte die Kunstsammlung, dass in Göttingen »zum ersten Mal an einer deutschen Universität« die Kunstwissenschaft zur akademischen Disziplin erhoben wurde. Ähnlich enge Verbindungen finden sich auch zwischen dem Entstehen des Diplomatischen Apparats oder den Historischen Hilfswissenschaften und ihren Sammlungsobjekten.35

Die Polyvalenz universitärer Sammlungen Angesichts dieses Befundes erscheint die eingangs skizzierte Reduktion akademischer Sammlungen auf ihre Funktion als Labor als unzulässige Verengung. Die Praktiken der Akteure gingen weit über experimentelle Verfahren hinaus. Die Sammlung hielt weit verstreutes Material lokal verfügbar, dokumentierte Forschungsergebnisse vor respektablen Zeugen und machte Lehrwissen am Objekt nachvollziehbar. Ihre Visualisierung theoretischer Wissensbestände erreichte auch nicht-akademische Betrachter, inszenierte universitäre Gelehrsamkeit sowie gelehrte Netzwerke für ein breites Publikum und half über ›disciplinary objects‹ Fachgrenzen zu markieren. Es war gerade die Polyvalenz dieser Räume als Magazin, als Archiv, als Hörsaal, als Salon und als ›Wissenstheater‹, die ihre Popularität, ihre ungeheure Dynamik und rasche Verbreitung begründete. Die akademische Sammlung verdeutlicht daher, wie sehr Wissensbestände erst als soziale Praxis Gültigkeit erlangen. Erst über die Inszenierung von Evidenz am materiellen ›Zeugen‹ konnte akademisches Wissen zwischen Lehrern und Schülern, Sammlern und Besuchern, Kuratoren und Amateuren zirkulieren. Zudem zeigt sich, dass die besondere Attraktivität akademischer Sammlungen gerade nicht im Bruch mit Vorgängerformen begründet lag, sondern in der spannungsvollen Synthese älterer und neuerer Sammlungsformen sowie akademischer und außerakademischer Traditionen. Anders als die Privatsammlungen erschloss sich das Universitätsmuseum so eine große Bandbreite von Gönnern, Mäzenen, Unterstützern und Nutzern sowie ein breites Spektrum an Sammlungsgebieten – eine Ausweitung, die für seine rasche Akkumulation ausschlaggebend war. Die moderne Vorstellung eines weitgehend entkörperlichten Wissens hat die Interpretation vom Museum als ortlosem ›Labor‹ populär gemacht. Ein Blick auf die Praxis der Sammlungen verweist dagegen auf die Materialität von Wissen sowie seine kontingente Verflechtung mit der akademischen Lebenswelt und bietet gerade deshalb eine wertvolle Quelle für eine interdisziplinäre Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte.

35

Plesker: Museum, S. 269 u. S. 273; sowie Nawa: Zum öffentlichen Gebrauche, S. 55.

Andrea Linnebach (Kassel) Das Museum der Aufklärung und sein Publikum – »Raritätenkram für jeden Narren«? Zum Besucherbuch von Kunsthaus und Museum Fridericianum in Kassel 1769–1796

Abb. 1: Friedrichsplatz in Kassel, Kupferstich von J. W. Kobold, 1789 (Stadtmuseum Kassel). Die Ansicht zeigt die beiden Museumsgebäude, in denen das Besucherbuch auslag: im Zentrum das Museum Fridericianum mit dem als Sternwarte integrierten mittelalterlichen Zwehrenturm, rechts davon das alte Kunsthaus/Ottoneum mit der Kuppel des Observatoriums (Foto: Stadtmuseum Kassel).

Im März 1775 war am Kasseler Kunsthaus im Ottoneum eine Stelle neu zu besetzen (Abb. 1). In diesem ursprünglich als Theater errichteten Gebäude befand sich seit 1696 die landgräfliche Sammlung von Naturalien, Kunstobjekten und wissenschaftlichen Instrumenten. Ab 1709 war hier auch das Collegium Carolinum untergebracht, das, als neue Form von Hochschule konzipiert, vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch Professoren wie Soemmering, Georg Forster oder Johannes von Müller ein ausgezeichnetes Renomee besaß. Durch die Angliederung des Collegiums an das Kunsthaus erscheint dieses von nun an als eine Sonderform des

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akademischen Museums – denn die über Jahrhunderte gewachsenen Sammlungen wurden von den Professoren betreut, erweitert, arrangiert und zu Lehr- und Forschungszwecken genutzt. Der jeweilige Kustos der Sammlungen war also zugleich Professor am Collegium Carolinum – seit 1767 Rudolf Erich Raspe, später Autor der Münchhausen-Abenteuer. Raspe war als Museumsmann höchst aktiv und innovativ. So erstellte er z. B. einen wissenschaftlich vorbildlichen Katalog der rund 16.000 antiken und neuzeitlichen Münzen. Hätte er dies nicht so sorgfältig getan, hätte man ihm freilich nie nachweisen können, dass er sich gerade an diesen Münzen vergriffen hatte. Sein Diebstahl flog 1775 auf, er musste aus Kassel fliehen – und seine Stelle war nun also vakant. Für Raspes Nachfolge interessierte sich u. a. Johann Heinrich Merck von Darmstadt aus, dem Herder jedoch mit folgenden Worten abriet: »Wie glüklich sind Sie hier, so ganz von Ihrer Zeit zu disponiren, gegen die Stelle eines Kunst-Inspectors in C. wie Raspe hatte – der jedem Narren den ganzen Tag zum Vorzeigen seines Raritäten Krams bereit seyn mußte.«1 Herder selbst war zu diesem Zeitpunkt nachweislich mindestens zweimal von seinem Freund Raspe durch das Kunsthaus geführt worden – konnte also aus Erfahrung sprechen. Der Beleg findet sich in dem hier ausliegenden Besucherbuch2. Bei seinem ersten Besuch im Juli 1770 erscheint Herders Name inmitten der Reisegruppe des jungen Prinzen Peter Friedrich von Holstein-Gottorf, beim zweiten Besuch im Mai 1773 in Gesellschaft seiner frisch angetrauten Gemahlin Caroline, von Dorothea von Beschefer und »Madame Raspe«. Schließt man aus, dass Herder sich selbst und seine Begleitung zu den »Narren« zählte, könnte seine spöttische Bemerkung auf eine Gruppe gezielt haben, die 1773 mit ihnen zusammen, nämlich direkt zwischen Raspes und Herders Gemahlin, eingetragen ist: »etliche Kaufleute aus Braunschweig« (Abb. 2). Diese dürften wohl nicht zu dem gelehrten Publikum gezählt haben, das Herder hier erwartete oder wünschte. Doch schaut man sich weitere Einträge an, wird ersichtlich, dass Herder kaum Grund hatte, sich über das mangelnde Niveau des Publikums zu beklagen: so finden sich auf der Doppelseite mit seinem Namenszug z. B. rund 20 Studenten aus Göttingen, der Erbprinz von Hessen-Darmstadt, die Brüder Leonhart (Schwager von Gottfried August Bürger), Prinz Gallitzin oder der Hamburger Senator Frans Doormann.

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Merck an Höpfner. In: Johann Heinrich Merck: Briefwechsel, hrsg. v. Ulrike Leuschner, Bd. 1. Göttingen 2007, S. 577; zu Raspe vgl. Andrea Linnebach (Hrsg.): Der Münchhausen-Autor Rudolf Erich Raspe: Wissenschaft – Kunst – Abenteuer. Kassel 2005. 2 Die Verfasserin bearbeitet die seit März 2009 von der DFG geförderte wissenschaftliche Edition des Besucherbuchs (Leitung: Renate Dürr, Universität Tübingen). Das Buch befindet sich in der Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Kassel, Landes- und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, Signatur 20 Ms. Hass. 241.

Das »Museum der Aufklärung« und sein Publikum

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Abb. 2: Seite 62 des Besucherbuchs mit den Namen von Herder und seinen Begleiterinnen sowie u. a. von Erbprinz Ludwig von Hessen-Darmstadt, Frans Doormann sowie den Brüdern Leonhart (Foto: Universitätsbibliothek Kassel)

Diese wären also gewissermaßen die »Narren«, die Raspe durch die Sammlung zu führen hatte. Nun zum »Raritätenkram«. Im Kunsthaus waren zu dieser Zeit im Erdgeschoss die Skulpturen- und Mineralienzimmer, im ersten Stock Räume für Gemmen, Uhren, physikalische, optische und mathematische Instrumente, im zweiten Stock die »naturalia« sowie, einer zeitgenössischen Beschreibung gemäß, »Zimmer worinnen ausgestopfte Thiere, alte Kleidertrachten, Gläser und Gewehr, auch musicalische Instrumente aufbewahret werden.«3 Unter der Kuppel befanden sich schließlich die Anatomiekammer und die Sternwarte, deren Laterne von Landgraf Karl (1677–1730) mit einem hochmodernen, auf Denis Papins Experimenten fußenden »Luftstuhl« (pneumatischer Aufzug) ausgestattet worden war.4 Die Besucher betraten also Räume, die zwar eine Separierung nach Materialien und Gattungen erkennen lassen, in der dichtgedrängten Zusammenschau von Objekten unterschiedlichster 3

Friedrich Christoph Schmincke: Versuch einer genauen und umständlichen Beschreibung der Hochfürstl-Hessischen Residenz- und Hauptstadt Cassel…. Cassel 1767, S. 187. 4 Rudolf Hallo: Die Sternwarten Kassels in hessischer Zeit. Kassel 1929, S. 17.

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Zeiten, Herkunft und Funktion aber den Charakter traditioneller Raritätenkammern besaßen. So waren im Zimmer für »geschnittene Steine« u. a. auch Goldschmiedearbeiten, Götterfiguren aus Mexiko und Ägypten, Gemälde aus Herculaneum, der »Zwerg des Königs Stanislaus von Polen« in Wachs und ein Augsburger Teeservice ausgestellt. Herders ironische Abwertung der Objekte als »Raritätenkram« konnte sich nur auf diese Präsentation der Sachen beziehen. Denn die tatsächliche Qualität vieler Exponate muss auch für ihn außer Zweifel gestanden haben. Exemplarisch genannt seien der weltweit älteste Dampfdruckzylinder von Denis Papin, die automatischen Himmelsgloben von Jost Bürgi, Dürers »Elsbeth Tucher« oder die kostbare, im alten Inventar »Erde von Indien« genannte Seladon-Schale, die als das frühste ostasiatische Porzellan in europäischem Besitz gilt.5 In Herders Diktum vom Kasseler »Raritätenkram«, den der »Kunst-Inspector« Raspe jedermann den ganzen Tag vorzeigen musste, artikuliert sich, so lässt sich vorläufig resümieren, weniger ein Qualitätsurteil über die Sachen an sich, sondern der kritisch-distanzierte Blick der Aufklärungszeit auf die vermeintliche Un-Ordnung dieser Sachen in einer fürstlichen Kunstkammer, verbunden zugleich mit der Kritik an der entsprechenden Rolle des Kustos als eines stets zu Diensten stehenden Handlangers fürstlicher Repräsentation. Doch hatte gerade Raspe sich für eine allgemeine Zugänglichkeit des Museums als einer »Sache der Aufklärung« selbst eingesetzt6 und zugleich Konsequenzen für die Präsentation der Objekte mit bedacht. So machte er Landgraf Friedrich 1768 den Vorschlag zur Anlage eines neuen Kabinetts, das der Unkenntnis und Geringschätzung des deutschen Mittelalters abhelfen sollte. Sein Konzept eines »gothischen oder alt-Teutschen Antiquitäten-Cabinetts«7 umfasste inhaltliche Begründung, Exponatliste, Kostenkalkulation, Ausstellungsarchitektur (die Wände sollten mit »gothischer Architectur en detrempe bemahlt« werden) und Adressaten – nämlich all diejenigen, die sich vorurteilsfrei mit dieser Epoche auseinandersetzen möchten. Unter dem Blickwinkel einer geschichtsdidaktischen Neugliederung war Raspe Raum für Raum im Kunsthaus auf der Suche nach geeigneten Objekten abgeschritten und dabei zu einer durchaus repräsentativen Gotik-Schau gelangt: Altarbilder und Reliquienbehälter zählten ebenso dazu wie Pokale, Waffen, die alten fürstlichen Kleider oder auch die genannte Seladonschale mit ihrer spätgotischen Fassung. 5

Diese Objekte sind heute verteilt auf verschiedene Abteilungen der Museumslandschaft Hessen-Kassel (Astronomisch-physikalisches Kabinett, Gemäldegalerie Alte Meister, Kunsthandwerk und Plastik). 6 Zur Entstehungsgeschichte des öffentlichen Museums im 18. Jh. vgl. Tempel der Kunst. Die Geburt des öffentlichen Museums in Deutschland 1701–1815, hrsg. v. Bénédicte Savoy. Mainz 2006. 7 Vgl. dazu ausführlich Andrea Linnebach: Die Gotik im Museum der Aufklärung – Raspes Aufbruch zu einer modernen Kunst- und Kulturgeschichte. In: Dies.: Raspe, S. 82–97.

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Dieser Plan ist hier vor allem aus folgenden Gesichtspunkten bedeutend: 1. Zum ersten Mal in der Geschichte des Sammelns wird ein größerer Komplex unterschiedlicher Objekte unter einem historischen Bezugssystem zusammengefasst. Bisher übliche Ordnungsprinzipien nach Material, Gattung oder Kostbarkeit werden darin vollständig aufgelöst. Es erscheint hier die Idee eines historischen Museums, wie es erst Generationen später verwirklicht wurde. 2. Der fürstliche Privatbesitz wird zum Bestandteil einer gemeinsamen nationalen Geschichte. Mit der expliziten Ausrichtung auf ein breites Publikum und dem damit verbundenen aufklärerisch-pädagogischen Anspruch verwandelt sich die fürstliche Sammlung in eine öffentliche Bildungsanstalt – in das Museum der Aufklärung. Das »Gotische Kabinett« wurde jedoch aus verschiedenen Gründen nicht realisiert. Immerhin konnte Raspe aber eine neue Besucherordnung des Kunsthauses anstoßen, die nun die Öffnung für tatsächlich »jedermann« vorsah, sowie die Anlage des Besucherbuchs. Dass dieses Bildungsangebot tatsächlich angenommen wurde, zeigt bereits die erste Seite vom August 1769: ganz oben stehen hier in Raspes eigener Handschrift ein Apotheker mit Gehilfe, eine jüdische Familie aus Rodenberg, ein Maurermeister aus Kassel sowie eine Arztfamilie aus Eschwege. Genau zehn Jahre später wurde mit der Eröffnung des Museum Fridericianum als erstem für die allgemeine Öffentlichkeit geschaffenen selbständigen Museumsneubau ein Meilenstein in der Museumsgeschichte gesetzt.8 Unmittelbarer Anlass für den Bau war die Raumnot sowohl im Kunsthaus als auch in der bisher im Marstall untergebrachten fürstlichen Bibliothek, die beide hier nun zusammengeführt wurden. Vom Kunsthaus beibehalten blieb die universale Ausrichtung, wobei nun eine klare Aufteilung in die Wissensbereiche Altertümer, Naturalia, Naturwissenschaften und Technik erfolgte. Wenn auch bei den Altertümern eine konsequente Gliederung unter kulturhistorischer Fragestellung, wie sie Raspe angedacht hatte, unterblieb, so kam das Museum mit der Bibliothek im Zentrum doch seiner Idealvorstellung eines »Lernortes« für ein breites Publikum entgegen – mit sehr großzügigen Besuchsmodalitäten: jedermann konnte nun unangemeldet und zeitlich unbefristet sich frei innerhalb der Öffnungszeiten9 im Museum bewegen. Zum Vergleich: Das als Vorbild des Kasseler Museums geltende British Museum regelte den Besucherzustrom alles andere 8

Vgl. Karl-Hermann Wegner: Gründung und Einrichtung des Museum Fridericianum in Kassel. Seine Bedeutung für die Kulturgeschichte der Aufklärung. In: Hessische Heimat 27/4 (1977), S. 154–164; Christoph Becker: Vom Raritätenkabinett zur Sammlung als Institution. Sammeln und Ordnen im Zeitalter der Aufklärung. Egelsbach u. a. 1996, S. 131–173; Julia Vercamer: Das Museum Fridericianum in Kassel. In: Savoy: Tempel der Kunst, S. 309–331, 503–528. 9 Die Öffnungszeiten variierten, waren aber zumeist täglich 9–13 und 15–18 Uhr, mit Ausnahme der Feiertage, vgl. Die Landesbibliothek Kassel 1580–1930, hrsg. v. Wilhelm Hopf. Marburg 1930, S. 54.

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als kommod: mit einem Ticketsystem musste hier der auf maximal zwei Stunden beschränkte Besuch mehrere Tage im Voraus gruppenweise festgelegt werden.10 Das ursprünglich für das Kunsthaus angelegte Besucherbuch wurde im Museum Fridericianum weitergeführt und verzeichnete von nun an, da die Bibliothek mit ihren nun rund 40.000 Bänden den ersten Stock des neuen Gebäudes einnahm, die Besucher von Sammlungen und Bibliothek. Indem es sowohl die Besucher des alten Kunsthauses umfasst als auch diejenigen des neuen Museums, inklusive einer der ersten modernen Gebrauchsbibliotheken in Deutschland,11 ist es eines der bedeutendsten Exemplare unter den erhaltenen Besucherbüchern des 18. Jahrhunderts. Auf 449 Seiten haben sich rund 14.000 Besucher eingetragen, der Name oft ergänzt um Angaben zu Beruf und Herkunftsort. Über dieses Buch als einer insgesamt wichtigen Quelle für die Aufklärungsforschung12 lassen sich sowohl Erkenntnisse zur Besucherstruktur des Museums als auch zu den Besuchern selbst gewinnen. So kann man Daten ermitteln zur Verteilung der Besuchergruppen nach Stand, Geschlecht, Religion, Beruf oder Studienfach sowie auch zu Veränderungen im Besucherzustrom, etwa im historischen Kontext (z. B. zum »Soldatenhandel« unter Landgraf Friedrich oder zur Migration infolge der Französischen Revolution). Es lassen sich Fakten zum Reiseverhalten unterschiedlicher Personengruppen gewinnen, zu entstehenden oder vorhandenen Gelehrtennetzwerken (wer traf sich oder reiste wann mit wem?), sowie allgemein zur geographischen Mobilität. Die Besucher kamen aus ganz Europa, aus Nord- und Südamerika, dem Osmanischen Reich oder aus Asien (wenn es sich auch bei dem Eintrag von »Heinrich Friedrich Graf von Camtschatka, Land-Comtur auf Nova Zembla«, im Mai 1785 um einen Scherz handeln dürfte!). Und sie konnten hier selbst wiederum Objekte betrachten, die aus unterschiedlichen Zeit- und Kulturräumen stammten. Das Besucherbuch erweist sich so als aufschlussreiche Quelle für die Kultur- und Wissenszirkulation im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Vor 60 Jahren wurden in einer Auswahl bereits einige bekannte Namen identifiziert,13 und in der Tat liest sich das Besucherbuch stellenweise wie ein Who is who? der Goethezeit: man findet darin Einträge von Humboldt, Lichtenberg, Ni10 Vgl. die Hinweise in: The General Contents of the British Museum: with Remarks. Serving as a Directory In Viewing that Noble Cabinet. London 21762, S. XXII f. 11 Hans Jürgen Kahlfuß: Die »große fürstliche Bibliothek zu Cassel«. In: Ausstell.-Kat. Aufklärung und Klassizismus in Hessen-Kassel unter Landgraf Friedrich II. 1760–1785. Kassel 1979, S. 141–149, hier S. 148. 12 Der besondere Quellenwert von Besucherbüchern wurde bereits früh erkannt, vgl. Eduard von Feuchtersleben: Ueber Fremdenbücher. In: Archiv für Geschichte, Statistik, Literatur und Kunst 15 (1824), Nr. 151 (17.12.1824), S. 813–816 (freundlicher Hinweis von Dirk Sangmeister, Nikosia). 13 Hans Vogel: Die Besucherbücher der Museen und der fürstlichen Bibliothek in Kassel zur Goethezeit. In: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde (ZHG) 67 (1956), S. 149–163.

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colai, Lavater, Alessandro Volta, Thomas Bruce, William Hamilton, Sophie LaRoche oder Goethe, diesen gleich dreimal. Doch von vielen bedeutenden Persönlichkeiten wusste man bislang nicht, dass sie Kassel und das Museum besucht hatten: in einer bunten Reihe seien hier stellvertretend genannt der Botaniker Jean-Baptiste Lamarck, in Begleitung von Buffon junior, der Fürstbischof von Osnabrück Prinz Frederick August von Großbritannien, der Anatom Petrus Camper, Fürstin Isabela Czartoryski, Gründerin des polnischen Nationalmuseums, Gustav III. von Schweden als Kronprinz, Staatskanzler von Metternich als 13-Jähriger, der Bildhauer JeanBaptiste Pigalle oder der Gründer der Ungarischen Nationalbibliothek, Ferenc Graf Széchényi. Doch neben diesem illustren Kreis aus Adligen und Gelehrten, für die das Besucherbuch neue biographische Daten liefern kann, zog, wie bereits erwähnt, auch schon das Kunsthaus ein ausgesprochen breites Publikum an: es finden sich Einträge von Köchen und Friseuren, einfachen Soldaten oder Schauspielerinnen. Gerade für Frauen spielte das Museum offensichtlich eine zunehmend wichtige Rolle als Erfahrungsraum, wie die zahlreichen Frauennamen vor allem nach Eröffnung des Museum Fridericianum zeigen. Denn hier bestanden – im Unterschied etwa zu den Gelehrtengesellschaften – keine Zugangsbeschränkungen. Von rund 8 Prozent weiblicher Besucher im Kunsthaus stieg der Anteil im Museum Fridericianum auf 10 bis 15 Prozent an, oft in der Begleitung von Kindern, so dass wir hiermit auch zahlreiche Beispiele für Museumspädagogik avant la lettre haben. Gerade Kinder von Kaufleuten finden sich hier besonders zahlreich, so z. B. der achtjährige Adriaan van der Hoop, später einer der bedeutendsten Kunstsammler und –stifter Amsterdams, der zusammen mit Mutter und Schwestern im Juli 1786 das Museum besuchte. Dieses breite Besucherspektrum belegt, in welcher Weise sich der öffentliche Raum im 18. Jahrhundert veränderte: mit einer solchen Institution stand nun auch der Raum für Wissenschaft und Kunsterlebnis allen Interessierten offen. Gerade das Museum Fridericianum mit seiner dezidiert sowohl wissenschaftlichen wie bildungspolitischen Ausrichtung zeigt über sein Besucherbuch vorzüglich, dass entgegen den bisherigen Studien zur Wissenspopularisierung mit ihrer Konzentration auf das Massenpublikum des 19. Jahrhunderts14 die Wurzeln dieses Prozesses ins 18. Jahrhundert zurückreichen. Das Besucherbuch erhellt die Funktion des Kasseler Museums als »Wissensraum«, seine Wirkung im europäischen Gelehrtennetzwerk wie in der allgemeinen Bildungsgeschichte. Darüber hinaus wird anhand des Museumspublikums auch insgesamt die Bedeutung Kassels als eines bislang gegenüber den Zentren Berlin, Halle oder Göttingen noch schwer zu fassenden Orts der Aufklärung klarer erkennbar. 14

Vgl. z. B. Carsten Kretschmann: Räume öffnen sich. Naturhistorische Museen im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Berlin 2006 (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 12).

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Aus der Vielfalt der Besucher seien einige wenige Beispiele herausgegriffen. Einen besonders hohen Anteil, nämlich rund ein Drittel, nehmen Studenten und Professoren ein, häufig in Gruppen aus dem nahen Göttingen kommend: z. B. der Göttinger Physik-Professor Erxleben mit zehn Studenten (Mai 1774) oder der Philosophie-Professor Meiners mit ca. vierzig Studenten (Mai 1776) – Hinweise auf eine noch wenig erforschte Lehrpraxis, haben doch diese Reisen den Charakter gezielter Studienexkursionen. Für die weniger fürstlich-repräsentative als wissenschaftlich-pädagogische Ausrichtung des Kassler Museums spricht deutlich auch der Vermerk im Besucherbuch am Tag seiner Eröffnung: »Das neu erbaute Museum Fridericianum wurde zum erstenmahl den 23.tag May 1779 verschiednen Fremde von Göttingen vorgezeiget.«15 Waren Kassel und Göttingen als Standorte von Wissenschafts- und Kultureinrichtungen zwar sehr unterschiedlich geprägt, so zeigt doch die im Besucherbuch dokumentierte Verflechtung, dass hier von einer gemeinsamen, die Grenze der Reichskreise überschreitenden »Bildungslandschaft« gesprochen werden kann. Als Beispiel für den Wissenstransfer durch Reisen und den Besuch von Sammlungen mögen auch speziell die zahlreichen Einträge von Medizinern und Medizinstudenten dienen, darunter auffällig viele Fachleute der Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Dies resultierte sicherlich zunächst aus dem Renommee der medizinischen Fakultät am Kasseler Collegium Carolinum mit sechs Professoren (in Marburg lehrten zu dieser Zeit dagegen nur zwei Medizinprofessoren)16 und insbesondere des Mediziners Georg Wilhelm Stein sowie des von ihm geleiteten, überregional bedeutenden Accouchierhauses.17 Doch verknüpfte man den Austausch mit den Kasseler Kollegen offensichtlich gern mit einem Besuch des Museums, in dem bis zur Ausgliederung der Anatomie 1779 ja auch anatomische Präparate und medizinische Instrumente zu sehen waren. Die Vorzüge einer solchen geselligen Forschungspraxis artikulierte Soemmering im Juni 1788 rückblickend in einem Brief an Georg Forster, der 1779 bis 1784 als Professor für Naturgeschichte zugleich Kustos des Naturalienkabinetts im Museum Fridericianum war, in der Bemerkung, dass die »durchgehenden Fremden […] unsere Wonne in Cassel«18 darstellten. 15

Universitätsbibliothek Kassel, Sign. 20 Ms. Hass. 241, S. 130. Vgl. Eberhard Mey: Die Medizinische Fakultät des Collegium Carolinum, 1709–1791. In: Samuel Thomas Soemmering in Kassel 1779–1784, hrsg. v. Manfred Wenzel. Stuttgart u. a. 1994, S. 25–73. 17 Verwiesen sei auf die Einträge von F. B. Osiander, D. Ch. E. Berdot, J. H. Fischer, Ch. F. Siemerling oder J. F. Weissenborn, die auch als Hebammenlehrer und Gründer von Hebammenschulen tätig waren; zur Bedeutung der Kasseler Accouchieranstalt im Rahmen der Entwicklung der akademischen Geburtshilfe in Deutschland siehe Die Entstehung der Geburtsklinik in Deutschland 1751–1850, Göttingen, Kassel, Braunschweig, hrsg. v. Jürgen Schlumbohm, Claudia Wiesemann. Göttingen 2004. 18 Zit. nach Eberhard Mey: Forster als Aufseher des Kasseler Naturalienkabinetts. In: GeorgForster-Studien 3 (1999), S. 19–34, hier S. 25. 16

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Ähnlich dürfte der Kasseler Astronom Johann Matthias Matsko gedacht haben, als er, wie im Besucherbuch dokumentiert, im August 1770 den kurpfälzischen Hofastronomen Christian Mayer SJ auf der Rückreise von dessen Forschungsexpedition nach St. Petersburg durch das Kunsthaus führte. Dieser Besuch hatte unmittelbar Folgen: Matsko schlug Landgraf Friedrich nämlich kurz darauf die Wiedereinrichtung der Sternwarte im mittelalterlichen Zwehrenturm vor, der in dieser Funktion später tatsächlich in das Museum Fridericianum intergriert wurde (Abb. 1). Im Gegenzug ähnelt wiederum der von Mayer ab 1772 betriebene Neubau der Mannheimer Sternwarte so offensichtlich dem alten Kasseler Turm, dass hier von einem gegenseitig fruchtbaren Gedankenaustausch gesprochen werden kann.19

Abb. 3: Schweppes Tonic Water, mit dem Hinweis »1783« auf dem Firmenetikett

Zur Ehrenrettung der von Herder skeptisch beäugten Kaufleute sei auch diese tatsächlich zahlreich vertretene Besuchergruppe erwähnt. Wie fließend hier freilich die Grenze zwischen Kenner und staunendem »Narren«, zwischen Gelehrten und Laien, sein konnte, zeigt ein Besucher im Juli 1771, dessen Erfindung auch heute noch – im wahrsten Sinne des Wortes – in aller Munde ist. Es handelt sich um den aus Witzenhausen bei Kassel stammenden Jakob Schweppe, der, zum Goldschmied ausgebildet, zu dieser Zeit bereits in Genf ansässig war – und hier außer Schmuckhandel 19

Andrea Linnebach: Das Besucherbuch von Kunsthaus und Museum Fridericianum in Kassel, 1769–1796. Ein Editionsprojekt der DFG. In: ZHG 2009, S. 161–176, hier S. 170 f.

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hauptsächlich Experimente betrieb. Vor allem aus naturwissenschaftlichem Interesse dürfte er das Kunsthaus besucht haben – waren hier doch zahlreiche Geräte wie Vakuumpumpen, Dampftöpfe sowie mehrere Wasserapparate zu besichtigen, darunter die sog. »Hessische Maschine«, d. i. der Papinsche »Rotatilis suctor et pressor«20. Schweppe entdeckte schließlich ein Verfahren, mittels einer Kompressionspumpe Wasser mit Kohlendioxid zu versetzen. Im Jahr 1783 patentiert (Abb. 3), vertrieb er dieses Getränk später erfolgreich in London und schuf hiermit die älteste Mineralwassermarke der Welt.21 Der unmittelbare Umgang der Wissenschaftler mit den Sachen, wie er in den privaten Kunstkammern möglich war, wurde mit der Präsentation der Objekte in öffentlichen Schauräumen zwar erschwert. Doch gesellige wissenschaftliche Praktiken hatten auch noch im Museum Fridericianum Fortbestand. So heißt es zu Georg Forster im Vorlesungsverzeichnis des Collegium Carolinum von 1781/82: »Die Mineralogie wird ebenderselbe so vortragen, dass er dabei die Herrschaftliche und seine eigene Sammlung vorzeigt.«22 Bei den Antiken wurde die wissenschaftliche Erforschung 1777 durch die Gründung der Société des Antiquités, die damals einzige deutsche altertumswissenschaftliche Gesellschaft, zusätzlich gefördert (welche übrigens die von Herder 1778 eingereichte Preisschrift über Winckelmann nicht prämierte).23 Bislang war weitgehend unbekannt, ob auch die hochrangigen auswärtigen Mitglieder der Gesellschaft je nach Kassel gereist waren und unmittelbaren Kontakt zu den Sammlungen wie zu den ortsansässigen Gelehrten hatten. Im Besucherbuch finden sich auch hierzu Belege: so machten etwa die Ehrenmitglieder Frederick Hervey, 4th Earl of Bristol oder Joseph Planta, seit 1779 Chief Librarian des British Museum, beide Station in Kassel. Gerade an der Antikensammlung sollte sich dann aber besonders deutlich der Diskurs um Kenner und Laien entzünden: diente das Museum zwar dezidiert wissenschaftlichen Zielen, so war mit der Öffnung für jedermann von Anfang an der konkurrierende Zweck der populären und damit »leichten« Bildung hinzu gekommen. Hatten Gelehrte wie Raspe Kunst und Wissenschaft für alle gefordert, so zeigt bereits die eingangs zitierte Äußerung Herders die gleichzeitige Skepsis gegenüber einem solchen Versuch der Popularisierung. Bezeichnenderweise endet das Besucherbuch am Ausgang des aufgeklärten Jahrhunderts, vermutlich weil die Besu20

Vgl. Schmincke: Versuch einer genauen und umständlichen Beschreibung, S. 169. Schweizer Lexikon. Bd. 5. Luzern 1993, S. 742. 22 Zit. nach Eberhard Mey: Zu Forsters Arbeitsbedingungen als Professor der Naturgeschichte am Collegium Carolinum in Kassel. In: Georg-Forster-Studien 7 (2002), S. 233–265, hier S. 240. 23 Eine Neuwertung der bislang in ihrer wissenschaftlichen Potenz eher negativ beurteilten Gesellschaft bei Annett Volmer: Antikerezeption im 18. Jahrhundert: Die Gesellschaft der Alterthümer. Ein Beitrag zur Spätaufklärung in Hessen-Kassel. In: Sozietäten, Netzwerke, Kommunikation. Neue Forschungen zur Vergesellschaftung im Jahrhundert der Aufklärung, hrsg. v. Holger Zaunstöck, Markus Meumann. Tübingen 2003, S. 85–113. 21

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cherzahl tatsächlich zu groß geworden war – so monierte ein Gast um 1800, »dass eine Gesellschaft die andre durch die Saele des Museums jagte« und man deshalb keinen freien Blick mehr auf die Gegenstände hatte.24

Abb. 4: Medaille auf die Gründung der Société des Antiquités 1777 von Johann Ulrich Samson, Kupfer, recto (Foto: Museumslandschaft Hessen Kassel)

Die Gründungsmedaille der Société des Antiquités (Abb. 4)25 zeigt das Museum Fridericianum, vor dessen Fassade Minerva einen Knaben zu den Altertümern führt. Ein solcher Knabe könnte Ludwig Völkel gewesen sein, Sohn eines Kasseler Schwertfegers, der sich bereits als Achtjähriger in das Besucherbuch eingetragen hatte. 25 Jahre später, nämlich 1795, war er Oberkustos der Antikensammlung im Museum Fridericianum und klagte nun über den »eingerissenen Mißbrauch des Musei«: der »tägliche Zulauf« sei nicht nur »störend« für die »Geschäfte« (d. h. wohl für die Arbeit der dort tätigen Wissenschaftler), sondern auch »den freystehenden Sachen […] nachtheilig«.26 Die allgemeine Zugänglichkeit von Sammlungen als eine »Sache der Aufklärung« schien sich nun, zumindest in den Augen eines betroffenen Oberkustos, gar gegen die Sachen selbst zu wenden.

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N.N.: Briefe auf einer Reise durch Thüringen und Hessen geschrieben von einem wandernden Helvetier im Jahr 1800. Altenburg, Erfurt 1801, S. 198. 25 Arthur Schütz: Die hessischen Münzen des Hauses Brabant. Teil IV (1670–1866). Frankfurt a. M. o. J. (ca. 1998), Nr. 1951. 26 Brief Völkels an Landgraf Wilhelm IX. vom 29. Mai 1795, Archivalien der Museumslandschaft Hessen Kassel (freundlicher Hinweis von Prof. Nicola Lepp).

Sebastian Schmideler (Leipzig) »Hier sind Abbildungen und Modelle von allem, was dazugehört.« Schaustücke zum Mittelalter in der Kinder- und Jugendliteratur des 18. Jahrhunderts Die Kinder- und Jugendliteratur des 18. Jahrhunderts wandte sich verstärkt den nützlichen Sachen zu.1 Eine spezifische »Sachliteratur« entstand. Nicht mehr nur primär an Informatoren und Pädagogen gerichtete Lehrwerke, sondern adressatenorientierte, für die jungen Rezipienten selbst bestimmte Lesebücher wurden nun publiziert. In den Fokus rückten neben Darstellungen zur Naturhistorie und der Länder- und Völkerkunde auch Geschichtsbetrachtungen, von denen speziell die darin propagierten Mittelalterbilder als Streitsachen der Aufklärung interessant sind. Die Jugendschriftenverfasser bedienten sich im Kontext der Vermittlung dieser Geschichtsdarstellungen zwar stets als nützlich stilisierter, häufig jedoch auch dezidiert spielerischer Formen der Anschauung, die, wie gezeigt werden soll, als besondere Schaustücke die Aufmerksamkeit der jungen Rezipienten auf sich ziehen sollten. Um bei den jungen Lesern eine modellhafte, möglichst sinnlich-anschauliche Wahrnehmung von Geschichte zu erzeugen, standen Kinder- und Jugendschriftenverfassern des 18. Jahrhunderts in Bezug auf den Formaspekt prinzipiell fünf Darstellungsstrategien zur Verfügung. Entweder entschieden sich die pädagogischen Schriftsteller wie der Philanthrop Joachim Heinrich Campe in seiner sog. Amerika-Trilogie, die unter dem Titel Die Entdeckung von Amerika, ein angenehmes und nützliches Lesebuch für Kinder und junge Leute (1781 f.) erschien, für eine theatralisch-dramatisierend erzählte Inszenierung der Geschichte im Sinne eines zumeist tragödienhaft verlaufenden Schauspiels im »Welttheater« als Form der Veranschaulichung oder sie visualisierten die Historia Mundi wie der Wittenberger Kirchenhistoriker Johann Matthias Schröckh in seiner sechsbändigen Allgemeinen Weltgeschichte für Kinder (1779–1784) mit 100 Kupfertafeln von Bernhard Rode in ausgewählten dramatischen Szenen von weltgeschichtlicher Bedeutung. Eine weitere Verfahrensweise bestand darin, die Historia Mundi wie August Ludwig von Schlözer in seiner Vorbereitung zur Weltgeschichte für Kinder (1779) als einen unterhaltsam-belehrenden Streifzug und als eine angenehme raumzeitliche Wanderung innerhalb einer ambulierenden Darstellungsform zu stilisieren, die ebenso der Versinnlichung diente. Die vierte, für den Kanonisierungsprozess historischen Wissens insgesamt eminent be1

Der Beitrag basiert auf Ergebnissen meines im Januar 2011 an der Universität Leipzig verteidigten Dissertationsprojekts zur Mittelalterrezeption in der geschichtserzählenden Kinder- und Jugendliteratur vom 18. Jh. bis 1945. Zur weiteren Vertiefung vgl. Druckfassung der Dissertation.

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deutsame Möglichkeit der anschaulich-modellhaften Präsentation der Weltgeschichte fanden die Verfasser in der zielgerichteten, adressatenorientierten Selektion einzelner Ereignisse der Historia Mundi. Hier galt es, aus der noch im 17. Jahrhundert vorherrschenden, überbordenden polyhistorisch-enzyklopädischen Masse des weltgeschichtlichen Stoffes erst einmal des Merkens würdige einzelne Ereignisse auszuwählen und im Zusammenhang zu ordnen, wie dies beispielhaft in Christoph Weigels emblematischen Kupfertafeln seines Orbis terrarum in nuce geschah (zuerst 1698 unter dem Titel Sculptura historiarum et temporum memoratrix oder Nutz- und Lustbringende Gedächtnuß-Kunst). Das fünfte Verfahren forcierte, wie z. B. Johann Peter Miller in seinen Historischmoralischen Schilderungen zur Bildung eines edlen Herzens in der Jugend (1759–1763), eine moralisierende Darstellungsform der Geschichte als Tugendschule, die den nicht unbeträchtlichen Aufwand einer spezifisch pädagogisierenden Präsentation der Historia Mundi im »pädagogischen Jahrhundert« allererst rechtfertigte. Zumeist treten diese hier idealtypisch subsumierten Darstellungsmuster in den zahlreichen kinder- und jugendliterarischen Belegen in Mischformen auf. Diese Modelle der Apperzeption der Historia Mundi waren ursprünglich untrennbar mit der aus der Antike überkommenen Geschichtsauffassung verbunden. Diese Konzeption lässt sich auf die prononciert einprägsame Formel Ciceros bringen: »Historia Magistra Vitae« (De Oratore, Liber II, Cap. 9). Dieser zum Topos avancierte Lehrsatz für antike Redner wurde zum Hauptparadigma in der Geschichtsdarstellung in humanistischer Tradition. Die pointierte Sentenz repräQuelle: Andreas Lazarus von Imhof: sentierte das antike Geschichtsbild, das Neu-eröffneter Historischer Bider-Saal wiederum mit der antiken und frühneuDas ist: Kurtze deutlich und unpassionirte zeitlichen Rhetorik korrelierte und mit Beschreibung der Historiae Universalis […]. der traditionellen Mnemonik aufs Engste Nürnberg 1692, Frontispiz. verknüpft war. Dass dieses auf die Vermittlung von Tugenden konzentrierte Geschichtskonzept in seinem rhetorisch-mnemonischen Kontext im 18. Jahrhundert nach wie vor gültig war und sich hauptsächlich für eine pädagogisierende Geschichtsbetrachtung hervorragend eignete, dokumentiert das Frontispiz zu Andreas Lazarus Imhofs von 1697 an

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erschienenem siebzehnbändigen Neu-eröffneten Historischen Bilder-Saal. Dieses Kupfer des für die Erziehung der Kronprätendenten des Reiches bestimmten Bildersaals zeigt eine der typischen Magister-Discipuli-Darstellungen. Auf dieser Abbildung ist zu sehen, wie Lehrer und Zögling in einem großen Saal, an dessen Wänden zahlreiche Bilder aufgehängt sind, von Bild zu Bild schreiten. Die Magistra in Gestalt der Rhetorik, an deren Seite Clio, die Muse der Geschichte, das von der Magistra geschilderte historische Geschehen notiert, deutet mit einem Zeigestock auf einzelne Darstellungen und wendet sich dabei dem Zögling zu. Diese Szene rekurriert unmittelbar auf Grundlagen der antiken Redekunst. Die antike Rhetorik gründete die Rekapitulation von Wissen nämlich an Raumvorstellungen. Hielt ein Redner eine Rede, schritt er dabei in seiner Vorstellung gleichsam einen imaginierten Raum ab. Die gesamte Redestruktur entstand, indem der Redner in seiner Imagination systematisch von Ort zu Ort schritt. Jeder dieser Orte war in dieser imaginierten raumzeitlichen Fortbewegung ein Ort des Wissens, an dem der Redner sich etwas gemerkt hatte. Jeder Ort in dem abzuschreitenden Raum repräsentierte einen Aspekt der Rede. Derartige rhetorische Vorstellungen behielten als Topos eines visualisierenden Diskurses der Wissensvermittlung noch bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts ihre Gültigkeit. Das programmatische Frontispiz zu Imhofs Bildersaal ist deshalb eine modellhafte Visualisierung eines idealisierten mnemonischen Lernorts. Das Kupfer verweist folglich nicht nur auf den Erziehungsdiskurs, der vermittelst dieser Visualisierungen historischer Gestalten und Ereignisse zwischen Lehrer und Zögling geführt wird. Es ist primär Veranschaulichung des räumlichen Programms der antiken Gedächtniskunst. Es bildet den Prozess der Verräumlichung und damit den Vorgang des Verortens des historischen Wissens im Gedächtnis ab, wie er im mnemonischen Denkmodell der antiken Rhetorik vorgegeben wurde. Wenn Lehrer und Schüler die Orte der Bilder abschreiten, soll dies an die zu trainierende mnemonische Gedächtnisleistung des Zöglings erinnern, der in seinem eigenen Kopf einen solchen Bildersaal anlegen muss, um das historische Wissen nach den Regeln der Gedächtniskunst zu merken. Eine allegorische Bezugnahme auf Bilderhallen, Bildersäle und Bilderkabinette ist deshalb nicht zufällig typisch für die emblematisch-belehrende Kinder- und Jugendliteratur des 18. Jahrhunderts. Durch diese spezifisch emblematische Struktur der Kupferwerke wird jede Abbildung des imaginierten Bildersaals mitsamt ihrer dazugehörigen Erläuterung zum mnemonischen Schaustück.2 2

Doch folgt der Einsatz von Bildern in Imhofs Bilder-Saal nicht mehr nur einem traditionell emblematischen Kontext. Der klassische Aufbau der Embleme ist bereits aufgelöst, obwohl die mnemonische Funktion der Pictura weiterhin gültig ist. Obgleich sich Imhof selbst in der Konzeption seines Lehrwerks auf die emblematische Tradition der Bilderbibeln berief, wird das Bild hier innovativ als begleitende, das Erzählte illustrierende mnemonische Gedächtnisstütze verwendet. Die allgemeine allegorische Funktion des Emblems wandelt sich also zugunsten einer das Gedächtnis stützenden konkreten Abbildung. Die Bilder zeigen ausschließlich durch Quellen verifizierbare

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Ebenfalls in einem höfischen Kontext steht ein außergewöhnliches Lottospiel für Kinder, das im Jahre 1727 im Verlag von Johann Conrad Peetz in Regensburg, damals ein Zentrum populärer Druckgraphik, erschien. Der Dritten Edition von Johann Balthasar Springers Kurtze[r] Einleitung zur Reichs-Historie von Teutschland, einer 71 Seiten umfassenden Broschüre, war nach einem französischen Vorbild Claude Buffiers eine Historisch-Chronologische Spiel-Tafel Darauf sich sothane Begebenheiten und Geschichte zum Begriff der edlen Jugend in Medaillen oder Schau-Müntzen praesentiren beigelegt. Diese Tafel zeigt ein ca. 40 x 50 cm großes, prächtig gestaltetes

Quelle: Johann Balthasar Springer: Kurtze Einleitung zur Reichs-Historie von Teutschland Worinnen Alle Haupt-Veränderungen des T. Reichs und die fürnehmsten Denckwürdigkeiten so sich unter eines jeden Kaysers Regierung von Carolo M. biß auf jetzt-regierende Kayserl. Majestät Carolum Vi. zugetragen […]. Dritte Edition. Regensburg 1727.

Spielfeld, auf dem eine Kollektion von 49 Medaillons sowie ein zentralperspektivisch angeordnetes, repräsentatives und theatralisches Huldigungsemblem für Karl VI. zu sehen sind. Die Medaillen bilden eine Serie sämtlicher 50 Herrschergestalten der deutschen Reichshistorie von Karl dem Großen bis zu Karl VI. Die »Schau-Müntzen« sind chronologisch in einer spiralförmig verlaufenden Reihe nach den Dynastien angeordnet, denen die verschiedenen Potentaten entstammen. Die am linken unteren Ende des Spielfeldes beginnende Linie umrundet die Tafel zweimal. Das Startfeld, das Karl den Großen zeigt, ist reich ornamentiert. Das optisch herausgehobene, prächtig verzierte, Karl VI. gewidmete Zielfeld befindet Ereignisse der Historia Mundi ohne allegorischen Verweis. Dieser Strukturwandel traditioneller Visualisierungstechniken bedeutet einen Realitätssprung.

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sich im unmittelbaren Zentrum der Spieltafel und dient zugleich als theatralischzentralistisch inszeniertes Emblem, das den Blick des Betrachters zuerst auf sich zieht. Das Lotto folgte den Regeln des volkstümlichen »Gänsespiels«. Man benötigte Spielmarken, zwei Würfel, mehrere Spieler sowie einen Banquier. Das Spiel begann unten links. Von dort aus wurde entgegen dem Uhrzeigersinn gespielt. Der Verfasser des Traktats und Erfinder des Spiels, Johann Balthasar Springer, war Hofmeister der zwei ältesten Söhne des Reichsgrafen Otto Joseph Heinrich von Hohenfeld. Diesem Dienstherrn waren Buch und Spiel auch gewidmet. Da Hohenfeld Reichsgraf war und dadurch in einem reichsunmittelbarem Rechtsverhältnis zum Kaiser stand, diente das Spiel zur Einübung des historischen Wissens der deutschen Kaiser- und Reichshistorie. Springer verknüpfte Personen- und Ereignisgeschichte geschickt, indem er die bedeutendsten Taten und Leistungen der deutschen Könige und Kaiser chronologisch-systematisch in der Form eines Lottospiels nach einem damals bewährten mnemotechnischen Muster anordnete. Die in den Miniaturkupfern abgebildeten Medaillen sind unter einem spezifischen Ordnungs- und Sammlungsaspekt wie in einem imaginierten Münzkabinett sortiert und folgen damit als Schaustücke dem höfischen Muster der »Histoire Metaillique«. Derartige Münzsammlungen wurden überdies in speziellen, zumeist prunkvoll mit Intarsien und Schnitzereien verzierten Schränken in barocken Wunderkammern aufbewahrt, deren luxuriöse Gestaltung die Spiel-Tafel mit den Mitteln des emblematischen Kupferstiches imitierte. Durch diese Imagination einer nach mnemotechnischen Prinzipien angeordneten Sammlung sollen die Merkdaten vermittelst der Spielregeln leichter verinnerlicht werden. Die ausführliche Spielanleitung, die auch ein besonderes Licht auf die Mittelalterrezeption der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wirft, ist als Appendix in Springers Traktat zur Reichsgeschichte gedruckt. Springer ergeht sich in der barocken Lust an Zahlenspielen und mnemotechnischen Raffinements. Obwohl die Historisch-Chronologische Spiel-Tafel den Eindruck erwecken soll, ein zwangloses Vergnügen zu sein, hat Springer nach Art eines Polyhistors dabei eigentlich das lückenlose, enzyklopädische Einüben der vollständigen Geschichte der deutschen Kaiser in ihren wichtigsten Merkdaten vor Augen. Das Spiel diente keineswegs nur dem Delektieren der Jugend, sondern ist primär als Curriculum zur Rekapitulation dieser Daten konzipiert. Springer nutzte sogar optische Effekte der barocken »Perspectiv-Kunst« zur Abbildung von Zeitebenen. Historisch weiter zurückliegende Ereignisse wurden in den Vordergrund der Miniaturbilder gerückt, weniger Bedeutendes wurde in den Hintergrund gesetzt. Durch diese Perspektivierung und weitere spezifische Schraffierungstechniken sollen die auf den »Schau-Müntzen« abgebildeten Szenen sowohl die Chronologie als auch die historische Bedeutung von Ereignissen darstellen. In der »Erklärung der Special-Reguln« werden auf die einzelnen Potentaten spezifische Handlungsanweisungen projiziert, die mit dem historischen Wert korrespon-

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dieren, den Springer den jeweiligen Herrschern zugemessen hat. Auf diese Weise wird auf spielerischem Weg zugleich ein moralisches Urteil über die Leistung der insgesamt 50 Potentaten gefällt, sodass summa summarum ein Mosaik entsteht, das Tugenden und Laster von Kaisern und Königen anhand von Exempeln aus der deutschen Reichsgeschichte vermittelt. Insofern stiftete Springer auch in der Bewertung mittelalterlicher Herrscher Kontinuität, auf die spätere Interpretationen in der geschichtserzählenden Kinder- und Jugendliteratur fußen konnten. Karl dem Großen ist eine besonders repräsentative und reich verzierte »Schau-Müntze« gewidmet. Der ruhmwürdige Kaiser steht als glanzvoll ornamentiertes Initial am Beginn des Spiels. Als Erneuerer des »Occidentalischen Käyserthums« wird er von Springer mit den höchsten Ehren- und Gunstbezeugungen ausgezeichnet. Als Lehrer der Nation, als Reformator des Reiches, als wahrer Christ, kurz als ein weiser Idealpotentat genießt er den ranghöchsten Status. Mit ihm kann nur der damals regierende Kaiser Karl VI. konkurrieren. Karl der Große steht wegen dieser Ehrwürdigkeit außerhalb aller Spielregeln. Von der traditionell ambivalenten Bewertung Heinrichs IV. zeugt hingegen Springers Spielanleitung für die diesem Kaiser gewidmete »Schau-Müntze«. Der Spieler muss zwei seiner Zahlpfennige abgeben, darf jedoch um elf Felder voranrücken, allerdings nur, damit Springer mit erhobenem Zeigefinger auf vergleichbare schreckliche Fälle von abgesetzten Kaisern verweisen kann. Durch Strafe und Belohnung wird den spielend Lernenden ein zentralistisches Geschichtsbild vermittelt. Das Verhalten der jeweiligen Kaiser gegenüber der Instanz des Reiches entscheidet über Glück oder Unglück im Spiel. Gemäß dem strengen moralpädagogischen Verhaltenskodex des Barock versteht Springer als kaisertreuer Informator der Reichsgrafensöhne insbesondere in Glaubensdingen absolut keinen Spaß. Die Störung des Religionsfriedens wird als ein scharf zu verurteilendes Übel gedeutet. Über den Stauferkaiser Friedrich II. wird in »Schau-Müntze« Nr. 26 deshalb lakonisch und drakonisch geurteilt: »Setzt 4. [Zahlpfennige] in das Spiel; wegen viermahliger Excommunication, so dieser Käyser von verschiedenen Päpsten erlitten« (Springer 1727, o. P.). – Die Medaillen als Schaustücke dienen so zu einer mnemonischen Versinnlichung von Geschichte, die exemplarisch durch Regeln den höfisch-barocken Verhaltenskodex veranschaulicht.3 Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wird Geschichte innerhalb der genuin philanthropischen Jugendliteratur völlig anders versinnlicht. Dies zeigt eine freie Adap-

3

Innerhalb von Christoph Weigels Kupferwerk Orbis terrarum in nuce werden die historischen Merkwürdigkeiten demgegenüber auf Tafeln zu je zehn Einzelbildern für je ein Jahrhundert im Walnussaufriss zu einem mnemonischen Wissensvorrat arrangiert. Dem Vorbild des Orbis sensualium pictus des Comenius folgend, standen diese Embleme jedoch nicht in der höfisch-ständischen Tradition. Sie wurden in der höheren Schulbildung des Stadtbürgertums eingesetzt. Doch auch hier wird durch die gezielte Auswahl der dargestellten Ereignisse ein Kanonisierungsprozess forciert.

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tation von Johann Gottfried Schnabels Romantetralogie Wunderliche FATA einiger See-Fahrer (1731–1743) von Christian Carl André, dem Schwiegersohn des Schnepfenthaler Philanthropen Christian Gotthilf Salzmann, die unter dem Titel Felsenburg, ein sittlichunterhaltendes Lesebuch (1788 f.) erschien. Während einer philanthropisch-ritualisierten Hochzeitsfeier wird ein Auftritt der unter der Obhut von Fachhistorikern stehenden Zöglinge vor der vollständig versammelten Einwohnerschaft der nach dem Vorbild Schnepfenthals dargestellten Insel Felsenburg inszeniert. Die Gelehrten sowie die von ihnen unterrichtete Schuljugend veranschaulichen den Zuschauern »ein Hauptstück aus der europäischen Verfassung […] – das Ritterwesen.«4 Diese pädagogische Inszenierung trägt nicht den Charakter einer Vorlesung, sondern wird zum ganzheitlichen, didaktisch aufbereiteten Anschauungsunterricht nach philanthropischem Maßstab: »Hier sind Abbildungen und Modelle von allem, was dazu gehört. Und hier wird euch itzt unser Historiker […] die nöthigen Erklärungen und Aufschlüsse aus dem Schatze seiner Kenntnisse mittheilen« (ebd.). Als ambitionierter Volksaufklärer kritisiert der Historiker den Adel, indem er die Hierarchien der Ständegesellschaft für historisch überlebt erklärt. Er bemerkt mit kritischem Blick auf das Rittertum bezüglich des Mittelalters: Die Vornehmen »nannten sich die Aedeln oder den Adelstand, grade, als wenn nicht jeder Mensch, reich oder arm, mit oder ohne Land adel seyn sollte!«5 Demgemäß übt der Historiker volksaufklärerische Kritik an den mittelalterlichen Lehensverhältnissen und beklagt die Unfreiheit nichtadliger Lebensformen. Unverkennbar werden aus diesen Passagen der Jugendschrift von 1789 die Egalitätsbestrebungen und die Forderung nach Liberalismus der Französischen Revolution zur Sprache gebracht. Entscheidend ist, dass es auf Felsenburg nicht bei dieser theoretischen Exploration bleibt. André benötigt ein philanthropisches Komplement – die praktische Anschauung, die sichtbare Anwendung, die der Geistesarbeit die adäquate körperliche Ertüchtigung an die Seite stellt: »Hier zog eine Anzahl Jünglinge, zu Pferde in Rittertracht vorbey. Der Vater und Historiker hatte es mit denselben verabredet, dieses zugleich unterhaltende, ihre eignen Körperkräfte übende, und alle Zuschauer noch belehrende Schauspiel zu geben. Sie […] waren nun im Stande, von allem, was der Historiker eben gesagt hatte, der Volksversammlung, zu Aller Freude und Beyfall, eine anschauliche Idee zu geben.«6 Doch auch dies genügt nicht. Die durch Modelle veranschaulichte theoretische Belehrung des Felsenburger Historikers wird mit einer Erläuterung von Waffen und Wappen der Ritter und der Eigentümlichkeiten der Turniere fortgesetzt. Dann erst 4

Christian Carl André: Felsenburg, ein sittlichunterhaltendes Lesebuch, Bd. 3, Gotha 1789,

S. 26. 5 6

Ebd., S. 30. Ebd., S. 33.

Schaustücke zum Mittelalter in der Kinder- und Jugendliteratur

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folgt der Höhepunkt des Ganzen: Eine inszenierte Darstellung der mittelalterlichen Turniere zur Illustration der Geschichte des Rittertums in der Form eines Tableau vivant: »Wollt ihr euch aber noch lebendiger alles darstellen, so folget mir! Hiermit führte er [der Historiker] die Versammlung auf jenen Uebungsplatz der jungen Ritter, wo auf einmal ein nie gesehenes Schauspiel in der Vorstellung der Zuhörer das vollends aufhellte, was in der Beschreibung des Historikers noch etwa dunkel geblieben war. Völlig treu dieser Beschreibung sahe man hier alles zu einem Turniere veranstaltet und ausgeschmückt – Schranken, Emporbühnen, Zelte, aufgehangene Wappen, die Ritter selbst, welche nach und nach alle die Uebungen vornahmen, deren der Historiker erwähnt hatte. Sie führten sehr artig ein kleines Turnier auf, und den neu Vermählten ward die Ehre, den Dank auszutheilen.«7 In Andrés Felsenburg ist die Darstellung des ritterlichen Schauplatzes mit einem ganzheitlichen philanthropischen Erziehungsprogramm verquickt, das dem Prinzip der Äquilibration der Kräfte von Körper und Geist verpflichtet ist. Zu dieser Form philanthropischen Anschauungsunterrichts gehört einerseits die fachkundige Belehrung über das Rittertum durch Modelle, andererseits jedoch ebenso die praktische Anwendung der ritterlichen Verhaltensweisen in einem nachgespielten Turnier. Zugleich wird hier eine Wiederbelebung des Ertüchtigungsaspekts intendiert, die der Kampfübung und Bewährung der mittelalterlichen Ritter im Turnier inhärent war. Die Szene dokumentiert das neue Körperbewusstsein der Philanthropen; André war schließlich auch erster Turnlehrer an Salzmanns Schnepfenthaler Philanthropin. Zieht man überdies in Betracht, dass Andrés Schilderung, die auf realer Praxis in philanthropischen Erziehungsinstituten beruhte, als Lesebuch für Kinder die dargestellte Handlung in Form der inneren Vorstellungsbildung, also der inneren Anschauung, zeigte, findet man hier ein erstes Beispiel für ein weit in die Moderne vorausweisendes Konzept der visualisierenden Imaginationsbildung.

7

Ebd., S. 45.

Dragana Grbić (Belgrad) A Comet and a Balloon. The Matter of Enlightenment Matters1

This paper aims to present a pedagogical concept in the sphere of teaching natural sciences – geography and astronomy, based on mediation of knowledge by way of concrete objects, and also on mediation of knowledge by way of observing natural phenomena in the absence of specific teaching aids. Such context highlights observation of rare/miraculous natural phenomena such as comets, on the one hand, or incredible/miraculous human inventions such as the balloon, on the other, in order to study some of the key issues of the enlightenment program – the attitudes towards miracles and superstition (comets) as compared to the state-of-the-art ingenuity of the educated and enlightened reason, which is capable of materializing its discoveries in a »miraculous« way (constructing the balloon). The paper focuses on the analysis of two texts covering the observation of the comet visible in 1769, studied by French astronomer Charles Messier and Serbian monk and historian Jovan Rajić, and the texts in the newspapers Wiener Tageblatt and Serbian daily news, which wrote about Blanchard’s flight in the balloon. Such comparative analysis of the same events opens an insight into the diversity of the enlightenment types in the West and Southeast Europe. Until the second half of the 18th century, no specific teaching aids were used among the Serbs living in the Habsburg Monarchy. Since no teaching aids from that time have been preserved, today we find out about the use of specific objects for teaching purposes on the basis of the textbooks preserved and the texts that were used in the course of teaching. To meet the needs of his teaching practice, as he put it himself, Jovan Rajić2 wrote, or to put it more precisely, translated Geography: with the subtitle Theoretical and Practical Knowledge of the Land-Water Sphere relying on textbooks by German and Latin authors. In the preface to Geography, explaining the actual designation of the subject, he expounded on the basic methodological principle for acquiring knowledge in this sphere of learning. Proceeding from the Greek noun »GEO«, meaning earth, and the verb GRAPHO, meaning to (de)scribe, and translating these 1

This paper is based on the research work within the project 178024 of the Institute for Literature and Art Belgrade. 2 Jovan Rajić (1726–1801) taught geography and rhetoric at the Latin School in Sremski Karlovci (1759–1762) and theology in Novi Sad (1764–1769?). He was educated in the Habsburg Monarchy – at the Catholic Grammar School in Komárom and at the Protestant Lycée in Sopron, whereas in Russia he studied theology at the Orthodox Spiritual Academy in Kiev.

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words literally, Rajić derives the term earth-description. He goes on to explain the basic scientific principle of geography that it is precisely on the basis of this earthdescription that earth-knowledge is made possible, and both originate from observation and noting down the results of observation as the fundamental methodological principle. It is best to acquaint oneself with natural resources by way of directly experiencing them – through observation of geological differences, hydrography, flora and fauna, all of which is achieved through prolonged exposure to nature. This methodological approach certainly originates from one of the basic postulates of the philosophy of enlightenment – that the source of cognition lies in sensory experiences and very attentive observation, based upon Locke’s claim that there is nothing in the intellect that was not earlier in the senses. Here is important to point out that Rajić’s education and his subsequent decision in life to become a monk, are also significant in this context, because they indicate, to a certain extent, that this graduate theologian, and later a monk, mediated his knowledge of geography and astronomy to his pupils not just as practical knowledge pertaining to natural sciences but, first of all, as knowledge serving the purposes of theology and of nature as a mirror of God. In this sense, astronomy and geography may be understood not as independent scientific disciplines but as part of Natural Philosophy, close to Natural Theology, as Dorinda Outram explained. The study of what we now call ›science‹ still took place in the 18th century within other disciplines, linked together under the heading of ›natural philosophy‹. […] the whole point of ›natural philosophy‹ was to look at nature and the world as created by God, and thus capable of being understood as embodying God’s powers and purposes. […] This often made it nearly impossible to establish where ›natural philosophy‹ ended, and where theology, ›the queen of the sciences‹, began. The link between natural philosophy and theology was tightened by the fact that much natural philosophy, particularly in Protestant states, was done by the members of the clergy.3

The latter claim about it being difficult to separate natural theology from natural philosophy certainly applies to Rajić. On account of the principle of experiencing nature as a mirror of God, within the framework of geography teaching the teacher, apart from exposing pupils to maps and the globe, resorted to showing them nature from their immediate surroundings or to various descriptions of faraway natural landscapes that he had seen in the course of his journeys, or to showing them geological specimens that he had gathered in the course of those journeys. Thus the fact that knowledge was no longer obtained from books only and from observing things in themselves represented one of the fundamental reasons for introducing various objects and collections from nature in 3

Dorinda Outram: The Enlightenment. Cambridge 2009, pp. 5–96.

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8. Sektion · Dragana Grbić

the teaching practice. Realienunterricht as a teaching principle strove to transfer a tiny part of the world into classrooms, but if, due to various sets of circumstances (for example, the fact that the educational system was still in its infancy, poverty and the like), because such objects were lacking or if only the most basic ones were to be had, Rajić went out of the classroom, since he had nothing to bring into the classroom. The occasion for this was provided by the appearance of a comet in 1769. At the same time as the well-known French astronomer Charles Messier, Jovan Rajić observed a comet that appeared at the beginning of August of 1769, and in his work An Astrological Description of Comets and Their Characteristics he wrote about its path, provided a mathematical-physical description and presented its appearance in the sky, visible both to the naked eye and a telescope. Charles Messier, a French astronomer known as »comet hunter«, after whom this comet was named, wrote two papers about it. The first one was scientific, written immediately after he discovered the comet in 1769, whereas the second one was »poetic«, written several decades later, in 1808, with the aim of pleasing Napoleon. Apart from the fact that Rajić and Messier wrote about the same celestial phenomenon almost at the same time, the reason for conducting a comparative analysis of their papers stems, first of all, from the symbolic potential that Messier ascribed to scientific facts in his second text. Rajić’s text consists of twenty short chapters, the first one dealing with the terminology and etymology of the word comet; following this, chapters 2 through 8 deal with the methods of observing the sky from the era of antiquity to the present day (naked eye, telescopes), with comets in general, their outlook and composition. Rajić mentions the greatest comets, that is, the most important ones in »symbolic« terms, comets that »foretold« certain historical events, that is to say, coincided with them. It is only from chapter 9 onwards that the author starts dealing with the comet whose appearance motivated him to produce this paper. The chapters that follow, until chapter 14, present, in some detail, Messier’s comet, which was subsequently designated as Comet 1769 Messier (C/1769 P1). The final segment of the text is dedicated to the »characteristics«, that is, the functioning of comets. Pointing out a number of important historical events that coincided with the appearance of comets, in the final chapter the author, almost timidly and with great reservations concerning such superstitious beliefs, points to the possible consequences of this phenomenon. Even though it was viewed from the perspective of an enlightened mind and presented by way of rational explanations, the appearance of a comet in the sky, judging by the manner in which Rajić depicted it, reveals a somewhat ambivalent observer who is torn between the rational, the religious and the superstitious. Rajic’s text dates from September 6th, 1769. If we compare Rajić’s description with the data that have been confirmed by contemporary science4 we can see that he 4

In its Volume 1, Gary W. Kronk’s Cometography (A Catalog of Comets, Ancient to 1799,

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wrote this work during the period when the comet was at its brightest, when its tail was longest, and at a moment when the comet’s path, regular until then (established on the basis of the look of its tail, which Rajić found reminiscent of a sword), turned into a curve. As opposed to Rajić, who wrote his paper when the comet was most visible to the naked eye, in his first (scientific) paper, printed in 1769, Messier followed the comet and noted down all the changes that he observed from the moment when, at the beginning of August 1769, he spotted it first as a nebula, until it disappeared in the winter of 1769. The fact that Rajić wrote about the comet at the moment when its glow in the sky was at its most pronounced, that is to say, when it was most visible to the naked eye, and thereby most frightening to an uneducated mind prone to superstition, reveals, apart from a teacher’s need to explain a marvellous phenomenon in the sky relying on the power of scientific reasoning, that he is at the same time suspicious of a purely rational explanation of this phenomenon as a manifestation of the physical properties of nature and the cosmos. In fact, the second part of his paper reveals that an enlightened mind does not marvel only at the principles of physics and the laws of nature that it can understand, but also fears the Almighty, whose omnipotence is manifested in nature, and His will is announced by way of such natural phenomena. Such an attitude can also be viewed in the context of one of the most fundamental intentions of religious enlightenment, »to harmonise faith and reason«5 relying on, among other things, Spinoza’s material naturalism, where things of everyday experience are either attributes of God, or affections (i. e. modes) of God’s attributes. The implicit, hidden question – »What if it is not all science only?«, arises from the fact that the power of Ratio, having become prominent in the 18th century, was still insufficiently developed, and the critical mind was as yet too young to suppress the centuries-old fear of apocalypse and the power of superstition, which left its mark upon almost every natural phenomenon while awaiting the end of the world. However, it is crucial to point out that what Rajić opposed to eschatological fear originating from superstition was God’s will. The very same supreme All-powerfulness that would be manifested through mercy after the Apocalypse, and which would also be announced by natural phenomena. It is precisely on account of the above that Rajić employs the observation of the comet in order to mediate, through this »object under observation«, knowledge not only from the sphere of natural sciences – astronomy, physics and geography, but first p. 442), which lists all the comets observed from the era of antiquity to 1799, contains data on comet 1769 Messier (C/1769 P1), which the author provides relying on Messier’s notes made from August to December 1769, but he also includes notes made by other authors, among them an observation made by captain Cook, who, sailing in the South Pacific in the course of his expedition to New Zealand, also noticed this comet on the morning of August 30th. 5 David Sorkin: The Religious Enlightenment. Princeton, Oxford 2008, p. 6 and p. 8.

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8. Sektion · Dragana Grbić

of all from theology. Specifically, using scientific explanations of a comet (concerning its composition, nature, the cause of its appearance, path and the like), he relied on rational arguments trying to suppress superstitious beliefs and, while emphasising the perfection of the laws of nature, actually praised the power of the Creator and strove to strengthen orthodoxy. He achieves this by precisely and systematically bringing into connection the appearance and the look of the comet as a cause, on the one hand, and various historical and political events or natural catastrophes, on the other, following which he proceeds to a conclusion in which he demystifies erroneous beliefs widespread among common people basing his reasoning on rational theology. Rajić’s paper not only provides a systematic overview of his observations in the course of following the passing of the comet, but also strives to amplify these observations, using a comparative method, by presenting observations about other comets and, on the basis of this, to draw a conclusion about the possible consequences of the appearance of Messier’s comet C/1769 P1. Having offered a number of examples, not only from history but, even more importantly, from the Bible, where certain historical events coincided with the appearances of comets, Rajić emphasises that contemporary science no longer admits of such interpretations. This, on the one hand, points to a level of critical consciousness and an enlightened mind that no longer believes in miracles, and therefore the enlightened mind strives to explain them through the immanence of the godly in nature, even though it does not understand them entirely. In Hume, for example, a miracle is defined as: »a transgression of a law of nature by a particular volition of the Deity, or by the interposition of some invisible agent. […] Nothing is esteemed a miracle, if it ever happens in the common course of nature.«6 And on the other hand, from the perspective of the entire opus of Jovan Rajić and his personality, which encompassed the work of a scientist, man of letters and student of divinity, it is even more important that this view is confirmed by the sentence »that not only do scientists not believe such prophecies, but philosophers ridicule them as well, and students of divinity ascribe a deluge and an end to peace not to comets but to God’s power.«7 That was Rajic’s comment on the claims made by the English astronomer and theologian William Whiston (1667–1752), who believed that a comet produced the Deluge at the time of Noah, thereby causing the end of the world. As opposed to Rajić’s paper, wherein scientific, folklore and symbolic-artistic comments intertwine, in the case of Messier’s observation of the same comet (C1769/ P1), scientific approaches are clearly separated from unscientific ones by the fact 6

David Hume: »Of Miracles«. Section XI of An Enquiry Concerning Human Understanding. 1748, p. 85. 7 Jovan Rajić: Астрологическое ωписанiе ω кометахъ и свойствахъ тѣхже. 1769, §16.

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that Messier wrote two papers pertaining to this comet. In Messier’s case, this clear separation of the scientific from the »poetic« principle when describing celestial phenomena was conditioned by the author’s intention. Actually, Charles Messier sent his scientific paper on the discovery of the comet immediately after its first appearance, and on the basis of this, he became a member of the Berlin Academy of Science as early as September 14th 1769, and by the end of that year he was also a member of the French Academy of Science. On the other hand, his memoir (because Messier actually remembers the appearance of this comet in it, which coincided with the beginning of Napoleon’s epoch), was most likely created when Napoleon decorated Messier with a Cross of the Legion of Honour in 1806. Literature on the subject also mentions the possibility that Messier wrote this text with the specific purpose. »The Memoir is an ingratiation to Napoleon in order to receive attention and monetary support. It is full of servility and opportunism. Messier did not even refrain from utilizing astrology to reach his goal. The title-page text illustrates this already: ›Great comet that appeared at the birth of Napoleon the Great, discovered on August 8, 1769, and observed during four months by Mr. Messier.‹«8 Further in his Memoar Messier explicitly underlines symbolism of the appearance of the comet linking it together with the birth of Napoleon. »The comet was discovered around 11 o’clock on the evening of August 8, and ›preceded the birth of Napoleon the Great by 7 days, [who was] born on 15 [starting a] singular and remarkable epoch, and that will serve to record at all the centuries by the periodic returns of the comet, which will not take place until after a long space of time, [as a reminder of ] the birth and reign of the hero of the 18th century.«9 M. Meyer notes that »This sentence is followed by a footnote that is also worthy of mention here: ›Without doubt, there is nobody who still thinks that stars have any influence on events on earth; but this great comet, which is different from all others, appeared at the birth of NAPOLEON THE GREAT, at a remarkable time, to attract the attention of the whole world, and especially of the French people.‹«10 One of the supreme authorities in astronomy in the 18th century, Charles Messier, could afford to commit the greatest of scientific sins – interweaving astronomy with astrology with a view to glorifying the »hero« based on the principles of classicist literature, which the latter took over from similar mechanisms in evidence in the era of antiquity. The political meaning of comets derives from the era of antiquity, especially the Roman era, when astrology was institutionalised as an instrument of

8

Maik Meyer: Charles Messier, Napoleon and Comet C/1769P1. In: International Comet Quarterly, January 2007, p. 3. 9 Charles Messier: Grande Comète qui a paru a la naissance De Napoléon-Le-Grand decouverte et observée pendantquatre mois par M. Messier. 1808. Transl. by M. Meyer, p. 4. 10 Ibid.

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the powers-that-be, which tended to use »the appearance of a comet as a political weapon«.11 Towards the end of the 18th century, along with the maturing of the enlightenment thought, and also with the realisation of enlightenment ideas, the sky became the area for manifesting not only godly but also human creation and power. While man’s first attempts to conquer the sky (9th c. Abbas Ibn Firnas; 11th c. Elmer of Malmesbury), based on the mythical image of wings made of feathers and wax, again represented a direct association to the godly – the flight of an angel, the picture of Blanchard’s balloon flight which travelled around the world towards the end of the 18th century by means of the press, was presented as a miracle, but this time – a miracle constructed by human hands. The fact that man managed to soar up to the celestial sphere, until that moment »reserved« solely for godly manifestations, was presented in the press as an example showing that »man’s reason could attain things hidden from man’s nature and that it might appear to many that such occurrences, which could not happen on the basis of the laws of nature, could happen after all.«12 This news item goes one step further in »desacralising« space, promising in the next issue not only a detailed description of all such flights (until that moment, there had been 38 instances of taking off in Vienna) but also a detailed description of this strange contraption and instructions on how to construct one. This segment of the news about a detailed explanation on how to make a balloon is crucial here, because it points to the fact that balloon flight is not a product of any miracle maker but the end result of an enlightened mind that managed to concretise its ideas. And not only that, but the fact implicitly imparted by this news item – that everyone is capable of »taking off« and flying only if he follows the instructions (of the enlightened), points to another essential idea of the philosophy of enlightenment – a democratisation of knowledge and insistence on education for all. The description of the people and court members gathered in Vienna to watch Blanchard’s balloon flight: »The audience, frozen and gone mute, marvelled following his flight until he went behind the clouds and disappeared from view«,13 directly reminds the readers of the feelings and expressions of those watching the comet that could be seen in graphic images in the press only one decade before.

11

Sara J. Schechner: Comets, Popular Culture and the Birth of Modern Cosmology. New Jersey 1999, p. 24. 12 Wiener Tageblatt; Serbian Daily News, 27th June 1791. 13 Serbian Daily News, 27th June 1791.

Erdmut Jost (Halle) Wie die Aufklärung Übersicht gewann. Basrelief und Vue d’oiseau

Etwa ab der Mitte des 18. Jahrhunderts beginnt ein grundlegender Wandel der Betrachtung von Natur bzw. Landschaft. Das rationalistische Wahrnehmungsprinzip der Rahmenschau, welches auf der Begrenzung des Sichtfeldes zum Zwecke deutlicher Erkenntnis beruht, wird mehr und mehr abgelöst von Aus-, Fern- und Übersichten, vor allem von der neuen panoramatischen Sehweise, dem Blick bis an die Horizontlinie.1 Statt um Begrenzung geht es nun um Entgrenzung des Blicks. Erforderte die gerahmte Sicht Bewegungslosigkeit, um ein Detail scharf ins Auge fassen zu können, bildet sich für die neuen Übersichten das ›schweifende Auge‹ heraus, ein bewegliches Sehen, das »alles übersehen und alles erfassen möchte«.2 Es ist dies ein Akt optischer Bemächtigung, eine »Domestizierung der wilden Natur durch den bewundernden Blick«,3 welcher der tatsächlichen Beherrschung vorausgeht. Indem aber das betrachtende Subjekt im Überblick buchstäblich ›freie Sicht‹ gewinnt, vollzieht es gleichzeitig, wie ich im Folgenden zeigen möchte, einen Akt der Selbstbefreiung, der Emanzipation vom Naturzwang wie von überkommenen gesellschaftlichen Verhältnissen. Entscheidend befördert wird die Durchsetzung der neuen Sehweisen durch etwas, das man landschaftliches »Wahrnehmungstraining« (Albrecht Koschorke) nennen könnte:4 Reisende suchen die Natur, in erster Linie die der großen bzw. erhabenen Bergwelt, gezielt auf, um unterschiedlichste visuelle Erfahrungen machen zu können. Da es jedoch im 18. Jahrhundert den wenigsten vergönnt war, ausgedehnte Reisen zu unternehmen, spielte die Reiseliteratur, welche denn auch nicht zufällig zu einem der beliebtesten und auflagenstärksten Genres avanciert, bei der Popularisierung neuer Wahrnehmungsweisen eine Vorreiterrolle. Sie fungiert als ›Schule des Sehens‹ nicht nur für den Autor selbst, sondern für das breite Publikum. Die Sucht nach Überschau (Stephan Oettermann) ließ sich aber nicht nur in der Natur oder mittels des Nachvollzuges von Landschaftsdarstellungen in den Reiseberichten befriedigen, sondern auch durch eine ganze Reihe neuer Kunstformen, 1

Vgl. Götz Großklaus: Der Naturraum des Kulturbürgers. In: Natur als Gegenwelt. Beiträge zur Kulturgeschichte der Natur, hrsg. v. dems., Ernst Oldemeyer. Karlsruhe 1983, S. 169–196, S. 187. 2 Ebd. [Hervorh. E.J.] 3 Monika Wagner: Das Gletschererlebnis – Visuelle Naturaneignung im frühen Tourismus. In: Großklaus, Oldemeyer: Natur als Gegenwelt, S. 235–263, S. 239. [Hervorh. E.J.] 4 Albrecht Koschorke: Die Geschichte des Horizonts: Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern. Frankfurt a. M. 1990, S. 190.

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die sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts entwickelten. Dabei handelt es sich um das Panorama, welches eine 360-Grad-Umsicht ermöglichte, das Diorama oder Durchscheinbild, bei dem Lichtwechsel und Wettererscheinungen simuliert werden konnten, das filmartige Pleorama und schließlich das Basrelief, ein plastisches Landschaftsmodell, dem die folgenden Ausführungen gelten sollen. Allen diesen ›neuen Medien‹ ist eigen, dass sie Surrogate für die schwer zugängliche und darüber hinaus unberechenbare Natur bilden. Hier herrschen ideale Umwelt- und damit Sichtbedingungen: Keine Wolke, kein strömender Regen, keine Vegetation oder Baulichkeit behindert den Über- und Fernblick.

Kapitel I: Das Relief der Urschweiz In der Schweiz entstehen im 18. Jahrhundert mehrere topographisch genaue Landschaftsmodelle oder Basreliefs.5 Das berühmteste dieser Art war das Relief der Urschweiz des Luzerner Patriziers und pensionierten Generals Franz Ludwig Pfyffer von Wyher (1716-1802), welches auf rund 25 Quadratmetern den Vierwaldstättersee zeigt, umgeben von Luzern, Unterwalden, Zug und angrenzenden Teilen von Uri, Schwyz und Bern. Gegen Süden erheben sich die Alpen, welche ungefähr ein Drittel der gesamten Fläche einnehmen. Minutiös nachgebildet sind die Vegetation, die damalige Bebauung sowie das Straßen- und Wegenetz, so dass das Relief den heutigen Betrachter an eine größere Modelleisenbahnanlage gemahnt. Der Maßstab beträgt 1:12.500 für die Horizontale und 1:10.000 für die Vertikale (vgl. Abb. 1). Pfyffer hatte fast 25 Jahre an dem Modell gearbeitet; die topographischen und zeichnerischen Vorarbeiten im Gelände unternahm er zumeist allein, bzw., wie Reisende immer wieder gerne kolportierten, in Begleitung zweier Ziegen, die ihn mit Milch versorgten (Abb. 2).6 Bei der plastischen Gestaltung des Reliefs orientierte er sich an der Sammlung von Festungsreliefs im Louvre, die er vermutlich während seiner Offiziersausbildung in Paris kennen gelernt hatte.7 Ausgestellt wurde das Modell wahrscheinlich im Sommerhaus des Generals am Löwengraben in Luzern.8

5 Vgl. Erdmut Jost: Landschaftsblick und Landschaftsbild. Wahrnehmung und Ästhetik im Reisebericht 1780–1820. Freiburg i. Br. 2005, S. 259. 6 Vgl. z. B. Sophie von La Roche: Tagebuch einer Reise durch die Schweitz. Altenburg 1787, S. 137. 7 Vgl. Andreas Bürgi: Die vielen Facetten von Franz Ludwig Pfyffers »Relief der Urschweiz«. In: Bulletin de l’ACVS 3 (2001). URL: http://www.acpvs.ch/fileadmin/ACVS/upload/upload/pdf/ bulletin2001/Andreas_ Burgi.pdf. [20.10.2010]. 8 Vgl. ders.: Relief der Urschweiz. Entstehung und Bedeutung des Landschaftsmodells von Franz Ludwig Pfyffer. Zürich 2007, S. 117.

Wie die Aufklärung Übersicht gewann. Basrelief und Vue d’oiseau

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Abb. 1: Das Relief der Urschweiz, Gesamtansicht von oben. Foto um 1970.

Abb. 2: Franz Ludwig Pfyffer am Pilatus zeichnend. Gemälde von Josef Reinhard, um 1786.

Pfyffer repräsentierte für die Zeitgenossen den Inbegriff des Forscher- und Entdeckergeistes der Aufklärung. Sie stellten ihn in eine Reihe mit den großen Forschungsreisenden des 18. Jahrhunderts, wenn etwa Gerhard Anton von Halem bemerkt, dass Pfyffers »Rede« ihn so leicht gelenkt habe, wie ihn »Cooks Wort bey einer Reise nach dem Südmeere gelenkt haben würde«.9 Tatsächlich war sein Relief weitaus mehr als eine bloß gelungene Nachahmung von Natur. Nämlich Monument der Naturbeherrschung einerseits – Pfyffer hatte mit ihm die feindliche Natur der Hochalpen als ›Weltvermesser‹ gleichsam verfügbar gemacht – und machtpolitisches Instrument andererseits. Der General, nach seiner Entlassung aus der französischen 9

Gerhard Anton von Halem: Blicke auf einen Theil Deutschlands, der Schweiz und Frankreichs bey einer Reise vom Jahre 1790, hrsg. v. Wolfgang Griep, Cord Sieberns. Bremen 1990, S. 67.

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Armee Interessenvertreter der französischen Krone in der Innerschweiz, fertigte das Modell nicht zuletzt deshalb an, um der katholischen Luzerner Regierung eine topographisch genaue Kenntnis des eigenen Landes zu verschaffen. Das Relief stellt somit »ein Stück Herrschaftswissen« dar,10 zustande gekommen gegen den massiven Widerstand der innerschweizerischen Bevölkerung, die befürchtete, feindliche Mächte könnten sich dereinst des Modells bedienen, um die Schweiz zu erobern.11 Der Reiz des Werkes, das bis ins frühe 19. Jahrhundert zu den Hauptsehenswürdigkeiten der Schweiz gehörte,12 liegt gleichwohl in seiner »merkwürdige[n] Zwischenstellung«,13 seinem Changieren zwischen Wissenschaft, Kunst und Politik. Sophie von La Roche nennt es ein »Kunststück […] der Vaterlandsliebe«,14 lässt sich doch mit seiner Hilfe die »innige Verbindung von schweizerischer Freiheit und alpiner Landschaft« nachvollziehen,15 der seit Hallers Alpen bestehende Topos, dass die Hochgebirge als Schutzwall gegen Despotismus und Dekadenz wirkten.16

Kapitel II: Ermächtigung Am Beginn der Befreiung des Blicks im perfekten Schauraum des Basreliefs steht bezeichnenderweise die Nahsicht oder Optik der Lupe. 1779, auf seiner Reise mit Goethe, beschreibt Carl August von Sachsen-Weimar seine Seherfahrung des Pfyfferschen Modells in einem Brief an seine Mutter folgendermaßen: »Was am meisten dafür, nemlich vor die Trefflichkeit des Werks zeugt, ist, wenn man es durch ein Glas perspektivisch ansieht, es die Erinnerung der Würkung hervorbringt, die die Natur auf einen gemacht hat«.17 Und im Helvetischen Kalender von 1782 heißt es: »[W]ünscht jemand eine beliebige Aussicht, so bückt er sich bis zur Höhe der Stadt oder des Bergs, dessen Aussicht er genießen will und er erblickt eben die Gegenstände in proportionierter Höhe und Entfernung, welche dem Reisenden auf dieser Gegend selbst sich zeigen«.18 Louis-Sébastien Mercier schließlich fühlt sich drei Jahre 10

Bürgi: Facetten. Vgl. z. B. Horace-Bénédict de Saussure: Voyages dans les Alpes. Précédés d’un Essai sur l’histoire naturelle des environs de Genève. Bd. 4. Neuchâtel 1796, S. 119. 12 Vgl. Andreas Bürgi: Höhenflüge. In: Die Schwerkraft der Berge: 1774–1997, hrsg. v. Stephan Kunz, Beat Wismer u. Wolfgang Denk. Basel, Frankfurt a. M. 1997, S.33 ff. 13 Bürgi: Facetten. 14 La Roche: Tagebuch, S. 136. 15 Bürgi: Facetten. Vgl. Bürgi: Relief, S. 143. 16 Vgl. Albrecht von Haller: Die Alpen. In: Ders.: Die Alpen und andere Gedichte. Stuttgart 1994, S. 22, S. 5. 17 Brief vom 19.11.1779. In: Briefe des Herzogs Carl August von Sachsen-Weimar an seine Mutter, die Herzogin Anna Amalia, Oktober 1774 bis Januar 1807, hrsg. v. Alfred Baumann. Jena 1938, S. 30. 18 Helvetischer Kalender 3 (1782), S. 134. 11

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später gar, »als wäre meinem Auge ein Mikroskop aufgesetzt worden; ich sah, wie alle Gegenstände sich vergrößerten«.19 Hier dominiert immer noch die Wahrnehmungsweise der Rahmenschau, wie sie August Langen gefasst hat, nämlich als die »Tendenz, den jeweiligen Apperzeptionspunkt, den kleinen [Natur-]Ausschnitt der schärfsten und deutlichsten Wahrnehmung abzusondern, einzufassen und losgelöst zu betrachten«.20 Langen sah denn auch im Basrelief eine typische Abart der Rahmenschau.21 Die Autoren, welche das Relief durchs Vergrößerungsglas beschauen, betrachten es jedoch immer noch als Kunstwerk, als Abbild von Landschaft; mit Herzog Carl August bringt es nur die ›Erinnerung der Wirkung der Natur‹ hervor, nicht die Wirkung selbst. Es verwundert denn auch nicht, dass die Besucher bis Ende der 1780er Jahre stets auf die ›Kunstfertigkeit‹, den ›Fleiß‹ und den Erfindungsreichtum Pfyffers als Modellbauer rekurrieren, der seine Landschaft aus »Gips, Wachs, Spiegel[n], Zinn, Wolle und

Abb. 3: Die erste Darstellung des Reliefs der Urschweiz noch ohne das nördliche Mittelland, Radierung von Balthasar Anton Dunker in Beat Fidel Zurlaubens Tableaux topographiques de la Suisse (1777).

19

Louis-Sébastien Mercier: Tableau en relief de la suisse. In: Ders.: Mon bonnet de nuit, 4 Bde., Lausanne 1785–1788, Bd. 4 (1788), S. 81–89, S. 86. [Übers. v. E.J.] 20 August Langen: Anschauungsformen in der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts. Rahmenschau und Rationalismus. Jena 1934. Reprint Darmstadt 1968, S. 8. 21 Ebd., S. 19.

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Nadeln« gestaltet22 und bei der Herstellung von Nadelwäldern schon mal auf eine »umgekehrte[.] zottige[.] Nachtmütze aus Baumwolle« zurückgreift.23 Damit das Relief aber der Befreiung des Blicks und der Selbstermächtigung des Rezipienten dienen kann, bedarf es zum einen einer veränderten Sichtweise, zum anderen muss das Modell mit seinem Urbild, der großen Natur, identifiziert werden (vgl. Abb. 3). Den Anfang dieser Entwicklung markiert eine Bemerkung Leonard Meisters aus den Kleinen Reisen durch einige Schweizer-Cantone, welche die Optik der Lupe mit der der Übersicht verknüpft: »Kann man[.] [das Relief ] à vue d’oiseau durch ein Vergrößerungsglas ansehn, so ist’s als säh man wie Zeus vom Olymp auf die Erdgebürge hinunter«.24 In der Folge verschwindet die Nahsicht mehr und mehr aus den Darstellungen des Reliefs in der Reiseliteratur und wird von der Überschau abgelöst. Gleichzeitig schreibt sich ein buchstäbliches Herrschaftsvokabular in die Texte ein, wenn etwa Mercier feststellt, es sei »kein geringes Vergnügen, sich mit seinen fünf Fuß [1,62 m] als Herrscher dieser Monumente von zweitausend Klafter Höhe zu finden«25 oder William Coxe in seinen Travels in Switzerland das Relief mit einem – gewonnenen – ›Kampf der Titanen‹ vergleicht.26 Am Ende verschwimmen Modell und Landschaft, wie dies Gerhard Anton von Halem 1790 zusammenfasst: »Das Auge überschaut mit unbeschreiblichem Vergnügen im Vogelblick das ganze Land, das man im Schweiß seines Angesichts durchzog, und noch durchziehen will. Man staunet über die Höhe des Gotthards und seiner Brüder, in deren Vergleichung der Albis, der Rigi und der Pilatus zu Hügeln herabsinkt«.27 Dem neuen Wahrnehmungsbedürfnis trägt dann auch General Pfyffer Rechnung, indem er »ein kleines aufgestuftes Gerüste« aufstellen lässt,28 ein ›Schaugerüst‹, welches die Illusion von Landschaft in der Übernahme der neuen Sehgewohnheit des Blicks von oben perfekt machte – und das mühsame Sich-Bücken über das Modell obsolet. Stephan Oettermann hat, mit Bezug auf die Massenwirkung der Kunstform Panorama, von einer »Demokratisierung des Blicks« gesprochen.29 Vergleichbares lässt 22

La Roche: Tagebuch, S. 136. Friedrich Leopold Graf zu Stolberg: Reise in Deutschland, der Schweiz, Italien und Sicilien. In: Gesammelte Werke der Brüder Christian und Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg. Bd. 6 und 7. Hamburg 1822, Bd. 6, S. 138 f. 24 Leonard Meister: Kleine Reisen durch einige Schweizer-Cantone. Ein Auszug aus zerstreuten Briefen und Tagregistern von Leonard Meister. Basel 1782, S. 64. 25 Mercier: Tableau en relief, S. 83. 26 William Coxe: Travels in Switzerland. In a series of letters to William Melmoth, Esq. London 1789, S. 256. 27 Halem: Blicke, S. 67. 28 Stolberg: Reise, S. 139. 29 Stephan Oettermann: Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums. Frankfurt a. M. 1980, S. 20. 23

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sich auch vom Basrelief sagen. Die Zeitgenossen erlebten gesellschaftliche Hierarchien wesentlich stärker als ein System von ›oben‹ und ›unten‹, als dies heute noch der Fall ist. Die Emanzipation von den traditionellen Verhältnissen setzte deshalb die Gewinnung eines im übertragenen Sinne erhöhten Standortes mit freier Sicht voraus. Diese Übernahme der Machtperspektive durch bürgerliche Autoren stellt, so weist Caroline Torra-Mattenklott am Beispiel von Karl Philipp Moritz nach, in der Aufklärung einen »privilegierte[n] Erfahrungsmodus, ein[en] Akt der Selbstbefreiung und häufig auch der Selbstreflexion« aus einer als »bedrängend« erlebten sozialen Realität dar.30 Die psychische Wirkung der Übersicht wiederum setzt Torra-Mattenklott zum Erhabenen in der Kantischen Fassung in Beziehung. Die räumliche Distanznahme zwecks reflexiver Gewinnung von Erkenntnis nähere sich »paradoxerweise jenem idealen Erkenntnismodus an, bei dem intellektuelle Erkenntnis und sinnliche Anschauung in einer der Zeit enthobenen Erfahrung der Transparenz miteinander verschmelzen«.31

Kapitel III: Entgrenzung Wenn Johann Kaspar Lavater 1785 die Wahrnehmung des Pfyfferschen Reliefs mit einem Ballonflug vergleicht,32 so macht er, neben der Überschau, noch eine weitere Sehweise geltend, nämlich das sogenannte schweifende Auge. Anders als das Panorama, welches den Betrachterstandort fixierte und einzig einen Rundumblick in die Ferne ermöglichte, erlaubte das Basrelief, verschiedene Perspektiven einzunehmen und gleichsam über die Landschaft hinwegzufliegen. Dabei kommt es zu genau jenem ›idealen Erkenntnismodus‹ des Erhabenen, den Torra-Mattenklott beschrieben hatte, wie ich nun am Beispiel von Merciers Aufsatz Tableau en relief de la Suisse zeigen möchte, aus dem bereits mehrfach zitiert wurde. Der Text beginnt mit einer ganz konventionellen Einleitung, bei der General Pfyffer und sein Werk vorgestellt werden. Doch bereits nach wenigen Sätzen kippt die Darstellung. »Der geometrische Maßstab ist von staunenswerter Genauigkeit«, notiert Mercier, um dann völlig unvermittelt fortzufahren: »Sie umkreisen diese Massen, Sie erkennen die Arbeit der Gewässer, Sie sehen den schwebenden See, ein 30

Caroline Torra-Mattenklott: Melancholie und Übersicht. Formen und Funktionen der Synopsis bei Karl Philipp Moritz. Unveröffentlichter Aufsatz. In: Emotion und Kognition. Transformationen in der europäischen Literatur des 18. Jahrhunderts, hrsg. v. Sonja Koroliov, erscheint vorauss. 2013 im De Gruyter Verlag, Berlin u. a., [S. 4]. 31 Ebd., [S. 8]. 32 Vgl. Johann Kaspar Lavater: Reisetagebuch nach Süddeutschland 1778. Reisetagebuch in die Westschweiz 1785. Brieftagebuch von der Reise nach Kopenhagen 1793, hrsg. v. Horst Weigelt. 2 Bde. Bd. 2. Göttingen 1997, S. 41.

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Felsen hemmt seinen Fall, und Ihre Einbildungskraft sieht den See das Hindernis durchbrechen und an dem Koloss herabstürzen, um die Großartigkeit der Seen der Ebene zu mehren«.33 Und wenig später heißt es: »Das Auge streift durch diese Täler; es taucht hinein, es steigt wieder hinauf, es umkreist die gewaltigen Bergketten, es stürzt sich in die Schluchten hinab, wo die Jäger ihre Beute verfolgen«.34 Ergebnis dieses beweglichen, allseitigen Sehens oder besser: Sehrausches aber ist höhere Erkenntnis, und zwar in dreifacher Hinsicht. Erstens erhält der enthusiasmierte Beschauer Einsicht in die Naturgeschichte, erkennt, wie er schreibt, die »gemeinsame Harmonie« der scheinbar formlosen Massen, decouvriert den »Plan« dieser »raue[n] und giganteske[n] Natur«, begreift »ihre kühnen Entwürfe«.35 Zweitens enthüllt sich vor ihm die moralische Verfasstheit der Nation, da er sämtliche Plätze des historischen Schweizer Freiheitskampfes betrachten kann: »Sie sehen den Ort, wo die Helvetische Union geschworen wurde, den Platz, wo Wilhelm Tell mit dem Fuß das Boot zurückstieß, auf dem sich sein Tyrann befand«.36 Und drittens erschließen sich ihm die politischen Verhältnisse des Landes, welche mit den natürlichen und moralischen untrennbar verknüpft sind. »Das Auge entdeckt«, so heißt es, »warum der Despotismus in diesen Hochgegenden niemals seine Anmaßung entfalten konnte, denn indem sich der Unterdrückte um einige Klafter erhebt, tritt er dem Unterdrücker auf den Kopf. Die Bergbewohner sind geboren, um frei zu sein, und hier würde niemand auch nur vermuten, dass es Menschen geben könnte, die mit dem Vorrecht zu Welt kamen, über andere zu herrschen«.37 Merciers virtuelle Erkenntnisreise über das Modell mittels einer entfesselten Phantasie, die beispielsweise Andreas Bürgi als reine ›Phantasmagorie‹ erscheint,38 findet gleichwohl ihre Entsprechung in zahllosen ›Seelenflügen‹ in der Reiseliteratur der 90er Jahre des 18. Jahrhunderts. Und während Mercier, ganz im Sinne Kants,39 die physische Sicherheit des Modells preist, die für sein erhabenes Erleben notwendig ist – er betont immer wieder, er habe alles gesehen, ohne »mich der Gefahr ausgesetzt zu haben, in den Abgründen herumzuirren«40 – begeben sich diese Reisenden bewusst in die Hochgebirgswelt. Ein bloßes Landschaftssurrogat reicht für die gewünschte erkenntnisfördernde Wirkung nicht mehr aus. »Mein Herz klopfte laut«, notiert Frie33

Mercier: Tableau en relief, S. 81. Ebd., S. 83. 35 Ebd. 36 Ebd., S. 84. 37 Ebd., S. 85. 38 Vgl. Bürgi: Relief, S. 143. 39 Vgl. z. B. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, hrsg. v. Karl Vorländer, mit einer Bibliographie v. Heiner Klemme. Hamburg 1990, S. 107. 40 Mercier: Tableau en relief, S. 87. 34

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derike Brun 1791 in den Prosaischen Schriften beim Anblick des Montblanc, »und leichter wallte mein Blut in den Adern; diese reine Luft, ätherisch und milde, hebt jede Empfindung zur reingestimmten Harmonie des Ganzen. Alle Sinnen geöfnet, strömen der Seele hellere Begriffe zu«.41 Wie Mercier, so erhält auch Brun Einblicke in die Naturgeschichte der Landschaft, wenn es heißt, die Berge als »Jahrbücher der Zeit« führten die Betrachter »über die Grenzen unsers beschränkten Daseyns hinaus, und lassen uns kühne Blicke zurückwagen, in den dämmernden Schooss der Urzeit«.42 Neben allgemeingültigen Erkenntnissen möchte die Autorin jedoch noch ganz eigene gewinnen. Die Übersicht, welche sie anstrebt, ist geschlechtsspezifisch konnotiert. Das Gebirge verschafft Brun als Frau freie Sicht, wenn sie schreibt: »[M]an kann doch in wenig Minuten viel umfassen, wenn man seine Geisteskraft zu concentriren […], und von der unumfassbaren Fülle des Details hinweg auf das zu heften [weiß], welches jedesmahl das grösste und hier einzig sichtbare ist. Männer lernen durch Erziehung und Geschäftsgang dies öfter; allein wir Frauen, deren ganzes Leben oft Detail ist, und die der Männerstolz so gern da hineinbannte, gewinnen seltner Raum, diese wichtige Kunst zu lernen«.43 Indem also Brun ihren »Geist mit meinen Blicken« im unermesslichen Gebirgsraum auf die Reise schickt,44 wird die ganze sichtbare Umwelt zur Spielwiese auch für die weiblichen Erkenntniskräfte, entwickeln sich die Übersicht und das schweifende Auge zu Ermächtigungsinstrumenten auch für Frauen.

Kapitel IV: Bedeutungswandel des Basreliefs um 1800 Je mehr sich in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts die Tendenz zum ›Selbersehen‹ der Bergwelt durchsetzte, desto mehr änderte sich die Wahrnehmung von Pfyffers Relief und damit die Funktion, welche die Reisenden ihm zuschrieben. Dabei spielte aber noch eine weitere Ursache eine wichtige Rolle, das Relief geriet nämlich politisch in Verruf. Friederike Brun konnte das Modell, das sie aus eigener Anschauung kannte, begreiflicherweise keine Begeisterung mehr entlocken. Sie erwähnt es nur ein einziges Mal, und zwar in Zusammenhang mit ihrem Aufstieg ins Chamonix-Tal. An ihre Adressatin, die Schwester Johanna von Eggers, schreibt sie: »Wie man in ein Thal hinaufsteigt, davon, mein liebes Kind, haben wir Insulaner keinen klaren

41

Friederike Brun: Prosaische Schriften von Friederike Brun, geb. Münter. 4 Bde. Zürich 1799–1801, Bd. 1 (1799). S. 279. 42 Ebd., S. 176. 43 Ebd., S. 261 f. 44 Ebd., S. 178.

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Begrif; und nur die Erfahrung, oder Pfyffers Modelle können uns diese Vorstellung versinnlichen«.45 Die erläuternde Fußnote, dass Pfyffers Reliefs »in ihrer Art wo nicht einzig sind, doch noch immer vor allen andern durch ihre Wahrheit sich auszeichnen«,46 macht anschließend deutlich, dass Brun im Basrelief nur noch eine topographische Karte sieht;47 die Identifikation von Modell und Landschaft wie seine Betrachtung als Kunstwerk gehören der Vergangenheit an. 1808 unterzieht dann Hermann von Pückler-Muskau das Relief und seinen Schöpfer einer vernichtenden Kritik. Seines Erachtens gewähre das Werk, so schreibt er, »anstatt eines Naturgenusses vielmehr einen widrigen Anblick, die in der Schweiz so imposante, eben durch ihren grossen Charakter so in Erstaunen setzende Natur jämmerlich ins Kleine, wie bei einem Spielwerk für Kinder, nachgedrechselt zu sehen, wo die Seen 4 Zoll im Durchmesser haben und der höchste Berg noch nicht die Grösse eines Maulwurfhügels erreicht«.48 Die Wahrnehmungsweise des Abb. 4: Die nach dem Relief der Urschweiz und Pfyffers Modells hat sich entscheidend Vermessungen von Jakob Josef Clausner angefertigte verändert. Für Pückler steht geCarte en Perspective du Nord au Midi, etwa 1:120000, rade die Unvergleichbarkeit und Radierung, 1786. Unbemessbarkeit der Natur im Vordergrund, ihr ›grosser Charakter‹. Um diesen zu erfassen, muss sich der Betrachter unmittelbar in die Natur begeben. Pfyffers zuvor so sehr gelobter Fleiß und seine Kunstfertigkeit lösen bei Pückler nur noch Hohn und Spott aus: »Es mag, wer da will, den General Pfyffer bewundern […], was mich betrifft, so kann ich mich nicht erwehren, dabei an den Mann zu denken, der sein ganzes Leben dazu anwandte, tau-

45

Ebd., S. 237. Ebd. 47 Vgl. Bürgi: Höhenflüge, S. 35. 48 Hermann von Pückler-Muskau: Briefe aus der Schweiz, hrsg. u. komm. v. Charles Linsmayer. Zürich 1981, S. 37 f. 46

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send Gesichter in einen Kirschkern zu schneiden.49 Auch Pückler möchte das Basrelief so verwendet sehen, wie Brun das getan hatte: »[B]loss als Karte betrachtet«50 (vgl. Abb. 4). Ironischerweise war es diese Entzauberung des Reliefs, seine Reduktion vom beziehungsreichen Kunstwerk, von der symbolischen Landschaft auf eine bloße Landkarte, die dazu führte, dass sich seine in zwei Jahrzehnten etablierte emanzipatorische Bedeutung als ›Schule des freien Blicks‹ bzw. Demonstration von Schweizer Freiheit ins Gegenteil verkehrte. Im Januar 1798 besetzten französische Revolutionstruppen das Waadtland und proklamierten die République lémanique; im März wurde Luzern eingenommen und General Pfyffer, als langjähriger Amtsträger des Ancien Régime, aus dem Dienst entfernt. Ein Jahr später, als sich die österreichischen und russischen Koalitionstruppen anschickten, die Franzosen aus der Schweiz zu vertreiben, erhielt Pfyffer plötzlich den Besuch des französischen Generals Claude-Jacques Lecourbe, der den Auftrag hatte, den Gotthard zurückzuerobern und damit zu verhindern, dass sich die Koalitionstruppen bei Zürich vereinigten. Um sich die dazu nötige Terrainkenntnis zu verschaffen, wollte er das Relief der Urschweiz konsultieren.

Abb. 5: Teilansicht des Muotatal-Reliefs von Josef Siegmund Niederöst (1802), das die Kämpfe zwischen Franzosen und Russen vom 1. Oktober 1799 zeigt.

49

Ebd., S. 38. Pückler spielt hier auf den berühmten, aus dem späten 16. Jahrhundert stammenden Kirschkern an, der heute noch im Grünen Gewölbe zu Dresden gezeigt wird und auf dem 113 Gesichter zu sehen sind. 50 Ebd., S. 37.

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Der Plan ging auf. Lecourbe konnte die Truppen des russischen Generals Alexander Suworow in das abgelegene Muotatal abdrängen und so dessen Marsch nach Zürich lange genug verzögern, um General André Masséna den Sieg in der zweiten Schlacht von Zürich zu ermöglichen51 (Abb. 5). Die Befürchtung jener Schweizer, die vehement versucht hatten, Pfyffers Vermessungsarbeiten zu verhindern, weil sie darin eine Bedrohung ihrer Freiheit sahen, bewahrheitete sich also doch noch. Dass Lecourbe mit Hilfe des Modells die Befreiung der Schweiz vereitelt hatte, sprach sich schnell herum und führte zu Verdächtigungen gegenüber seinem Erbauer. So mutmaßt etwa Johann Gottfried Seume in seinem Spaziergang nach Syrakus 1803, Pfyffer habe mit dem französischen General gemeinsame Sache gemacht: »Lecourbe«, heißt es dort, »gegen

Abb. 6: Franz Ludwig Pfyffer hinter einem Teilstück seines Reliefs, Ölgemälde von Josef Reinhard, 1802.

den der alte General zuerst eine entschiedene Abneigung zeigte, wusste durch seine Geschmeidigkeit endlich den guten Willen des Greises so zu gewinnen, dass er sich als seinen Schüler ansehen konnte. Die Schule hat ihm genützt; und es wird allgemein nicht ohne Grund behauptet, er würde den Krieg in den Bergen nicht so vortheilhaft gemacht haben ohne des Alten Unterricht«52 (Abb. 6). 51

Vgl. Bürgi: Relief, S. 179 ff. Johann Gottfried Seume: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig und Leipzig 1803, S. 423. 53 Friederike Brun: Episoden aus Reisen durch das südliche Deutschland, die westliche Schweiz, 52

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Aber nicht nur das Relief wurde durch die politischen Ereignisse entzaubert, sondern auch die Landschaft der Schweiz selbst. Friederike Brun, welche das Land nach der französischen Besetzung erstmals im September 1801 wieder besucht, findet die Gebirgswelt völlig verändert, ihrer symbolischen Gehalte entkleidet: »Eine ganze innre Welt von heitern und menschenehrenden Begriffen und Bildern ist in mir untergegangen; und diese leuchtenden Kuppeln, die Schneefirnen, diese tiefgeklüfteten Thäler, sind jetzt ihres Heiligenscheines von Freyheit, Unverletzbarkeit, Unschuld und Frieden beraubt, zu Eis und Schnee, und zur Höhe und Tiefe geworden«.53 Nach der Jahrhundertwende dienten Basreliefs fortan vor allem wissenschaftlichen und pädagogischen Zwecken; für die landschaftliche Übersicht lieferte der alte Konkurrent des Basreliefs, das Panorama, den bis heute gültigen Begriff. Bedeutsam erscheint allerdings in unserem Zusammenhang, dass der Terminus ›Basrelief‹ um 1800 für kurze Zeit als Gattungsname einer Form der historischen Überblicksdarstellung, häufig in Versen, verwendet wird. Einen dieser Texte veröffentlicht der Neue Teutsche Merkur 1803. Er stammt von dem Schweizer Pfarrer und Volksschriftsteller Johann Conrad Appenzeller und trägt den bezeichnenden Titel »Basrelief am Sarkofage Helvetiens«.54 Alle Abbildungen aus: Andreas Bürgi: Relief der Urschweiz. Entstehung und Bedeutung des Landschaftsmodells von Franz Ludwig Pfyffer, Zürich 2007. (Abb. 1: S. 9, Abb. 2: S. 19, Abb. 3: S. 114, Abb. 4: S. 146, Abb. 5: S. 183, Abb. 6: S. 187).

Genf und Italien in den Jahren 1801, 1802 und 1803, nebst Anhängen vom Jahr 1805. 2 Bde. Zürich 1806–1809. Bd. 1, S. 121. 54 Basrelief am Sarkofage Helvetiens. Im Jahre 1799. In: Neuer Teutscher Merkur 1803. Bd. 2, S. 179–184.

9. sektion: Fall und Fallgeschichte – Der Mensch als Sache anthropologischer Diskurse

Yvonne Wübben (Bochum) Fall und Fallgeschichte – Der Mensch als Sache anthropologischer Diskurse: Einleitung Die Sektion untersucht den Mensch als Sache anthropologischer Diskurse und möchte zwei aktuelle Forschungsdiskussionen miteinander verknüpfen: zum einen Forschungen zum Fall1 bzw. zur Fallgeschichte, zum anderen die Frage nach der Entstehung der Anthropologie und der Bedeutung zentraler anthropologischer Topoi wie der Rede vom ganzen Menschen.2 Die Verknüpfung dieser Diskussionen kann für die Wissensgeschichte der Anthropologie in vielfacher Hinsicht ertragreich sein. Mit welchem Wissensanspruch verschiedene Anthropologen auftreten, lässt sich nämlich weder allein aus der Rekonstruktion ihres konkreten Fallwissens noch aus den zentralen wissenstheoretischen Positionen bzw. Topoi ableiten, die sie verwenden. Der Anspruch wird prägnant auch in kognitiven oder textuellen Organisationsformen greifbar, die die Anthropologie des 18. Jahrhunderts kennzeichnen. Anthropologisches Fallwissen kann entsprechend der geläufigen Bedeutungskomponenten von ›Fall‹ zumindest in dreierlei Hinsicht untersucht werden. Erstens ist der Fall, wie John Forrester gezeigt hat, als eine Wissensform zu verstehen, d. h. als Art zu denken,3 die in Jurisprudenz und Psychoanalyse verbreitet ist. In diesem Sinn verweist er zugleich auf zwei Charakteristika der frühneuzeitlichen Anthropologie: einerseits auf ihre Orientierung an der Experienz sowie andererseits auf die Bedeutung des Singulären bzw. des Individuellen für die anthropologische Wissensordnung. Darüber hinaus kann der Fall im Sinn von Fallgeschichte gedeutet werden. Zwar handelt es sich hierbei um einen für das 18. Jahrhundert anachronistischen Sprachgebrauch. Gleichwohl hat er eine sinnvolle heuristische Funktion. Denn mit 1

Johannes Süßmann, Susanne Scholz, Gisela Engel (Hrsg.): Fallstudien: Theorie – Geschichte – Methode. Berlin 2007; Susanne Lüdemann: Literarische Fallgeschichten. Schillers ›Verbrecher aus verlorener Ehre‹ und Kleists ›Michael Kohlhaas‹. In: Jens Ruchatz, Stefan Willer, Nicolas Pethes (Hrsg.): Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen. Berlin 2007, S. 208–223; Alexander Košenina (Hrsg.): Themenheft »Fallgeschichten – Von der Dokumentation zur Fiktion«. Zeitschrift für Germanistik 19 (2009), H. 2. 2 Carsten Zelle: Zur Idee des ›ganzen Menschen‹ im 18. Jahrhundert. In: Udo Sträter (Hrsg.): Alter Adam und Neue Kreatur. Pietismus und Anthropologie. Beiträge zum II. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2005. Tübingen 2009 (Hallesche Forschungen; 28/1), S. 45–61; sowie ders. (Hrsg.): ›Vernünftige Ärzte‹. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung. Tübingen 2001 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung; 19); Yvonne Wübben: Gespenster und Gelehrte. Georg Friedrich Meiers ästhetische Lehrprosa. Tübingen 2007, S. 248–252. 3 John Forrester: If p, then what? Thinking in cases. In: History of the Human Sciences 9 (1996), S. 1−25.

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9. Sektion · Yvonne Wübben

dem Terminus ›Fallgeschichte‹ wird das Augenmerk auf das Erzählen gerichtet. Der zweite Teil des Kompositums betont mithin den Umstand, dass anthropologisches Wissen narrativ verfasst ist und erzählt werden muss. Drittens kann mit Fall eine epistemische Gattung gemeint sein, die spezifischen Mustern folgt und Denkgewohnheiten reflektiert, z. B. den Praxisbezug des Wissens oder die Experienz. Die Wissenschaftshistorikerin Gianna Pomata begreift Gattungen in diesem Sinn als literarische Formen der Erkenntnis, die eine bestimmte Anordnung von Material ermöglichen.4 Die Gattung Fall (Kasus) stellt demnach einen Rahmen bereit, der der Anordnung von Material diente und mit der Aufwertung von Experienz einherginge. Dass die Erfahrungsorientierung im 18. Jahrhundert mit einer Konjunktur des Kasus koinzidiert, könnte einen konstitutiven Zusammenhang zwischen der sich ausbildenden anthropologischen Wissensordnung, ihren Wissensansprüchen und der Verbreitung bestimmter Gattungen nahelegen. Die vorliegende Sektion geht dieser Vermutung nach, indem sie die epistemischen Genres von Naturlehre, Anthropologie und Erfahrungsseelenkunde untersucht und die jeweiligen Wissensansprüche ermittelt, die sich mit der Verbreitung bestimmter Gattungen in der Frühen Neuzeit sowie im 18. Jahrhundert artikulieren. Der Beitrag von Fabian Krämer widmet sich der observatio in der frühneuzeitlichen Naturlehre. Als Spezifikum dieser Gattung gilt, dass sich ihre Verfasser meist als auctores begreifen und auf ihre eigene Experienz berufen. Ein Blick auf die Zeitschrift der Academia Naturae Curiosorum, der heutigen Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, zeigt, dass die observatio dort zwar als dominantes Genre vertreten ist, dass aber nicht alle Autoren konsequent den Mustern dieser Gattung folgen. Von eigenen Beobachtungen und Experienz ist nicht immer die Rede. Verfasser beschränken sich zuweilen auf das sammelnde und vergleichende Lesen bzw. die ordnende Niederschrift, deren Ziel es ist, das breit verstreute Wissen möglichst umfassend zugänglich zu machen. Daraus kann Fabian Krämer schließen, dass der Übergang vom Sammler zum Autor kein einfacher war und dass auch die Herausgeber der Zeitschrift Sammler blieben, mit dem Unterschied, dass die Herkunft des gesammelten Wissens nun der Experienz der Beiträger zugeschrieben wurde. Dem Verhältnis von Sammeln und Urheberschaft geht auch mein eigener Beitrag nach. Er vergleicht die Gattungen von Anthropologie und spätaufklärerischer Erfahrungsseelenkunde. Im ersten Teil werden anthropologische Texte von Halleschen Gelehrten analysiert, die um 1750 publiziert und oft als Essais bezeichnet wurden.

4

Gianna Pomata: Sharing Cases: The Observationes in Early Modern Medicine. In: Early Science and Medicine 15 (2010), S. 193–236; Michael Stolberg: Formen und Funktionen medizinischer Fallberichte in der Frühen Neuzeit (1500–1800). In: Johannes Süßmann, Susanne Scholz, Gisela Engel (Hrsg.): Fallstudien: Theorie – Geschichte – Methoden. Berlin 2007, S. 81–89.

Einleitung

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Diese Einordnung greift jedoch, wie der Beitrag zeigt, zu kurz. Die Texte sind vielmehr als rhetorische Argumentationsübungen zu verstehen, in denen es nicht um Urheberschaft von Wissen geht. Von erfahrungsseelenkundlichen Fallsammlungen – etwa dem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde – unterscheiden sie sich ferner durch ihre Intention. Beobachtungen, Experimente und Fälle werden von Halleschen Gelehrten zusammengetragen, um eine Mannigfaltigkeit zu erzeugen. Dabei lehnen sie sich an ästhetische Kriterien an. Auch Moritz’ Magazin versammelt ein breites Gattungsspektrum, darunter Gutachten, Fälle und Beobachtungen. Er trägt diese Texte jedoch in erster Linie zusammen, um eine kritische Textmasse zu erzeugen und nicht um einem ästhetischen Ideal zu folgen. Zwischen der Halleschen Anthropologie um 1750 und der Erfahrungsseelenkunde offenbart sich somit eine Differenz, die den Wissensanspruch des Sammelns betrifft. Heterogen ist – wie Nicolas Pethes in seinem Beitrag zeigt – auch Johann Gottlob Krügers Experimentalseelenlehre (1756). Sie enthält nicht nur eigene Beobachtungen, sondern zudem fremde »Wahrnehmungen der Arzneygelehrten«, die einen enzyklopädischen Anhang bilden und als solcher das eigentliche Projekt Krügers supplementieren. Bei den sogenannten »Wahrnehmungen« handelt es sich um Einzelbeobachtungen, die aus verschiedenen Schriften exzerpiert sind. Dass aus den Einzelbeobachtungen dann allgemeingültige Thesen abgeleitet werden, macht die Schrift nach Pethes zu einer Fallsammlung im modernen Sinn. Zugleich reagiert Krügers Text auf ein Problem, das mit der aufkommenden Experimentalkultur verbunden ist. Er erörtert, wie sich Körper und Seele im Experiment erforschen lassen. Während das praktische Experiment der Physiologie immer limitiert ist und nur einzelne Organfunktionen untersucht, kann die Fallgeschichte – als experimentelle Textform verstanden – dieser Limitierung beikommen, indem sie den ganzen Menschen diskursiv erzeugt. Stefan Borchers schließt daran an und geht dem Topos vom ›ganzen Menschen‹ in seinen unterschiedlichen Bedeutungen nach. Er veranschaulicht, dass sich die Anthropologie der Frühen Neuzeit durch Brüche und Diskontinuitäten auszeichnet. Diese Brüche offenbaren sich besonders dann, wenn die Texte in ihren jeweiligen Kontexten situiert werden. Bochers zeigt eindrücklich, dass die mittlere Aufklärung den ›ganzen Menschen‹ vornehmlich im Zusammenhang des cartesianischen Substanzen-Dualismus diskutiert. Der Dualismus und die Substanzen-Trennung bilden um 1750 den zentralen Denkhorizont der Anthropologie aus, auf den sie mit der Rede vom ganzen Menschen reagiert. Diese Akzentuierung unterscheidet sich von früheren Entwürfen des ›totius hominis‹, wie sie um 1700 geläufig waren. Die Rede vom ›totius hominis‹ gehört einer vorcartesianischen, lutherischen Anthropologie an, die sich mit theologischen Vererbungslehren auseinandergesetzt hat. Dabei ging es u.a. um die Frage, ob Seele und Körper – also der ganze Mensch – von den Eltern abstammen und durch die Erbsünde belastet seien.

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9. Sektion · Yvonne Wübben

Christiane Frey untersucht in ihrem Beitrag die Funktion der paratextuellen Rahmung von medizinischen bzw. anthropologischen Fällen. Wie sie am Beispiel von Andreas Elias Büchner darlegt, gibt die Rahmung die Deutung vor, durch die der Einzelfall zu einem Fall von etwas wird. In der Erfahrungsseelenkunde der Spätaufklärung erfährt die Rahmung eine grundlegende Transformation, wie ein Vergleich von Karl Philipp Moritz’ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde mit seinen Roman Anton Reiser zeigt. Während die Überschriften und Rubriken des Magazins rahmende Paratexte für die Deutung von Fällen bereitstellen, integriert der erfahrungsseelenkundliche Roman den Paratext in den Text, etwa in Form von Erzählerkommentaren. Die kommentierenden Passagen machen die individuelle Geschichte so zu einem Exempel, das für etwas Allgemeines steht. In dieser Hinsicht ist der Roman wiederum medizinischen Fällen vergleichbar.

Fabian Krämer (London) Faktoid und Fallgeschichte. Medizinische Fallgeschichten im Lichte frühneuzeitlicher Lese- und Aufzeichnungstechniken1

Ein Brief von 1669 an Henry Oldenburg (ca. 1615–1677), den Sekretär der Royal Society of London, gibt beredt Auskunft über die zeitgenössische Wahrnehmung des ursprünglichen Arbeitsprogramms der Academia Naturae Curiosorum, der heutigen Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina. Oldenburgs Korrespondent, Francois Sluse (1622–1674), seines Zeichens Kanonikus in Lüttich, berichtet von seinem Besuch der Frankfurter Buchmesse, auf welcher er einige der Monographien habe einsehen können, welche ad normam et formam Academiae Naturae Curiosorum, also den Statuten der Akademie gemäß, abgefasst worden waren. Einen guten Eindruck hinterließen diese Monographien bei ihm nicht: Auf der vergangenen Buchmesse kamen drei oder vier Büchlein heraus von Autoren, welche sich Mitglieder der Akademie der Neugierigen nennen; sie handeln von Wermut, Brauneisenstein, dem Kupfervitriol, Kieselkupfer und ähnlichem. Du wirst kaum etwas in ihnen finden außer die Meinungen der antiken Autoren, welche mit großer Sorgfalt und großem Fleiß zusammengetragen wurden.2

Die Aktivität der Akademiemitglieder wird dabei mit dem Verb colligere, sammeln oder zusammenlesen, umschrieben. Ganz ähnlich äußerte sich im November desselben Jahres ein zweiter Korrespondent Oldenburgs, der Hamburger Arzt Matthias Paisen (1643–1670). Er schicke ihm als Gegengabe für eine (allerdings unterwegs verloren gegangene) Büchersen1

Der Beitrag basiert auf einer an der Ludwig-Maximilians-Universität München entstandenen Doktorarbeit. Die Forschungen, auf denen der Beitrag basiert, sind in großen Teilen während eines durch ein Herzog-Ernst-Stipendium der Fritz Thyssen Stiftung finanzierten Aufenthalts an der Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt-Gotha erfolgt. Ich habe sehr von den Diskussionsbeiträgen der TeilnehmerInnen der Sektion profitiert, ebenso wie von der kritischen Lektüre einer früheren Fassung des Manuskripts durch Lorraine Daston, Gianna Pomata und Claudia Stein, bei denen ich mich an dieser Stelle herzlich bedanken möchte. 2 Sluse an Oldenburg, 6. August 1669 ( Nr. 1267). In: The Correspondence of Henry Oldenburg, hrsg. v. A. Rupert Hall, Marie Boas Hall, Bd. 6. Madison, Wisconsin 1967, S. 182 (latein. Orig.) u. S. 185 (engl. Übers.); sofern nicht anders angegeben, hat der Autor alle Übersetzungen selbst vorgenommen. Vgl. zu diesem Brief Christoph J. Scriba: Auf der Suche nach neuen Wegen – Die Selbstdarstellung der Leopoldina und der Royal Society in London in ihrer Korrespondenz der ersten Jahre (1664–1669). In: Salve Academicum: Festschrift der Stadt Schweinfurt anläßlich des 300. Jahrestages der Privilegierung der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina durch Kaiser Leopold I. vom 7. August 1687, hrsg, v. Uwe Müller. Schweinfurt 1987 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Schweinfurt 1), S. 69–85, hier S. 80.

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9. Sektion · Fabian Krämer

dung Bücher von Mitgliedern der Academia Naturae Curiosorum, so schreibt er, die sich die Neugierigen nennen würden, nichts desto weniger aber ihre Forschungen und Theorien betreffend weit von der Royal Society entfernt und eher als Sammler (Collectores) denn als Urheber (Auctores) zu bezeichnen seien.3 Eine sehr passende Gegenleistung für eine verloren gegangene Büchersendung hatte sich Paisen hier also einfallen lassen. Auch Gottfried Wilhelm Leibniz zeigte sich 1671 wenig angetan von den Bändchen der Curiosi, wie sich die Akademiemitglieder nannten, wenn er auch deren Arbeitsprogramm grundsätzlich begrüßte. Insbesondere störte ihn, dass »nur bereits habende Dinge aus andern Büchern conscribillirt, nicht aber neue aus eigner experienz entdecket«4 würden. Die zu diesem Zeitpunkt gerade gegründete Zeitschrift der Akademie, die Miscellanea curiosa, hingegen entsprach angesichts ihrer Fundierung auf der Erfahrung schon eher seinen Vorstellungen.5 Kurzum, in ihrer frühen Phase hatte die Academia Naturae Curiosorum offensichtlich nicht ganz den gelehrten Zeitgeist getroffen – und das insbesondere in Bezug auf das sich entwickelnde Verständnis des naturkundlichen Autors als Urheber seines Diskurses – eines Diskurses, der in der eigenen Experienz fundiert sein sollte.6 Dies sollte sich mit Gründung ihrer Zeitschrift maßgeblich ändern. Damit ist der Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen bereits umrissen: Es soll im Folgenden um das Verhältnis der Fallgeschichten, wie sie uns in der Zeitschrift der Academia Naturae Curiosorum und in anderen gelehrten naturkundlichen Zeitschriften des späten siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts begegnen, zu den ›Faktoiden‹ frühneuzeitlicher Aufzeichnungspraktiken gehen. Als Exempel dient mir dabei das Arbeitsprogramm der Academia Naturae Curiosorum, das keine zwanzig Jahre nach ihrer Gründung eine in Hinblick auf das Verhältnis von Faktoid und Fallgeschichte ausgesprochen aufschlussreiche Revision erfuhr.

3

Paisen an Oldenburg, 27. November 1669 (Nr. 1329). In: Hall: Correspondence of Oldenburg, S. 338 (latein. Orig.) u. S. 340 (engl. Übers.). Vgl. zu diesem Brief und zum gesamten Abschnitt Scriba: Selbstdarstellung der Leopoldina, S. 80 f. 4 Gottfried Wilhelm Leibniz: Bedenken von Aufrichtung einer Akademie oder Societät in Teutschland, zu Aufnehmen der Künste und Wissenschafften. In: Ders.: Politische Schriften 1667–1676. Hrsg. v. der Leibniz-Editionsstelle Potsdam der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1983 (Sämtliche Schriften und Briefe, Reihe 4, Bd. 1.), S. 548. 5 Siehe ebd., S. 548 f. Vgl. Wieland Berg, Benno Parthier: Die »kaiserliche« Leopoldina im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. In: Gelehrte Gesellschaften im mitteldeutschen Raum (1650–1820), hrsg. v. Detlef Döring, Kurt Nowak, Teil 1. Stuttgart, Leipzig 2000 (Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-Historische Klasse 76,2), S. 39–52, hier S. 39. 6 An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass den obigen kritischen Stimmen auch belobigende zur Seite gestellt werden könnten. Die Auswahl ist dem Ziel geschuldet, den Ausgangspunkt der folgenden Analyse möglichst klar zu bestimmen.

Faktoid und Fallgeschichte

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Faktoide Die Konsequenzen, welche die Verwendung humanistischer Lese- und Aufzeichnungstechniken für die konkrete Gestalt naturkundlicher Texte der Frühen Neuzeit hatten, werden seit einiger Zeit intensiv diskutiert. Fallgeschichten wurden bislang kaum aus dieser Perspektive untersucht, was insofern überrascht, als sie wohl nicht zufällig große formale Ähnlichkeiten mit anderen in der Frühen Neuzeit zwischen den Texten der Naturkundigen zirkulierenden Faktoiden aufweisen. Aber was ist hier überhaupt gemeint, wenn von einem Faktoid die Rede ist? Der hier verwendete Begriff Faktoid schließt an Überlegungen Ann Blairs an. Sie verwendet ihn für die »tidbits of knowledge«, die kleinen Wissenshappen, die der französische Gelehrte Jean Bodin (1529/30–1596) aus ihrem ursprünglichen Kontext herauslöste und in sein Loci communes-Buch eintrug, um sie zu einem späteren Zeitpunkt seinerseits verwenden zu können.7 Im Folgenden wird er in ähnlicher Weise verwendet für die Wissenshappen, die nicht zuletzt bedingt durch bestimmte Lese- und Schreibpraktiken in immer wieder neuen Texten auftauchten. Der Begriff Faktoid ermöglicht es mir dabei auch, den epistemologisch gewichtigeren Begriff des Faktums zu umgehen.8

Collectores, keine auctores Wie sahen sie also aus, die viel gescholtenen Monographien der Akademiemitglieder? Und welche Zielsetzung lag ihnen zugrunde? Die Academia Naturae Curiosorum wurde am Neujahrstag 1652 von vier Schweinfurter Ärzten – der Gesamtheit der zu diesem Zeitpunkt in der Freien Reichsstadt Schweinfurt lebenden akademisch gebildeten Mediziner – aus der Taufe gehoben. Nicht zuletzt aufgrund ihrer Bildungsreisen kannten sie die intellektuelle Landschaft Italiens gut und fanden hier, insbesondere in den italienischen Akademien, wichtige Anregungen für ihr Vorhaben.9 7 Siehe insbes. Ann Blair: Humanist Methods in Natural Philosophy: The Commonplace Book. In: Journal of the History of Ideas 53 (1992), S. 541–551, hier S. 545. 8 Dem Begriff factoid ist im Englischen eine pejorative Konnotation zu Eigen, die hier nicht interessiert: Das Suffix ›-oid‹ signalisiert etwa laut Oxford English Dictionary neben dem häufigen Wiederholtwerden der entsprechenden Aussage auch ihren fragwürdigen Wahrheitsgehalt. Letzterer Aspekt spielt für meine Verwendung des Begriffs keine Rolle, da es mir ausschließlich um die Form der jeweiligen Texte oder Textpassagen sowie die ihnen zugrunde liegenden Praktiken geht. 9 Vgl. zum gesamten Abschnitt Richard Toellner: Im Hain des Akademos auf die Natur wissbegierig sein: Vier Ärzte der Freien Reichsstadt Schweinfurt gründen die Academia Naturae Curiosorum. In: Benno Parthier, Dietrich von Engelhardt: 350 Jahre Leopoldina – Anspruch und Wirklichkeit: Festschrift der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina 1652–2002. Halle 2002, S. 14–43.

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9. Sektion · Fabian Krämer

Im Falle des 1630 in Altdorf promovierten Schweinfurter Stadtphysicus Johann Laurentius Bausch (1605–1665) lohnt ein genauerer Blick auf mögliche Folgen dieser Bildungsreise. Er gilt als Spiritus rector der Gründung. Wie bereits sein Vater vor ihm begab er sich auf eine peregrinatio academica nach Italien und insbesondere nach Padua, wo er fast ein Jahr lang studieren sollte. Schon auf der Reise, so will es eine Leichenpredigt aus seinem Todesjahr, habe Bausch damit begonnen, den Grundstock zu seinem eigenen Museum »von allerhand schönen alten Münzen künstlichen Naturalibus, artificialibus und curiosis exoticis«10 zu legen. Für Einzeldinge der Natur und der Kunst begann Bausch sich also bereits während und aufgrund seiner perigrinatio academica zu interessieren. Entsprach dieser Sammelleidenschaft in Bezug auf Dinge auch eine Wertschätzung von Publikationen über Einzeldinge bzw. Einzelphänomene wie seltene Krankheiten? Zu denken ist hier insbesondere an die zu diesem Zeitpunkt unter praktizierenden Medizinern populären kurzen, typischerweise auf seltene Einzeldinge oder Krankheitsfälle gerichteten Textgenres der curationes oder observationes. Ein Blick in die Bibliothek des Schweinfurter Stadtphysicus’ hilft, diese Frage zu beantworten. Er hatte diese von seinem Vater Leonhard geerbt und weiter ausgebaut. In der Tat enthält die Bausch-Bibliothek die Mehrheit der gedruckten Sammlungen von curationes bzw. observationes, die zwischen 1551 und Johann Laurentius Bauschs Tod 1665 in Europa veröffentlicht wurden – nämlich 38 von insgesamt ca. 55.11 Eine umfassende Sammlung dieser Monographien lag zu dem Zeitpunkt, als die Idee der Akademiegründung in Johann Laurentius Bausch reifte, bereits vor. Auch war Johann Laurentius Bausch offenbar persönlich an curationes und observationes interessiert.12

10

Caspar Heunisch: Panacea Apostolica, Das ist/ Eine Christliche Leich-Predigt/ über den schönen Spruch deß heiligen Apostels Pauli I. Timoth.1/15 …Bey sehr volckreichen … Leichbegängniß Deß … Herrn Johan. Laurentii Bauschen/ Der Artzney vornehmen … Doctoris der … Stadt Schweinfurt … Welcher Sonnabends den 18. Novembris … 1665 … von dieser Welt selig abgeschieden etc. Nürnberg 1665, S. 23; zit. nach Uwe Müller: Johann Laurentius Bausch und Philipp Jacob Sachs von Lewenhaimb: Von der Gründung der Academia Naturae Curiosorum zur Reichsakademie. In: Die Gründung der Leopoldina - Academia Naturae Curiosorum – im historischen Kontext, hrsg. v. Richard Toellner u. a. Stuttgart 2008, S. 13–41, hier S. 19. 11 Gianna Pomata hat diese 55 Titel dokumentiert, weist aber darauf hin, dass ihre Liste nicht abgeschlossen ist. Gianna Pomata: Sharing Cases: The Observationes in Early Modern Medicine. In: Early Science and Medicine 15 (2010), S. 193–236. Der gedruckte Katalog der Bausch-Bibliothek wurde mit den von Pomata aufgeführten Publikationen abgeglichen. Dabei wurde nur bei denjenigen Bänden, die in der Liste Pomatas mit mehr als einer Ausgabe auftauchen, auf die konkrete Ausgabe geachtet und diese als je einzelner Titel gezählt. 12 Einige dieser Texte weisen einen Besitzvermerk Johann Laurentius Bauschs auf, womit aber freilich noch nichts dazu gesagt ist, wer sie ursprünglich erstanden hat. Siehe Uwe Müller u. a.: Die Bausch-Bibliothek in Schweinfurt: Katalog. Stuttgart 2004 (Acta historica Leopoldina 32), z. B.

Faktoid und Fallgeschichte

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Dennoch entschied man sich anfangs gegen dieses zunehmend anerkannte Genre medizinischen Publikationswesens als Grundlage der Arbeit der Akademie. Dies dürfte unter anderem daran gelegen haben, dass zu diesem Zeitpunkt noch kein Vorbild für die erfolgreiche Nutzbarmachung dieses Genres für das kollektive Schaffen einer Akademie vorlag, an dem man sich hätte orientieren können. Auch im observationes-Format erscheinende Zeitschriften wie etwa Thomas Bartholins Acta medica & philosophica Hafniensia lagen noch nicht vor. Letztere sollte von 1673 an erscheinen und sodann von den Curiosi intensiv rezipiert werden. Das ursprünglich avisierte Arbeitsprogramm der Akademie orientierte sich vielmehr an der Arbeit der den Gründern bekannten italienischen Akademien. Seine frühesten Darlegungen finden sich in den leges der Akademie, die erstmals 1652 beschlossen wurden sowie in der von Bausch zum Zwecke der Mitgliederwerbung initiierten Epistola invitatoria: Von den Mitgliedern im ambitionierten Halbjahresrhythmus zu schreibende Monographien zu einem Gegenstand der Heilkunde sollten sich zu einer systematischen Beschreibung aller für die Heilkunde und somit für den Menschen nützlichen Gegenstände zusammenfügen. Anfangs sollte es sich dabei um eine alphabetische Reihe handeln; allein, die alphabetische Reihenfolge hat man schon bald zugunsten einer Wahl des Themas nach persönlicher Präferenz aufgegeben.13 An der grundsätzlichen Zielsetzung einer »Enzyklopädie der Heilmittel«14 sollte sich dadurch indes nichts ändern. Seltene Krankheiten und andere außernatürliche Phänomene wie beispielsweise Monstren – also typische Gegenstände frühneuzeitlicher curationes bzw. observationes – spielten in diesen Publikationen kaum eine Rolle. Die insgesamt 53 bislang bekannten Abhandlungen, welche bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts ad normam et formam Academiae Naturae Curiosorum veröffentlicht wurden, handeln dem Arbeitsprogramm entsprechend von regelmäßig in der Natur vorkommenden Dingen – und nicht von praeter naturam, d. h. außerhalb des gewohnheitsmäßigen Laufs der Natur erzeugten Phänomenen.15 Auch die einzelnen Bände waren jeweils enzyklopädisch angelegt. Die leges legen ihre Bestandteile wie folgt fest:

Nr. 2411, S. 310 u. Nr. 4830, S. 548. Die Bestände der Bibliothek in Bezug auf dieses Genre können jedoch nicht sämtlich auf Leonhard Bausch zurückgehen, da auch Bde. vorliegen, die zwischen seinem Tod und dem seines Sohnes Johann Laurentius veröffentlicht wurden. 13 Siehe zum gesamten Abschnitt Wieland Berg, Jochen Thamm: Die systematische Erfassung der Naturgegenstände: Zum Programm der Academia Naturae Curiosorum von 1652 und seiner Vorgeschichte. In: Toellner: Die Gründung der Leopoldina, S. 285–304, hier S. 285 f. 14 Wieland Berg: Die frühen Schriften der Leopoldina - Spiegel zeitgenössischer »Medizin und ihrer Anverwandten«. In: NTM-Schriftenreihe Geschichte, Naturwissenschaft, Technik, Medizin 22 (1985), S. 67–76, hier S. 69. 15 Vgl. die Bibliographie bei Berg, Thamm: Naturgegenstände, S. 295–303.

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9. Sektion · Fabian Krämer

Jedes Thema soll das Akademiemitglied sorgfältig und mit der größtmöglichen Umsicht bearbeiten, indem es die Namen, Synonyme, Entstehungsart, Entstehungsorte, Unterschiede, Auswahl [des zu untersuchenden Gegenstandes], ferner die Kräfte sowohl des Ganzen als auch seiner Teile, sowie die daraus zu bereitenden gewöhnlichen und chemischen Medikamente, einfache und zusammengesetzte, untersucht.16

Von besonderem Interesse sind hier ferner die Wissensquellen, derer sich die Autoren bei Erstellung dieser Monographien bedienen sollten. Die leges der Akademie enthalten dazu folgende Bestimmung: Zu diesem Zweck wird [der Verfasser, F. K.] sich auf anerkannte Autoren, eigene Beobachtungen, glaubwürdige Berichte und Wahrnehmungen anderer stützen: dabei soll er aber die Namen all jener nicht verschweigen, sondern diejenigen, die etwas beigetragen haben, ehrenvoll erwähnen17.

Eigene observationes und fremde relationes bzw. animadversiones, Wahrgenommenes und der Literatur Entnommenes sollten also ohne Unterschied in die Texte einfließen. Die auf diesem Wege entstandenen Texte haben einen klar kompilativen Charakter. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang etwa eine Aussage des Breslauer Stadtphysicus’ Philipp Jacob Sachs von Lewenhaimb (1627–1672), dessen Abhandlung über den Wein, seine Ampelographia, als erste Monographie ad normam Collegii Naturae Curiosorum – wie es auf dem Titelblatt heißt – 1661 in Druck gehen konnte. Als er sein Manuskript am 15. Mai 1660 satzungsgemäß nach Schweinfurt sandte, schilderte er seine Methode wie folgt: Ich durchwanderte alle [vier] Weltgegenden, indem ich sehr viele Schriften natürlich von Botanikern, Philologen, Historikern, Ärzten und Chemikern wälzte. Reben aus jedem Winkel, d. h. aus Büchern von italienischen, spanischen, französischen, deutschen, niederländischen Autoren, die ich mit vielem Eifer aufgetrieben hatte, habe ich meinem Weinberg eingepflanzt, geordnet nach der Ordnung, nach der es möglich war; mit welcher Mühe jenes geschehen ist, wird der wohlwollende Leser selbst urteilen, der überall so viele Zeugnisse von Autoren zitiert, aus der Quelle selbst abgeleitet, ja hinsichtlich Seiten und Versen gehörig notiert finden wird.18 16 Zit. nach Uwe Müllers zweisprachiger Edition der frühesten bekannten Fassung der leges der Akademie von 1651/52. Uwe Müller: Die Leges der Academia Naturae Curiosorum 1652–1872. In: Toellner: Die Gründung der Leopoldina, S. 243–264, hier S. 249. Dort führt er auch die unterschiedlichen Fassungen der leges in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts aus. 17 Deutsche Übers. zit. nach Müller: Leges, S. 249. 18 Halle, Archiv Leopoldina, MM 17, Matrikelmappe 17, 15.05.1660; dt. Übers. zit. nach der Übers. v. Siegfried Kratsch in Uwe Müller: Die Leopoldina unter den Präsidenten Bausch, Fehr und Volckamer (1652–1693). In: Parthier, Engelhardt: 350 Jahre Leopoldina, S. 45–93, hier S. 55.

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Von eigenen Beobachtungen ist keine Rede. Sachsens Methode beschränkte sich weitgehend auf das sammelnde und vergleichende Lesen und die ordnende Niederschrift; ihr Ziel – sicherlich kein leicht zu erreichendes – war das möglichst umfassende Zugänglichmachen des so zusammengelesenen Wissens. Sachs erwies sich mit seinem Bändchen über den Wein also als vorbildlicher collector relevanter Faktoide, nicht aber als auctor, um auf die eingangs erwähnten Begrifflichkeiten zurückzukommen.

Die Miscellanea curiosa Überregionale und bedingt internationale Bedeutung erlangte die Academia Naturae Curiosorum erst durch die Herausgabe der zwischen 1670 und 1706 und, nach einer sechsjährigen Unterbrechung, unter verschiedenen Titeln ab 1712 weiter erscheinenden Zeitschrift. In welchem Verhältnis stand diese Zeitschrift zu den Monographien der Akademiemitglieder? Anders als die Monographien der Curiosi setzen sich die Miscellanea curiosa aus Beiträgen namentlich genannter Autoren zusammen, die in aller Regel auf eigenen Beobachtungen beruhen. Ihre Inhalte sind breit gefächert und gehen weit über das hinaus, was wir heute unter Fallgeschichten verstehen.19 Auffallend ist die Dominanz seltener und bestaunenswerter Gegenstände. Ihrem Format nach sind diese Beiträge observationes. Warum entschieden sich die Curiosi ausgerechnet für dieses Genre, das sich zumindest auf den ersten Blick so klar von dem ihrer Monographien unterscheidet? In ihrer Privilegierung seltener Gegenstände beriefen sich die Akademien häufig auf den englischen Lord chancellor Francis Bacon und dessen Programm der Reform der Naturphilosophie, ohne dieses freilich eins zu eins umzusetzen.20 Anders als im Falle der Royal Society stand Bacon bei der Gründung der Academia Naturae Curiosorum indes nicht Pate. Er sollte dies aber sozusagen nachträglich tun. Bezeichnenderweise wird in der Selbstdarstellung der Academia Naturae Curiosorum kurz nach der 1670 erfolgten Gründung der Zeitschrift etwas greifbar, was treffend als »verspätete Baconsche Abstammung« der Akademie bezeichnet worden ist.21 Seit den 1660er Jahren gab es briefliche Kontakte mit der Royal Society und im engen 19

Thomas Wegmann hat in seinem Beitrag zur Sektion zu Recht darauf hingewiesen, dass sich der moderne Begriff der Fallgeschichte nur bedingt auf Textsorten des 18. Jahrhunderts übertragen lässt. Dies gilt auch für die observatio des späten siebzehnten und frühen achtzehnten Jahrhunderts, und das nicht zuletzt in inhaltlicher Hinsicht. 20 Vgl. in Bezug auf die Royal Society und die Académie Royale Lorraine Daston, Katharine Park: Wonders and the Order of Nature 1150–1750. New York 1998, S. 230 f. 21 Lorraine Daston: Die Akademien und die Neuerfindung der Erfahrung im 17. Jahrhundert. In: Nova Acta Leopoldina 87/325 (2003), S. 15–33, hier S. 20.

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9. Sektion · Fabian Krämer

Zusammenhang damit Bemühungen der Reform der Akademie nach dem Modell der englischen Schwesterakademie.22 Das zentrale Ergebnis dieser Reformbemühungen sollte schließlich die Gründung der Zeitschrift der Akademie sein. Bacons Reformprogramm war indes nicht der einzige Bezugspunkt dieser Veränderung: Für das Format der Zeitschrift griff man vielmehr auf ein bereits vor Bacon florierendes Genre des medizinischen Publikationswesens zurück.

Die observatio als Beobachtungs- und Schreibweise Die literarische Entsprechung der Einzelerfahrung, die in den Miscellanea curiosa und andernorts üblicherweise mit observatio oder historia überschrieben war, kann mit Gianna Pomata als epistemisches Genre verstanden werden: Epistemic genres give a literary form to intellectual endeavour, and in so doing they shape and channel the cognitive practice of attention. Some may provide, for instance, a framework for gathering, describing and organizing the raw materials of experience (as was the case of the early modern observationes […]).23

Um solche Mitteilungen von Einzelbeobachtungen sollte es in den Miscellanea curiosa gehen. Die im ersten Band der Ephemeriden abgedruckte Epistola invitatoria, durch welche auswärtige Mediziner zur Einsendung von Artikeln für die neue Zeitschrift eingeladen wurden, schreibt das Zeitschriftenprojekt in die Geschichte dieses Genres ein. Dies erfolgt unter anderem durch eine Auflistung von Vorbildern, die eine Art Who is who der bislang als Sammler von observationes in Erscheinung getretenen Autoren darstellt.24 Ebenfalls in dieser Einladungsepistel findet sich auch folgende Aussage über die Wissensquellen, aus denen sich die Mitteilungen speisen sollten: 22

Vgl. Müller: Die Leopoldina unter den Präsidenten, S. 57 ff. Pomata: Sharing Cases, S. 197. Ähnliche Überlegungen stellt Nicolas Pethes an, allerdings auf einen späteren Zeitraum fokussiert und im Rahmen eines Vergleichs des literarischen mit dem epistemischen Gebrauch der Fallgeschichte. Nicolas Pethes: Epistemische Schreibweisen: Zur Konvergenz und Differenz naturwissenschaftlicher und literarischer Erzählformen in Fallberichten. In: Der ärztliche Fallbericht: Epistemische Grundlagen und textuelle Strukturen dargestellter Beobachtung, hrsg. v. Rudolf Behrens, Maria Winter u. Carsten Zelle. Wiesbaden im Druck (Transformations: Studies in the History of Science and Technology), S. 105–146. Für die Erlaubnis, sein Manuskript vor der Veröffentlichung einzusehen, möchte ich mich herzlich bedanken. 24 Epistola Invitatoria ad Celeberrimos Europæ Medicos. Viri Magnifici, Amplißimi, Nobilißimi, Excellentißimi, Experientißimi Medicinæ Antistites Scrutatores Naturalium Arcanorum Solertißimi. In: Miscellanea Curiosa Medico-Physica Academiae Naturae Curiosorum sive Ephemeridum Medico-Physicarum Germanicarum Curiosarum etc. Annus Primus (1670), 1–8, S. 4. Vgl. Pomata: Sharing Cases, S. 225. 23

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[D]ie Curiosi dachten […], dass es nicht unpassend oder unnütz sei, wenn die Ephemerides Germanorum allein aus der Medizin und ihren Söhnen und Anverwandten, der Physik, der Botanik, der Anatomie, der Pathologie, der Chirurgie, der Chemie (Physica, Botanologia, Anatomia, Pathologia, Chirurgia, Chymica) geschaffen würden, so dass was auch immer den Curiosi durch wohlmeinende Mitteilung der hervorragendsten Mediziner, was auch immer ihnen durch ihre eigenen observationes in der Praxis oder durch gründliche Untersuchung (inqvisitione) & Erfahrung (experientiâ) begegnet sei, von den Curiosi in einem Band der Epherimeriden zusammengeschrieben, & jährlich veröffentlicht werde.25

Vergleicht man diese Aussage mit der oben zitierten Passage der leges der Akademie zu den Wissensquellen der von den Akademiemitgliedern zu verfassenden Monographien sowie mit Sachs von Lewenhaimbs Schilderung seiner Methode bei Erstellung seiner Ampelographia, so fällt auf, dass aus der Literatur Zusammengelesenes hier nicht mehr genannt wird. Allerdings ist damit noch nicht gesagt, dass die Autoren, die Beiträge einsandten, das Genre der observatio auch beherrschten. Gehen wir die Artikel zu einem besonders häufig behandelten Gegenstand im ersten Band der Ephemeriden durch, die observationes zu Monstren. Bereits im ersten Band der Ephemeriden von 1670 erschienen sieben Artikel über Monstren bzw. über als ›monströs‹ (monstrosus) eingestufte Einzelphänomene. Der überwiegende Teil dieser Artikel entspricht den zeitgenössischen Vorstellungen davon, wie eine observatio geschrieben sein sollte. Der in Straßburg promovierte, im damaligen Pressburg praktizierende Mediziner und Leibarzt Leopolds I. Karl Rayger (1641–1707)26 etwa steuert mit observatio VII. den Sektionsbericht eines ›zweiköpfigen Monsters‹ bei, wie es in der Überschrift heißt. Der Bericht selbst gibt, wie bei Artikeln über monströse Neugeborene üblich, den Ort des Geschehens (seine Heimatstadt), den Zeitpunkt der Geburt (den 5. Januar 1669) sowie den Stand der Eltern bzw. Beruf des Vaters an. Rayger sei zusammen mit einem weiteren gelehrten Mediziner und einem Chirurgen »[a]d quale Spectaculum« gerufen worden. Er habe sodann auf Wunsch der Eltern hin den Körper des toten Kindes, eines Jungen mit zwei Köpfen, drei Armen und zwei Beinen, einer Sektion unterzogen. Was er vorfand (inveni), listet Rayger nun in kurzen, nummerierten Abschnitten auf. Über den Sektionsbericht hinausreichende Überlegungen wie etwa Erörterungen der causae dieses Körperbaus finden keine Erwähnung.27 Drei weitere observationes im ersten Band 25

Epistola Invitatoria, S. 4. Siehe den Beitrag zu Rayger in Christian Gottlieb Jöchers allgemeines Gelehrten-Lexikon, hrsg. v. Christian Gottlieb Jöcher, Bd. 6 der Ergänzungsbände. Hildesheim, Zürich, New York 1998 [Erstdr. 1819]. 27 Karl Rayger: Observatio VII. Anatomia monstri bicipitis. In: Miscellanea Curiosa MedicoPhysica, S. 25 ff. 26

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entsprechen exakt diesem Muster (obs. LV., LVI. und CXXVIII.): Ein Monster bzw. ein als ›monströs‹ eingestuftes Organ wird auf der Basis eigener Anschauung und nach Möglichkeit selbst durchgeführter Sektion beschrieben. Die Autoren der verbliebenen drei Artikel nahmen die Forderung, auf eigenem Augenschein basierende Artikel einzusenden und sich auf das Selbst Gesehene zu beschränken, indes weniger wörtlich. Einer dieser Beiträge soll hier eingehender vorgestellt werden. In der sehr umfangreichen observatio XLVIII. berichtet der bereits genannte Sachs von Lewenhaimb von einer anthropomorphen Rübe, welche er nur vermittels eines Gemäldes begutachten konnte, welches sich im Besitz der Familie eines Grafen befand – der die Rübe auch nicht mehr selbst zu Gesicht bekommen hatte. Der abgedruckte Kupferstich basiert ganz offensichtlich auf besagtem Gemälde.

Kupferstich zu Philipp Jakob Sachs von Lewenhaimb, »Observatio XLVIII. Rapa monstrosa anthropomorpha,« Miscellanea Curiosa Medico-Physica Academiae Naturae Curiosorum sive Ephemeridum Medico-Physicarum Germanicarum Curiosarum etc. Annus Primus (1670); eingebunden zwischen S. 138 und 139, Forschungsbibliothek Gotha, Med 4 00145 (01.2).

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Anders als Rayger gibt Sachs sich mit der Schilderung des Einzelphänomens nicht zufrieden. Er bettet seine indirekten Beobachtungen ein in eine allgemeine Diskussion der häufigen Hervorbringung anthropomorpher Dinge in der Natur. Auch gibt er die ihm aus der Literatur bekannten Beispiele solcher Anthropomorphismen aus dem Mineralien- und Pflanzenreich wieder und positioniert sich zur Frage der Fälschungen entsprechender Pflanzen oder Pflanzenteile. Auch die Signaturenlehre schneidet er an und verweist zuletzt ausführlich auf eine Publikation eines Akademiemitglieds, die viele Dinge zu monströsen Pflanzen enthalte.28 Wenn man Artikel wie denjenigen Sachsens zusammen liest mit mehreren Paratexten im ersten Band der Ephemeriden, die ausführlich darlegen, wie die Einsendungen gestaltet sein sollten, so drängt sich der Eindruck auf, dass die observatio als epistemisches Genre von einigen Beiträgern erst eingeübt bzw. die entsprechende Schreibweise seitens der Verantwortlichen durchgesetzt werden musste. Zu Recht hat Gianna Pomata darauf hingewiesen, dass epistemische Genres Einfluss auf die Wahrnehmung der Naturkundigen nehmen, dass sie ihre Wahrnehmung formen und kanalisieren. Umgekehrt musste man aber auch erst lernen, auf eine bestimmte Weise zu beobachten, um eine aus Sicht der Verantwortlichen für die Miscellanea curiosa angemessene observatio schreiben zu können.

Schluss Der Schritt vom Faktoid zur Fallgeschichte, vom collector zum auctor, war offenbar kein einfacher. Und selbst diejenigen observationes, die ganz und gar den Regeln des Genres entsprachen, verwiesen indirekt doch wieder zurück auf die humanistischen Praktiken des Lesens, Exzerpierens und Verwaltens von Literatur: Die Beiträge in den Miscellanea curiosa waren üblicherweise mit Provenienzangaben versehen. In den meisten Fällen wird auf einen Brief des Autors – manchmal über Mittelsmänner – an die Herausgeber der Zeitschrift verwiesen. In vielen Fällen enthielt ein solcher Brief mehr als eine observatio, sodass es Aufgabe der Herausgeber war, den Text an der richtigen Stelle zu zerlegen und seine Einzelteile, oder Faktoide, die observationes nämlich, getrennt und mit Überschrift und Nummer versehen in der Zeitschrift setzen zu lassen. Dass die Herausgeber im Jargon der Akademie Collectores genannt wurden, Collectores Ephemeridum nämlich, bindet ihre Tätigkeit auch sprachlich zurück an die sammelnde Lektüre und ordnende Niederschrift des ursprünglichen, enzyklopädischen Arbeitsprogramms der Akademie. Auch die Miscellanea curiosa war also in gewissem 28

Philipp Jacob Sachs von Lewenhaimb: Observatio XLVIII. Rapa monstrosa anthropomorpha. In: Miscellanea Curiosa Medico-Physica, S. 139–144.

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9. Sektion · Fabian Krämer

Maße das Produkt der den Monographien zugrunde liegenden Praktiken der Gelehrsamkeit.29 Die Curiosi blieben in gewisser Weise collectores; allein, der Ursprung der von ihnen gesammelten observationes sollte nun in der Experienz des jeweiligen Autors liegen.

29

Zu diesem Begriff siehe Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Helmut Zedelmaier, Martin Mulsow. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 64).

Yvonne Wübben (Bochum) Observatio, Kasus und Essai. Der Mensch als Sache epistemischer Gattungen »A striking aspect of early modern medical literature« schreibt die Wissenschaftshistorikerin Gianna Pomata, »is the variety of genres indicated by the very titles of publications.«1 In der Tat: Medizinische Bibliotheken der Frühen Neuzeit verzeichnen ein breites Gattungsspektrum, das neben den traditionellen medizinischen Genres commentarii, consilia, tractatus auch literarische Gattungen wie satyrae und epigrammata umfasst. Diese Vielfalt ist durchaus bemerkenswert. Denn Gattungen reflektieren, so Pomata, oft Denkkonventionen bzw. intellektuelle Haltungen ganzer Gruppen. Das Genre condradicentia kann z. B. auf eine akademische Kontroverskultur verweisen. Titel wie experimenta oder practica indizieren dagegen die zunehmende Praxisorientierung der frühneuzeitlichen Medizin. Am Beispiel der observatio lässt sich wiederum zeigen, dass die Verbreitung bestimmter Gattungen signifikante Umbrüche im Wissenssystem anzeigen kann. Die Konjunktur der observatio deutet in diesem Sinn auf die neue Rolle der Beobachtung hin.2 Die Erforschung wissenschaftlicher Gattungen ist also auch deshalb zentral, weil sie über Veränderungen von Denkgewohnheiten Aufschlüsse gibt.3 Während epistemische Gattungen der Frühen Neuzeit eingehender erforscht wurden, gilt dies nicht in gleicher Weise für das 18. Jahrhundert. Der vorliegende Beitrag möchte dieses Desiderat zum Ausgang nehmen und einen Baustein zur Erforschung der epistemischen Gattungen des 18. Jahrhunderts liefern. Er richtet das Augenmerk vornehmlich auf die anthropologischen bzw. experimentalkundlichen Wissensfelder. Dabei wird es zum einen um die Hallesche Anthropologie gehen, die um 1750 im Umfeld der Universität entstand; zum anderen um Karl Philipp Moritz’ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. 1. Zu den anthropologischen Texten der mittleren Aufklärung zählen solche, die – unabhängig von ihrer jeweiligen Form – die Doppelnatur des Menschen oder das commercium mentis et corporis-Problem behandeln.4 Neben zahlreichen Kompendien

1

Gianna Pomata: Sharing Cases: The Observationes in Early Modern Medicine. In: Early Science and Medicine 15 (2010), S. 193–236, hier S. 194. 2 Gianna Pomata: Observation Rising. Birth of an Epistemic Genre, ca. 1500–1650. In: Lorraine Daston, Elizabeth Lunbeck (Hrsg.): Histories of Scientific Observation. Chicago 2011, S. 45–80. 3 Ebd., S. 197. 4 Ernst Platner: Anthropologie für Ärzte und Weltweise. Leipzig 1772.

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9. Sektion · Yvonne Wübben

gilt dies insbesondere für ein Textcorpus,5 das zwischen 1745 und 1750 im Umfeld der Halleschen Universität entstand und sich mit Themen wie dem Lachen, dem Seufzen oder der Schönheit des Körpers in physiologischer und psychologischer Perspektive befasst.6 In ihrem Aufbau und ihren Verfahrensweisen unterscheiden sich diese Texte von anderen akademischen Publikationen ihrer Zeit. Im Gegensatz zu Dissertationen oder Lehrkompendien zeichnen sie sich nicht durch eine fortlaufende Paragraphenstruktur aus. Ihre Argumentation ist eher lose. Sie erheben keinen Anspruch darauf, das Wissen ihres Faches in seiner Gesamtheit zu repräsentieren, sondern verbinden einzelne Gedanken durch lockere Assoziationen. Verfasst wurden die Texte, die oft mit dem Titel »Gedancken von« oder »Abhandlung« überschrieben sind, in erster Linie von Angehörigen der Universität. Ihre Autoren gehörten meist unterschiedlichen Fakultäten an. Sie waren Ärzte oder Philosophen. Diese professionelle Vielfalt scheint Programm und korrespondiert mit der Intention, sich an Vertreter verschiedener Fächer zu richten und Wissen in interdisziplinärer Perspektive zu vermitteln. Trotz ihrer formalen und inhaltlichen Besonderheiten, bleibt der Inhalt der »Gedancken«-Texte im weitesten Sinn am Wissen der universitären Fächer orientiert. Bislang wurde die Gattungszugehörigkeit des Textcorpus nicht systematisch erforscht. In der Regel werden die Texte der Tradition des Essais zugeordnet,7 da sie sich durch einen antisystematischen Gestus auszeichnen. Diese Einordnung ist bis heute allerdings umstritten. Offenkundig lassen sie sich nicht eindeutig unter überlieferte Gattungsschemata rubrizieren. Sie scheinen vielmehr eine eigene Gattung zu begründen, die sich auch anhand ihrer epistemischen Funktion ermitteln lässt. Wie 5

Vgl. dazu Carsten Zelle: Vernünftige Ärzte. Hallesche Psychomediziner und Ästhetiker in der anthropologischen Wende der Frühaufklärung. In: Innovation und Transfer. Naturwissenschaften, Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Dresden 2004, S. 47–62. 6 Zur ästhetischen Lehrgattung vgl. Yvonne Wübben: Gespenster und Gelehrte. Georg Friedrich Meiers ästhetische Lehrprosa. Tübingen 2007, S. 83–85. Zu den Texten zählen in Auswahl: Ernst Anton Nicolai: Wirckungen der Einbildungskraft in den menschlichen Cörper. Halle 1744; ders.: Gedancken von Thränen und Weinen. Halle 1748; ders.: Von dem Schmerze. Halle 1749; ders: Verbindung der Arzneygelahrtheit mit der Musik. Halle 1745; ders.: Abhandlung von der Schönheit des menschlichen Körpers. Halle 1746; ders.: Abhandlung von dem Lachen […]. Halle 1746; Johann August Unzer: Abhandlung vom Seufzen. Halle 1747; ders.: Gedancken vom Einfluß der Seele in ihren Körper. Halle 1746; ders: Gedancken von Schlafe und denen Träumen. Halle 1746; Georg Friedrich Meier: Gedancken von Schertzen. Halle 1744; ders: Gedancken von Gespenstern. Halle 1747; ders: Gedancken von Zustand der Seele nach dem Tod. Halle 1746; Georg Friedrich Meier: Gedancken vom Schertzen. Halle 1746; Johann Gottlieb Krüger: Gedankken vom Caffee, Thee und Toback. Halle 1743, 21746. 7 Jutta Heinz: »Gedanken« über Gott und die Welt. Die Erprobung der Anthropologie im Essay bei Meier, Krüger und Nicolai. In: Carsten Zelle (Hrsg.): Vernünftige Ärzte. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung. Tübingen 2001, S. 141–153.

Observatio, Kasus und Essai

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bereits erwähnt, reihen die Texte verschiedene Fälle, Beispiele und Beobachtungen lose aneinander. Sie scheinen eine möglichst breite Anzahl an Beobachtungen zu bündeln und dabei eine Mannigfaltigkeit zu erzeugen. Dieser Effekt könnte auf eine Vorgabe zurückzuführen sein. Er lässt sich unmittelbar mit der in Halle entstehenden Ästhetik in Verbindung bringen, die sowohl eine Theorie des Schönen als auch eine Theorie der unteren Erkenntnisvermögen bzw. eine Anleitung zum schönen Denken ist. Auf diese letzten beiden Aspekte beziehen sich die Texte offenbar: Einerseits thematisieren sie Gefühle und Wahrnehmungen, also Gegenstände der unteren Erkenntnis; andererseits behandeln sie diese Gegenstände auf eine schöne Weise und haben darin ihren formalen Bezug zur Ästhetik.8 Bereits Alexander Baumgarten konzipierte die Ästhetik nicht nur als Lehre von den unteren Erkenntnisvermögen, die er den oberen gleichberechtigt zur Seite stellte. Die Ästhetik war für ihn zugleich, wie Johann Gottfried Herder im Vierten Kritischen Wäldchen betont, eine »Wissenschaft vom Schönen und dem schönen Denken« und auch eine Kunst, »schön zu denken, schön zu urteilen, schön zu schließen«.9 Mit dem Verweis auf die Kunst des »schönen Denkens« betont Herder eine ästhetische Erkenntnisweise, die sich durch die Attribute Reichtum, Größe, Wahrscheinlichkeit, Lebhaftigkeit und inneren Zusammenhang auszeichnet.10 Die Besonderheiten des ästhetischen Erkenntnismodus sind demnach Mannigfaltigkeit und extensive Klarheit; genau diese beiden Kriterien charakterisieren das oben erwähnte anthropologische Textcorpus. Die Halleschen Texte lösen die ästhetischen Erkenntnisideale durch ihre Verfahren ein, indem sie durch lockere Aneinanderreihung von Beobachtungen und Erfahrungen (auch von Fremderfahrungen) eine unermessliche Fülle an Material (Mannigfaltigkeit) zusammentragen. Das Material wird allerdings nicht gänzlich unsystematisch oder willkürlich verbunden, sondern bleibt auf eine Sache (etwa das Lachen oder Weinen) bezogen. Wie unterscheidet sich diese Gattung nun von den epistemischen Genres, die in der Frühen Neuzeit Konjunktur hatten? Wie verhält sie sich etwa zur observatio oder zum Traktat? Anders als in der observatio wird der eigenen Beobachtung bei den Halleschen Anthropologen nicht immer der Vorzug gegeben. Auch die Urheberschaft des Wissens spielt in den »Gedancken«-Texten eine eher untergeordnete Rolle. Während die observatio meist die Partikularität und den provisorischen Charakter des Erfahrungswissens beklagt, fehlt eine solche Klage im untersuchten Corpus. Das Sammeln von einzelnen Beobachtungen wird, wie der Blick auf die Ästhetik deutlich gemacht hat, vielmehr epistemisch aufgewertet, insofern die Reihung als textuelle

8

Yvonne Wübben: Gespenster und Gelehrte, S. 83. Johann Gottfried Herder: Viertes Kritisches Wäldchen. In: ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. v. B. Suphan. Bd. 4. Berlin 1878 (Reprint Hildesheim, Zürich, New York 1967/68), S. 22 f. 10 Georg Friedrich Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Halle Teil 1 (1754), Teil 2 (1755), Teil 3 (1759) (Olms Nachdruck 1976), Teil 1, S. 47. 9

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9. Sektion · Yvonne Wübben

Umsetzung der für den ästhetischen Erkenntnismodus spezifischen extensiven Klarheit und Mannigfaltigkeit zu verstehen ist. Die Halleschen Schriften stehen aufgrund ihres antisystematischen Gestus damit einerseits in der Tradition des Essais. In ihnen artikuliert sich andererseits ein eigener epistemischer Anspruch, der erst durch den Bezug zur Ästhetik deutlich wird. Er geht über den Essai hinaus und betont gegenüber der observatio nochmals das Sammeln als Wissenspraktik.11 Auf der Ebene der Herstellungsverfahren weisen die Texte zudem Parallelen zur Experimentalkultur auf. Sie können als Übungen verstanden werden, die die Praxis des Argumentierens trainieren. Auch die physiologischen Experimente des 18. Jahrhunderts vermitteln eine praktische Fertigkeit und lassen sich als Übungen verstehen. So zeigt ein Blick auf das Labor Albrecht von Hallers und seiner Schüler, dass dort oftmals monatelang dieselben Versuche durchgeführt wurden.12 Die Wiederholung verleiht den Experimenten den Charakter von Übungen und diente dazu, bestimmte experimentelle Fähigkeiten zu erlernen. Die Halleschen Texte haben somit einen Bezug zur Ästhetik und zum Experiment: ihre textuellen Verfahrensweisen reflektieren den ästhetischen Erkenntnismodus und stehen mit der in Halle entstehenden Ästhetik in Verbindung. Als rhetorische Argumentationsübungen, die der Ausbildung von praktischen Fertigkeiten dienten, weisen sie eine Nähe zum Experiment, insbesondere zum physiologischen Experiment auf. Die Gemeinsamkeit zwischen den Halleschen Texten und den Experimenten besteht demnach nicht nur in ihrer postulierten Ergebnisoffenheit, d. h. in der Art, wie sie Wissensansprüche erheben, sondern auch in ihrem praktischen Zweck. Als Übungen verstanden, sind sie dem physiologischen Experiment durchaus vergleichbar. 2. Einen anderen Akzent setzt Karl Philipp Moritz’ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, das in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erscheint.13 Die Zeitschrift versammelt Texte, die sich mit z.T. abnormen Seelenerscheinungen befassen und aus denen allgemeine Erkenntnisse über Seelenvorgänge abgeleitet werden sollen. Vom Halleschen Textcorpus der mittleren Aufklärung unterscheidet sich Karl Philipp Moritz’ Magazin in gattungsgeschichtlicher Hinsicht. Es zeichnet sich durch ein ausgesprochen heterogenes Textspektrum aus, das der Vielfalt frühneuzeitlicher epistemischer Gattungen durchaus nahekommt und auch literarische Genres umfasst.14 11

Yvonne Wübben: Gespenster und Gelehrte, S. 84. Yvonne Wübben: Literarische Versuche als Multiplikatoren des Wissens? Zur Entstehung des Neuen um 1750. In: Michael Gamper, Martina Wernli, Jörg Zimmer (Hrsg.): »Es ist nun einmal zum Versuch gekommen.« Experiment und Literatur (1580–1790). Göttingen 2009, S. 79–292. 13 Johann Gottlob Krüger: Versuch einer Experimental-Seelenlehre. Halle, Helmstädt 1756. 14 Helmut Pfotenhauer und Lothar Müller haben in ihren Arbeiten nachdrücklich auf die Affinität der Erfahrungsseelenkunde zum Roman verwiesen. Moritz druckte Teile seines Romans Anton Reiser zugleich im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde ab. Lothar Müller: Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis. Frankfurt a. M. 1987, S. 60; Helmut Pfotenhauer: Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte – am Leitfaden des Leibes. Stuttgart 1987. 12

Observatio, Kasus und Essai

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Es ist kein Wunder, dass die zahlreichen kleineren Prosatexte der Zeitschrift15 bislang ebenfalls nicht eingehender auf ihre Gattungszugehörigkeit untersucht wurden. Ein kursorischer Blick auf Karl Philipp Moritz’ Magazin zeigt nämlich, dass die Gattungsfrage schon am Einzelfall nicht immer einfach zu bestimmen ist und die dort publizierten Texte oft keinen klaren Gattungsmustern folgen. Einige Schriften, die mit »Beobachtungen« überschrieben sind, scheinen an die frühneuzeitliche observatio anzuknüpfen. Andere Texte nennen sich zwar »Beobachtungen«, halten aber die Gattungsregeln nicht ein.16 Sie berufen sich nicht auf die eigene Erfahrung, sondern greifen auf fremde Vorlagen und Berichte zurück. Zum Teil nehmen sie sogar exzessiv auf Prätexte Bezug, die gezielt umgearbeitet und zu neuen Gattungen umgeformt werden. Ein von Karl Philipp Moritz publizierter Beitrag liefert dafür ein markantes Beispiel. Moritz nimmt in diesem Beitrag zahlreiche Umarbeitungen vor, die ein Licht auf mögliche epistemische Gattungsintentionen werfen. Im ersten Band behandelt er einen Fall von ›Geistersehen aus Melancholie‹ und greift dabei auf ein Gutachten des Berliner Stadtphysikus Johann Theodor Pyl zurück. Moritz verändert die Vorlage, indem er einzelne Passagen umstellt und die Gattung ›Gutachten‹ so in einen ›Kasus‹ transformiert.17 Mit ›Kasus‹ ist hier nicht nur allgemein ein Fall gemeint, sondern nach André Jolles eine einfache Form bzw. eine Gattung, die durch eigene Konventionen definiert ist18 und einen Wissensanspruch formuliert, der sich vom Gutachten unterscheidet. Anders als der Kasus ist das Gutachten meist in unterschiedliche Teile gegliedert: in die Befragung, die Darstellung des Sachverhaltes und das eigentliche Urteil. Das medizinisch-forensische Gutachten verfolgt zudem das Ziel, den Geisteszustand einer Person zu beurteilen. Es kommt nach der Exploration zur Einordnung eines Einzelfalls, zu seiner Subsumtion unter eine allgemeine Kategorie, die dem medizinischen Wissensstand entspricht und eine juristische Entscheidung vorbereiten kann.19 Der Kasus stellt nach Jolles ebenfalls einen Sachverhalt dar. 15

Georg Eckhardt: Anspruch und Wirklichkeit der Erfahrungsseelenkunde, dargestellt an Hand periodisch erscheinender Publikationen um 1800. In: Olaf Breidbach, Paul Ziche (Hrsg.): Naturwissenschaften um 1800. Wissenschaftskultur in Jena-Weimar. Weimar 2001, S. 179–202; Hans-Peter Ecker: »Vielleicht auch ein bißchen Geschwätz«: zur Differenz von Anspruch und Realität in Karl Philipp Moritz’ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde am Beispiel der Selbstmordfälle. In: Hartmut Laufhütte (Hrsg.): Literaturgeschichte als Profession. Festschrift für Dietrich Jöns. Tübingen 1993, S. 179–202. 16 Vgl. dazu den Beitrag von Fabian Krämer. 17 Yvonne Wübben: Vom Gutachten zum Kasus. Die Ordnung des Wissens in Karl Philipp Moritz »Magazin zur Erfahrungsseelenkunde«. In: Joachim Gessinger, Stefan Goldmann, Christoph Wingertszahn (Hrsg.): »Fakta, und kein moralisches Geschwätz«. Fallgeschichten im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Göttingen 2011, S. 138–156. 18 André Jolles: Kasus. In: ders.: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythen, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Wit. Halle 1956, S. 141–164. 19 Michael Niehaus: Die Entscheidung vorbereiten. In: Cornelia Vismann, Thomas Weitin (Hrsg.): Urteilen – Entscheiden. München 2006, S. 17–37.

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9. Sektion · Yvonne Wübben

Auch er kann eine allgemeine Regel auf einen Einzelfall anwenden. Anders als das Gutachten ist das Verhältnis von Sachverhalt und Regel im Kasus jedoch komplexer, insofern der Fall eine Regelanwendung, eine Regelgenerierung oder eine Regelüberschreitung vornehmen kann. Indem er auf einen Umstand deutet, der sich nicht unter die Regel summieren lässt, wirft der Kasus z. B. ein Problem auf.20 Während das Gutachten Wissen auf einen Einzelfall anwendet und diesen unter eine allgemeine Regel summiert, kann der Kasus etwas anzeigen, das der Regel nicht in allen Punkten entspricht. Moritz’ Kasus hebt ebenfalls eine Besonderheit hervor, die mit der in der Vorlage formulierten Regel nicht in allen Aspekten konform ist, die der Sache einen neuen Aspekt hinzufügt. Er macht auf die mögliche Ansteckung durch den Wahnsinn aufmerksam, die in Pyls Gutachten nicht erwähnt wurde. Auf diese Weise unterscheidet er sich von seiner Vorlage. Was lässt sich aus dieser gezielten Umarbeitung eines Gutachtens in einen Kasus schließen? Was sagt die Umarbeitung über die Textgattungen und Wissensweisen der Erfahrungsseelenkunde aus? Wird der Kasus bei Moritz zu einem präferierten epistemischen Genre der Erfahrungsseelenkunde? Ein Blick auf das Magazin lässt solche einfachen Schlüsse nicht zu. Der Kasus fungiert dort nur als eine neben vielen anderen Gattungen. Aus dem oben zitierten Beispiel lassen sich mithin keine allgemeinen Folgerungen über die Bedeutung des Kasus für die Gesamtanlage des Magazins ableiten. Die Zeitschrift zeichnet sich vielmehr durch ein breites Spektrum an Gattungen aus, die je unterschiedliche Wissensansprüche formulieren. Schon aufgrund dieser Heterogenität ist sie von medizinischen Fall-Sammlungen oder naturkundlichen Zeitschriften der Frühaufklärung unterschieden, die sich um eine größere Einheitlichkeit bemühen.21 Auch die observatio ist kein dominantes Genre des Magazins. Obwohl einige Texte mit Beobachtungen überschrieben sind und die Urheberschaft des Wissens betonen, ist das Gesamtprojekt dem Sammeln unterschiedlicher Textsorten verschrieben, die im weitesten Sinn der Experienz zuzuordnen sind. In seinem Vorschlag zu einem Magazin schreitet Moritz das breite Gattungsspektrum sogar ausdrücklich ab. Er bittet um die Einsendung von »Berichten«, »Beobachtungen«, »Experimentalbeschreibungen«, »Nachrichten alter Schulmänner«, »Lebensbeschreibungen«, »Tagebücher«, »Beßrungsgeschichte[n]«, »Geschichten der Wahnwitzigen und Schwärmern«, »dramatische Stücke (Shakespeare)«, »gute Romane«, »vorzüglich aber Beobachtungen aus der wirklichen Welt«.22 Diese Liste umfasst auch solche 20

André Jolles: Kasus. Yvonne Wübben: Traum, Wahn und Wahnwissen. Karl Philipp Moritz als Sammler psychologischer Erfahrungsberichte. In: Ulrich Johannes Schneider (Hrsg.): Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert. Berlin, New York 2008, S. 425–430. 22 Karl Philipp Moritz: Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungs-Seelenkunde. In: ders.: Werke in zwei Bänden. hrsg. v. Heide Hollmer und Albert Meier. Bd.1. Frankfurt a. M. 1997, S. 793–809, hier S. 796–798. 21

Observatio, Kasus und Essai

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Texte, die zur Literatur im engeren Sinn gerechnet werden können und der kleinen Fachprosa zur Seite stehen. Durch eine Gattungsexklusivität scheint sich das Magazin also nicht auszuzeichnen. Zumindest scheint der Exklusivitätsanspruch gegenüber dem Vorhaben zurückzutreten, möglichst viel Material zusammenzutragen. Anders als bei den Halleschen Texten lässt sich das Projekt des Sammelns nicht mehr explizit der Ästhetik oder dem schönen Denken zuordnen. Moritz geht es offenbar nicht in erster Linie darum, dem Ideal einer ästhetischen Erkenntnisweise zu folgen. Er scheint bemüht, eine kritische Masse an Texten einzuwerben, die nicht zuletzt der Ausbildung von Netzwerken zu Gute kam. Abschließend lässt sich somit festhalten: Der Vergleich von anthropologischen und erfahrungsseelenkundlichen Projekten hat gezeigt, dass die Gattungsanalyse Aufschlüsse über den jeweiligen Wissensanspruch von Texten liefern kann und Rückschlüsse auf Denkgewohnheiten von Akteuren erlaubt. Zugleich hat der Beitrag eine Differenz zwischen den Halleschen Texten und der späteren Erfahrungsseelenkunde deutlich gemacht, die die jeweilige theoretische Verankerung des Sammelns betrifft. Während das Sammeln von Beobachtungen und Erfahrungen im Halleschen Umfeld einen ästhetischen Erkenntnismodus reflektiert und einer fächerübergreifenden, universitären Wissensvermittlung dient, versucht Moritz eine kritische Masse an Beiträgern einzuwerben. Er bindet auch Laienbeobachter in sein Projekt ein und kann damit ein überregionales Kommunikationsnetz ausbilden.

Nicolas Pethes (Bochum) Der Mensch als epistemisches Ding? Forschungsprogramm und Forschungspraxis im Fallgeschichten-Anhang zu Johann Gottlob Krügers Versuch einer Experimental-Seelenlehre Die anthropologische Debatte der Aufklärung ist von zwei schwer vereinbaren Grundpostulaten geprägt: auf der einen Seite die Perspektive auf den ›ganzen Menschen‹, d. h. die gemeinsame Erforschung seiner physischen und moralischen bzw. natürlichen und kulturellen Eigenschaften, auf der anderen Seite die empirische Ausrichtung dieses Ansatzes, die von vitalistischen Psychophysiologen und materialistischen médecins-philosophes gleichermaßen vorangetrieben wurde. Schwer vereinbar sind diese beiden Postulate, weil der ganzheitliche Anspruch des ersten dem partikularisierenden Verfahren des zweiten entgegensteht: Die Aufklärungsanthropologie betreibt die empirische Erforschung des ›ganzen Menschen‹ in einer Serie von Experimenten zu den einzelnen Funktionen von Körper und Geist: in der Medizin Organstrukturen, Muskelreflexe oder Nervenbahnen, in der Psychologie die Vorgänge des Wahrnehmens, Empfindens, Denkens und Träumens.1 Gerade die Ausdifferenzierung der experimentellen Methodik auf dem Gebiet der Wissenschaften vom Menschen führt mithin dazu, dass der ›ganze Mensch‹ nicht zu ihrem Objekt werden konnte. Die beiden Programme einer ganzheitlichen und einer empirischen Betrachtung werden in der Aufklärung zwar gemeinsam vorangetrieben, aber zu keinem Zeitpunkt zusammengeführt: Es gibt keine Versuchsanordnung, die tatsächlich dem theoretischen Ideal des commercium mentis et corporis gerecht würde, sondern nur Einzeluntersuchungen zur Funktion einzelner Organe oder Seelenvermögen. Auf diese Weise benennt die Redeweise vom commercium vor allem die Trennlinie, die die konkreten Experimente durchzieht und dazu führt, dass die empirische Medizin von Harvey bis Haller keine ›Menschenversuche‹ im ganzheitlichen Sinn kennt. Das mündet in den paradoxen Sachverhalt, dass der Aufklärungsanthropologie der Mensch gerade nicht als Gegenstand (oder ›Sache‹) in den Blick gerät. Sehr wohl aber wird man in der Sprache der neueren Wissenschaftstheorie sagen können, dass er als Objekt (oder ›Ding‹) auftritt, das den einzelnen Versuchen nicht von Beginn an als Hypothese vor Augen steht, sondern erst im Zuge von deren Durchführung – mit mitunter zufälligen und überraschenden Ergebnissen – diskursiv erzeugt wird.

1

Vgl. etwa »Allerhand nützliche Versuche«. Empirische Wissenskultur in Halle und Göttingen (1720–1750), hrsg. v. Tanja van Hoorn, Yvonne Wübben. Hannover 2009.

Der Mensch als epistemisches Ding?

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So zumindest beschreibt Hans-Jörg Rheinberger diejenigen »epistemischen Dinge«, die in lebenswissenschaftlichen Experimentalsystemen als »Diskurs-Objekte« konstruiert werden, innerhalb derer sich »Begriffe verkörpern«.2 Und entsprechend wird man sagen können, dass auch die ›Ganzheit‹ des Menschen in der Physiologie und Psychologie der Aufklärung weniger experimentell beobachtet als behauptet und hervorgebracht wird. Das belegt besonders anschaulich die Tatsache, dass der Mensch im Titel von Albrecht von Hallers berühmtem Traktat De partibus corporis humani sensilibus et irritabilibus aus dem Jahr 1752 zwar ausdrücklich als Gegenstand der Untersuchung genannt wird, obwohl er überhaupt nicht als Objekt der zugrundeliegenden Versuche fungiert, die am Muskel- und Nervensystem von Hunden und Fröschen durchgeführt wurden. Und auf nicht minder signifikante Weise mündet die Grundlegung einer empirischen Psychologie, die mit dem Anspruch antritt, auch die moralische Seite des Menschen experimentell zu erforschen, in Carl Philipp Moritz’ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1783–1793) in eine Kategorisierung einzelner Charakter-, Entwicklungs- und Verhaltenspathologien, die weder zu einer einheitlichen Theorie der Psyche zusammengeführt noch auf die physiologische Verfasstheit der jeweiligen Probanden übertragen werden. Wird man dann aber nicht diese Partikularfunktionen – Herz, Muskel, Sprache, Moralempfinden etc. – des Menschen als epistemische Dinge (oder ›Sachen‹) der Aufklärung betrachten müssen und die Theorie des ›ganzen Menschen‹ strikt von der experimentalwissenschaftlichen Praxis trennen? Im folgenden soll exemplarisch gezeigt werden, wie das Projekt eines anthropologischen Experiments am ›ganzen Menschen‹ in der Mitte des 18. Jahrhunderts zwar von der konkreten Versuchspraxis auf eine textuelle Darstellungsform verschoben wird, auf diese Weise aber als epistemisches Ding eines schriftlich verfassten Experimentalsystems aufrechterhalten werden kann. Diese Darstellungsform ist die medizinische Fallgeschichte, die im fraglichen Zeitraum eine immense Konjunktur hat,3 und dabei das skizzierte Paradox zwischen ganzheitlichem Wissensanspruch und partikularisierter Forschungspraxis strukturell spiegelt. Zwar zielen Fallgeschichten auf generalisierbare Aussagen zur Physis und Psyche des Menschen, beobachtet wird aber immer nur ein einzelnes Individuum, nicht die Gattung an sich.4 Aus diesem Grund, so die hier vertretene These, steht die in allen zeitgenössisch entstehenden Wissenschaften vom Menschen zu beobachtende Wahl einer Textgattung, zu deren Struktur die Reflexion eines möglichen Übergangs von der Einzelfallbeobachtung zur generellen Theorie immer 2

Vgl. Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas. Göttingen 2001, S. 15. 3 Vgl. Der ärztliche Fallbericht. Epistemische Grundlagen und textuelle Strukturen dargestellter Beobachtung, hrsg. v. Rudolf Behrens u. Carsten Zelle. Wiesbaden 2012. 4 Vgl. John Forrester: If p, then what? Thinking in cases. In: History of the Human Sciences 9 (1996), S. 1–25.

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9. Sektion · Nicolas Pethes

gehört, im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Widerspruch zwischen ganzheitlichem Anspruch und partikularisierender Methode in der Anthropologie der Zeit. Das Beispiel, anhand dessen diese strukturelle Parallele zwischen dem Experiment am ganzen Menschen und des Falls der ganzen Menschengattung entfaltet werden soll, ist Johann Gottlob Krügers 1756 publizierter Versuch einer Experimental-Seelenlehre. Dieses Buch ist zu Recht in seiner Vorläuferschaft gegenüber der Moritzschen Erfahrungsseelenkunde drei Jahrzehnte darauf gewürdigt worden – nicht zuletzt, weil dieses Projekt ja zunächst auch ›Experimentalseelenlehre‹ heißen sollte.5 Krügers Ansatz gilt allerdings im Unterschied zu Moritz nicht der Psychologie allein, sondern der Erweiterung der Mitte des Jahrhunderts geläufigen physiologischen Forschungsprojekte um psychologische Fragestellungen, und also um eine Übertragung der Hallerschen Versuchspraxis auf die menschliche Seele. Dieses Programm entwirft Krüger in der Einleitung seines Versuchs, in der er allen Skeptikern, die zweifeln, dass sich »Geister unter die Luftpumpe bringen, ihre Gestalten durch Vergrößerungsgläser erblicken, und ihre Kräfte abwägen« lassen, entgegenhält: »ist die Seele von denen Sachen, welche man in der Naturlehre betrachtet, so sehr verschieden, so werden auch ganz andere Experimente mit ihr vorgenommen werden müßen.«6 Das Interessante an Krügers Entwurf ist also weniger sein Anspruch, das Wissen von der menschlichen Seele auf Experimente zu gründen, als die Tatsache, dass sein Autor ihn im nächsten Atemzug gleich wieder zurücknimmt. Postulat und Modifikation gehen Hand in Hand und die Forderung, die ›gleichen‹ Versuche durchzuführen, lässt sich nur durch eine Verschiebung auf ›andere‹ aufrechterhalten. Diese Doppelbewegung von Aufrechterhaltung und Verschiebung wiederholt sich in Krügers weiterem Argumentationsgang. Denn auf der Suche nach einer seelenspezifischen Alternative zu physikalischen Luftpumpen wird Krüger nicht fündig und fordert daher, ausgehend von der Voraussetzung, »daß nicht nur aus den Veränderungen der Seele, Veränderungen des Leibes, sondern auch aus Veränderungen des Leibes, Veränderungen der Seele erkannt werden können, daß man durch ausserordentliche Veränderungen die man mit dem Leibe vornimmt, Veränderungen in der Seele zuwege bringen könne«. Krügers Experimente mit der Seele sind also dahingehend anders als die am Körper vollzogenen, als es dieselben sind: Gestützt auf den wechselseitigen influxus animae bzw. physicus kann die Schwierigkeit, die Seele empirisch zu beobachten dadurch 5

Vgl. Carsten Zelle: Experimentalseelenlehre und Erfahrungsseelenkunde. Zur Unterscheidung von Erfahrung, Beobachtung und Experiment bei Johann Gottlob Krüger und Karl Philipp Moritz. In: »Vernünftige Ärzte«. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung, hrsg. v. dems. Tübingen 2001, S. 173–185. 6 Johann Gottlob Krüger: Versuch einer Experimental-Seelenlehre. Halle, Helmstedt 1756, S. 1, die folgenden Zitate ebd., S. 18 u. 20.

Der Mensch als epistemisches Ding?

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umgegangen werden, dass man Bewegungen des Körpers als sichtbaren Ausdruck dieser unsichtbaren Seele interpretiert. Zu dieser zweiten Verschiebung von den ursprünglich intendierten psychologischen auf stellvertretende physiologische Versuche tritt eine dritte hinzu, nachdem Krüger die zu erwartenden Proteste gegen eine solche Übertragung von Hallers physiologischen Versuchen auf Menschenleiber antizipiert: »Du willst vernünftiger Mensche Köpfe eröffnen, um den Sitz ihrer Vernunft zu entdecken, du willst ihr Gehirne zerschneiden, um zu erfahren, wo ihr Gedächtniß seinen Sitz habe, du willst sie in die Flechsen und Beinhäute stechen, damit sie dir sagen können, ob diese Theile Empfindlichkeit haben?« Die Rhetorizität dieser Frage impliziert eine weitere Absage an konkrete Versuche. Stattdessen bemerkt Krüger, »die Wahrnehmungen der Arzneygelehrten aller Zeiten [geben] solche Begebenheiten an die Hand, da die Seele durch eine ausserordentliche Veränderung des Leibes in einen ausserordentlichen und ungewöhnlichen Zustand gerathen ist, daß man solche billig als Experimente die mit der Seele angestellt worden sind, betrachten kann«, und streicht also nach der Kategorie der Seele auch die Operation des Experimentierens aus dem Projekt der Experimentalseelenlehre. Das heißt, dass auf die Ankündigung, die Experimente an der Seele durch Versuche am Körper zu ersetzen, nun das Eingeständnis erfolgt, nicht einmal diese Versuche durchführen zu können. Krüger schlägt daher einen Forschungsweg vor, der sich anstelle blutiger Experimente an blutleere »Wahrnehmungen der Arzneygelehrten«, und d. h. Texte, hält. Wenn Krüger die Experimental-Seelenlehre auf medizinische Observationes gründen möchte, dann treten an die Stelle neuer Versuche alte Berichte, die ohne blutige Begleiterscheinungen auf das jeweilige Versuchsinteresse hin wiedergelesen und ausgewertet werden können: Der Experimentalpsychologe muss lediglich lesen, und zwar im doppelten Sinne von ›sammeln‹ und ›verstehen‹: Krüger trägt aus diversen Kompendien des 17. und 18. Jahrhunderts die »Wahrnehmungen der Arzneygelehrten« zu einem Anhang verschiedener Wahrnehmungen, welche zur Erläuterung der Seelenlehre dienen seines Buchs zusammen. Krügers zweites Ausweichen vor den Seelenexperimenten besteht demnach in der medialen Öffnung der Wissenschaft auf die aufgeklärte Zeitschriftenkultur – eine, wie Carsten Zelle es genannt hat, »Literarisierung des Unternehmens«.7 Diese Literarisierung ist aber nicht instrumentell zu verstehen: Das Archiv medizinischer Zeitschriften dient keineswegs als bloße Dokumentation physiologischer und psychologischer Menschenversuche – und also als bloße »technische Bedingung«8 des experimentalpsychologischen Versuchsprogramms. Vielmehr und genau umgekehrt tritt die mediale Dokumentation von Fallbeobachtungen an die Stelle der ursprüng7 8

Zelle: Experimentalseelenlehre und Erfahrungsseelenkunde (wie Anm. 5), S. 183. Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge (wie Anm. 2), S. 27.

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lich geplanten Experimente – nicht aber so, dass damit der Anspruch einer Experimentalseelenlehre erledigt wäre, sondern so, dass die Texte die Experimente sind. Aus diesem Grund verdient der Anhang zu Krügers Buch mindestens ebensoviel Aufmerksamkeit wie die ihm vorangehenden vierzehn Buchkapitel: Krüger versammelt auf knapp 300 Seiten Einzelbeobachtungen fast aller zeitgenössischer Autoritäten – Borel, Tulp, Boerhave, Pechlin, Plater, Blankaart, Hellwig, Bonet u. a. – zu einer Vielzahl von psychophysischen Phänomenen – Hypochondrie, Hirnläsionen, Gedächtnisverlust, Sinnesstörungen, Fallsucht, Phantomschmerz, plötzlichem Tod, Melancholie und Träumen – und präsentiert über 130 Einzelfälle von mehr als 20 verschiedenen Autoren – einige über 10 Seiten lang, andere nur wenige Zeilen kurz. Die Zusammenstellung erfolgt nach Autoren geordnet, d. h. nicht systematisch, so dass man immer wieder auf vergleichbare Zusammenhänge stößt. Und sie erfolgt unkommentiert, d. h. Glaubwürdigkeit und theoretischer Stellenwert der zum Teil wiederum auf Hörensagen verweisenden und narrativ breit ausgestalteten Einzelbeobachtungen bleiben dem Urteil des Lesers überlassen. Ein Überblick über die Fallsammlungen, die Krüger konsultiert, findet sich im Anhang. Um ihre Funktion für Krüger zumindest exemplarisch in den hier entfalteten Fragehorizont nach dem ›ganzen Menschen‹ als epistemischem Ding einzuordnen, sei hier die 88. »Observatio« aus Pierre Borels Historiarum et observationum medicophysicarum centuria 1 von 1767 mit dem Titel Daß ein Theil des Gehirns ohne Verlust des Lebens weggenommen herausgegriffen: »Man hat bisher geglaubt, daß das Herz, das Gehirn und die Leber nicht verwundet werden könnten, daß nicht allezeit der Tod gewiß auf solche Verletzungen erfolgen sollte. Folgende Wahrnehmung wird uns belehren, daß man sich in diesem Stücke geirret habe. Denn ich habe gesehen, daß ein mercklicher Theil vom Gehirn bey einer Hauptwunde verlohren gegangen, und der Verwundete doch am Leben geblieben. Eben dieses hat der D. Isaak Riverius, ein sehr erfahrner Arzt gesehen und Cabrolius hat es schon in seinem anatomischen Büchlein angemercket.«9 Man wird diese wenigen Zeilen kaum als Fallgeschichte im engeren Sinne zu akzeptieren bereit sein – und doch enthalten sie gerade in dieser Verknappung die gesamte epistemologische Spannweite des Genres zwischen Einzelfallbeobachtung und Anthropologie: Ausgehend von der generellen These, Hirnläsionen seien letal, revidiert Borel deren Geltung anhand des Beispiels eines Menschen, der trotz einer solchen Wunde weiterlebte. Durch Verweis auf weitere Autoritäten beansprucht Borel außerdem, nicht nur eine Einzelbeobachtung gemacht zu haben, sondern über eine generalisierbare Einsicht zu verfügen, und das heißt, von seinem Einzelfall auf eine allgemeine physiologische Gesetzmäßigkeit schließen zu dürfen. 9

Krüger: Versuch einer Experimental-Seelenlehre (wie Anm. 6). Anhang verschiedener Wahrnehmungen, welche zur Erläuterung der Seelenlehre dienen, S. 9 f.

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Damit liegt Krüger ein Text vor, der auf die erhoffte Weise von einer physiologischen Verletzung berichtet, die als Hirnverletzung unmittelbar instruktiv für psychologische Fragestellungen gelten darf. Im Kleinen lässt sich mithin anhand der kurzen Passage aus Borel die gesamte Anlage der Krügerschen Experimentalanthropologie nachvollziehen: Die psychologische Ausgangsfrage des Herausgebers Krüger wird an eine physiologische Beobachtung verwiesen, die aber nicht selbst angestellt, sondern dem »Arzneygelehrten« Borel entnommen wird, der sie durch Verweise auf weitere Autoritäten stützt, um ihren exemplarischen Anspruch zu sichern. Damit erweist sich Krügers Buch als mehrfaches Supplementierungsverfahren: Die Beobachtungen von Riverius und Cabrolius treten schon bei Borel an die Stelle von allgemeinen Einsichten; Borels Text tritt an die Stelle von Krügers eigenen Untersuchungen; die Beobachtung einer Hirnläsion tritt an die Stelle der intendierten psychologischen Experimente. Die im Anhang von Krügers Buch versammelten Fallgeschichten supplementieren daher letztlich den ganz grundsätzlichen Anspruch, eine Körper und Seele umfassende und zugleich empirisch verfahrende Wissenschaft vom ›ganzen Menschen‹ zu begründen – und also, genau genommen, das Buch, dem sie anhängen, selbst. Entscheidend für das Verständnis der Funktion dieser Supplementkette, die ausgehend vom Anspruch, das commercium experimentell nachzuweisen, in einen mit fremden Autoritäten und Verweisen bestückten Anhang mündet, ist nun die Einsicht in die Strukturanalogie, die zwischen dem wissenschaftlichen Projekt des ›ganzen Menschen‹ und dem medialen Dispositiv einer Sammlung von Fallgeschichten besteht. Denn die eben rekonstruierte Kette von Ersetzungen beruht auf einer Logik, die sowohl die Methode der empirischen Anthropologie als auch die Darstellungsform von Fallberichten prägt: In beiden Fällen wird die Erkenntnis des Ganzen als Ziel ausgegeben, in der praktischen Umsetzung aber nur an einem Teil durchgeführt. Für Krügers Seelenlehre heißt das, den ganzheitlichen Zusammenhang zwischen Physis und Psyche doch wieder nur anhand eines der beiden Bestandteile zu erforschen. Für die Medizin des 17. und 18. Jahrhunderts heißt es, anstelle allgemeiner Krankheitsverläufe von einzelnen Symptomen zu berichten. Die Tatsache aber, dass Krüger in der Mitte des 18. Jahrhunderts bereits auf ein eindrückliches Archiv solcher Fallsammlungen zurückgreifen kann, aus dem er eine eigene Sammlung in Form des Anhangs zusammenstellt, ist nicht etwa ein bloßer medienhistorischer Begleitumstand. Vielmehr gehört das Verfahren der neuzeitlichen Medizin, Krankenbeobachtungen schriftlich festzuhalten und in Sammlungen zu publizieren,10 unmittelbar zur eben identifizierten Logik von Teil und Ganzem im Diskurs der 10

Vgl. Volker Hess, J. Andrew Mendelsohn: Case and Series. Medical Recording and Paper Technology, 1600–1900. In: History of Science 48 (2010), S. 287–314.

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Anthropologie: Denn das Dispositiv der Sammlung – also die Publikation von Einzelbeobachtungen, die dann zur Gründung all derjenigen Zeitschriften-, Archiv- und Magazinprojekte führt, von denen Moritz’ nur das bekannteste ist – begegnet ebenfalls dem epistemologischen Problem, auf allgemeine Theorien zu zielen, aber immer nur Einzelbeobachtungen anstellen zu können. Die Verschiebung des Projekts der Experimentalpsychologie in den Anhang ist mithin der epistemologisch eigentlich instruktive Gehalt von Krügers Versuch: Das Fallarchiv ist als technische Bedingung für die Anthropologie des ›ganzen Menschen‹ zugleich Lückenfüller für das ausstehende Experiment, so wie umgekehrt jede einzelne Fallgeschichte an die Stelle des epistemischen Dings des ganzen Menschen tritt. Aus diesem Grund ist der »Anhang« zu Krügers Versuch nicht nur eine Ergänzung, sondern in Gestalt einer Sammlung von Einzelfällen die pragmatische Lösung desjenigen Problems, das zugleich auch das einer experimentellen Erforschung des ›ganzen Menschen‹ ist: die Möglichkeit, anhand eines Teils des Ganzen ansichtig zu werden. Was auf Seiten der Anthropologie der Schluss vom Körper auf die Seele ist, ist für die medizinische Publikationspraxis die Ergänzung der Einzelbeobachtung zu einer repräsentativen Sammlung. In beiden Fällen, der Anthropologie des ›ganzen Menschen‹ wie der Sammlung einzelner Fallberichten, wird aus der Praxis des Experiments die Trope des pars pro toto.

Autoren- und Fallverzeichnis zu J. G. Krügers Anhang verschiedener Wahrnehmungen, welche zur Erläuterung der Seelenlehre dienen : Pierre Borel: Historiarum et observationum medicophysicarum centuria, Frankfurt, Leipzig 1676, S. 3–12. (8 Fälle: Fernwirkung, Hypochondrie, Fieber, Hirnläsionen, Gedächtnisschwund, Sinnestäuschungen, Affekte) Hermann Boerhave: Praelectiones academicae in proprias institutiones rei medicae, hg. von Albrecht von Haller, Göttingen 1745, S. 10. (1 Fall: Gedächtnisverlust) Nikolaus Tulpius: Observationes medicae, Amsterdam 1641, S. 12 ff. (3 Fälle: Hypochdondrie) Johannes Nikolaus Pechlinus: Observationes physico-medicae, Hamburg 1691, S. 14–30. (9 Fälle: Affekte) Gerard van Swieten: Commentarii in Boerhaavii aphorismos de cognoscendis et curandis morbis, Leiden 1741, S. 30 ff. (4 Fälle: Hypochondrie, Wahnsinn) Fabricius Hildanus: Observationes et curationes chirurgicae, Oppenheim 1619, S. 32–40 (6 Fälle: Hirnläsionen, Nachtwandern, Fallsucht, Phantomschmerzen, plötzlicher Tod) Acta Vratislaviensis. Annales physico-medicae 1722 und 1725, S. 40-51. (2 Fälle: Nachtwandern) Felix Platter: Observationes, Basel 1614, S. 52–58. (6 Fälle: Hypochondrie, Nachtwandern, plötzlicher Tod) Henri von Heers: Observationes medicae, Leipzig 1645, S. 58–70. (5 Fälle: Nachtwandern, Melancholie)

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Thomas Bartholinus: Historiarum anatomicarum rariorum centuria, Amsterdam 1641, S. 71–74. (4 Fälle: Gedächtnisverlust, Melancholie) Johann Jakob Wepfer: 0bservationes medico-practicae de affectibus capitis internis et externis, Schaffhausen 1727, S. 74–82. (5 Fälle: Gedächtnisverlust, Affektleiden) Theophile Bonet: Sepulchretum sive anatomica practica, Genf 1679, S. 82–86. (6 Fälle: Hypochondrie, Affektleiden, Melancholie, plötzlicher Tod, Schwangerschaft, Träume) Cornelis Stalpart van der Wiel: Osbervationes rariorum, Leyden 1687, S. 86–90. (2 Fälle: Muttermale) Marcellus Donatus: De medica historia mirabili libri sex, Venedig 1588, S. 90–100. (8 Fälle: Gedächtnis) Steven Blankaart: Collectanea medico-physica, Amsterdam 1680, S. 112–122. (10 Fälle: Hirnläsionen, Gedächtnisschwund, Phantomschmerzen, Muttermale) Johann Nikolaus Binninger: Observationum medicarum centuria, Montbelgard 1673, S. 122 ff. (2 Fälle: Phantomschmerzen) Johannes Rhodius, Observationum medicinalium, Frankfurt/Leipzig 1676, S. 124. (2 Fälle: Fieber) Johann Hellwig: Observationes physico-medicae, Augsburg 1680 8, S. 125–128. (5 Fälle: Melancholie) Caspar Gottlieb Bierling: Adversariorum curiosorum centuria 1, Jena 1679, S. 129–131. (2 Fälle: Muttermale) Theophile Bonet: Medicina Septentrionalis collatitia, Genf 1686, S. 131-187 und 192–208 w. o. (35 Fälle) Zacutus Lusitanus: De Medicorum principum historia, Lyon 1649, S. 187–188. (2 Fälle: Melancholie) Johann Georg Schenck von Grafenberg: Obseruationum Medicinalium, Lyon 1588, S. 188– 191. (3 Fälle: Hirnläsionen, Gedächtnisverlust, Nachtwandern) Hamburgisches Magazin (Bd. 7, 1751: Sauvages de la Croix über »Die Seele in der Erstarrung und Schlafwanderung«).

Stefan Borchers (Berlin) Totus homo oder ganzer Mensch? Zum Auftakt der Anthropologie an der Universität Halle

I Wenn ich mich hier dem Auftakt der Anthropologie an der Universität Halle im 18. Jahrhundert zuwende, so bedarf das zunächst einer kurzen Erläuterung, was dabei eigentlich unter Anthropologie zu verstehen sein soll. Denn als eigenständige wissenschaftliche Disziplin ist die Anthropologie bekanntlich ein Kind erst des 19. Jahrhunderts, jedenfalls wenn man die Gründung von Lehrstühlen oder gelehrten Gesellschaften dieses Namens zugrunde legt. Doch versteht es sich von selbst, dass das Wissen vom Menschen längst vor dieser disziplinären und institutionellen Verfestigung ein bevorzugter Gegenstand gelehrter Betrachtungen war und dass nicht erst Pope das Studium des Menschen zum Inbegriff allen Erkenntnisstrebens erhoben hat. Was aber rechtfertigt dann die Rede von einem Auftakt der Anthropologie an der Universität Halle? Es ist die so genannte Anthropologische Wende der Aufklärung, die von der Forschung zunächst auf das Wirken der »Philosophischen Ärzte« seit den 1770er Jahren zurückgeführt worden war,1 mittlerweile aber – vor allem dank der einschlägigen Arbeiten Carsten Zelles – als ein Produkt schon der Halleschen Aufklärung des zweiten Drittels des 18. Jahrhunderts identifiziert worden ist.2 Nicht erst die Philosophischen Ärzte der Spätaufklärung also, sondern schon Alexander Gottlieb Baumgarten, Georg Friedrich Meier und die so genannten Vernünftigen Ärzte (Johann Gottlob Krüger, Johann August Unzer, Ernst Anton Nicolai und Johann Christian Bolten) haben

1

Gemeint sind hier die Forschungen im Anschluss an Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977; vgl. dazu den Forschungsbericht von Wolfgang Riedel: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft. In: IASL, Sonderheft 6: Forschungsreferate, Folge 3 (1994), S. 93–157. 2 Vgl. Carsten Zelle: Zur Idee des ›ganzen Menschen‹ im 18. Jahrhundert. In: Udo Sträter (Hrsg.): Alter Adam und Neue Kreatur. Pietismus und Anthropologie. Beiträge zum II. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2005. Tübingen 2009 (Hallesche Forschungen; 28/1), S. 45–61; ders.: Klopstocks Diät – das Erhabene und die Anthropologie um 1750. In: Kevin F. Hilliard, Katrin Kohl (Hrsg.): Wort und Schrift – Das Werk Friedrich Gottlieb Klopstocks. Tübingen 2008 (Hallesche Forschungen; 27), S. 101–127; sowie die Beiträge in: ders. (Hrsg.): ›Vernünftige Ärzte‹. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung. Tübingen 2001 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung; 19).

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ein neues wissenschaftliches Interesse am Menschen artikuliert, das die Rede von einer Anthropologischen Wende rechtfertigt. Das Interesse der genannten Ärzte und Philosophen galt dem ›ganzen Menschen‹, was in der Terminologie der Zeit heißt: dem Menschen »nach Leib und Seele« in deren jeweiliger Verhältnisbestimmung. Seit dem 17. Jahrhundert war bekanntlich das Commercium mentis et corporis infolge des cartesischen Dualismus prekär geworden, so dass nach einer Vermittlungsinstanz zwischen Körper und Seele gefahndet werden musste. Und genau das taten die halleschen Philosophen und Mediziner; sie versuchten nichts Geringeres als die Einheit und Ganzheit des Menschen unter den Bedingungen seiner metaphysischen Spaltung in res cogitans und res extensa zu rekonzeptualisieren. Doch ist das wirklich erst ein Phänomen des zweiten Drittels des 18. Jahrhunderts? Wurde nicht auch schon früher (und insbesondere in Halle) ganz konkret nach dem ganzen Menschen gefragt? Das lässt sich in der Tat gar nicht leugnen. Hatte doch beispielsweise Christian Thomasius in seiner 1691 erschienenen Einleitung zu der Vernunfft-Lehre, also rund ein halbes Jahrhundert vor dem hier in Rede stehenden Auftakt, die Erkenntnis des ganzen Menschen zur Voraussetzung jeglichen Spezialwissens erhoben, wie es etwa von der Logik bereitgestellt wird. Er schreibt: »Wie will er [scil. der Mensch] aber wissen, was seine Vernunfft sey, wen[n] er nicht vorher weiß, was er[,] der gantze Mensch[,] sey.«3 In der Forschung ist dieses Zitat vielfach als Indiz dafür genommen worden, dass an der Universität Halle die Anthropologie von Anfang an im Zentrum der gelehrten Aufmerksamkeit gestanden hätte, stammt Thomasius’ Diktum doch sogar noch aus der Zeit vor der feierlichen Inauguration der Universität.4 Wenn aber bereits so viel früher die Frage nach dem ganzen Menschen in Halle gestellt worden ist, worin besteht dann das spezifisch Neue jener für das zweite Drittel des 18. Jahrhunderts reklamierten Anthropologischen Wende? Das Neue liegt, 3

Christian Thomasius: Einleitung zur Vernunftlehre. hrsg. v. Werner Schneiders. Hildesheim, Zürich, New York 1998 [ND der Ausg. Halle 1691] (Ausgewählte Werke, Bd. 8), S. 95. 4 Zur Beliebtheit der Formel in der Forschung vgl. Rainer Godel: ›Eine unendliche Menge dunkeler Vorstellungen‹. Zur Widerständigkeit von Empfindungen und Vorurteilen in der deutschen Spätaufklärung. In: Deutsche Vierteljahresschrift 76 (2002), S. 542–576, hier S. 546 f. sowie die dort in Anm. 17 genannten Nachweise; ferner Christian J. Emden: Metapher, Wahrnehmung, Bewußtsein. Nietzsches Verschränkung von Rhetorik und Neurophysiologie. In: Renate Lachmann, Stefan Rieger (Hrsg.): Text und Wissen. Technologische und anthropologische Aspekte. Tübingen 2003 (Literatur und Anthropologie; 16), S. 127–151, hier S. 148; Ulrich Gaier: Anthropologie der Neuen Mythologie. Zu Funktion und Verfahren konjekturalen Denkens im 18. Jahrhundert. In: Jörn Garber, Heinz Thoma (Hrsg.): Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologie im 18. Jahrhundert. Tübingen 2004 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung; 24), S. 193–218, hier S. 194; Thomas Franke: Ideale Natur aus kontingenter Erfahrung. Johann Joachim Winckelmanns normative Kunstlehre und die empirische Naturwissenschaft. Würzburg 2006 (Epistemata, Reihe Literaturwissenschaft; 579), S. 36.

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zugespitzt formuliert, in der Umschaltung von einem überkommenen, gewissermaßen noch prä-cartesianischen anthropologischen Modell auf ein dezidiert post-cartesianisches, in dem Leib und Seele erst wieder integriert werden müssen. Um diese beiden anthropologischen Konzepte auseinanderzuhalten, bediene ich mich hier der Bezeichnungen ›totus homo‹ für das ältere und ›ganzer Mensch‹ für das neuere. Das mag auf den ersten Blick vielleicht paradox anmuten, weil beide Ausdrücke doch offenbar Gleiches, eben den ganzen Menschen, bezeichnen. Dass ihre Entgegensetzung heuristisch dennoch gerechtfertigt ist, soll im Folgenden gezeigt werden.

II Ich nähere mich dem Gegenstand über einen kleinen Umweg. Aus wissenschaftshistorischer Perspektive habe ich mich eingehend mit den Zeugungslehren des 17. und 18. Jahrhunderts beschäftigt und bin dabei auf ein Faktum gestoßen, das von der Biologie- und Medizingeschichtsschreibung in seiner Bedeutung und Tragweite bislang noch gar nicht erkannt worden ist. Ich spreche von der engen Zusammengehörigkeit der physiologischen und der metaphysischen Aspekte der Zeugung innerhalb des frühneuzeitlichen Wissens von der biologischen Generation.5 Bis ins 18. Jahrhundert hinein (und stellenweise auch darüber hinaus) war die Frage nach der Entstehung des Körpers bei der Zeugung unlösbar verbunden mit der Frage nach dem Ursprung der Seele. Im Grunde genommen besteht diese Dopplung in Zeugungsphysiologie und Zeugungsmetaphysik schon seit den Anfängen des abendländischen Denkens, auch wenn sie sich nicht immer in der gleichen Vehemenz Geltung verschafft hat. Vom Christentum ist sie jedenfalls aufgenommen und für eine gewisse Zeit abschließend beantwortet worden, nämlich dahingehend, dass der Embryo dem Körper nach von den Eltern erzeugt wird, seine Seele aber direkt von Gott eingeflößt bekommt. Diese Theorie, die entsprechend der Erschaffung der individuellen Seele durch Gott auch Kreatianismus genannt wird, beherrschte mehr oder weniger das gesamte Mittelalter und ist auch heute noch Bestandteil der katholischen Lehre. Der Kreatianismus trennt den natürlichen oder immanenten Ursprung des Körpers vom übernatürlichen oder transzendenten Ursprung der Seele und schafft damit die Voraussetzung für eine Sphärentrennung zwischen Medizin bzw. ›Biologie‹ einerseits, die die Art und Weise der Entstehung des Körpers erforschen, und Philosophie bzw. Theologie andererseits, die die Art und Weise der Beseelung oder auch den 5

Vgl. dazu neuerdings vom Vf.: Die Erzeugung des ›ganzen Menschen‹. Zur Entstehung von Anthropologie und Ästhetik an der Universität Halle im 18. Jahrhundert. Tübingen 2011 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung; 42).

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exakten Beseelungstermin erörtern. Vordergründig scheint damit die Zuständigkeit der Wissenschaftsgeschichtsschreibung für die Zeugungsphysiologie und der Philosophie- bzw. Theologiegeschichtsschreibung für die Zeugungsmetaphysik ihre Berechtigung zu erhalten. Doch erweisen sich die Verhältnisse bei näherem Hinsehen als verwickelter, so dass ihnen eigentlich nur mithilfe transdisziplinärer Forschung beizukommen ist. Denn, was Wissenschaftshistoriker üblicherweise nicht wissen: Die Reformation hat den breiten Konsens der katholischen Lehrtradition in diesem Punkt radikal infrage gestellt und – zumindest in ihrem lutherischen Zweig – komplett revidiert.6 Luther selbst fand es unerträglich, dem Menschen einen doppelten Ursprung, nämlich der Seele nach von Gott und dem Körper nach von den Eltern, zuzusprechen. Ja, er betrachtete den Kreatianismus geradezu als fatal für die Erbsündenlehre, jenen zentralen Glaubens-Tatbestand reformatorischer Theologie. Stellte sich doch die Frage, wie die Erbsünde auf den Menschen kommen sollte, wenn Gott selbst die einzelnen menschlichen Seelen erschafft, denn um seiner Güte willen kann er sie weder sündig schaffen noch sie vermittels der Einpflanzung in einen sündigen Leib ohne ihr Zutun zur ewigen Verdammnis verurteilen. In Luthers Augen drohte der Kreatianismus somit ein Kernanliegen der Reformation, nämlich die Einsicht des Menschen in seine Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit zu unterminieren. Nur ein innerweltlicher Ursprung von Körper und Seele vermag dieses Dilemma zu lösen. Und einen solchen nimmt die lutherische theologische Anthropologie denn auch an. Sie betrachtet – im Gegensatz zur scholastischen Tradition mit ihrer gewissermaßen dualistischen Trennung von Leib und Seele – den Menschen als leibseelische Einheit und Ganzheit, was gemäß einer von Luther häufig gebrauchten Formel als totus-homo-Anthropologie bezeichnet wird. Diesem Sprachgebrauch schließe ich mich hier an.7 Die totus-homo-Anthropologie begreift den Menschen als leibseelische Einheit, die von Gott in Adam erschaffen worden sei und sich durch alle Generationen hindurch fortgepflanzt habe. Die innige Gemeinschaft von Leib und Seele höre selbst im Tod nicht auf, sondern werde in der Auferstehung des Fleisches wiederhergestellt.

6

Vgl. Markus Friedrich: Das Verhältnis von Leib und Seele als theologisch-philosophisches Grenzproblem vor Descartes. Lutherische Einwände gegen eine dualistische Anthropologie. In: Martin Mulsow (Hrsg.): Spätrenaissance-Philosophie in Deutschland 1570–1650. Entwürfe zwischen Humanismus und Konfessionalisierung, okkulten Traditionen und Schulmetaphysik. Tübingen 2009 (Frühe Neuzeit; 124), S. 211–249. 7 Vgl. Bengt Hägglund: Luthers Anthropologie. In: Helmar Junghans (Hrsg.): Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546. 2 Bde. Göttingen 1983, Bd. 1, S. 63–76 und Bd. 2, S. 747–748. Zum philosophisch-theologischen Hintergrund der totus-homo-Konzeption vgl. Gerhard Ebeling: Lutherstudien II: Disputatio de homine. 3 Teile. Tübingen 1977–1989, bes. Teil 2, S. 58 u. Teil 3, S. 96 ff., S. 572.

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Nur am Rande sei vermerkt, dass Luther sich nicht etwa als »Erfinder« dieser totushomo-Anthropologie ansah; er betrachtete sie vielmehr als die wahre biblische Anthropologie, die nach ihrer Entstellung durch die katholische Lehre erst wieder aus dem Urtext rekonstruiert werden musste. Aus wissenschaftshistorischer Sicht ist nun vor allem die Tatsache von Bedeutung, dass die lutherische totus-homo-Anthropologie die Wiederkehr eines alten Beseelungsmodells, des so genannten Traduzianismus, bewirkt hat, der von der katholischen Lehre schon früh als häretisch verworfen worden war. Der Traduzianismus sieht die Seele in der gleichen Weise wie den Körper in der Immanenz entstehen. Sie wird demnach ebenso wie der Körper erzeugt, woraus sich zugleich die Fortpflanzung der Erbsünde von den Eltern auf den Nachwuchs erklärt, nämlich als Übergang der Sünde (tradux peccati) vermittels des Übergangs der Seele (tradux animae). Luther selbst wollte den Traduzianismus zwar nicht geradezu als einen reformatorischen Glaubensartikel verstanden wissen, aber genau in diesem Sinne legte ihn die Orthodoxie des 17. Jahrhunderts dann aus und erhob ihn zu einem Streitpunkt in der Auseinandersetzung mit den anderen Konfessionen. Lutherische Theologen und Philosophen des 17. und frühen 18. Jahrhunderts lehrten (von wenigen Ausnahmen abgesehen) den gemeinsamen Ursprung von Leib und Seele in der Zeugung. Der Traduzianismus bildet somit das zeugungstheoretische Pendant der totus-homo-Anthropologie, und gemeinsam mit ihr überstand er die Anfechtungen durch den Cartesianismus. Der totus homo, so könnte man auch sagen, widerstand der cartesischen Substanzentrennung, und zwar erstaunlich lang. Wenn Lutheraner unterdessen gelegentlich doch von Körper und Seele als verschiedenen »Substanzen« sprachen, dann nur behelfsweise und nicht im Sinne einer vollständigen Disjunktion.

III Der kleine Exkurs veranschaulicht, welch ausgezeichneten Indikator die Generationslehre mit ihrem physiologischen und metaphysischen Part für die Bestimmung frühneuzeitlicher Anthropologien bildet. Betrachtet man nämlich die – oftmals erstaunlich detaillierten – Ausführungen zum Ursprung von Körper und Seele bei der Zeugung, dann lassen sich auch solche Autoren anthropologiegeschichtlich präzise verorten, die sich gar nicht oder nicht eben ausführlich zum Commercium-Problem geäußert haben. Zur Veranschaulichung dessen wende ich mich wieder dem eingangs zitierten Christian Thomasius zu und werfe einen kurzen Blick in seine Metaphysik. Dort heißt es, der Mensch sei von einem natürlichen und von einem guten Geist erfüllt.8 Das klingt zunächst merkwürdig, wenn nicht gar heterodox, doch ergibt sich 8

Vgl. Christian Thomasius: Versuch vom Wesen des Geistes, hrsg. v. Werner Schneiders.

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ein differenziertes Bild, wenn man das Augenmerk darauf richtet, wie dieser doppelte Geist in den menschlichen Körper gelangt. Thomasius erklärt nämlich, der natürliche Geist gehe bei der Zeugung von den Eltern auf den Nachwuchs über, der gute Geist hingegen stamme direkt von Gott.9 Man kann sich leicht zusammenreimen, dass im ersteren Falle von der erbsündigen Seele die Rede ist – und tatsächlich verwendet Thomasius die Ausdrücke ›natürlicher Geist‹ und ›Seele‹ synonym. Der gute Geist hingegen wird dem Menschen unmittelbar von Gott eingegeben, doch nicht etwa bei der Zeugung, sondern (als ein Gnadenprodukt) in der geistlichen Wiedergeburt. Thomasius verlegt demnach den Ursprung der menschlichen Seele (anders als den des guten Geistes) in die biologische Generation, so dass das Kind ›nach Leib und Seele‹ von den Eltern erzeugt wird. Ungeachtet der zunächst heterodox anmutenden Trichotomie von Körper, Seele und Geist haben wir es bei Thomasius also mit einem Vertreter der überkommenen totushomo-Anthropologie zu tun. Ich stelle daher fest: Wenn Thomasius in seiner eingangs zitierten Einleitung zu der Vernunfft-Lehre vom »gantzen Menschen« spricht, dann nimmt er damit keineswegs den im 18. Jahrhundert sich einbürgernden Begriff vorweg, sondern er rekurriert bloß auf den substanzmetaphysisch ungespaltenen totus homo.

IV Im Kontrast dazu möchte ich nun abschließend zeigen, worin die neue Anthropologie des ›ganzen Menschen‹ besteht, die von den Vernünftigen Ärzten und den Philosophen Baumgarten und Meier entfaltet worden ist. Auch hier dient mir wieder die Generationstheorie als Indikator. Ich greife Ernst Anton Nicolais Zeugungslehre heraus, es könnte aber ebenso gut diejenige Johann Gottlob Krügers oder Georg Friedrich Meiers sein. Der Arzt Nicolai sieht den Menschen bei der Zeugung aus einem Spermatozoon oder – in der Terminologie seiner Zeit – aus einem ›Samentierchen‹ seinen Anfang nehmen.10 Im Samentierchen ist der Körper in all seinen Teilen

Hildesheim, Zürich, New York 2004 [ND der Ausg. Halle 1699] (Ausgewählte Werke, Bd. 12), S. 188 f. 9 Vgl. ebd., S. 189 f. 10 Vgl. Ernst Anton Nicolai: Gedancken von der Erzeugung des Kindes im Mutterleibe und der Harmonie und Gemeinschaft, welche die Mutter währender Schwangerschaft mit demselben hat. Halle 1746, S. 100 f. Nicolais Generationstheorie widmet sich die medizinhistorische Spezialuntersuchung von Heike Elisabeth Lauer: Ernst Anton Nicolai (1722–1802) – Untersuchungen zu Leben und Werk, seiner Zeugungslehre und Auffassung vom Versehen der Schwangeren unter besonderer Berücksichtigung der Entstehung von Mißbildungen. Med. Diss. Tübingen 1996. Die Arbeit weist im Detail starke Mängel auf, insbesondere verzeichnet sie völlig das Problem des

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bereits vorgebildet oder präformiert, wenn auch in anderer Proportion als das dann ausgetragene Kind.11 Die zugrunde liegende anthropologische Leitvorstellung klärt sich durch die Betrachtung des Seelenursprungs auf, den Nicolai sehr ausführlich abhandelt.12 Er hält dafür, dass die Seele des Kindes bereits im Samentierchen vorhanden sei, ja, dass sie sogar schon mit ihrem Körper verbunden gewesen sei, bevor dieser die Größe eines Samentierchens erreicht habe. Genauer gesagt sollen Körper und Seele bereits seit Erschaffung der Welt präexistieren.13 Und was wir »Zeugung« nennen, stellt bloß den Beginn eines Größenwachstums dar, infolge dessen der immer schon beseelte Körper von der mikroskopischen in die makroskopische Sphäre aufrückt. Diese psychophysische Präexistenz, wie ich sie nennen möchte, ist eine dem Luthertum offenbar eigentümliche Gestalt des Präformationismus, die mit Leibniz’ Hypothese von der prästabilierten Harmonie zwischen Körper und Seele auf den Plan getreten ist. Sie erfreute sich bekanntlich auch bei Christian Wolff großer Beliebtheit, der sie in seinen umfangreichen physiologischen Schriften und in seiner Metaphysik weiter ausgeführt hat. Diese Werke schlachtete Nicolai, der ein Hörer des 1740 nach Halle zurückberufenen Wolff gewesen war, für seine embryologischen Abhandlungen gehörig aus. Für Nicolai ist der Mensch ein aus zwei Substanzen zusammengesetztes Wesen, die jedoch nicht unverbunden nebeneinander stehen, sondern eine integrierte Einheit bilden. Leib und Seele des Menschen sind seit den Tagen der Schöpfung aufeinander bezogen, mehr noch: Sie sind von Gott füreinander geschaffen und aufeinander abgestimmt worden. Während der langen Zeit der gemeinsamen Präexistenz verfügte die Seele nur über dunkle Vorstellungen, weil ihr Körper in seiner winzigen Verkleinerung noch keine Sinnesorgane besaß. Doch im Laufe der Embryonalentwicklung bekommt sie – im gleichen Maße wie der Körper Gehirn und Nerven ausbildet – zunehmend klare Vorstellungen und nach der Geburt des Kindes schließlich auch deutliche. Die Aufnahmefähigkeit der Seele für Sinneseindrücke führt dann zur weiteren Ausbildung der körperlichen Feinmotorik, und die Seele wiederum lernt ihren Körper zu beherrschen.14 Der Unterschied dieser anthropologischen Konzeption zum alten totus-homoModell liegt auf der Hand: Der totus homo präexistiert nicht, er wird erst bei der Zeugung ›nach Leib und Seele‹ von den Eltern hervorgebracht und ist ihnen in körperlicher und seelischer Hinsicht gleich oder ähnlich. Der ›ganze Mensch‹ hingeSeelenursprungs (ebd., S. 44) und verkennt Nicolais weitgehende Abhängigkeit von Wolff (ebd., S. 24 f.). 11 Vgl. Nicolai: Gedancken von der Erzeugung des Kindes, S. 106 f. 12 Vgl. ebd., S. 167–197, Abschnitt 5: Von der Seele des Kindes im Mutterleibe. 13 Vgl. ebd., S. 173, S. 192. 14 Vgl. ebd., S. 182–190.

Totus homo oder ganzer Mensch?

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gen, wie er uns bei Nicolai und den anderen Vernünftigen Ärzten begegnet, ist im Grunde genauso alt wie seine Eltern, er hat bloß eine Generation länger im präexistenten Schlummer gelegen. Er ist ein deutlich post-cartesianisches, aber gleichwohl integriertes leibseelisches Doppelwesen, weshalb sich die Vernünftigen Ärzte sowohl seiner Physiologie als auch seiner Psychologie annahmen. Man könnte daher sagen: Die Leibniz’sche prästabilierte Harmonie war ein notwendiges Durchgangsstadium bei der Transformation des alten totus homo zum neuen ›ganzen Menschen‹. Sie ermöglichte die ›Umbesetzung‹ der alten, theologisch fundierten anthropologischen Leitvorstellung in eine neue Form von Psychosomatik, die, wie ich meine, die Rede von einem Auftakt der Anthropologie des ganzen Menschen an der Universität Halle rechtfertigt.

Christiane Frey (Princeton) Von Menschen, Fällen und Paratexten. Friedrich Hoffmann bis Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser

Reflexionen über die Funktion der Fallgeschichte – oder, der Semantik der Zeit gemäß, des casus – gehen spätestens seit Ernst Georg Stahl und Friedrich Hoffmann einher mit dem Postulat, dass weniger die Krankheit, als vielmehr der Kranke in den Blick zu nehmen sei.1 Dass Fallgeschichten mehr sein sollten als nur zusammengetragene und rubrizierte Krankheits- und Therapiegeschichten, anhand derer auch jeder »Idiote« das Metier des praktischen Mediziners ausüben könne, stellt etwa Andreas Elias Büchner (1701–1769)2 – ganz im Sinne von Stahl und Hoffmann – heraus, wenn er in seinem Medicus als schwerwiegendes Fehlurteil denunziert, daß eines theils die Arzneyen bey allen Kranken allezeit einerley Würkung thun müssen, und daß diejenigen, wodurch einmal eine Krankheit curiret worden, auch dieselbe, so oft sie wieder vorkomme, bey einer jeglichen Person gleichfalls wieder zu heben vermögend sind; andern theils aber nichts weiter, als nur eine allgemeine Methode bey der Heilung einer jeglichen Krankheit erfordert werde, welche, wenn sie einmal einen guten und glücklichen Effect zuwege gebracht, nachhero, unter eben dergleichen wieder vorkommenden Umständen, zu einer beständigen Vorschrift dienen, und auf die vorige Art wieder befolget werden könne, woraus denn endlich der ungereimte und thörichte Schluß ist gemacht worden, daß hauptsächlich nur die Kenntnis kräftiger gegen eine jegliche Krankheit gerichteter Mittel, und der bey ihren Gebrauch zu beobachtenden Ordnung, zu deren Cur vonnöthen sey, mithin also ein 1

Diesen Umbruch hat bekanntlich Michel Foucault als den entscheidenden Wandel der Medizin um 1800 herausgestellt. Weitere Hinweise und Ausführungen dazu finden sich etwa in Christiane Frey: Am Beispiel der Fallgeschichte. Zu Pinels Traité medico-philosophique sur l’aliénation. In: Jens Ruchatz, Stefan Willer, Nicolas Pethes (Hrsg.): Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen. Berlin 2007, S. 263–279; sowie dies.: Der Fall Anton Reiser. Vom Paratext zum Paradigma. In: Anthony Krupp (Hrsg.): Karl Philipp Moritz. Signaturen des Denkens. Amsterdam 2010, S. 19–43. – Der letztgenannte Aufsatz ist eine ausführlichere Fassung des hier vorliegenden Beitrags, setzt allerdings einen anderen Schwerpunkt: Während es mir in diesem Beitrag um das Verhältnis von der ›Individualität‹ des Falles zu seiner textuellen Rahmung geht, versucht der genannte Aufsatz (2010) der Gattungszuschreibung der ›Fallgeschichte‹ mit Blick auf den ›psychologischen Roman‹ Anton Reiser nachzugehen. 2 Bedeutender Hallenser Medizinalrat und bekannt vor allem als Reformator der Leopoldina. Vgl. näheres Artikel »Andreas Elias von Büchner«. In: Bio-bibliographisches Handbuch der Akademie Gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt, 1754–2004, hrsg. v. Jürgen Kiefer. Erfurt 2005, S. 119.

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jeglicher Idiote, wenn er nur ein altes Kräuterbuch […] gelesen, alsobald im Stande sey, einen Arzt abzugeben […].3

Nicht das Buchwissen von der Wirkung der Heilmittel sei, Büchner zufolge, von Bedeutung, sondern die Beobachtung des jeweiligen Patienten; nicht die »allgemeine Methode« führe zu einer angemessenen Therapie, sondern die Berücksichtigung der einzelnen und von einander ganz verschiedenen Kranken. Fallgeschichten von Krankheiten sind für Büchner entsprechend auf Personen zu beziehen und eine notwendige Ergänzung zu einem jeden Medizinbuch, weil sie davon zeugen, wie unterschiedlich Krankheiten verlaufen können und wie genau der Arzt auf den einzelnen Fall eingehen muss, soll seine Therapie erfolgreich sein. Dieses um die Mitte des 18. Jahrhunderts neu aufkommende Interesse an »jegliche[r] Person« ändert nun allerdings nichts daran, dass weiterhin der einzelne Fall auf eine ihm externe Ordnung bezogen bleibt. So stellt auch Büchner jedem casus eine kurze Zuordnung voran, die sich in erster Linie auf die Krankheit bezieht, wie etwa im Falle seines sechsten casus, der betitelt ist: »Affectus semi-paralyticus, cum insigni generis nervosi debilitate coniunctus.«4 Im Vergleich zu früheren Sammlungen von Fallgeschichten, in denen die casus zumeist unter einfache Krankheitsnamen rubriziert wurden, ist das zwar eine sehr vage Bestimmung, dennoch fungiert sie als Nennwert einer Zuordnung. Gleichzeitig, und das scheint in der Zeit um 1750 der entscheidende Wandel zu sein, zeichnet sich bei Büchner die Substitution einer typologischen Ordnung von Krankheiten durch eine Ordnung von Patienten ab. So beginnen Büchners casus generell mit einer typologischen Bestimmung des Kranken. In dem genannten Fall etwa heißt es: »Der Herr Patiente ist 24. Jahr alt, temperamenti cholerico-sanguinei, zärtlicher Statur, nicht von allzu starken Adern.«5 Den Krankheitstypen wird denn auch weniger der individuelle Mensch gegenübergestellt, als vielmehr ein Typ von Patient. Die Inblicknahme des Individuums und des besonderen Verlaufs seiner Krankheit bedeutet mithin noch keine Individualisierung im eigentlichen Sinne. Vielmehr 3

[Andreas Elias von Büchner]: Der in schweren und verwirrten Krankheiten vernünftig rathende und glücklich curirende Medicus, oder gründlicher Unterricht, wie in solchen wichtigen Fällen besonders von jungen Aerzten consilia medica am sichersten können theils eingeholet, theils auch fürnemlich nach Hofmannischen und Boerhavischen Grundsätzen klüglich ertheilet werden. Erfurt 1762, unpaginierte Vorrede. Vgl. zum medizingeschichtlichen Kontext von Büchners Medicus Werner Friedrich Kümmel: »der vernünftig rathende und glücklich curirende Medicus«. Andreas Elias von Büchner (1701–1769) in Halle und die medizinische Aufklärung. In: Jürgen Kiefer (Hrsg.): Parerga – Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte. Erfurt 2007, S.93–112; sowie zu narrativen Formen des Falls bei Büchner Carsten Zelle: »Die Geschichte bestehet in einer Erzählung«. Poetik der medizinischen Fallerzählung bei Andreas Elias Büchner. In: Zeitschrift für Germanistik 19/2 (2009), S. 301–316. 4 Büchner: Der in schweren und verwirrten Krankheiten, S. 204. 5 Ebd.

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wird der Medizin des 18. Jahrhunderts, so ließe sich sagen, das Individuum zu einer Sache epistemischer Verfügbarkeit. Das Partikulare des (kranken) Menschen interessiert nicht an sich, sondern als Teil einer allgemeinen Ordnung – über die sich dann allerdings, wie Michel Foucault gezeigt hat, wiederum Individuen konstituieren.

1. Paratextuelles Die folgenden Beobachtungen zur Geschichte des Verhältnisses von Fallgeschichte und der ›Sache‹ des Menschen im 18. Jahrhundert nehmen sich nun durchaus nicht vor, noch einmal die Frage nach dem epistemischen Paradigmenwechsel um 1800 zu konfrontieren; vielmehr lenken sie ihren Blick auf signifikante Veränderungen ›kasuistischer‹ Textgestaltung. Welche Auswirkungen hat das neue medizinische Interesse am Menschen auf die Art und Weise, in der sich die Fallgeschichten als Texte präsentieren und konstituieren? Es ist in den letzten Jahren mehrfach gezeigt worden, dass und wie die Fallgeschichte formal und epistemisch als eine parasitäre Gattung funktioniert. Als empirisches Datum, als Veranschaulichung oder als Ausnahme bleibt ein jeder Fall auf die Ordnung oder Regel, auf die er sich bezieht, angewiesen. Texttheoretisch hat das zur Folge, dass Fallgeschichten gewöhnlich nicht nur von paratextuellen Momenten wie etwa Titel oder Nummer begleitet werden, sondern von einem ganzen para- oder epitextuellen Apparat, der der Fallgeschichte ihren Ort zuweist.6 Nun ist der casus in Hinsicht auf sein Verhältnis zu para- oder epitextuellen Momenten natürlich eine ungehörige Gattung: da Fallgeschichten ihren angestammten Ort in Sammlungen oder Kompendien haben, in denen sie von einer Reihe vergleichbarer Fälle flankiert werden, lässt sich kaum sagen (ein generelles Problem der Paratexttheorie, das hier besonders zur Geltung kommt), was als Text und was als Paratext gelten soll. Begreift man die jeweilige Darstellung eines Krankheitsverlaufs als abgeschlossenen Text, so lässt sich der Fall zwar durchaus als unabhängige Geschichte

6

Gérard Genette hat einflussreich gezeigt, dass neben Paratexten wie dem Titel, Überschriften, Klappentexten – d. h. Paratexten, die gewissermaßen Anfang und Ende einer Texteinheit markieren – auch solche Texte oder nichttextlichen Momente zu begreifen sind, die die Lektüreweise eines Textes bestimmen und damit den Text, auf den sie sich beziehen, als eigenständigen Text exponieren. Dazu gehören Werbetexte in anderen Schriften, aber auch etwa mündliche Ankündigungen. Im Falle von paratextuellen Momenten, die nicht zum ›Buch‹ selbst gehören, spricht Genette als besondere Form von Paratexten auch von Epitexten. Vgl. Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt a. M. 1989. Vgl. zur Geschichte paratextueller Rahmung im 18. Jahrhundert (allerdings ausschließlich mit Bezug auf literarische Texte) Till Dembeck: Texte rahmen. Grenzregionen Literarischer Werke im 18. Jahrhundert (Gottsched, Wieland, Moritz, Jean Paul). Berlin, New York 2007.

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lesen, allerdings unter Aufgabe dessen, was den casus als casus bestimmt: nämlich seine Verweisfunktion auf andere Fälle. Man möchte deshalb annehmen, dass sich historisch gesehen mit der Individualisierung von Krankengeschichten und zugleich der Aufwertung der historia oder induktiver Vorgehensweisen eine Herauslösung einzelner Fälle aus den großen Kompendien ergibt und daraus eine Reduktion des epitextuellen Apparats erfolgt. Sieht man sich nun die Geschichte der paratextuellen Rahmung der Fallgeschichten im 17. und 18. Jahrhundert genauer an, so lässt sich der artikulierten Erwartung entgegen allerdings beobachten, dass der paratextuelle Apparat in seinem Umfang nicht abnimmt, sondern im Gegenteil zunimmt. Für die meisten medizinischen Fallgeschichten der genannten Zeit gilt nach wie vor, dass sie als Teil von Sammlungen auftauchen. Zumeist sind diese Kompendien in Rubriken unterteilt, denen wiederum allgemeine Beschreibungen folgen. Und schließlich bilden auch etwa die indices morborum Paratexte, von denen die Fallgeschichten zunehmend abhängen und ohne die sie kaum lesbar sind. Und so werden die meisten Fälle auch weiterhin als causus pro oder als causus de eingeführt, d. h. ganz konkret als besondere Fälle einer gegebenen Krankheit, über die entweder in der Sammlung selbst oder in anderen Handbüchern – die dann als Epitext fungieren – Auskunft gegeben wird. Dieser Zuwachs an Paratext, der über das Angedeutete noch hinausgeht, lässt sich in einem Vergleich von drei bekannten und in ihrer Art repräsentativen Sammlungen von Fallgeschichten zeigen. In der Sammlung von »Hundert Fallgeschichten« von Epiphanio Ferdinando, den bis ins 18. Jahrhundert viel benutzten Centum historiae seu observationes et casus medici aus dem Jahr 1621 etwa,7 wird nach zwei Indices und einem etwa dreiseitigen Vorwort ohne weiteren einleitenden Vorspann eine Fallgeschichte an die andere gereiht. Die Indices beziehen sich zum einen auf Autorennamen, zum anderen auf Krankheiten und Krankheitserscheinungen. Die »Praefatio« gibt Aufschluss über den zugrundeliegenden Ansatz bei der Beschreibung der Krankheiten und hebt hervor, dass bei aller Berücksichtigung der Krankheitsgeschichten doch die allgemeine Methode wesentlich sei (»Sed circa praesentem Historiam, vel uti circa alias non nulla sunt methodice exaranda«).8 Versteht man diese Praefatio zusammen mit den Indices als Paratext zu den eigentlichen Fallgeschichten, so lässt sich kaum übersehen, dass er vergleichsweise knapp ausfällt. Offensichtlich ist es Ferdinandus vor allem darum zu tun, die Fallgeschichten selbst zu veröffentlichen.

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Centum historiae seu observationes et casus medici, omnes fere medicinae partes […] quae non minus ob theoricam, et praxim, quam ab variam eruditionem, aureasque; digressiones, erunt Philosophis, Medicis, aliarumque […] cum triplici indice, uno historiarum […]. Venetiis: Thomam Ballionum 1621. 8 Ebd., unpag. Praefatio.

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Ganz anders nehmen sich dagegen die bekannteren medizinischen Sammlungen von Fallgeschichten des frühen und späteren 18. Jahrhunderts aus. So beginnt das »Proœmium« etwa des Collegium Practicum von Georg Ernst Stahl von 1745 zwar mit einer ähnlichen Aussage wie die Centum historiae von Ferdinando (»Ein Medicus, welcher zur Praxi sich appliciren will, und hat nicht genugsam […] Fundamenta […] der macht sich grober […] Sünden theilhafftig«),9 allerdings nimmt das Proœmium bei Stahl fast ein Drittel des gesamten Bandes ein. Nicht anders verhält es sich mit Hoffmanns oder Büchners Fallgeschichtensammlung.10 Nun stehen diese Vorreden zu dem jeweils »angeführte[n] Casu oder Exempel«11 tatsächlich insofern in einem paratextuellen Verhältnis, als ihnen nicht zuletzt die Funktion zukommt, den einzelnen Fällen jenen Rahmen zu geben, der ihr Genre und ihren Gebrauch überhaupt erst bestimmt. Dass in den Vorreden mehr verhandelt wird, als zum Verständnis der einzelnen Fallgeschichten nötig ist, ändert nichts daran, dass sie zur paratextuellen Rahmung der Fallgeschichten gehören. Thematisiert werden in den meisten Vorreden neben ganz praktischen oder theologischen Belangen (ob etwa eine Krankheit als Strafe Gottes anzusehen sei oder ein Jude eine Apotheke eröffnen dürfe) denn auch Fragen, die sich auf den Zweck und die Einbettung der casus selbst beziehen. Als ein besonders gutes Beispiel können die Vorreden gelten, die Friedrich Hoffmann seiner mehrere Bände umfassenden Fallsammlung Medicina consultatoria voranstellt.12 In der Vorrede zum vierten Band der Sammlung (1724) etwa heißt es: »Ich offerire hiemit dem geneigten und der gründlichen Wissenschaft und Erfahrung in medicis begierigen Leser den vierdten Theil von der Medicina consultatoria & forensi, mit einen vollständigen Register über all vier Theile […]«.13 Damit wird sogleich deutlich, dass das vorliegende Kasuskompendium epistemisch zwischen »Wissenschaft« und »Erfahrung« zu verorten ist. Eine wesentliche Verbindung zwischen Einzelfall und Theorie erfolgt dabei über das Register, welches

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Georg Ernst Stahl: Praxis Stahliana, Das ist Herrn Georg Ernst Stahls […] Collegium Practicum, Welches theils von Ihm privatim in die Feder dictirt, theils von seinen damahligen Auditoribus […] nachgeschrieben / aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt […] – bey dieser dritten Auflage um viel vermehrt und verbessert zum Druck befördert worden von Johann Storchen alias Hulderico Pelargo. Leipzig 1745, S. 1. 10 Stahls Collegium Practicum stellt allerdings nicht eigentlich eine Sammlung von Fallgeschichten dar. Viel eher verhält sich das ganze Collegium, das freilich zahlreiche Beispiele enthält, seinerseits paratextuell zu Stahls eigentlichen Sammlungen von Fallgeschichten. 11 Ebd., S. 16. 12 Der vierte Band etwa erscheint als: Friderici Hoffmanni: Medicina consultatoria, Worinnen Unterschiedliche über einige schwehre Casus ausgearbeitete Consilia und Responsa Facultatis Medicae enthalten, Und in Fünff Decurien eingetheilet, Dem Publico zum Besten heraus gegeben. Vierdter Theil. Nebst einem indice generali casuum und vollständigen Register der merckwürdigsten in allen vier Theilen befindlichen Sachen. Halle 1724. 13 Ebd., unpag. Vorrede.

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die Ordnung vorgibt, in der die einzelnen Erfahrungsberichte ›wissenschaftlich‹ Halt finden. Es nimmt nicht wunder, dass Hoffmann seine von der Erfahrung kommenden Fälle trotz der Bedeutung, die er ihnen beimisst, an die Theorie rückgebunden wissen will: In gegen wärtigem vierdten Theil sind verschiedene merckwürdige Casus, die sowohl ad praxin forensem als clinicam gehören, enthalten, daraus ein jeglicher, der solche mit Attention und Fleiß durchlesen wird, viel nützliches lernen, absonderlich aber das Judicium, darauf alles in praxi ankommt, excoliren und schärffen kann, wenn etwa bey anderer Gelegenheit dergleichen Art Casus wieder vorkommen möchten. Denn es ist allbereit in denen Vorreden, sonderlich des ersten und dritten Theils, zur Gnüge demonstriret und mit bündigen Bewißthümern dargethan worden, dass der sicherste und unbeweglichste Grund der Gewissheit unserer Kunst, und sonderlich was die Praxin anbetrifft, vornehmlich in zwey Stücken beruhe. Das erste sind vollständige und mit allen Umständen beschriebene Casus, Observationes und Morborum historiae, deren leider gar wenig vorhanden, da man dadurch nicht allein zur gründlichen Erkäntniß gelanget aller derjenigen eventuum & effectuum, die in statu morboso & praeternaturali bey den Menschen vorkommen, und in was vor Succession, Zeit und Ordnung dieselben sich begeben, sondern auch deutlich einsiehet, was und welche agentia & coadiuvantia, sowohl zur Generation und Anwachs der Kranckheit, als auch zu derselben Abnahm und völligen Cur dienen und erfordert werden. Das andere Fundament besteht in einer soliden Theorie oder gründlichen Wissenschaft solcher Principiorum, die ex physico-mechanicis, chymicis, & anatomicis genommen sind, und auf eine genaue Erkäntniß der legum motuum, die in dem menschlichen Cörper vorgehen, und entweder zu dessen Erhaltung oder Destruction abzielen, führen; damit man aus derselben alle Effectus, Symptomata und was in historiis morborum vorkommt, vernünfftig und deutlich erklären, die Ursachen derer Kranckheiten, derselben Zufälle und mannigfaltige Veränderungen natürlicher Weise und ungezwungen deduciren, und warum man dieses vor jenes in der Cur thun oder lassen solle, auch auf was Art und Weise diese oder jene Kranckheit zu heben, klären und gründlich darthun könne.14

Hoffmann kommentiert hier mithin selbst, in welchem Verhältnis die Vorreden zu den Fallgeschichten stehen: Den Vorreden obliegt es darzulegen, inwiefern die Medizin gleichermaßen auf theoretischem Wissen und auf praktischer Erfahrung beruhe. Das geht mit der Vorstellung einher, dass die veröffentlichten Fallgeschichten ohne eine sie zumindest begleitende Theorie funktionslos sind. Auch werden sie nicht um ihrer selbst willen angeführt, sondern um des möglichen Vergleichs mit anderen ähnlich gelagerten Fällen. Das zu schärfende »Judicium« ist hier der entscheidende 14

Ebd.

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Begriff, wird das iudicium (griech. κρίσις) doch traditionellerweise auf die »Analyse« bezogen und damit auf das, was spätestens seit Petrus Ramus die Prüfung gegebener Fälle oder Beispiele meint (»Analysis, i.e. resolutio, cum facta disputatio retexitur et partibus suis examinatur«).15 Darunter versteht Ramus, mit Bezug auf Aristoteles, disziplinenübergreifend das Ableiten des Einzelnen vom Allgemeinen. Ob Ramus’ Logik nun bei Hoffmann tatsächlich noch eine Rolle spielt, lässt sich nur vermuten. Aufschlussreich bleibt jedoch, dass auch Hoffmann bei aller Betonung, wie wichtig die Veröffentlichung möglichst vieler verschiedener casus sei, von allgemeinen Gesetzen ausgeht, von denen alle pathologischen Erscheinungen abzuleiten und zu erklären sind. Fehler in der medizinischen Praxis rühren deshalb auch nicht primär von mangelnder Erfahrung, sondern daher, dass die »edle Medicin« so vielen »allgemeinen Irrthümern und verkehrten Praejudiciis […] unterworffen ist«.16 So wie das Judicium entscheidend bleibt, wenn es um die Auswertung der Fälle geht, so sind auch die Praejudiciis dafür verantwortlich, wenn die Behandlung fehlschlägt. Dieser Ansatz führt nun nicht zu einer Vernachlässigung der Erfahrung am einzelnen Patienten, ganz im Gegenteil, aber er macht einen extensiven para- und epitextuellen (Hoffmann verweist in seinen Fallgeschichten auch auf andere medizinische Schriften mit nosographischen Angaben) Apparat nötig, der die Fallgeschichten einbettet.

2. Moritz’ Anton Reiser Eingegangen in die Literaturgeschichte als erster »psychologischer Roman«, wie ihn der Verfasser untertitelt, wird Anton Reiser in der germanistischen Forschung zunehmend als das wahrgenommen, wozu ihn sein erster Publikationsort – das Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, in dem Teile des Romans von 1785–90 erscheinen – unweigerlich macht: als seelenkundliche Fallgeschichte.17 Spätestens seit Lothar Müllers einflussreicher Studie Die kranke Seele gilt Karl Philipp Moritz’ autobiographischer Roman denn auch als pathologischer Fall, ja Müller schlägt explizit vor, »Anton Reiser als Krankengeschichte zu lesen und in Stoff und Form als zugleich individuellen und

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Petrus Ramus: Dialectica. Basileae: Eusebius 1572, S. 149 (vgl. Ramus: Dialectica verdeutscht, und mehrers teils mit biblischen Exempeln, wie auch mit etlischen Anzeigungen erklert. Erffordt: Riswick 1587 und weiterhin Petrus Ramus: Dialecticæ Liber Secundus, De Judicio. 1597). 16 Hoffmann: Medicina consultatoria, unpag. Vorrede. 17 Nach Moritz’ eigener Aussage handelt es sich im Falle seines Anton Reiser um die »stärkste Sammlung von Beobachtungen der menschlichen Seele […], die zu machen ich Gelegenheit gehabt habe« (aus: Fortsetzung der Revision der ersten drei Bände dieses Magazins. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde IV 3, S. 4 f.); entsprechend wäre auch denkbar, den Roman als eine Art Sammlung von Fallgeschichten zu begreifen.

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historisch-exemplarischen Fall auszulegen«,18 während Thomas Saine den Roman sogar als »diagnostische Pathographie« verstanden wissen will.19 In jüngerer Zeit ist Hans Esselborn diesem Befund noch einmal nachgegangen und weist Anton Reiser als einen Zwittertext zwischen autobiographischem Roman und psychologischer Fallgeschichte aus.20 Jutta Heinz schließlich betont, dass Moritz’ Anton Reiser »der medizinischen Fallgeschichte […] weit mehr verpflichtet« sei als den modernen »Formen polyperspektivischen, personalen und dialogischen Erzählens«.21 Über die Zuordnung des Textes zum Genre der Fallgeschichte scheint also kein Zweifel zu bestehen. Indes, so oft dieser Gattungszuordnung des Anton Reiser auch Erwähnung getan wird, so selten wird sie ernst genommen und auf entsprechende Merkmale des Genres hin genauer untersucht.22 Die folgenden Beobachtungen zu Moritz’ Anton Reiser nehmen sich genau das vor, nämlich auf die entsprechenden Merkmale des Genres der Fallgeschichte oder des casus genauer einzugehen. Dabei interessiert vor allem das Verhältnis von Text oder vielmehr Texten, wie sie vor der Entstehung des Romans Anton Reiser im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde veröffentlicht wurden, zu ihrem paratextuellen Apparat. Denn im Fall von Moritz’ Anton Reiser scheint dieses Verhältnis im Vergleich zu den angeführten Fallgeschichten und Fallsammlungen von Ferdinando bis Hoffmann zunächst ganz anders auszufallen.23 Zwar wird die von Moritz verfasste Seelengeschichte in Teilen in einem Organ veröffentlicht, das, wie bereits angedeutet, jede Geschichte schon qua Rahmengebung als Fallgeschichte ausweist, auch fehlt es nicht an Texten, die dem »psychologischen Roman« vorausgehen und ihn, wenn man so will, paratextuell einfassen; dennoch fehlt es dem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde – 18

Lothar Müller: Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis. Karl Philipp Moritz› Anton Reiser. Frankfurt a. M. 1987, S. 12. Vgl. auch den Kommentar zu Anton Reiser in der Frankfurter Ausgabe, Karl Philipp Moritz: Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde. Hrsg. v. Heide Hollmer, Albert Meier. Frankfurt a. M. 1999 (Werke in zwei Bden., Bd. 1), S. 982 ff. 19 Thomas P. Saine: Die ästhetische Theodizee. Karl Philipp Moritz und die Philosophie des 18. Jahrhunderts. München 1971, S. 101. 20 Hans Esselborn: Der gespaltene Autor. Anton Reiser zwischen autobiographischem Roman und psychologischer Fallgeschichte. In: Recherches Germaniques 25/1 (1995), S. 69–90. 21 Jutta Heinz: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung. Berlin, New York 1996, S. 338. 22 Als Ausnahmen wären zu nennen: der ausführliche und instruktive Beitrag von Andreas Gailus: A case of individuality. Karl Philipp Moritz and the »Magazine for Empirical Psychology«. In: New German Critique 79 (2000), S. 67–105; sowie Robert Leventhal: Kasuistik, Empirie und pastorale Seelenführung. Zur Entstehung der modernen psychologischen Fallgeschichte 1750–1800. In: Jahrbuch Literatur und Medizin 2 (2008), S. 13–40. 23 Der Sprung zu Moritz, der über eine ausführlicher zu erzählende Geschichte vor allem auch der ›psychologischen‹ Fallgeschichte im 18. Jahrhundert hinweggeht, sei an dieser Stelle erlaubt mit dem Hinweis vor allem auf den genannten Beitrag von Robert Leventhal, der sich um eine Rekonstruktion der psychologischen Fallgeschichte bis Moritz’ Anton Reiser bemüht.

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und zwar programmatisch – bekanntlich an allem, was im Verständnis der medizinischen Fallsammlungen den einzelnen casus tatsächlich zu einem casus pro oder de macht: nämlich eine Nosologie, eine vorgegebene Ordnung von Krankheiten oder seelischen Störungen, für die die einzelnen Geschichten stehen würden. Die Geschichten sind in dem von Moritz zusammen mit Maimon und später mit Pockels herausgegebenen Magazin zur Erfahrungsseelenkunde dem Wissen um einzelne Krankheitserscheinungen und ihren Klassifikationen nicht nachgeordnet, sondern gehen ihm – ganz dem Prinzip einer Erfahrungswissenschaft folgend – voraus. Aus den Geschichten soll sich die Ordnung des Wissens allererst ergeben, und nicht die Ordnung die Geschichten regieren. Zwar schlägt Moritz Rubriken vor, die das Wissen über die Seele in grober Manier einteilen können. Diese Einteilung folgt sogar schulmedizinischen Vorgaben, wenn sie auf die Seelenkunde überträgt, was zuvor unter Diagnose und Therapie somatischer Krankheiten rubriziert wurde, etwa wenn aus der klassischen Diätetik im Magazin die »Seelendiätetik« wird. Eine Bestimmung oder Klassifikation von Krankheitsbildern gibt eine solche Einteilung jedoch nicht vor. Diese soll sich erst dann einfinden, wenn hinreichend Material zusammengetragen wurde. So heißt es denn auch in Moritz’ »Vorschlag« zum Magazin zur Erfahrungsseelenkunde: Alle diese Beobachtungen erstlich unter gewissen Rubriken in einem dazu bestimmten Magazine gesammelt, nicht eher Reflexionen angestellt, bis eine hinlängliche Anzahl Fakta da sind, und dann am Ende dies alles einmal zu einem zweckmäßgen Ganzen geordnet, welch ein wichtiges Werk für die Menschheit könnte dies werden!24

Das Vorgehen des Magazins ist dementsprechend allenthalben auch als typisch für den Wechsel von deduktiven auf induktive Verfahren innerhalb der Medizin verstanden worden. Davon gibt allein schon der Titel Erfahrungs-Seelenkunde – statt Experimental-Seelenlehre, wie kurz zuvor der Hallenser Arzt Johann Gottlob Krüger seine psychologische Abhandlung nannte – Auskunft.25 24

Karl Philipp Moritz: Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungs-See1enkunde. In: Ders.: Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde, S. 797. 25 Johann Gottlob Krüger: Versuch einer Experimental-Seelenlehre. Halle, Helmstädt 1756. Vgl. dazu auch Carsten Zelle: Experimentalseelenlehre und Erfahrungsseelenkunde. Zur Unterscheidung von Erfahrung, Beobachtung und Experiment bei Johann Gottlob Krüger und Karl Philipp Moritz. In: Ders.: Vernünftige Ärzte. Tübingen 2002, S.173–185; sowie ders.: Experiment, experience and observation in eighteenth-century anthropology and psychology – the examples of Krüger›s »Experimentalseelenlehre« and Moritz’ »Erfahrungsseelenkunde«. In: Orbis litterarum 56/2 (2001), S.93–105. Auf eine genauere Bestimmung dessen, was sich im wissenshistorischen Zusammenhang des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde unter Fakten und der Sammlung von empirischen Daten und Fällen verstehen lässt, geht ein Yvonne Wübben: Traum, Wahn und Wahnwissen. Karl Philipp Moritz als Sammler psychologischer Erfahrungsberichte. In: Ulrich Johannes Schneider (Hrsg.): Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert. Berlin, New York 2008, S. 425–430.

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Texttheoretisch lässt sich beobachten, dass der paratextuelle Vorspann der im Magazin veröffentlichten Geschichten alles tut, um sich als Paratext im Sinne eines theorie- und lektürevorgebenden Metatextes zum Verschwinden zu bringen. So erteilt er denn auch hauptsächlich Auskunft über das, was die neue Wissenschaft noch nicht leisten kann und soll: In dieses Magazin könnte zuerst vieles gesammelt werden, was hin und wieder in Büchern zerstreut ist, und grade hierher gehört. Dann müßten aber schlechterdings nur wirkliche Fakta darin abgedruckt werden, und wer sie einsendete, müßte der Versuchung widerstehn, Reflexionen einzuweben, so würde es sich vielleicht von selber fügen, daß mehrere nach und nach eingesandte Fakta einen bisher zweifelhaften Satz endlich bestätigen, oder einen andern einschränken, oder wiederum einen fälschlichbehaupteten ganz aufheben könnten.26

Das Magazin stellt sich mithin im Wortsinne als Organ vor, in dem sich die neue Wissenschaft der Seelenkunde von »selber bilden« werde, da die reine Ansammlung von Fakta gleichsam selbst schon die gesamte Erfahrungsseelenkunde darstellen muss. Anton Reiser könnte also mit einigem Fug nicht nur als die längste Fallstudie ihrer Art gelten, sondern auch als Beispiel eines Kasus, der keine Regel, kein Gesetz, keine Nosologie veranschaulicht; eine Fallstudie, die mit Sicherheit eine Verlängerung zu nennen ist, aber nicht einer Norm, die der Geschichte paratextuell voranstünde. Kein Lexikon hat sie angekündigt, kein index morborum je auf sie verwiesen. Der Fall scheint allein um der Einzigartigkeit eines Menschen und seiner Seelengeschichte willen entstanden zu sein. Ein solcher Anspruch legt nahe, dass diese Geschichte so unabhängig und ungefärbt erzählt wird, wie es die historia – wenn man darunter die empirisch-induktiven Verfahren versteht – beizeiten vorgab zu können. Umso mehr fällt jedoch auf, dass die Geschichte des Anton Reiser aus einer bemerkenswert reflexiven Haltung erzählt wird; dass der Erzähler gerade nicht ungefiltert aneinander reiht, was Anton zustößt und wie er die Ereignisse seines Lebens psychisch verarbeitet; dass dem emergierenden Zusammenhang kaum vertraut wird, sondern er durch bewusste und auch als solche markierte erzählerische Eingriffe stets hergestellt wird. Es fällt zudem auf, dass der Erzähler keinen Hehl aus seiner Fokussierung macht und, bei allem Aufmerken auf Kleinigkeiten, Beobachtungen stark selektiert. So wird zwar – um nur ein Beispiel zu nennen – in epischer Breite erzählt, wie lieblos der Vater seinen Sohn Anton behandelt, die Zuneigung der Mutter wird hingegen lediglich erwähnt, kaum aber erzählerisch veranschaulicht.27 Und schließlich fällt auf, dass der Erzähler das Geschehen unverhohlen deutet und kommentiert. Eine Art Kommentar, die dem Genre der Fallgeschichte buchstäblich fremd ist. Und 26 27

Ebd. [Hervorh. C. F.] Ebd., S. 112.

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noch weniger ist sie dem Selbstanspruch des Magazins gemäß, das, wie zitiert, Verzicht auf Reflexion aufgibt. Um unter den vielen Kommentaren aus Moritz’ Anton Reiser nur einen zu zitieren, der auch kontextlos aussagekräftig ist: Allein man erwog nicht, daß eben dies Betragen, weswegen man ihn [Anton] zurück setzte, selbst eine Folge von vorhergegangenen Zurücksetzungen war – Diese Zurücksetzung, welche in einer Reihe von zufälligen Umständen gegründet war, hatte den Anfang zu seinem Betragen, und nicht sein Betragen, wie man glaubte, den Anfang zur Zurücksetzung gemacht.28

Spätestens dieser deutende Einschub zeigt in aller Deutlichkeit, was die gesamte Darstellung von Antons Seelengeschichte dokumentiert: der Roman exemplifiziert sehr wohl ein allgemeines Gesetz. Ich mache damit auf nichts aufmerksam, was nicht schon mehrfach in der Forschung besprochen und als Widerspruch hervorgehoben wurde.29 So benennt etwa Hans-Peter Ecker die auffallenden Diskrepanz von Anspruch und Wirklichkeit des Magazins, während Georg Eckhardt dieses Fehlen allgemeiner dem Ansatz der Erfahrungsseelenkunde zuschreibt. Auch Raimund Bezold betont das allgemeine Erkenntnisinteresse von Moritz’ Roman, wenn er kommentiert: »Im Anton Reiser sind es nicht Gehirn, Fibern, Säfte und Nerven des Helden, die Moritz interessieren, sondern ›sittliche Ursachen‹: Milieu, Erziehung, soziale Beschädigung«.30 Ähnlich hat es Hans-Jürgen Schings gesehen, und das bestätigen nicht zuletzt auch Lothar Müller oder Helmut Pfotenhauer.31 Wenn Moritz’ Roman gerne als Pathographie bezeichnet wird, dann nicht selten mit dem Attribut sozialpsychologisch. Und in der Tat greift der Roman, wenn es um eine ätiologische Bestimmung von Antons Melancholie geht, wiederholt auf Erklärungsmuster zurück, die sozial- oder milieupsychologisch anmuten. Mehrfach ist denn auch die Rede von der »durch bürgerliche Verhältnisse unterdrückten Menschheit«.32 Anders 28

Ebd., S. 153 f. Vgl. etwa Georg Eckhardt: Anspruch und Wirklichkeit der Erfahrungsseelenkunde, dargestellt an Hand periodisch erscheinender Publikationen um 1800. In: Olaf Breidbach, Paul Ziche (Hrsg.): Naturwissenschaften um 1800. Wissenschaftskultur in Jena-Weimar. Weimar 2001, S. 179–202; Hans-Peter Ecker: »Vielleicht auch ein bißchen Geschwätz«. Zur Differenz von Anspruch und Realität in Karl Philipp Moritz’ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde am Beispiel der Selbstmordfälle. In: Hartmut Laufhütte (Hrsg.): Literaturgeschichte als Profession. Festschrift für Dietrich Jöns. Tübingen 1993, S.179–202 oder auch Yvonne Wübben: Traum, Wahn und Wahnwissen, S. 428–439. 30 Raimund Bezold: Popularphilosophie und Erfahrungsseelenkunde im Werk von Karl Philipp Moritz. Würzburg 1984, S. 113. 31 Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung: Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977; Helmut Pfotenhauer: Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte – am Leitfaden des Leibes. Stuttgart 1987. 32 Moritz: Anton Reiser. In: Ders.: Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde, S. 366. 29

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als bei Adam Bernd oder den französischen Sensualisten geht es mithin nicht um das Aufzeigen physischer Abhängigkeiten der Seele, wohl aber um den Einfluss äußerer sozialer Eindrücke auf die seelische Konstitution. Der Anklang an die, wenn man so will, ›Milieutheorie‹ eines Helvétius liegt auf der Hand;33 aber auch Charles Bonnets Konzept der Autonomie zumindest der seelischen Vorstellungsbilder,34 in die bei Anton jede noch so niederdrückende Erfahrung im Gesellschaftlichen letztlich übergeht, spielt bei Moritz ganz offensichtlich eine entscheidende Rolle. Anders, als zu erwarten war, kann die in erfahrungskundlicher Absicht veröffentlichte Seelengeschichte Anton Reisers mithin durchaus als Veranschaulichung eines Allgemeinen am Einzelfall gelten. Der eigentliche Unterschied zu den medizinischen Fallgeschichten schulphilosophischer Provenienz ist dabei durchaus nicht der Verzicht auf Theorie, sondern der fehlende Paratext als Lektüreanleitung. So erscheint der erste Teil des später als Roman veröffentlichten Textes schlicht unter dem Titel »Fragment aus Anton Reisers Lebensgeschichte« im zweiten Band des Magazins.35 Anders als der erste Band verzichtet der zweite Band des Magazin auf jede Form der Einleitung oder paratextuellen Rahmung, die über den Titel des Magazins und die einzelnen Rubriken – in diesem Falle lediglich die beiden Unterteilungen von »Seelenkrankheitskunde« und »Seelennaturkunde« – hinausginge.36 Während nun zwar einige der im zweiten Band aufgenommenen Fallgeschichten spezifischere Titel tragen, die die Geschichte auch tatsächlich als »Beispiel« ausgeben (wie etwa »Beispiel und Folgen einer schwärmerischen Sehnsucht nach dem Tode«),37 steht Anton Reisers Geschichte gewissermaßen entblößt da. Unvermittelt setzt dann auch das »Fragment aus Anton Reisers Lebensgeschichte« ein, nämlich mit der Bemerkung: »Antons Mutter hatte das Unglück, sich oft für beleidigt, und gern für beleidigt zu halten […] worinn sie eine Art von Vergnügen fand.«38 Ohne paratextuelle Deixis, ohne jede Einleitung oder Verständnishilfe beginnt der Text in einer Weise medias in res, dass der Leser nicht einmal ahnt, was denn die res ist, in die hier so ad hoc eingestiegen wird – bis auf eben ein wohl willkürlich ausgewählter Abschnitt aus einer Lebensgeschichte.

33

Vgl. zu Helvétius’ Einfluss auf die deutsche Philosophie, Pädagogik und Literatur des 18. Jahrhunderts etwa Roland Krebs: Helvétius en Allemagne ou la tentation du matérialisme. Paris 2006 34 Prominent in Charles Bonnet: Essai analytique sur les facultés de l›Ame. Hildesheim u.a. 1973 [ND der Ausg. Kopenhagen 1760]. 35 ΓΝΩΘΙ ΣΑϒΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. Mit Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde herausgegeben von Carl Philipp Moritz. Zweiter Band. Berlin 1784, Zweiten Bandes erstes Stück, S. 76–95. 36 Ebd., »Inhalt«, S. 127 f. 37 Ebd., S. 64. 38 Ebd., S. 76.

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Dieser erste Eindruck allerdings täuscht. Ganz anders, als zu erwarten wäre, erzählt dieses Fragment nicht einfach eine in noch unbestimmter Hinsicht bemerkenswerte Geschichte in der Reihenfolge der Ereignisse, sondern ordnet gezielt nach Themen und Motiven. Im Rahmen der einzelnen Motive wird dann iterativ erzählt, und man ist geneigt zu sagen: exemplarisch. So ist das erste und eigentliche Thema das Vergnügen an Empfindungen der Beleidigung und des Unrechts, und der Erzähler berichtet vor allem von wiederholten Erlebnissen dieser Art im Leben Antons: »So oft«, »wenn«, »oft«, »eine Zeitlang« sind die vorherrschenden Zeitangaben.39 Als ein weiteres Thema kann die verbotene Lektüre und ihr Einfluss auf Antons Einbildungskraft gelten. Dabei spart der Erzähler keineswegs mit Kommentaren allgemeiner Art, wie etwa, dass die Mutter ihre »Krankheit« des Vergnügens an Kränkungen »auf ihren Sohn fortgeerbt zu haben« scheint oder dass »bei niemandem die Empfindung des Unrechts stärker als bei Kindern« sei, ein »Satz, den alle Pädagogen […] beherzigen sollten.«40 Die sonst dem eigentlichen casus vorgelagerten allgemeinen Erklärungen und Sätze finden sich mithin in Moritz’ Fall im Text selbst. Die paratextuelle Funktion ist dem Text eingelagert. Und was hier lediglich am Beispiel der ersten Teilveröffentlichung von Anton Reiser im zweiten Band des Magazins gezeigt wurde, trifft auf den zum Roman ausgebauten Text ebenso, wenn nicht noch prononcierter zu. Man könnte also im Falle von Moritz’ Anton Reiser von einer Einfaltung der paratextuellen Funktion, wie die Fallgeschichte sie mit sich bringt, in den Text des erzählten Kasus selbst sprechen. Was der eigentliche Paratext (Epitext) – das Magazin der Erfahrungsseelenkunde mit seinem Programm – vorgibt, nicht zu sein, und d.h. Gesetz oder Norm, dem gegenüber sich die Fallgeschichten als darstellende Exempel verhalten könnten, ist hier der Geschichte selbst eingeschrieben – und zwar in einem ganz wörtlichen Sinne. Noch genauer müsste man sagen, dass das, was der tatsächliche Paratext funktional nicht erfüllt, durch die Erzählweise übererfüllt wird. Der Roman kompensiert die fehlende (paratextuelle) Theorie ja nicht nur durch Selbstkommentare – die man natürlich von der Geschichte wieder trennen und, wenn man wollte, als Paratext im Text bezeichnen könnte – sondern auch durch seine Darstellungsweise: die Fokussierung, die Auswahl von Ereignissen und so fort. Damit erschließt sich eine bemerkenswerte Eigentümlichkeit von Anton Reiser: dass er als Fallgeschichte zum Roman wird. Was bislang als Spannung von Anspruch und Verwirklichung, psychologischem Roman versus Fallgeschichte gesehen wurde, kann auf diese Weise als gegenseitige Bedingung verstanden werden.

39 40

Ebd., S. 76 f. Ebd., S. 76.

Von Menschen, Fällen und Paratexten

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3. Fazit Die angestellten Beobachtungen zur Geschichte des Verhältnisses von Fallgeschichten und ihrer Rahmung und der ›Sache‹ des Menschen im 18. Jahrhundert haben gezeigt, dass sich gegen wissenshistorische Erwartungen – geht man von einem Wechsel von deduktiven auf induktive Verfahren oder von einem zunehmenden Interesse am (individuellen) Menschen aus – Fallgeschichten oder casus keineswegs von ihrem paratextuellen Apparat emanzipieren, sondern im Gegenteil zunächst eine Ausweitung der paratextuellen Rahmung herbeiführen, um diese schließlich, wie die Lektüre der ersten Teile von Moritz’ Anton Reiser vorgeführt hat, in den Corpus des Texts selbst einzufalten. Die Einfaltung der paratextuellen Funktion in die Fallerzählung kann als signifikant gelten: Sie deutet zum einen darauf hin, dass Wissensformen des ›Singulären‹ ohne ein Allgemeines nicht auskommen, auch wenn die Unterwerfungen unter das Allgemeine narrativ verarbeitet wird; zum anderen deutet sie darauf hin, dass der Mensch oder das Individuum als ›Sache der Aufklärung‹ sich nicht einfach emanzipieren kann von einem Wissen, dass das Individuum gerade als solches konstituiert – um es mit Foucault zu sagen. In diesem Sinne ließe sich denn auch auf den Schluss kommen, dass Moritz’ Anton Reiser eine Internalisierung von allgemeinem Wissen vorführt: Eine Internalisierung, die sowohl die Struktur des Falls (und später des Romans) betrifft als auch das Individuum, das sich selbst überhaupt erst beobachten lernt nach jenen Wissenstechniken, die durch die paratextuelle Rahmung des medizinischen casus vorgegeben sind, und die jetzt auf Formen individueller Selbstbeobachtung übertragen werden. Damit hat sich freilich auch erwiesen, wie sehr der erste psychologische Roman, wie Moritz seinen Anton Reiser untertiteln wird, von der Geschichte kasuistischer Textgestaltung abhängt.

10. sektion: Wertsachen, Luxusgüter, Spielsachen (Konsum und der Nutzen der unnützen Sachen)

Dominik Schrage (Dresden/Lüneburg) Wertsachen, Luxusgüter, Spielsachen (Konsum und der Nutzen der unnützen Sachen): Einleitung*

Die zunehmende Verbreitung von Waren, Luxusgütern und Spielsachen ist in der Aufklärungszeit mit einer Umwertung des Umgangs mit diesen lange als moralisch zweifelhaft geltenden Dingen verbunden. Je weniger die älteren Auffassungen überzeugten, welche den Handel als Nullsummenspiel – wenn nicht als Wucher –, den Luxus als Laster und das Spiel als frivole Tätigkeit erscheinen ließen, desto mehr traten neue, ›aufgeklärte‹ Bewertungskriterien in den Vordergrund; ausschlaggebend für die Akzeptanz oder gar Förderung dieser Tätigkeiten wurde es, dass ihre Nützlichkeit sich erweise. Diesen Umwertungsprozess hat bereits Albert O. Hirschman in seinem einflussreichen Buch Leidenschaften und Interessen mit Blick auf die zunehmende Legitimität des Gewinnstrebens untersucht. Er zeigt, dass die (früh-)aufklärerischen Sozialtheorien sukzessive von der religiös begründeten Verurteilung der Leidenschaft Habgier abgingen und in der eigennützigen Interessenverfolgung stattdessen einen stabilen und kalkulierbaren innerweltlichen Bezugspunkt wirtschaftlichen Handelns sahen.1 Aus der Habgier sei, so Hirschman, das rational zu verfolgende Interesse geworden, welches eine nunmehr von theologischen Legitimationsquellen unabhängige Sozialordnung als beständig und moralisch zweifelhaftes Verhalten als nutzbringend erscheinen lasse. Dies mündete etwa in Adam Smiths Idee der »unsichtbaren Hand« oder in Hegels »System der Bedürfnisse«.2 Diese Entmoralisierung des Umgangs mit Waren korrespondierte, wie Joyce Appleby gezeigt hat, mit der in England bereits gegen Ende des 17. Jahrhunderts aufkommenden Kritik an der merkantilistischen Vorstellung, dass der Außenhandel ein Nullsummenspiel darstelle, bei dem das, was der * Die Beiträge der Sektion verteilten sich auf der Tagung auf zwei Sektionen: »Spielsachen und Luxusgüter« (geleitet und vorbereitet von Dominik Schrage) sowie »Wertsachen« (geleitet von Martin Krieger, vorbereitet von Michael North). 1 Albert O. Hirschman: Leidenschaften und Interessen. Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg. Frankfurt a. M. 1987. 2 Vgl. für die ökonomischen Aspekte bei Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen. München 1978 [Engl. OA 1776.]. Für eine vergleichende Analyse des Motivs im Gesamtwerk vgl. Alec Macfie: Invisible Hand of Jupiter. In: Journal of the History of Ideas 32/4 (1971), S. 595–599. Die Ausführungen zum »System der Bedürfnisse« als Ergebnis von Hegels Auseinandersetzung mit der britischen politischen Ökonomie finden sich in G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Hrsg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1986 (Werke, Bd. 7), § 189 ff.

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10. Sektion · Dominik Schrage

eine gewinnt, dem anderen verloren ginge.3 In beiden Fällen führte dies dazu, dass die Ausdehnung des Handels und die Verbreitung des Warenverkehrs nicht nur als akzeptabel erschienen, sondern vielmehr als Gradmesser von Prosperität und zivilisatorischem Fortschritt angesehen wurden. Die Auswirkungen dieser Umwertung beschränken sich allerdings nicht auf im engeren Sinne wirtschaftliche Vorgänge: Denn die Logik des Nutzenkalküls erfasst auch solche Dinge, deren Nutzen für die Zeitgenossen gerade nicht primär in ihrem wirtschaftlichen Wert liegt – wie etwa Kunstgegenstände, deren Nützlichkeit in ihrer bildenden Funktion gesehen wird (Dorit Kluge). Das bei Hirschman und Appleby allein auf die Entmoralisierung des wirtschaftlichen Handelns bezogene Argument eignet sich deshalb dazu, die in diesem Kapitel versammelten Beiträge zu rahmen, welche – dem Kongressthema »Sachen der Aufklärung« folgend – die sich verändernden Haltungen untersuchen, die in der Aufklärungszeit gegenüber den vormals moralisch suspekten Dingen (Waren, Luxusgüter, Spielsachen) eingenommen wurden. Die Beiträge entstammen den beiden Sektionen »Wertsachen: Ökonomie« und »Spielsachen und Luxusgüter«, jene vorbereitet von Michael North und während der Tagung geleitet von Martin Krieger, diese vorbereitet und geleitet von Dominik Schrage. Nicht zuletzt wegen der fließenden thematischen Übergänge sind sie im vorliegenden Band jedoch in einem Kapitel versammelt. Diese gemeinsame Rahmung impliziert demnach nicht, dass die neuen Beurteilungsweisen des Umgangs mit diesen Dingen sich allein an ökonomischen Kriterien ausrichteten – im Gegenteil, die detaillierten Betrachtungen unterschiedlicher Objekte und Praktiken zeigen, dass von der Pädagogik über den Fortschritt der Zivilisation bis zum Ruhm der Nation verschiedene Referenzkontexte herangezogen wurden, um Nützlichkeitskriterien zu entwickeln. Es handelt sich also um durchaus heterogene Umwertungsprozesse, welche an die Stelle der älteren moralischreligiösen Vorbehalte nicht allein ökonomische Erwägungen setzen – wenn diese auch eine wichtige Rolle spielen –, sondern ebenso den pädagogischen Nutzen der Spielsachen (Jasmin Schäfer) und den sittlichen des Luxuskonsums berücksichtigen. Ebenso undifferenziert wäre es, diesen Prozess als eine bloße Überwindung von Vorurteilen zu beschreiben, die den Weg für eine rein rationale Einschätzung frei gemacht habe – denn die Kritik insbesondere am Luxuskonsum und der Mode geht im 18. Jahrhundert keineswegs zurück, sondern wird zu einem zentralen Thema der Aufklärungszeit.4 Vielmehr erweist sich auch die Luxuskritik des 18. Jahrhunderts 3

Joyce Appleby: Ideology and Theory. The Tension between Political and Economic Liberalism in Seventeenth-Century England. In: The American Historical Review 81/3 (1976), S. 499–515. 4 Vgl. im Überblick Joseph Vogl: s. v. Luxus. In: Wörterbuch Ästhetischer Grundbegriffe.

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als ein genuiner Bestandteil jener übergreifenden Umwertung des Umgangs mit den moralisch dubiosen Dingen, denn auch sie muss neue, nützlichkeitsbezogene Argumente entwickeln, wenn die Überzeugungskraft älterer Vorstellungen von Sündhaftigkeit nachlässt. In ihrem Beitrag »Vom ›Alamode-Teufel‹ zur ›Modesucht‹« geht Julia A. SchmidtFunke der Herausbildung des Topos der »Modesucht« nach, in den Motive der Teufelsbücher des 16. Jahrhunderts sowie solche der antifranzösischen Alamode-Kritik des 17. Jahrhunderts eingingen, der zugleich aber auch den Weg für eine Säkularisierung der konsumkritischen Semantik bereitete: Die als schädlich erachteten Praktiken wurden nun nicht mehr – wie noch bei Feyerabend (1565) – auf die Einflüsterungen eines »Hoffartsteufels« zurückgeführt, sondern – wie bei Moscherosch (1640) – als Ansteckung mit der als französisch geltenden »newen-sucht« gedeutet. »Sucht« wurde hier also nicht als körperliches Krankheitsbild vorgestellt, sondern als ein seelisch-sittliches Leiden, das sich in vernunftwidrigem, vom Begehren gesteuertem Verhalten zeigte. Gerade weil der Übergang zwischen Sünde, Laster, Besessenheit und Sucht ein fließender war, so Schmidt-Funke, wurde einerseits der Weg für die bis heute gebräuchliche medizinisch-psychologische Pathologisierung des übermäßigen Konsums geebnet – so konnte der Begriff der Ansteckung an die Stelle der Besessenheit treten, um das für die Mode charakteristische Nachahmungsverhalten zu beschreiben und zu kritisieren. Andererseits aber ermöglichte (und erforderte) diese Pathologisierung der Modesucht auch eine differenziertere Analyse und Einschätzung der fraglichen Praktiken, denn ein solches Krankheitsbild musste schließlich als pathologische, unmäßige Erscheinungsform von einem an sich normalen, maßvollen und nützlichen Konsum abgegrenzt werden, um phänomenal überhaupt fassbar zu werden. So erweist sich die rhetorische Figur der Pathologisierung als Element des Nützlichkeitsdenkens, und die von Schmidt-Funke herausgearbeitete Suchtvorstellung wird als Basistheorem einer aufklärerischen Konsumkritik sichtbar, welche sich der Nützlichkeitssemantik ebenso bedient wie die neuen Verteidigungen des Luxus. Denis Diderots tragikomischer Abgesang auf seinen alten Morgenmantel (1769) stellt eine Reflexion auf den Wert der Dinge und die moralischen Folgen des Luxuskonsums dar, und er ist zugleich die ironisch gebrochene Selbstbeobachtung eines von der anonymen Logik des Modewechsels erfassten Konsumenten. Wie Konstanze Bd. 3. Hrsg. v. Karlheinz Barck. Stuttgart, Weimar 2001, S. 694–708; sowie aus historischer Sicht die entsprechenden Beiträge in Reinhold Reith, Torsten Meyer (Hrsg.): ›Luxus und Konsum‹ – eine historische Annäherung. Münster u. a. 2003; Michael Prinz (Hrsg.): Der lange Weg in den Überfluss. Anfänge und Entwicklung der Konsumgesellschaft seit der Vormoderne. Paderborn u. a. 2003. – Eine klassische historische-soziologische Studie zur Schlüsselrolle des Luxuskonsums bei der Entstehung des Kapitalismus ist Werner Sombart: Liebe, Luxus und Kapitalismus. Über die Entstehung der modernen Welt aus dem Geist der Verschwendung [21922, zuerst 1913]. Berlin 1996.

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10. Sektion · Dominik Schrage

Baron in ihrem Beitrag »Der Morgenrock des Philosophen« detailliert analysiert, ist es gerade die besondere rhetorische Form des Textes, mit der es Diderot gelingt, die in der Luxusdebatte des 18. Jahrhunderts entwickelten Argumente für und wider den modischen Konsum von Luxusgütern auf unernste Weise auf das eigene Erleben zu beziehen: Die Wehmut, mit der Diderot dem alten, in die alltäglichen Verrichtungen im Haus und am Schreibtisch eingebundenen Morgenrock nachtrauert – er erscheint als ein Arbeitskittel und nicht als modisches Kleidungsstück – steht im Kontrast zu den Fremdheitsgefühlen, die er dem neuen, der Mode entsprechenden Morgenrock entgegenbringt. Doch nicht allein die Diskrepanzen von persönlichem Gebrauchswert, ökonomischem Wert und sozialem Distinktionswert werden so thematisiert, sondern auch die den Lebensstil des Erzählers wahrhaft ›umstülpenden‹ Folgen des Sich-Einlassens auf die Logik der Mode: Der Morgenrock entwickelt nämlich ein Eigenleben, insofern seine Präsenz in der Wohnung des Erzählers eine Umwertung des Interieurs nach dem Maßstab des Modischen und stilistisch Angemessenen erzwingt – das Tragen des neuen Morgenrocks hat somit die Erneuerung des gesamten Mobiliars zur Folge, denn die alten Sachen passen nicht mehr zu ihm.5 Diderot, so zeigt Baron in ihrer genauen Lektüre, führt diese distanziert beschriebene Erneuerung des Mobiliars nicht auf die mutmaßliche Schenkerin des neuen Morgenmantels zurück (die im Text getilgt ist, aber von Baron identifiziert wird), sondern auf eine »anonyme ästhetische Logik« des Modewechsels. Er unterscheidet dabei einen sich in den Forderungen der Mode manifestierenden »instinct des convenances« vom subjektiven Geschmack, dem der alte Rock näher ist. Die Forderungen der Mode erscheinen somit als solche der – wie man mit Georg Simmel sagen könnte – »objektiven Kultur«, welche bei Diderot nicht nur das ästhetische, sondern auch das finanzielle Vermögen des Subjekts zu übersteigen droht.6 In ihrem Beitrag »Kunst als den Menschen verderbendes Luxusgut oder nutzbringendes Wirtschaftsgut?« untersucht Dorit Kluge, wie sich die Ansichten zum Nutzen der Kunst in der französischen und deutschsprachigen Kunstkritik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts veränderten und welche Rolle dabei die zunehmende Vermarktung der Kunstwerke als Luxusgüter spielte. Überlegungen zum Nutzen und zum Wert bestimmter Kunstgenres und -gattungen finden sich zwar durchaus früher – man denke hier etwa an die Architektur, die Portrait- oder die Porzellanmalerei –, 5

In der Konsumsoziologie spricht man diesbezüglich vom »Diderot-Effekt« und bezieht sich auf eben diesen Text, vgl. begriffsprägend Grant McCracken: Culture and Consumption. Bloomington 1990, S. 118 ff. 6 Vgl. Georg Simmel: Philosophie des Geldes. Hrsg. v. David P. Frisby u. Klaus Christian Kröhnke. Frankfurt a. M. 1989 (Gesamtausgabe, Bd. 6), S. 591 ff.; siehe auch ders.: Philosophie der Mode. In: Ders.: Philosophie der Mode (1905). Die Religion (1906/1912). Kant und Goethe (1906/1916). Hrsg. v. Michael Behr, Volkhard Krech u. Gert Schmidt. Frankfurt a. M. 1995 (Gesamtausgabe, Bd. 10), S. 7–37.

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die französische Debatte des 18. Jahrhunderts befasste sich jedoch mit der Frage nach Wert und Nutzen der Kunst in einem allgemeineren Sinne. Sie ist geprägt von dem jeweils verschieden bestimmten Verhältnis von plaire und instruire, also von der Frage, ob die Funktion der Kunst mehr in dem Vergnügen liege, das sie bereite, oder ob ihr Nutzen eher in ihrer erzieherischen Aufgabe zu suchen sei. Diese zunächst auf das individuelle Kunstbetrachten beschränkten Überlegungen erweitern sich ab den 1730er Jahren, wenn das Thema des kollektiven Nutzens der Kunst aufkommt: Sowohl ihre politische Funktion als Demonstration nationalen Ruhms als auch ihre wirtschaftliche Rolle als im In- und Ausland gehandeltes Wirtschaftsgut kommt dabei in den Blick. Die Kunstkritik, welche einem Niedergang der französischen Kunst entgegenwirken möchte, behandelt die ästhetischen Qualitäten einzelner Genres und Strömungen dabei zunehmend mit Bezug auf die Frage eines zivilisatorischen Fortschritts, und die Kunst wird im Gegenzug zu einem wichtigen Bezugspunkt der aufklärerischen Zivilisationstheorien: Gegen die optimistischen Einschätzungen etwa von La Font de Saint-Yennes steht Rousseau, der die Zunahme von Luxus und Kunst als sittliche Verfallserscheinung deutet. Das diese Konfrontation unterlaufende Argument, nicht der Luxus selbst, sondern sein Missbrauch oder Übermaß sei die Ursache für gesellschaftliche Verfallserscheinungen, wird in der französischen Diskussion von Saint-Lambert entfaltet.7 Die am Ende des Beitrags herangezogene, zeitlich anschließende deutschsprachige Debatte ist, im Unterschied zur französischen, eher literaturorientiert und richtet sich weniger an Kunstkritiker oder Philosophen denn an politisch Verantwortliche. Aufgrund ihres späteren Aufkommens sind die Themen der französischen Diskussion bekannt und werden genutzt, wobei der distinkte Adressatenkreis bewirkt, dass eher die pragmatischen Fragen der politischen Förderung von Kunst und Kunsthandwerk im Vordergrund standen und insgesamt die wirtschaftliche Bedeutung stärker herausgestellt wurde als in Frankreich. Sowohl im französischen als auch im deutschen Fall wird jedoch deutlich, dass sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts wirtschaftliche, politische und auf den zivilisatorischen Fortschritt bezogene Erwägungen mit kunstimmanenten Genre- und Gattungsvergleichen verbinden und – wie auch in den anderen in diesem Kapitel betrachteten Feldern – an die Stelle moralischer Urteile differenzierte, eine Vielzahl von Faktoren berücksichtigende Nützlichkeitserwägungen treten, die einen Mittelweg zwischen Übermaß und Fülle suchen. Die Beiträge von Torsten Sander und Jasmin Schäfer behandeln das Lottospiel und die pädagogische Nutzung der Spielsachen, sie greifen damit zwei im Deutschen mit dem Spiel konnotierte Tätigkeiten auf, deren Funktionsweisen sich stark voneinander unterscheiden. Denn während das Moment des Spielerischen beim Glücks7

Es findet sich allerdings bereits bei David Hume, vgl. ders.: Über Verfeinerung in den Künsten. In: Ders.: Politische und ökonomische Essays. Bd. 2. Hamburg 1988, S. 191–204.

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spiel im offenen Ausgang einer Zufallsentscheidung liegt, der sich die Spielenden unterwerfen, ist der kindliche Umgang mit Spielsachen insofern spielerisch, als er ein Probehandeln darstellt, mit dem – so jedenfalls im von Jasmin Schäfer analysierten Fall – in einer Spielsituation Rollenmuster des Erwachsenenlebens angeeignet werden. Im Unterschied zum Wettkampfspiel – bei dem sich Gewinner aufgrund ihrer Spielstärke durchsetzen und nicht wie beim Glückspiel aufgrund des Zufalls – hat man es hier also mit einem Rollenspiel zu tun, das pädagogisch genutzt werden soll.8 Torsten Sander untersucht in seinem Beitrag »Sein Glück auf ’s Spiel setzen« die Lottodevisen der Kurfürstlich Sächsischen Landeslotterien (1714–1755). Das untersuchte Quellenmaterial besteht aus den erhaltenen Devisen, mit denen die Lottospieler ihre Lose kennzeichnen konnten – eine bereits im 17. Jahrhundert in Hamburg praktizierte Art, die Anonymität der Mitspieler zu gewährleisten und diesen zugleich einen performativen Rahmen zu bieten, das Losglück durch Sinnsprüche zu beeinflussen. Da die Sprüche bei der Bekanntgabe der Gewinner öffentlich verlesen wurden, verwendete man allgemein verständlich Devisen, was zu wiederkehrenden, teils stereotypen Formulierungen führte: Man rief etwa den Willen Gottes mit Bibelsprüchen an, was das Glücksspiel zugleich moralisch legitimierte, unterstellte sich der Entscheidung des Glücks oder Schicksals, thematisierte die Hoffnung auf Gewinn oder verlieh dem Vergnügen am riskanten Spiel Ausdruck. Daraus lässt sich auf vielfältige Motive der Lottospieler schließen: Neben dem ökonomischen Motiv des Gelderwerbs durch Gewinn und dem Vergnügen am Spiel findet sich auch eine vielschichtige Befassung mit dem Problem der moralisch-sittlichen Integrität des Lottospiels. Gemeinsam ist den unterschiedlichen Facetten der Lottodevisen, so Sander, dass man in ihnen Versuche erkennen kann, das Glück durch die Devise zu beeinflussen oder das Spiel zu legitimieren. Nicht mit dem Glücksspiel, sondern mit dem kindlichen Rollenspiel beschäftigt sich Jasmin Schäfers Beitrag »Das Spiel als Medium der Verhaltenskodierung«. Das untersuchte Quellenmaterial sind die Illustrationen Chodowieckis in Basedows vierbändigem »Elementarwerk« (1770–1774), die in einem gesonderten Tafelband erscheinen. Dort zeigen ganzseitige Tableaus jeweils in sich abgeschlossene Spielszenen, auf denen der richtige Umgang mit den Spielsachen gezeigt wird, die pädagogische Zielsetzung wird im Begleittext von Basedow erläutert. Der kindliche Mikrokosmos des Spiels ist dabei auf das vergnügliche Erlernen gesellschaftlich angemessenen Verhaltens ausgerichtet. Dies wird in den kommentierenden Texten Basedows geschildert, die damit den Charakter einer detaillierten Spielanweisung bekommen. Der Makrokosmos der Erwachsenenwelt wird so in den Spielszenen en miniature 8

Vgl. zum Hintergrund dieser Unterscheidungen Roger Callois: Die Spiele und die Menschen. Berlin 1986.

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nachgebildet, womit an die Stelle katechetischen Auswendiglernens eine Pädagogik tritt, die sozial fungibles Verhalten in einem als Erlebnisraum konzipierten Spielkontext einübt und die Spielzeuge dabei als Anschauungs- und Übungsobjekte einsetzt. Das Vergnügen, welches das kindliche Spiel bietet, wird somit als ein nützlicher Gesichtspunkt in das pädagogische Konzept integriert – und diese konzeptionelle Aufnahme des Spielerischen wird unterstützt durch die Form der Edukationsgrafik, mit der die Durchführung und der pädagogische Sinn des Spiels nicht nur den beaufsichtigenden Erwachsenen erläutert wird, sondern sich auch dem kindlichen Blick darbietet. Das kindliche Spiel, das Glücksspiel, der Topos der Modesucht, Diderots Morgenrock und die als Luxusgüter fungierenden Kunstwerke – die Dinge und Themen also, mit denen sich die in diesem Kapitel versammelten Beiträge beschäftigen – bieten Einblicke in einen das 18. Jahrhundert durchziehenden Umwertungsprozess, in dessen Verlauf vormals als moralisch suspekt angesehene Dinge auf nicht immer einheitliche Weise unter dem Aspekt ihrer Nützlichkeit betrachtet und bewertet wurden. Sie werden damit zu »Sachen der Aufklärung«, zu Dingen, die das Interesse aufklärerischer Kunstkritik, Philosophie oder Pädagogik erheischen. Auch da, wo sie sich nicht bruchlos als nützliche Dinge in aufklärerische Programme integrieren lassen – wie dies mit dem pädagogisierten Spiel oder dem gemäßigten Luxuskonsum gelingt – muss die nach wie vor geübte Kritik an ihren schädlichen Wirkungen nunmehr anders begründet werden: Statt Lasterkataloge aufzurufen, widmet man sich den Dysfunktionen und dem pathologischen Übermaß im Umgang mit diesen Dingen, wie dies besonders am Topos der Modesucht deutlich wird. Oder aber man reagiert, wie Diderot, auf die Diskrepanz zwischen der eigenen Teilnahme an der Mode und dem moralischen Zweifel daran durch eine ironische Brechung der Erzählhaltung.

Julia A. Schmidt-Funke (Jena) Vom »Alamode-Teufel« zur »Modesucht«. Wertungen des Konsums im langen 18. Jahrhundert

In der deutschen Publizistik des ausgehenden 18. Jahrhunderts häufen sich die Mahnungen vor Süchten und Seuchen, Wüten und Lüsten, die sich auf den gesteigerten Konsum einer Ware, eines Genussmittels oder eines Vergnügens beziehen. Bis weit ins 17. Jahrhundert wurde hingegen noch der Teufel bemüht, um ähnliche oder dieselben Konsumpraktiken zu kritisieren. Diesen Übergang von einer Diabolisierung zu einer Pathologisierung gilt es im Folgenden einzuordnen in den Einstellungswandel gegenüber Konsum, Mode und Luxus, der sich im deutschsprachigen Raum bis zum Ende des 18. Jahrhunderts vollzog.1 Auf älteren Traditionen und der lutherischen Dämonologie aufbauend, entstanden seit der Mitte des 16. Jahrhunderts die sogenannten Teufelbücher, die zahlreiche Unsitten thematisierten.2 Das gegen Ende des Jahrhunderts von dem Frankfurter Verleger Sigmund Feyerabend kompilierte Theatrum Diabolorum belegt die Vielfalt der in dieser Literaturgattung behandelten Laster, darunter das Saufen, Tanzen und Spielen sowie die Hoffart. Mit letzterer war insbesondere ein prächtiger und an der Mode ausgerichteter Lebensstil gemeint. Da allerdings die Vorstellung bestand, dass sich zu einem Laster unweigerlich andere gesellen würden, zählte der Verfasser des erstmals 1565 erschienenen Hoffartsteufels, der lutherische Theologe Joachim Westphal, neben »fressen/ sauffen/ pancketieren/ schlemmen/ prassen/ spielen/ toppeln/ bauwen/ kleyden/ schwülstige wort vnd geberd« auch viele andere Unsitten zu den »werck und früchte[n]« des Hoffartsteufels, darunter Eigennutz, Zwietracht, Hohn, Leichtfertigkeit, Hurerei, Müßiggang, Untreue »vnd was deß Teuffels kot vnd vnflats mehr ist«.3 Teils als Kompilationen, teils als Neuauflagen der älteren Schriften erschienen Teufelbücher auch noch im 17. Jahrhundert. Um 1630 verknüpfte sich ihre Tradition mit der aufkommenden antifranzösischen Alamodekritik4 – eine Kombination, 1 Vgl. u. a. Torsten Meyer: Zwischen sozialer Restriktion und ökonomischer Notwendigkeit. »Konsum« in ökonomischen Texten der Frühen Neuzeit. In: »Luxus und Konsum«. Eine historische Annäherung, hrsg. v. Reinhold Reith, Torsten Meyer. Münster 2003, S. 61–82. 2 Vgl. Teufelbücher in Auswahl. 5 Bde, hrsg. v. Rita Stambaugh. Berlin, New York 1970–1980; Max Osborn: Die Teufellitteratur des XVI. Jahrhunderts. Berlin 1893. 3 Joachim Westphal: Wider den HoffartsTeuffel […]. In: Theatrum Diabolorum […], hrsg. v. Sigmund Feyerabend. Frankfurt a. M. 1575, f. 364v–429v, hier f. 365r. 4 Vgl. Brigitte Badelt: Die Alamode-Kritik im gesellschaftlichen Kontext neu gelesen. In: Frühneuzeit-Info 7 (1996), S. 9–17.

Vom »Alamode-Teufel« zur »Modesucht«

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die sich noch bis in die zweite Hälfte des Jahrhunderts hielt.5 Eine Fortsetzung über die Wende zum 18. Jahrhundert hinaus fand das Motiv vom Alamode-Teufel aber nicht; stattdessen setzte sich eine andere Denkfigur durch: Zunächst noch in enger Verbindung mit dämonistischen Vorstellungen tauchte in den 1630er Jahren der Gedanke einer entsprechenden Sucht auf. In einer 1637 in Hamburg veröffentlichten Predigt von Alamode Tracht und Pracht warnte der lutherische Theologe Paul Walther vor der »Alamodesucht«, bei der es sich zweifellos um Teufelswerk handele: »Also lauffen auch in Warheit die heutige beharrliche A la modesüchtige dem Teuffel für vollen Sporen zu/ vnd in die Helle hinein.«6 Eine Verbindung von Mode und Sucht nahm wenig später auch Johann Michael Moscherosch im Philander von Sittewald vor, als er mit der Schöpfung »newen-sucht« bzw. »neusüchtigkeit« oder »neusüchtig« seine frankophobe Alamodekritik versah: »A la mode macht mir bang / Weil der Teütschen vndergang Jn der Newen-Sucht seinen Anfang sucht. Dann / waß haben will ein schein / muß nur a la mode sein«. Dabei konnte auch das Moment der Ansteckungsgefahr aufscheinen: »Vnd diese seuche ist allgemein vnd gehet durch die gantze Welt.«7 Das Wort Sucht wurde im Kompositum Alamode- bzw. Newen-Sucht in einer Bedeutung verwendet, die nicht dem bis ins 16. Jahrhundert vorherrschenden Wortsinn von körperlicher Krankheit entsprach, sondern die von dem ebenfalls bestehenden, aber zunächst untergeordneten Sinngehalt von Sucht als sittliches, seelisches oder geistiges Leiden ausging. Daraus abgeleitet konnte Sucht eine sündige Eigenschaft, ein Laster oder eine üble Gewohnheit bezeichnen, ohne dabei seine »dämonistische Grundfarbe« zu verlieren, welche den Gedanken einer Besessenheit transportierte.8 Langfristig ermöglichte es die Verwendung des zwischen verschiedenen Bedeutungen

5

Vgl. beispielsweise Johann Ellinger: Allmodischer Kleyder-Teuffel […]. Frankfurt a. M. 1629; Andreas Musculus: Deß jetzigen Weltbeschrayten verachten vnnd verlachten Al-modo Kleyder Teuffels Alt-Vater Genant der Hosen-Teuffel […]. [o. O.] 1630; Michael Freud: Alamode-Teuffel. Oder Gewissens-Fragen Von der heutigen Tracht und Kleider-Pracht […]. Hamburg 1682; Johann Ludwig Hartmann: Alamode-Teuffel […]. [Rotenburg] 1675. 6 Andere Predigt von Alamode Tracht und Pracht. Anno 1636. den 24. Februarii gehalten. In: Appendix Dreyer Sonderbarer Predigten […], hrsg. v. Paul Walther. Hamburg 1637 (Tractationis. Pars Secunda). Vgl. dazu das Flugblatt Alamodische Höllenfahrt/ vnd Geleid zum NobisKrug. [o.O.] 1629. 7 Vgl. Johann Michael Moscherosch: Wunderliche und Wahrhafftige Gesichte Philanders von Sittewald, hrsg. v. Wolfgang Harms. Stuttgart 1986, S. 75, 76 (Ala mode Kehrauß. Erstes Gesichte). 8 Zur Wortgeschichte vgl. s. v. Sucht. In: Deutsches Wörterbuch, hrsg. v. Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 20. Leipzig 1942, Sp. 858–896, Zitat ebd., Sp. 860. Ein frühes Beispiel für eine solche Verwendung findet sich in dem von den Meistersingern Hans Folz und Hans Sachs verwendeten Kompositum »Spielsucht«. Vgl. s. v. Spielsucht. In: Deutsches Wörterbuch, hrsg. v. Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 16. Leipzig 1905, Sp. 2419 f.

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changierenden Wortes aber, die Konsumkritik von Teufelsvorstellungen zu lösen und gleichsam zu säkularisieren. In dieser Form gebrauchte auch der Zedler 1739 das Kompositum Modesucht. An die Stelle teuflischer Versuchung trat nun – wie schon bei Moscherosch angelegt – das Kontagiöse: »Eine neue Mode überschwemmt in kurtzer Zeit, wie ein reissender Strohm, ein gantz Land, und inficirt, wie eine ansteckende Seuche, die meisten Leute, bey denen sie eindringt.«9 Definiert wurde Mode durch den Zedler als »die gewöhnliche oder gebräuchliche Tracht und Manier in Kleidungen, Meublen, Kutschen und Zimmern, Gebäuden, Manufacturen, Schreib- und Red-Arten, Complimenten, Ceremonien, und anderm Gepränge, Gastereyen, und übrigen Lebens-Arten«.10 Sie sei nicht gut oder schlecht an sich, sondern müsse nach den ihr zugrundeliegenden Motiven bewertet werden und könne je nachdem »tugendhafft oder lasterhafft, vernünfftig oder unvernünfftig, oder auch indifferent«11 sein. Allerdings ließ der Zedler in den weiteren Ausführungen keinen Zweifel daran, dass die Mode vielfach der Vernunft oder – wenn sie etwa physiognomische Veränderungen erzwinge – der Natur zuwiderlaufe, weshalb sie in diesen Fällen abzulehnen sei. Zurückgeführt wurde das Phänomen der Mode im Zedler auf »die den meisten Menschen angebohrene Liebe zur Veränderung«, die in eine »unmäßige Begierde zur Abwechslung« münden könne.12 Eine derartige »Moden-Sucht« richte »viel und mancherley Unheil an«, und ein »grosser Theil der Menschen wird durch dieses Laster in die äußerste Armut gestürzet«.13 Sie sei – wie schon der Hoffartsteufel – als »eine allgemeine Quelle anzusehen, aus der unsere mannigfaltigen sündlichen, lasterhafften und schändlichen Gewohnheiten herfliessen«.14 Nutznießer der »Liebe zur Abwechslung« seien die »Künstler, Kauff- und Handwercks-Leute«, die aus »schändliche[r] Gewinnsucht« ihren Produkten regelmäßig eine neue Gestalt gäben.15 Frankreich wurde in diesem Zusammenhang zwar als Heimstatt der Unbeständigkeit charakterisiert, dennoch enthielt sich der Zedler weitgehend der frankophoben Ausfälle, die in der Alamodekritik gängig gewesen waren.16

9 S. v. Mode. In: Universal-Lexicon, hrsg. v. Johann Heinrich Zedler, Bd. 21. Leipzig 1739, Sp. 700–712, hier Sp. 702. 10 Ebd., Sp. 700 f. 11 Ebd., Sp. 701. Mit dieser Einschätzung positionierte sich der Zedler im Streit um die Adiaphora. 12 Ebd., Sp. 704. 13 Ebd., Sp. 708. 14 Ebd., Sp. 709. 15 Ebd., Sp. 704. 16 [Vgl.] ebd. Vgl. dazu Gonthier-Louis Fink: Vom Alamodestreit zur Frühaufklärung. Das wechselseitige deutsch-französische Spiegelbild 1648–1750. In: Recherches Germaniques 21 (1991), S. 3–47, hier bes. S. 35–41.

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Trotz aller Gefahren der Mode hielt der Zedler es für ebenso verwerflich, in das andere Extrem zu verfallen und jede Neuerung und Veränderung abzulehnen. Vielmehr sei es unerlässlich, »hierbey sowohl als in andern Stücken die Mittel-Strasse treffen zu lernen.«17 Ein »vernünfftiger Mensch«18 prüfe daher zunächst, ob eine Mode ehrenhaft und vernünftig sei, ob sie der Natur oder Gottes Geboten entspreche, ob sie zu seinem Alter, seiner Gesundheit und äußeren Gestalt passe, ob sie seinem Stand, Amt, Beruf und den ihn umgebenden Personen gemäß sei sowie ob er sie sich leisten könne. Wenn es seine gesellschaftliche Situation verlange, müsse ein vernünftiger Mensch allerdings bisweilen einer unvernünftigen Mode folgen, um sich nicht Spott und Verachtung zuzuziehen.19 Der Eintrag im Zedler führte damit alle Punkte auf, welche die Debatte um Mode, Aufwand und Luxus bis zum Ende des 18. Jahrhunderts prägen sollte und in der sich das Kompositum Modesucht als ein Schlüsselwort etablierte. Es tauchte in Christian Garves 1792 verfasster Schrift Über die Moden ebenso auf wie in Kants 1798 veröffentlichten Überlegungen über den »Modegeschmack«,20 und erhielt im selben Jahr auch in Adelungs Grammatisch-Kritischem Wörterbuch einen eigenen Beitrag, der mit der von Adelung formulierten Definition von Sucht übereinstimmte: »1. Ein Wort, welches ehedem eine jede Krankheit bedeutete, sie sey von welcher Art sie wolle […]. 2. Ohne Plural, eine anhaltende oder herrschende ungeordnete Begierde, eine zur Fertigkeit gewordene ungeordnete Begierde. […] Gemeiniglich siehet man die letzte Bedeutung als eine Figur der ersten an, und sie könnte es sehr füglich seyn, indem anhaltende heftige Begierden wirklich als eine Krankheit der Seele angesehen werden können.«21 Dementsprechend sah Adelung in der Modesucht eine »ungeordnete Begierde, die Mode zu beobachten«.22 Bei der Schöpfung Modesucht und ähnlichen Komposita handelte es sich keineswegs um eine metaphorische Verwendung des Wortes Sucht. Denn der oszillierende Begriff eignete sich, »um Phänomene, die gleichzeitig den Bedeutungsfeldern Krankheit, Laster und Begierde zugeordnet werden können, zu bezeichnen.«23 Das galt bis

17

Zedler: Universal-Lexicon (wie Anm. 9). Mode, Sp. 710. Ebd. 19 Vgl. ebd., Sp. 711 f. 20 Vgl. Christian Garve: Über die Moden, hrsg. v. Thomas Pittrof. Frankfurt a. M. 1987, S. 154; Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Hrsg. v. Reinhard Brandt. Hamburg 2000, S. 71 f. 21 S. v. Sucht. In: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, hrsg. v. Johann Christoph Adelung, Bd. 4. Leipzig 1801, S. 495 f. 22 S. v. Modesucht. In: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, hrsg. v. Johann Christoph Adelung, Bd. 3. Leipzig 1798, S. 256 f. 23 Claudia Wiesemann: Die heimliche Krankheit. Eine Geschichte des Suchtbegriffs. Stuttgart-Bad Cannstatt 2000, S. 42. 18

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ins 19. Jahrhundert hinein auch noch für die Wortschöpfungen Trunk- oder Opiumsucht, denen erst nach und nach ihr spezifisch medizinischer Sinngehalt zugewiesen wurde. Zwischen ihnen und einer Erscheinung wie der Modesucht bestand daher lange Zeit kein prinzipieller Unterschied. Hier wie dort wurde eine ungeordnete Begierde, eine krankhafte Gewohnheit der Unmäßigkeit kritisiert, die es mit Vernunft und Willenskraft zu überwinden galt. Von einem solchen Missbrauch abgegrenzt, konnte der vernünftige und maßvolle Konsum positiv bewertet werden. Die Tendenzen zu einer »Medikalisierung der Unvernunft und Unmäßigkeit und einer Psychiatrisierung sozial auffälligen Verhaltens« trugen somit dazu bei, »soziale Devianz unter Kontrolle zu bringen und dabei zugleich ein größtes Maß an Liberalität und individueller Freiheit zu ermöglichen.«24 Der Suchtbegriff blieb dabei aber unscharf genug, um auch weiterhin die Vorstellung von einer Ansteckungsgefahr an ihn zu knüpfen, mit welcher das Phänomen der Mode wenn nicht erklärt, so doch beschrieben werden konnte. Neben der Modesucht wurden im langen 18. Jahrhundert noch andere Süchte beschrieben, die sich auf den Konsum von Waren oder eine bestimmte Form des vergnüglichen Zeitvertreibs bezogen. Die Reihe reicht von der »maladie de porcelaine«25 Augusts des Starken (1726) über die im Zedler 1746 kritisierte »Visiten-Sucht«26 bis hin zu der 1808 im Zuge des entstehenden Alpinismus konstatierten »BergeSucht«27 oder die im Krünitz 1841 aufgeführte »Bausucht«28, doch scheinen dazu jeweils nur vereinzelte Stimmen erklungen zu sein. Immer wieder thematisiert wurden dagegen die Spiel-, Tanz- und Trunksucht, für die sich ähnlich wie für die Modesucht eine direkte Linie zu den Teufelbüchern des 16. Jahrhunderts ziehen lässt. An die Diskussion über die Trunksucht schlossen sich um die Wende zum 19. Jahrhundert die Debatten über Opiumsucht und »Branntweinseuche« bzw. »Branntweinpest« an.29 Eine besondere Form der Spielsucht wurde im späteren 18. Jahrhundert unter dem Schlagwort »Lottosucht« diskutiert.30 Dane24

Ebd., S. 124, 33. Vgl. Eva Ströber: »La maladie de porcelaine …«. Ostasiatisches Porzellan aus der Sammlung Augusts des Starken. Leipzig 2001, S. 9. 26 S. v. Visiten-Sucht. In: Universal-Lexicon, hrsg. v. Johann Heinrich Zedler, Bd. 48. Leipzig 1746, S. 1860–1861. 27 Martin Scharfe: Berg-Sucht. Eine Kulturgeschichte des frühen Alpinismus 1750–1850. Wien 2007, S. 56. 28 S. v. Bausucht. In: Oekonomisch-technologische Encyklopädie, oder allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- und Landwirthschaft und der Kunstgeschichte, hrsg. v. Johann Georg Krünitz, Bd. 177. Berlin 1841, S. 728 f. 29 Vgl. Wiesemann: Die heimliche Krankheit, bes. S. 21 f., S. 149–152. 30 Vgl. Wolfgang Weber: Zwischen gesellschaftlichem Ideal und politischem Interesse. Das Zahlenlotto in der Einschätzung des deutschen Bürgertums im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. In: Archiv für Kulturgeschichte 69 (1987), S. 116–149. 25

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ben tauchten zwei weitere Süchte auf: die Putzsucht, die in großer Nähe zur Modesucht stand, und die Lesesucht.31 Die Ansteckungsgefahr und der durch ein Laster ausgelöste generelle Sittenverfall waren Topoi, die stets mit der Rede von der Sucht verbunden waren. Häufig wurden die beschriebenen Süchte auch geschlechtlich konnotiert, so etwa die den geschwätzigen Frauenzimmern zugeschriebene Visiten-Sucht oder die den bergsteigenden Männern zwangsläufig vorbehaltene Berge-Sucht. Anderen Süchten konnten hingegen Frauen wie Männer verfallen, allerdings differenzierte sich die Gefährdung nach Stand und Alter. So galten als anfällig für die Lesesucht die für Romane, Abenteuer- oder Gespenstergeschichten empfänglichen Frauen und jungen Männer des adlig-bürgerlichen Lesepublikums sowie die den volkstümlichen Lesestoffen zugetanen städtischen Unterschichten und die ländlichen Leser. Von der Modesucht bzw. Putzsucht war vorzüglich das weibliche Geschlecht betroffen, doch wurde in der Figur des Monsieur à la mode bzw. später des Stutzers auch der junge, der Mode zugewandte Mann kritisiert, dem modische Spielereien nur bis zur »Grenze zwischen dem Jünglings- und dem männlichen Alter«32 zugestanden wurden. Als anmaßend galt ein modisches Aussehen darüber hinaus für die unteren Stände in Stadt und Land, von denen – gemäß der Vorstellung vom standesgemäßen Aufwand – traditionell Mäßigung gefordert wurde. Frauen, junge Männer und untere Stände schienen außerdem durch die Lottosucht gefährdet,33 und auch die Branntweinpest wurde im fortgeschrittenen 19. Jahrhundert als ein Übel angesehen, das vorwiegend männliche Arbeiter und Bauern befiel.34 Nicht zufällig erwiesen sich damit gerade jene Gruppen als anfällig für unterschiedlichste Süchte, denen ein vernünftiger oder sittlicher Lebenswandel auch in anderer Hinsicht abgesprochen wurde und die daher generell oder zeitweilig aus dem Projekt der Bürgergesellschaft ausgeschlossen wurden.35 Ein im Journal des Luxus und der Moden abgedruckter Auszug aus den 1801 erschienenen Ideen zur Anregung des Gemeingeistes, in denen der reformierte Theologe Johann Ludwig Ewald gegen die Lese- und die Spielsucht wetterte, gipfelte denn auch in den Worten: »[…] nicht in

31

Zur Lesesucht vgl. Julia A. Schmidt-Funke: Auf dem Weg in die Bürgergesellschaft. Die politische Publizistik des Weimarer Verlegers Friedrich Justin Bertuch. Köln [u. a.] 2005, S. 58–68, mit weiterführender Literatur. 32 Garve: Über die Moden (wie Anm. 20), S. 143. 33 Vgl. Weber: Zahlenlotto, S. 135. 34 Vgl. Gunther Hirschfelder: Alkoholkonsum am Beginn des Industriezeitalters (1700–1850). Bd. 2: Die Region Aachen. Köln [u. a.] 2004, S. 239. 35 Zur Bürgergesellschaft als »Erwartungsmodell« vgl. Dieter Langewiesche: Kommentar. In: Stadt und Bürgertum im Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft, hrsg. v. Lothar Gall. München 1993, S. 229–236, hier S. 232.

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einer ordentlichen bürgerlichen Gesellschaft, sondern nur in einem Tollhause sollte man doch eigentlich so ein Betragen suchen.«36 Das geschilderte Ausmaß und die befürchteten Folgen der verschiedenen Süchte entsprachen in keinem Fall den sozialen und ökonomischen Gegebenheiten. So resultierte aus der Lesesucht ebenso wenig die Verderbnis einer ganzen Generation wie der vollständige Verlust agrarischer Produktivität. Allerdings kam es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unbestritten zu einer Ausweitung der Buchproduktion und zu einer Kommerzialisierung des literarischen Marktes sowie zu einer Vergrößerung des städtischen und – nach Ausweis des volksaufklärerischen Schrifttums – ländlichen Lesepublikums. Ebenso wurde in den 1820er und 1830er Jahren tatsächlich mehr Branntwein konsumiert, weil dieser nun statt aus Korn aus Kartoffeln hergestellt wurde und damit in größeren Mengen bzw. zu geringeren Preisen zur Verfügung stand. Die allgegenwärtigen Klagen über die um sich greifende Trunksucht lassen sich dennoch nicht mit den Konsumstatistiken in Einklang bringen, so dass trotz gestiegenen Konsums von einer »Thematisierungskonjunktur«37 auszugehen ist, die auf einer veränderten Einstellung zum Alkoholrausch fußte. Eine solche Thematisierungskonjunktur lag wohl auch im Fall des Spielens vor, wurde in der aufgeklärten Publizistik doch eine intensive Debatte über die Rechtmäßigkeit staatlicher Lotti geführt. Die neue Spielform des Zahlenlottos war zwar aufgrund der geringen Einsätze gerade für die unteren Stände attraktiv (während die mit hohen Summen verbundenen Kartenspiele wie das L’Hombre oder das Pharo den oberen Ständen vorbehalten blieben und gerade in Adelskreisen als »ostentative Repräsentationsformen«38 gepflegt wurden), dennoch wurde im 18. Jahrhundert kaum mehr als in den vorangegangenen Jahrhunderten gespielt. Ähnliches ist schließlich auch für die Modesucht anzunehmen. Es stellte keine Neuerung dar, dass sich Konsumenten im urbanen und ländlichen Raum an wechselnden Kleidungs- oder Einrichtungsstilen orientierten und dabei zuweilen in ständischer oder finanzieller Sicht über ihre Verhältnisse lebten. Aber das Aufkommen der Modejournale im ausgehenden 18. Jahrhundert39 verweist doch auf den Bedeutungsgewinn eines an der herrschenden Mode ausgerichteten Konsums, der seiner-

36

Johann Ludwig Ewald: Lesewuth und Spielwuth, die zwei Furien des Luxus. In: Journal des Luxus und der Moden 1801, St. 12, S. 623–626, hier S. 625. 37 Hirschfelder: Alkoholkonsum (wie Anm. 34), S. 256 f. 38 Manfred Zollinger: »Diesem unhaltbaren Spiel-Unfuge Einhalt thun zu wollen…«. Spieler und ihre Gegner in Wien. In: Alte Spielverbote – verbotene Spiele. 1564–1853, hrsg. v. Günther Georg Bauer. Salzburg 1995, S. 13–26, hier S. 17. 39 Vgl. Astrid Ackermann: Paris, London und die europäische Provinz. Die frühen Modejournale 1770–1830. Frankfurt a. M. 2005.

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seits in enger Wechselwirkung zu technischen und merkantilen Innovationen sowie zu einem langfristigen Wandel der Arbeitswelt stand.40 Zweifellos hatte sich mit der Rede von der Sucht, welche die sozioökonomischen Entwicklungen keinesfalls eins zu eins abbildete, bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ein Diskurs etabliert, der seinen eigenen Regeln folgte. Ausgehend von Teufelliteratur und Alamodekritik entstand dieser Suchtdiskurs um die Mitte des 17. Jahrhunderts. Durch den Gedanken des Kontagiösen stellte er ein Deutungsangebot für das Phänomen der Mode bereit. Indem er vormals diabolisierte Konsumpraktiken pathologisierte, ermöglichte er es, den übermäßigen und unvernünftigen Gebrauch von Gütern und Dienstleistungen als krankhafte Abweichung zu begreifen, während der maßvolle und vernünftige Konsum, dessen der erwachsene bürgerliche Mann fähig war, zu einem positiven Leitbild erhoben wurde.

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Vgl. Maxine Berg: In Pursuit of Luxury. Global History and British Consumer Goods in the Eighteenth Century. In: Past & Present 182 (2004), S. 85–142; Jan de Vries: The Industrious Revolution. Consumer Behavior and the Household Economy, 1650 to the Present. Cambridge 2008.

Konstanze Baron (Halle/Saale) Der Morgenrock des Philosophen, oder: Was die Dinge mit dem Denken zu tun haben

I. In der Ausgabe vom 15. Februar 1769 der Correspondance Littéraire veröffentlicht Diderot einen Abgesang auf seinen alten Morgenmantel. In tragikomischer Manier1 beklagt er dort das Verschwinden seines alten, abgenutzten Morgenrocks, der – man weiß nicht so recht, auf welche Weise – durch ein pompöses Gewand aus roter Seide ersetzt wurde. Doch so teuer und schön das neue Stück auch sein mag: Diderot fühlt sich nicht recht wohl darin. Die Harmonie zwischen ihm und seiner vertrauten Umgebung ist nachhaltig gestört. Er vergleicht sich mit einem alten Mann, der sich von einer jungen Frau an der Nase hat herumführen lassen, und der nun voller Reue seiner alten nachweint. Die »Alte« war zwar keineswegs besser als die »Neue«, aber sie passte zu ihm, man hatte sich – im Laufe eines langen Lebens – aneinander gewöhnt: »[E]lle était faite à moi, j’était fait à elle.«2 Nicht nur hatte sich die treue Gefährtin jedem Winkel und jeder Falte seines Körpers bequem angeschmiegt; sie hat ihm auch so manchen (Liebes-)Dienst erwiesen: Un livre était-il couvert de poussière? un de ses pans s’offrait à l’essuyer. L’encre épaisse refusait-elle de couler de ma plume? elle présentait le flanc. On y voyait tracés en longues raies noires les fréquents services qu’elle m’avait rendus. Ces longues raies annonçaient le littérateur, l’écrivain, l’homme qui travaille. A présent, j’ai l’air d’un riche fainéant. On ne sait qui je suis.3

Kurz, der alte Morgenmantel war für Diderot eine Art Arbeitskittel, er versinnbildlicht die Tätigkeit des Philosophen, der zupackt und sich bei seiner Arbeit schon mal die Hände schmutzig macht.4 In dem neuen, weitaus edleren Kleidungsstück fühlt 1

Die Regrets sind ein burleskes Genre, das sich mit den gewöhnlichen, ganz und gar banalen Gegenständen des alltäglichen Lebens befasst und diese in tragikomischer Manier überhöht. Dem gleichermaßen satirisch wie pathetisch veranlagten Diderot hat dieses Genre offenbar gelegen, denn es sind auch noch ein Abgesang auf einen Spazierstock und eine Tabakdose überliefert. 2 Denis Diderot: Regrets sur ma vielle robe de chambre, hrsg. und mit einer Einleitung versehen von Jean Varloot. In: Denis Diderot: Oeuvres complètes, hrsg. v. Herbert Dieckmann, Bd. XVIII. Paris 1984, S. 39–60, hier S. 51. »Œuvres complètes« kürze ich im Folgenden ab als OC, gefolgt von der Bandangabe in römischen Ziffern. 3 Ebd., S. 51 f. 4 Diderot war Sohn eines Handwerkers und zeit seines Lebens stolz auf den Beruf seines Vaters.

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Diderot sich dagegen wie ein aufgeblasener Stutzer; mit ihm am Leibe weiß er weder, wozu er gut ist, noch wer er eigentlich ist. Dass Diderot gerne im Morgenrock arbeitete, dass er diesen – zum Befremden seiner Zeitgenossen – bisweilen sogar anbehielt, wenn er das Haus verließ, ist bekannt. (Nicht umsonst hat ihn Vanloo in seinem berühmten Porträt im Morgenmantel dargestellt.) Doch in Diderots Regrets sur ma vielle robe de chambre aus dem Jahr 1769 geht es nicht nur um die modischen Idiosynkrasien eines nicht mehr ganz jungen Philosophen und Enzyklopädisten; es geht viel grundsätzlicher um die Frage, was denn eigentlich »Wert« ist oder hat. Und es geht um den Luxus. Denn der neue Morgenmantel ist für Diderot der Inbegriff eines noch relativ jungen Wohlstandes, der sich in seinem Leben – nolens volens, wie es scheint – breitgemacht hat. So betrauert Diderot nicht nur ein geliebtes, wenn auch im Grunde völlig banales Kleidungsstück, sondern einen kompletten Lebensstil, ein philosophisches Ethos, wie es sich in der Bescheidenheit der von allen materiellen Versuchungen befreiten, ganz auf das geistige Leben konzentrierten Existenz bekundet und wie es in größtmöglicher Radikalität von dem griechischen Philosophen Diogenes gelebt wurde, auf den sich Diderot in seinem Text mehrfach bezieht.5 Die Prinzipien seines Lehrmeisters Diogenes, so Diderot, habe er verraten, als er dessen ärmliche, aber freie und männliche Lebensweise gegen ein Leben in Wohlstand und Luxus vertauscht habe. Und er deutet sogleich an, dass ein solcher »Verrat« nicht ohne Konsequenzen bleiben könne: »Ce n’est pas tout, mon ami. Ecoutez les ravages du luxe, les suites funestes d’un luxe conséquent.«6 Denn tatsächlich, folgt man der Logik von Diderots Text, ist es nicht bei der einen Neuanschaffung geblieben. Diderot klagt zugleich über die verheerenden Folgen, welche der neue Morgenmantel nach sich gezogen habe. Er beschreibt den Neuen als ein störendes Element, ja geradezu als einen Eindringling, der die vertraute Ordnung seiner Umgebung auf den Kopf gestellt habe: Une nouvelle gouvernante stérile qui succède dans un presbytère; la jeune épouse qui entre dans la maison d’un veuf; le ministre qui remplace un ministre disgracié; le prélat moliniste qui s’empare du diocèse d’un prélat janséniste causent moins de trouble que l’écarlate intruse n’en a causé chez moi.7 5 Diderot: Regrets, S. 52, S. 60. Trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer ausgesprochenen Bescheidenheit legten die Kyniker besonderen Wert auf ihre äußere Erscheinung. Der Encyclopédie-Artikel »Cynique« spricht gar von einer »uniforme« der kynischen Sekte, bestehend aus einem zerschlissenen Mantel, einer Umhängetasche, einem (Wander-)Stock und einem langen, ungepflegten Bart. Antisthenes, ihrem Begründer, wird vorgeworfen, er habe ein bisschen zu viel Eitelkeit (»ostentation«) in seine Verachtung für materielle Dinge gelegt – ein Beleg dafür, dass offenbar auch der schäbige Umhang eines Kynikers zum Fetisch werden kann. 6 Ebd., S. 53. 7 Ebd.

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Doch nicht genug damit, dass der neue Morgenmantel (l’écarlate intruse«) die Einheit und die Harmonie des alten Studierzimmers bedroht.8 Er entwickelt – genau wie die Gouvernante, mit der er hier implizit verglichen wird – ein geradezu tyrannisches Eigenleben, wenn er sogleich eine Reihe von weiteren Veränderungen bewirkt: Der alte Wandteppich aus Leinen weicht einem neuen aus Damast; zwei einfache Stiche werden durch Ölgemälde der »modischen« Maler Rubens und Vernet ersetzt; der alte Stuhl aus Holz und Stroh muss einem marokkanischen Sessel Platz machen, und der schlichte Holztisch, der sich soeben noch unter einem Wust von Papieren zu ducken schien, wird gegen einen aufdringlich kostbaren Schreibtisch ausgetauscht. So vollzieht sich beinahe wie von Geisterhand – und unter dem tyrannischen Regiment des neuen Morgenmantels – eine ebenso radikale wie unaufhaltsame Veränderung des Arbeitszimmers, eine Veränderung, der Diderot selbst ganz offensichtlich nur hilflos beiwohnen, in die er jedoch nicht gestaltend eingreifen kann. Ihm bleibt nurmehr, das vorläufige Fazit aus diesen Ereignissen zu ziehen: »Et ce fut ainsi que le réduit édifiant du Philosophe se transforma dans le cabinet scandaleux du publicain.«9

II. Was hat es mit diesem geheimnisvollen, beinahe gespenstischen Wandel des philosophischen Interieurs auf sich? Dank Friedrich Melchior Grimm, der die Regrets zuerst veröffentlichte und kommentierte, haben wir einige Hinweise auf die Ereignisse, die womöglich den Anlass für diese kleine Schrift geliefert haben. So berichtet Grimm von einem Besuch, den er selbst in Begleitung des Prinzen Czartoryski bei Diderot abstattete: Il y a environ trois mois que M. le Prince Adam Czartoryski ayant désiré de connaître M. Diderot, je le menai dans le réduit simple, modeste et élevé du philosophe. Nous le trouvâmes paré d’une robe de chambre de ratine d’écarlate, neuve du jour, et comme je ne lui avais connu jusqu’alors qu’une robe de chambre de callemande, couleur de capucins je ne pus m’empêcher de me récrier sur sa magnificence. En regardant autour de nous, nous aperçûmes un tableau de Vernet nouvellement sorti du pinceau de cet illustre artiste. Autre sujet de me récrier. Ce tableau représentait une fin de tempête sans catastrophe funeste. Le philosophe en avait fourni le sujet au peintre et le peintre

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»Tout est desaccordé« (Diderot: Regrets, S. 53). Bezeichnenderweise sind »unité« und »harmonie« eben diejenigen Kriterien, die in der traditionellen Ästhetik die Qualität des Schönen ausmachen. Vgl. den Encyclopédie-Artikel »Beau«. 9 Ebd., S. 56.

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fait présent du tableau au philosophe. Je représentai à celui-ci les dangers du luxe; mon sermon fut pathétique et gai. Quelques jours après, le philosophe sermonné m’envoya le morceau que vous allez lire.10

Demnach hätte Grimm also Diderot in seiner Wohnung in der rue Taranne aufgesucht und ihn bei dieser Gelegenheit wegen seines neuen »Luxus«, namentlich des neuen Morgenmantels und des Gemäldes von Vernet, aufgezogen. Diderot habe daraufhin die Regrets als scherzhafte »Abbitte« an den Freund verfasst. Dabei habe er wohl auch, so notiert Grimm weiter, um der literarischen Wirkung willen den tatsächlichen Wert seiner (Innen-)Ausstattung ein wenig übertrieben.11 Auf den Straßburger Friedrich Dominicus Ring, der die Regrets im Jahr 1772 erstmals im Druck herausgab,12 geht eine zweite Anekdote zurück, die erklärt, warum Diderot nicht nur einen neuen Morgenmantel, sondern ein völlig neues Arbeitszimmer vorgefunden habe. Dieser Version zufolge war es Madame Geoffrin, eine reiche Pariser Witwe und Salonnière, die als eine Art »gute Fee« in Diderots Wohnung das Zepter geschwungen habe: Le fait est qu’ayant eu occasion de rendre un service essentiel à Madame Geoffrin, celle-ci imagina par reconnaissance d’aller déménager un jour tous les haillons du réduit philosophique, et d’y faire mettre ces meubles d’une extrême simplicité et qui sont devenus si recherchés et si somptueux sous la plume poétique du pénitent en robe de chambre d’écarlate.13

Aus Dankbarkeit für eine zuvor empfangene Hilfeleistung, vielleicht auch aus dem Bedürfnis freundschaftlicher Bevormundung heraus, habe Madame Geoffrin Diderots Arbeitszimmer in dessen Abwesenheit neu eingerichtet. So erklärt sich auch das Gefühl der Entfremdung, das Diderot bekundet angesichts der Neuerungen, die sich gewissermaßen hinter seinem Rücken vollzogen haben. Weitere Quellen bestätigen, dass die äußerst wohlhabende Madame Geoffrin tatsächlich die zweifelhafte Angewohnheit besaß, ihre Freunde und Bekannten – bisweilen gegen deren ausdrücklichen Willen – mit ihren gestalterischen Einfällen zu »beglücken«.14 10

Zit. nach Jean Varloot: Regrets sur ma vieille robe de chambre. In: Diderot: OC XVIII, S.41–51, hier S. 43. 11 Ein wichtiger Hinweis darauf, dass es sich bei Regrets sur ma vielle robe de chambre um eine ganz bewusste Selbst-Stilisierung des Aufklärers handelt. Vgl. dazu auch den Artikel von Jane McLelland: ›Changing his Image: Diderot, Vernet and the Old Dressing Gown‹. Diderot Studies 23 (1988), S. 129–141. 12 Nach François Moureau: ›Friedrich Dominicus Ring, éditeur de Diderot‹. Recherches sur Diderot et sur L’Encyclopédie 16 (1994), S. 113–123. 13 Varloot: Regrets, S. 44. 14 Der Abbé Morellet erwähnt in seinem Porträt, dass Madame de Geoffrin von einer »humeur donnante« gewesen sei. In ihrem persönlichen Nachlass wurde zudem eine Liste beschenkter Perso-

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Was ist nun aus diesen beiden (in der Forschung nicht unumstrittenen15) Erklärungen für die Interpretation unseres Textes zu gewinnen? Durchaus naheliegend scheint es zunächst einmal zu sein, dass Diderot die Regrets als Replik auf eine – scherzhaft gemeinte – moralische Vorhaltung Grimms verfasst hat. Etliche von Diderots Schriften sind aus einem solch konkreten, quasi-materialen Anlass heraus entstanden. Diderot greift mit ebenso großer Freude wie Regelmäßigkeit die kleineren oder größeren Herausforderungen auf, die sich ihm im Zuge seiner alltäglichen Begegnungen mit anderen Menschen stellen. In solchen Fällen zögert er dann nicht, seine soziale und seine literarische Agenda miteinander zu vermengen – etwa wenn er den äußeren Anlass und die Genese eines bestimmten Textes in diesem Text selbst erwähnt und zum Gegenstand eines selbstreflexiven literarischen Spieles macht.16 So auch hier: Der Druckfassung der Regrets ist eine Spur des materialen Auslösers, die scherzhafte-dialogische Replik auf den Freund in Form eines fiktiven Rezipienten, der als »Mon ami« adressiert wird, eingeschrieben. Und auch sonst lesen sich die Regrets über weite Strecken wie die (Selbst-)Vergewisserung einer Freundschaft, die sich auch durch den Wandel der materiellen Verhältnisse hindurch scheinbar unverändert erhält.17 Anders steht es um die zweite Episode, welche die Rolle Madame Geoffrins in der Geschichte betrifft. Madame Geoffrin wird von Diderot namentlich nicht genannt, nur an einer Stelle erwähnt er eine »pendule à la Geoffrin«, die neben seinem neuen Schreibtisch Platz gefunden habe.18 Überhaupt ist in der literarischen Fassung nicht zu erkennen, dass hier eine fremde Person in das Geschehen eingegriffen habe. Trotz der zahlreichen weiblichen Personifikationen, die Diderot geschickt in seinem Text platziert, hat er sich offenbar dagegen entschieden, die fraglichen Veränderungen seines Arbeitszimmers als das Werk einer konkreten (weiblichen) Person, oder überhaupt eines menschlichen Subjekts, darzustellen. Stattdessen zeichnet eine anonyme ästhetische Logik, ja man könnte fast sagen, eine Art »Sachzwang« für die beschriebenen Veränderungen verantwortlich. So bildete der neue Morgenmantel zunächst einen störenden Kontrast zu der – vormals in sich stimmigen und daher harmonischschönen – Umgebung, was zum Anlass genommen wurde, auch letztere zu erneuern. nen gefunden, auf der auch Diderot als Empfänger einer »pendule« (Pendeluhr) vermerkt ist. Vgl. Varloot: Regrets, S. 45. Jean Seznec: ›A propos de la vielle robe de chambre‹. In: Hugo Friedrich, Fritz Schalk (Hrsg.): Europäische Aufklärung (Herbert Dieckmann zum 60. Geburtstag). München 1967, S. 271–280, hier S. 275. 15 Die Unstimmigkeiten beziehen sich vor allem auf die Attribuierung: J. Varloot schreibt auch die zweite Anekdote F. M. Grimm als Quelle zu. 16 So der Fall in dem Roman La Religieuse und den relativ zeitnah zu den Regrets entstandenen Erzählungen Mystification (1768) und Les deux amis de Bourbonne (1770). 17 »Mes amis, gardez vos vieux amis« oder: »Non mon ami, je ne suis point corrompu« (Diderot: Regrets, S. 52 u. S. 57). 18 Ebd., S. 56.

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Eine Veränderung zog dann die nächste nach sich: Weil zwischen dem Schreibtisch und dem Gemälde von Vernet eine hässliche Lücke entstanden war, bedurfte es der Pendeluhr, die sich dann auch prompt einfand. Und immer so weiter: »Il y avait un angle vacant à côté de ma fenêtre. Cet angle demandait un secrétaire qu’il obtint.«19 Es ist also nicht Madame Geoffrin, die das Arbeitszimmer Diderots neu gestaltet, es ist überhaupt kein Subjekt, das hier aktiv tätig würde, sondern die fraglichen Veränderungen vollziehen sich nach der Maßgabe eines unpersönlichen, objektiven Geschehens. Diderot gibt diesem Geschehen einen Namen: es ist der Geschmack (»goût«): Instinct funeste des convenances! tact délicat et ruineux! Goût! Goût sublime qui changes, qui déplaces, qui édifies, qui renverses, qui vides les coffres des pères, qui laisses les filles sans dot, les fils sans éducation, qui fais tant de belles choses et de si grands maux; toi qui substituas chez moi le fatal et précieux bureau à la table de bois, c’est toi qui perds les nations, c’est toi qui peut-être un jour conduiras mes effets sur le pont St. Michel où l’on entendra la voix enrouée d’un crieur dire A vingt louis une Vénus accroupie.20

Der Geschmack ist für Diderot nichts Beliebiges, er ist – um mit Hegel zu sprechen – eine Art »objektiver Geist«, der sich im Sinn für Anstand und Schicklichkeit ausdrückt.21 Als »instinct des convenances« steht er dem persönlichen Geschmack des Individuums, dem »goût individuel« gegenüber und wird daher vom Subjekt als Heteronomie erfahren. Nichts anderes drückt das Gefühlt der Entfremdung in den eigenen vier Wänden aus, das Diderot hier so eloquent beschreibt. Dass der Geschmack dabei das »Vermögen« (im doppelten Sinne) des Subjekts grundsätzlich übersteigt, zeigt sich an seiner Charakterisierung als »ruinös«: Der Geschmack stellt eine un- oder überpersönliche Anforderung dar, welche auf die persönlichen Verhältnisse des Einzelnen grundsätzlich keine Rücksicht nimmt. (»Avis à ceux qui ont plus de goût que de fortune«, lautet daher auch der ironische Untertitel des Textes.) Wer sich dem Gesetz des Geschmacks unterwirft, so scheint Diderot zu sagen, der bekommt es mit einer Macht zu tun, die wie ein tyrannisches Weib die Fuchtel schwingt, ohne sich um die (jeweils konkreten, beschränkten) materiellen Verhältnisse des Einzelnen zu kümmern.

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Diderot: Regrets, S. 56. (Hervorh. K. B.) Ebd., S. 55. 21 Darin folgt er an dieser Stelle einem eher klassischen Geschmacksbegriff, der die Verbindung des »goût« zur »bienséance« betont. Vgl. Peter-Eckhard Knabe: Art. »Goût«. In: Ders.: Schlüsselbegriffe des kunsttheoretischen Denkens in Frankreich von der Spätklassik bis zum Ende der Aufklärung. Düsseldorf 1972, S. 239 ff. 20

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III. Ganz gezielt streicht Diderot also im Text der Regrets jegliche Referenz auf eine konkrete weibliche (Handlungs-)Instanz.22 Dabei ist das Thema weiblicher Patronage gerade im Leben dieses Aufklärers keine Marginalie: Bereits seit geraumer Zeit genoss Diderot das besondere Wohlwollen der Zarin Katharina II von Russland, die ihm im Jahr 1765 sogar seine stattliche Privatbibliothek abgekauft hatte. (Die sie dann allerdings nicht für sich selbst in Anspruch nahm, sondern Diderot zu seiner eigenen Nutzung überließ – eine gesichtswahrende Konstruktion, die im Grunde einem Sponsoring des Philosophen durch die Zarin gleichkam.23) Doch auch ohne einen solch direkten Verweis auf eine weibliche Gönnerin überwiegt der Eindruck einer gewissen Entfremdung bzw. Heteronomie: Der Philosoph sieht sich mit fremden Ansprüchen konfrontiert, und seien es die konventionellen Erwartungen seiner Zeitgenossen, denen er in Form einer »geschmackvollen« Ausstattung seiner Wohnund Arbeitsräume Rechnung tragen muss.24 Die neuen Anschaffungen, angefangen beim scharlachroten Morgenmantel, sind Ausdruck einer persönlichen Unfreiheit, die dem selbsternannten »Freigeist« zu schaffen macht. Denn solange er arm war, war er frei, behauptet Diderot in Anspielung auf den Kyniker Diogenes. Seither ist er von einem Herrn (seiner selbst) zum Sklaven geworden, und zwar zum Sklaven der »Dinge«, die ihn umgeben: »J’étais le maître absolu de ma vieille robe de chambre; je suis devenu l’esclave de la nouvelle.«25 Weit davon entfernt, sich die Gegenstände seiner Umgebung untertan zu machen, sieht er sich seinerseits ihrem tyrannischen Regiment unterworfen. Damit sind wir nun an einem systematisch zentralen Punkt des Textes angelangt: der Punkt nämlich, an dem sich die Frage nach den moralischen Kosten stellt, die ein Leben in Luxus und Wohlstand mit sich bringt. Dass der materielle Wohlstand nicht nur eine Verfeinerung der Sitten impliziert, sondern das Individuum wie auch die Gesellschaft als Ganze moralisch verderben kann, ist in den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts keine Neuigkeit mehr.26 Luxus bedeutet stets auch (die Gefahr von) Korruption – um diese Einsicht hat sich ein ganzer Diskurs der Aufklärung entsponnen, und anders als Voltaire, der in Le Mondain noch ganz unbekümmert ein Loblied auf den Wohlstand gesungen hatte, positioniert sich Diderot auf Seiten der Luxus22

Varloot bezeichnet Diderots Regrets daher als eine literarische »mise à la porte« der Mme Geoffrin, vgl. ders.: Regrets, S. 45. 23 Vielleicht aus Dank für diese Zuwendung, in jedem Fall aber als Ausdruck seiner Verbundenheit ließ Diderot Katharina II ein überarbeitetes Manuskript seines Textes zukommen. 24 Bekanntlich wurden die persönlichen Arbeitsräume von Künstlern und Philosophen im 18. Jahrhundert auch als Empfangsräume genutzt und hatten somit semi-öffentlichen Charakter. 25 Diderot: Regrets, S. 52. 26 Zur Orientierung: Rousseaus erster Discours war im Jahr 1750, der zweite 1755 erschienen.

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Skeptiker. Doch Diderots Haltung in dieser Frage ist, wie eine genaue Lektüre der Regrets zeigt, nicht ganz frei von Ambivalenzen. So betont er zwar einerseits, dass der materielle Wohlstand bzw. das Streben danach ihn in seiner Handlungsfreiheit beschränke und zu mitunter unwürdigen Kompromissen zwinge.27 Andererseits beteuert er jedoch, charakterlich unverändert zu sein, wenn er vorgibt, dass er sich moralisch nicht durch seinen Reichtum habe anfechten lassen: Non, mon ami, non, je ne suis point corrompu. Ma porte s’ouvre toujours au besoin qui s’adresse à moi; il me trouve la même sensibilité; je l’écoute, je le conseille; je le secours; je le plains. Mon âme ne s’est point endurcie. Ma tête ne s’est point relevée. Mon dos est rond et bon, comme ci-devant. C’est le même ton de franchise. C’est la même affabilité. Mon luxe est de fraîche date et le poison n’a point encore agi.28

Der Reichtum habe, so Diderot, sein Herz gegenüber den Bedürftigen nicht verschlossen und er habe ihn nicht hochmütig gemacht. (Die provokante Frage von Rameaus Neffen am Ende des gleichnamigen Dialogs: »N’est-il pas vrai que je suis toujours le même?«29 beantwortet Diderot in eigener Sache also mit einem klaren »Ja«.) Doch was ist von dieser Beteuerung unverbrüchlicher moralischer Unversehrtheit und persönlicher Integrität zu halten? Wie sehr können wir ihr Glauben schenken, wo Diderot doch selbst den Luxus als ein fatales »Gift« bezeichnet, das seine Wirkung zwar nur langsam, aber dafür umso sicherer entfalte? Nun darf man vielleicht von einem bekennenden Atheisten und Materialisten keine vollständige Abstinenz in Fragen des Luxus und des Genusses materieller Güter erwarten. Diderot war, nach allem, was wir über ihn wissen, kein Asket, sondern den sinnlichen Freuden des Lebens durchaus zugetan. Die »Liebe zur Weisheit« war für ihn kein Grund, auf ein Leben in Wohlstand oder auch nur auf eine gewisse bürgerliche Behaglichkeit zu verzichten. Auch der Artikel »philosophe« in der Encyclopédie betont, dass es ein Missverständnis wäre, das Leben des Philosophen mit materieller Entbehrung gleichzusetzen: »La plupart des hommes se font une fausse idée du philosophe, s’imaginant que le plus exact nécessaire lui suffit.«30 Wie andere Bürger müsse auch der Philosoph über ein ansehnliches Auskommen verfügen, denn dieses sei »le fond des bienséances et des agréments« und damit die Grundlage seiner sozialen Teilhabe; dementsprechend streng geht der Autor des Artikels mit all jenen »falschen« oder »vermeintlichen« Philosophen zu Gericht, die sich allein der Kontemplation (»méditation paresseuse«) verschrieben haben und darüber die Sorge um 27

»Mes amis, craignez l’atteinte de la richesse. Que mon exemple vous instruise. La pauvreté a ses franchises; l’opulence a sa gêne.« (Diderot: Regrets, S. 52). 28 Ebd., S. 57. 29 Diderot: OC XII, S. 196. 30 Nouvelles libertés de penser. Zit. nach Varloot: Regrets, S. 47. Alle anderen Zitate an dieser Stelle stammen aus dem Enyclopédie-Artikel.

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ihre weltlichen Angelegenheiten (»fortune«) vernachlässigen. Auf diese Weise wird nicht nur in deutlichen Worten ein Primat der vita activa über die vita contemplativa begründet; der Artikel lenkt zudem das Augenmerk auf die materiellen Grundlagen der philosophischen Existenz und stellt in seiner Betonung des »travail« den Philosophen dem Rest der arbeitenden Bevölkerung gleich.31 Doch ganz so leicht lässt sich der Widerspruch nicht auflösen. Gerade für die Person Diderots behält er seine volle Brisanz, und es ist daher nur konsequent, wenn dieser seinem Unbehagen über die Veränderung seiner materiellen Umgebung literarisch Gestalt verleiht. Bekanntlich hat Diderot in seinen Schriften immer wieder die These von der letztlich materiellen Beschaffenheit allen Seins, Denkens und Handelns kundgetan. Dabei geht Diderot nicht so weit, dass er die Existenz geistiger (…) Phänomene vollends bestreiten würde; die spezifische Ausprägung seines Materialismus zielt vielmehr darauf ab, die geistigen Phänomene rigoros auf ihre materiellen Grundlagen oder Bedingungen zurückzuführen. Um nur ein Beispiel aus dem Bereich der ethischen Reflexion zu nennen: So liest man etwa am Ende der Erzählung Les deux amis de Bourbonne folgenden Satz: »Il ne peut guère y avoir d’amitiés entières et solides qu’entre des hommes qui n’ont rien: un homme est alors toute la fortune de son ami, et son ami est toute la sienne.«32 Die Freundschaft ist Diderot zufolge also vom (Besitz-)Stand der Personen abhängig; wahre Freundschaft sei nur möglich unter den Ärmsten der Armen, den Besitzlosen, denn diese allein werden in ihrer Zuneigung für andere nicht durch sekundäre, materielle Interessen korrumpiert. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass die Freundschaft als solche ein rein materieller Wert wäre – im Gegenteil; aber Diderot stellt fest, dass die Freundschaft gerade in ihrer Eigenschaft als moralisches Phänomen durch materielle Aspekte wie Besitz, Reichtum etc. bedingt und somit auch begrenzt ist. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum Diderot sich nicht so ohne Weiteres von seinem Unbehagen bezüglich seiner neu erworbenen Reichtümer distanzieren kann. Die materiellen Umstände sind mit dem geistigen Leben und seinen Inhalten – und um diese geht es dem Philosophen ja in erster Linie – auf eine Weise verbunden, die eine theoretische Abspaltung derselben nicht gut möglich macht. In diesem Sinne ist auch der vermeintlich so banale Morgenmantel kein bloßes Akzidenz, keine Hülle, die ihr Träger einfach nach Belieben abstreifen kann.33 Er ist, wie

31

Die Verurteilung der vermeintlich »untätigen« Meditation ist typisch für das aufklärerische Selbstverständnis, demzufolge sich die Philosophie durch ihren Bezug zur Praxis legitimiert. Dies impliziert auch die Forderung nach Teilnahme des Philosophen an gesellschaftlichen Anlässen sowie die Wahrnehmung sozialer Engagements. 32 Diderot: OC XII, S. 456 f. 33 »Thus, the new robe measures through the rhetoric of analogy, how philosophy constitutes

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all die anderen Gegenstände, mit denen er sich umgibt, seiner Person und ihrem geistig-moralischen Wesen aufs Innigste verbunden. Der Morgenrock ist für Diderot (wie) eine zweite Haut (»surpeau«); und wer die Lettre sur les Aveugles gelesen hat, der weiß, dass für Diderot die Sinne bzw. die Sinnesorgane immer auch die Inhalte des Geistes bestimmen. Sofern also das »Denken« des Philosophen auf materiellen Grundlagen beruht, ist es durch die »Dinge« determiniert, eben »be-dingt«, und demzufolge auch durch diese korrumpierbar. Der reale oder auch nur vermeintliche »Luxus«, der in Diderots Leben Einzug gehalten hat, muss den Aufklärer also insofern beunruhigen, als er nicht nur seinem philosophischen Ethos die – materielle – Grundlage entzieht, sondern auch seine geistige und moralische Identität in ihrem innersten Kern betrifft.

IV. Weil er um den korrumpierenden Einfluss des Luxus weiß, ersinnt Diderot einen Ausweg, wie er seine Unabhängigkeit bewahren kann: Er beteuert dem Freund, ja er bekennt vor Gott seine Bereitschaft, alle seine materiellen Besitztümer jederzeit aufgeben zu wollen, sobald diese ihn vom Pfad der Tugend abzubringen drohen: Ah saint Prophète, levez vos mains au ciel; priez pour un ami en péril, dites à Dieu, Si tu vois dans tes décrets éternels que la richesse corrompe le cœur de Denis, n’épargne pas les chefs-d’œuvre qu’il idolâtre; détruis-les, et ramène-le à sa première pauvreté; et moi, je dirai au ciel de mon côté; O Dieu, je me résigne à la prière du saint Prophète et à ta volonté; je t’abandonne tout; reprends tout; oui, tout excepté le Vernet; ah laisse-moi le Vernet.34

Sobald also Gott – oder der Freund, der hier ebenfalls angerufen wird – in seinem Herzen die fatale Wirkung der Korruption erkenne, solle er mit einem Schlag sein gesamtes Hab und Gut zerstören. Er fordert ihn auf, alle jene falschen Götzen zu vernichten, die im Leben des Philosophen Einzug gehalten haben. Mit einer derart zur Schau gestellten, radikalen Opferbereitschaft bekräftigt Diderot seine Souveränität, seine moralische Unabhängigkeit gegenüber den Fesseln, die ihm der Luxus umzulegen droht. Oder, wie er selber sagt: »J’ai Laïs, mais Laïs ne m’a pas.«35 Es gibt jedoch eine Ausnahme, d. h. einen Gegenstand, den er um jeden Preis vor der allgemeinen (wenn auch rein hypothetischen) Zerstörung bewahren möchte, itself in relation to external garb, which is really not external after all.« (Christie McDonald: ›Robe‹. Stanford French Review 8/2–3 [1984], S. 167–174, hier S. 174). 34 Diderot: Regrets, S. 57 f. 35 Ebd., S. 60.

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und das ist das bereits erwähnte Werk von Vernet. Das Ölgemälde namens La Tempête zeigt einen Sturm, der eine Gruppe Menschen an Land gespült hat, die nun versuchen, sich selbst, ihre wenigen Habseligkeiten wie auch das gekenterte Schiff an Land zu bergen. Diderot zufolge handelt es sich bei diesem Gemälde um eine Freundschaftsgabe des Malers. Dies ist auch der Grund, warum der zürnende Gott das Werk von der allgemeinen Vernichtung ausnehmen soll: »Ce n’est pas l’artiste, c’est toi qui l’a fait. Respecte l’ouvrage de l’amitié et le tien.«36 Was dann folgt, ist eine Bildbeschreibung, die stilistisch und methodisch an jene der »Salons« erinnert und die erklärt, warum Diderot die Regrets auch als Fragment du Salon de 1769 bezeichnen konnte.37 Wie in den Bildkommentaren der Salons begnügt sich Diderot nicht damit, das Bild einfach sachlich-distanziert zu analysieren (oder auch nur zu beschreiben), sondern taucht in dessen Handlung ein und identifiziert sich mit den dargestellten Figuren, als seien sie lebendige Personen. So bittet Diderot – den fiktiven Dialog mit Gott fortsetzend – um Gnade für die Menschen, die wohl gerade den größten Schrecken ihres Lebens erlitten haben müssen. Er fleht ihn an, sich den Opfern des Schiffbruchs gnädig zu erweisen und sich ihren Gebeten nicht zu verschließen. (Lediglich die Verwünschungen eines Geizhalses, der den Verlust seiner materiellen Reichtümer nicht verschmerzen kann, möge er geflissentlich überhören.) Und Diderot schließt mit der hoffnungsvollen Erwartung, dass Gott den Sturm bald vertreiben und der Sonne wieder zum Durchbruch verhelfen möge, auf dass die Gestrandeten ihr Schiff flott machen und die unterbrochene Reise fortsetzen können. Aus dieser Bildbeschreibung, deren Tonfall eine merkliche Wendung ins Pathetische nimmt, wird ersichtlich, woran sich die Ausnahmestellung des Gemäldes für Diderot bemisst. La tempête ist für Diderot ein Werk der Sympathie. Das heißt, es handelt sich um das Geschenk eines guten Freundes, der dem Autor darin seine – immaterielle – Wertschätzung bekundet.38 Ein Werk der Sympathie ist das Bild jedoch auch in dem weiteren Sinne, dass es die Vorstellungskraft des Betrachters beflügelt und diesen zum aktiven Mitschwingen mit dem Schicksal der Betroffenen animiert. Es folgt darin dem Gesetz all derer Kunstwerke, die Diderot in der Poetik zu seiner Erzählung Les deux amis de Bourbonne als historisch-erzählend 36

Diderot: Regrets, S. 58. Womöglich war der Text ursprünglich für eine Veröffentlichung im Rahmen der Salons vorgesehen, so wie ja auch bereits der Salon von 1767 etliche Einschübe oder Anhänge (wie z. B. die Satire contre le luxe à la manière des Perses) enthielt. Allerdings sind die Regrets im Salon de 1769 nicht abgedruckt. Wohl aber findet sich dort eine erneute und im Tenor sehr veränderte Beschreibung des Vernet-Gemäldes. Vgl. Seznec: ›A propos‹, S. 279 f. 38 Unter den Kommentatoren des Textes gilt es als ausgemacht, dass Diderot das Gemälde seines Freundes wohl zumindest anteilig bezahlt hat. Vgl. Varloot: Regrets, S. 46. Seznec: ›A propos‹, S. 280. 37

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charakterisiert hat. Die Wirkungsabsicht des historischen Erzählers (»conteur historique«), so erfährt man dort, zielt nicht allein darauf ab, Realität getreulich abzubilden, sondern emotionale und/oder materielle Ressourcen auf Seiten des Rezipienten freizusetzen: »Il [Le conteur historique, K.B.] veut être cru; il veut intéresser, toucher, entraîner, émouvoir, faire frissonner la peau et couler les larmes.«39 (Die Erzählung selbst führt vor, wie sich diese moralische Intention mit einer materiellpekuniären, nämlich dem Einwerben von Spenden für die arme Köhlersfamilie, zu einer systematischen Einheit verbindet.) Diderot zufolge zeichnet sich das historische Erzählen also dadurch aus, dass es den Betrachter vermittels einer besonders »natürlichen« Darstellungsweise in seinen Bann zu ziehen und ihm ein persönliches Engagement zu entlocken vermag, das sich auch in materieller Form niederschlägt.40 Eine vergleichbare Wirkung entfalten auch die Werke Vernets, der für Diderot darum als »historischer Erzähler« im Bereich der Malerei firmiert. Gerade weil es so »natürlich« ist, kann Diderot dessen Gemälde nicht nur als ein Produkt der Freundschaft, sondern als Schöpfung Gottes bezeichnen. Die Natur selbst scheint hier am Werk gewesen zu sein, wenn Diderot die sanfte Erosion der Felsen im Meer kommentiert: »Vois cette terrasse inégale qui s’étend du pied de ces rochers vers la mer; c’est l’image des dégradations que tu as permis au temps d’exercer sur les choses du monde les plus durables.«41 In seiner getreulichen Darstellung der natürlichen Gegebenheiten wirkt das Gemälde gleichsam subjekt- bzw. genauer gesagt: autorlos; es ist Ausdruck einer unmittelbar-natürlichen Schaffenskraft. (Wie so häufig bei Diderot wird an dieser Stelle der Unterschied zwischen Kunst und Natur einfach eingezogen.) Weil das Bild jedoch nicht nur die Schöpfung nachempfindet, sondern zugleich auch – als integralen Bestandteil derselben Natur – den Prozess der Zerstörung darstellt, gewinnt es darüber hinaus in den Augen Diderots eine symbolische Dimension: Der Sturm, der das Schiff kentern ließ, versinnbildlicht die Vergänglichkeit aller Dinge und erinnert ihn daran, dass auch seine eigenen Besitz- und Reichtümer nicht von Dauer sein werden. So wird La Tempête für Diderot zum Menetekel, zum memento mori: Wie ein Stachel in seinem Fleisch soll das Bild, das er als einziges von seinen Sachen gerettet wissen will, wirken und seinen Besitzer somit vor den Gefahren 39

Diderot: OC XII, S. 455. M. E. überspitzt Stierle die theoretische Differenz von Kunst und Dichtung, wenn er behauptet, dass »Diderot die Möglichkeiten des Interessanten in Malerei und Literatur als durchaus verschieden einschätzte.« (Stierle: ›Diderots Begriff‹, S. 72). Die Fokussierung auf die Rolle der »Details« im literarischen Werk sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass für das Interessante in der Literatur die gleiche Mischung aus selbstvergessener Identifikation und kritischer Reflexion zutreffend ist, die auch der Kunstbeschreibung und -theorie in den Salons zugrunde liegt. 41 Diderot: Regrets, S. 58. 40

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des Hochmuts bewahren: »Laisse-le moi comme la verge dont tu châtieras l’homme vain.«42 Trotz der nachdrücklichen Betonung seiner »Natürlichkeit« ist das Gemälde für Diderot mithin ein künstlerischer »Wert«-Gegenstand« im ausgezeichneten Sinne. An ihm macht sich nicht nur – wie an einem materiellen Träger (»Subjekt«) – die Zuneigung seines Maler-Freundes fest. Vor allem zeichnet es sich durch eine Wirkungsweise aus, die nur der Kunst zu eigen ist und diese strukturell von anderen Gegenständen unterscheidet. Denn Kunstwerke bilden Diderot zufolge nicht nur Wirklichkeit ab, sondern sie verändern auch die Seins- oder Wahrnehmungsweise ihres Rezipienten, der durch sie eine »moralische Erfahrung« macht. Auch das Gemälde von Vernet wird für Diderot zum Anlass einer solchen »expérience morale«43, animiert es ihn doch – inmitten seines Luxus – zu einer empathischen Anteilnahme mit dem Schicksal seiner Mitmenschen (denn als solche sieht er die fiktiven Figuren, die in ihm dargestellt sind); das Bild stimuliert die »sensibilité«, die ihn mit anderen Menschen verbindet und ihn für deren Sorgen und Belange empfänglich macht. Darüber hinaus löst die dargestellte Naturgewalt eine kritische Selbstreflexion aus, indem sie ihn an die Vergänglichkeit und damit indirekt an die Wertlosigkeit seiner materiellen Güter gemahnt. Nicht von ungefähr steht das Bild des Sturms in einer direkten Parallele zu der Vernichtung, die Diderot über seine eigene Behausung heraufbeschwört. So fungiert das Gemälde bei Diderot letztlich auch als Spiegel; es ist eine mise en abîme – ein Bild im Bild (der conditio humana), das den Philosophen dazu anhält, sich auf die materiellen Grundlagen seiner Existenz zu besinnen und sich zugleich deren Begrenztheit bewusst zu machen. Halten wir daher abschließend fest, dass die Beschreibung des Vernet-Gemäldes, so fremd und willkürlich sie in den Regrets zunächst erscheinen mag, keinen Bruch mit dem Rest des Textes darstellt. Sie ist im Gegenteil der logische Kulminationspunkt einer Reflexion über das Verhältnis von Luxus und Philosophie, von materiellen und geistigen Werten im Rahmen der Aufklärung. Anknüpfend an seine deterministisch-fatalistische Diagnose von der korrumpierenden Wirkung des Luxus stellt Diderot hier eine kunsttheoretische Überlegung an, die zum einen den besonderen Stellenwert des Gegenstandstyps »Kunstwerk« reflektiert und darüber hinaus das ästhetische Selbstverständnis seiner eigenen Schriften – inklusive der Regrets selbst – verdeutlicht. Im Zentrum steht dabei die spezifische Wirkungsweise der Kunst, die 42

Diderot: Regrets., S. 59. Den Begriff der »expérience morale« übernehme ich von Lester G. Crocker, verleihe ihm aber – mit Diderot – eine subjektive und performative Wendung, die neben der experimentellen Anlage des Textes auch die Erfahrung des Betrachters akzentuiert. Vgl. L. Crocker: ›Jacques le Fataliste, an »expérience morale«‹. Diderot Studies III (1962), S. 73–99, sowie ders.: ›Le Neveu de Rameau, une expérience morale‹. Cahiers de l’Association Internationale des Études Françaises 13 (1961), S. 133–155. 43

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in der Auseinandersetzung mit dem »Material des Lebens« – und sei es ein banaler Morgenrock – eine Art von Wahrnehmung generiert, die für ihren Rezipienten transformative Kraft entfalten kann. Zwar ist das Kunstwerk als solches nur ein Objekt unter vielen (eine Leinwand, ein Buch) und zudem in seiner Eigenschaft als (Wert-) Gegenstand Ausdruck jener zahlreichen Fesseln, die uns an die materielle Welt und ihre Bedingungen binden. Doch wie Diderots Text nicht nur beschreibt, sondern auch illustriert, kann ein solches Kunstwerk der Auslöser einer »expérience morale« werden, die seinen Betrachter von der korrumpierenden Macht des Luxus befreit. Als Subjekt/Objekt einer moralischen Erfahrung reflektiert und transzendiert die Kunst die materiellen Gegebenheiten, auf denen sie (nichtsdestotrotz) beruht.

Dorit Kluge (Clermont-Ferrand) Kunst als den Menschen verderbendes Luxusgut oder nutzbringendes Wirtschaftsgut? Französische und deutsche Sichtweisen

Wert und Funktion von Kunstwerken Wenn von der werthaften Besetzung der Sachen der Ökonomie und des Konsums die Rede ist, so rückt ein Kunstwerk nicht zwangsläufig ins Blickfeld. Jedoch bietet die Entwicklung der Kunst und der Kunstkritik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Forschungsfeld, auf dem die Fragen nach dem Wert von Kunstwerken, nach ihren Funktionen und nach der gegenseitigen Abhängigkeit von Wert und Funktion zwangsläufig an Bedeutung gewinnen. Dieser Beitrag präsentiert Quellen zu diesem Thema aus Frankreich und dem deutschsprachigen Raum, insbesondere Sachsen. Chronologisch betrachtet, setzen Quellen des deutschen Kulturraumes dort an, wo die französischen enden, in den 1750er und 1760er Jahren. Dass die betrachteten Texte nicht aus dem gleichen Zeitraum stammen, ist dem Umstand geschuldet, dass die Untersuchung im Zusammenhang mit einer Forschungsarbeit zu den Anfängen der Kunstkritik steht, die in Frankreich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ihren Ausgang fand und im deutschen Sprachraum zeitverzögert aufgenommen und weiterentwickelt wurde. Neben rein kunstkritischen Quellen wurden auch Texte aus den angrenzenden Gebieten wie der Kunsttheorie, der Philosophie oder auch der Wirtschaftstheorie herangezogen, um zu verdeutlichen, dass es sich bei der Bewertung von Kunst um einen ideengeschichtlichen Zusammenhang handelt, der sich nicht ausschließlich auf eine Textsorte oder ein Fachgebiet begrenzen lässt. Die Sektion Wertsachen/Ökonomie setzte sich u. a. mit der »semantischen wie mentalen« Aufwertung sowie der Zirkulation von Konsumgütern innerhalb der entstehenden Marktgesellschaften auseinander. Für die als Konsumgut zirkulierenden Kunstobjekte sollte jedoch davon abgesehen werden, deren Aufwertung als Automatismus zu betrachten. Bei der bewussten Nutzbarmachung und Umwertung von Kunstwerken zu Konsumgütern treten in mehrerlei Hinsicht starke Differenzierungen auf. Erstens ist bei einzelnen Kunstgattungen, insbesondere bei der Architektur, der Gedanke der utilité oder Nützlichkeit schon länger und tiefer verankert als bei anderen. Zweitens wird auch innerhalb der Gattungen auf der Ebene der Genres sehr genau unterschieden, beispielsweise gilt die Porträtmalerei im Vergleich zur Stilllebenmalerei als wertvoller und nutzbringender. Selbst innerhalb eines Genres wie der Porträtmalerei wird zwischen gesellschaftlich wertvollen Porträts und lediglich individuell bedeutsamen Porträts differenziert. Drittens muss auf den genauen Ge-

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sprächsgegenstand der Quelle geachtet werden, denn ist z. B. von der Blumenmalerei allgemein die Rede, wird ihr wesentlich weniger Wert beigemessen, als wenn es sich um ihre Anwendung in der Porzellanmalerei handelt, wo sie zum wesentlichen Bestandteil eines Wirtschaftsgutes wird. Des Weiteren haben viertens die Autoren der Quellen, seien es nun Theoretiker, Kritiker oder auch Künstler, durch ihre Rolle, aber auch individuell bedingt, verschiedene Perspektiven auf den Wert von Kunst. Dies wird ebenso durch die unterschiedlichen und oft nicht detailliert greifbaren Auffassungen zu den Begriffen art und Kunst deutlich. Schließlich kommen fünftens noch kulturell und historisch geprägte Unterschiede in den einzelnen Ländern hinzu. Werden im Folgenden französische Texte und Quellen zur Kunstkritik in Sachsen herangezogen, so sind diese zwangsläufig nur als kleiner Ausschnitt aus der Vielfalt der europäischen Aufklärung zu verstehen.

Leitgedanken der französischen Quellen In der französischen Diskussion des 18. Jahrhunderts um die Funktion und den Wert von Kunst kristallisieren sich drei große Themenbereiche heraus: Kunst als Garant für Vergnügen und Bildung, Kunst als politischer Bedeutungsträger und Kunst als Wirtschaftsgut. Die folgenden Beispiele beziehen sich im Wesentlichen auf die Malerei, doch zeichnete sich ebenso in der Architekturtheorie und -kritik eine ähnliche Debatte ab. Dass ein Kunstwerk dem Betrachter Vergnügen bereiten und ihn gleichzeitig etwas lehren soll, ist bereits zum Ende des 17. Jahrhunderts eine etablierte Ansicht. Félibien (1676)1 benutzte dafür den Ausdruck plaire & instruire. Ersteres wird von allen Genres erreicht, Letzteres ist hingegen die Aufgabe der Historienmalerei. De Piles (1708)2 sah im Vergnügen nur die Basis für die instruktive Funktion und ordnete damit das plaisir der instruction unter. Mit Du Bos (1719)3, einem der wichtigsten Verfechter des Sensualismus, wurde das Verhältnis der beiden Funktionen umgekehrt: Die wichtigste Aufgabe der Malerei sei es, dem Betrachter zu gefallen; der Zugang zu einem Kunstwerk eröffne sich generell über das Gefühl und nicht primär über die Analyse. Diese Ansicht behauptet sich bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts. Eine erneute Wendung nimmt die Diskussion in der zweiten Jahrhunderthälfte, indem Diderot4 die Grundgedanken seiner Theatertheorie auf die Malerei überträgt und

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André Félibien: Des principes de l’architecture, de la sculpture, de la peinture et des autres arts qui en dépendent. Paris 1676. 2 Roger De Piles: Cours de Peinture par Principes. Paris 1708. 3 Jean-Baptiste Du Bos: Réflexions critiques sur la poésie et la peinture. Paris 1719. 4 Denis Diderot: Salons, 1759–1781. 4 Bde., Paris 2007-2009.

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eine peinture morale fordert, deren erzieherische Aufgabe eindeutig im Vordergrund steht. Die Funktionen des plaisir und der instruction bleiben demnach im gesamten 18. Jahrhundert eine Konstante, treten aber in jeweils unterschiedlicher Gewichtung auf. Die Auseinandersetzung um ihr Verhältnis findet eine Fortsetzung in der Debatte um die Wertigkeit einzelner Genres und in den Diskussionen zur Ästhetik einzelner Stile, insbesondere an der Schnittstelle zwischen dem style rocaille und dem néoclassicisme. Bereits in den Schriften der 1730er Jahre erfolgt außerdem eine Erweiterung des Funktionenspektrums von Kunst und damit auch eine Verschiebung von individuellen Werten hin zu kollektiven. Es geht nun weniger um das Verhältnis von Kunst und Betrachter als vielmehr um den Nutzen der Kunst für die Nation, sei es in politischer Hinsicht, wo sie den Ruhm einer Nation und deren Überlegenheit über andere demonstrieren kann, oder sei es als Wirtschaftsgut, mit dem der Binnenmarkt und der Außenhandel gefördert werden. Gleichzeitig mit dieser Funktionserweiterung und Akzentverschiebung hin zu kollektiven Werten eröffnen sich für die Kunstkritik und auch für die Philosophie neue Diskussionen, wie die zum Verhältnis von Kunst und Luxus oder zum Zusammenhang von Kunst- und Gesellschaftsentwicklung. Zahlreiche französische Autoren konstatieren in den 1730er Jahren den Verfall der französischen Kunst. Gresset (1737)5 ist stellvertretend als einer der Literaten zu betrachten, die an eine mögliche Rettung der Kunst durch die Politik glauben. Der Künstler sei mit seinen Werken für die Geschmacksbildung verantwortlich und somit auch für die Entwicklung und den Ruhm einer Nation. Ist Gressets Sichtweise die eines Künstlers, so offenbart Voltaire (1738)6 ein Jahr später den Weitblick eines Philosophen, der die individuelle und die kollektive Ebene für den Wert und den Nutzen von Kunst sehr genau zu definieren weiß. Er stellt zudem einen klaren Zusammenhang zwischen dem sich im Umlauf befindlichen Geld und der Kunstförderung bzw. -entwicklung her, was ihn letztlich zu der Ansicht bringt, dass derjenige, der das Geld nur hortet, ein schlechter citoyen und Ökonom sei. In der Kunstkritik, die sich in ihrer modernen Form in den 1730er und 1740er Jahren herausbildet und als deren erster Prototyp die Réflexions von La Font de Saint-Yenne7 angesehen werden können, findet der wirtschaftliche Aspekt zunächst wenig Aufmerksamkeit. Sie wendet sich vielmehr dem plaire & instruire sowie der 5

Jean-Baptiste-Louis Gresset: Vers sur les tableaux exposés à l’Académie Royale de peinture au mois de septembre 1737. O. O. 1737. 6 Voltaire: Du commerce et du luxe, 1738. In: Henry C. Clark: Commerce, Culture, and Liberty. Readings on Capitalism Before Adam Smith. Indianapolis 2003, S. 276-281. 7 Étienne La Font de Saint-Yenne: Réflexions sur quelques causes de l’état présent de la peinture en France. Avec un examen des principaux ouvrages exposés au Louvre le mois d’Août 1746. La Haye 1747.

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politischen Funktion von Kunst zu. Von den Überlegungen Roger de Piles ausgehend, konstatiert La Font de Saint-Yenne,8 dass das Vergnügen den Bildungsaspekt bedingt, beide Formen allerdings je nach Kunstgattung und -genre unterschiedlich gewichtet werden. Für sich genommen sei jeder der beiden Aspekte suboptimal, nur in ihrer Verbindung garantierten sie dem Kunstwerk die bestmögliche Erfüllung seiner Funktion. Aus diesem Gedankengang heraus erschließt sich auch die Abneigung des Autors gegen bestimmte Genres und die Ästhetik des Rokoko, denn hier sei ausschließlich das plaisir im Spiel. Das Nachdenken über die Funktion der Kunst wird folglich mit einer Diskussion um ästhetische Kriterien verbunden und anschließend mit dem Niedergang der französischen Kunst und dem Verfall der Nation in Verbindung gebracht. Allerdings bewahrt sich die Kunstkritik bei La Font de SaintYenne stets ihren Optimismus. Kunst sei eine nationale und damit öffentliche Angelegenheit. Wenn sich die Nation, also die citoyens und bons François, kollektiv um die Rettung der Kunst bemühten, dann könnte diese auch auf den Geschmack des Publikums wirken und somit die Öffentlichkeit erziehen.9 Die zeitgenössische Kunst hätte das Potenzial dafür, alles hinge lediglich von den strukturellen Rahmenbedingungen ab. La Font de Saint-Yenne hebt dabei auch die politische Bedeutung von Kunst hervor, die nach innen auf die eigene Bevölkerung wirkt, beispielsweise durch die Architektur, und die nach außen hin die Überlegenheit der französischen Nation demonstriert, wie z. B. mittels der zahlreichen französischen Künstler, die quasi als »Kulturbotschafter« im Ausland wirken. In der Philosophie erreicht die Debatte um den Luxus und den Verfall der Gesellschaft einen Höhepunkt mit Jean-Jacques Rousseau (1750)10. Ihm zufolge führen der Luxus und die Kunst als Modeerscheinung zum Verfall der Sitten, des Geschmacks und des Menschen. Dies sei generell ein überzeitliches und nicht nur lokal auftretendes Problem. Geld und Handel werden hierbei nicht in einen positiven Zusammenhang mit der Entwicklung von Kunst und Wissenschaft gebracht, sondern sie arbeiten gegen die Sitten und Tugenden des Menschen. Die zeitgenössische Kunst wird von Rousseau stark kritisiert, sie würde den Menschen falsch erziehen. Auch in Bezug auf die zukünftige Entwicklung ist der Autor um einiges pessimistischer als seine Zeitgenossen: Obwohl gute Wissenschaftler und Künstler im Lande seien, fehle es an tatkräftigen Bürgern, die die Situation retten könnten, und die gegenwärtigen 8

Étienne La Font de Saint-Yenne: Op. cit. 1747; ders.: L’Ombre du grand Colbert, le Louvre et la ville de Paris. La Haye 1749. 9 Als positives Beispiel benennt La Font de Saint-Yenne die Taten von Colbert für die urbane Gestaltung von Paris und die Kunstförderung allgemein. Dieser Dualismus, d.h. der Rückbezug auf das System des 17. Jahrhunderts und gleichzeitig ein modernes, aufklärerisch geprägtes Denken, bleibt bis in das Spätwerk des Kunstkritikers erhalten und ist kennzeichnend für den Beginn des néoclassicisme. 10 Jean-Jacques Rousseau: Discours sur les sciences et les arts, 1750. Genève 1751.

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kulturpolitischen Mittel wie die Akademien reichen nicht aus um die Situation in ihrem Ausmaß zu bewältigen. In Frankreich reagiert man auf das von Rousseau vorgezeichnete Schreckensszenario sehr unterschiedlich. La Font de Saint-Yenne (1752, 1754)11 nimmt beispielsweise Rousseaus Grundgedanken von der Korruption des Menschen durch die Kunst auf und benutzt ihn zur Kritik an einzelnen Genres (z. B. an der Porträtmalerei) und am Kunstbetrieb, wo die Neureichen den Markt bestimmen. Obwohl auch La Font de Saint-Yenne die Kluft zwischen Anspruch und tatsächlicher Situation erkennt, verliert er jedoch nie sein Vertrauen bezüglich der zukünftigen Entwicklung. Die instruktive Funktion der Kunst könne im Zusammenspiel mit der Öffentlichkeit durchaus die Situation retten. Rousseau greift die Thematik des Luxus 175412 selbst noch einmal auf, verändert aber den Gegenstand seiner Untersuchung. Ihn interessiert nunmehr nicht der Zusammenhang von Luxus, Handel und Kunst mit der Moral, sondern mit dem Wohlergehen des Staates. Er kommt zu dem Schluss, dass man mit den drei genannten Faktoren zwar das Wohl des Staates erreichen könne, dies aber nicht zwangsläufig das Glück der Gemeinschaft bedeute. Für die Kunst heißt dies, dass sie zwar individuell glücklich machen kann, aber dieses Glück nicht mit dem einer ganzen Gesellschaft gleichzusetzen ist.13 Die Wende in der Debatte um den Luxus tritt schließlich mit Saint-Lambert (1764) ein.14 Für ihn ist der Begriff Luxus an sich weder positiv noch negativ belegt; Luxus kann Nationen fördern oder ihnen schaden. Es sei die Art des Regierens bzw. des Verwaltens, die die Sitten verschlechtere. Damit ist die Ursache des Sittenverfalls nicht der Luxus, sondern dessen Missbrauch. Als Quellen des Luxus und damit auch der Künste benennt Saint-Lambert die Landwirtschaft, die Manufakturen und den Handel.15 Auf diese Weise werden die beaux-arts wiederum mit der Wirtschaft eines Staates verknüpft. In Anlehnung an die Argumentation von La Font de Saint-Yenne spricht Saint-Lambert von zwei Arten der Kunst: Eine ist für das Vergnügen verantwortlich und hat durchaus ihre Berechtigung. Die andere Art lenkt das Denken der Bürger hin zu den wirklichen Tugenden und fördert das patriotische Empfinden. Sobald die Kunst

11

Étienne La Font de Saint-Yenne: L’Ombre du grand Colbert, le Louvre, & la ville de Paris, Dialogue […] Nouvelle édition corrigée & augmentée. Paris 1752; ders.: Sentimens sur quelques ouvrages de peinture, sculpture et gravure, écrits à un particulier en province. Paris 1754. 12 Jean-Jacques Rousseau: Le Luxe, le commerce et les arts, 1754. In: Henry C. Clark: Commerce, Culture, and Liberty. Readings on Capitalism Before Adam Smith. Indianapolis 2003, S. 392–402. 13 Einen ähnlichen Gedankengang entwickelt La Font de Saint-Yenne in Bezug auf die Porträtmalerei. 14 Jean-François de Saint-Lambert: Essai sur le luxe. O. O. 1764. 15 Vgl. dazu Étienne Bonnot de Condillac: Le commerce et le gouvernement considérés relativement l’un à l’autre. Amsterdam, Paris 1776.

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dem Gemeinwohl untergeordnet wird, entsteht ein luxe utile, der durch Regierung und Verwaltung steuerbar ist. Darauf baut der Autor seine Kritik am aktuellen Wirtschaftsgeschehen auf, das zu einer ungleichen Luxusverteilung führt, und entwickelt konkrete Lösungsvorschläge wie die Dezentralisierung von Manufakturen. Sein Fazit zur aktuellen Lage des Handels, der Industrie und der Künste in Europa ist wesentlich positiver als das von Rousseau. Das, was er für den Luxus allgemein fordert, gilt ebenso für die beaux-arts: »Le Luxe contribue à la grandeur, à la force des Etats & au bonheur de l’humanité; il faut l’encourager, l’éclairer, le diriger.«16 Leitgedanken der deutschsprachigen Quellen Für den deutschsprachigen Raum ist die Quellenlage eine völlig andere als in Frankreich. Obwohl zahlreiche Werke zur Kunsttheorie, Kunstgeschichte und Ästhetik entstehen, bleibt die ästhetische Debatte insgesamt sehr literaturorientiert. Viele deutschsprachige Schriften finden nur mit größerer Verzögerung Anerkennung und Verbreitung. Auch setzt die Kunstkritik, die sich mit dem zeitgenössischen Kunstbetrieb und aktuellen Werken befasst, später als im Nachbarland Frankreich ein und wird von einer anderen Art von Autoren verfasst. Während sich in Frankreich der Typus des freien Kunstkritikers herausgebildet hatte und außerdem auch philosophes wie Diderot aktiv Kunstkritik betrieben, so sind es im deutschsprachigen Raum eher die Personen, die als politisch Verantwortliche in den Kunstbetrieb involviert sind, in selteneren Fällen auch die Künstler selbst. Für den vorliegenden Artikel wurden die Schriften Sulzers17, die Briefwechsel von Hagedorn, Oeser, Sulzer, Wille, Heinecken und Chodowiecki sowie die Zeitschriften Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, Deutsches Museum und Neue Nachrichten von Künstlern und Kunstsachen auf das Vorhandensein von Aussagen zur Funktion von Kunst untersucht. Auf die Erkenntnisse ihrer französischen Nachbarn aufbauend, trennen die deutschsprachigen Autoren sehr genau nach Funktionen auf individueller und kollektiver Ebene. Für ein Individuum dient Kunst nach wie vor auch der Unterhaltung. Diese Funktion erscheint nicht primär, wird aber als Abwechslung toleriert. Des Weiteren fördert die Kunst die Herausbildung des Geschmacks und ist Quelle von Bildung. Auf kollektivem Niveau ist Kunst demnach auch für die Geschmacksbildung der Gesellschaft, für deren Erziehung und Aufklärung zuständig. In den 1760er Jahren wird – ähnlich wie in Frankreich in den Jahrzehnten davor – darauf verwiesen, dass Kunst den Ruhm und die Ehre des Vaterlandes erhöhen kann. Zunehmend wird dann diese Erkenntnis dazu benutzt, die Emanzipation der deut16

Jean-François de Saint-Lambert: Op. cit., S. 73. Johann Georg Sulzer: Gedanken über den Ursprung und die verschiedenen Bestimmungen der Wissenschaften und schönen Künste, 1757. In: Vermischte philosophische Schriften. 2 Bde., Leipzig 1773-1781, Bd. 2, S. 110-128; ders.: Die Schönen Künste, in ihrem Ursprung, ihrer wahren Natur und besten Anwendung. Leipzig 1772. 17

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schen Kunst gegenüber der französischen (und auch italienischen) einzuleiten und zu rechtfertigen.18 Schließlich wird die Kunst in den 1770er und 1780er Jahren immer mehr als Faktor zur Erfüllung wirtschaftlicher Bedürfnisse geschätzt.19 Durch Betonung der beiden letztgenannten Funktionen unterscheidet sich die deutschsprachige Debatte grundlegend von der französischen. Aus dieser Funktionsbestimmung lassen sich mehrere Thesen für die Kunst und den Umgang mit ihr ableiten. Erstens sind Kunst und Wirtschaft voneinander abhängig, weshalb beiden Gebieten Achtung entgegengebracht werden muss.20 Zweitens existiert zwar ein hierarchisches Verhältnis zwischen hoher und gewerblich orientierter Kunst, doch haben beide Bereiche ihre Berechtigung. Auf dem Markt werden sich – in der Logik eines liberalen Marktverständnisses nach Adam Smith (1776) – letztlich die Werke durchsetzen, die Qualität und Originalität bieten.21 Somit ist letztlich sogar eine Niveauerhöhung der Kunst durch den Kommerz möglich.22 Drittens kann die Kunst, wenn sie einen dermaßen großen Nutzen bringt, weder den Menschen verderben noch der Nation schaden.23 Eine philosophische Diskussion von dem Ausmaß, wie sie Rousseau in Frankreich initiiert hatte, kann damit in den deutschsprachigen Ländern gar nicht erst entstehen. Viertens ergibt sich daraus eine veränderte Rollenzuschreibung an den Künstler, der nicht mehr nur Ausführender und damit Objekt einer Entwicklung ist, sondern der als handelndes Subjekt stärker in den Vordergrund rückt. Es ist kein Zufall, wenn beispielsweise in Sachsen vor dem Hintergrund einer liberal orientierten Wirtschaftspolitik immer wieder von der Freiheit – im materiellen als auch künstlerischen Sinne – des Künstlers die Rede ist, auch wenn dies unter den tatsächlichen historischen Bedingungen noch nicht gänzlich umsetzbar ist. Die im Vergleich zu Frankreich andere Schwerpunktsetzung in der Funktionsbestimmung und damit zwangsläufig auch andere Sichtweise auf die Kunst gehen mit einer neuen inhaltlichen Ausrichtung der Kunstkritik einher. Sie wird nun verstärkt als Kommentar zum aktuellen künstlerischen Geschehen benutzt und sie formuliert konkrete Aufgaben für die Kunstpolitik, wirkt also gleichermaßen deskriptiv und 18 Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, hrsg. v. Christian Felix Weisse u. Johann Gottfried Dyk, Bd. 8, Leipzig 1769, S. 331. 19 Neue Nachrichten von Künstlern und Kunstsachen, hrsg. v. Karl Heinrich von Heinecken, Bd. 1, Dresden, Leipzig 1786. S. 78 f. 20 Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, Bd. 13, Leipzig 1772, S. 311. 21 Deutsches Museum, hrsg. v. Heinrich Christian Boie u. Christian Wilhelm Dohm, Bd. 1, Leipzig 1778, S. 514. 22 Gegen diese Position regen sich allerdings auch zahlreiche Kritiken, vor allem von Seiten der Künstler. 23 Vgl. dazu Sulzer: Gedanken; sowie Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, Bd. 4, Leipzig 1767, S. 345 und Bd. 26, Leipzig 1781, S. 52 f.

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präskriptiv. Dieser Weg war zwar auf französischer Seite, insbesondere bei La Font de Saint-Yenne, schon vorgezeichnet worden, ist aber dort letztlich nie so konsequent beschritten worden. Der Pragmatismus der deutschsprachigen Quellen hat verschiedene Ursachen. Oft sind die Autoren der Kunstkritiken selbst als Akteure direkt in den Kunstbetrieb involviert. Zudem spielt der zeitliche Abstand zu den französischen Quellen eine Rolle: Die deutschsprachigen Kritiken konnten auf die Vorleistungen der französischen aufbauen, indem sie den Texttypus der Kunstkritik übernahmen und dann auf ihre eigene Situation zuschnitten. Dadurch erlebte die deutschsprachige Kunstkritik eine beschleunigte Entwicklung. Einer der Hauptgründe ist jedoch die politische und soziale Situation der deutschen Länder nach 1763. Das Ende des Siebenjährigen Krieges verursachte nicht nur einen politischen Bruch, sondern auch eine komplette Neuorganisation des Kunstbetriebs. Kunst und Kunsthandwerk wurden eng miteinander verschränkt und von politischer Ebene aus ähnlich wie die Wirtschaft gesteuert. Somit erklärt sich das verstärkte Bemühen des Staates um ein an künstlerischer Innovation interessiertes und wirtschaftlich ausgerichtetes Manufakturwesen. Neben dem allgemeinen Kunstmarkt und den Messen bietet sich hiermit dem Künstler ein neuer und vor allem lukrativer Vertriebskanal für seine Werke. Für die Funktionsbestimmung und die werthafte Besetzung von Kunst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lässt sich zusammenfassend feststellen, dass sowohl im französischen als auch im deutschsprachigen Raum an Stelle der individuellen Funktionen nunmehr die kollektiven in den Vordergrund rücken. Während der französische Kunstbetrieb durch Kontinuität gekennzeichnet ist und die Kunstkritik bzw. Philosophie den Wert von Kunst auf sehr abstrakte Art und Weise erörtern, erfährt die Entwicklung im deutschsprachigen Raum einen markanten Bruch um 1763. Neben der aufklärerischen und politischen Funktion wird vor allem die wirtschaftliche Bedeutung von Kunst unterstrichen, und dies wesentlich stärker als in Frankreich. In wirtschaftlicher Hinsicht kann insgesamt gesehen bei Kunstwerken durchaus von einer »epochalen Aufwertung der gehandelten Sache« gesprochen werden, doch entsteht diese auf Umwegen und mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen.

Torsten Sander (Dresden) Sein Glück aufs Spiel setzen? Pragmatik und Performanz sächsischer Lotteriedevisen des 18. Jahrhunderts »Wir alle suchen uns dem Glücke zu vermählen, Ob auch die Meisten gleich in ihrer Rechnung fehlen.« »Dencket doch ihr Menschen Kinder. G.G.G.« (Sächsische Lotteriedevisen, 1714)

»Der Seegen des Herrn machet reich ohne Mühe« lautet eine Psalm 127 entlehnte Devise, mit der mehr als ein Dutzend Lose der am 5. März 1714 ausgespielten Kurfürstlich Sächsischen Landeslotterie gezeichnet worden sind.1 Mit einem Gewinn von mehreren hundert Gulden wurde das ins Glücksspiel gesetzte Gottvertrauen dann auch tatsächlich belohnt. Ob sich hinter diesem in den Ziehungslisten wiederkehrend verzeichneten Motto jeweils der gleiche oder aber, was wahrscheinlicher ist, doch verschiedene Spieler verbargen, ist heute nicht mehr festzustellen.2 Allerdings interessiert hier auch weniger die Identifizierung einzelner Spieler beziehungsweise die Offenlegung einzelner Spielverläufe mit Gewinn und Verlust. Vielmehr erweisen sich die verwendeten Lotteriedevisen als vielschichtige Vermittlungsmotive sowohl ökonomischer als auch sozio-kultureller Aspekte des 18. Jahrhunderts: Das in allen Schichten der Gesellschaft verbreitete Interesse am Lotteriespiel wurde begleitet von einem lebhaften Diskurs zur moralisch-sittlichen Integrität sowie zum gesellschaftlichen Nutzen dieser Form des Glücksspiels. Denn obwohl die von landesherrlicher oder auch städtischer Seite in Gang gebrachten Lotterien in erster Linie der Konsolidierung des Etats beziehungsweise der gezielten Finanzierung einzelner Projekte dienten und somit auch zur Beförderung des Allgemeinwohls beitragen sollten, fürchtete man vielfach den sittlichen Verfall sowie die Verarmung der am Glücksspiel teilnehmenden Untertanen. Weil es aus philosophisch-theologischer Sicht fragwürdig, unter kameralistischen Gesichtspunkten wiederum durchaus ver1 Vgl. Sächsisches Staatsarchiv, Hauptstaatsarchiv Dresden (HStADD): 10036 Finanzarchiv, Loc. 41496, Rep. LIX, D Nr. 1348 Nachrichtungen und Ziehungs-Listen der Chur-Sächßischen Landes-Lotterie 1713/14 (ohne fol.). Num I. [–Num XVI. B] Ziehungs-Liste Der Chursächßischen Landes-Lotterie, Wie mit solcher Montags nach Oculi Den 5. Martii 1714 Der Anfang gemacht worden [bis Donnerstag den 22. Martii 1714]. Leipzig, Braun, 1714. Fol. 59 nn. Bl. [im Folgenden: Ziehungs-Liste 1714]. 2 Ebd. ist die Devise in folgenden Varianten verzeichnet: Der Seegen des HErrn macht reich ohne Mühe. / Der Seegen des HErrn machet reich ohne Mühe. / Der Seegen des HERRN machet reich etc.

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nünftig erschien, die Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse unter gewissen Umständen dem spielerischen Zufall zu überlassen, avancierte das Glücksspiel – und mit ihm die Suche nach einer rationalen Durchdringung der Ursachen für Glück und Unglück – zu einer vielfach diskutierten Sache der Aufklärung. Was es im Einzelfall heißen konnte, mit dem Kauf eines Loses sein Glück selbst in die Hand zu nehmen und es dabei buchstäblich aufs Spiel zu setzen, davon zeugen die in ihrem hermeneutischen Gehalt bislang kaum beachteten Lotteriedevisen, welche für das 18. Jahrhundert vor allem in Sachsen überaus zahlreich dokumentiert sind.3 Diese Wahlsprüche boten den Spielern nicht nur die Möglichkeit zur anonymen Teilnahme an der öffentlichen Auslosung, sondern spiegeln in pragmatischer Kürze die mit der Gewinnabsicht verbundenen Wünsche und Ängste wider. Das Hoffen auf einen Glücksfall oder das Vertrauen auf die göttliche Fürsorge kommen hierbei ebenso zum Ausdruck wie sich in Anbetracht von Glücks- und Pechsträhnen bis zum Eskapismus steigernde Erwartungshaltungen. Somit eignet sich diese Textform zur alltagsbezogenen Analyse der im 18. Jahrhundert zentralen Idee des ›Glücksstrebens‹, wobei sich mit Blick auf Roger Caillois’ Kategorie des ›Alea‹ (Zufall) zugleich Ansätze zu einer Phänomenologie des Glücksspiels im Zeitalter der Aufklärung ergeben.4 Ausgehend von einem Abriss zur Geschichte der Kurfürstlich Sächsischen Landeslotterie als einer mehr oder weniger erfolgreichen Institution landesherrlicher Wohlfahrt interessieren zunächst die sprachlichen Motive, mit denen die Loseigner die irrationalen Gesetzmäßigkeiten des Zufalls zu beeinflussen sowie moralische Diskrepanzen zu überwinden beziehungsweise die Rechtmäßigkeit ihres Spiels zu legitimieren suchten. An Hand exemplarischer Querschnitte von Ziehungslisten verschiedener im 18. Jahrhundert in Sachsen etablierter Lotterien ist es möglich, sowohl phraseologische Konstanten dieser »Grammatik des Glücks« wie auch Entwicklungsverläufe dieser der Alltagskultur entsprungenen Sinnsprüche nachzuzeichnen.5 Neben diesen aus den Lotteriedevisen abzuleitenden erfolgsorientierten Handlungs- und Entscheidungsmaximen interessiert zugleich der damit verbundene per3

Vgl. Paul Zinck: Lotterie-Devisen. In: Mitteilungen des Vereins für sächsische Volkskunde. 3 (1903–1905), S. 297–307. Albert Zahn: Geschichte und Statistik der Lotterien im Königreich Sachsen. Leipzig 1901, S. 40 f. Ferner Annemarie Hübner: Die Hamburger Lotteriedevisen des 17. Jahrhunderts. In: Abhandlungen zur niederdeutschen Philologie. Conrad Borchling zum Gedächtnis. Neumünster 1950 (Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 1948/1950 LXXI/LXXIII), S. 158–191. Karl-S. Kramer: Lotteriedevisen aus Wilster vom Jahre 1739. In: Festschrift für Gerhard Cordes zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Friedhelm Debus, Joachim Hartig. In Verbindung mit dem Verein für niederdeutsche Sprachforschung, Bd. II: Sprachwissenschaft. Neumünster 1976, S. 148–153. 4 Vgl. dazu Peter Schnyder: Alea. Zählen und Erzählen im Zeichen des Glücksspiels 1650– 1850. Göttingen 2010. 5 Walter Benjamin: Der Weg zum Erfolg in dreizehn Thesen. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Bd. IV: Kleine Prosa. Frankfurt a. M. 1972, S. 349–352, 351.

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formative Prozess. Denn mit jedem Lotterielos eröffnete sich ein in seinen Abläufen nicht planbarer und künstlich für jeden Loseigner hergestellter einheitlicher SpielRaum, der mit der Vergabe einer Devise schließlich doch individuell konotiert werden sollte.

Kurfürstlich Sächsische Landeslotterien (1714–1755) Sowohl die nach italienischem Vorbild betriebenen sogenannten Glückstöpfe oder Glückshäfen wie auch die nach holländischem Muster veranstalteten Klassenlotterien hatten bis zum Endes des 17. Jahrhunderts auch in Sachsen starke Verbreitung gefunden. Allerdings handelte es sich dabei um Privat- oder Stadtlotterien, an denen der Staat lediglich in Form von Konzessionen oder Steuern beteiligt war.6 Erst im Rahmen der von Kurfürst Friedrich August I. von Sachsen betriebenen Besserung der ökonomischen und finanziellen Situation des Landes wurde das Lotteriewesen als zusätzliche Einnahmequelle des Staates ausgebaut.7 Dabei orientierte man sich ausdrücklich an der im Jahr 1612 begründeten und seit 1710 regelmäßig abgehaltenen Hamburger Stadtlotterie, der ersten staatlichen Lotterie mit Geldgewinnen.8 Gemäß einer auf den 15. Mai 1713 datierten öffentlichen Nachricht, wie es mit der von denen getreuen Ständen des Churfürstenthums Sachsen auf des gesamten Landes Credit genommenen Lotterie gehalten werden soll, umfasste die erste Kurfürstlich Sächsische Landeslotterie ein Einlagevolumen von einer Million Gulden, verteilt auf 10.000 Lose zu je 100 Meißnischen Gulden.9 Dem gegenüber standen »Eintausend avantageuse Gewinne«, verteilt auf 12 Klassen, welche in 20 Ziehungen ausgelost werden sollten. Für die verbleibenden 9.000 Lose wurde die Rückzahlung des Einsatzes garantiert, so dass es in diesem Spiel keine Nieten gab.10 Da sich die Auszahlung der Gewinne über einen Zeitraum von 20 Jahren erstrecken sollte, wurde eine Verzinsung der Gewinne von der Ziehung bis zur Auszahlung mit bis zu 5 % p. a. in Aussicht gestellt. Ferner garantiert werden sollte die Verzinsung der Einlage von 100 6 Vgl. Zahn: Geschichte und Statistik der Lotterien im Königreich Sachsen (wie Anm. 3), S. 34 f. Ulf Mohlzahn: Lotterien in Sachsen. Wissenschaftliche Studie zum 285jährigen Bestehen Sächsischer Landeslotterien. Leipzig 1998, S. 12 ff. 7 Vgl. Mohlzahn: Lotterien in Sachsen (wie Anm. 6), S. 20 f. 8 Vgl. Zahn: Geschichte und Statistik der Lotterien im Königreich Sachsen (wie Anm. 3), S. 37 f. 9 HStADD: 10036 Finanzarchiv, Loc. 41496, Rep. LIX, D Nr. 1348 Nachrichtungen und Ziehungs-Listen der Chur-Sächßischen Landes-Lotterie 1713/14 (ohne fol.). Nachricht, wie es mit der von denen getreuen Ständen des Churfürstenthums Sachsen auf des gesamten Landes Credit genommenen Lotterie gehalten werden soll. Gedruckter Anschlagzettel, dat. Leipzig 15. Mai 1713. Doppelblatt, 4 S. Art. 1. 10 Vgl. ebd. Art. 2.

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Gulden mit 8 % p. a. für die Zeit vom Kauf des Loses an bis zur Ziehung, welche für die Leipziger Michaelis-Messe 1713 vorgesehen war. Nach erfolgter Ziehung sollte jeder Spieler »gedruckte, iedoch zur Erspahrung aller Unkosten ungestempelte Steuer-Obligationes, auf die ergriffene Summe und folgende Zinß-Reichung« ausgestellt bekommen.11 Gleichzeitig war aber auch die Verrechnung des erspielten Guthabens beziehungsweise der daraus erwachsenden Zinsen mit anderweitig bestehenden steuerlichen Abgaben möglich.12 Die einzige Ziehung dieser ersten Sächsischen Landeslotterie fand dann vom 5. bis 22. März 1714 in der Leipziger Börse statt. Eine Fortsetzung erfuhr das kurfürstliche Lotterieprojekt dann erst in den Jahren 1720 bis 1725 mit einer zweiten Landeslotterie.13 Im Gegensatz zur ersten Lotterie konnten hier alle Klassen ausgespielt werden. Eine 1755 geplante dritte sächsische Staatslotterie kam wegen Ausbruch des Siebenjährigen Krieges nicht zustande. Bestandteil der 1713 erlassenen Lotteriebestimmungen war unter anderem die ausdrückliche Erlaubnis, dass es denen Einlegern [d. h. den Loskäufern] nachgelassen [ist], wenn sie etwa Bedencken haben möchten ihre Nahmen gleich von Anfang wissend zu machen, daß sie sich gewisser kurzen Devisen, oder auch nur Buchstaben bedienen können, da so dann erst nach der Ziehung, auf denjenigen, so sich durch Vorzeig- und Einreichung des erhaltenen Einlage-Zettels zu den gezogenen Looß legitimieren wird, als EigenthumsHerren, die behörige Steuer-Obligation, entweder auf die gantze Summe, oder in zertheilten Posten zustellen.14

Vorbildhaft für diese Form des anonymen Mitspielens war wohl ebenfalls die Hamburger Stadtlotterie, für die seit dem frühen 17. Jahrhundert die Verwendung von Devisen, welche wiederum in der Tradition niederländischer Lotteriesprüche stehen, belegt ist.15 Diese für die Staatslotterie nach Sachsen übernommene Gepflogenheit erfreute sich dann hier das gesamte 18. Jahrhundert über wechselnder Beliebtheit. Denn weil bei der öffentlichen Ziehung nicht nur die Losnummern, sondern auch die von den Spielern ihrem Los mitgegebenen Wahlsprüche laut vorgelesen wurden, zog sich die Auslosung unnötig in die Länge. Da jedoch theoretisch verschiedene Spieler die gleiche Devise verwenden konnten, wies zunächst allein die Kombination von Losnummer und Devise eindeutig einen Gewinn aus. Die Identität der Spieler wurde schließlich erst beim Einlösen der Lose offenbar.

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Ebd. Art. 5. Vgl. ebd. Art. 10. Vgl. Mohlzahn: Lotterien in Sachsen (wie Anm. 6), S. 27 f. Nachricht 1713 (wie Anm. 9), Art 6. Vgl. Hübner: Die Hamburger Lotteriedevisen des 17. Jahrhunderts (wie Anm. 3), S. 166 f.

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Für den performativen Prozess der Auslosung war ferner bestimmend, dass die Lose noch bis ins 19. Jahrhundert hinein von bis zu zwei Waisenknaben gezogen wurden, denen man zum Zeichen ihrer Unparteilichkeit die Augen verbunden hatte.16

Abbildung 1: Eine Ziehung der kgl. preußischen Staatslotterie in Berlin. Holzstich von J. Lang nach H. Spindler, um 1880. (Privatbesitz Dresden)

Auf diese Weise wurde den Anwesenden das alleinige Wirken des Zufalls, gewissermaßen des »blinden Glück[s]« vor Augen geführt.17 Der eigentliche Reiz einer Lotteriedevise lag also nicht nur darin, im Falle eines (hohen) Gewinns gegenüber den Mitspielern und natürlich auch anderen Personen unerkannt zu bleiben. Vielmehr schien es damit unter Ausnutzung des vom Lotteriebetreiber geschaffenen performativen Rahmens möglich, die durch das Los künstlich

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Vgl. für die Hamburger Stadtlotterie 1614 den [Artikel] Lotterie. In: Grosses vollständiges Universal Lexikon, hrsg. v. Johann Heinrich Zedler, Bd. XVIII. Halle, Leipzig 1738, Sp. 569 sowie für die Kurfürstl. Sächs. Lotterie die Nachricht 1713 (wie Anm. 9), »Art. 5. Die Ziehung derer Looße selbst, thun fromme erbare Knaben.« 17 Zedler: Grosses vollständiges Universal Lexikon (wie Anm. 16), Sp. 565.

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hergestellte Gleichheit aufzubrechen und den zu erwartenden Schicksalsspruch vorwegzunehmen.18 Charakteristisch für diese zweckgebundene Sinnhaftigkeit der Lotteriedevise ist nicht zuletzt ihre Anlehnung an ursprünglich heraldische Sinnsprüche. Aufschlussreich ist hierfür die bei Zedler verzeichnete synonyme Bedeutung »Leib-Spruch«: Vergleichbar einem Wappen mit Wahlspruch symbolisiert auch das mit einer Devise belegte Lotterielos nicht nur die »vornehmste Neigung oder andere GemüthsBeschaffenheit« des Spielers, sondern übernahm für diesen innerhalb des Spiels die Funktion eines Stellvertreters.19 Denn beim Lotto nimmt der Spieler im Gegensatz zu anderen Formen des Glücksspiels nicht aktiv am Spielgeschehen teil, sondern wird im Moment des Loskaufs zum passiven Beobachter, weshalb die aktiv »geordnete Realisierung des Zufalls« auf andere Weise angestrebt werden muss.20 Somit kommt in den Loswahlsprüchen nicht nur eine allgemeine Erwartungshaltung zum Ausdruck. Sondern diese auch als ›Denksprüche‹ bezeichneten Verse spiegeln den Versuch, den beim Lotto über Gewinn oder Verlust allein entscheidenden Zufall auf rationale Weise zum eigenen Vorteil zu beeinflussen.21 Welches Ausmaß die in den Wahlspruch gesetzte Hoffnung auf einen Gewinn seitens der Spieler annehmen konnte, schildert der fiktive Bericht über die öffentliche Ausspielung einer Leipziger Klassenlotterie im Jahr 1755: Seinen Gedancken nach, war die Devise an seinem Unglücke Schuld. Er wolte sich aus dem Schrevel, den er noch von der Thomas Schule her hatte, eine griechische Devise machen, und sich ein neues Loos geben lassen, auf mein Zureden aber, daß die griechischen Devisen so schwer zu lesen wären, daß manchesmal nur die Nummern abgelesen wurden, und dadurch leichte eine Unordnung entstehen könnte, blieb es bey der alten Deutschen.22

Entscheidend für den Erfolg einer Devise war es demnach, dass sie in der Sprache, »in der das Glück seine Abrede mit uns nimmt«, nicht zu einer hieroglyphischen

18 Vgl. Roger Caillois: Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch. München, Wien 1964, S. 24 f. u. 165. 19 [Artikel] Leib-Spruch, Denck-Spruch, Wahl-Spruch, Symbolum, Devise. In: Grosses vollständiges Universal Lexikon, hrsg. v. Johann Heinrich Zedler, Bd. XVI. Halle, Leipzig 1737, Sp. 1556. 20 Manfred Zollinger: Geschichte des Glücksspiels. Vom 17. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg. Wien 1997, S. 42. 21 Vgl. Etwas über die Wahlsprüche. In: Der Teutsche Merkur (1784), 4. Vierteljahr, S. 283– 286. 22 Neues Leipziger Allerley Aufs Jahr 1755. Halle und Leipzig 1756. Monat Februarius, S. 27–41, S. 30 f. Schrevel, Cornelis: Lexicon manuale Graeco-Latinum et Latino-Graecum. Leiden 1654 (bis ins 19. Jh. wdh. aufgelegtes Standardwerk).

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Mitteilung geriet.23 Gleichzeitig musste aber auch die damit verbundene Nachricht (frz. aviser) allgemein verstanden werden, ohne die auf rätselhafte Weise eingeschriebene individuelle Spieler-Spiel-Relation zu dechiffrieren.24 Niederschlag gefunden hat dieser Umstand etwa in der Tatsache, dass die Hauptgewinne in den Ziehungslisten einzelner sächsischer Lotterien typographisch hervorgehoben wurden, so dass für Jedermann sofort ersichtlich war, unter welchen Devisen expressis verbis ›das große Los‹ gezogen worden war.

Abbildung 2: Gewinn-Liste der von Ihro Chur-Fürstl. Durchl. zu Sachsen etc. zum Besten der neuerbauten Zucht- und Arbeits-Häußer gnädigst angeordneten Fünften Lotterie, Der Dritten Classe Erste Ziehung, Montags den 26. Aug. 1776. Vormittags. S. II. (Vorlage und Repro: Sächsisches Staatsarchiv, Hauptstaatsarchiv Dresden: 10036 Finanzarchiv, Loc. 31907 Rep. LX Nr. 90).

23

Benjamin: Der Weg zum Erfolg in dreizehn Thesen (wie Anm. 5), S. 351. Zu den semiotischen Grundlagen vgl. Reinhard Krüger, Eva-Maria Baxmann-Kraft, Bernd Hartlieb: Zeichennormung für Handwerk und Industrie. In: Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, hrsg. v. Roland Posner, Klaus Robering u. Thomas A. Sebeok, Bd. IV/IV. Berlin, New York 2004 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 13.4), S. 3510–3570; S. 3538 f. (= Kap. 2.12. Das Markenzeichen als hieroglyphische Mitteilung: Emblem und Impressa/Devise). 24

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Im Gegensatz zu Wappen- oder Wahlsprüchen einzelner Herrscher oder Familien kam es bei Lotteriedevisen offensichtlich nicht auf Originalität an. Vielmehr lassen sich im Vergleich mit anderen (sächsischen) Lotterien wiederkehrende Motivfelder mit teils standardisierten Spruchformen ausmachen.25 Für die Kurfürstlich Sächsische Landeslotterie von 1714 bestätigt sich die sowohl für die Leipziger Stadtlotterie der 1750/60-er Jahre als auch über Sachsen hinaus festgestellte Vorliebe für »Bibelsprüche oder Sprichwörter, deren Inhalt zum Lotteriespiel in Beziehung gesetzt werden kann«,26 wobei als moralische Instanz vielfach »Gott ins Spiel« gebracht wird.27 Zu den populären, in der Regel deutschsprachigen Sprüchen gehörten hier neben der eingangs zitierten Sentenz aus Psalm 127 folgende Wendungen: Auf Gottes Seegen, so das rechte Glück! – Deo favente – A.H.W. Alles mit Gott – An Gottes Segen ist alles gelegen G.F.M + – Behalt Gott zum Freunde – Vertraue Gott und hoffe auff Ihn – Was Gott will – Alles nach Gottes Willen – C’est l’ouvrage de Dieu – Ich bin mit Gott vergnügt, der alle Sachen fügt – Gott sorget auch vor fromme Witben W.M.A – Meine Hoffnung stehet auf Gott. – Ich bin zufrieden was Gott giebt. – Wir erwarten die Hülffe unsers Gottes. – E.M.W. Ich trau auf Gott in allen Sachen, der weiß es allzeit wohl zu machen. – Wie es mein Gott fügt bin ich vergnügt. – F.D.A. Sortes à Deo reguntur. – Mir vergnüget wie es mein Gott füget. – Arare rus Dei dignus. – Was mir mein Gott hat ausersehen, das soll und muß geschehen, J.K. – Des Herrn Hülffe währet ewiglich. – Gott verläst niemanden als den der Ihn verläst. – Deus curat suos, A. – Man soll in allen Sachen mit Gott den Anfang machen. G.F.M. – Auf Gott anckert meine Hoffnung. – Christus Gieb Gnade und Hülffe. – Jesus hilff mir. – Herr Jesu, von dir hab ich Seegen zu gewarten H.S.V.B. – Scopus vitae meae Christus. – Christus mea spes. – ChristenCreutz verdient Triumph. – Crux Christianorum constantiam liberorum signat.

Die wiederkehrende Anrufung Gottes diente nicht nur der moralischen Legitimation des als anrüchig betrachteten Glücksspiels, sondern hatte die Frage zum Ausgangspunkt, »was das Lotterien-Glück oder Unglück vor einen Grund habe?«28 Während etwa das Wirken des unvermeidlichen Schicksals oder des bloßen Zufalls als ausgemacht galt, war man sich uneins darüber, »wie fern aber Gottes Vorsorge und Regierung mit Lotterien zu thun habe?«29 Problematisch erscheint hierbei insbeson25

Vgl. die Spruchfolgen bei Zinck: Lotterie-Devisen und Hübner: Die Hamburger Lotteriedevisen des 17. Jahrhunderts (wie Anm. 3). 26 Zinck: Lotterie-Devisen (wie Anm. 3), S. 301. Vgl. Hübner: Die Hamburger Lotteriedevisen des 17. Jahrhunderts (wie Anm. 3), S. 178 f. 27 Kramer: Lotteriedevisen aus Wilster vom Jahre 1739 (wie Anm. 3), S. 150. 28 Zedler: Grosses vollständiges Universal Lexikon (wie Anm. 16), Sp. 565. Ebd. Sp. 564 f. ausführlich zur Frage »Obs recht sey, Lotterien anzustellen, und etwas hineinzulegen?« 29 Ebd. Sp. 565.

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dere eine göttliche Lenkung der an der Auslosung unmittelbar beteiligten Personen. Denn: »Läßt sie Gott in ihrer Freyheit zu handeln, wie sie wollen, so fällt die besondere Vorsorge weg; macht er aber, daß sie anders würcken müssen, als sie sonst würden gethan haben, so wäre die Sache als ein Wunder zu betrachten.«30

Diese Diskrepanz versuchten einige Lotteriespieler zu lösen, indem sie eine Devise formulierten, die das Glück in Verbindung mit Gott beziehungsweise als Ausdruck des göttlichen Willens zum Hoffnungsträger erhob: En Dieu & en la fortune – En Dieu & en la Fortune C.F. – Was das Glücke uns bereit, Steht in Gottes Gütigkeit – Die Güther des Glücks sind göttl.[ichen] Geschicks. M.S.C. – Auf Glück ich baue, und Gott vertraue. – Das Looß fällt wie der Herr will, Prov. 16.v.33. – Das Looß fällt allen, nach Gottes Gefallen. M.E.V.B. – Das Looß kömmt, wenn’s Gott gönnt. M.E.V.D.

Eine große Gruppe von Spielern verließ sich gleich gänzlich auf das Schicksal oder das Glück selbst: Wenns seyn soll, schickt sichs wohl M.V.H.I. – Was ich wünsche wird sich schicken. Glückauf – Glück auff! – Auf[f ] gut Glück! – Zu guten Glück zum 2 mahl – Zu guten Glück zum andern mahl. – Fortuna – Fortunae nimium ne crede faventi. – La fortune me quitte. – Fortunatus. – Adspirante fortuna! – Fortuna dum blanditur fallit. – Laborando aut quiescendo fortuna est expectanda. – Fortuna, du hast iederzeit vor mich gewacht, so gieb auch ietzt auf meine Loose acht. – Ich bin mit dem vergnügt, was mir das Glück zufüget. – Das Glück erfreut den es liebet. – Glückseelig ist, wer vergist, was nicht zu ändern ist. – L.A.B. Das Glück ist wie ein BAL – Durch Glück, Hoffnung und Zeit wird möglich die Unmöglichkeit. I.G.G.S. – Man meynet oft den Silberberg zu finden, so trau dem Glück wo Unglück bleibt dahinden.G.R.K. – Zur Glücks-Probe

Einige Spieler der ersten Sächsischen Landeslotterie setzten insbesondere auf das Losglück, welches dem Rektor Johann Paul Gumprecht aus Lauban, der sich die Devise »Das Looß ist mir gefallen am schönsten unter allen« wählte, dann tatsächlich einen Gewinn von 300 fl. bescherte.31 Es fehlen wiederum anderweitig für sächsische Lotterien nachweisbare Sentenzen, die das Losglück »in die Hände der ziehenden Waisenknaben legen«.32 30

Ebd. Sp. 566. Zu Gumprecht (geb. 1678) vgl. Gottlieb Friedrich Otto: Lexikon der seit dem funfzehenden Jahrhunderte verstorbenen und jetzlebenden Oberlausitzischen Schriftsteller und Künstler. Bd. I. Görlitz 1800, S. 585 ff. 32 Zinck: Lotterie-Devisen (wie Anm. 3), S. 304. 31

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Das Looß wird geworffen in den Schooß. – Das Looß ist mir gefallen aufs Lieblichste. C.T.H. – Das beste Looß krieget der, wer ist vergnügt. M.E.V.D – Ich suche bloß das höchste Looß. – Demütig und geduldig leben kan mir das beste Looß noch geben. I.S.C.

Zum Spektrum der dem Zufall verpflichteten Sprüche gehören freilich auch jene, welche den Gewinn selbst oder das Hoffen darauf zum Thema haben: Nur Gewinn. – Auff Wucher eben nicht/nur um des Nutzes willen, damit dereinsten kan ich meine Cassa füllen. – Geld ist die Losung. I.H.B In Hoffnung Beständig. – In beständiger Hoffnung M.S.I.G.VV. – In Hoffnung besserer Zeiten. – Hoffnung nehret mich. – Aufrichtige Hoffnung gehet selten leer nach Hause. – Mein gutes Hoffen hat eingetroffen. Th. – Unverhofft komt oft.

Dazu kommen jene Devisen, deren Motive die Lust am Spiel oder das damit verbundene Risiko hervorheben: Geht gleich das andere alles hin, so bleibt Vergnügen mein Gewinn.P.H.I. – Ich bin vergnügt/I.G.P. – Quel est le plaisir du destin? – Viel Geld hier nicht ist mein propos / bekomm ich was, so bin ich froh. Auf hazard. C.F.V. – Frisch gewagt ist halb gewonnen. – Frisch gewagt harre unverzagt. – Wagen gewinnt, wagen verliehret. – Der Mann wagts. – Was kommt raus?

Nicht wenige Loseigner betonten in der gewählten Devise ihren Patriotismus oder nahmen auf die Lotterie als Institution landesherrlicher Wohlfahrt Bezug: Es gehe Sachsen wohl. – Es gehe dem König wohl. – Es lebe der König in Pohlen, und gehe ihm wohl. G.F.M. – Dem Vaterland zu Dienst mit nichten auff Gewinst. – Vergiß der Armen nicht. – Gott segne die armen Schulen. – Erlang ich mein Verlangen, sollen Arme was empfangen. E.V.G.D.V.D.E. – Stips Pauperum thesaurus divitum. – Gott lasse es unsern allergnädigsten König und Printzen wohl ergehen/ auch das gantze Hauß Sachsen in steten Seegen stehen. S.L. – Vive le Prince Royal. In puncto des Naschmarckts. – Pro publico. – Lege publica consessum. – Fränckische Söhne zum Studiren. – Vor meine liebe Frau A.D.H. in Budißin. – Der Liemehner Schenke wird gebauet. – Invaliden Cassa – Schönbergl. Armuth–Legatum zu Freyberg.

Zu den Kuriosa der in ihrer individuellen Fülle kaum darstellbaren Lotteriedevisen von 1714 gehören jene beiden Lose, deren Ziehung zufällig auf ein in der Devise genanntes Datum fiel, was gerechtfertigterweise besonderen Anlass zur typographischen Hervorhebung in der Ziehungsliste gab:

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G.V.W.Was Gott will Den 14. Martii 1714. Pomeridie – Frisch gewagt ist halb gewonnen Den 16. Martii 1714. Pomeridie.

Was nun die Identität und damit den Kreis der Loseigner anbelangt, so geben die Akten im Falle der Kursächsischen Landeslotterie darüber keine Auskunft. Hinweise liefern lediglich die Devisen selbst. Bei den namentlich genannten Spielern handelt es sich meist um Adlige, wobei den Devisen beigefügte Monogramme mit Adelsprädikat – wie beispielsweise »Gr.[äfin ?]A.S.v.[on]W. geb. V.[on]T. Wie das Glück es fügt, so bin ich vergnügt.« oder »Securitate & spe W.B.d.[e] L.« – ebenfalls auf adlige Spieler hindeuten. Ferner sind etliche Devisen (sächsischen) Behörden verpflichtet. So zeichneten offensichtlich »Der Rath zu Görlitz«, der »Rath zu Leipzig« sowie das »Amt Schweinitz auf gutes Glück« einige Lose. Der Hauptgewinn von 20.000 fl. ging schließlich an das Los mit der Devise »Herrn General Kriegs-Comm.[issar] von Kiesewetter«, unter der noch weitere, doch weniger erfolgreiche Lose gelöst worden waren. Eines von mehreren Lose mit der Devise »General-Feldmarschall Graf von Flemming« gewann 3.000 fl. Ein unter dem Namen »Baronin Chalezac« gelöstes Los gewann 2.000 fl., wobei der Anteil weiblich personalisierter Devisen insgesamt auffallend groß ist: Madame de Kerveno – Rachel Sibylla von Metzrathin – Henrietta Louise von Metzrathin – Johann Sibylla Schacher – Elisabeth von Hutten de Bequigrolle – Charlotta Sophia Baronne de Bothmar. – Frl. de la Fontaine – S.C.V.R.G.V.A daß ich dieses Looß neh-me, soll mein Mann nicht wissen.

Hinzu kommen personalisierte Devisen, welche teilweise auf auswärtige Lotterieteilnehmer hinweisen: Johann Friedr. Fricke erwartet aus Sachsen sein Glücke. – Gottfr. Otto auff gutes Glück – Fürchtet Gott und ehret den König, Gottfried Krause. – Das Collegium Cheradelphicum zu Borna. – Ich weiß es wird nicht leer abgehen. G.F.I.S von Hamburg. – I.H.A. Zu Bayreuth. Ich hieß der zahlende, zahlt was ich nicht geraubt, vielleicht giebts Freunde noch, weil schencken ist erlaubt, denn 10. ist 10. und bleibet 10. und nochmal 10. ist 2mahl 10.

Mit Blick auf die genannten Beispiele ist festzustellen, dass die Devisen der ersten Sächsischen Landeslotterie im Vergleich etwa zu den von Paul Zinck für die Leipziger Stadtlotterie 1750–1760 erhobenen Befunden keine grundlegenden Unterschiede erkennen lassen. Dabei gehorcht die Vielfalt sowie Variation traditioneller sprachlicher Lotteriemotive zwar scheinbar individuellen Neigungen und Absichten einzelner Lottospieler. Letztendlich operieren sie aber allein mit der Illusion, im Spiel mit dem Glück eine Verbesserung der privaten wie auch der gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse zu erreichen. Eine Bewertung sächsischer Lotteriedevisen und folglich des Lottos als eine Sache

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der Aufklärung muss freilich von diesem zu Grunde gelegten Wunsch nach Glück im Spiel ausgehen. Denn beschworen wird dabei ausschließlich das ›Zufallsglück‹ (lat. fortuna), welches allein einer überirdischen Macht (Schicksal, göttlicher Fügung), jedoch nicht eigener Leistung zu verdanken ist.33 Nicht zuletzt weil das Glücksspiel die Produktivität der Arbeit verhöhnt und eine Gefährdung geordneter Lebensverhältnisse bedeutete, musste die prinzipiell akzeptierte Maximierung des Glücks mittels des Zufalls als unvernünftig erscheinen.34 Das Geistliche[ ] Urteil vom Lotterie-Wesen (Ohne Ort 1723) gibt außerdem zu bedenken, dass »in keinem Natur- und göttlichen Gesetze einige Spur zu finden, daß dem Menschen im Gewinnen, Spielen und dergleichen practiquen der Erhaltungs-Weg dargelegt worden«.35 Andererseits »etwas aber [in eine Lotterie] hineinzulegen, hält die Vernunfft aus der Ursache vor zulässig, weil ein jeder Herr über seine Güther wäre, und Krafft dieses Eigenthums-Rechts damit thun könnte, was er wollte«.36 Ins Hintertreffen gerieten die sich mehrenden moralisch-theologischen Bedenken jedoch nicht zuletzt durch den Umstand, dass man das Zahlenlotto im 18. Jahrhundert in zunehmendem Maße von staatlicher Seite als lukrative Einnahmequelle in Form von Staatslotterien institutionalisierte, wobei gleichzeitig andere Formen des Glücksspiels verboten worden waren.37 Eine 1788 anonym wiedergegebene »Meteorologische Beobachtung an dem Barometer der Deutschen Aufklärung« befand deshalb, dass die Existenz von mehr als einem Dutzend Klassenlotterien »ein sehr deutlicher Beweis [sei], wie weit Deutschland in der wahren praktischen LebensAufklärung in hohen und niedrigen Ständen noch zurücke sey«.38 Eine gänzlich neue Dimension erlangte die Auseinandersetzung schließlich durch den in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verstärkt ins Blickfeld tretenden Aspekt der Wahrscheinlichkeit. Denn nun wurde der Zufall scheinbar rational fassbar, weil berechenbar. Die Möglichkeit, seine Gewinnabsicht mathematischen Regeln zu unterwerfen, minderte zwar keineswegs die vom Glücksspiel ausgehenden Gefahren, wie beispielsweise Der fürsichtige und glückliche Lotto-Spieler (Frankfurt und Leipzig 1775) nahe legt. Jedoch wurde damit die formelhafte Beschwörung des Glücksfalls

33

Zur Wortgeschichte vgl. Georg Schildhammer: Glück. Wien 2009, (Grundbegriffe der europäischen Geistesgeschichte) S. 28 f. 34 Vgl. Caillois: Die Spiele und die Menschen (wie Anm. 18), S. 25 u. 165. 35 Geistliches Urteil vom Lotterie-Wesen als ein Reicher Beytrag mit Versprechung der gewissesten Ausbeute, zur hertzlichen Warnung und Wahrnehmung vor allem Seelen- und Leibes-Betrug eingelegt. o. O. 1723, S. 4, Art. 8. 36 Zedler: Grosses vollständiges Universal Lexikon (wie Anm. 16), Sp. 565. 37 Vgl. Zollinger: Geschichte des Glücksspiels (wie Anm. 20), S. 25. 38 Meteorologische Beobachtung an dem Barometer der Deutschen Aufklärung. In: Journal von und für Deutschland 5 (1788), S. 269–273, 269 (= Nr. 1).

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mittels Devise obsolet. Wohl auch deshalb verloren Lotteriedevisen gegen Ende des 18. Jahrhunderts an Bedeutung, bevor sie schließlich im 19. Jahrhundert nahezu gänzlich verschwanden.

Jasmin Schäfer (Berlin) Das Spiel als Medium der Verhaltenskodierung in der Edukationsgrafik Daniel Nikolaus Chodowieckis1

Die Philanthropen entdecken ab den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts den erzieherischen Wert der Spiele und der Spielsachen. Diese dienen ihnen nicht der selbstbestimmten, lustbetonten und zweckfreien Beschäftigung des Kindes. Stattdessen verbinden die philanthropen Erzieher sie mit moralischen und damit verhaltensdeterminierenden Erziehungszielen sowie mit dem Gedanken der Gesunderhaltung des Körpers durch Bewegung im Spiel. Das Spielzeug unterstützt diese Absicht und avanciert zum Anschauungsobjekt und Lehrmedium. Funktional stehen Spiel und Spielzeug daher der Idee der Lehrmodellsammlung nahe, wie sie beispielsweise in Johann Bernhard Basedows (1724–1790) Philanthropin in Dessau existierte. Durch den neuen Aspekt der Erziehung, den die Pädagogen mit dem Spielzeug und dem Spiel selbst verbinden, bedeutet dies konsequenterweise auch, dass die Kinder ihr Spiel nicht mehr selbst wählen und durchführen. Stattdessen initiiert und leitet ein erwachsener Erzieher oder ein kindlicher Stellvertreter das Spielgeschehen und sichert damit das Erreichen des gewünschten Lernzieles. Nicht nur in der Schule erfährt das neue Spielverhalten seine praktische Umsetzung. Ein Spezifikum philanthroper Pädagogik sind die Kinder- und Jugendbücher mit Illustrationen, die als Mittel der Erkenntnisgewinnung fungieren. Das erste durchgehend illustrierte philanthrope Erziehungsbuch ist Basedows vierbändig erscheinendes Elementarwerk (1770–1774). Der Autor adressiert das Buch an bürgerliche Kinder, aber auch implizit an den Erwachsenen, der den Vermittlungsprozess mit dem Kind leitet. Die Illustrationen dienen als Gesprächsanlass und als Möglichkeit für den Erzieher, den Lernprozess des Kindes zu überprüfen und wenn nötig zu korrigieren. Diese Zweifachadressierung beinhaltet, dass der Erzieher vorab den zu besprechenden Textteil liest und dem Kind anschließend frei und lebendig nacherzählt oder alternativ vorliest. In Basedows Philanthropin in Dessau fungiert das Elementarwerk ab 1774 als Schulbuch im Unterricht. Die Illustrationen des Elementarwerkes entwirft Daniel Nikolaus Chodowiecki (1726–1801). Die Grafiken sind jedoch nicht in den fortlaufenden Text integriert, sondern erscheinen in einem separaten Tafelband mit insgesamt 100 Kupfertafeln. 1

Dieser Aufsatz steht im Kontext meines kunsthistorisch-pädagogischen Dissertationsprojektes ›Das Bild als Erzieher – Daniel Nikolaus Chodowieckis Kinder- und Jugendbuchillustrationen in Johann Bernhard Basedows Elementarwerk und Christian Gotthilf Salzmanns Moralischem Elementarbuch‹, das im Fachgebiet Kunstgeschichte der Technischen Universität Berlin entstand.

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Die Bildtafeln sind im Querformat angelegt und zeigen selten eine einzige Darstellung. Chodowiecki unterteilt sie stattdessen in diverse Fächer. Diese zeigen jeweils in sich abgeschlossene Szenen, die innerhalb des Tableaus mit den anderen Bildfeldern in inhaltlicher Verbindung stehen. Basedow baut das Elementarwerk so auf, dass es, inhaltlich zunehmend komplexer werdend, das Kind vom Mikrokosmos der Familie in den Makrokosmos der Welt führt. Inhaltlich behandelt das Buch in zehn Kapiteln zahlreiche Themen wie etwa die Geschichte, Religion, Naturwissenschaften und zu Beginn die Kinderspiele. Im zweiten Kapitel thematisiert Basedow unterschiedliche Facetten des Kinderspiels, zu dem Chodowiecki zwei vierteilige Bildtableaus entwirft (s. Abb. 1 und 2).

Abb. 1: Daniel Nikolaus Chodowiecki. Tafel V ›Von Spielen und Vergnügungen‹ (ca. 1774) zu J. B. Basedows Elementarwerk (Dessau, 1774). Kupferstich. 16,7 x 21,6 cm. Bildunterschrift links: ›D. Chodowiecki del.‹ Bildunterschrift Mitte: ›Tab. V.‹ Bildunterschrift rechts: ›Schuster fc. Berol:‹ Aus: Fritzsch, Theodor (Hrsg.): J. B. Basedows Elementarwerk: mit den Kupfertafeln Chodowiekkis u. a. Kritische Bearbeitung in drei Bänden. Bd. 3, Leipzig 1909. Bibl. Nachweis: Privatbesitz der Autorin. Zu den Bildrechten: Fotografie, Privatbesitz der Autorin

Das Spiel als Medium der Verhaltenskodierung bei Chodowiecki

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Zum Teil betrifft dies Spiele, die ohne Spielsachen stattfinden wie etwa das BlindeKuh-Spiel. Andererseits zeigen Autor und Illustrator Spiele, die nicht ohne Spielgut auskommen können wie etwa das Drachen steigen lassen, das Kreiselspiel, die Schnellkugeln oder auch das Puppenspiel. Diese setzt Chodowiecki auf den beiden Tafeln Tab. V »Von Spielen und Vergnügungen« sowie Tab. VI »Ein Mädchen von acht Jahren liest oder spricht« folgendermaßen zusammen: Die Tafel V zeigt auf dem ersten Viertel vier Jungen beim Grenadierspiel. Dazu tragen sie Uniformen, einer von Ihnen eine Trommel, einer einen Stock wie ein Gewehr über der Schulter und ein weiterer schießt mit dem Bogen. Der fünfte Knabe auf der Grafik steht mit verschränkten Armen vor der Gruppe. Er beaufsichtigt sie in seiner Rolle als ›Hilfskind‹ oder ›Aufsetzer‹ und fungiert als kindlicher Stellvertreter des erwachsenen Erziehers. Im Bildvordergrund spielen zwei Mädchen Kegeln. Basedow schreibt hierzu: »Diese Jungfern spielen Kegel. Dabei sollten sie nicht so geputzt sein und keine so lange Schleppe haben. […] Das Spiel ist gesund und befördert die Geschicklichkeit der Glieder […] Die Kinder vergnügen sich, im Spielen das nachzumachen, was sie an Erwachsenen sehen, wenn sie auch nicht wissen, warum dieses oder jenes zu geschehen pflegt.«2 Die Szene auf dem benachbarten Viertel findet in einem Innenhof statt. Chodowiecki zeigt Kinder unterschiedlichen Alters, die schaukeln, Stecken- und Schaukelpferd reiten sowie sich gegenseitig mit dem Bollerwagen ziehen. Basedow weist in seinem Text darauf hin, dass die größeren auf die kleineren Kinder achten und ihnen behilflich sein sollen.3 Ebenfalls in einem Innenhof zeigt Chodowiecki auf dem dritten Viertel eine tanzende Gruppe von Mädchen und Jungen. Basedow kritisiert das Verhalten des Mädchens am linken Bildrand, welches seinen Fuß in eine unschickliche Höhe hebe, da dadurch der Rocksaum zurückrutsche und den Blick auf ihren Fuß freigebe.4 Auf dem letzten Viertel der Tafel zeigt Chodowiecki vier Mädchen beim Puppenspiel. Der Text Basedows weist darauf hin, dass die Kinder auf dem Tabourett keinen Tee oder Kaffee zu stehen haben sollen. Zusätzlich fordert er sie dazu auf, sich bei dem Umgang mit den Puppenkleidern am erwachsenen Vorbild zu orientieren, damit sie später der Mutter oder Amme beim Anziehen der kleineren Kinder helfen könnten.5 2

Johann Bernhard Basedow: Des Elementarwerks erster bis vierter Band. Ein geordneter Vorrath aller nöthigen Erkenntniß. Zum Unterrichte der Jugend, von Anfang, bis ins academische Alter zur Belehrung der Eltern, Schullehrer und Hofmeister, zum Nutzen eines jeden Lesers, die Erkenntniß zu vervollkommnen; in Verbindung mit einer Sammlung von Kupferstichen, und mit französischer und lateinischer Übersetzung dieses Werkes. Bd. 1. Dessau 1774, S. 131. 3 Vgl. ebd., S. 132. 4 Vgl. ebd., S. 132f. 5 Vgl. ebd., S. 133.

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Das zweite Tableau setzt diese Reihe fort und zeigt Mädchen beim Besuchsspiel innerhalb eines Interieurs. Einige der Mädchen sind bereits eingetroffen. Die Gastgeberin begrüßt die zuletzt dazugekommene Besucherin mit der Feder im Haar. Im korrespondierenden Text erfragt Basedow den Wissensstand der Kinder über die Umgangsformen während einer Begrüßung. Des Weiteren kritisiert er die zu lange Schleppe des zuletzt angekommenen Mädchens.6 Das Blinde-Kuh-Spiel im Garten ist das Thema des benachbarten Viertels. Basedow appelliert an das Kind, welches die Augen verbunden hat, so aufrichtig zu sein, dass es wirklich nichts sieht. Im Anschluss kritisiert er die Mitspieler, da das Mädchen durch ihre Neckereien zu Fall gebracht werden könne.7 Auf dem nächsten Viertel zeigt Chodowiecki auf freiem Feld sechs Jungen auf dem Lande, die in ihr jeweiliges Spiel vertieft sind. Sie treiben den Reifen, spielen mit Schnellkugeln, dem Brummkreisel, dem Kreisel und lassen den Drachen steigen. Eines der Kinder, das dritte von links, fungiert – wie auf dem ersten Viertel der Tafel V – als ›Hilfskind‹. Auf dieser Illustration vereinigt Chodowiecki mehrere Spiele mit Spielsachen, er stellt die Kinder jedoch isoliert beim jeweiligen Spiel vor. Thema der Illustration ist unter anderem die Veranschaulichung physikalischer Gesetzmäßigkeiten: Der Autor nennt den Papierdrachen, den die bewegte Luft in der Höhe hält und erklärt, wie er durch den Drachenschweif Stabilität erhalte.8 Auf dem vierten Viertel der Tafel VI zeigt Chodowiecki in einer Federballhalle zwei Paare, die miteinander Federball beziehungsweise Ball spielen. Basedow nutzt die Beschreibung der Spiele, um an ihnen die Schnell- und Federkraft zu erläutern. Gleichzeitig weist er auf die Bewegung des Körpers als Ausgleich zum Stillsitzen beim Lernen hin.9 Das Einbeziehen des Körpers stellt ein Novum in der philanthropen Erziehung der Kinder dar, das nachhaltig Eingang in die Vermittlung der Schulen bis heute findet.

Die pädagogische Funktion der Spiele Basedow verwendet das Spiel mit und ohne Spielzeug als Medium, um dem Kind spielerisch das gewünschte Lernziel des korrekten Verhaltens in der Gesellschaft in unterschiedlichen Situationen zu vermitteln. Didaktisch distanziert er sich von der katechetischen Methode, die Kinder auswendig lernen zu lassen. Stattdessen erfolgt die Vermittlung durch Anschauungsobjekte und Erlebnisräume. Das Spiel ermöglicht dem Kind – trotz der gelenkten Rahmensituation durch den Erzieher – sich den 6 7 8 9

Vgl. ebd., S. 134f. Vgl. ebd., S. 135. Vgl. ebd., S. 136. Vgl. ebd., S. 138.

Das Spiel als Medium der Verhaltenskodierung bei Chodowiecki

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Lerninhalt in einer Situation empirisch anzueignen. Dazu intendiert Basedow, »alles nötige Gedächtniswerk der Historie, Geographie, Grammatik, der Rechenkunst usw. in Spiele«10 zu verwandeln. Die Aufgabe des Erziehers liege darin, die Spiele bis zum Jugendalter auszuwählen, die »nützlich seyn können, gewisse Fertigkeiten des Körpers, gewisse Begriffe des Verstandes und die Erleichterung künftiger Tugenden zu befördern«.11 Dies unterstützen die dargestellten Spiele der beiden Tafeln V und VI.

Abb.2: Daniel Nikolaus Chodowiecki. Tafel VI ›Ein Mädchen von acht Jahren liest oder spricht‹ (ca. 1774) zu J. B. Basedows Elementarwerk (Dessau, 1774). Kupferstich. 16,3 x 21,3 cm. Bildunterschrift links: ›D. Chodowiecki del.‹ Bildunterschrift Mitte: ›Tab. VI.‹ Bildunterschrift rechts: ›Schleuen fc.‹ Aus: Fritzsch, Theodor (Hrsg.): J. B. Basedows Elementarwerk: mit den Kupfertafeln Chodowiekkis u.a. Kritische Bearbeitung in drei Bänden. Bd. 3, Leipzig 1909. Bibl. Nachweis: Privatbesitz der Autorin. Zu den Bildrechten: Fotografie, Privatbesitz der Autorin 10

Johann Bernhard Basedow: Das in Dessau errichtete Philanthropinum, eine Schule der Menschenfreundschaft und guter Kenntnisse für Lernende und junge Lehrer, Arme und Reiche; ein Fidei-Kommiß des Publikums, zur Vervollkommnung des Erziehungswesens aller Orten nach dem Plane des Elementarwerkes. Den Erforschern und Tätern des Guten unter Fürsten, menschenfreundlichen Gesellschaften und Privatpersonen empfohlen von J. B. Basedow. Leipzig 1774, S. 13 ff. 11 Basedow: Elementarwerk (wie Anm. 2). Bd. 1, S. 48.

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Sie unterteilen sich – wie bereits erwähnt – in zwei Gruppen: Zu den Spielen mit Spielsachen gehören das Grenadier- und das Puppenspiel, das Kegeln, das Spiel mit den Schnellkugeln, dem Kreisel und Brummkreisel, das Drachen steigen lassen, Reifen treiben, das Schaukeln, Bollerwagen ziehen, Stecken- und Schaukelpferd reiten sowie Ball- und Federballspiel. Der Tanz, das Blinde-Kuh- und das Besuchsspiel kommen ohne Spielsachen aus. Basedow und Chodowiecki thematisieren auf beiden Tafeln unterschiedliche Kinderspiele, die als Lernspiele dienen und sich in Rollen- und Bewegungsspiele sowie Spiele zur Einübung von Sozialverhalten aufteilen. Basedow stellt durch das Rollenspiel geschlechtsspezifische Verhaltensweisen mit Nachahmungsappell vor. Dabei dominiert die Darstellung von weiblichem Rollenverhalten – durch das Puppenspiel ist die Mutterrolle sowie beim Besuchsspiel das Verhalten als Hausherrin und Gastgeberin vorgegeben. Das männliche Rollenverhalten stellen Basedow und Chodowiecki singulär durch das Grenadierspiel vor. Zu den Bewegungsspielen gehören hauptsächlich Darstellungen, welche in der Natur stattfinden, wie das Kegelspiel der Mädchen, der Tanz, das Blinde-Kuh-Spiel, die Spiele mit dem Kreisel, dem Reifen und dem Drachen auf dem dritten Viertel der Tafel VI sowie das Ball- und Federballspiel in der Federballhalle. Zur Förderung des Sozialverhaltens zeigt Chodowiecki auf dem zweiten Viertel der Tafel V verschiedene Spiele der Kinder unterschiedlichen Alters im Innenhof sowie das Blinde-Kuh-Spiel auf dem zweiten Viertel der Tafel VI. Während beim ersteren die größeren Kinder auf die kleineren achten und ihnen behilflich sein sollen wie etwa beim Schwung holen des schaukelnden Kindes oder bei dem Kind im Bollerwagen, das von einem älteren Kind gezogen wird, appelliert Basedow beim BlindeKuh-Spiel an das Sozialverhalten der Mitspieler, das Mädchen mit den verbunden Augen nicht so zu ärgern, dass es zu Fall kommt. Des Weiteren zählen das sittsame Verhalten gegenüber dem anderen Geschlecht beim Tanz und die Umgangsformen im Rahmen des Besuchsspiels dazu. Bereits John Locke plädiert dafür, »that Learning might be made a Play«12. Auf diese Weise werde das Kind ein Verlangen entwickeln, unterrichtet zu werden. Alles, was die Kinder tun, zu vergnüglichem Spiel und Kurzweil zu machen, bildet auch die Grundlage für Basedows Spielkonzept. Für ihn ist es Ziel des Spiels, auf unterhaltsame Weise zu unterrichten. Die Aufgabe des Erziehers innerhalb der Spiele sieht Basedow in der richtigen Anleitung, damit gesichert ist, »daß die Kinder so viel als möglich, auch in den Stunden ihrer Ergötzungen etwas Nützliches lernen […] Es ist also möglich, fast alle ihre Spiele lehrreich einzurichten, ohne ihnen die Lust daran zu benehmen.«13 Dies gilt sowohl für das reale Spiel der Kinder als auch die 12 13

John Locke: Some thoughts concerning education. London 1693, S. 176. Johann Bernhard Basedow: Vorstellung an Menschenfreunde und vermögende Männer über

Das Spiel als Medium der Verhaltenskodierung bei Chodowiecki

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Kinderspielmotive Chodowieckis, die als Anschauungsobjekt ergänzenden Charakter haben. Innerhalb der genannten Spielmotive setzt Basedow den Akzent auf das positiv konnotierte Vorbild, welches das Kind nachahmen soll. Andererseits versieht er einige der Spiele mit Ermahnungen. Diese fungieren als Negativbeispiele und somit als Verbote. Dadurch bleibt gewährleistet, dass das Kind durch das Positiv- und Negativpaar den Unterschied zwischen vorbildhaftem Verhalten und dessen Gegenteil zu unterscheiden lernt.

Das Motiv der Spielsachen und Luxusgüter auf den Tafeln V und VI Spielsachen finden sich in fast jeder Einzelszene und zeigen dem Bild betrachtenden Kind den Umgang mit dem entsprechenden Spielobjekt. Die Grafik ist somit auch implizit eine visuelle Spielanleitung, die den Text Basedows ergänzt. Dabei stellt Chodowiecki primär bürgerliche Kinder dar. Das erste Viertel der Tafel VI dagegen zeigt Mädchen beim Besuchsspiel, die eine Garderobe tragen, die der Kleidung adeliger Damen entspricht. Basedow rügt im Text die »furchtbare[…] Schleppe«14 des Mädchens mit der Feder im Haar. Die Aussage bedeutet zudem eine deutliche Abgrenzung vom Adel, die sich exemplarisch im Spiel äußert und dem Kind nicht erlaubt, adeliges Verhalten und Kleiden im Spiel nachzuahmen, da dies in der philanthropen Pädagogik keine Vorbildfunktion hat. Zugleich weist Basedow in seiner Kritik auf die Notwendigkeit hin, dass die Kleidung bequem sein solle und Bewegungsfreiheit erlaube, da dies gesund sei. Luxusgüter nennt Basedow demnach nicht explizit, sie finden sich dennoch innerhalb der Grafik in Verbindung mit der weiblichen Bekleidung. Im Gegensatz dazu finden Spielsachen wie etwa Reifen, Drachen, Kreisel oder Puppen als pädagogisches Instrument und als Bildmotiv vielseitig Verwendung. Exemplarisch seien zwei Beispiele von Spielzeugtypen aus dem Bildverband herausgegriffen: Das zweite Viertel der Tafel V zeigt das Schaukelpferd reiten, Bollerwagen ziehen und Schaukeln. Das gemeinsame Spiel zielt darauf ab, dass die größeren Kinder im Spiel auf die kleineren achten sollen und ihnen bei Bedarf behilflich sind. Als verbindendes Element fungiert das Spielzeug, das an die Aufmerksamkeit und Hilfsbereitschaft der größeren Kinder appelliert. Chodowieckis Illustration verdeutlicht diesen Aspekt, indem beim Schaukeln und beim Bollerwagen zwei Kinder sich dem gleichen Spielzeug zuwenden. Dabei unterstützt das ältere jeweils das jüngere Kind. Der Zweck des Schaukelpferdes ist nur unter Hinzunahme von Basedows Text Schulen, Studien und ihren Einfluss in die öffentliche Wohlfahrt. Mit einem Plane eines Elementarbuchs der menschlichen Erkenntnis. Hamburg 1768, S. 121ff. 14 Basedow: Elementarwerk (wie Anm. 2). Bd. 1, S. 134.

10. Sektion · Jasmin Schäfer

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ersichtlich. Der Autor kündigt ein solches als Belohnung an für »zehn gute Dinge«, aber »nicht [zum eigenen] Gebrauch, […] sondern […] um es zu verleihen. Dann kann [das größere Kind seinem] jüngeren Bruder […] oftmals einen Gefallen dadurch tun.«15 Dieses Beispiel verdeutlicht in besonderem Maße, dass Basedow dem Spielzeug keinen unabhängigen Spielwert zuweist, sondern es als Vermittlungsmedium seiner pädagogischen Absichten dient. Das dritte Viertel der Tafel VI zeigt eine summarische Darstellung der Spiele mit Spielsachen. Basedow nennt fünf Spiele, die Chodowiecki innerhalb des Querformates nebeneinander setzt. Dabei ist jedes der spielenden Kinder in sein eigenes Spiel vertieft und auf sein Spielobjekt bezogen. Da Basedow fünf Spielvarianten für dieses Viertel vorsieht, fällt Chodowieckis Verteilung der Kinderfiguren im Bild entsprechend dicht aus; der Bewegungsraum ist reduziert. Zugleich sind sie alle auf den Betrachter ausgerichtet, so dass dieser den von Basedow im Text beschriebenen Umgang zum Beispiel mit dem Kreisel oder dem Drachen einsehen kann. In der Kunstgeschichte existieren besonders in der Emblemkunst diverse Darstellungen kindlichen Spiels, die ihrerseits nicht ein reales Abbild dessen zeigen, sondern als Sinnbild des ersten Lebensabschnittes fungieren oder moralisierende, erzieherische Absichten verfolgen. Eine inhaltliche Verbindung zu Chodowieckis Kupferstichen besteht in der erzieherischen Absicht. Die Kinderspieldarstellungen zeigen Exempel kindlichen Spiels. Es dient als Nachahmungsmotiv für Verhalten sowie als Verbot und wendet sich direkt an das Kind. Hinzu treten weitere Erziehungsziele wie etwa in dem dritten Bildviertel der Tafel VI: Chodowiecki visualisiert über den Umgang mit dem Spielgut dessen Funktionieren. In der bildlichen Vermittlung fungiert es nicht mehr nur als Attribut, sondern als Anschauungs- und Lernobjekt, um zum Verständnis physikalischer Gesetze beizutragen. Auffallend ist, dass Chodowiecki die einzelnen Spieldarstellungen auf den beiden Tableaus jeweils in sich abgeschlossen und isoliert zeigt. Dabei finden die Spiele jeweils in einem geschützten Raum statt: entweder einem Innenraum, dem Innenhof oder bei den Naturszenen mit umgebender Hecke, Mauer oder Zaun. Chodowiecki inszeniert die spielenden Kinder jeweils ohne weitere Nebenfiguren, die das Spiel stören oder die Kinder ablenken könnten. Er zeigt keine überflüssigen Bildinformationen, sodass die Szenen konzentrierter und eindringlicher wirken. Zusammenfassend lässt sich anhand der beiden vorgestellten Tafeln aus Basedows Elementarwerk zeigen, dass das Motiv des Spiels nicht als Darstellung der kindlichen Spielwelt dient. Auf der Grundlage von Lockes Aussage, dass das Lernen ein Spiel sein solle, fungiert es inhaltlich und funktional als Vermittlungsmedium für Basedows Erziehungsziel der Verhaltenskodierung. Basedow richtet die Spiele lehrreich ein, ohne dem Kind die Lust daran nehmen zu wollen. Auf dieser Basis entstehen 15

Ebd., S. 132.

Das Spiel als Medium der Verhaltenskodierung bei Chodowiecki

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die Spielmotive der Tafel V und VI des Elementarwerkes. Das jeweilige grafisch vorgestellte Spielmotiv ist mit einem gesellschaftsrelevanten Tugendmotiv verbunden. Diese betreffen das Rollenverhalten, die Bewegung und das Sozialverhalten gegenüber Jüngeren und Schwächeren. Auffallend ist, dass die Einzelszenen positive und negative Verhaltensbeispiele vorstellen. Dies trifft sowohl auf die Spiele mit als auch auf die ohne Spielsachen zu, die Basedow und Chodowiecki in den Kontext des jeweiligen Erziehungszieles stellen. Während die Spielsachen in fast allen Einzelszenen vorkommen, tritt das Luxusgut dahinter zurück. Dies verbindet Basedow weniger mit dem Spielgut, sondern verweist in dem Motiv der Kleidung, die Chodowiecki durch die Schleppen der Mädchen beim Kegeln und beim Besuchsspiel zeigt, auf adeligen Kleidungsstil. Da sich das Bürgertum vom adeligen Lebens- und Kleidungsstil absetzen möchte, ist dieser Aspekt auch im Elementarwerk negativ konnotiert. Chodowiecki setzt die Spielmotive eng an Basedows Textvorgabe in zwei Bildtableaus zusammen, die aus jeweils vier Einzelszenen bestehen. Die Kinderspielmotive stehen motivisch in der Tradition der Emblemgrafiken. Deren erzieherischen, moralisierenden Appell übernimmt Chodowiecki bei der Gestaltung der Spielmotive, die sich – anders als in der Emblemkunst – primär an Kinder- und Jugendliche wendet. Durch die grafische Darstellung vom Kinderspiel vermittelt er den Kindern anschaulich Basedows Lernziele durch ein ihnen vertrautes Medium. Auf diese Weise sozialisieren Chodowieckis Kinderspielmotive das Kind und geben Verhaltensmuster vor.

Personenverzeichnis

Abbas Ibn Firnas 504 Abeken, Bernhard Rudolf 21 Acier, Michel Victor 378 Ackermann, Astrid 590 Acton, Edward 191 Adamowsky, Natascha 63, 237 Addison, Joseph 374, 375 Adelung, Johann Christoph 111, 389, 587 Adler, Hans 116, 222 Adorno, Theodor W. 141 Agethen, Manfred 171 Ajello, Raffaele 459 Albani, Alessandro 320 Alberti, Leon Battista 402 Albertus Magnus 55 Alder, Ken 431 Alexander der Große 53 Alexander VI. 180 Alff, Wilhelm 42 Alighieri, Dante 54 Alkibiades 310 Allroggen-Bedel, Agnes 320 Alpers, Klaus 302, 303 Alt, Peter-André 72 Altmann, Götz 452 Altmayer, Claus 97, 109 Amelung, Heinz 143 Ananieva, Anna 365, 381, 385, 389–401 Andraschke, Udo 470 André, Christian Carl 468, 496 Andreae, Almut 312 Andrews, Malcolm 60 Angelis, Simone de 194, 195 Angiolini, Carlo 36 Angiolini, Franco 458 Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eise-

nach (geb. von Braunschweig-Wolfenbüttel) 457, 508 Antonius, Marcus 306 Apel, Friedmar 425 Appenzeller, Johann Conrad 517 Appleby, Joyce 577, 578 Aquin, Thomas von 9 Aristophanes 393 Aristoteles 3, 5, 8–10, 13, 19, 27, 30, 33, 35, 53, 55, 56, 58, 101–104, 130, 141, 147, 220, 245, 248–250, 258, 389, 449, 566 Arnaud, François 188 Arnauld, Antoine 41 Arndt, Hans Werner 113 Arndt, Hugo 292 Arnold, Claus 178 Arnold, Günter 277, 440, 464 Ascelin, Nicolas 58 Asch, Georg Thomas von 473, 475 Asendorf, Manfred 171 Asman, Carrie 403 Äsop 124, 130 Aspasia 150–152 Assmann, Aleida XVI, 363 Assmann, Jan 301 Astruc, Jean 188 Augustinus von Hippo 157 Augustus, Gaius Octavianus 306 Averani, Giuseppe 458, 459, 461 Averroes 55, 221 Avicenna 55 Ayrer, Henriette 335 Babbage, Charles 34 Bacher, Jutta 452 Backmann, Sybille 159 Bacon, Francis 95, 197, 531, 532

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Personenregister

Bacon, Roger 55, 57, 58 Badea, Andreea 180, 183 Badelt, Brigitte 584 Bahr, Petra 134 Bahrdt, Carl Friedrich 174, 177 Baker, George R.F. 460 Baldini, Ugo 459 Bamberg, Claudia 365, 380–388, 390 Bandelli, Gino 320 Bandini, Sallustio 460, 461 Banier, Antoine 312 Banks, Joseph 196–206 Barbanera, Marcello 323 Barbeyrac, Jean 45 Barck, Karlheinz 579 Baron, Konstanze 580, 592–605 Barthelemy, Jean-Jacques 323 Bartholin, Thomas 529 Basedow, Johann Bernhard 582, 627–635 Batscha, Zwi 211, 213 Bätschmann, Oskar 402 Batteux, Charles 282 Battista, Giovanni 178 Baudrillard, Jean 3–6, 11, 35 Bauer, Andreas 462 Bauer, Günther Georg 590 Baum, Constanze 450 Baumann, Alfred 508 Baumann, Uwe 157 Baumgarten, Alexander Gottlieb XXII, 81, 106, 107, 118, 123, 134, 219, 227, 229, 317, 539, 552, 557 Baumgartner, Michael 438 Bausch, Johann Laurentius 528–530 Baxmann, Inge 135 Baxmann-Kraft, Eva-Maria 620 Bayle, Pierre 182 Beauvais, Vincent de 55, 58 Becagli, Vieri 458 Beck, Hanno 67 Beck, Lewis White 208 Becker, Christoph 483

Becker, Kurt W. 135, 136 Becker, Peter 86 Becker-Cantarino, Barbara 382 Beer, Günther 473 Beetz, Manfred 95, 102 Behr, Michael 580 Behrens, Rudolf 532, 545 Beiser, Frederick C. 213, 215 Beisiegel, Ulrike 473 Bell, Andreas 294 Belletête, Jean-Jacques 191 Bellori, Giovanni Pietro 322 Bender, Wolfgang 116 Beneke, Georg Friedrich 475 Benedikt XIV. 178, 181 Benjamin, Walter 123, 141, 309, 421, 615, 620 Benthien, Claudia 225, 309 Ben-Tov, Asaph 301 Benz, Ernst 310 Berend, Eduard 406 Berengo, Marino 459 Berg, Maxine 591 Berg, Wieland 526, 529 Berger, Ursel 301 Berhold, Heinz 320 Bering, Kunibert 260 Berkeley, George 211 Bernd, Adam 277, 571 Berndt, Frauke XIII–XXVI, 344 Bernhard, Marianne 377 Bernoulli, Daniel 28, 43, 44, 188 Bernoulli, Jakob 41–43 Bernoulli, Johann 300 Bertholon, François 440–443 Berti, Luciano 458 Bertsch, Markus 406 Bertuch, Justin 589 Beschefer, Dorothea von 480 Bessel, Friedrich Wilhelm 435 Besser, Johann von 370 Besson, Jacques 450, 454

Personenregister Beyer, Andreas 407 Beyer, Matthias 453 Bezold, Raimund 570 Bielfeld, Jacob Friedrich von 23–25 Bierling, Caspar Gottlieb 551 Biesler, Jörg 357 Biester, Johann Erich 175 Bilstein, Johannes 260 Binninger, Johann Nikolaus 551 Binswanger, Hans Christoph 13, 29 Birke, Joachim 256 Birus, Hendrik 422 Bisky, Jens 350, 351, 354, 355, 358 Blagden, Charles 200 Blair, Ann 527 Blanchard, Jean Pierre 469, 498, 504 Blanckenburg, Friedrich von 142 Blankaart, Steven 548, 551 Blaufus, Jacob Wilhelm 148, 151–154 Bloch, Ernst 54 Blumenbach, Johann Friedrich 470, 472– 474, 476, 477 Blumenberg, Carolin 83, 129–137 Blumenberg, Hans 54, 103 Boccaccio, Giovanni 149 Bock, Gisela 149 Bock, Michael 158 Bockel, Rolf von 171 Böckler, Georg Andreas 450, 451, 455 Bode, Johann Joachim 171 Bodin, Jean 527 Bodmer, Johann Jacob 221, 377 Boerhave, Herman 374, 548, 550 Boethius, Anicius Manlius Severinus 281 Bogner, Ralf Georg 86, 87 Böhme, Hartmut XVII, XX, XXI, 51–77, 135, 259, 260, 268, 365 Böhmer, Sebastian 410 Bohnenkamp, Anne 269 Böhr, Christoph 97 Boie, Heinrich Christian 612 Boileau, Nicolas 370, 371

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Boisserée, Sulpiz 350 Bollacher, Martin 440 Bölling, Jörg 182, 183 Bolten, Johann Christian 552 Bonanni, Filippo 181 Bonaparte, Jerôme 474 Bonaparte, Napoleon 67, 181, 427, 500, 503 Bondeli, Julie 380, 386 Bonelli, Lucia Conenna 460 Bonet, Théophile 548, 551 Bonifacio, Paola 320 Borbein, Adolf Heinrich 320, 324 Borchers, Stefan 523, 552–559 Borchling, Conrad 615 Bordeu, Théophile de 188 Borel, Pierre 548–550 Borgards, Roland 437 Born, Friedrich August 294, 298 Bösch, Franz 378 Bose, Georg Matthias 444 Bote, Hermann 302 Bottom, Nick 201 Boufflers, Amélie de 187 Bougainville, Louis Antoine de 66 Bouhours, Dominique 317 Boulanger, Nicolas-Antoine 301 Bourdieu, Pierre 3, 30 Boxhorn, Marcus Zuerius 310 Boyer, Jean-Baptiste Nicolas 188 Boyle, Robert 193–195, 204 Boysen, Peter Adolph 163, 166 Bradley, James 432, 433 Bradshaw, Peter 373 Brady Jr., Thomas A. 308 Brain, Robert Michael 434 Branca, Giovanni 450 Brandis, Joachim Dietrich 441 Brandstetter, Gabriele 403 Brandt, Claudia XV Brandt, Reinhardt 211, 587 Brant, Sebastian 303

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Personenregister

Brattig, Patricia 375 Breidbach, Olaf XXIV, 431–436, 541, 547 Breithaupt, Fritz 403 Breitinger, Johann Jakob 82, 83, 112, 116–119, 221, 377 Bremer, Kai 158, 159, 290 Brentano, Clemens 143 Brockhaus, Friedrich Arnold 36, 37 Brokoff, Jürgen 318, 341–349 Brommer, Frank 302 Brown, Stuart 211 Bruce, Thomas 485 Brückner, Shirley XV Brun, Friederike 513–517 Bruning, Jens 301 Brunn, Friedrich Leopold 322 Brunner, Horst 301 Buchenau, Arthur 113 Buchheim, Gisela 449, 453 Buchholz, Friedrich 215, 452 Büchner, Andreas Elias 524, 560, 561, 564 Buck, Günther 113 Buffier, Claude 493 Buffon, George-Louis Marie Leclerc de 44, 485 Bungarten, Gisela 375 Buondelmonti, Giuseppe Maria 459 Burckard, Johannes 180 Burckhardt, Johann Heinrich 304 Bürger, Gottfried August 480 Bürgi, Andreas 506, 508, 512, 514, 516, 517 Bürgi, Jost 482 Burke, Edmund 42 Busch, Werner 422 Busch, Wilhelm 257 Butler, Samuel 199 Büttner, Christian Wilhelm 476 Cabrolius, Bartholomaeus 548, 549 Caesar, Gaius Julius 302, 304 Cahn, Michael 278

Caillois, Roger 38, 615, 619, 625 Cajetan, Thomas 178 Campe, Joachim Heinrich 490 Campe, Rüdiger 41, 117, 123 Camper, Petrus 485 Cancellieri, Francesco 181, 182 Canguilhem, Georges 93 Canitz, Friedrich Rudolph Ludwig von 369–371 Cantarutti, Giulia 320 Cantvel, André 188–190 Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach 508 Carl, Ernst Ludwig 23 Cartelier, Jean 16 Casanova, Giacomo 36, 37, 50 Cassirer, Ernst 101, 259 Catalani, Giuseppe 182, 183 Catalano, Gabriella 317, 320–328, 411 Cato, Marcus Porcius Uticensis 147 Catull 324 Cavaceppi, Bartolomeo 323 Caylus, Anne Claude Philippe de 322 Chais, Charles 186, 188, 190 Chaucer, Geoffrey 373 Chladenius, Johann Martin 81 Chodowiecki, Daniel Nikolaus 318, 329, 330, 333–340, 582, 611, 627–635 Christes, Johannes 76 Christine de Pisan 149 Christian VII. von Dänemark 477 Cicero, Marcus Tullius 55, 57, 76, 88, 99, 101, 102, 116, 147 Clark, Henry C. 608, 610 Clark, William 86 Clausner, Jakob Josef 514 Clemens XI. 178 Clifford, George 306 Coenen, Hans Georg 87 Cohen, Robert Sonné 434 Cohen, I. Bernhard 432 Colbert, Jean-Baptiste 17, 24, 609, 610

Personenregister Collet, Dominik 467, 470–478 Colli, Giorgio 71, 426 Collins, Georg Ludwig 250 Comenius, Johann Amos 495 Condillac, Étienne Bonnot de 610 Condorcet, Marie-Jean-Antoine-Nicolas Caritat de 42, 49, 92 Conrad, Gerhield 302 Contarini, Gasparo 178 Cook, Harold J. 306 Cook, James 196, 201, 473, 475–477, 501, 507 Cordes, Gerhard 615 Corr, Charles A. 115 Corvinus, Gottlieb Siegmund 147 Cosimo III. de’ Medici 458 Cosmas Indicopleustes 53 Cotta, Johann Friedrich 60 Cotta, Johann Georg 75, 76 Coxe, William 510 Crocker, Lester G. 604 Crome, August Friedrich Wilhelm 464 Cuvier, Georges 90 Czartoryski, Adam-Georges 594 Czartoryski, Isabela 485 D’Abrantès, Laure 401 D’Ailly, Piere 53, 55, 56, 58 D’Alconzo, Paola 323 D’Alembert, Jean Le Rond XIX, XX, 19, 41, 44, 50, 92, 189, 317 D’Holbach, Paul Henri Thiry 189 Dacier, Anne 84, 152, 154, 373 Danneberg, Lutz 103, 227 Darly, Matthew 200, 201 Darnton, Robert XIX Dartmann, Christoph 158 Darwin, Charles 51, 206 Daston, Lorraine 42, 45, 89, 193, 433, 525, 531, 537 Daumas, Maurice 432 Daunicht, Richard 48

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Dawson, Aileen 373 De Gerson, Jean Charlier 53, 55 De Man, Paul 123 De Piles, Roger 607, 609 De Soria, Giovanni Gualberto 459 De Vries, Jan 591 Debus, Friedhelm 615 Décultot, Elisabeth 363 Defoe, Daniel 39, 43 Delambre, Jean-Baptiste 431 Delon, Michel 37 Delpiano, Patrizia 184 Dembeck, Till 562 Demokrit 373 Demosthenes 147, 148, 376 Denis, Henri 16 Denk, Wolfgang 508 Descartes, René 94, 102, 113, 114, 142, 145, 244, 439–441, 555 Dézoteux, François 191 Diamond, Jared 73 Diderot, Denis XIX, 19, 41, 44, 102, 105, 188, 189, 317, 374, 579, 580, 583, 592–605, 607, 611 Dieckmann, Herbert 592, 596 Dietze, Walter 312 Dietzsch, Steffen 260 Dilthey, Wilhelm 145 Dinges, Martin 158 Diocletianus, Gaius Aurelius Valerius 76 Diodorus (Siculus) 55, 56 Diogenes von Sinope 593, 598 Dionysius von Halikarnass 343 Dithmar, Justus Christoph 20 Dobbek, Wilhelm 464 Döderlein, Johann Christoph 176 Doeltz, Friedrich 473 Dohm, Christian Wilhelm 612 Dolezel, Eva XV Donatus, Marcellus 551 Doormann, Frans 480, 481 Döring, Detlef 526

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Personenregister

Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 48 Dougherty, Frank William Peter 472, 475 Drexel, Jeremias 94 Drügh, Heinz 3 Dryden, John 375 Dubos, Jean Baptiste 277, 317, 607 Ducret, Siegfried 375 Duncan, David Ewing 69 Dunker, Balthasar Anton 509 Duns Scotus, Johannes 58, 220, 222 Dupaty, Charles 463 Dürer, Albrecht 482 Dürr, Renate 480 Dusaulx, Jean-Joseph 45–47 Dyk, Johann Gottfried 612 Ebel, Wilhelm 475 Ebeling, Gerhard 555 Eberhard, Johann August 244 Eberstein, Wilhelm Ludwig Gottlob von 98, 99, 110 Ebert, Johann Arnold 376 Ebert, Johann Jakob 272, 296 Eberti, Johann Caspar 147, 149 Eccard, Johann Georg 304 Echterhölter, Anna 82, 85–96 Ecker, Hans-Peter 541, 570 Eckhardt, Georg 541, 570 Edrisi, Scherif 55 Eggers, Johanna von 513 Ehlers, Martin 214 Eibl, Karl 379 Eichenberg, Ariane 363 Eichhorn, Johann Gottfried 313 Elisabeth von Thüringen 380 Ellinger, Johann 585 Elmer of Malmesbury 504 Emden, Christian J. 553 Engel, Gisela 521, 522 Engel, Johann Jacob 98 Engelen, Eva-Maria 243 Engelhardt, Dietrich von 527, 530

Engelhardt, Wolf von 43 Engels, Hans-Werner 171 Epikur 15 Erasmus von Rotterdam 130, 308, 373 Eriksson, Magnus 157 Erler, Gotthard 368 Ernesti, Johann August 98, 105, 106 Ernst, Wolfgang 279, 280 Erxleben, Johann Christian Polycarp 486 Eschenburg, Johann Joachim 376 Esselborn, Hans 567 Ette, Otmar 52, 59, 75 Euklid 293, 296, 297 Euler, Leonhard 287 Ewald, Johann Ludwig XIII, 589, 590 Eybl, Franz M. 88 Fabbroni, Giovanni 461 Fabricius, Johann Andreas 86, 104, 151 Facius, Georg Siegmung 329 Falk, Johannes Daniel 293 Fara, Patricia 205 Faraday, Michael 435 Faulstich, Werner 276 Fea, Carlo 320, 321 Fecht, Johann 166, 167 Feder, Johann Georg Heinrich 208, 211–214 Fehr, Johann Michael 530 Feingold, Mordechai 194 Felfe, Robert 63 Félibien, André 607 Fénelon, François 274 Ferdinando, Epiphanio 563, 564, 567 Ferguson, Adam 208 Fermat, Pierre de 40 Fernow, Carl Ludwig 321, 427 Ferrari, Stefano 320 Ferrone, Vincenzo 458, 459 Feuchtersleben, Eduard von 484 Feyerabend, Sigmund 579, 584 Fichte, Johann Gottlieb 213, 446

Personenregister Filippi, Paola Maria 320 Fink, Gonthier-Louis 586 Finsterbusch, Edgar 452 Fiorillo, Vanda 459 Firpo, Massimo 180 Fischer, Johann Heinrich 486 Fix, Ulla 102, 147 Flasch, Kurt 157 Flaxmann, John 328 Fleury, Jean Omer Joly de 185, 190 Folz, Hans 585 Fontane, Theodor 261, 262, 368, 369, 373 Fontenelle, Bernard le Bovier de 92–94 Formagliari, Alessandro 180 Forrester, John 521, 545 Forster, Georg 59, 66, 171, 172, 318, 319, 350–360, 473, 477, 479, 486, 488 Forster-Hahn, Franziska 331, 340 Fosse, Jean La 189 Foucault, Michel 560, 562, 573 Fox, George 330 France, Peter 102 Francke, August Hermann 303, 450 Francke, Otto 292 Frank, Michael C. XV Franke, Karl Heinz 292 Franke, Thomas 553 Franklin, Benjamin 445 Fraser, Kevin J. 199 Frawenlob, Johann 147, 149 Frederick August von Großbritannien 485 Frenzel, Franz Christoph 293 Fréret, Nicolas 312 Freud, Michael 585 Frey, Christiane 524, 560–573 Frey, Dagobert 336 Frey, Gerhard 457 Fricke, Gerhard 256 Friedlein, Godofredus 281 Friedrich August I. von Sachsen (August der Starke) 616

643

Friedrich II. von Hessen-Kassel 468, 482, 484, 487 Friedrich II. von Preußen 139, 311, 373 Friedrich II. von Staufen 495 Friedrich, Hugo 596 Friedrich, Markus 159, 555 Frisby, David P. 580 Fritscher, Bernhard 65 Fritzsch, Theodor 628, 631 Fuchs, Anne 398 Fues, Wolfram Malte 83, 138–146 Fuhrmann, Manfred 141 Fulda, Daniel XIII–XXVI Furbanks, Philip Nicholas 39 Fürstenberg, Franz von 416 Fürstenwald, Maria 91 Füssel, Marian XVII, XXII, 94, 157–162 Gabler, Johann Philipp 313 Gaier, Ulrich 553 Gailus, Andreas 567 Gaiser, Konrad 102 Galenus, Aelius 136 Galiani, Ferdinando 14, 15, 17, 27 Galilei, Galileio 458 Gall, Lothar 589 Gallitzin, Adelheid Amalia von 414–416 Gallitzin, Demetrius Augustinus 480 Galluzzi, Paolo 458 Galt, John 333 Gamper, Michael 440, 445,540 Garber, Jörn 553 Garber, Klaus 312 Gardt, Andreas 147 Garnsey, Peter 13 Garrick, David 374,375 Gärtner, Barbara 292 Garve, Christian 97, 107, 109–111, 162, 208, 211, 213, 214, 587, 589 Gasché, Rodolphe 131 Gascoigne, John 196–198, 200 Gattico, Giambattista 182, 183

644

Personenregister

Gaubius, Hieronymus David 191 Gauss, Carl Friedrich 436 Gawlick, Günter 107, 208 Gawoll, Hans-Jürgen 214 Gebhard, Gunther 157 Gedike, Friedrich 174, 175 Geier, Manfred 250 Geiger, Ludwig 59 Geimer, Peter 265 Geiseler, Udo 312 Gellert, Christian Fürchtegott 267, 378, 379 Genette, Gérard 562 Geoffrin, Marie Thérèse Rodet 595–598 Georg III., König von England 472, 475 Gérard, François 75 Gessinger, Joachim 541 Geßner, Salomon 254, 255, 258, 261, 377 Gierl, Martin 95 Gilpin, William 60 Gisi, Lucas Marco 313 Giuriato, Davide 82, 112–120, 270 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 268, 379 Gleixner, Ulrike 301 Glenie, James 202, 203 Godel, Rainer 553 Goeckel, Ferdinand von 292 Goethe, Johann Wolfgang 21, 29, 32, 59, 60, 65, 68, 74, 100, 122, 123, 141, 143, 144, 228, 256, 257, 268, 269, 320, 355, 364, 366–381, 390, 402–428, 464, 474, 475, 484, 485, 508 Goetsch, Paul 278 Goldammer, Peter 262 Goldenbaum, Ursula 158 Goldgar, Anne 161 Goldmann, Stefan 541 Golz, Jochen 370 Gombrich, Ernst 321 Göpfert, Herbert G. 256, 259 Görke, Winfried 69 Gößner, Andreas 87

Gottsched, Johann Christoph 86, 92, 103–105, 114, 116, 151, 152, 154, 168, 255, 256, 562 Gottsched, Luise Adelgunde Victoria 84 Götz, Carmen 160, 170–177 Graepler, Daniel 414 Grafenberg, Johann Georg Schenck von 551 Grassis, Paris de 183 Grave, Johannes 366, 402–412 Grbić, Dragana 469, 498–504 Gregory, Christopher Alan 5 Greif, Stefan 350, 354–356 Gresky, Wolfgang 477 Gresset, Jean-Baptiste-Louis 608 Grewe, Cordula 471 Greyerz, Gottlieb von 476, 477 Griep, Wolfgang 507 Grimm, Gunther E. 86, 102, 104, 347 Grimm, Jacob 585 Grimm, Melchior 594–596 Grimm, Wilhelm 585 Grimminger, Rolf 98 Grolmann, Ludwig Adolf Christian von 175 Grosse, Hugo 292 Großklaus, Götz 505 Grotius, Hugo 24 Gründer, Karlfried 97, 207, 457 Grunert, Frank 95, 363, 459 Grünhagen, Colmar 311 Gryphius, Andreas 87, 91 Gudehus, Christian 363 Guedj, Denis 431 Gumbrecht, Hans Ulrich 157 Gumprecht, Johann Paul 622 Gundling, Nicolaus Hieronymus 164 Gustav III. von Schweden 485 Guthke, Karl S. 48 Habermas, Jürgen 160 Hacking, Ian 40, 49

Personenregister Hafner, Bernhard Jonas 131 Häfner, Ralph 301 Hagedorn, Christian Ludwig von 611 Hägglund, Bengt 555 Hahn, Hans Peter 7 Hahn, Karl-Heinz 464 Halem, Gerhard Anton von 507, 510 Hall, Marie Boas 525, 526 Hall, Rupert 525, 526 Hallbauer, Friedrich Andreas 82, 85–96, 104 Haller, Albrecht von 121, 126, 277, 374, 440, 508, 540, 544–547, 550 Hallo, Rudolf 481 Hamann, Johann Georg 213 Hamel, Joseph 294 Hamel, Jürgen 435 Hamilton, William 485 Hamacher, Werner 64 Hammacher, Klaus 244 Hampe, Michael 463 Hand, Ferdinand 293 Hanway, Jonas 374 Hardenberg, Karl August von 475 Hardtwig, Wolfgang 72 Harjes, Imke 450 Harms, Wolfgang 585 Hárs, Endre 270, 273–280 Hartig, Joachim 615 Hartlieb, Bernd 620 Hartmann, Johann Ludwig 585 Harvey, William 544 Hauschild, Jan-Christoph 297 Hausen, Karin 401 Hauser, Christian 210 Haverkamp, Anselm 103, 123 Hebel, Johann Peter 21 Heeren, Hermann Ludwig 476 Heers, Henri von 551 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 99, 139, 140, 142, 144, 257, 258, 260, 436, 577, 597

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Hegemann, Anne 371 Heidegger, Martin 253, 255, 261 Heilbron, John 438 Heinecken, Karl Heinrich von 611, 612 Heinrich IV., römisch-deutscher Kaiser 495 Heinse, Wilhelm 425 Heinz, Jutta 538, 567 Heister, Lorenz 306 Helfant, Ian M. 48 Hellingrath, Norbert von 343 Hellwig, Johann 548, 551 Helmrath, Johannes 195 Helvétius, Claude Adrien 438, 571 Hemmerling, Wiebke 160, 163–169 Hemsterhuis, Frans 366, 413–420, 423 Hennig, Jochen 470 Henrich, Dieter 214 Henslow, John Stevens 51 Hentschel, Klaus 435 Heraklit 373 Herder, Johann Gottfried 29, 62, 22, 239, 270, 273–280, 294, 298, 377, 440–443, 464, 468, 480–482, 487, 488, 539 Heres, Gerald 413 Heringman, Noah 205 Herodot 8, 55 Herschel, John 206, 359 Hervey, Frederick 488 Herzfeld, Erika 372 Herzog, Reinhart 421 Hess, Volker 549 Heunisch, Caspar 528 Hey’l, Bettina 77 Heyne, Christian Gottlob 313 Hiersemann, Lothar 449, 453, 454 Higgins, Kathleen Marie 208 Hildanus, Fabricius 550 Hill, John 199 Hilliard, Kevin F. 343 Himly, Karl Gustav 475 Himmelmann, Nikolaus 321

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Personenregister

Hinrichsen, Hans-Joachim 282 Hipparchia 151, 152 Hirsch, Fred 4 Hirschfeld, Christian Cay Lorenz 355, 357, 397 Hirschfelder, Gunther 589, 590 Hirschi, Caspar 159, 161, 162, 193–206 Hirschman, Albert O. 577, 578 Hirschmann, Wolfgang 281, 282 Hißmann, Michael 208 Hobbes, Thomas 193 Hochadel, Oliver 438, 442 Hoffmann, Christian Gottfried 182 Hoffmann, Dietrich 471 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 261, 445 Hoffmann, Friedrich 560, 564–567 Hogarth, William 336 Hohenfeld, Otto Joseph Heinrich von 494 Hohenheim, Franziska von 375 Hölderlin, Friedrich 343 Holenstein, André 161 Holländer, Hans 452 Hollmer, Heide 424, 425, 542, 567 Hölscher, Lucian 160 Holstein-Gottorf, Peter Friedrich von 480 Holz, Hans Heinz 43, 114 Holzapfel, Kathrin 318, 350–360 Holzhey, Helmut 97, 98, 102, 207 Homer 9, 66, 255, 324, 376 Homes, Henry 208 Hooke, Robert 193 Hopf, Wilhelm 483 Hoppe, Günter 65 Horaz 66, 102, 371 Horn, Karl Friedrich 293 Hörnigk, Philipp Wilhelm von 4, 23 Horsley, Samuel 201, 202, 204 Hortensia 147, 148 Höschele, Eleonora 370 Hübner, Annemarie 615, 617, 621 Huizinga, Johan 38

Humboldt, Alexander von 51–77, 433, 474 Humboldt, Wilhelm von 143, 260, 367, 410, 422, 427, 484 Hume, David 107, 108, 110, 162, 208– 211, 215, 423, 502, 581 Humphrey, George 476 Hurlebusch, Klaus 347 Hurlebusch, Rose-Marie 112, 344 Hus, Johannes 307–309 Hutton, Charles 200 Iffland, August Wilhelm 355 Imhof, Andreas Lazarus von 491, 492 Innozenz X. 182 Iselin, Isaak 29, 457 Isidor von Sevilla 53, 58 Israel, Jonathan XVIII Jacob, Andreas 383 Jacob, Joachim XXIII, 224, 231, 237, 317–319, 343 Jacobi, Friedrich Heinrich 171, 296, 414 Jacoby, Daniel 214 Jaeger, Friedrich XVI Jäger, Hans-Wolf 160 Jäger, Johann Wolfgang 178 Jahn, Bernhard 281, 282 Jahn, Johannes 337 Jakob, Karlheinz 452 Jakobi, Adam Friedrich Ernst 296, 298 Jamme, Christoph 97, 214 Janda, Karl Heinz 337 Jansen, Reinhard 375 Jaumann, Herbert 195, 301 Jean Paul 222, 228, 251, 252, 261, 406, 444, 445, 562 Jenisch, Daniel 97 Jesus von Nazareth 245, 247, 331, 621 Jitta, Zadoks-Josephus 415 Jöcher, Christian Gottlieb 533 Jochmann, Carl Gustav 46

Personenregister John, Timo 378 Johnson, Samuel 199, 374 Jolles, André 541, 542 Jöns, Dietrich 541, 570 Jost, Erdmut 469, 505–517 Juncker, Christian 165, 168 Jung, Frank 436, 457–464 Junghans, Helmar 555 Jungius, Joachim 88 Jungnickel, Christa 202 Jürgens, Henning 157 Justi, Johann Heinrich Gottlob von 471 Juvenal 370, 371 Kaemmerer, Ludwig 338 Kaendler, Johann Joachim 378, 379 Kahlfuß, Hans Jürgen 484 Kaiser, Reinhard 247 Kalff, Sabine 450 Kammer, Stephan XIX, XXIII, 125, 265–272 Kammler, Norbert 453 Kant, Immanuel 82, 83, 97, 98, 100, 101, 107–110, 113, 129–137, 142, 162, 207, 208, 210–214, 221, 229, 250, 253, 259, 260, 377, 511, 512, 580, 587 Karl der Große 495 Karl Landgraf von Hessen-Kassel 481 Karl VI. von Frankreich 493, 495 Karliczek, André 435 Katharina II. von Rußland 598 Kauffmann, Angelica 379 Kavanagh, Thomas M. 40, 47, 50 Keller, Andreas 370 Kiefer, Jürgen 560, 561 Kieserling, André 160 Kiesow, Rainer Maria 244 King, William 199 Kirshenblatt-Gimblet, Barabara 471 Kissling, Walter 294 Kittsteiner, Heinz D. 159 Klancher, John P. 205

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Klassen, Rainer 102 Klein, Dorothea 301 Kleist, Heinrich von 41, 62, 64, 65, 255, 437, 438, 442, 443, 445, 447, 521 Klemm, Friedrich 452, 454 Klemme, Heiner 211, 512 Klemp, Klaus 368 Kleuker, Johann Friedrich 171 Klinger, Kerrin 272, 292–299, 435 Klock, Kaspar 18–23, 34 Klopstock, Friedrich Gottlieb 82, 112, 113, 117–120, 123, 231, 267–269, 318, 341–349, 552 Kluckhohn, Paul 49 Kluge, Dorit 578, 580, 606–613 Klump, Rainer 29 Knabe, Peter-Eckhard 597 Knape, Joachim 147 Kneer, Georg 254 Knobloch, Eberhard 76 Knudsen, Ole 434 Knüppel, Helge 414 Kobi, Valérie XVIII Kobold, Johann Werner 479 Kockel, Valentin 414 Kofler, Peter 457 Kohl, Katrin 343, 344, 552 Kölsch, Gerhard 381, 390 Koltes, Manfred 370 Kondrateva, Larisa 392 Kondylis, Panajotis 283 König, Johann Ulrich 369, 370, 372 Koopmann, Helmut 157 Kopperschmidt, Josef 86 Körner, Christian Gottfried 83, 143 Koroliov, Sonja XVII, 511 Kors, Alan Charles 37 Korte, Martin 244 Koschorke, Albrecht XVII, 243, 249, 267, 268, 365, 393, 396, 505 Koselleck, Reinhart 421, 426 Košenina, Alexander 521

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Personenregister

Kosík, Karel XIX Kotzebue, August von 169, 177 Krahn, Volker 301 Krajewski, Markus 88 Krämer, Fabian 522, 525–536, 541 Krämer, Sybille 279 Kramer, Karl-S. 615, 621 Kramer, Olaf 100 Krancke, Friedrich 296, 298 Kratzenstein, Christian Gottlieb 442 Krause, Marcus 437 Krauthausen, Karin 86, 87 Krebs, Roland 571 Krech, Volkhard 580 Kreimendahl, Lothar 107, 208 Kretschmann, Carsten 485 Kreutz, Wilhelm 172 Krieger, Martin 577, 578 Kröhnke, Klaus Christian 580 Kroll, Thomas 457 Kronk, Gary W. 500 Kruft, Hanno-Walter 357 Krug, Michaela 388 Krüger, Heinz-Hermann 7 Krüger, Johann Gottlob 523, 538, 540, 544, 546–550, 552, 557, 568 Krüger, Lorenz 45 Krüger, Reinhard 620 Krug-Richter, Barbara 157 Krumbholz, Paul 292, 293 Krummacher, Hans-Henrik 91 Krünitz, Johann Georg 588 Krupp, Anthony 560 Kuhlmann, Quirinus 312 Kühn, Carl Gottlob 14, 440 Kühn, Manfred 208, 211 Kullmann, Wolfgang 245 Kümmel, Werner Friedrich 561 Kunz, Stephan 508 Kunze, Carl Ludwig 297, 298 Kunze, Max 320, 328 Kurz, Gerhard 227

Küttner, Karl Gottlob 477 La Condamine, Charles-Marie de 186, 188–190 La Croix, Jean François de 374 La Font de Saint-Yenne, Étienne 581, 608–610, 613 La Fontaine, Jean de 125,126, 374 La Mettrie, Julien Offray de 438 La Roche, Sophie von 364, 365, 371, 372, 380–385, 387, 389, 506, 508 Lacan, Jacques 253 Lachmann, Karl 138 Lachmann, Renate 86, 553 Lamar, Raphael 331 Lamarck, Jean-Baptiste 485 Lambert, Johann Heinrich 271, 272 Lamey, Ferdinand 301 Lamy, François 265, 266, 269 Lancaster, Josef 294 Langen, August 509 Langewiesche, Dieter 589 Lankford, John 196, 206 Laplace, Pierre Simon de 40, 44 Latour, Bruno 159, 254, 471 Lauer, Heike Elisabeth 557 Laufhütte, Hartmut 541, 570 Laureys, Marc 157 Lausberg, Heinrich 101 Lavater, Johann Caspar 47, 171, 177, 377, 485, 511 Lavoisier, Antoine Laurent de 457 Lazardzig, Jan 452 Le Guern, Michel 41 Lecourbe, Claude-Jacque 515, 516 Lefèvre, Eckhard 76 Lehms, Georg Christian 147, 148 Leibniz, Gottfried Wilhelm 43, 88, 97, 114, 115, 118, 131, 180, 208, 210, 277, 304, 308, 317, 526, 558, 559 Leinker, Johann Sigismund 306 Leitner, Ulrike 76

Personenregister Lemmer, Manfred 147 Lenclos, Ninon 374 Leopold I., römisch-deutscher Kaiser 533 Leopold II., Großherzog der Toskana und römisch-deutscher Kaiser 463, 464 Lépine, Guillaume 191 Lepp, Nicola 489 Leslie, Charles Robert 330, 331, 334 Lessing, Gotthold Ephraim XIII, 48, 83, 115, 121–128, 138, 157, 240, 258–260, 270, 317, 318, 347–349, 368, 371, 376, 377 Leti, Gregorio 180 Leuchsenring, Franz Michael 171 Leupold, Jacob 436, 448–456 Leuschner, Ulrike 480 Leventhal, Robert 567 Lévi-Strauss, Claude 73 Lewenhaimb, Philipp Jacob Sachs von 528, 530, 533–535 Lichtenberg, Georg Christoph 44, 49, 470, 472, 476, 484 Lichtenstern, Christa 406 Lilienthal, Michael 95 Limbach, Jutta XIII Linné, Carl von 205, 306 Linnebach, Andrea 468, 479–489 Linsmayer, Charles 514 Lippke, Monika 381 Locke, John 11, 13, 14, 16, 18, 162, 210, 459, 499, 632, 634 Loghitano, Gino 18 Lohenstein, Daniel Casper von 121, 312 Longin 118 Loos, Erich 36 Loos, Waltraud 415 Lorenz, Johann Friedrich 297 Loridan, Jules 431 Lorrains, Claude 66 Loster-Schneider, Gudrun 382 Lotter, Maria-Sibylla 463

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Lübbe, Hermann 97 Lubrich, Oliver 59, 60, 62, 70, 74 Luca, Giovanni Battista de 178 Luckhardt, Jochen 375 Lüdemann, Susanne 521 Ludwig Christian von Hessen-Darmstadt 415 Ludwig I. von Bayern 411 Ludwig I. von Hessen-Darmstadt 481 Ludwig XIV. von Frankreich 17, 275, 277 Ludwig XV. von Frankreich 139 Lugowski, Clemens 83, 144, 145 Luhmann, Niklas 159 Lukian von Samosata 4, 307 Lunadoro, Girolamo 181 Lunbeck, Elizabeth 433, 537 Luserke-Jaqui, Mathias 381 Lusitanus, Zautus 551 Luther, Martin 282, 289, 373, 555, 556 Lütteken, Anett 365, 368–379 Lützeler, Paul Michael 403 Lyon, John D. 134 Maack-Rheinländer, Kathrin 471 Macfie, Alec 577 Machiavelli, Niccolò di Bernardo 165 Mackensen, Karsten 271, 281–291 Macrobius, Ambrosius Theodosius 55, 57 Mähl, Hans-Joachim 425 Maisak, Petra 381, 390 Malcolm, Noel 88 Malinowski, Bronislaw 4 Mandelkow, Karl Robert 59 Mann, Thomas 54 Manuel, Frank 312 Maratti, Charles 374 Marcello, Cristoforo 183 Maria Theresia von Österreich 190, 373 Marino, Luigi 474 Marinus von Tyrus 56 Maron, Anton 328 Marth, Regine 301

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Personenregister

Martus, Steffen 163, 225 Martyr d’Anghiera, Peter 52 Marx, Karl 3, 6, 10, 35 Maseres, Francis 202 Masius, Hector Gottfried 164 Maskelyne, Nevil 202 Masséna, André 516 Matsko, Johann Matthias 487 Mattheson, Johann 271, 281–291 Maty, Paul 202–204 Maurer, Michael 385 Mauser, Wolfram 157 Maximus, Sextus Quinctilius Valerius 75, 76 Mayer, Christian 487 Mayer, Heike 88, 94 Mazura, Silvia 311 McClellan, James 197 McCormmach, Russel 202 McCracken, Grant 580 McDonald, Christie 601 McGann, Jerome J. 266 McLelland, Jane 595 McLeod, James E. 403 McPherson, Heather 374 Mechain, Pierre 431 Meckenstock, Günter 389 Megiser, Hieronymus 450 Meier, Albert 424, 425, 542, 567 Meier, Georg Friedrich XXII, 106, 107, 219, 233, 238, 521, 538, 539, 552, 557 Meier, Günter 453 Meier, Moritz Hermann Eduard 164 Meinel, Christoph 88 Meiners, Christoph 208, 486 Meise, Helga 383 Meister, Leonard 385, 510 Mela, Pomponius 55 Melmoth, William 510 Melton, James Van Horn 159 Mencke, Johann Burckardt 95 Mendelsohn, J. Andrew 549

Mendelssohn, Moses 211, 214, 357, 358, 377 Menger, Carl 34 Mengs, Anton Raphael 425 Menninghaus, Winfried 119, 120, 123, 347 Mercier, Louis Sébastien 39, 40, 509–513 Merck, Johann Heinrich 480 Merk, Otto 313 Merola, Alberto 14 Merzbacher, Dieter 301 Mesch, Walter 104 Messier, Charles 469, 498, 500–503 Metternich, Klemens Wenzel Lothar von 485 Meumann, Markus 158, 186, 488 Meuschen, Johann Gerhard 148, 182 Meusel, Johann Georg 329 Mey, Eberhard 486, 488 Meyer, Anette 162, 207–215 Meyer, (Johann) Heinrich 406, 415, 419 Meyer, Maik 503 Meyer, Torsten 579, 584 Michel, Karl Markus 99, 139, 257, 577 Michelangelo 19, 184, 373 Middleton, William Edgar Knowles 458 Miller, Johann Peter 491 Miller, Mary Ellen 69 Miller, Norbert 251, 444 Milton, John 373, 375 Mingau, Rudolf 368 Mirabeau, Victor Riquetti Marquis de 18 Mitchell, Charles 333 Mitchell, Philip Marshall 151, 256 Mizler, Lorenz Christoph 287, 290 Mohlzahn, Ulf 616, 617 Moiso, Francesco 438 Moldenhauer, Eva 99, 139, 577 Molière 374 Möllendorf, Heinrich Lüdeke von 36 Möller, Hans 301, 307, 309, 310 Moller, Margarete 267–269

Personenregister Monro, Alexander 191 Montfaucon, Bernard de 322 Montinari, Mazzino 71, 426 Moore, John Robert 43 Morellet, André 595 Mori, Takashi 66 Mörike, Eduard 260 Moritz, Karl Philipp 47, 237, 318, 342, 345–347, 349, 364, 367, 421–427, 523, 524, 537, 540–543, 545, 546, 550, 560, 562, 566–568, 570–573 Moscherosch, Johann Michael 579, 585, 586 Möser, Justus 21–23, 34, 35 Moureau, François 595 Mues, Albert 171 Mülder-Bach, Inka 120, 123 Müller, Ernst 435 Müller, Johannes von 479 Müller, Klaus-Detlef 413 Müller, Lothar 540, 566, 567, 570 Müller, Philipp 72 Müller, Uwe 525, 528, 530, 532 Müller-Bahlke, Thomas XV Mulsow, Martin 86, 161, 270, 300–313, 536, 555 Muncker, Franz 138, 342 Münkler, Herfried 73 Musculus, Andreas 585 Nagel, Alexander 303 Nancy, Jean Luc 245 Nasim, Omar 86 Natter, Johann Lorenz 418 Naumann, Friedrich 452 Naumer, Sabine 320, 327 Nawa, Christine 471–474, 478 Neri, Pompeo 461 Nettesheim, Agrippa von 153 Neumann, Gerhard 117 Neumark, Fritz 12, 13 Newton, Issac 201, 202, 374, 458, 459

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Nibbrig, Christiaan L. Hart 123, 125, 131, 240 Niccoli, Raimondo 459, 462 Nicolai, Ernst Anton 538, 552, 557–559 Nicolai, Friedrich 170, 171, 174, 175, 177, 337 Nicole, Pierre 41 Nicolette, Annie 415 Niederöst, Josef Siegmund 515 Niehaus, Michael 541 Nietzsche, Friedrich 71, 228, 233, 426, 427, 553 North, Michael XVII, 577, 578 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 49, 425, 445 Nowak, Kurt 526 Nutz, Thomas 477 Oberman, Heiko A. 308 Ochs, Kathleen H. 197 Oellers, Norbert 143 Oelrichs, Johann Carl Conrad 300 Oeser, Adam Friedrich 378, 379, 611 Oesterle, Günter 364, 389, 398, 422 Oettermann, Stephan 469, 505, 510 Oettingen, Wofgang von 338, 340 Öhlschläger, Claudia 403 Oldemeyer, Ernst 505 Oldenburg, Henry 525, 526 Olechowski, Richard 294, 299 Oliver, James H. 76 Opitz, Martin 121 Ørsted, Hans Christian 434 Orth, Ernst Wolfgang 259 Osborn, Max 585 Osiander, Friedrich Benjamin 486 Osterhammel, Jürgen 72 Osterkamp, Ernst 59, 225, 320, 321, 407 Otto, Gottlieb Friedrich 622, 624 Outram, Dorinda 90, 499 Ovid (Publius Ovidius Naso) 305, 324

652

Personenregister

Owens, William R. 39 Oz-Salzberger, Fania XVI, 208 Pagnini, Gian Francesco 459 Paintner, Ursula 179 Paisen, Matthias 525, 526 Panchieri, Roberto 184 Pannekoek, Anton 432 Papin, Denis 481, 482, 488 Park, Katharine 89, 193, 531 Parthier, Benno 526, 527 Pascal, Blaise 40, 41 Pastor, Ludwig von 178 Patins, Guy 164 Paulet, Jean-Jacques 188 Paulinyi, Akos 452 Paullini, Christian Franz 148 Pawel, Jaro 342 Pechlin, Johann Nikolaus 548, 550 Peetz, Johann Conrad 493 Peitsch, Helmut 352 Pestalozzi, Johann Heinrich 272, 293–295, 297 Peter I. 30 Petersen, Johann Friedrich Christian 380, 381 Peterssin, Niels P. 72 Pethes, Nicolas 132, 437, 521, 523, 532, 544–551, 560 Petit, Antoine 188, 191 Petronius, Titus 4 Petrus, Klaus 103, 109 Petty, William 14 Peutinger, Konrad 20 Pfeiffer, K. Ludwig 157 Pfotenhauer, Helmut 422, 424, 425, 540, 570 Philipp, Klaus Jan 355, 356, 358, 359 Pian del Carpine, Giovanni da 58 Picard, Bernard 181 Piccolomini, Agostino Patrizi 182 Pick, Bianca XV

Pietsch, Lutz-Henning 108 Pietsch, Ulrich 372 Pigalle, Jean-Baptiste 485 Pigeard de Gurbert, Guillaume XVII, XVIII Pigenot, Ludwig von 343 Pindar 343 Pinel, Philippe 560 Piranesi, Giovanni Battista 6 Pittrof, Thomas 587 Placcius, Vincent 88 Plan[c]k, Gottlieb Jacob 176 Planta, Joseph 488 Platen, August von 261 Platner, Ernst 537 Platon 9, 82, 131, 220, 310, 355, 360, 393, 394, 396, 398 Platter, Felix 550 Plesch, Véronique 184 Plesker, Nadine 477, 478 Plinius der Jüngere (Gaius Caecilius Secundus) 75–77 Plinius der Ältere (Gaius Plinius Secundus Maior) 55, 58, 324 Plischke, Hans 476 Pockels, Carl Friedrich 47, 48, 423, 568 Polley, Jacob 450 Pollmeier, Heiko 161, 185–192 Polo, Marco 53, 58 Pomata, Gianna 522, 525, 528, 532, 535, 537 Pomian, Krzysztof 269 Pope, Alexander 277, 374, 375, 552 Poppe, Bernhard 106 Popplow, Marcus 452 Porter, Roy 193, 196, 197, 206 Posner, Roland 620 Pott, Ute 6, 379 Poussin, Nicolas 66 Prag, Hieronymus von 307, 308 Prantl, Carl von 214 Priddat, Birger 29

Personenregister Primerano, Roberta 184 Prinz, Michael 579 Prior, Matthew 374, 375 Prodi, Paolo 178, 179 Promies, Wolfgang 44 Ptolemäus, Claudius 52, 53, 55, 56 Pückler-Muskau, Hermann von 469, 514, 515 Pudelek, Lan-Peter 118 Pufendorf, Samuel 24 Puhle, Matthias 433 Puschkin, Alexander Sergejewitsch 48 Pyl, Johann Theodor 541, 542 Quesnay, François 16–18, 28, 34 Quintilianus, Marcus Fabius 101, 115, 116, 128, 130, 133, 147 Rachold, Jan 207 Raffael 333 Rahn, Helmut 115, 130 Rajić, Jovan 469, 498–502 Ramberg, Johann Heinrich 340 Ramelli, Agostino 450, 454 Ramler, Karl Wilhelm 377 Ramus, Petrus 566 Rang, Brita 149 Raspe, Rudolf Erich 480–483, 488 Rau, Karl Heinrich 31–33, 35 Rauser, Amelia Faye 201 Rayger, Karl 533, 535 Reckwitz, Andreas XV, 363 Reinhard, Josef 211, 507, 516 Reisch, Gregor 58 Reith, Reinhold 579, 584 Reuss [Reuhs], Jeremias David 475 Révéroni Saint-Cyr, Jacques-Antoine de 364, 366, 390–392, 395 Rexroth, Frank 195 Reynolds, Joshua 333, 374 Rheinberger, Hans-Jörg 81, 545, 547 Rhodius, Johannes 551

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Ribbeck, Christoph 312 Ricardo, David 29 Richard, Birgit 7 Richter, Karl 438 Riedel, Wolfgang 234, 552 Rieger, Stefan 88, 553 Riem, Johann Andreas 424 Ring, Friedrich Dominicus 595 Rippel, Anton Gregor 181 Ritter, Joachim 97, 207, 458 Ritter, Johann Wilhelm 433, 445 Riverius, Isaak 548, 549 Robering, Klaus 620 Röcke, Werner 54 Röd, Wolfgang 207 Rode, Bernhard 490 Roemer, Ole 432 Roger, Barthélemy 75 Rohr, Julius Bernhard von 165 Röpke, Wilhelm 32 Rosas, Salvatore 66 Roscher, Wilhelm 21, 22 Rose, Dirk 289 Rosenmeyer, Thomas G. 312 Roßbach, Nikola 381, 436, 448–456 Roth, Johann F. 413 Rothschuh, Karl E. 438, 441 Rousseau, Jean-Jacques 45, 67, 189, 283 347, 581, 598, 609, 610–612 Roux, Augustin 188 Rubens, Paul Peter 594 Rubruquis, William 58 Ruchatz, Jens 132, 522, 560 Rüdiger, Andrea 103, 104 Rüdiger, Axel XV Rudolf August von Braunschweig-Wolfenbüttel 301 Ruisinger, Marion Maria 470 Ruppert, Wolfgang 401 Rüsen, Jörn XVI Russell, Gillian 47 Rüther, Stefanie 158

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Personenregister

Sachs, Hans 585 Sailer, Johann Michael 177 Saine, Thomas P. 345, 567 Saint-Lambert, Jean-François de 581, 610, 611 Salisbury, John of 58 Sallo, Denys de 164 Salomo 52 Salzmann, Christian Gotthilf 496, 497, 627 Samson, Johann Ulrich 489 Samuel, Richard 49, 425 Sander, Torsten 581, 582, 614–626 Sandhagen, Caspar Hermann 303 Sangmeister, Dirk 484 Sappho 151, 152 Šarafadina, Klara 401 Sarpi, Paolo 180 Sartine, Antoine de 185 Sauder, Gerhard 97, 382 Saussure, Horace-Bénédict de 508 Savary, Jacques 3 Savoy, Bénédicte 477, 482, 483 Schäfer, Jasmin 578, 581, 582, 627–635 Schaffer, Simon 193, 195 Schalk, Fritz 596 Schanze, Helmut 86 Scharfe, Martin 588 Schaub, Mirjam 133 Schäublin, Christoph 402 Schechner, Sara J. 504 Scheffler, Joachim Ernst 453 Schefold, Bertram XX, 3–35 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 438, 446 Schildhammer, Georg 625 Schiller, Friedrich von 38, 66, 83, 143, 221, 225, 232, 234, 240, 241, 255, 257, 260, 341, 368, 422, 423, 427, 464, 521 Schings, Hans-Jürgen 72, 87, 552, 570 Schinkel, Karl Friedrich 428 Schlaffer, Heinz 144, 145

Schlag, Hannes E. 69 Schlegel, August Wilhelm 222, 328, 423 Schleiden, August 118 Schleiermacher, Friedrich 350, 354–356, 389, 393, 399 Schlelein, Stefan 195 Schlosser, Johann Georg 29 Schlözer, August Ludwig von 276, 490 Schlumbohm, Jürgen 486 Schmid, Hans-Heinrich 313 Schmideler, Sebastian 468, 490–497 Schmidt, Bernward 161, 178–184 Schmidt, Elisabet 267 Schmidt, Ernst August 306 Schmidt, Gert 580 Schmidt, Joseph 295 Schmidt, Siegbert 295, 298 Schmidt, Thomas 69 Schmidt-Funke, Julia A. 579, 584–591 Schmidt-Haberkamp, Barbara XVI Schmidt-Wiegand, Ruth 158 Schmieder, Falko 435 Schmincke, Friedrich Christoph 481, 488 Schmitt, Arbogast 220, 221 Schmitt, Eberhard 171 Schnabel, Johann Gottfried 496 Schneider, Florian 83, 121–128 Schneider, Helmut J. 258 Schneider, Sabine 367, 421–430 Schneider, Ulrich 363 Schneider, Ulrich Johannes 542, 568 Schneiders, Werner 37, 97, 207, 553, 556 Schnyder, Peter XX, 36–50, 615 Schock, Flemming 450, 455 Scholem, Gershom 141 Scholz, Susanne 521, 522 Schönberger, Otto 153 Schöne, Albrecht 157 Schönert, Jörg XVI, 224, 438 Schrader, Heinrich Adolf 475 Schrage, Dominik 577–583 Schramm, Carl Christian 150, 151

Personenregister Schramm, Helmar 135, 452 Schreber, Daniel Gottfried 20 Schreiber, Peter 293 Schreiner, Klaus 159 Schrevel, Cornelis 619 Schrimpf, Hans Joachim 621 Schröckh, Johann Matthias 490 Schröder, Volker 93 Schroer, Markus 254 Schulz, Günter 143 Schulze, Johann 321 Schulz-Schaeffer, Ingo 254 Schumpeter, Joseph 22 Schurmann, Anna Maria von 152, 154 Schury, Gudrun 171 Schüttler, Hermann 171 Schüttpelz, Erhard 254 Schütz, Arthur 489 Schütz, Wilhelm 36, 37 Schwarte, Ludger 452 Schwarz, Sybilla 152, 154 Schweitzer, Ernst Ludwig 295, 296, 298 Schweppe, Jakob 487, 488 Schweppenhäuser, Hermann 141 Schwerhoff, Gerd 159 Scriba, Christoph J. 293, 525, 526 Seaton, Beverly 401 Sebeok, Thomas A. 620 Seewald, Jan 374 Sembdner, Helmut 437 Seneca, Lucius Annaeus 26, 53–55, 58, 376 Sensch, Patricia 380, 381 Serra, Antonio 25 Serres, Michel 254 Settis, Salvatore 73 Seume, Johann Gottfried 516 Seyffer, Karl Felix von 475 Seznec, Jean 596, 602 Shadwell, Thomas 199 Shaftesbury, Anthony Ashley, 3. Earl of 274, 275, 277, 317, 338, 339

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Shakespeare, William 201, 374, 542 Shapin, Steven 161, 193–196 Shapiro, Barbara J. 194, 195 Siddons, Sarah 374 Sieberns, Cord 507 Siegert, Bernhard 267, 268 Siegrist, Christoph 402 Siemer, Stefan 475 Siemerling, Christian Friedrich 486 Simmel, Georg 160, 580 Simon, Ralf 270, 273, 274, 276, 277 Sinold, Justus 139 Sitz, Marcel XV Sladek, Elisabeth 373 Sluse, Francois 526 Smeth, Theodor von 423 Smith, Adam 12, 22–29, 31, 32, 34, 208, 577, 608, 610, 612 Smith, Robert 288 Soemmering, Samuel Thomas 479, 486 Sokrates 8, 9, 376, 384 Solomon, Robert C. 208 Sombart, Werner 579 Sonnemann, Rolf 449, 453 Sorkin, David 501 Specht, Benjamin 436–447 Speiser, David 28 Spener, Philipp Jacob 87, 301 Spinner, Veronika 410 Spinoza, Baruch XVIII, 258, 312, 501 Spoerhase, Carlos 103, 158, 159, 290 Sprengseisen, Christian Friedrich Kessler von 174 Sprengel, Peter 442 Springer, Johann Balthasar 468, 493–495 Sraffa, Piero 7 Stäcker, Thomas 450, 451, 453 Staël, Anne Louise Germaine de [geb. Necker] 189 Stahl, Ernst Georg 560, 564 Staley, Allen 330, 334 Stambaugh, Rita 584

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Personenregister

Stamm-Kuhlmann, Thomas 475 Stanislaus von Polen 482 Starck, Johann August 171, 172, 174–176 Staubach, Nikolaus 180 Stein, Claudia 526 Stein, Georg Wilhelm 486 Steiner, Gerhard 350 Steiner, Uwe C. 222, 253–262 Steinle, Friedrich 462 Stenzel, Jürgen 370 Stewart, Zeph 306 Stichweh, Rudolf 438 Stierle, Karlheinz 603 Stingelin, Martin 270 Stock, Frithjof 342 Stockhorst, Stefanie XIV Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu 510 Stolberg, Michael 522 Stollberg-Rilinger, Barbara 158 Storch, Heinrich Friedrich von 29–31, 34, 391 Storch, Johann 564 Stosch, Philipp von 324 Strabo 53, 55, 56, 58 Strack, Doris 406 Strada, Jacobus 450 Straßberger, Andres 86 Sträter, Udo 522, 552 Straume-Zimmermann, Laila 116 Streller, Siegfried 64 Ströber, Eva 588 Stukeley, William 374 Sturm-Bednarzyk, Elisabeth 373 Sulzer, Johann Georg 108, 162, 208, 209, 238, 256, 336, 357, 358, 611, 611 Suphan, Bernhard 270, 274, 539 Süßmann, Johannes 522 Suworow, Alexander 516 Swift, Jonathan 199, 277, 374 Szarota, Elida Maria 312 Széchényi, Ferenc Graf 485

Tallon, Alain 180 Tausch, Claudia 328 Tavanti, Angelo 459, 462 te Heesen, Anke 88 Tentzel, Wilhelm Ernst 164 Tetens, Johann Nikolaus 162, 209–211, 214 Thamm, Jochen 529 Theophrastus 4 Thiele, Werner 452 Thoma, Heinz 553 Thomas, Antoine Léonard 93 Thomasius, Christian 103, 163, 164, 363, 450, 553, 556, 557 Thomson, James 374 Thums, Barbara VII, 220, 221, 228, 230, 233–241 Thurn, Hans Peter 260 Tiberius 302 Tieck, Ludwig 36, 37 Tiedemann, Rolf 141, 615 Tiemann, Franziska 267 Tiemann, Hermann 267 Tietmeyer, Elisabeth 8 Till, Dietmar 82, 86, 91, 97–111, 224 Tissot, Simon-Auguste 186, 188, 189 Titzmann, Michael 438 Tizian 246 Toellner, Richard 527–530 Tomasi, Giuseppe Maria 181 Tonger-Erk, Lily 83, 147–154 Torbi, Jutta 171 Torge, Wofgang 431 Torra-Mattenklott, Caroline 511 Tosi, Alessandro 458 Tracy, James D. 308 Traeger, Jörg 406, 411 Traianus, Marcus Ulpius 76, 77 Trautmann, Gottlieb Friedrich Amandus 153, 154 Trebeljahr, Moritz 181 Troitzsch, Ulrich 452, 455

Personenregister Tronchin, Théodore 187, 188 Trunz, Erich 100, 267, 415 Tulp, Nicolaes 548, 550 Tunstall, Kate E. XVII, XVIII Tura, Cosmè 246 Türck, Wilhelm 163 Turgot, Anne Robert Jacques 462 Ucle-Koehler, Susanne 473 Udenius, Just Christoph 94 Uebele, Wilhelm 210 Ueding, Gert 87, 98, 240 Uffenbach, Friedrich Armand 472, 475 Uhlig, Ludwig 171, 172 Ullmaier, Hans 184 Unterberg, Michael 375 Unzer, Johann August 538, 552 Valk, Thorsten 410 Valla, Lorenzo 308, 309 Van der Hoop, Adriaan 285 Van der Horst, Tileman 450 Van der Wiel, Cornelis Stalpart 551 Van Haen, Anton 190 Van Hoorn, Tanja 544 Van Swieten, Gerard 191, 550 Van Zyl, Jan 450 Vandermonde, Charles-Augustin 188 Vanloo, Charles André 593 Varloot, Jean 592, 595, 596, 598, 599, 602 Veblen, Thorsten 4 Veranzio, Fausto 450 Vercamer, Julia 483 Vergil (Publius Vergilius Maro) 66, 305– 307, 311, 312 Vernet, Claude Joseph 594, 595, 597, 601, 602–604 Vesal, Andreas 136, 137 Vico, Giambattista 312 Vierhaus, Rudolf 97, 281 Viëtor, Karl 143 Villars, Honoré-Armand, duc de 188

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Villela, Khristaan D. 69 Violet, Robert 338 Visceglia, Maria Antonietta 180 Vischer, Friedrich Theodor 261 Visconti, Giambattista 324 Visentin, Hélène 452 Vismann, Cornelia 541 Vivenza, Gloria 26 Vogel, Hans 484 Vogl, Joseph 578 Volckamer, Johann Georg 530 Völkel, Ludwig 489 Vollhardt, Friedrich 95, 224, 227 Volta, Alessandro 485 Voltaire, François Marie Arouet de XVII, XVIII, 92, 93, 105, 157, 188, 374, 426, 598, 608 von der Hardt, Hermann 270, 271, 300–312 von der Hellen, Eduard 141, 143 von der Recke, Elisa 174, 176 Vorländer, Karl 100, 109, 512 Voss, Ernst Theodor Voß, Johann Heinrich 254, 257–259 Wagner, Monika 505 Wallis, Ludwig 474 Walther, Paul 585 Walz, Alfred 375 Wandruszka, Adam 463 Wark, Robert R. 333 Wassilosky, Günther 178 Watson, William 202 Watt, James 452 Weber, Heiko 434, 435 Weber, Karl 368 Weber, Max 11, 33, 34 Weber, Wolfgang 588, 589 Wedgwood, Josiah 365, 372–375 Wegner, Karl-Hermann 483 Weidling, Christian 88 Weigel, Christoph 491, 495

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Personenregister

Weigel, Erhard 450 Weigelt, Horst 511 Weinhold, Johann Karl 453 Weischedel, Wilhelm 250 Weise, Christian 88 Weishaupt, Mathias 371 Weiss, Carina 415 Weiß, Christoph 172 Weisse, Christian Felix 612 Weissenborn, Johann Friedrich 486 Weitin, Thomas 541 Welker, Karl L.H. 462 Wellbery, David 115, 125, 126, 128, 240, 403 Weller, Thomas 157 Welzer, Harald 363 Wenzel, Manfred 486 Wepfer, Johann Jakob 551 Werle, Dirk 103 Werner, Anna Maria 370 Werner, Petra 71 Wernli, Martina 540 Wesch-Klein, Gabriele 76 West, Benjamin 318, 329–334, 338–340 Westphal, Joachim 584 Whiston, William 502 Whittaker, Edmund T. 438 Wickram, Jörg 145 Wiedemann, Conrad 95 Wiegel, Hildegard 411 Wiener, Oliver 291 Wiese, Benno von 423 Wiesemann, Claudia 486, 587, 588 Wiesenfeldt, Gerhard 433 Wiethölter, Waltraud XIX, 269 Wild, Bettina 382 Wild, Marcus 103 Wilhelm IX. von Hessen-Kassel 489 Wille, Johann Georg 611 Willer, Stefan 132, 521, 560 Wimmer, Clemens Alexander 401 Winckelmann, Johann Joachim XXIII,

239, 270, 317, 318, 320–325, 328, 350, 376, 377, 421, 422, 425–427, 488, 553 Windelband, Wilhelm 99, 100 Windfuhr, Manfred 117 Windisch-Graetz, Joseph Ludwig Nikolaus von 198 Wingertszahn, Christoph 541 Winkler, Eberhard 87 Winner, Matthias 320 Winter, Maria 532 Wismer, Beat 508 Wokalek, Marie 366, 413–420 Wolf, Hubert 178–180 Wolfe, James 333 Wölfel, Kurt 110 Wolff Metternich, Beatrix von 375, 376 Wolff, Christian 24, 82, 98, 99, 106, 112–118, 214, 287, 318, 363, 364, 438, 450, 558 Wood, Christopher S. 303 Wormsbächer, Elisabeth 335 Worstbrock, Franz Josef 157 Wren, Christopher 374 Wübben, Yvonne XXV, 233, 521–524, 537–543, 544, 568, 570 Württemberg, Carl Eugen von 375 Wyher, Franz Ludwig Pfyffer von 469, 506 Xenophon 9, 26 Young, Edward 376 Zaccarias, Francesco Antonio 182, 184 Zachariä, Friedrich Wilhelm 376 Zahn, Albert 615, 616 Zampa, Giorgio 320 Zanetti, Sandro 270 Zaunstöck, Holger XXV, 467–469 Zedelmaier, Helmut 536 Zedler, Johann Heinrich 158, 164, 586– 588, 618, 619, 621, 625

Personenregister Zeidler, Johann Gottfried 448, 450, 453, 456 Zeising, Heinrich 450, 454 Zelle, Carsten XXI, 81–84, 146, 371, 376, 521, 532, 538, 545–547, 552, 561, 568 Zelter, Carl Friedrich 411, 412 Zenge, Wilhelmine von 64 Zeuch, Ulrike XXII, 219–223 Ziche, Paul 433, 541, 570 Zick, Gisela 390 Zimmer, Jörg 540

Zimmerli, Walther Ch. 97, 207 Zimmermann, Johann Georg 174 Zimmermann, Margarete 149 Zinck, Paul 615, 621, 622, 624 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von 277 Zollinger, Manfred 590, 619, 625 Zonca, Vittorio 450 Zschokke, Heinrich 46 Zunckel, Julia 180 Zurlauben, Beat Fidel 509

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